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German Pages 228 [229] Year 2018
Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie Herausgegeben von Pierre Bühler (Zürich) · Christof Landmesser (Tübingen) Margaret M. Mitchell (Chicago) · Philipp Stoellger (Heidelberg)
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Die Zeit der Bilder Ikonische Repräsentation und Temporalität herausgegeben von
Michael Moxter und Markus Firchow
Mohr Siebeck
Michael Moxter, geboren 1956; Studium der Philosophie und Ev. Theologie; Erstes Theologisches Examen, Promotion in Philosophie; Habilitation in Systematischer Theologie; seit 1999 Professor für Systematische Theologie an der Universität Hamburg; 2008 Ernst-Cassirer-Gastprofessur am Swedish Collegium for Advanced Study, Uppsala; 2011 Fellow Max-Weber-Kolleg Erfurt; 2016 / 17 Fellow Wissenschaftskolleg zu Berlin. Markus Firchow, geboren 1979; Studium der Ev. Theologie; Erstes Theologisches Examen; Stipendiat Evangelisches Studienwerk Villigst e. V.; Wiss. Mitarbeiter am Institut für Systematische Theologie in Hamburg; Promotion; seit 2017 Wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Theologie III (Ethik) in Göttingen.
ISBN 978-3-16-155814-6 / eISBN 978-3-16-156143-6 DOI 10.1628 / 978-3-16-156143-6 ISSN 0440-7180 / eISSN 2569-4065 (Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Laupp und Göbel in Gomaringen aus der Minion gesetzt, auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden. Printed in Germany.
Vorwort Der vorliegende Band präsentiert die überarbeiteten Vorträge einer Tagung, die als Teil des DFG-Projektes Bild und Zeit. Exegetische, hermeneutische und systematisch-theologische Untersuchungen zur Bildlichkeit religiöser Repräsentationsformen in Verbindung mit dem Institut für Systematische Theologie (Fachbereich Evangelische Theologie / Fakultät für Geisteswissenschaften der Universität Hamburg) und der Deutschen Gesellschaft für Religionsphilosophie e. V. im November 2013 im Warburghaus durchgeführt wurde. Unser Dank gilt diesen Institutionen, insbesondere der Deutschen Forschungsgemeinschaft, vor allem aber den Vortragenden, die zur Ausarbeitung ihrer Manuskripte bereit waren und mit ihren Beiträgen der Forschung neue Impulse geben. Wenn der Band schmaler ausfällt als es das Tagungsprogramm vorsah, so erklärt das auch die Verzögerung, mit der er erscheint. Erst spät haben die Herausgeber dem Warten auf zugesagte Texte ein Ende gesetzt, weshalb der Dank an die Autoren deren Geduld ausdrücklich einschließt. Dass die Einleitung indes umfangsreicher als ursprünglich geplant geriet, ist nicht Kompensation für Weggefallenes, sondern ein Ausdruck der Freiheit, die ihr Verfasser am Wissenschaftskolleg zu Berlin genoss. Den Herausgebern der Reihe Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie, in der dieser Band in Nachbarschaft mit den von Philipp Stoellger und Jens Wolff herausgegebenen Bänden zu ‚Bild und Tod‘ erscheint, sei für die Aufnahme ebenso herzlich gedankt wie Dr. Henning Ziebritzki und seiner Nachfolgerin Katharina Gutekunst für die verlegerische Betreuung. Als studentische Hilfskräfte haben sich in Hamburg Olivia Brown, Johannes Schröer und Timo Schlüschen um die Vereinheitlichung der Manuskripte und das Register verdient gemacht. Wir danken auch dem Förderverein des Hamburger Fachbereichs Theologie am Tor zur Welt e. V. für die zusätzliche finanzielle Unterstützung der Tagung. Schließlich gilt ein besonderer Dank Friedhelm Hartenstein und Philipp Stoell ger für die theologische Arbeitsgemeinschaft, die das Projekt geplant, entwickelt, vorangetrieben, aber gerade nicht beendet hat. Um ein Dichterwort abzuwandeln: „Ein Bericht ist rasch gemacht / Schnell auch malt ein Bild sich / aber so ein Zeitprojekt / liebe Freund’, das zieht sich!“ Hamburg / Göttingen im Januar 2018
Michael Moxter / Markus Firchow
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Michael Moxter Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
I
Gottfried Boehm Die Sichtbarkeit der Zeit und die Logik des Bildes . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
38
Johann Kreuzer Imagination und Erinnerung bei Augustinus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
61
Jens Bonnemann Die Zeitlosigkeit des Bildes bei Sartre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
85
Reinhard Hoeps Bildandachten. Präsenz und Zeitenabstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
104
Friedhelm Hartenstein Ikonizität und Narrativität. Drei Fallbeispiele zu antiken kulturellen Grundtexten (Gilgamesch, Ilias, Exodus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
118
Petruschka Schaafsma Telling Images. On the Value of a ‘Strong Image’ for Theological Ethics .
144
Kristóf Nyíri Bedeutung und Motorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
161
Dieter Mersch ‚Axthieb durch die Zeit‘. Zeitriss und Zeitverkehrung im Zeitalter der Fotografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
183
Farbabbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
201
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung Michael Moxter Jedes Werk bewegt sich sowohl entstehend (produktiv) als aufgenommen (rezeptiv) in der Zeit. Paul Klee1
Ob der Titel ‚Die Zeit der Bilder‘ den hier versammelten Studien die verdiente Aufmerksamkeit verschafft, wird sich auch an der Akzeptanz entscheiden, die der Untertitel findet. Denn um den Begriff der ikonischen Repräsentation ist es nicht zum Besten bestellt, so dass er die Frage nach einer Temporalität der Bilder mit Zweifeln und Einwänden beschwert, die der Rezeption der Beiträge selbst im Weg stehen könnten. Plausibilisierungsprobleme resultieren aus der Mehrdeutigkeit des Repräsentationsbegriffs, aus einer Diagnostik (von Foucault bis Rorty), die dem Paradigma der Repräsentation Krise und Aporie attestiert. Davon soll im Folgenden die Rede sein, freilich im Verbund mit einer Unschuldsvermutung: Gerade wenn mit endemischer Begriffsunschärfe zu rechnen ist, sollte es nicht von vorneherein als ausgeschlossen gelten, dass der Begriff auch in solchen Formen verwendet werden kann, die trotz der auf andere Dimensionen gerichteten Kritik ihre Legitimität behaupten. Rechnet man bei zentralen Begriffen der philosophischen und theologischen Tradition mit metaphorischen Untergründen und Nährlösungen, in denen sich terminologische Bestimmungen erst herausbilden,2 darf man ohnehin auch in Sachen ‚Repräsentation‘ Spielräume in Anspruch nehmen, die gegen die Fama des Erledigten auszuloten sind.
1 P. Klee, Das bildnerische Denken (Form- und Gestaltungslehre 1), hg. v. J. Spiller, Basel / Stuttgart (1956) 51990, 552. 2 In Anlehnung an H. Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie [1960], Frankfurt a. M. 1998, 13; vgl. auch Ders., Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit, in: Ders., Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt a. M. 1979, 87 – 106.
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I. Die Kritik des Repräsentationsbegriffs speist sich zu einem wesentlichen Teil aus Bedenken gegenüber einem Abbildungsbegriff, der als Wiedergabe des Gegebenen konzipiert wurde. Die Partikel ‚re‘ in Repräsentation wird dann im Sinne einer erneuten Präsenz von etwas verstanden, was zunächst oder schon einmal gegeben war. Als zunächst Gegebenes kommen etwa ein Sinneseindruck, Wahrnehmungsdaten oder ein früherer Bewusstseinszustand infrage, welche sekundär in einer Vorstellung erfasst und wiederaufgenommen werden. Einem traditionellen Bildbegriff entsprechend bedarf es einer Ähnlichkeit zwischen dem Gegebenen und seinem Bild, um ‚Repräsentation‘ zu ermöglichen. Doch sind auch andere Methoden der Projektion denkbar als die auf höchst-mögliche Adäquatheit zielende Ähnlichkeitserzeugung. Begreift man etwa – mit dem frühen Wittgenstein – eine Notenschrift oder eine Tonspur als Repräsentationen eines Musikstücks,3 so orientiert sich der Repräsentationsbegriff nicht an einer Korrespondenz äußerer Merkmale, sondern an operationalen Regeln, unter denen das eine aus dem anderen wiedererzeugt werden kann. Die Priorität des Gegebenen vor seiner Wiedergabe (als erneute Gabe des zunächst Gegebenen) kann als ontologische Unabhängigkeit der ‚res‘ von ihrer Repräsentation gedacht werden, weshalb der so formatierte Repräsentationsbegriff einen Realismus nach und die massive Kritik des Anti-Realismus auf sich zieht. Zeitlicher und ontologischer Vorrang der Sache meint: prinzipielle Nachordnung und Zweitrangigkeit der Repräsentation.4 Abbildung bzw. Nachahmung bleiben mithin defizient gegenüber der ‚Sache selbst‘. Zielt die Rede von einem ‚schon einmal Gegebenen‘, das jetzt wiedervergegenwärtigt wird, dagegen auf mentale Repräsentationsprozesse, auf den Strom der Bewusstseinsvorstellungen, in dem ein Späteres ein Früheres wiederaufnimmt, ohne dass beide Akte ihrer Art nach verschieden wären, so braucht keine ontologische Hierarchie oder logische Priorität unterstellt zu sein. Ein Bewusstseinsakt kann an einen anderen intern anknüpfen, ich mir beispielsweise meinen Wunsch zu rauchen in der Form wiedervergegenwärtigen, dass er sich in mir erneut ‚meldet‘, nachdem zuvor das Klingeln des Telefons mich beim Pfeifestopfen unterbrach. Wiedervergegenwärtigung ist dann nicht Abbildung, sondern Fortsetzung und Rückgriff, ein Zurückkommen auf etwas, das im ständigen Fluss der Gedanken schon einmal präsent war, nun aber erinnert und ‚wiederholt‘ wird. Darf unterstellt werden, dass das Bewusstsein als Feld oder als Strom horizonthaft strukturiert ist, mithin kontinuierlich noch inne hat 3 Vgl. L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus [1921], Satz 4.0141, Werkausgabe, Bd. 1, hg. v. J. Schulte, Frankfurt a. M. (1960) 101995, 27. 4 Vgl. L. Marin, Von den Mächten des Bildes [orig. Des pouvoirs de l’image, Paris 1993], übers. v. T. Bardoux, Werkausgabe, Bd. 8, hg. v. M. Heitz, Zürich / Berlin 2007, 12.
Einleitung
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und mit sich führt, worauf es soeben aus war, ergeben sich retentional-protentionale Überlappungen von Bewusstseinsakten als Bedingung der Möglichkeit von Erinnerung. Das Gefälle zwischen einem unabhängig von der gegenwärtigen Vorstellung Gegebenen und einem ‚bloß‘ Repräsentierten, will sich in dieser Form der Wiedervergegenwärtigung nicht einstellen. Denn die erinnerte Vorstellung ist anders als im Modus der Repräsentation überhaupt nicht zugänglich, und kein unabhängiger Vergleich zweier Gedanken könnte die Gewissheit begründen, der eine sei Erinnerung des anderen. Die Repräsentation eines Gegenstandes – limitativ die Repräsentation der ganzen Welt – im Spiegel der Vorstellungen einerseits und die Wiederkehr einer Vorstellung in einer anderen andererseits, bestätigen den Eindruck einer Mehrdeutigkeit des Begriffs. Jedoch zieht dessen Erläuterung durch den Vorstellungsbegriff weitere Vorwürfe auf sich: Mentalismus, intentionalistische Fehlinterpretation von Wissen, Orientierung an Evidenz oder Etablierung eines Solipsismus gehören dazu. Die Suggestion, Repräsentation sei reine Widerspiegelung des Gegebenen, unverfälschtes Abbild oder getreue Kopie, verfängt sich zudem in einer Unterbestimmung: Repräsentation erscheint als Medium ohne mediale Brechungen, als vermittelnde Unmittelbarkeit. Jedes der genannten Elemente für sich, erst recht aber Kombinationen aus ihnen, bringen den Repräsentationsbegriff in Misskredit. Hinzukommt, dass er als Ausdruck einer Metaphysik der Identität verstanden werden kann, scheint er doch zu versprechen, dasselbe noch einmal und immer wieder gleich geben zu können. Wer von Identität auf Differenz, von Präsenz des Bewusstseins bei sich selbst auf Selbstentzug, von Einheit des Sinns auf Dissemination umstellt, wird deshalb die Legitimität des Repräsentationsbegriffs bestreiten und dessen Vorherrschaft kritisieren. Gilles Deleuze5, Jacques Derrida6 und Louis Marin7 haben die Sollbruchstellen markiert, gelegentlich auch vertieft. Ob die Einheit der Vernunft in der vollständigen und durchgängigen Bestimmtheit ihrer Begriffe repräsentiert ist, ob das Urbild des Einen sich in der Totalität der Differenzen darstellt oder ob der Logos das in Wahrheit Seiende in sich zentriert und zu Lasten von Sinnlichkeit und Leiblichkeit umfasst – stets steht der Repräsentationsbegriff in solcher Konstellierung für die Anmaßung, im Anderen das Selbe gefunden zu haben und immer wieder finden zu können. Folgt man gar Heideggers Deutung der Vorstellung als Gestell, als planetarische Herrschaft der Technik, die Ferment eines Willens zur Macht sei, so betrachtet man Repräsentation im Horizont einer Verschwörungstheorie, in der die Dest5 G. Deleuze, Differenz und Wiederholung [orig. Différence et répétition, Paris 1968], übers. v. J. Vogl, München 1992; vgl. St. Otto, Die Wiederholung und die Bilder. Zur Philosophie des Erinnerungsbewußtseins, Hamburg, 2007, 270 – 282. 6 J. Derrida, Die Schrift und die Differenz [orig. L’écriture et la différence, Paris 1948], übers. v. R. Gasché, Frankfurt a. M. (1972) 61994. 7 Zu L. Marin s. u. Abschnitt V.
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ruktion der abendländischen Metaphysik sich mit dem Gestus der Rettung des Nicht-Identischen ausstaffieren kann. Neben solchen Diagnosen nimmt sich die sprachanalytische Kritik relativ bescheiden aus, über den öffentlichen Gebrauch der Worte aufgrund intersubjektiver Regeln hinaus sei ein Rekurs auf eine nur dem Subjekt selbst zugängliche Repräsentation des Gemeinten überflüssig und ohne Erklärungswert. Die dem Repräsentationsbegriff attestierte Identitätsfixierung kann psychoanalytisch kommentiert werden, indem man die Konzeption eines über selbstproduzierte Vorstellungen frei verfügenden Bewusstseins mit dessen Anderem, also mit Trieb, Begehren, Vor- und Unterbewusstem konfrontiert. Dann erscheinen Repräsentationen als Vehikel von Selbsttäuschungen, als Idealisierungen, mit denen das Bewusstsein sich die Selbsterkenntnis verstellt. In und mit seinen Vorstellungen gibt sich demnach das Bewusstsein eine Identität, verheimlicht es sich jene Kräfte, die im Unbewussten wirken.8 Letzteres manifestiert sich nie direkt, sondern auf den Umwegen von Verdrängung, Substitution oder Fehlleistungen. Diese vertreten im bewussten Leben alles, was unterhalb seiner Schwelle bleiben soll. Freud spricht – die Mehrdeutigkeit unseres Begriffs anreichernd – diesbezüglich von Repräsentanz.9 Repräsentation und Repräsentanz sollte man trotz häufig begegnendem promisken Gebrauchs nicht identifizieren, sondern das Verhältnis beider Begriffe in gegenläufiger Spannung interpretieren. Die Summe aller Repräsentationen verrät noch nicht, was die Repräsentanz des Unbewussten mit ihnen anrichtet. Das wird nur dem psychoanalytischen Blick erkennbar und zwar an den Abweichungen, die dem bewussten Leben unterlaufen, an Verwerfungen und Verschiebungen, die niemals direkt und unmittelbar ‚repräsentiert‘ werden, aber im Prozess der Repräsentation Spuren hinterlassen.10 Entsprechende Kritik am Paradigma der Repräsentation dient folglich der aufklärerisch-therapeutischen „Präsentation des Unbewußten“11. In dem Maße, in dem sie das Interesse auf Traumbild, Imagination und Phantasie lenkt, vertieft sich die Kluft zwischen den sinnlichen Bildern und den gedanklichen Repräsentationen. Wer auf ‚Repräsentation‘ als Oberbegriff setzt, verfehlt am Bild gerade das, was das Ikonische ausmacht. „Das Bild ist jeden 8
So Deleuze, Differenz und Wiederholung (wie Anm. 5), 11: „Der Vorrang der Identität [. . .] definiert die Welt der Repräsentation. Das moderne Denken aber entspringt dem Scheitern der Repräsentation wie dem Verlust der Identitäten und der Entdeckung all der Kräfte, die unter der Repräsentation des Identischen wirken“. 9 Vgl. S. Freud, Die Verdrängung [1915], in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. X: Werke aus den Jahren 1913 – 1917, Frankfurt a. M. (1946) 81991, 248 – 261; insb. 250 – 259. 10 Die Zentralstellung, die die Metapher der Spur in der französischen Phänomenologie, vor allem bei Lévinas behauptet, erhellt immer auch aus Freuds Analyse: vgl. M. Brumlik, Archäologie als psychoanalytisches Paradigma der Geschichtswissenschaft, in: Die dunkle Spur der Vergangenheit, hg. v. J. Rüsen / J. Straub, Frankfurt a. M. 1998, 70 – 81; 79 f. 11 Deleuze, Differenz und Wiederholung (wie Anm. 5), 276.
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falls auf den Status einer beiläufigen oder Folgefigur der Repräsentation nicht zurückführbar. Im Gegenteil: das Bild besetzt den Raum, den ganzen Raum, der die Gegensätze der Repräsentation voneinander trennt: den reinen, bildlosen Begriff und seinen empirischen Inhalt“12.
II. Ähnlich problematisch erscheint der Begriff einer ikonischen Temporalität. Die seit Lessing viel zitierte Unterscheidung zwischen Raum- und Zeitkünsten deutete die bildenden Künste und unter ihnen vor allem die Malerei nach Maßgabe des Zugleichseins aller Teile in einer Anschauung, während Poesie, Prosa und Musik durch Sukzession in der Zeit bestimmt seien. Gemälde sind folglich zweidimensionale, flächige Ordnungen der Kopräsenz, die mit einem instantanen Blick erfasst werden können. Wenn solche Bilder sich nicht damit begnügen, unbewegte Gegenstände abzubilden, sondern sich der Darstellung von Ereignissen, Handlungen und Geschichten zuwenden, können sie aufgrund ihrer inneren Struktur nur einen bestimmten Augenblick, etwa den alles entscheidenden Moment einer Handlungsabfolge, erfassen. Um eine Handlung als solche darzustellen, bedürfe es der (sprachlichen) narratio, vermittele diese doch das Nacheinander der Zeit, repräsentiere also nicht nur den einen (Wende‑)Punkt, sondern Anfang, Mitte und Schluss des Geschehens. Unter dieser Voraussetzung entsteht zwischen Bild und Zeit ein Chorismos, herrscht eine strukturelle Differenz. Das Bild bleibt jenseits der Zeit, als das Andere aller Diskursivität. Darum nährt es nicht nur den Eindruck der Zeitlosigkeit, sondern unter Umständen auch die Erwartung, ‚Fenster zur Ewigkeit‘ zu öffnen. Eine systematisch anders angelegte Bildtheorie zeichnet sich jedoch ab, wenn man mit Ernst Cassirer Ikonizität im Kontext einer allgemeinen Theorie der symbolischen Formen oder mit Charles S. Peirce im Horizont einer kategoria len Semiotik begreift. Darauf hat John M. Krois mit Nachdruck aufmerksam gemacht. Bei Cassirer ist es die Orientierung am Gestaltphänomen bzw. der Leitbegriff der symbolischen Prägnanz, die es ihm erlauben, auch das Mimische, die Geste und andere Arten des Ausdrucks als symbolische Formen sui generis zu würdigen, in denen Sinnlichkeit und Sinn miteinander vermittelt sind. Im Bild präsentiert sich deren Einheit zwar auf eine eigentümliche Weise, aber in Kontinuität zu den anderen Prozessen symbolischer Formierung – und das heißt für unseren Zusammenhang: eingebunden in zeitliche Erfahrung. Cassirer akzentuierte daher anders als es die traditionelle Unterscheidung zwischen statischen Bildern und diskursiven Texten vorsah: „Time is ubiquitous in symbolic preg12 J.‑J. Wunenburger zit. n. Otto, Wiederholung und die Bilder (wie Anm. 5), 307; vgl. zum Problem auch den Beitrag von Johann Kreuzer in diesem Band (S. 65 – 89).
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nance of any kind, even in the perception of images“13. Denn alles was (sinnlich) erscheint, zeigt sich auf zeitliche Weise14 – im Grunde war das eine klassisch kantische These, an der Cassirer festhielt, als er in Hamburg den Neukantianismus in eine umfassende (Kultur‑)Philosophie der symbolischen Formen transformierte. Zwar kann, Cassirer zufolge, auf der Schwelle symbolischer Rationalität, in einer vom mythischen Bewusstsein geprägten Welt, ein Bildgebrauch statthaben, der das Bewusstsein in Bann schlägt, es okkupiert, jedoch ist dies gleichsam der Ausnahmezustand eines noch unfreien Anfangs, an dem die eigene Tätigkeit des Bewusstseins verdeckt bleibt und dieses das Bild noch nicht als Bild begreift.15 Bildmagie ist – nicht anders als Wortzauber – der Ausdruck einer Weltauffassung, in der die konstitutiven Leistungen symbolischen Handelns allererst anheben und insofern noch unverstanden bleiben. Die Tätigkeit der symbolischen Formung führt allmählich, aber konsequent, zur Verflüssigung sich absolut gebärdender Formen und also auch zur Entzauberung der Kultbilder. Der Kulturprozess bildet Formen aus, die nicht nur an eine Vielzahl von Bildern und Hinsichten gewöhnen, sondern auch mit dem Wechsel der Ausdrucks- und Darstellungsformen konfrontieren. Dafür bedarf es der Zeit und der Erfahrung, weshalb man von der Zeit der Bilder auch als von der Zeit sprechen kann, in der sich das Bewusstsein aus dem Bann durch das eine Bild befreit und sich seiner eigenen Bildproduktion bewusst wird. Die eigentümliche ‚Energie‘ der symbolischen Formen zeigt sich schon auf der elementaren Ebene des Mimetisch-Expressiven, erst recht in komplexeren Ordnungen, in der Kopplung von Repräsentation und Reihenfunktion: Repräsentation ist für Cassirer ein Verhältnis, kraft dessen etwas für ein anderes steht und zugleich eine Funktion, die regelt, wie weitere Fälle derselben Art generiert werden. Das gilt für ‚natürliche‘ Ausdrucksformen genauso wie für konventionelle. Insofern lernt das animal symbolicum, Bilder zu sehen, indem es lernt, Bilder zu machen und umgekehrt. Die vielzitierte Frage, was ein Bild sei, wird im Horizont seiner Philosophie nicht mit dem Hinweis auf eine Substanz oder ein Wesen des Ikonischen beantwortet, sondern von der Funktion aus gedacht, damit aber auch auf die vielfältigen anderen Darstellungsformen bezogen, in denen jeweils symbolische Prägnanz entsteht. Auch bei Peirce ist das unter die Kategorie der Erstheit fallende ‚icon‘ Glied eines Zeichenprozesses, kategorial betrachtet in Kontinuität nicht nur mit ‚index‘ (secondness) und ‚symbol‘ (thirdness), aus denen es durch Isolation von Momenten abstraktiv gewonnen ist, sondern vor allem eine Strukturierung des kontinuierlichen Feldes der Erfahrung, das sich im Ineinander von Symbolwahrneh13 J. M. Krois, Cassirer’s „Prototype and Model“ of Symbolism. Its Sources and Significance [1999], in: Ders., Bildkörper und Körperschema. Schriften zur Verkörperungstheorie ikonischer Formen (Actus et Imago 2), hg. v. H. Bredekamp / M. Lauschke, Berlin, 2011, 44 – 63; 58. 14 Vgl. ebd. 15 Vgl. M. Moxter, Kultur als Lebenswelt. Studien zum Problem einer Kulturtheologie (Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie 38), Tübingen 2000, 149 – 152.
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mung und Symbolproduktion, von Bilderlebnis und Bildpraxis bildet. Zwar sind Sichtbarkeit und Ähnlichkeit (likeness im Sinne von Peirce) charakteristisch für Bildlichkeit, aber erst in Kontexten des Bildgebrauchs, also etwa des Zeichnens, Malens, Tanzens oder der Pantomime konkretisiert diese sich. Der für den Pragmatismus typische Zusammenhang von Wahrnehmung und Handlung regiert auch seine Beschreibung der Bilderfahrung. Sehen wir etwas (Rauch) als Lagerfeuer, so beziehen wir den bildlichen Eindruck noch nicht indexikalisch auf den Verbrennungsprozess als dessen Ursache, sondern nehmen den Teil als Bild eines Ganzen, zu dem er gehört. Ein rein Qualitatives trägt dann die Wahrnehmung (die korrigiert oder ergänzt werden kann, sobald am Leitfaden indexikalischer Zuordnung oder gar dem der Erkenntnis allgemeiner Naturgesetze Grund zu der Annahme entsteht, es handele sich um ein anderes Phänomen). Die Bildpraxis erstreckt sich dabei weiter als der Bereich der Visibilität. Der Umstand, dass – wie Krois im Anschluss an empirische Studien Kennedys darlegt – auch Blindgeborene sich aufs Bildermachen verstehen, ja sogar perspektivisch malen können, stützt die Auffassung, dass das visuelle Darstellungsvermögen gesamtleiblich fundiert ist und die für es normalerweise zuständigen Augen durch andere Organe substituiert werden können.16 Das prima vista überraschende Phänomen blindgeborener Bildproduzenten kann also entparadoxiert werden, wenn man Ikonizität in den Zusammenhang dessen integriert, was Peirce Semiose nennt, oder wenn man Bildlichkeit mit Cassirer im Horizont unterschiedlicher symbolischer Repräsentationsprozesse begreift.17 Beide Theorien bestimmen die Eigenart des Bildes im Horizont zeitlicher Erfahrung. Es gibt folglich einen Begriff der Repräsentation, der nicht auf die Voraussetzung festgelegt ist, das Bewusstsein trage bildliche Vorstellungen in sich, welche es als Ähnlichkeitsmedien äußerer Gegenstände reproduziert und im Heimkino seiner Innenwelt mit einem geistigen Auge betrachtet. Der Repräsentationsbegriff kann von den Engführungen eines solchen mentalistischen Paradigmas18 freigehalten und darum auch bildtheoretisch rehabilitiert werden. Ernst Cassirer hat vorgeführt, dass und wie der Begriff der symbolischen Repräsentation als Grundbegriff des Bewusstseins aufgefasst werden kann, ohne an einen Abbildungsgedanken gebunden zu sein. Das Bewusstsein hat keine Vorstellungen, enthält sie nicht in sich wie die Schachtel den Käfer und bildet sie 16 Vgl. J. M. Krois, Tastbilder. Zur Verkörperungstheorie ikonischer Formen, in: Ders., Bildkörper und Körperschema (wie Anm. 13), 210 – 231; 214 – 216; vgl. Ders., Für Bilder braucht man keine Augen. Zur Verkörperungstheorie des Ikonischen, in: a. a. O. 132 – 160; 149 – 152. 17 Vgl. seine Schilderung der Bild- und Namenerkenntnis der blind- und taubgeborenen Helen Keller in: E. Cassirer, An Essay on Man [1944], Ernst Cassirer Werke [= ECW], Bd. 23, hg. v. B. Recki, Hamburg 2006, 38 – 41. 18 Die klassische Kritik und Persiflage findet sich bei G. Ryle, The Concept of Mind, New York 1949; vgl. auch E. Tugendhat, Vorlesungen zur Einführung in die analytische Sprachphilosophie, Frankfurt a. M. 1976.
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den unabhängig gegebenen Gegenständen nicht nach. Vielmehr ist Bewusstsein ‚repräsentativ‘, es bezieht sich auf Gegenstände, indem es heterogene Weisen der Weltkonstitution je durchgängig bestimmt19 und also Regeln der Objektivierung ‚repräsentiert‘20. Der Repräsentationsbegriff ist in Cassirers Grundthese einer ursprünglichen Relationalität21 des Denkens bzw. des Bewusstseins verankert und kann insofern nicht zur Disposition gestellt werden: „Es gibt [. . .] kein ‚Etwas‘ im Bewußtsein, ohne daß damit eo ipso und ohne weitere Vermittlung ein ‚Anderes‘ und eine Reihe von anderen gesetzt würde. Denn jedes einzelne Sein des Bewußtseins hat eben nur dadurch seine Bestimmtheit, daß in ihm zugleich das Bewußtseinsganze in irgendeiner Form mitgesetzt und repräsentiert wird“. Die direkte Fortsetzung des Zitats kennzeichnet Repräsentation als zeitliches Phänomen, indem sie zum Verhältnis von Präsenz und Repräsentation festhält: „Nur in dieser [sc. der jeweiligen Form der] Repräsentation und durch sie wird auch dasjenige möglich, was wir die Gegebenheit und ‚Präsenz‘ des Inhalts nennen“22. Repräsentation ermöglicht Präsenz.23 Nimmt man diesen weiter gefassten Repräsentationsbegriff auf, definiert man also Repräsentation als Darstellung von etwas in einem anderen, so kann bildliche Repräsentation unter dieser Voraussetzung durch Boehms Begriff der ikonischen Differenz (als Unterscheidung von Grund und Figur) näher bestimmt werden. Hinsichtlich des Bildbegriffs ergibt sich eine Spannung von Repräsentation und Präsenz, von Darstellung und Wirklichkeitssetzung, auf die noch zurückzukommen ist.
III. Dass man trotz der oben (s. Abschnitt I) in Erinnerung gerufenen Konstellation Repräsentation als Grundbegriff einer Bildwissenschaft einführen kann, zeigen Martin Schulz’ Bemerkungen zum Verhältnis von Körper und Bild und näherhin zum Körperbild. Schulz kontrastiert die zeitgenössische digitale Ver19 Vgl. E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil: Die Sprache [1923], ECW 11, Hamburg 2001, 39; vgl. Moxter, Kultur als Lebenswelt (wie Anm. 15), 127 – 132. 20 Der Verstand im kantischen Sinne ist nach Cassirer nichts anderes als die Gesamtheit der Erfahrung ermöglichenden Regeln (vgl. E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis [1929], ECW 13, Hamburg 2002, 222). 21 Vgl. P. Natorp, Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften [1910], zit. n. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen I (wie Anm. 19), 184: „Es kann ja für das Denken nichts geben, das ursprünglicher wäre als es selbst [. . .] das heißt: das Setzen von Beziehung“. 22 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen I (wie Anm. 19), 31. 23 Vgl. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen III (wie Anm. 20), 193: Die Repräsentation tritt nicht „zur ‚Präsentation‘ hinzu, sondern sie ist es, die den Gehalt und Kern der ‚Präsenz‘ selber ausmacht“.
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schönerung von Models in der Werbung bzw. in Hochglanzmagazinen und die historische Funktion des Bildes im Totenkultus, indem er unterscheidet: „zwischen Körperbildern, wie sie zu bestimmten Zwecken inszeniert [werden] und die eine sichtbare Präsenz von etwas erzeugen, das es im substantiellen Sinne nicht gibt; und solchen, die zuvorderst den Anspruch erheben, abwesende, ferne, tote und andere unsichtbare Körper sichtbar zu machen, sie zu substituieren und im wörtlichen Sinne zu re-präsentieren“24. Dass die Unterscheidung keine durchgängig eindeutige Sortierung erlaubt, ist dem Autor bewusst, instabil aber erscheinen auch seine Differenzierungen zwischen ‚Inszenierung‘ und ‚Substitution‘ einerseits bzw. zwischen Präsenzerzeugung und Repräsentation andererseits, die seine Unterscheidung organisieren. Gilt nicht auch im Blick auf sie die Diagnose partieller Überlappungen? Handelt ein Schauspieler mit der Totenmaske eines Ahnen im römischen Festzug, den abwesenden Toten substituierend, inszenierungsfrei? Und ist der Gegensatz zwischen Präsenzerzeugung und Repräsentation vor jedem Eindeutigkeitszweifel gefeit? Vermutlich nur dann, wenn man mit dem Autor voraussetzte, die einen zeigten Körper, die „es im substantiellen Sinne nicht gibt“, die anderen dagegen „abwesende, ferne, tote“ Körper. Indem Schulz fiktive Körper den realen Körpern entgegengesetzt, fundiert er den Repräsentationsbegriff realistisch, also referenztheoretisch. „Das Bild als Double des Körpers gibt dem verschwundenen Körper ein Medium zurück, in dem er gegenwärtig bleiben kann. Das Bild trägt also eine Referenz auf Abwesenheit in sich“25. Es beziehe sich auf einen realen Körper, der (hier, jetzt) abwesend ist, aber „durch ein Bild als anwesend halluziniert“26 und mit dem „Schein von Anwesenheit eines verstorbenen Ahnen“ ausgestattet werde. Die auffällige Wortwahl, die das Bild in die Nachbarschaft zur Fata Morgana, zum Suchtoder zum Traumbild bringt (wie übrigens auch ein Inszenierungsbegriff, der Momente von Künstlichkeit und Illusionserzeugung konnotiert), suggeriert die Vorstellung, die geradezu endemische Täuschung durch Bilder bleibe wenigstens insofern begrenzbar, als einige Bilder Repräsentationen von realen Körpern sind, die eine vom Bild unabhängige Ontologie objektiv ausweisen kann. Offenbar kann eine Deutung von Repräsentation, die diese als Bezug auf externe Gegenstände denkt, Präsenz und Repräsentation in einer Weise entgegensetzen, die den Bildern eine immanente Zeitlichkeit nicht zukommen lassen kann. Was in den Bildern als Präsenz erscheint, bleibt in dieser Bildtheorie bloßer Schein. Für unseren Kontext ist es bemerkenswert, dass der trotz der genannten Kritik erneuerte referenztheoretische Repräsentationsbegriff hier eine Zeitlichkeit der Bilder dementiert. Doch muss das für jede Verwendung des Repräsentationsbegriffs gelten? 24 M. Schulz, Ordnungen der Bilder. Eine Einführung in die Bildwissenschaft, München 2009, 182. 25 A. a. O. 185. 26 A. a. O. 183.
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IV. Bemühungen um eine Rehabilitierung eines weiten Repräsentationsbegriffs sind auch deshalb sinnvoll, weil sich ohne ihn Herrscherbilder und deren politische Funktion nur unzulänglich analysieren ließen. Solche Porträts sind nicht an der Abbildung des herrschenden Individuums orientiert, sondern an einer Inszenierung von Souveränität, die sich im Leib des Herrschers, aber auch in seinem Bild repräsentiert.27 In Kombination von Bild- und Theatertechniken bringt die Darstellung Macht zur Erscheinung, die sich sichert, indem sie sich zeigt – dem Phänomen, das in einer Mediengesellschaft nicht überraschen sollte, in der sparsame öffentliche Auftritte zu Spekulationen über gesundheitliche und politische Krisen führen, während die Lage sich konsolidiert, sobald sich der Machthaber wieder zeigt. Die Vorgänge mögen in anderen Hinsichten unvergleichbar sein, im Blick auf die Einbettung der Macht in Repräsentationsformen ist die Analogie zwischen mittelalterlicher Politischer Theologie und aktueller medialisierter Macht nicht von der Hand zu weisen. Es gab für die traditionelle Herrscherrepräsentation typische Bildmotive wie den Triumphbogen, den Thron, die Körperhaltung (Sitzen oder Stehen), Insignien der Macht, aber auch der Stellung im Bildraum28 (im Gegenüber zum Hof, zu Volk oder Parlament), die im Absolutismus zurücktreten können zugunsten der Darstellung des Herrschers als eines für sich existierenden Subjekts im ansonsten leeren Bildraum. Das ändert aber nichts daran, dass es sich auch dann um Erscheinungsbilder handelt, die manifestieren, was sie befestigen: Epiphanien von Macht. Noch Jörg Immendorffs Kanzlerporträt spielt ironisch mit dieser Bildtradition, wenn er Gerhard Schröder auf dem Goldgrund präsentiert, der einst Weltherrschern Glanz verlieh. Die Analyse solcher Bilder kommt ohne den Begriff der Repräsentation wohl kaum aus, benutzt ihn freilich nicht als erkenntnis- oder zeichentheoretischen Begriff der Abbildung von Wirklichkeit, sondern als Indikator einer Stellvertretung, die zum Phänomen der Macht bzw. dem der Herrschaft selbst gehört (vgl. dazu unten Abschnitt VI). Die Darstellung vergegenwärtigt die Macht, die sie repräsentiert.
27 Das ist vor dem Hintergrund von E. H. Kantorowicz, The King’s Two Bodies. A Study in Mediaeval Political Theology, Princeton 1957, ein zentrales Thema der Arbeiten Horst Bredekamps; vgl. z. B. H. Bredekamp, Thomas Hobbes. Der Leviathan. Das Urbild des modernen Staates und seine Gegenbilder: 1651 – 2001, Berlin 42012. 28 Vgl. C. Blümle, Souveränität im Bild – Anthonis van Dycks Reiterporträt Karls I., in: Visuelle Argumentationen. Die Mysterien der Repräsentation und die Berechenbarkeit der Welt, hg. v. H. Bredekamp / P. Schneider, München 2006, 79 – 102.
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V. Doch es gibt auch noch andere Bilder, für die Repräsentation konstitutiv ist, Bilder, die mit ihren Mitteln das Paradigma der Repräsentation sichtbar machen und dessen Krisen bearbeiten. Kann die Dekonstruktion von Repräsentation zur Strategie des Bildaufbaus werden, so macht es wenig Sinn, Ikonizität und Repräsentation auseinander zu dividieren. Die Bildinterpretationen Louis Marins zeugen in diesem Sinne für die Unmöglichkeit ihrer schiedlich-friedlichen Trennung. Der Abstand, den Marin vom Paradigma der Repräsentation sucht („Am Anfang war die Repräsentation, und die Welt war Repräsentation, und das ‚Ich denke‘ begleitete alle Repräsentation: dies wird von nun an zum metaphysischen und erkenntnistheoretischen Prolog dessen, was gemeinhin als klassisches Denken bezeichnet wird“29), erzwingt die operative Verwendung des Repräsentationsbegriffs und trägt zugleich zu dessen Neubestimmung bei. Bereits Marins frühe Klee-Interpretation legt „die Infragestellung der Repräsentation“30 im Bild, und also in Form einer „pikturalen Analyse“31 frei. Wäre Kritik des Paradigmas der Repräsentation ausschließlich Sache philosophiehistorischer Aufklärung, so bliebe sie sozusagen ein theoretisches Ereignis in postmodernen Zeiten. Depotenzierung von Repräsentation vollzieht sich aber vor allem in den Brüchen, Irritationen und subversiven Zumutungen, mit denen die Bilder selbst konfrontieren: „Diese Infragestellung der Repräsentation vollendet sich und bietet sich dem Blick dar als Analyse desselben, als das Aufscheinen seiner archaischen, primitiven Elemente. Doch vollzieht sich diese Analyse nur in der und durch die Malerei“32. Marin zeigt das nicht nur am, über Differenzen, Linien, Punkte und Zäsuren gewonnenen, Bildaufbau Klees, der Repräsentationsabbau und ‑abwehr betreibt, sondern vor allem an der ikonischen Inklusion der Schrift als des Repräsentationssystems kat’exochen. Die in den sechsundzwanzig Buchstaben unseres Alphabets angelegten Kombinationsmöglichkeiten erlauben es, die unabzählbare Vielfalt sprachlicher Äußerungen in einem anderen Medium zu repräsentieren, womit sie den im Zeitfluss verklingenden Stimmlauten der Sprache Dauer und situationsunabhängige Reichweite verleihen. In Bildern Klees wie Grünes X links oben, Villa R oder Komposition mit B entstehe demgegenüber eine „Malerei-Schrift“33, die den bildlichen Charak29 L. Marin, Die klassische Darstellung, in: Was heißt „Darstellen“?, hg. v. Chr. L. Hart Nibbrig, Frankfurt a. M. 1994, 375 – 397; 376. 30 L. Marin, Klee oder die Rückkehr zum Ursprung [orig. Klee ou le retour à l’origine. Paris 1970], übers. v. T. Bardoux, in: L. Marin, Texturen des Bildlichen, Werkausgabe, Bd. 6, hg. v. T. Bardoux / M. Heitz, Zürich / Berlin 2006, 45 – 58; 48 – 50. 31 A. a. O. 51. 32 Ebd. 33 A. a. O. 52.
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ter des Schriftzeichens forciere, Hieroglyphe und Buchstabe, Abbildungs- und Repräsentationszeichen aneinander koppele, und die Schriftzeichen als Gliederungsprinzip des Bildes, als Umschlagspunkt der Bildrhythmik gebrauche. Zugleich lasse Klee das diakritische Zeichen ins unbestimmt Bildliche verfließen. Interferenzen zwischen Malen und Schreiben entstehen, die das Gebot eindeutig identifizierbaren Sinns übertreten, jedoch Buchstabe und Geist auf neue Weise ins Verhältnis setzen: Es gibt da Gegenüberstellungen, die von Anfang an das doppelte Spiel des Buchstaben aufscheinen lassen: wörtlicher Signifikant, der als solcher auf der Leinwand [auch diese ist ja textum, gewebt] eingeschrieben ist, und gleichfalls signifikante Form, die jedoch den Sinn in eine andere Richtung als jene der Sprache abweichen lässt, in die Richtung der ‚vielgestaltigen Welt‘, in der sich die Dinge unter dem aufmerksamen Blick des Malers [. . .] darbieten.34
Der Buchstabe in den genannten Bildern Klees ist Signifikat wie Signifikant,35 Zeichen wie Bild, dem Begriff wie der Anschauung gleich nah, so dass Klees Bilder auf Inversion eingespielter theoretischer Unterscheidungen hinauswollen. Nicht die Repräsentation von Gegenständen, sondern die „Transmutation der Erscheinung hin zur Malerei“36 – man könnte im Blick auf andere Bilder Klees auch sagen: eine Transfiguration des Gesehenen in Erinnerung – leistet das Bild. Der vielzitierte Satz Klees: „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar“37 kommentiert den Bruch mit dem Abbildungs- und Repräsentationsbegriff; vollzogen, in Szene gesetzt und herausgearbeitet jedoch wird er in Klees Bildern. Marins Interpretationen lassen sich vor diesem Hintergrund mit der Bemerkung charakterisieren, es interessierten sie am Bild gerade die Grenzen, an die ikonische Darstellungen geraten – handele es sich um das Scheitern des Daedalus, den Absturz seines Sohnes Ikarus zu malen,38 oder die Unerfüllbarkeit des Bildbegehrens, eine Welt zu zeigen, die unserer gleicht, aber doch das Andere zu ihr ist. Was Bilder leisten und was ihnen versagt bleibt, ist gleichermaßen bedeutsam für die Bildproduktion. Um das zu verdeutlichen, konzentriert sich Marins Interpretation auf das Verhältnis von Sagen und Zeigen, Sprache und Bild, Diskurs und Präsentation, auf diskursive Strategien der Bilder und insbesondere auf das Verhältnis von Narrativität und Ikonizität, das in seinen Poussin-Interpretationen zentrale Bedeutung erhält (vor allem in Ausführungen zu Poussins Die Arkadischen Hirten / Et in Arcadia ego [1637 / 38]). 34
A. a. O. 53. Vgl. dazu auch den Beitrag von Gottfried Boehm in diesem Band (S. 39 – 62). 36 Marin, Klee (wie Anm. 30), 53. 37 P. Klee, Schöpferische Konfession [1920]; zit. n. Marin, Klee (wie Anm. 30), 48. 38 L. Marin, Die Malerei zerstören [orig. Détruire la peinture, Paris 1981], übers. v. B. Nessler, Werkausgabe, Bd. 2, hg. v. M. Heitz / B. Nessler, Zürich / Berlin 2003, 19 – 28; 21 f. 35
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Die klassische Explikation des Repräsentationsbegriffs entnimmt Marin der cartesisch geprägten Logik von Port-Royal, die Repräsentation von der Referenz, vom Bezug auf eine Sache aus versteht, welche durch Repräsentation für ein Bewusstsein anwesend und gegeben sein kann: „Durch die Repräsentation gewinnt die Sache als Präsenz in Form der Idee Zugang zum Geist“39. Ein Gedanke ist nicht die Sache selbst, aber er tritt an deren Stelle, insofern er sie repräsentiert und vor allem insofern er Operationen mit Repräsentationen erlaubt, d. h. Urteile ermöglicht. Wo Urteile gefällt werden, indem einer gegebenen Vorstellung eine andere affirmativ zugeordnet wird, bedient sich die Sprache des Präsens: Sie bezieht eine nominale Repräsentation (eine Gegenstandsvorstellung) aufs Sein, indem sie diese mit einer anderen Vorstellung (einem Begriff) verknüpft (und etwa urteilt: ‚Der Schnee ist sulzig‘). In einem solchen Urteil sei „das Präsens die Zeit der Äußerung“ und setze „die Gegenwart eines Sprechers und eines Hörers voraus“40. Kopräsenz ermöglicht eine elementare Form der Kommunikation und erlaubt es, den entsprechenden Satz in die Phrase zu transformieren: ‚Ich behaupte hiermit – und bin bereit, (Dir) die Gründe für meine Behauptung darzulegen –, dass der Schnee sulzig ist‘. An der Umformulierung meldet sich ein Anspruch auf Allgemeinheit, der sich von der konkreten Kommunikation zwischen Sprecher und Hörer ablöst. Bestätigungsformeln wie: ‚Es ist so, wie ich sage‘, ‚Es ist so, wie es das Urteil darstellt‘, ‚Es ist so: der Schnee ist sulzig‘ formulieren für eine nicht abzählbare Menge von Subjekten, die in den Behauptungs- und Vergewisserungsprozess eintreten können. Damit öffnet sich die vorausgesetzte Präsenz: Auch abwesende Kommunikationsteilnehmer sind mitgemeint, die Fokussierung des Urteils auf einen Jetztzeitpunkt (‚Jetzt ist die Nacht‘) streift das Momentane ab. Im affirmativen Urteil (‚S ist p‘) verschwinden insofern die konkreten Sprecher und Hörer zugunsten von Sätzen, die einem System angehören, das als Repräsentation aller Sachverhalte ein getreues Bild der Welt anfertigt. Dieses Paradigma von Repräsentation kann auch auf Bereiche und Gegenstände erweitert werden und Anwendung finden, die selbst wesentlich zeitlich sind, also nicht nur ein Dauerndes oder ein zu einem bestimmten Zeitpunkt Seiendes darstellen. Auch das Vorübergehende, Einmalige, Momentane oder das Geschichtliche könnten repräsentiert werden. Erzählungen beispielsweise stellen Vorgänge der Vergangenheit dar, mit einer Tendenz zur Speicherung durch Verschriftlichung: [I]m Gegensatz zur Stimme, die immer im Präsens ist, wäre die Schrift immer in der Vergangenheit, ein paradoxer Gedanke, denn ich kann ebenso das Umgekehrte sagen: die flüchtige Verschwommenheit der Stimme zwingt sie in ein ewiges ‚schon nicht mehr‘, [. . .] wohingegen die Schrift durch ihre Spuren immer in der Gegenwart ist.41 39
A. a. O. 33. A. a. O. 37. 41 A. a. O. 41. 40
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Die Schrift erzeugt eine zeitliche Spannung: Im Unterschied zur Stimme, die in und mit ihrer Präsenz vergeht, ist Schrift wesentlich Repräsentation des Vergangenen. Diskursive Medien operieren also im Verbund mit spezifischen Zeitdimensionen. Sprechen vollzieht sich in der Gegenwart und als Gegenwart, die Schrift erlaubt es, auch die Vergangenheit in einen Modus der Präsenz zu überführen. Im Blick auf die neuen Medien müsste man diese Unterscheidung weiter ausdifferenzieren, doch Marin interessiert hier vor allem eins: Wie steht es mit der Schrift im Bild? Poussins Bild Die Arkadischen Hirten (siehe Abb. 1; siehe in Farbe S. 203) greift die zeitliche Spannung zwischen Stimme und Schrift auf. Es präsentiert die Inschrift eines Grabmals als gegenwärtige Anrede, die von den Lesenden freilich erst entziffert werden muss. Da es in diesem Bild um Gesten des Zeigens, um Verweisung, um das Grabmal (sema, sème), um Schriftzeichen (semeia) geht, interpretiert Marin es als „eine Repräsentation des für die Geschichte charakteristischen Repräsentationsprozesses“, als „Metarepräsentation“42, aber auch als „Dekonstruktion“ von Repräsentation.43 Die semiotische Konstellation bestimmt das Bild, bleibt aber mit dessen ursprünglicher Funktion verknüpft, Medium gegen den Tod zu sein, den Verstorbenen kultisch präsent zu halten. Das macht Poussins Die Arkadischen Hirten und ihr et in arcadia ego im Spannungsfeld von diskursiver und ikonischer Repräsentation so interessant. Die Vergegenwärtigung der Mitteilung des Verstorbenen aktualisiert sich als Erinnerung an den eigenen Tod, den Tod des Betrachters. Das verdeutlicht die Zeigegeste des einen Hirten und die Blicke der beiden anderen Figuren: Sie richten sich auf den Knienden, der mit seinem Finger die schwer lesbare Schrift auf dem Grabmal ertastet. Was er liest, repräsentiert die Gemeinsamkeit des Todesschicksals. Der Text als im Medium der Schrift gespeicherte Äußerung des Senders erweist seine Gültigkeit auch für den diese Botschaft decodierenden Empfänger: Was die Schrift das verstorbene Ich sagen lässt, trifft auch auf den Lesenden zu. Marin beschreibt dies als Verschränkung von Zeitdimensionen im und durch das Bild: In genau diesem Augenblick des Spiels von Blicken und Gesten mit pluraler Richtung entfaltet sich so etwas wie eine ursprüngliche Zeit. Der niederkniende Mann ist, weil jetzt auf ihn gezeigt wird, durch diejenige zu sehen, die der Hirt ihm zeigt: Zukunft. Indem der Hirte auf die Frau neben sich schaut, hört er auf, ihn zu sehen, aber er hat ihn bereits gesehen, denn er zeigt ihn ihr: Vergangenheit. Zukunft, Vergangenheit in der Gegenwart, die Präsenz, der gegenwärtige Augenblick der zeigenden Geste.44
Das an den Toten erinnernde Zeichen (Grabmal) wird zur Ankündigung eines Todes im Spiel der Blicke und Verweisungen, in denen schließlich auch der 42
A. a. O. 43. Ebd. Vgl. auch a. a. O. 133. 44 A. a. O. 57. 43
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Abb. 1: N. Poussin, Le Bergers d’Arcadie [1637 / 38] (Quelle: http://zeno.org – Contumax Gmbh & Co. KG).
Betrachter des Bildes sich wiedererkennen soll. Gedeutet wird auf die Schrift und zugleich auf den Lesenden. Während die Zeigegesten der beiden mittleren Figuren des Bildes Referenz sozusagen anschaulich machen, fallen die Blicke der beiden äußeren Figuren auf den, der zeigend gezeigt wird – was Marin wiederum als Zeitdimension des Bildes interpretiert: Beide schauen nur auf ihn. Sie sehen nicht den anderen, der zeigt: noch nicht, schon nicht mehr. Ein Schwebezustand der Zeit, ein Augenblick, der zugleich dazwischen ist und darum herum, da die Zeit, die Dauer, in ihrem Aufscheinen erfaßt wird.45
Poussins Bild thematisiert Kommunikation, ihre Medien (Gesten, Schrift, Verkörperung), ihren Gehalt (eine Botschaft, die verstanden sein will und darum entziffert werden muss), und es realisiert dies durch die Richtung seines Aufbaus, wird das Bild doch von links nach rechts, also in Leserichtung betrachtet. Eine Schrift wird auf ihren Sinn hin befragt, und dieser wird insoweit erfasst, als er zur Selbsterkenntnis des lesenden Subjekts wie des Betrachters gerät: et ego.
45
Ebd.
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Im Zentrum dieses Bildes jedoch herrscht Abwesenheit: Der, von dem die Botschaft kommt, lebt nicht mehr, bleibt also der Kommunikation entzogen. Gerade so aber ermöglicht er sie.46 Der Text bleibt unvollendet, er endet mit einem leeren Signifikanten.47 Das Bild präsentiert den Text im Spiel der Schatten auf der Wand und aufgrund einer leichten Versetzung der Bildmitte – als sei das Bild in seinem Zentrum leergeräumt. Der ausgesparte Zwischenraum zwischen den beiden Gesten erzeugt genau diejenige Selbstreferentialität, die das Bild das ‚sagen‘ lässt, was es zeigt. Ein in seine Interpretation eingestelltes ausführliches, im Folgenden aber stark verkürztes Zitat aus Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung führt Marin auf die Zeit im Bild zurück. Das Zitat plädiert für die Untrennbarkeit der Ordnungen des Neben- und des Nacheinanders und unterminiert so die Lessingsche Unterscheidung der Künste. „Die Wahrnehmung gibt mir ein ‚Präsenzfeld‘ im weitesten Sinne, das sich nach zwei Dimensionen erstreckt: der Dimension des Hier-Dort und der Dimension Vergangenheit-GegenwartZukunft. Diese ist es, die jene verständlich macht“48. Ein solches Wahrnehmungsfeld kann gestaffelt sein, also z. B. einen Gegenstand als entfernt darbieten. Zu seiner Gegebenheitsweise aber gehört auch dann Präsenz, wie ja auch umgekehrt Koexistenz eine zeitliche Charakterisierung bleibt. Insofern überlappen sich Raum- und Zeitdimensionen in der Wahrnehmung. Eine Abstandswahrnehmung beschreibt Merleau-Ponty in analoger Weise wie Husserl die Verschränkung von Retention und Protention, nämlich als ein kontinuierliches Noch-inne-Haben im Weiterschreiten. So wie deren Verschränkung eine Bedingung von Intentionalität ist, sei die Gegebenheitsweise des Feldes eine Bedingung der Wahrnehmung. Es gebe für das Bewusstsein „kein Problem des Abstandes [. . .], der Abstand ist unmittelbar sichtbar, wenn wir nur die lebendige Gegenwart wiederzufinden vermögen, in der er sich konstituiert“49. Die Abstandswahrnehmung beruht nicht auf der Vermessung des objektiven Raumes, sondern auf einer primären Räumlichkeit des (leiblichen) Bewusstseins. Abstandswahrnehmung habe es nur „als ein Sein in die Ferne, welches das Ferne dort antrifft, wo es erscheint“50. Die Wahrnehmung ist gerade als präsentische in Abstand, Distanz und Ferne gestaffelt. Zur Eigenart eines solchen Feldes gehört es folglich, dass nichts als präsent gesetzt wird, das nicht zugleich auch als abständig erscheint. Das aber besagt: Die Gegenwart ist kein Schnittpunkt, sondern ihrerseits ein Feld, auf dem zu jedem ‚Jetzt‘ der Abstand gehört, durch den es sich als ‚Jetzt nicht mehr‘ / ‚Jetzt noch nicht‘ erweist. Die Gegenwart dehnt 46
Vgl. a. a. O. 61 f. Vgl. a. a. O. 90. 48 M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung [1966], zit. n. Marin (wie Anm. 38), 89. 49 M. Merleau-Ponty, (wie Anm. 48), zit. n. Marin (a. a. O. 90). 50 Ebd. 47
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sich,51 erstreckt sich, weil Präsenz und Distanz verflochten sind: „Le Présent ne se manifeste que d’être ouvert d’une distance et d’un écart“52. Marin rekapituliert diese Beschreibung mit einer Formel der aristotelischen Physik: „Da wo das Jetzt ist, da ist auch der Abstand (apostasis) des Jetzt“53. Eine dialektische Deutung würde Identität und Nicht-Identität des Jetzt als Selbstabstoßung, als Übergang des (Zeit‑)Punktes in eine lineare Erstreckung beschreiben bzw. mit einer solchen Negativitätsfigur auf den Begriff bringen.54 Phänomenologisch bemerkenswert ist die These der Ursprünglichkeit und Unhintergehbarkeit von Distanz. Gehört zur Präsenzerfahrung ein Abstand gegenüber sich selbst, sozusagen Diachronie, konstitutiv hinzu, so hat dies Konsequenzen für die Rede von der Augenblickserfahrung im Bild bzw. für die Behauptung, Simultaneität sei die Grundstruktur ikonischer Repräsentation. Der Gegensatz von Sukzession und Koexistenz verliert seine Selbstverständlichkeit und muss sozusagen zugunsten der Einheit des auf diese Weise Unterschiedenen beweglicher gedacht werden. Nur dann werden sinnliche Wahrnehmung und Bilderfahrung angemessen beschrieben. Aufmerksamkeit verdient auch die Verwendung der Begriffe Präsenz und Repräsentation: Nur aufgrund des Übergangs in Repräsentation (bzw. nur nach Maßgabe der Einheit von Präsenz und Repräsentation) kommt es zur Erfahrung dichter Gegenwart. Wer das negative Moment ursprünglicher Distanz nicht dulde, verfalle der Simulation, der Verdopplung, und ende beim Simulacrum.55 Als markanter Fall einer Zeit im Bild gilt Marin ein romanisches Fresko (Das Martyrium des St. Blasius, Chapelle des Moines in Berzé-La-Ville), in dem die Enthauptung des Heiligen in der Gegenläufigkeit von zum tödlichen Schlag ausholendem Schwert einerseits und bereits abgeschlagenem Kopf andererseits dargestellt wird: „Der romanische Maler trennt im Raum der narrativen Szene den der Enthauptung vorausgehenden Augenblick von dem, der ihr nachfolgt. Er zerlegt die augenblickliche zeitliche Einheit, um ‚zwei Aspekte‘ von ihr figu51 Vgl. M. Moxter, Gegenwart, die sich nicht dehnt. Eine kritische Erinnerung an Bultmanns Zeitverständnis, in: Religion und Gestaltung der Zeit, hg. v. D. Georgi / H.‑G. Heimbrock / Ders., Kampen 1994, 108 – 122. 52 L. Marin, Détruire la Peinture, Paris (1977) 21997, 79. Die deutsche Übersetzung spricht statt von Manifestation von Offenbarung, was aufgrund der theologischen Konnotationen unglücklich ist (vgl. Ders. [wie Anm. 38], 90). 53 Marin, Malerei zerstören (wie Anm. 38), 90; vgl. das französische Original (wie Anm. 52), 79: „Là où est le maintenant; là aussi est l écartement (apostasis) du maintenant“. Die deutsche Ausgabe belegt das Zitat aus Aristoteles, Physik 220a. 54 Nicht nur im direkten Umkreis der Hegelschule, sondern auch bei Hermann Cohen finden sich entsprechende Überlegungen. Marin stellt selbst die Beziehung zur internen Negativität der sinnlichen Gewissheit her, wie sie Hegel als Ausgangspunkt der Phänomenologie des Geistes nutzt: vgl. G. W. F. Hegel, System der Wissenschaft, Erster Teil: Die Phänomenologie des Geistes [1807], Werke, Bd. 3, hg. v. E. Moldenhauer / K. M. Michel, Frankfurt a. M. 1970, 99. 55 Vgl. die Caravaggio-Kritik: Marin, Malerei zerstören (wie Anm. 38), 137: Als Alternative zur Dekonstruktion von Repräsentation bleibe nur die Zerstörung der Malerei.
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rativ darzustellen“56. Der Doppelblick entstehe nicht aus einer Unbedarftheit des Künstlers, als wäre die Darstellungstechnik dem Sujet noch nicht gewachsen, sondern entspreche der analysierten Logik des Jetzt als Abstand gegenüber sich selbst: Es gäbe überhaupt keinen Zeitfluss, wäre nicht jeder Jetztzeitpunkt vom anderen verschieden; aber die Zeit fließt, indem immer Jetzt ist. Kontinuität und Diskretion sind gleichursprünglich. Auch Caravaggios Haupt der Medusa [1597 / 98] inszeniert den tödlichen Schlag mit dem Schwert als Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: als noch lebendiger, aber schon nicht mehr tödlicher Blick der Gorgone, als infinitesimale Verschränkung eines Vorher / Nachher-Moments, eines Gesichts, das im Tod erstarrt, aber doch noch Ausdruck des Schreckens ist: Das bedeutet, daß es in derselben [. . .] Gegenwart zwei Gegenwarten gibt: eine Gegenwart, die ein ‚bis jetzt‘ ist, wo die Gegenwart eine Geschichte abschließt, und eine Gegenwart, die etwas ‚schlagartiges‘, ein ‚plötzliches‘ ist, das sich infinitesimal von der ersten Gegenwart abtrennt und die der Augenblick ist. Im selben Moment ‚weder dies noch das‘ und zugleich ‚sowohl dies als das‘. Was hier repräsentiert wird, ist der Abstand, worauf sich die Repräsentation ‚gründet‘.57
Zur ikonischen Repräsentation gehört es, so darf man diese Behauptung zusammenfassen, dass jede Gegenwart, jede Präsenz, sich zersetzt, indem sie Distanz einräumt. Das gilt nicht nur als Basisphänomen einer Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins in der Verschränkung von Retention und Protention, auch nicht nur als Einsicht einer Semiotik, die einen Abstand (Nicht-Identität) zwischen Zeichen und Bezeichnetem voraussetzt, um deren Beziehung zu gründen, sondern das zeigt sich auch am und im Bild. Der Begriff der ikonischen Repräsentation rechtfertigt sich aus dieser Nachbarschaft.
VI. Den Begriff der ikonischen Repräsentation übernimmt der Untertitel dieses Bandes also von Louis Marin. Die Einleitung seines letzten Buches Von den Mächten des Bildes führt den Begriff mit den folgenden Bemerkungen ein: Was heißt repräsentieren anderes als von neuem (in der Modalität der Zeit) oder an Stelle von (in der Modalität des Raumes) präsentieren? Das Präfix re- führt in den Terminus den Substitutionswert ein. Etwas, das präsent war und es nicht mehr ist, wird jetzt re-präsentiert. An der Stelle von etwas, das anderswo präsent ist, wird hier ein Gegebenes präsent: Bild? Am Ort der Repräsentation gibt es also ein in der Zeit oder im Raum Abwesendes oder vielmehr ein Anderes, und es vollzieht sich eine Substitution dieses Anderen durch ein noch Anderes an seiner statt.58 56
A. a. O. 190. A. a. O. 202. 58 Marin, Mächten des Bildes (wie Anm. 4), 307. 57
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Festzuhalten ist diejenige Dimension des Begriffs, die bereits als Stellvertretung umschrieben wurde und etwa im ‚Repräsentanten‘ eines Staates oder im Vertreter einer Firma den maßgeblichen Sprecher, das mit der Entscheidungsbefugnis ausgestattete Subjekt oder den autorisierten Abgeordneten zu erkennen erlaubt.59 Delegation, Beauftragung zur Stellvertretung und schließlich auch Ämter sind Mittel, Funktionsfähigkeit zu sichern, wo mit Abwesenheit gerechnet werden muss: Repräsentative Demokratie beruht auf einem alibi der Meisten bzw. auf der schlichten Unmöglichkeit, alle Bürgerinnen und Bürger kopräsent zu versammeln. Signifikant ist auch die Vorstellung, der Staat sei in einem obersten Amt repräsentiert, dem darum besondere Befugnisse in der Verfassung zugeschrieben werden. Repräsentation ist in allen diesen Fällen ein Mittel, Anwesenheit unter der Bedingung konstitutiver Abwesenheit zu stiften, mit der, sei es aus kontingenten, sei es aus prinzipiellen Gründen, zu rechnen ist. Der auf diese Weise eingeführte Repräsentationsbegriff impliziert ein Zeitverhältnis. Repräsentation geht mit einem konstitutiven Entzug einher: eine Vergangenheit, die jetzt nicht mehr gegeben ist, eine Position, die nicht von allen Subjekten zugleich besetzt werden kann, ein Anderes, das in einer gegebenen Ordnung nicht vorkommt, sind charakteristische Fälle. In keinem von ihnen kommt es auf Ähnlichkeit an. Analog beruht auch die Legitimität des Begriffs ikonischer Repräsentation auf Eigenschaften des Bildes, die im Anschluss an Belting und Boehm als Verschränkung von Abwesenheit und Anwesenheit zu beschreiben und nicht auf das Syndrom ‚Vorstellung / Abbildung‘ zurückzuführen sind. Die Kopplung von Präsenz und Entzug, also die Zeit der Bilder, begründet den Begriff ikonischer Repräsentation.
VII. Die Spannung zwischen Präsenz und Repräsentation als Verschränkung von Anwesenheit und Entzug kennzeichnet die Bilder und den Gebrauch, den wir von ihnen machen. Das gilt religionsgeschichtlich, insofern ein aufgerichteter Stein, ein Altar, eine Skulptur oder ein Tempel die Nähe eines Gottes in dem Sinne des Wortes repräsentieren, dass sie dessen Herrschaftsbereich markieren und seine Präsenz manifestieren (inkarnieren), ohne dass unterstellt werden müsste, solche gestalteten Formen beruhten auf einem Ähnlichkeitsverhältnis zu diesem Gott oder erlaubten es, seiner Gegenwart habhaft zu werden. Oft stellen sie nur den Fußschemel oder die unterste Stufe seines Thrones dar, über dem sich der Gott ‚erhebt‘, gegenüber dem er also als ‚erhaben‘ gilt. Von solchen Tempeln, Standbildern oder Ikonen kann gesagt werden, dass sie „gegenwärtig 59 Vgl. H. Hofmann, Repräsentation. Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis ins 19. Jahrhundert (Schriften zur Verfassungsgeschichte 22), Berlin 1974.
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[. . .] machen, was nicht zu sehen ist“60. Dies ist nicht immer das Unsichtbare, sondern oft das Verborgene. Schon in den altorientalischen Kulten wird die Anwesenheit Gottes im Bild raffinierter (will heißen: unterscheidungssensibler) gedacht als im Horizont von Bildzauber und unmittelbarer Präsenz. Die Differenz, die Nicht-Identität von Gott und Bild konnte auch in ihnen mitbezeichnet werden. Das Götterbild markierte keine bloße Positivität, sondern die Anwesenheit eines in anderer Hinsicht Abwesenden: Es stand sozusagen an und auf der Grenze zwischen Anwesendem und Abwesendem, zwischen Gabe und Entzug, zwischen Präsenz und Repräsentation.61 Mag sich die Arbeit der Kunst (nicht erst seit der Moderne) darin bewähren, sich „nicht auf das Unsichtbare und auf das Ungestalte hin ablenken, sondern auf den Weg der reinen sichtbaren Präsenz und der sich selbst allein rein bejahenden Form bringen“62 zu lassen, so schließt das nicht aus, dass Bilder Grenzen des Sichtbaren zeigen. Vermutlich hängt die Funktion der Bilder zur ‚Todesbewältigung‘ mit dieser Verschränkung zwischen Abwesenheit und Anwesenheit zusammen.63 Auch die Leiche ist Bild des (oder der) nicht mehr Anwesenden, ein Grenzphänomen im Übergang von Leben zu Tod, gegenüber dem die Bewahrung des hinfälligen Lebens in den Bildern und Bildpraktiken gesucht wird (bis hin zu Monets, gegen die einsetzende Leichenstarre gemaltes, Bild seiner Frau Camille auf dem Totenbett). Das Bild substituiert, was sich mit der Zeit entzieht und was im Tode vergeht, und macht durch seine Form sinnlicher Vergegenwärtigung Abwesenheit erträglich. Freilich kann diese Leistung des Bildes, Blanchot zufolge, nicht so beschrieben werden, wie eine klassische Ästhetik es wollte: als unmittelbare Verewigung, mit der in der Kunst der griechischen Blütezeit das Lächeln, der Tanz oder der Kampf ganz der Zeit enthoben und ganz in die Unvergänglichkeit versetzt scheinen – als könne die schöne Form, als könne die Marmorstatue der Vergänglichkeit trotzen. Ein Glaube an den „Schutz vor der Zeit, an die absolute Festigkeit einer bewahrten Gegenwart“64 bleibt für Blanchot ein Mythos, der mit einer bloß unmittelbaren Negation der Zeit zu entkommen sucht. Doch selbst der Marmor sei so beständig nicht, seine Farbe verwittere wie ein Fresko allmählich verblasse, die Skulptur zerfalle oder ein Ölgemälde nachdunkele. Das Verhältnis von Zeit und Bild ist deshalb komplexer als es die Rede von der Zeitlosigkeit der schönen Form oder gar von der Ewigkeit des Bildes wahrhaben 60
Marin, Malerei zerstören (wie Anm. 38), 307. Vgl. F. Hartenstein / M. Moxter, Hermeneutik des Bilderverbots. Exegetische und systematisch-theologische Annäherungen (Forum Theologische Literaturzeitung 26), Leipzig 2016, 267 – 286. 62 M. Blanchot, Museumskrankheit. Das Museum, die Kunst und die Zeit [orig. Le musée, l’art et le temps, Critique 43 / 44 (1950 / 51)], Köln 2007, 30. 63 Wie Blanchot, Malraux interpretierend, darlegt; vgl. a. a. O. 40. 64 A. a. O. 51. 61
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will – und Abwesenheit ist bildtheoretischer wichtiger als die Tradition dachte und es Lessings klare Unterscheidung gestattete. Um das zu verdeutlichen, sei Blanchots Gedankengang noch einen Moment gefolgt. Blanchot kehrt die Perspektive des traditionellen Bildbegriffs um. Nicht einmal der Versuch, das Bild über Ähnlichkeit zu definieren, könne in Abrede stellen, dass Ähnlichkeit allererst durch das Bild bzw. allererst in ihm gegeben sei. Ähnlichkeit gebe es dank der Bilder und nicht unabhängig von ihnen.65 Ein Porträt setze Ähnlichkeit ins Werk, es manifestiere diese, indem es ein Gesicht abwesend-anwesend sein lasse. ‚Ähnlichkeit‘ erscheine insofern stets von einer Abwesenheit her. Das Porträt zeige ein Gesicht in einer Distanz und Differenz, die dem Blick von Angesicht zu Angesicht fehlen. Dieser dialektischen Beschreibung des Bildes entspricht die gleichsam anthropologische oder subjektivitätstheoretische These, dass der Mensch genau deshalb Bilder ‚brauche‘ und ‚gebrauche‘, weil er selbst eine innere Beziehung zur Abwesenheit und Distanz bzw. zur Nichtidentität habe. Mit Sartre gesprochen: Als Für-sich-Sein, das Identität begehrt, dem aber die Solidität des Ansichseins unerreichbar bleibt, hat das Bewusstsein ein wesentliches Verhältnis zu ‚Negatitäten‘, mithin zum Negativen und also zum Bild. Gleichwohl handelt es sich um Für-sich-Sein, um Sein und Seinsbezug, weshalb die Analyse des Bewusstseins überhaupt erst zum Thema einer phänomenologischen Ontologie wird. Entsprechend darf vom Bild gesagt werden, dass es seine konstitutive Beziehung zur Abwesenheit im Modus des Sichtbaren ‚realisiert‘. Es zeigt und macht sichtbar, verdeckt aber dadurch zugleich, was nicht gesehen werden kann. Im Blick auf die Sinnlichkeit, in der das Bild erscheint, heißt es deshalb: Die Kunst kann „der Darstellung des Scheins nicht entbehren. Warum? Aus so manchem Grund (der offensichtlichste Grund ist der, daß sie nach der Welt strebt: Insofern die Kunst gemeinsame Sache mit dem Nichts und mit der Abwesenheit macht, ist sie ein Fluch, der durch eine große humanistische Aktivität kompensiert werden muß), und aus diesem hier, der nicht weniger dringend ist: Weil das Bild, wenn es repräsentierend wird, die lebendigste Idee einer Präsenz gibt, die sich scheinbar, dem Schmerz des Werdens entzogen, zu wiederholen vermag“66.
An die Stelle der metaphysischen Kategorien der Zeitlosigkeit bzw. der Ewigkeit setzt Blanchot ein Verhältnis von Repräsentation und Präsenz. Die Darstellung erlaubt Wiederholung, also eine zeitliche Bewegung (ein Werden) ohne den ‚Schmerz des Werdens‘ – und ist insofern etwas anderes als die Form und Idee ewiger Dauer. Aber der ästhetische Schein der Zeitenthobenheit gehört gleichwohl zum Bild und vermittelt sich aufgrund seiner Kompetenz, Präsenz zu stiften oder zu verdichten. Das Bild präsentiert, was es zeigt, im Doppelspiel von Repräsentation und Präsenz. Blanchot spricht von „eine[r] Zeit, die die 65
An der Familienähnlichkeit dürfte sich diese Behauptung freilich als zu stark erweisen. Blanchot, Museumskrankheit (wie Anm. 62), 48 f.
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Arbeit der Formen und das Schicksal der Bilder ist“67. Die Zeit der Bilder wäre, so gedacht, ein Titel, der stricto sensu als genetivus subiectivus zu lesen ist, erst sekundär und beiherspielend dann auch als genetivus obiectivus.
