Josef - Wandlung der Bilder. Bilder der Wandlung: Tiefenpsychologische Näherungen an die Josefsgeschichte der Bibel und des Koran [1 ed.] 9783788735357, 9783788735333


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Josef - Wandlung der Bilder. Bilder der Wandlung: Tiefenpsychologische Näherungen an die Josefsgeschichte der Bibel und des Koran [1 ed.]
 9783788735357, 9783788735333

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BIBLISCH-THEOLOGISCHE STUDIEN 189

Nora Schmidt

Josef

Wandlung der Bilder – Bilder der Wandlung Tiefenpsychologische Näherungen an die Josefsgeschichte der Bibel und des Koran

Biblisch-Theologische Studien Herausgegeben von Jörg Frey, Friedhelm Hartenstein, Bernd Janowski und Matthias Konradt

Band 189

Nora Schmidt

Josef

Wandlung der Bilder – Bilder der Wandlung Tiefenpsychologische Näherungen an die Josefsgeschichte der Bibel und des Koran

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: CPI buchbücher.de, Birkach Printed in the EU Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2567-9120 ISBN 978-3-7887-3535-7

für Juri

Inhalt Einleitung: Evidenz und Symbol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Versuch über Josef . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Fragen und Vorgehen tiefenpsychologischer Schriftauslegung . . . . 23 Analogie des Textes mit dem Traum, die Sprache der Symbole und das Unbewusste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Subjektivität, Individuation, Heilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  29 Warum Josef? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Kurze Gebrauchsanweisung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 I  JOSEF – ENTWICKLUNG EINES MENSCHEN . . . . . . . . . . .  39 Der bunte Rock und die Furcht vor dem Tier: Josefs Kindheits­geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Jakob »opfert« seinen Sohn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 In Potifars Haus: Ein Wiederholungszwang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 »Sie befinden sich hier«: Zwischen Bibel und Koran – Im Denkraum spätantiker Lesegemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Drei Varianten von Potifars Frau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Die Frau in der Genesis: die Stimme der Verführung zum Tod 53 Die Frau in postbiblischen narrativen Josef-Varianten: Der Teufel Eros . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Liebe wider die Gesellschaft? – Ein talmudischer Kontrapunkt 60 Die Frau in Sure 12 – das Recht der Frau Welt . . . . . . . . . . . . . . 64 Ein Syntheseversuch mit Hilfe der späteren islamischen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 Exkurs: Josef und Zulaika – der Transfer eines Konflikts in eine Liebesgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Zulaika verliebt sich im Traum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Bilder für Zulaikas Wünsche im Dach der Welt . . . . . . . . . . . . . 77 Tod des Ehemanns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Sprechen und angesprochen werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 Gefängnis: Ein Regressionsmoment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Neue Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 Geld, Korn und Becher – Währungen der Schuld . . . . . . . . . . . . . . . 93 Nicht-Erkennen und Selbstoffenbaren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Blindheit Jakobs – Josef als Heiler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Josef und Benjamin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Bewahrheitung und Entfaltung der Träume: Ein »herme­neutischer« Diskurs der biblischen Josefsgeschichte . 114 Rahels Stimme in der Wüste: Wiederkehr der Mutter im Midrasch 119

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Inhalt

II  JOSEF – EINE VERFLECHTUNGSGESCHICHTE . . . . . . . . . 123 Ein kurzer Überblick über die Forschung zur Josefsgeschichte des Pentateuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Spezifizität oder Allgemeinheit der literarischen Semantik . . . . . . . 127 Kohärenz des Narrativs versus sukzessives Textwachstum . . . . . . . 128 Josef wird weise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Weisheit als Gattungsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Weisheit als Charakteristikum inner- und postbiblischer Fortschreibungen Josefs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Literarische Erweiterungen der Josefsgeschichte unter dem Aspekt der Weisheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Ausdifferenzierung von Rezeptions- und Kultgemeinschaften 137 Schlussbemerkungen: Einige Thesen zu den Dynamiken der Überlieferung der Josefsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 Wandlung der Bilder und Bilder der Wandlung – eine Ermutigung zu einem neuen Verständnis von interreligiöser Schriftauslegung . 143 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Forschungsliteratur und andere hinzugezogene Literatur . . . . . . . . 148 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

»Mit dem Schweren kommt auch Leichtes« Sure 94,5 »Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch« Friedrich Hölderlin

Einleitung: Evidenz und Symbol Ich erinnerte mich an einige Aussprüche und wiederholte sie laut, kam damit aber nicht weiter. Die Sätze glitten undurchdringlich vorüber; meine Stimme hallte in meinen Ohren wider wie eine fremde Stimme, ein schuftiger Engel plünderte mir meine Gedanken noch in meinem eigenen Kopf, und dieser Engel war niemand anderes als ein kleiner blonder Junge aus dem dreißigsten Jahrhundert, der an einem Fenster saß und mich durch ein Buch beobachtete. Mit liebevollem Grauen fühlte ich, wie mich sein Blick bei meiner Jahrtausendfeier aufspießte. Um seinetwillen fälschte ich mich um und fabrizierte doppelsinnige Sätze, die ich öffentlich von mir gab. Anne-Marie fand mich kritzelnd an meinem Pult und sagte: »Aber es ist doch ganz dunkel! Liebchen wird sich die Augen verderben.« Hier ergab sich die Gelegenheit, voller Unschuld zu antworten: »Ich könnte auch in völliger Dunkelheit schreiben.« Sie lachte, nannte mich einen kleinen Dummkopf, machte Licht, der Streich war geglückt, wir beide wussten nicht, dass ich auf diese Weise dem Jahr 3000 mein künftiges Gebrechen angekündigt hatte. Gegen Ende meines Lebens würde ich nämlich ebenso blind sein, wie Beethoven taub war, tastend würde ich mein letztes Werk anfertigen: Das Manuskript fände sich dann unter meinen Papieren, und die enttäuschten Leute würden sagen: »Aber das ist ja unlesbar!« Es wäre sogar davon die Rede, es in den Mülleimer zu werfen. Schließlich würde es die Stadtbibliothek von Aurillac aus reinem Mitleid an sich nehmen, um es ein Jahrhundert lang in Vergessenheit aufzubewahren. Und dann würden eines Tages junge Gelehrte kommen und aus Liebe zu mir das Manuskript zu entziffern suchen. Sie würden ihr ganzes Leben damit zubringen, ein Buch wiederherzustellen, das – natürlich – mein Meisterwerk war. Meine Mutter war aus dem Zimmer gegangen, ich war allein und wiederholte für mich langsam, ohne daran zu denken, vor allem: »In völliger Dunkelheit!« Es gab einen kurzen Knall: Mein

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Einleitung: Evidenz und Symbol

Urgroßneffe dort oben hatte sein Buch zugemacht; er träumte von der Kindheit seines Urgroßonkels, und Tränen rollten ihm über die Backen. »Aber es stimmt ja«, seufzte er, »er hat im Dunkeln geschrieben!«1 In der Erwartung eines späteren Rezipienten seines Lebens ist das Kind, Jean-Paul Sartre, bereits im Vollzug dieses Lebens darum bemüht, Fährten der Bedeutung für spätere Interpretationen zu legen. Wir möchten den späteren Schriftsteller um seine neurotische Befangenheit bedauern, um den Mangel an Spontanität und Authentizität seiner Lebensführung bemitleiden, hätte er nicht uns Nachgeborenen mit dem bei Dunkelheit kritzelnden Neunjährigen ein Bild geschenkt, das die Wirksamkeit von Symbolen beschreibt wie eine mise en abyme: In einem hellsichtigen Moment haben wir die Bedeutung eines Symbols erfasst. Sie scheint uns evident: Ein Junge schreibt bei Dunkelheit. Die Bedeutung zeigt sich später als die Blindheit des Schriftstellers im Alter. Aber in Sartres Bild des Jungen am dunklen Schreibtisch liegen die Dinge noch interessanter: Der Junge sitzt dort überhaupt nur in der Absicht, dem »schuftigen Engel«, dem Beobachter seines Lebens aus einer fernen Zukunft, durch die Äußerung eines »doppeldeutigen Satzes« auf die Bedeutung seines Lebens hinzuweisen. Ja, die ganze Gegenwart des Jungen ist so durchtränkt von dem Wunsch, Bedeutungen für die imaginierten Leser seines »Werks« in der Zukunft zu produzieren, dass ihm diese Welt überhaupt nur als »Gelegenheit« erscheint, einen solchen Satz zu äußern. Sartre selbst spricht von der Ambivalenz des Gefühls zu dem unsichtbaren Beobachter seines Lebens aus dem Jahr 3000, dessen Blick ihn »aufspießt« als einem »liebevollen Grauen«. Dank der Anwesenheit dieses Engels wird jede Geste zum Symbol. Diesem Leser der Zukunft gegenüber äußert Sartre den altersweisen und »doppeldeutigen« Satz, dessen Tragweite ebenfalls erst die Zukunft oder eben der Engel zeigen kann: »Ich könnte auch bei völliger Dunkelheit schreiben.« Wie ein Traum driftet die Szene dann in die Sphäre der Wunscherfüllung. Tränen rollen über die Backen des Nichtgeborenen. Der »Knall« eines zugeschlagenen Buches beendet den tragikomischen 1 Jean-Paul Sartre, Die Wörter, übersetzt aus dem Französischen von Hans Mayer, Hamburg 1965, S. 157 f.

Einleitung: Evidenz und Symbol11

Tagtraum einer Bibliothek, die das unleserliche Spätwerk Sartres immerhin vor dem Mülleimer bewahrt und dem Auftauchen weiterer Nachgeborener, die dieses Lebenswerk philologisch traktieren, und zwar »aus Liebe« traktieren, bis es seine wahre Bedeutung zu erkennen gibt. Diese Wunschvorstellung des Schriftstellers ist nicht der Grund, weshalb diese Episode aus der Autobiographie Jean-Paul Sartres sich zum Einstieg in die Thematik des vorliegenden Buches eignet. Interessant ist die Imagination der eigenen Identität in der vorweggenommenen Retrospektive, die die Semantik des Symbols (Schreiben bei Dunkelheit) zugleich konstatiert und konterkariert. Wäre Sartre wirklich im Alter erblindet, hätte die Ankündigung des Jungen am Schreibtisch überraschen können: Die Bedeutung des Jungen, der bei Dunkelheit am Schreibtisch sitzt wäre wirklich die Ankündigung der Altersblindheit gewesen. Die Bedeutung des Symbols wäre – welchem Leser auch immer – evident erschienen wie ein Zaubertrick: Die prophetische Voraussage einer noch nicht eingetroffenen Zukunft, die aber im symbolischen Akt vorweggenommen ist und somit Vergangenheit und Zukunft wechselseitig verknüpft. So ähnlich erstaunen die Patient*innen Freuds, wenn sie etwa einen Mann, von dem sie geträumt haben, erst am Folgetag kennenlernen. Der Analytiker bringt die Dinge wieder in die richtige, d. h. die chronologische Reihenfolge. Er überführt die Träumenden ihrer eigenen Wünsche. Er weist ihnen nach, dass der Traum die vorweggenommene Erfüllung eines Wunsches war, den sie bereits davor unbewusst hatten. Das im Traum gesehene Symbol hat nichts mit Zauberei zu tun, aber das Symbol bringt ein Wissen zur Sprache, das der Wache selbst nicht hat, das sich erst offenbaren muss. In seiner Überraschung erscheint die Bedeutung des Traumsymbols dem Träumenden, wenn es Wirklichkeit geworden ist, evident wie dem imaginären Urgroßenkel Sartres die vorweggenommene Blindheit. Viele von Freuds Therapieberichten und Traumdeutungen lesen sich wie die Entlarvung dieser magischen Evidenz des Symbols. Aber schon die Langwierigkeit der analytischen »Redekur« und uns heutigen auch die Zweifelhaftigkeit ihres therapeutischen Erfolgs, zeigt, dass diese Evidenz sich verflüchtigt, dass die Bedeutung der Symbole schal wird oder sogar »falsch«, wenn man versucht, sie festzuschreiben. Mit den Worten des späteren Freudlesers Paul

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Einleitung: Evidenz und Symbol

Ricœur: »Die Entschlüsselung von Rätseln ist noch keine Wissenschaft.«2 In den heutigen Geisteswissenschaften ist Psychoanalyse zu einer randständigen Disziplin geworden, um nicht zu sagen zu einer Art Ärgernis. Die Psychoanalyse als eine europäische, hochmoderne und auf Sinn und Tiefe abhebende Wissenschaft und »ausschließlich interpretative Methode«,3 gehört zu der von meiner universitären Lehrer*innengeneration dekonstruierten metaphysischen Schicht, die mit neuen Konzepten des Materials, des Netzwerks, der Präsenz, der kulturellen Praktiken usw. vor nicht langer Zeit in die Mangel genommen und vorläufig zum Erliegen gebracht worden war. Wenn ich ehrlich bin, wurde mir erst durch die Lektüre der postfreudianischen Theoretiker (wie Gilles Deleuze, Jacques Derrida und Hans-Ulrich Gumbrecht) bewusst, dass die Psychoanalyse in die hermeneutischen Ansprüche der Moderne aufs Engste verwickelt ist. Denn eigentlich hatten mich die Schriften Freuds gerade aufgrund einer für mich im Phänomen der Übertragung am deutlichsten erkennbaren Dialektik von Körperlichkeit und geistig prozessiertem Wissen, von Repräsentation und Präsenz fasziniert.4 Obwohl mir der Wunsch fernliegt eine Apologie der Psychoanalyse zu betreiben, 2 Paul Ricœur, Die Interpretation. Ein Versuch über Freud, Frankfurt am Main 1969, S. 55. 3 Hans-Ulrich Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. Über die Produktion von Präsenz, Frankfurt am Main 2004, S. 60. 4 Ausführlich habe ich diese Dialektik in dem von Freud bzw. Josef Breuer »entdeckten« Phänomen der Übertragung versucht darzulegen in einem Aufsatz: »Transference, Revelation, and the Great Man. Psychoanalytical Perspectives on the Argument of Prophet Murder in three Medinan Suras«, in: The Hebrew Bible in the Quran, The Quran in the Hebrew Bible, hg. von Manfred Oeming (forthcoming). Zusammenfassend sei bemerkt, dass das Phänomen der Übertragung, auf dem der Erfolg der psychoanalytischen Bewegung maßgeblich beruht, von der Beobachtung ausgeht, dass erst die emotionale Bindung (Übertraungsliebe oder Übertragungshass) zu einer auch körperlich präsenten Person (etwa dem Analytiker) den Prozess einer imaginären Rückkehr in ursprünglich traumatische, im Wiederholungszwang unbewusst eingeschriebene Vergangenheiten (meist der Kindheit) ermöglicht und bei der nachträglichen Bewältigung dieser internalisierten Konflikte hilft. Das Phänomen der Übertragung markiert damit eine Dialektik von Präsenz und Imagination, emotionaler, geistiger und körperlich-affektiver Verstehenselemente, die Übertragung über ihren Nutzen als therapeutisches Mittel hinaus als epistemisches Konzept beschreibbar macht, das auch Freud selbst – etwa in seiner Auseinandersetzung mit dem biblischen Mose vermittels der Skulptur Michelangelos in Rom – erlebt hat.

Einleitung: Evidenz und Symbol13

scheint mir die Psychoanalyse – den dekonstruktivistischen Einwänden zum Trotz – eine Dimension von Wissen und Erfahrung in Anschlag zu bringen, die den heute favorisierten, auf Praktiken und Materialitäten fokussierten, dezidiert nicht-metaphysischen Ansätzen der Kultur- und damit auch der Schriftinterpretation fehlt. Diese aber erscheint mir zwingend notwendig, wenn wir es, wie in vielen vormodernen Zusammenhängen, mit religiösem Wissen und damit mit Phänomenen wie Offenbarung und Prophetie und mit Schriften zu tun haben, die wir »heilig« nennen, wie die Bibel und den Koran. Natürlich kann man den koranischen Offenbarungsprozess als Akte verschiedener kommunikativer Handlungen beschreiben, die kultischen Praktiken, die hieran beteiligt waren, darstellen, sich auf literarische Funktionen der Rede und die wechselnde Rolle der beteiligten sozialen Akteure verlegen. Aber beschreibt man damit das im Koran zur Sprache kommende Wissen und die in ihm versprachlichte menschliche Erfahrung? Stellt nicht die kulturwissenschaftliche Heuristik mit ihren sozialhistorischen Terminologien das als Offenbarung erlebte und als Verkündigung geteilte Wissen einer religiösen und  – was immer darunter verstanden wird – »heiligen« Schrift systematisch kalt? Der Historiker Yosef Yerushalmi, dessen Buch über Freuds Moses mich stark beeindruckt hat, formulierte es so: Genau wie man den Ursprung [einer Religion] nicht nur durch unpersönliche sozioökonomische Kräfte ohne Berücksichtigung der Rolle des ›großen Mannes‹ erklären kann […], lässt sich auch das Funktionieren der Überlieferung nicht lediglich mit wörtlicher Weitergabe begreifen. Kraft und Lebensdauer einer religiösen Überlieferung lassen sich nicht begreifen, wenn die Überlieferung […] als Symbolsystem mit dekodierbaren, mythischen, materiellen und gesellschaftlichen Referenten dargestellt wird, während man die psychologischen Dimensionen außer Acht läßt. Genau hier könnte die Psychoanalyse weiterhelfen.5 Diesen Eindruck habe ich auch! Der vorliegende Essay stellt den Versuch dar Antworten zu finden auf die etwas konsterniert anmutende 5 Yosef Hayim Yerushalmi, Freuds Moses. Endliches und unendliches Judentum (übers. aus dem Amerikanischen), Berlin 1991, S. 129.

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Einleitung: Evidenz und Symbol

Frage, die Yerushalmi daraufhin selbst stellte: »Es fragt sich bloß, wie man sie anwenden soll.«6 Der Gegenstand der hier verfolgten Untersuchung ist Josef, dessen Geschichte im Buch Genesis und im Koran, so wie dazwischen und danach in einer Vielzahl außerkanonischer Fortschreibungen, in literarischen Ergänzungen und exegetischen Varianten erzählt wurde. Gedeutet werden sollen die Josefsgeschichte des Pentateuch und einzelne Teilaspekte der späteren Josef-Varianten inklusive denen des Koran unter dem Gesichtspunkt einer »tiefenpsychologischen« Hermeneutik, deren Fragestellungen und Zielsetzungen im ersten Einleitungsteil näher zu bestimmen sein werden. Die verschiedenen Transferprozesse Josefs von den Quellen des Pentateuch bis in die islamische Literatur werden im zweiten Teil näher beleuchtet und hierbei die redaktions- und wirkungshistorische Forschung einbezogen. Um die methodische Standortbestimmung einer tiefenpsychologischen Schrifthermeneutik nicht von der Deutung der Symbole und Prozesse der Josefsgeschichte(n) zu trennen, wurde dieser forschungsgeschichtliche Überblick an das Ende gestellt, obwohl die tiefenpsychologische Deutung grundsätzlich auch auf den in dieser Forschung erlangten Erkenntnissen aufbaut.

Fragestellungen Die Josefsgeschichte gehört zu den biblischen Geschichten, die jeder kennt. Im Religions- oder Konfirmandenunterricht, im Kindergottesdienst oder in der häuslichen Kinderbibel, in Opern, in den Romanen Thomas Manns und in Filmen begegnet sie uns und wird von Gemeindepädagog*innen oder Eltern, von Pfarrer*innen oder Lehrer*innen erzählt, illustriert und ausgelegt. Viele von uns haben Josef als ein Opfer seiner verräterischen und gewaltbereiten Brüder und als widerständigen Frommen gegenüber den Angriffen der lasterhaften Frau des Ägypters Potifar kennengelernt. Und so sehr wir Josef für seine Geduld und sein Gottvertrauen, seine Bescheidenheit und sein Durchhaltevermögen bewundert haben, haben wir die Brüder, die ihn beneidet und verkauft haben ebenso 6 Ebd.

Fragestellungen15

wie die ägyptische Frau, die versucht hat Josef zu verführen, um ihn dann zu verleumden, moralisch verurteilt. Wenn wir die Josefsgeschichte mithilfe der Schriftauslegungsverfahren der Tiefenpsychologie lesen, wie sie seit knapp hundert Jahren neben den historischen Zugängen zur Bibel existiert, lernen wir die bekannten Figuren der biblischen Geschichte noch einmal neu und anders kennen. Wenn wir den bunten Rock, das geschlachtete Tier, den Brunnen, das Gefängnis, die drei Reisen der Brüder von Kanaan nach Ägypten, den im Getreidesack Benjamins versteckten Becher des Pharaos nicht mehr nur als literarische Motive, sondern als Symbole deuten, die Teil einer inneren Wandlung sind, die der junge Josef auf seinem Weg zum Erwachsenen vollzieht, ergibt sich eine ganz neue Geschichte. Die Symbole zeigen sich dann als Schritte eines Wandlungsprozesses, den Carl Gustav Jung »Individuation« genannt hat.7 Tiefenpsychologische Exegeten haben zwischen zwei Modellen unterschieden, nach denen die Psychoanalyse in Kontakt mit den Schriften der Bibel und anderen literarischen Texten gebracht werden kann: So unterscheidet Eugen Drewermann eine »objektale« Methode, die aus der Schule Sigmund Freuds hervorgeht und die besonders für Texte geeignet sei, »die mit der Entwicklungsgeschichte eines Kindes beginnen, zumeist in Vater und Mutter, Sohn und Tochter, Schwester und Bruder, Jungfrau und Drachen die Verkörperung realer Gestalten« erblicke »und in den einzelnen Symbolen nach den verdrängten Triebwünschen« sucht, »die sich in ihnen verhüllt und verstellt aussprechen.«8 Daneben habe für solche Texte, die von der zweiten Lebenshälfte erzählen, die »subjektale« Deutung Jungs zu gelten »bei der alle Personen, Gegenstände und Geschehnisse […] Teile, Kräfte und Vorgänge in ein und derselben Psyche darstellen.«9 Die Josefsgeschichte ist unter den Erzählungen des Pentateuch – neben der Geschichte Mose – einzigartig darin, dass sie das Heranwachsen eines Menschen von der Kindheit an über mehrere Stadien der Entwicklung hin zum reifen Erwachsenen 7 Siehe z. B. C.G. Jung, Erinnerungen, Träume, Gedanken, Aufgezeichnet und herausgegeben von Aniela Jaffé, New York 1961, S. 206. 8 Eugen Drewermann, Rapunzel, Rapunzel, lass dein Haar herunter. Grimms Märchen tiefenpsychologisch gedeutet, München 1999, S. 8. 9 Ebd.

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Einleitung: Evidenz und Symbol

schildert. Sie eignet sich daher für eine »objektale« Deutung, in der die Konflikte zwischen Vater und Sohn, zwischen Brüdern, die Begegnung mit dem anderen Geschlecht, mit dem Bereich der Arbeit, der politischen Gewalt des Staates und mit der inneren Welt der Träume als reale, »äußerliche« Erfahrungen aufgefasst werden können. Objektal betrachtet erzählt die Josefsgeschichte der Genesis von einem Jungen, der aufgrund der übergroßen Liebe seines Vaters keinen Spielraum für die Entwicklung seiner Identität findet und von einem mutterlosen Kind, das dem anderen Geschlecht – der Frau – als einer Gefahr für sein Leben gegenübersteht. Die Josefsgeschichte erzählt auch, wie dieses Kind nach dem »Ausbruch« aus der Enge seiner Kindheit, nach der Flucht aus der bedrängenden und bedrückenden Konstellation seiner Geburt, langsam zu sich selbst findet. In der mühsamen und gefahrvollen Entwicklung des Josef, der erst von aller Welt verlassen sein muss, bevor er mit eigener Stimme zu sprechen beginnt und seine innere Stärke zu nutzen lernt, liegt ein atemberaubendes Bild der Hoffnung auf Entwicklung gerade auch für uns heutige Menschen. Die Wandlung der Bilder, die wir in der Josefsgeschichte erkennen, kennzeichnen nicht nur ein historisches Geschehen bzw. eine historische Erzählung, sondern die tiefenpsychologische Deutung zeigt sie als Bilder der Wandlung, die sich auf seelischer Ebene auch in anderen Kontexten und auch heute noch ereignen. Insofern die Josefsgeschichte aber auch einen Individuationsprozess beschreibt, der sich ganz auf der seelischen Ebene abspielt, eignet sich auch die subjektale Deutung, in der die genannten Akteure und abgeschrittenen Reisen sowie die dargestellten Räume als Symbole einer psychischen Wirklichkeit zu verstehen sind. Die Josefsgeschichte erzählt, subjektal betrachtet, nicht von einem fremden, sondern von unserem eigenen »Verlangen nach Glück, das in dieser Welt tausendmal widerlegt wird«.10 Wenn Drewermann in den Grimm’schen Märchen die »zauberischen Einflüsterungen der Liebe«11 beschreibt, denen wir – unseren Lebenserfahrungen zum Trotz – von Kindheit an Glauben schenken und Glauben schenken müssen, erzählt die Josefsgeschichte von einer anderen rettenden Hoffnung. Zwar sehen wir in der Josefsgeschichte das Schicksal 10 Drewermann, Rapunzel, Rapunzel, S. 9. 11 Ebd.

Fragestellungen17

eines verlassenen und verratenen Kindes, eines Heimatlosen und schuldlos Bestraften, das sich seither unendlich oft in der Literatur und in der Wirklichkeit wiederholt hat. Wie die Märchen zeigt auch die Josefsgeschichte nicht nur das Leiden, sondern auch einen Weg aus diesem heraus, nicht nur die psychische Problemstellung eines Josef, sondern auch eine Lösung. Es ist gerade die Fähigkeit Josefs, den Dingen auf den Grund zu sehen, das geduldige Ertragen seines Leidens, die ihm zur Ausbildung einer unabhängigen Identität verhelfen und ihn schließlich zum Helfer und Versorger anderer Not leidender Menschen werden lassen. Bereits für C.G. Jung gehörte zur tiefenpsychologischen Deutung eines Symbols das Verständnis seines historischen Wachstums dazu. Wir haben heute andere und sicher teilweise bessere Begriffe für die Archäologie der Symbole und deren unterschiedliche Semantik: Othmar Keel hat für die Sicht auf die Verflechtungen der biblischen Texte, die sich in jüdischen, christlichen und islamischen Traditionsgemeinschaften differenzieren, das Konzept einer »vertikalen Ökumene«12 entwickelt. Angemessen und weiterführend ist nicht der Vergleich der Endtexte des Alten (und Neuen) Testaments und des Koran, sondern die Wahrnehmung des »gewaltigen Tradition­ strom(s), der aus dem tiefen Brunnen des Alten Orients in die Schriften der Bibel und von dort in Judentum, Christentum und Islam weitergeflossen ist.«13 Anders als die gängige »horizontale« Ökumene, die in Formen des interreligiösen Dialogs »gemeinsame Elemente sucht und stärkt«, aber dabei stets Gefahr läuft, sich in »unverbindlichen Freundlichkeiten oder in Stellungskriegen«14 zu verlieren, möchte eine als »vertikale Ökumene« verstandene Heuristik eine »Familienanamnese und –therapie« der drei monotheistischen Religionen verfolgen und damit auch gerade konfliktvolle Momente der wechselseitigen Beziehung von Judentum, Christentum und Islam beleuchten und aufarbeiten. Anders als in den Bibelwissenschaften bisher üblich, soll in diesem Band auch die islamische Stimme als

12 Vgl. z. B. Othmar Keel u. a. (Hgg.), Vertikale Ökumene: Erinnerungsarbeit im Dienst des interreligiösen Dialogs, Bible Orient 2005. (Mit freundlichem Dank für die Bereitstellung an Florian Lippke.) 13 Othmar Keel, »Was ist unter vertikaler Ökumene zu verstehen«, in: Vertikale Ökumene, S. 1. 14 Ebd., S. 2.

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Einleitung: Evidenz und Symbol

Teil dieser »Familiengeschichte« gehört werden, die notwendig in die »Anamnese« unseres gemeinsamen Gedächtnisses einzubeziehen ist. Dass die Josefsgeschichte im Koran neu erzählt wird, ist inzwischen vielen bekannt. Aber welche Akzente setzt der Koran in der überlieferten Geschichte? Welche Bedeutung hat Josef für die islamische Theologie? Worin besteht das im Koran und in der islamischen Literatur gemachte »Reformangebot« der – schon damals – den meisten Hörern bekannten Geschichte? Jan und Aleida Assmann haben mit ihren Studien zu Erinnern und Vergessen die kulturwissenschaftlichen Grundbegriffe geschaffen, die auch in den exegetischen Bibelwissenschaften heute unverzichtbar sind. Auch eine tiefenpsychologische Deutung der Josefsgeschichte kann über die lange Entwicklungsgeschichte der Erzählung nicht hinwegsehen, sondern im Gegenteil: Gerade im Wandel der Symbole in den verschiedenen Kommentaren und Neuschöpfungen des Stoffes treten die antiken Erzähler, Leser und Interpreten der Josefsgeschichte mit uns in Dialog. Die Geschichte Josefs ist nicht nur eine der vermutlich ältesten Erzählstoffe unserer Bibel, sondern ein literarischer Stoff, der in den Alten Orient und ins antike Ägypten zurückreicht und über die verschiedenen Kommentarkulturen der Spätantike bis in die Moderne variiert und neu interpretiert wurde. In der »Biographie« des Propheten Muhammad begegnet Josef ebenso wie im Versepos des persischen Dichters Djami, in der islamischen Mystik und in den Märchen von 1001 Nacht. Indem wir die Tiefenpsychologie als Instrument der »Familienanamnese« verstehen, statt als synchrone Form der Schriftauslegung, die mit zeitlich stillgestellten, da archetypischen Symbolen operiert, steht sie letztlich im Dienst einer Versöhnungsarbeit, die nur in Anerkennung und Wertschätzung der theologischen und historischen Besonderheiten der jeweiligen Textaussagen und deren Rezeptionsweisen in den unterschiedlichen Traditionsströmen gelingen kann. Eine tiefenpsychologische Hermeneutik der Bibel und des Koran ist insofern kein unpolitisches Verfahren, das über kulturelle Differenzen hinwegspringt, sondern eine kritische Lesekunst,15 die freilich auf das Einfühlungsvermögen auch der heutigen Leserin und des heutigen Lesers baut. 15 Zum Begriff der Lesekunst siehe jetzt die Monographie von Günter Bader, Lesekunst. Eine Theologie des Lesens, Tübingen 2019.

Fragestellungen19

Wie etwa C.G. Jung in dem autobiographisch angelegten Buch Erinnerungen, Träume, Gedanken eine prophetische Bedeutung der in seinen persönlichen Nachtträumen ausgestreuten Symbole vermutet,16 evozieren auch die Symbole der Schriften manchmal eine Erfahrung von Evidenz. Ihre Bedeutung scheint bisweilen betörend klar, sogar zwingend zu sein. Nicht in dieser großen Suggestionskraft der Symboldeutung, die schlimmstenfalls in Rechthaberei und Beliebigkeit ausartet, sondern in der Betonung der Widerständigkeiten der menschlichen Wahrnehmung, der Erinnerung, der Imagination und der Sprache liegt die große Verheißung der Psychoanalyse, die es wiederzuentdecken gilt. Dass tiefenpsychologische Deutungen auch therapeutische Wirkung haben können, innere Wandlungen begleiten oder anstoßen können, ist vielleicht der bedeutendste »Zaubertrick«, von dem ich hoffe, dass er in den hier angebotenen Bildern der Wandlung des Josef, seiner Geliebten Zulaika, seinen Brüdern und seinem Vater Jakob teilweise gelingt. Dieses kurze Buch ist die erweiterte Fassung einer im Sommer 2020 an der Theologischen Fakultät in Heidelberg eingereichten Abschlussarbeit, mit der ich mein Masterstudium »Theologische Studien« abgeschlossen habe. Der Master in Heidelberg hat mir die Möglichkeit gegeben, neben meiner Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Arabistik in Berlin die exegetischen, sprachlichen und historischen Kompetenzen zu erwerben, die für eine vergleichende Exegese von Bibel und Koran nötig sind. Ich danke Prof. Manfred Oeming, der mit seiner Idee einer gemeinsamen Lehrveranstaltung zwischen Bibel- und Koranexegese überhaupt erst meine eigene Begegnung mit Josef angeregt hat und meinen Kommiliton*innen in Heidelberg, die im Sommersemester 2019 an dieser Lehrveranstaltung zu »Psychoanalytischen Perspektiven auf die Josefsgeschichte der Bibel und des Koran« teilgenommen und mitdiskutiert haben. Der Austausch mit Manfred Oeming im Kontext dieser Lehrveranstaltung und des hieraus hervoregangenen Forschungsprojekts »Die Umschrift der Weisheit. Übertragungen der Josef-Legende vom Alten Orient bis in die islamische Zeit«, welches seit Oktober 2020 von der DFG gefördert wird, war und ist für mich über den sachlichen und fachlichen Austausch hinaus wesentlich, 16 Vgl. z. B. den Traum, der Jungs Beschäftigung mit der Alchemie »ankündigt«: Erinnerungen, Träume, Gedanken, S. 206.

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Versuch über Josef

da ich in Prof. Oeming erstmals einen Gesprächspartner gefunden hatte, der sich offen und begeistert für tiefenpsychologische Schrifthermeneutik zeigte, die – vor allem in den Koranwissenschaften – bisher nicht existiert. Auch den Teilnehmer*innen am Seminar für Arabistik an der FU Berlin, die mit mir zusammen im Wintersemester 2019/20 die Josef-Sure gelesen haben, danke ich für offene und kluge Diskussionen. Meinen Kollegen Dr. Nora K. Schmid und Dr. Falk Quenstedt bin ich für wertvolle Rückmeldungen und Korrekturen zum Manuskript dankbar. Prof. Angelika Neuwirth danke ich ebenfalls für die Lektüre des Manuskripts und für die Ermutigung zur Vertiefung des mystischen Fortlebens von Yūsuf und Zulaika. Die geistreichen Einfälle meines Sohnes Martin, der nie müde wurde die Josefsgeschichte zu hören und selbst zu erzählen, haben ihren eigenen Teil zum Entstehen des Textes beigetragen.

Versuch über Josef Müssen wir uns Josef als einen glücklichen Menschen vorstellen? Die Josefsgeschichte ist »modern«,17 insofern sie sich auf die Entwicklung eines Helden konzentriert, der von seinen Angehörigen verkauft wird in ein fremdes Land, dort mehrere Bewährungsproben besteht, einen sozialen Aufstieg erlebt und seiner Familie schließlich vom Gipfel eines weltlichen Erfolges aus rettende Gastfreundschaft erweist. Im Buch Genesis fungiert die Josefsgeschichte als Scharnier zwischen den Erzelterngeschichten und der Geschichte Mose und des israelitischen Exodus aus Ägypten. Der Verkauf Josefs nach Ägypten liefert die erzählerische Erklärung für den Aufenthalt der Israeliten in der Fremde. Wie Rahab im Buch Josua ist Josef ein Einzelner, der seinem Klan den Einzug ins fremde Land ermöglicht, aber unter erdenklich anderen, man könnte sagen, unter umgekehrten 17 Zur »Modernität« Josefs siehe auch Gerhard von Rad, Gottes Wirken in Israel, Neuenkirchen 1974, S. 41: »Ohne Frage, in ihrer Zeit war die Josephsgeschichte eine moderne Erzählung, und Joseph war ein moderner Mensch.« Zur »Modernität« Josefs als Heuristik für eine zeitgenössische Hermeneutik siehe auch Rüdiger Lux, Josef. Der Auserwählte unter seinen Brüdern, Leipzig 2014, S. 18 (dort auch mit Hinweis auf von Rad). Zum Postulat einer »Modernität« Jesu im Kontext einer tiefenpsychologischen Sichtweise siehe auch Hanna Wolff, Jesus der Mann. Die Gestalt Jesu in tiefenpsychologischer Sicht, Stuttgart 1988, S. 7.

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Vorzeichen.18 Jakob und seine Söhne, deren Gefolgschaft in Gen 49 dargestellt wird, erhalten, ihrem jüngsten Familienmitglied19 zuliebe, Gastrecht in Ägypten. Ihr Einzug ist das Gegenteil einer triumphalen Eroberung, ihre Rettung vor einer Hungersnot. Was Josef und Rahab gemein haben, ist ihr Außenseiterstatus, der der Gemeinschaft zum Heil gerät. Dass es sich hier um Landnahme, dort um Gewähren von Asyl handelt, ist nebensächlich, wenn es darum geht, das randständige Individuum zu verstehen, auf dem für einen entscheidenden Moment der Lichtkegel der Geschichte ruht. Die Josefsgeschichte greift noch in anderen Aspekten zurück in die Vergangenheit der Erzeltern und voraus auf die Geschichte Israels. Das Thema der persönlichen Schuld Jakobs, das seit dem erschwindelten Segen in einschlägigen Bildern des Kämpfens, der Entzweiung, des Verlusts und der Verletzung leitmotivisch – in Harran, am Jabbok, auf der Straße nach Bethlehem – fortgeschrieben wird, kommt mit der Versöhnung Jakobs mit Josef, dem Sohn der geliebten Frau Rahel, zur Ruhe. In der Josefsgeschichte kommt damit ein tragischer Konflikt Israels/Jakobs zu einem Ende.20 Voraus in die Geschichte Israels weist die Josefsgeschichte auch, insofern sie in Josefs Entwicklung zum Vizekönig das Königtum Davids antizipiert und spiegelbildlich die Konflikte des Begehrens und der Triebbeherrschung darstellt, die sich in dem Umgang mit den Gattinnen Potifars und Urias einander wechselseitig interpretieren.21 In seinem Kontext des biblischen Kanons gelesen erscheint die Josefsgeschichte, wie Karl-Josef Kuschel formuliert, wie eine »Selbstreflexion des Volkes auf seinen künftigen Weg vor Gott und mit Gott.«22

18 Naheliegender als ein Vergleich Josefs mit Rahab ist der häufiger unternommene Vergleich mit David. In dem Motiv der Aussendung von Kundschaftern liegt allerdings eine der wenigen literarischen Verknüpfungen der Josefsgeschichte mit dem Josuabuch und damit mit dem Hexateuch. Vgl. Meike Röhrig, »Zur Literarkritik und Redaktionsgeschichte der alttestamentlichen Josefserzählung«, in: Die Welt des Orients 48/1 (2018), S. 99–115, hier: S. 109. Zu dem literarhistorischen Befund siehe den zweiten Teil dieser Arbeit. 19 Gemeint ist Josef. Zu der Bedeutung von Benjamin, der noch jünger ist als Josef, siehe weiter unten die hermeneutische Reflexion »Josef und Benjamin«. 20 Zur Parallelität der Lebensläufe Jakobs und Josefs siehe Alan T. Levenson, Joseph. Portrait through the Ages, Philadelphia 2016, S. 4. 21 Vgl. Karl-Josef Kuschel, Die Bibel im Koran. Grundlagen für das interreligiöse Gespräch, Düsseldorf 2017, S. 463 und Jürgen Ebach, Gen 37–50. Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament, Freiburg 2007, S. 38. 22 Kuschel, Bibel im Koran, S. 453.

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Versuch über Josef

Die koranische Sure Yūsuf (Q 12) steht nicht in einem vergleichbaren narrativen und heilsgeschichtlichen Kontext. Es »fehlt« die Dimension der Volksgemeinschaft, die in der Genesis durch die angesprochenen Kontexte, primär durch die Funktion der narrativen Konstruktion eines Eisodus Israels nach Ägypten und thematisch in der Segnung Jakobs seiner Söhne (Gen 49) zentral ist. Die Brüder Josefs bleiben in der Sure anonym und sind so, von vornherein, jeglicher Repräsentationsfunktion der zwölf Stämme Israels entkleidet. Die ganze Vergangenheit und Zukunft Israels, die in der Bibel mit Josefs Schicksal in Verbindung steht, spielt keine Rolle, sondern die Josefsgeschichte erscheint im Koran in eine existenziale Geschichte transformiert. Auf diese Weise tritt die innere Dimension der Wandlungen des Helden noch deutlicher als ein menschliches Wachstum vor Augen. Dass die koranische Josefsgeschichte eminent eine Entwicklungsgeschichte erzählt, mag auch die Tatsache reflektieren, dass ihr Zeit und Raum einer ganzen Surenkomposition gehören. Anders als allen anderen koranischen Figuren mit biblischer Vorgeschichte, z. B. Abraham, Mose oder Adam, wird die Geschichte Josefs nicht in Perikopenfragmenten über mehrere Anläufe, Einblendungen und Rückbezüge in verschiedenen Suren und damit in unterschiedlichen Kommunikationskontexten aufgerufen und erweitert, sondern in einem Stück erzählt. Zusätzlich aufgewertet durch ornamentale Einund Ausleitungsteile, in denen die Geschichte als eine der »schönsten Geschichten« (aḥsanu qaṣaṣin) von Gott selbst erzählt wird, ist die spätmekkanische Sure 12 ein außergewöhnlich harmonischer Text,23 der seinen Hörern seit langer Zeit Trost spendet und Mut zuspricht. Wer also ist Josef? Die vorliegende Studie nähert sich der Figur Josefs in zwei Anläufen und aus zwei unterschiedlichen Perspektiven. Im ersten Teil werde ich versuchen, die Entwicklung, die Josef im Buch Genesis und in der nach ihm benannten Sure 12 durchmacht, als einen inneren Reifeprozess zu beschreiben, der sich so auch in anderen Zeiten abspielen könnte. D. h. ich versuche, die koranische und die biblische Josefsgeschichte tiefenpsychologisch auszulegen als Texte, die von einem Wissen künden, das über ihre singulären historischen Signifikanzen hinausgeht. Auch wenn sich die Akzente 23 Zur kompositionellen Kohärenz der Josef-Sure siehe nun auch Jawad Anwar Qureshi, »Ring Composition in Sūrat Yūsuf (Q 12)«, in: Journal of the International Quranic Studies Association 2 (2017), S. 149–168.

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der biblischen und der koranischen Narrative teils wesentlich unterscheiden, zeigt sich uns Josef in beiden Fällen als Bild eines Menschen, der die Angriffe auf sein persönliches Leben überwindet und über die ungünstige Ausgangsposition seiner Kindheit hinauswächst. Dass er damit die ganze Familie rettet und letztlich das Überleben des Volkes Israel sicherstellt, ist in der Bibel und in einem geringeren Maße auch im Koran Teil seines Erfolgs. Um das Vorgehen der Arbeit einzuordnen und zu erklären, folgt zuvor eine methodische Standortbestimmung mit einer Darstellung der Fragen und Vorgehensweise tiefenpsychologischer Schriftauslegung. In einem zweiten Teil wird das Augenmerk dann auf die historischen Prozesse des Textwachstums und der Transformationen der Josefsgeschichte durch die unterschiedlichen Umschriften des Stoffes bis zur biblischen Endredaktion und in den Jahrhunderten danach gelegt. Ziel dieses zweiten Teils wird sein, die Fort- und Umschreibungen der Josefsgeschichte als einen verflochtenen Prozess zu begreifen, der nicht eindimensional im Sinne einer kontinuierlich und progredient verlaufenden Rezeptionsgeschichte stattfindet, sondern in wechselwirksamen Dynamiken, die auch nach dem Abschluss der Endgestalt des biblischen Textes noch fortwirken. Beide Arbeitsschritte, die tiefenpsychologische Deutung und die Heuristik einer Verflechtungsgeschichte, haben Experimentcharakter. Sie können zwar auf eine Flut von Forschungsarbeiten zu den verschiedenen Überlieferungen zu Josef aufbauen, möchten aber exemplarisch neue Wege der Schriftauslegung erproben bzw. weiterdenken.

Fragen und Vorgehen tiefenpsychologischer Schriftauslegung Tiefenpsychologische Bibelauslegung ist ein Teil der geisteswissenschaftlichen Fortentwicklung psychoanalytischer Methoden nach Sigmund Freud und unterschiedet sich von Freuds eigener Perspektive auf die Bibel, die vor allem von dessen kulturgeschichtlichem Interesse an der Figur Mose ausging.24 Tiefenpsychologische Interpretation, die als ein Zweig christlicher Exegese entstand, ist in vieler 24 Sigmund Freud, Der Mann Mose und die monotheistische Idee, hg. von Jan Assmann, Stuttgart 2010. Aus einer »postmodernen« Perspektive diskutiert z. B. bei Yosef Yerushalmi, Freud’s Moses. Judaism Terminable and Interminable, Yale 1991.

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Fragen und Vorgehen tiefenpsychologischer Schriftauslegung

Hinsicht enger mit der mit ihr zeitgenössischen »philosophischen Hermeneutik«25 verbunden als mit der klassischen Psychoanalyse. Heuristisch geht es ihr meist um Interaktionen zwischen dem (modernen) Leser mit dem kanonischen Text der Bibel, nicht um die Rekonstruktion der psychischen Hintergründe der Entstehung der biblischen Texte, wobei ein Einfühlen in die »Psyche der antiken Personen, von denen erzählt wird«26 als Fragestellung einer historischpsychologisch orientierten Schriftauslegung grundsätzlich ebenfalls denkbar ist.27 Dass tiefenpsychologische Bibelinterpretation auch aus einer Kritik an der als hegemonial und theologisch verarmt wahrgenommenen historisch-kritischen Methode der Bibelexegese in Europa entstanden ist,28 braucht heute – insbesondere mit Blick auf die in dieser Studie mit einbezogenen Koranwissenschaften – nur noch angemerkt zu werden. Eine vergleichend exegetische, tiefenpsychologische Deutung von Bibel und Koran darf an diese Debatte bereits mit der Einsicht anschließen, dass eine tiefenpsychologische Deutung und die historische Quellenkritik unterschiedliche, aber nicht notwendig konkurrierende Methoden der Schriftauslegung

25 Siehe exemplarisch Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1990. 26 Manfred Oeming, »Tiefenpsychologische Schriftauslegung und historischkritische Exegese. Ein Leistungsvergleich am Beispiel des Buches Hiob«, in: Neue Wege der Schriftauslegung, hg. von Michaela Bauks, Ulrich Berges, Daniel Krochmalnik und Manfred Oeming, Berlin 2019, S. 161–230, hier: S. 164. 27 C.G. Jungs religionshistorische Hypothesen sind hier eine gewisse Ausnahme. Siehe z. B. »Versuch einer psychologischen Deutung des Trinitätsdogmas«, in: Zur Psychologie westlicher und östlicher Religion, Düsseldorf 1995, S. 127–208. Etwa deutet Jung die Rede von einer präexistenten Kirche im 2. Clemensbrief, Paulus’ Formulierungen in Phil 2,6 und 2. Kor 3,17 als »latente Trinität«. Der Grund dafür, dass in den Schriften des NT noch keine deutliche Trinitätslehre begründet werde, liege darin, dass das Ereignis des Auftretens eines Gottessohnes von den Zeitgenossen Jesu nicht verstanden werden konnte, sondern als numinoses Ereignis, als überwältigende Offenbarung erlebt worden sei. Die »jahrhundertelange Nachwirkung« dieser Erfahrungen und die allmähliche Etablierung einer Theologie der Trinität, der Inkarnation und der Auferstehung seien »eigentlich nichts andres als die allmähliche Entfaltung des Archetypus im Bewußtsein« (Jung, »Trinitätsdogma«, S. 158). 28 Zu der tiefenpsychologischen Kritik an der historisch-kritischen Bibelhermeneutik siehe insbesondere Eugen Drewermann, Tiefenpsychologie und Exegese, 2 Bde, München 1990.

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sind.29 Dass das tiefenpsychologische Vorgehen dem einer historisch-kritischen Exegese nicht wesentlich zuwiderläuft, bestätigt etwa die Einschätzung Jürgen Ebachs in seinem Kommentar zur Joseferzählung: »Die doppelte Aufgabe der Exegese ist, das Fremde so genau zu betrachten, dass es etwas vertrauter wird, und das scheinbar Vertraute so genau, dass es etwas fremder wird.«30 Und Ebach folgert weiter: »Die – gerade auch wissenschaftlich – angemessene Auslegung einer solchen Erzählung wird die einer kommentierenden Nacherzählung sein.«31 Ganz in diesem Sinne gehe ich im folgenden ersten Teil die einzelnen narrativen Etappen der Erzählung entlang und übertrage die literarischen Symbole in Bilder eines inneren Wachstums. Ich benenne, wenn dies nötig erscheint, außertextliche Kontexte, die diese subjektive, aber nicht ankerlose Methode der Schriftauslegung eröffnet. Angeboten und vermittelt werden soll ein hermeneutischer Erfahrungsbericht, kein analytisches Dogma. Vorangestellt werden müssen aber einige zentrale Begriffe und Frage­stellungen, die das Anliegen einer tiefenpsychologischen Aus­ legung deutlich machen und dem in dieser Methode nicht beheimateten Leser hilfreich sein sollen. Denn obwohl die tiefenpsychologische Methode sich nicht fundamental von der historisch-kritischen unterscheidet und vielfach auf diese angewiesen ist, kommt eine solche Deutung teils zu Folgerungen, die dem historisch-kritisch geschulten Leser fremd oder abwegig erscheinen können, gerade wenn die methodische Einordnung fehlt – auch wenn diese Schlüsse teilweise in einem Widerspruch zum Wissen der Überlieferung, etwa zur kirchlichen Tradition, stehen. Analogie des Textes mit dem Traum, die Sprache der Symbole und das Unbewusste Als der vielleicht prominenteste Schüler Freuds war Carl Gustav Jung einer der ersten Psychoanalytiker, die die ursprünglich in der klinischen Praxis gemachten Erfahrungen der Psychoanalyse für eine Interpretation von literarischen Texten und insbesondere von reli29 Siehe hierzu Anselm Grün, Tiefenpsychologische Schriftauslegung, Münsterschwarzach 1992, S. 26 und nun auch Oeming, »Tiefenpsychologische Schriftauslegung«, S. 162. 30 Ebach, Gen 37–50, S. 11. 31 Ebd., S. 44 (Hervorhebung im Original).

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giösen Schriften zu nutzen ersuchten.32 Die meisten tiefenpsychologischen Exegeten der späteren Zeit nehmen Bezug auf Jung, dessen Bedeutung für diese Technik so hoch eingeschätzt wurde, dass selbst die Warnung laut wurde, Jung nicht zum »Hauptkirchenvater« tiefenpsychologischer Bibelexegese zu ernennen.33 Mit der von Jung entwickelten Neuperspektivierung des Unbewussten als dem Bereich archetypischer Wirklichkeit34 wird das Verhältnis des Unbewussten zum Bewusstsein bzw. der Archetypen zu den unterschiedlich realisierten Manifestationen von Sinn beschrieben als ein Verhältnis von Latenz zu deren Verwirklichung. Die sinnlich grundsätzlich nicht wahrnehmbaren Archetypen regieren als latente Inhalte alle kulturell und zeitlich kontingenten Formen menschlicher Sinnproduktion. Umgekehrt haben alle kulturellen Errungenschaften, auch und insbesondere die Religion, den Charakter von Symbolen mit Repräsentationscharakter. Dieses Verhältnis von Latenz zu Realisierung, zwischen denen Symbole vermitteln, war für Jung auch ein Argument für die Grenzen der Vernunfterkenntnis und eine Aufwertung von Bildern als diskursiv nicht einholbaren, der Sprache und der Erfahrung vorgängigen Wissensträgern. Die den Religionen und auch den heiligen Schriften zugrunde liegenden Offenbarungserfahrungen Gottes beschrieb Jung als »Produkte eines vorbewussten Wissens, das sich wie immer und überall in Symbolen ausdrückt«, weshalb »[j]ede Erweiterung und Verstärkung des rationalen Bewußtseins aber […] weiter weg von den Quellen der Symbole«35 führe. Auch in Paul Ricœurs philosophischer Abhandlung über die Interpretation, einem im Untertitel so bezeichneten »Versuch über Freud«, spielt das Symbol als Wissensbegriff eine Hauptrolle. Ausgehend von der Traumdeutung als einer Interpretationspraxis, die sich primär mit dem deutungsbedürftigen und unbegrifflichen 32 Siehe Jungs Texte: »Antwort auf Hiob«, »Versuch einer psychologischen Deutung des Trinitätsdogmas« und »das Wandlungssymbol in der Messe« in: Zur Psychologie westlicher und östlicher Religion. Vgl. auch Micha Brumlik, C.G. Jung zur Einführung, Hamburg 1993, S. 97–130. 33 Siehe Grün, Tiefenpsychologische Schriftauslegung, S. 22. 34 Zu einer Zusammenfassung zur Theorie der Archetypen siehe die Monographie von Jolande Jacobi, einer Schülerin von C.G. Jung: Komplex, Archetypus, Symbol in der Psychologie C.G. Jungs, Zürich 1957. 35 Jung, Westliche und östliche Religion, S. 213.

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Medium des Symbols beschäftigte, hielten Ricœur und, etwa gleichzeitig, Alfred Lorenzer die Psychoanalyse von vorn herein für eine Spielart der Hermeneutik. Auch hier lässt die Aufwertung des Symbols eine Rationalismuskritik erkennen oder, generell gesprochen, eine Kritik an dem Logozentrismus der europäischen Philosophie und Theologie seit der Aufklärung. Lorenzers Entdecken und Auffächern36 des psychoanalytischen Symbolbegriffs steht somit auch im Kontext eines in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts virulenten Hinterfragens geisteswissenschaftlicher Erkenntnis und ihres Verhältnisses zu den Naturwissenschaften.37 Lorenzer griff hierbei die von Susanne K. Langer gemachte Unterscheidung von »diskursiven« und »präsentativen« Symbolen auf. Während die Sprache wegen der Ordnung ihrer Syntax und durch ihre auf Repräsentation beruhende Semantik grundsätzlich eine diskursive Symbolik besitze, gebe es eine andere Art des Symbols, die gerade »dazu geschaffen ist das Unsagbare zu erklären«. Ihren »höchst entwickelten Typus« erkannte Langer in der Musik.38 Eine ebensolche, nicht-repräsentative, »der logischen Ordnung so fern[e]«39 Symbolik besitzen, Lorenzer zufolge, auch sprachliche Kunstformen, wie die Poesie, oder die »szenische« Erzählung, und auch die in der Psychoanalyse behandelten verbalen Berichte von Trauminhalten.40 In der szenischen Gestalt vermag die Rede ›Bilder‹, bildhafte Gestalten herzustellen. Indem der Psychoanalytiker im ›szenischen Verstehen‹ sich bemüht, die denotierende Bedeutung der Rede zu überhören, um in ›gleichschwebender Aufmerksamkeit‹ sich bildhafte Szenen unabhängig vom logischen Gedankenfluß 36 Siehe Konrad Lorenzer, Kritik des psychoanalytischen Symbolbegriffs, Frankfurt am Main 1970. 37 Jürgen Habermas sieht den Wert der Psychoanalyse in diesem Kontext gerade nicht in der Produktion wissenschaftlicher Erkenntnisse nach naturwissenschaftlichem Vorbild, sondern in der selbstkritischen Analyse des Subjekts und dessen Loslassen von Objektivitätsansprüchen. Genau und erst dadurch werde Psychoanalyse Wissenschaft und »Metahermeneutik«. (Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt am Main 1968, S. 267 ff.) 38 Langer, 1965, S. 107, zitiert in Alfred Lorenzer, Die Sprache, der Sinn, das Unbewusste. Psychoanalytisches Grundverständnis und Neurowissenschaften, hg. von Ulrike Prokopp, Stuttgart 2002, S. 74. 39 Ebd. 40 Lorenzer, Die Sprache, der Sinn, S. 72.

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aufscheinen zu lassen, nimmt er die Sprache in ihrer präsentativen [d. h. nicht ihrer repräsentativen] Symbolgestalt. […] Im Szenischen Verstehen und novellistischen Zusammenfassen der Erzählszenen nähern sich die Bilder, nähert sich die poetischpräsentative Symbolebene den Abkömmlingen der unbewussten Sinnstruktur und das heißt auch: dem sozial Unerlaubten.41 Diese alternative, »präsentative« Semantik von Symbolen hatte für Lorenzer letztlich eine weitere Komponente. Sie zeichnete nämlich die Zusammengehörigkeit von seelischer und körperlicher Erfahrung aus, die bereits von Sulloways Beschreibung von Freud als »Biologen der Seele«42 verdeutlicht werde.43 Man hat Freud – und auch Jung – häufig vorgehalten, eine »Hermeneutik des Misstrauens« zu betreiben, in der die als Symptome verstandenen körperlichen und seelischen Symbole letztlich decodiert, durchdrungen und damit hinter sich gelassen werden sollten.44 Spätestens seit Lorenzer und Ricœur hat das Symbol der Psychoanalyse immer die Doppelfunktion der auf Repräsentation beruhenden Diskursivität und der nicht diskursiv vermittelbaren Präsenz des Symbols. Mit einer »Hermeneutik des Leibes« (Lorenzer) bzw. einer Kombination von Hermeneutik und Energetik (Ricœur) wurde der Körper selbst, statt ein auslegungsbedürftiges Substrat, dessen Somatisierungen andere, seelische Inhalte nur repräsentativ vermitteln, mit einem eigenen Wissensanspruch aufgewertet. Weder Ricœur noch Lorenzer waren primär um eine Anwendung ihrer Symbollehre auf historische Überlieferungen besorgt, obwohl beide bestätigen, dass die literarische Erzählung und die Poesie wie der Traum und der Traumbericht »Abkömmlinge« des Unbewussten und daher mit denselben Mitteln zu deuten seien. Die Deutung der Abkömmlinge kann den Weg vom latenten Trauminhalt zum mani41 Ebd., S. 76. 42 Vgl. ebd., S. 60. 43 Ebd., S. 59: »Indem Freud an der naturwissenschaftlichen Ausrichtung unnachsichtig festhielt, hob er auf eine lautlose, aber folgenreiche Weise die Grenze zwischen Naturwissenschaften und Kulturwissenschaften auf, stiftete er das neue Paradigma einer Wissenschaft, die man mit dem Titel einer ›Hermeneutik des Leibes‹ versehen kann.« 44 Vgl. Jan Assmann, Religion und kulturelles Gedächtnis, München 2004, S. 62 f.

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festen Traum über die Erinnerung, Sprachwerdung und kommunikative Vermittlung nicht rückwärts abschreiten. Der analytisch orientierte Literaturwissenschaftler und Schriftexeget muss, wie der Traumdeuter, vielmehr selbst an den »Abgrund zum Unbewussten« gehen und wird dabei vielleicht einen Teil der »Haupttugend der Sprache, die Denotation«45 verlieren.46 Die Deutung »am Abgrund zum Unbewussten« wird wiederum nur Bilder für Bilder hervorbringen, die zwar verdeutlichen, aber nichts beweisen können. Trotzdem scheint mir dieses Bewusstsein zunächst notwendig zu einer psychoanalytisch orientierten Schriftauslegung zu gehören. Historische Kontexte können und sollten, ebenso wie intertextuelle Bezüge und auch spätere Kommentare, in die tiefenpsychologische Schriftauslegung einbezogen werden, um die sozialen, politischen, genderspezifischen und andere menschliche Konditionen der Symbole der Schrift einzuordnen und die Interpretation zu stützen. Aber die tiefenpsychologische Deutung sollte als eigene Methode neben den primär vernunftgesteuerten, argumentativen, dem Verständnis der historischen Zusammenhänge gewidmeten Geschwisterdisziplinen ihren eigenen Geltungsanspruch, ihre eigene Evidenz behaupten. Subjektivität, Individuation, Heilung Die wohl vehementeste Kritik an »der« historisch-kritischen Bibelauslegung kam in Deutschland von dem Psychoanalytiker, Theologen und Friedensaktivisten Eugen Drewermann, dessen Werk Tiefenpsychologie und Exegese auf über tausend Seiten einen monumental

45 Langer, zitiert in Lorenzer, Die Sprache, der Sinn, S. 74. 46 Ich verzichte darauf, die interessante und grundsätzlich wichtige Kritik an der Psychoanalyse durch die französischen Philosophen Foucault, Guattari und Deleuze auszuführen. Als minimaler Zusammenhang sei nur auf die Kritik von Foucault an dem Machtgefälle in der Psychoanalyse und dem Machtinstrument der psychoanalytischen Deutung und Sprachtheorie verwiesen: »Der Kranke wird immer mehr jene Hingabe in die Hand eines Arztes, der […] außerhalb menschlichen Ermessens steht, akzeptieren. Er wird sich immer mehr in ihm verlieren, weil er schon im Voraus dessen ganze Zauberkraft annimmt und sich dadurch von Anbeginn einem Willen ausliefert, den er als magisch empfindet und einem Wissen, das er als Voraussetzung und Divination vermutet […] in voller Bereitschaft, jene hysterische Gestalt zu sein, in der Charcot die wunderbare Kraft des Arztes exaltierte.« (Foucault, 1969, S. 533 zitiert in: Lorenzer, Die Sprache, der Sinn, S. 49). Foucault bezieht sich vor allem auf die Psychoanalyse als einer Fortsetzung der Hypnose.

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zu nennenden Syntheseversuch der psychoanalytischen mit einer christlich-religiösen Perspektive darstellt.47 Drewermann macht sich nicht nur bei Weitem die größte Mühe, seine eigene Theoriebildung aus der romantischen Hermeneutik und der Philosophie des deutschen Idealismus herzuleiten, sondern er setzt sich vor allem am intensivsten mit der Geschichte der Bibelauslegung auseinander. Das Verdienst der modernen, historisch-kritischen Bibelexegese sieht Drewermann in der Formkritik der biblischen Schriften und der Rekonstruktion der verschiedenen Sitze im Leben, d. h. den »Erzählanlässen« und den »gesellschaftlichen Gegebenheiten« der unterschiedlichen Entstehungskontexte.48 Allerdings würden die für die Texte der Bibel wesentlichen Gottesbegegnungen in der akademischen Theologie de facto weitgehend ignoriert. Mit der Historisierung der biblischen Wirklichkeiten sei die moderne Theologie in die Sackgasse einer »Relativierung aller geistig verbindlichen Inhalte der Bibel«49 geraten. Ohne wie Jung dezidiert eine Archetypenlehre zu entwickeln, geht auch Drewermann davon aus, dass die in den Schriften verarbeiteten Offenbarungserlebnisse als seelische Bilder zu verstehen seien. Gegenüber der verstandesmäßigen, historisch relativierenden, den Abstand zum Offenbarungsgeschehen betonenden Bibelexegese sieht Drewermann in der Psychoanalyse eine Möglichkeit diesem Moment gerecht zu werden.50 Nur durch eine Integration der subjektiven Erfahrung könne Bibelexegese glaubhaft auf eine heilsbringende Bedeutung der heiligen Schrift für den indi-

47 Drewermann, Tiefenpsychologie und Exegese, Bd. 1 und 2. Siehe außerdem die zahlreichen Deutungen Drewermanns Grimm’scher Märchen, so wie seine Kommentare zur Genesis: Strukturen des Bösen. 3 Bände., Paderborn 1977–1978 und zum Evangelium nach Lukas, 2 Bände, Düsseldorf 2009. 48 Drewermann, Tiefenpsychologie und Exegese, Bd. 1, S. 19. 49 Ebd., Bd. 1, S. 35. 50 Ebd.: »Selber entstanden aus dem Bemühen, die neurotischen Absperrungen der Angst und die gefühlsfeindlichen Verstandeseinseitigkeiten der neuzeitlichen Bewusstseinsentstellung durch das Vertrauen eines ursprünglichen Träumens zu überwinden, hat gerade die Tiefenpsychologie sich zu einem geeigneten Instrument herausgebildet, um in die Tiefenschichten der menschlichen Psyche vorzudringen. Selber zunächst biographisch-historisch orientiert, ging es ihr doch um den diagnostischen und prognostischen Wert der Traumerinnerungen, und indem sie das ›Vergangene‹ in den Träumen als symbolischen Ausdruck der Persönlichkeit zu verstehen lernte, wie sie selbst den Weg zum Verständnis auch der eigentümlichen Zeitlosigkeit der religiösen Überlieferungen.«

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viduellen Gläubigen heute bestehen.51 Heilung ist dann auch eine der zentralen Kategorien einer tiefenpsychologischen Exegese der Bibel für Drewermann, die vornehmlich in den Evangelien als Wunder empfunden und erzählt wird. Der tiefenpsychologische Wunderbegriff bedeutet dabei gerade nicht ein Außerkraftsetzen weltlicher, »natürlicher« Ordnung, sondern eine Herstellung derselben, bezogen auf den Menschen, in einer Hilfeleistung beim Zusammenfügen von unversöhnten, antagonistischen Persönlichkeitsanteilen.52 Nicht nur die Berichte über Heilungen, die Jesus bewirkt hat, sondern auch andere Textsorten, wie die Gleichnisse Jesu lassen sich mit einer solchen tiefenpsychologischen Hermeneutik als Reflexionen von Individuationsprozessen verstehen: Das Wiederfinden eines verlorenen Lamms (Lk 15,4–7) oder einer verlorenen Münze (Lk 15,8– 10), die Heimkehr des verlorenen Sohns (Lk 15,11–32) werden etwa als Bilder gedeutet, die ein Zusammenfügen der zuvor neurotisch abgespaltenen, verdrängten oder bei der Entwicklung aufgegebenen Persönlichkeitsanteile meinen. Das Fest und noch deutlicher die Hochzeit seien ein Bild der vollendeten Menschwerdung. Das Himmelreich, auf welches Gleichnisse auch nach der »klassischen«, auf die Gleichnistheorie Jesu (Mk 4) gestützten Lehre vorbereiten, wird als Hochzeit zwischen der Seele und Jesus als einem Symbol für das Selbst gedeutet und damit wiederum als feierliche Erfüllung der Individuation genannten Menschwerdung. Manche tiefenpsychologischen Interpreten wie der Benediktinerpater Anselm Grün kon­ statieren gerade heraus: »Jeder Traum, jede Erzählung erzählt den Prozess einer Individuation.«53 Methodisch bedeutet diese Zentralsetzung des Individuationsprozesses, dass die Texte der Bibel – wiederum vermittels der Analogie mit dem Traum – auf einer »Objektstufe« und auf einer »Subjektstufe« gedeutet werden.54 51 Ebd., Bd. 1, S. 15 (meine Hervorhebung). 52 Die Dichotomie von Oberfläche und Tiefe wird bei Drewermann zu einer Dichotomie von innerer, psychischer Wirklichkeit und äußerem historischen Geltungsbereich. Eine legitime Auslegung einer als Offenbarung verstandenen heiligen Schrift müsse »den inneren Erfahrungsraum seelischer Zustände« (Drewermann, Tiefenpsychologie und Exegese, Bd. 1, S. 14) reflektieren; »alles Historische ist aber äußerlich.« (Ebd., Bd. 1, S. 13). 53 Grün, Tiefenpsychologische Schriftauslegung, S. 25. 54 Siehe dazu ausführlich Maria Kassel, Biblische Urbilder. Tiefenpsychologische Auslegung nach C.G. Jung, München 1980. Im Rückgriff auf Jung und Drewermann bemühte sich Kassel um den Wert einer vermittels des Bibelstudiums

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Nehmen wir das Beispiel der Geschichte vom Seesturm und Seewandel Jesu in Mt 14,22–33 für eine kurze Veranschaulichung dieser Prämisse. Grün deutet die einzelnen Elemente der Geschichte, die in der Begegnung von Jesus und Petrus auf dem Wasser kulminiert, als Bilder für seelische Zustände und deren Wandlung: »Das Boot ist ein Bild für das Ego, in dem wir uns festmachen und an dem wir uns festhalten. Unser Weg geht ans andere Ufer. Wir müssen das Wasser überqueren, ein Bild für das Unbewußte, durch das wir hindurchmüssen.«55 In der Nacht, wiederum einem Bild für die Öffnung zum Unbewussten, geraten die Jünger in eine Seenot, aus der sie sich trotz großer Anstrengung nicht selbst retten können, bis ihnen »in der vierten Nachtwache« Jesus auf dem Wasser entgegenkommt; doch die Jünger erkennen ihn nicht. Eine Wende kommt nun erst dadurch zustande, dass Jesus Petrus über den Rand des Bootes hinauslockt. »Wenn wir das Wort auf der Subjekstufe deuten, dann wendet sich das Ego, das sich bisher an sich selbst festgehalten hat, an das Selbst.«56 Und indem Petrus »seine Augen auf Jesus richtet, kann er über das Meer gehen. Da verliert das Wasser, das Unbewußte, das Gefährliche, das Dunkle und Bedrohliche, seine Macht.«57 Das »szenische Bild« des Seewandels bei Mt zeigt, dieser Deutung zufolge, eine Problembewältigung, die darin besteht, die einsame Kraftanstrengung aufzugeben und sich vermittels des Vertrauens in das Selbst auf den »Gang über das Wasser«, das Unbewusste, zu wagen, dem Selbst zu begegnen und mit ihm zusammen den Weg fortzusetzen – nun um die gefahren- und mühevolle Arbeit des Kampfes gegen das Abgründige erleichtert. Es ist das Bild einer Integration unterschiedlicher Teile des Menschen, das szenisch beschrieben wird und im »szenischen Verstehen« einen solchen Reifeprozess nachfühl-

erlangten Individuation, d. h. einer Integration von negativ bewerteten Persönlichkeitsanteilen wie Ängsten in das Selbstbild und damit auch um ein verändertes Jesusbild. Anders als die Morallehre der (katholischen) Kirche predige, stehe die Person Jesu gerade nicht für einen nur guten Menschen ohne »böse« Seelenanteile, sondern für eine Konfrontation mit und letztlich eine emotionale Integration der Feindobjektivierungen in das eigene Selbstbild. Vgl. Kassel, Biblische Urbilder, S. 153–187 (Dort auch zu den Archetypen des Schattens, des animus/der anima und des Selbst). 55 Grün, Tiefenpsychologische Schriftauslegung, S. 77. 56 Ebd., S. 78. 57 Ebd., S. 79.

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bar machen und vielleicht auch heutigen Lesern dabei helfen kann einen solchen zu vollziehen. Einer tiefenpsychologischen Deutung geht es also darum, »das eigene Erleben, das subjektive Empfinden, die eigene Existenz gerade nicht methodisch aus[zu]schalte[n]«, sondern »im Gegenteil; das Subjektive […] als die wesentliche Erkenntnisquelle, als das entscheidende Organ zum Verständnis des Vergangenen zu betrachten.«58 Auf der theoretischen Ebene ist nun zentral, dass psychoanalytische Theologen wie Drewermann die Figur der Typologie im Sinne einer Gleichzeitigkeit des Historischen mit dem Erkennenden für sich beanspruchen: »Im Verstehen der Geschichte wird mithin das Vergangene gleichzeitig zur Gegenwart, und das Verstehende selbst wird gleichzeitig zur Vergangenheit.«59 Unabhängig davon, was von Drewermanns Ärger über »die« historisch-kritische Bibelexegese zu halten ist, wird an dieser Stelle eine Gefahr seiner hermeneutischen Perspektive offenbar, die darin besteht, mit dem Abrücken von der historisierenden Perspektive auf die heiligen Schriften einer kulturellen (und sozialen und politischen) Unspezifizität das Wort zu reden. Gerade die Behauptung einer Überbrückung von historischen Kontingenzen sowohl des modernen Lesers als auch der antiken Urheber in der Deutungsfigur der Typologie ist – nicht nur im Hinblick auf die christliche Tradition typologischer Bibelinterpretation – mindestens ambivalent. Sie scheint wiederum ein Erbe der philosophischen Hermeneutik zu sein, die im Wort der »Horizontverschmelzung«60 von ähnlich abstrakten, politisch neutralen Begegnungen zwischen historischen Autoren und modernen Lesern träumte und damit ebenfalls das Risiko einer Generalisierung der eigenen Erfahrungen einging.61 58 Drewermann, Tiefenpsychologie und Exegese, Bd. 1, S. 57. 59 Ebd., Bd. 1, S. 59 und weiter auf S. 66 f.: »Soll die menschliche Geschichte nicht nur als Kette von ›Tatsachen‹ erzählt, sondern als Einheit des Menschlichen von innen her verstanden werden, so müssen im Menschen selbst vor aller Geschichte ›Strukturen‹ des Erlebens gefunden werden, die den ›Strukturen‹ des geschichtlichen Auftretens des Menschen zugrunde liegen und in ihnen zum Ausdruck kommen. […] Eine typologische Hermeneutik der Geschichte verlangt eine archetypische Hermeneutik der menschlichen Psyche.« 60 Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 311 und öfter. 61 Im tiefenpsychologischen Pendant suggeriert das Insistieren auf die emotionale oder bildhafte Verstehbarkeit historischer Texte im Unbewussten außerdem, dass die Entwicklungsprozesse, von denen in den Gleichnissen die Rede ist und

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Ohne diese Vorbehalte vorweg ausräumen zu können oder zu wollen, soll hier der Hinweis genügen, dass die Psychoanalyse und damit auch die tiefenpsychologische Schriftauslegung eine Erfahrungswissenschaft ist und sich erst im Vollzug bewährt. Gegenüber dem Vorwurf der Verallgemeinerung des Spezifischen sollte auch ins Feld geführt werden, dass in der Konzentration auf das »allgemein Menschliche« ein Potenzial steckt Fremdheit zu überwinden.62 Während dies bei der Auslegung der Texte des Alten Testaments die Gefahr eines christlichen Triumphalismus über den jüdischen Kanon birgt,63 liegen die Dinge bei einer tiefenpsychologischen Näherung an den Koran anders. Der Koran gilt in Deutschland immer noch als fremder Kanon, als dunkle, teilweise sogar als gefährlich wahrgenommene heilige Schrift einer als »die andere« eingestuften Religionsgemeinschaft. Hier wiegt die mit der Tiefenpsychologie verbundene Verheißung der Überwindung des Fremden im Wiedererkennen seelischer Bilder und Prozesse vielleicht schwerer als der postmoderne Vorwurf an die Sinn-Generalisierung der philosophischen Hermeneutik.64 die der Leser vermittels der Bibellektüre nachfühlen kann, bereits der Richtung nach für alle Zeit festgelegt seien. Andererseits haben sich gerade die christlichen Psychoanalytiker Jung und auch Drewermann intensiv mit nicht-christlichen (und nicht-jüdischen) Religionen und außereuropäischen Kulturen beschäftigt. Der Vorwurf der Universalisierung und Generalisierung der eigenen Erfahrung bzw. einer einzigen Tradition wird mit Blick auf diese Schriften abgeschwächt. 62 Zur Wahrnehmung des Koran als »fremdem« Kanon siehe auch Angelika Neuwirth, Wie entsteht eine Schrift in der Forschung und in der Geschichte? Die Hebräsiche Bibel und der Koran, Tübingen 2017, S. 23. 63 Zu einer solchen Kritik an Drewermann siehe Oeming, »Tiefenpsychologische Schriftauslegung«, S. 187 und 190 f. 64 Es gibt bisher keine Versuche, die tiefenpsychologische Schrifthermeneutik der Bibel an den Koran heranzutragen oder an ihm zu erproben. Trotzdem sind in den vergangenen Jahren mehrere Publikationen erschienen, die sich in kulturtheoretischer Hinsicht mit dem Verhältnis der Psychoanalyse zum Islam auseinandersetzen. Siehe vor allem die Monographie von Omnia El Shakry, The Arabic Freud. Psychoanalysis and Islam in Modern Egypt, Princeton/Oxford 2017. Der tunesischstämmige französische Psychoanalytiker Fethi Benslama nimmt in seinem Buch La psychoanalyse a l’épreuve de l’islam (deutsch: Wie der Islam die Psychoanalyse auf die Probe stellt, Berlin 2017) auch koranexegetische Positionen auf. Der Ansatz ist aber mit dem einer tiefenpsychologischen Schrifthermeneutik bereits deshalb nicht vergleichbar, da der Islam für Benslama ein problembesetztes, wenn nicht grundsätzlich pathologisches Phänomen zu sein scheint. Benslama, der aus seiner Praxis als Psychotherapeut im Umgang mit

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Warum Josef? Die am Ende des Buches Genesis erzählte Josefsgeschichte bietet sich als Fallbeispiel für eine vergleichend exegetisch orientierte, tiefenpsychologische Auslegung aus mehreren Gründen an: Erstens führt die für den Pentateuch ungewöhnlich lange, detailreich erzählte und auf einen einzelnen »Helden« konzentrierte »Novelle«65 ganz eminent eine Entwicklung vor.66 Diese Entwicklungsgeschichte Josefs kann »objektal« als Geschichte einer sozialen Ausgrenzung und eines Aufstiegs durch persönlichen Einsatz, Fleiß, ethische Beständigkeit und Gottvertrauen gedeutet werden. Ebenso kann die Entwicklung Josefs aber auch, nach dem Vorbild der nun dargestellten tiefenpsychologischen Schriftauslegung auf der Subjektebene gedeutet werden. Dieses Vorgehen liegt aufgrund des Vorkommens nahezu auffallend symbolhafter und archetypischer Konstellationen, Begriffe und Episoden besonders nahe. Es erstaunt daher beinahe, dass eine tiefenpsychologische Deutung der Josefsgeschichte weder von Eugen Drewermann noch einem anderen der Vertreter dieser Methode bisher bereits unternommen worden ist. Einzige Ausnahme stellt ein kurzes Kapitel zu »Jakob und sein Sohn Josef« in dem Buch der Psychotherapeutin Christa Meves Die Bibel antwortet in Bildern dar, das aber die Josefsgeschichte als einen Schritt auf dem Individuationsprozess Jakobs deutet und somit eine andere Per­ spektive vertritt als hier vorgeschlagen.67 Neben der Entwicklungsdynamik des Josef-Plots, die im folgenden ersten Teil untersucht werden soll, spricht ein zweiter Aspekt für die Tauglichkeit der Tiefenpsychologie: Die Langlebigkeit des radikalisierten Muslimen schöpft, knüpft einseitig an die religionskritische Tradition der Psychoanalyse an, ohne die Möglichkeiten einer spirituellen Sinnschöpfung aus den heiligen Schriften mit Hilfe der Tiefenpsychologie zu erwägen. 65 Die Josefsgeschichte wird in der Forschung in der Regel unter diese Gattung rubrifiziert. Vgl. Rüdiger Lux, Art. »Josef/Josefsgeschichte«, in: Wibilex. Zu einer Problematisierung der Gattungsbezeichnung siehe auch Teil 2. 66 Siehe hierzu auch den Aufsatz von Konrad Schmid, »Die biblische Josephsgeschichte als Bildungsroman?«, in: Jahrbuch für Biblische Theologie 35 (2020), S. 57–63. Schmid untersucht hier nicht nur die Entwicklung des Protagonisten Josef, sondern auch die in der Josefsgeschichte angelegte Pragmatik des Anstoßes von Entwicklung beim Leser. 67 Siehe Christa Meves, Die Bibel antwortet in Bildern. Zugänge zu Lebensfragen aus tiefenpsychologischer Sicht, Hamburg/Frankfurt 2000, S. 64–78.

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Erzählstoffs in unterschiedlichen kulturellen, sprachlichen und religiösen Kontexten, auf die sich der zweite Teil konzentriert. Die Joseferzählung der Genesis nimmt vermutlich selbst Elemente antiker Mythen auf, wie etwa des ägyptischen Zwei-Brüder-Märchens68 oder des Gilgameschepos.69 Die Joseflegende lebt über die Genesis hinaus fort in zahlreichen narrativen und exegetischen Varianten im rabbinis­chen Midrasch, in spätantiken Texten wie dem Jubiläenbuch, in literarischen Texten wie dem hellenistischen »Roman« Josef und Asenet, in christlichen Interpretationen der Josef-Gestalt als einer typologischen Präfiguration Christi und auch in der islamischen Literatur. Nicht nur im Koran, sondern auch in dem persischen Epos des Dichters Djami »Jūsuf und Zulaika«, in Prophetengeschichten und schließlich bis in die Moderne, etwa in mehreren Opern, in der Romantetralogie Thomas Manns und in der Poesie des palästinensischen Dichters Mahmoud Darwish.70 Dass die Joseflegende zu einer der meist erzählten Geschichten der Menschheit zählt, führt nicht nur zu der interessanten Perspektive einer transreligiösen, transkulturellen Verflechtung, sondern auch zu der Annahme, dass die in ihr dargestellte Entwicklung eines Menschen an die Erfahrungen und Gefühlswelten ganz unterschiedlicher Leser*innen anrührt und dass die von Josef gemachten Erfahrungen auch noch dem modernen Menschen Einsicht vermitteln können, wie sie es seit mehr als zweitausend Jahren tun. Im ersten Teil versuche ich nun, die Josefsgeschichte als Entwicklung eines Menschen, als nahezu idealtypischen (aber in der Ausprägung natürlich spezifischen) Individuationsprozess nachzuvollziehen. Ich lege dabei nicht nur den Text der Genesis zugrunde, sondern ergänze, wo hilfreich und sinnvoll, Fortschreibungen und 68 Eine Einordnung und englische Übersetzung des Märchens siehe in Shalom Goldman, The Wiles of Women. The Wiles of Men: Joseph and Potiphar’s Wife in Ancient Near Eastern, Jewish, and Islamic Folklore, Albany 1995, S. 57–78. Zum Text selbst und einer literaturwissenschafltichen sowie historich-­kontextualisierenden Interpretation des »Märchens« von den zwei Brüdern siehe Wolfgang Wettengel, Die Erzählung von den beiden Brüdern: Der Papyrus d’Orbiney und die Königsideologie der Ramessiden, Göttingen 2003. (Mit freundlichem Dank für den Hinweis an Prof. Konrad Schmid) 69 Goldman verweist auf die Schönheit Gilgameschs als einem Attribut, das der Darstellung Josefs ähnelt. Siehe Goldman, The Wiles of Women, S. 44. 70 Mahmoud Darwish, »Anā Yūsufun yā Abī« (Vater, ich bin Josef), in dem Gedichtband: Ward aqal (Weniger Rosen), 1985.

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Varianten aus postbiblischen, auch islamischen Texten. Eine Differenzierung der Gattungen und die historische Kontextualisierung von Sure 12 und Gen 37–50, die Diskussion der Vermittlungswege zwischen Bibel und Koran bleiben in diesem ersten Interpretationsversuch noch ausgeklammert. Damit soll nicht suggeriert werden, dass Koran und Bibel sich marginal unterscheiden würden. Ganz im Gegenteil: Der Koran ergänzt die Genesis und schreibt ihre Geschichte mit anderen Akzentsetzungen um. In einigen Punkten differiert die koranische Josefsgeschichte auch eminent von der Genesis. Alle diese Differenzen und historischen Verankerungen werden vorerst zurückgestellt und im zweiten Teil nachgeholt.

Kurze Gebrauchsanweisung Die hier zugrunde gelegten Übersetzungen sind im Wesentlichen die der 2017 überarbeiteten, von der deutschen Bibelgesellschaft zum Anlass des Reformationsjubiläums 2018 neu herausgegebenen Lutherübersetzung. Teile des hebräischen Textes Gen 37–50 waren Gegenstand eines Seminars, welches Manfred Oeming und ich im Sommersemester 2019 an der theologischen Fakultät in Heidelberg veranstaltet haben. Aus den Vor- und Nachbereitungen dieser Lehrveranstaltung und den Diskussionen im Seminar sind eigene Übersetzungen hervorgegangen, auf die hingewiesen wird, wenn sie vom Luthertext abweichen. Um Zitate aus der Bibel nicht ausufern zu lassen, werden jeweils nicht die ganzen Kapitel aus Gen angeführt, sondern nur Teile. Bei den Übersetzungen des Koran berücksichtigt wurden die Übersetzungen von Rudi Paret, Georges Khouri und Max Henning in der Überarbeitung von Mourad Wilfried Hofmann. Zitate aus dem Koran werden mit Q abgekürzt, d. h. Q 12,23 (statt Sure 12, Vers 23). Ich bin nicht Psychotherapeutin und kann daher, anders als die meisten tiefenpsychologisch vorgehenden Bibelinterpreten, nicht auf die Erfahrungen einer therapeutischen Praxis zurückgreifen. Da diese Methode aber von Übertragungen unterschiedlicher Lebenskontexte lebt, verweise ich auf Beispiele aus der Literatur, wenn mir dies für das Verständnis oder die Anschaulichkeit notwendig oder hilfreich erscheint. Die wichtigsten methodischen Inspirationen habe ich freilich von den Märchen- und Bibelinterpretationen Eugen Drewermanns erhal-

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ten. Auch wenn diese im Lauf dieser Arbeit nur selten direkt zitiert werden, ist dieser Einfluss, wie ich hoffe, wahrnehmbar geblieben. Um den Lesefluss der Deutung der Josefsgeschichte nicht zu unterbrechen, sind Bemerkungen aus der Forschungsliteratur, bis auf wenige Ausnahmen, in die Fußnoten gestellt worden.

I JOSEF – ENTWICKLUNG EINES MENSCHEN Der bunte Rock und die Furcht vor dem Tier: Josefs Kindheitsgeschichte Der Ausgangskonflikt der Josefsgeschichte gehört sicher zu den bekanntesten Erzählstoffen des Alten Testaments: 1 Jakob aber wohnte im Lande, in dem sein Vater ein Fremdling gewesen war, im Lande Kanaan. 2 Und dies ist die Geschichte von Jakobs Geschlecht: Josef war siebzehn Jahre alt und hütete mit seinen Brüdern die Schafe; er war Gehilfe1 bei den Söhnen Bilhas und Silpas, den Frauen seines Vaters, und er hinterbrachte ihrem Vater ihre2 üble Nachrede. 3 Israel aber hatte Josef lieber als alle seine Söhne, weil er der Sohn seines Alters war, und machte ihm einen bunten Rock. 4 Als nun seine Brüder sahen, dass ihn ihr Vater lieber hatte als alle seine Brüder, wurden sie ihm so feind, dass sie ihm nicht mal mehr guten Tag sagen konnten.3 5 Und Josef hatte einen Traum und erzählte4 seinen Brüdern davon; da wurden sie ihm noch mehr feind. 6 Denn er sprach zu ihnen: »Hört doch, was ich geträumt habe. 7 Siehe, wir banden Garben auf dem Felde, und meine Garbe richtete sich auf und blieb ste-

1 Oder auch: ein Junge. Zum Begriff naʿar siehe weiter unten, FN 8 dieses Kapitels. 2 Es ist im hebräischen Text unklar, wessen Nachrede überbracht wird. Die Kommentare stimmen darin überein, dass Josef seine Brüder bei ihrem gemeinsamen Vater »verpetzt« habe. Isaac Kalimi referiert mehrere frühjüdische und rabbinische Exegesen zu dem Vers und scheint selbst von einer Schuld Josefs an seinen Brüdern durch die »üble Nachrede« auszugehen. Vgl. Untersuchungen zur Jüdischen Schriftauslegung und Theologie. Bindung Isaaks, Geschichte Josefs und Biblische Theologie, Würzburg 2018, S. 161 ff. Zu der Unklarheit, wessen Nachrede überbracht wurde, siehe auch Ebach, Gen 37–50, S. 58. 3 Luther: »… und konnten kein freundliches Wort zu ihm sagen.« Die wörtliche Formulierung lautet ‫ ולא יכלו ברו לׁשלם‬also eigentich: Sie konnten ihm kein Wort im Frieden sagen. Frieden kann aber natürlich auch das Wort der Begrüßung meinen, wie hier frei übersetzt wird. 4 Luther: »sagte« ihnen davon.

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hen, aber eure Garben stellten sich ringsumher und neigten sich vor meiner Garbe.« 8 Da sprachen seine Brüder zu ihm: »Willst du unser König werden und über uns herrschen?« Und sie wurden ihm noch mehr feind um seines Traumes und seiner Worte willen. 9 Und er hatte noch einen zweiten Traum, den erzählte er seinen Brüdern und sprach: »Ich habe noch einen Traum gehabt;5 siehe, die Sonne und der Mond und elf Sterne neigten sich vor mir.« 10 Und als er das seinem Vater und seinen Brüdern erzählte, schalt ihn sein Vater und sprach zu ihm: »Was ist das für ein Traum, den du geträumt hast? Sollen denn ich und deine Mutter und deine Brüder kommen und vor dir niederfallen?« 11 Und seine Brüder ereiferten sich über ihn. Aber sein Vater behielt diese Worte. Wenn wir auch hören, dass Josef der meistgeliebte Sohn seines Vaters ist und mit besonderen Geschenken bedacht wird, weiß der Leser bereits zu diesem Zeitpunkt, dass Josef für diese Rolle nicht zu beneiden ist. Wir erfahren, dass Josef siebzehn Jahre alt ist (2), also auf dem Weg, erwachsen zu werden. Er darf wegen der übermäßigen Zuneigung seines Vaters aber nicht zu den Brüdern gehören, die auf dem Feld die Herden weiden und es deuten sich bereits hier in der »üblen Nachrede« (2) der Söhne der Frauen Bilhas und Silpas Konflikte an. Es scheint, als hätte Josef eigentlich die Kindheit eines Mädchens, das ganz im häuslichen Bereich und unter ständiger Beaufsichtigung durch den Vater lebt und allenfalls als Bote eingesetzt wird, um zwischen ihm und den anderen Söhnen zu vermitteln. Das Kleidungsstück, das der Vater ihm schenkt, sollte ein Geschenk der Liebe sein, aber es ist eine väterliche Liebe, die das Kind schließlich zum Opfer von Gewalt macht. Es ist eine Liebe, die, weil sie inneres Wachstum zu verbieten versucht, schutzlos und abhängig macht. In der Parallelstelle (2Sam 13,18) zum Begriff des »bunten Rockes«, wie Luther ‫פסים‬ ‫ כתנת‬im Rückgriff auf LXX übersetzt hat,6 bezeichnet der Begriff 5 Luther: »mir träumte«. 6 In der Literatur wurde vielfach darauf hingewiesen, dass der hebräische Begriff eigentlich nicht »bunt« bedeutet, sondern ein Gewand mit langen Ärmeln gemeint sein müsse. Luthers Übersetzung beruht auf der Septuaginta, die χιτῶνα ποικίλον übersetzt, also »bunter Rock« formuliert. Ich halte an der Formulierung fest, da dieser sich durch die Übersetzung Luthers derart fest in den deutschen Sprachgebrauch eingeprägt hat, dass man von einem geflügelten Wort sprechen könnte. Die Zuschreibung von Adel, die mit

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das »Gewand unverheirateter Prinzessinnen«.7 Deutlicher kann man die mit dem Kleidungsstück verbundene Zuschreibung von Weiblichkeit und Adel, die Josef seinen Brüdern entfremden muss, nicht beschreiben. Jakob kleidet seinen jüngsten Sohn wie ein kleines Mädchen, an dessen Liebreiz und Unschuld er sich erfreuen möchte, wofür die älteren Brüder Josef aber verachten müssen.8 Als die Brüder Josef bei seinem Botengang von weitem auf sie zukommen sehen, beschließen sie ihn zu töten und dem Vater zu sagen, ein wildes Tier habe ihn gefressen. (20) Und zunächst handeln sie nach diesem Plan; wenn sie auch vor dem direkten Mord zurückschrecken, werfen sie Josef doch ohne den bunten Rock in eine leere Zisterne, dann »nahmen sie Josefs Gewand, schlachteten einen Ziegenbock und tauchten das Gewand in Blut. Dann schickten sie den bunten Rock zu ihrem Vater und ließen ihm sagen: Das haben wir gefunden.« (31) Der Anschlag der Brüder ist gerade aufgrund der vermeintlichen Banalität ihres Beweggrunds – der begründeten Eifersucht auf den meistgeliebten Bruder – so erschütternd, dass viele Rezipienten in die Verurteilung der moralischen Schuld von Josefs Brüdern eindem langärmlichen Gewand indiziert sei, ist hier trotzdem mitgedacht. Konrad Schmid weist darauf hin, dass der Ärmelrock »keine Arbeitskleidung« sei, d. h. den Abstand Josefs zu seinen Brüdern anzeige. (Schmid, »Bildungsroman«, S. 59) 7 Ebach, Gen 37–50, S. 53. 8 Zu den Facetten des Begriffs siehe den Beitrag Fuhs, »‫«נער‬, in: ThWAT, Bd. 5, S. 507–518. Interessant ist vor allem die Vermutung, dass der Begriff »ursprünglich geschlechtsindifferent gebraucht worden sei.« (Delitzsch, Hinweis in Fuhs, S. 511). Vor allem aber »bezeichnet naʿar den im Verband der Familie lebenden Sohn unterschiedlichen Alters.« (Ebd.) Auch die Trias naʿar – ʿīsh – zaqen, die in Jos 6,21 im Kontext der Vollstreckung des Banns an »Mann und Weib, Jung und Alt, …« die Totalität alle Generationen (und Geschlechter) umfassenden Gesellschaft bezeichnet, (so auch in dem in Qumran gefundenen Midrasch zu Habakuk: »Jungen, Männer und Greise …«) kann für die Exegese von Gen 37 fruchtbar gemacht werden, denn im Verlauf des Kapitels fallen die drei Begriffe. Zuerst ist Josef naʿar bei den Söhnen seiner Stiefmütter. Später trifft er einen ʿīsh auf den Feldern von Sichem, der ihm den Weg zu seinen Brüdern zeigt. Schließlich ist er ben zaqen seines Vaters. Bereits Gen 37 schreitet damit eine Entwicklung ab und deutet eine ganzheitliche Perspektive auf den Menschen an, die zu diesem Zeitpunkt der Erzählzeit freilich alles andere als erreicht ist. Im Gegenteil: Jugend (naʿar), Männlichkeit (ʿīsh) und Alter (zaqen) sind so weit voneinander versprengt, dass sie selbst nichts voneinander wissen und sich gegenseitig zum Verhängnis werden. Die Entwicklung Josefs zum Stellvertreter des Pharaos in Ägypten und erwachsenem »Weisen« kann auch als Versöhnung dieser versprengten Lebensalter gelesen werden: Zur Ausreifung eines »ganzen« Menschen gehört die Integration von Jugend, Männlichkeit und Altersweisheit.