VIII. Unter dem Titel Ikonische Prägnanz knüpft Dirk Westerkamp an Lessings Unterscheidung zwischen Raum- und Zeitkünsten an, variiert diese aber zugunsten einer genuinen Zeitlichkeit des Bildes. Demnach muss die nicht in Abrede zu stellende Affinität zwischen Bild und Raum, etwa die normalerweise anzutreffende Flächigkeit des Bildträgers bzw. das Nebeneinander von Farben oder Formen, nicht notwendigerweise als Abständigkeit des Bildes gegenüber der Zeit interpretiert oder gar auf das Konto der Zeitlosigkeit gebucht werden. Zur ikonischen Form gehört im Gegenteil eine gesteigerte und verdichtete Zeit: Was das Bild zeigt, zeige es stets ‚jetzt‘, stets im Modus gegenwärtiger Wahrnehmung, so dass es sozusagen auf Präsenz gestimmt ist. (Die Dehnung der Rezeptionszeit, die etwa Bilder Pollocks oder Kippenbergers dem Betrachter abfordern, oder die Straßenbilder chinesischer Wassermaler, die in, mit und unter ihrer Fertigstellung von der Sonne bereits weggetrocknet werden, müssen nicht als Gegenbeispiele aufgeführt werden, denn auch in ihrem Fall umfasst der Akt des ‚Zeigens‘ sowohl ‚Sichtbarmachen‘ wie ‚Präsentieren‘.) Zu der dem Bild als visuellem Medium eigentümlichen Präsenz tritt eine zweite Form der Präsenz, nämlich die der bildlichen Darstellung von Handlungen. Als Lessing den Bildern die Darstellung von Körpern, der Erzählung aber die Darstellung von Handlungen zuordnete, leitete ihn, wie schon oben erwähnt, die Überzeugung, die mit Abfolgesequenzen und Sukzessionen imprägnierte Handlung sei im Bild aufgrund der es bestimmenden Logik des Nebeneinanders nicht darstellbar. Die unterschiedlichen Phasen eines Handlungsablaufs einfach nebeneinander zu stellen, das Bild also aufgrund einer Addition von Momenten als handlungsgesättigt erscheinen lassen zu wollen, wäre für Lessing der Inbegriff misslingender Bildkunst. Doch schließt diese Auffassung gerade nicht aus, dass ein Bild die unverwechselbare Eigenart und Einmaligkeit einer Handlung darstellen kann, indem es den für diese charakteristischen Moment repräsentiert, isoliert von dessen narrativer Einbettung in ein Davor und Danach. Freilich ist das Paradigma für diese Leistung gerade nicht das willkürliche Herausgreifen eines Moments des Handlungsablaufs, als ob man ein Einzelfoto aus einem Film herausschneiden, eine Momentaufnahme zum Standbild sozusagen einfrieren wollte, sondern eine eigentümliche Prägnanzerzeugung. Ein Bild 67
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kann eine Handlung als solche zeigen, obwohl sie als ganze zu repräsentieren, jenseits seiner Möglichkeiten liegt. Denn der charakteristische Moment der Handlung kann bildlich dargestellt werden, wobei der sukzessive Ablauf auf ein Jetzt reduziert, die Zeit im Werk verknappt und zusammengedrängt wird – was, Westerkamp zufolge, die Eigenart ikonischer Prägnanz ausmacht.68 Was das Bild in Simultaneität zeigt, ist folglich nicht Ausdruck einer Begrenzung aufs Nebeneinander, sondern Implikat seiner Kompetenz zur Steigerung von Sichtbarkeit durch Fokussierung auf den entscheidenden Augenblick.69 Stellt ein Bild eine Handlung dar, so zeigt es nicht irgendeinen Zeitpunkt in der kontinuierlichen Linearität ihrer Phasen, sondern den markanten Wendepunkt oder das Ziel, in dem eine Handlung sich erfüllt. Neben die Präsenzstiftung, die im Bildmedium als solchem liegt, trete also eine das Bildsujet betreffende Bewegungsverdichtung, die Ereignisse einer Handlungskette sozusagen auf den entscheidenden (Zeit‑)Punkt bringt. Prägnanzbildung wird als Verdichtungsprozess beschrieben, womit nicht äußerliche Kompression unter mechanischem Druck gemeint ist (wie eine – einseitig an der Sprache der Kraft orientierte – Freudinterpretation den Begriff der Verdichtung auslegen müsste70). Eher geht es um Leistungen, wie wir sie aus der Dichtung kennen, die unterschiedliche Erfahrungen in einem Wort zusammenzufasst, oder wie sie bei Freud der Traumarbeit angehören, die unbewusste Bedeutungsschichten alltäglichen Erlebens bündelt. Das Bild stiftet eine Einheit der Handlung, auch ohne dass es Handlungsstränge und Handlungsabläufe abbilden könnte. Es kompensiert seinen ‚Mangel‘ durch Fokussierungen und Transformationsleistungen.71 Ikonische Prägnanz entsteht demnach nicht allein aus der von Cassirer pointierten Untrennbarkeit von Sinnlichkeit und Sinn, sondern auch aus der Bündelung von Erscheinungen „in die Simultaneität eines Anblicks“72. Prägnanzbildung wird als Temporalisierung beschrieben – wohl in Nachbarschaft zur Bemerkung Blumenbergs, die Zeit schleife Prägnanzen nicht ab, sondern hole „aus ihnen heraus, ohne dass man hinzufügen dürfte: was darin ist“73. Auch die symbolische Form des Bildes erzielt Prägnanzgewinne, und zwar durch die der Ikonizität eigene Form der
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Vgl. D. Westerkamp, Ikonische Prägnanz, Paderborn 2015, 19; 26; 39; 57. Vgl. a. a. O. 50. 70 Vgl. S. Freud, Die Traumdeutung [1900], Studienausgabe, Bd. 2, hg. v. A. Mitscherlich, Frankfurt a. M. 132015, 284 – 309. Zur Unterscheidung von Kraft und Sinn: vgl. P. Ricoeur, Die Interpretation. Ein Versuch über Freud [orig. De l’interprétation, Paris 1965], Frankfurt a. M. 1969. 71 Der Freudsche Begriff der Verdichtung meint denn auch das Zusammentreffen zahlreicher Gedankenreihen, die sich zu einem neuen Bedeutungsgeflecht verweben. Gerade Überdeterminierung stiftet Sinn (vgl. Freud, Traumdeutung [wie Anm. 70] 286). 72 Westerkamp, Ikonische Prägnanz (wie Anm. 68), 83. 73 H. Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt a. M. 1979, 79. 69
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Präsenzverdichtung. Insofern gehört zu Westerkamps Begriff ikonischer Prägnanz konstitutiv eine innere Beziehung zwischen Bild und Zeit: „Ikonische Prägnanz lebt von den Paradoxien der Zeiterfahrung. Ikonisch prägnante Bilder fixieren einen Moment, den es nicht gibt. Zeitlich ist er eigentlich immer schon vergangen“74. Ob der Begriff der Fixierung und die Verwendung der Eigentlichkeitsformel die Pointe hinreichend präzise vermitteln, mag gefragt werden. Wichtig aber ist Westerkamps Integration der Zeitlichkeit in seinen Leitbegriff und dessen Erläuterung. Was das Bild zeigt, sei mehr und anderes als ein aus dem Zeitstrom abstrahiertes Praesens, das beziehungslos zu Vergangenem und Zukünftigem perenniert. Prägnanz, schon in Leibniz’ ursprünglicher Verwendung zeitlich qualifiziert, entspringt im Bild aus Präsenzintensivierung. Die Verschränkung der Zeit, die vergeht, mit der Zeit, die im Bild gestiftet wird, kann deshalb als zusätzliches Motiv angeführt werden, den Begriff ikonischer Repräsentation nicht aufzugeben. Festzuhalten ist schließlich, dass Westerkamp seine Bemerkungen zu den temporalen Verhältnissen des Bildes mit Überlegungen zum Phänomen der Distanz verbindet.75 Natürlich zählt Blickdistanz, d. h. der rechte Abstand gegenüber dem Bild, seit langem als elementare Bedingung der Bildbetrachtung,76 und neuerdings gelten Spielräume der Interpretation, also Distanz gegenüber der Forderung eindeutigen Sinns, als Chancen der Rezeption,77 für unser Thema einschlägig ist aber erst Westerkamps Hinweis auf die gegenläufige Bewegung von Verweilen vor dem Bild einerseits und Distanznahme gegenüber Ergriffenheit78 andererseits, mit der er die Attraktivität des Bildes von Bildmagie und Bildbann sich lösen sieht. Zu rechnen sei mit einer durch das Bild selbst vermittelten Distanzierungsleistung der Rezeption, die der Rede von einer Bild-Zeit zusätzliches Gewicht verleiht. Oben wurde bereits auf die aristotelische Deutung des Jetzt als einer Distanz gegenüber sich selbst aufmerksam gemacht. Wer sie mit Mitteln der Hegelschen Theorie aufzunehmen, zu beschreiben bzw. das ihr zugrundeliegende Sachproblem denkend zu erfassen suchte, könnte Zeit als Selbstnegation (als „Dasein [. . .] beständigen Sichaufhebens“, als „das an sich selbst Negative“, als „Negation der Negation“ bzw. „sich auf sich beziehende Negation“79) auf unterschiedlichen kategorialen Stufen bestimmen: als „Sein, das, indem es ist, nicht ist, und indem 74
Westerkamp, Ikonische Prägnanz (wie Anm. 68), 32. Vgl. dazu oben Abschnitt V. 76 Vgl. G. Boehm, Repräsentation – Präsentation – Präsenz. Auf den Spuren des homo pictor, in: Homo Pictor (Colloquium Rauricum 7), hg. v. Ders., München / Leipzig 2001, 3 – 13; 9. 77 Vgl. a. a. O. 16 f. 78 Westerkamp, Ikonische Prägnanz (wie Anm. 68), 17. 79 Alle Zitate aus: G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Zweiter Teil: Die Naturphilosophie [1830], Werke, Bd. 10, (§ 257), 48. 75
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es nicht ist, ist“80. So betrachtet charakterisiert Zeit die Verfasstheit des Endlichen im Prozess des permanenten Abrückens vom eben (noch) Gegebenen, der fortgesetzten Distanzierung von jedem Jetztzeitpunkt, der darin entsteht, dass er vergeht, und darin vergeht, dass Zeit sich kontinuiert. Um dieser Doppelbewegung willen nennt Hegel den wechselseitigen Umschlag von Sein ins Nichts auch: „das angeschaute Werden“81 – er hätte auch vom angeschauten Vergehen sprechen können.82 Die Frage nach der Zeit des Bildes wäre folglich ein Anlass, auch nach der Vereinbarkeit der Bildlichkeit mit Selbstnegation bzw. mit der Typik eines negativen Selbstverhältnisses83 zu fragen. Demgegenüber bleiben Dauer, Stillstand oder gar Ewigkeit abgeleitete Bestimmungen der Zeit, auch der des Bildes.84 Westerkamps Begriff der ikonischen Prägnanz schließt aufgrund der Inanspruchnahme solcher Negativität eine affirmative Beantwortung der Frage nach der Zeit des Bildes ein. Der Autor rechnet zur artifiziellen Präsenz85 des Bildes ein „ikonisches Präsens“, das Vergangenes und Zukünftiges in sich „verwandelt“86. Dieses Präsens qualifiziert er mit Begriffen wie Plötzlichkeit und Instantaneität87 wie auch als Erfahrung „ikonischer Evidenz“, in der das jeweilige Ganze des gegebenen Bildes „mit einem Mal“, „uno intuitu“ erfasst werde.88 Die Übergänge, 80 Ebd. Auch für Boehm ist Negation die Grundlage aller bildlichen Erscheinung (G. Boehm, Die Bilderfrage, in: Was ist ein Bild?, hg. v. Ders., München 1994, 325 – 343; 340). 81 Hegel, Naturphilosophie (wie Anm. 79), 48. 82 Kategorial ist ‚Werden‘ zu privilegieren, kommt man doch nur so zu ‚Dasein‘ und ‚Qualität‘, also zu einer Bestimmtheitslogik, wie sie die Wissenschaft der Logik vorführt; vgl. K. Hartmann, Hegels Logik, hg. v. O. Müller, Berlin / New York 1999, 47 f. 83 Nota bene: Für Hegel ist Zeit „abstrakte Subjektivität“, ihr ureigenstes Prinzip ist das des Ich (Hegel, Naturphilosophie [wie Anm. 79], 49), mit Kant gesprochen: innerer Sinn. Auch Blanchot spricht mehrfach von einer Dialektik des Bildes, die er wie folgt aus der Hegelschen Analyse der Zeit gewinnt und als These einer dem Bild eigenen Zeitlichkeit entwickelt: „Das Bild ist stets wesentlich sowohl reine Materie, reine materielle Gegenwärtigkeit als auch reine Abwesenheit, Erleiden dieser Abwesenheit und Wunsch nach dieser Abwesenheit, die auch die Abwesenheit ihrer selbst ist: es ist wesentlich das, was sich widerspricht und was sich zugleich in diesem Widerspruch setzt“ (Blanchot, Museumskrankheit [wie Anm. 62], 50 f.). 84 Vgl. Hegel, Naturphilosophie § 258. Zusatz (wie Anm. 79), 50. 85 Vgl. zu diesem Begriff L. Wiesing, Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes, Frankfurt a. M. 2005. 86 Westerkamp, Ikonische Prägnanz (wie Anm. 68), 18. Der Begriff der Verwandlung legt sich dem Autor mehrfach nahe, was die Frage aufwirft, ob er in Analogie zur Transsubstantiation, zur Transsignifikation oder zur Transfiguration an eine Art Transformation der Zeit denkt, an die Verwandlung des Jetzt des Zeitflusses in die Präsenz bildlicher Ordnung. Im Blick auf Ausführungen Westerkamps zur Ikone, in der sich eine Entzeitlichung der Gegenwart vollziehe und die Ewigkeit sich ‚aufspanne‘ (vgl. a. a. O. 84 f und 94), ist die Frage nicht ohne Anhalt am Text. 87 A. a. O. 22. 88 A. a. O. 26; vgl. zum Problem: M. Moxter, All at once? Simultaneität, Bild, Repräsentation, in: Präsenz im Entzug. Ambivalenzen des Bildes, hg. v. Ph. Stoellger / Th. Klie, Tübingen 2011, 129 – 144.
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die sich vor diesem Hintergrund zwischen Augenblickserfahrung und Ewigkeitsgedanken, auch zwischen der Bilderfahrung und einem Gottesgedanken ergeben, liefern gute Gründe, vom Bild als von einer Grenze des Begriffs zu sprechen. Als solche Grenze dient es, wann immer der diskursiven endlichen Erkenntnis die Intuition, die Anschauung oder die Wesenserfassung kontrastiert werden. Das Bild wird dann als ‚das Andere der Zeit in der Zeit‘ gedacht. Spätestens dann sollte Theologie hellhörig werden, wird der Bildbegriff doch rasch (quasi‑)christologisch, (quasi‑)inkarnationstheologisch, (quasi‑)sakramentstheologisch aufgeladen – oder wie bei Westerkamp (quasi‑)soteriologisch angereichert: „Kraft der Versenkung ins Bild werden wir freilich zuletzt auch uns selbst anders“89. – Das ist vielleicht doch zuviel versprochen bzw. zuviel vom Bild erwartet.
IX. Eine immanente Zeitlichkeit von Bildern wurde in Interpretationen von Bildern Watteaus90, Klees oder Newmans91 erkannt. Sie ließe sich auch als immanente Bewegung des Bildes, als bildinterne Dynamik beschreiben. Dass sie mit der Zeiterfahrung des betrachtenden Blicks (also einer Rezeptionszeit) verknüpft ist, deutete sich bereits an, bleibt aber vermittelt mit dem, was das Bild zeigt. Vor allem die Art und Weise, wie im Bild etwas erscheint und zum Vorschein kommt, kann als Erschließungserfahrung beschrieben werden, als plötzliche Eröffnung einer Gestalt, aber auch als Ereignis bzw. als Riss im Bild.92 So dient Gignon die Rede vom „gedehnte[n] Jetzt“93 als zeitliche Bestimmung, um die Spannung zwischen Farbfeld und senkrecht von oben einbrechendem Farbkanal in Newmans Onement I und der aus diesem Bild entwickelten Serie zu kennzeichnen. Das Vollzugsmoment einer Unterbrechung (wie es in der Bildfertigung durch Abreißen einer verklebten Fläche vorbereitet, in der Bildbetrachtung aber als Abfließen der Farbe wahrgenommen werde) verbinde „die getrennten Zeitlichkeiten des ‚Sich-Ereignens‘ und der Dauer miteinander“94. Auf diese Weise werde Zeit erfahrbar, werde sie visualisiert, und zwar gleichursprünglich als 89
Westerkamp, Ikonische Prägnanz (wie Anm. 68), 22. So Th. Kisser, Visualität, Virtualität, Temporalität. Überlegungen zur Zeitlichkeit in Bildkonzepten von Tizian, Rembrandt, Watteau und Friedrich, in: Bild und Zeit. Temporalität in Kunst und Kunsttheorie seit 1800, hg. v. Ders., München 2011, 87 – 136; 114 f. 91 Vgl. C. Gignon, „Jetzt, das ist das Erhabene“: Zur Bestimmung der inhärenten Zeitlichkeit in den Bildern von Barnett Newman, in: Kisser a. a. O. 371 – 385. 92 Vgl. M. Moxter, Zeitriss / Zwischenraum. Anthropologische Erkundungen zur Metapher des Risses, in: Bruch – Schnitt – Riss. Deutungspotenziale von Trennungsmetaphorik in den Wissenschaften und Künsten (Hamburger geisteswissenschaftliche Studien zu Religion und Gesellschaft 2), hg. v. K. Alsen / N. Heinsohn, Berlin 2014, 65 – 83. 93 Gignon, „Jetzt, das ist das Erhabene“ (wie Anm. 91), 371. 94 A. a. O. 377. 90
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Raumerfahrung, als Erstreckung und als Fluss, so dass Gegenwart sich anders darstelle denn als bloßer Schnittpunkt einer kontinuierlich zwischen Vergangenheit und Zukunft verlaufenden Linie.95 Das Now der Bild-Erfahrung setze eine andere Zeit als die der Chronologie, mit welcher der Abstand zwischen Momenten gemessen wird. Die Nähe bzw. Nachbarschaft zu einer Lehre vom Augenblick, die – mit religiösen Konnotationen – als Gegenzeit, als ‚Ewigkeit in einem Augenblick‘ beschrieben wurde,96 ist unverkennbar: Es geht um die Erfahrung einer ‚erfüllten Zeit‘ im Gegensatz zum leeren Schema zählbarer, skalierter Zeit – Gignon spricht von einer „Erfahrung, in der sich unsere Existenz erfüllen und selbst konkret erfassen kann“97. Auch Dieter Mersch98 rekurriert auf die temporale Struktur der Bilder, wenn er idealtypisch Barock, Romantik und Avantgarde als Übergänge „von der Repräsentation der Zeit, ihrer Bewahrung im Bild als Dauer, über ihre Evokation als Präsenz, als Aura[,] bis hin zur Spur, der unauflösbaren Nachträglichkeit des Gedächtnisses“99 beschreibt und zugleich die ausgewählten Bilder darauf hin befragt, was sich ihrer Darstellung jeweils entzieht. Und schließlich hat auch Gottfried Boehm seit den siebziger Jahren darauf hingewirkt, die „von Lessing exemplarisch formulierte Prädominanz des Raumes über die Zeit“ und die aus ihr resultierende „völlige Verdeckung des Zeitproblems“ in der Bildtheorie „aufzulösen“100. Die Verteilung von Punkten und Abständen auf der Bildfläche geben dem Bild Gefälle und Richtung, eine „Beziehungsform“101, die als Beschleunigung, als Bewegung und also auch zeitlich wahrgenommen wird. Zum Phänomen gehöre ein „inverse[s] Verhältnis von Simultaneität und Sukzession“, das sich niemals ‚beruhige‘102. Boehm zeigt das exemplarisch an Arbeiten Kandinskys, aber auch an Kippbildern (wie dem berühmten Hasen-Enten-Kopf) oder an oszillierenden Bildern. Boehm bestimmt deshalb das Figurale und Figurative vom Prozess der Figuration aus. Figura ist anders als die feste forma oder der fixierte Umriss eine Leitkategorie in der Spannung von Präfiguration, Konfiguration und Defiguration. Sie erlaubt es, das Prozessuale im Bild zu identifizieren.103 Was das Bild zeigt, stehe stets im 95
A. a. O. 378. In Schleiermachers Reden nicht anders als in Kierkegaards Angstdiagnostik. 97 Gignon, „Jetzt, das ist das Erhabene“ (wie Anm. 91), 385. 98 Vgl. D. Mersch, Ästhetischer Augenblick und Gedächtnis der Kunst. Überlegungen zum Verhältnis von Zeit und Bild, in: Die Medien der Künste. Beiträge zur Theorie des Darstellens, hg. v. Ders., München 2003, 151 – 176. 99 A. a. O. 152. Vgl. auch Merschs Beitrag in diesem Band (S. 197 – 213). 100 G. Boehm, Bild und Zeit, in: Das Phänomen Zeit in Kunst und Wissenschaft, hg. v. H. Paflik, Weinheim 1987, 1 – 24; 6. 101 A. a. O. 9. 102 A. a. O. 22 f. 103 Vgl. G. Boehm, Die ikonische Figuration, in: Figur und Figuration. Studien zu Wahrnehmung und Wissen (Bild und Text), hg. v. Ders. u. a., Zürich 2006, 33 – 54; 33. 96
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Horizont ausgeschlossener anderer Möglichkeiten, die aber nicht Sache anderer Darstellungen sind, sondern mitspielende Alternativen, die im Bild präsent bleiben und doch abwesend sind.104 Was sich auf einem Grund zeige, trete aus ihm hervor; was sichtbar wird, vermittelte einen Bewegungsimpuls im Gesehenen.105 In Kippfiguren werde diese Bilddynamik abrupt beschleunigt und als Einheit von ‚Etwas als etwas sehen‘ und ‚Etwas anders sehen‘ realisiert.106 Im Blick auf Mondrians Reihe Pier und Ozean spricht Boehm von einer Rhythmisierung des Bildes, die in den Strukturen sich kreuzender Linien (horizontal / vertikal) und der umfassenden Ellipse das Bild zum Pulsieren bringe.107 Mondrian erreiche die Andersheit des Selben aber auch in seinen Farbtafeln, in denen wechselseitige Nachbarschaft und Distanz jede Farbe verändere und damit eine temporale Dimension ins Bild einbringe. Nach Boehm gehört deshalb zur ikonischen Differenz ein temporaler Sinn: „Es ist die Zeit, die in diesem Geschehen zu sehen gibt, eine Zeitlichkeit ganz eigener Art“108. Die Frage des vorliegenden Bandes nach der Zeit der Bilder schließt daran an. Die Beiträge sind nun kurz vorzustellen.
X. Unter dem Titel Die Sichtbarkeit der Zeit fragt Gottfried Boehm nach einer Logik des Bildes, in der nicht Fixierung und Feststellung, sondern Bewegung, Gefälle und Spannung oder sogar eine Art Puls als basale Bestimmungen von Ikonizität gelten können. Fertiges Produkt mag das Bild sein, wenn man es unter den Gesichtspunkten von Arbeit oder Vermarktung begreift. Aber an ihm selbst betrachtet (mithin in der unhintergehbaren Verschränkung von Bild und Bildwahrnehmung) zeigt sich ein Prozess, den Boehm als ‚ikonische Artikulation‘ bezeichnet. Das Bild realisiert eine Form der Darstellung, in und unter der sich etwas zeigt. Dieses Vollzugsmoment ernstzunehmen heißt: einsehen, dass das Bild nicht ausschließlich unter die Kategorie des Simultanen gebracht und der Sukzession in der Zeit äußerlich kontrastiert werden kann. Zwischen beiden Momenten besteht vielmehr eine prekäre Balance. Boehm erläutert am Phänomen eines Punktes auf der Fläche, wie dieser zum Übergang wird bzw. als ein solcher erscheint, als ein bewegendes Zentrum, von dem aus ein Bildrhythmus entsteht und Temporalität erscheint.
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sim.
Vgl. a. a. O. 50 und Boehm, Repräsentation – Präsentation – Präsenz (wie Anm. 75), pas-
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Vgl. a. a. O. 36. Vgl. a. a. O. 39. Vgl. a. a. O. 48. A. a. O. 52.
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In inverser Blickrichtung beschreibt Boehm ikonische Latenzen in den mechanischen Uhren, die Zeit nicht nur messend anzeigen, sondern diese auf eigentümliche Weise sichtbar machen: Uhren werden zu „Maschinen mit Gesicht“, zu zeigend-verdeckenden „Masken“, zu „Bildmaschinen“. In und an den Uhren wird Zeit ‚sinnlich fassbar‘ – wie in den Bildern auch. „Zeit“, heißt es darum, „ist die zentrale Kategorie bildlicher Darstellung“109. Dies zeigt Boehm an Stillleben Giorgio Morandis,110 die sich entgegen der ästhetischen Erwartung nicht einer unbelebten Natur widmen, sondern geradezu als Paradigmen des lebendigen Bildes gelten dürfen: Wie die Räderruhr haben sie ihre interne Unruhe, welche den visuellen Prozess in Gang hält. Wenn Boehm abschließend den Prozess der Visualisierung in die Nähe einer Verwandlung (sich auflösender) Trauben in Wein bringt, erinnert der Bildphilosoph und Kunsthistoriker vielleicht eher nolens als volens an Prozesse der Transfiguration, die der Theologie als Nachbarschaft von Bildbegriff und Abendmahlstheologie zu denken geben, seit Tillichs frühe Sakramentslehre ‚Natur und Sakrament‘111 sie erörterte. Dem bildwissenschaftlichen Interesse an der temporalen Dynamik der Bilder setzt Reinhard Hoeps zunächst eine Umkehrung der Blickrichtung entgegen: Statt von der ‚Zeit in den Bildern‘ spricht sein Beitrag von ‚Bildern in der Zeit‘, um auf Diskrepanzen im Umgang mit den Bildern aufmerksam zu machen. Es geht Hoeps um die konstitutive Distanz gegenüber jedem unmittelbar religiösen Bildgebrauch, der ebensosehr den „Ernstfall des Bildes im Christentum“ ausmache wie er seiner wesentlichen Seite nach etwas vergangenes sei: „[U]nser Knie beugen wir doch nicht mehr“ – wie der katholische Theologe mit Hegel112 sagt. Zeitlichkeit wird vorrangig als eine Sache der Rezeption behandelt, die diachron mit Erfahrungen der Bedeutungserosion und des Bildverlustes konfrontiert ist. Jedoch modelliert Hoeps keine bildtheoretische Säkularisierungsfigur. Bereits der Titel seines Beitrags Bildandachten. Präsenz und Zeitenabstand enthält eine Ambivalenzdiagnose, die sich Vorstellungen einer einlinigen Verfallsgeschichte (oder deren Umkehrung: Narrativen der Emanzipation der Kunst von der Religion), vor allem aber der geschichtsphilosophisch-metaphysischen „These vom Ende der Bildgeschichte Gottes im Abendland“ entzieht. Nicht der Abschied von der Bildandacht, sondern deren ästhetische Transfiguration wird beschrieben. Wie sich bei Heidegger die Destruktion der Onto-Theo-Logie und die Promul109
S. 57 in diesem Band; vgl. Boehm, Bild und Zeit (wie Anm. 100), 3. Es darf an dieser Stelle darauf aufmerksam gemacht werden, dass Schwarz-Weiß-Abbildungen in die jeweiligen Beiträge eingepasst sind, Farbtafeln jedoch in einem gesonderten Teil zusammengestellt werden [s. u. S. 215 – 228]. 111 Vgl. P. Tillich, Natur und Sakrament [1930], in: Ders., Main Works, Vol. 6: Theologische Schriften, hg. v. G. Hummel, Berlin / New York 1992, 151 – 188. 112 Vgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I [1835 – 38], Werke, Bd. 13, Frankfurt a. M. 132016, 142. 110
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gation eines methodischen Atheismus als Vollzugsgestalten einer Frömmigkeit des Denkens begreifen konnten bzw. empfehlen wollten, so vermochte Caspar David Friedrich, „die religiöse Erfahrung des Bildverlustes im Spektrum der Bildmöglichkeiten“ selbst aufzuheben, oder Francisco de Goyas Erschießung der Aufständischen, eine memoria passionis eigener Art zu inszenieren. Hoeps zeigt, ohne auf eine ikonographische Identifikation von christlich, nach-christlichen Motiven hinauszuwollen, dass und wie sich die ‚Arbeit am Bild‘ in einem Erinnerungs- und Resonanzraum vollzieht. An die Stelle einliniger Ablösungserzählungen tritt ein Sinn für das, was man vielleicht ein Nachleben der christlichen Bildandacht nennen könnte. Auch Hoeps’ Analyse verweist auf die Spannung zwischen Präsenzverdichtung und Zeitdistanz, orientiert sie sich doch an der „Diskrepanz zwischen dem Anspruch unmittelbarer Präsenz [sc. des Bildes] und der Erfahrung unwiederbringlicher Vergangenheit“. Für sie findet Hoeps neben den Erosions- und Verlustmetaphern das Bild einer Wunde, die hier ‚klaffe‘. Es ist deshalb weder nebensächlich noch zufällig, dass er die Leistung ikonischer Transformation an zwei Bildern Goyas vorführt, die Gewalt, Verletzung und tödliche Verwundung zeigen. Zwar kann die Kluft der Zeiten nie geschlossen werden, aber die ästhetische Darstellung manifestiert ihre eigene Dialektik zwischen ‚Präsenz und Diachronie‘. Jan Assmanns Hinweise auf eine produktive Spannung zwischen Ikonizität und Narrativität in der ägyptischen Kultur bilden den Ausgangspunkt von Friedhelm Hartensteins Beitrag. Der Autor, der am gemeinsamen DFG-Projekt ‚Bild und Zeit. Hermeneutische, exegetische und systematisch-theologische Untersuchungen zur Bildlichkeit religiöser Repräsentationsformen‘ maßgeblich beteiligt war, präsentiert Übergänge und Interferenzen zwischen Wort und Bild, zwischen Schrift und visueller Darstellung. Gegen eine nachhaltige, inzwischen aber zunehmend problematisierte theologische Tradition des Protestantismus, die Auditives und Visuelles, Sagen und Zeigen nicht nur kontrastiert, sondern disjunktiv einander entgegensetzt, wird gerade aus exegetischer Sicht, mithin auch im Interesse der Schriftauslegung, die Beziehung neu justiert. Erzählende Bilder wie Bilder in Erzählungen (erzählte Bilder) sind keine sekundären Illustrationen tradierter Geschichten und Mythen, sondern Medien einer Verdichtung und Intensivierung der Wahrnehmung, deren Prägnanz am Verhältnis von Bild und Zeit deutlich wird. Drei altorientalische Fallbeispiele demonstrieren das: die Verlangsamung des Erzählflusses durch ein beschreibendes Bild im Text des Gilgamesch-Epos, die Verbildlichung eines Textes als Fluss in den Ilias-Tafeln und die zum Schriftbild ausgestaltete Präsentation des Mose-Liedes in Exodus 15. Hartenstein spricht von einer Textbildlichkeit, in der die Linearität der zeitlich strukturierten Erzählung poetische Imaginationen freisetzt.
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Seit Wittgensteins Interpretation des Hasen-Enten-Kopfes (einer Kippfigur von J. Jastrow) gilt die Akzentverschiebung vom Sehen auf das Etwas-als-etwasSehen (seeing-as). Sie lenkt das Interesse vom Bild, das wir sehen, auf Bilder, mit denen wir sehen. Die niederländische Theologin und Religionsphilosophin Petruschka Schaafsmaa, die im Kontext alttestamentlicher Wissenschaft die Interferenzen von Bild und Wort, von ikonischen und metaphorischen Elementen im Hosea-Buch untersucht hat,113 fokussiert ihren Blick im vorliegenden Beitrag auf die Ethik. Die Rehabilitation des Bildes im sogenannten iconic turn verschafft diesem die Selbständigkeit eines genuinen und originären Mediums der Erkenntnis, aber eben auch der Handlungsorientierung. Die Produktivität der Bilder für theoretische wie praktische Einstellungen resultiert aus einem Zusammenspiel von imago und imaginatio, von Kompetenz des Bildes und subjektiver Einbildungskraft. Deren Bedeutung für die Konstitution sozialer Ordnungen wurde von Cornelius Castoriadis, von Bent Anderson und Charles Taylor in wichtigen Studien herausgestellt. Schaafsma fragt vor diesem Hintergrund im Interesse einer theologischen Sozialethik nach dem Bild der Ehe bzw. nach den in das Verständnis dieser Lebensform eingebetteten Imaginationen, indem sie zwei Rembrandtbilder auf ihre kulturelle Signifikanz, ihren Bedeutungsüberschuss und ihre Orientierungsleistung hin untersucht. Die Heilige Familie, die Rembrandt malt, spiegelt nicht den biblischen Text oder eine kirchliche Tradition, begegnet dieses Motiv doch weder im Neuen Testament, in dem eher die Familienkritik Jesu dominiert, noch in einem mönchisch, klösterlich geprägten Christentum. Erst die aufkommende bürgerliche Gesellschaft findet in der Heiligen Familie ihr Bild. Insofern reflektieren sich bei Rembrandt Heiliges und Profanes, Religiöses und Weltliches, Inkarnationsglaube und Alltagserfahrung ineinander. Rembrandts Darstellung gibt einer Hermeneutik des (Ikonodulismus-) Verdachts keinen Raum, weil er das Bildmittel des Vorhangs, der sich vor der Szene öffnet, als eine Grenzmarkierung nutzt, die Öffnung und Schließung, Zeigen und Entziehen, Offenbaren und Verbergen ins Bild setzt und folglich alle Unmittelbarkeitssuggestionen vermeidet. Das Bild wird als Bild verstanden und gesehen bzw. als Bild gemalt, so dass es keine Verehrung zulässt. Zugleich können ikonoklastische Kritiker, welche die von Bildern ausgehende Gefahren beschwören, an Rembrandts Arbeit erkennen, dass das Bild das Eheverständnis nachhaltiger befördert als es die bloße Proklamation religiöser Werte vermöchte. Der ethische Gehalt vermittelt sich nicht als Norm, sondern im Bild. 113 Vgl. P. Schaafsma, The Embodied Character of „Acknowledging God“. A Contribution to Understanding the Relationship between Transcendence and Embodiment on the Basis of Hosea, in: Embodied Religion (Ars Disputandi Supplement Series 6), hg. v. P. Jonkers / M. Sarot, Utrecht 2013, 47 – 70.
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Die Interpretation des Vorhangs als Grenzmarker der Epiphanie, die Schaafsma in Anknüpfung an den Begriff der ikonischen Differenz durchführt, zeigt, dass Gottfried Boehms Arbeiten ein vielfältiges theologische Echo finden. Zeitlichkeit ist auch in dieser Rezeption involviert: Boehms ikonische Differenz eröffne sich zwischen „the simultaneous perceptibility as a surface“ und „the successive ness on the surface“, sie wird in Begriffen der Temporalität allererst beschreibbar. Der Hinweis auf Zeitlichkeit gilt auch dann, wenn die Würdigung der Bilder dem Leitfaden des Sprachlichen und Narrativen folgt: Telling images nennt Schaafsma die Bilder – nicht weil man abschließend sagen könnte, was diese zeigen, sondern weil sie wie die Gleichnisse oder das gute Beispiel handlungsorientierende Kraft beweisen. Augustins Definition des Bildbegriffs gilt aufgrund der ihr zugrundeliegenden Dominanz der Ähnlichkeitskategorie als sperrig für ein gegenwärtiges Bildverständnis. Als Zeitdenker jedoch bleibt Augustinus ein geradezu kanonischer Autor, an dessen Ausführungen sich bilden muss, wer zum Thema zu sprechen versucht. Der Beitrag von Johann Kreuzer gilt dem Verhältnis von Imagination und Erinnerung, in dessen Licht der Titel ‚Die Zeit der Bilder‘ als genetivus subiectivus wie als genetivis obiectivus zu deuten ist. Kreuzer zeigt, wie sich Räumliches und Zeitliches in Augustins Beschreibungen der memoria verschränken und wie daraus ein Bilddenken resultiert, welches das Repräsenta tionsmodell sprengt oder zumindest unterläuft. Alternativen Spielraum eröffnet gerade die geisttheoretische (präziser noch: die trinitätstheologische) Perspektive auf das Verhältnis von Gott und Mensch. Der sich erinnernde Geist versteht sich im Menschen auf selbstbewusste Imagination, aber begreift diese zugleich als endlich, als zeitlich und darum in fortwährender Selbsttranszendierung. Erst in Gott als der wahren res findet die mens humana ihre Ruhe. Dass der Mensch Bild Gottes, imago Dei, ist, besagt, dass er sich als Bild und im Bild nur erkennen kann, indem er der Bewegung des Überschreitens folgt, die ein Vorübergehen wie ein Vorübergegangensein realisiert, und dass das menschliche Bewusstsein Gegenstände nur unter der Bedingung hat, selbst zeitlich zu sein. Ikonizität und Temporalität verbinden sich bei Augustinus auf basale Weise. Kreuzers Interpretation des elften Buchs der Confessiones wie des Traktats De trinitate zeigt, dass Gesehenes (Sichtbares, Visibles) und Sehakt (subjektive Tätigkeit) ineinandergreifen und Gestalthaftes im Zusammenspiel von Einbildungskraft und Erinnerung ‚entsteht‘ bzw. figuriert wird. Nur denkend sieht der Mensch, nur so erschließt sich dem Auge Sichtbarkeit, stets im Bild und Zeichen operiert die mens humana, der nie diejenige Reinheit abgepresst werden kann, die Ikonoklasten ihr verordnen möchten. Wie λόγος und verbum, so sind auch Bewusstsein und Bild gekoppelt. Folgt man dieser Linie, so begegnet man einem genuinen Bilddenken, in dem dessen Verhältnis zur Zeit eine zentrale Rolle spielt und im zwanzigsten Jahrhundert Aufnahme findet.
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Freilich gerade nicht bei Sartre, dessen frühe Studien zur Imagination und zum Imaginären Jens Bonnemann als Beitrag zu einer Bildtheorie interpretiert. Letztere lege als Begründungsdisziplin der Bildwissenschaften und darum oberhalb konkreter Bildinterpretationen einen ‚Begriff des Bildes‘ dar. Ob sich der Anspruch einer solchen Wesenswissenschaft realisieren und ob er sich dann auch interdisziplinär fruchtbar machen ließe, darf offen bleiben, weil der Autor nicht die Erfüllung und normative Kraft des Programms vorführt und bekräftigt, sondern die Begrenzungen und Sackgassen von Sartres (damaliger) Theorieanlage. Imagination bzw. imaginierter Gegenstand sind für Sartre keine verblassenden Wahrnehmungen, sondern spezifische Modifikationen intentionalen Bewusstseins – und zwar solche, bei denen das Bewusstsein in dem Maße frei und kreativ über seine Inhalte verfügt, in dem es aus jenen nichts lernen kann. Ihnen fehlt der Widerstand gegenüber beliebiger Manipulation. Anders als die Wahrnehmung sei die Imagination ein Fall eines nicht-setzenden Bewusstseins, also eines Bewusstseins, welches darum weiß, dass sein Gegenstand nicht gegeben ist. Gedacht ist an Fiktionen und Phantasiewelten einerseits, an Fälle, in denen gerade die Abwesenheit des Gegenstandes Grund des Bildergebrauchs ist, andererseits. Sartres phänomenologischer Zugriff unterscheidet zwar zwischen mentalen Bildern und Photographien, Filmen, Skizzen, Gemälden etc., die er als physische Bilder zusammenfasst. Im Fokus dessen, was phänomenologisch über das Bild zu sagen ist, steht aber das innere Bild. Das muss zu einer Reihe von Problemen führen, die Bonnemann aufzeigt. Die Unterscheidung zwischen mentalen und physischen Bildern trägt einen impliziten Cartesianismus ein, der die Selbstverständigung des Geistes über seine Imagination mit dem Problem belastet, warum die Imagination mitunter an eine materiale Grundlage (Farben, Leinwände, Körper eines Schauspielers) gekoppelt ist. Warum bedarf das Imaginäre (im Sinne des ‚Objektpols‘ des imaginativen Aktes) überhaupt der Objektivierung, der Manifestation in einem ‚Leib‘? Was wird aus dem Bild, wenn seine physische Grundlage bzw. Seite zerfällt? Was wäre – in umgekehrter Richtung gesprochen – an Freiheit zu gewinnen, wenn man sich vor dem Zerfall der physis ins Bild, in die Bilder (Film) oder ganz einfach in die Kunst retten könnte? Bonnemann beschreibt den Bildglauben Sartres als eine Kunstreligion, die sich unbeschadet des methodischen oder weltanschaulichen Atheismus Sartres einstellt, aber auch – getrieben von der Einsicht in die Endlichkeit – zersetzt und gegen sich selbst kehrt. Von zentraler Bedeutung ist die These der Zeitlosigkeit des Bildes, die Bonnemann als Zeitenthobenheit akzentuiert. Gewonnen wird sie aus dem von Sartre vorausgesetzten Chorismos zwischen Wahrnehmung und Imagination bzw. aus der artifiziellen Präsenz des Bildes (wie Bonnemann mit Lambert Wiesing sagt). Das Bild bringt nahe, erzeugt eine Präsenz, die sich von den anderen Formen der Sinnlichkeit und dessen Temporalität unterschei-
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det. Denn es isoliere die Dimension des Visuellen, könne doch die vergegenwärtigte Sache weder gehört, noch gerochen, getastet oder geschmeckt werden. Das Bild stelle die Zeit still, indem sein Objekt in einem Jetzt-Zustand gleichsam kryokonserviert, der Zeitfluss sozusagen eingefroren wird. Der Maler versuche „einen kleinen Teil der Realität vor dem Verfließen der Zeit zu bewahren“, das Bildobjekt befinde sich „jenseits der realen Zeit“. Der Antagonismus von Zeitkunst und zeitenthobener Raumkunst scheint sich mit dem hintergründigen Platonismus der eidetischen Phänomenologie zu verbinden. Man wird wohl dem historischen Ausgangspunkt von Sartres Interesse an der Einbildungskraft, der wie Bonnemann betont, im § 111 von Husserls Ideen zu einer reinen Phänomenologie (1913) liegt, gutschreiben müssen, dass eine Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins nicht als systematischer Ausgangspunkt der Rekonstruktion der Bilderfahrung gewählt wird. Ob ein sich selbst strikt zeitlich erfahrendes Bewusstsein nicht seine Imaginationen und deren Gehalte, erst recht aber die sogenannten physischen Bilder nur als Zeitphänomene kennen kann, bleibt zu diskutieren. Die Annahme eines Primats der Geste vor der Stimme, des visuellen Ausdrucks vor der Lautkundgabe, hat seit Tomasellos Studien das Verständnis der Evolution humaner Kommunikation und insbesondere den Tier-Mensch-Vergleich auf eine neue Grundlage gestellt.114 Der Beitrag von Kristóf Nyíri tritt aus der Perspektive eines anderen universitären Fachs dieser Annahme zur Seite und gibt einen umfassenden Überblick über Aufbau, Struktur und wissenschaftliche Erforschung von Gebärdensprache(n), die – zwischen Zeigen und Bedeuten operierend – Visualität und Handlung, aber auch Körper und Bedeutung miteinander verknüpfen. Mit seiner kurzgefassten Theoriengeschichte der Gebärdensprachen reagiert er auf ein Problem der Wittgenstein-Interpretation, nämlich auf die Frage, wie sich die Aufgabe, Sprachspiele zu beschreiben, zu Wittgensteins Bilddenken verhält. Die Frage ist religionsphilosophisch einschlägig, weil Wittgenstein religiöse Einstellungen und Vollzüge als formative Bilder rekonstruiert, die Erfahrungen strukturieren – weshalb sie als nichtssagend beiseite gesetzt werden, wenn sie diese Funktion verlieren. Ob Religion diesseits ihrer propositionalen Gehalte als Ausdrucksform und als Geste gedeutet werden kann, wird sich auch an der religionstheoretischen Würdigung darstellenden Handelns entscheiden. Sind Ausdruck, Geste, Mimik, Tanz bloße Illustrationen unabhängig erfasster, sozusagen rein intellektueller Bedeutungen, nimmt sich das Problem anders aus als wenn man die Bildlichkeit des Zeige-Gestus für bedeutungskonstitutiv hält. Der Autor weist darauf hin, dass Wahrnehmung und Ausdruck kinästhetische Phänomene sind. Sie verbinden die geistige Auf114 Vgl. M. Tomasello, Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Zur Evolution der Kognition, Frankfurt a. M. 2006.
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fassung der Wirklichkeit mit der körperlichen Bewegung, das Sehen des Bildes mit einem Abtasten durch das Auge, setzen also die Beweglichkeit der Augen wie des Kopfes, ja des sichtbaren Leibes, als Bedingung der Möglichkeit theoretischer (d. h. betrachtender) Einstellungen voraus. Vor diesem Hintergrund sind Gebärden als bewegte Verkörperung von Bedeutungen zu rekonstruieren. Nyíri analysiert das Verhältnis von Bedeutung und Motorik am Phänomen der Zeit-Gebärden und beschreibt beispielsweise, wie Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft visualisiert werden. Die Beobachtung, dass die Gebärdensprachen keinen Platzhalter für einen qualifizierten Ewigkeitsbegriff (der anderes wäre als bloße Verlängerung der Zeit) kennen, führt den Autor zur These, dass dieser Mangel durch die Gebetsgeste gleichsam kompensiert werde. Wie die Praxis des Betens (mit ihren ursprünglichen Gesten des Händefaltens, Kopfsenkens oder Niederkniens) ursprünglicher sei als die Worte, die betend gesprochen werden, sei auch das Bild, an dem und durch das sich der Glaube orientiert, basaler als die Gehalte, die ein Katalog dogmatischer Topoi aufzählen könnte. Der Bildbegriff in Nyíris Beitrag ist gegenüber den anderen Texten des Bandes erweitert und umfasst die visuelle Geste, die Abbildung solcher Gesten in Wörterbüchern sowie die ‚Bilder des Glaubens‘. Geleitet aber ist die Studie durch die Überzeugung: „Zeit und Bild weisen aufeinander hin, und insbesondere für die Wirklichkeit der Zeit lässt sich nur von der Unmittelbarkeit der Bildbedeutung ausgehend argumentieren“115. Wie produktiv es sein kann, Bilder sub specie temporis zu analysieren oder Zeitlichkeit im Kontext der Bilderfahrung zu beschreiben, zeigt Dieter Mersch in seinem den Band abschließenden Beitrag. Stand die Fotografie lange Zeit im Ansehen, das Paradigma realistischer Abbildung schlechthin zu sein und mit ihrer Fortentwicklung zum Film schließlich auch den Zeitverlauf ‚repräsentieren‘ zu können, so arbeitet der Medienwissenschaftler heraus, dass auch in der Fotografie die Darstellung stets Verstellung bleibt. Das Foto kann die Wirklichkeit nicht wiedergeben, ohne sie in einem Ausschnitt, horizont- und rahmenlos, gleichsam abgetrennt und zerhackt zu präsentieren. Der Schnitt (‚cut‘) ist eine Technik der Bildbearbeitung, die metaphorologisch durchaus auffällig ist: Die brachiale Unterbrechung, die Abtrennung, erinnern an die Ausübung von Gewalt. Auch das im alltäglichen Sprachgebrauch etablierte Wort ‚Schnappschuss‘ reflektiere eine Nachbarschaft der Kamera zur Waffe, in medientheoretischen Beschreibungen legt sich die Rede von der Guillotine offenbar immer wieder nahe. Der ‚Axthieb‘ wird zur absoluten Metapher des Bildaufbaus. Das gilt nicht nur für den räumlichen Ausschnitt, sondern auch für die Zeit, die in der Fotografie auf einen Augenblick, auf einen isolierten Punkt reduziert 115 Vgl. dazu: K. Nyíri, Zeit und Bild. Philosophische Studien zur Wirklichkeit des Werdens, Bielefeld 2012, passim.
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wird, in dem die Zeitachse gleichsam geschnitten wird. Es entsteht ein Bild, das dem Zeitfluss ebenso sehr entnommen ist wie es ihm angehört, gleichsam eine nature morte, die unsere lebensweltliche Zeiterfahrung auf paradoxe Weise aufnimmt und stillstellt. Mersch spricht von einer achronischen Temporalität: Das Foto hält fest, was sich nicht festhalten lässt, es ist ein von Anfang an Vergangenes, vermittelt eine Präsenz, von der man (in Anlehnung an ein Wort Lévinas’) sagen dürfte, dass niemand in ihr jemals war. Die technischen Möglichkeiten von Fotografie und Film verändern die humane Bildpraxis. Das gilt schon für den Menschen als Bildermacher (homo pictor), erst recht für ihn als Bildbetrachter. Während das Zeichnen und Malen der Bewegung der Hand, der kinästhetischen Wahrnehmung, der Berührung von Stift oder Pinsel mit Papier oder Leinwand, der Arbeit im Sichtbaren bedarf, reduziert der technische Apparat das leibliche Engagement im Grenzfall auf das Drücken des Auslösers. Das digitale Bild bedarf nicht einmal mehr der Entwicklung und des Abzugs, sondern kann in Echtzeit als vergangen betrachtet werden. Zugleich aber ermöglichen die neuen Speichermedien eine permanente Aufzeichnung, mit der die erlebte Zeit ‚in ein Außerhalb verdrängt‘ werde. Mersch variiert Sartre, wenn er vom Schlagen eines Lochs in den Erfahrungsraum spricht, durch das eine Lücke, ein Spalt entstehe, durch den die Einheit der Erfahrung gleichsam ‚abfließe‘. Die Dramatik, die bei Sartre in der Konfrontation des Für-sich-Seins mit dem Anderen aufbricht, ist eine des Souveränitätsverlusts, sie offenbart einen Mangel, der dem humanen Selbstverhältnis von Haus aus innewohnt. Im Bild wird Schließung, wird Abrundung eines so und nicht anders Gegebenseins begehrt; ein Begehren, das aber unerfüllbar bleibt. ‚Bild und Zeit‘ erweist sich als ein signifikantes Thema einer Medien-Anthropologie, in der die technische Reproduktion des Bildes unserer selbst in ihren Auswirkungen für das Selbstverständnis beobachtet werden kann: Man entlastet sich von der unlösbaren Aufgabe, man selbst zu sein, durchs Bild, das die eigene Existenz dokumentiert und das in dem Maße im sozialen Netzwerk ‚hochgeladen‘ werden kann, in dem es ein Jedermannsbild bleibt. Das Ich setzt sich nicht länger selbst, es postet ein Selfie. Doch dies ist nur die eine Seite, der eine andere Erfahrung und Dialektik gegenübersteht: Das der fließenden Zeit entnommene Foto aus der eigenen Vergangenheit konfrontiert die innere Zeiterfahrung, das Selbstverhältnis, nicht mehr nur mit dem Phänomen einer erlebten Verzögerung gegenüber sich selbst, mit überlappenden Zeitfeldern, sondern lässt Zeitverlust anschaubar werden. Es macht das Altern des Subjeks sichtbar. Das Subjekt erlebt eine verlorene Zeit, die es nicht erst über Erinnerungen rückerobern muss, sondern die ihm gleichsam entgegenspringt. Mersch beschreibt – mit eindrücklichen Worten – diesen Prozess als eine Kippfigur der Zeit, als Scham, als Todeserlebnis. Das Vorlaufen zum eigenen Tod vermittele sich am Bild, nicht im Ruf des Gewissens in Entscheidung und Eigentlichkeit. Vielleicht darf man im Sinne von Merschs abschlie-
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ßender Analyse der unmöglichen Wiederkehr der Brunnenszene von Fellinis La Dolce Vita in Fellinis L´intervista auch sagen: Es vermittelt sich im Kino. Die Nähe von Bild und Tod, die von den ältesten Masken, Bestattungsriten bis zu den neuesten Netz-Techniken reicht, gründet in der Nachbarschaft von Bild und Zeit.116 Nicht das zeitlose Bild, sondern die Dialektik der Zeiterfahrung, die durch das Selbstbild hervorgerufen und ausgelöst wird, markiert die Kompetenz der Bilder. Bilderfahrung ist Zeiterfahrung.
116
Vgl. dazu auch den aus dem DFG-Projekt „Bild und Zeit“ hervorgegangenen Doppelband: Bild und Tod. Grundfragen der Bildanthropologie (HUTh 68,1 / 2), hg. v. Ph. Stoellger / J. Wolff, Tübingen 2016.
Die Sichtbarkeit der Zeit und die Logik des Bildes Gottfried Boehm A. Bewegung im Stillstand Wer die trägen Bilder mit der fließenden Zeit in ein – womöglich – konstitutives Verhältnis bringen möchte, der hat einen starken Anschein gegen sich und verstrickt sich in erhebliche Widersprüche – nicht zuletzt in den einer stillstehenden Bewegung. Widersprüche, die jene vertraute, kulturelle Ordnung unterminieren, nach der bildnerische Werke als zeitfern und raumbezogen einzuschätzen sind, während sich Stimme und Sprache in und mit der Zeit entäußern. Welche guten Gründe gibt es dann aber, jene scheinbar unanfechtbaren, in der Natur der Sache liegenden Fundamente infrage zu stellen, sich auf paradoxes Terrain zu begeben? Es sind Gründe, die sich auf den gleichen Anschein träger Materialität berufen, jetzt aber deren Kehrseite, oder – besser gesagt – deren Gesicht in den Blick nehmen. Denn: Was wir als Bild erfahren, ist nicht nur statisch und starr, sondern erweckt zur gleichen Zeit den Atem einer, wie auch immer gearteten, Lebendigkeit. Deren zeitlicher Modus ist nun freilich von imaginärer, nicht von physischer Art. Er nistet sich in materielle Substrate ein. Wir begegnen deshalb nicht nur zwei unvereinbaren Aspekten, sondern ihrer Verschränkung: die der spröden Materie mit einer untergründigen Kraft. Sie wirkt nicht irgendwie, sondern im Wechselspiel mit der Wahrnehmung, die sie bemerkt und aktualisiert. Doch steht diese Kraft nicht eben selten in Anführungszeichen. Worin besteht sie? Welche Argumentation wird ihr gerecht? Jedenfalls ist sie – wie Kräfte überhaupt – nur als Äußerung zu fassen, d. h. in zeitlicher Wirksamkeit. Offenbar sind Bilder im Stande, Übergänge zwischen ganz unterschiedlichen Realitäten zu organisieren. Wobei sich als Resultante ein vitaler Überschuss zeigt, den seit alters und bis heute jene im Blick haben, die von der Macht der Bilder, sei es positiv oder negativ, sprechen. Aus der Bildgeschichte kennen wir tausend Ausprägungen dieser Emergenz. Aus der Zeit früher Sesshaftigkeit (ca. 7000 v. Chr.) stammt zum Beispiel die neolithische Steinmaske (siehe Abb. 1), von deren Gebrauch wenig bekannt ist. Eines aber ist offensichtlich: Die Starre des spröden Materials ist zugleich der Erscheinungsort einer virulenten Kraft, die sich ans Auge des Betrachters bzw. Benutzers adressiert.
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Abb. 1: Steinmaske, 7000 v. Chr., Musée Bible et Terre Sainte, Paris, Frankreich.
Ein Vorgang dieser Art lässt sich hinsichtlich seiner Bedeutung kaum überschätzen. Er führt ins Zentrum der Bilderfrage, mehr noch: der menschlichen Kultur, die sich auf derartige, unwahrscheinliche Verwandlungen stützt. Herkömmlichen Kausalitäten beugen sie sich nicht. Wir erinnern nur an die mythologischen Metamorphosen, denen Ovid eine poetische Gestalt gab, an die Rolle der rites de passage, an Sakramente, die das Eine (Brot oder Wein) als das Andere vermitteln (Fleisch oder Blut), an den Zauber ästhetischer Erfahrungen und nicht zuletzt an jenes Denken, welches sich damit befasst, die genannten Widersprüche in ihre Konsequenz hinein zu verfolgen, sie zu erhellen. Aristoteles beispielsweise entwickelte in seiner Abhandlung über die Metaphysik die prägnante, ursprünglich theologische Gedankenfigur vom ‚unbewegten Beweger‘, die sich – wie Phi-
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lipp Stoellger1 dargelegt hat – auch zur Kennzeichnung ikonischer Temporalität heranziehen lässt. Unsere Frage treibt mithin tiefe Wurzeln, die bis in prähistorische strata hinabreichen. Gleichzeitig enthält sie einen Fokus, der das uferlose Thema der Zeit handhabbar macht. Denn zu diskutieren ist ausschließlich die in Bildwerken organisierte Temporalität und deren Voraussetzungen. Sie pflegt sich stillschweigend zu äußern und immer dann, wenn wahrnehmende Organe den Sinn einer Darstellung realisieren und solange dies geschieht. Mit anderen Worten: Zeit ist ein integrales momentum, d. h. Motor und Thema der ikonischen Artikulationen. Sie zeigt sich stets in actu. Eben dies meint auch unsere Rede von der ‚Sichtbarkeit der Zeit‘. Sie verweist darauf, dass wir nicht hörend an Bildern partizipieren, sondern im Medium einer Deixis, deren sprachähnliche Eigenart und Tragweite wenig diskutiert worden ist. Was auch ein kurzer Blick in die Geschichte der kunstkritischen bzw. kunsthistorischen Zeitdebatte beweist. Die Temporalität des Bildes selbst wurde erst spät zu einer bestimmenden Größe, nachdem zuvor ausschließlich das Dargestellte, meist bewegte Körper, Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Es schließt vielfältige Temporalmomente ein, die u. a. mimische, affektive, narrative oder vitale Aspekte betreffen. G. E. Lessing2 nahm diese überkommenen Diskussionsfäden auf und lenkte sie in eine neue Richtung. In sie weist insbesondere eine von ihm behauptete mediale Opposition zwischen raumbezogenen und temporalen Künsten. Dieses Konzept einer strikten Ordnung erwies sich als äußerst eingängig und wirksam, zumal es sich auf jene, bereits anfangs erwähnten ‚natürlichen‘ Evidenzen stützen konnte. Gemessen am Kriterium faktischer Bewegung verwies die zeitaffine Poesie die ihrer Schwerkraft ausgelieferten Bildwerke auf einen nachgeordneten Rang. Allenfalls der von Lessing aufgezeigte Umweg des ‚fruchtbaren Augenblicks‘3, der wiederum bei der Körperbewegung ansetzte, erlaubte den Bildwerken den Einbezug zeitlicher Dimensionen, nach Maßgabe der dargestellten Handlung, die im Falle des Laokoon bekanntlich der Troja-Erzählung entnommen war. Die erstaunliche Durchschlagskraft dieser medialen Reichsteilung kam freilich nicht von ungefähr. Sie hatte ein Bildkonzept vor Augen, das in der Renaissance begründet worden war und bis ins 20. Jahrhundert als Modell von Bildlichkeit schlechthin gegolten hatte. Wir sprechen vom perspektivischen Ent1
Vgl. Ph. Stoellger, Das Bild als unbewegter Beweger? Zur effektiven und affektiven Dimension des Bildes als Performanz seiner ikonischen Energie, in: Movens Bild. Zwischen Evidenz und Affekt (eikones), hg. v. G. Boehm / B. Mersmann / Ch. Spies, München 2008, 183 – 224. Stoellger schreibt unter Bezug auf Nikolaus Cusanus’ Text De visione Dei: „Das Bild, selber unbewegt, setzt den Betrachter ‚augenblicklich‘ in Bewegung. Es bedeutet oder repräsentiert nicht nur den unbewegten Beweger; es ist ein solcher, in seltsamer Koinzidenz des ikonisch Differenten: Dargestelltes und Darstellung sind beunruhigend identisch“ (a. a. O. 201). 2 G. E. Lessing, Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766), hg. v. F. Vollhardt, Stuttgart 2012. 3 „Dasjenige aber nur allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft freyes Spiel läßt“ (a. a. O. 26).
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wurf, der selbst schon mit zwei getrennten Ordnungen operiert. Mit der geometrischen Projektion eines sich verjüngenden Bildraumes, der dann in zweiter Linie auch einzelnen Bewegungsmotiven Platz bietet (vgl. Abb. 2: S. Botticelli, Verleumdung des Apelles [1494 / 95]; siehe Farbteil S. 204). Hinzu kam, dass sich Zeitmomente an dargestellte Figuren hefteten, während die Darstellung in ihrer Gesamtheit durch die Ordnung der perspektivischen Konstruktionen festgelegt war. Die Malerei selbst schien also die Priorität des Raumes zu beweisen. Die von Lessing behauptete Opposition der Medien hatte also gute Argumente auf ihrer Seite. Wie wenig sie aber der tatsächlichen Realität der Bilder gerecht wurde, brachte die weitere historische Entwicklung ans Licht. Mit der Revision des Kanons der Perspektive seit dem Ende des 19. Jahrhunderts wurde eine Grundlagenkrise ausgelöst, die auch die Frage nach der Bildzeit neu und unabhängig von Körper- oder Objektbewegungen zu stellen erlaubte. An einer Vielzahl von Belegen, beginnend bei Delacroix, Turner, Cézanne oder den Impressionisten wird die Option erkennbar, Bilder prozessual zu verstehen. Das gilt auch für Paul Klee, den wir zitieren, weil er direkt auf Lessing Bezug nimmt. In dem 1920 verfassten Text Schöpferische Konfession formuliert er zunächst das Axiom seiner eigenen künstlerischen Arbeit. Es lautet: „Bewegung liegt allem Werden zugrunde“4 (vgl. Abb. 3: P. Klee, Scheidung Abends [1922]; S. 205). Ein Satz mit universellem oder ‚kosmischem‘ Geltungsanspruch, der die bildnerische Arbeit und die Realität darüber hinaus betrifft und mit dem er sich auch von der Stasis des Perspektiventwurfs entfernt: für die Albrecht Dürer ja den signifikanten Begriff des ‚Gegen-wurfs‘ erfunden hatte, der in dem des Gegen-standes aufgegangen ist. Klee hinwiederum optiert für ‚Genesis‘ und wird dann deutlich: „In Lessings Laokoon, an den wir einmal jugendliche Denkversuche verzettelten, wird viel Wesens aus dem Unterschied von zeitlicher und räumlicher Kunst gemacht. Und bei genauem Hinsehen ist’s doch nur gelehrter Wahn. Denn auch der Raum ist ein zeitlicher Begriff “5. Diese letzte Bemerkung unterstreicht auch die Absichten, die uns leiten. Die Einsicht in die Gleichursprünglichkeit von Raum und Zeit im Bild entzieht dem Oppositionsdenken Lessings jegliche Grundlage. Und sie legt nahe, ikonischen Sinn als einen Vorgang zu verstehen. Wie aber entfalten sich Bilder in der Zeit? Wie lässt sich ikonische Temporalität entziffern? Unzureichend scheint es, methodische Modelle aus dem Bereich der procedierenden Sprache zu importieren. Die Grundlagen der Analyse wollen eigens erarbeitet sein. Es überrascht deshalb nicht, dass es – nach den Vorstößen der frühen Moderne – noch einmal ein halbes Jahrhundert gedauert hat, bis die Kunstgeschichte, verstärkt seit den siebziger Jahren, eine Zeitdebatte in Gang zu bringen vermochte. Mit der 4
P. Klee, Beitrag für den Sammelband Schöpferische Konfession (1920), in: Ders. Schriften, Rezensionen und Aufsätze, hg. v. Christian Geelhaar, Köln 1976, 118 – 123; 119. 5 Ebd.
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Ankunft der Avantgarden und der bewegten Bilder im methodischen Bewusstsein der Kunstgeschichte war die Zeitfrage endlich unabdingbar geworden.6
B. Die Zeit der Darstellung Wir beginnen nun, die Frage der Zeit von der Ebene des Dargestellten, auf der sie ikonographisch, allegorisch oder narrativ verhandelt wurde, auf diejenige der Darstellung zu verschieben. Wir verstehen Bilder als sich artikulierende Größen, in denen zusammen spielt, was die Linguisten signifiant und signifié nennen bzw. Repräsentant und Objekt, vermittelt durch einen Interpretanten (Peirce). Damit verabschieden wir uns auch von der gängigen Annahme, Bilder seien bedeutungstragende Objekte, die allein durch externe Referenzen zum Sprechen gebracht werden können. Um theoretische Beweisgänge ist es uns jetzt nicht zu tun, sondern lediglich darum, an jene Erfahrungen anzuschließen, die Betrachter mit Bildern machen. Sie gilt es auszulegen. Gewiss faszinieren immer wieder externe Bezüge und historische Quellen. Auch die Virulenz einzelner Details, zum Beispiel die Torsion eines Körpers, die ihm glanzvolle Lebendigkeit verleiht. Doch stets werden derartige Distinktionen innerhalb jenes Kontinuums wahrgenommen, das allererst erkennen lässt, dass wir vor einem Bild stehen. Die Spannung dieser Momente sorgt dafür, dass ikonische Zeit erscheinen kann und sichtbar wird. Sie ist nicht einfach ‚da‘, sondern sie zeigt sich, indem etwas Dargestelltes in geeigneter Weise unter den Vorzeichen seines Grundes wahrgenommen wird. Bilder sind, wie gesagt, nicht einfach Dinge, sondern ‚Orte‘ oder, mit Paul Klee gesprochen, ‚Schauplätze‘, die ein anschauliches ‚Spiel‘, ein Wechselverhältnis auszeichnet. In ihm interagieren zwei ganz unterschiedliche temporale Modi. Wir sättigen uns in zeitlicher Sukzession an der Abfolge von Details und ihrem Gehalt und wissen uns dabei doch stets auf ein simultanes Wahrnehmungsangebot bezogen. Nota bene: Niemals lässt sich, was Simultaneität meint – nämlich eine stehende und umfassende Kopräsenz –, in Begriffe temporaler Sukzession übersetzen. Und doch handeln Bilder von nichts anderem als der gelingenden Verschränkung dieser Momente. Simul et singulariter meint Einheit und Differenz gleichermaßen.7 6
Wichtige Anstöße gingen zunächst aus von E. H. Gombrich, Moment and Movement in Art, Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, XXVII (1964), 293 – 306. In den achtziger Jahren intensivierte sich die Debatte, vgl. z. B. Das Phänomen Zeit in Kunst und Wissenschaft, hg. v. H. Paflik, Weinheim 1987; H. Theissing, Die Zeit im Bild, Darmstadt 1987 oder die Studien von G. Pochat, zusammengefasst in: Zeit / Los. Zur Kunstgeschichte der Zeit (Katalog Ausstellung, Kunsthalle Krems), hg. v. C. Aigner, Köln 1999, 9 – 96. 7 Oder, mit M. Moxter gesprochen: „[N]ur im Zwischenraum zwischen Simultaneität und Sukzession eröffnet sich ein vernünftiger Gebrauch der Bilder. Als Grenzwerte gelten dabei der magische Bann eines ‚all at once‘ gebundenen Bildes und die Auflösung von Ikonizität in Diskursivität“ (Ders., All at once? Simultaneität, Bild, Repräsentation, in: Präsenz im Entzug. Ambivalenzen des Bildes (HUTh 58), hg. v. Ph. Stoellger / Th. Klie, Tübingen 2011, 129 – 144; 143 f.
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Der Rekurs auf die beiden unterschiedlichen Blickweisen könnte als Versuch missverstanden werden, die Zeitfrage vom Werk ganz auf die Seite menschlicher Aktivitäten zu verschieben. Sie wären es am Ende, die das starre Bild, von außen eingreifend, aktivieren. Auf einem allgemeinen Niveau gesprochen: Es wären dann psychologische, psychoanalytische, soziologische oder auch neuronale Prozesse, die erklären, wie es zur Imagination einer Bewegung im Stillstand kommt. Es wäre die Lebendigkeit der Betrachter, die es vermöchte, das leblose Bildwerk zu verzeitlichen. Ikonische Zeit erschiene dann als Resultante einer Projektion, oder auch als Konstellation. (Wenn man an jene neuronalen Prozesse denkt, die nach Ansicht Einiger ihre Quelle in einem weltlosen Gehirn haben, um die bewegte Welt, die wir vor uns ausgebreitet sehen, zu konstruieren.) Natürlich bleibt der ‚Anteil des Betrachters‘ (W. Kemp) grundlegend und unbestritten. Doch scheint es uns fatal, dabei zu übersehen, dass es spezifischer Artefakte bedarf, an deren Strukturen der menschliche Zeitsinn anschließt. Die historisch geformte ‚Vorgabe Bild‘ ist erforderlich, damit wir Darstellungen als lebendig erfahren. Es hieße sonst, die ganze Arbeit der Künstler und den Stellenwert der Medialität zu übersehen bzw. zu überspringen. Aber wie ist diese Vorgabe beschaffen, welche ikonische Logik sorgt dafür, dass wir sie temporal wahrnehmen? Wir wählen dazu ein möglichst einfaches Exempel, eine Urszene des Bildes, die wir auch nicht eigens erfinden müssen. Das Punkt-Paradigma ist seit Plato und Euklid immer wieder skizziert worden, wir finden es in mittelalterlichen Bauhüttenbüchern, in den Traktaten von Leon Battista Alberti, bei Leonardo da Vinci und noch bei den Künstlern des Bauhauses.8 Die Szene handelt von jenem ikonischen Minimum, das schon aufscheint, wenn ein einziger Punkt an seinen Ort tritt, um sich dann in Linie und Fläche zu entfalten. Dieser springende Punkt etabliert bereits, was wir die ikonische Differenz genannt haben. Und er bringt damit auch in nuce den Faktor oder besser gesagt: das Agens Zeit ins Spiel. Wir nehmen jene Variante der Urszene auf, die Gilles Deleuze und Felix Guattari in ihrem Buch Mille Plateaux geschildert haben, in der Absicht allerdings, damit eine Prähistorie des Gesichtes bzw. des Subjektes zu skizzieren.9 Sie sprechen von der Konstellation: ‚weiße Wand – schwarzes Loch‘, zu der sie ethnologisches Material angeregt hat. Unausdrücklich ist damit auch von einer Logik der 8 Vgl. G. Boehm, Der springende Punkt, in: Leben verstehen. Zur Verstricktheit zweier philosophischer Grundbegriffe, hg. v. M. Fischer-Geboers / B. Wirz, Weilerswist 2015, 179 – 190. 9 G. Deleuze / F. Guattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie [orig. Mille plateaux, Paris 1980), übers. v. G. Ricke, Berlin 62005, 230: „Das Gesicht höhlt das Loch aus, das die Subjektivierung braucht, um durchdringen zu können, es bildet das schwarze Loch der Subjektivität als Bewusstsein oder Passion, die Kamera, das dritte Auge“.
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Kontraste die Rede, die wir mit dem Bild verbunden sehen. Ein einziges schwarzes Zeichen steht gegen eine weiße Fläche (Abb. 4). Diesmal aber so, dass der schwarze Punkt nicht als grafische Markierung, à la Kandinsky (Abb. 5), sondern als Loch, d. h. als Durchtrittsstelle, angeschaut wird. Durch ihn hindurch werden die untergründigen Kräfte der Oberfläche, die ohne Punktsetzung unerkennbar blieben, mobilisiert. Dergleichen lässt sich an der Geschichte der Masken vielfach nachvollziehen, wobei auch semantische Einschübe zur Geltung kommen. Schon das bloße Loch suggeriert so etwas wie Auge oder Blick bzw. jene ‚Beseelung‘, mit der emergente Phänomene oft beschrieben worden sind und die die beiden Philosophen für ihre Genese des Subjektes herangezogen haben. In bildtheoretischer Perspektive betrachtet, schafft der Punkt als Öffnung Übergänge, welche die Materialität animieren. Die Erfahrung von Lebendigkeit resultiert aus jener Differenz, mittels derer die latenten und unerweckten Energien des Kontinuums überspringen. Sichtbar aber werden sie, weil
Abb. 4: Irdisches signifikantes Despotengesicht (Quelle: J. Mercier, Zauberrollen aus Äthiopien, München 1979).
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Abb. 5: W. Kandinsky, Kühle Spannung zum Zentrum (Schema).
sie sich in einer bildspezifischen Asymmetrie organisieren. Sie ist konstitutiv und jedermann kann sie mit seinen eigenen Augen erkennen. Denn niemand kann übersehen, dass er bei der Betrachtung eines (beliebigen) Bildes stets auf ein Wechselspiel zwischen einem formarmen, opaken und simultanen Kontinuum und den in diesem Feld sichtbaren Distinktionen trifft, die sukzedierend und diskontinuierlich, aber geformt bzw. irgendwie gestaltet erscheinen. Dieser Kontrast ist selbst sichtbar, vor allem aber macht er sichtbar. Er zeigt. Sich und Etwas. Betrachtend beginnen wir zumeist mit den Figuren, um sie dann in ihren Zusammenhang zu rücken, in jenen fundierenden Grund, von dem aus wir jederzeit zum Distinkten zurückfinden. Die visuelle Asymmetrie, die wir mit solchen Bemerkungen umschreiben, meint also eine stets ungleiche, frontal organisierte, dem Blick dargebotene Relation. Die Wahrnehmung realisiert sie als ein visuelles Gefälle, das sich stets vom opaken Fond zu ihm hin neigt und dabei Sichten und Durchblicke eröffnet. Die physikalische Metapher des Gefälles signalisiert aber nicht nur einen Unterschied der Ebenen, sondern auch der Kraft. Sie beschreibt den Aufbau eines kinetischen Potenzials, das man erkennt, wenn es wirksam wird – dann nämlich, wenn Objekte unwillkürlich die schiefe Ebene hinabgleiten. Man hat diese Schräge, im Kontext der physikalischen Mechanik und mit Blick auf die Bautechnologie der Alten Welt, die einfachste aller Maschinen genannt.
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Vergleichbar elementar ist jedenfalls das in Bildern organisierte visuelle Gefälle. Die unterschiedlichen Ebenen von Kontinuum und Distinktion bilden eine asymmetrische Relation, in der sich jene Emergenz ereignet, die wir als Lebendigkeit bezeichnet haben. Sie ist im Kern zeitlicher Natur. Anders als in der physikalischen Mechanik sind die hier auftretenden Kräfte unerschöpflich. Denn kein Widerstand hindert den Blick daran, den eröffneten Spielraum nach Belieben und immer wieder zu erkunden. Das Bild impliziert eine Logik der Kontraste, die sich gleichermaßen räumlich wie zeitlich entfaltet. Wir erinnern uns hier an die Feststellungen Paul Klees: „[A]uch der Raum ist ein zeitlicher Begriff “ und bekräftigen sie aus unserer Argumentation. Ein Blick in seine Texte verdeutlicht, wie er die Revision der Bildzeit in Angriff genommen hat. Er sprach vom „konzentrischen Urcharakter des Punktes“ – „von ihm strahlt die Ordnung nach allen Dimensionen aus“10. Wobei das Wörtchen ‚Ur‑‘, das er gerne gebrauchte, anzeigt, dass es um die Fundamente seines Bildverständnisses geht (Abb. 6). Den bildnerischen Punkt identifiziert er zugleich auch mit der kosmischen Schöpfung. In ihr wirkt er ‚ab ovo‘ d. h. als Ei bzw. Samen, setzt Leben in Gang, indem er sich keimend entfaltet. Der dimensionslose, leere Punkt ist ihm ‚Agens‘ und er beschreibt ihn als ‚Ursprung der Formbildung‘, die sich gliedert und ausdifferenziert. Wobei Ursprung nicht einfach einen allerersten Anfang oder Anstoß meint, sondern eher eine causa finalis: Denn die Kraft des Punktes geht in ihren Entfaltungen nicht verloren. Sie hält sich durch, sie äußert sich in allen Aspekten der gefundenen Form, in der Art, wie das Bild erscheint, sich lebendig zeigt. Sie ist Impuls, dessen Realität in der Realisierung liegt. Klee hat vor allem auch dargelegt und in Demonstrationszeichnungen aufgewiesen, dass der elementare Punkt zugleich eine zeitliche und eine räumliche Spur legt (Abb. 7). Nicht zuletzt zeigen die Werke Klees, auf welche Weise sich Zeit-Räume herausbilden. Das gilt selbstverständlich auch für Künstler, die ihm – wie zum Beispiel Mondrian – konzeptionell fern standen. Der Umschlag der mit kalkulierter Genauigkeit gesetzten Flächen in eine das Bild erfassende, simultane Bewegung, lässt sich insbesondere in seinem amerikanischen Spätwerk, z. B. New York BoogieWoogie, beobachten (Abb. 8, S. 206). Wieweit Klee mit der Analyse ikonischer Temporalität vorgedrungen ist, belegt auch sein Pädagogisches Skizzenbuch, das sich zu den Anfängen einer temporalen Syntaktik durcharbeitet.11 Er unterscheidet drei, aus der Sprache bekannte Zeitstufen, nämlich Aktiv, Medium und Passiv (Abb. 9). Die Pointe besteht nun nicht in einer fragwürdigen Übertragung sprachlicher Begriffe, 10 P. Klee, Form- und Gestaltungslehre, Bd. 1: Das bildnerische Denken, hg. v. J. Spiller, Basel 21964, 4. 11 P. Klee, Pädagogisches Skizzenbuch (1925) (Neue Bauhausbücher), Mainz 1965 (Nachdruck 1925), 8 f.