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stimmen. Aber gerade hier liegt ein wesentlicher Perspektivwechsel in der Heuristik einer tiefenpsychologischen Lesart, die das Verbrechen der Brüder nicht moralisch verurteilen muss, sondern als Hinweis auf einen Vorgang in der Psyche Josefs deuten kann: In dem Opfer des Tiers liegt für den Jungen der Aufbruch ins Leben. Wir denken an die verhinderte Opferung Isaaks, der durch ein Tier ausgelöst wurde, aber auch an viele andere biblische Erzählungen, in denen ein Tier oder der Teil eines Tieres einem Menschen bei dessen Entwicklung assistiert. Die Felle, mit deren Hilfe Jakob den Segen des Vaters erschwindelt (Gen 27)9 oder Simsons Kampf mit dem Löwen (Ri 14); bei Josef liegt die Aufmerksamkeit des Erzählers ganz bei dem »geopferten« Sohn. Und so erscheint das Stoßen über den Rand der Zisterne nicht nur wie eine banale Gewalthandlung, sondern wie die Erlösung aus der Enge der Kindheit. Es ist in dieser Hinsicht höchst bemerkenswert, dass in der Geschichte, wie sie im Koran erzählt wird, der Vater (Jakob) selbst zuerst von der Gefahr spricht, ein wildes Tier, ein Wolf, könnte Josef zerreißen. »Mich betrübt es, dass ihr ihn mitnehmen wollt«, jammert der Vater vor dem Aufbruch seiner Söhne, die dort ungleich listiger vorgehen und ihren Vater überreden, Josef zum »Spielen und Springen« mit nach draußen nehmen zu dürfen. »Ich fürchte, dass der Wolf ihn frisst, während ihr gerade nicht auf ihn achtgebt.« (Q 12,13) Sure 12 stellt uns die Bedeutung des »bösen Tiers« (Vers 20) für die Entwicklung des jungen Josef noch deutlicher vor Augen als die Genesis: Es sind die unterdrückten Triebwünsche des Kindes, vor denen Jakob sich fürchtet. Die Angst des Vaters vor dem wilden Tier, dem Wolf des Koran, ist eine Angst vor der erwachenden Männlichkeit Josefs, die Jakob mit seinen verniedlichenden, verweiblichenden Geschenken zu unterdrücken, unter dem bunten Rock zu kaschieren sucht.10 Josef drängt mit seinen 17 Jahren darauf, die Enge seiner Kindheit zu verlassen. Es muss ein Akt der Gewalt sein, der diesen 9 Zur Parallelität der »Schwindelei« mit Hilfe von Tierfell bzw. des erbeuteten Kleidungsstücks siehe Levenson, Joseph, S. 8: »Many commentators stress the poetic justice of Jacob being fooled by a garment, as he fooled his own father, Isaak, into giving him the blessing indeed for Esau’s many years earlier.« 10 In der rabbinischen und christlichen Kommentarliteratur finden sich ähnliche Deutungen. Siehe Joseph Witztum, »Joseph among the Ishmaelites. Q 12 in Light of Syriac Sources«, in: The Quran in its Biblical Subtext, hg. von Gabriel Reynolds, Routledge 2011, S. 425–448.

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Entzug der väterlichen Liebe möglich macht und bei dem die Tat der Brüder – statt als banale, böse Gewalthandlung – als Assistieren der notwendigen Entwicklung erscheint. Aber wie kommt es überhaupt zu dieser Verniedlichung Josefs, zur Unterdrückung seiner männlichen Triebnatur durch den Vater? Josef, von dem wir erfahren, mit welcher äußerlichen Schönheit er gesegnet ist,11 ist für den Vater Jakob der zärtliche Ersatz der verlorenen Mutter. Die Genesis macht die Ähnlichkeit der Schönheit von Sohn und Mutter sogar explizit in der identischen Wortwahl: Sowohl Rahel als auch Josef sind »schön an Gestalt und hübsch von Angesicht« (‫יפה־‬ ‫ תאר ויפה מראה‬Gen 39,6 in Bezug auf Josef und Gen 29,17 auf Rahel). Und darin liegt der Grund für den Hass der Brüder auf Josef. Nicht nur, weil der Vater ihn als »Sohn seines hohen Alters« (Gen 37,3) »mehr liebte«, hassen die Brüder Josef, sondern weil sie deutlich spüren, dass er den Vater Jakob beglückt, wie sie es selbst nie könnten. Jakob hat so entsetzliche Angst, seine beiden jüngsten Söhne, Josef und Benjamin, zu verlieren, weil sie ihm das Bild der geliebten Frau Rahel erhalten. Um diese These plausibel zu machen, müssen wir uns an den Tod Rahels erinnern, der ja bekanntlich mit einer Namensgebung des jüngsten Kindes einhergeht: Während die Lebenskraft sie verließ – denn sie lag im Sterben –, gab sie ihm den Namen Ben-Oni – Sohn meiner Not; sein Vater aber nannte ihn Ben-Yamin – Sohn der Rechten. (Gen 35,18) Was sagt Jakob aus, indem er den Namen des Neugeborenen ändert? Es hört sich so an, als sei Jakob ein unverbesserlicher Optimist, der sich selbst im Angesicht des Todes seiner Frau über das neu geborene Kind freuen kann und gewillt ist, die Tragödie zum Guten zu wenden. Aber welche Last legt er damit dem Kind in die Wiege, das ein »Sohn der Rechten«, oder »Sohn von Glück« sein und damit den Verlust der Mutter kompensieren soll. Vieles spricht dafür, dass Benjamin, unter der Prämisse einer Deutung der Geschichte auf der »Subjektstufe«, nicht als eine eigene Person, sondern als eine Abspaltung der Figur Josefs zu begreifen ist. Dieser Deutung werden wir in einer eigenen hermeneutischen Reflexion 11 Vgl. Gen 39,6.

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weiter unten nachgehen. Benjamin ist der Sohn, den Jakob dauerhaft bei sich behält und der sich – trotz der vergangenen Jahre – nicht entwickelt, sondern der klein bleibt, während Josef die Aufgabe einer gefahrenvollen Entwicklung in der Fremde zukommt. Aber auch er ist ein Ben-Yamin, ein Sohn der Rechten und für den Vater eine lebendige Erinnerung an die Mutter. Gerade in dieser Ambivalenz von Trauer und Trost, in der greifbaren Nähe des Todes bereits im Augenblick der Geburt liegt der Ursprung der Spaltung von Josef und Benjamin.12 Wie existenziell Jakob sein ganzes eigenes Glück an den Sohn dieser Frau hängt, erzählt die Geschichte selbst: Jakob verliert seinen ganzen Lebensmut und gibt sich der reinen Verzweiflung hin, da die Brüder ihm den blutbefleckten Rock zeigen und er glauben muss: »Zerfetzt ist Josef, zerfetzt!« (37,33: ‫ )טרף טרף יוסף‬Er wünscht, er könne dem tot geglaubten Kind in die Unterwelt folgen. (35) Auch wenn Jakob sich insofern irrt, als er der Täuschung der Brüder aufsitzt, spricht er unwillentlich die bittere Wahrheit aus. Wie ließe sich der Zustand des heranwachsenden Jungen, der von der Liebe des Vaters erdrückt und seiner Generation entfremdet im trockenen Loch der Zisterne hockt besser beschreiben als mit den Worten: Zerfetzt, zerfetzt!13 Josef ist wahrhaftig in zwei Stücke gerissen. Ein Teil überlebt in der Fremde und ist dazu verurteilt, ohne Hilfe zu reifen. Ein anderer, Benjamin, bleibt klein an der Seite des Vaters.

Jakob »opfert« seinen Sohn Wir müssen noch einen Zwischenschritt einfügen. Alan Levenson hat bemerkt, wie erstaunlich es ist, dass Jakob, obwohl er seinen jüngsten Sohn so sehr liebt, diesen unbegleitet auf den weiten Weg nach Sichem schickt, wo er den Aufenthaltsort der Brüder vermutet. 12 Übrigens würde sich so auch die Ungereimtheit erklären, dass in Gen 37,3, also zwei Kapitel nach der Geburt von Benjamin, die Erklärung steht, Jakob liebe Josef am meisten, weil er das Kind seines hohen Alters sei. Vgl. dazu James Kugel, How to Read the Bible. A Guide to Scripture Then and Now, New York u. a. 2007, S. 182. 13 Siehe auch die Einschätzung von Elie Wiesel: »In Josef existiert eine polare Spannung, die seine Handlungen, und seine Entscheidungen erst lebendig und aus ihm einen wahren, d. h. zerrissenen Menschen macht. Er lebt ständig auf zwei Ebenen, in zwei Welten, und wird von Kräften hin und her gerissen, die sich wiedersprechen.« (Elie Wiesel, Adam oder das Geheimnis des Anfangs, Freiburg 1980, S. 167)

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12 Als nun seine Brüder hingegangen waren, um das Vieh ihres Vaters in Sichem zu weiden, 13 sprach Israel zu Josef: »Hüten nicht deine Brüder das Vieh in Sichem? Komm, ich will dich zu ihnen senden.« Er aber sprach: »Ich bin bereit«.14 14 Und er sprach: »Geh hin und sieh, ob’s gut steht um deine Brüder und um das Vieh, und sage mir dann, wie sich’s verhält.« Und er sandte ihn aus dem Tal von Hebron, und er kam nach Sichem. 15 Da fand ihn ein Mann, wie er umherirrte auf dem Felde; der fragte ihn und sprach: »Was suchst du?« 16 Er antwortete: »Ich suche meine Brüder; sage mir doch, wo sie hüten.« 17 Der Mann sprach: »Sie sind von dannen gezogen; denn ich hörte, dass sie sagten: Lasst uns nach Dotan gehen.« Da zog Josef seinen Brüdern nach und fand sie in Dotan. (Gen 37) Der frühjüdische Bibelleser Philo von Alexandria hat, vermutlich bereits mit der Absicht, den biblischen Patriarchen Jakob moralisch zu entlasten, folgende Reflexion angestellt: »Jakob sent his sons away for a time, retaining only Joseph with him … and when he thought that the ill feelings of his sons against Joseph had subsided he sent the latter to enquire after their welfare.«15 In Philos Deutung handelt Jakob demnach nicht nur nicht unvorsichtig oder irrational, sondern besonders bedacht. Der ganze Umstand, dass Josef eine Zeit lang nicht – wie üblich – bei seinen Brüdern auf dem Feld war, sondern in der Nähe des Vaters blieb, sei der Umsicht des Vaters geschuldet, die zwischen den Brüdern entstandenen Aggressionen abkühlen zu lassen. Wir haben gesehen, dass auch im Koran Jakob das Eskalationspotenzial des Konflikts seiner Kinder antizipiert und um Josefs Wohlergehen im Vorfeld besorgt ist. Aber entspricht diese Deutung dem Text der Genesis? Levenson weist auch auf den Begriff shalom hin, der den Leser der Aussage Jakobs, Josef möge die Nachricht vom Wohlergehen der Brüder und deren Vieh dem Vater ausrichten, daran erinnern muss, dass die Brüder gerade kein friedliches Wort (shalom 37,4) mit Josef mehr wechseln konnten. Hinzu kommt noch die »üble Nachrede«, die Joseph kurz zuvor (37,2) seinem Vater überbracht hat. Zusammen mit 14 Luther: »Hier bin ich.« 15 Ginzberg, Legends of the Jews, Bd. 2, S. 7, zitiert in: Goldman, The Wiles of Women, S. 84.

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dem expliziten Hinweis darauf, dass Jakob diese Dinge bzw. Worte »behielt« (37,11), d. h. gerade nicht gedankenlos über den Konflikt seiner Kinder hinwegging oder die Vorkommnisse vergaß, führen diese sprachlichen Details zu einer anderen Deutung als der Philos und des Koran. Die Wiederholung der Worte aus dem ersten Teil von Gen 37 erweckt vielmehr den Eindruck, Jakob würde seinen Sohn Josef nicht nur im vollen Bewusstsein um die Konfliktlage auf das Feld schicken, sondern sogar in der Absicht, sein eigenes Wissen um die Feindschaft und Grausamkeit seiner Söhne zu widerlegen. Er verlangt von Josef etwas Unmögliches; in den Worten der modernen Psychologie liegt in der Aufforderung an seinen jüngsten Sohn, »Frieden« (shalom) von seinen Geschwistern auszurichten, wozu sie nach jüngster Einsicht gerade nicht fähig sind, ein klassisches Doublebind. Jakob schickt Josef auf das Feld mit einem Auftrag, den dieser unmöglich erfüllen kann. Josef macht sich auch auf den Weg, da er sich loyal zum Vater verhält und wohl auch, weil sein Leben davon abhängt, dem Vater Glauben zu schenken. Auf die Aufforderung des Vaters antwortet Josef mit dem Wort »‫«הנני‬, »Hier bin ich«, das bereits Abraham in Gen 22,1 gesprochen hatte, als Gott ihn aufforderte, seinen – ebenfalls als ‫ נער‬bezeichneten16 – Sohn Isaak zu opfern und das, wie Erich Auerbach nachgewiesen hat, keine Auskunft über einen Standort sein kann, da Gott diesen, wie im Fall Abrahams deutlich, ohnehin kannte, sondern vielmehr eine Gehorsamsbekundung indiziere, in dem Sinne von: »Ich bin bereit zu tun, was du verlangst.«17 In dem von Josef geäußerten Wort (»Hier bin ich!«) liegt das Wissen um die Unmöglichkeit der Pflichterfüllung und die Bereitschaft, den sein Leben und seine Rolle in der Familie überschattenden Widerspruch auszuhalten und am eigenen Leib die Konsequenzen zu tragen. Josefs Botengang auf das Feld ist die Bereitschaft zum Opfer seines persönlichen Lebens, seiner Unversehrtheit, zugunsten der Aufrechterhaltung des illusorischen Wunsches des Vaters, in seiner zerrütteten Familie, könne ihm ausgerechnet Josef ein »Wort des Friedens« von seinen älteren Brüdern überbringen. Unter dieser Prämisse scheint es umso wichtiger zu beachten, dass die Brüder tatsächlich nicht in Sichem lagern, wo der Vater 16 Fuhs, Art. »‫«נער‬, in: ThWAT, Bd. 5, S. 514. 17 Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Tübingen (11. Auflage) 2015, S. 9.

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sie vermutet hat. Die Genesis retardiert das Zusammentreffen von Josef und seinen Brüdern durch die Figur eines namenlosen Mannes, der so entscheidend wie rätselhaft erscheint, dass über ihn antike wie moderne Kommentatoren mit besonderer Konzentration nachgedacht haben. Laut dem mittelalterlichen Rabbi Rashi handelte es sich um den Engel Gabriel.18 Jürgen Ebach erkannte – mit dem Hinweis auf den »Mann« (‫)איׁש‬, mit dem Jakob am Jabbok kämpft – in dem namenlosen Mann gar eine Figuration Gottes.19 Wir können nur spekulieren: Wären Josef und seine Brüder tatsächlich in Sichem aufeinandergetroffen, wäre das Opfer vollzogen und Josef getötet worden. Wie der das Opfer Isaaks verhindernde Engel steht der Mann in Sichem sich der Möglichkeit eines gewaltsamen Endes in den Weg und zeigt einen anderen Weg an. Der Mann steht damit ebenso für die Entfremdung Jakobs von allen seinen Söhnen, deren Aufenthaltsort er nicht kennt, wie (für Josef) für die Möglichkeit des Aufbruchs in ein erwachsenes Leben außerhalb des vom Vater abgesteckten Bezugsrahmens.

In Potifars Haus: Ein Wiederholungszwang Die Josefsgeschichte erzählt damit von der Behinderung eines Jungen durch die Übertragungsliebe des Vaters. Sie erzählt auch von einem mutterlosen Sohn, der den Angriffen weiblichen Begehrens ausgesetzt wird. Denn wie sollte es anders kommen als dass Josef, nachdem er aus der Zisterne gezogen und nach Ägypten verkauft wurde, sein Schicksal in der Fremde wiederholt. 1 Josef wurde hinab nach Ägypten geführt, und Potifar, ein Ägypter, der Kämmerer des Pharao und Oberste der Leibwache, kaufte ihn von den Ismaelitern, die ihn hinabgebracht hatten. 2 Und der HERR war mit Josef, sodass er ein Mann wurde, dem alles glückte. Und er war in seines Herrn, des Ägypters, Hause. 3 Und sein Herr sah, dass der HERR mit ihm war; und alles, was er tat, ließ der HERR in seiner Hand glücken, 4 sodass er Gnade fand in seinen Augen und sein Diener wurde. Er setzte ihn über sein 18 Siehe Levenson, Joseph, S. 13. 19 Ebach, Gen 37–50, S. 84. Siehe auch weiter S. 85 zum Begriff maqom als Gottesbenennung.

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Haus; und alles, was er hatte, gab er in seine Hände. 5 Und von der Zeit an, da er ihn über sein Haus und alle seine Güter gesetzt hatte, segnete der HERR des Ägypters Haus um Josefs willen, und es war lauter Segen des HERRN in allem, was er hatte, zu Hause und auf dem Felde. (Gen 39) Ohne sein Zutun findet Josef sich, durch den Verkauf der Brüder, in Ägypten im Haushalt eines Mannes wieder, der es gut mit ihm meint. Die Situation im Haushalt Potifars reproduziert die Situation mit Jakob, mit der zusätzlichen, wohltuenden Komponente der Arbeit, die Josef nun zu leisten hat. Die Art der Abhängigkeit hat sich von einer emotionalen in eine wirtschaftliche Abhängigkeit verschoben. Der Ägypter wählt Josef als einen Diener und unterstellt ihm seinen kompletten Haushalt – nicht weil er ihn »mehr liebt« als seine anderen Bediensteten, sondern weil Josef »alles glückt«. Die Geschichte des Aufstiegs in Potifars Haus können wir begreifen als eine sukzessive Steigerung des Werts Josefs, noch genauer: Der Transformation Josefs von einem »Ding« in eine Person. Auch hier lohnt es sich, auf den Koran zu hören: Die reisenden Händler, die Josef in der Zisterne entdecken, finden den Jungen an Stelle von Wasser vor. Der Wasserschöpfer ruft spontan aus: »Eine gute Nachricht! Da ist ein junger Bursche!« (Q12,19) Sie sehen in dem schutzlosen Menschen einen dinglichen Wert, einen »verkaufbaren Gegenstand« (Q12,19). Diese Verwechslung, die Stellvertretung Josefs für das Wasser im Brunnen spricht Bände, wenn wir sie symbolisch verstehen.20 Josefs Aufgabe ist es, anderen nützlich zu sein. Sein Dasein hat scheinbar keinen eigenen Wert als Person, sondern er steht ganz im Dienst der Bedürfnisse, des Durstes der anderen. Den Menschenhändlern ist er wenige Silberstücke wert gewesen.21 Von Potifar wird Josef zum ersten Mal als ein Mensch aus eigenem Recht wahrgenommen. In der Sure mutmaßt der Ägypter ganz offen: »Vielleicht wird er von großem Wert für uns sein« (Q12,21) und überlegt sogar, Josef als

20 Auch in der Genesis ist die redundante Aussage »die Grube war leer und kein Wasser darin« (Gen 37,23) etwas irritierend und die doppelte Verneinung etwa von den Rabbinen als Indikator aufgefasst worden, dass statt Wasser etwas anderes im leeren Brunnen gewesen sei, beispielsweise Skorpione. Vgl. Levenson, Joseph, S. 15. 21 Gen 37,20.

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einen Sohn anzunehmen. Auf dieses Vertrauen reagiert Josef mit Fleiß und Treue. Er darf in dem bekannten Schema eines geliebten Sohnes sein Potenzial als Arbeiter entfalten. Er »erarbeitet« sich auf diese Weise ein Stück seines eigenen Selbstbewusstseins. Es steht zu vermuten, dass Josef sich als Diener in Potifars Haus beginnt als Person aus eigenem Recht wahrzunehmen, statt als verhätscheltes und beneidetes und zuletzt warenartiges Objekt. Denn symbolisch betrachtet haben die Bevorzugung durch den Vater und die Misshandlung durch die Brüder dieselbe Konsequenz: Sie belasten Josef mit einem existeniellen Schuldgefühl, das vermutlich bereits mit dem Tod der Mutter seinen Anfang nimmt. Die teure Hypothek der Liebe des Vaters besteht in der indirekten Aussage an Josef: dein Leben hat den Tod eines geliebten anderen verschuldet. Du musst gut, schön, sicher sein, damit ich überahaupt am Leben bleibe. Auf diese verletztende, co-abhängige Weise ist Josef seinem Vater »hilfreich«. Die Brüder begehren gegen die Überforderung und Überformung Josefs auf, indem sie ihm den Rock vom Leib reißen und die »Nacktheit« der Person vor Augen stellen. Aber anders als in seiner Herkunftsfamilie lebt im Haushalt Potifars diesmal eine Frau, – eine Figuration der missgünstigen Schwester Lea, einer Schattenfrau, die auf Zurückweisung durch Josef mit Aggression reagiert. Denken wir uns einen Moment Potifars Frau als eine solche Stiefmutter, denn Josef ist ein Schutzbefohlener in ihrem Haushalt. Dieser Aspekt wiederum ist explizit in der Überlegung, die Potifar in der Sure in den Mund gelegt wird: »Nimm ihn großzügig auf. Vielleicht […] nehmen wir ihn an wie einen Sohn« (Q 12,21). Und das Resümee Gottes: »So gaben wir Josef einen Ort/ ein Zuhause auf Erden« (Q 12,21). Potifars Frau aber ist keine gute Versorgerin, sondern eine eitle, selbst bedürftige Frau, die von ihrem Kind, Josef, die Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse verlangt und es hart wegstößt, als sich bei Josef die kindliche Intuition meldet, dass hier die Rollen vertauscht sind. Sie ist wie die Stiefmutter in den Märchen und vielleicht die Wiederholung der Mütter, die Josef in seiner Kindheit erlebt hat, Silpa, Bilha und Lea, in der Gestalt einer reifen Frau, die den heranwachsenden Josef überfordert, da sie ihn wiederum wie dinglich begehrt. Der von seiner eigenen Familie zuerst (vom Vater) überbewertete und dann (von den Brüdern) abgewertete junge Mann, der an Stelle von Wasser aus der Zisterne geholt und verkauft worden war, wird nun im Haus Potifar von Neuem »ver-

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dinglicht«. – Diesmal nicht im grob unmenschlichen Sinne eines finanziellen Verkaufs als Sklaven, sondern vermittels des sexuellen Begehrens der Frau. Indem Josef sich ihr verweigert, bewahrt er sich nicht nur den Respekt vor dem »Gesetz«, wovon in der Genesis selbst nicht die Rede ist,22 sondern auch und primär den Glauben an den eigenen Lebenswert und vielleicht auch an die Liebe als einer guten, einer frei machenden und Leben spendenden Kraft. Er entscheidet den Kampf zwischen Rahel und Lea, zwischen der hellen, liebevollen Mutter und ihrer dunklen Schwester für die liebende der beiden. Die Josefsgeschichte ist so letztlich auch eine Geschichte über die Transformation von krankmachender in heilsame Liebe, die als Jakobs Sehnsucht nach seiner Frau begann und sich als fatale Übertragung auf das Kind fortsetzt. In dem Bild des Kindes im trockenen Brunnen haben wir sicher das deutlichste Bild des von aller Welt verlassenen Menschen vor Augen. Es ist die Liebe, die dieses Leid verursacht hat.23 Die Übertragungsliebe Jakobs lässt nicht nur alle seine Söhne unbefriedigt, »durstig«, sondern sie setzt eine Spirale der Gewalt in Gang, wie sie die neidischen, egoistischen und gewaltbereiten Brüder geradezu paradigmatisch verkörpern. Sie alle gieren nach Zuwendung und aus ihrer Gewalt spricht die Verzweiflung darüber, dass sie alle Verlassene sind. Wir müssen uns im Einzelnen ansehen, wie es Josef gelingt, sich aus seiner Verstrickung zu lösen und damit letztlich nicht nur selbst in seinem Platz im Leben und in der Familie anzukommen, sondern auch den Vater und die Brüder zu retten. Jakob wird nicht für seinen Verlust Rahels kompensiert werden, aber er findet am Ende der Josefsgeschichte durch seinen Sohn die Hoffnung, die Güte, den Frieden wieder, den er mit Rahel begraben hatte. Josef gibt Jakob, dessen Leben von Konflikten so überschattet war, dass man über ihn selbst ausrufen möchte »zerfetzt, zerfetzt«, wonach er sich sehnt und was ihn letztlich gesundmacht, ein befriedetes Herz. Wir kön-

22 So allerdings viele spätere Fortschreibungen und Kommentare zu Gen 39, in denen angenommen wird, dass Josef aufgrund seiner Kenntnis des Gesetzes standhaft gegen Potifars Frau geblieben sei. Siehe etwa im Jubiläenbuch (Jub 33) und im babylonischen Talmud (bYoma 35b). 23 So argumentiert interessanterweise bereits die jüdische Tradition. Siehe weiter unten zum Midrasch Tanhuma.

Zwischen Bibel und Koran – Im Denkraum spätantiker Lesegemeinschaften 51

nen die ganze Josefsgeschichte als ein abschließendes Wegstück der Individuation Jakobs deuten. Wir müssten dann zurückgehen zu Jakobs Mutter Rebekka, die Josefs Vater seinem Großvater Isaak entfremdete, letztlich aus eigener Gier und Konkurrenzdenken innerhalb der Familie. Es mag für den Moment genügen festzuhalten, dass Josef in seiner Zurückweisung der Frau Potifars indirekt den Werten der guten Mutter zu neuer Geltung verhilft und seinem Vater eine nachträgliche Reifung ermöglicht. Sehen wir uns also die Gefahren und ihre Bewältigung durch Josef im Einzelnen an: die »Versuchung« durch die Frau, die Bewährungsprobe im Gefängnis und das Deuten der Träume. Davor aber brauchen wir eine Standortbestimmung:

»Sie befinden sich hier«: Zwischen Bibel und Koran – Im Denkraum spätantiker Lesegemeinschaften In der Spätantike ist die Josefsgeschichte von unterschiedlichen religiösen Gemeinschaften gelesen und gedeutet worden. Aber nicht nur das: Sie wurde auch an mehreren entscheidenden Stellen fortgeschrieben. Jüdische und in einem geringeren Umfang christliche Leser scheinen Unklarheiten der Erzählung zum Anlass genommen zu haben, die Geschichte der Genesis narrativ zu erweitern. Einige dieser Erweiterungen sind so bekannt, dass wir als moderne Leser manchmal überrascht feststellen, dass der Plot wie wir ihn kennen, gar nicht im Buch Genesis steht. Zum Beispiel ist das Zustandekommen der Ehe Josefs mit der ägyptischen Priestertochter Asenet, der Mutter von Ephraim und Menasse, in der Genesis selbst in einem einzigen Vers erzählt und darüber hinaus eine nachbiblische Ergänzung.24 Zudem wissen wir wenig über die kommunikativen Kontexte, in welchen Texte wie Gen 37–50 im spätantiken Judenund Christentum gelesen, gedeutet und fortgeschrieben wurden oder anders gesagt: in welchen Kontexten »Romane« wie Josef und Asenet, die Testamente der Patriarchen, die syrische Literatur des

24 Siehe dazu Susan Docherty, »Joseph and Aseneth: Rewritten Bible or Narrative Expansion?«, in: Journal for the Study of Judaism in the Persian, Hellenistic, and Roman Period, 35/1 (2004), S. 27–48.

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5. und 6. Jh.,25 entstanden sind. Es könnten liturgische Kontexte sein oder enger institutionell gelehrte, vielleicht auch erbauliche. Was Forscher an diesen Texten häufig am meisten fasziniert hat, ist die Tatsache, dass jüdische und christliche Lese- und Fortschreibungspraktiken gar nicht getrennt voneinander bestanden, sondern vielmehr aufeinander bezogen.26 Bei einigen Texten, wie Josef und Asenet, können wir gar nicht entscheiden, ob sie ursprünglich in ein jüdisches oder christliches Umfeld gehören. Wie ein Kaleidoskop schillern sie je nach Blickrichtung in den Farben des Judentums oder der frühen Kirche. In diesen narrativen Fortschreibungen der Bibel können wir grundsätzlich auch den Koran einordnen. Im siebten Jahrhundert n. Chr. sind die Texte des Korans zeitgenössisch mit denen des Talmud und mit manchen syrischen literarisch-homiletischen Texten entstanden, die wie selbstverständlich als Fortschreibungen der Bibel herangezogen werden.27 Angelika Neuwirth hat gezeigt, dass auch die koranischen Texte kaleidoskopartig schillern und je nach Betrachterperspektive ihr islamisches oder spätantikes Aussehen zeigen.28 In kaum einer Figur zeigt sich deutlicher, dass die Kommentarkulturen der Spätantike, nicht nur die Textvorlage der Bibel selbst, im Hintergrund der koranischen Textgeschichte stehen, als in der Figur Josefs. Und innerhalb der koranischen Josefsgeschichte am deutlichsten an der Erzählung über Potifars Frau.

25 Zur syrischen Josefsgeschichte ist überliefert primär ein Prosatext, der Basilius von Caesarea zugeschrieben wurde. Zur Edition: Mieczysław Weinberg (Hg.), Die Geschichte Josefs angeblich verfasst von Basilius dem Grossen aus Cäsarea, Teil 1, Berlin 1893 und S.W. Link, Die Geschichte Josefs angeblich verfasst von Basilius dem Grossen aus Cäsarea, Teil 2, Berlin 1895. Siehe auch die neue Übersetzung ins Englische von Georges Kiraz, »The Syriac History of Joseph: A new translation and introduction,« in: Old Testament Pseudepigrapha: More Noncanonical Scriptures Bd. 1, hg. von R. Bauckham, J. Davila und A. Panayotov, Grand Rapids 2013. Darüber hinaus sind mehrere, unterschiedlichen syrischen Dichtern (Ephrem dem Syrer, Balai, Narsai und Jakob von Serugh) zugeschriebene Homilien überliefert, in denen die Josefsgeschichte erzählt wird. Zu den Quellenangaben siehe Witztum, »Joseph among the Ishmaelites«, S. 427, FN 10. 26 Vgl. z. B. Daniel Boyarin, Border Lines: The Partition of Judaeo-Christianity, Philadelphia 2004. 27 Vgl. James Kugel, In Potiphar’s House. The Interpretive Life of Biblical Texts, Cambridge u. a. 1990. 28 Siehe z. B. Angelika Neuwirth, Der Koran als Text der Spätantike, Berlin 2010.

Drei Varianten von Potifars Frau53

Die unterschiedlichen Erzählplots in den je neuen Erzählungen der Episode im Schlafzimmer von Potifars Frau setzen unterschiedliche Akzente und haben verschiedene »Psychodynamiken«. In diesem Interpretationsschritt gehe ich diesen Differenzen nach, ohne die Absicht aufzuklären, welche psychodynamischen Prozesse die Autoren des Talmud oder den Verkünder des Koran dazu geführt haben könnten, einen bestimmten Erzählfaden zu priorisieren. Es geht zunächst darum, das Netzwerk spätantiker Deutungen wahrzunehmen und damit die Distanz zu hinterfragen, die zwischen Bibel und Koran auf den ersten Blick herrscht, wenn wir beide ausschließlich in ihrer kanonischen Endgestalt und als Texte mit eindeutigem kulturellen und religiösen Profil, als »jüdischen« (bzw. christlichen) und »islamischen« Kanon lesen.

Drei Varianten von Potifars Frau Die Frau in der Genesis: die Stimme der Verführung zum Tod In der Geschichte, wie sie die Genesis erzählt, scheint keine mächtige Verführung von der Frau Potifars auszugehen. Bereits Thomas Mann hat von der »verstörenden Knappheit«29 der Verführungskunst der ägyptischen Dame gesprochen. Josef widersteht ihren Reizen, schlägt ihr penetrantes und von Anfang an als gefährlich erkanntes Angebot aus und beruft sich auf die Großzügigkeit ihres Mannes, deren Vertrauen Josef um keinen Preis verlieren will. Wir erinnern uns, dass Josef in Ägypten im Haus Potifars bereits einen sozialen Aufstieg erlebt hat, bevor es zu der Gefährdung durch die Ehefrau kommt: 6 Darum ließ er alles in Josefs Händen, was er hatte, und kümmerte sich selbst um nichts außer um das, was er aß und trank. Und Josef war schön an Gestalt und hübsch von Angesicht. 7 Und es begab sich danach, dass seines Herrn Frau ihre Augen auf Josef warf und sprach: »Schlafe bei mir!« 8 Er weigerte sich aber und sprach zur Frau seines Herrn: »Siehe, mein Herr kümmert sich selbst um nichts, was im Hause ist, und alles, was er hat, das hat er in meine Hände gegeben; 9 er ist in diesem Hause nicht größer als ich, und er hat mir nichts vorenthalten außer dir, weil du 29 Thomas Mann, Joseph und seine Brüder, S. 815, Hinweis in Levenson, Joseph, FN 3.

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seine Frau bist. Wie sollte ich denn nun ein solch großes Übel tun und gegen Gott sündigen?« 10 Und sie bedrängte Josef mit solchen Worten täglich. Aber er gehorchte ihr nicht, dass er bei ihr schlief und bei ihr wäre. 11 Es begab sich an einem dieser Tage, dass Josef in das Haus ging, seine Arbeit zu tun, und kein Mensch vom Gesinde des Hauses war dabei. 12 Und sie erwischte ihn bei seinem Kleid und sprach: »Schlafe bei mir!« Aber er ließ das Kleid in ihrer Hand und floh und lief zum Hause hinaus. (Gen 39) Insofern Josef eine Frau gegenüber steht, die zugleich Angst und Lust macht, wäre seine Begegnung mit Potifars Frau vielleicht die eines jeden Jugendlichen mit seiner Sexualität. Aber wir müssen uns die Lust, die der junge Josef empfunden haben könnte, dazu denken, denn wir erfahren in der Genesis nichts davon. Allem vorgestellt ist der moralische Imperativ: Ich darf nicht! Diese Strenge des jungen Mannes ist erklärungsbedürftig. Natürlich weiß Josef, dass sein Überleben von dem Vertrauen und der Unterstützung des Ehemannes, von Potifar, abhängt. Mit diesem Schema ist er vom Vater her vertraut.30 Die tiefenpsychologische Hermeneutik lehrt uns aber vor allem, dass Potifars Frau eben nicht nur eine äußere Feindin des Josef ist, sondern ein Bestandteil seines Innenlebens. Stellen wir uns diese Situation einmal vor: Der junge Mann, der ganz und gar beschäftigt damit ist, der Verantwortung, die sein Herr ihm aufgetragen hat, gerecht zu werden, ist in all dieser Betriebsamkeit und Achtsamkeit plötzlich mit dessen Frau allein. Und in dieser Situation, da ihn keine Gesellschaft schützt und keine äußerliche Beschäftigung ablenkt, wird die Stimme der Frau, die er sich mit aller Kraft anstrengt zu überhören, endlich so laut, dass er sie beantworten muss. Äußerlich, »objektal« betrachtet ist es die Frau seines Vorgesetzten, die Josef mit ihrer Avance bedroht. Aber es ist zugleich eine Stimme aus seinem Innern, aus dem Unbewussten. Und von dort her dröhnt sie unüberhörbar laut und übermächtig. Sie sagt

30 Möglich wäre auch eine alternative Deutung: Josef hat Angst vor Potifars Frau, aber er hat ebenso Angst um sie und um sich selbst. Es ist die alte Angst des Vaters vor dem Triebwunsch, der einen zerreißt. Diesen Aspekt hätte Josef übernommen und so ist er maßlos in der Triebbeherrschung. Er geißelt seinen Trieb aus Angst, die Frau zu zerstören, so wie er ahnt, dass die Liebe des Vaters den Tod der Mutter mitverschuldet hat.

Drei Varianten von Potifars Frau55

dasselbe wie bereits zuvor: Schlafe bei mir! Nimm nicht Teil an dem Leben der Gemeinschaft! Gehe nicht den Weg des Erfolgs! Gib auf! Es ist keine Verführung zur liebevollen Vereinigung, kein Funken erotischer Begierde, der von dieser Frau ausgeht, sondern eine ganz andere Gefahr und Verführung: Wir haben oben bereits kurz erwogen, dass Potifars Frau eine Wiederholung der missgünstigen »Stiefmütter« im Leben Josefs darstellt, die in ihrem Angriff Leas »Angriffe« auf Rahel wiederholt. In dieser schicksalhaften Unweigerlichkeit liegt die Macht, die von Potifars Frau ausgeht. Ihre dreimalige Aufforderung »Schlafe bei mir!« zeigt sich auf diese zerstörerische, Angst einflößende Weise durchaus als verführerisch. Wir können sie verstehen als Stimme der »bösen« Frauen, die an die Stelle der Mutter getreten waren, oder aber als Stimme der Mutter selbst. Gerade von dieser Stimme wird eine viel größere »Verführung« ausgehen.31 Deshalb erfahren wir nichts über die leibliche Schönheit, die Attraktivität von Potifars Frau. Was Josef in der ersten autonomen Frauenfigur außerhalb der Familie begegnet, kann man deuten als ein Bild der Mutter selbst, von der aus kein Weg ins Leben führt. Diesen Schatten, diesen Todestrieb muss Josef in der Frau überwinden und durch ihr Schlafzimmer gleichsam wie durch eine zweite Geburt hindurch. Wie der Sturz über den Rand der Zisterne muss die Flucht vor der dunklen Muttergestalt ein gewaltsamer, ein im höchsten Maße kostspieliger und riskanter Prozess sein. Und Josef muss die Probe des Widerstands gegen die Frau keineswegs nur ein einziges Mal bestehen: Tag für Tag plagt sie ihn mit ihrer Forderung: Schlafe bei 31 Zu der Verbindung der Liebe (zur Mutter) mit dem Tod siehe auch Midrasch Tanhuma § 19: »Das ist, was die Schrift sagt: ›Denn stark wie der Tod ist die Liebe‹ (Hld 8,6). ›Die Liebe‹ denn er liebte Rahel, wie es heißt: ›Und Jakob hatte Rahel lieb.‹ (Gen 29,18). ›Leidenschaft hart wie die Unterwelt‹ (Hld 8,6). Die Leidenschaft (Eifersucht), die Rahel gegen ihre Schwester hegte, wie es heißt: ›Da ward sie eifersüchtig‹ (Gen 30,1). Und was tut die Liebe an der Seite der Eifersucht? Eine andere Auslegung: Die Liebe Jonathans (mit der er David liebte) wie sein eigenes Leben: ›Und verband sich die Seele Jonathans mit der Seele Davids‹ (1Sam 18,1). ›Leidenschaft hart wie die Unterwelt‹ (Hld 8,6). Denn Saul war auf David eifersüchtig. Und was tut die Liebe an der Seite der Eifersucht? Eine andere Auslegung. Denn Jakob liebte den Joseph, wie es heißt: ›Israel aber hatte Joseph lieber.‹ (Gen 37,3). ›Hart wie die Unterwelt‹ (Hld 8,6). Die Eifersucht, mit der die Brüder Josephs auf Joseph eifersüchtig waren. Und was tut die Liebe an der Seite der Eifersucht? Und wer verursachte es dem Joseph in die Hände des Hasses zu fallen? Jakob. Denn er liebte ihn übermäßig.« (Midrasch Tanhuma, hg. von Hans Bietenhard, Bern/Frankfurt/Las Vegas 1982, Bd. 1, S. 216.)

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mir! Immer wieder muss Josef sich für das Leben entscheiden – und gegen die Depression, die ein Festhalten an der Liebe zur Mutter, gegen den Rausch der Melancholie, der inneren Stillstand bedeuten würde. Wir können auch distanzierter formulieren: Josef muss den Trauerprozess um Rahel abschließen und einen Weg in sein eigenes Leben finden. Aber die Szene hat einen doppelten Boden: Auf der Ebene seines individuellen Entwicklungswegs bewältigt er den Wunsch, mit der Mutter im Grab zu liegen. Er folgt dem Ruf »seines Herrn« ins Leben. Gleichzeitig wiederholt Josef den Kampf zwischen Lea und Rahel, der im Schlafzimmer seines Vaters ausgefochten worden war. Indem er der dunklen Frau widersteht, die in der Brautnacht an die Stelle der Schwester getreten war (Gen 29,31–30,24), differenziert er Lea von Rahel. Er bewahrt das Andenken an die geliebte Mutter, indem er den Einfluss ihrer Schattenseite auf die Gegenwart und Zukunft eindämmt. Er eröffnet damit auch den Gedächtnisraum an Rahel als gute Mutter Israels. Die Frau in postbiblischen narrativen Josef-Varianten: Der Teufel Eros Der Ort, an dem die Geschichte von Josef und der Frau Potifars wiedererzählt und das Moment der erotischen Versuchung stärker gewichtet wird, ist die postbiblische Kommentarliteratur, zu der der Koran in gewisser Hinsicht dazuzählt. Dass er in diesem Kapitel gesondert behandelt wird, ist dem Umstand geschuldet, dass der Koran schließlich einen ähnlichen kanonischen Status wie die Genesis erhielt und die islamische Lesergemeinschaft seinen Charakter eines »Rewritings« der Bibel nahezu vollständig überschrieben hat. Diesem Umstand tragen wir hiermit Rechnung. Zuvor müssen wir noch einen Schritt zurückgehen: In der spätantiken Nacherzählung des Lebens Josefs aus dessen eigener auktorialer Perspektive, dem Testament Josefs, einem Teil der pseudepi­ graphischen Testamente der Zwölf Patriarchen, deren Endgestalt in das 3. Jh. n. Chr. datiert wird,32 lesen wir die Ergänzung, Potifars

32 Vermutlich sind dieser christlichen Endredaktion jüdisch-hellenistische Überlieferungen vorausgegangen. Siehe Jürgen Becker, Untersuchungen Zur Entstehungsgeschichte der Testamente Der Zwölf Patriarchen (Arbeiten Zur Geschichte Des Antiken Judentums und Des Urchristentums), Leiden 1997.

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Frau hätte Josef nicht nur erotisch zu verführen versucht, sondern ihn auch mit dem Tod bedroht: Wie oft drohte die Ägypterin mir den Tod an! Wie oft ließ sie mich immer wieder rufen, übergab (mich) Züchtigungen und drohte mir! Weil ich (trotzdem) nicht mit ihr zusammenkommen wollte, sprach sie zu mir: »Du sollst über mich und alles, was mir gehört, Herr sein, wenn du selbst dich mir hingibst; und du sollst als unser Herrscher gelten.« Ich jedoch gedachte der Worte meines Vaters und ging in die Kammer und betete zum Herrn.33 Hier verfügt die Frau über alle Macht und Josef erscheint ganz als das Opfer ihrer Bedrohung. Ihre Manipulation geht so weit, Josef zu vergiften, ihn zu strafen und ihm dann von Neuem ein Angebot zu unterbreiten, das gar nicht nach erotischem Begehren klingt, sondern nach dem Wunsch zu herrschen. Mit der Frau Potifars zu »liegen« bedeutet hier, sich ihr zu unterwerfen. Ihr Versprechen »du sollst über mich und alles, was mir gehört, Herr sein, wenn du selbst dich mir hingibst,« ist eine so eindeutig diabolische34 Avance, dass sich die Parallelstellen in den Evangelien regelrecht aufdrängen: »Wenn du dich vor mir niederwirfst und mich anbetest, wird dir alles gehören.« (Lk 4,6), verspricht der Teufel Jesus im Lukasevangelium und bei Matthäus noch deutlicher: »Wieder nahm ihn der Teufel mit sich und führte ihn auf einen sehr hohen Berg; er zeigte ihm alle Reiche der Welt mit ihrer Pracht und sagte zu ihm: Das alles will ich dir geben, wenn du dich vor mir niederwirfst und mich anbetest.« (Mt 4,8–9) Welchen Schluss ziehen wir aus dieser Parallelisierung der Frau mit dem Teufel? Zunächst werden wir eine fromme, Sexualität und Verführung »verteufelnde« Färbung der auf die ägyptische Frau in der Josefsgeschichte projizierten Macht und Versuchung bemerken. Der Vollständigkeit halber sei bemerkt, dass die Darstellung der ver-

33 Testament Joseph III, 1–3 (Becker, Zwölf Patriarchen, S. 120.) 34 Eine Ähnlichkeit zwischen Potifars Frau und Verführung im Garten Eden klingt bereits in der Verweigerung Josefs ihr gegenüber an. Josef sagt in Gen 39, der Herr des Hauses habe ihm alles anvertraut, »nur dich« habe er ihm nicht erlaubt. Die Analogie der Frau wäre hier zur verbotenen Frucht. Das Motiv der Verführung aber deutlich genug in den Kontext des »Sündenfalls« gestellt.

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führerischen Frau als einer dämonischen Macht sich nicht allein in christlichen Quellen, sondern auch in jüdischen findet, etwa in dem kabbalistischen Werk Zohar: »And much as she coaxed Joseph day after day« – this is to say the accuser (Satan) ascends every day and brings ever so many evil reports and calumnies in order to destroy mankind. »He did not yield to her request to lie beside her« – because He has compassion on the world. »To be with her« – that is, to permit the accuser to exercise dominion over the world.35 Die Frau Potifars erscheint, anders als in der Genesis, nicht mehr nur als tragische, sondern als eine im eigentlichen Sinn böse Frau, die den jungen Mann zu betrügen versucht. Sie ist dadurch unabhängig geworden von der Kindheitsgeschichte und den Familienkonflikten um Rahel, Lea und Jakob. Und ihr Kampf um die Gunst des jungen Hebräers ist so maßlos, dass er an Verzweiflung grenzt. Die Frau droht mit Selbstmord und sie wird – ob der Zurückweisung Josefs – ihrerseits krank: Als ich in Fesseln lag, war die Ägypterin krank vor Gram. […] Wie oft sandte sie zu mir und ließ mir ausrichten: Willige ein, meine Begierde zu stillen, dann befreie ich dich von deinen Fesseln und erlöse dich aus der Finsternis! Doch selbst in Gedanken neigte ich nie zu ihr, denn Gott liebt den, der in finsterer Grube in Keuschheit fastet, nicht den, der in königlichen Kammern in Wollust schwelgt. […] Wie oft kam sie, obwohl sie krank war, zu mir zur Unzeit und hörte meine Stimme beim Gebet. Doch als ich ihre Seufzer wahrnahm, schwieg ich. Denn auch während ich in ihrem Hause war, entblößte sie ihre Arme und die Brüste und die Beine, damit ich mich auf sie legen sollte. Denn sie war sehr schön, aufs herrlichste geschmückt zu meiner Verführung.36 Potifars Frau versucht hier, den bis zur Keuschheit frommen und standhaften Josef noch im Gefängnis zu verführen. Das Gefängnis selbst – die Fesseln und die Dunkelheit – erscheinen als Teil 35 Zohar, Vayeshev, 190b, zitiert in: Goldman, The Wiles of Women, S. 138. 36 Testament Josef XIII 5 – IX,5 (Becker, Zwölf Patriarchen, S. 123 f.)

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der diabolischen Manipulation der Frau, d. h. als ihr Werkzeug. Die Bewährungsprobe der unschuldigen Haft zeigt das Ausmaß ihrer Macht über Josef oder anders gesagt: die abgrundtiefe Distanz zwischen ihm und der Frau. Ein solches absolutes Machtverhältnis erinnert wiederum an die Sicht eines Kindes auf sein übermächtig erscheinendes und ungebremst herrschendes Elternteil. James Kugel hat zurecht angemerkt, es sei eigentlich irritierend, dass der Kerker in der Geschichte wie ein »little private dungeon in the basement«37 im Haus Potifars wirke, der noch im privaten Machtbereich der Frau zu liegen scheint. Josef wird ins Gefängnis geschickt wie »auf sein Zimmer«. Es ist das Bild eines Kindes, das sich ganz im Wirkungskreis seiner Mutter bewegt und dessen Versuch, sich ihr zu entziehen, notwendig in die Isolation, die innere Migration führt. Ein paar Verse weiter im Testament des Josef erfahren wir sogar von einer von Josef selbst wahrgenommenen Verwechslung der Frau mit der Mutter: »Da sie keinen Jungen hatte, gab sie vor, mich als Sohn zu behandeln. Eine Zeitlang umarmte sie mich auch wie einen Sohn. Ich durchschaute [sie] nicht.«38 Aber sosehr die Frau in der christlichen/spätantiken Wiedererzählung der Geschichte an Macht gewonnen hat, sosehr hat sie an Ambivalenz verloren. Ihre Reize sind nur noch äußerlich. Sie ist geschmückt und mächtig, aber sie hat gerade keine Gewalt über das innere Leben Josefs und so lässt sich diese Verführerin auch überwinden. Jesus widersteht den Versuchungen des Teufels in den Evangelien, indem er sich auf seinen göttlichen Vater beruft. So ähnlich findet sich im Talmud die Erläuterung, dass Josef, in dem Moment, da er von der Frau versucht wurde und er in der Gefahr war, ihr nachzugeben, das Bild seines Vaters in der Fensterscheibe erschien.39 Jakobs Gesicht, das den »Inzest« zwischen Josef und Potifars Frau bezeugt und so verhindert? Was läge näher, als diese Szene ödipal zu deuten.