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Abb. 6: P. Klee, Der kosmogenetische Moment: ein Punkt im Chaos (Schema).
Abb. 7: Klee, Pädagogisches Skizzenbuch (wie Anm. 11), 6.
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Abb. 9: Klee, Pädagogisches Skizzenbuch (wie Anm. 11), 11.
sondern in der Herleitung der Unterschiede aus der Bewegung des Punktes. Er spricht von drei verschiedenen Modalitäten. Eine sich entfaltende Linie mobilisiert aktive Energie und damit zugleich einen negativen, mithin: unentfalteten, Flächenwert. Wenn sich die Linien zu Umrissen verbinden, generieren sie Flächeneffekte, um den Preis der primären linearen Aktivität, mithin: einen medialen Modus. – Schließlich sind mehrere, dicht nebeneinander stehende, parallele Linien imstande, eine Fläche auszufüllen (Abb. 10). Deren Energie dominiert dann derart, dass die Linie, die jetzt als Silhouette erscheint, nur noch einen Nebeneffekt erzeugt: einen passiven Modus. Einer zusammenfassenden
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Abb. 10: Klee, Pädagogisches Skizzenbuch (wie Anm. 11), 10.
Demonstrationszeichnung fügt er auch die (bereits erwähnten) sprachlichen Äquivalente bei: ‚Ich fälle, ich falle, ich wurde gefällt‘, und er verschafft eine Vorstellung davon, dass die Frage der Bildzeit nicht auf das Dargestellte begrenzt werden kann. Wer auch nur, zeichnend oder malend, einen Punkt setzt, ist in die Zeit der Darstellung bereits involviert.
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C. Gemessene Zeit Die Wendung des Gedankens, die wir jetzt vollziehen, mag überraschen, doch dient sie allein dem Zweck, was Sichtbarkeit der Zeit sein kann, zu präzisieren. Im Zuge dessen diskutieren wir auch ungewohnte Verbindungen zwischen Technik und Bildnerei, die ominöse Frage der ‚Erweiterung‘ des Bildbegriffs. Wiederum beginnen wir mit dem Punkt als Agens. Nun aber nicht im Sinne seiner freien, formbildenden Beweglichkeit oder des Loches, sondern vielmehr als spin, d. h. als Drehimpuls. Der Punkt dreht sich, so gesehen, um sich selbst, er beginnt zu rotieren. Bereits am Pendel wird dieses Prinzip erkennbar. Wobei die mechanische Bewegung von einer anschaulichen Prägnanz begleitet wird, die sich aus einem visuellen Kontrast ergibt. Der Betrachter sieht im schwingenden Pendel dessen Ruhelage stets mit, schätzt den inhärenten Energiezustand ab und vermag zu erkennen, ob er zum Beispiel dabei ist, zu ermüden, in die Ruhelage zurück zu kehren oder auszuschwingen. Hier ist Schwerkraft im Spiel. Sie sorgt dafür, dass das Pendel zurück schwingt, wobei zur Prägnanz auch gehört, dass es sich nicht möglichst weit vom Ausgangspunkt entfernt, sondern dass zwischen Umkehr- und Ruhepunkt eine signifikante Balance der Kräfte entsteht. Die Mechanik des Pendels hat Schemata angeregt,12 die bei der Darstellung bewegter Körper seit der Antike Bedeutung erlangt haben. Geläufig ist das auf Abweichung von der vertikalen Ruhestellung basierende Stand-Spielbein-Prinzip, das die Körperdarstellung in Europa bis hin zu Degas oder Rodin geprägt hat (Abb. 11). Den Figuren lassen sich Linienkonstellationen unterlegen, die Drehpunkte markieren, um von dort her die jeweilige Stellung oder Haltung, den Charakter einer Figur zu strukturieren. Besonders, wenn es um Handlungen zwischen Personen geht. Der Dürer-Schüler Erhard Schön war nicht der einzige, der sich für solche Strichmännchen interessierte, sie zu Studienzwecken nutzte. Es ist die auf den Punkt bezogene Linie, die mit ihren Winkeln komplexe Inhalte schematisiert. Die lebendig erscheinenden Körper der Tradition waren mit derartigen geometrisch-mechanischen Strukturen durchaus kompatibel, deren Drehpunkte in den menschlichen Gelenken angenommen worden waren. Ein Gliedermann aus Punkt und Linie lenkt mithin die Darstellung lebendiger Körper. Der Drehpunkt aber, von dem jetzt zu reden ist, hat mit figurativen Substraten oder Applikationen nichts zu tun. Wir sprechen von der mechanischen Räderuhr, die nach 1300 an mehreren Orten in Europa erfunden bzw. entwickelt worden ist und der neuzeitlichen Zeitmessung für Jahrhunderte zugrunde lag (siehe Abb. 12, S. 207).13 Sie wurde von einem Motor angetrieben, der bekannt12
Vgl. G. Boehm, Bild und Zeit, in: Das Phänomen Zeit (wie Anm. 6), 1 – 23. Vgl. zum Diskussionsstand: G. Dohrn-van Rossum, Zeit der Kirche – Zeit der Händler – Zeit der Städte, in: Zerstörung und Wiederaneignung von Zeit, hg. v. R. Zoll Frankfurt a. M. 1988, 89 – 119; zu technischen Fragen auch: H. H. Mann, Die Uhren und die Zeiten, in: Zeit / Los (wie Anm. 6), 97 – 110. 13
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Abb. 11: Edgar Degas, Tänzerin (Danseuese regardant la plante de son pied droit).
lich aus hängenden Gewichten bestand, die abgesunken immer wieder auf ihr Ausgangspotenzial zurückgehoben wurden. Mit diesem neuartigen Mechanismus verband sich ein visuelles Zeigefeld, meist Ziffernblatt genannt. Mit ihm wurde die Sichtbarkeit der Zeit institutionalisiert und zu einem wirksamen zivilisatorischen Faktor. Seitdem kann man sehen, was die Stunde geschlagen hat. Mit dem schnellen Blick auf die Uhr verändert sich das menschliche Weltverhalten. Wäre der Topos ‚historische Revo-
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lution‘ nicht so verbraucht, hier wäre er angebracht, wobei es sich allerdings um schleichende Veränderungen gehandelt hat. Sie schließen im übrigen andere, zum Beispiel akustische Zeitindikationen (durch Glocken, Rufe, Töne) keineswegs aus. Macht das Zeigefeld die Uhr aber auch schon zu einem Bild? Wo liegen die Unterschiede, die festzuhalten sind? Eine Frage, die verschiedene Disziplinen involviert, denn es handelt sich beim Zeitmesser um ein veritables Produkt der für Europa so signifikanten ‚techno-science‘14 die in diesem Fall Theorie, Mechanik und bildnerische Gestaltung impliziert. Denn die Uhr ist eine Maschine mit Gesicht. Ihr Drehpunkt besteht, technisch gesehen, aus dem Ende einer rotierenden Achse, die in der Regel zwei als Zeiger aufgesetzte Linien bewegt. Man erkennt daran leicht die Topik des Punktes, der sich expliziert, wieder. Wobei das Agens jetzt mechanisch wirkt, mittels mobiler Zeigerstellungen die Stunden anzeigt. Die Apparatur realisierte ein Bewegungsprinzip, das bis dahin nicht existiert hatte: das eines absolut gleichförmig rotierenden Impulses. Dieser künstliche, in der Natur nicht vorhandene a‑mimetische Bewegungsmodus wurde durch die ingeniöse Erfindung der Hemmung möglich. Sie sorgte für die völlige Gleichmäßigkeit der Drehung, auch dann, wenn die Antriebskräfte schwankten. Wie gesagt: Die Logik des Instrumentes Uhr transformiert unsere Erfahrung von Zeit, bewirkt eine progredierende Rationalisierung lebensweltlicher Plausibilitäten. Von jetzt an war Stunde gleich Stunde, folgte das Messen der Zeit einer strikten Norm. Für die alte Welt war dies durchaus nicht selbstverständlich. Für sie erschien Stunde nicht gleich Stunde. So wurde die sommerliche Tagesstunde länger bemessen als die winterliche, wie umgekehrt die winterliche Nachtstunde länger währte als die sommerliche – unter der Voraussetzung nämlich, dass man die Einteilung der Stunden an der relativen, jahreszeitlich variablen Länge von Tag und Nacht ausrichtete. Das Stundengebet der Mönche, Ausdruck eines gleichförmigen und geregelten Lebensentwurfs, orientierte sich vor der Erfindung der Uhr nicht an einer abstrakten Zeiteinheit, sondern an der situativen Veränderlichkeit von Tag und Nacht. Worin bestehen nun aber die ikonischen Latenzen der Räderuhr? Wir konzentrieren uns auf drei Gesichtspunkte. Erstens: Uhren bewerkstelligen wie Bilder einen Übergang vom Unsichtbaren zum Sichtbaren. Von Unsichtbarkeit ist jetzt in einem doppelten Sinne zu sprechen: Wer auf das Zeigefeld der Uhr blickt, dem bleibt das dahinter befindliche Gangwerk der Räder verborgen, das die temporale Indikation technisch ermöglicht. Man könnte das Ziffernblatt insoweit auch mit einer Maske vergleichen. 14 Vgl. zum Konzept der ‚techno-science‘ D. Ihde, Phenomenology and Technoscience, The Peking Lectures, New York 2009.
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Zum anderen spiegelt das kleine Räderwerk der Uhr auch das große Räderwerk der kosmischen Umschwünge, an dem sich Zeitmessung damals ausgerichtet hat. Die Uhr bildet die Bewegungsordnung des Sonnensystems nicht ab, aber sie stellt sie dar. Zweitens: Jede Uhr muss ‚gestellt‘ werden, sich an einer primären Uhr ausrichten. Diese Vorgabe lieferte in jener historischen Phase die Astronomie, in Gestalt der Annahme, dass Tag und Nacht zusammen vierundzwanzig Stunden dauern und der 24. Teil davon das Maß der Stunde bildet. Alle Ziffernblätter der Welt indizieren – lässt man die damals nicht existenten Zeitzonen beiseite – im Prinzip die gleiche kosmische Stunde. Auf der apparativen Bühne des Chronometers spielt stets das nämliche, erhabene, kosmische Stück. Es wurde für die Benutzer offensichtlich und erlebbar, als es seit dem 15. Jahrhundert möglich wurde, Räderuhren zu monumentalen Bildmaschinen fortzuentwickeln, diejenige in Rostock ist die älteste in dauerndem Betrieb (Abb. 13, S. 208).15 Zu sehen sind nicht nur die Verläufe der Gestirne – die Ereignisse der Naturzeit –, sondern auch die Zeit der Offenbarung und der Geschichte, einschließlich der Einflussnahme der Horoskopie. Drittens: Was an der Uhr Darstellung ist, adressiert sich ans Sehen. Zeit erscheint sinnlich fassbar, zugleich aber genau, weil die Zeiger das skalierte Zahlenfeld gleichmäßig überstreichen. Die Sichtbarkeit der Zeit besteht genau genommen in der Wiedererkennbarkeit einer Maßzahl, auf welche die Zeiger hindeuten. Sichtbar wird, mit anderen Worten, die jeweilige Stunde, die wir unserer Lebenszeit integrieren. Und das aufgrund organisierter Kontraste zwischen dem Zeigefeld und der distinkten Anzeige, deren mechanische Logik vom Drehpunkt ermöglicht wird. Gleichwohl zögern wir, die Uhr ein (mobiles) Bild zu nennen – aus verschiedenen Gründen. Ungewohnt erscheint das nüchterne Aussehen, das durch Hybridisierung mit der Technik ästhetische Erwartungen zurückdrängt. Die repetetive Drehung und die erstrebte Genauigkeit minimieren die Spielräume der Einbildungskraft. Das Zeigefeld eröffnet einen genau definierten Zahlenraum, der kognitive Messbedürfnisse befriedigt. Auch Urteilskraft ist nicht gefragt, sondern eine auf Information abgestellte, kurze und sachliche Wahrnehmung. Wir wüssten auch nicht mehr, wenn wir uns in das, was die Uhr zeigt, lange vertiefen würden. Die Uhr ist deshalb nur dann ein Bild, wenn man das Reich des Ikonischen um die Provinz des Wissens erweitert. Seit der stürmischen Entwicklung bildgebender Verfahren haben wir Anlass, über neue Grenzsetzungen des Ikonischen nachzudenken, die viele, nicht zu Ende gedachte Konsequenzen zutage fördern. Blickt man weit zurück, vor die Erfindung der Räderuhr, entdeckt man andere Verschränkungen von Bildlichkeit und Zeitmessung. So war der antike 15
M. Schukowski, Die Astronomische Uhr in St. Marien zu Rostock, Königstein i. T. 1992.
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Abb. 14: Gnomon. Zeiger oder Achse der Sonnenuhr, 1. Jh., Deutsches Museum München.
Gnomon zugleich ein Mal, dann aber auch ein transportables Instrument, das der Zeitmessung, aber auch der geographischen Verortung diente, ohne schon eine Skala aufzuweisen.16 Die damit verwandte Sonnenuhr war, wenn auch unregelmäßig, skaliert und verfügte über eine Horizontlinie (Abb. 14). Das komplexe Astrolabium, auch ‚Sternengreifer‘ genannt, erlaubte es, die kosmischen Ereignisse in der Höhe und Tiefe des Himmelsraumes durch Visierung auf die Fläche zu beziehen (Abb. 15, S. 209). Mittels einer durchbrochenen Scheibe, Spinne bzw. Arachne genannt, wurden die bekannten Positionen der größten Sterne aufgetragen. Und die jeweils gemessenen Winkel gegenüber den Bahnkurven erlaubten Rückschlüsse auf jeweilige Zeitpunkte. Die Benutzung dieser Geräte war gewiss nicht laientauglich. Doch blieb das Astrolabium eine ingeniöse, auf denkwürdige Weise kombinierte Apparatur, die eine Visierung bzw. Sehanweisung (d. h. Skopik) mit einer Darstellung verband, welche die Ratio der Sternbewegungen einer erdbezogenen Anschauung erschloss. Zeitangaben erfolgten nicht kontinuierlich und skaliert, sondern durch eine jewei16 Vgl. M. Serres, Gnomon. Die Anfänge der Sonnenuhr in Griechenland, in: Elemente einer Geschichte der Wissenschaften, hg. v. Ders., Frankfurt a. M. 1994, 109 – 175; A. Borst, Astrolab und Klosterreform an der Jahrtausendwende (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philos.-Histor. Klasse, Jg. 1989), Heidelberg 1989; Ders., Computus. Zeit und Zahl im Mittelalter, Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 44 (1988), 1 – 82.
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lige Peilung, ein ‚Greifen‘ der Sterne. Die Stunde erschien nicht als regelmäßige Position von Zeigern gegenüber dem Ziffernblatt, sondern als Resultat eines situativen Blickes auf die Zyklen der Himmelskörper, sie beruhte auf visueller Partizipation. Das Astrolabium erlaubte darüber hinaus, Stunden und Orte zu justieren, erstrebte damit, was die Räderuhr keineswegs beabsichtigt hatte. Diese trennte nämlich die Messung der Zeit von derjenigen des Raumes. Die unseres Wissens nie gestellte Frage kommt auf, inwieweit die Erfindung und Verbreitung der Räderuhr seit dem 14. Jahrhundert und die etwa gleichzeitige der raumorientierten Zentralperspektive nicht als komplementäre Vorgänge zu verstehen sind.
D. Das lebendige Bild Die fundamentale Rolle der Zeit in den Bildern manifestiert sich am nachdrücklichsten in ihrer Erscheinungsfülle. Hatten wir nicht vom ‚Atem der Lebendigkeit‘ gesprochen, der uns aus stillstehenden Artefakten entgegenkommt? Der Topos des Punktes war gewiss nicht geeignet, die sinnliche Dichte des Ikonischen zu erschließen. Wohl aber erhellte er die sachlichen Voraussetzungen der bildlichen Artikulationen und die damit verbundene Strukturierung der Temporalität – was gewiss entscheidend genannt werden muss. Denn die Reduktion der materiellen Bilder auf ihr statisches Vorkommen im Raum verschloss ja die Zugänge zu ihrer inneren Bewegtheit, zur Bindung des Sinnes an Zeit und Bewegung, die nur in actu erfahren werden können. Nochmals also: Zeit ist die zentrale Kategorie bildlicher Darstellung – was wir nun an einigen Exempeln genauer betrachten wollen. Denn die ominöse Lebendigkeit, von der die Rede war, ist zunächst lediglich eine Sammelbezeichnung mit wenig Spezifik. Tatsächlich beschränkt sich Zeitlichkeit nicht auf die Bewegungsmodi dargestellter Körper, sondern betrifft auch Bewegungen in der Natur (Wind, Wetter, Wolken, Wege), Affekte (Pathos, Ethos, Besonnenheit, Liebreiz etc.) überhaupt Zustände gesteigerter oder schwindender Präsenz (bis hin zum Tod), aber auch Phänomene von Luzidität oder brütender Schwere, geistiger Evidenz bzw. Transparenz oder dumpfen Versinkens, und nicht zuletzt eines erinnernden Sehens (Abb. 16, S. 210).17 Das den Bildern innewohnende Leben manifestiert sich in ihrem Wie, rhetorisch gesprochen in der Energeia und ihren Substituten, die actio und persuasio einschließen.18 17 Vgl. zum ‚Erinnernden Sehen‘ und zur Analyse von Erinnerung als Bildstruktur: G. Boehm, Mnemosyne. Zur Kategorie des Erinnernden Sehens, in: Modernität und Tradition (Festschrift für Max Imdahl zum 60. Geburtstag), hg. v. Ders. / K. Stierle / G. Winter, München 1985, 37 – 57. 18 R. Campe, Vor Augen-Stellen, Über den Rahmen rhetorischer Bildgebung, in: Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literatur, hg. v. G. Neumann, Stuttgart / Weimar 1997, 208 – 225.
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Es wäre nun naheliegend, solche Exempel herauszugreifen, welche sich auf den agierenden Punkt oder die Konstellation anderer visueller Elemente stützten – handele es sich nun um die tesserae des Mosaiks, die Punkte oder Flecken der Impressionisten, die Flächeneinheiten abstrakter Werke oder um Raster bzw. andere informelle Zufallsstreuungen. Neuerdings erweist sich der Blick zum nächtlichen Himmel, einmal mehr, als künstlerisch fruchtbar. Mit den Mitteln der Malerei (u. a. Vija Celmins) und der Fotografie (u. a. Imi Knoebel) sind Sternenbilder entstanden, welche die Diffusion der Lichtpunkte betonen, die ehedem aber damit verbundenen, umrisshaften Konstellationen ausdrücklich vermeiden (Abb. 17). Für die alte Welt war der Himmel, einschließlich des Tierkreises, der Ort narrativ lesbarer Konfigurationen, die wir immer noch beschwören, wenn wir die Lichtpunkte mit den Namen der Venus, Orions, der Andromeda, des Löwen oder der Wasserschlange und dergleichen mehr belegen. Die temporale Spezifik moderner Punktebilder (des Himmels aber auch der irdischen Natur) verbindet sich mit einer aufschlussreichen und neuen Interpretation stehender Bewegtheit. Denn die sehr kleinen, oft winzigen Lichtpunkte erscheinen an oder unter der Schwelle der Wahrnehmbarkeit, in ihrem Gewimmel überkreuzt sich die Augenblicklichkeit jedes einzelnen Signals mit der Stasis des Gesamten auf unerwartete Weise. Die Impressionisten haben diese radikale Polarität mit dem Begriff der instantaneité bezeichnet, der Plötzlichkeit als einen Zustand erfasst. Der Topos des unbewegten Bewegers erscheint in einem ganz neuen Licht – wovon des Öfteren schon die Rede war.19 Wir konzentrieren uns stattdessen auf das Stillleben als eine Bildform, die ganz besondere Verbindungen mit „Zeit“ eingegangen ist. Darauf verweist schon der bloße Name des ‚Still-Lebens‘ bzw. der nature morte, der die Lebendigkeit des Bildes festhält und weiter ausdeutet. Das klassische Stillleben der Tradition steht im Rufe, besonders an der Zeitform der Vergänglichkeit orientiert gewesen zu sein, was sich an Attributen wie erloschenen oder herabbrennenden Kerzen, gestürzten Gefäßen, zerfledderten Büchern oder an Totenköpfen ablesen lässt. Allesamt Topoi, die auf der Ebene des Dargestellten figurieren. Jetzt aber benutzen wir eine späte natura morta Giorgio Morandis (1890 – 1964), um mit ihrer Hilfe diese Verkürzungen auf das Dargestellte zu vermeiden, die von ihm praktizierte Verschiebung des Stilllebens auf die Zeit der Darstellung kennen zu lernen (Abb. 18, S. 211). Etüden auf dem Weg zur Abstraktion haben wir nicht vor uns. Morandi ging es stets und leidenschaftlich um Gesicht und Gewicht der Dinge – was ein Vergleich mit entsprechenden Gemälden seines Generationsgenossen Nicola de Stael unterstreichen könnte (Abb. 19, S. 212). Morandi war der Sichtbarkeit der 19 Vgl. G. Boehm, Die Wiedergewinnung der ikonischen Zeit, in: Weltbild – Weltzeit (Westöstliche Denkwege 10), hg. v. W. Schweidler, St. Augustin 2007, 97 – 124.
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Abb. 17: V. Celmins, Holding onto the Surface, 1983, David and Reneé McKee Collection, New York.
Welt betrachtend zugetan, und er las ihr auch die temporalen Aspekte ab, die er in seinen Bildern formulierte. Vor uns erscheinen keine bedeutungsleeren Flächen, sondern tonal gestimmte, farbige Passagen, die gleichzeitig den Vorrang des Ganzen exponieren und eine Vorstellung von den Volumina der Dinge vermitteln. Allerdings mit einem signifikanten Unterschied: Die der Oberfläche der Dinge anhaftenden Eigenschaften bleiben ausgespart. Was Morandi nicht gefangen nimmt, hatte das traditionelle Stillleben gerade fasziniert, und keine Mühe war zu gross gewesen, etwa den matten Schimmer von Zinn, den Glanz von Fayence oder Porzellan, die Spiegelungen auf durchsichtigem Glas, die Fühlbarkeit von Stoffen, selbst den Geruch einer geschälten Zitrone zu evozieren. Diese Fülle der anschaulichen Welt erscheint in Morandis Bildern erloschen. Zugleich diffundieren benennbare ikonographische Praetexte, die vordem diese Gattung bedeutungsträchtig unterfüttert hatten. Die sinnliche Dichte Moran-
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dis kommt anderswo her, und sie hat einen ganz eigenen Gehalt. Man beginnt ihre Genese zu erkennen, wenn man das malerische Verfahren betrachtet. Dabei finden sich unterschiedliche Gefäße, beispielsweise, zu einer Einheit neuer Art zusammen. Was sie auszeichnet, sind visuelle Korrespondenzen. Da drängt, in unserem Beispiel, der Auberginenton des hinteren Gefäßes da und dort nach vorn. Dabei verschiebt sich aber auch sein Umriss: Andere, abgespaltene Farbflächen verselbstständigen sich und bilden auf eigene Faust separate Formen aus; sind dabei, sich auf verschiedenen räumlichen Ebenen zu lokalisieren. Woanders mischt sich der Ockerton des tragenden Kontinuums in die Distinktion der Gefäße ein, verwischt an einigen Stellen die Differenz von Figur und Grund. Den Übergang markieren auf ihre Weise zwei Waagerechten, die aus der Farbe des Grundes gebildet sind und in Höhe von Hals bzw. Hüfte auf die Vasen treffen. Diese parallelen Linien sind nicht Etwas, zum Beispiel das dekorative Muster einer Tapete, sondern ein Schema, mittels dessen die formlose Tiefe in die sich verkörpernden Objekte übergeht. Bei aller kontemplativen Beharrung, die man Morandi und seiner Malerei zuschreibt – seine Bilder leben von einer ganz unaufgeregten, aber nie erlahmenden Unruhe. Sie hält die visuellen Prozesse in Gang, welche als ein lebendiger Puls erscheinen, der die Dinge hervortreten lässt. Dabei behalten sie etwas Unfertiges, bleiben unterwegs zu ihrer Identität. Bei manchen von ihnen handelt es sich um uneinlösbare und wesenlose Vorgestalten möglicher Dinglichkeit. Der Vorrang der temporalen Unruhe hat auch Folgen für den sich eröffnenden Raum. Wo Inversionen, d. h. der Austausch von Grund und Figur in Gang kommen, oder gar Oszillationen ablaufen, da entstehen keine eigenwertigen Raumaspekte, noch viel weniger verselbstständigt sich ein perspektivischer Durchblick. Stattdessen partizipieren wir an einem plastischen, raumzeitlichen Prozess, der immer beginnt und nie endet, der immer schon zum Stehen gekommen ist und gleichwohl stets neu entsteht. Morandi ist überhaupt nicht bestrebt, das Vergehen von Zeit, d. h. Vergänglichkeit zu beschwören, auch geht es ihm nicht um den dornröschenhaften Zauber der Bewegungslosigkeit, der Dinge erscheinen lässt, als befänden sie sich für immer an diesem Ort und trotzten dem verzehrenden Fluss der Zeit. Im Gegenteil: Das dichte Erscheinen verdankt sich ruhigen Prozessen, Präsenz steht unter einem unaufhörlichen Vorbehalt. Wie weit sich Morandi damit von den bestimmenden Koordinaten der Tradition entfernt hat, kann ein kurzer Blick auf ein Stillleben von SanchezCotan lehren (Abb. 20, S. 213). Vor einem dunklen Grund, gerahmt von einem kräftig profilierten Architekturfenster, erscheint Alltägliches: eine Quitte, ein Kohlkopf, eine Melone und Gurke. Ihrer Belanglosigkeit stellen sich die Genauigkeit ihrer Darstellung und die Betonung ihres Auftretens entgegen. Sanchez-Cotan nutzt den Hell-DunkelKontrast, auch das räumliche Relief der Umrahmung, um damit den Früchten Greifbarkeit, Eigenart und Gewicht zu geben; und eben all jene sinnlichen
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Eigenschaften, die sie jeweils auszeichnen, eine Quitte zur Quitte, Kohl zu Kohl etc. machen. Wir wissen aus Texten der neuzeitlichen Philosophie, dass die hier so eindrucksvoll beobachtbare Zuordnung von Dingen und ihren Eigenschaften, von primären und sekundären Sinnesqualitäten in einer strukturellen Analogie zur sprachlichen Prädikation steht, die ihrerseits damit befasst ist, einem jeweiligen Etwas, dem Subjekt des Satzes, spezifische Eigenschaften zuzuordnen, sie auszusagen. Die betonte Schweigsamkeit der Bilder Morandis hat auch mit ihrer Distanz zur Prädikation zu tun. Gleichwohl ziehen sie sich nicht ins unbestimmte Vage oder Indifferente zurück, im Gegenteil: Ihr Gehalt ist deiktischer Art, der visuelle Prozess lässt Flächen und Farbtöne ineinander gleiten, sich zu körperlicher Plastizität entfalten, als eine positive Kraft erweisen. Auf der kleinen Bildbühne von Sanchez-Cotan dagegen spielt ein anderes Stück – auch wenn man wohl kaum Früchte gesehen hat, die so sie selbst waren wie diese, deren Präsenz so unausweichlich dem Betrachter entgegen kommt. Der offensichtliche Sinn dieses kleinen Stückes liegt im Memento, im lebenspraktischen Appell an die Vergänglichkeit. Er geht vom Schnitt in die Melone aus, der ihr Fleisch mit einer gewissen Obszönität offenlegt, ihr geformtes Wesen dem Verwesen ausliefert. Den Glanz der Sinnlichkeit umrandet der Schatten eines Entzuges, das Wissen, sterblich zu sein. Deswegen ist auch Schweigen nicht gleich Schweigen, und Stillstand nicht gleich Stillstand. Sanchez-Cotan hat mit seinem ingeniösen Einfall, zwei der Früchte an einem Faden hängend schweben zu lassen, das Gewicht der Dinge und ihre fragile Balance in der Zeit sichtbar gemacht. Zwei Pendeln vergleichbar, die im Ruhepunkt verharren, treten sie in Dialog mit jener Ruhe, die entsteht, wenn Dinge – die Melone und die Gurke – an ihrem Ort verharren, temporale Modi auf räumliche Bezüge reagieren. Morandi kultiviert eine andere Art von Empirie. Ihre Elemente hat er Raum, Licht, Form und Farbe genannt.20 Sie verkörpern sich in Vasen, Gläsern, Schalen oder Schachteln, weil sie an einem Prozess partizipieren, dem sie ihr bildliches Erscheinen überhaupt zu verdanken haben. Dieser Prozess hat weder Anfang noch Ende, wohl aber eine zyklische Kontinuität. Morandi macht keinen Versuch, die Dauer der Dinge dadurch zu retten oder zu gewährleisten, dass er sie der Zeit entreißt. Er gibt ihnen vielmehr Konsistenz, indem er sie an den Puls des Bildes bindet. Die Sichtbarkeit der Zeit appelliert an den betrachtenden Vollzug. Die natura morta ist mit zyklischer Zeit gleichsam geimpft. Gerade deshalb obsiegt sie gegen Melancholie und Tod. Wenn wir die Eigenarten Morandis vor dem Hintergrund der Tradition deutlicher erkennen konnten, dann bietet sich an – in Gestalt eines knappen Epiloges –, auch eine ihm folgende Kultur des Stilllebens vergleichend heranzuziehen. 20 Vgl. Giorgio Morandis Brief vom 6. Januar 1957, in: L. Vitali, Giorgio Morandi, Mailand 1963.
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Gottfried Boehm
Der amerikanische Maler Cy Twombly (1928 – 2011) hat sich in seinen späten Jahren auch als Fotograf betätigt. Entstanden sind Sequenzen, die u. a. das Thema des Stilllebens aufnehmen und ihm wiederum einen spezifischen Sinn geben (Abb. 21, S. 214).21 Er entspringt einem anderen Wie, einer neuen Interpretation der temporalen Möglichkeiten des Bildes. Man muss dabei auch beachten, dass es sich jeweils um eine Serie handelt, die vom Betrachter durchgegangen werden soll. Charakteristisch erscheint in diesen Bildern die Gleichgültigkeit der dargestellten Blüten gegenüber ihrem Ort: Es sind Tulpen ohne Vase oder Topf, ohne Standfläche, mit geschwächter Bindung an die rektangulären Koordinaten der Bildfläche. Oft sieht man auch die Stiele nicht, auf denen die Blüten gewachsen sind. Das feurige Rot der Kelche oder das Geäder andersfarbiger Valeurs beginnt sich von der pflanzlichen Morphologie zu lösen. Wir partizipieren an einem Prozess der Entkörperung, der aber rein gar nichts mit Verwelken, Verwesen oder Vergehen zu tun hat. Im Gegenteil: Das ganze, Tulpe genannte, Pflanzenwesen geht in eine glückliche Diffusion über. Die dingliche Auflösung ermöglicht, den Trauben vergleichbar, die sich entformen, wenn sie Wein werden, den Zustand einer visuellen Essenz, der in der freien, von den Dingen gelösten Kraft der Farbe besteht. Was wir sehen, kann man auch Verklärung nennen, ein Wort, in dem sich das Klare und eine Art positiver Schein miteinander verbinden. Twombly führt diese Transformation mittels einer Technologie der fotografischen Unschärfe herbei. Die gewachsene Form findet zu ihrem entgrenzten Grund zurück. Sie aktiviert sich als ein starkes Aroma der Sinne, in einer Zeit sondergleichen, in der sich Flüchtigkeit selbst genug ist.
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Cy Twombly Photographs (Matthey Marks Gallery), New York 1993.
Imagination und Erinnerung bei Augustinus Johann Kreuzer Ernst Cassirer hat 1931 im Hinblick auf Augustinus’ Frage nach der Zeit zu recht die Feststellung getroffen, daß deren Analyse „einen geschichtlichen Wendepunkt und einen geschichtlichen Höhepunkt der phänomenologischen Erfassung und Deutung des Zeitbegriffs“1 darstellt. Husserl stand mit seinem Urteil, daß es „unsere wissensstolze Neuzeit [. . .] in diesen Dingen (nicht) erheblich weiter gebracht (hat)“2 als Augustinus, also nicht allein. Die Wichtigkeit und unüberholte Relevanz, die Augustinus in zeitphilosophischer Hinsicht eignen, hat nun damit zu tun, daß sie – gleichsam als Unruhe in der Besinnung auf die Frage nach der Zeit – mit seiner Analyse des Vermögens der Erinnerung ursächlich zusammenhängt. Darauf – die Bedeutung der Memoria-Analyse für Augustinus’ Antwort auf seine Frage nach der Zeit (bzw. unserer Erfahrung von Zeit) – können im folgenden (in Teil 4) nur wenige Hinweise gegeben werden.3 Schon vorneweg aber läßt sich sagen, daß sich aus der Interdependenz von Zeit und Erinnerung bei Augustinus (insbes. in den einschlägigen Büchern X und XI der „Confessiones“, die hier zusammengehören) gleichsam ein Umkehrschluß ziehen läßt: der auf die Temporalitätsstruktur des Vermögens der Erinnerung. Was Erinnern (memoria) für und bei Augustinus heißt, führt nicht aus ‚Zeit‘ als Bedingung der Endlichkeit (bzw. Schöpfung) hinaus, sondern sozusagen mitten in sie hinein. Das gilt gerade auch für die (Frage nach der) ‚Zeit der Bilder‘. Die Spannung, die durch den spekulativen Doppelsinn des Genitivs entsteht – als Subjekte betrachtet generieren die Bilder Zeit, als Objekte betrachtet sind sie ihr als ihrer Bedingung unterworfen –, repräsentiert eine Spannung im Sinn des Vermögens der Erinnerung selbst. Augustinus hat diese Spannung – nicht zufällig in einer epochalen Zäsur4 – in maßstabsetzender Weise registriert. 1 E. Cassirer, Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum [1931], in: Ders., Schriften zur Philosophie der symbolischen Formen, hg. v. M. Lauschke, Hamburg 2009, 169 – 190, 83. 2 E. Husserl, Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, hg. v. M. Heidegger, Tübingen (1927) 21980, 368. 3 Vgl. ausführlicher: J. Kreuzer, Pulchritudo – Vom Erkennen Gottes bei Augustin, München 1995. 4 Zur Situierung von Augustinus’ Werk und Vita im Kontext eines epochalen Wandels vgl. H. I. Marrou, S. Augustin et la fin de la culture antique, Paris 21949 [dt. Augustinus und
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Johann Kreuzer
Diese Spannung ist mit einem Kraftfeld verbunden, das verhindert, den Gegenstandsbereich ‚Imagination und Erinnerung‘ bei Augustinus auf die Seite bloßer Verinnerlichung zu schlagen. Das ist die thematische Perspektive der folgenden Überlegungen. Vorausgeschickt seien ihnen drei Stellen aus seinem Werk, die diese Perspektive verdeutlichen. (1) So heißt es in Buch XIII von ‚De trinitate‘, daß „die wunderbare Schönheit der Welt draußen unserem Sehen und Tasten“, vielleicht sollte man sagen: unserem unmittelbaren Fühlen, ‚gegenwärtig‘ und vor Augen ist. Gleichzeitig hätten wir ‚innen‘, in unserer memoria, ein Bild davon, auf das wir – eine Imagination, auf die wir – zurückzukehren vermögen: dieses Zurückkehren – also praktiziertes Erinnern – nennt Augustinus Denken (cogitare): „Mundi denique mirabilis pulchritudo forinsecus praesto est [Hervorhebung: JK] et aspectibus nostris et ei sensui qui dicitur tactus si quid eius attingimus. Habet etiam intus in memoria nostra imaginem suam ad quam recurrimus cum [. . .] cogitamus“5. (2) Was zeigt sich ‚draußen‘ im Vorübergehen des Endlichen – im anhaltenden Vorübergehen, dem die Rede von der Zeit gilt? Augustinus notiert: „Himmel und Erde, seine sichtbaren und unsichtbaren Werke, sagen auf gewisse Weise das Zeugnis seiner Güte und Größe. Selbst der wiederholte und gewohnte Lauf der Natur, in dem der Lauf der räuberisch schnellen Zeiten sich umwälzt, legt [. . .], wenn der Betrachter sich liebevoll hinwendet, dem Schöpfer Zeugnis ab“6. Die ‚rapacitas temporum‘, die ‚reißende Zeit‘ wertet Augustinus als [= ein] testimonium Creatori. Das ist deshalb bedeutsam, weil es das häufig kolportierte Vorurteil, Augustinus sei die entscheidende Station auf dem Weg der Innerlichkeit zwischen Platon und Descartes, widerlegt.7 Dieser Kolportage gilt es die Entdeckungen entgegenzuhalten, die Augustinus in der und für die Analyse des Vermögens der memoria gemacht hat und die seine Auffassung der Erinnerung von der neuplatonischen Vorgabe bei Plotin unterscheidet.8 Augustinus’ Entdedas Ende der antiken Kultur], übers. v. L. Wirth-Poelchau, hg. v. J. Götte u. a., Paderborn, 2 1995; vgl. P. Brown, Augustinus von Hippo. Eine Biographie, Erweiterte Neuausgabe, übers. v. J. Berhnard / W. Kumpmann, München 22000; K. Flasch, Augustin, 1980; vgl. J. Kreuzer, Augustinus zur Einführung, Hamburg 22013. 5 Augustinus, De trinitate XIII\1.4, zit. n. De trinitate, hg. v. W. J. Mountain / F. Glorie, Turnhout 1968 [= CCL 50 / 50A], 385. 6 „Caelum et terra, uisibilia et inuisibilia opera eius, dicunt quodam modo testimonium bonitatis et magnitudinis eius; et ipse cursus frequens usitatusque naturae, quo temporum rapacitas uoluitur, [. . .] si pius considerator aduertat, perhibet testimonium Creatori“ (Augustinus, Enarratio in Ps. 118, s. XXVII\1; in: Enarrationes in Psalmos, hg. v. E. Dekkers / J. Fraipont, Turnhout 1990, 1756 / 57). Erfolgt diese ‚liebevolle Hinwendung‘ nicht, wird der ‚gewohnte Lauf der Natur‘ zum Ort der ‚peregrinatio‘ (vgl. z. B. Augustinus, De civitate dei XIX\4 – 15; XXII\22). 7 Vgl. Anm. 15. 8 Bei Plotin ist die gute Seele vergeßlich (vgl. Enneade IV\3.32,17 f), bei Augustinus begreift sie sich als erinnernde. Plotin thematisiert die Erinnerung primär als Gedächtnis, vgl. z. B. a. a. O. IV\4.1,11 ff; IV\3.25,24 ff; IV\6; V\3.3,5. Über diese alltagsgeläufigen Zuschreibung der Gedächtnisfunktion geht Augustinus explizit in den ‚Confessiones‘ hinaus (vgl. Augustinus, Confessiones X\6.10 – 8.12).
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ckungen gehen auch über jene einbahnstraßenartige Bindestrich Er-Innerung hinaus, in die Hegel – sozusagen wider besseres Wissen – die ‚Phänomenologie des Geistes‘ hat münden lassen.9 Denn – und damit kommen wir zu Beleg (3): in seiner Schrift über die Musik schreibt Augustinus – im Buch VI von ‚De musica‘ –, daß die memoria in zeitlicher Hinsicht dem entspricht, was die Strahlen (des Lichts) in räumlicher Hinsicht ermöglichen. Die memoria ist das „lumen temporalium spatiorum“10 – als dieses große Hilfsmittel in den geschäftigen Dingen dieses Lebens,11 wird sie, als Vermögen der Besinnung, als recordatio, zum ‚inneren Licht‘ – zum lumen interior.12 Nicht Inwendigkeit ist hier avisiert, sondern die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt (oder vielleicht auch: die ‚Innenwelt der Innenwelt der Außenwelt‘). Mit dem Spiel von Innenwelt und Außenwelt sind wir beim Thema der folgenden Überlegungen. Teil A wird die Analyse von Sinn und Semantik der Erinnerung in dem hierfür einschlägigen Buch X der ‚Confessiones‘ behandeln. Der nächste Abschnitt gilt dann der Analyse äußerer Wahrnehmung als einem Akt innerer Formbildung, die sich in Buch XI von ‚De trinitate‘ formuliert findet (und leider viel zu wenig Beachtung erfährt). Unter den Stichworten ‚Augenschein der Dinge‘ und ‚Kunst der Invention‘ werden dann in Teil C Imagination und Erinnerung enggeführt. Anschließend folgen holzschnittartige Hinweise auf die Rolle, die die memoria-Analyse für Augustinus’ Exposition der Frage nach der Zeit hat. Schließen werden diese Überlegungen erneut mit einem Hinweis: er gilt der produktiven Lektüre bzw. einem Leser, den Augustinus im 20. Jahrhundert gefunden und der ihn in dessen Sprache übersetzt hat.
A. Über Sinn und Vermögen der Erinnerung: Confessiones, Buch X ‚Gegenstand‘ des zehnten Buchs der ‚Confessiones‘ ist die Antwort auf die Frage, was geliebt wird, wenn Gott geliebt wird (vgl. Conf. X\6.8).13 Diese Antwort beginnt mit der Analyse der Frage, was in der Aufmerksamkeit sinnlicher 9 Zur Bindestrich „Er-Innerung“ vgl. die Schlußseite der „Phänomenologie des Geistes“. Dazu, daß Hegel hier wider besseres (früheres) Wissen, das er mit Hölderlin geteilt hat, verfährt, vgl. J. Kreuzer, Zeichen machende Phantasie. Über ein Stichwort Hegels und eine ursprüngliche Einsicht Hölderlins, Zeitschrift für Kulturphilosophie 2 (2008), 253 – 278. 10 Augustinus, De musica VI\8.20, Patrologia Latina 32, Paris 1877, 1174. 11 A. a. O. VI\11.31: „memoria dicitur, magnum quoddam adjutorium in hujus vitae negotiosissimis actibus“ (a. a. O. 1180). 12 Das ‚Wiedererinnern‘ ist (als ‚recordatio‘) das ‚lumen interior‘ (vgl. a. a. O. VI\8.22). Dieses ‚lumen interior‘ ist bzw. reflektiert die Gegenwart Gottes im Geist bzw. im Bewußtsein. Diese Gegenwart Gottes ist im ‚Innersten‘ (vgl. a. a. O. VI\13.40; 14.48). Vgl. zum Ganzen S. Wulf, Zeit der Musik. Vom Hören der Wahrheit in Augustinus’ De Musica, Freiburg / München 2013. 13 Der Einfachheit halber werden kürzere Textstellen aus Buch X der ‚Confessiones‘ in diesem Abschnitt im fortlaufenden Text mit der jeweiligen Kapitelangabe nachgewiesen.
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Wahrnehmung dem Fragen der Wahrnehmung des Sinnlichen antwortet bzw. entspricht. Die Antwort, die die Gegenstände sinnlicher Wahrnehmung geben – die Antwort: „Er hat uns gemacht“ –, ist ein Antworten auf die Intentionalität in der Wahrnehmung: „Meine Frage war meine Aufmerksamkeit und ihre Antwort war ihre Gestalt“ (Conf. X\6.9: „et exclamauerunt uoce magna: ‚ipse fecit nos‘. interrogatio mea intentio mea et responsio eorum species eorum“).14 Die der Intentionalität des Wahrnehmens antwortende Sprachlichkeit der Dinge führt nun auf die Unterscheidung zwischen innerem und äußerem Sinn und auf die Frage nach dem Urteilsvermögen. Dieses sei ‚innen‘ und ‚besser‘ als der äußere Sinn: (Conf. X\6.9: „sed melius quod interius“).15 Im Erkennen ihrer Geformtheit werden die Dinge als erschaffene beurteilt. Dieses Erkennen und dieses Urteilen sind eine Leistung des ‚homo interior‘ und realisieren sich als ‚inneres‘ Urteilsvermögen (der ‚iudex ratio‘). Es gilt, das Respondieren der Dinge, ihren ‚Anspruch‘ als von draußen empfangene Stimme, mit dem Urteil der ‚inneren Wahrheit‘, der ‚veritas intus‘ des Urteilens, zusammenzubringen.16 Die Dynamik der Erinnerungsanalyse in Buch X wird nun mit der Einsicht eingeleitet, daß mit dem in allen Akten der Wahrnehmung tätigen ‚Ich‘-Instanz – „Ich bin es, der durch die Sinne tätig ist, einer, ich, der Geist“ („quae diuersa per eos ago unus ego animus“17) – nicht erklärt werden kann, was Erinnern im Grunde bedeutet. Über das Ich als unterstellte Bündelungsinstanz äußerer Wahrnehmung (als Herrscher im Haus der Sinnesboten) gelte es hinauszugehen, wolle man verstehen, was Erinnern bedeutet. Denn „auch Pferd und Esel“ verfügten über die Kraft solcher Bündelung bzw. des Sich-Merkens des durch die Sinne Empfundenen: „Transibo et istam uim meam; nam et hanc habet equus et mulus“ (Conf. X\7.11). 14 Diese Antwort am Einsatzpunkt der Memoria-Analyse in Buch X findet ihre Entsprechung im Beginn von Buch XI der ‚Confessiones‘: der Frage nach der kreativen Kausalität, die im Vorübergehen von Zeit schöpferisch erscheint: „Ecce sunt caelum et terra, clamant quod facta sint; mutantur enim atque uariantur [. . .] et uox dicentium est ipsa euidentia“ (XI\4.6; Augustinus, Confessiones, hg. v. Lucas Verheijen, Turnhout 1981, 197). 15 Es ist üblich, in diesem Zusammenhang auf den oft zitierten, Plotin entlehnten Satz aus ‚De vera religione‘ hinzuweisen: „noli foras ire, in te ipsum redi“ (uera rel. 39.72) –, der Augustinus zum Klassiker der ‚Innerlichkeit‘ auf dem Weg, „der von Platon zu Descartes führt“, hat werden lassen (vgl. Ch. Taylor, Quellen des Selbst, übers. v. J. Schulte, Frankfurt a. M. 1996, 235 ff). Eine solche Einreihung übersieht, daß für Augustinus nicht die Innerlichkeit, sondern deren Selbsttranszendenz entscheidend ist. Das wird an der Fortsetzung des Satzes deutlich: „et si tuam naturam mutabilem inueneris, transcende et te ipsum“ (uera rel. 39.72). 16 Vgl. Conf. X\6.9 / 10: „Homo interior cognouit haec per exterioris ministerium; ego interior cognoui haec, ego, ego animus per sensum corporis mei. [. . .] nuntiantibus sensibus (praeposita est) iudex ratio. [. . .] nec respondent ista [quae facta sunt: JK] interrogantibus nisi iudicantibus. [. . .] illi intelligunt, qui eius uocem acceptam foris intus cum ueritate conferunt“ (Augustinus, Confessiones [wie Anm. 14], 160). 17 Die Parallele zu Kants „Ich denke, das alle meine Vorstellungen muß begleiten können“ (vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 132 / A 107, Werke in zwölf Bänden, hg. v. W. Weischedel, Bd. III / IV, Frankfurt a. M. 1968, 136) liegt nahe.
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Offenkundig läßt sich das Erinnern, das von einem bloßen Sich-etwas-Merken unterschieden ist, nicht dadurch erklären, daß eine Instanz, die als ‚Ich‘ vorausgesetzt wird, etwas von draußen nach drinnen schafft. Über die Annahme einer als ‚unus ego animus‘ sich gleichsam autark durchhaltenden Ich-Instanz will Augustinus hinaus.18 „Hinausschreiten will ich also über diese Kraft meiner Natur, in Stufen aufsteigen zu dem, der mich gemacht hat, und ich komme in die Felder und weiten Hallen der Erinnerung, wo die Schätze sind unzählbarer Bilder, die meine Sinne von den Dingen zusammengetragen haben“19. Wichtig ist hier die argumentative Abfolge in der Analyse der memoria. Zunächst spricht Augustinus die Erinnerung als inneren Aufbewahrungsort, als Gedächtnis von draußen empfangener Inhalte an. Das Gedächtnis enthält, was die Sinne berührt haben und dergestalt zum Gegenstand des Denkens werden kann. Als Gedächtnis wird die Erinnerung gleichsam in räumlicher Form betrachtet. Das Erinnerte ist im Gedächtnis als ein Bild der sinnlich empfundenen und wahrgenommenen Sachen. „Dies alles empfängt der große Raum des Gedächtnisses, um es, falls nötig, wieder hervorzuholen und gegenwärtig zu haben, in seinen, ich weiß nicht was für geheimen und unaussprechlichen Winkeln“. Ins Gedächtnis treten, erinnert werden nicht die Dinge selbst, „sondern deren sinnlich wahrgenommene Bilder, die dort dem Denken gegenwärtig sind, erinnert es sie“20. In der Form des Gedächtnisses, der ‚Schatzkammer‘ erinnerter Dinge, ist die Erinnerung ein rein rezeptives Organ (recessus). Das Erinnerte ist im „ungeheuren Raum des Gedächtnisses“21 gegeben als zu Erinnerndes. Was erinnert wird, ist nun nicht ohne die Tätigkeit der recordatio gegeben. Was wir erinnern, erschöpft sich deshalb nicht in mentaler Repräsentation, sondern ist Ergebnis eines Tätigseins. Was ‚Ich‘ meint, bezeichnet jene Tätigkeit, die etwas erinnert (hat) und diesen Vorgang eines ursprünglichen Erinnerthabens nun selbst erinnert. In 18
Der Schritt über das ‚egologische‘ Konzept des „homo interior [. . .] ego, ego animus“ (vgl. Anm. 16) hinaus führt in die ‚weiten Hallen der Erinnerung‘ (vgl. Anm. 19). Daran wird deutlich, daß sich die Auffassung der memoria bei Augustinus fundamental von Descartes’ „je pense, donc je suis“ (vgl. R. Descartes, Discours de la methode, IV) unterscheidet. Schon Leibniz ist im Gegenzug zu Descartes auf Augustinus’ Memoria-Konzept zurückgekommen (vgl. z. B. Monadologie §§ 14, 19; Nouveaux Essais II,27, §§ 9, 14). 19 „Transibo ergo et istam naturae meae, gradibus ascendens ad eum, qui fecit me, et uenio in campos et lata praetoria memoriae, ubi sunt thesauri innumerabilium imaginum de cuiuscemodi rebus sensis inuectarum. Ibi reconditum est, quidquid etiam cogitamus, uel augendo uel minuendo uel utcumque uariando ea quae sensus attigerit, et si quid aliud commendatum et repositum est“ (Conf. X\8.12, Augustinus, Confessiones [wie Anm. 14], 161). 20 „Haec omnia recipit recolenda, cum opus est, et retractanda grandis memoriae recessus et nescio qui secreti et ineffabiles sinus eius [. . .]. nec ipsa tamen intrant sed rerum sensarum imagines illic presto sunt cogitationi reminiscenti eas“ (Conf. X\8.13, a. a. O. 161) – Die „imagines rerum“ sind nicht einfach Abbilder oder Eindrücke von ‚Sachen selbst‘. Sie sind im „thesaurus“ bzw. „recessus“ der Erinnerung Resultat nicht eines Ab‑, sondern eines Einbildungsvorgangs: vgl. unten Teil B dieser Überlegungen. 21 „Intus haec ago, in aula ingenti memoriae meae. Ibi enim caelum et terra et mare praesto sunt cum omnibus, quae in eis sentire potui“ (Conf. X\8.14, a. a. O. 162).
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diesem Tätigsein urteilt es nicht nur über Sinnesdaten und ‑boten, sondern begegnet auch sich selbst. „Dort begegne ich mir auch selbst und erlebe mich noch einmal“22. Mit einiger Emphase ruft Augustinus dann aus: „Groß ist diese Kraft der Erinnerung, gewaltig groß, mein Gott, ein weites und unbegrenztes Inneres“. Die Größe dieser Kraft, die zur Natur des Geistes gehört, unterstreicht er noch durch mehrere rhetorische Fragen: „Wer gelangt in ihren Grund? Das ist die Kraft meines Geistes und gehört zu meiner Natur, und doch verstehe ich nicht ganz, was ich bin.“ Will man verstehen, was ‚Ich‘ konkret existierend meint (‚was ich bin‘), darf man nicht bei der zirkulären Annahme eines ‚Ich selbst‘ (‚ego ipse‘) als seinem Träger stehenbleiben. Der Reduktion (des Geistes) auf ein zirkuläres Selbstverhältnis provoziert die Frage, ob ‚der Geist zu eng sei, um sich selbst zu haben‘, ob deshalb ‚außer ihm‘ (zu suchen) sei, was er an Eigenem nicht verstehe, und nicht in ihm selber.23 Das Modell, Wahrnehmen lasse sich auf einen Vorgang zurückführen, mit dem ein ‚Ego‘ etwas von draußen nach drinnen schafft und in einem mentalen Binnenraum aufbewahrt, macht weder einsichtig, was Erinnern meint, noch kann es erklären, was hier als Agens (als ‚Subjekt‘) am Wirken ist. Das Repräsentationsmodell scheitert daran, daß es die Kraft der Erinnerung zu einem Abbildungsinstrument macht. Deshalb wird Augustinus in Buch XI von ‚De trinitate‘ Wahrnehmen als ‚innere Formbildung‘ thematisieren (dazu gleich mehr). In Buch X der ‚Confessiones‘ unterläuft er repräsentationalistische Verkürzungen dadurch, daß er über das ‚Was‘ des Erinnerten hinausgeht und nach dem ‚Wie‘ des Erinnerns fragt. Das ‚Was des Erinnerten‘ ist der Raum des Gedächtnisses. Das ‚Wie des Erinnerns‘ fragt nach der Bedingung seiner Möglichkeit. Danach zu fragen geht zugleich von der Einsicht aus, daß Erinnern sich nicht wie ein Instrument einsetzen läßt, über das ein angenommenes Ego willkürlich verfügte. Was ‚Ich‘ meint, bildet sich vielmehr erst, indem uns in der Verschiedenheit des Erinnerten und durch diese Verschiedenheit jene verbindende Kraft bewußt wird, die im Akt des Erinnerns selbst besteht. Als Bedingung der Mög22 „[. . .] ibi mihi et ipse occuro meque recolo, quid, quando et ubi egerim quoque modo, cum agerem, affectus fuerim“ (ebd.). 23 „Magna ista uis est memoriae, magna nimis, deus meus, penetrale amplum et infinitum. Quis ad fundum eius pervenit? Et uis est haec animi mei atque ad naturam meam pertinet, nec ego ipse capio totum, quod sum. Ergo animus ad habendum se ipsum angustus est, ut ubi sit quod sui non capit? Numquid extra ipsum ac non in ipso“ (Conf. X\8.15, a. a. O. 162). – Reduziert man Bewußtsein auf ein zirkuläres Selbstverhältnis, so resultiert aus dieser Enge des Geistes Angst. „Angustus“ ist die etymologische Quelle des Wortes, die sich aus der Beschränkung auf ein zirkuläres bzw. reines Selbstverhältnis für ein Ich ergebende ‚Enge des Geistes‘ der logische Grund von Angst, vgl. Art. ‚Angst‘ im Grimm’schen Wörterbuch: „Angst, f., angor anxietas, ahd. angust, mhd. angest [. . .] unser pl. lautet ängste=ahd. angusti [. . .] zweifelnder, beengender zustand überhaupt, von der wurzel enge [. . .]. Angst, angustus, anxius [. . .] schon im einfachen angst, angust=lat. angustus superlativisches st“ (J. u. W. Grimm, Deutsches Wörterbuch, [Nachdruck d. Erstausgabe Leipzig 1854 ff], München 1984, 358 f).
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lichkeit alles Erinnerten wird sie normalerweise nicht selbst erinnert. „Und da gehen die Menschen hin und bewundern die Höhen der Berge, die gewaltigen Fluten des Meeres, die weiten Gefälle der Flüsse, das Ausmaß des Ozeans und den Umlauf der Gestirne, aber sie vergessen sich selbst und wundern sich nicht darüber, [. . .] daß ich davon nicht reden könnte, [. . .] wenn ich (sie) nicht innen in meiner Erinnerung sähe, in so gewaltigen Räumen, als würde ich sie gleichsam draußen sehen“24. Diese Stelle hat Petrarca in der Beschreibung seines Aufstiegs zum Mont Ventoux zitiert.25 Sie klingt bis in Kants ‚Kritik der Urteilskraft‘ nach: „Kühne überhangende gleichsam drohende Felsen, am Himmel sich auftürmende Donnerwolken [. . .] machen unser Vermögen zu widerstehen, in Vergleichung mit ihrer Macht, zur unbedeutenden Kleinigkeit. [. . .] [W]ir nennen diese Gegenstände gern erhaben, weil sie [. . .] ein Vermögen zu widerstehen von ganz anderer Art in uns entdecken lassen“26. Das Vermögen, das sich hier entdecken läßt, ist das Vermögen der Einbildungskraft, von dem es in der ‚Kritik der Urteilskraft‘ später heißen wird, daß sie „(als produktives Erkenntnisvermögen) [. . .] sehr mächtig [ist] in Schaffung gleichsam einer andern Natur, aus dem Stoffe, den ihr die wirkliche gibt“27. Der Stoff, den ‚die wirkliche Natur gibt‘: das ist das Was des jeweils Erinnerten. Der Akt wie das Wie des Erinnerns sind daran nicht gebunden – sie sind in jedem Erinnern kopräsent oder ‚mitwirklich‘. Wirklich wie die Natur ist damit auch Erinnern als Bedingung der Möglichkeit, was Einbildungskraft von Träumen oder bloßer Willkür unterscheidet. Diese Mitwirklichkeit des Erinnerns in dem, was uns zu Erfahrungen kommen läßt, hat Augustinus in originärer Weise benannt. Er hat damit zugleich die Fähigkeit wie den Akt der Imagination vom Erinnern als einem Vermögen her aufgerollt, das nicht innengeleitet ist, sondern für ein Wechselwirken steht. Imagination erschöpft sich nicht in mentaler Repräsentation, sondern bedeutet ein Tätigsein, das – zumindest für Wesen, die der Bedingung der Endlichkeit unterworfen sind – zugleich zeitlichen Bedingungen unterliegt.
24 „Et eunt homines mirari alta montium et ingentes fluctus maris et latissimos lapsus fluminum et Oceani ambitum et gyros siderum et relinquunt se ipsos nec mirantur, quod haec omnia cum dicerem, non ea uidebam oculis, nec tamen dicerem, nisi [. . .] intus in memoria mea uiderem spatiis ingentibus, quasi foris uiderem.“ (Conf. X\8.15, Augustinus, Confessiones [wie Anm. 14], 162 f). 25 Vgl. Brief an Francesco Dionigi di Borgo San Sepolcro in Paris vom 26. April 1336. 26 Vgl. I. Kant, Kritik der Urteilskraft, § 28: Von der Natur als einer Macht, B 104, Werke in zwölf Bänden [wie Anm. 17], Bd. X, 349). Kant folgert weiter, daß sich hier „eine Selbsterhaltung von ganz andrer Art“ bezeugt, „als diejenige ist, die von der Natur außer uns angefochten und in Gefahr gebracht werden kann“ (B 105, a. a. O. 350), und schließt dann, daß „die Einbildungskraft zu Darstellung derjenigen Fälle [sich erhoben erfährt: JK], in welchem das Gemüt die eigene Erhabenheit seiner Bestimmung, selbst über die Natur, sich fühlbar machen kann“ (B 106, ebd.). 27 A. a. O. § 49, B 193, a. a. O. 414.
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B. Über Wahrnehmen als innere Formbildung oder: Über Imagination (Augustinus, De trinitate, Buch XI) Damit kommen wir zu der Analyse dessen, was Wahrnehmung in Augustinus’ theoretischem Hauptwerk heißt: ‚De trinitate‘ – dem ersten und originären Versuch, das (geglaubte) Datum eines trinitarisch zu denkenden Gottes durch die Analyse der Strukturen endlicher Geisttätigkeit plausibel zu machen.28 Kraft wie ‚Natur‘ (bzw. Semantik) der Fähigkeit produktiven Wahrnehmens und ‚Einbildens‘ sind ein wichtiger Bestandteil jener trinitarischen Selbstreflexion des Geistes, die nachvollziehbar macht (oder machen soll), daß die Erkennbarkeit des geglaubten Gottes selbst Teil des zu denkenden Gottes ist.29 Geist ist jenes Vermögen, das sich als Bild begreift und sich in diesem Sichals-Bild-Begreifen zugleich realisiert. Vorgabe ist hier natürlich Gen 1,26 f, wo der Mensch als das zum Bild Gottes geschaffene Geschöpf in den Schöpfungszusammenhang eingeführt wird.30 Daß Geist als Tätigkeit der Bildstruktur der Erfahrungswirklichkeit entspricht, ist ein zentrales Moment von Augustinus’ Trinitätsspekulation. Er deutet den Begriff ‚Spekulation‘ in originärer Weise als Ausdruck für die ‚Spiegelungsverhältnisse‘, in denen sich für einen Geist, der sich als endliche Bilder sehendes endliches Bewußtsein begreift, Erkenntnis vollzieht. Referenz ist dabei 1 Kor 13,12.31 Augustinus hält weiter fest, daß diejenigen den Sachgehalt von 1 Kor 13,12 realisieren, die den Geist gleichsam als Bild erkennen, so daß sie, „was sie sehen, irgendwie auf jenen beziehen können, dessen Bild er ist, und durch das Bild, das sie durch Erblicken sehen, auch jenes durch Mutmaßen sehen, da sie dasselbe noch nicht von Angesicht zu Angesicht 28 Vgl. J. Kreuzer, Einleitung, in: Augustinus, De trinitate (Bücher VIII – XI, XIV – XV, Anhang: Buch V, lateinisch – deutsch), neu übers. und mit einer Einleitung hg. v. Ders., Hamburg 2001, VII – LXVII; vgl. auch J. Brachtendorf, Die Struktur des menschlichen Geistes nach Augustinus, Hamburg 2000; Gott und sein Bild – Augustins De trinitate im Spiegel gegenwärtiger Forschung, hg. v. Ders., Paderborn 2000; R. Kany, Augustins Trinitätsdenken. Bilanz, Kritik und Weiterführung der modernen Forschung zu ‚De trinitate‘, Tübingen 2007. 29 Vgl. J. Kreuzer, Wozu drei? Überlegungen zu Augustinus’ Trinitätsspekulation, in: Echnaton und Zarathustra. Zur Genese und Dynamik des Monotheismus, hg. v. J. Assmann / H. Strohm, München 2012, 273 – 292. – Nicht immer ist die Provokation, die von dem in ‚De trinitate‘ in originärer Weise formulierten Anspruch ausgeht, daß die Erkennbarkeit Gottes selbst Teil eines als zuhöchst Einen zu Denkenden ist, überhaupt erkannt worden. Produktiv fortgeschrieben haben diese Provokation etwa Dietrich v. Freiberg, Eckhart v. Hochheim oder Nikolaus v. Kues. Philosophisch relevant geworden ist sie erneut in den an Kant anschließenden Diskussionen im ‚Deutschen Idealismus‘. 30 Die Vulgata übersetzt: „faciamus hominem ad imaginem et similitudinem nostram [. . .] et creavit Deus hominem ad imaginem suam ad imaginem Dei creavit illum masculum et feminam, creavit eos“ (Biblia Sacra Vulgata. Ed. tertia, Stuttgart 1983, 5). 31 De trinitate XV\8.14 greift Augustinus auf den Unterschied zwischen specula (Beobachtungsanhöhen), speculari (spähen, einem militärtechnischen Terminus), und speculum zurück, um vom ‚Spiegelsehen‘ die Erläuterung von 1 Kor 13,12 abzuleiten (vgl. Augustinus, De trinitate [wie Anm. 28], 280 – 283).
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vermögen. Denn nicht sagt der Apostel: ‚Wir sehen jetzt einen Spiegel‘, sondern: ‚Wir sehen jetzt durch einen Spiegel‘“32. Nicht einen Spiegel, sondern per speculum sehen wir. Das heißt: Nicht daß er Projektionsfläche irgendwelcher – und sei es göttlicher – Abbilder ist, läßt den sich in seiner Endlichkeit erkennenden menschlichen Geist zum Bild Gottes werden. Keine eingebildeten Götter sind es, sondern die Befähigung zur Einbildung, das tätige Spiegeln der Imaginationskraft ist es, was ihn als Bild denken und vom bloßen Abbild – und damit von der Dichotomie zwischen ‚Abbild‘ und ‚Urbild‘, die gewissermaßen als ‚platonisches‘ Gemeingut tradiert wird – unterschieden sein läßt. Zur Imaginationskraft tätigen Spiegelns gehört noch eine andere Stelle aus De trinitate XV\8.14. Zur Erläuterung erneut von 1 Kor 13,12 schließt Augustinus folgende Überlegungen an: „Wenn wir fragen, wie und was dieser Spiegel ist, dann stoßen wir in der Tat darauf, daß in einem Spiegel nur ein Bild erblickt wird. [. . .] [D]urch das Bild, das wir selbst sind, (sehen wir) irgendwie jenen [. . .], von dem wir geschaffen sind gleichwie in einem Spiegel“33. Der Geist ist Bild Gottes als tätiges Spiegeln – als (bezogen auf unser Thema): produktive, um sich selbst wissende Imagination. Es wäre nun spannend, zumindest ein wenig den geisttheoretischen Konsequenzen nachzugehen, die sich ergeben, wenn man die Sphäre der Bilder nicht als sekundären (abkünftig-kontingenten), sondern als primären Ort ansieht, in dem ein Verständnis-von-sich gewinnt, was wir als Geist reflektieren. Das würde aber den Rahmen dieser Überlegungen sprengen. Sie beschränken sich deshalb im Folgenden auf die Analysen, die Augustinus zur Beantwortung der Frage, was Wahrnehmung als ‚innere Formbildung‘ heißt, in trinitätslogischer Absicht in Buch XI von ‚De trinitate‘ liefert. Augustinus legt hier eine dreigliedrige Struktur frei, die sich vom bipolaren Schema der ‚Repräsentation‘ löst: „Wenn wir also einen Körper sehen, so lassen sich – es ist dies ganz leicht – folgende drei Dinge beobachten und auseinanderhalten. Erstlich der Gegenstand, den wir sehen, sei es ein Stein oder eine Flamme 32 „[. . .] sed illi qui eam tamquam imaginem uident ut possint ad eum cuius imago est quomodocumque referre quod uident et per imaginem quam conspiciendo uident etiam illud uidere coniciendo quoniam nondum possunt facie ad faciem. Non enim ait apostolus: ‚Uidemus nunc speculum,‘ sed: ‚Uidemus per speculum‘“ (Augustinus, De trinitate XV\23.44; a. a. O. 344 f). 33 „Quale sit et quod sit hoc speculum si quaeramus, profecto illud occurrit quod in speculo nisi imago non cernitur. Hoc ergo facere conati sumus ut per hanc imaginem quod nos sumus uideremus utcumque a quo facti sumus tamquam Per speculum. [. . .] – Speculantes dixit, per speculum uidentes, non de specula prospicientes. Quod in graeca lingua non est ambiguum unde in latinam translatae sunt apostolicae litterae. Ibi quippe speculum ubi apparent imagines rerum ab specula de cuius altitudine longius aliquid intuemur etiam sono uerbi distat omnino. Satisque apparet apostolum ab speculo, non ab specula dixisse gloriam domini speculantes. Quod uero ait, in eandem imaginem transformamur, utique imaginem Dei uult intellegi eandem dicens, istam ipsam scilicet id est quam speculamur, quia eadem imago est et gloria Dei“ (a. a. O. XV\8.14, a. a. O. 280 – 283).
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oder irgend sonst etwas, was man mit den Augen sehen kann, was natürlich schon da sein konnte, auch bevor es gesehen wurde. Ferner das Sehen, das nicht da war, bevor wir den dem Sinnesvermögen begegnenden Gegenstand wahrnahmen. Drittens jene Wirklichkeit, welche den Gesichtssinn auf dem geschauten Gegenstand, solange er gesehen wird, festhält, das ist die Aufmerksamkeit des Geistes“34. Die ‚Aufmerksamkeit des Geistes‘: das ist (als „intentio animi“) jene Intentionalität des Geistes, deren Unübergehbarkeit gerade im 20. Jahrhundert wieder thematisiert wurde. Daß die Entdeckung dieser Intentionalität wie die der dreigliedrigen Struktur des Prozesses von Wahrnehmung selbst aus strategischen Absichten heraus erfolgt – in der Tätigkeit des Geistes sollen Dreierstrukturen dessen Bildsein verdeutlichen –, nimmt den Ergebnissen der Analyse nichts von ihrer sachlichen Erschließungskraft. Diese Erschließungskraft möge der folgende Abschnitt aus Buch XI von ‚De trinitate‘ belegen. Wegen seiner Dichte wie Schlüssigkeit verdient er es, ausführlicher zitiert zu werden: „Auch wenn nämlich die Gestalt des Körpers (species corporis), der mittels des Leibes wahrgenommen wurde, entfernt wird, bleibt in der Erinnerung sein ihm ähnliches Abbild (similitudo) zurück, auf das der Wille die Sehkraft wiederum hinlenken kann, so daß sie hierdurch von innen her geformt wird (informetur intrinsecus), wie der Sinn von dem ihm begegnenden sinnlichen Körper von außen her geformt wurde. – Und so entsteht eine Dreiheit aus Erinnerung (memoria), innerer Schau (interna uisio) und dem Willen, der beide eint (utrumque copulat voluntate). Und weil diese drei sich zu Einem zusammenfügen, so nennt man dieses Zusammenfügen Denken (ab ipso coactu cogitatio dicitur).[35] [. . .] Auf die körperliche Gestalt, die draußen (extrinsecus) wahrgenommen wurde [. . .], folgt [. . .] die die Gestalt, welche die Seele durch den Leibessinn in sich hineintrinkt, aufbewahrende Erinnerung (retinens memoria) – und auf das Sehen, das sich nach außen richtete (visio foris), als der Sinn vom sinnlichen Körper geformt wurde, folgt ein ähnliches inneres Sehen (visio intus), da von dem, was die Erinnerung festhält, die Sehkraft des Geistes (acies animi) geformt wird, und abwesende Körper gedacht werden – und der Wille selbst wendet, wie er den Sinn zu dem ihm gegenüberstehenden Körper nach außen zur Formung (formandum) hinbewegte und nach der Formung mit dem Körper verband (iungitur), so die Sehkraft des sich erin34 „[P]rimo ipsa res quam uidemus, [. . .] quod utique iam esse poterat et antequam uideretur. deinde uisio quae non erat priusquam rem illam obiectam sensui sentiremus. tertio quod in ea re quae uidetur quamdiu uidetur sensum detinet oculorum, id est animi intentio“ (a. a. O. XI\2.2; ebd.). 35 Zu dieser etymologischen Deutung von ‚cogitare‘ vgl. auch Buch X der ‚Confessiones‘. In ihm unterlegt Augustinus der erkenntnistheoretischen Deutung die Temporalitätsstruktur des Sinns der Erinnerung. Denken (cogitare) heiße, zeitlich Verschiedenes (jeweils Erinnertes) aus seiner zeithaften Zerstreuung zusammenzubringen: „modestis temporum interuallis recolere [. . .] id est uelut ex quadam dispersione conlige[re], unde dictum est cogitare“ (Conf. X\11.18; Augustinus, Confessiones [wie Anm. 14], 164).
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nernden Geistes der Erinnerung zu, auf daß sie von dem, was diese festgehalten, geformt werde und im Denken ein ähnliches Sehen geschehe (fit in cogitatione similis uisio). – Wie aber durch den Verstand die sichtbare Gestalt, durch die der Sinn des Leibes geformt wurde, und sein ihm ähnliches Abbild (eius similitudo), welches im geformten Sinn entstand, auf daß sich das Sehen vollziehe, unterschieden wurden (im übrigen waren sie ja so innig verbunden, daß sie vollkommen für ein und dasselbe gehalten wurden), so ist es auch mit der Vorstellung (phantasia), wenn der Geist die Gestalt des geschauten Körpers denkt. Wenn sie auch aus dem ähnlichen Abbild besteht, welches das Gedächtnis festhält und aus dem herrührt, was hiervon in der Sehkraft der sich erinnernden Seele geformt wird, so erscheinen diese beiden so einig und einzig (una et singularis apparet), daß nur durch den urteilenden Verstand gefunden wird, daß es sich um zweierlei handelt (duo esse non inueniantur nisi iudicante ratione). Mit ihm sehen wir ein, daß etwas anderes ist, was in der Erinnerung bleibt, auch wenn unsere Gedanken anderswo sind, und daß etwas anderes entsteht, wenn wir uns erinnern, das heißt zur Erinnerung (als Gedächtnis) zurückkehren und dort die gleiche Gestalt finden (iudicante ratione intellegimus aliud esse illud quod in memoria manet etiam cum aliunde cogitamus et aliud cum fieri cum recordamur, id est ad memoriam redimus, et illic inuenimus eandem speciem). Wenn sie nicht mehr dort wäre, dann würden wir sagen, daß wir sie so sehr vergessen haben, daß wir uns überhaupt nicht mehr entsinnen können“36. Ein zusammenfassender Kommentar sei versucht: ‚Sehen‘ geschieht erst dann, wenn sich der Blick der ‚Sache‘ – die ‚zuerst‘ ist, d. h. unabhängig vom Sehen da ist – zuwendet. Voraussetzung dafür, daß gesehen wird, ist freilich die „intentio animi“37. Die visio rei wird deshalb vom Sichtbaren und vom Sehenden zusammen erzeugt. Der sichtbare Gegenstand ‚antwortet‘ der ihn betrachtenden Intentionalität – daraus entsteht der ‚geformte Sinn‘: das Bild, das sich ‚innen‘ einprägt, sofern der Wille hinzukommt, es behalten zu wollen.38 Wahrnehmung ist kein Abbildungs-(Kopier‑)vorgang, sondern ein Transformationsprozeß. Damit unterlaufen Augustinus’ Analysen Repräsentationsmodelle der Wahrnehmung sozusagen prinzipiell. Was wahrgenommen wird, ist nicht eine res ‚draußen‘ (bzw. deren mentale Vorstellung), von der ein bedeutungsidentisches Abbild nach ‚drinnen‘ kopiert wird. Die visio rei ist vielmehr die Antwort, die der voluntas (zu sehen oder zu hören etc.) respondiert. Die visio foris transfor36
Augustinus, De trin. XI\3.6 [wie Anm. 28], 143 – 145. Vgl. Anm. 34: „quod in ea re quae uidetur quamdiu uidetur sensum detinet oculorum, id est animi intentio“. 38 „[G]ignitur ergo ex re uisibili uisio, sed non ex sola nisi adsit et uidens. quocirca ex uisibili et uidente gignitur uisio, ita sane ut ex uidente sit sensus oculorum et aspicientis atque intuentis intentio“ (De trinitate XI\2.3; a. a. O. 134). 37
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miert sich, wenn wir etwas sehen wollen, zur visio intus. Diese visio intus ist als inneres Bild der ‚Gegenstand‘, auf den sich die Sehkraft des Geistes (acies animi) richtet. Vom Gegenstand der visio intus ‚wissen‘ bzw. erinnern wir zugleich, daß er von der sinnlichen res unterschieden bleibt. Sinnvoll werdendes Wahrnehmen zeichnet deshalb ein doppeltes Erinnern aus: in dem Augenblick, in dem sich die Sehkraft des sich erinnernden Geistes (die acies recordantis animi) der Erinnerung zuwendet (convertit ad memoriam), bildet sich die innere Form, die wir als Wahrnehmung im Sinn haben. Wahrnehmen heißt innere Formbildung: in-formatio im buchstäblichen Sinn. Dieses ‚informative‘ Wahrnehmen ist nicht erinnerungsvorgängig. Erinnern gehört vielmehr ins Wahrnehmen selbst. Es gehört so sehr schon ins Wahrnehmen selbst, daß wir die urteilende Kraft des Verstandes (die iudex ratio) brauchen, um uns bewußt zu machen, daß das reproduktive Behalten vom produktiven Erinnern zu unterscheiden ist. Von dem, was „in memoria manet“, unterscheidet sich, was geschieht, wenn wir erinnern, das heißt zur Erinnerung zurückkehren: „aliud quod in memoria manet et aliud fieri cum recordamur, id est ad memoriam redimus“39. Zweierlei wird man hieran festhalten können. Der in sich gegenläufige Sinn des angesprochenen ‚doppelten‘ Erinnerns zeichnet Imagination als wörtlich zu verstehende Einbildungskraft aus. Und dieser in sich gegenläufige Sinn des Erinnerns ist temporaler Natur: wenn Erinnern ein ‚Zurückkommen-auf ‘, einen ‚reditus‘ zur Erinnerung meint, dann schließt es Zeit in sich. Wirkliches Erinnern generiert ein Bewußtsein der Zeit, die in ihm vorübergeht. Darauf werden wir noch zurückkommen. Nun dürften die eben angedeuteten Folgerungen, die Augustinus mit seinen wahrnehmungsphänomenologischen Entdeckungen nahelegt, einige Fragen hervorrufen: – Kann es sein, daß dabei die memoria erheblich überfrachtet wird? – Ist es für das Imaginieren nicht wesentlich, daß in ihm das, was imaginiert erscheint, vom Akt des Imaginierens (Einbildens, Erinnerns) unterschieden bleibt? – Denn wie könnten wir sonst das Imaginieren beispielsweise vom Träumen unterscheiden?40 – Ist die angesprochene temporale Struktur mehr als ein terminologischer Notbehelf?
39
Ebd. Vgl. Descartes’ Argument in Abschnitt I.5 der ‚Meditationes‘; vgl. auch Kants Anmerkungen zur „Unterscheidung aller Gegenstände überhaupt in Phaenomena und Noumena“ insbes. in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, A 254 / 255, vgl. Kant, Werke (wie Anm. 26), Bd. III, 280. 40
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Es ist ein sozusagen postcartesianisches Unbehagen, das sich in diesen Fragen bemerkbar macht. Antworten ließe sich vielleicht dergestalt, daß Imagination sich weder auf die Wiederholung eines innerlich Gewordenen (auf die Reproduktion eines inwendig schon Reproduzierten) noch auf die Abbildung eines äußerlich Gegebenen beschränken läßt noch gar damit erklärt werden kann. Zum ‚Bild‘, das mit der ‚visio intus‘ zu einem inneren Gegenstand wird, gehört vielmehr jenes Differenzwissen, das mit der erwähnten Doppelbezüglichkeit des Erinnerns (in den Akten der Imagination) angesprochen wurde. Diese Doppelbezüglichkeit war der Grund des Spiels mit der Formulierung ‚die Innenwelt der Innenwelt der Außenwelt‘ eingangs dieser Überlegungen. Die visio intus gilt keiner ‚Innenwelt der Außenwelt‘ – wäre sie dies, gälte sie einer ‚Innenwelt‘, die wie ein Objekt der Außenwelt betrachtet wird.41 Worauf sich die ‚Sehkraft des sich erinnernden Geistes‘ richtet, ist, statt Repräsentation zu sein, ein Geschehen der Vergegenwärtigung, das Nicht-mehr-Gegenwärtiges mit Noch-nicht-Gegenwärtigem verbindet. Solche Vergegenwärtigung bzw. Imagination hat mit dem Augenschein der Dinge und einer Kunst der Invention zu tun und ist zutiefst von temporalen Strukturen imprägniert.
C. Vom Augenschein der Dinge und der Kunst der Invention Imagination beruht auf innerer Formbildung. Für sie gilt, daß eine visio rei – nach Graden der Intentionalität – jeweils vergegenwärtigt erscheint. Solche Vergegenwärtigung ist kein Geschehen außerhalb der Bedingung zeitlichen Vorübergehens. Sie ist dieser Bedingung vielmehr unterworfen. Wären die Akte (imaginierender) Vergegenwärtigung der Bedingung von Zeit nicht unterworfen, müßten wir nicht durch Imagination vergegenwärtigen. Das führt auf einen für den ‚Augenschein der Dinge‘ und der diese rerum evidentia transformierenden ‚Kunst der Invention‘ wesentlichen Punkt. Er betrifft das Verhältnis (die logische Beziehung) zwischen Erinnern und Vergessen. Einige Formulierungen Platons haben das Vorurteil bekräftigt, daß die lēthē des Vergessens als ‚Löschtaste‘ gegenüber dem Speichervorgang ‚Erinnern‘ zu betrachten sei und damit so etwas wie Entimaginisierung bedeute.42 Diesem Vorurteil setzt Augustinus die Einsicht in zwei Evidenzen entgegen: a) besteht 41 Davon unbenommen bleibt, daß die ‚Innenwelt der Außenwelt‘ selbst zum Gegenstand – sei es der Wissenschaft vom Gehirn, sei es von Imaginationstechniken (beispielsweise im Surrealismus) – werden kann. Nur ist mit der entsprechenden Vergegenständlichung der Selbstbezug nicht erklärbar, der solche Verobjektivierung als Vergegenständlichung empfinden wie (z. B. im Gefühl, etwas zu sein, was in Funktionen nicht aufgeht) kritisieren läßt. Vielleicht hat Imagination damit zu tun, dem, was Selbstbezug heißt, durch und in Formen der Objektivation (Äußerung) zu einem Selbstverständnis zu verhelfen. 42 Vgl. z. B. Platon, Phaidon 75d.
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die Kraft der Erinnerung nicht darin, daß uns qua ihrer alles gegenwärtig wäre oder bliebe. Am Vergessen begreifen wir vielmehr b), was Erinnern fordert wie herausfordert: Erinnern müssen wir, weil wir vergessen – und würden wir nicht vergessen, müßten wir nicht erinnern.43 Vergessen ist in doppelter Hinsicht ‚Bedingung der Möglichkeit‘ der Erinnerung. Es macht sie nötig, aber auch überhaupt erst möglich. Wäre es von keinem Vergessen gefährdet, wäre Erinnern überflüssig. Würden wir nicht vergessen, bräuchten wir nicht zu erinnern. Dieses Zusammenhangs zwischen Vergessen und Erinnern würde der ‚Geist‘ erst dann ledig, wenn er sich als bedeutungsidentischer Code zu reduplizieren vermöchte: erst dann hätte er – bzw. die entsprechenden Algorithmen – Herrschaft über sein Erinnern. Erst dann gäbe es ein Erinnern jenseits des Vergessens. Gäbe es aber ein solches vergessensresistentes Erinnern, bedürften wir keines Erinnerns und auch keines Imaginierens (mehr), der Geist wäre aller Bilder ledig. Nicht weil es der Zeit als Bedingung der Endlichkeit in eine zeitlose Inwendigkeit entrückte, sondern weil es Vergessen in sich schließt, erweist sich das Vermögen der Erinnerung als ‚Kraft des Lebens im sterblich lebenden Menschen‘. „Groß ist die Kraft der Erinnerung, ich weiß nicht mein Gott, wie sie erschauern läßt, diese tiefe und unbegrenzte Vielfältigkeit. Und das ist der Geist, das bin ich selbst. Was also bin ich, mein Gott? Von welcher Natur bin ich? Ein mannigfaltiges, vielgestaltiges und unermeßliches Leben“44. Die Kraft der Erinnerung ist wegen ihrer selbstreflexiven Natur nicht begrenzt. ‚Unzählbar‘ sind die ‚Felder, Grotten und Höhlen der Erinnerung‘. ‚Unzählig‘ sind die ‚Arten und Wiesen‘, mit denen wir in der memoria ‚unzählige Dinge‘ zu finden vermögen. Was immer in der Erinnerung ist, ist im Geist. „Durch all dieses laufe ich hin und her, fliege hierhin und dorthin, dringe ein, soweit ich kann, und nirgends ist ein Ende. So groß ist die Kraft der Erinnerung, so groß ist die Kraft des Lebens im Menschen, der doch sterblich lebt!“45 Die Kraft der Erinnerung ist die Kraft des sterblich lebenden Menschen – so lautet diese Definition. Worin besteht sie? 43 Zum Ganzen vgl. ausführlicher J. Kreuzer, Pulchritudo (wie Anm. 3), 49 – 67, und Ders., Über das Vergessen und Erinnern, in: Das Unbehagen an der Erinnerung. Wandlungsprozesse im Gedenken an den Holocaust, hg. v. M. Frölich / U. Jureit / C. Schneider, Frankfurt a. M. 2012, 67 – 82. 44 „Magna uis est memoriae, nescio quid horrendum, deus meus, profunda et infinita multiplicitas; et hoc animus est, et hoc ego ipse sum. Quid ergo sum, deus meus? Quae natura sum? Varia, multimoda uita et immensa uehementer“ (Conf. X\17.26, Augustinus, Confessiones [wie Anm. 14], 168). 45 „Ecce in memoria mea campis et antris et cauernis innumerabilibus atque innumerabiliter plenis innumerabilium rerum generibus siue per imagines, sicut omnium corporum, siue per praesentiam, sicut artium, siue per nescio quas notiones, sicut affectionum animi – quas et cum animus non patitur memoria tenet, cum in animo sit quidquid est in memoria – per haec omnia discurro et uolito hac illac, penetro etiam, quantum possum, et finis nusquam: tanta uis est memoriae, tanta uitae uis est in homine uivente mortaliter“ (Conf. X\17.26; ebd.)
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Sie besteht nicht darin, daß uns erinnernd alles gegenwärtig wäre und bliebe.46 Die Vorstellung, daß nichts seine Gegenwärtigkeit verliert, daß alles Erinnerte immer seine gleiche Intensität an Gegenwärtigkeit behielte, wäre die Vorstellung einer vergessensresistenten Zeitlosigkeit mentaler ‚Innenwelten‘, die es als Parallelwelt des Geistes neben oder in der realen Lebenszeit der Außenwelt gäbe. Sie stellt die Parodie von Zeitlosigkeit wie des Sinns der Erinnerung dar. Erinnern konstituiert keine ‚innere Dauer‘ des Bewußtseins (keine gleichsam aparte Welt der Innerlichkeit). Der Verengung des Sinns von Erinnerung auf eine Innenwelt, in der Zeit als Bedingung der Endlichkeit individuellen Existierens getilgt sein soll, stellt Augustinus die Forderung entgegen, auch diese „Kraft, die Erinnerung genannt wird“47, zu überschreiten. Woraufhin ist die Kraft der Erinnerung zu überschreiten? ‚Überschreiten‘ heißt Transzendieren. Das gilt gerade auch für das Ansinnen, Bewußtsein (der ‚Geist‘) könne sich in Akten der Selbstbeziehung von aller Beziehung auf das von ihm Unterschiedene reinigen: auch sie – und mit ihr die Vorstellung, daß Erinnern eine Art Einbahnstraße sei, auf der von draußen empfangene Dinge nach drinnen kopiert und dort konserviert würden – gilt es zu überschreiten. Denn sie macht, um im Bild zu bleiben, aus der Einbahnstraße eines auf die Speicherleistungen des Gedächtnisses wie auf einen Akt des Innerlichmachens restringierten Erinnerns eine Sackgasse mentaler Selbstbezüglichkeit. Dem stellt Augustinus, wie erwähnt, die Forderung „Transibo et hanc uim meam, quae memoria vocatur“48 entgegen. Er stellt diese Forderung eines Hinausgehens über die ‚vis memoriae‘, um mit ihr nicht in die deadendstreet mentaler Selbstbezüglichkeit zu geraten. Wie sich im unmittelbaren Anschluß an die Forderung einer Transzendenz der Erinnerung zeigt, erweist sich gerade auch hier der spekulative Doppelsinn des Genitivs. An dem, was uns über die Grenzen des Erinnerns hinausgehen läßt (die Frage: ‚Was aber liebe ich, wenn ich dich liebe, Gott?‘), bemerken wir das Vermögen der Erinnerung und vor allem Erinnern als Vermögen selbst: „Überschreiten werde ich auch die Erinnerung, um dich – wo? – zu finden, wahrhaft Gutes, einzig sichere Wonne, um dich – wo? – zu finden?“49 Das geforderte Hinausschreiten über die Erinnerung hat mit einem Augenschein der Dinge zu tun, den es für uns deshalb gibt, weil wir ihn erinnert haben. Nicht gerecht wird ihm eine Sicht des Erinnerns, die es zum 46 „Vieles haben wir in der Erinnerung, was wir nicht immer betrachten“, hält Augustinus in ‚De genesi ad litteram‘ fest: „multa habemus [. . .] in memoria, quae non semper intuemur“ (Augustinus, De genesi ad litteram XII\13 [= CSEL 28.1], hg. v. J. Zycha, Wien 1894, 397). 47 Augustinus, Conf. X\17.26 (wie Anm. 14), 168. 48 Ebd. 49 „Transibo ergo et memoriam, ut attingam eum, qui separauit me a quadrupedibus et uolatilibus caeli sapientiorem me fecit, transibo et memoriam, ut ubi te inueniam, uere bone, secura suavitas, ut ubi te inueniam?“ (Conf. X\17.26; a. a. O. 169).
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Lieferanten von Innenwelten macht. Was es braucht, ist stattdessen eine Sicht des Erinnerns, die als Imagination produktiv wird. An dem, was die Kraft der Erinnerung zu übersteigen scheint, wird uns diese Kraft und Erinnern als Vermögen überhaupt erst bewußt. Die Antwort auf die Frage: „Was aber liebe ich, wenn ich dich liebe Gott?“ ergibt sich exakt aus der Einsicht, daß die Denknotwendigkeit wie Erfahrung von Transzendenz nicht in erinnerungsjenseitige Welten verweist. Sie erweist sich – und ist gegeben als – der Grund (neuzeitlich gesprochen) ‚ästhetischer Erfahrung‘ als, wie es bei Kant heißt, Erscheinung „von dem tief verborgenen allen Menschen gemeinschaftlichen Grunde der Einhelligkeit in der Beurteilung der Formen, unter denen ihnen Gegenstände gegeben werden“50. Der logische Ort (des Sinns) von Imagination dürfte derjenige sein, an dem und durch den wir ‚Zugang‘ erhalten zu den Formen, in denen uns Gegenstände erscheinen. Mit Augustinus waren wir vom Beginn der Antwort ausgegangen, die er in Buch X der ‚Confessiones‘ auf dessen Leitfrage gibt: „Meine Frage (interrogatio) war meine Aufmerksamkeit (intentio) und die Antwort der Dinge war ihre Gestalt (species)“. Die Aufmerksamkeit sinnlicher Wahrnehmung findet in der ‚wunderbaren Schönheit der kreatürlich-endlichen Welt draußen‘ eine Antwort.51 Der ‚Augenschein der Dinge‘, die evidentia rerum, das ist als Antwort – als responsio – auch eine Antwort der der Bedingung der Zeit unterliegenden Kreatur. Niemand – auch der Geist, die mens, nicht – kann diese Bedingung der Endlichkeit übersteigen. Das negiert eine Erfahrungsdimension, die über diese Bedingung hinausgeht bzw. sie transzendiert, keineswegs. Gerade weil wir zu erfahren vermögen, was der Bedingung der Endlichkeit nicht unterliegt, wird uns bewußt, daß wir dieser Bedingung unterworfen sind. Auch die mens ist (zumindest für uns) Teil und eine Tätigkeit endlicher Wesen. Wir können die „Sehkraft des Geistes“ nicht „ultra omnem creaturam transmittere“, wie Augustinus einmal in ‚De trinitate‘ ‚den‘ Neuplatonikern und Phantasmagorien entgegenhält, die ein ‚reines‘ Denken jenseits der Sphäre kreatürlicher Endlichkeit und jenseits aller Imagination zum Maßstab machen.52 Daß die Vorstellung der Sphäre eines ‚reinen‘ oder der ‚Reinheit‘ eines Denkens, selbst eine Imagination ist, kann hier nicht diskutiert werden. Aber festhalten wird sich lassen, daß wir deshalb, weil wir uns nicht ‚ultra omnem creaturem transmittere‘ können, erinnerungs- wie imaginationsbedürftig sind.
50 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 17 (Vom Ideale der Schönheit), B 53 (wie Anm. 17), 313. – Zum Ganzen vgl. J. Kreuzer, Pulchritudo (wie Anm. 3). 51 Vgl. Augustinus, De trinitate XIII\1.4 (wie Anm. 5) 385. 52 „Hinc enim sibi purgationem isti uirtute propria pollicentur quia nonnulli eorum potuerunt aciem mentis ultra omnem creaturam transmittere“ (De trin. IV\15.20, Augustinus, De trinitate [wie Anm. 5], 187).
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In sachlicher Hinsicht läßt sich daran die Frage anschließen: Gibt es zwischen dem Vermögen der Erinnerung und der Erfahrung von Transzendenz, die sich aus ihrer Denknotwendigkeit ergibt, eine Verbindung? – und wenn: worin besteht sie?53 Diese Frage betrifft die Nahtstelle, die Augustinus mit der Aufforderung, auch die Kraft der Erinnerung zu überschreiten, bezeichnet. Wenn es eine solche Verbindung gibt – eine, die keine Einbahnstraße (auch nicht die emanativer Modelle) bedeutet –, dann steht Imagination nicht für ein bloßes Abbilden, nicht für einen Kopier- oder Speichervorgang. Erschöpfte sich Imagination darin, wäre sie ein Vorgang, den es technisch zu perfektionieren gilt, und es wäre nur konsequent, sie durch entsprechende technische (Bildgebungs‑) Verfahren zu ersetzen.54 Schon Platon hat aber gesehen, daß es ‚so einfach‘ nicht ist. Der Sinn der Bilder – sofern wir sie als Bilder sehen – ist ein Differenz- wie Differenzierungssinn. Der ikonophoben Bilderschelte in der ‚Politeia‘ entgegen weist Platon darauf im ‚Sophistes‘ hin.55 Bilder sind keine Abbilder, keine Doubletten, sondern lassen etwas zur Erscheinung kommen. Qua Imagination schließen sie Differenz und das Bewußtsein von Verschiedenheit in sich. Diese logische Vorgabe Platons wird insbesondere für das Bild virulent, als das sich der Mensch nach Gen 1,26 f versteht bzw. zu verstehen hat. Sich als Bild zu begreifen heißt, sich als Bild von etwas zu erkennen, was selbst nicht (wie) ein Bild und insofern ‚jenseits‘ der Bilder ist, aber gerade deshalb nur in Bildern erscheint bzw. erinnerbar ist. In logischer Hinsicht wird das Bild deshalb zu einem paradigmatischen Ort der Einsicht in die Verbindung der Erfahrung von Transzendenz mit dem Vermögen der Erinnerung. Im Bild, in Bildern gilt es zu erinnern, was jedes (notwendig) endliche Bild und jedes (notwendig) endliche Erinnern transzendiert. Transzendenz erscheint als dasjenige, was sich der Willkür endlicher Wesen entzieht. Sie erinnerbar werden zu lassen, ist der Sinn, den das Vermögen der Imagination nicht nur hat, sondern macht. Augustinus hat ihn als ‚Invention‘ bezeichnet – und zwar gerade in ‚De trinitate‘: in einem Kontext, der plausibel machen soll, daß es sinnvoll ist, wenn sich der menschliche Geist als imago dei denkt. Imagination ist nicht willkürlich: Sie bedeutet ein ‚Finden‘. Und sie ist
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Zur Erfahrung von Transzendenz, die in ihrer Denknotwendigkeit gründet, vgl. Platon, Politeia, 509b. – In sachlicher Hinsicht schließen Augustinus’ Überlegungen zu Kraft und Natur des Erinnerungsvermögens nicht nur direkt an die Vorgaben an, die sich bei Platon (etwa Phaidros, 249d – 250d) finden. Sie markieren zugleich die Zäsur eines Neuansatzes, da Augustinus die Wirklichkeit des Geistes aus den Bedingungen seiner (auch des Geistes) Endlichkeit und von diesen kreatürlichen Bedingungen her entfaltet. Die Auffassung des Sinns der memoria bildet hier eine wesentliche Schalt- bzw. Schnittstelle. 54 Platon hat mit seinem Gleichnis von den drei Betten (vgl. Politeia 596d – 598d) das Grundmuster formuliert, das Imagination auf bloße Abbildung oder auf ein nachrangiges Kopieren beschränkt bzw. desavouiert. 55 Vgl. Platon, Sophistes, 240a – c.
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hervorbringend: sie bedeutet ein produktives Finden oder Erfinden – ein invenire. „Finden (inventio)“, so heißt es gleichsam en passant in Buch X von ‚De trinitate‘, bedeute „nichts anderes als ein ‚Gehen in das, was gefragt oder gesucht wird“: ein „in id venire quod quaeritur“56. Indem wir in den Grund des Gott denkenden Bewußtseins gehen, finden wir in uns selbst, weshalb wir unser Denken als Bild der göttlichen Trinität denken.57 Dieses Finden wird in Akten der Imagination produktiv: im Erfinden von Formen, in denen wir uns als endliches Bild wiederfinden und zugleich erkennend finden. ‚Sich als endliches Bild wiederfinden‘ heißt nun aber auch zu begreifen, daß wir der Bedingung der Zeit unterliegen. Damit kommen wir zum nächsten Punkt: der Temporalitätsstruktur des Vermögens der Erinnerung wie der Imagination.
D. Die Temporalität der Erinnerung: Erinnern als Zeitsinn Nur was der Bedingung der Zeit unterliegt, bedarf der produktiven ‚Findekraft‘ der Imagination. Sie ist das Spiegelbild des in sich gegenläufigen Sinns des Erinnerns und wie dieses temporaler Natur. Da Erinnern ein ‚Zurückkommenauf ‘, einen Rückgang auf Nicht-mehr- oder Noch-nicht-Gegenwärtiges enthält, schließt es ‚Zeit‘ – die Unumkehrbarkeit des Vorübergehens von Endlichem – in sich. Wirkliches Erinnern generiert ein Bewußtsein der Zeit, die in ihm vorübergeht – und transzendiert dieses Vorübergehen. Sozusagen im Kern hängen deshalb die Antwortoptionen, die Augustinus für seine ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts notorisch zitierte Frage nach der Zeit in Buch XI der ‚Confessiones‘ („Quid est ergo tempus? Si nemo ex me quaerat, scio; si quaerenti explicare uelim, nescio“) liefert, mit Sinn und Semantik des Erinnerungsvermögens zusammen.58 Das ‚Rätsel‘, das „implicatissimum aenigma“ von „Kraft und Natur der Zeit“ führt zu der Einsicht, daß sie „irgendeine Art von Dehnung“59 ist. Sie scheint, so Augustinus vorsichtig, eine „Dehnung des Geistes selbst zu sein: eine distentio
56 Vgl. De trinitate X\7.10: „Was klingt uns denn in dem, was wir Erfindung heißen, wenn wir dem Ursprung des Wortes nachgehen, anderes wider, als daß finden soviel ist wie in das zu gehen, was gesucht wird? (unde et ipsa quae appellatur inuentio si uerbi originem retractemus, quid aliud resonat nisi quia inuenire est in id uenire quod quaeritur?)“ (Augustinus, De trinitate [wie Anm. 28], 110 f). 57 Vgl. a. a. O. Einleitung, XXXI. 58 A. a. O. XI\14.17; vgl. dazu ausführlich Kreuzer, Pulchritudo (wie Anm. 3). 59 Conf. XI\22.28: „Exarsit animus meus nosse istuc implicatissimum aenigma“ (Augustinus, Confessiones [wie Anm. 14], 207) – XI\23.30: „Video igitur tempus quandam distentionem“ (a. a. O. 209).
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animi“60. Was distentio animi heißt, läßt sich mit der Semantik oder ‚Natur‘ des Erinnerns erklären bzw. plausibel machen.61 Erinnern ist ein Bewußtsein zeitlicher Verschiedenheit. Es schließt (mindestens) zwei Zeitpunkte – den erinnerten vergangenen und den jetzigen des Erinnerns – in sich. Erinnern heißt, etwas im Vergangensein seiner Gegenwärtigkeit, d. h. in seiner zeitlichen Verschiedenheit, zu bemerken.62 So wie jetzt Vergangenes erinnert wird, wird dies jetzige Erinnern als ‚dann‘ Vergangenes erinnert werden können – und so weiter. ‚Zwischen‘ diesen beiden (erinnernd zusammengebrachten) Gegenwärtigkeiten ‚spannt‘ oder dehnt sich der Geist. Üblicherweise setzt man Erinnern mit dem, was erinnert wird, in eins. Was erinnert wird, unterliegt der Unumkehrbarkeit zeitlicher Sukzession (unterläge es ihr nicht, müßten wir nicht erinnern) – nicht aber das Erinnern bzw. nicht nur. Erinnernd werden wir darauf aufmerksam, daß das Zeitliche in seiner Verschiedenheit – das erinnerte Jetzt wie das Jetzt des Erinnerns – im Geist ‚ist‘. Es erweist sich als ein Akt der Aufmerksamkeit, als praesens intentio, die das Zukünftige ins Vergangene hinüberschafft.63 Erinnern ist nicht an eine Zeitdimension – die Zeitdimension Vergangenheit – gebunden, sondern eine andauernde Aufmerksamkeit auf das Vorübergehen des Zeitlichen.64 Für dieses Vorübergehen gilt, daß das Zukünftige in der Zeit als das erscheint, was als Gegenwärtiges zu erinnern ist.65 60 Conf. XI\26.33: „Inde mihi uisum est nihil esse aliud tempus quam distentionem [. . .] ipsius animi. [. . .] Tempus metior, scio; sed non metior futurum, quia nondum est, non metior praesens, quia nullo spatio tenditur, non metior praeteritum, quia iam non est. Quid ergo metior? An praetereuntia tempora, non praeterita?“ (a. a. O. 211). 61 Der Terminus selbst ist zunächst nichts weiter als eine Übersetzung von Plotins „διάστασις ζωῆς“ (vgl. Enneade III\7.11, 41). Gegenüber Plotin neu ist, wie Augustinus die Dehnung erklärt, die im Vorübergehen dessen, was in der Zeit endlich erscheint, plausibel macht, was Erfahrung von Zeit heißt. Hier kommt die zeitliche Natur des Erinnerns ins Spiel. 62 Das zeitlich Verschiedene, d. h. die Gegenstände des Erinnerns in bzw. aus ihrer zeithaften Zerstreuung zusammenzubringen, erklärt für Augustinus, was ‚denken‘ meint (vgl. Anm. 36). 63 Vgl. Conf. XI\27.35 f: „in memoriam ea metior, quod infixum manet. – In te, anime meus [. . .] praesens intentio futurum in praeteritum traicit deminutione futuri crescente praeterito“ (Augustinus, Confessiones [wie Anm. 14], 213). 64 In ‚De trinitate‘ definiert Augustinus deshalb die Erinnerung expressis verbis als Vermögen der Erinnerung des Gegenwärtigen: „ad res praesentes memoria pertine(t). quapropter sicut in rebus praeteritis ea memoria dicitur qua fit ut ualeant recoli et recordari, sic in re prasenti quod sibi est mens memoria sine absurditate dicenda est qua sibi praesto est (mens)“ (De trin. XIV\11.14; Augustinus, De trinitate [wie Anm. 29], 216). 65 Die Etymologie des Wortes „gegenwärtig“ hat diesen Sinn bewahrt: „Gegenwärtigkeit (war) lange in Gebrauch anstatt des spät auftretenden Gegenwart“ (Grimm’sches Wörterbuch [wie Anm. 22], Bd. 5, 2298). Für „gegenwärtig“ ist der „zeitbegriff selber [. . .] ein zweiseitiger, denn es kommt auch vom zukünftigen vor“ (a. a. O. 2297). Der Begriff der Gegenwart hat sich erst mit dem 18. Jahrhundert „wesentlich verändert. [. . .] wenn wir (sie) uns nur als anwesenheit denken, (ist das Wort) zum kahlsten begriffe des dabeiseins eingeschrumpft [. . .], während [. . .] die vor augen und händen gelagerten dinge gemeint sind, die nahe wirklichkeit“ (a. a. O. 2287; 2289).
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Hier ist die Schnittstelle, an der sich Kraft und Natur der Zeit mit Kraft und Natur der Erinnerung berühren.66 Jedes Gegenwärtige ist das Vergangensein eines gerade noch Zukünftigen. Die praesens intentio ist Erinnerung eines ‚gerade noch Zukünftigen‘ als eines ‚jetzt schon Vergangenen‘. Worauf es dabei ankommt, ist der Akt der Verbindung – die Verspannung zweier Gegenwärtigkeiten, die zeitliche Verschiedenheit voraussetzt. Sie erklärt, worauf ‚Dehnung des Geistes‘ referiert: Was für das vergangene Jetzt gilt, das jetzt erinnert wird, gilt auch für das jetzt gegenwärtige Erinnern, dessen ‚jetzige Gegenwärtigkeit‘ durch die Differenz zum vergangenen Jetzt überhaupt erst bewußt wird. Es wird als das jetzt Gegenwärtige wieder erinnert werden. Darauf weist Augustinus an einer zentralen Stelle der memoria-Analyse in Buch X der ‚Confessiones‘ hin: „Ich erinnere mich also auch, daß ich mich erinnert habe, so wie ich später, wenn ich mich erinnern werde, daß ich mich dessen jetzt entsinnen konnte, dies gänzlich durch die Kraft der Erinnerung erinnern werde“67. Was jetzt gegenwärtig erscheint, läßt sich vom vergangenen Jetzt her als selbst Vergehendes, als dann zu Erinnerndes, betrachten. Die Gleichzeitigkeit zweier Jetzte im anhaltenden Vorübergehen von Zeit ist dabei eine heuristische Minimalkonstruktion zum Zweck der theoretischen Erklärung. Im Regelfall dürften es mehr ‚Jetzte‘ sein, deren vorübergehende bzw. vorübergegangene Gegenwärtigkeit in den Augenblicken des Erinnerns zusammengebracht werden. Entscheidend ist, daß das Bemerken der (zwei oder mehr) verschiedenen Jetzte das Vorübergehen des Zeitlichen gerade voraussetzt und in sich schließt (und deshalb aufzuheben vermag: als Imagination, in der sich Erinnern mitteilt). „Und wer bestreitet, daß die gegenwärtige Zeit der Ausdehnung entbehrt, weil sie im Augenblick vorübergeht? Aber dennoch dauert die Aufmerksamkeit, durch die hindurch dasjenige, was herankommt, fortfährt wegzusein“68. Der Beobachtung, die sich in diesem Satz ausdrückt, kommt zeitphilosophisch zentrale Bedeutung zu. Die Aufmerksamkeit (attentio) auf das, was im Augenblick vorübergeht, ist die Grenze zwischen Zukünftigem und Vergangenem. Betrachtet man Zeit, d. h. das Vorübergehen des Zeitlichen ‚von außen‘, so fallen die Dimensionen der Zeit auseinander: zu der Abstraktion des NochNicht-Seienden, der des Nicht-mehr-Seienden und der eines Gegenwärtigen, das keine Ausdehnung hat und nichtig ist. Erfährt man sich als der Bedingung zeitlichen Vorübergehens selbst unterliegend, so ist die erinnernde Aufmerk66 Zum Begehren, Kraft und Natur der Zeit zu erkennen (zu „wissen“: „ego scire cupio uim naturamque temporis“), vgl. Conf. XI\23.29; Augustinus, Confessiones (wie Anm. 14), 209. Zu „uis et natura memoriae“ vgl. Conf. X\17.26 (vgl. Anm. 44 – 48). 67 Conf. X\13.20: „Ergo et meminisse me memini, sicut postea, quod haec reminisci nunc potui, si recordabor, utique per uim memoriae recordabor“ (a. a. O. 165). 68 Conf. XI\28.37: „Et quis negat praesens tempus carere spatio, quia in puncto praeterit? Sed tamen perdurat attentio, per quam pergat abesse quod aderit“ (a. a. O. 214).
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samkeit auf das Gegenwärtige als Übergang zwischen Zukünftigem und Vergangenem der Schnittpunkt des ‚Gegenwärtiggewesenseins von Zukünftigem‘. Dieser Schnittpunkt – das Gegenwärtige, das „in puncto praeterit“ – ist ausdehnungslos. Was sich dehnt, ist die Aufmerksamkeit auf seine Übergängigkeit. Vorstellungen, die dem Zukünftigen die Erwartung, dem Gegenwärtigen die Aufmerksamkeit und dem Vergangenen das Erinnern zuordnet, wird diesem Erfahrungsgehalt nicht gerecht. Denn in dieser quasi natürlichen Vorstellung wird die Sukzession der Zeitreihe (in der nie zwei verschiedene Zeitpunkte zugleich sein können) zur Sukzession einer Bewußtseinsreihe gleichsam verdoppelt.69 Augustinus’ Analysen belegen, daß dies – die Zeitreihe der Sukzession – nur eine Form ist, in und mit der sich zeitliche Ereignisse ordnen lassen. Mit dieser Form der Zeitreihe – des Nie-zugleich-seins dessen, was in der Zeit aufeinanderfolgt – unverträglich ist der einfache Erfahrungsgehalt des Erinnerns. Denn ihn zeichnet es gerade aus, daß in ihm zwei verschiedene Zeitpunkte zugleich sind – und dies in der Sukzession des Zeitlichen. Genau diesen Erfahrungsgehalt ‚objektiv‘ werden zu lassen, dürfte es sein, was Imagination als produktives Vermögen auszeichnet. Es beruht auf dem reproduktiv-produktiven Sinn der Erinnerung.
E. Zurück zur Gegenwart Schließen sollen diese Überlegungen mit dem Hinweis auf eine produktive Lektüre bzw. einen produktiven Leser, den Augustinus im 20. Jahrhundert gefunden hat. Dieser Leser ist Ludwig Wittgenstein. Wittgenstein hat in Erinnerung gerufen, daß Erfahrung kein erinnerungsvorgängiges Datum und Erinnern keine „sekundäre Art der Erfahrung, im Vergleich zur Erfahrung des Gegenwärtigen [ist]. Wir sagen, ‚daran können wir uns nur erinnern‘. Als wäre in einem primären Sinn die Erinnerung ein etwas schwaches und unsicheres Bild dessen, was wir ursprünglich in voller Deutlichkeit vor uns hatten“70. Erinnern erschöpft sich nicht in der bloßen Kopie einer 69 Augustinus’ Zeit- und Erinnerungsanalysen stellen eine gute Vorgabe für das Arbeitsprogramm dar, das Kant mit dem „Schematismus unseres Verstandes“ inauguriert hat. Bei der „verborgenen Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele“ (Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 180 f [wie Anm. 17], 190), die es dabei als „transzendentale Zeitbestimmung“ zu diskutieren gilt, geht es um die „wahren und einzigen Bedingungen“, die den Verstandesbegriffen „Beziehung auf Objekte, mithin Bedeutung zu verschaffen“ vermögend sind. Kant weist darauf hin, daß die Vorstellung der „Zeitreihe“ nur eine (im numerischen Sinn) Möglichkeit einer solchen Schematisierung darstellt. Zu „Zeitinhalt, Zeitordnung und Zeitinbegriff “ als weiteren Möglichkeiten vgl. a. a. O. (B 184 f) 192 f – Es kann hier nicht mehr als nur darauf hingewiesen werden, daß Augustinus’ zeitphilosophische ‚Entdeckungen‘ für die Einlösung des von Kant formulierten Arbeitsprogramms wohl unverzichtbar sind. 70 L. Wittgenstein, Philosophische Bemerkungen, § 52, Werkausgabe, Bd. 2, aus dem Nachlaß hg. v. R. Rhees, Frankfurt a. M. 1984, 84.
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ursprünglichen Erfahrung – und ‚Erfahrung‘ selbst ist nichts, was es erinnerungsfrei gäbe. „Als ob es noch einen anderen Weg gäbe und nicht vielmehr die Erinnerung die einzige Quelle wäre, aus der wir schöpfen“71. Die Rede vom Erinnern als ‚sekundärer‘ Kopie eines ‚primären‘ (erinnerungs- wie imaginationsfreien) Erfahrungsvorraums sitzt zudem einem Selbstwiderspruch auf – denn auf Grund welchen Vermögens bemerken wir, daß wie etwas ‚nur‘ erinnern? Die Rede vom Erinnern als sekundärer Kopie einer primären Erfahrung führt nicht nur in einen Selbstwiderspruch. Sie trennt zudem Erinnerung und Imagination und ist einer Vorstellungsweise entlehnt, die Wittgenstein – im Rückblick nicht zuletzt auf die eigene ‚Logisch-philosophische Abhandlung‘72 – als „Solipsismus des gegenwärtigen Augenblicks“73 charakterisiert (und kritisiert). Das ist eine repräsentationalistische (die Daten der Erfahrung von der Art, wie sie zur Erfahrung kommen, abkoppelnde) Vorstellungsweise. Ihr liegt die Assoziation „der Bilder von Dingen, die im Raum an uns vorüberziehen“, zugrunde. Die damit verbundene Rede von einer gleichsam dingfest zu machenden ‚Gegenwart‘ als einer „Art euklidischer Punkt“ primären Erlebens ist nicht nur „irreführend“ und eine „grammatische Verwirrung“74. Sie ist auch, wenn nicht ikonophob, so zumindest imaginationsfeindlich. Denn sie reduziert Sehen auf ein eineindeutiges Abbilden: auf einen Vorgang, in dem nichts gesehen, sondern – möglichst genau – kopiert werden soll. Sehen aber heißt etwas wirklich erblicken. Es heißt, daß uns etwas plötzlich, d. h. augenblicklich aufleuchtet oder aufblitzt. Das Adverb ‚plötzlich‘ zeigt die71 Ludwig Wittgenstein und der Wiener Kreis, Werkausgabe, Bd. 3: Gespräche, aufgezeichnet von F. Waismann, aus dem Nachlaß hg. v. B. F. Mc Guinness, Frankfurt a. M. 1984, 48. 72 „Ich bin meine Welt“ (L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Satz 5.63, in: Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1984, 7 – 85; 67; „Hier sieht man, daß der Solipsismus, streng durchgeführt, mit dem reinen Realismus, zusammenfällt. Das Ich des Solipsismus schrumpft zum ausdehnungslosen Punkt zusammen, und es bleibt die ihm koordinierte Realität“ (a. a. O. 68). Die Vorstellung des solipsistischen Ich ist das Gegenbild zu dem sich als Bild begreifenden Ich. 73 „Wenden wir uns nun [. . .] dem Solipsismus des gegenwärtigen Augenblicks [zu]: ‚Wirklich ist nur das, was im gegenwärtigen Augenblick erlebt wird.‘ [. . .] {Es mag sein, daß wir dazu neigen, unsere Sprache derart einzurichten, daß wir nur das gegenwärtige Erleben als ‚Erleben‘ bezeichnen. Dies wird eine solipsistische Sprache sein [. . .]}“ (L. Wittgenstein, Philosophie [1932 / 33], in: Ders., Vorlesungen 1930 – 1935, hg. v. D. Lee / A. Ambrose, übers. v. J. Schulte, Frankfurt a. M. 1989, 147 – 198; 176). 74 „Warum fühlt man sich versucht zu behaupten, ‚Die Gegenwart ist die einzige Realität‘? Die Versuchung, dies zu sagen, ist ebenso stark wie die: zu behaupten, daß nur mein Erleben wirklich ist. [. . .] Diese Vorstellung [nur die Gegenwart sei wirklich, weil Vergangenheit und Zukunft nicht mehr hier sind: JK] ist irreführend [. . .]. [Sie] liegt an den vertrauten Bildern, die wir damit assoziieren: Bilder von Dingen, die im Raum an uns vorüberziehen. {Wenn wir in der Philosophie von der Gegenwart reden, scheinen wir uns auf eine Art euklidischen Punkt zu beziehen. Doch wenn wir vom gegenwärtigen Erleben sprechen, ist es unmöglich, die Gegenwart mit einem solchen Punkt gleichzusetzen [. . .].} Hier besteht eine grammatische Verwirrung“ (a. a. O. 176 f).
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ses Erfahrungsmoment etymologisch: Es hängt mit „blitzlich“ und ‚blicklich‘ zusammen.75 Der Augenblick bzw. Augenblitz des Sehens ist ein Akt der Korrelation, in dem „das Auge blickt, blitzt und leuchtet“76. Es ist ein intentionales, mit zeitlichen Differenzen und zeitlicher Differenzierung sozusagen vollgesogenes Geschehen. Darauf war bereits – wie wir oben gesehen haben – Augustinus gestoßen, wenn er feststellt, daß wirkliches Sehen vom Sichtbaren und vom Sehenden zusammen erzeugt werde.77 Wittgenstein ruft diese Feststellung in Erinnerung, wenn er anmerkt: „Das menschliche Auge sehen wir nicht als Empfänger [. . .]. Das [. . .] Auge blickt. (Es wirft Blicke, es blitzt, strahlt, leuchtet.) [. . .] Wenn du das Auge siehst, so siehst du etwas von ihm ausgehen. Du siehst den Blick des Auges“78. Die Augenblickserfahrung, die Wittgenstein hier anspricht, schließt Erinnerung und Imagination in sich. Sie vollzieht sich in einem Gesichtsraum, der als der mit einem Zeitindex versehene physikalische Raum anzusehen ist. Was ‚jetzt‘ (jeweils) vor Augen liegt, tut dies nur, weil es eine Vor- wie Nachgeschichte hat. Sehen meint deshalb kein Kopieren eines fiktiven Jetzt-Objekts, sondern bedeutet ein Zeit in sich schließendes Erblicken. Seine Referenz ist kein ‚primäres‘ oder prämemoriales Datum in einem zeitlosen Objektraum, das es auch ohne den ‚sekundären‘ Akt des Erinnerns gäbe. Sehen erzeugt eine, jeweilige Jetzt-Intentionen temporalisierende Verbindung Verschiedener im physikalischen Raum: Es ist Teil, nicht Beobachter des physikalischen Raums. Ein solches (mit einem Zeitindex versehenes wie kreatives) Sehen, das den Solipsismus des gegenwärtigen Augenblicks wie den Zerfall von Erfahrung in algorithmisch zerlegbare Reizatome vermeidet, muß nicht gefordert oder konstruiert werden. Es ist – Augustinus macht das in seinen Überlegungen zum Wahrnehmen als innerer Formbildung (vgl. Teil B dieser Überlegungen) sehr eindrücklich plausibel – im ganz gewöhnlichen Sehen gegeben. Die mit einem Zeitindex versehene Verbindung von Erinnerung und Imagination im gewöhnlichen Sehen muß eher geschützt werden vor Versuchen, Imagination wie Erinnerung auf Kopiervorgänge zu restringieren. Nochmals erwähnt sei deshalb Kants Anmerkung, daß das Vermögen der Einbildungskraft „(als produktives Erkenntnisvermögen) [. . .] sehr mächtig [ist] in Schaffung gleichsam einer andern Natur, aus dem Stoffe, den ihr die wirkliche gibt“79. Was hier ‚Schaffung‘ heißt ist ein anderes Wort für Imagination. Deren 75
Vgl. Grimm’sches Wörterbuch (wie Anm. 22), Bd. 2, 134; Bd. 13, 1937. Zum Zusammenhang zwischen ‚Augenblick‘ und ‚Augenblitz‘ vgl. Art. „AUGENBLICK: ictus oculi, momentum“ und Art. „AUGENBLITZ: fulgur oculorum, scharfer Blick“ (a. a. O. Bd. 1, 802 – 804); vgl. Art. „‚Blick‘:“schön und oft verwendet unsere sprache blick vom licht und strahl des auges, das ja selbst das sehende, leuchtende ist [. . .] das auge blickt, blitzt und leuchtet“ (a. a. O. Bd. 2, 114). 77 Vgl. Anm. 38. 78 L. Wittgenstein, Zettel 222, in: Ders., Werkausgabe, Bd. 8, hg. v. J. Schulte, Frankfurt a. M. 1984, 321. 79 Kant, Kritik der Urteilskraft, B 104 (wie Anm. 26), 349. 76
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Kunst besteht darin, uns Zugang gewinnen zu lassen zu den Formen, in denen uns Gegenstände erscheinen bzw. in denen wir zu Erfahrungen kommen. Imagination bedeutet produktiv werdendes Erinnern. In solchem Produktivwerden teilt sich mit, daß der „Begriff der Erinnerung ähnlich dem des augenblicklichen Verstehens“80 ist. Es steht für eine Kunst der Invention in dem Sinn, mit dem Augustinus inventio begriffen hat: als ein Finden, das produktiv (‚erfinderisch‘) macht.81 Solch produktives Finden schließt das Vergehen von Zeit und mit ihm das Vergehen jeweiliger Sequenzen des Erinnerns wie der Imagination in sich. Gerade dies verbindet Imagination und Erinnerung mit dem Doppelsinn, der sich im Genitiv ‚Zeit der Bilder‘ zeigt. Augustinus hat ihn in originärer Weise registriert.
80 L. Wittgenstein, Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie, I‑837, in: Werkausgabe, Bd. 7, hg. v. G. E. M. Anscombe, Frankfurt a. M. 1984, 155: „Wohin gehört aber Erinnerung und wohin Aufmerksamkeit? Man kann sich in einem Augenblick einer Situation, oder Begebenheit erinnern. Insofern ist also der Begriff des Erinnerns ähnlich dem des augenblicklichen Verstehens, sich Entschließens“. 81 Vgl. Augustinus, De trinitate X\7.10 (wie Anm. 28), 111: „[. . .] inuenire est in id uenire quod quaeritur“.
Die Zeitlosigkeit des Bildes bei Sartre Jens Bonnemann Wenn man sich einen Überblick über die ausufernde Menge an Sekundärliteratur zu Jean-Paul Sartre verschaffen will, so stellt sich der Eindruck ein, es handle sich hierbei um einen Philosophen, dessen zentrale Themen Freiheit, Bewusstsein, Situation sowie politisches und literarisches Engagement sind. Sartre ist jedoch fast ebenso sehr ein Philosoph des Imaginären wie ein Philosoph der Freiheit – und dieser Gedanke hat innerhalb der Forschung bisher kaum einen Niederschlag gefunden. Hält man sich jedenfalls an die chronologische Reihenfolge seiner Veröffentlichungen, dann ist kaum von der Hand zu weisen, dass die Imagination im Allgemeinen, das Bild im Besonderen sogar die ersten Themen sind, die Sartre überhaupt einer philosophischen Untersuchung für würdig befunden hat. Und nicht nur das: Das Imaginäre gehört schließlich auch noch zu den letzten Themen seines philosophischen Werdegangs, denn in späteren Interviews erklärt Sartre, dass seine monumentale Studie über Gustave Flaubert, die 1971 / 72 unter dem Titel Der Idiot der Familie publiziert wird, schlussendlich eine Fortsetzung seiner Imaginationstheorie sei.1 Sartres erste 1936 erschienene philosophische Arbeit Die Transzendenz des Ego geht zwar über einen bloßen Tastversuch hinaus, aber im Vergleich zu den folgenden Arbeiten zur Einbildungskraft nimmt dieser etwas längere Aufsatz sich doch eher wie eine vorübergehende flüchtige Episode aus. Denn Sartres anschließende Phänomenologie des Imaginären tritt unübersehbar mit dem 1 Vgl. J.‑P. Sartre, Sartre über Sartre. Interview mit new left review [1969], in: Ders., Sartre über Sartre, Gesammelte Werke, hg. v. T. König / V. v. Wrobelsky [= GW], Autobiographische Schriften, Bd. 2, Reinbek bei Hamburg 21988, 163 – 187; 176; vgl. Ders., Über Der Idiot der Familie. Interview mit Michel Contat und Michel Rybalka [zuerst: Le Monde, 14. Mai 1971], in: Ders., Was kann Literatur? Interviews, Reden, Texte 1960 – 1976, GW: Schriften zur Literatur, Bd. 6, Reinbek bei Hamburg 21985, 150 – 169; 158. Es ist nicht so, dass Sartre am Ende seines Lebens wieder nostalgisch zu seinen philosophischen Anfängen zurückgekehrt ist, vielmehr lässt sich an Schriften wie Was ist Literatur oder Saint Genet zeigen, dass er dieses Thema auch nie für sehr lange verlässt, sondern permanent an einer Weiterentwicklung seiner Phänomenologie des Imaginären gearbeitet hat. Dies führt allerdings dazu, dass der Begriff des Imaginären schließlich äquivok und dadurch auch inkonsistent wird (vgl. J. Bonnemann, Der Spielraum des Imaginären. Sartres Theorie der Imagination und ihre Bedeutung für seine phänomenologische Ontologie, Ästhetik und Intersubjektivitätskonzeption [Phänomenologische Forschungen, Bd. 2], Hamburg 2007).
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ambitionierten Anspruch auf, ihren Forschungsbereich geradezu erschöpfend zu behandeln. Zu nennen ist hier zunächst die kritisch-philosophiegeschichtliche Abhandlung Die Imagination von 1936 und schließlich jene 1940 – also drei Jahre vor dem philosophischen Hauptwerk Das Sein und das Nichts – veröffentlichte Schrift Das Imaginäre, in der Sartre schließlich seine eigene Position zur Frage der Einbildungskraft entwickelt. Bei diesem Buch handelt es sich um eine umfangreiche Studie, welche systematischen Anspruch mit einer Fülle von detaillierten phänomenologischen Einzelfallbeschreibungen verbindet. Es ist wohl nicht übertrieben, wenn gesagt wird, dass sich kaum eine vergleichbar ausführliche Untersuchung der Imagination in ihren vielfältigen Spielarten findet – und dies gilt nicht nur für die Phänomenologie, sondern auch für die gesamte Philosophie- und Geistesgeschichte. Gerade innerhalb der phänomenologischen Tradition gibt es jedoch eine Reihe von bildtheoretischen Ansätzen, die zumindest hinsichtlich ihres Selbstverständnisses und ihrer Vorgehensweise eine deutliche Verwandtschaft mit Sartres eigenen Arbeiten aufweisen. So sind in diesem Zusammenhang aus der älteren Generation zunächst Edmund Husserl, Eugen Fink und Roman Ingarden zu nennen, die mit Sartre darin übereinstimmen, dass sie die Phänomenologie als eine Wesensforschung begreifen.2 Insofern fragt eine Phänomenologie des Bildes von Anfang an nach dem Wesen des Bildes und interessiert sich weniger für die Analyse von Bildgruppen oder von konkreten Einzelbildern. Zwar lassen sich solche Analysen in bildphänomenologischen Schriften finden, aber diese erfolgen dann eben nur aus einer eidetischen Perspektive. Mit anderen Worten: Es wird im Ausgang von einem Einzelbeispiel gefragt, was ein Bild überhaupt ist, d. h. genauer: welche besonderen Eigenschaften ausschlaggebend sind, um ein einzelnes Phänomen als ein Bild zu bestimmen. Um die Besonderheit der phänomenologischen Fragestellung am Beispiel des Bildes zu verdeutlichen, hat Lambert Wiesing – ein zeitgenössischer Vertreter der Bildphänomenologie – eine begriffliche Differenzierung zwischen Bildtheorie und Bildwissenschaft vorgeschlagen. Als Bildwissenschaft bezeichnet Wiesing empirische Analysen von Einzelbildern oder Bildfamilien, die aus einer kunsthistorischen, filmwissenschaftlichen, werbepsychologischen usw. Perspektive vorgenommen werden. Im Unterschied dazu versucht die Bildtheorie erst einmal ganz grundsätzlich zu klären, was denn überhaupt unter dem Begriff des Bildes zu verstehen ist, d. h. jene Eigenschaften zu nennen, die es erlauben, ein einzelnes Phänomen der Kategorie ‚Bild‘ zuzuordnen. 2 Vgl. E. Husserl, Phantasie und Bildbewußtsein [1904 / 05], in: Phantasie, Bildbewußtsein, Erinnerung. Zur Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigungen. Texte aus dem Nachlaß (1898 – 1925), Husserliana, Bd. 23, hg. v. E. Marbach, Den Haag u. a. 1980, 1 – 110; vgl. R. Ingarden, Untersuchungen zur Ontologie der Kunst. Musikwerk, Bild, Architektur, Film [1928], Tübingen 1962; vgl. E. Fink, Vergegenwärtigung und Bild. Beiträge zur Phänomenologie der Unwirklichkeit [1930], in: Ders., Studien zur Phänomenologie: 1930 – 1939, Den Haag 1966, 1 – 78.
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Die Frage, was wir damit meinen, wenn wir etwas ein Bild nennen, findet allerdings eine Antwort nicht mehr in der Empirie, sondern nur auf dem Wege einer Begriffsbestimmung: „Wer über alle Bilder wissenschaftlich arbeiten will, arbeitet primär über die Frage, was aus welchen Gründen ein Bild ist – und genau diese Frage läßt sich ausschließlich argumentativ beantworten. Jeglicher Versuch einer empirischen Untersuchung sämtlicher Bilder würde notgedrungen an einem Problem scheitern, welches spezifisch für die meisten philosophischen Probleme ist. Es geht nicht um die Erforschung dessen, was schon kategorisiert ist, sondern um die Erforschung der Kategorisierung: eben um den Begriff des Bildes“3. Wenn also Phänomenologen wie Husserl, Ingarden, Fink, Sartre oder Wiesing fragen, wodurch sich das Bildbewusstsein etwa vom Wahrnehmungs- oder vom Zeichenbewusstsein unterscheidet, dann gehören solche Fragestellungen – und eben hierauf kommt es Wiesing mit seinem Begriffspaar an – nicht in den Bereich der empirischen Bildwissenschaften, sondern in den einer Bildtheorie, die sich also als eine Philosophie des Bildes verstehen lässt. Innerhalb der phänomenologischen Bildtheorie nimmt nun aber Sartre wiederum eine Ausnahmestellung ein. Denn während Husserl, Fink und Wiesing sich einig sind, dass die Bilderfahrung eine Sonderform der Wahrnehmung ist, ist sie für Sartre dagegen eine Sonderform der Imagination. Innerhalb seines Denkens stehen nicht die Gemeinsamkeiten mit den wahrgenommenen realen Dingen, sondern mit jenen geistigen Vorstellungen im Mittelpunkt, in denen abwesende Personen oder Fantasiegestalten erscheinen. Mehr noch, es lässt sich sogar sagen, dass Sartre das Bild geradezu vehement aus dem Bereich des Realen und der Wahrnehmung herausreißt. Die Folgen dieser Entgegensetzung von Wahrnehmung und Imagination lassen sich besonders gut am Beispiel der Zeitlichkeit veranschaulichen. Es ist die Wahrnehmung, die den Bereich der kontingenten Realität mit ihrer Zeitlichkeit erschließt. Insofern aber das Bild zur Imagination gehört und die Imagination als Gegenpol zur Wahrnehmung begriffen wird, lässt sich dann folgerichtig bei Sartre von einer radikalen Zeitlosigkeit des Bildes sprechen. Nicht ganz zu unrecht ist immer wieder gegen Sartres Philosophie vorgebracht worden, dass er in schroffen Gegensatzpaaren denkt;4 und es ist nicht zu übersehen, dass er auch das Verhältnis zwischen Wahrnehmung einerseits und Imagination – inklusive Bilderfahrung – andererseits als eine strikte Entgegensetzung auffasst.
3 L. Wiesing, Bildwissenschaft und Bildbegriff, in: Ders., Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes, Frankfurt am Main 2005, 9 – 16; 14. 4 Vgl. z. B. E. S. Casey, Sartre on Imagination, in: The Philosophy of Jean-Paul Sartre (The Library of Living Philosophers, Vol. 16), ed. by P.‑A. Schilpp, La Salle 1981, 139 – 166; 157; vgl. W. Lesch, Imagination und Moral. Interferenzen von Ästhetik, Ethik und Religionskritik in Sartres Literaturverständnis (Epistemata, Bd. 63), Würzburg 1989, 103; vgl. B. Waldenfels, Phänomenologie in Frankreich, Frankfurt am Main 1983, 75; 78 f.
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In der vorliegenden Untersuchung sollen zunächst Sartres Eidetik des Imaginären und anschließend seine wenigen expliziten Bemerkungen zum Verhältnis von realer und imaginärer Zeitlichkeit erläutert werden. Abschließend werden die impliziten Folgen ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt, welche weitaus gravierender sind. Hierbei fällt ins Auge, in welchem Ausmaß die Zurückweisung jeglicher realen Zeit konstitutiv für Sartres frühes Kunstverständnis ist. Eine solche Auffassung, derzufolge das Bild ebenso wie die Kunst im Allgemeinen alle Brücken zur Realität abgebrochen hat, wirkt zunächst einmal ausgesprochen randständig und – in mehrfachem Sinn – realitätsfern. Dennoch lassen sich Parallelen einerseits zur bereits erwähnten Bildphilosophie Wiesings, andererseits aber auch zur Filmtheorie André Bazins aufzeigen, für den der Film bezeichnenderweise sogar einen Heilsweg darstellt, der die realen Dinge aus ihrer Vergänglichkeit befreit, indem er sie in ‚ewige‘ Filmbilder verwandelt.
A. Die Eidetik des Imaginären Im Folgenden möchte ich zunächst die Grundgedanken von Sartres Ansatz darstellen und dann im Anschluss zeigen, welche Konsequenzen sich hieraus für die Frage nach der Zeitlichkeit des Bildes ergeben. Vorab sind jedoch ein paar Worte zu Sartres Verwendung der Begriffe des Imaginären und der Imagination angebracht: Mit der ‚Imagination‘ meint Sartre jenen Akt, in dem wir imaginieren, während das ‚Imaginäre‘ das Objekt dieser Imagination, also dasjenige meint, das erscheint, wenn wir imaginieren. Ganz allgemein wird die Imagination von Sartre als ein magischer Akt charakterisiert, der etwas, das gar nicht wirklich da ist, beschwören will, um es in Besitz zu nehmen. Darin liegt für ihn zugleich etwas Kindliches und Herrschsüchtiges, denn das imaginierende Bewusstsein trägt den Ansprüchen der Realität keinerlei Rechnung; es will nicht durch die Praxis, sondern schlichtweg auf magische Weise auf die Welt einwirken: „So wirkt das ganz kleine Kind in seinem Bett durch Befehle und Bitten auf die Welt ein. Diesen Befehlen des Bewußtseins gehorchen die Objekte: sie erscheinen. Doch sie haben eine ganz besondere Existenzweise, die wir zu beschreiben versuchen werden“5. Die Sätze enthalten in nuce das gesamte Programm von Das Imaginäre: Sartre selbst bringt ein Bewusstsein von imaginären Objekten hervor, um aus phänomenologischer Perspektive darauf zu reflektieren und die Wesenseigenschaften dieser Objekte festzustellen. Kurz gesagt, versucht sein Buch also schlichtweg die Frage zu beantworten, auf welche Weise imaginäre Objekte erscheinen. Dabei 5
J.‑P. Sartre, Das Imaginäre. Phänomenologische Psychologie der Einbildungskraft [orig. L’imaginaire, Paris 1940], übers. v. H. Schöneberg, GW: Philosophische Schriften, Bd. 2, Reinbek bei Hamburg 1994, 197.
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geht er von der Grundüberzeugung aus, dass es eine zweifelsfreie Unterscheidung zwischen Wahrnehmung und Imagination gibt, die ganz spontan bereits auf der Stufe eines unreflektierten Bewusstseins erfolgt. Niemand verwechselt – so wird dem Leser versichert – wahrgenommene mit imaginären Objekten.6 Aber die traditionelle Theorie in Philosophie und Psychologie begeht, wie Sartre bemerkt, immer wieder den Fehler, das imaginäre Objekt für eine Kopie des Wahrgenommenen zu halten, die sich vom Original nur durch einen geringeren Grad von Intensität unterscheidet. Damit verstößt diese Theorie gegen den phänomenologischen Befund, und die genannte problemlose Unterscheidung wird rätselhaft, wenn das Bild tatsächlich nichts weiter sein soll als eine wiederauflebende, aber nun eben weniger intensive Sinneswahrnehmung.7 Wenn dies wirklich stimmen würde, dann stellt sich Sartre zufolge die Frage, warum wir nicht ständig intensive Bilder mit schwachen Wahrnehmungen verwechseln: „Und warum erscheint das Bild des Knalls eines Kanonenschusses nicht als ein reales schwaches Krachen?“8 Vor dem Hintergrund einer solchen Tradition, die die Imagination nur für eine wiederauflebende Wahrnehmung hält, ist Husserls Phänomenologie für Sartre geradezu ein Befreiungsschlag. Es ist die phänomenologische Methode, die es möglich machen soll, einen Zugang zum Bild unbehindert von metaphysischen Vorurteilen und erfahrungsfernen Konstruktionen zu finden. Die Phänomenologie bietet die Grundlage für eine Eidetik des Bildes, also für eine Wesensbeschreibung, die der Frage nachgeht, was denn ein Bild überhaupt ist.9 Keineswegs wird dabei also versucht, das Imaginäre physiologisch, evolutionär oder kulturhistorisch zu erklären, denn der Phänomenologe will nichts davon wissen, was er nicht selbst im Akt des Imaginierens erleben kann. Im französischen Original wird ersichtlich, dass die imaginären Objekte einheitlich als images bezeichnet werden. Innerhalb der Familie der images 6 Die Halluzination wird damit zu einem neuralgischen Punkt für Sartres Konzeption. Sein Lösungsversuch besteht in dem folgenden Erklärungsansatz: Ein unaufmerksames, vor sich hin dämmerndes Bewusstsein bringt ein imaginäres Objekt hervor, wobei gerade aufgrund der Unaufmerksamkeit mit dieser Hervorbringung keinerlei Setzung verbunden ist. Man kann daher auch nicht davon sprechen, dass hier eine falsche Setzung vorliegt, also eine Verwechslung eines Imaginären mit einem Wahrgenommenen. Angesichts dieser Erscheinung erschrickt nun das Subjekt, seine Aufmerksamkeit erwacht von neuem und folgerichtig löst sich das hervorgebrachte Objekt in Luft auf. Im Nachhinein versucht nun das Subjekt eine Erklärung zu finden und behauptet, dasjenige, das es fälschlicherweise für ein Wahrgenommenes gehalten habe, habe sich kurz darauf als ein Imaginäres herausgestellt. Genau diese Fälle sind es nach Sartre, die man als Halluzination bezeichnet (vgl. a. a. O. 235 ff; vgl. Bonnemann, Spielraum des Imaginären [wie Anm. 1], 133 ff). 7 Vgl. J.‑P. Sartre, Die Imagination [1936], in: Ders., Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essays 1931 – 1939, übers. v. U. Aumüller, GW: Philosophische Schriften, Bd. 4, Reinbek bei Hamburg 1982, 97 – 254, 100 f; 112. 8 A. a. O. 180. 9 Vgl. a. a. O. 240; 242.
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unterscheidet Sartre nun die rein geistigen Objekte, also die images mentales – gemeint sind die Erinnerungen, die Tagträume und die reine Phantasie – von den images physiques, die eine Wahrnehmungsgrundlage besitzen. Hierzu gehören Gemälde, Fotografien, Zeichnungen, aber auch schauspielerische und parodistische Darbietungen sowie Versuche, Gesichter in Tapetenmustern oder in Wolken zu sehen.10 Wenn Sartre nun zu Beginn von Das Imaginäre auf der Grundlage einer Phänomenbeschreibung vier Wesenseigenschaften des Imaginären aufweist, so fällt allerdings auf, dass seine Reflexion sich ausschließlich auf Beispiele aus dem Bereich der images mentales stützt. Aber natürlich sollen diese Wesenseigenschaften gleichermaßen auch für den Bereich der images physiques gültig sein. Hier tauchen jedoch – wie sich im Folgenden herausstellen wird – gravierende Probleme auf, die es zweifelhaft erscheinen lassen, ob jene Wesenseigenschaften tatsächlich eine universelle Gültigkeit beanspruchen können. Sartres Eidetik des Bildes fördert nun insgesamt vier solche Wesenseigenschaften des Bildes zutage. Das erste Grundcharakteristikum lautet: Die Imagination ist ein Bewusstsein. Damit wendet sich Sartre gegen ein in der philosophisch-psychologischen Tradition weit verbreitetes Verständnis des Imaginären, das seiner Ansicht nach von einer „Immanenz-Illusion“11 beherrscht wird. Entgegen dieser Auffassung heißt es nun, dass das imaginäre Objekt ebenso wenig in der Imagination ist wie das wahrgenommene Objekt in der Wahrnehmung. Der Repräsentationalismus trifft also weder auf die Wahrnehmung noch auf die Imagination zu. Daher sind die images auch keine kleinen Figürchen, die im Bewusstsein herumspuken. An dieser Stelle will Sartre also einmal mehr unterstreichen, dass das Imaginäre keine Kopie des Wahrgenommenen im Bewusstsein ist.12 Als zweites Grundcharakteristikum des Imaginären nennt Sartre die QuasiBeobachtung. Bei dieser Wesenseigenschaft wie auch bei den beiden noch folgenden handelt es sich bemerkenswerter Weise um Qualitäten, die die Abgrenzung zum Wahrgenommenen in aller Schärfe hervortreten lassen. Wenn ich ein Objekt wahrnehme, so führt Sartre aus, dann erscheint dieses Objekt in einem prinzipiell unabschließbaren Lernprozess, in dem ich unentwegt mit Überraschungen und Enttäuschungen rechnen muss. So gehe ich etwa um ein Haus herum und stelle unerwartet fest, dass es keine Rückseite hat und nichts weiter ist als die bloße Fassade eines Hauses. Insofern das Wahrgenommene entdeckt wird, kann ich niemals im Voraus wissen, worauf ich mich hierbei einlasse.13 Im Unterschied dazu wird das Imaginäre erfunden und erschaffen, und deswegen kann es nach Sartre Überraschungen und Enttäuschungen im Bereich des Imaginären nicht geben. 10
Vgl. Sartre, Das Imaginäre (wie Anm. 5), 1. Teil, 2. Kapitel, 36 – 93. A. a. O. 17. 12 Vgl. a. a. O. 19 f; siehe hierzu auch Casey, Sartre on Imagination (wie Anm. 4), 143 und I. A. Bunting, Sartre on Imagination, Philosophical Studies 19 (1970), 236 – 253; 238. 13 Vgl. Sartre, Das Imaginäre (wie Anm. 5), 22 f. 11
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Während bei jedem Wahrgenommenen ein Überfluss, ja geradezu eine Unendlichkeit von möglichen Perspektiven und Ansichten auf das Objekt vorliegt, zeichnet sich das Objekt der Imagination durch „eine Art wesenhafter Armut“14 aus: Wenn ich mir einen abwesenden Freund oder ein Einhorn vorstellen will, dann muss ich vorab wissen, was ich mir anschaulich vorstellen will. Gerade weil ich selbst das Objekt der Imagination erschaffe, kann ich nichts von ihm lernen, das ich nicht schon wüsste: Mit einem Wort, das Wahrnehmungsobjekt übersteigt dauernd das Bewußtsein; das Vorstellungsobjekt ist nie mehr als das Bewußtsein, das man von ihm hat, es definiert sich durch dieses Bewußtsein: man kann nichts von einer Vorstellung erfahren, als man schon weiß.15
Wenn ich imaginiere, dann befinde ich mich zwar genau wie in der Wahrnehmung und anders als beim Denken gegenüber meinem Objekt in einer Beobachtungshaltung, aber da ich hier wesensgesetzlich nichts Neues erfahren kann, bezeichnet Sartre diese Einstellung als „Quasi-Beobachtung“16. Wäre das Imaginäre jedoch tatsächlich nichts weiter als die Kopie eines Wahrnehmungsobjekts, dann könnte ich die vergangene Wahrnehmung wiederaufleben lassen, um die Stufen der ehemals wahrgenommenen Treppe zu zählen, deren Anzahl ich vergessen habe. Insofern ich die Anzahl der Stufen nicht entdecken oder wieder entdecken kann, bleibt mir nur übrig, ihre Anzahl zu erschaffen. Damit fällt es aber schwer, das Imaginäre für eine Kopie des Wahrgenommenen zu halten. Entscheidend ist der strikte Unterschied zur Wahrnehmung auch beim dritten Grundcharakteristikum des Imaginären, bei dem der spezifische Setzungscharakter des imaginierenden Bewusstseins im Vordergrund steht. Während die Wahrnehmung ihr Objekt als existierend setzt, setzt die Imagination ihr Objekt ganz im Gegenteil als ein Nichts. Genauer unterscheidet Sartre nun vier mögliche Formen einer solchen Setzung als ein Nichts: „[E]r [der imaginierende Akt] kann das Objekt als nichtexistent setzen oder als abwesend oder als anderswo existierend; er kann sich auch ‚neutralisieren‘, das heißt sein Objekt nicht als existierend setzen“17. Die erste Setzungsweise bezieht sich offenbar auf Fiktionen wie den Zentauren oder das Einhorn, die eben schlichtweg nicht sind; die zweite Setzungsweise taucht dann auf, wenn ich mir etwa einen abwesenden Freund vorstelle. Dieser abwesende Freund kann aber auch – und dies ist die dritte Setzungsweise – als anderswo existent gesetzt werden: Ich stelle mir z. B. jenen abwesenden Freund vor, wie er jetzt in diesem Moment auf dem Kurfürstendamm in
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A. a. O. 24. A. a. O. 25. A. a. O. 26. A. a. O. 29.
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Berlin herumläuft. Anders als beim zweiten Akt ist hierbei also eine positive Setzung eingeschlossen, auch wenn die Negation der aktuellen Existenz jetzt und hier vorausgesetzt wird. Schließlich kann das imaginierende Bewusstsein viertens aber auch die Frage der Existenz oder Nicht-Existenz offen lassen. Zu einer solchen Neutralisierung sagt Sartre an dieser Stelle nicht viel; möglicherweise wäre hier aber an Husserls phänomenologische Reduktion zu denken. Bemerkenswert ist an dieser vierten Variante der Setzung als ein Nichts, dass Sartre offenbar darauf hinaus will, dass ich auch gegenüber den realen Dingen der Wahrnehmung eine irrealisierende Haltung einnehmen kann, um sie gleichermaßen wie die Produkte meiner Einbildungskraft zu behandeln.18 Schließlich ist auch beim vierten Grundcharakteristikum der kontrastierende Vergleich mit dem Wahrgenommenen konstitutiv. Darüber hinaus stellt es im Grunde eine notwendige Konsequenz aus dem dar, was bisher an wesensgesetzlichen Erkenntnissen über das Imaginäre gewonnen worden ist. Wenn ich einen Baum wahrnehme, dann kann ich nichts daran ändern, dass der betrachtete Baum z. B. keine grünen Blätter hat, dass er da steht, wo er steht, und nicht anderswo. Seine Eigenschaften drängen sich mir in der Wahrnehmung auf, und insofern hat das Wahrnehmungsbewusstsein die Intuition seiner Passivität gegenüber dem Objekt. Das imaginierende Bewusstsein ist stattdessen eine Spontaneität, die ihr Objekt „erzeugt und bewahrt“19. Dieses Objekt drängt sich mir nicht auf wie das Wahrgenommene, sondern es ist das „Produkt einer bewußten Aktivität und durch und durch von einer Strömung schöpferischen Wollens durchdrungen“20. Während das Wahrnehmungsbewusstsein sich also durch Passivität auszeichnet, lässt sich das Imaginationsbewusstsein als eine Kreativität charakterisieren. An dieser Stelle zeigt sich der enge Zusammenhang der letzten drei Wesenseigenschaften des Imaginären: Wenn ich das Objekt selbst erschaffe – viertes Grundcharakteristikum –, dann kann es niemals mehr sein, als ich von ihm bereits weiß – zweites Grundcharakteristikum –, und dann besitzt es keinerlei Unabhängigkeit gegenüber dem Bewusstsein. Es wird „künstlich am Leben erhalten“21, und deshalb kann das Bewusstsein es nur als ein Nichts setzen, das 18 Casey hat gegen den Nichts-Charakter der Setzung des Imaginationsaktes folgenden Einwand erhoben: „But if what we imagine is unreal only in this sheerly negative sense, there would be no way to distinguish it from the merely non-real“ (Casey, Sartre on Imagination [wie Anm. 4], 154). Eine Unterscheidung ist jedoch insofern möglich, so ließe sich auf Caseys Einwand erwidern, als dass ‚merely non-real‘ überhaupt nicht erscheint. Nicht-sein im Sinne der Imagination bedeutet dagegen, ein Sein zu sein, das, um zu sein, erscheinen muss: Während das Imaginäre ein esse ist, das sich auf sein percipi reduzieren lässt, besitzt das reine Nichts überhaupt kein Sein. Nicht zu sein, bedeutet für die imaginären Objekte: nicht unabhängig vom Bewusstsein zu sein. 19 Sartre, Das Imaginäre (wie Anm. 5), 32. 20 A. a. O. 34. 21 A. a. O. 199.