37 Kugel, In Potiphar’s House, S. 52 (hier allerdings mit Bezug zu Midrasch haGadol, wo die Freundinnen Frau Potifar vorschlagen, Josef einzusperren, um dann ganz über ihn verfügen zu können.) 38 Testament Josef III, 7 (Becker, Zwölf Patriarchen, S. 120.) 39 b.Talmud, Sota 36b, zitiert in: Kugel, How to Read the Bible, S. 180: »And she caught him by his garment … At that moment the image of his father entered and appeared to him in the window.«

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Und doch zeichnet der Talmud ein anderes Bild von Potifars Frau als das Testament des Patriarchen.40 Liebe wider die Gesellschaft? – Ein talmudischer Kontrapunkt Die talmudische Deutung der Szene bestätigt, dass Josef durchaus von der schönen Ägypterin angezogen war und erheblich größeren Widerstand gegen ihre Verführung aufbringen muss als noch in der Genesis: »On a certain day, however, when he went into the house to do his work …« (Gen 39:11): R. Yohanan said: This (verse) teaches that the two of them (Joseph and Potiphar’s wife) had planned to sin together. »He went into the house to do his work«: Raband Samuel (had disagreed on this phrase): one said it really means to do his work, the other said it (is a euphemism that) means »to satisfy his desires.« He entered; (and then it says) »and none of the members of the household was in the house.« But is it at all possible that no one else was present in the large house of this wicked man (Potiphar)? It was taught in the school of R. Ishmael: that particular day was a festival of theirs, and everyone else had gone to their idolatrous rites, but she told them that she was sick. She had said (to herself) that there was no day in which she might indulge herself with Joseph »like this day.« (The biblical text continues:) »And she caught him by his garment …« At that moment the image of his father entered and appeared to him in the window.41 Wir haben es hier nicht mehr mit einer Verführung in einem hierarchisch asymmetrischen Verhältnis zu tun, sondern mit einer heimlichen Verabredung, die für Potifars Frau die Alternative zum Besuch eines heidnischen Festivals darstellt und so beinahe romantisch wirkt wie ein heimliches Rendezvous. Die Ahnung der Rabbinen davon, dass Josef keineswegs nur an seiner »Arbeit« im Haus seines Herrn interessiert war, sondern selbst sexuelles Begehren emfunden hatte, 40 Sie widerspricht nicht der Darstellung im frühjüdischen Jubiläenbuch (2. Jh. v. Chr.), wo das »Gesetz« zusammen mit der Erinnerung an den Vater ins Feld geführt wird und Josef vom Ehebruch mit Potifars Frau abhält. Vgl. Jub 39,5–8. 41 b.Talmud, Sota 36b, zitiert in: Kugel, How to Read the Bible, S. 180.

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lässt ihn menschlich und auch zum ersten Mal männlich erscheinen. Erst die Erscheinung des Vaters im Fenster erinnert ihn daran, dass er in Gefahr ist eine Grenze zu übertreten. Von satanischer Verführung ist nichts zu spüren. Der Konflikt scheint vielmehr zwischen der Begierde der heimlich Verliebten und dem ihre Zuneigung sanktionierenden Gesetz zu verlaufen.42 Ein Blick auf weitere rabbinische Texte bestätigt diese Deutung. Am deutlichsten in dem midraschischen Sammelwerk Yalqut Shimʿoni: On that particular day, they all went to idolatrous rites, but she made herself out to be sick. When her friends came back they went to visit her. They said to her: »What is wrong that your face is thus?« She told them the entire episode. They said to her: »You have no remedy other than to tell your husband thus and so, so that he will shut him up in prison.« She said to them: »I beg of you – each of you say that he also sought the same from you.« And so they did. Then all the princes entered Potiphar’s courtyard and told him. He wished to kill him, but she said to him: »Do not kill him and lose your money, but imprison him.«43 Auch hier erscheint die Frau in ihrer Zuneigung zu Josef keineswegs monströs, sondern menschlich. Ihre Freundinnen verstehen ihre Beweggründe und helfen ihr aus der Bredouille. Die Gemeinschaft der Frauen steht im Zentrum weiterer Fortschreibungen, die sich um den Schuldnachweis Josefs bzw. der Frau Potifars ranken und eine sonderbare Episode umfassen, in der Potifars Frau als Gastgeberin ihren ägyptischen Freundinnen Josef »vorführt«. So etwa im Midrasch Tanhuma: What is more, his mistress was with him in the house and sought to entice him with words day after day, and she used to change 42 Dieser Aspekt der Gesetzestreue Josefs selbst im Moment der Versuchung, der in mehreren späteren Texten, etwa auch dem Jubiläenbuch, betont wird, glänzt, rückblickend betrachtet, in der Genesis durch Abwesenheit. In der Josefsgeschichte der Genesis ist von dem Verbot des Ehebruchs oder des »Begehrens des Nächsten Weibs« nicht die Rede und die ganze Thematik des (deuteronomischen) Gesetzes in auffallender Weise unwichtig. 43 Kugel, In Potiphar’s House, S. 49 f.

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her clothes three times a day, day after day – the clothes that she wore in the morning she did not wear at noon, and those that she wore at noon she did not wear in the evening – and to what purpose? Only that he desire her. Said the Rabbis of blessed memory: On one occasion the Egyptian women gathered and went to behold Joseph’s beauty. What did Potiphar’s wife do? She took citrons and gave them to each of them and gave each a knife and then called to Joseph and stood him before them. When they beheld how handsome Joseph was, they cut their hands. She said to them: If you do thus after one moment, I who see him at every moment, am I not all the more so (justified in being smitten)? And day after day she sought to entice him with words, but he overcame his desires. How do we know this? From what we read next, »And after these things the wife of his master set her eyes upon Joseph.« (Gen 39,7)44 Was Potifars Frau mit ihrer Demonstration vor den Frauen Ägyptens bezweckt, ist das Einholen von Verständnis. Ihre Demonstration vor den noblen Frauen der Stadt soll unter Beweis stellen, dass die Schönheit dieses jungen Mannes einen Angriff darstellt, dem sich niemand entziehen kann. Dadurch beansprucht Potifars Frau eine Art Opferstatus. Sie insinuiert, Josef selbst habe sie verführt, nicht umgekehrt. So verständnislos wir vor den beigebrachten Motiven – den Zitronen und Messern – stehen mögen, bewirkt die Erzählung doch eine Umkehr der Verhältnisse: Potifars Frau wird von der satanischen Manipulateurin zum Menschen, der seine eigene Begierde reflektiert und um Verständnis für diese wirbt. Wie in Yalqut Shimʿoni und auch der etwas später datierten Midrasch-­Kompilation Midrasch ha-Gadol45 halten die Frauen Ägyptens als Freundinnen gegenüber 44 Ebd., S. 29. 45 Siehe ebd.: »She put the righteous one in the mouths of all of them. It is related: When the queens and noble-women returned from worshipping idols, they all went to visit her. They said to her: ›Why is it that you look so badly? Have you perchance been fancying that servant of yours?‹ Whereupon she gave them bread and meat and knives, and brought in Joseph and stood him before them. And when they lifted their eyes to Joseph, they cut their hands as they ate. She said to them: ›If you, before whom he has stood for but a moment, were unable to endure it, how much less able am I, who see him each and every day.‹ They said to her: ›You have no remedy other than to say to his master to lock him up in prison and he will be entirely yours.‹ She said to them: ›If I am the only one

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ihren Ehemännern zusammen. Sie attestieren der Frau Potifars die Angemessenheit ihrer Gefühle gegenüber dem hebräischen Diener und gewähren ihr den Schutz der weiblichen Gemeinschaft. Einen Aspekt müssen wir noch berücksichtigen, ehe wir auf die koranische Variante des Themas zu sprechen kommen. Im Text des Midrasch Tanhuma haben wir gelesen, Potifars Frau hätte drei Mal am Tag die Kleider gewechselt. Der Text führt dieses Detail noch einmal aus und ergänzt die Tageszeiten: »The clothes that she wore in the morning she did not wear at noon, and those that she wore at noon she did not wear in the evening.«46 Die Frau scheint mit dem Wechsel ihrer Kleider den Wandel der Tageszeiten zu begleiten – oder vorzugeben. Stellen wir uns vor, die Frau sei der Bezugspunkt für den jungen Josef. Sie versucht mit aller ihr zur Verfügung stehenden Macht seine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Aber Josef ist entweder »nicht interessiert« oder er »überwindet seine Begierden«. Wer davon krank wird ist die Frau bzw. manchmal sogar alle Frauen. Das aramäische Gedicht Mahzor Vitry berichtet etwa, dass die Frauen beim Anblick von Josef »erbleichten«.47 Auch in Yalqut Shimʿoni erscheint die Frau Potifars nahezu »krank«48 und bereits im Testament des Josef haben wir von der krank machenden Begierde der Frau Potifars gelesen. Die kranken Frauen sowie die durch den Wechsel ihrer Kleidung die Tageszeiten strukturierende Frau weisen über ihre Individualität hinaus. Gemeint ist nicht nur das Individuum, Potifars Frau, sondern die Frau Welt,49 die ihre Gewänder täglich mehrmals wechselt und dem Tag seine unterschiedlichen Erscheinungen gibt, den Morgen, den Mittag, den Nachmittag, den Abend. Dieses Prinzip von Weiblichkeit, das wir als Weltlichkeit, to speak against him to my husband, he will not believe me. But if each one of you tells her husband, Joseph seized me, then I will tell my husband that Joseph seized me as well and he will put him in prison.‹« 46 Kugel, In Potiphar’s House, S. 29. 47 Ebd., S. 37. 48 Auch das Schneiden der Frauen in ihre eigenen Hände ist natürlich ein Motiv, das den Schmerz der begehrenden Frauen ausdrückt, die ihre Hingabe an einen jungen Mann verschwenden, der unerreichbar ist, was am prägnantesten der Koran ausdrückt: »Das ist kein Mensch! Das ist ein edler Engel!« 49 Zum Konzept siehe z. B. Erich Naumann, Die große Mutter. Eine Phänomenologie der weiblichen Gestaltungen des Unbewussten, Olten und Freiburg 1983, S. 272 ff. Und Jung, Antwort auf Hiob XI, S. 471 mit dem Konzept der Frau als anima mundi.

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Materialität oder auch als Mutter Natur beschreiben können, folgt seinen eigenen Gesetzmäßigkeiten – nicht den Prinzipien der Ethik. Es ist nun gerade dieses Konzept von Weiblichkeit, das sich in der koranischen Variante der »Verführungs-Szene« wiederfindet. Die Frau in Sure 12 – das Recht der Frau Welt Wie im Midrasch ha-Gadol ist Potifars Frau in der Sure ambivalent und tatsächlich verführerisch. Ein Teil von Josef möchte ihr nachgeben: »Sie begehrte ihn und auch er hätte sie begehrt, wenn er nicht einen Hinweis (burhān) von seinem Herrn gesehen hätte« (Q 12,24). Der »Hinweis«, den Josef »gesehen« hat, erinnert an das Gesicht des Vaters, das im Talmud in der Fensterscheibe des Schlafzimmers erschienen war. Wie die anderen spätantiken Texte ist sich der Koran zunächst mit der Genesis darüber einig, dass Josef der Frau widerstand, weil Potifar ihn gut aufgenommen hatte: Doch die Frau, in deren Haus er lebte, stellte ihm nach. Sie verriegelte die Türen und sagte: »Komm zu mir!« Er sprach: »Gott bewahre! Mein Besitzer hat mich doch gut aufgenommen. Und denen, die Unrecht tun, geht es nicht gut.« Doch sie begehrte ihn. Und auch er hätte sie begehrt, wenn er nicht einen Hinweis von seinem Herrn gesehen hätte. Dies, um Schlechtigkeit und Schändlichkeit von ihm abzuwehren. Er war ja einer unserer aufrichtigen Diener. (Q 12,23–24) Gott selbst verhütet den moralischen Abfall des Josef, weil er – wie bereits vor ihm Mose50 – einer der aufrichtigen Diener Gottes ist, d. h., Angelika Neuwirth zufolge, einer der bereits in der Präexistenz erwählten Gläubigen, in deren Tradition sich die Muslime selbst stellen.51 Lesen wir weiter in Sure 12: Sie liefen beide zur Tür. Dabei zerriss sie sein Hemd von hinten. Und an der Tür trafen sie auf ihren Herrn. Sie fragte: »Was ist der Lohn dessen, der gegen deine Familie Böses im Schild führte? 50 Vgl. die Parallelstellen in Rudi Paret, Der Koran. Kommentar und Konkordanz, Stuttgart 1980, S. 249. 51 Angelika Neuwirth, Der Koran Bd 2/1 Frühmittelmekkanische Suren, Berlin 2016, S. 259.

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Das Gefängnis oder eine schmerzliche Strafe?« Er sprach: »Sie wollte mich verführen!« Und jemand aus ihrer Familie bezeugte: »Wenn sein Hemd vorne zerrissen ist, hat sie die Wahrheit gesagt und ist er ein Lügner. Ist sein Hemd aber hinten zerrissen, hat sie gelogen und er die Wahrheit gesagt.« Er sah aber, dass sein Hemd hinten zerrissen war und sprach: »Das ist wirklich eine heimtückische List von euch! Josef, denke nicht mehr daran! Und du, bitte ihn um Verzeihung für deine Schuld. Du hast dich wirklich schuldig gemacht.« (Q 12,25–29) Bis hierher verläuft die Geschichte ganz zu Josefs Vorteil. Er hat mit der Hilfe Gottes der Versuchung der Frau widerstanden. Er hat das Wettrennen zur Tür gegen sie gewonnen und seine Unschuld wurde durch ein männliches Mitglied ihrer Familie erwiesen, seine Peinigerin zur Reue verpflichtet. Aber nun folgt die Episode, die so stark den jüdischen Erzählungen ähnelt und deren Vorbild sein könnte: Da tuschelten die Frauen der Stadt: »Die Frau dieses Hochgestellten hat ihrem Burschen nachgestellt. Er hat sie zur Liebe entflammt. Wie wir sehen, ist sie in offenbarem Irrtum.« Und als sie von ihrer Bosheit hörte, schickte sie zu ihnen und bot ihnen ein Festessen. Sie gab jeder von ihnen ein Messer. Dann rief sie: »Komm zu ihnen heraus!« Und als sie ihn sahen, bewunderten sie seine Schönheit so sehr, dass sie sich in die Hände schnitten und ausriefen: »Gott behüte! Das ist kein Mensch! Das ist ein edler Engel!« Sie sprach: »Und um dessentwillen habt ihr mich getadelt! Jawohl, ich stellte ihm nach, doch er blieb standhaft. Wirklich, wenn er mir nicht zu Willen ist, soll er ins Gefängnis geworfen und verächtlich behandelt werden.« Er sprach: »Mein Herr! Das Gefängnis ist mir lieber als das, wozu sie mich auffordern. Doch wenn Du nicht ihre Ränke von mir abwendest, gebe ich ihnen in meiner Jugend vielleicht nach und bin ein Tor.« Aber sein Herr erhörte ihn und wendete ihre Pläne von ihm ab. Er ist der Hörende, der Wissende. Gleichwohl beliebte es ihnen, ihn für eine Zeit einzusperren, obwohl sie doch die Zeichen gesehen hatten. (Q 12,30–35) So enigmatisch die Bilder und zahlreich die Varianten, lassen sie eine gemeinsame Deutung zu: Es geht um die Zuspitzung eines Kontrasts zwischen den im sozialen Kollektiv auftretenden und impulsiv agie-

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renden Frauen und der engelhaften, aber – in seiner erotisierenden Wirkung durchaus körperlich manifesten – Figur des Josef. Die Gemeinschaft der Frauen gibt der »Frau des Hochgestellten«, wie Potifars Frau in der Sure heißt, recht. Ihr gemeinsames Schneiden in die eigenen Hände ist die Bestätigung des Rechts der materiellen Welt, der weiblichen Welt, die in der Sure der spirituellen Lebensführung Josefs und Jakobs gegenübersteht. Das Kollektiv der Frauen um die »Frau des Hochgestellten« machen das Recht der Materie am Leben Josefs geltend. »Frau Welt« oder »Mutter Natur« mag das Wettrennen gegen Josef zur Tür ihres Schlafzimmers verloren haben, aber ihr bleibt der weltliche Triumph, die ungerechte und wahllos agierende Macht der menschlichen Gesellschaft, die, obwohl sie »die Zeichen gesehen haben« (Q 12,35), von ihrer Macht Gebrauch machen, den Gerechten ins Gefängnis zu werfen. Es ist der Text des Koran, der der materiellen Welt diesen Triumph verschafft und ihre Macht über die Engelsgestalt Josef bestätigt. In subtiler Weise verzichtet der Koran darauf, die Frauen als Götzenverehrerinnen zu karikieren, denn es geht hier nicht darum, Josefs Gottvertrauen, seine Ergebenheit und Treue gegenüber »seinem Herrn«, dem männlichen Maßstab, dem er kritiklos gehorcht und der den ganzen Rahmen seines Lebens konstituiert, gegen das weibliche, materiale Prinzip auszuspielen. Der Akzent liegt in der Dynamik des Wettstreits, die wir am deutlichsten im Bild des Wettrennens der Frau und Josefs hin zur verschlossenen Tür vor Augen haben. Keines der beiden Prinzipien überwindet das andere im Sinne einer Vernichtung. Aber die Frau des Hochgestellten behält das letzte Wort und Josef geht schuldlos ins Gefängnis. Ein Syntheseversuch mit Hilfe der späteren islamischen Literatur In einer der vielen Bilder und Miniaturen, die zu der Szene im Schlafzimmer existieren, sehen wir eine ähnliche Situation. Bereits in den verschiedenen Midraschim und auch im Koran ist die Rede davon gewesen, dass Potifars Frau die Tür ihres Schlafzimmers verschlossen hat. Auch im Jubiläenbuch findet sich der Hinweis, dass Josef eben diese Tür »aufgebrochen« habe, als er der Verführung widerstand.52 Auch im Koran wird explizit erwähnt, dass 52 Jub 39,8–9.

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»Yusuf and Zulaika«, Folio 51r from a Bustan of Sa’di, ca. 1525–35, Metropolitan Museum Collection.

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die Frau Potifars die Tür des Zimmers verschloss. Das Entkommen durch die verschlossene Tür gehört demnach zu Josefs Flucht vor der Frau dazu. Wenn wir uns jetzt die Miniatur ansehen, können wir uns nur noch mehr über diese vielen Erwähnungen der Tür wundern, denn es gibt dort eine zweite Tür, die offensteht. Die identischen blauen Ornamente in den Rahmen der beiden Türen und ihre perfekte Parallelität lassen keinen Zweifel darin aufkommen, dass es sich um eine zweite Tür, nicht etwa um ein Fenster handelt. Die offene Tür hat einen dunklen Rahmen und grüne Innenfenster. Die verschlossene Tür ist heller und blau, aber beide sind mit demselben Muster verziert, ganz offensichtlich ein Ein- und ein Ausgang des Zimmers. Was bedeuten diese Türen, wenn wir sie in unserer tiefenpsychologischen Deutung symbolisch betrachten? Eine Deutung könnte lauten: Josef muss die Tür zum Erwachsensein aufstoßen, sonst wird er von der dunklen Frau, ihrer Melancholie, ihrem Ehrgeiz, ihren maßlosen Besitzansprüchen verschlungen. Es ist der Mond, den wir in der offenen zweiten Tür sehen. Und darin erkennen wir eine Seite der Mutter wieder, die in der Figur Leas Josefs Kindheit überschattete. In einem seiner Kindheitsträume hat Josef das Bild des Mondes selbst mit der Mutter identifiziert: »Ich sah die Sonne, den Mond und elf Sterne. Ich sah sie sich vor mir niederwerfen« (Q12,4 und Gen 37,9). Und der Vater fragte: »Möchtest Du etwa, dass deine Mutter und ich und deine Brüder vor dir niederfallen?« (Gen 37,10) Zu diesem Zeitpunkt war Rahel natürlich bereits gestorben und so spricht Jakob ganz offenbar nicht von der leiblichen Mutter Josefs, sondern von der Stiefmutter, der Seite der Mutter, die überlebt hat. Was sein Traum bezeugt, ist die Identifizierung dieser ambivalenten weiblichen Figur mit dem Mond.53 In Potifars Frau tritt Josef diese Frau noch einmal mit aller Gewalt in den Weg. Sie bringt ihn auch wirklich zu Fall, nicht weil er ihrer Verführung nachgeben würde, sondern mit derselben »bösen Nachrede«, die Josef schon von Silpas und Bilhas Kindern her kennt, durch Verleumdung. Die Miniatur zeigt, dass Josef an dieser Frauenfigur vorbeimuss, dass er sie – in der verschlossenen Tür – überwinden muss, um den Weg in sein eigenes 53 Die Tatsache, dass Rahel zum Zeitpunkt von Josefs Traum und Jakobs intuitiver Deutung bereits verstorben war, hat auch die rabbinischen Kommentatoren beschäftigt. Siehe dazu: Levenson, Joseph, S. 43.

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Leben zu finden. Es ist wieder ein Gewaltakt, der eine Verwandlung des Helden nach sich zieht, ausgedrückt in dem zweiten Ablegen seines äußeren Gewandes, dem Kleid der Jugend. Gerade in tiefenpsychologischer Perspektive haben wir das mehrmaligen Ablegen der Kleider Josefs als Symbole der inneren und äußeren Wandlung im Sinne einer »Häutung«54 zu verstehen. Neben den Interaktionen mit den anderen Protagonisten der Erzählung, steht dieser Prozess in »subjektaler« Deutung für die Irreversibilität des inneren Wachstums. Das sukzessive Ablegen der Kleider zeigt sich, subjektal gelesen, gerade nicht als Verlust von Prestige oder Besitz, sondern als allmähliche Entfaltung des eigenen Ich des Josef, das zuvor von äußeren Ansprüchen überformt und verfremdet worden war.

Exkurs: Josef und Zulaika – der Transfer eines Konflikts in eine Liebesgeschichte Ehe wir mit der Entwicklung der biblischen und koranischen Figur des Josef im Gefängnis fortsetzen, ist an dieser Stelle ein Exkurs in die spätere islamische Literatur nötig. In der islamischen Literatur des »Mittelalters« wird die Episode um den Verführungsversuch des Sklaven im Haushalt der hochgestellten Frau zu einer der zentralen Liebesgeschichten auserzählt. Besonders bekannt und prägend für zahlreiche Erinnerungen an Josef noch in der Moderne – unter anderem in der Dichtung Goethes – ist die Variante des persischen Gelehrten und Mystikers Djami (st. 1492), der in seinem Epen­zyklus »Die sieben Throne« (pers. Haft aurang) die Geschichte von Josef und der Frau, die nun den Namen Zulaika trägt, erzählt. Die Geschichte von Josef und Zulaika steht in Djamis Epos neben anderen archetypischen und stets tragischen Liebesgeschichten: der Erzählung von Lailā und Majnūn, einer bereits frühislamischen love story, die von der unmöglichen Liebe zweier junger Menschen aus zwei verfeindeten Stämmen erzählt55 und auch neben Salmān und Absal, 54 Der hebräische Begriff, der in Gen 37 verwendet wird, als erzählt wird, dass die Brüder Josef den bunten Rock »ausziehen« lautet ‫טׁשפ‬. In Lev 1,6 bezeichnet dieses Verb auch das »Abhäuten eines Opfertiers«. (Vgl. auch Ebach, Gen 37–50, S. 96.) 55 Die Geschichte von Laila und Madjnun ist, auch durch ihren archetypischen Charakter, mehr als eine Liebesgeschichte. In Madjnun begegnet der Liebende in seiner Wildheit, Asozialität und sogar Hässlichkeit. Asʿad Khairallah hält Madjnun in seinem »monströsen« Verlangen nach Laila sogar für einen bewuss-

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der tragischen Liebe zwischen einem Prinzen und einer Amme. In einer der »Vorlagen«, die Djami vermutlich benutzt hat, dem Epos »Die fünf Schätze« (pers. Pandsch gandsch) des persischen Dichters Nizami (st. 1209), steht an der Stelle, die Djami Josef und Zulaika vorbehält, die Liebesgeschichte von Chorau und Shīrīn. Damit ist ein weiteres Liebespaar benannt, das – neben Madjnūn und Lailā und Yūsuf und Zulaika – die höfische Liebesdichtung der persischen Mystik so wie der islamischen Welt als Ganze prägten. Wie bereits in der mystischen Färbung von Djamis Dichtung angezeigt, hat das Liebespaar Josef und Zulaika hier eine allegorische Bedeutung. Josef steht allegorisch für die göttliche Schönheit und Zulaika für die menschliche Sehnsucht, sich mit ihr zu vereinigen. Dieser Deutung zufolge transzendiert die Liebesgeschichte in Djamis Epos die Charaktere Josef und Zulaika. Sie zeigt in den Bildern des Begehrens, der Sehnsucht, der Nähe und Entzweiung den schmerzhaften, aber als ausweglos erkannten Weg der Selbst- und der Gotteserkenntnis vermittels der Liebe, die der Autor für den wesentlichen menschlichen Lebenswert hält. So formuliert er in der Einleitung des Werks: »The heart that is free of lovesickness is not a heart at all; the body bereft of the pangs of love is nothing but clay and water.«56 Bereits in diesem Resümee wird deutlich, dass Zulaika, die begehrende Frau, ihre negativen Eigenschaften, die ihr etwa in den Testamenten der zwölf Patriarchen und noch in weiten Teilen der kirchenväterlichen und auch rabbinischen und islamischen Kommentarliteratur zugeschrieben wurden,57 verloren hat. Die Liebe der Zulaika zu Josef ist nicht mehr die Verführung einer diabolisch agierenden, bösen, dem Gesetz zuwider handelnden Frau, sondern ein Bild für den Menschen, der an der Liebe verzweifelt, aber auch an ihr wächst, sich verändert und schließlich in der Hoffnung einer jenseitigen Vereinigung zur Erfüllung gelangt. Ich denke, dass im Licht dieser Pointierung der späteren islamischen Erzählkunst besonders deutlich wird, dass die Frau des Hoch-

ten Gegenentwurf zu dem Männlichkeitstypus des »engelhaften« Josef. (Vgl. Asʿad Khairallah, Love, Madness, and Poetry. An Interpretation of the Maǧnūn Legend, Beirut 1980, S. 85 f.) 56 Hakim Nuruddin Abdurrahman Jami, Yūsuf and Zulaikhā. An allegorical Romance, hg. und übers. von David Pendlebury, London 1980, S. 6. 57 Vgl. z. B. al-Zamakhshari, Kashshaf, Bd. 1, S. 478 u. a.

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gestellten (zaudjat ʿazīz) auch bereits im Koran nicht als Dämonin agiert, wie sie es im Testament Josefs getan hat. Weltlichkeit ist in der islamischen Josefsgeschichte, für die die Variante in Sure 12 den Grundstein legt, eine Form der Menschlichkeit, die in ihrem Gegenüber zum Göttlichen in ihrer Daseinsberechtigung bestätigt wird. Gerade die Liebe (al-ʿishq) wird in der Mystik zur höchsten Form der menschlichen Erkenntnis- und Daseinsform und das durch die Liebe erlittene Leid als notwenige Schritte einer seelischen Wandlung erkannt. Noch einmal dazu die Einleitung zu Djamis Yūsuf und Zulaika: I have heard tell of a seeker who went to ask a sage for guidance on the Sufi way. The old man said to him: »If you have never trodden the path of love, go away and fall in love; then come back and see us.«58 Gerade in der betonten Notwendigkeit der in der Liebe erlebten seelischen Wandlungen liegt eine auffallende Parallele der islamischen Mystik zu den in der Tiefenpsychologie ausgeführten Wandlungsprozessen, wenn diese sich auch anderer Begriffe bedient und – durch ihre Herkunft aus der Kultur der Therapie – eine andere Zielsetzung formuliert. Wenn die tiefenpsychologisch inspirierten Deutungen der Evangelien in der Begegnung mit Jesus die Berührung des Menschen mit dem Archetypus des »Selbst« sehen, beschreibt die allegorische Liebeserzählung von Zulaika die Geschichte tief empfundener, sogar verzweifelter menschlicher Sehnsucht nach der göttlichen Vollkommenheit. In diesem Drama wird Zulaika statt als Verführerin und Gefährderin des auserwählten Propheten zu einer Identifikationsfigur, deren Wandlungen eine eigene Weisheit vermitteln und eine eigene Deutung verdienen. Gerade in tiefenpsychologischer Sicht ist das mystische Märchen von Yūsuf und Zulaika in hohem Maße lehrreich, da es uns die Komplexität und Verletzlichkeit der Frauenfigur im Gegenüber des Josef nahebringt. Zulaika ist von modernen Autoren vielfach ins Auge gefasst worden als Befreierin der weiblichen Sexualität und des weiblichen Begehrens, als selbst-

58 Jami, Yūsuf and Zulaikha, S. 6.

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bestimmte Akteurin, die sich patriarchalen Strukturen widersetzt.59 Mithilfe einer tiefenpsychologischen Deutung ihrer Entwicklungsgeschichte sehen wir ihre Konflikte noch einmal anders. Gerade in ihrer Sehnsucht und Verzweiflung, in ihrem unnachgiebigen Festhalten an der Erfüllung ihrer Kindheitsträume und in ihren schmerzhaft erlittenen Verlusten liegen Bilder, in die sich Frauen innerhalb und außerhalb des »islamischen Kulturkreises« auf besonders tiefe Weise einfühlen werden. Jeder, der schon einmal verliebt war, weiß, dass sich mit dem Zustand der leidenschaftlichen Bezogenheit auf einen anderen Menschen die Sicht auf die ganze Welt verändert. Auf diese leidenschaftliche, dramatisch subjektive Art und Weise ist Zulaika für Josef entbrannt. Djamis Geschichte erzählt nicht von einer von vorn herein abgekühlten Liebe zum Göttlichen, sondern von dem ganzen verletzenden und kostspieligen Drama des romantischen Verlangens und der sexuellen Begierde. Wir wollen im Folgenden die in der Figur der Zulaika dargestellten Konflikte und die in Djamis »allegorischer« Erzählung angebotene Lösung mithilfe einer tiefen­psycholigischen Hermeneutik nachvollziehen: Zulaika verliebt sich im Traum Wieder beginnt die Geschichte mit einem Traum, allerdings ist es diesmal das junge Mädchen Zulaika das träumt. Zulaika ist selbst in einem königlichen Palast aufgewachsen. Ihre Kindheit, die sie mit Puppenspielen in scheinbarer Sorglosigkeit und in materiellem Luxus im Palast ihres mächtigen Vaters verbracht hat, findet ein jähes Ende mit wiederkehrenden Nachtträumen, in denen Zulaika eines wunderschönen Mannes ansichtig wird, dem sie hemmungslos verfällt. Wir müssen vermuten, dass die Träume Zulaikas von dem verführerischen Fremden in die Zeit ihrer geschlechtlichen Reife fallen, denn kurz darauf beginnt das Thema ihrer möglichen Hochzeit mit einem geeigneten Kandidaten ihr Leben zu verändern. Zulaika, die sich ausschließlich nach dem im Traum gesehenen Geliebten sehnt, verliert Gewicht und verliert ihr Interesse an allen gewohnten Formen der

59 Siehe etwa Gayane Karen Merguerian und Afsaneh Najmabadi, »Zulaikha and Yusuf. Whose ›best Story‹?«, in: International Journal of Middle East Studies 29/4 (1997), S. 485–508.

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Zerstreuung und erregt die Besorgnis all ihrer Ammen. Schließlich gelingt es Zulaika, den Angebeteten im Traum zu fragen, wer er sei und sie erhält die Antwort: Ein Großvezir von Ägypten. Ebenfalls im Traum offeriert er ihr sogar die Vermählung und empfiehlt, sie solle »ihre Kronjuwelen unberührt« lassen, d. h. ihre Jungfräulichkeit erhalten. Zulaika schlägt daraufhin die Angebote aller königlichen Freier aus. Sie wartet vergeblich darauf, dass ein Angebot aus Ägypten kommt und ergreift schließlich selbst die Initiative. Auch Djamis Geschichte lebt von der Doppeldeutigkeit der Symbole. Zulaika wird mit verschwenderischem Luxus ausgestattet nach Ägypten reisen, um den im Traum gesehenen Großvezir zu heiraten. Als sich der amtierende Herrscher als der falsche Mann herausstellt, erbettelt sie bei diesem Mann, den sie trotzdem heiratet, die Ersteigerung eines blendend schönen jungen Sklaven, der vor ihren Augen aus dem Wasser des Nils gestiegen ist, wie in der Bibel die »fetten Kühe« im Traum des Pharao und wie die aufgehende Sonne, mit der Josef fortwährend verglichen wird. Diesen nackten Jüngling erkennt sie – endlich! – als den Geliebten aus ihrem Traum. Und als der Preis für Josef für Zulaikas Ehemann zu hoch wird, wirft die selbst königlich Geborene ihre Kronjuwelen in die Waagschale. Bereits im Doppelsinn des Symbols der Kronjuwelen erkennen wir ein Wechselspiel der ökonomischen Systeme, der Ökonomie der Gefühle, des Begehrens und des Tauschmittels Geld. Offenkundig verausgabt sich Zulaika finanziell für den Erwerb des schönen Sklaven und kontrastiert damit auch die biblische und koranische Erzählung, in der der Verkauf Josefs mit geringem finanziellem Tauschwert vonstattenging. Josef ist für Zulaika von vorn herein ein »Objekt« von unermesslichem Wert. Indem sie ihren eigenen wertvollsten Besitz – die Kronjuwelen – für ihn verausgabt, agiert sie unvernünftig und maßlos nach Maßgabe einer wirtschaftlichen Ökonomie. Aber Zulaika »verwechselt« den ideellen Wert ihrer »Kronjuwelen« mit dem materiellen Wert ihres äußerlichen Besitzes. Dieser Widerspruch zwischen materiellem Reichtum und seelischer Bedürftigkeit wird ein Zentralthema der Geschichte. So stößt Zulaika immer wieder schmerzlich auf den Widerspruch zwischen Vorstellung und Wirklichkeit, zwischen Wunsch und Wunscherfüllung. Das zentrale Moment der Enttäuschung liegt zunächst darin, dass der amtierende Großvezir von Ägypten, zu dem Zulaika voller Hoffnung reist, um ihn zu heiraten, ein anderer ist als der im Traum gesehene Geliebte. Als Zulaika ihrem künftigen Ehemann schließlich leibhaf-

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tig gegenübersteht, hat er keine Ähnlichkeit mit dem strahlend schönen Traumgesicht. Wenn wir uns das Erschrecken und die Enttäuschung Zulaikas vorstellen, nach ihrer hoffnungsfrohen Reise in das Land des fremden Herrschers, von dem sie glaubt, er sei der für sie bestimmte Geliebte, zu dem sie sich »äußerlich« in einer physischen Reise von einem Land in das andere aufgemacht hat, offenbart dieses Zusammentreffen die ganze schmerzhafte Diskrepanz zwischen Traum und Wirklichkeit. Der in ihrer Fantasie, im Traum gesehene ideale Geliebte zeigt sich in der faden Wirklichkeit als uninteressanter und zudem impotenter Ehemann nach dem Vorbild des biblischen Potifar. Gerade die krasse Kontrastierung des uninteressanten, sexuell unfähigen Ehemanns mit dem leidenschaftlich begehrten, mit »göttlicher« Schönheit ausgestatteten Geliebten legt tiefenpsychologisch gesehen nahe, dass Josef und Potifar wiederum spiegelbildlich miteinander verknüpft sind. Das Ideal der Männlichkeit ist für Zulaika offensichtlich dramatisch gespalten in einen überhöhten begehrenswerten und einen uninteressanten, letztlich störenden Teil. Dieser uninteressante, Zulaika lästige Mann ist gleichsam der leicht zugängliche, der in die Normen der Gesellschaft integrierte und durch die Ehe erlaubte Mann. Es fällt nicht schwer, diese Spaltung des Männerbildes in moderne Kontexte zu übertragen. Zu denken ist etwa an die obsessive Verliebtheit junger Mädchen in Idole der Popkultur, an die Überhöhung männlicher Vorbilder, die uns in Filmen oder in Musikgruppen begegnen, neben denen die erreichbaren, normalen, gleichaltrigen Jungen und Männer blass und wenig begehrenswert erscheinen müssen. Aber auch andere Konstellationen, in denen sich jemand auf eine unerreichbare Person versteift, etwa eine bürgerlich sanktionierte Beziehung zu einem verheirateten, gebunden oder anders unerreichbaren oder unerlaubten Partner, können wie eine Wiederholung der Sehnsucht Zulaikas nach ihrem Geliebten Josef sein. Die Überhöhung und Unerreichbarkeit gehen hier Hand in Hand ebenso wie die Köstlichkeit der Hingabe mit dem Schmerz des Verlassens, die hohe Hoffnung mit der Bitterkeit von Schuld und Scham. Jeder kennt die Enttäuschung, die sich einstellt, wenn wir einen zuvor »vergötterten«, idealisierten Menschen im Licht der profanen Wirklichkeit sehen; wenn wir beispielsweise einen Schauspieler, den wir auf der Leinwand angehimmelt haben, ohne Maske und Glamour als einen gewöhnlichen Menschen gegenüberstehen oder wir erkennen, dass ein idealisiertes Vorbild, ein Lehrer oder Profes-

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sor,60 nicht – wie wir glauben wollten – ohne Fehl und Tadel agiert, mit anderen Worten: Wenn ein Josef sich plötzlich als Potifar zeigt. Zulaika gelingt das Kunststück, ihre Traumphantasie vollständig auf einen realen Menschen, auf den in Ägypten aus dem Nil gestiegenen hebräischen Sklaven zu projizieren und bis zuletzt keinen Widerspruch zwischen dem leibhaftigen Josef und ihrem im Traum gesehenen Geliebten kommen zu lassen. Dass Zulaika ihrem Begehren des anderen, des unerreichbaren Mannes nachgeht, der nicht ihrem sozialen Stand entspricht, kann als Moment des Aufbegehrens gegen gesellschaftliche Konventionen gedeutet werden. Aber Zulaika ist keine soziale Aufrührerin, sondern in einem anderen Sinn eine »Revolutionärin«, insofern nämlich als sie der umstürzenden Kraft ihrer Wünsche eine derart große Priorität einräumt. Die Dramatik dieser Sehnsucht und die Impulsivität und Vehemenz, mit der Zulaika ihr folgt, deuten aber auch unbedingt auf einen tief empfundenen Mangel hin. So zeigt sich hinter der Spaltung des Männlichkeitstypus in Josef und Potifar ein ödipaler Konflikt. Wenn wir Zulaikas Kindheitsgeschichte, wie Djami sie in den ersten Kapiteln beschreibt, mit ins Bild nehmen, zeigt sich hinter der Vergötterung Josefs die Vaterfigur. Dieser Vater wird als überaus reich und grenzenlos mächtig beschrieben. Gerade in dem Bild des »mächtig herrschenden« Königs müssen wir, wenn wir Zulaikas Konflikt tiefenpsychologisch deuten, eine tiefe Bezogenheit des jungen Mädchens auf ihren Vater erkennen. Wie in den Märchen ist das Attribut der Königsherrschaft in tiefenpsychologischer Sicht keine Indikation des sozialen Standes, sondern sie zeigt eine emotionale Übermächtigkeit und uneinnehmbare Vorrangstellung dieses Mannes im Seelenleben seiner Tochter an. Auf der Subjektebene gelesen »regiert« der Vater-König nicht nur im politischen Sinne, sondern im übertragenen Sinne über die Seelen­ welt seiner Tochter.61 In diesem übermächtigen, aber letztlich indiffe­ 60 Ich verzichte an dieser Stelle auf die Differenzierung von Geschlechtern. Grundsätzlich werden natürlich auch Professorinnen und Lehrerinnen zum Gegenstand (männlicher oder weiblicher) Idealisierung. Im Kontext der Zulaika-­ Geschichte erscheint mir der Konflikt deutlich auf die Konstellation mit dem Vater hinzudeuten und insofern geschlechtlich spezifisch zu sein. 61 Siehe auch Drewermanns Beobachtung: »Immer wieder treffen […] der König und der Prophet, der Herrscher und der Heilige aufeinander, und beide scheinen einander zu bedürfen.« (Tiefenpsychologie und Exegese Bd. 1, S. 426) Die spiegelbildliche Bezogenheit von Herrscher und Heiligem findet in Yūsuf

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renten Vater, der seine Tochter nach Ägypten an einen unbekannten Herrscher verheiratet, ohne noch die Mühe eines doppelten Botengangs zu erwägen, liegt die Ambivalenz von Zulaikas Männerfantasie. Auf den ersten Blick kommt der Vater seiner Tochter in ungewöhnlichem Maße entgegen: Er richtet sein Handeln und seine Entscheidungen für sie nach den Träumen seiner Tochter! Er hat sie Zeit ihres Lebens materiell verwöhnt und möchte scheinbar nichts anderes als die Erfüllung ihrer Wünsche. Dann aber zeigt sich dieser Vater an ihrem Schicksal in irritierender Weise uninteressiert, ja geradezu gefühlskalt. Er verheiratet sie an einen Mann nach Ägypten, von dem keiner je gehört hat. Er offenbart damit ein Desinteresse an seiner Tochter, das wir als Kehrseite patriarchaler Machtausübung bezeichnen können: Der soziale Wert und das Glück seiner Tochter sind ihm letztlich gleichgültig. Im Licht dieser verräterischen Gleichgültigkeit des Vaters erscheint auch Zulaikas Überbehütung und Verwöhnung rückblickend als alles andere als erstrebenswert: »Not even the greatest of this world were permitted to kiss her foot […]. All around her, comely beauties, as slim and erect as cypress trees – doting, elfinfaced playmates – waited day and night only to serve her.«62 Die für Zulaika auserkorenen Spielkameradinnen sind keine Freundinnen auf Augenhöhe, sondern Dienerinnen, deren kindliche, »elfenhafte« Femininität auch Zulaikas Reifung zur Frau wohl mehr verhindern als unterstützen. Zulaikas Kindheit im Palast ihres Vaters gleicht dem sprichwörtlichen »goldenen Käfig« mit den Komponenten der emotionalen Isolation und des verletzenden Stillstellens ihrer seelischen Entfaltungsmöglichkeiten. Für diese Entwicklung, die doch der eigentliche Schritt ist, auf den Zulaika spätestens seit ihren Träumen von Josef hindrängt, hat der Vater kein Verständnis und an ihnen kein Interesse.63 und Zulaika eine eindrückliche Realisierung. Die anfängliche Entzweiung der Herrscherfiguren des Königs und des ägyptischen Großvezirs von dem Heiligen, den Josef verkörpert, wird im Laufe der Geschichte durch Zulaikas Entwicklungsprozess überwunden und letztlich in ein gemeinsames Bild integriert, insofern Josef selbst auch zu weltlicher Herrschaft gelangt und die erwachsene Zulaika als seine »Königin« an die Seite nimmt. 62 Jami, Yusuf and Zulaikha, S. 13. 63 Man könnte hier von einer Spiegelbildlichkeit zu Josef sprechen. Beide, Josef und Zulaika, werden durch ihre Herkunftsfamilien in ihren eigenen Entwicklungen und geschlechtlichen Identitätsbildungen behindert und müssen diese Familien erst verlassen, um in anderen Kontexten solche Identitäten aus-

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Auch später, als sich in Ägypten herausstellt, dass der Großvezir nicht der Mann ist, von dem Zulaika geträumt hat, tritt sie nicht etwa den Rückweg zurück zu ihrem Vater an, sondern bleibt im Haus des »falschen« Ehemannes. Dessen Impotenz können wir so als Wiederholung der emotionalen »Impotenz« des Vaters begreifen. Zulaika bleibt unbefriedigt in ihrer Ehe, wie sie in ihrem Elternhaus trotz allen materiellen Überflusses und trotz all ihrer äußerlichen Privilegien unbefriedigt, einsam und beziehungslos hat leben müssen. Ihre Ausflucht in die Wunschwelt der Träume erscheint vor diesem Hintergrund folgerichtig. Josef ist der ödipale Traum von einem männlichen Retter, den nur ein Mädchen träumen kann, das ihren Vater schmerzlich vermisst. Für Zulaika, die am langen Arm ihres Vaters emotional zu verhungern droht, zeigt der ersehnte Retter ein anderes Gesicht als das des Vaters selbst. Der mittellose »Sklave« ist sogar ein Gegenbild zum übermächtigen Vater-König. Zulaika ist derart fixiert auf das unerreichbare Ideal, dass sie unfähig ist, an irgendeiner Beschäftigung Freude zu finden. Aber in der Fixiertheit auf Josef zeigt sich auch eine »legitime« Forderung, über die ihr bekannten Beziehungsmuster hinauszuwachsen. Wir werden sehen, dass Zulaika an ihren Träumen festhält wie an einem rettenden Anker. Bilder für Zulaikas Wünsche im Dach der Welt Nachdem Zulaika Josef mit ihrem persönlichen und dem materiellen Reichtum ihres ägyptischen Ehemannes als Sklaven gekauft hat, ist sie zwar ständig in der Nähe ihres begehrten Liebesobjekts. Da sich dieser aber ihren Annäherungsversuchen beharrlich entzieht, wächst ihre Verzweiflung nun noch. Josef ist ein Diener in Zulaikas Haushalt und sieht es als verboten an, mit seiner verheirateten Herrin in Kontakt zu treten. Er schenkt Zulaika nicht einmal so viel wie ein Lächeln oder eine Erwiderung ihres Blicks. Zulaika ihrerseits überschüttet ihn mit Gefälligkeiten. Sie agiert entsprechend des Ver-

bilden zu können. Auch im späteren Verlauf der Geschichte sind Parallelen zwischen Zulaika und Josef erkennbar. Mit dem Begriff der Spiegelbildlichkeit könnte aber auch in entgegengesetzter Richtung gemeint sein, dass Josef und Zulaika von ganz unterschiedlichen Situationen ausgehen und sich in ihrer Entwicklung einander angleichen, um sich schließlich auf Augenhöhe zu begegnen. Danke für den Hinweis an Falk Quenstedt.

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haltens ihres eigenen Vaters mit materieller Verwöhnung, die Josef unangenehm werden muss. Er bittet darum, in ihrem Haus seine Rolle als Diener ausfüllen zu dürfen. Sie aber versucht mit allen Mitteln der äußerlichen Verführung, ihren Wunsch einer erotischen Vereinigung zu erzwingen. Nachdem ihr erster Versuch misslingt, Josef mithilfe aufreizender Dienerinnen so zu erregen, dass Zulaika schließlich an der Stelle ihrer Dienerinnen heimlich in die Rolle der Liebenden schlüpfen könnte, hört sie auf den Rat ihrer Amme und gibt den Bau eines Palastes in Auftrag, der eigens den Zweck erfüllen soll, Josef zu verführen. In dem siebten Zimmer dieses fulminant konzipierten und mit aller Kunst angefertigten Baus, in den Zulaika Josef schließlich nahezu gewaltsam entführt, sind an jeder Stelle Bilder zu sehen, die sie selbst mit Josef in liebevoller Vereinigung zeigen. Sie zeigt dem von ihr begehrten, aber auch von ihr abhängigen »Sklaven« die Sprache ihres Begehrens, ihrer affekthaften Wünsche, ihrer Fantasie, aber sie tut dies mit dem Abstand des sozialen Machtgefälles, als dessen Vorgesetzte. Die Kuppel dieses Baus als das »Dach der Welt«, in welche sie Josef einzuladen versucht, um ihm ihre verzweifelten Wünsche mitzuteilen, erscheint als ein gigantisches Puppenhaus, in dem allein Zulaika alle Beziehungen lenkt. Ihre Zuneigung kennt keine andere Sprache als die des materiellen overkills.64 Die Kehrseite dieser Machtdemonstration und des gewaltsamen Verführungsversuchs stellen Zulaikas Selbsterniedrigungen ihrem Geliebten gegenüber dar. »Oh, Yusuf, I beseech you in the name of that God, who is master of the masters of the world – by the worldconquering beauty with which he adorns your face – by the light which radiates from your forehead, and forces the moon to bow down before you – by your beguiling brow and your bewithing eye, your cypress-stature and slender waist – by the sweet smile playing on your rosebud lips – 64 Im Mittelteil von Djamis Geschichte steht die Geschichte einer anderen Frau, die für Josef entbrannt ist, aber einen anderen Umgang damit sucht: die Geschichte von Baghiza, die sich ebenfalls unsterblich in Josef verliebt, daraufhin all ihren Reichtum an Bedürftige spendet, um sich in einer einfachen Hütte auf dem Nil zu lagern. Wenn Baghizas Liebe zu Josef auch unerwidert und somit unerfüllt bleibt, präsentiert ihre Geschichte doch ein wichtiges Korrektiv zu der Ansicht, die romantische Liebe wäre in Djamis Epos grundsätzlich mit materiellem Luxus und royalem Leben verbunden.

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by the tears of longing in my eyes, and the burning sighs your absence causes – by the total dominion which love for you has over my whole existence, and your utter indifference to whether I exist or not: have pity on this wretched, love-crazy woman!65 Natürlich kann Josef in diesem Paradoxon der Selbsterniedrigung und der gleichzeitigen Machtausübung die für ihn vorgesehene Rolle des Liebhabers nicht ausfüllen. Es ist gerade kein Beziehungsangebot, das Zulaika ihm macht, sondern letztlich eine (aus ihrer Hilflosigkeit geborene) Demonstration ihrer inneren Zerrissenheit und Leere, die sie einzig durch Josefs Liebe auszufüllen hofft. »Pity«, »love-crazy woman« – welchen Menschen, ob Diener oder Herrscher, sollte diese Verzweiflung verführen oder überzeugen? Nicht nur im Hinblick auf die misslungene Verführung, sondern auch in Bezug auf Zulaika selbst, ist ihr Versuch, Josef durch den Bau eines Palastes für sich zu gewinnen vielsagend. Uns als Leser lehrt ihr mitleiderregendes Missgeschick, dass wir unsere Träume nicht auf direktem Wege in Wirklichkeit umsetzen, noch die Welt in ein gigantisches Traumbild verwandeln können. Der Bau ihres Palastes der Verführung ist in andere Medien übertragbar: in die Suggestionskraft des Kinos, den Sog der Medien oder der Werbung, die uns letztlich – wie Zulaika – unbefriedigt und einsam werden lassen, wenn wir von ihnen die Erfüllung unserer persönlichen Wünsche erwarten. So endet die Episode von Zulaikas verzweifeltem Versuch, ihr Glück durch die Manipulation der äußeren Welt zu erzwingen in Djamis Liebesgeschichte folgerichtig mit der Entzweiung von Zulaika und Josef. Tod des Ehemanns Obwohl die Unschuld Josefs auch in Djamis Variante der Geschichte (durch ein ihn frei sprechendes Baby) für Zulaikas Ehemann erwiesen ist, lässt »Potifar« Josef schließlich inhaftieren, um den Ruf seiner Ehefrau zu schützen. Josef geht, wie bereits im Koran, selbst freiwillig ins Gefängnis und Zulaika ist diejenige, die jetzt wirklich zu leiden beginnt. Während sie das Stalking des inhaftierten Josef weiterhin zu ihrem einzigen Lebensinhalt macht und an ihrer Obsession immer 65 Jami, Yusuf and Zulaikha, S. 82 f.

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mehr verzagt, stirbt ihr Ehemann, der Groß­vezir »Potifar«.66 Wenn Djami über dieses Ereignis auch nicht viel Tinte verschwendet, ist der Tod des Ehemanns doch ein zentrales Moment der Geschichte, wenn wir sie als seelisch Entwicklungsgeschichte Zulaikas lesen. Die liebeskranke Zulaika büßt nun ihr soziales Prestige und allen noch verbliebenen Reichtum ein. Sie altert, verliert ihre weibliche Schönheit und lebt letztlich mittellos zunächst in einer Ruine, dann in einer selbst gebauten Hütte auf den Straßen von Ägypten. Zu guter Letzt wird sie sogar blind. In der hässlichen, alten, blinden Zulaika müssen wir wiederum einen Doppelsinn erkennen. Einerseits geht es um die Umkehr des hierarchischen Verhältnisses zwischen ihr und Josef, den sie als Sklaven gekauft, mit den Mitteln ihrer äußerlichen Macht zu verführen versucht hat und der sich nun mithilfe der Traumdeutung politisch profiliert, aus dem Gefängnis entlassen und selbst zum Groß­ vezir ernannt wird. Insofern ähnelt der Verlust aller äußerlichen und materiellen Reichtümer Zulaikas der von den Brüdern des biblischen Josef erlittenen Hungersnot, die notwendig ist, um eine Annäherung an ihr ehemaliges Opfer einzuleiten. Zulaikas Armut kann insofern als eine Form der Einfühlung in Josef gedeutet werden, den sie zuvor rein äußerlich begehrt hat und besitzen wollte. Dann aber müssen wir in Zulaikas Armut und Hässlichkeit auch eine andere Seite wahrnehmen. Es ist diese Möglichkeit, sich in das Gegenteil der eigenen Wunschvorstellung zu verwandeln, die wir alle kennen, wenn wir einen Traum, an dem wir hängen, als gescheitert ansehen. Wir kommen nach einem solchen Höhenflug gerade nicht auf dem »Boden der Tatsachen« zum Stehen, sondern fallen vielmehr in das bodenlos erscheinende Loch von Selbstkritik, Selbstverachtung und Minderwertigkeitsgefühlen. Zulaika fehlt, mit anderen Worten, ein »Ich-Bewusstsein«, das ihre Triebe und die Vorstellungen der Gesellschaft nach einem Realitätsprinzip in Einklang bringen würde. Auch diese Spaltung der Selbstwahrnehmung Zulaikas in einen überhohen, Macht verfügenden, dynamisch begehrenden Teil und dessen ohnmächtiges, hässliches, armseliges Gegenteil, korreliert mit der Spaltung ihres Männerbildes und kann mit dem zuvor ins Feld geführten ödipalen Konflikt begründet werden. Gerade das Mädchen, das keine reale Zuwendung 66 In anderen Versionen der Geschichte wird Zulaika von ihrem Ehemann geschieden und weint daraufhin so lange, bis sie ihr Augenlicht verliert. Vgl. Mergueriand und Najmabadi, »Best Story«, S. 496.

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von ihrem Vater erfahren hat, das von der Erfahrung seiner emotionalen Indifferenz ihr gegenüber in eine imaginäre Welt geflohen ist, wird innerlich mit vernichtenden Minderwertigkeitsgefühlen zu kämpfen haben. In dem Moment, da der eine ihr ganzes Leben und ihr ganzes Dasein vereinnahmende Wunsch, mit Josef zusammen zu sein, gescheitert ist, bricht Zulaikas ganzes Weltbild und Selbstbild zusammen. Sie hält sich für wertlos. Sie hat sich verausgabt und kriecht nun, orientierungslos und ohne jede Verführungsmöglichkeit in der anonymen Menge der ägyptischen Gesellschaft herum. Das Bild von Zulaikas Armut und Hässlichkeit ist, symbolisch verstanden, aber nicht zwingend eine Läuterung und auch nicht als Strafe zu verstehen, wie dies Merguerian und Najmabadi interpretieren,67 sondern es zeigt eine Zustandsbeschreibung ihrer seelischen Wirklichkeit und hängt insofern direkt mit ihrem eigenen »Schönheitswahn« zusammen, den sie im ersten Teil der Geschichte exzessiv kultiviert. Durch die Retrospektive des vollständigen Verlusts dieser Schönheit nach dem Tod des Ehemanns erscheint dieser Schönheitswahn Zulaikas als Überrest ihres Kindheits-Ichs, das ganz im Schatten der Ansprüche des Vaters stand. Im Moment ihrer Hässlichkeit liegt damit – ähnlich wie in der am biblischen Josef verübten Gewalt am Brunnen in Dotan – ein Moment der Befreiung, ja der Freiheit von dem krankmachenden, vereinsamenden, zwanghaften, auf äußeren Prestige bedachten Lebensweg, den der Vater für den einzig gangbaren hält. Aber Zulaika ist längst kein Kind mehr, sondern eine erwachsene, sogar eine alte Frau. Und in der Logik der Geschichte hängt Zulaikas Armut nicht mit dem Aufbruch aus der Kindheit, sondern mit dem Verlust des Ehemannes zusammen. Neben Zulaikas offenkundiger »Verschlechterung« ihres äußeren Zustandes könnte man fast übersehen, was ihr währenddessen gelingt: Das Überleben ihres Ehemanns. Folgen wir unserer Deutung von »Potifar« als einer Wiederholungsfigur des liebes- und beziehungsunfähigen Vaters, ist diese Leistung Zulaikas in hohem 67 Merguerian und Najmabadi, »Best Story«, S. 496: »This rehabilitated/re-­ created woman, saved through Yusuf ’s prayers and his Lord’s intervention, is rewarded by marriage to a prophet and the birth of children. Her sexuality is powerful and dangerous – a threat to Yusuf ’s prophethood, it must be punished (through long years of suffering and loss of walth, social status, beauty, and eyesight); re­deemed (through Yusuf and his father’s prayers – the same father whose visionary appearance had stopped Yusuf from giving in to her desire); and then controlled (through her conversion and marriage).«

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Maße bemerkenswert und aufschlussreich für die Wandlung, die sie innerlich vollzieht: Es gelingt ihr, über die Furcht vor Kontrollverlust, über die Sorge um die wirtschaftliche Existenz und die gesellschaftliche Reputation hinauszuwachsen. Sie erkennt, dass sie den Verlust all dieser Dinge ertragen kann und dass sie selbst nicht daran zugrunde geht, dass sie den Kern ihres Wesens nicht verliert, den einziegen Teil, der wirklich ihr gehört, weil er ihr nicht äußerlich genommen werden kann: ihre Liebe zu Josef. Ihr eigener Wunsch, den sie in ihrer Jugend entwickelt hat, hat als Liebe zu Josef alle äußerlichen Lebensenttäuschungen überdauert. In diesem Wunsch liegt Zulaikas ganze Integrität und Würde. Sprechen und angesprochen werden In ihrem Zustand der äußerlichen Armut begegnet Zulaika dem freien und zu Ehren gekommenen Josef erneut. Oder besser: Sie passt ihn am Wegrand ab. Als Josef an der armen alten Frau vorüberreitet, sagt diese: »O Pure Being, who made the King a lowly slave, and crowned a slave with the royal crown …«.68 Von dieser Anrufung Gottes ist Josef derart beeindruckt, dass er anordnet, die alte Frau in seinen Palast vorzuladen. Es gelingt Zulaika, selbst mit ihrem Angebeteten zu sprechen und sich schließlich zu erkennen zu geben: I am someone who, from the very first moment of seeing your face, chose you above all else in the world. In order to acquire you I sqandered all my wealth and dedicated myself heart and soul to loving you. In suffering for you I cast my youth to the wind, and thus fell into my present decreptitude. But now that you have embraced that other mistress – regal power – you have forgotten me completely.69 Josef, der Zulaika endlich wiedererkennt, ist von ihren Worten derart ergriffen, dass er bereit ist, ihr einen Wunsch zu erfüllen. Sie bittet zuerst um die Wiederkehr ihrer jugendlichen Schönheit und die Fähigkeit selbst zu sehen. Schließlich kommt es, mit der Erlaubnis

68 Jami, Yusuf and Zulaikha, S. 122. 69 Ebd., S. 124.

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des Engels Gabriel, zur Ehe und zur lange ersehnten sexuellen Vereinigung zwischen Josef und Zulaika. Fast könnte man meinen, dass nach dem Wiedersehen mit Josef alles beim Alten ist. Zulaika erhält ihre äußere Schönheit zurück und zieht nun wiederum mit Josef in einen Palast ein. Der Schluss der Geschichte von Zulaika muss enttäuschen, wenn wir nicht den entscheidenden Punkt des Todes von »Potifar« dazu denken. Zulaika hat schließlich Abschied genommen von dem zweiten, dem verletzenden, weil emotional unverfügbaren Mann, der sie äußerlich versorgt, aber innerlich darben lässt. Der Abschied von diesem Trauma, das wir in der Figur des Vaters zu sehen gelernt haben, hat ihre ganze Existenz verändert. Zulaika hat tatsächlich alles verloren. Sie hat den schmerzlichen Verlust aller materieller Sicherheiten und Annehmlichkeiten – sogar über Jahre hinweg – ertragen und ihn überlebt. Diese Beharrlichkeit erweckt Josefs Mitleid. Er sieht sie paradoxerweise in Gestalt der alten, armen Frau zum ersten Mal nicht als bedürftige, abhängige Person, die sie während der Zeit ihres Werbens um ihn in Potifars Haus gewesen war. Josef muss anerkennen, dass sie einen Glauben hat, der tatsächlich Berge versetzt. Wenn dieser Glaube Zulaikas in Djamis Narrativ mit der Zerschmetterung des Götzen gleichgesetzt wird, den Zulaika Zeit ihres Lebens verehrt hat, können wir, in tiefenpsychologischer Sicht, diese Zerstörung des Götzen als Zulaikas eigentlichen Befreiungsschlag von den Glaubensgrundsätzen ihrer Kindheit begreifen. Die Analogie zwischen dem Götzen und dem objektalen Begehren Zulaikas legt bereits der persische Terminus but nahe, wie Vera Beyer bemerkt: »das persische Wort but [kann] sowohl Idol als auch Geliebter heißen«. Mit diesem lexikalischen Doppelsinn »spiele« Djami immer wieder durch die Gleichsetzung von Josefs Körper mit einem Idol. Zulaikhas zunächst zu sehr auf das Physische ausgerichtete Verehrung Josephs ist also mit ihrer anfänglichen Anbetung des Götzenbildes zu vergleichen, und auch ihre Einsicht, dass es sich hierbei um das Abbild einer göttlichen Schönheit handelt, gilt für das Götzenbild ebenso wie für Joseph.70 70 Vera Beyer, Joseph und Zulaikha: Beziehungsgeschichten zwischen Indien, Persien und Europa, hg. v. Vera Beyer, Friederike Weis u. Heinrich Schulze Altcappenberg [Ausstellungskatalog, Kupferstichkabinett Berlin 11.6.–7.9.2014], NeuIsenburg, Edition Minerva 2014, S. 26.

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Kurz vor der lang ersehnten Vereinigung mit ihrem Geliebten zerschmettert Zulaika diesen ehemals gehegten Götzen. Josef seinerseits scheint zu erkennen, dass Zulaika sich gegen eine »Haben-Existenz« für eine »Seins-Existenz« entscheiden hat und gelernt hat, ihr Leben ganz nach der Stimme ihrer inneren Wünsche auszurichten. Zulaika hat zwar alles verloren, aber nicht weniger als ihr Selbst gerettet, indem sie in einer auf Äußerlichkeiten und Überlebensfurcht fixierten Umwelt an der Schönheit und Freiheit ihres eigenen Wünschens festgehalten hat. Neben der Anerkennung der Tatsache, dass in der Geschichte der islamischen Mystik im 15. Jahrhundert die (erotischen) Fantasien einer Frau ins Zentrum gestellt werden, während in der zeitgenössischen erzählenden höfischen Literatur des europäischen Mittelalters solche weiblichen Figuren noch die Ausnahme sind,71 können wir viel von Zulaika in psychologischer Sicht lernen. Nicht nur haben Zulaikas Schönheitswahn und Materialismus eine traurige Aktualität in Castingshows und der Selbstdarstellung junger Mädchen in sozialen Netzwerken. Zulaikas Geschichte kann uns lehren, dass hinter dem Wunsch zu gefallen, äußerlich bewundert zu werden, sich ein tief empfundener seelischer Mangel zeigt, ein Wunsch nach seelischem Kontakt und Anerkennung der Person, den wir von unseren Eltern erwarten, aber von diesen ebenso häufig vermissen. Hier kann Zulaikas Verzweiflung und gänzlich uncooles Werben um Josef eine Warnung sein, dieses Werben um Anerkennung nicht moralisch zu verurteilen oder erzieherisch zu begradigen, sondern die Not dahinter zu erkennen und – auch als Erwachsene – einander in den Überschreitungen der Schamgrenzen, in unseren Exzessen und in unserer Peinlichkeit als Menschen zu erkennen, die um Integrität und Intimität kämpfen. Zulaikas Geschichte ist aber vor allem eine Geschichte der siegreichen Hoffnung. Wenn Zulaikas Geschichte ebenso wenig wie die Geschichte des biblischen Josef versprechen

71 Solche Ausnahmen wären etwa Isolde, deren begehrender Blick auf den badenden Tristan beschrieben wird; Ginover im »Prosa-Lancelot«, Gyburc im »Willehalm« oder die Candacis der Alexanderromane. Eine auf Christus bezogene Erotik als Teil der Sprache der Mystik findet sich etwa in Mechthilds von Magdeburg »Das fließende Licht der Gottheit«. (Mit freundlcihem Dank für die Hinweise an Falk Quenstedt)

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kann, dass das Festhalten an den Bildern unserer Träume und das Loslassen von krankmachenden Kompromissbeziehungen immer mit der Erfüllung unserer Wünsche belohnt werden, vermittelt Djamis Geschichte doch die wohl unanfechtbare Wahrheit, dass dieses Festhalten und Loslassen im Grunde alternativlos ist, wenn es darum geht, uns selbst nicht zu verlieren. Hoffnung vermittelt Zulaika indem sie den Weg vorausgeht und uns im Ertragen des Verlusts all ihrer äußerlichen Besitztümer ein lebendiges (und weibliches!) Bild für die Wahrheit schenkt, die das Evangelium in die Worte fasst: »Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme Schaden an seiner Seele?« (Mt 16,26)

Gefängnis: Ein Regressionsmoment Kehren wir zurück zu unserer Deutung der Josefsgeschichte der Bibel: So verschüchtert ist Josef in seinem Wesenskern, dass er erst im Gefängnis zu sprechen beginnt. Die erste direkte Rede, die der Leser der Genesis von Josef hört, ist seine Sorge um die Gefühle anderer, indem er seine Mitgefangenen fragt: »Warum seht ihr heute so traurig aus?« (Gen 40,7) Kinder psychisch kranker Eltern bewahren sich häufig die Fähigkeit, die Stimmung ihrer Mitmenschen aus kleinsten Gesten oder der Mimik zu erahnen. Für das Kind einer depressiven Mutter oder eines suchtkranken Vaters kann diese Fähigkeit lebenswichtig sein. Sich im entscheidenden Moment zurückzuziehen, einem Wutausbruch durch eine Gefälligkeit zuvorzukommen, in jeder Gelegenheit hilfreich zu sein, nie eine Last. Die eigenen Bedürfnisse kann ein solches Kind perfekt unterdrücken, um das Gleichgewicht zu wahren, das seine Hilfe dem Elternteil verleiht, auf das es selbst angewiesen ist.72 Der nach Ägypten verkaufte und nun schuldlos inhaftierte Josef ist ein Meister im Verdrängen seiner Bedürfnisse. Und er ist jetzt im Gefängnis immer noch ein Profi darin, die Gefühle anderer zu antizipieren. Spontan hat er wiederum selbst hier die Rolle des Dienen-

72 Siehe z. B. den von Michael Kölch, Ute Ziegenhain und Jörg M. Fegert herausgegebenen Sammelband: Kinder psychisch kranker Eltern. Herausforderungen für eine interdisziplinäre Kooperation in Betreuung und Versorgung, Weinheim 2014.

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den angenommen.73 Der Mundschenk und der Bäcker des Königs sind erst seit ein paar Tagen inhaftiert – schon sieht Josef ihnen an, dass etwas nicht stimmt und fragt: »Warum seid ihr heute so traurig?«74 (Gen 40,7) Als die Mitgefangenen berichten, sie hätten einen Traum gehabt und es mangele an einem kompetenten Ausleger, sagt Josef: »Ist nicht die Deutung der Träume Gottes Sache? Erzählt mir!« (Gen 40,8) Nichts wäre weniger zutreffend, als dem jungen Häftling vorzuwerfen, er wolle sich der Autorität Gottes bemächtigen!75 Nichts wäre falscher als die spontane Antwort des heillos hilfsbereiten Dieners im Gefängnis als Hybris zu deuten.76 Und doch bringt Josef nicht zufällig an dieser entscheidenden Stelle Gott ins Spiel. Die besondere Bedeutung von Träumen und ihrer Deutung im Bibeltext sind natürlich der naheliegende Anlass für die Wahl eines tiefenpsychologischen Zugangs. Karl-Josef Kuschel spricht von einem »Stück vorweggenommener Tiefenpsychologie«77 in der Josefsgeschichte. Sigmund Freud selbst berief sich in seiner Traumdeutung auf Josef als einen Kronzeugen für seine These, dass Träume grundsätzlich deutbar seien und nicht – wie andere zeitgenössische Mediziner meinten78 – asemantische biologische Somatisierungen oder aber Spekulationsgegenstand religiöser Mantik.79 Alle moder73 Auch die Tatsache, dass Josef seinen Brüdern keine Schuld für seinen Verkauf nach Ägypten gibt, indem er berichtet, er sei »entführt« (Gen 40,15) worden, passt zu der Deutung, dass Josef seine Brüder immernoch in Schutz zu nehmen scheint; sie jedenfalls nicht anklagt. 74 Ich sehe Josefs Rolle und Verhalten im Gefängnis damit genau anders als Thomas Mann, der Josefs Hilfsbereitschaft als Ausdruck einer aristokratischen, selbstsicheren Haltung interpretiert. (Vgl. dazu Levenson, Joseph, S. 34.) 75 Zu dem Vers als »Maxime« jedweder Interpretationstätigkeit von Träumen und Texten siehe Jochen Hörisch, Interpretation, 1985, S. 66, zitiert in Ebach, Gen 37–50, S. 212. 76 Siehe dazu das Unterkapitel: Bewahrheitung der Träume. 77 Kuschel, Bibel im Koran, S. 450. 78 Zu den Gegenkonzepten zur analytischen Traumdeutung siehe Sigmund Freud, Traumdeutung, (Studienausgabe Bd. 2), Frankfurt am Main 1972, S. 29–33. 79 Freud beruft sich auf Josef bei seiner Erklärung der »symbolischen Traumdeutung«, die für jene Träume angemessen sei, die »nicht bloß unverständlich, sondern auch verworren erscheinen.« Und er fährt fort: »Ein Beispiel für ihr Verfahren gibt etwa die Auslegung, welche der biblische Josef dem Traume des Pharao angedeihen ließ. Sieben fette Kühe, nach denen sieben magere kommen, welche die ersteren aufzehren, das ist ein symbolischer Ersatz für die Vorhersagung von sieben Hungerjahren im Lande Ägypten, welche allen Überfluß

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nen Leser der Bibel scheinen sich einig zu sein, dass Josef sich primär durch die Kompetenz der Traumdeutung profiliert.80 Und tatsächlich vollzieht sich eine entscheidende Wandlung auch in der Entwicklung Josefs nach dessen Isolation im Gefängnis: Mit der Traumdeutung seiner beiden Mitinsassen ist Josef erstmals nicht mehr Spielball der Ereignisse oder hilfreicher Bediensteter, sondern er bringt sich als Akteur in die Handlung ein. Anders als bei den »naiv«81 oder wenigstens unbekümmert preisgegebenen Träumen in Gen 37, welche die Brüder und Jakob glauben richtig zu deuten,82 tritt nun Josef selbst als Traumdeuter hervor. Er tut dies wiederum in der gewohnten Geste des Helfenden, aber letztlich hat seine Fürsorge und Hilfsbereitschaft gegenüber den Mitinsassen auch seine eigene Befreiung zur Folge. Es dauert weitere zwei Jahre bis Josef die Rückkehr aus dem Gefängnis gelingt. Der Mundschenk vergisst ihn zunächst (Gen 40,23). Dass die Beamten des Pharao Josef dann aus seinem Gefängnis herausziehen wie ehemals die ismaelitischen/midianitischen Händler aus der »Grube« der Zisterne, ist der wahrgewordene Traum eines zurückgesetzten Kindes, aufzehren, den sieben fruchtbare Jahre geschaffen haben. Die meisten der artifiziellen Träume, welche von Dichtern geschaffen wurden, sind für solche symbolische Deutung bestimmt, denn sie geben den vom Dichter gefaßten Gedanken in einer Verkleidung wieder, die zu den aus der Erfahrung bekannten Charakteren unseres Träumens passend gefunden wird. Die Meinung, der Traum beschäftige sich vorwiegend mit der Zukunft, deren Gestaltung er vorausahne – ein Rest der einst den Träumen zuerkannten prophetischen Bedeutung – wird dann zum Motiv, den durch symbolische Deutung gefundenen Sinn des Traums durch ein »es wird« ins Futurum zu versetzen. Wie man den Weg zu einer solchen symbolischen Deutung findet, dazu läßt sich eine Unterweisung natürlich nicht geben. Das Gelingen bleibt Sache des witzigen Einfalls, der unvermittelten Intuition, und darum konnte die Traumdeutung mittels Symbolik sich zu einer Kunstübung erheben, die an eine besondere Begabung gebunden schien.« (Freud, Traumdeutung, S. 117f, Hervorhebung von mir) Zu Freuds Auseinandersetzungen mit dem medizinischen und dem mantischen Fehlverständnis der Träume siehe auch seine Schrift »Über den Traum« (1901), in: Gesammelte Werke, Bd. 2/3, S. 645–700. 80 Zu einer neuen Zusammenfassung siehe z. B. Nili Shupak, »A Fresh Look at the Dreams of the Officials and of Pharaoh in the Story of Joseph (Genesis 40–41) in the Light of Egyptian Dreams«, in: JANES 30 (2006), S. 103–138. 81 Vgl. Michael V. Fox, »Joseph and Wisdom«, in: The Book of Genesis. Composition, Reception, and Interpretation, hg. von Craig Adams, Joel Lohr und David Petersen, Leiden/Boston 2012, S. 231–261, hier: S. 239. 82 Ob die Brüder und Jakob mit ihren Deutungen richtigliegen und damit selbst »Weisheit« besitzen, diskutiert ebenfalls Fox, »Joseph and Wisdom«, S. 238.

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das sich ganz in sich selbst zurückgezogen hat. Josef bekommt nun seine wahre Chance zu glänzen, und zwar nicht mehr als der fleißigste, zuverlässigste Mitarbeiter im Haushalt eines fremden Patriarchen, sondern mit einer ganz anderen Fähigkeit. Die Lösung ist so wunderbar, dass sie fantastisch wirkt: Es sind die Fähigkeiten des vergessenen Fremden, die sich nach der Logik der Erzählung als lebensnotwendige Rettung für die zuvor primär feindselige äußere Welt erweisen. Ohne das marginalisierte, mittellose, aber auf das Träumen spezialisierte Individuum würde der Staat mit samt seinem Herrscher, seinen Arbeitern, seinen Gesetzen, seinen Weizenfeldern, seinem Vieh, seiner Infrastruktur, seinem Beamtenapparat zugrunde gehen. Josefs Befreiung ist nicht nur ein sozialer Aufstieg vom Gefängnis in den Palast, der so oft als sensationelle Karriere betont wurde,83 kein beeindruckender Aufstieg eines Außenseiters im Sinne einer perfekten Assimilation an die Werte der vormals fremden Welt, sondern viel radikaler: eine Rettung der ganzen materiellen Welt durch dieses Subjekt und noch mehr durch dessen Verständnis für eine Sprache, die allen anderen als Rätsel erscheint.84 Der eigentliche Triumph des Josef ist der einer radikalen Verhältnisumkehr im Sinne einer Priorisierung des Unbewussten, des Traums, des Verständnisses für die mehrdeutige, rätselhafte Sprache der Traumsymbole gegenüber eines bloßen Managements der Welt auf der rein rationalen Bewusstseinsebene, die sich topisch im Aufstieg aus dem Gefängnis »ganz unten« an die Spitze des Staates im vollen Licht der Gesellschaft vollzieht.85 Pharao ist selbst weise genug spontan zu begreifen und anzuerkennen, dass alles, selbst das höchste, ehrwürdigste Amt, auch der mächtigste Mann im Staat, auf die Hilfe des vergessenen Häftlings angewiesen ist und gespannt auf den Rat, den dieser geben kann, zu hören hat. Es ist eine fantas83 Kuschel (Bibel im Koran, S. 460 f.) spricht von einer »gelungenen Integration«, allerdings nur im sozialen Sinne. 84 In der Entwicklung Josefs zum Traumdeuter liegt natürlich auch ein wesentliches weisheitliches Merkmal, allerdings nicht im biblischen, sondern mehr im ägyptischen Sinne. Siehe dazu weiter unten. 85 Passend scheint mir hier die Einsicht Dietrich Bonhoeffers: »Nicht nur die Schwachen brauchen die Starken, sondern die Starken können auch nicht ohne die Schwachen sein. Die Ausschaltung der Schwachen ist der Tod der Gemeinschaft.« (Gemeinsames Leben/Das Gebetbuch der Bibel, Dietrich Bonhoeffer Werke Band 5, Berlin 1989, S. 80)

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tische Wende der Geschichte, wie sie fast nur im Tagtraum, in der Fantasie eines Menschen stattfinden kann, der sich in der rationalen, der bewussten, der erwachsenen Welt überflüssig wähnt. Und letztlich besteht das Kunststück nicht darin, dass der ganze Staat sich der Traumdeutung widmet oder sich in Phantasien ergeht, sondern darin, die unbewusste Weisheit der Träume mittels des Schlüssels ihrer Deutungen, die Josef Pharao gegenüber verkörpert, in den Dienst des Managements der äußerlichen Welt zu stellen. Es ist eine wechselseitige Rettung und wunderbare Integration des vom Bewusstsein häufig verdrängten oder überhörten Traumwissens in den »Organismus« des ägyptischen Staates. Wenn Pharao später verfügt: »Ohne deinen Willen soll niemand seine Hand oder seinen Fuß regen in ganz Ägyptenland.« (Gen 41,44), besteht er indirekt darauf, dass diese neu gewonnene Wertschätzung des Unbewussten für das Bewusstsein fortan die Regel zu sein habe, um das gesunde Überleben des ganzen »(Staats-)Körpers« zu gewährleisten. Der Pharao selbst lässt sich in tiefenpsychologischer Perspektive natürlich unterschiedlich deuten. Christa Meves etwa stellt folgende Überlegung an: Im Individuationsprozess ist das Auftauchen eines neuen Königs, hier also des Pharao, immer ein Zeichen dafür, dass das alte Ego besiegt ist, dass die Seele von einer neuen übergeordneten Instanz übernommen wird, von einer alle Funktionen umfassenden und sie integrierenden Instanz. Jung hat diese Instanz das ›Selbst‹ genannt. Sie hat die Vereinigung aller Gegensätze in der Psyche unter einem überpersönlichen, übergeordneten Prinzip zur Voraussetzung.86 Aber die Identifizierung des Pharao mit dem Jung’schen Selbst beruht auf einer Deutung der Josefsgeschichte als einer Episode der Individuation Jakobs. Ich würde an dieser Stelle bevorzugen, den Pharao im Sinne einer Individuationsgeschichte Josefs als den Ersatz der negativen, bedrängenden bzw. die Entwicklung retardierenden väterlichen Autorität der Kindheit durch eine reife Vaterimago zu deuten, die tatsächlich eine Integration der zuvor in der Entwicklung aufgegebenen Seelenanteile Josefs im Sinne einer Nach86 Meves, Die Bibel antwortet in Bildern, S. 74 f.

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reifung bedeutet. Der Pharao als »Kopf« des ägyptischen Staates verwaltet nicht nur die »Glieder« seines Staatsapparats, sondern weiß um die Zusammengehörigkeit der materiellen und der spirituellen Kräfte. Er ist ein ganz anderer Mann als die in roher Aggressivität agierenden Brüder oder aber der depressive, in seine Trauer um die Mutter verstrickte Vater: Eine reife Persönlichkeit, die sich dem erwachsenen Josef nicht eigentlich mehr als Vorbild anbietet, sondern ihm den Raum für seine eigene männlichen Persönlichkeitsentwicklung freiräumt. Der Pharao ist ein »Du«, das sich dem jüngst zum »Ich« gefundenen Josef als Gegenüber anbietet, nicht das »Selbst« des Josef. Grundsätzlich könnte man die Deutung der Gefängnisepisode »auf der Subjektebene« noch ernster nehmen und den Bäcker und den Mundschenk selbst als Triebkräfte Josefs deuten, d. h. als innerseelische Kräfte, die zwischen Isolation und Integration, zwischen Mut- und Mutlosigkeit, aber auch zwischen unbewusster und bewusster Ebene vermitteln. Mundschenk und Bäcker gehen in ihrem Weg aus dem Gefängnis, der Josef noch bevorsteht, diesem voraus. Sie nehmen zugleich die beiden Möglichkeiten der »Lösung«, das Scheitern und das Gelingen des eigenen Lebens, vorweg, was in der Doppeldeutigkeit des Verbs »erheben des Hauptes« (‫ישא את־‬ ‫ )ראׁש‬in den Deutungen der Traumsymbole der beiden Insassen (Verse 13 und 19) selbst angedeutet wird. Es ist naheliegend, die beiden Triebkräfte Josefs mit dem Freudianischen Antagonismus von Eros (Mundschenk) und Thanatos (Bäcker) in Verbindung zu bringen.87 Dass der Weg Josefs aus dem Gefängnis letztlich tatsächlich über den frei gekommenen Mundschenk führt, würde dann bedeuten, dass der Lebenstrieb Josefs diesen zurück in die Ebene des Ich-Bewusstseins holt und ein Todeswunsch Josefs mit dem Bäcker stellvertretend »erhängt« (vgl. Vers 19) wurde.88 In Verbindung mit dem Motiv des Traums selbst halte ich aber eine Deutung von Bäcker und Mundschenk im Sinne einer vorweggenommenen Lösung in der 87 Zur freudianischen Triebtheorie siehe Sigmund Freud, Jenseits des Lustprinzips, Studienausgabe Bd. 3: Psychologie des Unbewußten. 88 Auch die Vögel, die das Fleisch des Erhängten abfressen, können symbolisch gedeutet werden, etwa (optimistisch) als Wegbegleiter der Seele des Verstorbenen ins Jenseits oder in ihrer Funktion als Zersetzer des äußerlich intakten Körpers, d. h. als Desintegration einer abgelegten Selbstsicht. Auch die Aggressivität dieses Zersetzungsprozesses wäre dann wesentlich.

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Phantasie Josefs für noch naheliegender. In beiden Fällen bedeutet eine Deutung des Gefängnisses und der Befreiung »auf der Subjektebene« mit den Begriffen der Regression und der Entwicklung neuer seelischer Kräfte, welche letztlich zur Einsetzung des »Selbst« (Josef) in die verantwortliche Position des Staatsberaters verhelfen, eine Reziprozität der »Rettung« von innerer und äußerer Wirklichkeit, von körperlichem und seelischem bzw. materiellem und spirituellem Wohlergehen. Die Deutung der Befreiung Josefs aus dem Gefängnis als einer »Selbstbefreiung« mit Hilfe der ureigenen Lebenskräfte Josefs, die das verschreckte, da an der »bösen« Wirklichkeit bislang gescheiterte »Selbst« als den eigentlichen Herrscher integriert, würde dann mit dem gnostischen Begriff des »erlösten Erlösers« korrelieren, den auch C.G. Jung in mehreren seiner Deutungen ins Spiel bringt.89 Indem wir betonen, wie unwahrscheinlich, wie wahrhaft märchenhaft diese Wendung der Geschichte ist, erinnern wir zugleich an die nicht gezählte und wohl nicht zählbare Menge an Lebensschicksalen, die hinter der Ausnahme Josefs notwendig ungenannt bleibt. Die Josefsgeschichte kann und möchte nicht versprechen, dass irgendwann ein jeder Mensch, etwa jeder heutige Leser aus den »Kerkern« und »Gefängnissen« der Marginalisierung, der Demütigung oder ungerechten Strafe befreit wird. Aber die Geschichte zeigt den Horizont einer solchen Entwicklung und ermutigt dazu, gerade durch die »Selbstbefreiung« Josefs, in besonderer Weise auch heute, den eigenen seelischen Kräften, den eigenen phantastischen Lösungen zu trauen und von ihnen Rettung zu erwarten. In Sure 12 wird das Moment der Regression im Gefängnis einerseits überbetont, andererseits aber der Komponente der Wechselwirksamkeit der Rettung entkleidet. Josef deutet nicht nur die Träume seiner Insassen, sondern hält ihnen eine Predigt über die Vergeblichkeit der Götzenverehrung und die Einheit Gottes, die als Höhepunkt der Sure bezeichnet wurde.90 In der Freiwilligkeit des Gefängnisaufenthalts für den – anders als in der Genesis – bereits als unschuldig erwiesenen Josef wird zugleich eine Gesellschaftskritik bzw. eine negative Sicht auf das Diesseits angedeutet. Der Weg ins 89 Siehe Alfred Ribi, Die Suche nach den eigenen Wurzeln, Bern u. a. 1999. 90 Angelika Neuwirth, »Zur Struktur der Yūsuf-Sure«, in: Studien aus Arabistik und Semitistik. Festschrift für Anton Spitaler, Wiesbaden 1980, S. 123–152, hier: S. 139.

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Gefängnis ist für Josef die bessere und selbst gewählte Alternative zum Aufenthalt in einer Gesellschaft, in der der Fromme weiteren Verführungsanschlägen böser Frauen nicht würde entgehen können. In der selbstgewählten Isolation Josefs im Gefängnis liegt damit ein Gegenentwurf zur Teilnahme an dieser Welt und in der inneren Migration Josefs eine Art Rebellion, ein letztes Festhalten an der einzig verfügbaren Autonomie, dem »Nein«. In der »Kerkerpredigt« Josefs gegenüber seinen Mitgefangenen liegt zugleich die stärkste und in meinen Augen einzige Indikation einer Rückprojektion der Josefsgeschichte in die Verhältnisse des koranischen Verkünders in Mekka.91 Der Verkünder des Koran, der sich zum Zeitpunkt seines »Erzählens« der Josef-Sure ebenfalls in einer politischen Bedrängnissituation befindet, erinnert sich in Josef an einen frommen Prediger, der eine vergleichbar schwierige Situation überstanden hat.

Neue Identität Die Transformation des vergessenen Fremden zum Berater am Hof des Königs wird von einem Ritus des Übergangs begleitet. 37 Die Rede gefiel dem Pharao und allen seinen Knechten gut. 38 Und der Pharao sprach zu seinen Knechten: »Wie könnten wir einen Mann wie diesen finden, in dem der Geist Gottes ist?« 39 Und der Pharao sprach zu Josef: »Weil dir Gott dies alles kundgetan hat, ist keiner so verständig und weise wie du. 40 Du sollst über mein Haus sein, und deinem Wort soll all mein Volk gehorsam sein; allein um den königlichen Thron will ich höher sein als du.« 41 Und weiter sprach der Pharao zu Josef: »Siehe, ich habe dich über ganz Ägyptenland gesetzt.« 42 Und er tat seinen Siegelring von seiner Hand und gab ihn Josef an seine Hand und kleidete ihn in kostbares Leinen und legte ihm eine goldene Kette um seinen Hals 43 und ließ ihn auf seinem zweiten Wagen fahren und ließ vor ihm her ausrufen: ›Auf die Knie!‹ Und setzte ihn über ganz Ägyptenland. 44 Und der Pharao sprach zu Josef: »Ich bin der Pharao, aber ohne deinen Willen soll niemand seine 91 Einige Forschungsbeiträge haben die Beziehung zwischen Josef und Muhammad stark betont. Z. B. Alfred De Premare, Joseph Et Muhammad, Le Chapitre 12 Du Coran, Provence 1989.

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Hand oder seinen Fuß regen in ganz Ägyptenland.« 45 Und er nannte ihn Zafenat-Paneach und gab ihm zur Frau Asenat, die Tochter Potiferas, des Priesters zu On. Also zog Josef aus, das Land Ägypten zu besehen. 46 Und Josef war dreißig Jahre alt, als er vor dem Pharao stand, dem König von Ägypten. Und er ging hinweg vom Pharao und zog durch ganz Ägyptenland. (Gen 41) Wir möchten den priesterschriftlichen Hinweis auf das Alter Josefs zum Zeitpunkt seiner Amtseinführung – er ist nun dreißig Jahre alt – als Hinweis darauf deuten, dass der Prozess des »Erwachsenwerdens« an dieser Stelle abgeschlossen ist.92 Josefs innere Transformation wird von einer äußeren begleitet: dem Schritt vom jungen Mann, der noch an den Konflikten seiner Kindheit leidet, zum Erwachsenen, der gelernt hat, dass die Erfahrungen des Verlusts und der Trauer ein Quell des Verständnisses für andere sein können – und ein Verständnis für die Symbole des Unbewussten, die allen anderen verworren erscheinen. Er erhält nicht nur neue Kleider, Schmuck und den Siegelring des Herrschers, sondern auch eine ägyptische Ehefrau und sogar einen neuen Namen. Deutlicher könnte die Geschichte nicht ausdrücken, dass Josef sich innerlich und äußerlich erneuert hat.

Geld, Korn und Becher – Währungen der Schuld Es ist eine Besonderheit der biblischen Josefsgeschichte, dass der Aufstieg Josefs zum Vizekönig im ägyptischen Staat nicht die Klimax und nicht das Ende der Erzählung darstellen, sondern vielmehr die Überleitung zur Konfrontation Josefs mit den Mitgliedern seiner Herkunftsfamilie und damit die Rückführung auf den Ursprung des Konflikts.93 Wenn wir die Josefsgeschichte mithilfe tiefenpsychologischer Hermeneutik als den seelischen Reifeprozess eines Menschen lesen, der 92 Eine Beschreibung des Transformationsprozesses leistet auch Harald Martin Wahl, »Das Motiv des ›Aufstiegs‹ in der Hofgeschichte am Beispiel von Joseph, Esther und Daniel«, in: ZAW 112 (2000), S. 59–74, hier: S. 64. 93 Freilich erwägt die redaktionsgeschichtliche Forschung zur Josefsgeschichte einen ersten Buchschluss mit der Einsetzung Josefs zum Vizekönig. Zu den alternierenden Längen der Josefsgeschichte siehe unten Teil 2. Auch im Koran wird die Wiederbegegnung Josefs mit seinen Familienmitgliedern erzählt. Hier liegt der Fokus aber auf der Heilung des Vaters und der Bestätigung der Kindheitsträume, weniger auf dem Moment der Versöhnung mit den Brüdern.

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sich in der Fremde von den beigebrachten Verletzungen seiner Kindheit erholt und lernt, diese in Verständnis für andere und für die Sprache des Unbewussten zu verwandeln, liegt in der Begegnung Josefs mit seinen Brüdern ein Schlüssel: Nicht in dem Bild der Umkehr der Verhältnisse, der Aufwertung des Schwachen und der Not der ehemaligen Täter im Sinnbild der auch über Israel kommenden, von Josef selbst prognostizierten Hungersnot endet die dargestellte Entwicklung, sondern in der Behauptung der neuen Identität Josefs gegenüber den Aggressoren der Vergangenheit und letztlich der Integration der Kindheitsgeschichte in seinen Lebensweg. Das Trauma, das die Brüder Josef zugefügt haben und der Beitrag des Vaters zu diesem Konflikt werden überwunden und überlebt, da das Opfer den Tätern als selbstbewusstes Subjekt gegenübertritt und sie letztlich auch aus ihrer eigenen Not rettet. Gerade in diesem Ausblick liegt ein besonders starkes Moment der Hoffnung auf Heilung von persönlichen Verletzungen auch für den heutigen Leser. Die Josefsgeschichte mahnt zugleich die Langwierigkeit und Vielschrittigkeit eines solchen Prozesses an. Keine »spontane Vergebung« der Menschen, die uns verletzt und die unsere persönliche Entwicklung behindert haben, keine Zurückstufung der Verletzungen, die wir als Kinder erfahren haben und die uns manchmal ein Leben lang belasten, sondern ein langsames Durcharbeiten, ein geduldiges Annähern in mehreren Anläufen, das auf eine wechselseitige Wandlung zuläuft. Wir wollen in einem letzten Unterkapitel die einzelnen Schritte nachvollziehen, durch die das Schlussbild der Josefsgeschichte zustande kommt. Es ist besonders wichtig, noch einmal daran zu erinnern, dass sich der Entwicklungsweg auf einer seelischen Ebene abspielt und innere Reifungsprozesse beschreibt, nicht »nur« ein äußeres, historisches Geschehen. 1 Als aber Jakob sah, dass Getreide in Ägypten zu haben war, sprach er zu seinen Söhnen: »Was seht ihr euch lange an? 2 Siehe, ich höre, es sei in Ägypten Getreide zu haben; zieht hinab und kauft uns Getreide, dass wir leben und nicht sterben.« 3 Da zogen hinab zehn Brüder Josefs, um in Ägypten Getreide zu kaufen. 4 Aber den Benjamin, Josefs Bruder, ließ Jakob nicht mit seinen Brüdern ziehen; denn er sprach: »Es könnte ihm ein Unfall begegnen.« 5 So kamen die Söhne Israels, Getreide zu kaufen, samt andern, die mit ihnen zogen; denn es war Hungersnot im Lande Kanaan.