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verschwindet, sobald das Bewusstsein sich anderen intentionalen Objekten zuwendet – drittes Grundcharakteristikum.22 Als Ergebnis dieser Wesensbeschreibung kommt Sartre, wie sich zusammenfassen lässt, also zu den genannten vier Wesenseigenschaften des Imaginären: Die Imagination ist erstens ein intentionales Bewusstsein, insofern ihre Objekte keine Inhalte des Bewusstseins sind: Das Objekt ist für das Bewusstsein, nicht im Bewusstsein. Zweitens zeigt sich das Imaginäre in einer Quasi-Beobachtung, weil es nie mehr sein kann, als das Subjekt von ihm bereits weiß. Drittens ist das Imaginäre ein Nichts, da es keinerlei Selbständigkeit gegenüber dem Bewusstsein hat, welches sich daher – viertens – intuitiv als schöpferisch erfährt, indem es das Imaginäre aus sich selbst heraus hervorbringt. Diese Eidetik soll für den gesamten Bereich des Imaginären gültig sein, wobei – wie schon erwähnt worden ist – die phänomenale Grundlage dieser Wesensbeschreibung eben ausschließlich Beispiele aus dem Bereich der inneren Vorstellungen, also der images mentales sind. Erst in einem darauf folgenden Schritt unterscheidet Sartre nun von diesen images mentales die äußeren Vorstellungen, also die images physiques, die in der Wahrnehmungswelt verwurzelt sind.23 Nichtsdestotrotz soll aber die Eidetik mit den vier genannten Wesenseigenschaften für die images physiques gleichermaßen gültig sein, da sie eben trotz ihrer Wahrnehmungsverankerung ebenfalls zur Familie des Imaginären gehören. Die Probleme, die dieses Vorgehen mit sich bringt, werden im dritten Teil der vorliegenden Untersuchung diskutiert.
B. Reale und imaginäre Zeitlichkeit Wenn man die wenigen Passagen zu Rate zieht, in denen Sartre über das Verhältnis zwischen Imagination und Zeit nachdenkt, so fällt erneut auf, in welchem Ausmaß seine Untersuchungen durch die rigorose Trennung von Imagination und Wahrnehmung geprägt sind. Im Grunde läuft es immer wieder darauf hinaus, dass das Imaginäre zeitlos ist, weil die Zeit zur Realität gehört, welche in der Wahrnehmung erfasst wird. Es fällt Sartre zufolge daher auch nicht schwer, Beispiele für imaginäre Objekte zu finden, die überhaupt gar keine zeitlichen Bestimmungen aufweisen. So kann ich die Vorstellung eines Zentauren haben, wobei die Frage überhaupt keinen Sinn macht, ob dieses imaginäre Objekt nun der Vergangenheit, der Gegenwart oder der Zukunft angehört. Ich kann mir weiterhin vorstellen, dass der Zentaur sich bewegt oder nun plötzlich zu altern beginnt. Aber das 22
Vgl. hierzu auch P. Ricœur, Sartre and Ryle on Imagination, in: Philosophy of Jean-Paul Sartre (wie Anm. 4), 167 – 178; 171. 23 Vgl. Sartre, Das Imaginäre (wie Anm. 5), 36 f.
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ändert nichts daran, dass dieses Objekt doch im Grunde zeitlos ist. Denn wenn ich auch imaginäre Zeit verstreichen lassen kann, so gehören solche Vorgänge wie die Bewegungen oder der Alterungsprozess des imaginären Objekts schon deswegen niemals der realen Zeit an, weil sie gerade nicht irreversibel sind. Dies gilt natürlich auch für solche Objekte, bei denen sich eine artifizielle, sozusagen komprimierte Dauer findet: Wenn ich mir das Lächeln eines abwesenden Menschen vorstelle, dann ist dieses Lächeln weder dasjenige von gestern Abend oder von heute Morgen. Vielmehr kann es alle diese Momente in einer Art von Verdichtung zusammenfassen.24 In eine ähnliche Richtung gehen auch Sartres Überlegungen zum Verhältnis von realer und imaginärer Zukunft, in denen vergleichsweise noch am ausführlichsten das Verhältnis zwischen Zeit und Imagination beleuchtet wird: Gleich zu Beginn stellt Sartre die These in Abrede, dass ich auf die Imagination zurückgreifen muss, sobald ich den realen Objekten der Wahrnehmung eine Zeitdimension zuschreiben will. Wenn mir jemand einen Ball zuwirft, dann springe ich dorthin, wo der Ball im nächsten Moment sein wird und wo ich ihn auffangen kann. Jene Antizipation bleibt jedoch innerhalb der Wahrnehmung, weil diese auch in der Lage ist, den zeitlichen Horizont ihrer Objekte zu erfassen. Daher ist es also keineswegs erforderlich, sich vom Realen loszureißen und die Imagination zurate zu ziehen, um vorwegzunehmen, wohin der Ball fliegt.25 Indem Sartre die Leistung der Wahrnehmung komplexer fasst und ihr zutraut, nicht nur die realen Objekte, sondern auch deren Zeitlichkeit zu erfahren, kann er einmal mehr jegliche Verbindung zwischen Imagination und Zeit in Abrede stellen. Es ist die Wahrnehmung selbst, die die zeitliche Dimension ihrer Objekte erschließt, also über den Augenblick hinausgehen kann, ohne dass hierzu die Kooperation der Imagination erforderlich wäre. Mit dieser Auffassung steht Sartre im Übrigen nicht allein da, denn, wie Husserl gezeigt hat, habe ich beim Hören einer Melodie die so eben verklungenen Töne immer noch retentional im Griff, ohne dass es auf die Imagination ankäme, um sie ‚wiederzuholen‘. ‚Bewahrende‘ Retention und ‚vorwegnehmende‘ Protention erfassen den zeitlichen Horizont der wahrgenommenen Gehalte und keinerlei imaginäre Gehalte.26 Dennoch spricht Sartre – wie man zunächst glauben könnte – nun scheinbar doch von der Möglichkeit einer imaginären Zukunft: Wenn ich z. B. ein Boxweltmeister werden will, dann muss ich jeden Tag trainieren, eine Diät einhalten, auf meine Gesundheit achten usw. Ich kann nun aber auch davon träumen, ein Boxweltmeister zu sein, und für Sartre wäre eine solche Haltung geradezu 24
Vgl. a. a. O. 205. Vgl. a. a. O. 286. 26 Vgl. E. Husserl, Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins [1928], hg. v. M. Heidegger, Tübingen 21980; siehe hierzu auch Th. Damast, Jean-Paul Sartre und das Problem des Idealismus. Eine Untersuchung zur Einleitung in L’être et le néant, Berlin 1994, 247; 252. 25
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das genaue Gegenteil jeglichen Handelns. Was soeben noch als reale Zukunft mein aktuelles Handeln organisiert hat, wird dann, wenn ich zur Phantasie übergehe, gerade nicht zu einer imaginären Zukunft, sondern zu einer imaginären Gegenwart. Die Tagträumerei macht aus dem realen Handlungsziel, das noch nicht verwirklicht ist, ein imaginäres Objekt, an dem ich mich bereits jetzt und hier – allerdings eben nur auf irreale Weise – erfreuen kann.27 Nach wie vor kann also von einer Zeitlichkeit des Imaginären bei Sartre keine Rede sein; und diese Einsicht vertieft sich, wenn man seine frühe Kunstauffassung in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt.
C. Die Kontingenz des Realen, die Zuflucht des Imaginären Wie bereits erwähnt, unterscheidet Sartre innerhalb des Gesamtbereichs der images noch einmal zwischen den inneren Vorstellungen, den images mentales, und den äußeren Vorstellungen, den images physiques. Letztere zeichnen sich ganz allgemein dadurch aus, dass sie im Unterschied zu den rein geistigen Vorstellungen ein Wahrnehmungsobjekt einschließen. Dieses Wahrnehmungsobjekt fungiert als Materie der Imagination, um ein abwesendes oder rein fiktionales Objekt – eben das eigentliche Objekt der Imagination – zur Erscheinung zu bringen. Diese Materie bezeichnet Sartre als Analogon.28 An dieser Stelle drängt sich geradezu der Vergleich mit Edmund Husserls Unterscheidung zwischen physischem Bild, Bildobjekt und Bildsujet auf. Husserl führt diese Differenzierung erstmals in den Göttinger Vorlesungen Phantasie und Bildbewußtsein aus dem Wintersemester 1904 / 05 ein, die 1980 aus dem Nachlass veröffentlicht worden sind.29 Sartre selbst ist mit Husserls Bildtheorie wohl ausschließlich durch den einschlägigen § 111 der Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie bekannt geworden.30 Husserl meint mit dem physischen Bild die Leinwand des Bildes und die auf ihr aufgetragene reale Farbe. Hierbei handelt es sich um die materielle Grundlage, die erforderlich ist, damit ein Bild erscheinen kann. Das Bildobjekt wiederum ist dasjenige Objekt, das ich auf dem Bild sehe, also die Figuren, die nicht real da sind, sondern nur als Bild erscheinen. Von dem physischen Bild und dem Bildobjekt wird nun drittens das Bildsujet unterschieden. Dies ist das reale Vorbild, das auf dem Bild eben als Bildobjekt auftaucht.31 Um dies an einem Beispiel 27
Vgl. Sartre, Das Imaginäre (wie Anm. 5), 287. Vgl. a. a. O. 37; siehe hierzu auch Ph. Cabestan, L’imaginaire de Sartre, Paris 1999, 41. 29 Wie Anm. 2. 30 Vgl. E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie [1913], Husserliana, Bd. III / 1, hg. v. M. Biemel, Den Haag u. a. 1971, 250 – 252. 31 Vgl. a. a. O. 252. 28
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zu veranschaulichen: Wenn man ein Bild – etwa von Sartre – vor sich hat, dann ist der Sartre auf diesem Bild das Bildobjekt und der reale Sartre das Bildsujet. Wenn ich also sage, dieses Bild sieht Sartre überhaupt nicht ähnlich, dann vergleiche ich ein imaginäres Bildobjekt mit einem realen Bildsujet.32 Dasjenige nun, was Husserl das physische Bild nennt, das ich z. B. woanders hinhängen, das ich wiegen oder messen kann, bezeichnet Sartre als das Analogon. Ein solches Analogon ist ganz allgemein ein Wahrnehmungsobjekt, das zur materiellen Basis für das Objekt einer Imagination geworden ist, als für dasjenige, das auf einem Bild schön oder auch langweilig sein kann. Als Analogon kann die Farbe auf der Leinwand dienen, aber auch das Muster einer Tapete, eine Wolkenformation am Himmel oder der reale Körper von Leonardo di Caprio, der J. Edgar Hoover spielt. Bringt man nun die Ausführungen zur images physiques mit den Wesensbestimmungen des Imaginären in Verbindung, die Sartre zuvor allein durch die phänomenologische Analyse von images mentales gewonnen hat, dann kommt es – wie bereits angekündigt worden ist – zu gravierenden Schwierigkeiten, die die vermeintliche Allgemeingültigkeit jener Wesensbestimmungen fragwürdig erscheinen lassen. Wenn anfangs behauptet worden ist, dass die Quasi-Beobachtung sich gleichsam wesensgesetzlich bei allen Objekten findet, die sich als Bild verstehen lassen, dann sind im Hinblick auf die images physiques doch erhebliche Zweifel angebracht. Sartre selbst bietet immer wieder Beispiele, in denen ich entgegen dem Wesensgesetz der Quasi-Beobachtung durchaus etwas Neues und Unerwartetes über das Objekt der Imagination erfahren kann. Wenn ich ein Foto ansehe, dann ist es, wie er selbst zugibt, möglich, dass das imaginierende Bewusstsein sich unentwegt bereichert: „diese Falte, die ich an Peter nicht kannte, verbinde ich mit ihm von da an, wo ich sie auf seinem Porträt sehe“33. Die universelle Gültigkeit des Prinzips der Quasi-Beobachtung erweist sich bei den images physiques im Allgemeinen und erst recht im Bereich der Kunst also als ausgesprochen zweifelhaft. Die Annahme, ich könnte von einem Gemälde oder einem Roman nichts Neues erfahren, ist geradezu abwegig.34 Die Resultate seiner phänomenologischen Studie über die Einbildungskraft werden in den Schlussbemerkungen von Das Imaginäre konsequent auf die 32
Das Beispiel ist genau genommen sehr unglücklich gewählt, weil es voraussetzt, dass das Bildsujet Sartre jetzt und hier als ein Wahrnehmungsobjekt anwesend ist, um mit seinem Bildobjekt verglichen werden zu können. 33 Sartre, Das Imaginäre (wie Anm. 5), 45. 34 James R. Kuehl versucht darzulegen, inwiefern hinsichtlich eines Porträts von einer QuasiBeobachtung gesprochen werden kann: „To ask, ‚Where are the lady’s shoes?‘ or ‚What does her back look like?‘ is not to see a portrait but to perceive the person“ (J. R. Kuehl, Perceiving and Imagining, Philosophy and Phenomenological Research 31 [1970], 212 – 224; 218). Das Bildobjekt auf einem Porträt kennt keine Appräsentationen, also keinen Wahrnehmungshorizont, der über das augenblicklich anschaulich Gegebene hinausgeht. Darum spricht Kuehl auch von „frozen references“ (a. a. O. 217).
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Ästhetik übertragen, wobei Sartre allerdings gleich zu Anfang auch einräumt, „nicht das gesamte Problem des Kunstwerks [zu] behandeln“35. Wenn nun im Folgenden seine frühe Kunsttheorie diskutiert werden soll, so will ich mich in erster Linie auf Sartres Bemerkungen zu den Bildern im engen Sinne konzentrieren, auch wenn er in diesem Zusammenhang auch auf die Musik, die Schauspielerei, die Literatur und sogar die Architektur zu sprechen kommt. Nicht zu übersehen ist, dass die Kunstkonzeption in Das Imaginäre von Grund auf jener bereits bekannten Kluft zwischen Wahrnehmung und Imagination verpflichtet ist. Es lässt sich geradezu von einem ästhetizistischen Kunstverständnis sprechen, das Lichtjahre entfernt ist von jener Theorie des literarischen Engagements, die Sartre nur weniger Jahre später in seiner Schrift Was ist Literatur? (1947) entwickeln wird. Das Kunstwerk, sagt Sartre, ist ein „Irreales“36. Mit dieser zentralen These will er zunächst der gängigen Behauptung widersprechen, dass der Künstler zuerst eine Idee, eine Vorstellung, sozusagen eine image mentale hat, die er dann im Anschluss auf dem Wege seiner künstlerischen Produktion auf der Leinwand realisiert. Es ist für Sartre irreführend, jenen Weg von der Konzeption zur Ausführung des Kunstwerks als eine ‚Realisierung‘ zu bezeichnen. Dieser Weg führt eben nicht vom Imaginären zum Realen, vielmehr verbleibt er innerhalb des Bereichs des Imaginären, denn der Maler realisiert keine Vorstellung, sondern er irrealisiert die reale Farbe, damit sie zum Analogon eines imaginären Objekts werden kann. Die Verwandlung eines realen Dings in ein Analogon ist dann gelungen, wenn ein Rezipient über diese wahrnehmbare Materie der Imagination das eigentliche Objekt der Imagination erfassen kann. Anstelle von einer Realisierung wäre nach Sartre deshalb zutreffender von einer Objektivierung des Imaginären zu sprechen.37 Der künstlerische Prozess führt nicht vom Imaginären zum Realen, sondern stattdessen von der privaten image mentale zur öffentlichen image physique. Das Kunstwerk versteht Sartre unter diesem Gesichtspunkt als ein materielles bearbeitetes Ding, das den Betrachter dazu einlädt, eine imaginierende Haltung einzunehmen, die dazu führt, dass dieses reale, vom Künstler bearbeitete Ding ein imaginäres Objekt zur Erscheinung bringt. So ist etwa die Farbe auf der Leinwand das Analogon des Kunstwerks, welches dazu führt, dass der imaginäre Karl VIII. auftaucht, der das eigentliche Kunstwerk ist.38 Wenn Sartre zuvor dafür argumentiert hat, dass das Imaginäre völlig jenseits der realen Zeit liegt, dann ist der Leser schon fast gar nicht mehr überrascht, wenn nun schlichtweg die Unzerstörbarkeit des imaginären Objekts der Kunst 35
Sartre, Das Imaginäre (wie Anm. 5), 296. Ebd. 37 Vgl. a. a. O. 297. 38 Ebd. 36
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behauptet wird. Den Gesetzen der Physik und damit auch der Zeit und der Vergänglichkeit ist allein das Analogon unterworfen, weil es als ein reales Ding der realen Welt mit ihren Naturgesetzen angehört. Die Beleuchtungsstärke der Leinwand kann verändert werden, die Farbe kann abbröckeln, das physische Bild in Husserls Sinn kann sogar verbrennen – aber all das ändert nichts daran, dass das imaginäre Objekt für alle diese realen Einflüsse unerreichbar ist: „wenn das Gemälde verbrennt, ist es nicht Karl VIII. als Vorstellung der verbrennt, sondern einfach das materielle Objekt, das als Analogon für die Manifestation des vorgestellten Objekts dient“39. Diese Überzeugung, dass die Kunst völlig der realen Welt und ihren Einflüssen entrückt ist, kommt auch schon in Sartres erstem Roman Der Ekel (1938) zum Ausdruck. Dort heißt es: Die Platte muß an der Stelle einen Kratzer haben, denn es macht ein komisches Geräusch. Und da ist etwas, was das Herz zusammenschnürt: nämlich, daß die Melodie überhaupt nicht von dem leichten Krächzen der Nadel auf der Platte berührt wird. Sie ist so weit – so weit dahinter. Auch das verstehe ich: die Platte wird verkratzt und nutzt sich ab, die Sängerin ist vielleicht tot [. . .]. Aber hinter dem Existierenden, das von einer Gegenwart in die nächste fällt, ohne Vergangenheit, ohne Zukunft, hinter diesen Klängen, die von Tag zu Tag zerfallen, zerkratzt werden und in den Tod gleiten, bleibt die Melodie dieselbe, jung und fest, wie ein erbarmungsloser Zeuge.40
Die strikte Trennung zwischen realem Analogon und imaginärem Objekt oder – wie Husserl sagen würde – zwischen physischem Bild und Bildobjekt – führt auch bei einem zeitgenössischen Bildtheoretiker wie Lambert Wiesing zu der Überzeugung, dass das Bildobjekt jenseits der Wahrnehmungswelt und damit auch jenseits der Physik liegt: Insofern es sich weder berühren, hören oder riechen lässt, noch in irgendeiner Weise den Einflüssen der realen physischen Welt ausgesetzt ist, ist es keine reale, sondern eine „artifizielle Präsenz“41. Da das Objekt der künstlerischen image physique, Husserls Bildobjekt oder Wiesings artifizielle Präsenz der realen Welt und ihren Gesetzen entrückt sind, bleiben wir auf Porträts und Fotos ewig jung – eine Tatsache, die Oscar Wilde in seiner berühmten Erzählung Das Bildnis des Dorian Gray in ihr Gegenteil verkehrt hat: Dort altert das Bildobjekt anstelle des Bildsujets. Wiesing würde jedoch nicht so weit wie Sartre gehen und die Behauptung aufstellen, dass man allenfalls das physische Bild, aber niemals das Bildobjekt zerstören kann, denn immerhin räumt er ein: „Ein Bildträger muß gegeben sein, damit zuerst ein Bildobjekt sichtbar [. . .] wird“42. Mit anderen Worten: Wenn ich 39
A. a. O. 288. J.‑P. Sartre, Der Ekel [orig. La nausée, Paris 1938], übers. v. U. Aumüller, GW: Romane und Erzählungen, Bd. 1, Reinbek bei Hamburg 1994, 196 f. 41 L. Wiesing, Die Hauptströmungen der gegenwärtigen Philosophie des Bildes, in: Ders., Artifizielle Präsenz (wie Anm. 3), 17 – 36; 32. 42 A. a. O. 53. 40
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den Bildträger zerstöre, wird auch kein Bildobjekt mehr sichtbar. Und insofern das Bildobjekt eben eine reine Sichtbarkeit ist – „[d]er Begriff ‚rein‘ bedeutet hier soviel wie, daß das Bildobjekt ‚ausschließlich‘ und ‚nur‘ sichtbar ist“43 – würde es eben auch, so lässt sich hieraus folgern, zusammen mit seiner Sichtbarkeit verschwinden. Wiesing teilt aber zumindest doch Sartres Auffassung, dass das imaginäre Objekt auf dem Bild in einem bestimmten Zustand konserviert wird. Als Bildobjekt auf dem Foto bleibe ich für alle Zeiten sieben Jahre alt. Diese Auffassung, dass ein Element der realen Welt durch seine Verwandlung in ein Bildobjekt dem Schicksal der physischen Veränderung, und damit der Vergänglichkeit entkommen kann, hat nun der französische Filmtheoretiker André Bazin zu der These zugespitzt, dass Bilder einem grundsätzlichen Bedürfnis des Menschen nach Unsterblichkeit entgegenkommen. Nach Bazin bringt der Mensch Bilder hervor, um sich vor der Zeit und ihren Veränderungen in Sicherheit zu bringen. Wenn der Tod, wie Bazin sagt, ein Sieg der Zeit ist, dann ist ein Bildobjekt aufgrund seiner Physiklosigkeit ein – winziger – Sieg über die Zeit und damit auch über den Tod.44 Nicht das ästhetische, aber doch das psychologische Motiv der bildenden Kunst besteht nach Bazin genau in einer solchen Einbalsamierung und Mumifizierung. Selbst wenn auf Bildern keine religiösen Inhalte zu sehen sind, wohnt ihnen doch grundsätzlich eine religiöse Dimension inne, da der Mensch, der sich auf einem Foto ‚verewigen‘ lässt, dies nach Bazin in letzter Konsequenz tut, um der Sterblichkeit zu entrinnen. Bewahrt wird auf diesem Wege natürlich immer nur seine Erscheinung und niemals seine reale Existenz. Indem das Porträt der Erinnerung dient, schützt es auf diese Weise vor „einem zweiten, geistigen Tod“45. Insofern es Bazin hierbei auf die Dokumentation ankommt, schätzt er die Kameraobjektivität höher ein als die Kreativität des Malers. Denn so geschickt ein Maler auch sein mochte, sein Werk blieb doch immer mit der Hypothek einer unvermeidlichen Subjektivität belastet. Ein Zweifel lag auf dem Bild, weil ein Mensch es geschaffen hatte [. . .]. Die Eigenheit der Photographie im Unterschied zur Malerei besteht also darin, daß sie ihrem Wesen nach objektiv ist. [. . .] wir sind gezwungen, an die Existenz des wiedergegebenen Gegenstands zu glauben, der ja tatsächlich wiedergegeben, das heißt in Raum und Zeit wieder gegenwärtig gemacht wird. Die Photographie profitiert von einer Wirklichkeitsübertragung vom Ding auf seine Reproduktion.46
Man könnte also zusammenfassend sagen, dass die Mumifizierung darin besteht, einem bestimmten Wahrnehmungsobjekt die Physik und damit jene Eigenschaften auszutreiben, die es zu einem vergänglichen, also zu einem der 43
A. a. O. 32. Vgl. A. Bazin, Ontologie des photographischen Bildes [1945], in: Ders., Was ist Film? [orig. Qu’est-ce que le cinéma?, Paris 1958 ff], übers. v. R. Fischer, Berlin 2004, 33 – 42; 33. 45 A. a. O. 34. 46 A. a. O. 36 f. 44
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Zeit unterworfenen Objekt machen. Nach Bazin gelingt der Fotografie nur besser, was in letzter Konsequenz auch den Maler bewegt, insofern er nicht nur ästhetische Absichten verfolgt: Indem der Maler ein Modell – also ein Bildsujet – verwendet, um daraus ein Porträt – also ein Bildobjekt – zu machen, versucht er einen kleinen Teil der Realität vor dem Verfließen der Zeit zu bewahren. Sartre, Bazin und Wiesing vertreten also die These, dass sich das Bildobjekt im Unterschied zum physischen Bild jenseits der realen Zeit befindet. Einer solchen These würde allerdings der polnische Phänomenologe Roman Ingarden entschieden widersprechen: So wie Sartre das reale Analogon dem imaginären Objekt gegenüberstellt, würde zwar auch Ingarden sagen, dass das Gemälde „ein aus diesem oder jenem Stoff (Holz, Leinwand usw.) gebildetes reales Ding“47 ist, während im Unterschied dazu das „‚Bild‘ als Gegenstand unserer ästhetischen Betrachtung“48 „keine Realität“49 besitzt und daher weder einen Geruch hat noch einen realen Raum einnimmt.50 Ingarden versagt Sartre jedoch die Gefolgschaft in aller Deutlichkeit an der Stelle, wo er hervorhebt, dass das Gemälde als reales Ding unvermeidlich einem Alterungsprozess unterworfen ist, der auch auf das Bild übergreift: Gerade weil das Gemälde ein „unentbehrliches Seinsfundament“51 ist, führt die Vernichtung des Gemäldes schließlich ebenfalls zur Vernichtung des Bildes. Aus diesem Grund ist auch das Bildobjekt schließlich „ein historisches Gebilde, das eine bestimmte Lebenslänge und Lebensgrenze hat“52. Anders als bei Sartre oder Wiesing können Bildobjekte bei Ingarden also tatsächlich verbrennen.53 Wie bereits deutlich geworden ist, würde der frühe Sartre an dieser Stelle widersprechen und darauf insistieren, dass ausschließlich das materielle Objekt verbrennen kann, welches als Analogon des imaginären Objekts dient, aber niemals der imaginäre Karl VIII. Hier fragt sich allerdings, wie sich dieser imaginäre Karl VIII. imaginär manifestieren soll, wenn seine Manifestation auf das soeben verbrannte Analogon angewiesen ist. Was soll von dem Bild bleiben, wenn die realen Farben in Flammen aufgehen?54 In späteren Texten ist Sartre 47
Ingarden, Ontologie der Kunst (wie Anm. 2), 207. A. a. O.,139. 49 A. a. O. 164. 50 Vgl. a. a. O. 163. 51 A. a. O. 207. 52 A. a. O. 211. 53 Siehe zum Vergleich zwischen Ingarden und Sartre ausführlich Bonnemann, Spielraum des Imaginären (wie Anm. 1), 153 – 160. 54 Paradigmatisch für die kritische Einschätzung, die innerhalb der Forschungsliteratur anzutreffen ist, sei an dieser Stelle die Kritik von Bossart zitiert: Sartre „ignores the fact that the physical object is essential to the work of art, that it situates the viewer by its presence in real space“. Daher müsse an der „inseparability“ des Kunstwerks „from its physical existence“ festgehalten werden (W. H. Bossart, Sartre’s Theory of the Imagination, Journal of the British Society for Phenomenology 11 [1980], 37 – 53; 45). 48
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allerdings von seiner überzogenen Position abgerückt. So heißt es etwa in der Flaubert-Studie Der Idiot der Familie (1971): „Der Gegenstand ist Träger der Irrealisierung, aber die Irrealisierung verleiht ihm seine Notwendigkeit, weil er sein muß, damit sie stattfindet“55. Und sehr pointiert erklärt Sartre bereits in Saint Genet, Komödiant und Märtyrer (1952): „Imaginieren heißt dem Imaginären ein Stück Reales zu beißen geben“56.
D. Atheismus und Kunstreligion Wenn man sich nun im Blick auf die frühe Kunsttheorie Sartres die Frage vorlegt, wie er dazu kommt, das Verhältnis zwischen Imagination und Wahrnehmung als einen so schroffen Dualismus zu denken, so bietet sich gerade das vierte Grundcharakteristikum des Imaginären – die Kreativität des imaginierenden Bewusstseins – als ein Schlüssel zum Verständnis an. Der Gedanke, dass das Imaginäre im Unterschied zum Wahrgenommenen etwas Erschaffenes und daher auch Gewolltes ist, verbindet Sartres Kunstverständnis mit seiner atheistischen Grundüberzeugung. Im Unterschied zum Imaginären – darauf kommt es hier an – erscheint das Wahrgenommene niemals so, als habe es seinen Ursprung in einer Subjektivität. Aus diesem Grund ist das Reale in seiner Kontingenz ohne jegliche Rechtfertigung. So führt Sartre in Was ist Literatur? (1947) aus, dass ein besonders schöner Sonnenuntergang zwar einen Schein von Zweckmäßigkeit nahe legen kann. Er wirkt dann wie ein Kunstwerk, d. h. er erscheint so, als ob die Komposition von Licht und Farben eine beabsichtigte Ordnung sei. Aber dieser Eindruck verflüchtigt sich wieder recht schnell, weil die Verbindungen, die ich hier mit den verschiedenen Elementen dieser vermeintlichen Komposition herstelle, letzten Endes beliebig bleiben: [W]ir bleiben allein, wir sind frei, diese Farbe mit jener andren oder einer dritten zu verknüpfen, den Baum und das Wasser oder den Baum und den Himmel oder den Baum und das Wasser und den Himmel miteinander in Verbindung zu bringen. Meine Freiheit wird Laune; je mehr ich neue Beziehungen herstelle, desto mehr entferne ich mich von der illusorischen Objektivität, die mich herausforderte; ich träume über bestimmte Motive, die von den Dingen vage skizziert sind, die natürliche Realität ist nur noch ein Vorwand für Phantasien.57
55 J.‑P. Sartre, Der Idiot der Familie: Gustave Flaubert 1821 – 1857, Bd. 2: Die Personalisation [orig. La personnalisation, Paris 1971], übers. u. hg. v. T. König, GW: Schriften zur Literatur, Bd. 6, Reinbek bei Hamburg 21980, 147 f. 56 J.‑P. Sartre, Saint Genet, Komödiant und Märtyrer [orig. Saint Genet, comédian et matyr, Paris 1952], übers. v. U. Dörrenbächer, GW: Schriften zur Literatur, Bd. 3, Reinbek bei Hamburg 1982, 30. 57 J.‑P. Sartre, Was ist Literatur? [orig. Qu’est-ce que la littérature, Paris 1947], übers. u. hg. v. T. König, GW: Schriften zur Literatur, Bd. 2, Reinbek bei Hamburg 21990, 46.
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Der entscheidende Unterschied besteht also darin, dass sich in der Kunst grundsätzlich alles und in der Natur überhaupt nichts so darbietet, als sei es von einem schöpferischen Bewusstsein gewollt. Sartre zufolge entgeht ein Objekt also nur dann der Sinnlosigkeit und der Kontingenz, wenn es seinen Ursprung in einer Subjektivität hat. Indem er jedoch religiöse Welterklärungen ablehnt, stellt er in Abrede, dass irgendein reales Objekt erschaffen und damit gerechtfertigt sein könnte. Und genau an dieser Stelle zeigt sich das Privileg des Imaginären, weil der Fall hier völlig anders liegt: Jedes imaginäre Objekt ist das Produkt einer schöpferischen Subjektivität; und aus diesem Grund entgeht alles Imaginäre der Kontingenz. Sartre unterscheidet also zwei ganz unterschiedliche ontologische Bereiche: Es gibt einmal die Realität, zu der auch das Ding gehört, das zu einem Analogon für ein imaginäres Objekt werden kann. Diese Realität zeichnet sich durch Kontingenz, Zufälligkeit und Sinnlosigkeit aus, und es handelt sich hierbei um den Schauplatz des alltäglichen Daseins, dessen Bodenlosigkeit durch beruhigende Konventionen und Betriebsamkeit verdeckt wird.58 Dieser kontingenten Realität steht nun der Bereich des Imaginären gegenüber, zu dem im Wesentlichen die Bilder und Kunstwerke in ihren mannigfaltigen Spielarten gehören. Imaginationen im Allgemeinen und Bilder im Besonderen sind nicht kontingent, sondern geradezu notwendig, weil sie erschaffen sind und auf diese Weise der Kontingenz entgehen. Hier ahnt man das Motiv für die in der Forschung so umstrittene schroffe Grenzziehung zwischen Wahrnehmung und Imagination bzw. zwischen dem Träger des Kunstwerks und dem eigentlichen Kunstwerk: Je mehr an dieser Stelle die Grenzen durchlässig würden, umso mehr an Kontingenz würde in das Imaginäre eindringen und den letzten Zufluchtsort vor der allgemeinen Sinnlosigkeit zerstören. Konsequent behauptet Sartre also die Unzerstörbarkeit des Kunstwerks, weil es nur dann einen Bereich gibt, der aller Zeit und Vergänglichkeit entrückt ist. Es ist nicht zu übersehen, dass auf diese Weise das Imaginäre und die Kunst zu einer Ersatzreligion werden, die Sartre in seiner Autobiografie Die Wörter (1964) selbstkritisch in den Blick genommen hat: „Das Sakrale wurde aus dem Katholizismus weggenommen und in die Belletristik versetzt, und es erschien der Mann der Feder als Ersatz jenes Christen, der ich nicht sein konnte“59. Und er fügt hinzu: „Wenn ich schrieb, so hieß das lange Zeit, daß ich den Tod und die maskierte Religion darum bat, mein Leben dem Zufall zu entreißen“60. Der späte Sartre hält sich jedoch endgültig für ernüchtert, und indem er auch den Glauben an das Imaginäre als einen Irrglauben entlarven will, beabsichtigt er 58
Davon handelt in weiten Teilen Sartres Roman Der Ekel (wie Anm. 40). J.‑P. Sartre, Die Wörter [orig. Les mots, Paris 1964], übers. v. H. Mayer, GW: Autobiographische Schriften, Bd. 1, Reinbek bei Hamburg 1983, 191. 60 A. a. O. 193. 59
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die Austreibung des Heiligen Geistes aus der Belletristik: „Märtyrertum, Heil, Unsterblichkeit, alles fällt in sich zusammen, das Gebäude sinkt in Trümmer, ich habe den Heiligen Geist im Keller geschnappt und ausgetrieben; der Atheismus ist ein grausames und langwieriges Unterfangen; ich glaube ihn bis zum Ende betrieben zu haben“61.
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Bildandachten Präsenz und Zeitenabstand Reinhard Hoeps Die Zeit der Bilder ist in theologischer Perspektive nicht ausschließlich ein innerbildliches Phänomen. Lange bevor sie der Frage nach zeitlichen Strukturen des Ikonischen systematisch nachging, ist die Bildtheologie von dem offensichtlich unrevidierbaren Vergangenheitscharakter der Bilder im Christentum berührt worden: Bilder haben ihre Zeit, und diese Zeit scheint unwiederbringlich vorüber. Schon 1950 formulierte der Hamburger Kunsthistoriker Wolfgang Schöne seine beiden berühmten Thesen: „1. Gott (der christliche Gott) hat im Abendland eine Bildgeschichte gehabt. 2. Diese Bildgeschichte ist abgelaufen“1. Wo die moderne Theologie auf die Bilder stößt, sieht sie sich nicht nur mit der Zeit in den Bildern konfrontiert, sondern zuvor noch mit den Bildern in der Zeit. Bildwerke mit christlichem Sinngehalt sind heute aufgehoben im Raum des Musealen; sie sind nicht nur im theologischen Bewusstsein mit dem Zeitindex des Vergangenen versehen. Doch dispensiert Vergangenheit nicht von der reflexiven Auseinandersetzung. Für den christlichen Glauben ist eine prekär gewordene Vergangenheit geradezu konstitutiv: Sein Ursprung und bedeutsame Etappen seiner Entwicklung liegen weit zurück in oft nur noch sehr schwer zugänglichen Gebieten der Geschichte. In christlichen Bildwerken überlagert die Reflexion des Vergangenheitscharakters eine andere, ursprünglichere Zeitdimension: die der Präsenz des Dargestellten, wie sie dem Bild in der religiösen Verehrung zugetraut wurde. In einer doppelten Hinsicht werden hier also Zeitstrukturen als Bildstrukturen bedacht. Werke der bildenden Kunst, die den Vergangenheitscharakter des christlich geprägten Bildes zum Thema erheben, sollen Gegenstand dieses Beitrags sein. In einem ersten Schritt möchte ich diesen Vergangenheitscharakter theologisch genauer beschreiben. Der religiöse Bildverlust im Christentum scheint mir weniger ikonographisch indiziert als durch eine Erosion der Bildervereh1 W. Schöne, Die Bildgeschichte der christlichen Gottesgestalten in der abendländischen Kunst, in: Das Gottesbild im Abendland, hg. v. G. Howe, Witten 21959, 7 – 56; 7.
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rung (A.). In einem zweiten Schritt möchte ich einige Bedenken darlegen gegenüber der These von der Transformation des Religiösen ins Ästhetische. Diese geläufige These erklärt vielleicht weniger, als man von ihr erwartet (B.). In diesem Falle bleibt in einem dritten Schritt einstweilen nur die Rückwendung hin zu eben dieser Frage, auf welche die Transformation des Religiösen ins Ästhetische einmal die Antwort sein sollte (C.).
A. Künstlerische Entwicklungen zur Moderne, zunächst der Landschaft, des Stilllebens, dann der Abstraktion und der Ungegenständlichkeit, werden mit einer zunehmenden Verweigerung der Kunst gegenüber ikonographisch determinierten religiös-doktrinären und kirchlich-institutionellen Repräsentationsverpflichtungen in Zusammenhang gebracht. Als Indiz für das Verschwinden der Kunst aus der christlichen Religion gilt die rückläufige Bedeutung christlichikonographischer Motive in den Werken. Auch die Spurensuche nach verborgenen christlich-ikonographischen Motiven in den Bildern hat den ikonographisch fixierten Trennungsschmerz nicht lindern können, erst recht nicht die etwas spitzfindigen Versuche, den Geltungsbereich der Ikonographie mit theologischen Argumenten auf das Gebiet des Ungegenständlichen auszuweiten: So etwa, wenn der Verzicht auf ikonographische Motive gegenüber der Undarstellbarkeit und Unerkennbarkeit Gottes als die bessere, weil theologisch angemessenere Form christlicher Ikonographie empfohlen wird. Zu solchen Kapriolen versteigt sich ein theologisches Denken, das eigentlich keinerlei Bedürfnis verspürt nach Erfahrungs- und Bedeutungsräumen des Imaginativen und des Ikonischen, sondern sich in bestimmten Kategorien diskursiver Bedeutungsvermittlung und Sinngenerierung eingerichtet hat. Der Bildtheologie schrieb Hans Belting vor nunmehr schon einem Vierteljahrhundert ins Stammbuch: Theologen „machen sich vom sichtbaren Bild einen so allgemeinen Begriff, als existiere es nur in der Idee, und handeln ganz allgemein vom Bild schlechthin, weil sich nur daran eine schlüssige Definition mit theologischer Substanz entwickeln lässt. [. . .] Jede Bildtheologie hat eine gedankliche Schönheit, die nur noch von ihrem Anspruch übertroffen wird, Glaubensinhalte zu verwalten“2. Die theologische Fixierung auf die Ikonographie ist einer bestimmten Vorstellung von dem geschuldet, was bildwürdige Inhalte des Glaubens sind. Erfährt der christliche Glaube einen Bildverlust, ist dies in diesem Sinne ein Verschwinden ikonographischer Traditionen. Tatsächlich ist dieser Bildverlust aber vielleicht nur die letzte Konsequenz jenes Bildverlustes, der 2 H. Belting, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990, 13.
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zuerst mit der Reduktion der Werke auf ihren ikonographisch zu ermittelnden Bestand eingeleitet worden war. Im selben Jahr, in dem Hans Belting sein Bild und Kult publizierte, präsentierte Wieland Schmied in Berlin zum zweiten Mal eine Ausstellung mit Werken moderner und zeitgenössischer Kunst im Rahmen eines Katholikentages. Diese Ausstellung war der Suche nach Spuren des Transzendenten in der Kunst unserer Zeit3 gewidmet und griff ein Projekt auf, das Schmied zehn Jahre zuvor ebenfalls anlässlich einer Katholikentagsausstellung unter den Titel Religiöse Tendenzen in der Kunst des 20. Jahrhunderts4 gestellt hatte. Beide Projekte sind hier erwähnenswert, weil ihre Suche nach religiösen Tendenzen und Spuren des Transzendenten in Moderne und Gegenwart die eingefahrenen Wege ikonographischer Fixierung verließ (auch wenn sich christliche Sujets vor allem in der ersten Ausstellung zahlreich fanden). Schmied setzte auf religiöse Traditionen der Spiritualität, um den religiösen Bilderverlust zu beschreiben und darüber hinaus sogar, ihn vielleicht beheben zu können. Zwar ist Spiritualität ein durchaus schillernder Begriff, dem aber jedenfalls wesentlich ist, die Bahnen diskursiver Theologie kritisch in den Blick zu nehmen mit dem Ziel, theologische Denkformen und christlich-praktische Lebensformen in einen Ausgleich miteinander zu bringen. Mit dem Stichwort der Spiritualität hat Wieland Schmied seinerzeit hellsichtig religiöse Erwartungshaltungen der Gegenwart diagnostiziert, die von der Kunst aufgegriffen, artikuliert und reflektiert wurden, nachdem sie ihre Heimat in Theologie und Kirche verloren zu haben schienen.5 Die künstlerischen Ausprägungen solcher Spiritualität erwiesen sich als ausgesprochen vielfältig, durchweg dogmatisch unterbestimmt und in jedem Fall kirchlich ungebunden. Ist die Kluft zwischen Kunst und christlicher Religion in der europäischen Moderne durch solche künstlerischen Variationen der Spiritualität tatsächlich überbrückt oder vielmehr erst eigentlich deutlich sichtbar geworden? Die Theologie scheitert hier jedenfalls mit dem Ansinnen, Bildwerke der künstlerischen Moderne als Substituierung theologisch relevanter Ideen durch ikonographische Motive zu deuten. Wieland Schmieds Plädoyer für das religiöse Potential der Kunst der Moderne setzt an die Stelle der Entschlüsselung einer Darstellung eine Art von Erfahrung, die ohne die Diskrepanz zwi-
3 GegenwartEwigkeit. Spuren des Transzendenten in der Kunst unserer Zeit (Ausstellungskatalog Berlin, Martin-Gropius-Bau, 7. April – 24. Juni 1990), hg. v. W. Schmied, Stuttgart 1990. 4 Zeichen des Glaubens – Geist der Avantgarde. Religiöse Tendenzen in der Kunst des 20. Jahrhunderts (Ausstellungskatalog Berlin, Schloss Charlottenburg, 31. Mai – 13. Juli 1980, hg. v. W. Schmied, Stuttgart 1980. 5 Vgl. hierzu A. Stock, Religion in der Kunst, in: Ders., Bilderfragen. Theologische Gesichtspunkte, Paderborn 2004, 45 – 60; vgl. Ders., Zur Spiritualität der Avantgarde, in: Ders., Durchblicke. Bildtheologische Perspektiven, Paderborn 2011, 127 – 136.
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schen Wahrnehmung und Entzifferung auskommen will und die sich insofern als unmittelbar6 versteht. Schmied hat diese Unmittelbarkeit mit Kategorien der Zeitlichkeit beschrieben, und so eine Konvergenz von ästhetischer Wahrnehmung und religiöser Bedeutsamkeit freigelegt. Sein Projekt „zielt auf Bilder, in denen das Moment der Zeit [. . .] reflektiert wird, in denen das Durchsichtigwerden eines gegenwärtigen Augenblicks erlebt wird. [. . .] Man könnte von der Erfahrung des Augenblicks Ewigkeit sprechen, von der Dauer in der Vergänglichkeit, vom plötzlichen Gewahrwerden einer geheimnisvollen, nicht benennbaren Präsenz im vertrauten Bereich des täglichen Daseins“7. Die Erfahrung unmittelbarer Gegenwart stiftet die Konvergenz von religiöser und ästhetischer Semantik. Eine solche religiöse Kunsthermeneutik scheint – bei aller Distanz „zu den befriedeten Bereichen kirchlicher Konvention“8 – durchaus inspiriert von einer christlich geprägten Bildauffassung. In ihr ist das Bild Ort einer besonderen Erfahrung, die einerseits durch die Überführung von Repräsentation in Präsenz bestimmt ist und andererseits durch den spannungsvollen Zusammenhang von sichtbarer Präsenz und bleibender Unsichtbarkeit. Letztlich ist es die Differenz von Darstellung und Verehrung, die hier virulent wird: Schmieds bildtheologisches Konzept steht in der Tradition und in größter Nähe zum Bildgebrauch der Verehrung, die solchen Werken zukommt, in denen sich der Dargestellte in wie auch immer abgeschatteter, gespiegelter, verhüllter Weise wirklich antreffen lässt. Mit dieser Wendung vom Topos der Darstellung zu dem der Verehrung trifft Schmied zugleich den Nerv beinahe sämtlicher ernsthafter theologischer Auseinandersetzungen um die Bilder. Dass sie nach Gregor dem Großen lediglich eine belehrende Funktion für die illiterati haben sollen,9 ist zwar kaum irgendwann ernsthaft bestritten worden, blieb de facto aber durchweg unrealisierbar. Das Argument wurde in der Antike eigentlich auch nur dazu verwendet, militante Bildergegner zu besänftigen (etwa beim zweiten Konzil von Nicaea). Wirklich ernsthaft brauchte die Tragfähigkeit dieses Argumentes nicht weiter erörtert zu werden, weil es ohnehin die religiösen Erwartungen an die Bilder 6 Barnett Newman, einer der Kronzeugen für Schmieds Konzeption der Spiritualität, hat die Eröffnung unmittelbarer Erfahrung durch die Kunst der Avantgarde so auf den Punkt gebracht: „The image we produce is the self-evident one of revelation, real and concrete, that can be understood by anyone who will look at it without the nostalgic glasses of history“ (B. Newman, The Sublime is Now [1948], in: Ders., Selected Writings and Interviews, ed. by J. P. O’Neill, New York 1990, 170 – 173; 173. 7 Schmied, GegenwartEwigkeit (wie Anm. 3), 15 f. 8 A. a. O. 23. 9 Vgl. Gregor der Große, Ep. XI 10, in: CCSL 140A, 873 – 876; 873: „Was den des Lesens Kundigen die Schrift, das bietet den schauenden Einfältigen das Bild, denn in ihm sehen die Unwissenden, was sie befolgen sollen, in ihm lesen die Analphabeten“ (Übers. n. H. G. Thümmel, Die Konzilien zur Bilderfrage im 8. und 9. Jahrhundert, Paderborn 2005, 32 f).
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meistens eklatant unterbot. Bis heute ist die Berufung auf Gregor geradezu ein Indiz dafür, dass die theologische Brisanz der Bilder entweder noch nicht zu Bewusstsein gelangt ist oder bewusst unterboten werden soll. Dagegen besteht schon in der reichen Rezeptionsgeschichte des Bilderverbotes innerhalb des Alten Testaments weitgehend Einigkeit, dass in dem Doppelgebot ‚Du sollst dir kein Bildnis machen‘ und ‚Du sollst dich nicht vor ihnen niederwerfen‘ das verbindende ‚und‘ explikativen Charakter hat: Man soll keine Bilder anfertigen, um nicht beinahe zwangsläufig der Versuchung zu erliegen, sie zu verehren. Kunstbeflissene Reformatoren hatten einen lebhaften Sinn für diesen verhängnisvollen Zusammenhang; Luther wiederum war klar, dass die theologische Herausforderung der Bilder nur dann zu meistern war, wenn man aus den realen Erwartungen an das Bild die Luft herausließ, d. h. die Bilder auf einer Ebene weit unterhalb ihrer religiösen Beanspruchung verhandelte.10 Nicht von ungefähr hat das Bilderdekret des Tridentinums ganz auf die Verehrung der Bilder abgehoben und versucht, sie gegenüber äußeren Anfeindungen wie inneren Auswüchsen zu rechtfertigen und ihre Praxis sicherzustellen.11 Dazu war im Grunde nicht viel mehr erforderlich als eine strikte Rückbesinnung auf das zweite Konzil von Nicaea, das Bilder allerorten und in jedweder Technik allein deshalb forderte, um vor ihnen Christus und die Heiligen zu verehren. Zugleich hatte bereits dieses Konzil eine Argumentation bereitgestellt, um die rechte Verehrung des Bildes gegenüber dem Götzendienst, den das Bilderverbot im Auge hatte, theologisch – und vernunftgemäß – zu rechtfertigen.12
B. Die Verehrung ist der Ernstfall des Bildes im Christentum. Der ursprüngliche Ort des Bildes im christlichen Glaubenszusammenhang ist nicht die theoretische Belehrung, sondern die Praxis der Andacht. Sie ist der Gegenstand theologischer Debatten um das Bild; sie fordert als erste eine grundlegende Reflexion der Ikonizität jenseits der bloßen Ikonographie. Entsprechend kann Hegel gerade in der Erosion von Bilderverehrung und Bildandacht das Ende der christlichen Kunst erkennen, das zugleich dann auch das Ende von Kunst überhaupt ist: „Man kann wohl hoffen, dass die Kunst immer mehr steigen und sich vollenden werde, aber ihre Form hat aufgehört, das höchste Bedürfnis des
10 Vgl. Th. Lentes, Zwischen Adiaphora und Artefakt. Bildbestreitung in der Reformation, in: Handbuch der Bildtheologie, Bd. I: Bild-Konflikte, hg. v. R. Hoeps, Paderborn 2007, 213 – 240. 11 Vgl. F. Bœspflug / O. Christin, Das Konzil von Trient und die katholischen Traktate De imaginibus (1522 – 1680), in: Handbuch Bildtheologie (wie Anm. 10), 241 – 261. 12 Vgl. G. Lange, Der byzantinische Bilderstreit und das Konzil von Nikaia (787), in: Handbuch Bildtheologie (wie Anm. 10), 171 – 190.
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Geistes zu sein. Mögen wir die griechischen Götterbilder noch so vortrefflich finden und Gottvater, Christus, Maria noch so würdig und vollendet dargestellt sehen – es hilft nichts, unsere Knie beugen wir doch nicht mehr“13. Es war nach Hegel ausgerechnet die Religion, die der bilderfrommen Kunst ihr Ende bereitet hat. So bringt erst „die Religion die Andacht des zu dem absoluten Gegenstande sich verhaltenden Inneren hinzu. [. . .] Die Andacht ist dieser Kultus [. . .], in welchem die Objektivität gleichsam verzehrt und verdaut und deren Inhalt nun ohne diese Objektivität zum Eigentum des Herzens und des Gemüts geworden ist“14. Fast möchte man von einer Art protestantischer Reinigung der katholischen, auf dinglich-materielle Realität fixierten Bildandacht als Ziel der geistesgeschichtlichen Entwicklung sprechen – doch es folgt eine weitere Wendung: „Aber die Innerlichkeit der Andacht des Gemüts und der Vorstellung ist nicht die höchste Form der Innerlichkeit. Als diese reinste Form des Wissens ist das freie Denken anzuerkennen, in welchem die Wissenschaft [. . .] zu jenem geistigen Kultus wird, der sich durch systematisches Denken dasjenige aneignet und das begreift, was sonst nur Inhalt subjektiver Empfindung oder Vorstellung ist“15. Aus dieser philosophischen Kritik der Bildandacht ist die Ästhetik als Theorie des Schönen hervorgegangen, die eine Theorie des Kunstschönen ist und darin Theorien des Naturschönen und der Wahrnehmung integriert. Christliche Bilderverehrung scheint in ästhetischer Betrachtung aufgehoben; Religion erfährt eine Transformation in Ästhetik. Diese Transformationsthese wiederum hat sich zum Standardmodell für die Erklärung des epochalen Bildverlustes im Christentum seit dem Beginn der Moderne entwickelt. In Caspar David Friedrichs Kreuz im Gebirge von 180816 scheint die Transformation von Religion in Ästhetik mit Händen zu greifen. Der Rahmen des Bildes evoziert in seiner Sockelzone mit dem Auge Gottes, Ähren und Weinreben symbolisch die sakramentale Gegenwart; die Malerei selbst greift die Kreuzigung Jesu auf Golgotha auf, also den Ursprung des sakramentalen Abendmahls und zugleich seit dem frühen Mittelalter die anschauliche Vergegenwärtigung und Ausdeutung des eher unscheinbaren Geschehens auf dem Altar. Allerdings ist die Anmutung einer Darstellung des Gekreuzigten über dem Altar in diesem Bild gründlich irritiert: Statt Golgotha eine eigentümliche Berggipfel-Landschaft mit einem bronzenen Gipfelkreuz, das, nicht einmal im Bild zentriert, vom Betrachter abgewandt ist.
13 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, Werke in zwanzig Bänden, hg. v. E. Moldenhauer / K. M. Michel, Bd. 13, Frankfurt a. M. 1970, 142. 14 A. a. O. 142 f. 15 A. a. O. 143. 16 C. D. Friedrich, Das Kreuz im Gebirge, 1807 / 1808, Öl auf Leinwand, 115 × 110,5 cm. Dresden: Staatliche Kunstsammlungen. Galerie Neue Meister.
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Das Werk sucht die Spannung zwischen der liturgisch disponierten Gleichzeitigkeit der Kruzifixus-Darstellung mit der Vergangenheit des Typus Altarbild in der Einheit eines Bildwerkes zusammenzubinden. Friedrich setzt dabei zum einen auf bildkompositorische Strategien, zum anderen aber auch auf eine ambitionierte theologische Argumentation. Ich übergehe hier Friedrichs kompositorische Strategien, wie etwa die Ordnung nach dem Goldenen Schnitt und das Wechselspiel zwischen Nähe und Ferne in der Ansicht des Berggipfels. Werner Buschs gründliche Analysen führen ihn zu der These, der Tetschener Altar markiere die Transformation von Religion in Ästhetik – in der Absicht, die Religion zu retten.17 Allerdings hat sich den Zeitgenossen dieses Bildkonzept des Kruzifixes offensichtlich nicht recht erschlossen. Jedenfalls hielt Friedrich die Unterstützung seines Bildes durch eine theologische Begründung für erforderlich, die er in einem gelehrten und subtil argumentierenden Brief nachschiebt: „Wohl ist es beabsichtigt, dass Jesus Christus, ans Holz geheftet, hier der sinkenden Sonne zugekehrt ist, als das Bild des ewigen allbelebenden Vaters. Es starb mit Jesu Lehre eine alte Welt, die Zeit, wo Gott der Vater unmittelbar wandelte auf Erden; wo er sprach zu Cain: Warum ergrimmest du, und warum verstellen sich deine Gebärden? Wo er unter Donner und Blitz die Gesetzestafeln gab; wo er sprach zu Abrahm: Zeuch deine Schuhe aus; denn es ist heilig Land, wo auf du stehest! Diese Sonne sank, und die Erde vermochte nicht mehr zu fassen das scheidende Licht. Da leuchtet, vom reinsten edelsten Metall, der Heiland am Kreuz, im Gold des Abendrots, und wiederstrahlet so im gemilderten Glanz auf Erden. Auf einem Felsen steht aufgerichtet das Kreuz, unerschütterlich fest, wie unser Glaube an Jesum Christum. Immer grün durch alle Zeiten während stehen die Tannen ums Kreuz, gleich unserer Hoffnung auf ihn, den Gekreuzigten“18. In einem christologischen Argumentationsgang wird zuerst die Heilsgeschichte seit der Zeit der ersten Menschen und des Gottesbundes mit Abraham (hier mit Mose verschränkt) nach dem Vorbild des Hebräerbriefes auf Christus hingeführt.19 Mit ihm und seinem Tod am Kreuz (der hier umstandslos mit der Darstellung im bronzenen Kruzifixus des Gipfelkreuzes identifiziert wird) wendet sich die von Gott ausgehende Bewegung zur Welt hin wieder zurück auf Gott – eine Denkfigur, die an den Philipper-Hymnus erinnert. Das Bild Gottes kehrt zu seinem Ursprung zurück; der Tod Jesu am Kreuz ist Erhöhung und darin der erste Schritt des Hinübergehens zum Vater, wie das Johannesevange-
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Vgl. W. Busch, Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion, München 2003, bes. 34; 45. C. D. Friedrich, Die Briefe, hg. und kommentiert v. H. Zschoche, Hamburg 22006, 53. 19 Zum Folgenden vgl. R. Hoeps, „. . . und die Erde vermochte nicht mehr zu fassen das scheidende Licht“. Bildtheologische Beobachtungen zur Gegenwart der Vergangenheit in der Kunst um 1800, in: Frage-Zeichen. Wie die Kunst Vernunft und Glauben bewegt (FS G. Larcher), hg. v. Ch. Wessely / P. Ebenbauer, Regensburg 2014, 205 – 219; 209 – 212. 18
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lium den Kreuzestod Jesu theologisch ausdeutet (Joh 17,5). Johanneisch orientiert ist auch die Vorstellung der treu in der Welt ausharrenden Jünger. Friedrichs Erläuterung – oder besser: Verteidigung – des Tetschener Altares ist ein eminent theologischer Text. Das Bild verdankt sich danach nicht so sehr Schleiermachers Sinn und Geschmack fürs Unendliche. Vielmehr realisiert der Text eine strikt neutestamentliche, vor allem johanneisch gestützte christologische Spekulation: Der Schmerz über das säkularisationsbedingte Verschwinden Gottes aus der Welt wird gedeutet als die notwendige Trennung Jesu von den Jüngern, welche die erwartete Wiederkunft allererst ermöglicht. Das Kreuz im Gebirge wäre demnach das Bild, das die vermittelnde Instanz bildet zwischen der Darstellung des Todes auf Golgotha und der Wiederkunft des apokalyptischen Weltenrichters, dessen Vision das Triumphkreuz im (östlichen) Chor des Kirchengebäudes verkörpert. So erweitert Caspar David Friedrich mit bildnerischen wie mit theologischen Mitteln den Bildtypus der Kreuzesdarstellung. Friedrich insistiert darauf, dass selbst die religiöse Erfahrung des Bildverlustes im Spektrum der Bildmöglichkeiten des Kreuzes aufgefangen ist. Insofern nimmt er hier bereits die theologische Antwort auf Wolfgang Schönes These vom Ende der Bildgeschichte Gottes im Abendland vorweg. Auch Schöne versteht die Entwicklung von der Bildwerdung Gottes bis zum Ende seiner Bildgeschichte aus der Analogie zur Parabelfigur von Inkarnation und Himmelfahrt des Philipper-Hymnus. Anders als Schöne entwirft Friedrich allerdings das Bild, das die Erosion göttlicher Gegenwart im Bild zeigt, als Möglichkeit des christlichen Bildes selbst. Deshalb erscheint das Vorstellungsmodell, nach dem eine christliche Bilderverehrung und deren theologische Reflexion säkularisierungsbedingt in einen ästhetischen Komplex überführt werden, zumindest unpräzise. Die Unschärfen dieses Modells der Transformation zeigen sich ähnlich in der entgegengesetzten Richtung der historischen Perspektive: Bei der Betrachtung mittelalterlicher Andachtsbilder zeigt sich, dass deren Analyse ohne die Anwendung ästhetischer Kategorien der Komposition und der Bildstruktur schwerlich zufriedenstellend ausfallen kann. In der imago pietatis etwa wird unter Abstraktion von narrativen Momenten der memoria passionis insbesondere die Wunde Jesu zum Kern des bildlichen Authentizitätserweises. Die Wunde wird zum Gegenstand einer visionären Erfahrung, die sich dazu auf eine komplexe wie reflektierte Konzeption des Bildes mit einer Kombination unterschiedlicher Bildebenen stützt. Die Darstellung Jesu als Schmerzensmann ist keineswegs nur ein ikonographisches Motiv der christlichen Bildtradition. Sie ist vielmehr ein bildliches Verfahren der Anleitung zur memoria passionis. Ein Grundzug dieses Verfahrens liegt in Inszenierungen des Enthüllens und des Öffnens: In Gesten des Entbergens von Verhülltem wird der Körper Jesu dem Blick des Betrachters dargeboten. Dies geschieht umso eindrucksvoller, je konsequenter diese Gesten zur Angelegenheit der bildlichen Komposition selbst erhoben werden.
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Im Hamburger Schmerzensmann von Meister Francke20 wird gegenüber dem Betrachter eine ästhetische Grenze durch ein Tuch aus Pressbrokat gespannt, das den visuellen Auftakt bildet für weitere textile Bestimmungen von bildimmanenten Räumen und Realitätsebenen. Jesus ist mit einem Mantel bekleidet, den zwei Engel anheben, um den Blick auf den Körper mit der Seitenwunde freizugeben. Der Körper Jesu wird im Akt einer revelatio dem Blick des Betrachters dargeboten, ein Augenblick der Offenbarung, wie der Körper Jesu selbst die offenbarende Erscheinung des unsichtbaren Gottes ist. Im Hintergrund spannen die Engel, die mit der Rechten den Mantel Jesu fassen, mit ihrer Linken einen Brokatvorhang fast bis in die Ecken des Bildfeldes. Hinter ihm lugt ein weiterer Engel hervor und gibt den Blick frei auf eine weite Landschaft, die sich über die gesamte Breite des Bildfeldes erstreckt. Lediglich ein schmaler Spalt gibt den ahnenden Blick frei auf einen Bildraum, der sich unerwartet hinter dem dominierenden Bildgeschehen öffnet. Dieser Blick durch den Spalt in die Weite gibt das Leitmotiv für den Blick auf die vom Mantel eingefasste Wunde Jesu. Die rot gefärbte Innenseite des Mantels Jesu greift das Rot des Blutes auf und weist auf die Wunde als eine Raumöffnung, zu der wiederum die nur leicht geöffneten Augen und Lippen Jesu das bildliche Echo geben. Durch die komplexe Staffelung der Raumgründe mit ihrem Wechselspiel des Öffnens und Verschließens wird in diesem Bild der Jesus der Passion ganz Enthüllung und Öffnung – nicht abgebildet, sondern vor dem andächtigen Betrachter in Präsenz gestellt.
C. Der philosophisch postulierte Gegensatz zwischen einer religiösen und einer ästhetischen Auffassung von Bildwerken scheint weder zur Kennzeichnung der religions- und kunstgeschichtlichen Entwicklungen am Beginn der Moderne noch als Prinzip einer methodischen Erschließung der Werke hinreichend präzise. Wie die theologische Rekonstruktion von Bild-Betrachter-Verhältnissen auf ein kunsttheoretisch-ästhetisches Instrumentarium angewiesen ist, so operieren Kunstwerke im Zeichen der Ästhetik mit theologischen Argumenten. Sind also die Transformation der Religion in Ästhetik und der eklatante Bildverlust des Christentums zu Beginn der künstlerischen Moderne bloß eine idealistisch-philosophische Illusion? Dagegen sprechen die beinahe verzweifelten Anstrengungen Caspar David Friedrichs, an christlichen Bildformen der Liturgie wie der Andacht in den Zeiten der Erosion ihres Präsenzvermögens festzuhalten. Auch 20 Meister Francke, Schmerzensmann, um 1435, Temperamalerei und Pressbrokat auf Eichenholz, 92,5 × 67 cm, Hamburg: Kunsthalle. Vgl. R. Hoeps, Die Frage nach dem Bild. Theologische Zugänge, in: Gegenwart. Ästhetik trifft Theologie, hg. v. E. Arens, Freiburg i. Br. 2012, 75 – 100; 94 f.
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hat die ästhetisch angeleitete Betrachtung zwar bisweilen die Bewunderung für mittelalterliche Andachtsbilder steigern, jedoch kaum irgendwann einmal zu christlicher Bildandacht anleiten können: Die Knie beugen wir doch nicht mehr. Weiterhin klafft die Diskrepanz zwischen dem Anspruch unmittelbarer Präsenz und der Erfahrung unwiederbringlicher Vergangenheit. Zumindest aus theologischer Sicht kann es nicht zufriedenstellen, wenn man diese Diskrepanz lediglich im Kontext ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Funktionen betrachtet. Auch wird diese Diskrepanz eher verdeckt, wenn man den religiösen Gehalt entschärft und auf ikonographisch identifizierbare Sujets reduziert, die sich zu jeder Zeit und nahezu unabhängig von jeder religiösen Haltung rekonstruieren lassen. In aller Schärfe sichtbar wird diese Diskrepanz hingegen im Horizont der Zeitlichkeit: Hier stehen die unmittelbare Gegenwart – insbesondere von vergangenen Personen und Ereignissen – und die uneinholbare Vergangenheit – insbesondere des in der Gegenwart Gezeigten – diametral einander gegenüber. Einerseits kann das Postulat der Präsenz im Bild nicht ohne weiteres eingelöst werden – selbst die Erweiterung des religiösen Beziehungsgefüges unter dem Zeichen der Spiritualität hat dies nicht nachhaltig vermocht. Andererseits besteht an der Erfahrung bildlicher Präsenz nicht nur aus theologischen Gründen ein dringenderes Interesse als das an einem bloß historischen Sachverhalt. Es ist gerade diese Ambivalenz, die Hans-Georg Gadamers hermeneutische Theorie mit dem Begriff des Zeitenabstandes zu wahren sucht.21 Dieses Konzept erlaubt, auch noch das uneinholbar Vergangene in seiner Konstellation der Gegenwart gegenüber zu beschreiben, und umgekehrt, diese Gegenwart in ihrem Verhältnis zu einer fremd gewordenen Vergangenheit zu bestimmen. Gadamer entwickelt dieses Konzept des Zeitenabstandes im Rahmen seines wirkungsgeschichtlichen Ansatzes, nach dem die Gegenwart von ihrer Herkunft in der Vergangenheit und deren Bewährung in der jeweilig aktuellen Situation her gedeutet wird. Bei aller Kritik, die dieses hermeneutische Konzept erfahren hat, erscheint es doch im Hinblick auf religionsgeschichtliche und theologische Erkenntnismöglichkeiten ausgesprochen produktiv, indem es dazu anleitet, das Vergangene in seinem Erschließungspotential für das Verständnis der Gegenwart zu erproben. Der Vergangenheitscharakter religiöser Phänomene und Ausdrucksformen, die in der Gegenwart außer Gebrauch gekommen und ihre Plausibilität verloren haben, kann im Rahmen dieser hermeneutischen Theorie nicht nur als Indiz seiner säkularisierten Gegenwart, sondern auch in den Koordinaten der vergangenen religiösen Überlieferungen beschrieben werden.
21 Vgl. H.‑G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 41975, bes. 275 – 283.
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Die christliche Andacht vor und mit Bildern ist in diesem Zusammenhang ein Untersuchungsgegenstand von höchstem Interesse, hat sie doch weite Teile zumindest der katholischen Überlieferungsgeschichte maßgeblich geprägt. Auf der anderen Seite ist sie in der Moderne nicht nur nahezu untergegangen, sondern scheint darüber hinaus für ein theologisches Verständnis geradezu unzugänglich geworden zu sein, vom säkularen Zugang einer wissenschaftlichen Kunstgeschichtsschreibung einmal ganz zu schweigen. Gadamers Theorem des Zeitenabstandes kann dazu anleiten, das Unzugängliche aus der Perspektive des Kontrastes zu seiner vergangenen Vertrautheit zu betrachten. Zuerst lenkt dieses Theorem die Aufmerksamkeit auf bildnerische Positionen, in denen die Diskrepanz zwischen einer vertrauten Bildfrömmigkeit und deren Verlust durch Entfremdung besondere Brisanz gewinnt. Stärker noch als die Positionen deutscher Romantik rückt hier Francisco de Goya in den Blick.22 Dasselbe Jahr 1808, in dem Caspar David Friedrich die Gipfeleinsamkeit seines Tetschener Altares malte, ist in Spanien durch den Beginn heftiger und mit großer Brutalität ausgetragener politischer Unruhen gekennzeichnet. Der Beginn der mit äußerster Gewalt geführten Kämpfe ist geknüpft an die Besetzung Madrids durch marodierende Truppen Napoleons am 2. Mai 1808, der die Bevölkerung mit heftigem Widerstand begegnete. Die Revolte wurde rasch niedergeworfen: Noch in der Nacht zum 3. Mai wurden die Aufständischen exekutiert. Dem vorläufigen Ende der Unruhen widmete Goya 1814 zwei monumentale Gemälde. Das berühmtere der beiden Werke zeigt Die Erschießung der Aufständischen.23 Über einen kurzen Anweg, der rechts vom Ausfallschritt der zum Schuss anlegenden Soldaten und links von niedergestreckten Körpern in ihrem eigenen Blut gesäumt ist, wird der Blick in die durch eine große Laterne hell erleuchtete zentrale Szene geführt: die Gruppe Verzweifelter und Verängstigter und die aus ihr herausragende kniende männliche Gestalt mit weißem Hemd und hoch gereckten Armen mit weit aufgerissenen Augen im Visier des Erschießungskommandos. Hinter dieser Szene drängt aus einem entfernten Konvent die Menge derer entgegen, denen die Erschießung noch bevorsteht. Dem Schrecken tödlicher Gewalt, den das Bild mit aller Drastik zum Ausdruck bringt, kann der Betrachter ebenso wenig ausweichen wie die grell angestrahlte Hauptfigur den unmittelbar erwarteten Gewehrkugeln. Goya rückt den Betrachter so nahe an das brutale Geschehen, dass eine distanzierende Beobach22 Die folgenden Überlegungen habe ich mehrfach vorgetragen und modifiziert, zuletzt veröffentlicht in der Festschrift für Gerhard Larcher (wie Anm. 19). Die Tragweite der Kunst Goyas erschließt sich nicht nur bei der Beschreibung der Werke selbst, sondern auch in den thematisch unterschiedlichen Perspektiven, aus denen man sich ihnen nähert: hier aus dem Interesse an einer modernen Wirkungsgeschichte der christlichen Bildandacht. 23 Francisco de Goya, Die Erschießung der Aufständischen am 3. Mai 1808, 1814, Öl auf Leinwand, 268 × 347 cm, Madrid: Prado.
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tung, erst recht eine abgeklärte Beurteilung der Situation von einem neutralen Standpunkt aus, eine ganz unmögliche Option sind. Der Standpunkt liegt mehr auf der Seite der Soldaten, die anonym und in ihren Uniformen entindividualisiert bleiben, während man erschüttert in die Gesichter jener schaut, denen die Erschießung unmittelbar bevorsteht – eigentlich: Man schaut in Gesichter und auf Verweigerungen eines Gesichtes: Hände schützen vor dem Anblick; eines der Gesichter wird durch ein Gewehr mit aufgepflanztem Bajonett durchschnitten; das Gesicht des Erschossenen im linken Vordergrund ist durch den Gestus der Malerei wie zerfetzt. Ergreift man innerlich Partei für die Opfer, dann nicht aus Gründen einer übergeordneten Gerechtigkeit, sondern wegen des unausweichlichen Todes, der den Menschen auf der einen Seite des Weges droht. Gerechtigkeit für eine wehrlose Zivilbevölkerung scheint jedenfalls für Goya ebensowenig der ausschlaggebende Beweggrund zu seinem Bild gewesen zu sein wie eine Stilisierung der Protagonisten zu Märtyrern. Das Pendant zur Erschießung der Aufständischen, Goyas Bild vom Aufstand an der Puerta del Sol,24 zeigt in aller Drastik, wie auch die sich erhebenden Bürger massakrieren und wüten und sogar Pferde nicht schonen. Man hat in Goya einen Vorläufer photographischer Kriegsberichtserstattung gesehen, doch er registriert keineswegs den unmittelbaren Eindruck. Gesehen hat Goya die Ereignisse des 2. und 3. Mai, die er gar nicht in Madrid miterlebt hat, indem er ihnen mit imaginären Reportagen (Werner Hofmann) zu einer für die Wahrnehmung unentrinnbaren Prägnanz des Schreckens und der Gewalt verhalf. Insofern ist das dargestellte Geschehen ästhetisch vermittelt. Die Malerei verzichtet jedoch darauf, dem realen, aber zerschossenen Körper durch Kunst die Integrität seiner Gestalt zurückzugeben, vielmehr bekräftigt sie dessen Zerstörung und Auflösung. Im Hintergrund lösen sich Gestalten in ihren eigenen Schatten auf. Lediglich die zum Schuss anlegenden Soldaten geben detailliert ausgearbeitete Figuren, aber gesichtslos. Selbst der Hügel im Hintergrund der Aufständischen bleibt in jeder Hinsicht unterbestimmt und eine vage Andeutung aus Farbschlieren. Ein Landschaftszusammenhang, in den die Exekutionsszene eingebettet wäre, wird mit Nachdruck vermieden. Überhaupt gibt es im Bild keine Einheit und keine Ordnung stiftenden Motive. Die Verweigerung jeder Heroisierung oder ästhetischen Überhöhung der Protagonisten des Bildes gipfelt in der Auflösung der Bildordnung selbst. Umso bemerkenswerter ist die breite und markante Präsenz von Motiven christlicher Passionsikonographie in diesem Bild. Die große Laterne gehört zum Repertoire der Ölbergszene wie die empor gereckten Arme der Hauptfigur. Die Körperhaltung des niedergestreckten Mannes im Vordergrund ist mit der Darstellung des Gekreuzigten verglichen worden, darin vielleicht ein Echo auf die 24 Francisco de Goya, Der 2. Mai 1808 an der Puerta del Sol, 1814, Öl auf Leinwand, 268 × 347 cm, Madrid: Prado.
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Haltung der Hauptfigur; am linken Bildrand deutet sich schemenhaft die Figur einer hockenden Mutter mit ihrem Kind an. Bemerkenswert erscheint insbesondere die stigmatisierte rechte Hand der hell erleuchteten Hauptfigur: Der, dessen Erschießung unmittelbar bevorsteht, trägt ein Wundmal des gekreuzigten Jesus. Insofern das Bild von der Ohnmacht angesichts des gewaltsam drohenden Todes handelt, liegt die Passionsikonographie vielleicht in gewissem Sinne nahe, allerdings wirkt sie in Goyas Inszenierung des Bildgeschehens doch einigermaßen fremd. Werden durch das Wundmal die Aufständischen letztlich doch noch zu unschuldigen Märtyrern stilisiert – wenn schon nicht im religiösen, so doch vielleicht in einem nationalen Sinne? Werner Busch dagegen versteht die ikonographischen Anleihen als bewusst gewählte Zitate christlicher Erlösungserwartung, an denen Goya die Vergeblichkeit der Hoffnung auf Erlösung demonstriere: „Wir realisieren die christliche Figuration und ihre zugehörigen Bedeutungsgehalte von Gethsemane und Kreuzigung, wir sehen sie aber eingefügt in einen Zusammenhang, der die christliche Konsequenz, die Erlösung, verweigert“25. Jedoch bezeichnet die säkular gebrochene Passionsikonographie hier nicht nur das Ende der christlichen Erlösungshoffnung. Die Passionsmotive schreiben der Narration des Historienbildes eine Deutungsebene ein, die vielleicht nicht einmal auf eine Verschränkung der Ereignisse vom 3. Mai 1808 mit der Geschichte Jesu zielt. In das Historienbild wird vielmehr – so scheint mir – eine imago pietatis eingeblendet, die eine Betrachtung intendiert: eine Betrachtung der Wunde. Einen Hinweis in Richtung dieser Lesart gibt das korrespondierende Bild des 2. Mai, aus dem sich das Motiv der Wunde markant heraushebt. Der 2. Mai an der Puerta del Sol, ein Bild von durchaus handfester Brutalität, das die Vorgeschichte zur Erschießung der Aufständischen zum Thema hat, zeigt in farblich deutlicher Absetzung von der übrigen Szene einen Schimmel, dessen blutüberströmter Reiter in blutroter Hose gerade rücklings aus dem Sattel gezerrt und mit weiteren Messerstichen malträtiert wird. Der Schimmel setzt zu einer Levade an, der klassischen Positur zur Präsentation eines siegreichen Helden. Gleichzeitig aber stürzt er auch nach hinten, getroffen vom Messerstich eines Aufständischen, der mit großem Schwung wie von außerhalb des Bildes auf das Tier zuspringt. Der sich erhebende und gleichzeitig gerade seine Balance verlierende Schimmel fungiert im Vordergrund als die dem Betrachter zugewandte Außenhaut des Bildkörpers, dem die Verletzung in gleicher Weise gilt wie dem dargestellten Pferdekörper. Über dem sich erhebenden und gleichzeitig stürzenden Pferd scheinen die Blicke dreier dem Schlachtgetümmel eigentümlich entzogener Pferdeköpfe die Verletzung des Pferdekörpers, die zugleich eine Verletzung des Bildkörpers ist, dem Mitgefühl des Betrachters zu überantworten. 25 W. Busch, Das sentimentalische Bild. Die Krise der Kunst im 18. Jahrhundert und die Geburt der Moderne, München 1993, 112.