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6 Aber Josef war der Regent im Lande und verkaufte Getreide allem Volk im Lande. Als nun seine Brüder kamen, fielen sie vor ihm nieder zur Erde auf ihr Antlitz. 7 Und er sah sie an und erkannte sie, aber er stellte sich fremd gegen sie und redete hart mit ihnen und sprach zu ihnen: »Woher kommt ihr?« Sie sprachen: »Aus dem Lande Kanaan, Getreide zu kaufen.« 8 Aber wiewohl er sie erkannte, erkannten sie ihn doch nicht. 9 Und Josef dachte an die Träume, die er von ihnen geträumt hatte, und sprach zu ihnen: »Ihr seid Kundschafter und seid gekommen, zu sehen, wo das Land offen ist.« 10 Sie antworteten ihm: »Nein, mein Herr! Deine Knechte sind gekommen, Getreide zu kaufen. 11 Wir sind alle eines Mannes Söhne. Wir sind redlich. Deine Knechte sind keine Kundschafter.« 12 Er sprach zu ihnen: »Nein, sondern ihr seid gekommen, zu sehen, wo das Land offen ist.« 13 Sie antworteten ihm: »Wir, deine Knechte, sind zwölf Brüder, eines Mannes Söhne im Lande Kanaan, und der jüngste ist noch bei unserm Vater, und der eine ist nicht mehr.« 14 Josef sprach zu ihnen: »Es ist, wie ich euch gesagt habe: Kundschafter seid ihr. 15 Daran sollt ihr geprüft werden: So wahr der Pharao lebt – ihr sollt nicht von hier wegkommen, es komme denn her euer jüngster Bruder! 16 Sendet einen von euch hin, der euren Bruder hole, ihr aber sollt gefangen sein. Daran will ich prüfen eure Rede, ob ihr mit Wahrheit umgeht. Andernfalls – so wahr der Pharao lebt! – seid ihr Kundschafter!« 17 Und er ließ sie zusammen in Gewahrsam legen drei Tage lang. 18 Am dritten Tage aber sprach er zu ihnen: »Wollt ihr leben, so tut nun dies, denn ich fürchte Gott: 19 Seid ihr redlich, so lasst einen eurer Brüder gebunden liegen in eurem Gefängnis; ihr aber zieht hin und bringt heim, was ihr gekauft habt für den Hunger in euren Häusern. 20 Und bringt euren jüngsten Bruder zu mir, so will ich euren Worten glauben, sodass ihr nicht sterben müsst. Und sie gingen darauf ein. 21 Sie sprachen aber untereinander: »Das haben wir an unserem Bruder verschuldet! Denn wir sahen die Angst seiner Seele, als er uns anflehte, und wir wollten ihn nicht erhören; darum kommt nun diese Trübsal über uns.« 22 Ruben antwortete ihnen und sprach: »Sagte ich’s euch nicht, als ich sprach: Versündigt euch nicht an dem Knaben, doch ihr wolltet nicht hören? Nun wird sein Blut gefordert.« 23 Sie wussten aber nicht, dass es Josef verstand; denn er redete mit ihnen durch

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einen Dolmetscher. 24 Und er wandte sich von ihnen und weinte. Als er sich nun wieder zu ihnen wandte und mit ihnen redete, nahm er aus ihrer Mitte Simeon und ließ ihn binden vor ihren Augen. 25 Und Josef gab Befehl, ihre Säcke mit Korn zu füllen und ihnen ihr Geld wiederzugeben, einem jeden in seinen Sack, dazu auch Zehrung auf den Weg; und so tat man ihnen. 26 Und sie luden ihr Getreide auf ihre Esel und zogen von dannen. 27 Als aber einer seinen Sack auftat, dass er seinem Esel Futter gäbe in der Herberge, sah er sein Geld, das oben im Sack lag, 28 und sprach zu seinen Brüdern: »Mein Geld ist wieder da, siehe, in meinem Sack ist es!« Da stockte ihnen das Herz, und sie sprachen erschrocken zueinander: »Was hat Gott uns angetan?« (Gen 42) Viele Interpreten von Gen 42 haben sprachliche Rückbezüge zu Gen 37 in der Beschreibung der Kommunikation zwischen Josef und seinen Brüdern ausgemacht.94 Während die Brüder in Gen 37 kein freundliches Wort mit Josef reden können (37,4) und sie Josef Feind werden wegen seiner Träume und seiner Worte (37,8), richtet nun Josef harte Worte an seine Brüder (42,7 und 30). Das Wiedersehen ist also, bereits sprachlich markiert, eine Erinnerung an und eine Neudeutung des Anfangs der Josefsgeschichte. Wie haben wir den über das ganze Land und damit auch über das Haus Jakobs gekommenen »Hunger« symbolisch zu verstehen? In Anknüpfung an den Perspektivwechsel, der sich auf der Ebene der Narration ereignet, rücken die Brüder Josefs mit Gen 42 als Handlungsträger in den Fokus. Ungeachtet der Tatsache, dass gerade die Rolle Ägyptens als Staat, der die umliegenden Völker in Zeiten der Knappheit versorgt, durch außerbiblische, archäologische Zeugnisse als historischer Befund gestützt worden ist,95 können wir den Hunger von Jakobs Sippe gleichfalls über die objektale Bedeutung hinaus als Symptom des seelischen Zustands von Jakob und seiner Familie deuten. Für diese Hypothese einer Reziprozität der inneren und äußeren Notsituation der Brüder brauchen wir nicht einmal die Hermeneutik der Tiefenpsychologie, denn die Brüder selbst übertragen ihre lebensbedrohliche Lage in die Sprache ihres Familienkonflikts. In einem ersten Schritt geht es um ihre Auskunft zu ihrer 94 Siehe z. B. Röhrig, »Zur Literarkritik und Redaktionsgeschichte«, S. 105. 95 Zu ägyptischen Reliefs, welche dies bezeugen, siehe Lux, Josef, S. 150 f.

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eigenen Identität: »Wir sind alle eines Mannes Söhne. Wir sind redlich.« (11) Da Josef ihnen daraufhin unterstellt, in böser Absicht zu kommen und den ägyptischen Staat ausspionieren zu wollen, besteht bereits ihre zweite Aussage – nach ihrer Selbstidentifizierung – in dem Eingeständnis ihrer früheren Schuld: »Der eine ist nicht mehr.« (13) Josef scheint die zentrale Person und der Vorfall seines Verlustes das zentrale Ereignis im Leben der Brüder zu sein. Ihr Schuldbekenntnis klingt verzweifelt in den Worten Rubens: »Nun wird sein (Josefs) Blut gefordert.« (22) Der Vers erinnert wiederum an die Verzweiflung, die Ruben nach dem Verkauf Josefs empfunden haben muss: »Der Junge ist fort! Was soll ich jetzt tun?« (Gen 37,30) Ruben hat damit zur Sprache gebracht, was Josef nun, gegen Ende der Geschichte, zu beweisen beginnt: Dass auch die Brüder, so sehr sie ihn wegen der Bevorzugung durch den Vater beneiden und hassen mögen, des »Jungen« bedürfen. Das Eliminieren des Bruders im Gewaltakt zeigt sich im Nachhinein als das Gegenteil einer Problemlösung, fatal in der Auswirkung auch auf ihr eigenes Leben. Es erinnert an den Mord an Abel, an dem der eifersüchtige Täter letztlich wohl die größte Last trägt. Auch die Männer, die im Kollek­tiv zu Grausamkeit, Egoismus und gefühllosem Opportunismus fähig waren, werden sich gewahr, dass sie den Knaben (‫ )נער‬brauchen, d. h. nicht nur, dass sie sich nach ihrem verlorenen Bruder sehnen, sondern dass der eingeschlagene Lebensweg nicht standhält. Es ist mit der Hungersnot zu der entscheidenden Krise gekommen, an der die Sippe Jakobs tatsächlich zu scheitern droht. So gesehen vermittelt der Hunger, den nur das von Josef verfügte Korn stillen kann, symbolisch die kindliche Bedürftigkeit der Brüder, die sie zugunsten einer Fassade der männlichen Stärke und Überlegenheit Zeit ihres Lebens verdrängt haben. Der symbolische Gehalt des »Korns« wird wiederum in der nahezu ironischen Ausschmückung der Reichtümer deutlich, die Jakob seinen Söhnen bei deren zweiter Reise mit auf den Weg gibt, um den fremden Herrscher milde zu stimmen: »Balsam und Honig, Harz und Myrrhe, Pistazien und Mandeln« (Gen 43,11). Luxusgüter also, aber eben keine Nahrung, die wirklich satt macht. Wunderbar ist nun, dass der erwachsene Josef diesen Konflikt seiner Geschwister zu begreifen scheint. Seine Forderung an die Brüder ist so subversiv wie einfühlsam: Er fordert von ihnen die Wiederholung ihrer Tat und damit das Erinnern ihrer Schuld, indem er sie zwingt, den verbliebenen »Knaben«, Benjamin, mitzubringen und so

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den ursprünglichen Konflikt zu wiederholen. Bereits im Begriff des Knaben ist eine Parallelität von Josef und Benjamin terminologisch markiert. Josefs Vorgehen ist nicht unähnlich dem eines Analytikers, der sich auf die Übertragung eines lange wiederholten Konflikts einlässt, um diesen schließlich aufzulösen.96 Gerade in der Langwierigkeit des Prozesses – Josefs Strategien des Hinhaltens, Vorenthaltens, Gefangennehmens eines Stellvertreters und der erneuten Bittstellung der Brüder – liegt der Hinweis auf die notwendige Wandlung der Brüder, die zur biblischen Josefsgeschichte dazu gehört. Ihr mehrmaliges Abschreiten der Distanz zwischen Kanaan und Ägypten (und zwischen Jakob und Josef) haben wir nicht nur als geographische Reise, sondern auch und mit den Begriffen der Tiefenpsychologie primär als Prozesse einer inneren Wandlung zu verstehen. Einerseits liegt in dem Hin- und Herfliehen der Brüder ein Zerrissenheitsmoment. Die Brüder spüren mit jeder abgeschrittenen Wegstrecke mehr Angst und Unruhe und erleben gleichzeitig den schrittweisen Verlust ihrer (erst durch Neid, dann durch Schuld konstituierten) Gemeinschaft:97 Je noch einen Bruder fordert Josef, je noch einen Stellvertreter seiner selbst. In der Deutung des von Josef zurückbehaltenen Bruders als »Stellvertreter« seiner selbst liegt die zweite Deutung des Symbols der Reise. Ihr zufolge macht Josef seine Brüder nach und nach zu Opfern, wie er ihr Opfer gewesen war, und zwingt sie so, sich über den Weg der Angst, über den Hunger und die Abhängigkeit in ihn einzufühlen. Es ist vielleicht das größte Kunststück und die größte Weisheit Josefs,

96 Zur Entdeckung und Bewertung des Phänomens der Übertragung siehe Sigmund Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (Studienausgabe Bd. 1), S. 414–430: 27. Vorlesung: »Die Übertragung«. 97 Die Brüder ähneln tatsächlich stark der freudianischen Vorstellung der »Horde«, die Freud als Kontext des »Auftauchens der monotheistischen Idee« imaginierte. Auch die Mitglieder der Urhorde sind »Brüder«, deren Gemeinschaft in der Verdrängung der gemeinsam begangenen Ermordung des Vaters bestand und die – nach einer Latenzphase – von diesem Schuldtrauma eingeholt werden. Natürlich ließe sich auch Josef in den Augen der Brüder als ein »großer Mann« deuten, wie Freud Mose verstand, der den Israeliten die Erinnerung an den verdrängten Vatermord zurückbrachte und daher selbst, so Freud, Opfer eines weiteren Mordes wurde. Zu Freuds Theorie des Monotheismus siehe: Freud, Der Mann Mose. Zu einer Zusammenfassung und Kritik der Thesen Freuds vgl. auch Assmann, Religion und kulturelles Gedächtnis, S. 69 f. und Yerushalmi, Freud’s Moses.

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diesen Prozess einer erzwungenen Einfühlung seiner Brüder in ihr eigenes Opfer, das er selbst längst nicht mehr ist, zu ertragen. Mehrmals lesen wir, wie schwer es Josef fällt, diesen Prozess durchzuhalten. Dreimal lesen wir in den Kapiteln 42–45, dass Josef sich von seinen Brüdern abwendet, um zu weinen.98 Die Emotionalität Josefs, die den Eindruck korrigiert, er treibe ein manipulatives oder gar sadistisches Spiel mit seinen ehemaligen Peinigern, zeigt ein nahezu beispielloses Maß an Emotionalität im Pentateuch. Der vielleicht zentrale Effekt des räumlichen und emotionalen Hinund Herreisens der Brüder ist die sukzessive Auflösung ihrer Kollektividentität. Dieses männliche Kollektiv, ihre Suggestion der Stärke und die Entdifferenzierung der verschiedenen Individuen in der »tierischen«, da auf einfache Triebabfuhr abgestellte Gruppe, haben wiederum einige spätantike Fortschreibungen besonders betont. In der Sure des Korans bleiben die Brüder von vorn herein namenlos und sie artikulieren selbst den Status ihrer un- oder entdifferenzierten Kollektividentität durch den Hinweis auf ihre zahlenmäßige Überlegenheit gegenüber ihrem Vater mit den Worten: »Wir sind doch eine Gruppe (ʿuṣba)!«99 Gleichzeitig haben wir die in Sure 12 besonders betonte Angst Jakobs vor dem Josef zerreißenden Tier als eine Furcht vor dessen erwachender Männlichkeit gedeutet. In der Genesis rührt der Einfall des Tiers ebenfalls von den Brüdern her, die ihre eigene Aggression gegenüber dem Vater durch das Substitut eines geschlachteten Tiers kaschieren. Wir haben auch gesehen, dass das Tier und der damit in Verbindung stehende Gewaltakt auf der Subjektebene betrachtet keine moralische Schuld kennzeichnet, sondern für Josef eine Befreiung von der bedrückenden Übertragungsliebe des Vaters und einen (schmerzhaften aber notwendigen) Aufbruch in sein eigenes Leben bedeutet haben. Nun, da die Erzählung zu den Brüdern zurückkehrt, zeigt sich das Problem ihrer Stagnation der Entwicklung in dem »tierischen« Verhaltensmuster, auf das sie tragischerweise die Identität ihrer männlichen Gemeinschaft begründen. In scheinbarem Verständnis dieser Tragik werden die Brüder Josefs in Texten des syrischen Christentums selbst mit »Wölfen« verglichen und damit ihre einseitige Triebnatur betont.100

   98 Gen 43,30; 45,2; 45,14.    99 Vers 14. 100 Witztum, »Joseph among the Ishmaelites«, S. 434.

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Wir können so eine umgekehrte Deutung auf der Subjektebene der Brüder andeuten. Als ihre Individuationsgeschichte würde der »verkaufte« Bruder für die vermeintlich »starke Gruppe« (arab. ʿuṣba) bzw. das »Wolfsrudel« auch in einem verlorenen, »verkauften« Teil der eigenen Kindheit liegen, das sie jetzt integrieren müssen, um zu leben, statt zu sterben. Auch dieser Zustand der Brüder bietet Anknüpfpunkte für seelsorgliche Kontexte. Die Brüder stehen für ein verheerendes Männlichkeitsideal, für den Reiz von Gruppenidentifikationen, die den einzelnen »verschlingen«, statt ihm Raum für die Entwicklung echter Stärke und persönlicher Männlichkeit zu bieten.101 Es ist gerade die Großzügigkeit Josefs, den Brüdern nicht nur das notwendige Korn, sondern auch dessen Bezahlung mit auf den Weg zu geben, welche den Brüdern das Sprechen über ihre Schuld entlockt: Warum freuen sich die Brüder nicht darüber, mit doppeltem Besitz nach Hause zurück zu kehren? Das Entsetzen der Brüder über den vorgefundenen »Reichtum« ist in der Literatur nicht beispiellos. In einer Ballade Friedrich Schillers etwa rät der ägyptische Pharao Amasis dem Herrscher Polykrates einen Teil seines Besitzes ins Meer zu werfen, da zu viel materieller Reichtum sich notwendig rächen werde. Als der ins Meer versenkte Schatz im Bauch eines Fisches wieder auftaucht, folgert Amasis: »Die Götter wollen dein Verderben. Fort eil ich, nicht mit dir zu sterben!«102 Ganz ähnlich folgern Josefs Brüder aus dem in Kanaan wieder aus den Säcken fallenden Geldmünzen nichts Gutes. Die Brüder spüren, dass sie mit falscher Währung gehandelt haben und dass sie selbst an ihrem Betrug zugrunde gehen könnten.103 Sie übertragen aber auch intuitiv den Austausch von Korn und Geld in die Ökonomie ihrer eigenen Schuldgefühle. 101 Zu den verheerenden Rollenidealen von Männlichkeit im 20. Jh. siehe den teilweise psychoanalytisch inspirierten »Klassiker« von Klaus Theweleit, Männerphantasien, 2 Bde., Frankfurt am Main 1977. Die psychologische und seelsorglich orientierte Literatur zur »gesunden Entwicklung« von Jungen ist heute unüberschaubar groß. Siehe z. B. William F. Pollack, Jungen. Was sie vermissen, was sie brauchen, übersetzt aus dem Amerikanischen, Frankfurt am Main 2009. 102 Friedrich Schiller, Sämtliche Werke, Bd. 1, Stuttgart 1879, S. 151–153. 103 Natürlich können wir als Kontext für den »Fluch« des Reichtums auch an den reichen jungen Mann im Markusevangelium (Mk 10,17–27) denken, der spontan zu verstehen scheint, dass sein Reichtum seiner Erlösung im Weg steht. Oder auch im Gleichnis des reichen Kornbauern (Lk 12,16–22), in dem die Illusion der Vorsorge für das Himmelreich durch materiellen Besitz entlarvt wird. Die Theologie der jesuanischen Kritik an Besitz/Reichtum ist natürlich anders

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In diesem Sinne haben wir wohl auch den untergeschobenen Becher in Benjamins Sack als doppeldeutiges Symbol zu verstehen: Es ist einerseits das zurückgegebene Opfer Josefs und somit ein SchuldObjekt, dann aber auch ein Symbol der Suche nach dem Selbst, das den Brüdern einen Zielort ihrer möglichen Reifung vor Augen führt. Nicht-Erkennen und Selbstoffenbaren 1 Da konnte Josef nicht länger an sich halten vor allen, die um ihn her standen, und er rief: »Lasst jedermann von mir hinausgehen!« Und es stand kein Mensch bei ihm, als sich Josef seinen Brüdern zu erkennen gab. 2 Und er weinte laut, dass es die Ägypter und das Haus des Pharao hörten, 3 und sprach zu seinen Brüdern: »Ich bin Josef. Lebt mein Vater noch?« Und seine Brüder konnten ihm nicht antworten, so erschraken sie vor seinem Angesicht. 4 Er aber sprach zu seinen Brüdern: »Tretet doch her zu mir!« Und sie traten herzu. Und er sprach: »Ich bin Josef, euer Bruder, den ihr nach Ägypten verkauft habt. 5 Und nun bekümmert euch nicht und lasst es euch nicht leid sein, dass ihr mich hierher verkauft habt; denn um eures Lebens willen hat mich Gott vor euch hergesandt. 6 Denn es sind nun zwei Jahre, dass Hungersnot im Lande ist, und sind noch fünf Jahre, dass weder Pflügen noch Ernten sein wird. 7 Aber Gott hat mich vor euch hergesandt, dass er euch übrig lasse auf Erden und euer Leben erhalte zu einer großen Errettung. 8 Und nun, ihr habt mich nicht hergesandt, sondern Gott; der hat mich dem Pharao zum Vater gesetzt und zum Herrn über sein ganzes Haus und zum Herrscher über ganz Ägyptenland. 9 Eilt nun und zieht hinauf zu meinem Vater und sagt ihm: Das lässt dir Josef, dein Sohn, sagen: Gott hat mich zum Herrn über ganz Ägypten gesetzt; komm herab zu mir, säume nicht! 10 Du sollst im Lande Goschen wohnen und nahe bei mir sein, du und deine Kinder und deine Kindeskinder, dein Kleinvieh und Großvieh und alles, was du hast. 11 Ich will dich dort versorgen, denn es sind noch fünf Jahre Hungersnot, damit du nicht verarmst mit deinem Hause und allem, was du hast. 12 Siehe, profiliert als in der Ballade Schillers, da der Reiche den »Neid der Götter« fürchten muss. Psychologisch betrachtet haben beide Phänomene aber miteinander zu tun, insofern ein Wägen in Sicherheit durch materielle Absicherung sich in spiritueller Hinsicht als untauglich oder sogar hinderlich erweist.

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eure Augen sehen es und die Augen meines Bruders Benjamin, dass ich leibhaftig mit euch rede. 13 Verkündet meinem Vater alle meine Herrlichkeit in Ägypten und alles, was ihr gesehen habt; eilt und bringt meinen Vater hierher.« 14 Und er fiel seinem Bruder Benjamin um den Hals und weinte, und Benjamin weinte auch an seinem Halse, 15 und er küsste alle seine Brüder und weinte an ihrer Brust. Danach redeten seine Brüder mit ihm. (Gen 45) Das literarische Thema des Verbergens der wahren Identität des Helden und dessen spätere Offenbarung gegenüber anderen Protagonisten – den Mitgliedern seiner Ursprungsfamilie oder auch wichtigen Personen aus dem neuen Umfeld – ist ein klassisches Thema der Literatur des europäischen Mittelalters und auch zentrales Moment in vielen Grimm’schen Märchen. Wir denken etwa an den Tanz des unerkannten Aschenputtel während dreier Nächte im Königspalast, das erst mit Hilfe des gläsernen Schuhs von dem unnachgiebigen Königssohn in ihrer wahren »königlichen« Identität erkannt und der Hochzeit zugeführt wird.104 So ähnlich tanzt auch die als Allerleirauh bezeichnete Königstochter, die vor der Heirat mit ihrem eigenen Vater in die Wildnis geflüchtet ist und sich als Küchenmagd verdingt, in Gewändern kosmischer Schönheit105 unerkannt und offenbart sich in der dritten Nacht – Dank der Beharrlichkeit ihres Geliebten – als dessen wahre Braut. Die Erzählstoffe der Märchen greifen dabei auf eine Vielzahl romanhafter und legendarischer Texte etwa der höfischen Literatur des Mittelalters zurück, wie z. B. Hartmann von Aues Iwein, der in einer jahrelangen Phase des Wahnsinns durch das Zutun dreier Heilerinnen in der Wildnis als Ritter identifiziert wird und zu seiner in Vergessenheit geratenen Geliebten zurückfindet oder aber dem Gregorius, der sich vom ausgesetzten Kind eines elterlichen Inzests über verschiedene Lebensformen (Fischer, Geistlicher, Ritter, Büßer-Einsiedler) zum Papst entwickelt und mittels komplizierter Prozesse des Verbergens und Offenbarens identitätsspezi104 Jakob und Wilhelm Grimm, Kinder- und Hausmärchen, 8. Auflage, S. 57 (Märchen Nr. 21). Online verfügbar unter: https://grimms-hausmaerchen.de/ 105 Grimm, Kinder- und Hausmärchen, S. 171 (Märchen Nr. 65). Allerleirauh besitzt ein Kleid, das »glänzt wie die Sonne«, eines das »leuchtet wie der Mond« und eines, das »funkelt wie die Sterne«.

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fischer Gegenstände letztlich als Kind seiner Eltern erkannt wird. Für die mittelalterliche Gregorlegende ist, wie Ingrid Kasten formuliert, »überzeugend belegt«, dass sie »in ihrem Kern auf die antike Ödipusfabel zurückgeht«.106 Aber auch andere Figuren des Mythos gehen den mittelalterlichen Liebes- und Abenteuerroman wie auch den Märchen offensichtlich voraus. Etwa ist, was das Motiv des Nichterkennens und späteren Offenbarens angeht, an die Rückkehr des Odysseus nach Ithaka zu denken. Auch Odysseus wird zunächst von seiner Ehefrau Penelope nicht erkannt und gibt sich durch (selbst symbolisch bedeutsame) Kenntnis eines Geheimnisses zu erkennen: Er allein weiß, dass ein Pfosten des ehemaligen Ehebettes, um welches momentan eine bedrohliche Anzahl anderer Männer freien, der Stamm eines noch lebendigen Baumes ist.107 Das Wechselspiel des Nicht-Erkennens und der Selbst-Offenbarung hängt hier offenkundig mit der Unterbeweisstellung der ehelichen Treue zusammen. So unterschiedlich die kulturellen und historischen Kontexte sein mögen, haben sie in psychologischer Hinsicht eine Gemeinsamkeit: Sie zeigen die Behauptung der individuellen Identität nach den in der Ferne durchlebten Wandlungsprozessen gegenüber den Personen der Vergangenheit als einen der wesentlichen Augenblicke des Lebens. Das in diesem Augenblick verdichtete Risiko, das in den Szenarien der Gewalt (Odysseus Anschlag auf sämtliche Freier um Penelope), der Entblößung, der Vorsicht oder der Scham zum Ausdruck gebracht wird, bezeugt letztlich, dass es im Augenblick der Identitätsveräußerung um alles oder nichts geht, dass sich, verdichtet in den unterschiedlichen Bildern der Selbstenthüllung, das Gelingen eines ganzen Menschenlebens entscheidet. Leser der biblischen Josefsgeschichte haben die Selbstoffenbarung Josefs gegenüber seinen Brüdern häufig als Höhepunkt der Geschichte wahrgenommen und die berührende Emotionalität gewürdigt. Zahlreiche bildliche Darstellungen konzentrieren sich auf den Augenblick 106 Ingrid Kasten, »Schwester, Geliebte, Mutter, Herrscherin: Die weibliche Hauptfigur in Hartmanns ›Gregorius‹«, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 115 (1993), S. 400–420. 107 Homer, Odyssee 23. und 24. Gesang. (Homer, Odyssee, übers. von Johann Heinrich Voß, München 1976, S. 248ff) Auch spielt die Kleidung und das Spiel mit dem sozialen Stand bei dem Nichterkennen des Odysseus eine Rolle, da er sich (anders als Josef, den die Brüder nicht erkennen, da er als ägyptischer Herrscher vor ihnen steht), als Bettler verkleidet.

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der Selbstoffenbarung Josefs und auch die (vermutlich lang herbeigesehnte) Wiedervereinigung mit seinem Bruder Benjamin bzw. dem Vater Jakob.108 Unter dem Gesichtspunkt der Tiefenpsychologie stellt die Selbstoffenbarung Josefs gegenüber seinen Brüdern nicht nur einen Höhepunkt der Geschichte dar, sondern die mit allem Detailreichtum der vergossenen Tränen geschilderte Klimax der Selbstoffenbarung ist der eigentliche Abschluss des Individuationsprozesses des traumatisierten Kindes zum souverän und empathisch handelnden Erwachsenen im vollen Bewusstsein seiner Identität: »Ich bin Josef.« Gerade die tiefenpsychologische Deutung mahnt uns an, in diesen Worten nicht nur die Überraschung oder aber den Schrecken der Brüder nachzuempfinden, die dem Opfer ihres Komplotts und damit dem Gegenstand ihres in den drei Reisen rekapitulierten Schuldkomplexes gegenüberstehen, sondern die Explosivität des Moments für Josef selbst zu erkennen. Er behauptet Integrität und Würde seiner Person gegenüber denjenigen Menschen, die ihn verdinglicht und »zu einem geringen Preis« als »verkaufbaren Gegenstand« (Q 12,6) bzw. »für zwanzig Silberlinge« (Gen 37,20) abgeschoben hatten. In Josefs Selbst-Identifizierung, die übrigens selbst in der Bibel neben den Selbst-Offenbarungen Gottes (Ex 3,6) oder aber den »Ichbin-Worten« Jesu beispiellos ist,109 liegt eine Tiefe der Selbstreflexion und des Selbstbewusstseins (und der Selbstbehauptung), die es in meinen Augen regelrecht zwingend macht, die Entwicklung Josefs vom überbehüteten Jungen in Mädchenkleidern und verhassten Bruder zum Vizekönig der einzig intakten Staatsmacht anders als »objektal« als gesellschaftlichen Aufstieg zu werten: Die Josefsgeschichte erzählt die Geschichte menschlicher Selbstbewusstwerdung und Selbstmitteilung, einen Individuationsprozess par excellence. Anders als in den Märchen ist die treibende Kraft hinter dem Individuationsprozess Josefs nicht die romantische Liebe. Die Selbstoffenbarung des Helden findet nicht gegenüber einer Geliebten statt und die feier108 Zu einer Übersicht siehe den Beitrag von Ori Z. Soltes, »Joseph. Visual Arts«, in: The Encyclopedia of the Bible and its Reception (online ressource, abgerufen am 31.3.2020). 109 Ambrosius parallelisiert in seiner Schrift De Joseph Patriarcha. Liber unus die Selbstvorstellungsworte Josefs mit denen Jesu in Joh 18,6.37 und Mt 26,63– 64. Vgl. Lisewski, Krzysztof Dariusz, Studien zu Motiven und Themen zur Josefsgeschichte der Genesis, Frankfurt u. a. 2008, S. 120.

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liche Verwirklichung des Individuationsprozesses wird nicht (wie etwa in den Märchen) im Bild einer Hochzeit erzählt. Es ist auch nicht die Liebe, die Josefs Identifizierung bewirkt. Der Akzent der biblischen Josefsgeschichte liegt – wenigstens in der Endgestalt des biblischen Textes – auf der Zusammenführung der Söhne Jakobs in Ägypten und damit in der Rehabilitierung geschwisterlicher Solidarität oder aber dem Willen des differenzierten »Selbst« (Josef) zur Reintegration der vor- und unbewussten Anteile (den Brüdern) seiner Psyche in ein gemeinsames, vermitteltes Bild.

Blindheit Jakobs – Josef als Heiler Wenn die ›Novellen‹ davon sprechen, wie Menschen krank werden vor Angst und gesund werden durch ein neu ermöglichtes Vertrauen zu Gott, dann ist es hermeneutisch ein für allemal nicht statthaft, die theologische und die psychologische Ebene der Deutung voneinander zu trennen […].110 Wenn Josef eine bemerkenswerte »Resilienz« zu besitzen scheint und die Isolation des Gefängnisses zur Entfaltung seiner eigenen seelischen Kräfte nutzen kann, kommt es den zurückgebliebenen Familienmitgliedern und insbesondere seinem Vater Jakob zu, auf die Situation der Entzweiung mit den Symptomen einer »Neurose« zu reagieren. »Krank« wird Jakob in der biblischen Josefsgeschichte nicht, aber er äußert mehrmals die Befürchtung, an seinem Kummer um Josef bzw. um Benjamin zu sterben.111 Es ist wiederum der Koran, der Details über die »Somatisierungen« Jakobs nachträgt. Jakob ist hier während der Abwesenheit Josefs erblindet (Q 12,84). Dieses neu eingetragene Detail führt zu einer veränderten Perspektive auch auf das Wiedersehen von Jakob und Josef. Dieses wird zu einer Wundererzählung und zugleich zu einer Heilungsgeschichte, die im Koran aus mehreren Gründen überrascht. Einerseits gehören Heilungen nicht zu den Charismen der koranischen Propheten. Andererseits war Jakob vom Anfang der Sure an selbst ein Prophet mit Wissen um den guten Ausgang der Geschichte Josefs gewesen 110 Drewermann, Tiefenpsychologie und Exegese, Bd. 2, S. 244 f. 111 In Gen 37,35; Gen 42,36–38 im Dialog zwischen Jakob und Simeon; Gen 44,29 im Bericht Judas gegenüber Josef.

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und hatte zu »schöner Geduld« gemahnt (Q 12,18). Jakob hat daher auch keine mit der Genesis vergleichbare emotionale Reaktion auf den Verlust seines Sohnes gezeigt und auch den Täuschungsversuch der Brüder sofort durchschaut. Sie brachten falsches Blut auf seinem Hemd. Er sagte: »Nein! Ihr habt euch selbst etwas eingeredet. Es gilt, schöne Geduld zu üben! Gott ist derjenige, bei dem Hilfe zu suchen ist gegen das, was ihr beschreibt.« (Q 12,18) Der Vers kann sogar als Kontrapunkt zu der bis zur Todessehnsucht reichenden Verzweiflung des betrogenen Vaters in Gen 37 gelesen werden. An Stelle dieser Verzweiflung tritt Jakobs Erblinden aufgrund seines übermächtigen Kummers um Josef im Schlussteil der Sure. Und er kehrte sich von ihnen ab und sagte: »O mein Kummer um Josef!« Und seine Augen wurden trüb vor Trauer. (Q 12,84) Vor allem aber geht die koranische Erzählung der Heilung Jakobs durch den »Duft« (94) seines Sohnes mit der Wiederaufnahme des Kleidungsmotivs einher und unterstreicht hier eine signifikante Leerstelle im Anfangsteil der Sure: Der »bunte Rock«, der neben den Träumen der hauptsächliche Auslöser des Neids der Brüder in der Genesis gewesen war, fehlt im Eingangsteil der Sure. Ein »Hemd« (qamīṣ) mit falschem Blut taucht lediglich im Zusammenhang des Betrugsversuchs der Brüder auf (Q 12,18), den Jakob aber, wie wir gesehen haben, sofort durchschaut. Auch in der Episode des Verleumdungsversuchs durch die Frau des ägyptischen Hochgestellten wird ein »Hemd« (qamīṣ) erwähnt (Q 12,26), allerdings wird dieses nicht wie in Gen 39,18 bei der Flucht Josefs in der Hand der enttäuschten Frau zurückgelassen, sondern beim Wettlauf zur Tür von hinten zerrissen. Die Funktion dieses zweiten »Hemds« Josefs besteht primär im Erweis seiner Unschuld in den Augen der (männlichen) Gesellschaftsvertreter. Dass nun im Koran ein Hemd (qamīṣ) Josefs, welches dieser seinem Vater entgegensendet, heilende Wirkung entfaltet (Q 12,96), stellt nicht nur die Frage nach dem prophetischen Charisma Josefs, sondern auch nach der Art der Erkrankung seines Vaters. Nach dem Vorbild tiefenpsychologischer

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Deutungen von Wunderheilungen können wir die Blindheit Jakobs selbst als Symbol einordnen, das den Verlust des geliebten Kindes mit dem Verlust des Augenlichts verbindet. Evidenz hierfür bieten mehrere christliche, dem Koran vorausgegangene oder mit ihm zeitgenössische Interpretationen der Josefsgeschichte, in denen die beiden Söhne Rahels, Josef und Benjamin, als »das Augenlicht ihres Vaters« betitelt werden.112 Der metaphorische Vergleich der beiden geliebten Söhne mit dem Augenlicht des Vaters korreliert in der Genesis allenfalls mit den Segnungen der Söhne durch die Väter. Sowohl der Segen Jakobs durch Isaak in Gen 27 als auch die Segnung von Ephraim und Manasse durch Jakob in Gen 48 finden unter den Vorzeichen der »trüben Augen« statt. Dahingegen ist das Motiv der Blindheit Jakobs in christlichen Texten prominenter, stets in Verbindung mit der Beschreibung der Trauer und Verzweiflung Jakobs bei der Konfrontation mit dem blutigen Rock.113 Neben den metaphorischen Vergleichen des Augenlichts mit den geliebten Söhnen, argumentiert auch der Kirchenvater Origenes, Jakob habe sein Augenlicht verloren, als die Brüder ihm das blutige Kleidungsstück zeigten. In seiner typologischen Deutung interpretiert Origenes die Heilung Jakobs beim Wiedersehen mit Josef als Typus der durch Christus bewirkten Heilung eines Blindgeborenen in Joh 9.114 112 Joseph Witztum hat diese Traditionen zusammengetragen und neu gedeutet. Siehe Witztum, »Joseph among the Ishmaelites«, S. 435. 113 Siehe Weinberg, Geschichte Josefs, S. 23–26. 114 Lux, »Josef/Josefsgeschichte«, S. 15. Die Aussage dort ist leider ohne Beleg. Ich habe das Argument nur in den Homilien Origenes zur Genesis gefunden. Hier ist zunächst nicht von dem Verlust von Jakobs Augenlicht nach seiner Konfrontation mit dem corpus delicti des blutbeschmierten Rocks die Rede, sondern von einem Verlust des Glanzes des Lichts, das in ihm war. Origenes argumentiert, dass Jakob einen Teil dieses Lichts trotz seiner Trauer bewahrt habe. In der Wiederbegegnung mit Josef als dem wahren Christus geht es vorrangig um die Erkenntnis der Enthüllung des wahren Sinns des Gesetzes (durch Handauflegen Christi) gegenüber der falschen Schriftauslegung der Pharisäer. Der Bezug zu Joh 9 ist hier nicht offensichtlich, stattdessen weist der Herausgeber Peter Habermehl auf Mt. 20,34 hin. Hier zum Vergleich ein Teil des Arguments von Origenes: »Wir wollen aber auch klären, was daraus zu folgern ist, dass er sagt: ›Und Josef wird seine Hände auf deine Augen legen.‹ Hinter dem Schleier dieses Schriftwortes verbergen sich meines Erachtens viele Offenbarungen geheimer Erkenntnis, […]. Leugnet aber jemand etwa, dass das was von Gott in frommer Gestalt als künftiges Geschehen verkündet wurde, auf einen tadelndswerten Akt zu beziehen ist, werden wir festhalten, dass der wahre Josef, unser Herr

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Könnte eine solche typologische Deutung der Blindheit Jakobs hinter der koranischen Aufnahme des Motivs der Blindheit Jakobs stehen? Mir scheint, Jesus’ Heilung des Blinden bei Joh und andere Kontexte der Blindheit und Sicht, die in christlichen Deutungen der Spätantike mit Josef und Jakob in Verbindung gebracht werden, stellen einen »negativen« Intertext115 zur Heilung Jakobs in Sure 12 dar, da diese Heilung gerade nicht durch das Auflegen der Hände, sondern durch die Berührung mit dem Kleidungsstück Josefs erfolgt. Hierin mag eine vorbeugende Zurückweisung einer messianischen Komponente der durch Josef bewirkten Heilung seines Vaters im Koran liegen. Josef ist im Koran gerade nicht Typus oder Präfiguration einer messianischen Erlöserfigur, sondern ein Prophet unter vielen,116 dessen besondere prophetische Gabe und Autorität allerdings über das »Verkünden des Monotheismus« hinauszugehen scheint. Dass Josef nicht mit seinem Körper, sondern durch den Duft seines Kleids heilt, erinnert an den ›ätherischen‹ Status, den bereits die Damen Ägyptens an ihm bemerkt hatten, als sie über ihn ausriefen: »Dies ist kein Mann, sondern ein edler Engel.« (Q 12,31) Mit der Heilung der Blindheit Jakobs durch die Berührung mit dem Gewand Josefs wird diese körperliche und zugleich ästhetische Wirksamkeit der Prophetie Josefs wiederaufgenommen. Zusammenfassend können wir folgern, die Prophetie Josefs besteht im Koran nicht allein darin, die Botschaft des Monotheismus zu verkünden, was Josef in der »Kerkerpredigt« tut, und sein Schicksal geduldig zu ertragen, sondern Josef ist unter den koranischen Pro-

und Erlöser, so wie er seine leibliche Hand auf die Augen des Blinden legte und ihm die Sehkraft zurückgab, die er verloren hatte, ebenso auch seine geistigen Hände auf die Augen des Gesetzes legte, die durch die leibliche Auslegung der Schriftgelehrten und Pharisäer geblendet worden waren, und ihnen die Sehkraft zurückgab, damit für die, denen der Herr die Schriften erschießt, im Gesetz die geistige Sehkraft und Erkenntnis sichtbar werde.« (Origenes, Die Homilien zum Buch Genesis, eingeleitet und übersetzt von Peter Habermehl, Berlin/Boston 2001, (Homilie 15), S. 277.) 115 Zum Konzept »negativer Intertextualität« siehe Neuwirth, Frühmittelmekka­ nische Suren, S. 51–55. 116 Der für Josef und Jakob verwendete Begriff ist nabī (Prophet). Außerdem werden beide als von Gott »erwählt« (iṣṭafā) bezeichnet. Siehe Hartmut Bobzin, »Seal of Prophets: Towards an Understanding of Muhammad’s Prophethood«, in: The Quran in Context, hg. von Angelika Neuwirth, Nicolai Sinai und Michael Marx, Leiden/Boston 2010, S. 565–584, hier: S. 571 und 573.

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pheten derjenige, der am stärksten durch körperliche und ästhetische Merkmale in seiner Beziehung zum Göttlichen erkennbar wird. Josef ist nicht, wie häufig über die koranischen Propheten pauschal geurteilt wurde, »passiver Rezipient« göttlichen Wissens,117 sondern selbst Verkörperung göttlicher Weisheit. Wenn dieses Alleinstellungsmerkmal Josefs in der islamischen Theologie zugunsten seiner Einordnung in eine Reihe prophetischer »Warner« häufig übersehen wurde, lebt das Wissen um die Semantik der prophetisch-weisheitlichen Verkörperung in der islamischen Tradition doch fort, etwa in der Schilderung der Himmelsreise Muhammads in der Sīra.118 Josef begegnet hier als »der schönste der Propheten«, dessen Angesicht »leuchtet wie der Mond«. Dieser Vergleich des Angesichts Josefs mit dem Mond, der in zahlreichen islamischen Überlieferungen wieder aufgenommen wird,119 zollt seinem Sonderstatus unter den Propheten Gottes Tribut. Josef figuriert auch hier 117 Hier ist vor allem auf den Einfluss Theodor Nöldekes zu verweisen, der das prophetische Charisma Muhammads auf ekstatische Zustände und die Überzeugung des Propheten, direkte Mitteilungen von Gott zu erhalten, zurückführte. (Vgl. Theodor Nöldeke, Geschichte des Qorans, Leipzig 1909 und 1919 (Nachdruck der 2. Auflage), Bd. 1, S. 1–28) Aufgrund der »genealogischen« Beziehung, in der alle Muhammad vorausgegangenen Propheten, Q 3,33 zufolge zu ihm stehen, hat sich in der Forschung lange die Ansicht gehalten, dem Koran läge ein einziges Konzept von Prophetie zugrunde, das in einer solchen Übermittler und Warner-Funktion bestehe. Erst jüngere Forschung differenziert dieses Bild. Zum einen finden sich auch für den Verkünder des Korans unterschiedliche Begriffe in den unterschiedlichen Phasen der koranischen Verkündigung, was auf Entwicklungen des im Koran vertretenen Prophetenverständnisses hindeutet. Zum anderen werden die unterschiedlichen Figuren biblischer (und arabischer) Geschichte, die ab der mittelmekkanischen Periode im Mittelteil der Suren referiert werden, mit unterschiedlichen Begriffen qualifiziert. Mose, z. B. ist der koranische »Prophet« (nabī) par excellence. Für Josef hingegen fällt der Begriff nicht. Trotzdem ist Josef Empfänger von Offenbarung (wahy), was dahingehend zu deuten sein könnte, dass mit seiner göttlichen Offenbarung gerade kein Verkündigungsauftrag einhergeht. Zum Begriff des wahy in kommunikationstheoretischer Sicht siehe auch Navid Kermani, Offenbarung als Kommunikation: das Konzept waḥy in Naṣr Hāmid Abū Zayds Mafhūm an-naṣṣ, Berlin 1996. 118 Ibn Ishaq, Das Leben des Propheten, übers. aus dem Arabischen von Gernot Rotter, Zypern 2014, S. 87. 119 Siehe z. B. Al-Thaʿlabis Beschreibung der physischen Erscheinung (gemäß der Autortät Kaʿb al-Akhbārs): »Josef was light skinned. He had a beautiful face, curly hair and large eyes. He was a medium build, his arms and legs were muscular, his stomach »hungry« or flat. He had a hooked nose, and a small navel. The black mole on his right cheek was an ornament to his face, and between his eyes there was a spot white as the full moon. His eyelashes were like the feathers of

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nicht als ein Prophet, der ›propositionales‹ Wissen besitzt und an die (etwa moralische oder rationale) Einsicht seiner Zeitgenossen appelliert, sondern der durch das kosmische Ausmaß seiner physischen Schönheit überzeugt. Gerade durch diese besondere prophetische Episteme evoziert die islamische Figur Josefs im Gedächtnis der islamischen Tradition eine prekäre Nähe zu nicht-islamischen Konzepten, etwa der Logos-Theologie und Inkarnationslehre, die zugleich implizit zurückgewiesen werden, indem Josef in die Reihe koranischer Propheten zurückgestuft wird. Wenn dieser Sonderstatus Josefs als Verkörperung der göttlichen Weisheit in Sure 12 auch nicht theologisch begründet wird, so haben wir in der Heilung der Blindheit Jakobs und in dem Ausruf der ägyptischen Frauen doch Anhaltspunkte für ein solches Konzept bereits im Koran.

Josef und Benjamin In der Genesis liegt stattdessen in der Wiederbegegnung und Wiedervereinigung der beiden Söhne Rahels, des geschundenen, gereiften und zu Ehren gekommenen Josef und des behüteten, umsorgten, zurückgebliebenen Benjamin, ein zentraler Schritt der dargestellten Entwicklung. Vor dem Hintergrund eines Individuationsprozesses gelesen ist der Prozess der Wiedervereinigung der beiden Söhne Rahels wesentlich: Erst in der Wiedervereinigung von Benjamin und Josef in Ägypten liegt die vollständige Emanzipation von der Vereinnahmung des Vaters, denn erst in Benjamin findet die Begegnung Josefs mit dem Ich seiner Kindheit statt. Wir haben oben vermutet, dass auch die Trennung von Josef und Benjamin einen innerseelischen Differenzierungsprozess anzeigt, d. h. dass Benjamin in einer subjektalen Deutung der Josefsgeschichte den dem Vater treu bleibenden Kindheitsanteil Josefs symbolisiert. Nicht nur die Brüder und das »Tier«, sondern auch Benjamin wäre ein Teil des seelischen Bildes Josefs: In Benjamin steht Josef dem Teil seinerselbst gegenüber, der dem Vater treu geblieben ist, der zugunsten des Überlebens des Vaters auf seine eigene Entwicklung verzichtet hat. So groß der Kontrast zwischen dem mächtigen, streng auftretenden ägypan eagle, and when he smiled the light flashed from his teeth. When Josef spoke rays of light beamed from between his lips. No one can fully describe Joseph.« (Goldman, Wiles of Women, S. 83).

Josef und Benjamin111

tischen Herrscher und dem kleinen, ohnmächtigen, behüteten Jüngling ist, so unbedingt brauchen Josef und Benjamin sich gegenseitig, um aneinander gesund zu werden.120 Eine Desintegration und Integration von Josef und Benjamin müssen wir uns nicht auf der abstrakten Ebene als einen rein innerseelischen Prozess vorstellen, sondern ebenso kann das Wiedersehen mit einem realen Bruder oder einer Schwester tiefe Prozesse der Nachreifung und Versöhnung anregen. Die Deutung Benjamins auf den unterschiedlichen Ebenen gibt uns Anlass für eine abschließende methodische Reflexion: Viele tiefenpsychologische Deutungen alttestamentlicher Narrative auf der Subjektebene fassen die unterschiedlichen Personen einer Geschichte – ausgehend von der Analogie des Textes zum Traum – als Aspekte einer einzelnen Persönlichkeit auf. So deutet etwa Christa Meves die Konflikte des Zwillingspaars Jakob und Esau als Differenzierung des unbewussten, dem Tier ähnlichen, »noch ganz in der Urordnung Gottes«121 lebenden Teils des Menschen, den Esau verkörpere, von dem in Jakob repräsentierten Ich-Bewusstsein. Dieser mühsame Differenzierungsprozess gehe für Jakob mit allen Konsequenzen des Schuldgefühls und des Verlusts von Integration in die Abläufe der Natur einher, die Jakob in den verschiedenen Phasen der Einsamkeit und im Kampf durchlebt.122 Einmal entdeckt und verstanden ist die Technik der Interpretation auf der Subjektebene mit Hilfe der von C.G. Jung bestimmten Begriffe des Selbst, des Ego, der Anima und des Animus und des Schattens scheinbar ein hermeneutischer Generalschlüssel für biblische Erzählungen. Alle möglichen Konstellationen menschlicher Verhältnisse können als Facetten der Differenzierung einer einzigen Menschenseele verstanden, alle dargestellten sozialen Konflikte als innerseelische Bewährungsproben gedeutet werden. Ein weiteres Beispiel wäre etwa die in den Erzähl120 Im Falle Benjamins würde tatsächlich ein sprachlicher Hinweis eine Deutung »auf der Subjektebene« Josefs unterstützen: Benjamin wird, ungeachtet der vergangenen Jahre, als »Knabe« (‫ )רענ‬bezeichnet. Obwohl Josef mindestens 13 Jahre älter geworden ist (– Er war zum Zeitpunkt seines Verkaufs nach Ägypten 17 und ist 30 Jahre alt, da er vor dem Pharao steht –), scheint die Zeit für Benjamin still gestanden zu haben. Der Begriff erinnert zudem an die Bezeichnung für Josef selbst in Gen 37. 121 Meves, Die Bibel antwortet, S. 65. Ganz ähnlich interpretiert auch Maria Kassel, Biblische Urbilder, S. 258–276. 122 Meves, Die Bibel antwortet, S. 65.

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Josef – Entwicklung eines Menschen

kränzen um Abraham und Sara erzählte Thematik der Unfruchtbarkeit, der sich Maria Kassel widmet. Indem Sara, statt als eigenständige Erzählperson, als »Anima« Abrahams, d. h. als die weibliche Seite Abrahams Persönlichkeit gedeutet wird, erscheint auch ihre Unfruchtbarkeit als seelisches Problem Abrahams. Erst durch die in der »Gefährdung der Ahnfrau« erzählten Begegnung mit einem Fremdherrscher, der seinerseits eine Facette der Männlichkeit Abrahams darstelle, werde die zur »Schwester« degradierte und damit sexuell tabuisierte Anima »fruchtbar gemacht«.123 So einleuchtend solche Deutungen teilweise erscheinen mögen, so wenig hilfreich ist deren universale Anwendung auf sämtliche biblischen Erzählungen. Das wohl zentrale Korrektiv zu der Verselbstständigung tiefenpsychologischer Auslegung im Sinne immer gleicher innerseelischer Abläufe mit dem vermeintlich zeitlosen Ziel der Individuation bietet die sprachphilosophische psychoanalytische Theoriebildung, an die hier abschließend noch einmal erinnert werden soll. Eine tiefenpsychologische Deutung wird »falsch«, wenn sie darauf zu bestehen versucht, ein allgemeingültiges und unveränderliches Ergebnis zu generieren. Paul Ricœur zufolge erfordert »die Deutung eines Symbols« gerade »das Verständnis des Doppelsinns«.124 Ich habe im Laufe der angestellten Interpretation der Josefsgeschichte versucht, je unterschiedliche Bedeutungen der Symbole zu erkennen. Das Symbol des Wolfs etwa kann einerseits auf die erwachenden Triebwünsche Josefs oder aber auf das Kollektiv der Brüder hindeuten. Die Frau Potifars erscheint mal als Verführerin »zum Tode«, mal als Dämonin, dann aber als weibliches Gegenüber zu der »engelhaften« Erscheinung 123 Siehe Kassel, Biblische Urbilder, S. 230–234, z. B. S. 231: »Der die Frau verleugnende und der sie sich sexuell aneignende Mann sind in archetypischer Sicht Teilaspekte derselben männlichen Psyche, die auseinandergefallen, desintegriert sind; der verleugnende Teil (der Stammvater) stellt die Frau unter ein Tabu; sie wird desexualisiert, indem er sie zu seiner Schwester erklärt. Damit verdrängt der Mann die von ihm als bedrohend und chaotisch erlebte Macht des Geschlechtlichen, er gestaltet sie nicht, bezieht sie nicht in seine Entwicklung ein. Sie bleibt aber wirksam, daher die Angst, von ihr zugrunde gerichtet zu werden. Es wird hier die Unfähigkeit illustriert, den andersgeschlechtlichen Aspekt ins eigene Menschsein aufzunehmen.« Mit Blick auf die islamischen Überlieferungen zu Abraham, Hagar und Sara und eine andere psychoanalytische Sicht siehe Fethi Benslama, Die Psychoanalyse des Islam. Wie der Islam die Psychoanalyse auf die Probe stellt, Berlin 2016, S. 119–169. 124 Ricœur, Die Interpretation, S. 20.

Josef und Benjamin113

Josefs. Nicht nur folgen die verschiedenen Josefsgeschichten in den Kontexten der verschiedenen Überlieferungskontexte und Erzählanlässe unterschiedlichen Psychodynamiken, sondern bereits innerhalb der Genesis oder des Korans sind und bleiben die sprachlichen Symbole mehrdeutig. Der von den Brüdern in Benjamins Getreidesack gefundene Becher des Pharaos kann das zurückgegebene Opfer Josefs sein und damit ein Motiv der Befreiung Josefs, oder ein Symbol für das differenzierte und integrierte Selbst und damit ein Hinweis auf die stagnierte Entwicklung der Brüder. Noch entschiedener als Ricœur betont Jacques Lacan nicht nur den Doppelsinn der Symbole, sondern das aller symbolischer Semantik vorgängige Moment der Negation. Zwar sei auch das Unbewusste symbolisch strukturiert wie eine Sprache, doch sei diese symbolische Struktur, wie vor allem Slavoj Žižek stark betont, dialektisch bezogen auf den (stets möglichen) Einbruch in das »leere Nichts«. Gerade die im »absoluten Akt« erlebte symbolische Leere mache das Subjekt im Kern aus und sie ermöglicht erst »die symbolische Ordnung, das Universum des Wortes«, welches »nur vor dem Hintergrund der Erfahrung dieses Abgrunds«125 entsteht: »Die Symbolisierung der Realität ist nicht möglich ohne die Passage durch den Nullpunkt der Nacht der Welt.«126 Und: Der Akt als Reales, als Überschreitung einer symbolischen Grenze, befähigt uns nicht, eine Art von unmittelbarem Kontakt mit irgendeiner präsymbolischen Lebens-Substanz (wieder-)herzustellen; er wirft uns, im Gegenteil, zurück in den Abgrund des Realen, aus dem unsere symbolische Realität hervorgegangen ist.127 Das »Reale« ist für Lacan und Žižek damit der symbolisch kodierten und normierten Realität gegenübergestellt und gleichzeitig deren eigentliche Bedingung.128 Das Reale ist als dialektisches Gegenüber der symbolischen Realität eine Kategorie sozialer und sprachlicher Subversion.

125 Slavoj Žižek, Grimassen des Realen. Jacques Lacan oder die Monstrosität des Aktes, Köln 1993, S. 46. 126 Ebd., S. 50. Das Wort der »Nacht der Welt« stammt von Hegel. 127 Ebd., S. 53. 128 In der Praxis der Psychoanalyse korreliert das »symbolische Nichts« mit dem Begriff des Traumas.

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Josef – Entwicklung eines Menschen

Für unsere tiefenpsychologische Deutung der Josefsgeschichte und der Einstufung Benjamins als einer »Abspaltung« von Josef und deren Wiederintegration nach der Selbstoffenbarung gegenüber den Brüdern, bedeutet dieser theoretische Exkurs nicht nur den Verzicht auf jedwede Evokation von Zwangsläufigkeit, nicht nur das Eingeständnis der historischen Kontingenz der Symbole als Abkömmlinge einer uns fremden Realität, sondern auch eine Reflexion unserer Aufgabe als Leser und Interpreten der biblischen Symbolsprache. Diese besteht nicht darin, die Mehrdeutigkeit der Symbole mit einer finalen Deutung zu eliminieren, sondern, im Gegenteil, im Öffnen weiterer Bedeutungsspektren. Auf der Erzählebene der Josefsgeschichte selbst korreliert der Lacan’sche Begriff des Realen mit dem Motiv der Träume, deren »Übersetzung« in die soziale und emotionale Realität der Protagonisten eine eigene erzähllogische Herausforderung darstellt und eine epistemische Herausforderung markiert, an der die Brüder Josefs »scheitern«, indem sie die Unverfügbarkeit der Traumsymbole unterschätzen. Wir müssen diesem Moment der Traumdeutung unter dem Aspekt der Vermittlung des »Einbruchs des Realen« in die symbolische Ordnung der Sprache und der sozialen Normen gesondert nachgehen:

Bewahrheitung und Entfaltung der Träume: Ein »herme­ neutischer« Diskurs der biblischen Josefsgeschichte Theorien der Symbolik und Semantik müssen nicht erst »von außen« an einen Text wie die Josefsgeschichte der Bibel und des Koran herangetragen werden, sondern die Josefsgeschichte selbst gibt Hinweise auf hermeneutische Strategien, etwa in dem Motiv des Traums und der Problematik seiner Deutung, aber auch im auffallenden Schweigen des zentral gesetzten Protagonisten Josef während der ersten Hälfte der Erzählung, die als Reaktion auf ein Trauma129 in psychologischer Hinsicht angemessen erscheint und – in den Begriffen

129 So legt Ebach nahe, der mit den (weiblichen) Opfern von sexueller Gewalt Sara, Dina und Tamar vergleicht. Siehe Ebach, Gen 37–50, S. 182. Anders deutet von Rad das Schweigen Josefs als Ausdruck seiner Weisheit nach dem Ideal von Prov. 12,23: »der Kluge, der Erkenntnis zu verbergen weiß«. (Siehe von Rad, »Josephsgeschichte und Chokma«, S. 122).

Ein »herme­neutischer« Diskurs der biblischen Josefsgeschichte115

Lacans – auf die Problematik einer Übertragung des »Einbruchs des Realen« in die Codes der Realität begriffen werden kann. Im Koran finden sich »hermeneutische« Diskurse in direkten selbst­referenziellen Aussagen, etwa im Eingangsteil zur Josefs­ geschichte. Q 12,7: »In der Geschichte von Josef und seinen Brüdern liegen Zeichen, für den der fragt.« Und im Schlussteil der Sure. Q 12,111–112: »In den Geschichten über sie (d. h. Josef und seine Brüder) finden sich Lehren für die Verständigen. Sie (die Lesung) ist keine erfundene Geschichte, sondern eine Bestätigung dessen, was ihr vorausging und eine Erklärung aller Dinge und eine Rechtleitung und Barmherzigkeit für eine gläubige Gemeinschaft.« Einem solchen Hinweis- und Verdeutlichungscharakter, den die koranischen Prophetengeschichten häufig beanspruchen, steht der »entblößte« Junge in der Zisterne gegenüber, der den »Nullpunkt« der »Nacht der Welt« mit der Offenbarung Gottes verbindet: Als sie ihn mitnahmen und sich geeinigt hatten, ihn in die verborgene Tiefe des Brunnenlochs zu stecken, offenbarten Wir ihm: Du wirst ihnen ganz gewiss noch diese ihre Tat kundtun, ohne dass sie es merken. (Q 12,15) Die koranische Josefsgeschichte selbst oszilliert zwischen einer solchen betonten Zeichenhaftigkeit mit Unterweisungscharakter und dem unverfügbaren oder »sprachlos« machenden Motiv göttlicher Offenbarung, die sich in der überwältigenden körperlichen Erscheinung Josefs bzw. dessen überwältigender emotionaler Wirkung fortsetzt. Noch deutlicher als auf der Erzählebene weist die biblische Josefsgeschichte eine hermeneutische Strategie im Moment der Traumdeutung und hier vor allem im Thema der »Bewahrheitung« bzw. »Erfüllung« der Träume aus Josefs Jugend auf. Das Thema des Traums und dessen Erfüllung umklammern die Josefsgeschichte nicht nur als ein Thema und dessen Wiederholung, sondern die ganze Erzählung der Entwicklung Josefs kann als Reflexionsprozess gelesen werden, der die hermeneutische Borniertheit der Brüder konterkariert:130 Die 130 Zu paradoxen Folge der Traumdeutung der Brüder siehe auch Ebach, Gen 37–50, S. 66f: »Diese Träume […] setzen das ganze folgende Geschehen insofern in Gang, als schließlich der Versuch der Brüder, deren Haltlosigkeit zu demonstrieren (37,29), gerade zu ihrer Erfüllung führt.«

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Josef – Entwicklung eines Menschen

Brüder Josefs, die glauben, Josefs Träume mühelos zu verstehen, stehen uns als jene »Texthermeneuten« vor Augen, die das Geheimnis des Doppelsinns der Traumsymbole nicht erkennen. Michael V. Fox, der sich intensiv mit der Beziehung der Josefsgeschichte und dem antiken epistemischen Konzept und der Literaturgattung der Weisheit beschäftigt,131 diskutiert auch Josefs Fähigkeit der Traumdeutung als ein Charakteristikum des Weisen. Diese Fähigkeit sei im Alten Orient nicht allein ein Geschenk Gottes, sondern eine Wissenschaft, die, wie zahlreiche Papyri belegen, vor allem in Ägypten florierte und keinesfalls intuitiv, enigmatisch oder charismatisch, sondern nach festgelegten und erlernbaren Schemata funktionierte.132 Diese ägyptischen Protokolle der Traumdeutung haben Ähnlichkeit mit den Träumen der Josefsgeschichte und der Art und Weise, wie Josef diese, im zweiten Teil, auslegt. Die Träume von Weizen und Gestirnen der Kindheit hingegen hat Josef selbst nicht gedeutet, sondern scheinbar »unreflektiert« erzählt. Seine Brüder und Jakob beziehen die Symbole der Getreidegarben und Gestirne, die sich vor einer aufrecht stehenden Garbe bzw. einem der Gestirne des Himmels verneigen, auf sich selbst. Bereits Gerhard von Rad hatte daher die These aufgestellt, dass Josef sich erst allmählich und durch die ihm auferlegten Prüfungen und Bewährungen zu einem Weisen entwickelt, der auch die Traumdeutung beherrscht. Seine Kindheitsträume hingegen »contain no profound, possibly mythological symbolism or anything of the sort … they are quite simple, pictorial prefigurations of coming events and conditions«.133 Josefs Vater und Brüder, die dessen Träume spontan deuten, sind ebenfalls keine Weisheitslehrer, sondern verstehen nur eben so viel wie jedermann, der »einen Funken Verstand besitzt«.134 Fox schränkt weiter ein: »the brothers do not fully understand what Joseph’s dreams signify. They assume that the images reveal Joseph’s state of mind, his current arrogance and wish for power.«135

131 Siehe dazu weiter unten. 132 Fox, »Joseph and Wisdom«, S. 236. 133 Von Rad, Genesis: A Commentary, S. 351, zitiert in Fox, »Joseph and Wisdom«, S. 238. 134 Frei paraphrasiert aus Fox, »Joseph and Wisdom«, S. 238. (Englisches Original: »anyone can have a degree of wisdom or any moment of widsom.«) 135 Ebd.

Ein »herme­neutischer« Diskurs der biblischen Josefsgeschichte117

Aber genau diese Deutung ist unzutreffend, weil sie von einem falschen Symbol- und Interpretationsbegriff ausgeht. Die Brüder deuten Josefs Träume nicht nur ungenau, sondern falsch, indem sie seine Träume als Ansprüche auf die Macht um der Macht willen interpretieren. In diese Richtung hat Jörg Lanckau die abfällige Bezeichnung Josefs als »Herr der Träume« (Gen 37,19 ‫)בעל החלמות‬ aus dem Mund der Brüder als Fehldeutung interpretiert, die Josef selbst im Schlussteil der Josefsgeschichte entlarvt: »Die verborgene göttliche Führung erkennend, begreift Josef auch seine Funktion für das Haus Israel in Ägypten. Nur als Segensträger ist Josef auch der Herrscher.«136 Dieses Gewahrwerden der Verantwortung Josefs gegenüber seiner Familie korrespondiert narrativ mit der Bereitschaft Josefs, seinen Brüdern gegenüber eine Versorgerrolle einzunehmen. Gerade aber die Akzentverschiebung in der Signifikanz der Kindheitsträume markiert einen wesentlichen Unterschied zwischen der hermeneutischen Kompetenz Josefs und der seiner Brüder. Die Träume haben eben von Anfang an nicht bedeutet, dass Josef über seine Brüder herrschen und ihnen gegenüber eine Machtposition einnehmen wollte. Diesem eindimensionalen Verständnis der Traumsymbole folgend hatten die Brüder Josef zu hassen begonnen, da sie insgeheim fürchteten, seine Träume würden wahr werden. Ihr eigenes Verständnis vom Traum ist »fatalistisch« wie das Orakel, dessen Bewahrheitung man nicht entkommen kann.137 Aber die Josefsgeschichte erzählt von einem anderen Ende. Die Kindheitsträume Josefs »erfüllen« sich auf eine andere, auf die genau entgegengesetzte Weise als die Brüder erwartet hatten. Josef wird erhöht, insofern er seine Ansprüche auf eigenes Prestige aufgegeben und Mitleid mit seinen Brüdern entwickelt hat. Gen 50: 15 Die Brüder Josefs aber fürchteten sich, als ihr Vater gestorben war, und sprachen: »Josef könnte uns gram sein und uns alle Bos-

136 Jörg Lanckau, Herr der Träume. Eine Studie zur Funktion des Traumes in der Josefsgeschichte der Hebräischen Bibel, Zürich 2006, S. 327 f. 137 Konrad Schmid sieht gerade hierin ein »wohlbekanntes Motiv« des Traums. »Träu­me oder Orakel werden wahr, indem diejenigen, die sie betreffen, sich mit allen Mit­teln dagegen wehren, dass sie sich erfüllen.« (Schmid, »Bildungsroman«, S. 58.)

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heit vergelten, die wir an ihm getan haben.« 16 Darum ließen sie ihm sagen: »Dein Vater befahl vor seinem Tode und sprach: 17 So sollt ihr zu Josef sagen: Vergib doch deinen Brüdern die Missetat und ihre Sünde, dass sie so übel an dir getan haben. Nun vergib doch diese Missetat uns, den Dienern des Gottes deines Vaters!« Aber Josef weinte, als man ihm solches sagte. 18 Und seine Brüder gingen selbst hin und fielen vor ihm nieder und sprachen: »Siehe, wir sind deine Knechte.« 19 Josef aber sprach zu ihnen: »Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes statt? 20 Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk. 21 So fürchtet euch nun nicht; ich will euch und eure Kinder versorgen.« Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen. (Gen 50) Weisheitlich ist Josefs Einsicht insofern, als Josef bewusst ist, dass Gott sein Leben auf indirekten Wegen gelingen lässt. Auch die Erkenntnis, dass sein Leidensweg ein »Vorausschicken« zum Lebenserhalt der Gemeinschaft des Lebens des Volkes war, entspricht dem biblischen Konzept der Weisheit, insofern sie als Ausdruck von Josefs Gottesfurcht gedeutet werden kann.138 Die weisheitliche Entwicklung Josefs geht insofern tatsächlich zwingend mit der »radikalen Verborgenheit Gottes« einher, die von Rad als Charakteristikum der »Diasporanovelle« ausgemacht hatte. Aber nicht nur in literaturhistorischer, sondern in wissensgeschichtlicher Hinsicht: Dass Josef sich durch die ihm auferlegten Prüfungen zum Weisen entwickelt und mit seiner Fähigkeit der Traumdeutung zuerst das Überleben des ägyptischen Staates sichert und schließlich seine Familie rettet, ist die Auserzählung eines hermeneutischen Konzepts, das gerade auf dem Bewusstsein der Doppel- und Mehrdeutigkeit von Traumsymbolen beruht.

138 Zu einer Zusammenfassung der Grundzüge des altorientalischen Konzepts der Weisheit siehe Markus Witte, »Schriften (Ketubim)«, in: Grundinformation Altes Testament, hg. von Jan Christian Gertz, Berlin 2019, S. 447 f.

Rahels Stimme in der Wüste: Wiederkehr der Mutter im Midrasch 119

Rahels Stimme in der Wüste: Wiederkehr der Mutter im Midrasch »O mother, mother who bore me, arise and behold how your son has been sold into slavery with none to take pity upon him. Arise from your sleep, O Mother, and behold the cruelty of my brothers who tore me from my father and sold me into slavery … Arise O mother, awaken from your sleep and comfort my father whose spirit ever broods over me.« So Joseph lamented at the grave of his mother, until, spent, he lay there sobbing, immovable. Suddenly from deep within the earth was heard a tearful voice: »Joseph, my son, my son Joseph. I heard your cry; I saw your tears; I felt your grief. My son, trust in the Lord and wait upon him. Do not fear, for the Lord is with you, and he will deliver you from all evil. Go down to Egypt my Son. Fear not, for the Lord is with you, my son.«139 So ergreifend imaginiert der Autor des Midrasch die Verzweiflung Josefs am Grab seiner Mutter. Die Szene ist interessanterweise an zwei verschiedenen Stellen lokalisiert: Zum einen auf dem Weg Josefs in die Sklaverei, auf dem er am Grab seiner Mutter vorüberkommt oder aber am Ende der Josefsgeschichte auf dem Rückweg Josefs nach dem Begräbnis seines Vaters, da Josef zu dem Brunnen in der Erde kommt, in welchen die Brüder ihn geworfen hatten. Beide Situationen stehen in einer Beziehung zueinander. Wir müssen uns noch einmal die Ausgangssituation in Erinnerung rufen: Josef scheint seiner Mutter Rahel äußerlich zu ähneln, denn sie beide werden mit den identischen Worten: »schön von Gestalt und hübsch von Angesicht« (‫ יפה־תאר ויפה מראה‬Gen 39,6 und 29,17) beschrieben. Unsere Ausgangsbeobachtung war, dass Jakob seine Liebe zu Rahel auf den ihr äußerlich ähnlichen Sohn übertragen und so die Entwicklung des Jungen zum Mann behindert hat. Der ganze Weg Josefs in die Sklaverei in Ägypten kann als schmerzhafte und langwierige Selbstsuche und Emanzipation von dieser Übertragungsliebe gelesen werden. Die Mutter selbst ist für diesen Sohn ambivalent. Ihre Erinnerung mag für Josef zwar zärtlich sein, aber 139 Samuel Dresner, Rachel, Augsburg 1995, S. 135 (meine Hervorhebungen).

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von ihr aus führt kein Weg ins Leben. In der Entscheidung gegen die Frau Potifars hat Josef sich gegen die Versuchung entschieden, mit seiner Mutter »im Grab zu liegen«, d. h. seine Trauer um sie zum Zentrum seines Lebens zu machen. Aber in der Genesis und auch im Koran haben wir keine nur ansatzweise vergleichbaren Worte der Verzweiflung von Josef gehört wie hier im Midrasch. In der rabbinischen Forterzählung nun hören wir die berührende Klage des verlassenen Kindes über sein ungewöhnlich hartes Schicksal, über die Grausamkeit der Brüder und die Last, welche der trauernde Vater für sein Leben bedeutet. Josefs Flehen am Grab seiner Mutter, sie möge aufwachen und sich selbst um Jakob kümmern, wie es ihre Aufgabe zu Lebzeiten gewesen wäre, muss uns zu Herzen gehen. Wir hören die dreimalige Bitte: »Wach auf!« wie ein Echo auf die dreimalige Versuchung durch Potifars Frau: »Liege bei mir!« Und zuletzt liegt Josef wirklich, »reglos«, gibt seinem Wunsch nach, an der Seite der Mutter schwach sein zu dürfen, bei ihr liegen zu dürfen, und sei es in der Kälte ihres Grabs. Und nun kommt von unten, aus der Erde, dem Resonanzraum des Unbewussten, tatsächlich die ersehnte, tröstende Stimme der verstorbenen Mutter: Sie spricht ihn zärtlich bei seinem Namen an. Wieviel Trost liegt allein in der doppelten Ansprache Josefs als Rahels Kind: »Josef mein Sohn, mein Sohn Josef.« Wir können uns vorstellen, wie bitter nötig der herangewachsene Mann, dessen Kindheit von Konflikten überschattet und dessen Erwachsenwerden von Einsamkeit und Überforderung geprägt war, diese Trostworte hat. Und auch für uns macht die Begegnung von Josef und Rahel das Bild eines Menschen vollständig, statt es zu schwächen. Josef erfährt, dass er nicht alle Zeit stark, mächtig, gütig, geduldig, klug und verantwortlich handeln muss, wie er es längst bewiesen und jüngst seinen älteren Brüdern versprochen hat. Rahel gegenüber darf er sich endlich über sein Schicksal beklagen, sich bei seiner Mutter ausweinen und sich trösten lassen. Rahel hat seinen Schmerz wahrgenommen und schickt ihn zurück in sein Leben. Es scheint nun umso deutlicher, dass es die Verbindung zu Rahel war, das Vertrauen der Mutter, das Josef in der Not bestärkt hat, ihm Selbstvertrauen und Intuition verliehen hat, vielleicht auch die Deutung der Träume gelehrt. Rahel scheint der unbeschädigte Teil Josefs Seele zu sein, der positive, rettende Bezugspunkt eines Kindes, das überfordert, enttäuscht, verkauft und verraten worden ist. So gesehen mögen wir

Rahels Stimme in der Wüste: Wiederkehr der Mutter im Midrasch 121

auch die Mutter als die namenlose Frau hinter der Figur der Weisheit vermuten, die sich im spätantiken Judentum als heimliche aber unmissverständlich weibliche Akteurin hinter den Kulissen der äußeren Josefsgeschichte immer deutlicher zu erkennen gibt.140 10 Sie leitete den Gerechten, der vor dem Zorn seines Bruders fliehen musste, auf geraden Wegen; sie zeigte ihm das Reich Gottes und gab ihm zu erkennen, was heilig ist; sie ließ es ihm wohlgehen in seinem mühevollen Dienst und mehrte den Ertrag seiner Arbeit. 11 Sie stand ihm bei gegenüber denen, die stärker waren und ihn übervorteilten, und machte ihn reich; 12 sie bewahrte ihn vor seinen Feinden und beschützte ihn vor denen, die ihm nachstellten; sie entschied einen schweren Kampf für ihn, damit er erkannte, dass die Frömmigkeit mächtiger ist als alles. 13 Die Weisheit ließ den Gerechten nicht im Stich, als er verkauft wurde, sondern behütete ihn vor der Sünde; sie stieg mit ihm hinab in die Grube 14 und verließ ihn nicht, als er in Fesseln lag, bis sie ihm das Zepter des Königreichs brachte und Macht über die, die ihm Gewalt angetan hatten; sie erwies die als Lügner, die ihn geschmäht hatten, und gab ihm ewigen Ruhm. (SapSal 10) So lesen wir in der apokryphen Schrift Sapientia Salomonis eine Zusammenfassung der Herausforderungen des Gerechten und dessen Allianz mit Frau Weisheit. Der Text liest sich, auch wenn Josef nicht namentlich genannt wird, als poetische Kurzfassung seines Lebens unter dem Paradigma weisheitlicher Leitung. Ganz ähnlich ist Rahel im Midrasch nicht, wie Stefan Zweig meinte, eine »unkundige Magd«,141 sondern die Expertin Gottes, weil sie eine Expertin des Gottvertrauens ist. Es ist daher letztlich nicht wichtig, ob die Szene des Gesprächs Josefs mit seiner Mutter am Grab am Anfang – auf dem ersten Weg Josefs nach Ägypten – oder am Ende – nach seiner Rückkehr vom Begräbnis Jakobs – situiert ist, da das Kraft gebende Bild der Mutter Josef bei allem begleitet hat. Ist diese Betonung der Bedeutung Rahels anathematisch zur Geschichte der Genesis? In der Genesis selbst findet sich ein Vers, der 140 Zu der Dynamik der Einordnung der Josefsgeschichte in den spätantiken Weisheits-Diskurs siehe weiter unten. 141 Stefan Zweig, Rahel rechtet mit Gott: Legenden, Frankfurt am Main 1990, S. 24.

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darauf hindeutet, dass nicht nur Josef, sondern auch Jakob nicht mit Rahel »abgeschlossen« hat. Mitten in Kapitel 48, in dem es eigentlich um Jakobs »Adoption« von Ephraim und Menasse geht, bringt Jakob selbst noch einmal den Verlust seiner Frau in Erinnerung: »Als ich aus Mesopotamien kam, starb mir Rahel im Land Kanaan auf der Reise, als es nur noch eine kleine Strecke Weges war bis Efrata, und ich begrub sie dort an dem Wege nach Efrata, das nun Bethlehem heißt.«142 Die meisten Kommentare behandeln den ungewöhnlichen Ort, an dem Jakob Rahel begraben hat. Statt sie etwa in die Höhle von Machpela zu bringen, und sie im Grab Abrahams und Saras beizusetzen, beerdigt er die Mutter Israels am Wegesrand noch außerhalb der Grenzen Kanaans. Der ungewöhnliche Ort ihrer Bestattung ist dann aber Ausgangspunkt für eine andere innerbiblische Fortschreibung der Bedeutung Rahels als Trösterin der Heimatlosen, in Jeremia 31: 15 So spricht der HERR: Man hört Klagegeschrei und bittres Weinen in Rama: Rahel weint über ihre Kinder und will sich nicht trösten lassen über ihre Kinder; denn es ist aus mit ihnen. 16 Aber so spricht der HERR: Lass dein Schreien und Weinen und die Tränen deiner Augen; denn deine Mühe wird belohnt werden, spricht der HERR. Sie sollen wiederkommen aus dem Lande des Feindes, 17 und es gibt eine Hoffnung für deine Zukunft, spricht der HERR: Deine Kinder sollen wieder in ihre Heimat kommen. Spätestens mit Jeremia wird Rahel zu der weiblichen Heldin, der Mutter par excellence, deren Klage über ihre Kinder das Lamento des ganzen Volkes über die vielen Verlusterfahrungen vorwegnimmt. Es ist eine Klage der Geborgenheit und der Hoffnung auf Heimkehr, die gerade außerhalb des Landes hörbar sein muss. Der Midrasch (und die frühjüdischen weisheitlichen Kurz-Schriften zu Josef) verbinden diese Trösterrolle Rahels als Mutter wieder mit der Intimität des Familienkonflikts um Josef und Jakob, wo sie ihren Ursprung hat.

142 Gen 48,7.

II JOSEF – EINE VERFLECHTUNGSGESCHICHTE

In welchem Verhältnis steht die in einem tiefenpsychologischen Deu­ tungsversuch unternommene Lektüre der Josefsgeschichte zu den Befunden der historischen Textanalyse? Kann die Tiefenpsychologie auf die Analyseschritte der historisch-kritischen Bibelwissenschaft verzichten? Wir haben oben formuliert, dass die tiefenpsychologische und die historisch-kritischen Lesarten der Josefsgeschichte unterschiedliche, aber nicht konkurrierende Methoden sind, sondern dass sie sich im besten Fall gegenseitig bereichern. Nachdem wir im vorausgehenden tiefenpsychologischen Deutungsversuch die Josefsgeschichte als einen Individuationsprozess mit der Pointe der versöhnenden Integration des ursprünglichen Familienkonflikts betrachtet haben, soll diesem hermeneutischen Erfahrungsbericht nun ein Aspekt der Überlieferungsgeschichte des Josef-Stoffes an die Seite gestellt werden. Dieser zweite Teil versteht sich nicht als die nachgetragene Zusammenfassung der Forschungsergebnisse zu Gen 37–50 im Sinne eines »Gegenübers« zur tiefenpsychologischen Deutung, sondern als ein zweiter Vorstoß auf ein von der Forschung bisher nicht ausdrücklich umrissenes Terrain: Auf die Verflechtungen der Transformationen der Josefsgeschichte in der longue durée in Ergänzungen, Modifikationen, narrativen Fortschreibungen und redaktionellen und exegetischen Bearbeitungen der Josefsgeschichte von den »Quellen« des Pentateuch bis in den Koran. Selbstredend kann eine solche Verflechtungsgeschichte hier nicht ansatzweise vollständig dargelegt werden. Der Akzent und das Selbstverständnis dieses Kapitels liegt vielmehr in der Formulierung einer Hypothese unter Zuhilfenahme der verfügbaren Forschungsergebnisse zu Josef. Das Kapitel ist insofern ein notwendiger Nachtrag zum ersten Teil dieser Arbeit, als nun die Begründung dafür geliefert wird, weshalb spätantike Fortschreibungen der Josefsgeschichte, etwa die Josef-Sure des Koran, in die Interpretation der Genesis eingebracht werden, statt als Rezeptions- oder Wirkungsgeschichte isoliert zu werden. Die hier formulierte Hypothese einer wechselseitigen Verknüpfung geht inhaltlich nicht (wesentlich) über die in der Forschung erarbeiteten literar-

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Josef – Eine Verflechtungsgeschichte

und redaktionsgeschichtlichen Erkenntnisse und Einschätzungen hinaus, sondern ihre Innovation besteht in der Neuformulierung der Frage nach der Beziehung der unterschiedlichen Josefsgeschichten vom Alten Orient bis in die islamische Zeit: Inwiefern kann von den verschiedenen Fort- und Umschriften der Josefsgeschichte, die dem alttestamentlichen Endtext zugrunde liegen, und von den spätantiken Variantenbildungen in unterschiedlichen institutionellen und literarischen Kontexten als einem prinzipiell zusammengehörigen Prozess gesprochen werden? Lässt sich von der altorientalischen bis zur islamischen Aneignung, Umdeutung, Fortschreibung und Auslegung der Josefsgeschichte mit der Metapher der Verflechtung als einer prinzipiell einheitlichen Dynamik sprechen? Diese Fragestellung knüpft an neuere alttestamentliche Forschung an, die in Auseinandersetzung mit Konzepten aus den Sozial-, Kultur- und Literaturwissenschaften die Prämissen und Fragestellungen der historisch-kritischen Bibelexegese bzw. Exegetik1 zu erweitern bestrebt ist.2 Anschließend an Konzepte der »Intra- und Intertextualität« hat diese neuere Forschung, die auch durch zahlreiche US-amerikanische Publikationen inspiriert bzw. bereichert wurde,3 begonnen, innerbiblische Fortschreibungsprozesse als Form der Exegese auszuweisen,4 vermehrt intertextuelle Beziehungen zu außerbiblischen Literaturen des Alten Orients aufzuzeigen,5 die Einbeziehung nicht-textlicher, etwa archäologischer 1 Zur Begriffsbestimmung und Abgrenzung von »Exegese« siehe Erhard Blum, »Notwendigkeit und Grenzen historischer Exegese. Plädoyer für eine alttestamentliche Exegetik«, in: Theologie und Exegese des Alten Testaments/der He­brä­ ischen Bibel, hg. von Bernd Janowski, Stuttgart 2005, S. 11–40. 2 Siehe den Beitrag von Michaela Bauks, »Intratextualität, Intertextualität und Rezeptionsgeschichte«, in: Neue Wege der Schriftauslegung, hg. von ders., Ulrich Berges, Daniel Krochmalnik und Manfred Oeming, S. 13–63 und die dort verzeichnete Literatur. 3 In diesem Kapitel relevant und darüber hinaus einschlägig sind etwa die Publi­kationen von James Kugel, How to Read the Bible u. a. auch die Monographie von Alan T. Levenson, Joseph. A Portrait through the Ages, ist methodisch von den meisten deutschsprachigen Publikationen dadurch unterschieden, dass synchrone hermeneutische Ansätze mit der Einbeziehung rabbinischer und anderer Wissensbestände aus dem Traditionszusammenhang des Judentums einbezogen werden. 4 Dazu etwa Michael Fishbane, Biblical Interpretation in Ancient Israel, Oxford u. a. 1985. 5 Siehe z. B. Manfred Oeming (Hg.), Das Alte Testament im Rahmen der antiken Religionen und Kulturen (Beiträge zum Verstehen der Bibel 13), Münster u.a 2019.

Ein kurzer Überblick über die Forschung zur Josefsgeschichte des Pentateuch125

Wissensbestände in die Forschung des AT zu kultivieren6 und schließlich neue Perspektiven auf die exegetische Überlieferung außerhalb der patristischen Traditionen, etwa im Midrasch, zu entwickeln. Der Begriff der »Verflechtungsgeschichte« soll hier nicht im engeren Sinn einer sozialhistorischen Theorie verstanden, sondern metonymisch gebraucht werden, als ein Begriff, der die wechselseitige Bezogenheit heterogener Überlieferungen zu Josef in diachroner Perspektive fassen soll. Eine solche Fragestellung ist grundsätzlich von den »klassischen« Methodenschritten der altestamentlichen Forschung, etwa der Literar- und Redaktionsgeschichte, nicht grundverschieden, insofern etwa die Pentateuchforschung immer bereits auf historische Prozesse der Fortschreibung, der medialen und/oder materialen Neukontextualisierung und den Wechsel funktionaler Sitze im Leben eines Textes abhebt. Dabei liegt der Akzent historisch-kritischer Forschung in der Regel auf der chronologischen Entwicklung. »[T]he concept of influence remains at the forefront, and the actions of later texts are described in relation to precursor texts whether as ›imitation,‹ ›parody,‹ ›misreading‹ or ›borrowing.‹«7 kritisiert etwa P. Tull mit Blick auf ein in den Literaturwissenschaften entwickeltes Verständnis von Textualität. Michaela Bauks stellt nun die Frage, wie literaturwissenschaftliche Konzepte von Textualität auch die diachrone Perspektive auf Texte des AT bereichern können und sollten, und wie sie somit auf Linearität fokussierte Paradigmen ergänzen könnten.8

Ein kurzer Überblick über die Forschung zur Josefsgeschichte des Pentateuch Auch die Forschung zur Josefsgeschichte ist bislang sehr stark an Fragen der Datierung ausgerichtet und gerade die deutschsprachige Forschung unterscheidet recht kategorisch zwischen den Prozessen der Textgenese und der Wirkungsgeschichte der Josefsgeschichte.9 6 Siehe u. a. die Publikationen von Othmar Keel. 7 Tull, Intertextuality, S. 62, zitiert in Bauks, »Intratextualität«, S. 18. 8 Bauks, »Intertextualität«, die auch wichtige Forschungsrichtungen der vergangenen Jahrzehnte zusammenfasst. 9 Der großen Mühe, die auf die Rekonstruktion der Textgeschichte verwandt wird und wurde, steht leider ein geringeres Interesse an frühjüdischen und rabbinischen, aber auch christlichen Rezeptionsweisen der Josefsgeschichte

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Abgewogen wird etwa, ob die Josefsgeschichte ursprünglich als Fortsetzung der Erzelterngeschichte bzw. als Vorgeschichte zum Exodus konzipiert gewesen ist oder eine vom Pentateuch unabhängige Überlieferung darstellt. Mit den Methoden der Quellenscheidung haben Forscher für das »klassische« Zweiquellenmodell (Schwarz) zumindest in Teilen der Josefsgeschichte plädiert,10 während andere (Blum) die mögliche Anwendung der Quellenscheidung für die Josefsgeschichte verworfen und sich stattdessen für die sukzessive Erweiterung einer Grundschicht ausgesprochen haben. Ein solcher hypothetischer Grundbestand der Josefsgeschichte, der mal mit Gen 37 und 39–41 (Ede), mal mit Gen 37–45 (Schmid) bestimmt wurde, sei dann im Zuge medialer Transformationen – etwa der Verschriftlichung einer vormals mündlich tradierten Erzählung vom Aufstieg eines Hebräers in Ägypten (Lux) – zu einem späteren Zeitpunkt in den Kontext der Vätergeschichten und die Exoduserzählung eingepasst und schließlich priesterschriftlich ergänzt worden.11 Eine nachpriesterliche Entstehung der Josefsgeschichte, etwa in persischer, oder gar hellenistischer oder römischer Zeit, hält Konrad Schmid für ausgeschlossen, da die spätbabylonischen und frühpersischen prophetischen Texte des AT die Josefsgeschichte bereits kennen.12 Einzelne historische Kontexte, wie etwa einsetzende Fluchtbewegungen nordisraelitischer Personen oder Stämme über die syropalästinensische Landbrücke nach der assyrischen Eroberung des Nordreichs 722 v. Chr. bieten sich für die hypothetische Datierung der Grundschicht an. So datiert etwa Bernd Schipper die Geschichte gegenüber. Die Josef-Sure des Koran wird in einigen Überblicken (Lux, »Josef/ Josefsgeschichte«) zwar erwähnt, aber scheinbar in einem völlig abgelösten Traditionszusammenhang zur Bibel gesehen, so dass Transmissionsprozesse zwischen Bibel und Koran gleichfalls fehlen. 10 Andere Forscher hatten in der Josefsgeschichte sogar ein »Musterbeispiel für die Quellen ›J‹ und ›E‹« gesehen. (Schmidt, Literarische Studien zur Josephsgeschichte, BZAW 167, Berlin/New York 1986, S. 121–297. Hinweis in Gertz, Grundinformation, S. 281.) 11 Lux vermutet, dieser Schritt der Verschriftlichung und der Einbettung in den Kontext des Pentateuch sei »frühestens nach dem Untergang Judas (587 v. Chr.), durch den es zu einer größeren Fluchtbewegung von Judäern nach Ägypten und der Herausbildung einer nennenswerten ägyptischen Diaspora kam« erfolgt. (Lux, »Josef/Josefsgeschichte«, S. 9) 12 Diese sind Jer 31,15 und Jer 29,10. Siehe Konrad Schmid, »Die Josephsgeschichte im Pentateuch«, in: Abschied vom Jahwisten, hg. von Jan Christian Gertz u. a. (BZAW 215), Berlin 2002, S. 93–118, hier: S. 110.

Spezifizität oder Allgemeinheit der literarischen Semantik127

vom »Aufstieg eines Hebräers in Ägypten« in diese Zeit des Untergangs des Nordreichs. Das in Gen 39–41 aufgenommene »fugitive hero« Motiv ist allerdings in der Literatur Mesopotamiens weit verbreitet und bietet insofern weitere intertextuelle Verknüpfung, etwa mit dem ägyptischen Mythos des Sinuhe, allerdings mit signifikant anderer Darstellung der Diaspora.13 Ferner werden weiter in die Literaturgeschichte des Nahen Ostens zurückreichende literarische Stoffe diskutiert, die diesen etwaigen Kern der Josefsgeschichte mit beeinflusst haben könnten, etwa das Gilgameschepos oder das Ägyptische Zwei-Brüder-Märchen.14 Diese – durchaus umstrittenen15 – Beispiele für die Verflechtung der biblischen Geschichte mit den Literaturen der altorientalischen und ägyptischen Umwelt, sind allerdings zu lose mit der Josefsgeschichte verknüpft, als dass sie eine genaue Datierung erlauben.

Spezifizität oder Allgemeinheit der literarischen Semantik Zusammen mit der Frage der Datierung bleibt auch die Semantik der erzählten Figuren und Motive deutungsbedürftig: Während einige Forscher den Aufstieg Josefs in Ägypten als literarischen Topos wahrnehmen und Strukturen in der Josefsgeschichte erkennen, die besonders weit über den ganzen Kulturraum Mesopotamiens verbreitet sind,16 gehen andere von einer fester umrissenen religionspolitischen Signifikanz Josefs und seiner Brüder aus, die bereits in ihrer ursprünglichen Komposition »allegorisch« auf die Stämme Israels und besonders auf einen Konflikt zwischen Nord- und Süd13 Arndt Meinhold, »Die Geschichte des Sinuhe und die alttestamentliche Diasporanovelle«, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Arndt-Moritz-ArndtUniversität Greifswald (1971), S. 277–281, hier: S. 280 mit Beispielen, etwa der Formulierung durch den Protagonisten Sinuhe, er sei während seines Aufenthalts in der Fremdgesellschaft »in der Hand des Todes« gewesen. 14 Siehe die Diskussion bei Schipper, »The Egyptian Background«. 15 Schipper etwa hält eine Beeinflussung durch ägyptische Texte erst ab dem Neuen Reich für denkbar. Siehe Schipper, »The Egyptian Background«. Das Zwei-Brüder-Märchen ist aber wohl noch älteren Ursprungs. 16 Ein allgemeines anthropologisches Paradigma des »flüchtenden Helden«, der in der Fremde zu Ansehen und Ehre kommt, vertritt etwa Edward L. Greenstein, »The Fugitive Hero Narrative Pattern in Mesopotamia«, in: Worship, Women, and War. Essays in Honor of Susan Niditch, hg. von John Collins, T.M. Lemos und Saul Olyan, Rhode Island 2015, S. 17–36.

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stämmen bezogen gewesen sei.17 D. h. ähnlich wie etwa beim Hohelied oszilliert die Forschung zwischen der Annahme einer ursprünglichen konkreten, religionspolitischen und einer ursprünglich abstrakten, allgemeinen bzw. allegorischen Semantik des Textes. In diachroner Perspektive hat diese unterschiedliche Betrachtung mit der Einpassung der Josefsgeschichte in den Pentateuch zu tun. Zugespitzt formuliert hat die Neukontextualisierung der »fugitive hero«-Geschichte rückwirkend die Bedeutung der Josefsgeschichte verändert. Aus dem »Märchen« eines vertriebenen Hebräers und dessen Aufstieg in Ägypten bzw. der Ätiologie des Nordreichs wurde die Geschichte der Söhne Jakobs in der Fortsetzung der Vätererzählungen und in Vorbereitung des Exodus. Diese Leistung des Redaktors hat eine kaum zu unterschätzende Wirkung auf die künftige Rezeption der Josefsgeschichte, deren »Semantik« mit ihrem neuen Lektürekontext als Bestandteil des Pentateuch – spätestens seit der Priesterschrift – festgelegt war.

Kohärenz des Narrativs versus sukzessives Textwachstum Neben solchen Perspektiven auf unterschiedliche Fortschreibungsund Redaktionsprozesse der Josefsgeschichte haben andere Forscher gerade die Kohärenz des Narrativs als dessen Charakteristikum entdeckt. Herbert Donner hat die »auffallende Vorliebe für die Zahl zwei«18 etwa als Indikator für eine besondere Kohärenz der Komposition der Josefsgeschichte gedeutet: Zwei Träume Josefs, zwei Träume Pharaos, zwei als »Loch« (bor) bezeichnete Kerker – die Zisterne und das Gefängnis – und daneben Wiederholungen im narrativen Verlauf, wie die sich verneigenden Garben und die »Worte« (debarim), die zwischen Josef und seinen Brüdern gesprochen bzw. nicht gesprochen werden, können als bewusste Rückbezüge und damit Kohärenzindikatoren gewertet

17 Zu der Abwägung zwischen beiden siehe Erhard Blum und Kristin Weingart, »The Joseph Story: Diaspora Novella or North-Israelite Narrative«, in: ZAW 129/4 (2017), S. 501–521. 18 Herbert Donner, »Die literarische Gestalt der alttestamentlichen Josephsgeschichte«, in: ders., Aufsätze zum Alten Testament aus vier Jahrzehnten, BZAS 224, Berlin, New York 1994, S. 76–120, hier S. 106.

Kohärenz des Narrativs versus sukzessives Textwachstum129

werden.19 Grundsätzlich aber ist natürlich auch das Gegenteil denkbar: Formale und sprachliche Dopplungen könnten auch auf die Verarbeitung unterschiedlicher Quellen hindeuten. Standardbeispiele für die Quellenscheidung in der Josefsgeschichte betreffen vor allem Gen 37: die Rollen der Brüder Ruben und Juda und das Auftauchen von Midianitern und Ismaelitern beim Verkauf Josefs nach Ägypten bleiben im Endtext inkonsistent. Für Gen 37 hat Baruch Schwarz eine (in meinen Augen überzeugende) Trennung von zwei Quellen vorgenommen, von der sich allerdings kein heuristischer Wert der »Zweiquellentheorie« für die gesamte Josefsgeschichte ableiten lässt.20 Vielmehr lassen sich nicht nur für die Dopplungen, sondern auch für die »Widersprüche« eigene Gründe finden. Jan Christian Gertz hat etwa auf die »inneren Gründe« der Dopplung des Gottesnamens verwiesen.21 Aber auch an anderen Stellen haben Irritationen im Text eigenes Sinnpotenzial. Dass etwa Jakob Josef in Gen 37 zu seinen Brüdern aufs Feld schickt, obwohl dieser das Eskalationspotenzial des Konflikts jüngst miterlebt hat und sogar »diese Worte behielt« (Gen 37,11), hat erst dazu geführt, dass die Handlung Jakobs als »Opferung« seines meist geliebten Sohnes in intertextueller Beziehung zu Gen 22 erkennbar wurde.22 Wenn die beiden Erzählfäden mit Hilfe der Quellenscheidung voneinander getrennt würden, bliebe diese Beobachtung am Endtext redundant. Wir halten fest, dass bereits vor dem Abschluss der Endredaktion des biblischen Textes Prozesse der Umschreibung, der Neu­kontex­ tualisierung und semantischen Umdeutung stattfinden, die sich auf die Gesamtheit und auf Details der Bedeutung der Josefsgeschichte auswirken.

19 Siehe Lux, »Josef/Josefsgeschichte«, S. 6 mit weiteren Beispielen. Lux diskutiert die Dopplungen als »retardierende Momente«, die der Spannungssteigerung dienen. 20 Baruch Schwarz, »How the Compiler of the Pentateuch worked. Gen 37«, in: The Book of Genesis. Composition, Reception, and Interpretation, hg. von Craig Adams, Joel Lohr und David Petersen, Leiden/Boston 2012, S. 263–278. 21 Jan Christian Gertz, »Die nichtpriesterschriftliche Josefsgeschichte«, in: ders., Grundinformation Altes Testament, 8. Auflage, Berlin 2019, S. 282. Gertz bemerkt, dass der Gottesname Elohim ausschließlich im ägyptischen Exil verwendet wird. 22 Siehe dazu oben: Jakob »opfert« seinen Sohn.