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Auch das Stigma der Hand im Mittelpunkt der Erschießung der Aufständischen am 3. Mai 1808 ist als eine innerbildliche Reflexionsfigur zu verstehen, die im Ausgang bei der Ikonographie schließlich das gesamte Bildgeschehen betrifft. Das an sich ganz unscheinbare Stigma der rechten Hand bildet den Gipfelpunkt einer Kaskade krampfhafter Gesten und verzweifelter Gesichter, die in der kraftlos hingestreckten Gestalt des Erschossenen auf den Erdboden schlägt. Der Tote in der Haltung des Gekreuzigten und das Stigma der Hand bilden eine Klammer christlicher Passionsmotivik im Lichtkegel der Laterne aus der Gethsemane-Szene. Das Stigma der Hand erscheint ganz unprätentiös als bloßer Punkt. Diese Zurückhaltung weckt einen gewissen Zweifel, ob diese Passionsmotive überhaupt hinsichtlich semantischer Operationen hinreichend belastbar sind. Eher als eine Behauptung oder eine Bestreitung christlicher Ausdeutungen scheinen sie ein fernes Echo des Bildgeschehens zu evozieren. Sie begnügen sich damit, dem Dargestellten durch die Evokation einer Entsprechung einen Resonanzraum zu eröffnen, der eine Art von Orientierung ermöglicht: Mit ungewisser semantischer Aufladung beschränkt sich die Darstellung darauf, die Passion Jesu wie in emblematischen Abbreviaturen (den arma Christi vielleicht nicht unähnlich) aufzurufen und damit das unfassbare Geschehen aus der Isolation seiner Unvergleichlichkeit zu befreien. Trost spendet diese memoria passionis, insofern sie den Schrecken und den Schmerz der Gegenwart der Solidarität durch ein allgemein anerkanntes Ereignis am Beginn der Zeitrechnung versichert – eine geschichtstheoretische Variation zur Figur der compassio. Goya zitiert im Stigma der emporgereckten Hand die imago pietatis; sein Interesse richtet sich auf die Bildwürdigkeit der Wunde, d. h. von Verletzung, Zerstörung und Auflösung. Aufmerksamkeit gewinnt die christliche Bildtradition der Wunde hier, weil sie die memoria passionis nicht zu einer Vertröstungsstrategie funktionalisiert, indem sie das Elend der Gegenwart relativiert, sondern weil sie diesem authentischen Ausdruck zu verleihen erlaubt. Noch die Auflösung der gesamten Bildordnung mit ihren auseinander driftenden Linien findet in Haltung und Kleidung der Figur des Stigmatisierten ihr Echo und wird so an die Bildsprache der memoria passionis zurückgebunden. Für Goyas Kunst scheint die christliche Bildtradition grundsätzlich bereits Vergangenheit. In den Bildern des 2. und 3. Mai 1808 erscheinen die Passionsmotive als nur schwach bedeutungshaltig, marginalisiert und wie aus der Vergangenheit herbeigerufene Zitate. Gleichwohl führt Goya die imago pietatis als ikonischen Resonanzraum geschichtlicher Ereignisse von unvorstellbarer Gewaltsamkeit ein, in dem sich brutale Verletzung ohne Zynismus in höchste bildliche Intensität wandelt. Goya setzt auf eine Bildform christlicher memoria passionis, die in seinem Werk insofern eine Wirkungsgeschichte erfährt. Im Zeitenabstand gegenüber der christlichen Bildform eröffnet sich keinerlei Möglichkeit zur Restituierung der Bildandacht, aber doch das Potential zur bildlich eindringlichen Präsenz des Leidens.
Ikonizität und Narrativität Drei Fallbeispiele zu antiken kulturellen Grundtexten (Gilgamesch, Ilias, Exodus) Friedhelm Hartenstein A. Zwischen Beschreibung und Erzählung: Die Zeit der Bilder In seiner Charakterisierung altägyptischer Mythen hat der Ägyptologe und Kulturwissenschaftler Jan Assmann darauf hingewiesen, dass die bilderreiche Kultur Ägyptens fast keine ausgeführten Erzählungen über die anfänglichen und andauernden, den Kosmos stabilisierenden Taten der Götter (= Mythen) überliefert hat. Er hält dieses überwiegende Fehlen mythischer Geschichten für eine spezielle Eigenart einer Kultur, in der zwischen Bild und Wort bzw. Bild und Text eine besonders enge Beziehung bestand. Assmann unterscheidet dabei für Altägypten zwischen zwei unterschiedlichen Ausdruckformen mythischer Modellierung der Wirklichkeit: a) Ikone sind grundlegende und immer wiederkehrende Handlungskonstellationen zwischen Gottheiten (und dem König), die vor allem als Ausdeutungen kosmischer Vorgänge erscheinen: Der tägliche Sonnenlauf bildet den entscheidenden „natürlichen“ Prozess, dessen Tiefendimension in komplexen soziomorphen Bildern symbolisiert und der rituell begleitet wurde. Mittels der „‚Strahlkraft‘ der Sprache“ wurden so „auch die Ikone fortwährend realisiert“. Assmann spricht von einer Stillstellung bzw. Ornamentalisierung der Zeit, oder – theologisch vorgeprägt – von einer „sakramentalen Ausdeutung“1 der Wirklichkeit. b) Geschichten zeichnen sich hingegen vor allem durch ihre Handlungsverkettung aus, eine unumkehrbare zielgerichtete Folge von Episoden, die zwischen einem definierten Anfang und einem guten oder schlechten Ende (das auch das ‚Jetzt‘ der Erfahrung bestimmt) ausgespannt ist. Sie sind anders als die Handlungsbilder der Ikone immer auf einen vergangenen „Ort in der Zeit“ bezogen: „Deshalb lassen sie sich nur erzählen, so wie Ikone sich nur beschreiben lassen“2. 1
J. Assmann, Ägypten. Theologie und Frömmigkeit einer frühen Hochkultur, Stuttgart u. a. 1984, 135. 2 A. a. O. 136.
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Entscheidend ist nun, dass Assmann Mythen als etwas Drittes zwischen Ikonen und Geschichten versteht, wobei sie den Bildern näherstehen: Sie „verbinden das Prinzip der Ikone und das Prinzip der Geschichten, ‚Ikonizität‘ und ‚Narrativität‘“3. Das erläutert er folgendermaßen: Es wäre verfehlt, zwischen Ikonen und Mythen die Trennungslinie zu ziehen. Sie verläuft zwischen Ikonen und Geschichten. Die Ikone sind der Stoff, aus dem – in Ägypten – die Mythen sind. Geschichten sind die Form, zu der sie diesen Stoff entfalten. Ikone können sich nicht nur jederzeit zu Geschichten entfalten; Geschichten können sich auch jederzeit zu Ikonen zusammenziehen.4
Mir scheint hier am besonders augenfälligen Beispiel einer bilderreichen Kultur etwas über Ägypten Hinausweisendes gesagt zu sein, das ins Zentrum der Thematik der ‚Zeit der Bilder‘ hineinführt: Die klassischen Gegenüberstellungen von Bild und Wort bzw. Text oder von Visuellem und Auditivem sind zwar hilfreich, sie verstellen aber auch den Blick auf unaufhebbare Wechselseitigkeiten. Am deutlichsten kommt dies im von Assmann benannten Bereich des Verhältnisses von Bild und Erzählung zum Ausdruck: Die ägyptischen Ikone wie z. B. der Sonnenlauf als Bootsfahrt oder als Lebensgeschichte zwischen Geburt und Tod, die stillende Mutter oder der die Feinde niederschlagende König, sind Verdichtungen von Handlungsfolgen, narrative Kerne, die zeitlos bzw. zeitenthoben erscheinen, jedoch niemals völlig (solange sie auf Kontexte bezogen sind). Der Reiz der Assmannschen Typologie liegt dann genau in den Spannungen von Bild und Erzählung, die sich auch als Formen intermedialer Temporalität fassen lassen. Während Assmann die Frage vor allem aus Sicht der Textquellen beleuchtete, betonte der klassische Archäologe Luca Giuliani in seiner Geschichte der Bilderzählung in der griechischen Kunst in der Sache ganz analog die Eigenart vor allem der Bildszenen älterer Zeugnisse, primär „deskriptiv“ – und damit „im eigentlichen Sinn des Wortes zeitlos“ sein zu können.5 Er unterscheidet davon Bilder mit ausdrücklich feststellbaren narrativen Elementen (ab dem 7. Jh. v. Chr.), „die nicht dem normalen Gang der Welt entsprechen“6. Ein solches Bild führt auf einen Erzählzusammenhang jenseits der Darstellung, „dessen Kenntnis es beim Betrachter voraussetzt“7. Giuliani plädiert daher im Blick auf die Bildinterpretation für eine pragmatische Wiederaufnahme der einst von Lessing eingebrachten „kategoriale[n] Unterscheidung zwischen narrativem und deskriptivem Darstellungsmodus“ im Blick auf „konkrete Mittel der Darstellung“8. Entscheidend ist für ihn die bleibend eigene Medialität von Bildern: 3
Ebd. Ebd. 5 L. Giuliani, Bild und Mythos. Geschichte der Bilderzählung in der griechischen Kunst, München 2003, 285. 6 A. a. O. 283 (Hervorhebung i. O.). 7 A. a. O. 286. 8 A. a. O. 283. 4
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Auch narrative Bilder verweisen, noch bevor sie sich auf eine bestimmte Erzählung beziehen, auf die Welt: genauer, auf das, was wir von der Welt zu kennen glauben. Dieser deskriptive Weltverweis ist die unabdingbare Voraussetzung dafür, daß es auf Bildern überhaupt etwas wiederzuerkennen gibt. [. . .] Zunächst erkennen wir ein Pferd; dann sehen wir, daß es Räder hat und folglich gar kein normales Pferd sein kann; erst damit beginnen wir Fragen zu stellen und nach einer Geschichte zu verlangen [sc. hier der Ilias]. Im eigentlichen Sinn narrativ sind also immer nur einzelne, exzeptionelle Elemente. Der dominierende Modus ist auch in narrativen Bildern immer der deskriptive.9
Ähnlich wie Assmann – aber auf einem anderen Weg der Annäherung – betont auch Giuliani den Selektions- und Konzentrationsvorgang bei der Bildidee, den die besondere Medialität des Bildes mitbestimmt: Das Bild verfügt über keine Möglichkeit, die Blickbewegungen des Betrachters zu disziplinieren und zu steuern. Mit einer solchen Steuerung entfällt bei Bildern auch die Unterscheidung einzelner Handlungsschritte, entfällt jede klare Unterscheidung zwischen Vorher und Nachher, entfällt jede Möglichkeit, kausale Relationen herzustellen.10
Eine Möglichkeit, Narratives ins Bild zu bringen, die uns im Weiteren beschäftigen wird, ist die „polychrone Bildgestaltung“11, bei der mehrere Handlungsmomente simultan gesetzt werden bis dahin, dass „eine ganze Erzählung zur facettenreichen Quintessenz synthetisiert erscheint“12. Häufiger findet sich aber die Herausstellung einer einzigen Schlüsselinteraktion oder ‑szene, gewissermaßen die Synchronisierung des ganzen Handlungsgefüges einer Erzählung in einem verdichteten Bild. Hier spielen dann auch orale / auditive Rezeptionsperspektiven eine Rolle: Das menschliche Erinnerungsvermögen hat seine eigenen Gesetze. Man versetze sich in die Lage von jemandem, der dem öffentlichen Vortrag eines epischen Gedichtes gelauscht hat. Die Erinnerung an den gehörten Wortlaut verschwimmt bereits nach kürzester Zeit; in der Erinnerung haften bleibt hingegen der Hauptstrang der Erzählung. Gespeichert wird dabei eine stark reduzierte Fassung der vorgetragenen Handlung. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, daß dieses vereinfachte Handlungsschema vom Zuhörer nicht passiv empfangen, sondern aktiv erarbeitet wird: Es ist das Produkt einer selbständigen Umformung. Unter solchen Bedingungen werden auch die Produzenten von Bildern dazu neigen, Episoden des Mythos auf deren narrativen Kern zu reduzieren, ohne sich an den exakten Wortlaut eines Textes zu halten.13
Ich erinnere hierzu auch an die Überlegungen des Aristoteles zur Tragödie, wonach ihr eine Erzählung (mythos) als ein unveränderbares Handlungsgerüst mit zentralen Interaktionskernen zugrunde liegt (der ‚Plot‘, die systasis pragma 9 A. a. O. 285; vgl. zum schriftbildlichen (Wieder‑)erkennen und dem Changieren zwischen Schrift und Bild A. Assmann, Im Dickicht der Zeichen, Frankfurt a. M. 2015, bes. 97 – 186; 189 – 231; vgl. auch Abschnitt C – D. 10 Giuliani, Bild und Mythos (wie Anm. 6), 286 f. 11 A. a. O. 287. 12 Ebd. 13 A. a. O. 289 f.
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ton14). Und ich verweise auf entsprechende Untersuchungen zu traditionellen Erzählungen, v. a. die strukturalen Analysen von Märchen, Mythen oder Sagen (V. Propp, C. Lévi-Strauss u. a.15). Für die Bildwelten antiker Kulturen erscheint mir die Frage nach dem Verhältnis von Bild und Erzählung außerdem deshalb als fruchtbar, weil in ihnen (außer in Ägypten) „große Erzählungen“ eine nachweisbare „kanonische“ Rolle gespielt und auch deshalb bevorzugt ikonographische Realisierungen in Bildern erfahren haben. Zugleich ist die in der Disziplin altorientalischer Ikonographie wichtige Maxime zu beachten, eine Bildinterpretation nicht vorschnell mit Annahmen über Bild-Text-Beziehungen zu überfrachten. Das war in den Anfängen der Forschung oft geschehen, als man zahlreiche Motive auf Rollsiegelbildern als ‚Illustrationen‘ zu Mythen und Epen ansah.16 Dennoch ist der Hinweis Assmanns auf die jedenfalls prinzipiell mögliche Ikonizität von Erzählungen nochmals hervorzuheben, weil damit der Übergang von sprachlicher zu visueller Symbolisierung (konkreten medialen Repräsentationen als Bilder) und umgekehrt beleuchtet wird. Für antike Schriftkulturen ist es grundsätzlich möglich, von Erzähltexten her Bilder zu verstehen. Der umgekehrte Weg von den kontextlosen Bildern schriftloser Kulturen (etwa des Paläolithikums) zu mutmaßlich korrespondierenden Erzählungen bleibt hingegen hochgradig spekulativ. Ich möchte nun einen Versuch unternehmen, der besonderen, in der Medien differenz angelegten Zeitverhältnisse zwischen Bild und Erzählung, Ikonizität und Narrativität, anhand von drei antiken Fallbeispielen nachzugehen. Ich wähle dazu wirkungsgeschichtlich zentrale, bereits in der Antike ‚kanonische‘ Grunderzählungen Mesopotamiens (das Gilgameschepos), Griechenlands und Roms (die Ilias Homers) und Altisraels / des antiken Judentums (MoseExodus-Geschichte der hebräischen Bibel). Leitend sind dabei für mich drei Grundannahmen: 1. Erzählungen werden in ihrer Rezeption(‑sgeschichte) iko14 Vgl. Aristoteles, Poetik. Griechisch / Deutsch, übers. und hg. v. M. Fuhrmann, Stuttgart 1982, 20 – 23 (Poetik 1450a). 15 Vgl. V. J. Propp, Morphologie des Märchens [orig. Morfologija skazki, Leningrad 1928], hg. v. K. Eimermacher, Frankfurt a. M. 1975; stellvertretend für die strukturale Mythenanalyse vgl. C. Lévi-Strauss, Die Geschichte von Asdiwal [orig. La Geste d’Asdiwal, Paris 1958], in: Mythos und Totemismus. Beiträge zur Kritik der strukturalen Analyse [orig. The Structural Study of Myth and Totemism, London 1967], übers. v. E. Hofmeister, hg. v. E. R. Leach, Frankfurt a. M. 1973, 27 – 81; C. Lévi-Strauss, Die Struktur der Mythen [orig. The Structural Study of Myth, 1955], übers. v. H. Naumann, in: Ders., Strukturale Anthropologie I, Frankfurt a. M. 1977, 226 – 254; vgl. zusammenf. W. Burkert, Kulte des Altertums. Biologische Grundlagen der Religion, München 1998, 74 – 101. 16 Vgl. die exemplarische Evaluation der Forschungsgeschichte bis zu Anton Moortgat bei O. Keel, Das Recht der Bilder gesehen zu werden. Drei Fallstudien zur Methode der Interpretation altorientalischer Bilder (OBO 122), Freiburg, Schweiz / Göttingen 1992, 2 – 23; vgl. auch D. Collon, First Impressions. Cylinder Seals in the Ancient Near East, London 1987, 178 – 181 (zu „erzählenden“ Bildkonstellationen / Szenen [„Myths, Epics and Legends“], von denen aber einschränkend gilt: „all too often we do not know what the story is“ [a. a. O. 178]). Zur Ikonographie des Gilgamesch-Epos s. Abschnitt B.
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nisch verdichtet und führen zu Bildern, die als Bilder ein ‚Mehr‘ und zugleich immer auch ein Weniger gegenüber der Erzählung enthalten. 2. Ich interessiere mich vor allem für das ‚Mehr‘ der Bilder gegenüber den Erzählungen, weil hier ihre spezifische Temporalität zum Tragen kommt. 3. Es ist über die realisierte Ikonographie in Bildzeugnissen hinaus mit einer in komplexen Erzähltexten selbst angelegten differenten Behandlung der Darstellungsmodi von (poetischer) Beschreibung und (linearer) Erzählung zu rechnen. Vor allem erstere lässt Texte immanent bildhaft werden, ohne dass es konkreter Umsetzungen in Artefakte zwingend bedarf.17
B. Der Zug zum Zedernwald: Eine altbabylonische Plakette zum Gilgamesch-Epos Der bekannteste und wegen seiner Überlieferung als Schultext am weitesten verbreitete literarische Text der altorientalischen Literaturen ist das GilgameschEpos. Seine Entdeckung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat sogleich das Interesse der Bibelexegeten und Historiker geweckt. Das Epos, das die conditio humana in ihren Grundthemen der Freundschaft, des Heldenmuts, aber auch des Versagens, der Trauer und der Suche nach Unsterblichkeit beleuchtet, fasziniert bis heute.18 Seit der kritischen Edition durch Andrew R. George und zuvor der entstehungsgeschichtlichen Analyse von Jeffrey H. Tigay vermag auch der Nichtfachmann die verzweigte Stoff- und Textgeschichte zu überschauen.19 Der Klarheit halber sei zunächst mit den Worten des Assyriologen Walther Sallaberger der Inhalt des jungbabylonischen Textes zusammengefasst, der auf elf plus eine Tafel verteilt ist: Gilgamesch, der sagenhafte König von Uruk, unterdrückt sein Volk, woraufhin die Götter Enkidu als Gegenspieler erschaffen. Enkidu kommt aus der Steppe in die Stadt; er und Gilgamesch werden unzertrennliche Freunde. Gemeinsam wagen sie die Fahrt in den Zedernwald, wo sie dessen dämonischen Wächter Humbaba erschlagen. Zurück in Uruk erlegen sie den von der beleidigten Göttin Ischtar gesandten Himmelsstier. Doch Enkidu muss sterben. Angesichts der Unausweichlichkeit des Todes bricht Gilgamesch auf, das ewige Leben zu suchen. Er gelangt ans Ende der Welt zu Utnapischti, der ihm von der Sintflut berichtet. Erfüllt mit dem Wissen um den Platz des Menschen im Kosmos kehrt Gilgamesch nach Uruk zurück.20 17 Besonders reflektiert sichtbar wird das z. B. in der berühmten Beschreibung des Schildes des Achill in Ilias 18 (s. Abschnitt C), poetisch realisiert in der Exoduserzählung im Gegenüber von Erzählprosa und poetischer Antwort im Mosepsalm Ex 15,1 – 18 (s. Abschnitt D). 18 Vgl. zuletzt die poetische Paraphrase von R. Schrott, Gilgamesh. Epos, München 2001. 19 Vgl. A. R. George, The Babylonian Gilgamesh Epic. Introduction, Critical Edition and Cuneiform Texts I – II, Oxford 2003; J. H. Tigay, The Evolution of the Gilgamesh Epic [1982], Wauconda, Ill 2002 (Reprint). 20 W. Sallaberger, Das Gilgamesch-Epos. Mythos, Werk und Tradition, München 2008, 9.
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Schon an dieser Kurzzusammenfassung werden sowohl der episodische Charakter des Epos als auch seine Gesamtstruktur sichtbar (Anfang und Ende in Uruk: Gilgamesch ist am Ende weise geworden). Wie bei den meisten großen Literaturwerken des Alten Orients erklärt sich die episodische Abfolge auch aus verschiedenen Überlieferungen, die im 11. Jh. v. Chr. zu einer verbindlichen Gestalt verbunden wurden. Diese wird auf Sîn-leqi-unninni zurückgeführt, der vermutlich zu den Textkundigen gehörte, die erstmals einen babylonischen Literaturkanon schufen: Die Gelehrten des 12. und 11. Jahrhunderts [. . .] markieren einen Einschnitt in der mesopotamischen Geistesgeschichte: Von nun an wurden mit den Werken der Literatur Autorennamen verbunden. [. . .] Die Texte der Tradition waren so schriftliche Werke geworden, von einem Autor in verbindlicher Form niedergelegt, und es galt, diesen Text zu bewahren. Die Vielfalt der unterschiedlichen Versionen der alt- und mittelbabylonischen Zeit gehörte der Vergangenheit an. [. . .] Man hat hier von der,Kanonisierung‘ der babylonischen Literatur gesprochen, ein Begriff, der trotz gewichtiger Bedenken prägnanter als andere diese Zäsur in der Tradition beschreibt.21
Hinsichtlich der ikonographischen Tradition des Alten Orients fällt auf, dass seit dem 3. Jahrtausend, in dem sich besonders die Herrscher der dritten Dynastie von Ur (2110 – 2003 v. Chr.) als Nachfahren des prototypischen Königs Gilgamesch stilisierten, vor allem Szenen aus bestimmten Episoden ins Bild gebracht wurden:22 Tf. I:
Prolog: Gilgamesch in Uruk; Erschaffung und Humanisierung Enkidus durch die Dirne Schamchat in der Steppe
Tf. II:
Ankunft des Wildmenschen in Uruk; erste Planung des Zuges zum Zedernwald
X
Tf. III:
Vorbereitungen für den Zug zum Zedernwald
X
Tf. IV:
Der Zug zum Zedernwald
X
Tf. V:
Tötung des Humbaba, des dämonischen Wächters des Waldes und Fällung der Zeder
X
Tf. VI:
Die Zurückweisung Ischtars durch Gilgamesch und die Tötung des Himmelsstiers
X
Tf. VII: Die Strafe der Götter: Enkidu auf dem Sterbebett Tf. VIII: Totenklage Gilgameschs für seinen Freund und Bestattung Enkidus Tf. IX:
21
Gilgameschs Reise an den Rand der Welt, durch die Horizontberge zum Ringozean
X
A. a. O. 96. Rechts durch ‚X‘ markiert. Vgl. dazu H. U. Steymans, Das Gilgameš-Epos und die Ikonographie, in: Gilgamesch. Ikonographie eines Helden / Gilgamesh. Epic and Iconography (OBO 245), hg. v. Ders, Freiburg, Schweiz / Göttingen 2010, 1 – 53; 9 – 22. 22
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Tf. X:
Gilgamesch bei der Schankwirtin Siduri; Überfahrt nach Tilmun zum Sintfluthelden Utnapischti
Tf. XI:
Die Erzählung von der Sintflut, der Verlust des Lebenskrautes und die Rückkehr nach Uruk (Epilog)
Tf. XII: Addendum: Auszug aus Gilgamesch, Enkidu und die Unterwelt: Die Regeln der Unterwelt
Bilder finden sich vor allem zu dem von Tf. II (Ende) bis Tf. V reichenden Zug auf das Libanongebirge, die Fällung der göttlichen Zeder und die Tötung des von Enlil eingesetzten Wächters des Waldes, Humbaba. Aufgrund dieser Taten erwählt sich die Göttin Ischtar den zurückgekehrten König von Uruk als Gemahl und wird abgewiesen. Daraufhin sendet sie den riesenhaften Himmelsstier, den Gilgamesch und Enkidu töten (Tf. VI). Diese Episoden heben die übermenschliche Größe des Helden, dessen Taten den Bereich der Götter berühren, hervor. Visualisiert wurden daraus vor allem die Kampfszenen mit Humbaba und mit dem Himmelsstier. Ich möchte das Verhältnis von Bild und Erzählung nun am Beispiel des Zuges zum Zedernwald genauer beleuchten und zwar anhand einer Gruppe altbabylonischer Terrakottareliefs (18. / 17. Jh. v. Chr.), von denen sich 17 unterschiedliche Serien nachweisen lassen.23 Solche Reliefs waren in der ersten Hälfte des 2. Jt.s v. Chr. in Südmesopotamien verbreitet. Sie wurden aus Modeln / Matrizen in Ton gepresst und waren oft farbig bemalt. Im Fall der hier zu besprechenden Gruppe hat die Forschung lange rein ikonographische Deutungsansätze versucht. Erst seit einer vollständigen Publikation durch Ursula Seidl (unter Einschluss bisher unpublizierter Stücke aus Fribourg) kann nun die komplexe Komposition klar in Bezug auf das Gilgamesch-Epos gedeutet werden. Ich zitiere zunächst die Beschreibung des Bildmotivs durch Seidl und veranschauliche sie anhand des Exemplars BM 123287 aus dem British Museum (Abb. 124): Das Reliefbild ist streng symmetrisch komponiert und alle Figuren sind in Vorderansicht wiedergegeben. Das Bildfeld ist durch eine horizontale Leiste zweigeteilt. Oberhalb dominiert die Büste eine bärtigen Mannes mit Breitrandkappe, die von aufgepflanzten Waffen flankiert wird. Das untere Feld wird von zwei senkrechten Streifen gerahmt, an denen sich unten je ein bärtiger Mann im Falbelgewand mit wassersprudelndem Gefäß und weiter oben ein Huwawa als Kopffüßler befinden. Zwischen beiden Pfosten verläuft unten ein waagrechter Holm, auf dem eine kleine, wohl bartlose Gestalt in kurzem Schurz zwischen Löwen steht. Über dieser Gruppe liegen meistens einige weitere Waffen.25
23
Vgl. U. Seidl, Gilgameš. Der Zug zum Zedernwald, in: a. a. O. 209 – 222; 211. Vgl. a. a. O. 390, Abb. 6. 25 A. a. O. 211. 24
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Abb. 1: BM 123287 (Quelle: Hartenstein [wie Anm. 31], 296, Tf. 2,2; Beschreibung und Quellenangabe ebd., 335.363).
Vergleicht man weitere Stücke,26 so werden anhand der Proportionen Betonungen in der Bildkomposition deutlich: Ein besonderes Augenmerk liegt offensichtlich auf den Waffen, welche die obere Figur flankieren und die über der unteren Figur quer angeordnet sind. Bei diesen Gerätschaften (gut zu sehen auf Abb. 2) handelt es sich um aus Mesopotamien und Syrien in der Bronzezeit auch 26
Vgl. a. a. O. 391 (Abb. 8); 396 (Abb. 16); 399 (Abb. 19); 402 (Abb. 23 – 24).
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Abb. 2a (oben): Tell Rimach, in situ (Quelle: Steymans [wie Anm. 22], 34, Abb. 5).
Abb. 2b (links): Sammlung in Fribourg (Quelle: Seidl [wie Anm. 23], 399, Abb. 19 rechts).
archäologisch belegte Sichelschwerter und Äxte. Wichtig sind ferner folgende Details: – Die bärtige Figur oben weist mit der Breitrandkappe auf einen menschlichen Herrscher hin. (Fälle, in denen der Träger einer solchen Kopfbedeckung als Gott angesprochen werden kann, gibt es nur wenige, erwogen wird es für vergöttlichte Herrscher; vgl. das Ur III-zeitliche Siegel des Hašhamer.27) – Die Handhaltung der Figuren oben und unten ist identisch (mit geballten Händen) und verweist mit den angewinkelten Armen eventuell auf eine Laufbewegung. – Über der linken Schulter der oberen Figur (Objektperspektive) liegt eine textile Struktur mit Quadraten, vermutlich ein Netz (vgl. Abb. 128). – Zu beachten ist schließlich die Torstilisierung des rahmenden Podestes (vgl. bes. Abb. 2), die an einen Tempeleingang erinnert, weil rechts und links (wie bei Kassitenzeitlichen Tempelfassaden) wasserspendende männliche29 Figuren im göttlichen Falbelgewand stehen und die beiden Querstreifen teils mit den typischen Schuppenmustern für Bergkegel dekoriert sind (Abb. 1). 27
Vgl. W. Orthmann, Der Alte Orient (PKG 14), Frankfurt a. M. u. a. 1975, 240 (Nr. 139a). Besser zu sehen bei den Stücken Seidl, Gilgameš (wie Anm. 23), 391 (Abb. 8); 396 (Abb. 16). 29 Siehe bes. a. a. O. 389 (Abb. 5, Louvre). 28
Ikonizität und Narrativität
127
– Auch die (Übel abwehrenden) Humbaba-Köpfe (monumental belegt für den Eingang eines assyrischen Tempels aus dem 19. / 18. Jh. v. Chr. in Qattara / Tell Rimach (Abb. 2a) und als altbabylonische Terrakotten könnten auf einen architektonischen Kontext verweisen.30
Man hat das Ensemble als Wagendarstellung (Gott im Löwenwagen) oder aufgrund der Humbabaköpfe als Tempel mit (von unten nach oben) abgestuften Räumen gedeutet (verschiedene Götteridentifikationen). Ich selbst habe in meiner Habilitationsschrift im Anschluss an D. Collon an ein Heiligtum gedacht, bei dem oben der Gott, unten in verkleinerter Form seine Kultstatue dargestellt sei.31 Ausgehend von Humbaba entzifferte Seidl die Komposition nun jedoch überzeugend als Darstellung des Zuges zum Zedernwald und zieht dazu die mit den Reliefs gleichzeitige altbabylonische Fassung des Gilgamesch-Epos heran.32 Weil auf den Plaketten der ganze (kopfbetonte) Dämon dargestellt ist, zielt die Bildkomposition nach Seidl nicht auf einen Tempel (dort nur Protome), sondern repräsentiert eine simultane Zusammenfassung der Handlung der Episode:33 Oben steht Gilgamesch im Zentrum (vgl. Abb. 1), darunter – im Sinne des Bedeutungsunterschieds kleiner dargestellt – Enkidu, sein Diener. (In altbabylonischer Zeit war er in den sumerischen Gilgamesch-Erzählungen noch nicht als ebenbürtiger Freund gezeichnet worden.) Dass er von Löwen begleitet wird, könnte auf seine ersten Taten für die Menschen verweisen, als er bei den Hirten des Nachts Wölfe und Löwen vertrieb.34 Die Waffen spielen für die Vorbereitungen des Zuges eine entscheidende Rolle35 und werden ausführlich geschildert, auf der Rückreise wird auch das Netz erwähnt. Die wasserspendenden Figuren könnten auf den vergöttlichten Lugalbanda verweisen, der Gilgamesch im Traum mit Wasser versorgt.36 Die Bergschuppen schließlich zeigen die Gebirge an, die zu überwinden waren. Seidl formuliert als Resümee: „Ein genialer Künstler fing eine ganze Geschichte in einem Bild ein, indem er nicht Episoden darstellte, sondern die Essenz der Erzählung bildlich komprimierte“37. Ich ziehe daraus für die Frage nach der immanenten Temporalität des Bildes versuchsweise folgende Schlüsse: 1. Die Bildanordnung in ihrer strengen Symmetrie und mit der seltenen, oft kultisch funktionalen en face-Darstellung hat einen zeitlosen Charakter, 30
Zu den Terrakotten vgl. a. a. O. 387 (Abb. 1). Vgl. F. Hartenstein, Das Angesicht JHWHs. Studien zu seinem höfischen und kultischen Bedeutungshintergrund in den Psalmen und in Exodus 32 – 34 (FAT 55), Tübingen 2008, 296 (Tf. 2,2); 335; vgl. D. Collon, Ancient Near Eastern Art, London 1995, 101 – 103. 32 Vgl. Seidl, Gilgameš (wie Anm. 23), 222 – 225. Für die Stellenverweise im Folgenden vgl. a. a. O. 223 f. 33 Vgl. Abschnitt A zu Giuliani. 34 Vgl. George, Gilgamesh (wie Anm. 19), 176 f (OB II, 110 – 116). 35 Vgl. a. a. O. 200 f (OB III, 161 – 171). 36 Vgl. a. a. O. 248 – 251 (OB Harmal 9.14 – 15). 37 Seidl, Gilgameš (wie Anm. 23), 224. 31
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der durch die Podest- bzw. Torstilisierung unterstrichen wird: Gilgamesch soll offenbar aufgrund seiner Taten und zusammen mit seinen Waffen als göttlich verehrt werden (belegt seit Mitte des 3. Jt. v. Chr.38; aus derselben Zeit sind auch vergöttlichte Waffen bekannt). Im Bild erscheint er der Erzählung entrückt, die nur aus Details erschlossen werden kann. Das Bild ist nicht narrativ, sondern in einer ganz bestimmten Weise deskriptiv, indem es das Resultat des Zuges zum Zedernwald vermittelt: die Konstellation ewigen Ruhms. 2. Anders als Seidl scheint mir insofern die Assoziation eines Heiligtums für die Bildkomposition doch weiterhin nahezuliegen: Der Zedernwald ist ja schon in der altbabylonischen Fassung des Epos auch die „geheime Wohnung der Annunaki“39, und am Anfang von Tf. V. der ‚kanonischen‘ Fassung lesen wir über die Ankunft der Helden: Sie kamen zum Stehen und staunten über den Wald. Wieder und wieder schauen sie auf die Höhe der Zeder. Wieder und wieder schauen sie auf den Eingang des Waldes. Dort, wo Humbaba hin und her lief, sind Spuren ausgetreten. Die Wege verlaufen ganz gerade, und festgetreten ist der Pfad. Sie besehen den Berg der Zeder, die Wohnstatt der Götter, der Göttinnen Sitz. Beim Anblick des Berges jedoch reckt die Zeder ihren Reichtum empor, ihr süßer Schatten ist voller Wonne. Ganz dicht gewachsen das Dornengestrüpp, (darin) verhüllt der Wald.40
Tempelmetaphern sind hier naheliegend (Berg, Tor, die Zedern selbst und ihr ‚süßer Schatten‘41). Explizit gilt der Wald als „Wohnstatt und Sitz der Götter“ (Z. 6). Auch wenn dieser Abschnitt leider in der altbabylonischen Fassung nicht erhalten ist, scheint er mir für die Bildlichkeit des älteren Reliefs aufschlussreich: Im Gilgamesch-Epos sind solche beschreibenden, nicht-narrativen Elemente selten, aber wichtig für die Leserleitung (vgl. im Prolog die direkte Aufforderung an die Leserschaft, die Stadtmauer von Uruk als unsterbliches Werk des Gilgamesch zu erkunden und zu betrachten: Tf. I,13 – 28). Auch zu Beginn von Tf. V hält die Erzählung inne (s. o.), um die Wirkung des göttlichen Waldes bildhaft zu veranschaulichen – bevor dessen Herrlichkeit durch die Helden gestört und zerstört wird.42 3. Es scheint also, als enthielte das Gilgamesch-Epos (jedenfalls in der späteren Fassung) am Höhepunkt der Zedernwaldepisode eine betont visuelle, das staunende Sehen der Protagonisten herausstellende ikonisch verdichtete Verlangsamung des Erzählflusses. Leserinnen und Leser werden dazu gebracht, mit 38
17 f.
Vgl. S. M. Maul, Das Gilgamesch-Epos. Neu übersetzt und kommentiert, München 22005,
39
George, Gilgamesh (wie Anm. 19), 265 (OB Ishchali rev. 38’); 269 (OB IM,18). Tf. V,1 – 9, zit. n. Maul, Gilgamesch-Epos (s. Anm. 38), 85 (Hervorhebung: FH). 41 Vgl. zu solchen Metaphern z. B. D. O. Edzard, Deep-Rooted Skyscrapers and Bricks: Ancient Mesopotamian Architecture and its Imagery, in: Figurative Language in the Ancient Near East, hg. v. M. Mindlin u. a., London 1987, 13 – 24; vgl. zum ‚Schatten‘ für den Tempel Hartenstein, Angesicht JHWHs (wie Anm. 31), 142 – 176. 42 Aus der gefällten numinosen Riesenzeder in der Waldmitte zimmern sie die Tempeltür des Enlil (Tf. V, 292 – 298), die später den todkranken Enkidu anklagen wird. 40
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den Protagonisten den geheimnisvollen Wald eingehend zu betrachten, bevor sie ihn betreten. Ebenso leitet die Betrachtung der Terrakottaplakette zur Vergegenwärtigung der Erzählung als resultatives Bild an: Sie eröffnet den Zugang zum als Gott verehrten Gilgamesch. – Auch in der Ilias Homers wird bei der Schilderung des Schildes des Achill, der ebenfalls göttlichen Ursprungs ist, vom thauma, von ‚staunender Bewunderung‘ gesprochen, die sein Anblick hervorruft. Dieser berühmten Stelle und ihrer raffinierten Visualisierung in einem römischen Artefakt möchte ich mich nun als nächstes zuwenden.
C. Der Schild des Achill: Ekphrasis auf den römischen Tabulae Iliacae Die kanonische Bedeutung Homers für die griechisch-römische Kultur muss nicht eigens hervorgehoben werden. Die Ilias – entstanden im 8. Jh. v. Chr. – war in vielerlei Hinsicht Gründungs- und Bezugstext späterer Literatur und Kunst.43 Das gilt auch für das Genre der Ekphrasis ‚Beschreibung / Erklärung‘, dem in den vergangenen Jahren in der Kulturwissenschaft wieder hohe Aufmerksamkeit geschenkt wurde. In der Antike zunächst eine rhetorische Figur, wurde dieser literarische Darstellungstypus durch die große Wirkung der Schildbeschreibung im 18. Gesang der Ilias zu einer eigenen Gattung, der poetischen Vergegenwärtigung eines Kunstwerks. Ich möchte die berühmte Schildbeschreibung für unsere Fragestellung deshalb heranziehen, weil es zu ihr eine bildhafte Repräsentation aus der beginnenden römischen Kaiserzeit gibt, deren mediale Bewusstheit und meta-reflexive Verspieltheit ebenso staunen lässt wie der göttliche Schild in Homers Text. Bevor ich das Bildwerk vorstelle, möchte ich jedoch den Bezugstext knapp ins Gedächtnis rufen: Der Schmiede- und Handwerkergott Hephaistos verfertigt auf Bitte der Göttin Thetis, der Mutter Achills, nach dem Tod des Patroklos eine in ihrer Großartigkeit über jedes Maß hinausgehende neue Rüstung für den Helden. Als erstes Prunkstück erschafft er einen Schild, dessen Dekoration „nichts Geringeres als die Welt vor Augen [. . .] führen“44 will. Die Herstellung des Objekts beginnt mit folgenden Worten: Und er machte zu allererst den Schild, den großen und starken, ihn rings kunstvoll arbeitend, und legte darum einen schimmernden Rand. Einen dreifachen, blanken, und daran ein silbernes Tragband. Fünf Schichten hatte der Schild selbst, und auf ihm machte er viele Bildwerke mit kundigem Sinn.45 43
169.
Vgl. J. Latacz, Homer. Der erste Dichter des Abendlands, Düsseldorf / Zürich 31997, 91 –
44 Giuliani, Bild und Mythos (wie Anm. 5), 39; vgl. die Behandlung von Ilias 18 a. a. O., 39 – 46. 45 Ilias 18,478 – 482, zit. n. Homer, Ilias. Neue Übertr. v. W. Schadewaldt, Frankfurt a. M. 1975, 319.
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In der Beschreibung (Ilias 18,483 – 608) wird die Welt auf dem Schild in ihrer Lebendigkeit so intensiv vor Augen gestellt, dass Leserinnen und Leser detaillierte visuelle Eindrücke zu haben meinen, die freilich gekonnt unbestimmt bleiben. Aus dem Kontext hebt sich die Schildbeschreibung auch dadurch heraus, dass sie überwiegend nicht im Erzähltempus des Aorists, sondern im durativen Imperfekt gehalten ist und so die gedehnte Gegenwart der Betrachtung sprachlich realisiert. Die Bildinhalte des Schildes werden in einer bestimmten Abfolge beschrieben, ohne dass daraus präzise Informationen über die Kompositionsprinzipen eines konkreten Objekts gewonnen werden könnten. Die Reihenfolge der Topoi ist folgende:46 1. Erde, Himmel, Meer, Sonne, Mond und Sternbilder (483 – 489). 2. Zwei Städte: a) Eine Stadt im Frieden: Hochzeitsprozessionen und ‑feiern mit Tanz und Musik, eine Gerichtsverhandlung auf der Agora (490 – 508). b) Eine Stadt im Krieg: Eine Belagerung, bewaffnete Einwohner gehen unter Führung von Ares und Athene aus der Stadt heraus, um die Hirten des Feindes zu überfallen, eine Schlacht (509 – 540). 3. Ein Feld, das gepflügt wird: Die Pflügenden bekommen immer, wenn sie das Ende des Feldes erreichen, Honigwein zu trinken (541 – 549). 4. Eine königliche Domäne: Arbeiter ernten Getreide, der König steht schweigend dabei, ein Mahl wird bereitet (550 – 560). 5. Ein Weinberg / Weingarten: Junge Männer und Frauen sammeln Trauben unter Musikbegleitung eines Knaben (561 – 572). 6. Eine Viehherde: Zwei Löwen greifen einen Stier an, Hirten und Hunde verfolgen sie (573 – 586). 7. Eine Schafweide (587 – 589). 8. Ein Tanzplatz mit einem Reigen von Tänzerinnen und Tänzern (590 – 606). 9. Der ringförmige Okeanos, der den Rand des Schilds umfließt (607 – 608).
Deutlich ist zunächst die Einbettung der Einzelszenen in den Kosmos: Sie zeigt sich in der anfänglichen ‚Formung‘ (teucho) der Erde, der Himmelskörper und der Sternbilder (= der Jahreszeiten?) durch Hephaistos (1.) sowie in der abschließenden Anbringung (tithämi) des Okeanos (9.), der die Erde umfließt (der Schild ist schon durch seine Kreisform prädestiniert, ein Bild der Welt zu werden). In diesem Rahmen werden zunächst zwei Städte im Frieden und im Krieg geschildert (2.), im Anschluss ländliche Szenen, die auch einen Saat- und 46
Nach C. S. Byre, Narration, Description, and Theme in the Shield of Achilles, in: Classical Journal 88 (1992), 33 – 42: 33 f; vgl. M. Squire, The Iliad in a Nutshell. Visualizing Epic on the Tabulae Iliacae, Oxford 2011, 312.
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Erntezyklus andeuten (Pflügen [3.] und Ernten [4. – 5.]). Diese Szenen scheinen aufgrund der Anwesenheit des Königs (4.) mit den Städten in Verbindung zu stehen (Bild eines Reiches). In äußere Gefilde führen dann die Weiden für Groß- und Kleinvieh (6. – 7.), die zur Wildnis hin offen die Grenzen der Zivilisation markieren (der Löwenüberfall). Einen Rückbezug sowohl auf die Stadt des Friedens wie auf die Weinernte stellt schließlich der Reigen (choros [8.]) dar, der sich im größeren Kreis des Okeanos dreht (9.). Deutlich spielen zirkuläre Bewegungen eine Rolle in der Gesamtkomposition. Folgende Punkte der Schildbeschreibung gilt es noch für unsere Frage hervorzuheben: – Der Text hat eine synästhetische Qualität, indem er auch Geräusche, Stimmen und Töne (sowie ausdrücklich deren Abwesenheit: das Schweigen des Königs [556]) nennt. Er ist auf die Erzeugung einer bestimmten Seherfahrung (der Bewunderung: thauma) gerichtet. – Dazu gehört auch, dass von der starken Lebendigkeit des Eindrucks zur bewussten Nennung der Materialität des Artefakts übergegangen wird wie etwa bei den Pflügenden; „und sie bogen wieder ein in die Furchen und strebten, zur Mark des tiefen Brachfelds zurückzukommen. Und das schwärzte sich hinter ihnen und sah aus wie gepflügt, und war doch von Gold: überaus zum Erstaunen (peri thauma) war es geschaffen“47. – Der kreisförmige Schild zeigt bei aller Allgemeinheit seines Bildprogramms (vgl. das Fehlen von Eigennamen außer bei den Göttern) nicht reine ‚Zeitlosigkeit‘ an, sondern öffnet auch eine Reihe von narrativen Linien, die nicht zu Ende gebracht werden: Wie wird die Gerichtsversammlung in der Stadt des Friedens entschieden? Wie endet die Belagerung der Stadt des Krieges? Werden die Hirten die Löwen zur Strecke bringen?
Schließlich muss man sich die erzählerische Funktion der Schilderung der ‚Welt auf dem Schild‘ im Rahmen der Ilias vor Augen halten: Im 18. Gesang führt die Ekphrasis aus dem Getümmel der Kämpfe um Ilion heraus. Man nimmt im Mikrokosmos des Schildes ein größeres Bild des Weltgeschehens und seiner Ordnungen wahr; auch der Plot des Epos selbst, die belagerte Stadt, kommt auf ihm vor – allerdings als eine Szenerie, eine mögliche Erzählung unter anderen. Die Bewunderung der Schöpfung (der kleinen des Hephaistos und der großen des göttergewirkten Kosmos) bedeutet ein Innehalten, einen Perspektivwechsel, der ab jetzt nachwirkt, wenn man sich erneut dem Gang des Epos überlässt.48 Damit komme ich zur bildlichen Repräsentation des Schildes, die zu einer in der klassischen Archäologie lange unterbewerteten Denkmälergruppe gehört: den Tabulae Iliacae, den ‚Ilias-Tafeln‘. Es handelt sich um 22 mit Miniaturreliefs 47
Ilias 18, 546b – 549, zit. n. Homer, Ilias (wie Anm. 45), 321. Vgl. Giuliani, Bild und Mythos (wie Anm. 5), 45; zu Beispielen aus Altem Orient und Altem Testament siehe F. Hartenstein, Die Welt als Bild und als Erzählung. Zur Intermedialität altorientalischer und biblischer Weltkonzeptionen, in: Behutsames Lesen. Alttestamentliche Exegese im interdisziplinären Methodendiskurs, FS C. Hardmeier (ABzG 28), hg. v. S. Lubs u. a., Leipzig 2007, 63 – 88. 48
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versehenen Marmortafeln aus der frühen Kaiserzeit (Ende 1. Jh. v. Chr. bis Mitte 1. Jh. n. Chr.). Sie enthalten panoramische vielfigurige Darstellungen wichtiger Szenen der Ilias. Unter ihnen befinden sich auch zwei im Gegensatz zu den anderen Tafeln runde Exemplare49, von denen nur eines einigermaßen erhalten ist. Tafel 4N aus rotweißem Stein (Giallo antico) misst 17,8 cm im Durchmesser und weist eine Dicke von 4,2 cm auf. Insofern war sie noch gut beidhändig zu tragen. Ich beschreibe die in erhabenem Relief gearbeitete Vorderseite im Anschluss an Michael Squire, der das Verständnis der Tafeln in seiner Monographie The Iliad in a Nutshell entscheidend vorangebracht hat.50 Ihm folge ich in allen weiteren Darlegungen dieses Abschnitts. Leider sind die Figuren des Reliefs sehr abgenutzt (Abb. 3):51
Abb. 3: Vorderseite Tf. N4 (Quelle: Squire [wie Anm. 46], 313, Fig. 148). 49
Rom, Musei Capitolini: 4N und 5O. Vgl. Anm. 46; zu den beiden runden Tafeln: M. Squire, Iliad, 311 – 324; 394, vgl. ebd. Farbtafeln VIII – XIII. 51 Teilweise helfen zum besseren Verständnis Gipsabgüsse. 50
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Abb. 4: Skizze des Randes von N4 (Quelle: Squire [wie Anm. 46], 361, Fig. 166).
133
Abb. 5: Details eines Gipsabgusses von N4: Ring-‚Ozean‘ des äußeren Randes, gebildet aus einem Text von Ilias 18 in Miniaturschrift (Quelle: Squire [wie Anm. 46], 363, Fig. 168).
Als erstes fällt ins Auge, dass das Bildfeld in der Mitte durch ein Band mit griechischer Inschrift in zwei Register geteilt wird: ‚Der Schild des Achilles: Theodorisch, nach Homer‘. Im oberen Register liegen links die Stadt des Friedens und (verloren) rechts die Stadt des Krieges einander gegenüber.52 Die erhaltene Stadt ist ummauert. In ihren offenen Kolonnaden sind mehrere Personen um einen Leichnam gruppiert (vermutlich der Gerichtsprozess). Darunter bewegt sich eine Prozession von links nach rechts, wohl die Hochzeit aus Ilias 18. Rechts scheinen noch Reste der Schlacht erhalten zu sein, welche die Belagerten der Stadt des Krieges bei ihrem Ausfall auslösen. Im Register unter dem Schriftband finden sich die ländlichen Szenen,53 die zunächst von rechts unten nach links, dann darüber in einer Rückbewegung nach rechts und wieder etwas höher erneut nach links gelesen werden können. Wird hier – wie Squire ansprechend vermutet – die Bewegung des Pflügens nachgeahmt?54 Auf die rechts unten beginnende Reihe pflügender Ochsengespanne folgen links Ernteszenen, rechts davon der ummauerte Weinberg und neben ihm wohl der Kampf der Hirten mit den Löwen. Links darüber ist schließlich der Reigen der Tanzenden verortet55 – fast in der Mitte des Schildes. Schließlich ist der doppelte Rand der Tafel von besonderem Interesse (Abb. 4): ein innerer Rand, vom Relief nach außen abgestuft, ist mit rechteckigen Feldern 52
Vgl. Squire, Iliad (wie Anm. 46), 315 (Fig. 150). Vgl. a. a. O. 319 (Fig. 153). 54 Vgl. ebd. (Fig. 152). 55 Vgl. a. a. O. 320 (Fig. 154). 53
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versehen,56 die einst vermutlich die zwölf Tierkreiszeichen des Jahreslaufs trugen.57 Entscheidend ist der äußere Rand des Schildes. Auf ihm finden sich zwei im Richtungssinn gegenläufige Repräsentationen: einerseits Sonne (Helios) und Mond (Selene), jeweils im Wagen im Uhrzeigersinn laufend,58 andererseits als Oberfläche des Okeanos der vollständige Text der Schildbeschreibung der Ilias (Abb. 5 – 5a), eingemeißelt in winzigen Buchstaben (1 mm2):
Abb. 5a: Details eines Gipsabgusses von N4 (Quelle: Squire [wie Anm. 46], 363; Fig. 169).
Der Text ‚fließt‘ gegen den Uhrzeigersinn um den Schild und ist mit bloßem Auge kaum lesbar. Es handelt sich um eine Verbildlichung des Textes, die nicht nur die Metapher von Homer als Okeanos (der Wörter) aufnimmt, sondern den Text selbst als graphisches Ikon einsetzt. Überzeugend deutet Squire die mehrfach gespiegelte Text-Bild-Relation:59 So it is that the whole Iliadic text is made to circumscribe the materialized circumscription of the Homeric circumscription of the object. The complexity of this manoeuvre is mind-blowing: this text is a verbal representation of a visual representation of a verbal representation of the visual representation of (and indeed in) the shield.60
Die Tafel ist ein bewusst mit der Intermedialität zwischen Text und Bild spielendes Objekt, gedacht für gebildete Besitzer, die den Anspielungs- und Gedan56
Vgl. auch a. a. O. 313 (Fig. 148; oben Abb. 3). Nach a. a. O. 323 f, wahrscheinlich eine Reminiszenz an die allegorische Interpretation der Ekphrasis Homers durch den Stoiker Krates (2. Jh. v. Chr.; zu ihm vgl. H. Gärtner, Krates 4., in: Der Kleine Pauly 3. Lexikon der Antike, Stuttgart 1969, 328). 58 Vgl. Squire, Iliad (wie Anm. 46), 323 (Fig. 156); vgl. auch Abb. 3. 59 A. a. O. 365 f; dazu Fig. 170. 60 A. a. O. 364 (Hervorhebung i. O.). 57
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kenreichtum zu schätzen wussten. Nicht umsonst tragen sechs der Tafeln die doppelsinnige Herkunftsangabe ‚Theodorisch‘, die sowohl auf den für seine Handwerkskunst bekannten Theodor von Samos verweisen als auch – so einleuchtend Squire – den Charakter des Bildwerks als ‚Gottesgabe‘ betonen könnte.61 Ich versuche wieder einige Folgerungen für die Zeit der Bilder: 1. Anders als bei der babylonischen Terrakotte zum Gilgamesch-Epos zeugt der Schild des Achill aus den Tabulae Illiacae von einer sehr bewussten Wahrnehmung der Intermedialität zwischen dem Text des Epos Homers und den visuellen Möglichkeiten, die sich ergeben, wenn man die Schildbeschreibung in ein materielles Bildobjekt verwandelt. 2. Besonders wichtig erscheint mir die Visualisierung des Ringozeans, der den Schild umgibt und offenbar auch den Fluss der Zeit miteinschließt (dies legt zunächst die Verbindung mit dem Zodiakos nahe). Nach Jean-Pierre Vernant wurden Okeanos und Chronos in griechischen Mythen-Traditionen nahe aneinander gerückt: Like another mythical figure, the river Okeanos, which encircles the entire universe in its untiring course, Chronos is a snake whose body forms a circle, a cycle that, by enfolding the world and binding it together, makes the cosmos a single eternal sphere, despite the appearances of multiplicity and change.62
Indem die Tafel N4 den miniaturisierten Text aus Ilias 18 in der Position des Ringozeans ins Bild bringt, wird die Schildbeschreibung, zum kosmischen Ikon: Sie umfasst das ganze Geschick der Helden des Epos. 3. Die Tafel bringt so – im Konzert mit den anderen eher narrativen Tabulae Illiacae – das Gegenüber zwischen ikonisch verdichteter und im Handlungsfortgang entfalteter narrativer Zeit aus Ilias 18 kongenial zum Ausdruck. – Abschließend soll nun noch auf einen dritten kanonischen Text aus der antiken Welt geblickt werden: die hebräische Bibel und in ihr auf den entscheidenden Gründungsmythos Altisraels, den Exodus aus Ägypten.
61 Dafür spricht auch das magische Quadrat auf der flachen Rückseite der Tafel N4 in Form eines Altars; vgl. a. a. O. 207 (Fig. 105). Zum Spiel der Bedeutungen von ‚Theodorisch‘ vgl. a. a. O. Iliad, 283 – 302. 62 J.‑P. Vernant, Mythic Aspects of Memory, in: Ders., Myth and Thought among the Greeks [1965], New York 2006, 115 – 138; 130; vgl. zum ringförmigen Ozean auf der sog. babylonischen Weltkarte aus Sippar (7. / 6. Jh. v. Chr.) F. Hartenstein, Die babylonische Weltkarte, in: Atlas der Weltbilder, hg. v. C. Markschies u. a. Berlin 2011, 12 – 21.
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D. Das Lied des Mose: Exodus 15 als poetische Visualisierung der Exoduserzählung? Der letzte große Text einer antiken Kultur, den ich abschließend in den Blick nehme, ist die Tora Israels / des Judentums. In ihrem Zentrum steht die Exoduserzählung. Sie bildet das Fundament aller Lebensordnungen und Institutionen, die am Sinai gegeben wurden (vgl. die ausdrückliche Vorstellung JHWHs zu Anfang des Dekalogs: „Ich bin JHWH, dein Gott, der dich aus dem Land Ägypten herausgeführt hat, aus dem Sklavenhaus“ [Ex 20,1]). Nach heutiger Erkenntnis wird die Entstehung der Exoduserzählung im engeren Sinn, der Kapitel Ex 1 – 14, in ihrer Grundschicht zumeist ins 7. Jh. v. Chr. datiert. Die historischkritische Forschung hat darüber hinaus Fortschreibungen und redaktionelle Bearbeitungen bis in die späte Perserzeit herausgearbeitet.63 Für das Folgende orientiere ich mich am Text des masoretischen Kanons, der für die Tora ab dem 4. Jh. v. Chr. feststand. Ich möchte anhand der Exoduserzählung das „Zusammenspiel des Narrativen mit dem Nichtnarrativen in der Bibel“64 vorführen und verstehe dies auch als einen Beitrag zur Frage nach dem Verhältnis von Erzählung und Bild. Dabei beziehe ich den Bildbegriff noch stärker als zuvor nun auch auf Darstellungsmodi von Texten, die poetisch auf bildhafte Imagination zielen.65 Ein Äquivalent zur Ekphrasis des Schildes in der Ilias oder zur innehaltenden Beschreibung des Zedernwalds im Gilgamesch-Epos bildet – so meine Überzeugung – in der Bibel die Überkreuzung von (Geschichts‑)Erzählung und Poesie. So erscheint im Richterbuch das ‚Siegeslied‘ der Debora (Ri 5) als Vertiefung der unmittelbar voranstehenden Prosaerzählung von der Schlacht am Bach Kischon (Ri 4). Der bekannteste Fall einer Prosaschilderung mit nachfolgender poetischer Verdichtung ist aber die Schilfmeerepisode bzw. Meerwundererzählung der Exoduserzählung (Ex 13,17 – 15,21). Helmut Utzschneider und Wolfgang Oswald haben diesen nach der Pessachnacht Ex 12 zweiten Schlusspunkt von Ex 1 – 15 in fünf Episoden gegliedert: Sie [sc. die Meerwundererzählung] steht einerseits bereits außerhalb der Exoduserzählung, weil ihr Schauplatz nicht mehr in Ägypten liegt, sondern allenfalls an seiner östlichen Grenze zur Wüste und zum Meer (Episode 1: 13,17 – 21). Andererseits wiederholt die Meerwundererzählung in ihren drei zentralen Episoden (Episode 2: 14,1 – 14; Episode 3: 14,15 – 25; Episode 4: 14,26 – 31) die wesentlichen Motive der Unterdrückung und 63 Vgl. stellvertretend J. C. Gertz, Tradition und Redaktion in der Exoduserzählung. Untersuchungen zur Endredaktion des Pentateuch (FRLANT 186), Göttingen 2000. 64 P. Ricœur, Zeit und Erzählung III. Die erzählte Zeit [orig. Le temps raconté, Paris 1985] (Übergänge 18 / III), übers. v. A. Knop, München 1991, 434. 65 Vgl. Hermeneutik des Bilderverbots. Exegetische und systematisch-theologische Annäherungen (ThLZ.F 26), hg. v. F. Hartenstein / M. Moxter, Leipzig 2016, 165 – 174 (Hartenstein zur transitorischen Bildlichkeit, wie sie die Sinaierzählung Ex 19 – 24 evoziert).
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des Exodus in intensivierter und gesteigerter Form: die Bedrohung durch die Ägypter und die Not der Israeliten, die zu JHWH schreien (14,15, vgl. 2,23). Die Befreiung steht noch einmal infrage, bis Gott im Meerwunder den Kampf mit dem Pharao und dem ägyptischen Heer endgültig entscheidet und Israel vor ihren Nachstellungen rettet. Die beiden Lieder des Mose und der Mirjam in der abschließenden Episode 5: 15,1 – 21 nehmen dieses Geschehen auf und schließen die Ruhmestaten (tehillot) Gottes an seinem Volk mit einem Lobpreis (tehilla) der Menschen ab.66
Der Bericht vom Meerwunder in Ex 14 enthält die bekannten Motive, die auch in antik-jüdischer und christlicher Ikonographie ihren Niederschlag gefunden haben: den Durchzug der Israeliten durch das Meer, aber auch das Ertrinken der nachfolgenden Ägypter in den zurückfließenden Wassern. Diese illustrativen Bilder vom Durchzug waren von Anfang an eingebunden in Mose-Zyklen.67 Doch die Bildlichkeit im biblischen Text, um die es mir geht, ist von anderer Natur und generiert auch eine andere Form von Zeitwahrnehmung. Die Prosaerzählung von der Vernichtung der Verfolger ohne Zutun der Israeliten endet in Kapitel 14 mit folgenden Sätzen: 29 Die Israeliten aber waren hindurchgegangen auf dem Trockenen mitten durch das Meer, wobei die Wasser für sie eine Mauer waren zu ihrer Rechten und zu ihrer Linken. 30 Und so errettete JHWH Israel an jenem Tag aus der Gewalt [wörtl. Hand] Ägyptens. Und Israel sah Ägypten tot am Meeresufer. 31 So sah Israel die große Gewalt [wörtl. Hand], die JHWH getan hatte an Ägypten. Da fürchtete das Volk JHWH, und sie vertrauten auf JHWH und auf Mose, seinen Diener (Ex 14,29 – 31).
Aufgrund der Syntax (’az + yiqtol in Erststellung und im Sing.) ist das daran unmittelbar anschließende Moselied Ex 15,1 – 18 eventuell simultan zum staunenden Sehen des Volkes zu verstehen,68 in jedem Fall ist es unmittelbar auf die vorangehenden Verse bezogen: „Währenddessen [oder: damals] sangen Mose und die Israeliten dieses Lied für JHWH und sprachen: [. . .]“. Aus der Ehrfurcht (zweimaliges „so sah Israel“) angesichts des Wunders69 fasst das Volk Vertrauen. Dieses findet sogleich Ausdruck in einem Psalm (Moselied V. 1 – 18) und einem 66 Nach H. Utzschneider / W. Oswald, Exodus 1 – 15 (IEKAT), Stuttgart 2013, 32 (Hervorhebung i. O.). 67 So findet sich die früheste Darstellung des Meerwunders in der antiken Synagoge von Dura-Europos (Mitte 3. Jh. v. Chr.) an vierter Stelle einer Episodenfolge: 1. Auffindung Moses (Ex 2), 2. Dornbusch (Ex 3), 3. Auszug aus Ägypten (Ex 12), 4. Durchzug durch das Meer (Meerwunder) (Ex 14), 5. Gesetzesübergabe; vgl. H. Schlosser, Moses (LCI 3), Rom u. a. 1971, 282 – 297; 286. 68 Vgl. I. Rabinowitz, ’ĀZ Followed by Imperfect Verb-Form in Preterite Contexts. A Redactional Device in Biblical Hebrew, Vetus Testamentum 34 (1984), 53 – 62. 69 Zum anhand von Ex 14 und 15 paradigmatisch gewordenen Konzept des Wunders im AT vgl. F. Hartenstein, Wunder im Alten Testament. Zur theologischen Begrifflichkeit für das Außerordentliche in der Hebräischen Bibel (pl’, pälä’ und nifla’ot), in: Ders., Die bleibende Bedeutung des Alten Testaments. Studien zur Relevanz des ersten Kanonteils für Theologie und Kirche (BThSt 165), Göttingen 2016, 269 – 307.
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Kurzpsalm (Mirjamlied V. 21), der unter Tanz von den Frauen vorgetragen wird. Beim Moselied ist umstritten, ob es je unabhängig von seinem Kontext existiert hat, in jedem Fall sprechen gute Gründe für eine Datierung in die Zeit des zweiten Tempels.70 Sein Inhalt gliedert sich folgendermaßen:71 1. V. 1 – 2: Hymnischer Aufgesang: Selbstaufforderung, JHWH als Retter zu besingen. 2. V. 3 – 11(12): JHWH besiegt seine Feinde. a) V. 3 – 6: Der Sieg über Pharaos Heer am Schilfmeer. b) V. 7 – 11 (oder 12): JHWH besiegt stets seine Feinde. 3. V. 12 (oder 13) – 17: Das Gottesvolk unter dem Geleit JHWHs. a) V. 13: JHWH führt das Volk zur „Aue seines Heiligtums“. b) V. 14 – 16: Das Volk auf dem Weg und das Erschrecken der Völker des Westund Ostjordanlandes. c) V. 17: JHWH bringt das Volk an den Ort seines Thronens, das Heiligtum, das er selbst gegründet hat (in verdeckter Rede ist sehr wahrscheinlich Jerusalem gemeint). 4. V. 18: Abgesang: JHWH als König für fernste Zeit.
In der für hebräische Hymnen typischen Rahmung (1. + 4.) finden sich dann zwei unterschiedliche Teile, deren erster (2.: V. 3 – 11) das Meerwunder ikonisch zusammenzieht und als allezeit gültiges Bild der Feindüberwindung durch JHWH präsentiert (ich zitiere V 6 – 11): 6 Deine Rechte, JHWH, Herrlicher in der Kraft, deine Rechte, JHWH, zerschmettert einen Feind, nach der Größe deiner Hoheit reißt du deine Widersacher nieder, 7 sendest deine Zornglut aus, sie wird sie fressen wie Streu.
8 Und durch den Wind deines Schnaubens haben sich aufgetürmt Wasser, haben sich aufgestellt wie ein Strömehaufen, es haben sich zusammengezogen (Ur‑) Fluten in das Innerste des Meeres. 9 Es hat gesagt ein Feind: ‚Ich will verfolgen, will einholen, will Beute verteilen, es soll gefüllt werden an ihnen meine Gier, ich will zücken mein Schwert, es soll sie vertreiben meine Hand!‘ 10 Du hast geblasen mit deinem Wind, bedeckt hat sie das Meer. Sie sind versunken wie Blei in herrlichen Wassern.
11 Wer ist wie du unter den Göttern, JHWH, wer ist wie du, sich verherrlichend in Heiligkeit, furchtbar an Ruhm(‑estaten), wirkend Wunder(taten).
V. 6 f. hat iterative, präsentisch wiederzugebende Imperfekte (yiqtol), und V. 11 endet mit zeitlosen Partizipien (Unvergleichlichkeit JHWHs). Dazwischen findet sich in V. 8 f. die perfektische Schilderung eines Kampfes Gottes mit dem 70 Vgl. R. Bartelmus, „Schriftprophetie“ außerhalb des corpus propheticum – eine unmögliche Möglichkeit? Das Mose-Lied (Ex 15,1 – 21) als deuterojesajanisch geprägtes „eschatologisches Loblied“, in: Schriftprophetie, FS J. Jeremias, hg. v. F. Hartenstein u. a., Neukirchen-Vluyn 2004, 55 – 82. 71 Vgl. Utzschneider / Oswald, Exodus 1 – 15 (wie Anm. 66), 333.
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Feind, die in eine „übernatürlich-kosmische Dimension“72 übertragen ist. Der Bezug auf die Rettungserzählung am Meer ist in dieser Passage nur noch indirekt gegeben. Das Feindzitat ist unspezifisch (reduziert auf die bloße ‚Gier‘ nach Beute): JHWH lässt seine Feinde in den Urfluten versinken. Und letztere erscheinen hier nicht wie in anderen Chaoskampfanspielungen der hebräischen Bibel als Gegner, sondern als dienstbare Mächte (vgl. Jona 1,15 f). Der Passus hebt das Moselied auch auf eine andere zeitliche Ebene als die Meerwundererzählung. Das wird durch den Vorblick auf die Landnahme und die Bestimmung Israels zur Tempelgemeinde JHWHs in V. 17 vollends unterstrichen. In der narrativen Leseabfolge des Exodusbuchs besingt Mose schon hier am Schilfmeer prophetisch das künftige Geschick seines Volkes. Das Lied malt Gott als Gestalt und Gewalt (vor allem sein rechter Arm wird betont, vgl. Jes 51,9 – 11). Es bringt am Ort des Meerwunders Bleibendes zur Sprache. Angesichts dessen ist es sehr bemerkenswert, dass Ex 15 ähnlich wie Ilias 18 auf Tafel N4 der Tabulae Iliacae in der jüdischen Textüberlieferung traditionell auch im Schriftbild eigens gestaltet und hervorgehoben wurde (Abb. 6). Eine rabbinische Tradition, die möglichweise sehr alt ist,73 ordnet an, dass Ex 15,1 – 19 speziell geschrieben werden soll:74 Der Text des Moselieds soll möglichst auf einer Seite stehen und stets 30 Zeilen einnehmen, wobei Anfang und Schluss voll gefüllte Zeilen haben75 (V. 1 und 19 sind Prosaerzählung). Jeder Vers (jede poetische Zeile aus zwei Versgliedern) weist dann abwechselnd fünf oder drei Zwischenräume auf: Text – weißer Raum – Text – weißer Raum – Text // Text – weißer Raum – Text. Die Anfänge und Enden jeder Zeile haben alternierend ein oder mehrere Wörter. Diese ergeben so außen einen Rahmen um den Text und erscheinen innen ‚ornamental‘ bzw. rhythmisiert:
72
Ebd. H. Zimmermann, Tora und Shira. Untersuchungen zur Musikauffassung des rabbinischen Judentums (Publikationen der Schweizerischen Musikforschenden Gesellschaft II / 40), Bern u. a. 2000, 277 (Anm. 623), verweist darauf, dass sie bis in die Handschriftenüberlieferung vom Toten Meer zurückreicht, denn in 4Q 365 6b findet sich bereits eine Schreibweise von Ex 15 mit Zwischenräumen nach zwei bis drei Wörtern, so dass sich hier schon eine analoge Gliederung ergibt. Zur recht umfangreichen Pentateuch-Handschrift 4QRPc (= 4Q 365) vgl. A. Lange, Handbuch der Texte vom Toten Meer 1. Die Handschriften biblischer Bücher von Qumran und den anderen Fundorten, Tübingen 2009, 39 – 42 (Datierung 75 – 50 v. Chr.), 41: „Im Moselied, aus dem Teile von Ex 15,16 – 19 erhalten sind, verwendet 4QRPc ein stichisches Layout, indem die Handschrift zwischen die Versglieder ein kleines vacat setzt“. 74 Jerusalemer Talmud yMeg. III,7 (74b), vgl. B. Jacob, Das Buch Exodus (1935 – 43), hg. im Auftrag des Leo Baeck Instituts von S. Meyer, Stuttgart 1997, 440; S. Krauss, Talmudische Archäologie I, Leipzig 1910, 310 – 312, Anm. 305. 75 Vgl. Jacob, Exodus, 440 (wie Anm. 74); ausführlicher Zimmermann, Tora, 273 – 277 (wie Anm. 73); vgl. auch J. L. Kugel, The Idea of Biblical Poetry. Parallelism and Its History, New Haven / London 1981, 119 – 127. 73
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Abb. 6a: Stichographie von Est 9,7 – 9 (Quelle: Zimmermann [wie Anm. 73], 274, Abb. 7).
Abb. 6: Stichometrie von Ex 15 (Quelle: Zimmermann [wie Anm. 73], 275, Abb. 8).
Eine eindeutige Erklärung für den Sinn des Layouts gibt es nicht. Benno Jacob schlägt eine Lösung mit Blick auf die Schreibpraxis vor, indem er – für die Textanordnung von Ex 15, Ri 5 und 2 Sam 2276 – anmerkt, man müsse so vorgehen, wenn man die Einleitungen der wörtlichen Rede einbeziehe.77 Er vermerkt zu Recht, dass hierdurch für Lesende ein visueller Effekt „sinnreicher graphischer Symmetrie und Zierlichkeit“78 entsteht. Heidy Zimmermann geht darüber hinaus, wenn sie diese „materielle Seite“ der „Sonderstellung des Meeresliedes als Lied innerhalb der Tora“79 genauer erörtert. Ihr Ausgangspunkt ist die rabbinische Hochschätzung des Moselieds als des paradigmatischen Liedes 76 Nur für 2 Sam 22 (= Ps 18, s. Sof XIII,10) und für das Deboralied in Ri 5 besteht noch dieselbe Vorschrift einer verschränkten stichischen Schreibung wie für Ex 15 (s. die oben zitierte Stelle yMeg. III,7). Das Siegeslied Ri 5 ist dabei genau wie Ex 15 eine hymnische ‚Antwort‘ auf eine vorausgehende Prosaerzählung (Ri 4: Sieg über Sisera und die kanaanäischen Könige). 77 Vgl. Jacob, Exodus (wie Anm. 74), 440. 78 Ebd. 79 Zimmermann, Tora (wie Anm. 73), 273.