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Josef wird weise Weisheit als Gattungsbegriff Die immer wieder betonte Uneinigkeit der Forschung zur Josefsgeschichte betrifft neben den verschiedenen Hypothesen zum Textwachstum und der Datierung auch die Einstufung ihrer Gattung: Die Grundschicht Gen 39–41 ist etwa als »Märchen« (Meinhold) und »Aufstiegserzählung« (Ede) bezeichnet worden. Allerdings erschwere gerade die »idealtypische und zeitlose Darstellung«23 der Erzählung dieser Grundschicht deren genaue historische Datierung. Für die gesamte Komposition von Gen 37–50 dominiert heute, in Kombination mit der erstarkten Wahrnehmung der kompositionellen Kohärenz der ganzen Erzählung, der Gattungsbegriff der Diasporanovelle. Besonders einflussreich für die Einschätzung der Gattung der Josefsgeschichte war die Hypothese Gerhard von Rads, die Josefsgeschichte gehöre in die didaktische Weisheitsliteratur und sei somit historisch am salomonischen Hof zu verorten, wo sie jungen Männern, die am Hof aufzusteigen hofften, als erzählerisches Beispiel für weisheitlichen Tugenderwerb gedient habe.24 Wenn auch die Konstruktion eines solchen Sitz im Leben der Josefsgeschichte – vor allem aufgrund der veränderten Imagination des salomonischen Hofes seit von Rad – kritisch gesehen wird,25 bleibt die Verbindung von Josef und Weisheit ein zentrales Thema der Forschung.26 Ob die Josefsgeschichte allerdings, wie Meinhold optimistisch formuliert 23 Franziska Ede, Die Josefsgeschichte. Literarkritische und redaktionsgeschichtliche Untersuchungen zur Entstehung von Gen 37–50, Berlin 2016, S. 140. 24 Von Rad, Genesis. 25 Immer wieder kritisiert wird auch die Tatsache, dass von Rad einerseits die literarische Einheit der Josefsgeschichte betont und andererseits trotzdem Quellenscheidung in J und E vornimmt. Dazu z. B. Donner, »literarische Gestalt«, S. 14: »Man kann nicht beides haben: die Josephsgeschichte als Novelle und als Bestandteil der Pentateuchquellen J und E«. 26 Siehe vor allem die beiden Beiträge von Michael V. Fox von 2001 und 2012, wobei er seiner ursprünglich vertretenen Sicht auf die Josefsgeschichte als weisheitlicher Literatur später einschränkend widerspricht. Es sei unwahrscheinlich, dass die Josefsgeschichte zum Zweck der Unterweisung junger Männer am Hof erzählt/geschrieben worden sei. Auch die Formulierung von apophtegmatischen Weisheitssprüchen, wie sie andere weisheitliche Gattungen des AT (Proverbien, Kohelet) kennen, fehle in der Josefsgeschichte. Man könne lediglich zentrale Charakteristika des Weisen, wie die Fähigkeit der Traumdeutung, an Josef ausmachen. Siehe Fox, »Joseph and Wisdom«, S. 259 ff. Die von Fox im Eingang des

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»in der Diaspora und für sie entstanden«27 ist, bleibt nicht unwidersprochen. Ist die gesamte Josefsgeschichte, aufgrund der erkannten Affinität zu weisheitlichen Theologumena, primär der »radikalen Verborgenheit Gottes« (von Rad), insgesamt als weisheitliche Diasporanovelle zu rubrifizieren? Oder wurde eine ursprünglich aus einem religionspolitischen Erzähl- und Traditionsanlass entstandene Ätiologie des Nordreichs nachträglich weisheitlich »angereichert«? Zentral scheint mir die von Michael Fox eingeführte Unterschei­ dung zwischen Weisheit als einer »Kompetenz« bzw. epistemischen Fähigkeit, die in Ägypten mit der Fähigkeit der Deutung von Träumen und anderen Zeichen, mit politischen Ratgeberfunktionen und ethischem Vorbildcharakter einhergehen kann (aber nicht muss) und Weisheitsliteratur als literarischem Genre, für das im biblischen Kanon das Buch der Proverbien einschlägig ist.28 Ein solches weisheitliches Genre beschränkt Fox auf Texte mit didaktischem Profil wie das Proverbienbuch, Jesus Sirach, Ptahhotep, Amenemope, Ahiqar und Shupeawilum. Wenn man auch verwandte Texte wie Hiob, den ägyptischen Dialog des Pessimismus, oder Ludlul unter die Gattung der Weisheitsliteratur rubrifiziere, werde das Genre amorph.29 Während der biblische Josef zwar mehrere Kriterien des Weisen sowohl nach den Maßstäben biblischer als auch ägyptischer Weisheitslehre erfüllt, beinhalte die Josefsgeschichte als Erzählung zu viele Abweichungen vom altorientalischen Konzept der Weisheit. Die Art und Weise der Traumdeutung, die Josef praktiziert, lasse Josef eher »wise in Egyptian terms«30 erscheinen. Traumdeutung ist, bei näherer Betrachtung, gerade kein Charakteristikum des Weisen nach Maßgabe der Bibel. Etwa warne Jesus Sirach sogar davor, Träume ernst zu nehmen, ebenso wie Kohelet (5,2). »Joseph’s successful application of wisdom (in Form der Traumdeutung) in this case is not an exemplar of anything taught in Wisdom Literature

Artikels (S. 231ff) formulierte terminologische Unterscheidung zwischen Weisheit als epistemischer Kompetenz und Weisheit als literarischer Gattung scheint mir eminent. 27 Arndt Meinhold, »Die Gattung der Josephsgeschichte und des Estherbuches«, S. 323. 28 Fox, »Joseph and Wisdom«, S. 232. 29 Ebd., S. 233. 30 Ebd., S. 257.

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[…].«31 Darüber hinaus äußert Josef in der Genesis keine Apophtegmata, noch befindet er sich in einem für die biblische Weisheitsliteratur üblichen Unterweisungsverhältnis mit einem Lehrer/ Vater oder Schüler/Sohn. Der für die Weisheit charakteristische TunErgehen-Zusammenhang findet ebenfalls in der Josefsgeschichte keinen Widerhall.32 Joseph, von Rad argues, displays the virtues taught in Proverbs: He avoids the strange woman (cf. Prov 7 and elsewhere); he is »cool of spirit« and slow to anger (cf. Prov 14:29); he restrains his lips (cf. Prov 17:28); he keeps silence and conceals his knowledge (cf. Prof 10:19; 12:23); he controls his spirit (cf. Prov 14:30); he refuses to seek revenge (cf. Prov 24:29); he is humble (cf. Prov 15:33; 18:12; 22:4); and, above all, he fears God (cf. Prov 1:7; 9:10). This is a good description of the ideal man projected by Proverbs. It largely fits Joseph – as it would any wise person – though we must note that Joseph’s upbringing was terrible and he was neither »wellbred« nor »finely educated.«33 So gesehen sind die Überschneidungen zwischen Josef und dem paradigmatischen Weisen des Proverbienbuchs durchaus bemerkenswert. In Kombination mit den von Fox herausgearbeiteten Diskrepanzen zwischen der Josefsgeschichte und der biblischen Weisheit erscheint mir seine Vorsicht mit Blick auf die Gattungszuschreibung aber notwendig.34 Das Verhältnis der Josefsgeschichte zur altorientalischen Gattung der Weisheit bleibt komplex.

31 Ebd. 32 Ebd.: »In Proverbs ethical behavior brings its reward. Joseph’s behavior brings no direct benefit.« 33 Ebd., S. 256. 34 Ebd., S. 257: »If one isolates in the Joseph Story motivs that are found in Wisdom Literature, then of course the story resembles that genre. But if one casts a wider net, the picture looks different. The story both overlaps Wisdom Literature – since both speak about wise men – and stands at a certain distance from it, because there are aspects of Joseph’s wisdom that are of no interest in the didactic Wisdom Literature of Israel.«

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Weisheit als Charakteristikum inner- und postbiblischer Fortschreibungen Josefs Eine weisheitliche Stoßrichtung der Josefsgeschichte zeichnet sich aber vor allem in den inner- und postbiblischen ersten »Rezeptionen« bzw. »rewritings«35 ab, zum Beispiel in der Anspielung auf Josef in den oben zitierten Versen der apokryphen Schrift Sapientia Salomonis.36 Josef wird hier nicht namentlich erwähnt und seine Geschichte ist auf wenige Aspekte komprimiert, die ihn insgesamt als männliches Gegenüber zu einer personifizierten, weiblichen Figur der Weisheit darstellt. Ähnlich komprimiert teilt auch 1 Makk 2,52 von Josef lediglich mit: »[Er] hielt das Gebot als er bedrängt wurde, und ist Herr in Ägypten geworden.« Die Stelle unterstreicht damit den Vorbildcharakter Josefs als gesetzobservant im Moment der Bedrängnis, analog zu dessen Stilisierung als »Gerechten« im Sinne des Tugendideals der Weisheit. Die weisheitliche Neudeutung Josefs geht, wie James Kugel beob­ achtet, mit einer auffallend schmalen innerbiblischen Rezeption der Josefsgeschichte einher. Dass Josef unter den Patriarchen der Urgeschichte etwa in den Büchern der Chroniken »ausgelassen« wird, hält Kugel für eine bewusste Entscheidung der Chronisten, die dadurch die kontinuierliche Beziehung Israels zum Land betonten und die Thematik des Exils außen vor ließen.37 Sieht man von der thematischen Ähnlichkeit der Josefsgeschichte zum Estherbuch als Hinweis auf eine mögliche Beeinflussung ab,38 ist von Josef als Person selbst noch im Geschichtspsalm 105 die Rede, allerdings bleibt seine Geschichte dort auf den Aspekt des Eisodus Israels nach Ägypten reduziert. Unter diesem Aspekt figuriert Josef auch im frühjüdischen Jubiläenbuch.39 Die Josefsgeschichte hat, der Darstellung im Jubiläenbuch zufolge, zu den liturgischen Texten des Ver35 Bauks qualifiziert die innerbiblischen Fortschreibungen biblischer Geschichte mit diesem Begriff und diskutiert verschiedene Formen des »rewritings«, etwa auch in den verschiedenen Übersetzungen des AT (LXX und Targumim), die hier ausgespart werden, obwohl sie natürlich wichtig sind und in die Verflechtungsgeschichte der Josefsgeschichten dazu gehören. (Vgl. Bauks, »Intertextualität«, S. 23–33.) 36 Siehe oben. 37 Kugel, In Potiphar’s House, S. 18. 38 Diese wertet Gertz als innerbiblische Aufnahme, siehe ders., »nichtpriesterliche Josefsgeschichte«, S. 285. 39 Jub 34 und 39–46.

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söhnungstages Yom Kippur gehört, wobei (anders als in den Texten aus Numeri, wo der Vergehen des Volkes und dessen Versöhnung mit Gott gedacht wird) die persönliche Schuld der Brüder und deren Versöhnung erinnert worden sei. Kugel sieht die rewritings der Josefsgeschichte in den späten biblischen und apokryphen bzw. frühjüdischen Texten (Psalm 105, Makkabäerbuch, Sapientia Salomonis, Jubiläenbuch) als gemeinsames Ereignis: Dem »Kollaps« eines vormals geographisch bedeutsamen, kompliziert und literarisch anspruchsvoll erzählten, religions-­politisch aufgeladenen Narrativs und seine Transformation in ein Beispiel des Gerechten: Josef wird zum Paradigma des Weisen stilisiert.40 Dieses Verleimen der Figur und Geschichte Josefs mit dem Konzept der Weisheit war so erfolgreich, dass auch die späteren literarischen Adaptionen und Variationen der Josefsgeschichte daran anschlossen und den Vorbildcharakter Josefs in neuen Varianten seines Widerstands gegen die Verführung der Frau Potifars und den ausgeübten Vergeltungsverzicht gegenüber den Brüdern narrativ ausschmücken.41 Auch im Neuen Testament sind Josef und die Josefsgeschichte – anders als andere Patriarchen der Urgeschichte42 – auffallend schmal rezipiert. Namentlich wird er freilich in Joh 4 im Zusammenhang des »Brunnen Jakobs« erwähnt. Die These, dass Josef im Stammbaum und der Geburtsgeschichte Jesu in Mt 1 und 2 mit dem alttestamentlichen Josef in Verbindung zu bringen sei, der Jürgen Ebach ein ganzes Buch widmet,43 hat, soweit ich sehe, keinen starken Eindruck in der Forschung hinterlassen. Neben der Erwähnung Josefs in der Rede des Stefanus vor dem Hohen Rat in Apg 7, kann im NT allenfalls an eine indirekte Aufnahme von Motiven aus der Josefsgeschichte in einzelnen Texten der Evangelien gedacht werden, z. B. im Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,11–32)44 oder in 40 Kugel, In Potiphar’s House, S. 25. 41 Siehe dazu die Beispiele aus dem Testament Josefs in Teil 1. 42 Vgl. etwa mit Abraham. Siehe Thomas Hieke, Art. »Abraham«, in: Wibilex. 43 Jürgen Ebach, Josef und Josef. Literarische und hermeneutische Reflexionen zu Verbindungen zwischen Genesis 37–50 und Matthäus 1–2, Berlin 2009. 44 Mir ist kein antiker oder moderner Autor bekannt, der das Gleichnis vom verlorenen Sohn mit der Josefsgeschichte in Verbindung gebracht hätte. Einige Motive sind aber durchaus so ähnlich, dass die Josefsgeschichte m. E. als »Subtext« des jesuanischen Gleichnisses in Betracht zu ziehen ist: Primär das »Einkleiden« des rückgekehrten Sohnes, der Ring und vor allem die Deutung des Vaters der Zeit seiner Abwesenheit als scheinbarer Tod.

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dem Gleichnis von den bösen Winzern in Mt 21,33–46.45 Dass Josef zur Entstehungszeit der Evangelien durch die weisheitlichen rewritings (der Sapientia Salomnis, des Makkabäerbuchs) bereits zu einem Prototypus des Weisen geworden war, mag auch zu dem Schweigen der Evangelisten (und Paulus) über ihn beigetragen haben. Es sollte den patristischen Autoren vorbehalten bleiben, Josef als Präfiguration Christi neu zu entdecken und die narrativen Details – des Kleids, des Verkaufs, des Ab- und Aufstiegs – mit der Passion Christi zu verbinden.46 Literarische Erweiterungen der Josefsgeschichte unter dem Aspekt der Weisheit Aber die Imagination der Tugenden, die Josef (etwa ab dem 1. Jh. vor Chr.) verkörpert, findet auch in den erwähnten literarischen Nachschriften zum AT einen Nachhall. Besonders prominent etwa wird Josefs Widerstand gegenüber der Versuchung durch Potifars Frau wieder und wieder erzählt: Die Episode nimmt etwa in dem Testament Josefs unter den Testamenten der zwölf Patriarchen eine Zentralstellung ein. Kugel vermutet, dass diese Schrift ursprünglich in einem jüdischen Milieu entstanden sei und im 3. Jh. von christlichen Autoren überarbeitet wurde.47 Josef schildert die Versuchung durch die Frau Potifars dort als eine der zentralen Bewährungsproben seines Lebens in auktorialer Perspektive, die – auch durch ihren TestamentCharakter – zugleich eine Warnung an seine »Kinder« darstellt, sich in ähnlichen Gefahrensituationen nach seinem Vorbild zu verhalten. Aber auch Josefs Ehe mit der Ägypterin Asenet, die in der Genesis in einem einzigen Vers (Gen 41,45) verhandelt wird, findet eine literarische Erweiterung in dem Roman Josef und Asenet, der durch seine Betonung der Liebesbeziehung zwischen Josef und Asenet zwar eine andere Thematik behandelt, dabei aber die erbauliche und didakti-

45 V.P. Hamilton weist auf die Ähnlichkeit der Formulierung in Mt 21,38 und Gen 37,20 δεῦτε ἀποκτείνωμεν αὐτὸν hin. (V.P. Hamilton, The Book of Genesis. Chapters 18–50, Grand Rapids, Michigan 1995, S. 714 f.) 46 Z. B. von Origenes, Homilien zum Buch Genesis (Siehe auch Lux, »Josef/ Josefsgeschichte, S. 14f), aber auch im syrischsprachigen Schrifttum der Kirche des Ostens (Witztum, »Joseph among the Ishmaelites«). 47 Kugel, In Potiphar’s House, S. 23.

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sche Komponente beibehält, die mit der »weisheitlichen« Perspektive auf Josef als Vorbild des Gerechten angezeigt ist.48 Neben den literarischen Neuschöpfungen des Josefsstoffes in der Spätantike finden sich wenige bildliche Darstellungen Josefs in der Synagoge Dura Europos, die jeweils die Segnung des greisen Jakob auf dessen Totenbett darstellen. Dass zusätzlich zur Segnung der zwölf Brüder (Gen 49,1–18)49 auch die Segnung von Ephraim und Manasse (Gen 48,13–20) in der Synagoge dargestellt sind,50 ist ebenfalls nicht mit deren Prominenz im biblischen Text selbst51 zu erklären, sondern vielmehr mit der Bedeutung, die Ephraim und Manasse im kulturellen Gedächtnis des antiken Judentums erhalten haben. Etwa verbindet man Segenswünsche an Kinder am Schabbat bis heute mit einem Gedenken an Ephraim und Manasse. Allerdings bleibt für die ersten Jahrhunderte nach Chr. eine Ausdifferenzierung nach religiösen Gruppen fragwürdig. Vielmehr kann von einem Anknüpfen an unterschiedliche Motive – etwa die Verführung durch die Frau (Testament Josefs), die Liebesgeschichte mit der Ägypterin (Josef und Asenet) und die Segnung der Nachkommen (Dura Europos) – unter dem gemeinsamen Interesse einer weisheitlichen Aufwertung der Figur Josefs in der Spätantike die Rede sein. The evolution in the significance of ›Joseph‹ that we have been following might therefore be seen as a gradual crystallization: from the somewhat shadowy and inchoate ›geopolitical‹ Joseph, the ancestor of the tribes of Ephraim and Manasse (or, still more broadly, the genius loci of the North in general); to a Joseph increasingly dissociated from geography and viewed more and 48 Siehe die neue Übersetzung und Einleitung von Stefanie Holder (Joseph und Aseneth, Göttingen 2017). Holder deutet den Text primär als Konversionsgeschichte. 49 In Dura Europos: Westwand, mittlere Zone. Zentrales Bildfeld, unten links. 50 Ostwand, mittlere Zone. Zentrales Bildfeld, unten rechts. 51 Kugel, In Potiphar’s House, S. 15: »The birth of Ephraim and Manasseh to their father Joseph is only a passing detail in the Genesis account (Gen. 41:50– 52), but the existence of these two tribes was, after all, a present, palpable fact during much of the biblical period. And so the name ›Joseph‹ (or: ›the house of Joseph,‹ ›the sons of Joseph‹) represents, outside of the Genesis story, largely this geopolitical reality – a place, the North, the people of these two tribes (and sometimes others) who dwelt there.«

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more as, simply, the virtuous hero of the narrative in the latter part of the book of Genesis; and thence to, specifically, Joseph the Righteous, the Scriptural example of resistance to temptation, whose heroic struggle against the advances of his master’s wife might serve as a model to later generations.52 Ausdifferenzierung von Rezeptions- und Kultgemeinschaften Eine Abgrenzung von »jüdischen« und »christlichen« Zugängen und Verständnisweisen der Josefsgeschichte findet dann erst im rabbinischen bzw. kirchenväterlichen Schrifttum statt. Die rabbinischen Deutungen und Fortschreibungen der Josefsgeschichte stehen verschiedenen christlichen Interpretationen Josefs als Präfiguration Christi gegenüber. Ähnlich wie die literarischen Neuschriften knüpft die rabbinische Bibelhermeneutik an »Leerstellen« des biblischen Textes an. Zahlreiche Midraschim ergänzen narrative Episoden, die über den Erzählstoff der Genesis hinausgehen, wie zum Beispiel die Erzählung von einem »Gastmahl« im Haus Potifars, das dessen Frau ausrichtet, um ihre Freundinnen von der Unwiderstehlichkeit Josefs zu überzeugen. Die Anlässe für solche narrativen Fortschreibungen sind in der Regel kleine sprachliche Details, die von den Rabbinen nicht »wegerklärt«, sondern durch zusätzliche Erzählschichten gerechtfertigt und narrativ ausgelegt werden, nach Maßgabe der Ansicht, dass jedes sprachliche Detail der heiligen Schrift bedeutungsvoll sei.53 Auch und gerade die Dopplungen oder andere sprachliche Auffälligkeiten, die in modernen Bibelwissenschaften als Indikatoren für unterschiedliche Quellen gesehen werden, werden als bedeutungstragend ernst genommen. Die Texte des Koran entstehen in diesem »Netzwerk« der Deutungen, der antagonistischen Bezogenheit und Bewegungen der Anziehung und Abstoßung hermeneutischer Zugänge und narrativer Ergänzungen. Dass im Koran nicht direkte Vorlagen des biblischen Endtextes, sondern die haggadischen Fortschreibungen des spätantiken Judentums zugrunde liegen, ist in den Koranwissen-

52 Kugel, In Potiphar’s House, S. 26. 53 Vgl. Günter Stemberger, Midrasch. Vom Umgang der Rabbinen mit der Bibel, München 1989, S. 25.

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schaften bereits im 19. Jh. erkannt worden.54 Erst die jüngere Koranforschung nimmt neben den auffallenden Parallelen zur rabbinischen Bibelrezeption auch die syrischsprachigen Texte der Kirchen des Osten in den Blick, die sich auch für die Josef-Sure als wichtige intertextuelle Bezüge erweisen.55 Dass das Wissen der Bibel den Koran über den Umweg der verschiedenen spätantiken Kommentarkulturen erreicht, hängt nicht nur mit den »Rezeptionsweisen« biblischer Geschichten im Arabien des 7. Jh. zusammen,56 sondern auch mit dem Sitz im Leben der Sure selbst: Sure 12 ist eine spätmekkanische Sure und damit zu einem Zeitpunkt entstanden, da die Bedrängnis des koranischen Verkünders und seiner Gemeinde in Mekka auf einem Höhepunkt steht.57 Ausgehend von der Hypothese eines »gottesdienstlichen« Sitz im Leben der Koransure zu diesem Zeitpunkt der Verkündigung,58 liegt die Funktion der Josefsgeschichte als »Liturgieteil« nahe, in dem die hörende Gemeinde Zuspruch und Trost erhält. Josef ist auch in Sure 12 Vorbild des geduldigen Frommen und seine Gottesfurcht entspricht, wie wir gesehen haben, einem Gegenentwurf zur Integration in die diesseitige Welt/die korrumpierte Gesellschaft. Die Auswanderung nach Medina (Hidjra) steht für die Hörer des Textes vermutlich bereits am Horizont. Die Themen der Geduld, der Prüfung und die Wahrnehmung eines göttlichen Plans hinter den Entbehrungen der Gegenwart knüpfen aber nicht nur an die präsumierte Lebenslage der Muslime kurz vor der Hidjra an, sondern auch an die weisheitlichen Aspekte der biblischen Josefsgeschichte. Anders als in der Genesis äußert Josef im Koran tatsächlich apophtegmatische Weisheitslehren, die stärker an die weisheitlichen Schriften Ecclesiastes oder das Buch der Proverbien erinnern als an den

54 Siehe die Zusammenfassungen bei Heinrich Speyer, Die biblischen Erzählungen im Qoran, Darmstadt 1961. 55 Witztum, »Joseph among the Ishmaelites« mit dem Hinweis auf das For­ schungs­desiderat. 56 Siehe z. B. Sidney Griffith, The Bible in Arabic. The Scriptures of the ›People of the Book‹ in the Language of Islam, Princeton 2013. 57 Siehe Walid Saleh, »End of Hope: Sūras 10–15, Despair and a Way Out of Mecca«, in: Quranic Studies Today, hg. von Angelika Neuwirth und Michael Sells, Routledge 2016, S. 105–123. 58 Vgl. Angelika Neuwirth, »Vom Rezitationstext über die Liturgie zum Kanon«, in: The Qurʾān as Text, hg. von Stefan Wild, Leiden u. a. 1996, S. 69–106.

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Josef der Genesis.59 Sure 12 integriert darüber hinaus offensichtlich narratives Material der postbiblischen rewritings der Bibel, am auffallendsten die Episode des »Banketts« der ägyptischen Damen um Potifars Frau inklusive des Erweises der Unwiderstehlichkeit Josefs, die sich darin zeigt, dass die Frauen sich bei seinem Anblick in die eigenen Hände schneiden. Die Pointe dieser »kuriosen« Episode ist aber wiederum die Inszenierung Josefs als ästhetisch überwältigende, engelhafte Figur, deren religiöse Wirksamkeit sich körperlich – wie auch später in der Heilung der Blindheit des Vaters durch Berührung mit Josefs Gewand – manifestiert. Für die mekkanische Verkündigung des Koran ist weniger von direkten Begegnungen mit jüdischer Glaubenspraxis und auch nicht von einer direkten Rezeption der biblischen Texte auszugehen.60 Aber gerade die Verbindung der Josefsgeschichte mit weisheitlichen Literaturformen (nicht nur mit allgemein weisheitlichen Diskursen) im Koran verleiht der Frage nach den Kanälen und Rezeptionskontexten biblischen Wissens im Umfeld des Koran neue Virulenz: Denkbar sind sowohl komplexe mündliche Überlieferungsweisen, in denen die Josefsgeschichte zusammen mit Psalmen, Weisheitssprüchen und anderem »erbaulichem« oder »didaktischem« Spruchmaterial übermittelt worden sein könnte, als auch eine absichtsvolle Kombination der Josefsgeschichte mit den weisheitlichen Traditionen im Bewusstsein der Verwandtschaft beider Gattungen.

59 Grundsätzlich ist die ganze Sure von poetischen Klauseln durchzogen, die frommes Spruchmaterial »Der Herr ist allwissend und weise« (6), »Gott ist in seiner Sache überlegen, aber die meisten Menschen wissen es nicht« (21) etc. (Zu den Schlussklauseln siehe Neuwirth, »Struktur der Yusuf-Sure«). Josef selbst bringt weisheitliches Wissen zum Ausdruck in seiner Kerkerpredigt und bei der Selbstoffenbarung gegenüber den Brüdern. Bemerkenswert ist hier vor allem die Erwähnung der Gottesfurcht: »Wer gottesfürchtig und standhaft ist – dessen Lohn lässt Gott lässt nicht verlorengehen.« (90) Die Verbindung von Sicht und Blindheit ist ein zusätzliches Motiv, das auch im Proverbienbuch zentral ist. Ein Beitrag hierzu ist in Vorbereitung. 60 Eintragungen zu kultischen Aspekten und deren theologischer Bedeutung, wie die Verarbeitung des Gotteszorns und die Inszenierung von Selbstdemütigung und Versöhnung im Zeremoniell des Fastens – werden erst in medinischer Zeit Themen der koranischen Verkündigung und in der Regel mit der Begegnung der Gemeinde um Muhammad mit in Medina ansässigen jüdischen Gemeinden begründet.

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Schlussbemerkungen: Einige Thesen zu den Dynamiken der Überlieferung der Josefsgeschichte Zum Abschluss dieser Studie möchte ich die aus den überlieferungs-, redaktions- und wirkungsgeschichtlichen Perspektiven gewonnenen Einsichten als Thesen formulieren, die Grundzüge einer als »Verflechtungsgeschichte« verstandenen Dynamik skizzieren: a) Transregionale und -religiöse Dimension Mit der Fokussierung auf die Figur Josefs und die Gattung der Josefsgeschichte wird die Transgression regionaler, kultureller und religiöser Grenzen bei den Transfers und Transformationen der Josefsgeschichte besonders deutlich. Dies ist selbstredend kein Alleinstellungsmerkmal der Josefsgeschichte. Auch andere biblische Figuren machen innerhalb der verschiedenen Prozesse der Neukontextualisierung, des re­ writings, der Übersetzung und verschiedener Kommentierungen etc. Wandlungen durch.61 Im Fall der Josefsgeschichte ist die Dauer der Überlieferung und Breite der Variantenbildung tatsächlich besonders groß und die Geschichte ankert in heterogenen kulturellen und regionalen Bereichen, insofern sie etwa bis nach Ägypten zurück reicht. Auch wächst die Fortführung der Neudeutung und Neuformulierung der Josefsgeschichte weit über die Genesis hinaus und überschreitet offenkundig nicht nur geographische »Grenzen«, sondern auch solche zwischen religiösen Gemeinschaften. Die Abstufung zwischen den verschiedenen Rezeptionsgemeinschaften zeigt sich als graduell und wechselseitig verknüpft. Etwa findet sich die Episode der ägyptischen Damen um Potifars Frau sowohl im Koran, als auch in zahlreichen rabbinischen Texten. Gerade dieser narrative »Einschub« in die biblische Josefsgeschichte eröffnet Fragen der wechselseitigen Beeinflussung. Es ist sowohl möglich, dass der Koran jüdische Legenden um das Geschehen im Haus Potifars rezipiert, als auch der umgekehrte Fall, dass der koranische Text als »Vorlage« für die Rabbinen diente.62 Andere Details, wie die Erblindung Jakobs, teilt 61 Siehe zum Beispiel die Monographie (im Erscheinen): Isaac Kalimi, König Salomo: Mensch und Mythos. Biblische Geschichtsschreibung im Wandel, Wiesbaden 2020. 62 Zur Diskussion siehe Marc S. Bernstein, Stories of Joseph. Narrative Migrations between Judasm and Islam, Detroit 2006, S. xivff.

Einige Thesen zu den Dynamiken der Überlieferung der Josefsgeschichte 141

der Koran mit christlichen Deutungsgemeinschaften. Dass die Rezeption und Forterzählung der Josefsgeschichte interreligiös und interregional »vernetzt« ist, wird in den unterschiedlichen Fachdisziplinen unterschiedlich selbstverständlich vorausgesetzt und bewertet. Während die historisch später angesiedelten Disziplinen, wie die Koranwissenschaften oder die Erforschung des Talmud schon lange um die Verknüpfung heterogener, teilweise antagonistisch aufeinander bezogener Kommentarkulturen wissen, verhandelt die Wissenschaft des AT gerade in Deutschland die postbiblischen Forterzählungen und Neudeutungen biblischer Geschichten unter dem Gesichtspunkt der Wirkungsgeschichte, die – da sie chronologisch nach dem Ende des biblischen Textwachstum steht – keinen Einfluss auf die Bedeutung der biblischen Texte selbst habe. Dieser Perspektive steht eine Beobachtung entgegen, die im Kontext dieses Kapitels mit dem Begriff der »Weisheit« ins Bild kam. Diese Beobachtung führt auf den zweiten Aspekt einer »Verflechtungsgeschichte« hin: b) Reziprozität statt Linearität der Semantisierung Inhalte, Motive und andere Wissensbestände, die wir für »biblisch« halten, finden sich manchmal gar nicht in den Texten des biblischen Kanons, sondern sind erst den Imaginationen, Aneignungen und Deutungen späterer Kommentatoren zu verdanken. James Kugel fasst einige solcher Beispiele zusammen, die Aussagen betreffen, die sich nicht in den frühen Schriften der Bibel finden, sondern Zuschreibungen antiker Kommentatoren und Pseudepigraphiker sind: »That Abraham was the one who discovered that there is only one God, that David was a pious king who wrote the book of Psalms, or that the Song of Solomon speaks of God’s love for His people.«63 Auch die Weisheit Josefs ist, wie wir gesehen haben, in Gen 37–50 kein zwingendes Wesensmerkmal Josefs. Sie ist vielmehr den Zu­spitzungen der jüngeren Literatur geschuldet, die jedoch umgekehrt die Wahrnehmung (und Datierung) der Josefsgeschichte der Genesis ihrerseits beeinflusst und verändert haben. Solche reziproken Semantisierungen, d. h. Sinnzuschreibungen in der Retrospektive, die irgendwann nicht mehr von den »ursprünglichen« Intentionen und Darstellungen zu trennen sind, sind nicht identisch mit dem im 63 Kugel, How to Read the Bible, S. 17.

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»hermeneutischen Zirkel« beschriebenen Verstehensprozess als einer Aktualisierung »alter« Wissensbestände vermittels je unumgänglicher Vorurteile. Solche Prozesse spielen selbstverständlich auch für die Josefsgeschichte eine Rolle. Etwa haben die Darstellungen Thomas Manns unser Vorverständnis von Josef und seinen Brüdern mitgeprägt. Die Verwobenheit der Textbezüge – zwischen »frühjüdischen«, »frühchristlichen«, »postbiblischen« Überlieferungen – verunmöglicht vielmehr eine Trennung konfessioneller oder anders identitätsspezifischer Traditionen. Der Koran ist ein später Nachkomme in diesem spätantiken Denkraum der religiösen Kommentar- und Überlieferungskulturen und nicht unmittelbar in die polyphone Struktur der Gelehrsamkeit der 2. Jh. vor und nach Chr. involviert, aus denen Judentum und Christentum hervorgegangen sind. Aber auch die Sicht auf den Koran und den Islam als eine ganz eigene Tradition und Kultgemeinschaft ist falsch. Der Koran, der auch als ein Reformangebot64 (oder eine Religionskritik) an die monotheistischen Kulte der Spätantike gerichtet ist, ist, historisch betrachtet, ein Mitglied derselben Familie. Es wäre wünschenswert, dass die Texte des Korans in den exegetischen Fächern der christlichen Theologien häufiger einbezogen würden. Gerade die Thematik der Weisheit scheint hier in besonderer Weise die spätantiken Rezeptionsweisen der Bibel geprägt zu haben. Im Josef des Koran »überlebt« ein Aspekt der Weisheit Josefs, die dieser in der Bibel überhaupt nie hatte, der des weisen »Lehrers«, der sich in apophtegmatischen Sprüchen äußert. c) Historisierung der Konzepte von »Kanon«, »Kommentar«, »Exegese«, »Wort Gottes«, etc. Weil der Text der Josefsgeschichte in der Genesis selbst, wie wir gesehen haben, auf mehreren Schichten der Kombination, der Ergänzung, der Redaktion und der Fortschreibung beruht, ist die Differenzierung des biblischen Endtextes von anderen Umschriften der Josefsgeschichte in der Antike und Spätantike nicht absolut, sondern relativ. Aber trotzdem variieren die Konzepte und Vorverständnisse der jeweiligen Akteure – von den Erzählern eines »fugitive hero«-Märchens über die Redaktoren der Genesis, die Gestalter der Wandbemalung von Dura Europos bis hin zum Verkünder des 64 Vgl. den Sammelband und die Einleitung von Holger Zellentin, The Quran’s Reformation of Judaism and Christianity. Return to the Origins, Routledge 2019.

Wandlung der Bilder und Bilder der Wandlung143

Koran – davon, was ein »heiliger Text« oder »Wort Gottes« ist, was ein »Kommentar« zu leisten hat etc. Die Geschichte der Bibelauslegung muss insofern immer auch Geschichte der Hermeneutik sein, d. h. den variablen, teilweise explizit, teilweise unterschwellig vertretenen Vorstellungen von Text und Bedeutung Rechnung tragen. d) Akteursspezifische, mediale, materiale, geographische Spezifizität Vernetztheit soll nicht bedeuten, dass alle Bedeutungen immer und überall mitverhandelt wurden, sondern jede erzählerische, philologische, exegetische oder kompilatorische Situation hat ihre mediale, materiale, geographische und akteursspezifische Bestimmtheit. In Mekka des 7. Jh. etwa lagen, aller Wahrscheinlichkeit nach, keine schriftlichen arabischen Bibeltexte vor, so dass die Mündlichkeit des überlieferten Wissens der Bibel dessen Rezeption und Stellenwert für die Verkündigungstexte des Koran unweigerlich mitbestimmt. Ebenso unterliegen nicht nur die Bedingungen, sondern auch die Folgen einer Handlung im »Netzwerk« der Josefsgeschichte kontingenten Faktoren, die die Absichten der jeweiligen Akteure überschreiten. Die Effekte der »Änderungen im Text« sind von den Autoren oder Redaktoren nicht vorauszusehen. Die Effekte der priesterschriftlichen Ergänzungen oder die Endredaktion des Pentateuch, die die Josefsgeschichte ans Ende des Buches Genesis gestellt haben, mögen in bewusster Absicht gehandelt haben. Die tatsächlichen Effekte ihrer philologischen und redaktionellen Tätigkeit transzendieren ihre singulären Intensionen.

Wandlung der Bilder und Bilder der Wandlung – eine Ermutigung zu einem neuen Verständnis von interreligiöser Schriftauslegung Mit dem Konzept der vertikalen Ökumene, das wir zu Beginn dieser Arbeit eingeführt haben, um die wechselseitige Bezogenheit der jüdischen, christlichen und islamischen Textzeugnisse einzuordnen, sind wir auch darauf verwiesen worden, die Lebendigkeit der Traditions- und Kultgemeinschaften wahrzunehmen und wertzuschätzen, in denen diese Texte der Bibel und des Koran seit Jahrhunderten rezipiert, weitergegeben, performiert und erinnert werden. Die Wahrnehmung von Differenzen in der Selbstbehauptung der verschiedenen religiösen Gemeinschaften, Diskrepanzen ihrer

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theologischen Konzepte, ihrer liturgischen Praktiken und identitätsspezifischen Erinnerungskulturen müssen nicht zwangsläufig zu einem interreligiösen Austausch auf »horizontaler« Ebene führen, in der Unterschiede festgestellt und exegetische Positionen verglichen werden. Othmar Keel warnt sogar vor der Gefahr der oberflächlichen Freundlichkeit oder des dogmatischen Widerspruchs, in welchem solche interreligiösen Gespräche auf horizontaler Ebene häufig enden. Zu einer vertikalen Ökumene gehört, so der Vorschlag der hier vorgelegten Arbeit, nicht nur die Wahrnehmung des historischen Wachstums, der vielfachen Beeinflussung und Bereicherung der unterschiedlichen an der Textentstehung und Tradition beteiligten Akteure sowie den Momenten ihrer konfliktvollen Abgrenzungen, sondern auch und vor allem der Versuch, die religiösen Symbolsysteme als Bilder zu verstehen, die an diesen Wachstumsprozessen Anteil haben, die »aus dem Unbewussten« stammen. Wenn aber das Unbewusste, wie bereits Freud betont »allgemeiner Besitz der Menschheit«65 ist, warum nähern wir uns dem Koran und der islamischen Literatur dann nicht auf der Ebene der Symbole, die ebenso sehr wie unsere eigenen Trauminhalte kulturell spezifisch und einmalig sind? Die in der Bibel und dem Koran aufgezeigten Bilder sind gerade in ihrer Unverfügbarkeit und Offenheit religiöse Bilder, nicht nur weil sie von Gottesbegegnungen, Wundern und Offenbarungen berichten, die in der Vergangenheit stattgefunden haben, sondern weil sie als solche in den verschiedenen Kommentar- und Traditionsgemeinschaften und noch heute ihr »ewiges« Sinnpotenzial wieder und weiterhin entfalten. Trauen wir als christlich theologische Leser*in (oder auch als Leser*in ohne Bekenntnis zu einer religiösen Konfession) auch islamischen Texten zu, von Gottesbegegnungen zu erzählen? Und haben wir sie dann als religiöse Schriften mit demselben »Status« zu deuten wie die Schriften des Alten und Neuen Testaments? Kann vielleicht nicht gerade die Einbeziehung des Koran und der islamischen Theologie in eine als vertikale Ökumene verstandene interreligiöse Schriftauslegung das Gespräch zwischen Juden und Christen bereichern, ja sogar »therapeutisch« auf dieses einwirken, etwa indem wir die Kategorien des »Alten« und »Neuen« neu zu reflektieren lernen? Isaac Kalimi hat jüngst die Prämissen 65 Freud, Der Mann Mose, S. 161.

Wandlung der Bilder und Bilder der Wandlung145

einer »jüdischen Theologie« auszuarbeiten begonnen, die ohne den belastenden Schatten christlichen Triumphalismus über den »Alten Bund« bzw. das »Alte Testament« auskommt.66 Wir mögen uns auch an eine Beobachtung Yerushalmis erinnern, »dass eine Religion neu war, bedeutete in der heidnischen Welt der römischen Antike […] keine Empfehlung.« Und Yerushalmi führt aus: Die frühchristlichen Bemühungen um Legitimation – in der Heiligen Schrift bereits voll entwickelt – weisen eben aus diesem Grund Merkmale des Familienromans auf, galt es doch, die vornehme und ehrwürdige Herkunft mythisch zu belegen. Dies vermochte das Christentum nur zu leisten, indem es die Geschichte und somit auch das Alter des Judentums selbst für sich in Anspruch nahm.67 Warum also sollten wir heute nicht wieder lernen, das »Alte« als ehrwürdige Wurzel der Tradition wertzuschätzen, statt es als bereits erfüllte Verheißung des »Neuen Bunds« hinter uns zu lassen? Und warum sollten wir nicht auch die noch neuere Glaubensgemeinschaft – den Islam – als jüngere Schwester in der Familie der monotheistischen Religionen begrüßen, ohne ihr dauerhaft den Spiegel ihrer Jugend als ein Zeichen ihrer Unreife vorzuhalten, fast als fürchteten wir, von ihr in den Schatten gestellt zu werden? Hat nicht gerade der Methodenkanon der historisch-kritischen Exegese uns gelehrt, von dogmatischen Vorannahmen Abstand zu nehmen und die Texte der Bibel unvoreingenommen zu studieren? Müsste diese hermeneutische Unvoreingenommenheit, anders gewendet, nicht auch für die Einbeziehung islamischer Traditionsbestände in eine Exegese bedeuten, die – mithilfe der Tiefenpsychologie – nach dem Wandel der religiösen Symbole und dabei nicht nur nach der Fortschreibung und Umdeutung, sondern auch der Ausgrenzung, Tabuisierung, Unterschlagung oder nach Ansprüchen der Übertrumpfung fragt? Wenn wir den religiösen Sinn der Bibel auch darin erkennen, dass ihre Bilder uns heute berühren und verändern können, gibt es keinen Grund, dieses Wunder nicht auch denjenigen Texten zuzutrauen, die unsere islamischen Geschwister und Nach66 Kalimi, Untersuchungen zur Jüdischen Schriftauslegung und Theologie, S. 197– 270. 67 Yerushalmi, Freuds Moses, S. 134.

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barn bewahren und sogar, diese historisch später entstandenen Texte als Reformangebote und Entwicklungsmöglichkeiten zu erkennen, die in der »westlichen« Tradition nicht eingegangen oder gemacht wurden. Ein solcher Ansatz einer vergleichend exegetischen, tiefenpsychologischen Deutung von biblischen und koranischen Texten – bei Beachtung der heterogenen spätantiken Kommentarkulturen, die beide historisch verbinden – möchte den Auftrag ernst nehmen, den uns die Psychoanalyse aufgibt: die Integration der verdrängten, abgespalten, tabuisierten Teile unserer persönlichen Geschichte und unseren »Familien«, deren Horizont die Verheißung einer Erfüllung unseres Menschseins eröffnet.

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152

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Register

Namen und Orte Abraham (und Sara)  112 Asenet  51, 135 Ȥ Josef und Asenet  37, 52 Auerbach, Erich  46 Bauks, Michaela  125 Benjamin (Bruder Josefs)  15, 43 f., 94, 97 f., 101 f., 104 f., 107, 110–114 Djami (Jami)  18, 37, 69–75, 78–80, 83, 85 Drewermann, Eugen  15 f., 25, 30–32, 34–36, 38, 75 (FN 115) Ephraim und Manasse  107, 136 Fox, Michael  116, 131 f. Freud, Sigmund  11–13, 15, 24, 29, 86 f., 90, 98, 144 Jakob (Vater Josefs)  19, 21 f., 36, 39, 41–48, 50, 58 f., 66, 68, 87, 89, 94, 96–99, 104–111,  116, 119–122, 128 f., 134, 136, 140 Jung, Carl Gustav  15, 17, 19, 25–27, 29, 31, 89, 91, 111 Kalimi, Isaac  144 Keel, Othmar  17, 144 Kugel, James  59, 133, 135, 141 Lacan, Jacques  113–115 Lorenzer, Alfred  27–29

Mann, Thomas  14, 37, 53, 142 Meves, Christa  36, 89, 111 Neuwirth, Angelika  20, 52, 64  Nizami 70 Odysseus 103 Origenes  107 f. Pharao  88–90, 92 f., 95, 100 f. Philo (von Alexandria)  45 f. Potifar  47–49, 74 f., 79–81, 83 Potifars Frau  53–68, 112, 120, 134 f., 139 f. von Rad, Gerhard  116, 118, 130– 132 Rahel (Mutter Josefs)  22, 34, 50, 55 f., 58, 68, 107, 110, 119–122 Raschi (Rabbi)  47 Ricœur, Paul  12, 27, 29, 112 f. Sartre, Jean-Paul  10 f. Schipper, Bernd  126 Sichem 44–47 Yerushalmi, Yosef Hayim  13 f., 145 Žižek, Slavoj  113 f. Zulaika  19 f., 37, 68–85

154

Register

Sachen/Begriffe Dura Europos  136, 142 Gilgameschepos  37, 127 Individuation  15 f., 30, 32, 36 f., 51, 89, 100, 104 f., 110, 112, 123 Märchen  16–18, 38, 49, 75, 102–105 Sinuhe 127 Stämme Israels  22, 126–128 Ȥ Nordreich/Südreich 131

Subjektebene/subjektale Deutung  15 f., 36, 69, 75, 90 f., 99 f., 110 f. Übertragung  12, 47, 50, 98 f., 115, 119 Vertikale Ökumene  17, 143 f. Zwei-Brüder-Märchen  37, 127

Stellenregister Hebräische Bibel Gen 22,1  46, 129 27  42, 107 29,17  43, 119 29,31–30,24 56 35,18 43 37,1–11  39 f. 37,2  40, 45 37,4  45, 96 37,8 96 37,9.10 68 37,11  46, 129 37,12–17 45 37,19 117 37,20  41, 104 37,23  48 (FN 74) 37,30 97 37,31 41 37,33 44 37,35 44 39,1–5  47 f. 39,6  43, 119 39,6–12  53 f. 39,18 106 40,7 85 40,8 86 40,13.19 90

40,23 87 41,37–46  92 f. 41,44 89 42,1–28 94–96 42,11 97 42,22 97 43,11 97 45,1–15 102 48  107, 136 49,1–18 136 50,15–21  117 f. Ex 3,6  104 Ri 14  42 2 Sam 13,18  40 Ps 105  133 Prov 12,23  114 (FN 183) Koh 5,2  131 Jer 31,15–17  122 1 Makk 2,52  133

Nachbiblische Texte

Jubiläenbuch  37, 50 (FN 76), 60 (FN 94), 66, 133 f. Testamente der Zwölf Patriarchen/ Testament Josefs  57–59 Sapientia Salomonis  121

Stellenregister155

Neues Testament

Mt 1–2  134 Mt 4,8–9  57 Mt 14,22–33  33 Mt 16,26  85 Mt 20,34  107 (FN 168) Mt 21,33–46  135 Mk 4  32 Mk 10,17–27  100 (FN 157) Lk 4,6  57 Lk 12,16–22  100 Lk 15,4–7; 8–10; 11–32  32, 134 Joh 4  134 Joh 9  107 (FN 168) Apg 7  134

Koran (abgekürzt als Q) 3,33  109 (FN 171) 12,4 68 12,7 115

12,13 42 12,14 99 12,15 115 12,18 106 12,20 42 12,19 48 12,21 49 12,23–24 64 12,25–29  64 f. 12,26 106 12,30–35  65 f. 12,31 108 12,84  105 f. 12,96 106 12,111–112 115

Rabbinische Texte

Midrasch ha-Gadol  62 Midrasch Tanhuma  55 (FN 85), 61–63 Yalqut Shimoni  61–63 bTalmud  59 (FN 93), 60 Zohar 58