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Israels schlechthin (schira), dem besondere Offenbarungsqualitäten zugeschrieben werden. Die Textbildlichkeit von Ex 15 ist insofern ein weiteres Glied einer umfangreicheren Argumentation. Für die Frage, ob dem Layout ein über das Ästhetische hinausgehender Sinn zukommt, verweist Zimmermann auf die einschlägige Vorschrift aus dem Jerusalemer Talmud: Rabbi Ze’ora [und] R. Yirmeya [sagten] im Namen des Rav: Das Meerlied (šīrat ha-yam) und das Lied der Debora (Jud 5) werden derart geschrieben, [dass] ein ‚Halbziegel‘ auf einen ‚Ziegel‘ und ein ‚Ziegel‘ auf einen ‚Halbziegel‘ [trifft]. – [Der Abschnitt von] den zehn Söhnen des Haman (Est 9,7 – 9) wird ‚Halbziegel‘ über ‚Halbziegel‘ und ‚Ziegel‘ über ‚Ziegel‘ geschrieben, denn jedes Gebäude, das auf diese Weise errichtet wird, hat keinen Bestand.80
Hier ist deutlich die Metaphorik eines Mauerwerks verwendet, die vor allem durch den Kontrast zwischen einer festgefügten (Ex 15, Ri 5) und einer schlecht gebauten, bald in sich zusammenfallenden Mauer (Est 9,7 – 9, vgl. Abb. 6a) bestimmt wird: Dagegen [sc. im Blick auf die Schreibweise von Est 9,7 – 9] gleicht die verschränkte Schreibweise des Meeresliedes – wenn man die Mauermetapher weiterdenken will – einer gut verstrebten Wand, deren Bestand gesichert ist. Ihr Sinn und Zweck wird allerdings an keiner Stelle weiter begründet und man muss annehmen, dass sie zum einen dazu dient, bestimmte Abschnitte aus dem Gesamttext herauszuheben, zum andern mit dem Muster der Darstellung auf die Struktur des Textes reagiert.81
Im Esterbuch handelt es sich bei der als ‚hohles Bauwerk‘ textbildlich visualisierten Liste der Nachkommen Hamans um die dem Untergang anheimfallenden Feinde des jüdischen Volkes,82 von deren Vernichtung als der Heilswende zugunsten Israels in persischer Zeit Est 9 erzählt.83 Vor dem Hintergrund dieses Kontrastes stehen sich in den beiden Text-Layouts von Ex 15 (Abb. 6) und Est 9 (Abb. 6a) die Rettungstat JHWHs am Schilfmeer vor den verfolgenden Ägyptern als das paradigmatische Heilsereignis der Frühzeit und die sich in der Geschichte erneut realisierende Rettung vor der Todesbedrohung des Volkes durch die Intrigen Hamans gegenüber. In der Leseabfolge der Schrift wird damit eine spezifische Ikonizität von Ex 15 (und vergleichbarer Texte) sinnfällig gemacht: Das Mose- bzw. Meerlied ragt aus dem Fluss der Handlung heraus wie 80
yMeg III,7 (74b) (vgl. auch Sof XII,10; XIII,1), zit. n. a. a. O. 273 f, mit Fußnote 615. A. a. O. 275. 82 B. Ego, Ester (BK XXI), Göttingen 2017, 373, verweist über Est 9,7 – 9 hinaus auch noch auf die teils analog (in Kolumnen) geschriebenen Stellen Jos 12,9 – 24; 1 Sam 30,27 – 31, „wo ebenfalls Feinde Israels aufgezählt werden. Bei der Verlesung der [Ester-]Rolle am Purimfest wird verlangt, dass man die Namen der Hamanssöhne in einem Atemzug nennt [vermutlich, um deren Flüchtigkeit anzuzeigen]“ (Sof XIII,3). 83 Zur Bedeutung (die durch JHWH garantierte Gerechtigkeit und seine Gemeinschaftstreue mit Israel siegt am Ende), aber auch zum hermeneutischen Konfliktpotential des Kapitels in der Rezeptionsgeschichte vgl. a. a. O. 395 – 397. 81
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ein Denkmal für Israels Existenz, die sich immer wieder neu der Tat JHWHs verdankt. Vielleicht stammt das Bild der Mauer in diesem Fall auch schon aus dem Text des Liedes selbst: Als eine begründete Spekulation kann man schliesslich [sic!] den Gedanken erwägen, ob ein Zusammenhang besteht zwischen der Mauermetapher [. . .] und dem Umstand, dass die Spaltung des Meeres in der biblischen Erzählung mit der gleichen Metapher beschrieben wird:,Dann gingen die Kinder Israels auf trockenem Land mitten in das Meer hinein, und die Wasser waren ihnen wie eine Mauer zur Rechten und zur Linken.84
Auch hier möchte ich am Ende einige Gesichtspunkte im Blick auf die Ausgangsfragen dieses Beitrags (vgl. Abschnitt A) hervorheben: 1. Der biblische Text des Moseliedes hat bereits auf der Ebene der ersten Textkomposition von Ex 1 – 14 (+ 15) eine Sonderstellung, indem hier im Rückblick auf das Wunder der Rettungstat in poetischer Form und als Gottesanrede eine Fermate gesetzt wird, die ähnlich wie die Schildbeschreibung in Ilias 18 die narrative Folge unterbricht und für Lesende eine erhöhte Position im Blick auf den Kontext erzeugt. Sie eröffnet umgreifende zeitliche Perspektiven: Nicht nur wird die Rettungstat am Schilfmeer auf ihren bleibenden Gehalt gedeutet (V. 6 – 11: JHWH handelt stets genau auf diese Weise), sondern von diesem Punkt aus wird Israels Zukunft (Landgabe und Tempelgemeinde in Jerusalem) vor Augen gestellt. 2. Beides erreicht Ex 15,1 – 18 durch die poetisch evozierte Imagination der handelnden Königsgestalt JHWHs, die wie in vielen Psalmen zugleich konkret und unanschaulich bleibt (in der Rettungserzählung Ex 14 war JHWHs Tat für Israel nur indirekt bzw. verborgen wahrnehmbar). Die rabbinische Tradition hat die Besonderheit des Moseliedes in der Tora stark betont. Vermutlich hängt mit ihr auch die alte Vorschrift des besonderen Textlayouts für Ex 15 zusammen, das eine eigene Textbildlichkeit erschafft. Die dafür namhaft gemachte Bau-Metaphorik (feste Mauer) verweist nicht nur auf die Erzählung und das Lied zurück (Ex 14,22; 15,8), sondern unterstreicht deren Inhalt als ‚Denkmal‘ für die Errettung Israels, das aus dem Fluss der Zeit herausragt und Wunderhaftes / Staunenswertes präsent hält. 3. Gerade die Unterbrechung der narrativen Bewegung in der Zeit durch ein Innehalten und Betrachten, das zuletzt der Bewunderung von ‚Erhabenem‘ gilt (Zedernwald, Schild des Achill, Schilfmeerereignis), scheint mir die entscheidende Gemeinsamkeit der ausgewählten Beispiele zu antiken kulturellen Grundtexten zu sein. In ihnen zeigt sich eine Verschränkung von Deskriptivem (Ikonizität) und Narrativem, die auf den Horizontcharakter der Zeit (wie bei Chronos und Okeanos;85 vgl. Abschnitt C) verweist: 84
FH).
Zimmermann, Tora (wie Anm. 73), 277, mit Hinweis auf Ex 14,22; 15,8 (Hervorhebung:
85 Vgl. Ricœur, Zeit und Erzählung III (wie Anm. 64), 418 – 422 zum fundamentalen „in der Zeit sein“, die für die Erfahrung „alle Dinge umfaßt“ (a. a. O. 434).
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Dieses Zusammenspiel des Narrativen mit dem Nichtnarrativen in der Bibel lädt dazu ein zu untersuchen, ob die Erzählung nicht auch in anderen Literaturgattungen ihre Sinneffekte mit denen anderer Gattungen verbindet, um das sagbar zu machen, was sich an der Zeit am stärksten der Repräsentation verweigert.86
Die Verwandtschaft der Modi des Poetischen (im weiten Sinn gebraucht) mit dem Ikonischen als Gegenüber der Erzählung fügt sich „in die lange Tradition einer grenzüberschreitenden Weisheit ein, die jenseits alles Episodischen ans Fundamentale rührt“87. Die Zeit der Bilder wäre so zuletzt die Zeit der Welt selbst, die unauslotbar bleibt.
86
A. a. O. 434 (Hervorhebung: FH). A. a. O.. 435, mit Hinweis auf die lyrische Dichtung und den Gesang.
87
Telling Images On the Value of a ‘Strong Image’ for Theological Ethics Petruschka Schaafsma Our times are characterised by a superabundance of images. In newspapers the image now ranks as high as, if not higher than, the text itself. Given this boom of images, posing the question ‘What is an image?’ is not superfluous, in spite of the apparent simple and obvious character of the question. This question lies at the origin of the ‘iconic turn’ of the 1990s that has by now become general currency in studies on the image. Gottfried Boehm’s 1995 article on ‘The Return of the Images’1 played a foundational role in the establishment of this revival of attention for the image. But Boehm’s investigation into the characteristics of the image was also a critical one from the outset. Its central question implies a ‘highly controversial’ and difficult line of thinking,2 i. e., that images have a specific logic of their own through which they create a meaning of their own. The question is: How does this creation of meaning operate? Boehm’s aim is to distinguish the ‘true’ image from among the avalanche of images falling around us. Because of the fundamental character of his critical approach, Boehm’s thesis calls for further elaboration in various disciplines. It also challenged me as a theologian and ethicist, primarily because I wondered if something like an ‘iconic turn’ had taken place in theology and ethics as well. On the one hand, this did not seem obvious, and thus the thesis seems challenging. On the other hand, Boehm relates the new attention for the image to that for the metaphor, and this category did find wide acceptance in theology, although not prominently in theological ethics. Apart from this general challenge, Boehm’s thesis made sense to me in particular with respect to my current subject of theological research: that of the family. I wondered what a study of image in this setting could entail. I will discuss this question in this article. To be able to explain why this question urged itself on me, I will first indicate what part of Boehm’s view aroused my 1 G. Boehm, Die Wiederkehr der Bilder, in: Was ist ein Bild?, hg. v. Ders. München 1994, 11 – 38. 2 Cf. G. Boehm, Jenseits der Sprache? Anmerkungen zur Logik der Bilder, in: Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder, hg. v. C. Maar / H. Burda, Köln 2004, 28 – 43, 29.
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attention. Subsequently, I will clarify why it seems promising to discuss Boehm’s thesis in the context of current ethical reflection on the family. Then I will make a start with this discussion by relating Boehm’s thesis to the interpretation of concrete paintings, namely two of Rembrandt’s paintings of the Holy Family. Finally, I will indicate what this interpretation may yield for our general systematic questions regarding the approach of the family in theological ethics.
A. Reassessing the Image Boehm uses the phrase ‘iconic turn’ to indicate, first of all, the return of images at different levels both inside and outside academia since the 19th century.3 He sees this as a reaction to the questioning and downplaying of their knowledge claims or pretensions in philosophy and as a consequence of the ‘linguistic turn’ in philosophy in particular. This turn caused an interest in the central role of language in the formation of knowledge and resulted in an awareness of both the variety within and the limits of language. The attention for the indebtedness of philosophical thinking to metaphorical language especially revealed the image potential within language. Thus, it prepared the way for a reassessment of seeing, the image, and the iconic in philosophy, according to Boehm. It is this landscape of the revaluated image that Boehm wants to scrutinise critically, for it is not just any attention for the image itself that will make the iconic turn a substantial paradigm shift in philosophy that strengthens the image. Boehm is critical of two widespread ways of looking at images. First of all, there is the idea of the image as a copy (Abbild) of reality. As a copy, the image is nothing more than a secondary, empty depiction of reality, an illustration of speech.4 This is the way the image is present in the modern ‘reproduction industry’,5 which is but one example of what is to be regarded as the ‘historically most influential and widespread image practice’.6 Second, the reproductive approach is intensified in the postmodern view in which the difference between image and reality disappears.7 Here the image is a simulation of reality, in service to an ‘illusionism’.8 Boehm acutely points out that these views – and corresponding applications of image – are, in the end, iconoclastic.9 The ‘simulation’ approach overstrains the image, while the idea of ‘copy’ enfeebles it. It is this analysis of the iconoclastic results of many approaches to the image that is presupposed in 3
Cf. Boehm, Bilder (see note 1), 13 ff.; Sprache (see note 2), 36 ff. Cf. ibid. 16, 33. 5 Ibid. 35. 6 Boehm, Sprache (see note 2), 35. 7 Cf. Boehm, Bilder (see note 1), 35. 8 Ibid. 12. 9 Cf. ibid. 12, 16. 4
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Boehm’s question ‘What is an image?’. He asks how the specific possibilities of the image, its power to create meaning, can be accounted for between the Scylla and Charybdis of copy and simulation. Answering this question means more than just approaching the image in a specific way; it also means looking for a certain type of image, i. e., a non-iconoclast image. Images themselves include the options of either an image-friendly strengthening of the power of the image, or an image-hostile neglect or erosion of it.10 Boehm is thus on the lookout for criteria for the image-friendly or strong image. For this purpose, he parallels the image ‘in its true sense’ to the metaphor that is part of language because they overlap in many ways.11 Like the metaphor, the image is ambiguous, open to different interpretations at the same time, which cannot be summarized or paraphrased in a single expression. Nor, like the metaphor, can the image be dissected into its different elements without losing its power. The ambiguous and complex character prevents a definitive conclusion or interpretation and thus makes the image intrinsically open. And it is precisely through this openness that the image draws the listener, reader, or viewer in: it invites us to interpret and acquire its meaning. This meaning can be communicated only through the image or metaphor or itself. This power by which metaphor and image create their own specific meaning is summarized by Boehm as the power to ‘contrast’ or the ‘iconic difference’.12 In the case of the metaphor, this contrast is the fertile, creative way in which the different words that are put together become related and create a surveyable whole, a linguistic image that is the result of the ‘specific order of the words, breaks, inversions, or leaps’. In the metaphor, a contrast remains between the meanings of the different elements or words and the meaning of the whole: at the same time there is a new connection between the specific elements and a heterogeneity. In a similar way, the image in the visual arts is characterised by contrast: contrast is the image’s precondition. In the most general or fundamental sense, the contrast in the image is that between a surveyable surface as a unity, and the different elements within this unity. Furthermore, the contrast is one of time: the simultaneous perceptibility as a surface contrasts with the successiveness on the surface.13 It is in this contrast, or iconic difference, that Boehm finds the key to answering the question: ‘What is an image?’ The singularity of the image, its way of creating a meaning of its own, lies in this contrast. Boehm also formulates it in terms of the interplay between what is depicted and its horizon or context, the determinate and the indeterminate as present in the visual arts. By means 10
Cf. ibid. 34 f. Cf. ibid. 27 ff. 12 Ibid. 29 ff. 13 Ibid. 30. 11
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of the contrast, the material, a ‘surface smeared with paint’,14 becomes an image and creates a surplus of meaning.15 This way of understanding the image leads to the core of what an image is and thus to a criterion for the ‘strong image’. The strong image opens the eyes to something,16 to a new meaning that exists only in the image. It is important to point out that this happens in the act of seeing. In this act, the different aspects and the whole come together without losing their difference; the image becomes completely image.17 In line with this view, Boehm characterises the strong image as one in which its image character is always visible: the boundaries of the imagery are not obscured, contrary to what happens in the case of copies and simulations.18 A strong image is able ‘to build up the iconic tension in a controlled way and to make it visible to the viewer. [. . .] [It] lives out of precisely this double truth: to show something, also to feign something and at the same time to demonstrate the criteria and premises of this experience’.19 Perhaps this character of the true image can be summarised as ‘honest’. The strong image shows its image character honestly and does not pretend to be an exact duplication of the phenomenal world (copy) or completely equal to it with no difference between fact and fiction (simulation). The true image does not invite the viewer to submerge him- or herself in the painting, and forget about its image character. Rather, it incites the viewer to interpret the image, to become the location of the creation of new meaning by looking at it and being aware of one’s viewing of the painting. The potential of this strong image that honestly shows its image character by not hiding its boundaries and keeping the contrast alive will be further analysed below with respect to theological ethics. The reason for relating Boehm’s thesis regarding the strong image to theological ethics is that it may help this discipline reassess the relation between the holy and the common, or the divine word and lived experience. This may sound like a rather abstract meta-statement, but I will explain the need for such a reassessment below by starting from the concrete topic already mentioned – that of the family. To understand why I highlight this debate on the family as demonstrating the need for this reassessment, it is necessary first to make a few preliminary remarks on the status of the image in theology and a classical opposition related to this status in theological ethics. 14
Ibid. 31. Cf. Boehm, Sprache (see note 2), 41. 16 Cf. ibid. 32. 17 Cf. ibid. 41. 18 Cf. Boehm, Bilder (see note 1), 35. 19 “Von diesen neuen Techniken [Photographie, Film, Videokunst] einen bildstärkenden Gebrauch zu machen, setze freilich voraus, die ikonische Spannung kontrolliert aufzubauen und dem Betrachter sichtbar werden zu lassen. Ein starkes Bild lebt aus eben dieser doppelten Wahrheit: etwas zu zeigen, auch etwas vorzutäuschen und zugleich die Kriterien und Prämissen dieser Erfahrung zu demonstrieren” (Ibid. 35.). 15
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B. The Centrality of the Word and its Consequences in Ethics The concept of the image has, without question, been met with hesitation in the field of Christian theology. Boehm points to the presence of this hesitation more broadly, beyond theology, and speaks of a ‘marginalization’ of the paradigm of the image in academic reflection in general, an overshadowing of the iconic by language.20 But the three characteristic cultural paradigms that, according to Boehm, display this overshadowing clearly have religious roots.21 The first iconoclastic paradigm is that initiated by the Old Testament prohibition against making images ‘in the form of anything in heaven above or on the earth beneath or in the waters below’ and worshipping them (Ex. 20:4 – 5). Second, while a respect for the power of the image clearly underlies this prohibition, a Platonic view marginalizes the image more emphatically due to its sensual and deceitful character. Here, the image is regarded as always dependent on the word to reveal its meaning. This might seem to change in the third New Testament paradigm derived from the incarnation. In the incarnation the image is to a large extent acknowledged and justified: Christ is seen as the image of the invisible God. Nevertheless, the logos comes first and last also in relation to the image of Christ. As a result, language, word and text remain primary, according to Boehm, even given the fact that a massive revival of the image took place in the 19th century. The connection between theology and a focus on the word to the detriment of the image is easily found, of course, especially in relation to Protestant theology. It is in the word, which also became flesh, that the distant God reveals himself to his creatures. Scripture is the primary source of human knowledge of God and salvation. This focus on the word in the Protestant tradition also entails a mistrust of the natural and the rational as sources of knowledge. It is revelation, and thus Scripture that is the source of truth. This mistrust of natural sources of knowledge becomes manifest pre-eminently in ethical reflection in Protestant theology. The early Reformation did not exactly lead to a flourishing of ethical reflection. Over against an extensive church practice of auricular confession and penance, the Reformers emphasised that God’s grace alone could make one holy. The good works a Christian should perform should, in the Reformational view, be seen as the answer to this divine grace, and not as a systematic practice by means of which salvation could be ‘gained’. As a result, the quest for the good life as a systematic project becomes suspect. This development also implies a turning away from ‘natural light’ or human reason as a source of knowledge of what the good life consists in. Due 20
Cf. Boehm, Sprache (see note 2), 33. Boehm is concerned with the culture of the Western world but does not elaborate on the reason or consequences of this focus. 21 Cf. ibid. 33 – 35.
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to human sinfulness, knowledge about the true and the good should come primarily from God as revealed in Scripture and not so much from our natural or rational human ideas about what is good. The Roman Catholic tradition, on the other hand, developed a rich practice of ‘natural law ethics’, especially in the papal encyclicals on all kinds of ethical topics in the 19th and 20th centuries. Here reason is said to be the basis of ethical reflection. As a result, precisely in Protestant ethics the centrality of the word and revelation is confirmed and strengthened by playing the word off against nature and reason.
C. The ‘Holy’ Family in Ethics As was stated above, the current ethical debate on the status of the family is a good example of a theological debate that gives rise to a critical reassessment of this classical opposition of nature and revelation. The family is the object of reflection in current ethics in general due to the great changes in family life of the past decades. The decrease in marriage, the increase in cohabitation, the decline in the stability of partner relations leading to an increase in divorce and a great variety in compositions of families, later family formation, and having children as an option are part and parcel of our Western family life but were inconceivable in the 1950s. As a result, the question how all these changes should be evaluated keeps turning up: as a fragmentation of the family or as a change that does not undo the family’s specific powers and functions. These changes are the subject of extensive studies in the quantitative social sciences, the results of which are often eagerly absorbed as ‘the facts’ in ethics.22 It is remarkable that in theological ethics this evaluation of the recent changes often works out in favour of the former, concerned view of the family. Moreover, the family is viewed here largely as a self-evident Christian good that should be supported and defended.23 This approach is present among Protestants and Roman Catholics and in both conservative and progressive circles.24 It is remarkable that 22 For a both critical and appreciative analysis of the role of empirical research in current family ethics see A. Dillen, Empirical Research and Family Ethics, Ethical Perspectives, 17 / 2 (2010), 283 – 307. 23 This self-evident nature of the good of the family can even be observed outside theology: e. g., in research in family sociology. Here recent research often oozes a sense of relief because, contrary to what most people think, family life has not been found to be in decline (P. Schaafsma, What is at stake in the Family? Ethical Reflections on Recent Sociological Research into the Family, in: Family: Kinship that Matters / Familie: Verwandtschaft, die den Unterschied macht, Beihefte zur Ökumenischen Rundschau Nr. 92 [2012], 22 – 37.). 24 A good example of the perhaps surprising support for the family in progressive reasonings is the Orientierungshilfe on family by the Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), Zwischen Autonomie und Angewiesenheit. Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken, München 2013 (available at: http://www.ekd.de / EKD-Texte / orientierungshilfe-familie / ); Evangelische Kirche in
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in these approaches there is no open reflection on why the family is primarily viewed at all as a good that should be supported from a Christian point of view. What may be called the ‘holy’ status of the family seems to be largely something that is presupposed. This lack of awareness hinders any thorough reflection on the meaning of the family. Discussing this meaning should, in my view, precede what is now often the only item of the discussion: how to safeguard the family. If it is not clear what it is that should be protected, it is hard to discuss solutions. It is against the background of this state of affairs in the current theological approach to the family that I would like to turn to the image. My hypothesis is that dealing with images of the family may nourish the discussion on the meaning of the family that is lacking. If it is true, as Boehm argues, that the image reveals a meaning of its own, it seems worthwhile to look for it in family images. Moreover, the idea that images may have the power to introduce a specific meaning precisely regarding the family presents itself because the image may be able to relate to the natural as well as the divine. This suggestion is, of course, derived from the most obvious signs of a holy status accorded to the family: the paintings of the Holy Family. They have the Holy Family as their subject, but they nevertheless largely show a perhaps idealised but recognisable, ‘natural’ family. Moreover, the paintings of the Holy Family are a very good example for discussing the theological hesitation regarding the image in line with its distrust of the natural. They may at first glance seem to be a typical example of the uncritical trust in nature as revealing the source of the good and of a disloyalty to Scripture. Therefore, the Holy Family in art seems an obvious example to test what Boehm’s category of the strong image may convey. I will explain this appropriateness further below.
D. The Holy Family in Religious Art The iconography of the Holy Family shows Mary, Joseph and the baby Jesus in an intimate, and often tender family portrait. This representation may at first glance seem to be a true or even original object of Christian devotion, but it is, in fact, a late theme in Western Christian Iconography. Building on the mediaeval scenes of the Nativity, Adoration of the Magi, and the Flight into Egypt it became an independent scene that flourished from the Renaissance onwards.25 Deutschland, Zwischen Autonomie und Angewiesenheit – die Orientierungshilfe der EKD in der Kontroverse, Hannover 2013 (http://www.ekd.de / EKD-Texte / orientierungshilfe-familie / 90112. html). This document does not adopt a principally concerned tone regarding the current state of the family but it does regard it as self-evident that the family is something good that should be supported by the church. 25 Cf. L. Réau, Iconographie de l’Art Chrétien II / 2, Paris 1957, 149; H. Sachs, Art. Familie, Heilige in: Lexikon der christlichen Ikonographie Bd. 2 (LCI), hg. v. E. Kirschbaum / W. Braunfels,
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Popular forms of paintings of the Holy Family are abundant in the 19th century.26 The inferiority of the image and cult of the Holy Family over against the ‘word’ seems obvious: the three do not figure as a nuclear family at the heart of the Gospel stories.27 Moreover, the New Testament mentions Jesus’ brothers and sisters. But precisely in relation to them, and also in relation to his mother Mary, Jesus is said to display an attitude that is rather hostile to the family. His followers are the ones he calls his brothers and sisters, thus placing them above his natural family.28 Hatred of, or breaking with one’s family is even called the condition for following Jesus.29 It is not difficult to see a counter-familial tendency in Christianity in the desert ascetics of early Christianity, the institution of the celibacy of the clergy, or the flourishing of monasticism. How then, did this representation of the Holy Family become so popular? In his book Die Heilige Familie und ihre Folgen,30 Albrecht Koschorke argues that this popularity even means the image has a ‘decisive share in the [. . .] presence of an ideal of family intimacy in everyday life’ in the Western world to the present day.31 He also wonders how this great influence should be understood, given the tendency toward hostility to the family in the Gospels and the apparently anomalous character of the Holy Family as a family with such other-worldly kinship ties.32 Koschorke finds an answer in the creativity prompted Freiburg 1990, 4 – 7; A. Adolf, Art. Heilige Familie, I Verehrung, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 4 [= LThK], hg. v. M. Buchberger / W. Kasper, Freiburg 1995, 1276 f.; G. Nitz, Art. Heilige Familie, II Ikonographie, in: LThK 4, 1277; K. Richter, Art. Familie, heilige, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart Bd. 3 (RGG), Tübingen 42000, 26; H. Erlemann, Die Heilige Familie. Ein Tugendvorbild der Gegenreformation im Wandel der Zeit. Kult und Ideologie, Schriftenreihe zur religiösen Kultur Nr. 1, Münster 1993. (especially chapter 5 en 6). The Counter Reformation in particular played an important role in the rise in popularity of the theme of the Holy Family. 26 The modern period, especially the 19th century, is known for its strongly idealized genre paintings of the Holy Family. Small works of this kind become very popular. Also because of their largely instrumental function in promoting a certain family ideology, they are not highly esteemed as works of art. The Holy Family was promoted as an example in a time in which family life was thought to be threatened. This is also visible in the numerous societies that came into existence with the Holy Family as their patron, and in the founding of the Roman Catholic Feast of the Holy Family (1893 and 1921) (Adolf, Familie (see note 25), 1277; Richter, Familie (see note 25), 25; Erlemann, Familie (see note 25), e. g. 15, 19, 167 ff.). 27 In the Gospels the three, of course, figure as a family in the nativity and early childhood scenes, but these stories are marginal in comparison to the Gospels as a whole. From the start, they are a rather awkward family, with Mary pregnant not by Joseph but through the Holy Ghost, and Jesus the son of God the Father and not a son of Joseph. 28 Mark 3:34 – 35, Matt. 12:48 – 50, Luke 8:21. 29 Luke 14:26, cf. also Mark 10:29 – 30. 30 A. Koschorke, Die Heilige Familie und ihre Folgen, Frankfurt am Main 2000. 31 Cf. ibid. 20. 32 Cf. ibid. 40. As regards the extraordinary character of the Holy Family, Koschorke focuses especially on the competition between the three fatherly instances of both human (Joseph) and divine (God and Holy Ghost) character. As a result of this competition, Koschorke argues, the position of the father has never been taken up in a univocal way in Christianity – which seems
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by the central religious symbol of the incarnation33 and also in the tendencies toward a humanisation of God (‘Vermenschlichung Gottes’), and making Mary’s motherhood something this-worldly (‘Verdiesseitigung’).34 The latter takes place in the mediaeval turn to the figure of Mary as such and to a more emotional piety centred around the dramatic perception of Jesus’ passion and death.35 In this context, new interpretations arise, such as the Mater dolorosa, the Stabat Mater, and the Pieta.36 According to Koschorke, these are not genuinely Christian motives but pagan ones. They are proof of an overcoming of the atmosphere of hostility toward the family of the Gospel. It does not seem far-fetched to draw a parallel between Koschorke’s analysis and the – primarily Protestant – theological scepticism regarding the natural: his analysis of the rise in the popularity of the Holy Family as being a sign of the humanisation of the Christian religion and making it this-worldly is in line with the critique of taking the natural as one’s starting point in theologising.37 Thus, one may even suggest that, in the subject of the Holy Family as depicted in the visual arts, the image character has close ties with the natural. For what the image depicts seems to derive more from the natural family than from the rather unusual family of the Gospels. And, historically, the image seems to have rather amazing for a patriarchal religion. Nevertheless, the image of this Holy Family has been very influential in shaping the social codes of the Western world. Koschorke even relates this ambiguity of the father position to the suggested current crisis of fatherhood, which stands over against a rather stable relation between mother and child (cf. ibid. 216). 33 According to Koschorke, the incarnation as union of the divine and the human always has a moment of restlessness (Unruhe) that cannot be expressed in concepts but urges to continuous reformulations. Thus, the Holy Family of the incarnated God creates an in-between space in which things are blurred but can be interpreted and appropriated in different ways precisely because of this blurring (cf. ibid. 40 – 42). 34 According to Koschorke (referring to Carolyn Walker Bynum), this development runs parallel to a process of the humanisation of God which goes from the elevated representations of the late Antiquity and Byzantine art to the plastic corporality of Renaissance art. ‘Gegründet auf das Dogma der Inkarnation [. . .], erscheint das Übernatürliche im Verhältnis zwischen Christus und der Madonna in einem immer natürlicheren, der Menschenwelt gemäßeren Licht’ (ibid. 43). 35 Cf. ibid. 45. 36 Cf. ibid. 45 – 50. Koschorke points out that at the end of Jesus’ life – which Koschorke describes in terms of freeing himself from his family and his mother in particular so he could fulfil his heavenly duties – only his mother and some other women stay with him to mourn over him. His disciples, his new brothers and sisters, have left him (cf. ibid. 45). The influential, independent tradition of the Pieta from the 14th century onwards leads, Koschorke argues, into an attitude of resigning suffering and sacrifice in which the viewer participates through identification with Mary’s sorrows (cf. ibid. 48, 70). This approach does not show us Christ the Redeemer or the rebel Jesus who challenges the order of the family. 37 A good example of such a critical, Protestant view on the family is Karl Barth, who distances himself from the use of the term ‘family’ in his theological ethical reflection and turns to the relationship between parents and children instead. ‘Es waren Denkgewohnheiten und praktische Gepflogenheiten der “christianisierten” Heidenvölker, die dem Begriff der ‘Familie’ später den Glanz eines Grundbegriffes christlicher Ethik gegeben haben’ (K. Barth, Kirchliche Dogmatik III / 4, Zürich 1951, 271).
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functioned very well as a vehicle for this humanising or naturalising tendency in Christian religiosity. As an image, the Holy Family seems to have a power of its own that enables the convergence or even coincidence of the natural and the divine. This convergence seems to appeal at the level of experience to some deeply felt, intuitive conviction of the family as something ‘holy’, i. e., good. This conviction also seems to be at work, as we noted above, in theological ethics insofar as the family is largely seen as a self-evident Christian good that should be supported and defended. Thus, insofar as the role of the image in the cult of the Holy Family is concerned, there seem to be good reasons for theological hesitation regarding the image as it seems to tap in particular the source of the natural; the strong, intuitive feelings of appreciation related to the natural family subsequently start to lead a life of their own. Does the cult of the Holy Family as viewed from the Renaissance onwards not stimulate a veneration of natural life and a seclusion from the word ‘from beyond’? Up until now I have deliberately kept to the suggestive, indecisive mode: this ‘seems’ to be the case. As obvious as this conclusion that puts the image in a bad light may be, we cannot decide on it before having dealt with Boehm’s thesis of the strong image. This thesis goes against an all-too-easy marginalization of the image and aims to discover the specific meaning that the image embodies. So far, I have suggested that this specific meaning lies in assigning greater value to the natural and regarded it as something theology should refrain from. I would like to investigate what Boehm’s thesis may add to this analysis by turning to two paintings of the Holy Family by Rembrandt. The reason is that, at first glance, they may fit very well into the negative and suspicious analysis of the role of the image given above, while, upon closer inspection, a different interpretation may arise that could inspire a different theological view of the image.
E. Two Holy Families by Rembrandt Among the great paintings of the Holy Family, those of Rembrandt stand out because of their expression of intimate domesticity.38 Especially in the two paintings of Mary, the baby Jesus and Joseph stemming from 1645 The Holy Family with Angels, St Petersburg (Fig. 1, see p. 215) and 1646 The Holy Family with Painted Frame and Curtain, Kassel (Fig. 2, see p. 216) the viewer is struck first of all by the realistic, everyday character of the scene and the figures. We see a real mother taking care of her child by attentively watching it sleep in a cradle or by lifting it from the cradle and holding it to her breast, perhaps to comfort it. A fire is burning close to the cradle to keep them warm, and in one case a cat basks in its glow. In the dim background, the figure of a man can be descried. 38
Cf. Sachs, Familie (see note 25), 6 – 7; Adolf, Familie (see note 25), 1277.
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The presence of some woodworking tools give a good clue as to his occupation. We take a look in his workshop, which also seems to be the location where ordinary family life takes place. But, no less prominently, the St Petersburg Holy Family contains very non-ordinary elements, which lead the viewer into the ‘holy’ character of the scene. The group of little angels on the left – chubby little children with birdlike wings – are the most prominent of these elements. One of them is depicted completely en face, with his child’s body, and is stretching out his arms, like a crucifix figure.39 In the background Joseph is bending under a heavy beam or yoke resting on his shoulder, thus recalling another scene in the passion narrative: Jesus or Simon of Cyrene weighed down by the heavy burden of the cross.40 Mary is sitting beside the cradle, which she touches with her right hand, and is holding a large book in her left hand, undoubtedly a Bible. The light falls on the opened book. Mary seems to have been reading it when she turns to the crib to rearrange the blankets and then looks at the sleeping child.41 One interpreter argues: ‘By allowing herself to cast a glance at her Child, she reveals Him to us as well.’42 Similar obvious signs of the holy character of the scene are not present in the Kassel painting. Here we simply see Mary tenderly holding Jesus, and Joseph in the background, working with his carpenter’s tools, albeit in a similar position as in the other painting. There is however another important element in the painting: the frame surrounding the scene and the large curtain that has been pushed aside. Whatever further interpretations may be given to the frame and curtain, they primarily emphasise that the image is a painting, a work of art. This emphasis contrasts with the painting’s ‘realistic’ character that one meets at first glance.
39 Cf. E. Haverkamp-Begemann, Rembrandt. The Holy Family, St Petersburg / Groningen 1995, 17, referring to C. Tümpel / A. Tümpel, Rembrandt, Amsterdam 1986. 40 The depiction of Jesus or Simon of Cyrene carrying the cross is especially clear from the ‘drawing in Bayonne’ a compositional study for his painting of The Holy Family with Angels. Haverkamp-Begemann (cf. ibid. 18) suggests that the beam looks like a yoke, and thus recalls a text like Matt. 11:30: ‘For my yoke is easy and my burden is light.’ 41 As Haverkamp-Begemann points out, this combination of looking and reading is also present in another painting by Rembrandt (Le ménage du Menuisier) where the old woman figure of St. Anna pushes aside the cloths covering Jesus in order to better see him, while she has a Bible on her lap (cf. ibid. 15, 19). In both cases this ‘reading and seeing’ can be interpreted as a ‘recognition motif ’ representing the recognition of the Christ child by Mary / Anna upon her readings about the coming Saviour in the Bible (cf. ibid. 16; 19, referring to C. Tümpel / A. Tümpel, Rembrandt, 244 – 245). 42 Haverkamp-Begemann, Rembrandt (see note 39), 19.
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F. The Holy Family with Painted Frame and Curtain as a Strong Image One may easily present these paintings as outstanding examples of the abovementioned ‘Verdiesseitigung’ of the preaching of the Gospel (relating it to this world) and a veneration of the natural family. In both paintings the Holy Family is shown to be an ordinary 17th-century Dutch family. It should not surprise us that precisely this ordinariness also aroused suspicion in the history of the interpretation of the paintings. The 19th-century Swiss art historian Jacob Burckhardt regarded Rembrandt’s Kassel Holy Family as an outstanding example of profanation.43 It was no accident that this painting was known at that time as ‘The Woodman’s Family’44. The presence of curtain and frame in the Kassel version, however, may remind us of Boehm’s thesis of the contrast or iconic difference constitutive of the strong image. Here we seem to have a painting in which the boundaries of the image are all but obscured: they are emphasised by the curtain and frame.45 As a result one becomes aware of one’s position as viewer of the painting. Can this painting therefore be called a ‘strong image’ that works in the double sense of showing something and demonstrating the premises of its showing? And if so, does this alter our so far largely negative evaluation of the role of the image of the Holy Family? What does the interpretation of this image as strong – i. e., strengthening the power of the image – yield? First, its ‘strong image’ character may lie in the fact that the viewer is not tempted to be completely absorbed in the painting so that the difference between image and reality evaporates. The moment the viewer is inclined to become submerged in the apparent domestic idyll and forget about its image character, the frame and curtain prevent this by an estranging move that makes one aware of one’s own looking and interpreting position. The frame and curtain, the explicit boundaries of the painting, also estrange the viewer from the scene itself. This double estrangement could give rise to the question: Why is this purely common scene worthy of being painted, and looked at as a 43 Cited in W. Kemp, Rembrandt. Die Heilige Familie, oder die Kunst, einen Vorhang zu lüften, Frankfurt am Main 1986, 6 (referring to W. Kaegi, Jakob Burckhardt, Bd. 4, Basel 1967, 391 ff.): ‘Wenn dies keine Profanation ist, was wäre noch eine?’ 44 Cf. Kemp, Rembrandt (see note 43), 6, finds this alternative title mentioned in the first academic catalogue of the ‘Königlichen Gemäldegalerie zu Kassel’ from 1888 by Otto Eisemann, 145. 45 In the Holy Family painting with the angels Haverkamp-Begemann sees a dark edge along the bottom of the painting that was enlarged later. It makes it look like a space before the floor: the floor ends abruptly (cf. Haverkamp-Begemann, Rembrandt (see note 39), 20. According to Haverkamp-Begemann, similar demarcations of the spaces are found only in Rembrandt’s religious works, even when they do not seem ‘entirely logical or practical’ for the composition as such. He explains them as conferring special value upon the space in which the scene takes place and indicating that this is not our world but that of the specific biblical scene.
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painting? This question may arise in particular as images of the profane family in a domestic setting were not a well-known theme in Rembrandt’s time.46 Thus, via the Holy Family, the common life receives attention unexpectedly. It is worthy of being contemplated even as it represents the holy. But does this mean that natural family life is idealized and even religiously sanctioned in these paintings, as theology suspects? No, it may be shocking that the ordinary is worthy of being painted at all, and furthermore worthy of presenting the holy. Here heaven and earth meet, but that does not do away with the common. The holy and the common are not mutually exclusive. Rembrandt cannot start with an opposition between the holy and the common family, between revelation and nature, as theology so easily does when it distrusts the goodness of the natural. Rembrandt has to take the common seriously so that he can see how transcendence can be lit up in it. Thus, second, Rembrandt creates a ‘strong image’ that cannot be explained or translated completely into words but speaks for itself in its own image-like way. It preserves the iconic ‘contrast’ or ‘difference’: the impressiveness of the sober family scene and the estranging effect of the curtain. This is the main contrast that, according to Rembrandt, is fit to let the viewer imagine the Holy Family. As such, it gives impulses to interpretation and reflection. This interpretation may start from a certain recognition the painting evokes by the common, familiar character of the scene: I may suddenly see myself, or my own children, in the cradle, myself as a parent as well as my own parents watching over me. Thus, the painting may touch on experiences of the viewer, experiences of care and attention that have or have not been present in one’s own family. And it may give rise to wonder about the fact that Christian belief honours a God who has become human in such a way that God also needed this care and was dependent upon others. The painting incites one to contemplate the incarnation, the idea that everyday human reality is the place where Christ was born, that Christ could be lying in our cradle. Rembrandt invites reflection on how or when the ‘Diesseits’ (this worldly) may display a ‘Jenseits’ (a beyond), where perfectly common facts tell an uncommon story. These first interpretations may suffice to show that interpreting this painting as a strong image is fruitful. It tries to do justice to the contrast inherent in the painting. The contrast between the holy and the common is visible but not by playing them off against each other. The painting is a unity that also connects the holy and the common. Thus, it shows the incarnation as something estranging and something we can relate to. By keeping this contrast, specific meanings come to light that cannot be expressed as a unity in any way other than the image itself. These meanings are much more complex and even ambig46 Cf. Haverkamp-Begemann, Rembrandt (see note 39), 13, referring to Frans Floris’ Holy Family around 1550 / 1560.
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uous than the one suggested in the suspicious interpretation above, i. e., that the Holy Family scenes are primarily a veneration of the natural and are therefore a profanation.
G. What Can the Image Contribute to Theological Ethics? Rembrandt paints a family in which heaven and earth meet. It is both shocking in its commonness and incites us to look upon our own ordinary life in a different way, as related to the holy. Is it somehow possible to incorporate this specific meaning as revealed in the image in an ethical approach, to show the natural and the divine world in the light of the incarnation as not strictly separate? Rembrandt does so in an image, not in a statement or argument. My hypothesis was that images of the family might nourish the discussion on the meaning of the family that is currently lacking in theological ethics. I suggested that images may be able to do so because they incite us to reassess the relation between the holy and the common or the divine word and lived experience. The meanings that Rembrandt’s strong image reveal may serve as examples of impulses of such a reassessment. To conclude, I will summarise what may be the harvest of this consideration of the meaning of the Holy Family as a strong image for our general systematic questions regarding the approach of the family in theological ethics. The specific meaning that, according to Boehm, is inherent in the image may be of value to the ethical reflection in theology in at least three realms. The first one concerns a general aspect of theological ethics, while the others relate to reflection on the family in particular. 1. A first realm in which an ‘iconic turn’ may make sense is as an alternative to the focus on narrative in parts of current theological ethics. Following Alasdair MacIntyre’s After Virtue, theologians like Stanley Hauerwas and his numerous followers understand the role of the Bible in terms of providing a guiding narrative that is acted out first of all in liturgical practices of the church.47 In the community of believers, people learn to interpret their lives in terms of the grand narrative of the Bible, to position their own lives in this story. Attention to the image may make one wonder why narrative is the chosen category that is booming in theological ethics, while this is not – in spite of all its value for theology – a category that reflects the variety of biblical expressions. In addition, narrative is a more massive notion than image: a narrative needs a beginning and an end and a plot. It is not clear how this massiveness relates to the other genres of the Bible. And one can ask if it can really function as an answer to what is seen in this approach as the central problem of our times: that morality has become 47 Cf. Blackwell Companion to Christian Ethics, ed. by S. Hauerwas / S. Wells, Oxford 22011 as a good example of how Hauerwas’ approach is currently gathering a following.
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fragmentary. Moreover, in the way it is used in ethics, ‘narrative’ presupposes a strong notion of the community in which the narrative is handed down and reinterpreted. Such strong communities are, however, precisely lacking in our times. Paying attention to the images present in biblical texts and the specific meaning they reveal for shaping human acting may be at least another and perhaps less massive way of reappropriating the biblical texts in moral reflection. 2. Second, having an eye for the specific meaning revealed in images may provide an alternative to another way of using the Bible, which is clearly visible in theological reflection on the family. Ethicists look for orientation in the particular ways the family functions and is regulated in the Bible. As regards the family, the biblical commandment to honour one’s father and mother always receives a great deal of attention, as well as Jesus’ sayings concerning divorce, and exhortative passages in the Pauline and pseudo-Pauline literature concerning the relations between spouses.48 The meaning of these texts for our times is, however, questioned all the same because of the obvious historical differences with the times of the Bible. As a result, it is difficult not to let the interpretation of these texts become a confirmation of already existing, modern convictions that are not really affected by the ‘word from the other side’. Having an eye for images, on the other hand, may make one aware of the presence of family imagery in the Bible and the specific meanings revealed in them. Rather than turning immediately to the classical texts on family affairs, ethics may take into account the manifold examples in which the relationship between human beings and God is depicted in terms of family relations: God as father or mother or husband, Israel as faithless wife or beloved son, the believing community as children of God, or the relation, especially in Luke, between fathers and sons in the light of the view of God as father and Jesus as son. Let me very briefly give an example of what such an approach could yield, referring to the family imagery in the book of Hosea.49 The prophet is summoned by God to marry a ‘woman of fornications’ – a prostitute – so that his marriage may become an image of the relationship between God and his peo48 Cf. for a recent, prominent example of this way of dealing with the Bible in theological ethics the works of Don Browning. From 1991 to 2003 he led the interdisciplinary research project ‘Religion, Culture, and Family’. This project resulted in twenty publications, most in The Family, Religion, and Culture Series, edited by Browning and Ian S. Evison. For a good overview see D. Browning, Equality and the Family, A Fundamental, Practical Theology of Children, Mothers, and Fathers in Modern Societies, Grand Rapids 2007. For a critical analysis of his approach see P. Schaafsma, Dignity in the Family? Analyzing Our Ambiguous Relationship to the Family and Theological Suggestions toward Overcoming It, in: Fragile Dignity. Intercontextual Conversations on Scriptures, Family, and Violence, ed. by L. Juliana Claassens & Klaas Spronk, Semeia Studies / Society of Biblical Literature Nr. 72 (2013), 169 – 188. 49 Cf. P. Schaafsma, The Embodied Character of ‘Acknowledging God’, A Contribution to Understanding the Relationship between Transcendence and Embodiment on the Basis of Hosea, in: Embodied Religion, ed. by Peter Jonkers & Marcel Sarot, Ars Disputandi Supplement Series, Vol. 6, 2013, 47 – 70 (https://dspace.library.uu.nl / handle / 1874 / 294433).
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ple. In the course of the text, the family imagery entails a focus on the theme of God’s providence in common life. The unfaithfulness of the wife is related to the refusal to acknowledge who it is who provides Israel with food, drink, and clothing: the Lord, who is like the rains that water the earth and like dew. Israel turns to other providers, and God therefore punishes them by taking the harvest back. But Hosea also announces the renewal of the marriage that consists in acknowledging God as the one who provides. The renewed situation is painted as a thriving of the land and a flourishing of nature in which the people of Israel take part. Considering this family imagery may thus bring to light the fact that the relationship between God and human beings is seen as related to the flourishing of nature and the produce of the land and with the acknowledgment of God’s role and the human position. Perhaps one may even say that, like Rembrandt, Hosea’s imagery makes one reflect on how the basic goods of ordinary life are related to God. Thus, biblical images can be explored as to the specific meanings they introduce in ethical reflection, meanings that are expressed precisely in images. 3. Third, paying attention to the image in family ethics in general may contribute to a becoming aware of the unconscious holy character that the family somehow has. As was noted above, the family is often self-evidently thought to be a good in theological ethics as well as in secular studies of the family and in family policy. This may easily lead to an erosion of the meaning of the family: just promoting it, without knowing why, makes the family shallow and vulnerable. Spelling out its meaning and value, however, is difficult as well, given the variety in family life and the fact that much of what characterises the family – for example, that it is a given, non-chosen, unequal relationship with great responsibilities – goes against central Western values. Working with images may first of all make us aware, as Koschorke does, of the strong presence of the image of the Holy Family as a kind of model even in our times. Moreover, attention for the image may inspire us to discuss the meaning of the family in a different way: not by starting from its supposed loss or change but by digging at a more fundamental level that might also have to do with its ‘holy’ status. At this level, reflection on the family may, for example, ask if human beings are ‘family beings’ in the sense that dependence, care, and responsibility in the context of given, non-chosen relationships can be considered characteristic for being human. Taking into account these questions and topics entails a kind of reflection that is very different from the one in which the problems the concept of the family faces are seen as obvious and are often put in categories that can be found in social scientific studies of the family. In sum, introducing the image in theological reflection on the family, for example, by interpreting Rembrandt’s strong image, may promote a different way of relating to both the ‘natural’, in the sense of our everyday experience, and reve-
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lation. ‘Telling images’ like Rembrandt’s may function as an intermediary category between them by questioning and challenging both, and at the same time expressing elements from both. We discovered the holy and the common in the image to be not opposed but contrasting. It is the image that is able to keep the two distinct elements together in the contrast. As result, it is truly able to create a meaning of its own that invites interpretation also because of its ambiguity. In these interpretations of the image experiences of the common life will always resonate. That does not mean that these experiences will be sanctioned as good but that they will be taken seriously as a kind of precondition for gaining a better understanding of what the good life may mean. This use of such ‘telling images’ may also open the conversation on the family to other religious denominations and even to other religions, as well as to secular ethical reflection. The image of the Holy Family is not the property of Christianity alone. Everybody may contemplate it.
Bedeutung und Motorik Kristóf Nyíri Der österreichische Architekt Paul Engelmann erzählt über seinen Freund Ludwig Wittgenstein, daß ihn die Vorstellung Gottes im Sinne der Bibel, als eines Schöpfers der Welt, kaum ernsthaft beschäftigt habe. Dagegen hat ihn der Gedanke an ein Jüngstes Gericht immer aufs tiefste berührt. ‚Wenn wir uns einmal beim Jüngsten Gericht sehen‘ war eine wiederkehrende Redewendung von ihm, die er in besonders ernsten Momenten manchen Gesprächs mit einem unbeschreiblichen nach innen gekehrten Blick seiner Augen, mit gesenktem Kopf und als Bild eines Ergriffenen, aussprach.1
Wir dürfen davon ausgehen, daß Wittgenstein an das Jüngste Gericht im biblischen Sinne ebensowenig glaubte wie an Gott als Schöpfer. Welche Bedeutung läßt sich dann dieser Redewendung zuschreiben? Natürlich können wir sagen, daß die Bedeutung eine metaphorische gewesen sein mußte. Was ist aber die Ursprungsdomäne, aus der diese Bedeutung übertragen werden konnte, welcher Ursprungssinn, welche Ursprungserfahrung konnte der übertragenen Bedeutung zugrundeliegen? Ich versuche in meinem Beitrag einen gedanklichen Rahmen vorzustellen, innerhalb dessen sich diese Frage durchaus beantworten läßt, einen Rahmen, dem sich nicht nebenbei auch Wittgensteins Philosophie zunehmend näherte. Eben auf die entsprechenden Elemente von Wittgensteins Spätphilosophie möchte ich, unter dem Titel ‚Wittgensteins Glaube und Denken‘, im ersten Abschnitt kurz hinweisen. Selbstverständlich kann kein Zweifel darüber bestehen, daß Wittgenstein in seiner Spätphilosophie dem Thema Sprache eine besondere Aufmerksamkeit schenkte, wobei allerdings hervorzuheben ist, daß die Fragen, die ihn herausforderten, nicht aus der Welt der verschrifteten Sprache, sondern aus jener des lebendigen, mündlichen Sprachverkehrs hervorgingen. Nicht von ungefähr erkannte er da die Bedeutung der von der Schrift unterdrückten Bildlichkeit, und insbesondere von Mimik und Gebärde. Um Gebärdensprachen geht es dann im zweiten Abschnitt meines Beitrags. Sowohl 1 P. Engelmann, Ludwig Wittgenstein. Briefe und Begegnungen, hg. v. B. McGuinness, Wien / München 1970, 57 f.
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klassische als auch neuere und neueste Literatur anführend, werde ich mich dem Standpunkt anschließen, daß die Gebärdensprache die eigentliche Ursprache der Menschheit sei, bzw. daß Gebärden auch heute einen unentbehrlichen Bestandteil der Sprache, ein konstitutives Element von Emotion und Denken bilden. Die Gebärdensprache entstand früher als die Lautsprache, aber – so heißt es gemäß einer uralten und immer wieder auftauchenden Theorie – selbst noch die Lautsprache besitzt mimische Eigenschaften. Auf diese Theorie werde ich im dritten Abschnitt hinweisen, allerdings nur ganz skizzenhaft. Der vierte Abschnitt, unter dem Titel ‚Motorik und Bedeutung‘, soll die Thematik der beiden vorausgehenden Abschnitte in den Zusammenhang eines breiteren geistesgeschichtlichen Narrativs stellen, etwa von Taine und Galton bis Merleau-Ponty und Arnheim, wird aber ebenfalls eine kurze Schilderung bleiben, wobei ich mir jedoch erlaube, bereits hier die Formulierung des Neurologen Grünbaum aus dem Jahre 1930 vorauszuschicken, daß schon die ‚reine‘ Motorik die elementare Sinngebung besitzt, ja daß die Sinngebung überhaupt auf motorische Zusammenhänge zurückgeht, und daß zwischen dem Aktionsraum und Darstellungsraum als Äußerungen der lebendigen Verhaltungsweisen ein ständiger funktioneller Zusammenhang besteht.2
Im fünften Abschnitt komme ich dann auf das Thema Gebärden zurück, nämlich zu Gebärden der Zeit, die ich als das zentrale Thema meines Aufsatzes betrachte. Die Gebärden der Zeit, wie man sie aus den Beschreibungen von L’Épée, Ende des achtzehnten Jahrhunderts, oder von Mallery, Ende des neunzehnten Jahrhunderts, und vor allem bei den heutigen Gebärdensprachen der Taubstummen kennt, zeugen von einem ursprünglichen Zeitverständnis, das die Zeit als Verlauf, die Ewigkeit aber als einfachen zyklischen Ablauf verbildlicht. Für Ewigkeit im Sinne von Zeitlosigkeit gibt es keine Gebärde. Nun kennen wir allerdings eine Klasse von Gebärden, nämlich die Gebetsgesten, von denen einige, dennoch, wohl eine Art Versuch darstellen könnten, mit dem Ewigen in Berührung zu kommen. Es ist das Thema Gebetsgesten, das ich im sechsten, abschließenden Abschnitt noch berühren werde. Welche Bedeutung tragen die klassischen christlichen Gebetsgesten als körperliche Haltungen? Und bringt uns diese Fragestellung näher zum Verständnis dessen, was sich in Wittgensteins Geist abgespielt haben mochte, als er die Formel: ‚Wenn wir uns einmal beim Jüngsten Gericht sehen‘, gebrauchte?
2 A. A. Grünbaum, Aphasie und Motorik, Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 130 (1930), 385 – 412; 394.
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A. Wittgensteins Glaube und Denken Der von vorwiegend jüdischen Vorfahren abstammende Wittgenstein war väterlicherseits lutherisch, mütterlicherseits katholisch. In seiner Kindheit erhielt er katholischen Religionsunterricht. Im Ersten Weltkrieg, an der Ostfront, trug er Tolstois Büchlein Kurze Darlegung des Evangelium ständig mit sich. In den Erinnerungen seiner Freunde wird Wittgenstein immer wieder als ein zutiefst religiöser Mensch dargestellt; gewiß war er aber kein gläubiger Christ. „I am not a religious man“, sagte er Drury, „but I cannot help seeing every problem from a religious point of view“3; und: „I could not possibly bring myself to believe all the things that they believe“, vertraute er Malcolm an, als zwei andere seiner Schüler zum Katholizismus übertraten.4 Wittgenstein glaubte an keinen persönlichen Gott; seine Idee Gottes war die eines furchtbaren Richters,5 sein Gottesgefühl schlechthin das der Pflicht, aber auch der Hilflosigkeit und Ergebung gegenüber einer höheren Macht. Wie eingangs angedeutet, bin ich der Auffassung, daß Wittgensteins besondere Art von Religiosität einerseits und seine Spätphilosophie andererseits sich miteinander durchaus in Einklang bringen lassen, und zwar ohne das Jugendmotiv: ‚Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen‘, ins Spiel bringen zu müssen. Denn erst einmal, worauf ich ebenfalls schon hingewiesen habe, kam der spätere Wittgenstein zur Einsicht, daß Wörter typisch in einer Umgebung von inneren und äußeren Bildern Bedeutung haben, während man mit Bildern eben auch solches mitteilen kann, was sich nicht in Wörter fassen läßt. Bildbedeutung beruht teils auf Konvention, teils auf Ähnlichkeit. Ich erinnere hier an Gottfried Boehms frühe Erkenntnis, daß der Wittgensteinsche Begriff der Familienähnlichkeit eine unvermeidlich visuelle Konnotation hat. Ich erinnere auch an die Analyse dieses Fragenkreises im Aufsatz von Dieter Mersch, Wittgensteins Bilddenken.6 Eine Zusammenfassung des Themas habe ich 2010 in meinem Aufsatz Bild und Metapher in der Philosophie Wittgensteins versucht.7 3 M. O’C. Drury, Some Notes on Conversations with Wittgenstein, in: Ludwig Wittgenstein: Personal Recollections, hg. v. R. Rhees, Oxford 1981, 76 – 96; 94. 4 Vgl. N. Malcolm, Ludwig Wittgenstein: A Memoir, London 1958, 72; vgl. auch Malcolms posthum veröffentlichtes Buch: Ders., Wittgenstein: A Religious Point of View?, London 1993. 5 „The thought of God“, schreibt über Wittgenstein sein Schüler, Freund und Nachfolger in Cambridge G. H. von Wright, „was above all for him the thought of the fearful judge. [. . .] His idea of the helplessness of human beings was not unlike certain doctrines of predestination“ (G. H. von Wright, Biographical Sketch, in: Malcolm, Ludwig Wittgenstein [wie Anm. 4], 20). 6 Vgl. G. Boehm, Die Wiederkehr der Bilder, in: Was ist ein Bild?, hg. v. Ders., München 1994, 11 – 38; 13 f; vgl. D. Mersch, Wittgensteins Bilddenken, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 54 (2006), 925 – 942. 7 Vgl. K. Nyíri, Image and Metaphor in the Philosophy of Wittgenstein, in: Image and Imaging in Philosophy, Science and the Arts, Proceedings of the 33rd International Ludwig Wittgenstein Symposium, Bd. 1, hg. v. R. Heinrich, Heusenstamm bei Frankfurt 2011, 109 – 129, deutsche Fassung in: Ders., Zeit und Bild. Philosophische Studien zur Wirklichkeit des Werdens, Bielefeld 2012, 73 – 98.
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Charakteristisch ist etwa folgende Bemerkung Wittgensteins, abgedruckt im Band Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychoanalyse und religiösen Glauben: „Wäre ich ein guter Zeichner, könnte ich eine unzählbare Anzahl von Ausdrücken durch vier Striche erzeugen –
Wörter wie ‚bombastisch‘ und ‚getragen‘ könnten durch Gesichter ausgedrückt werden. Damit wären unsere Beschreibungen viel flexibler und unterschiedlicher als sie es durch den Ausdruck von Adjektiven sind“8. Zweitens war Wittgenstein dem Standpunkt nicht abgeneigt, daß Gesichtsausdruck und Körperhaltung nicht sosehr Bilder des Gefühls, sondern vielmehr der Grund desselben sind, d. h. er fand die James-Langesche Theorie nicht unplausibel.9 Wie es in seinem Diktat The Brown Book heißt; if I frown in anger I feel the muscular tension of the frown in my forehead, and if I weep, the sensations around my eyes are obviously part, and an important part, of what I feel. This is, I think, what William James meant when he said that a man doesn’t cry because he is sad but that he is sad because he cries.10
Die klassische zusammenfassende Formel bei James lautet: „[T]he bodily changes follow directly the perception of the existing fact, and [. . .] our feeling of the same changes [. . .] is the emotion“11. James hatte, bekanntlich, überhaupt einen bedeutenden Einfluß auf Wittgenstein, und zwar nicht nur sein Werk The Principles of Psychology, sondern auch die Gifford Vorlesungen The Varieties of Religious Experience.12 Drittens ist hier auf die Wirkung hinzuweisen, die der Literaturwissenschaftler I. A. Richards auf Wittgenstein ausübte. Ein Eintrag etwa im Notizbuch 136 Wittgensteins, Ende 1947 verfaßt, lautet: „I. A. Richards spricht davon, daß beim Verstehen eines Satzes die Bewegungsempfindungen, keimender Bewegungen, ja vielleicht die Vorstellungen solcher Empfindungen eine Rolle spielen“13. Wittgenstein bezieht sich hier eindeutig auf Richards’ Buch Principles of Literary Criticism, 1924 erschienen, das weitgehend im Zeichen der Idee der „muscular 8 L. Wittgenstein, Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychoanalyse und religiösen Glauben, hg. v. C. Barrett, übers. v. R. Funke, Frankfurt a. M. 2000, 14. 9 Vgl. C. G. Lange, Über Gemüthsbewegungen. Eine Psycho-physiologische Studie, Leipzig 1887; vgl. W. James, The Principles of Psychology, New York 1890. 10 L. Wittgenstein, Preliminary Studies for the „Philosophical Investigations“: Generally Known as the Blue and Brown Books, hg. v. R. Rhees, Oxford (1958) 1964, 103. 11 James, Principles of Psychology (wie Anm. 9), Vol. 2, 449. 12 Die maßgebliche Zusammenfassung hierzu ist R. B. Goodman, Wittgenstein and William James, Cambridge 2002. 13 Aus Wittgensteins Nachlaß, MS‑136:24b.
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imagery“ und überhaupt des Leibgefühl-Gedankens steht. In Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychoanalyse und religiösen Glauben wird Richards bloß einmal erwähnt, seine Präsenz im Hintergrund ist aber unverkennbar: „Ich erinnere mich daran, wie ich auf einer Straße entlang ging und mir sagte: ‚Ich gehe jetzt genau wie Russell.‘ Man könnte sagen, das war eine kinästhetische Empfindung. Sehr seltsam. – Jemand, der eines anderen Gesicht imitiert, tut das nicht vor einem Spiegel.14 Imitieren, eine Ähnlichkeit erzeugen, legt Wittgenstein seinen Studenten nahe, ist eine primordial motorische Angelegenheit. Und viertens hebe ich eben Wittgensteins immer wieder zu Tage tretende Aufmerksamkeit für die Bedeutung von Gebärden hervor. Ich führe zwei Stellen an; die eine aus dem Band Philosophische Grammatik: „Denke an die Vielgestaltigkeit dessen, was wir ‚Sprache‘ nennen. Wortsprache, Bildersprache, Gebärdensprache, Tonsprache“15; die andere, ein Eintrag vom 17. Januar 1949 in Wittgensteins Notizbuch 138: Denk nur an die Worte, die Liebende zu einander sprechen! Sie sind mit Gefühlen ‚geladen‘. Und sie sind gewiß nicht – wie Fachausdrücke – durch beliebige andere Laute // Lautreihen auf eine Vereinbarung hin zu ersetzen. Ist das nicht, weil sie Gebärden sind? Und eine Gebärde muß nicht angeboren sein; sie ist anerzogen, aber eben assimiliert.16
Die Dimensionen von Wittgensteins Denken schließen sich zu einem Ganzen zusammen, in welchem eine leiblich fundierte Religiosität – ‚embedded religion‘, wie es heute auf deutsch heißt – durchaus ihren Platz finden kann.
B. Gebärdensprachen Über Gebärden bzw. Gebärdensprachen kann man in mindestens vier, sich teilweise freilich überschneidenden Bedeutungen reden. Erstens als von der natürlichen Sprache der Taubstummen, zu der auch die Deutsche Gebärdensprache gehört. Zweitens, wie eingangs angedeutet, im Sinne der Hypothese, zu der eben auch die Taubstummensprache verleitet, für die sich aber auch rein theoretisch argumentieren läßt, daß nämlich die ursprüngliche menschliche Sprache eine der Lautsprache vorausgehende Gebärdensprache war. Drittens richtet sich eine in den letzten Jahrzehnten sich zunehmend ausweitende Forschung auf das Zusammenspiel von Gespräch und spontaner Gebärde. Viertens kennen wir die verschiedenen Kulturen von konventionell-überlieferten Gebärden, etwa die neapolitanische, oder die der Indianer Nordamerikas, oder gar die Gebärdensprache der Zisterzienser. 14
Wittgenstein, Vorlesungen und Gespräche (wie Anm. 8), 58. L. Wittgenstein, Philosophische Grammatik, Werkausgabe, Bd. 4, hg. v. R. Rhees, Frankfurt a. M. 1969, 179. 16 Aus Wittgensteins Nachlaß, MS‑138 : 3a. 15
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Den ersten Versuch, dem im gegenwärtigen Abschnitt behandelten Thema näherzukommen, unternahm ich in meinem Aufsatz Bildbedeutung und mobile Kommunikation.17 Ich führe dort insbesondere die auf 1939 zurückgehende Formulierung des Neurologen Macdonald Critchley an, daß „[s]ogar sehr junge Taubstumme [. . .] frei miteinander [kommunizieren], und das Vorhandensein einer natürlichen Zeichensprache in einem Alter, in dem sie noch keinen systematischen Unterricht erhalten, deutet auf einen ‚instinktiven‘ oder zumindest uranfänglichen Typ der Symbolisierung“18, und übernehme von Critchley auch einige Abbildungen, die teils universelle Taubstummengebärden (Abb. 1), teils kulturspezifisch-konventionelle Gesten (Abb. 2) illustrieren. Des weiteren weise ich betont auf William Stokoe hin, den damals vielleicht bekanntesten Vertreter der These einer Priorität der Sprache der Gebärden. Stokoes zurückblickendzusammenfassendes – und zugleich letztes – Buch, Language in Hand, ist 2001 erschienen. Eine seiner faszinierenden Thesen lautete: Gebärden bilden die Quelle nicht nur der Semantik der Wortsprache – der Wortbedeutungen –, sondern auch die ihrer Syntax, vornehmlich der Hauptwort-Zeitwort-Struktur. Die gestaltete Hand – unbewegt oder eben mit kleinen, wiederholten Bewegungen die Aufmerksamkeit auf sich lenkend – funktioniert als Nomen; sich bewegend aber – das Geschehen, das Ereignis zeigend – bereits als Verb. Zusammen bilden die gestaltete Hand und die Bewegung, so Stokoe, einen Satz.19 Eine abgerundetere Darstellung des Themas, wie ich sie freilich auch im Rahmen dieses Beitrags kaum liefern kann, müßte bei Platons Dialog Kratylos beginnen, nämlich bei den Zeilen: Wenn wir weder Stimme noch Zunge hätten und doch einander die Gegenstände kundmachen wollten, würden wir nicht, wie auch jetzt die Stummen tun, versuchen, sie vermittels der Hände, des Kopfes und der übrigen Teile des Leibes anzudeuten? [. . .] Wenn wir also [. . .] das Leichte und Obere ausdrücken wollten: so würden wir die Hand gen Himmel erheben, um die Natur des Dinges selbst nachzuahmen. Wenn aber das Untere und Schwere, so würden wir sie zur Erde senken.20
Als nächstes wäre wohl Quintilian zu erwähnen, der die Sprache der Gesten „die gemeinsame Sprache aller Menschen“ genannt hat,21 und dann mit einem großen Sprung ins 17. Jahrhundert einen Bogen etwa um George Dalgarno22 17 Vgl. K. Nyíri, Bildbedeutung und mobile Kommunikation, in: Allzeit zuhanden. Gemeinschaft und Erkenntnis im Mobilzeitalter, hg. v. Ders., Wien 2002, 161 – 188. 18 M. Critchley, Kinesics; Gestural and Mimic Language. An Aspect of Non-Verbal Communication, in: Ders., Aphasiology and Other Aspects of Language, London 1970, 306. Der Aufsatz greift zurück auf: Ders., The Language of Gesture, London 1939. 19 Vgl. W. C. Stokoe, Language in Hand: Why Sign Came Before Speech, Washington, DC 2001, xiii und 12 f. 20 Platon, Kratylos, 422e – 423a (Übersetzung Schleiermacher). 21 Quintilian, Institutio oratoria, XI, 3, 87. 22 Autor von: Didascalocophus, or the Deaf and Dumb Man’s Tutor, Oxford 1680.
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Abb. 1: Universelle Taubstummengebärden (Quelle: Critchley [wie Anm. 18]).
Abb. 2: Kulturspezifisch-konventionelle Gesten (Quelle: Critchley [wie Anm. 18]).
machend, müsste von Leibniz die Rede sein, der sich verständlicherweise für die Gebärdensprache als eine mögliche universale Zeichensprache interessierte.23 Ein ausführlicherer Bericht müßte sich dem 18. Jahrhundert widmen. Nicht sosehr etwa wegen Vico, dessen La scienza nuova zuerst 1725 „virtually unnoticed outside of Naples“24 veröffentlicht worden ist;25 eine Wirkungslosigkeit, die 23
Vgl. etwa G. Mallery, Sign Language among North American Indians Compared with that among Other Peoples and Deaf-Mutes (First Annual Report of the Bureau of Ethnology to the Secretary of the Smithsonian Institution 1879 – 1880), Washington 1881, 288; 349 f und 360; K. Sittl, Die Gebärden der Griechen und Römer, Leipzig 1890, 5; W. Wundt, Völkerpsychologie. Eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythus und Sitte, Bd. I: Die Sprache, 2., umgearb. Aufl., Leipzig 1904, 151. 24 M. Danesi, Vico, Metaphor, and the Origin of Language, Bloomington / Indianapolis 1993, viii. 25 Die dritte Ausgabe – die endgültige während Vicos Lebenszeit – ist 1744 erschienen und liegt der deutschen Übersetzung zugrunde: G. Vico, Die Neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker, übers. u. eingel. v. E. Auerbach, München 1924.
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nicht zuletzt mit der ‚Unklarheit seiner Botschaft‘26 zu tun haben konnte, wobei diese Botschaft, aus unserer gegenwärtigen Sicht, im ganzen Buch bloß aus zwei Passagen (zweimal mit geringfügigen Variationen noch wiederholt) besteht: „Die Stummen machen sich verständlich durch Gesten oder Körper, die eine natürliche Beziehung zu den Gedanken haben, die sie ausdrücken wollen“. Und: Da „die ersten Nationen [. . .] alle lautlos waren, [mußten sie] sich durch Gesten oder Hinweise auf Körper verständlich machen [. . .], die zu ihren Gedanken natürliche Beziehung hatten“27. Auch Rousseau hat nicht wesentlich zur Theorie der Gebärden beigetragen, wenn auch sein Ausspruch, daß man Worte braucht, um sich über den Gebrauch des Wortes zu verständigen,28 von Corballis zurecht als eine wichtige Formulierung des Paradoxons beschrieben, jede Theorie durcheinanderbringen muß, die das Entstehen der Sprache ohne Zuhilfenahme der Bedeutung von Gesten erklären will. Aber die Schlußfolgerung, die Rousseau in seiner Schrift Essai sur l’origine des langues aus diesem Paradoxon zieht, nämlich daß „[q]uoique la langue du geste et celle de la voix soient également naturelles, toutefois la première est plus facile et dépend moins des conventions“29, ist eine ziemlich blasse Behauptung; auch blieb ja dieser Essay unveröffentlicht zu Rousseaus Lebzeiten. Es waren der Philosoph Condillac und der Pädagoge de l’Épée, deren Werke das 18. Jahrhundert zu einem Wendepunkt in der Geschichte der Theorie der Gebärden gemacht haben. In Condillacs Essai sur l’origine des connaissances humaines, 1746 erschienen, wird bekanntlich die Hypothese einer der Lautsprache vorausgehenden Gebärdensprache formuliert.30 Der Abbé de l’Épée wurde ab den 1750er Jahren Begründer einer gebärdensprachlich orientierten Lehrmethode für taubstumme Kinder, einer Methode, die eben auf der natürlichen Gebärdensprache dieser Kinder selbst gründete – „eine natürliche Zeichensprache“31, wie l’Épée sie verstand. In seinem 1776 erschienenen Werk L’institution 26 Vgl. B. Russell, The Wisdom of the West. A Historical Survey of Western Philosophy in Its Social and Political Setting, Garden City, NY 1959, 207. Es sollte hier allerdings erwähnt werden, daß das Buch in Wirklichkeit vom Herausgeber Paul Foulkes verfaßt wurde, auf der Grundlage von Russells A History of Western Philosophy. Russell hat bloß die Abzüge gesehen; vgl. C. Spadoni, Who Wrote Bertrand Russell’s Wisdom of the West?, Papers of the Bibliographical Society of America, 80 / 3 (1986). Im Werk A History of Western Philosophy gibt es keinen Hinweis auf Vico. 27 G. Vico, Die neue Wissenschaft (wie Anm. 25), 99 und 185, vgl. auch 168 und 182. 28 Vgl. im Original J.‑J. Rousseau, Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes, in: 534 – 578; 543: „la parole paroît avoir été fort nécessaire, pour établir l’usage de la parole“; vgl. M. C. Corballis, From Hand to Mouth. The Origins of Language, Princeton, NJ 2002, 42. 29 J.‑J. Rousseau, Essai sur l’origine des langues [1755], in: Ders., Œuvre Complètes, Tome III, Paris 1846, 495 – 522; 495. 30 Corballis liefert eine anerkennende Beschreibung von Condillacs Hauptargument in: Corballis, From Hand to Mouth (wie Anm. 28), 64, 102 f und 126 f. 31 Ch. M. de l’Épée, L’institution des sourds et muets, par la voie des signes méthodiques, Paris 1776, 126: „[. . .] la langue naturelle des signes“, vgl. auch den Ausdruck ‚Signes naturels‘ auf dem Titelblatt des Buches.
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des sourds et muets hebt l’Épée unter anderen die Gebärden für Vergangenes und Zukünftiges hervor: Liegt eine Tätigkeit oder ein Geschehnis in der Vergangenheit, wird das mit einer nach hinten über die Schulter weisenden Handbewegung angezeigt. Dieselbe Gebärde mit derselben Bedeutung finden wir etwa auch in der heutigen Deutschen Gebärdensprache, ich komme darauf weiter unten zurück. L’Épée und seine Schule, in deren Zusammenhang vor allem sein unmittelbarer Nachfolger, der Abbé Sicard genannt werden muß,32 fanden bald eine breite Rezeption sowohl in Europa – nicht zuletzt in Deutschland – als auch in Amerika. Trotz dieser Wirkung war im 19. Jahrhundert, wo ich mit meinem rudimentären Narrativ nunmehr angelangt bin, keineswegs die Meinung vorherrschend, daß der Gebärdensprache der Lautsprache gegenüber eine geschichtliche Ursprünglichkeit zukomme, bzw. sie gegebenenfalls eine pädagogische Rolle spielen dürfe. Allerdings erschien 1832 das durchaus nicht unbekannt gebliebene Werk von Andrea de Jorio La mimica degli antichi investigata nel gestire napoletano, in welchem der Autor zwar nicht für die Vorrangigkeit, aber immerhin für den besonderen Ausdruckswert und die jahrtausendelang währende Kontinuität der süditalienischen Gebärdensprache argumentiert.33 1838 wurde die großangelegte und tiefschürfende Studie Ueber die Taubstummen und ihre Bildung von Eduard Schmalz veröffentlicht, 1853 das Buch Ueber Taubstumme, Taubstummen-Bildung und Taubstummen-Anstalten von Otto Friedrich Kruse,34 und 1865 Tylors berühmtes Werk Researches into the Early History of Mankind, das sowohl auf Sicard als auch auf Schmalz und Kruse sowie ausführlich auf das Berliner Taubstummeninstitut Bezug nimmt. In den ersten drei Kapiteln wird das Thema Gebärdensprache und in den folgenden beiden die Themen Bilderschrift und Wortschrift bzw. Bilder und Namen behandelt. Ich erlaube mir, hier von Schmalz eine längere Passage anzuführen und mich dann noch bei Tylor etwas aufzuhalten: Die natürliche Zeichen- oder Gebehrden-Sprache [. . .], welche in einem Ausdrucke der Gefühle durch Bewegungen des Körpers, vorzüglich aber durch die Gesichtsmuskeln besteht, wird durch die Taubstummen in der Regel von selbst gebildet, und bei ihrem Zusammenleben täglich vermehrt. Sie ist zwar ein Gemeingut der Menschen, wird aber von dem Taubstummen, welcher auf sie beschränkt ist, mehr ausgebildet und angewandt, als von dem Vollsinnigen. Das Winken mit der Hand, das verneinende Schütteln oder 32 Roch-Ambroise Sicard verfaßte das einflußreiche Buch: R.‑A. Sicard, Cours d’Instruction d’un sourd-muet de naissance, Paris 1803. Zu l’Épée, Sicard, und ihrem Einfluß in Amerika vgl. den wichtigen Aufsatz von W. C. Stokoe, Sign Language Structure. An Outline of the Visual Comm unication Systems of the American Deaf [1960], wieder abgedruckt in: Journal of Deaf Studies and Deaf Education 10 / 1 (2005), 3 – 37. 33 Die englische Übersetzung, mit einer ganz ausgezeichneten Einleitung des Übersetzers A. Kendon erschien vor wenigen Jahren: A. de Jorio, Gesture in Naples and Gesture in Classical Antiquity [1832], Bloomington 2002. 34 Vgl. O. F. Kruse, Über Taubstumme, Taubstummen-Bildung und Taubstummen-Anstalten. Nebst Notizen aus meinem Reisetagebuche, Schleswig 1853.
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beifällige Nicken des Kopfes, das Erheben des Zeigefingers u. s. w. sind Zeichen, welche von Jedermanne gebraucht und verstanden werden. Nicht weniger verständlich sind viele Zeichen, welche wir zwar im gewöhnlichen Leben nicht gebrauchen, welche aber das taubstumme Kind zu seinen Mittheilungen an Andere bildet und gebraucht. Diese Zeichen bestehen hauptsächlich darin, daß die bei der anzudeutenden Handlung charakteristischen Bewegungen des Körpers nachgeahmt, oder die Form der zu bezeichnenden Gegenstände in die Luft gezeichnet, oder wenn dieß nicht angeht, der Gebrauch derselben und Aehnliches angedeutet wird. [. . .] [Diese Sprache] ist mehr, als jede andere, eine eigenthümliche Sprache voll Leben und Wahrheit, weil sie von allen Völkern und von jedem Einzelnen verstanden wird [. . .] [Sie ist] eine unmittelbare Aeußerung der erhaltenen Eindrücke des Geistes, gleichsam ein Gemälde des Lebens.35
Auch Tylor hebt hervor, daß Taubstumme fähig sind, „die Geberdensprache aus ihrem eigenen Geiste ohne die Hilfe redender Menschen zu entwickeln“, und daß sie „alle andern Menschen in der Fähigkeit, Zeichen anzuwenden und zu verstehen“, übertreffen, wobei allerdings „die Geberdensprache ein Gemeingut aller Menschen“36 ist. Schmalz zitierend weist Tylor auf die Erscheinung hin, daß vom Taubstummen „die Gestalt von Gegenständen, auf welche aufmerksam gemacht werden soll, in die Luft gezeichnet“, bzw. „die Bewegung des Körpers bei einer zu beschreibenden Handlung nach[ge]ahmt“37 wird. Taubstumme, betont Tylor, teilen sich in grundsätzlich pantomimischen Zeichen mit. Nun geht Tylor, wenn er sich auch vorsichtig ausdrückt, von der These aus, daß es kein Denken ohne Kommunikation – ohne „äußere Kundgebung“ – gibt, wobei doch der Taubstumme sehr wohl ohne Sprache im Sinne von „articulirten Lauten“38 denken kann. Tylors eindeutige, radikale, wenn auch ausdrücklich nicht formulierte Schlußfolgerung: Es gibt ein sich ausschließlich in Bewegungen und Bewegungsbildern aufbauendes Denken. Einer zweiten selbstverständlichen Schlußfolgerung, der der geschichtlichen Ursprünglichkeit der Gebärdensprache, enthält sich Tylor indessen deutlich: Man hat [. . .] keinen Beweis, daß der Mensch irgend eine Zwischenstufe, wie etwa den Gebrauch der Geberden, passirt sei, bevor er sprach. Diese Theorie, obwohl keineswegs zu verachten, hat, so viel sich bis jetzt herausstellt, keine genügende Unterstützung durch beobachtete Thatsachen.39
Das fundamentale Argument nun für diese selbstverständliche Schlußfolgerung hat der amerikanische Politiker Amos Kendall bereits 1864 ausgesprochen, als er eine Taubstummenschule in Washington DC eröffnete: 35
E. Schmalz, Ueber die Taubstummen und ihre Bildung, Dresden / Leipzig 1838, 210 f. E. B. Tylor, Forschungen über die Urgeschichte der Menschheit und die Entwickelung der Civilisation [orig. Researches Into the Early History of Mankind and the Development of Civilization, London 1865], übers. v. H. Müller, Leipzig 1867, 21. 37 A. a. O. 22. Tylor bezieht sich hier auf S. 267 bei Schmalz (wie Anm. 35), wobei der Übersetzer offenbar nicht auf den deutschen Originaltext zurückgriff. 38 A. a. O. 17. 39 A. a. O. 19. 36
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We read that Adam named the beasts and birds. But how could he give them names without first pointing them out by other means? How could a particular name be fixed upon a particular animal among so many species without some sign indicating to what animal it should thereafter be applied?40
Im Laufe der menschlichen Stammesentwicklung, deutete Kendall an, bringt nicht die Wortsprache, sondern zuerst die Sprache der Gebärden eine begriffliche Ordnung in die episodische Bildhaftigkeit des vorsprachlichen Denkens. Der Hinweis auf Adam ist ja, nehme ich an, fünf Jahre nach dem Erscheinen von Darwins Die Entstehung der Arten, eher ironisch gemeint. Darwin selbst hatte dann in dem 1872 veröffentlichten Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren seinen Beitrag zur Theorie der Gebärden und Mimik geleistet. Ich führe hier eine Erklärung von ihm zu den Ausdrücken der Bejahung und Verneinung an: Ich war begierig zu ermitteln, wie weit die gewöhnlichen Zeichen der Bejahung und Verneinung, wie wir sie gebrauchen, über die Erde verbreitet sind. Es sind in der That diese Zeichen in einem gewissen Grade für unsere Gefühle ausdrucksvoll, da wir ein senkrechtes Nicken der Billigung oft mit einem Lächeln unsern Kindern gegenüber machen, wenn wir ihr Betragen billigen, und unsern Kopf seitwärts mit einem Stirnrunzeln schütteln, wenn wir dasselbe misbilligen. Bei kleinen Kindern besteht der erste Act der Verneinung in einem Zurückweisen der Nahrung, und ich habe wiederholt bei meinen eignen Kindern bemerkt, dass sie dies durch ein seitliches Wegziehen ihres Kopfes von der Brust oder von irgend etwas, was ihnen in einem Löffel angeboten wurde, ausdrückten. Bei der Annahme von Nahrung und dem Einnehmen derselben in ihren Mund neigen sie ihren Kopf vorwärts. [. . .] Es verdient Beachtung, dass bei dem Annehmen oder Aufnehmen der Nahrung nur eine einzelne Bewegung des Kopfes nach vorwärts gemacht wird, und ein einfaches Nicken schliesst eine Bejahung ein. Verweigern andrerseits Kinder Nahrung, besonders wenn sie ihnen aufgenöthigt werden soll, so bewegen sie ihren Kopf mehrmals von Seite zu Seite, wie wir es thun, wenn wir in der Verneinung unsern Kopf schütteln. Überdies wird im Falle eines Zurückweisens der Kopf nicht selten zurückgeworfen oder der Mund geschlossen, so dass diese Bewegungen gleichfalls dazu gelangen könnten, als Zeichen einer Verneinung zu dienen.41
Drei Bemerkungen: (1) Darwins Erklärungsmuster des Zurückführens eines Gefühls auf das tatsächliche Verhalten, in welchem es begründet ist, nimmt unverkennbar die James-Langesche Theorie vorweg. (2) Es kommt mir hier hauptsächlich darauf an, vorzubereiten, was ich in Bezug auf die Gebärden der Zeit zu behaupten versuchen werde: Natürliche Gebärden lassen auf ein leibli40 A. Kendall, zit. n. D. F. Armstrong / S. E. Wilcox, The Gestural Origin of Language, New York 2007, 8. 41 Ch. Darwin, Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei dem Menschen und den Thieren [The Expression of the Emotions in Men and Animals, London 1872], übers. v. J. V. Carus, Stuttgart 1872, 279. Die von mir hier zitierte Passage wird mit dem Untertitel ‚Zeichen der Bejahung oder Billigung und der Verneinung oder Misbilligung: Nicken und Schütteln des Kopfes‘ eingeführt.
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ches Erleben von etwas Wirklichem schließen. (3) Es gibt offenbar zahlreiche, wenn auch miteinander Familienähnlichkeiten aufweisende Verhaltensmuster und entsprechende Erklärungen und Gesten der Bejahung und Verneinung. In der Liste von Taubstummengesten bei Schmalz hieß es einfach: „Sein (es ist). Man nickt mit dem Kopfe. – Nicht sein (es ist nicht). Man schüttelt mit dem Kopfe“42. Garrick Mallery zeichnet in seiner grundlegenden, sehr umfassenden Studie Sign Language among North American Indians Compared with that among Other Peoples and Deaf-Mutes,43 ein viel breiteres Spektrum; ähnlich Karl Sittl in Die Gebärden der Griechen und Römer,44 worauf ich mich im letzten Abschnitt meines Aufsatzes, über Gebetsgesten, vor allem stützen werde. Auch die entsprechenden Zeichen in den heutigen Gebärdensprachen der Gehörlosen beschränken sich nicht allein auf einfaches Kopfnicken oder ‑schütteln. Ich bin jetzt mit meinem Narrativ zur Theoriegeschichte der Gebärdensprachen endlich im 20. und 21. Jahrhundert angelangt. Die glänzendste mir bekannte Behandlung des Themas ist jene in Wilhelm Wundts Völkerpsychologie. Für Wundt hat die Gebärdensprache „eine Ursprünglichkeit und Natürlichkeit, wie solche die Lautsprache weder heute besitzt noch in irgendwelchen früheren sprachgeschichtlich zu erschließenden Formen jemals besessen hat“45. Und zwar reichen nicht nur konkrete, sondern auch symbolische Gebärden „in die Anfänge der Gebärdensprache zurück. Der allgemeine Charakter der symbolischen Gebärde besteht [. . .] darin, daß sie die auszudrückenden Vorstellungen aus einem Anschauungsgebiet in ein anderes überträgt“46. Den Grundgedanken der heutigen konzeptuellen Metapherntheorie, einschließlich ihrer Entwicklung in Richtung des Begriffs visuelle Metapher, findet man voll entfaltet bei Wundt vor. Ein großartiger Versuch zur Synthese der Theorien von Bedeutung, Motorik und Gebärden ist bekanntlich Merleau-Pontys Phénoménologie de la perception (1945). Ein neues geisteswissenschaftliches Interesse für 42
Schmalz, Ueber die Taubstummen (Anm. 35), 339. Wie Anm. 23. 44 Vgl. Sittl, Gebärden (wie Anm. 23), 82: „Mannigfaltig und zugleich leicht zu begreifen sind“, schreibt der sich auch auf Darwin beziehende Sittl, „die Gebärden der Antipathie, die darum auch den Kindern und den Haustieren am ehesten verständlich sind. Abscheu und Abwehr ausdrückend, schliessen sie auch die Idee des Verneinens, des Verbotes und der Verachtung ein. – Den Kopf wirft eigentlich der zurück, welcher durch einen Anblick oder einen Geruch abgestossen wird. Man achtet kaum darauf, dass dies auch bei uns eine pathetische, stolze Verneinung begleiten kann. In Griechenland und Italien aber war und ist diese Gebärde des Kopfes die üblichste Form der Verneinung; sie weist ein Anerbieten zurück, lehnt eine Bitte ab, verneint eine Frage, selbst Ungläubigkeit kann in der Bewegung liegen. In Aufregung wird sie wiederholt. Kinder, welche Speise zurückweisen, drehen ihren Kopf seitwärts [. . .] Mit dieser Kindermanier ist unsere Verneinungsform verwandt, wenn sie nicht daraus entstanden ist; auch dem Altertum war sie nicht völlig fremd, nur bedeutete sie nicht eine einfache Negation, sondern kräftige Missbilligung“. 45 Wundt, Völkerpsychologie (wie Anm. 23), 137. 46 A. a. O. 157. 43
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Gebärdensprachen zeichnet sich dann in den 1960er Jahren ab. Die wichtigste entsprechende Literatur ist, wenn auch vielleicht nicht unüberschaubar, hier aber jedenfalls unmöglich aufzuzählen.47 Herausragend ist das 2002 erschienene Buch von Corballis, From Hand to Mouth: The Origins of Language, das für eine eindeutige geschichtliche bzw. entwicklungspsychologische Priorität der Gebärdensprache gegenüber der Lautsprache argumentiert: „[I]t is the early gestures that provide the basis for reference, identifying the objects and actions to which names must be attached“48, heißt seine Antwort auf die Rousseausche Herausforderung. Er fasst aber auch die Lautsprache selbst als auf „articulatory gestures“49, auf tönende, mündliche Gesten aufbauend auf.
C. Hörbare Mimik Die Vorstellung, gemäß der die Lautsprache mimische Züge tragen könnte, und zwar nicht nur in den ganz wenigen Fällen von solchen Wörtern, die tatsächlich Stimmen und Geräusche nachahmen, sondern generell und aus funktionalen Gründen, wird in der Regel mit Belustigung abgetan, kehrt jedoch seit Platons Kratylos immer wieder. Auf Platon berief sich 1869 Geiger, als er dafür argumentierte, daß „die Sprache eine Nachahmung durch Bewegungen, eine Mimik mittels der Sprachorgane sei“50. Geigers Arbeit kam offenbar zu spät, um Fried-
47 A. a. O. 165. Doch sollte ich mindestens einige von den bemerkenswertesten Schriften erwähnen, bevor ich zu Corballis komme (bzw. zurückkomme; vgl. Anm. 28 und 30). Auf zwei Werke von Stokoe (ein Aufsatz aus dem Jahre 1960 und ein 2001 erschienenes Buch) habe ich in Anm. 32 und 19 hingewiesen, auf das Buch von Armstrong und Wilcox in Anm. 40, ganz wesentlich in diesem Kreis von Veröffentlichungen war auch D. F. Armstrong / W. C. Stokoe / S. E. Wilcox, Gesture and the Nature of Language, Cambridge 1995. Adam Kendon, Autor der Einleitung zu der englischen Übersetzung von de Jorios Werk (vgl. Anm. 33), hat zwei einflußreiche Essays veröffentlicht: A. Kendon, Some Relationships between Body Motion and Speech, in: Studies in Dyadic Communication, hg. v. A. Siegman / B. Pope, New York 1972, 177 – 210); Ders., Gesticulation and Speech: Two Aspects of the Process of Utterance, in: The Relationship of Verbal and Nonverbal Communication, hg. v. M. R. Key, The Hague 1980. Ein hervorragend wichtiger Aufsatz, auch von Corballis besonders berücksichtigt, ist G. G. Hewes, Primate Communication and the Gestural Origin of Language, Current Anthropology 14 / 1 – 2 (Februar – April 1973), 5 – 24. Zwei vielbeachtete Bücher von D. McNeill über die gegenseitige Abhängigkeit von Lautsprache und spontanen Gesten: Ders., Hand and Mind. What Gestures Reveal about Thought, Chicago 1996; Ders., Gesture and Thought, Chicago 2005. Eine wichtige Zusammenstellung ist: Metaphor and Gesture (Gesture Studies 3), hg. v. A. Cienki / C. Müller, Amsterdam 2008. J. Streeck, Gesturecraft. The Manu-Facture of Meaning (Gesture Studies 2), Amsterdam 2009, bietet einen anregenden Gedankengang über „gestural understanding“ als die „perhaps most ancient mode of human communication“, und über „gesture as conceptual action“ (a. a. O. 3), gibt aber schließlich der Verlockung von Goodmans Subjektivismus nach. 48 Corballis, From Hand to Mouth (wie Anm. 28), 109. 49 A. a. O. 99; mit Hinweis auf Merlin Donald. 50 L. Geiger, Der Ursprung der Sprache, Stuttgart 1869, 180.
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rich Nietzsche beeinflussen zu können, dessen (posthum veröffentlichter) Essay Die dionysische Weltanschauung 1870 verfaßt wurde. Nietzsche experimentiert hier mit einer Art von Sprachgebärdentheorie: Die innigste und häufigste Verschmelzung von einer Art Geberdensymbolik und dem Ton nennt man Sprache. Im Wort wird durch den Ton und seinen Fall, die Stärke und den Rhythmus seines Erklingens das Wesen des Dinges symbolisirt, durch die Mundgeberde die begleitende Vorstellung, das Bild, die Erscheinung des Wesens.51
1881 trat keine geringere Figur als Darwins Mitstreiter und Rivale Alfred Russel Wallace für eine ‚mouth-gesture‘ Theorie des Ursprungs der Sprache ein,52 in den 1920er Jahren neigte auch Ernst Cassirer dazu, das Prinzip der „Lautnachahmung“53 zu akzeptieren, während Merleau-Ponty das „gesprochene Wort“ als eine „echte Geste“ darstellte.54 Den Ausdruck ‚hörbare Mimik‘ entlehne ich einem 1967 erschienenen Aufsatz des ungarischen Sprachwissenschaftlers Iván Fónagy.55 In einer 1980 veröffentlichten englischen Studie spricht er von „preconscious oral gesturing“, von einer „displacement of the tongue position backwards (in anger and sadness), forwards (in joy and tenderness) [. . .] In such cases the tongue performs a deictic function: it represents the arm (or the whole body) which may point forwards and upwards – outward oriented gesture, approach towards the outside world – or backwards and downwards – inward oriented, negative“56. Eine großangelegte Verteidigung der ‚mouthgesture‘-Hypothese lieferte in seinem oben erwähnten Buch Michael Corballis, der zum Thema dann noch in einem mit Gentilucci gemeinsam verfaßten Aufsatz zurückkehrt.57 Der Aufsatz sammelt „evidence that the transition from primarily manual to primarily vocal language was a gradual process, and is best understood if it is supposed that speech itself a gestural system rather than an
51 F. Nietzsche, Die dionysische Weltanschauung [1872], in: Ders., Kritische Studienausgabe, Bd. 1, hg. v. G. Colli / M. Montinari, München 1980, 551 – 577; 575 f. Zu Nietzsches Sprachauffassung vgl. S. Krämer, Sprache, Stimme, Schrift. Zur impliziten Bildlichkeit sprachlicher Medien, in: Sprache intermedial. Stimme und Schrift, Bild und Ton, hg. v. A. Deppermann / A. Linke, Berlin 2010, 11 – 28; insb. 21 – 23; ein früherer wichtiger Aufsatz ist H.‑M. Gauger, Nietzsche. Zur Genealogie der Sprache, in: Theorien vom Ursprung der Sprache, Bd. 1, hg. v. J. Gessinger / W. von Rahden, Berlin 1988, 585 – 606. Informativ ist das Buch von R. Fietz, Medienphilosophie: Musik, Sprache und Schrift bei Friedrich Nietzsche, Würzburg 1992. 52 Vgl. A. R. Wallace, My Life. A Record of Events and Opinions, Vol. 2, London 1905, 388. 53 E. Cassirer, Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften [1923], in: Vorträge der Bibliothek Warburg, 1921 – 1922, Leipzig 1923, 11 – 39. 54 M. Merleau-Ponty, Phénoménologie de la perception, Paris 1945, 214: „La parole est un véritable geste et elle contient son sens comme le geste contient le sein“. 55 Vgl. I. Fónagy, Hörbare Mimik, Phonetica 16 / 1 (1967), 25 – 35. 56 I. Fónagy, Preverbal Communication and Linguistic Evolution, in: The Relationship of Verbal and Nonverbal Communication, hg. v. M. R. Key, The Hague 1980, 167 – 184; 172. 57 M. Gentilucci / M. C. Corballis, From Manual Gesture to Speech. A Gradual Transition, Neuroscience and Biobehavioral Reviews 30 (2006), 949 – 960.
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acoustic system, an idea captured by the motor theory of speech perception and articulatory phonology“. Die Autoren führen Forschungen an, zufolge derer „nonvocal facial gestures may [. . .] be transitional between visual gesture and speech“, eine Annahme „supported by the increasing recognition that gestures of the face, and more particularly of the mouth, are components of [deaf-mute] sign languages, and are distinct from mouthing, where the signer silently produces the spoken word simultaneously with the sign that has the same meaning“. Die Autoren skizzieren „an evolutionary scenario in which mouth movements gradually assume[d] dominance over hand movements, and were eventually accompanied by voicing and movements of the tongue and vocal tract. Thus“, so lautet ihre Hypothese, „speech was born“58.
D. Motorik und Bedeutung Ich komme jetzt zu jenem Thema, das mich ursprünglich zur Wahl des Titels meines Aufsatzes verführte. Ich stelle ein wirkungsgeschichtliches Diagramm vor (Abb. 3), dem ich fünf Hinweise hinzufüge. Der erste Hinweis legt nahe, daß die Idee von einer Priorität der Motorik eben jene der Priorität des Wortes in Zweifel zieht, und vor dem Auftritt Darwins grundsätzlich unvorstellbar gewesen wäre. Zweitens zitiere ich eine kurze Passage aus Taine’s einflußreichem Werk De l’intelligence: [U]nter dem unvollständigen [mentalen] Bild spielt sich ein dumpfes In-Bewegung-Setzen ab, und gleichsam ein Schwarm von Regungen, die gewöhnlich in einer ausdrucksvollen Geste münden, in einer Metapher, in einer sinnlich wahrnehmbaren Zusammenfassung.59
Drittens führe ich Galton an, der sich Anfang der 1880er Jahre dem Problem gegenübergestellt fand, daß viele seiner hochgebildeten Zeitgenossen bestritten, eine visuelle Erinnerung oder eine visuelle Phantasie zu besitzen. Wieso waren sie dennoch, anscheinend, zu einem vollwertigen Denken fähig? Galtons vielzitierte Antwort ist: [T]he missing faculty seems to be replaced so serviceably by other modes of conception, chiefly, I believe, connected with the incipient motor sense, not of the eyeballs only but of the muscles generally, that men who declare themselves entirely deficient in the power of seeing mental pictures can nevertheless give life-like descriptions of what they have seen and can otherwise express themselves as if they were gifted with a vivid visual imagination.60
58
A. a. O. 949; 953 f. H. A. Taine, De l’intelligence, Vol. 1, Paris 1870, 170. 60 F. Galton, Inquiries into Human Faculty and Its Development [1883], London 21907, 61. 59
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Abb. 3: Das Visuelle und das Motorische. Ein Netzwerk von geistesgeschichtlichen Einflüssen.
Viertens erinnere ich an Titcheners Buch Lectures on the Experimental Psychology of the Thought-Processes [1909], in welchem das Problem bildlich / motorisch im Mittelpunkt steht: Meaning is originally, kinaesthesis; the organism faces the situation by some bodily attitude, and the characteristic sensations which the attitude involves give meaning to the process that stands at the conscious focus, are psychologically the meaning of that process. [. . .] We are animals, locomotor organisms; the motor attitude [. . .] is therefore of constant occurrence in our experience [. . .] There would be nothing surprising in the discovery that, for minds of a certain constitution, all non-verbal conscious meaning is carried by kinaesthetic sensation or kinaesthetic image. And words themselves, let us remember, were at first motor attitudes, gestures, kinaesthetic contexts.61
Und fünftens soll hier natürlich auf die Leistung und die geschichtliche Rolle der Gestaltpsychologie hingewiesen werden, vor allem auf das Werk Rudolf Arnheims. Seine Analyse von deskriptiven Gebärden, wie in seinem 1969 erschienenen Buch Visual Thinking dargelegt, scheinen mir hier besonders lehrreich zu sein: [D]ie Anschauungsqualitäten von Form und Bewegung [sind] in den Denkvorgängen selber enthalten [. . .], die sich in den Gebärden abbilden, ja [. . .] diese Qualitäten [sind] selber das Medium [. . .], in dem sich das Denken abspielt. Natürlich handelt es sich hier 61 E. B. Titchener, Lectures on the Experimental Psychology of the Thought-Processes, New York 1909, 176 f.
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nicht immer nur um visuelle Eigenschaften. Die Muskelempfindungen beim Stoßen, Ziehen, Vordringen und Widerstandleisten sind ein wesentlicher Bestandteil des Gebärdenspiels.62
E. Gebärden der Zeit Das Entstehen der Gebärdensprache dürfte engstens die Entwicklung unseres Zeitverständnisses beeinflußt haben. Gebärden sind Bewegungen; die Bedeutungen, die durch sie verkörpert werden, kommen ersichtlich in der Zeit zustande. In meinem Aufsatz Time and Communication habe ich zu zeigen versucht, daß Gebärden notwendigerweise sowohl das Erlebnis von ‚vorher‘ und ‚nachher‘ als auch die Erfahrung der Zeit als aus erfüllten Sequenzen bestehend zustande bringen,63 wo letztere Erfahrung etwa zur stoischen Idee der „ausgedehnten“64 Gegenwart führte, oder Jahrtausende später zu dem von James ausgearbeiteten Begriff der „scheinbaren Gegenwart“65, welcher auch in Wittgensteins mittlerer Periode widerhallt.66 Das Mimen67 d. h. die nachahmende Wiederholung von Ereignissen – ich beziehe mich hier auf Merlin Donalds bekannte Theorie – muß ebenfalls ein rudimentäres Bewußtsein der Differenz zwischen Gegenwart und Vergangenheit erwecken; zwischen dem, was man tatsächlich durchlebt, und dem, woran man sich bloß erinnert.68 Wundt schenkte der Zeitlichkeit von Gebärden besondere Aufmerksamkeit: Die Gebärdensprache berichtet Ereignisse genau in der Folge, in der sie erlebt wurden. [. . .] die Zeitfolge der Gebärden [ist] eine Nachbildung der Zeitfolge der Ereignisse [. . .] Zu dieser Folge wird sie aber schon deshalb gedrängt, weil die einzelnen Gebärden in ihren wichtigsten Formen selbst Nachbildungen aufeinander folgender Handlungen sind. So überträgt das Prinzip der zeitlichen Anschaulichkeit nur eine Eigenschaft der einzelnen Gebärden auf deren Zusammenhang.69
62 R. Arnheim, Anschauliches Denken. Zur Einheit von Bild und Begriff (1972), Köln 82001, 116 ff. 63 Vgl. K. Nyíri, Time and Communication, in: Time and History / Zeit und Geschichte, hg. v. F. Stadler / M. Stöltzner, Frankfurt a. M. 2006, 301 – 316. 64 R. Sorabji, Time, Creation and the Continuum. Theories in Antiquity and the Early Middle Ages, Chicago 2006, 25. 65 James, Principles of Psychology (wie Anm. 11), 608 f. 66 Vgl. L. Wittgenstein, Philosophische Bemerkungen. Aus dem Nachlaß hg. v. R. Rhees, Frankfurt a. M. 1964, 98, und Ders., The Big Typescript. TS 213, übers. u. hg. v. C. G. Luckhardt / M. A. E. Aue, Malden, MA 2005, 351. 67 Vgl. M. Donalds Formulierung in: Origins of the Modern Mind. Three Stages in the Evolution of Culture and Cognition, Cambridge, MA 1991, 16: „the emergence of the most basic level of human representation, the ability to mime, or re-enact, events“. 68 Nyíri, Time and Communication (wie Anm. 63) 305 f. 69 Wundt, Völkerpsychologie (wie Anm. 23), 220.
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Wundt kommt freilich auch auf jene Gebärden zu sprechen, die den zeitlichen Ablauf nicht nur widerspiegeln, sondern eben auch bezeichnen. Die Gebärdensprache, hebt er hervor, „pflegt den Begriff, so weit es nur immer geschehen kann, konkret zu gestalten, indem sie durch die besondere Art der Bewegungen andeutet, ob ein Ereignis in naher oder ferner Vergangenheit liege, ob es in naher oder ferner Zukunft geschehen werde“. Wie er dann ferner schreibt, entsteht „die Andeutung der Zeitformen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft durch [ein Hinweisen auf] räumliche Richtungen. Die Assoziation ist hier um so inniger, da eigentlich auch das Räumliche ohne begleitende zeitliche Eigenschaften nicht vorgestellt werden kann. Die hinweisende Bewegung bezeichnet daher in ihrer ursprünglichsten Bedeutung immer zugleich ein Gehen in der angegebenen Richtung, demnach einen zeitlichräumlichen Vorgang“70. Die charakteristischen Gebärden für Vergangenes und Zukünftiges konnte ich oben bereits erwähnen (vgl. zu L’Épée). Als eine neuere Schilderung soll hier nun die Beschreibung folgen, die etwa Corballis gibt. Er bezieht sich des näheren auf die heutige American Sign Language: Past and future are represented in ASL by an imaginary time line, which locates the past behind the signer, the present close to the signer’s body, and the future in front of the signer. The sign for yesterday involves closing the fingers and extending the thumb, with the thumb first touching the cheek and then moving back along the jaw line to the ear. The sign for tomorrow starts the same way, but the hand is moved forward, with the wrist pivoting down so that the thumb ends up facing forward. Future is signed by holding the open hand by the head with the thumb up and palm facing inward, and then moving the hand forward. The further the hand moves, the further into the future is the time period in question.71
Darstellungen für die Ausdrücke ‚gestern‘ und ‚morgen‘ sowie ‚heute‘ und ‚jetzt‘ der Deutschen Gebärdensprache entnehme ich dem Kleinen Wörterbuch von Strixner und Wolf (Abb. 4)72, in dem es einleitend heißt, daß bei den „fast ausschließlich in der Gebärdensprache“ kommunizierenden Gehörlosen „oft [. . .] ihre Vorstellungen und Gedanken von dem vertrauten motorischen Zeichensystem bestimmt [. . .] und ihre stillen Träume [. . .] oft von den lebhaften Bewegungen der Gebärde begleitet“73 sind. Und ganz besonders angesprochen fühle ich mich von den Passagen, mit denen die Autoren ihre Auswahl von den Gebärden der Zeit einführen: Die Zeit ist ein großes Rätsel. [. . .] [S]ie vergeht und vergeht und ist dennoch immer da. Und nun versuchen Sie sich bitte vorzustellen wie ein solch abstrakter Begriff wie ‚Zeit‘ in der Sprache der Gehörlosen darzustellen ist. – Natürlich gibt es Hilfen, die die 70
A. a. O. 197; 226. Corballis, From Hand to Mouth (wie Anm. 28), 122. 72 S. Strixner / S. Wolf, Kleines Wörterbuch der Gebärdensprache, Wiesbaden 52012. 73 A. a. O. 18. 71
Bedeutung und Motorik
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Abb. 4: Deutsche Gebärdensprache (Quelle: Strixner / Wolf [wie Anm. 72]). Zeit in Worte – oder eben Gebärden fassen. Ob ‚Montag‘ oder ‚Stunde‘, [. . .] oder ‚morgen‘ [. . .] – all diese Begriffe können mit Gesten ausgedrückt [. . .] werden. Aber kann die Gebärdensprache auch den Fluss oder die Relation der Zeiten erklären? Für einen Hörenden wird es zunächst seltsam klingen, aber vielleicht darf man vermuten, dass die Gebärdensprache sogar besser dazu geeignet ist, mit dem Phänomen ‚Zeit‘ umzugehen, als gesprochene Worte: Gebärden können langsam und schnell, verhalten und lebhaft [. . .] durchgeführt werden [. . .] Besonders wichtige Aussagen – vor allem wenn sie abstrakter Natur sind – unterstreichen die Hörenden oft mit unbewussten Gesten. Wer sich an der Gebärdensprache versucht, muss auf diese motorische Krücke vielleicht gar nicht mehr zurückgreifen.74.
In meinem Buch Zeit und Bild habe ich mir das Wagnis eines ähnlichen Gedankens erlaubt, indem ich darauf hinwies, dass die Verlegenheit des Augustinus: ‚Was ist also die Zeit? Wenn mich niemand darnach fragt, weiß ich es, wenn ich es aber einem, der mich fragt, erklären sollte, weiß ich es nicht‘, verständlich sei: Denn „er besaß zwar gewisse sich auf die Zeit beziehende perzeptuelle Vorstellungen, verfügte aber nicht – ebenso wenig wie wir heute – über eine in Wörtern faßbare, genaue Definition der Zeit“75. 74
A. a. O. 121. K. Nyíri, Zeit und Bild. Philosophische Studien zur Wirklichkeit des Werdens, Bielefeld 2012, 144 f. Ich akzeptiere in diesem Buch den kognitionswissenschaftlichen Standpunkt, laut dem das menschliche Denken sowohl eine verbale als auch visuelle – allgemeiner: eine perzeptuelle – Dimension hat, und komme zur Schlußfolgerung, daß in unserem Zeitdenken eben die 75
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Abb. 5 (Quelle: Strixner / Wolf [wie Anm. 72]).
Nun gibt es allerdings eine Dimension der Zeit, oder genauer vielleicht: eine vermeintliche Dimension der Zeit, nämlich die Ewigkeit, für die man, wie ich eingangs andeutete, keinen Ausdruck in natürlichen Gebärdensprachen kennt. In seinem Aufsatz Time and Eternity unterschied J. N. Findlay zwischen der Auffassung von Ewigkeit als ‚unbegrenzt langer‘ Zeit einerseits – diese Ewigkeit, meinte er, wäre aus philosophischer Sicht ziemlich uninteressant – und als Zeitlosigkeit andererseits.76 Es ist die letztere Auffassung, die sich anscheinend mit keiner natürlichen Gebärde ausdrücken läßt. Natürliche Gebärdensprachen kennen freilich den Begriff von ‚immer‘, auch das Kleine Wörterbuch stellt die entsprechende Gebärde dar. Sowohl die Deutsche Gebärdensprache als auch etwa die ungarische kennen eine Gebärde für ‚Ewigkeit‘. Diese Gebärde ist aber, ganz offensichtlich, schlechthin mit der Gebärde ‚immer‘ identisch (Abb. 5).
F. Gebetsgesten Natürliche Gebärdensprachen scheinen also keinen Ausdruck für Ewigkeit im Sinne von Zeitlosigkeit zu haben. Gibt es aber nicht eine Klasse von Gebärden, nämlich die Gebetsgesten, die, wie eingangs angedeutet, irgendwie doch das Zeitlose auszusprechen versuchen? In Varieties of Religious Experience macht James die Bemerkung, daß wenn man „alle kirchlichen und theologischen Streitfragen beiseite [läßt], so besteht die Religion [. . .] als Tatsache innerer Erfahrung überall und in allen ihren Entwickelungsstufen in dem Bewußtsein eines Verkehrs zwischen dem Einzelmenschen und der höheren Macht [. . .], perzeptuelle Dimension die bestimmende ist. So setzt dann auch „jede angemessene Zeitphilosophie eine angemessene Bildphilosophie voraus [. . .] Zeit und Bild weisen aufeinander hin, und insbesondere für die Wirklichkeit der Zeit läßt sich nur von der Unmittelbarkeit der Bildbedeutung ausgehend argumentieren“ (a. a. O. 8). 76 Vgl. J. N. Findlay, Time and Eternity, The Review of Metaphysics 32 (1978), 3 – 14.
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an die er sich gebunden fühlt“, zu welcher Bemerkung er noch hinzufügt: „[D]ie Überzeugung, daß durch das Gebet reale Wirkungen ausgelöst werden, ist eben der tiefinnerste Wesenskern aller lebendigen Religion“77. Ich neige dazu, die James’sche Auffassung zu akzeptieren, und kann also auch nicht umhin, die Gebetsgeste gänzlich im Zusammenhang eines realen Zeitablaufs zu deuten. Und es kommt mir hier darauf an, diesen Zusammenhang nicht allein, ja nicht in erster Linie, als einen wortsprachlichen zu sehen. Ich führe meine Lieblingspassage aus Friedrich Heilers 1918 erschienenem Buch Das Gebet an: Wie die Rede nur eine von den Ausdrucksfunktionen des Psychischen ist und ihr stets die Körperhaltung, die Miene und Geste zur Seite gehen, so besteht auch das Gebet nicht nur in gesprochenen Worten, sondern ist immer begleitet von einer bestimmten Körperhaltung, bestimmten Körperbewegungen, einem bestimmten Mienenspiel. Ja, wenn es richtig wäre, daß die ‚Gebärdensprache‘ älter ist als die ‚Lautsprache‘, so könnten wir annehmen, daß der Gebetsgestus älter ist als das Gebetswort, daß das Gebet ursprünglich nur in bestimmten Gebärden bestand, denen erst später, nach dem Fortschritte der Sprache, die Laute und Worte zur Seite treten.78
Bereits ganz am Anfang von Heilers Buch findet sich ein Hinweis auf Die Gebärden der Griechen und Römer, also Sittls Werk. Sittl behandelt hier einerseits „symbolische [. . .] Gesten, die das gesprochene Wort illustrieren“, andererseits „die unwillkürliche [gestikulierende] Begleitung desselben“79, hauptsächlich aber Gebärden, die ganz ohne Wörter eine Haltung ausdrücken. Im Kapitel „Gebärden des Gebetes“ hebt Sittl zwei solcher Gesten hervor. Erstens ein „dem Kriege entstammende[s] Zeichen der Wehrlosigkeit“. Die Römer [. . .] erhoben nicht selten die flachen Hände (‚manus supinas‘) zu den Göttern. Und auch bei den „Griechen [. . .] wird die Ausbreitung der Arme, jenes deutliche Symbol der Ergebung, nicht selten erwähnt. Daß die Richtung derselben der des Auges, welches einer Statue oder dem hohen Himmel zugewandt sein konnte, sich anpaßte, bedarf keines Beweises“80. Einige Seiten später macht Sittl dann die verallgemeinernde Beobachtung, daß „auf der ganzen Welt die Beter ihre Hände zum Himmel emporstrecken“, und daß dies „ein Gemeinplatz der alten Theisten gewesen zu sein [scheint], der wirklich für alle Völker der alten Welt seine Richtigkeit hat“, dem er noch hinzufügt, daß die „Richtung der Arme [. . .] durch die des Blickes bedingt [wird]; sah also der Betende zum freien Himmel, wo er die Götter 77 W. James, Die religiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit. Materialien und Studien zu einer Psychologie und Pathologie des religiösen Lebens [orig. The Varieties of Religious Experience, London 1902], übers. v. G. Wobbermin, Leipzig 1907, 429 f. 78 F. Heiler, Das Gebet. Eine religionsgeschichtliche und religionspsychologische Untersuchung [1918], München 51923, 98. Diese Passage habe ich ebenfalls zitiert in: K. Nyíri, Bild und Gebet, in: Religion als Bild – Bild als Religion, hg. v. Ch. Dohmen / Ch. Wagner, Regensburg 2011, 223 f, 217 – 228. 79 Sittl, Gebärden der Griechen und Römer (wie Anm. 23), 49. 80 A. a. O. 174 f.
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dachte, auf, dann streckte er auch die Hände dorthin in die Höhe“81. Die zweite Gebetsgeste, der Sittl eine besondere Aufmerksamkeit widmet, ist jene der gefalteten Hände, die er ebenfalls als eine Geste der Wehrlosigkeit im Sinne der Ergebung deutet, hinweisend auf die mittelalterliche Formel: „Ich habe meine Hände gebunden und unterwerfe mich der Züchtigung Gottes“82. Dies war auch das Erklärungsschema des für Sittl natürlich nicht unbekannten de Jorio, den ich hier noch zitieren möchte, anhand der englischen Übersetzung seines Werkes: One of the gestures used most among us for showing that someone prays is that in which one combines the two palms of the hands, directing the points upwards. It makes no difference whether the eyes are directed to heaven [. . .] or bowed down towards the ground. [. . .] – The following idea, it seems to us, can show how the hands combined together may be a natural sign that denotes prayer. He that prays asks for help. This can be expressed in words in the following way: ‘Lord, I can do nothing for myself; my hands are tied, help me.’ But he who joins his palms together does nothing other than to put his hands into a state of not being able to act in any way; therefore with such a gesture he says nothing else than: ‘Here are my hands, whatever my efforts may be, they are rendered useless, I have no power myself, I am incapable of helping myself.83
Ein Notizbucheintrag Wittgensteins, Ende 1946 geschrieben, lautet: „Welches bessere Bild des Glaubens könnte es geben, als der Mensch, der mit dem Ausdruck des Glaubens sagt ‚Ich glaube . . .‘?“84 Dieser Eintrag leitet uns zurück zu Wittgensteins eingangs angeführter Redewendung ‚Wenn wir uns einmal beim Jüngsten Gericht sehen‘, die er, ich erinnere an Engelmanns Darstellung, ‚in besonders ernsten Momenten manchen Gesprächs mit einem unbeschreiblichen, nach innen gekehrten Blick seiner Augen, mit gesenktem Kopf und als Bild eines Ergriffenen, aussprach‘, und leitet uns zurück zu der Frage, was denn die Bedeutung jener Redewendung sein mochte. Die Antwort, zu der wir gelangt sind, darf lauten: Die Bedeutung von Wittgensteins Worten besteht im dargestellten Bild selbst, oder genauer: in der Gebärde der Ergriffenheit selbst.
81
A. a. O. 187. A. a. O. 175. 83 De Jorio, Gesture in Naples (wie Anm. 33), 335. Auch Wundt hat die Frage der Gebetsgesten kurz berührt: „Eine hinweisende Bewegung gegen den Himmel kann den ‚Himmel‘ selbst im physischen, oder sie kann ihn im übertragenen religiösen Sinne, das ‚Jenseits‘, ausdrücken, oder sie kann, als eine weitere Variation dieser Bedeutung, auf ‚Gott‘ bezogen werden [. . .] Im ersten dieser Fälle wird die Gebärde im allgemeinen mit einer gleichgültigen Miene ausgeführt, im zweiten mit dem Ausdruck der Andacht, im dritten unter Hinzufügung der Gebetsgebärde“ (Wundt, Völkerpsychologie [wie Anm. 23], 194). 84 Wittgenstein, Philosophie und Psychologie (wie Anm. 16) § 280. 82
‚Axthieb durch die Zeit‘ Zeitriss und Zeitverkehrung im Zeitalter der Fotografie Dieter Mersch A. Schnitt durch Raum und Zeit In seiner philosophischen Betrachtung über die Fotografie – in The World Viewed – schreibt Stanley Cavell, dass das technische Medium die Welt des Bildes zu einem gewissen Ende bringt: Ein Gemälde ist eine Welt, eine Fotografie ist Ausschnitt und Teil von der Welt. Was eine Fotografie ausmacht, ist, dass sie begrenzt ist. Eine Fotografie ist abgeschnitten, nicht notwendigerweise durch eine Papierschneide-Maschine [. . .], sondern durch die Kamera selbst. Die Kamera schneidet sie ab, indem sie den Sichtumfang im voraus festlegt; Schneiden, Abdecken, Vergrößern bestimmen den Umfang [. . .] im voraus. [. . .] Wenn eine Fotografie formatiert ist, dann ist der Rest der Welt weggeschnitten.1
Das Schneiden ist dem Technischen immanent. In ihm realisiert sich die Technizität des Bildes – während die Leinwand des Malers, so Cavell weiter, „eine Barriere“ darstellt, „schirmt“ das technische Medium „mich von der Welt ab“. Schirm und Abschirmung hängen im englischen Ausdruck screen und to screen unmittelbar zusammen; doch ist die Abschirmung zugleich dem technischen Apparat wie der Geste, der Praxis seiner Verwendung eingeschrieben – ich halte mir den Apparat vor den Leib, vor das Auge, schaffe zwischen mir und dem Motiv eine Distanz. Aus diesem sicheren Abstand heraus entnehme ich das Motiv der Welt, ‚ent-schneide‘ es ihr, wie ich es aus ihr herausziehe. Das bedeutet auch: Ich schaffe keine Welt, sondern differiere, grenze aus, tranchiere und setze mit der Gewalt eines Schnitts. Das entsprechende englische Wort, das Cavell für das Herausschneiden gebraucht, lautet cropped, was wörtlich so viel wie ‚Abhacken‘ meint. Die Fotografie hackt einen Ausschnitt aus der Wirklichkeit – ihr Kern ist ein aggressiver Akt, ein Cutting out: eine Herauslösung, die den Raum teilt und so von ihm immer nur einen Aspekt zeigt, der auf sein ande1
St. Cavell, Aus: Die Welt betrachtet [orig. The World Viewed. Reflections on the Ontology of Film, Cambridge, Mass. 1979], in: Ders., Nach der Philosophie. Essays (DZP Sonderband 1), hg. v. K. R. Fischer / L. Nagl, Berlin 22001, 129 – 142; 129; 130 passim.
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res notwendig bezogen bleibt, ohne sichtbar zu sein. Wir bekommen es dann gleichzeitig mit dem Problem des Off zu tun, das André Bazin im Vergleich mit der Malerei so präzisiert hat, dass das gemalte Bild auf den Rahmen bezogen ist, der ein Feld, einen Innenraum eingrenzt – er funktioniere zentripedal –, während das Filmbild – und es ist hier bezeichnend, dass Bazin den Film vom fotografischen Bild her denkt – der Welt einen Zug entnimmt, der stets des Außen, des Abgespaltenen und damit Unsichtbaren bedarf.2 Es funktioniere entsprechend zentrifugal, insofern das Bild erst seinen Sinn durch das erhält, was es nicht zeigt. Kurz: Das technische Medium vollzieht eine Negation; es konstituiert das Bild, indem es sein Anderes, Nichtgezeigtes ebenso ausblendet wie es als Bezugspunkt bewahrt: Das technische Bild bedingt diese Duplizität, ja es verlangt ein Sehen vom Nichtsichtbaren her, weshalb die Fotografie, was immer sie uns sichtbar macht, eine Betrachtung vom Gesichtswinkel der Imagination aus erfordert – andernfalls, welchen Anschein von Indexikalität sie auch immer zu wecken versucht, bliebe sie stumpf und bedeutungslos. Tatsächlich wiederholt Cavell denselben Gedanken Bazins, auf den er sich im übrigen auch bezieht: Das fotografische Feld besitzt keinen Rahmen; seine Grenze umrandet nicht, wie die Malerei, eine Form, die aus ihr entsteht, vielmehr ist das ganze Feld der Rahmen, „die den Rest der Welt“, wie es Cavell formuliert, von uns „fernhält“3. Dasselbe kann von der Zeit gesagt werden. Philippe Dubois hat in seiner Studie Der fotografische Akt die Zeitlichkeit der Fotografie gleichermaßen vom Schnitt her gedacht und dabei das, was vom Schnitt durch den Raum gesagt worden ist, auf den ‚Axthieb durch die Zeit‘ bezogen.4 Zwar hebt Dubois im 4. Kapitel seines Buches, betitelt mit ‚Der Schnitt‘, auf beides – die Durchtrennung von Raum und Zeit – ab, doch wählt er geradezu in Umkehrung zu allen Verräumlichungstheorien der Zeit diese zum Ausgangspunkt und eigentlichen Paradigma seiner Überlegungen, die er umgekehrt erst nachträglich auf den Raum überträgt, sodass der fotografische Raum, den Cavell untersucht, buchstäblich einer primären Verzeitlichung unterzogen wird: „Was zum Schnitt durch die Zeit angemerkt wurde, gilt [. . .] nahezu unverändert auch für den Schnitt durch den Raum“5. Die Metapher, die dabei für ihn das Hauptgewicht trägt, ist der ‚Axthieb‘: Jede Fotografie gleicht, wie man gesagt hat, einem Fallbeil; es versetzt uns nicht nur in eine andere Welt, sondern auch eine andere Zeitstruktur, indem das Geschehen, wie Dubois schreibt, in die „endlose Dauer von Statuen“ verwandelt wird. Es ist bezeichnend, dass in beiden Fällen, sowohl bei Cavell als auch 2 Vgl. A. Bazin, Was ist Film? [orig. Qu’est-ce que le cinéma?, Paris 1958 ff], übers. u. hg. v. R. Fischer, Berlin 2004, 224 – 230. 3 Cavell, Die Welt betrachtet (wie Anm. 1), 130. 4 Vgl. Ph. Dubois, Der fotografische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv (Schriftenreihe zur Geschichte und Theorie der Fotografie 1) [orig. L’acte photographique, Paris 1983], hg. v. H. Wolf, Amsterdam / Dresden 1998. 5 A. a. O. 174.
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bei Dubois, das technische Mittel mit einer Gewalttätigkeit assoziiert wird, die dasselbe sprachliche Bild evoziert: ‚Abhacken‘ bei Cavell, ‚Axthieb‘ bei Dubois. Augenscheinlich wird der Druck auf den Auslöser, der in der Sprache der Fotografen die Assoziation eines Schusses heraufbeschwört, als ebenso plötzlich wie todbringend vorgestellt – denn die fotografische Geste, so Dubois weiter, führe „von der Bewegung zur Immobilität, von der Welt der Lebendigen in das Reich der Toten“6. Der Ausdruck unterstreicht, dass im Unterschied zum räumlichen Schnitt, von der Welt trennt und aus ihr einen Teil abspaltet, die Zeit in ihrer Kontinuität zerschnitten wird: Fotografieren heißt, den Augenblick zu punktieren und die Dauer, das zeitliche Kontinuum in eine diskrete Ordnung zu verwandeln, die die Zeitigung der Zeit, ihre Prozessualität gerade nicht aufbewahrt, sondern ausblendet, sie vernichtet. Der Verschluss, so Dubois, „kappt die Dauer wie mit dem Beil einer Guillotine“7: Fotografieren heißt immer zuerst Schneiden, Ausschneiden, das Sichtbare durchtrennen. Jeder Blick durch den Sucher, jede Betätigung des Auslösers ist [. . .] ein Axthieb, der eine Zone des Wirklichen abtrennt [. . .]. Die ganze Gewalttätigkeit [. . .] des fotografischen Aktes ist zweifelsohne durch diese Geste des Cuts bedingt. Diesen endgültigen, nicht wiedergutzumachenden Schnitt, der allein das Bild, das ganze Bild, das Bild als Ganzes determiniert.8
Deswegen spricht Dubois auch von einem Coup: „In der Fotografie ist alles eine Sache des coup par coup“9. Coup – das ist der Schuss, der Stich, der Schlag, aber auch ein Zug im Spiel, ein Streich. Der Akt des Coups gehört der Ordnung der Performanz an: Er macht aus der Fotografie eine Singularität. Fotografieren bedeutet darum in erster Linie etwas hinsetzen, hinstellen, erzeugen, das es nicht nur in diesem Sinne nicht gibt, sondern das aus jedem Ding einen mit dem Messer gezogenen Aufriss macht: eine Oberfläche, die uns eine Kontur zeigt, weit davon entfernt, ein Lebendiges festzuhalten. Das gilt noch vom Film, soweit seine Bildlichkeit der Fotografie entlehnt ist. Und doch muss man zugestehen, dass die dabei entstehenden Bilder im Ganzen eine vielschichtige und komplexe Beziehung zur Zeit unterhalten, die sich im Akt der Schneidung nicht erfüllt. Immer scheinen sie einmalig; sie reduzieren die Zeit auf eine Serie von Punkten; gleichzeitig fixieren sie die Zeit, stellen sie still, wie die Medusa im Angesicht ihres Blicks auf ewig versteinert. Der Fotografie wohnt, in genauer Umkehrung der Schaffung eines Gedächtnisses, diese Erfahrung des „radikalen Abreißens der Kontinuität“10 inne, wie Dubois sich ausdrückt: Was wir sehen, mag eine einmal gewesene Vergangenheit sein, die uns auf etwas verweist, die 6
A. a. O. 163; 164; 175 passim. A. a. O. 159. 8 A. a. O. 175. 9 A. a. O. 158. 10 A. a. O. 159. 7
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jedoch mit uns und unserer Gegenwart nichts mehr zu schaffen hat: Sie bleibt entrückt, in einen ‚un-vorstellbaren‘ Fluchtpunkt unendlich entfernter Zeit entzogen, welche, was immer sie in Erinnerung zu rufen vorgibt, ihre Bedeutung für uns längst eingebüßt hat. Deswegen heißt es auch, dass die Zeit der Fotografie nicht die Zeit ist. Das bedeutet: Ihr eignet keine Erlebbarkeit. Vielmehr handelt es sich gleichsam um eine Zeitlichkeit ohne Zeitigung. Sie ist in ihrer Temporalität achronisch, denn es scheint, als ob jede Aufnahme, wie es bei Dubois weiter heißt, in die Zeit „ein Loch schlägt“11, um sie unwiderruflich von ihrem Vorher und Nachher abzulösen. Alles schrumpft in ihr vielmehr zu einer Gegenwart ohne Gegenwärtigkeit, deren Blassheit sich auch darin bekundet, dass sie zumeist, ohne wieder hervorgeholt zu werden, in die Archive des persönlichen Vergessens verschwinden. Das vergangene Ereignis, das sie wiederzugeben scheint, verharrt daher im Widerspruch seiner Präsenz – und doch haftet dem Bild ein seltsamer Anachronismus an. Gewiss erblickt man immer, wenn man eine Fotografie betrachtet, ein Gewesenes – die Fotografie kann nicht anders, als ein Vorüber darzustellen, wie Roland Barthes zu recht vermerkt hat, und doch löscht die Fotografie das Bewusstsein und die Erfahrung seiner Vergangenheit aus. Zwar fungiert sie seit je als der Anschein eines Gedächtnismediums – und dennoch bleibt sie ohne Erinnerung, weshalb jedes sogenannte Erinnerungsfoto nur enttäuschen kann und uns in eine seltsame Irritation versetzt: Gleichzeitig hier wie dort tritt die Fotografie in eine andere, abgesonderte Zeit, die in ihrem Stillstand dauert und die Dauer still stellt. Anders ausgedrückt: Das fotografische Verhältnis zur Zeit erweist sich als zutiefst paradox. Es ist die Paradoxie der Zeitlichkeit des technischen Mediums selbst.
B. Diskretierung / Entscheidung Wenn wir auf diese Weise von der Fotografie handeln, dann weil sie uns als Modell oder Leitfaden dient für die Reflexion einer Bildpraxis, die sich radikal von allen vorhergehenden historischen Bildpraktiken unterscheidet. Sie avanciert zugleich zur entscheidenden Praxis der technologischen Epoche, die sie einläutet. Dabei geht es im folgenden um eine Auslotung des Verhältnisses zwischen technischem Medium und der Zeitigung von Zeit, die durch es auf eine grundlegend andere Weise eröffnet wird, um für alle weiteren technischen Bildpraktiken leitend zu werden. Denn während das gezeichnete oder gemalte Bild langsam, Strich für Strich und Linie für Linie aufgebaut wird, um immer wieder korrigiert zu werden, sodass kein Gemälde im Prinzip abgeschlossen ist – Gerhard Richter hat dies auf einzigartige Weise dadurch zum Ausdruck gebracht, dass Bilder ‚nie fertig‘ seien: ‚Sie machen, was sie wollen‘. Demgegenüber ent11
Vgl. a. a. O. 162.
‚Axthieb durch die Zeit‘
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steht die Fotografie auf einen Schlag: Der Fotograf, so Dubois, „hat nur eine Entscheidung zu treffen“12. Die Entscheidung bedeutet schon eine Skandierung oder Unterteilung, die eine Schrift erzeugt. Darum bildet der Schnitt, der Cut, auf den sowohl Cavell als auch Dubois – und mit ihnen viele andere, besonders Filmtheoretiker und Filmemacher wie Bazin, Serge Eisenstein, aber auch JeanLuc Godard und Martin Scorsese – abgehoben haben, einen ersten Schlüssel des Zugangs zum ‚technischen Bild‘ (Flusser), und zwar deshalb, weil er dem Dispositiv selbst innewohnt, denn technische Medien können gar nicht anders als Bilder vermöge einer Praxis primärer Diskretierung herzustellen. Tatsächlich ist der Schnitt, der Riss für die Technizität des Bildes ausschlaggebend – ganz im Gegensatz zur Malerei, die durch das Mal, den Fleck hervorgebracht wird, von dem Jacques Lacan angesichts eines filmisch dokumentierten Malaktes von Henri Matisse gesagt hat, dass er auf den Grund, die Bildoberfläche, ‚niedergelegt‘ werde wie das Ablegen von Waffen und der Verzicht auf Souveränität.13 Es wäre interessant, diesen Punkt genauer auszuarbeiten, was den Rahmen der hier angestellten Überlegungen jedoch sprengen würde: Denn der Fleck, la tache, basiert auf einer direkten Berührung. Zudem unterhält er eine unmittelbare Beziehung zur Materialität der Farbe, die zum Untergrund in ein Verhältnis treten muss und das Bild Punkt für Punkt generiert. Jeder der Punkte nimmt dabei einen Teil der Fläche ein; er ist nicht nulldimensional, sondern immer schon dreidimensional d. h. räumlich, während der Punkt im mathematischen Sinne als Schnittpunkt definiert wird, mithin durch die Kreuzung zweier Linien, die selbst schon aus der Kreuzung zweier Flächen und diese wiederum durch die Kreuzung zweier Räume entstehen, sodass der Raumbegriff überall grundlegend ist, aber den Punkt erst als seine dritte Ableitung oder Reduktion hervorbringt. Als Kreuzung entspringt somit der Punkt wiederum einem Schnitt, d. h. der Markierung einer Differenz, wie sie für das technische Bild konstitutiv ist. Der Fleck, la tache, geht hingegen aus Kontrasten hervor, die immer im Sichtbaren spielen, wohingegen der Schnitt und seine Rasterung die Gestaltung aus dem Nichtsichtbaren vollzieht – denn der Punkt hat eigentlich keinen Ort im Sehen –, um aus dem Bild eine Konstruktivität des Diskreten und Diskontinuierlichen zu machen. Zwei Bildverfahren also, die unterschiedlicher nicht sein können: Organisation eines Sichtbaren aus einander konfligierenden Sichtbarkeiten gegenüber unsichtbaren Einschnitten, deren Ordnung eine Abstraktion bedeutet. Der Schluss widerspricht der Intuition, denn ganz im Gegen12
A. a. O. 163. Vgl. Matisse, ein Film von François Campaux, Text: Jean Cassou [1946]. Dazu J. Lacan, Das Seminar, Bd. XI: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse [orig. Les quatre concepts fondamentaux de la psychanalyse, Paris 1964], übers. u. hg. v. N. Haas, Berlin 31987, 79 – 81. Siehe auch A. Deuber-Mankowsky, Tanzende Striche – Lacan zur Geste, in: Geste. Bewegungen zwischen Film und Tanz (Medien – Kultur – Analyse 5), hg. v. R. Görling / T. Skrandis / St. Trinkaus, Bielefeld 2009, 235 – 242. 13
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satz zur geläufigen Auffassung, die der Fotografie eine Nähe zum Realismus bescheinigt, erweist sie sich als abstrakter als jedes gemalte Bild, weil sie nichts anderes sein kann als eine Marke, ein bedeutungsloser Signifikant, dessen Signifikat sich allererst durch seine vielfältigen Relationen innerhalb einer Matrix konkretisiert. Liegt nicht daran, dass uns zumeist eine einzelne Aufnahme nichts sagt, dass sie wie aus der Zeit gefallen wirkt, ja, dass sie ein stilles Erschrecken, eine Unheimlichkeit evoziert? Gleichzeitig ist – wir haben schon darauf aufmerksam gemacht – in erklärter Opposition zur Zeitspaltung des Cuts von Anfang an in Bezug auf die Fotografie eine zweite und andere Zeitstruktur betont worden: nämlich die Beziehung der Fotografie zur Aufzeichnung, zu Dokument und Archiv. Das technische Bild, wie wir gesagt hatten, ist stets ein Gezeichnetes, ein Markiertes oder Punktiertes – und damit ein von der Gegenwart Abgetrenntes. Schon der Auslöser trennt und übereignet das Bild ebenso unweigerlich einem Zufall, einer Nichtkontrollierbarkeit wie einem Abstand, einer uneinholbaren Vergangenheit, die in den älteren Spiegelreflexkameras auf wunderbare Weise dadurch zum Ausdruck kam, dass das zuvor sichtbare Bild im Augenblick der Auslösung verschwand. Binäre Wahl: Entweder wir sehen, was wir zu fotografieren beabsichtigen, oder wir fotografieren und sehen nichts. Jedes Bild ist daher im Moment des Schnitts schon gemacht; es ist vollbracht, zu Ende: Die Diskontinuität und der Fortriss, das Entreißen der Zeit aus ihrer Dauer bildet die dem technischen Medium notwendig eingelassene Verspätungsstruktur, die – und das ist das Besondere – wiederum im Bild nicht sichtbar werden kann. Sie gehört mithin zur eigentlichen Performanz der Fotografie, die erst dadurch eine Sicht eröffnet. Anders gewendet: Eine nichtsichtbare Temporalisation ermöglicht das Sichtbare; wir erweisen uns hinsichtlich der Temporalität des Bildes, eben weil es sich als Gegenwart behauptet, mit Blindheit geschlagen, denn nicht die Zeit gewährt den Schnitt, sondern umgekehrt der Schnitt die Zeit. Deswegen assoziiert nicht nur Dubois die im Bild eingefangene Person mit einem Leichnam, denn die Fotografie „verweist die Zeit“, d. h. genauer: ihre Zeitigung, ihre Kontinuität, „ins Off “14. Wie es zwei Weisen des Schnitts, eine durch den Raum und eine durch die Zeit gibt, so gibt es auch zwei Weisen des Offs: das Bild-Außen wie das Ereignis-Andere. Analog dem Herausschneiden eines Sichtbaren aus seinem Raum, der es kontextuiert, verdrängt die Fotografie auch die Zeit in ihr Außerhalb, grenzt sie aus und verbannt sie in ein Jenseits des Bildes. Deshalb schreibt Dubois weiter: Der Schnitt durch die Zeit reduziert im fotografischen Akt nicht nur den Webfaden der Zeit auf einen bloßen Punkt [. . .], er ist auch ein Durchschreiten (ja Überschreiten) dieses Punktes zu einer neuen Einschreibung in die Dauer: in eine stillstehende Zeit [. . .].
14
Dubois, Der fotografische Akt (wie Anm. 4), 178.
‚Axthieb durch die Zeit‘
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Ich möchte zeigen, dass in diesem vom Dispositiv eingefangenen und festgehaltenen Moment, in diesem winzigen Bruchteil der Zeit, ein Riss entsteht, eine Spalte, ein unhintergehbarer Abgrund, dass sich in diesem Punkt ein ganzer Raum öffnet und entfaltet [. . .], der das fotografische Subjekt fortwährend antreibt.15
Das lässt sich auch so formulieren: Jedes fotografische Bild generiert eine Lücke, aus der die Zeit ins Unbestimmte abfließt. Die Lücke bezeichnet das Emblem eines Mangels, der gleichzeitig das Begehren weckt, jedem Bild ein weiteres Bild hinzuzufügen, immer mehr Bilder zu erzeugen, die dem gleichen Mangel genügen, eine Fülle und Überfülle der Serialisierung entstehen zu lassen, die durch keine Menge je befriedigt werden kann. Scheint nicht aus diesem Grunde jedes einzelne Foto auch immer schal-immer ein Ungenügen? Man hat vom Klischee, vom Abklatsch gesprochen und damit den Mangel der Bild-Ontologie selber zugeschrieben, als ob es die Bilder seien, die fehlgingen. Auch handelt es sich nicht um den chronischen Mangel der Repräsentation, der, psychoanalytisch gesprochen, die Wiederholung erzwingt und jene Lust am Schauen perpetuiert, die Sigmund Freud als Skopophilie bezeichnete, welche mit keinem Bild je befriedigt oder erfüllt werden kann.16 Vielmehr werden wir im Fotografischen, d. h. im Innern des technischen Dispositivs, mit einer ‚un-heilbaren‘, nicht zu tilgenden Klüftung versehen. Sie gehört der Zeit und ihrem Off, d. h. der Nichtzeit der Bilder an, welche in jedem Augenblick das Nichtsichtbare monströs und die Unsichtbarkeit der Zeitigung übermächtig werden lassen, um die Serie beständig wieder von neuem anzuheizen. M. a. W., die Fotografie – und dasselbe gilt, allen anderslautenden Analysen zum Trotz, auch für den Film – verweigert sich in einem so wesentlichen Maße der Zeit, dass sie nicht aufhören kann, sie einfangen zu wollen. Sie forciert die Reproduktion, um, gekettet an die diskrete Linie, sie Bild für Bild weiterzuschreiben und keine Gelegenheit verstreichen zu lassen, die Welt noch einmal in eine Aufnahme zu verwandeln. Ihr Verlangen nährt sich dabei an keinem Willen zur Kopie, zur Verdopplung der Wirklichkeit – das hieße, die Unerfülltheit des fotografischen Abbildes der Unerfüllbarkeit der Repräsentation zuzuschreiben –, sondern am, wenn auch vergeblichen, Besitz der Zeit und ihrer Endlichkeit. Dessen Unmöglichkeit korrespondiert mit ihrem Entzug: Die diskretierte Zeit folgt einer mathematischen Zerlegung, die sich nicht nur beständig mit der gelebten Zeit in Widerstreit befindet, sondern dessen nachträgliche Konstruktion die Simultaneität der Ereignisse nirgends trifft. Das Begehren der Technik zielt deshalb nicht so sehr auf das Phantasma der Reproduzierbarkeit, wie man im Anschluss an Walter Benjamin beständig wieder von Neuem zu wiederholen gemeint hat, als vielmehr auf eine Hegemonie über die Zeit. Die Wut der Aufzeichnung und der Speicher rührt daher: Alles 15
A. a. O. 170. Freud spricht von ‚Schaulust‘; vgl. S. Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Frankfurt a. M. 1983, 19 f. u. ö. 16
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unterschiedslos festhalten zu wollen, die Archive des Alltags noch zu vervielfältigen, um ebenso sehr das fortgesetzte Sterben, das die Zeit ist, wie ihr Werden unter Kontrolle zu bringen. Sie ist der Technizität der Bildproduktion von Anfang an immanent – Big Data bildet nur ihre äußerste Spitze.
C. Technē und Graphein Konsequent hat deshalb Bernard Stiegler die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Technologie und Zeit aufgeworfen, statt, wie es üblich ist, die mechanischen Effekte, die instrumentellen Funktionen und deren Optimierungen in den Vordergrund zu rücken. In seiner auf vier Bände angelegten und noch unabgeschlossenen Philosophie des Technischen thematisiert er die Fotografie vor allem in Bezug auf die weiter gefassten Gedächtnistechnologien der Menschheit, deren wesentliche Verfahren die Schrift und die Tradition bilden.17 Sammlungen, Archive und ähnliches bilden danach Exterioritäten: Sie materialisieren die Memoria. Insbesondere schließt Stiegler wie vor ihm auch schon Jacques Derrida an die Kulturanthropologie André Leroi-Gourhans an, der die Materialisierung des Gedächtnisses als die eigentliche Bedingung der Menschwerdung begreift.18 Sie fällt mit den Techniken der Engrammierung, der Inskription oder Einschreibung zusammen, die ihr wesentlichen Paradigma wiederum in jener generellen Schriftlichkeit finden, die die Grammatologie untersucht hat: SchriftSein als Fundament, das alle Techniken des graphein, der Markierung und Einzeichnung einschließlich der Malerei und anderer Bildtechniken inkludiert, das gleichzeitig aber auch alle Technik als schriftförmig entlarvt. Es ist darum kein Zufall, dass sämtliche technischen Bildverfahren das graphein oder die grammata in ihrem Namen tragen: Fotografie, Kinematografie, Videogramm und andere, denen im 19. Jh., dem Zeitalter der Fotografie, bekanntlich andere Bildverfahren gegenüberstanden, die das Graphische oder Grammatische gerade ausschlossen: die ‚‑oramen‘, die sich, wie ihr Namen bereits ausdrückt, dem Erlebnis der Sichtbarkeit, ihrer Überwältigungssehnsucht widmeten. Sie waren nicht im eigentlichen Sinne technisch, vielmehr architektonisch oder installativ. Fotografie und Panorama können daher modellhaft als zwei Formen der Bilderzeugung und Bildästhetik gelesen werden: Hier im Sinne einer Ästhetik der Immersion und des Erhabenen, die auf leibliche Anwesenheit setzt, dort als Fortsetzung der klassischen Repräsentationsästhetik, deren ‚Grund‘ nunmehr in Technik selbst besteht. Letztere bringt Zeit und Gedächtnis allererst 17 Vgl. B. Stiegler, Technik und Zeit. Der Fehler des Epimetheus [orig. La faute d’Épimethée, Paris 1994], übers. v. G. Ricke, Berlin / Zürich 2009. 18 Vgl. A. Leroi-Gourhan, Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst [orig. La geste et la parole, Paris 1964 / 65], übers. v. M. Bischoff, Frankfurt a. M. 1987.
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hervor.19 Dass Gedächtnis intrinsisch mit Technik verwoben ist, spitzt Stiegler sogar noch dahingehend zu, dass der Mensch überhaupt der technē bedarf und „ein kulturelles Wesen genau in dem Maße [ist], indem er, ebenso grundsätzlich, ein technisches Wesen ist“20, ja sogar: Die „Technik ist [. . .] die Bedingung von Kultur“21. Beide Aussagen zusammen bergen allerdings eine charakteristische Verschiebung oder Übersteigerung, die von der Performativität der Konjunktion ‚indem‘ zum Grund, d. h. zum ‚Weil‘ übergeht. Denn der erste Satz besagt nicht: Der Mensch ist ein kulturelles Wesen, weil er ein technisches ist, sondern lediglich, dass Kultur und Technik gleichursprünglich sind, ohne ineinander zu fallen. Diese Gleichursprünglichkeit wird wesentlich an die Exteriorisierung der Zeitlichkeit geknüpft, während der zweite Satz vereindeutigt, dass Kultur überhaupt erst durch Technik bedingt ist – eine Bedingung wiederum, die in der Epoche der Technologie in ihre Krise gerate.22 Bleibt letzteres ebenso überzogen wie anfechtbar – es kann nur von einer Verflechtung zwischen Kultur und Technik, nicht aber von einem Vorrang des Technischen, einem Konstituens ausgegangen werden, sowenig wie Exteriorität schon Technik bedeutet –, ist jedoch der entscheidende Punkt der Argumentation Stieglers die Umkehrung der Verhältnisse zwischen Zeit und Gedächtnis, denn das exteriorisierte Gedächtnis repräsentiert nicht die Zeit, vielmehr zeitigt sich diese erst innerhalb dessen Rahmens, sodass das Gedächtnis die Zeit erfindet, nicht umgekehrt. Es gibt also Zeitlichkeit nur als technisch mediatisierte: „Das künstliche Gedächtnis gestattet die Materialisierung der Zeit, ihre Verräumlichung, ihre Speicherung“23 – eine Einsicht, die sich bis zu Lacans Trauma-Theorie zurückverfolgen lässt, soweit dort das Trauma keine gegebene Erinnerung darstellt, die nur vergessen wurde, um alle anderen Erinnerungen zu entstellen, sondern es bildet den immer schon konstruierten Knoten, von dem aus die Erinnerung geschrieben wird. Stiegler konkretisiert den Knoten auf die Exteriorität des Technischen hin – doch erweist sich dabei als maßgeblich, wie die jeweilige Technizität des Gedächtnisses die Zeitlichkeit der Zeit konstelliert, mit anderen Worten, was sie als Dispositiv gleichermaßen eröffnet wie verbirgt. Denn induziert die Schrift die Produktivität ihrer immer neuen Lesbarkeit, verhält es sich mit der Fotografie anders. Nicht eigentlich 19 „Was dieses Gedächtnis zum menschlichen Gedächtnis macht, d. h. seine Geistigkeit, das ist die ihm inhärente Möglichkeit, sich von Generation zu Generation zu übertragen. [. . .] Das menschliche Gedächtnis ist untrennbar mit Technik verbunden“, heißt es bei Stiegler weiter; vgl. B. Stiegler, Denken bis an die Grenzen der Maschine (Transpositionen 35), übers. v. K. Wojtyczka, hg. v. E. Hörl, Zürich / Berlin 2009, 52; 53 passim) – ja, das Gedächtnis selbst ist Technik im Sinne einer technē. 20 A. a. O. 60. 21 A. a. O. 66. 22 A. a. O. 78 ff. 23 A. a. O. 45.
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als Gedächtniskunst, sondern als eine Mnemotechnologie kommt sie ab dem 19. Jahrhundert bekanntlich in Gestalt einer – wie Charles Baudelaire es ausgedrückt hat – „Industrialisierung des Bildes“24 zu sich, und zwar so, dass ihre massenhafte Verbreitung von Anfang an mit dem Anspruch der Kausalität und der Spur versehen wurde, deren Index einen Weg zum Realen selbst zu bahnen schien. Mit der Einführung der Daguerreotypie am 7.1.1839 vor der Akademie der Wissenschaften in Paris feierte sie sich denn auch selbst als ein ‚mächtiges Werkzeug der Wissenschaften‘, wie sie gleichzeitig ihren kulturindustriellen Status dadurch bezeugte, dass sie den Alltag mit Legionen von Portraits und Gruppenaufnahmen bevölkerte, die das ereignislose Leben aufzuwerten und in seiner vermeintlichen Authentizität zu dokumentieren trachtete. Schon früh ist diese außerordentliche Fähigkeit der Fotografie zur Aufbewahrung und Indexikalisierung der Historie bemerkt worden, etwa wenn Ende des 19. Jahrhunderts der amerikanische Philosoph George Santayana vor dem Harvard Camera Club erklärte, die Fotografie sei eine „Kunst“, die das „sinnliche Material unserer Erfahrung“ wiederherstelle: „[D]ie Kamera kann jede gewünschte Zahl von Bildern empfangen und weder die neuen überlagern noch verdrängen sie die alten Eindrücke. Hier haben wir ein genaues visuelles Gedächtnis, einen Speicher all der Fakten, die das Gehirn notwendigerweise vergessen und verwechseln muss. [. . .] Das spezielle Vermögen der Fotografie ist die Speicherung der visuellen Erscheinung [. . .], deren Gedenken auf diese Weise erhalten bleibt“25. Doch in dem Maße, wie die Fotografie die Zeit durch den Schnitt punktiert, bekommen wir es gleichermaßen mit einer punktierten Erinnerung zu tun: einer Dispersion oder Streuung, die die Leistung der Erinnerung, nämlich durch Verdichtung zu interpretieren, von vornherein vereitelt. Das bedeutet, die Fotografie bringt das Gedächtnis als eine gleichgültige Serie hervor, wie auch Susan Sontag kritisiert hat;26 sie bildet buchstäblich ein Archiv ohne Erinnerung – denn die Erinnerung entsteht nur dort, wo der Schnitt, die die Zeit im Bild einreißen lässt, übersprungen wird. Und es ist nicht von ungefähr, dass wir hier auf denselben Begriff stoßen, der unsere Überlegungen von Anfang an geleitet hat: den Schnitt oder Einschnitt, den Axthieb, der jede Lebendigkeit verweigert, der die Zeit zäsuriert und nur dort einen Sinn oder Gedächtnis stiftet, wo von einer Ordnung von Schnitten, einer Reihe von Zäsuren ausgegangen wird, und wo die Folge des Einzelnen in die Sukzession gestellt wird und das Nacheinander eine ‚Er-Zählung‘ erzeugt – wo mit anderen Wort die Zeit als Linie hervorgebracht und absolut gesetzt wird. Die technische Zeit, wie das technische Bild 24
Vgl. Neue Geschichte der Fotografie, hg. v. M. Frizot, Köln 1998, 10. G. Santayana, Fotografie als kollektives Gedächtnis, in: Texte zur Medientheorie, hg. v. G. Helmes / W. Köster, Stuttgart 2002, 126 – 130; 128; 129. 26 S. Sontag, Über Fotografie. Essays [orig. On Photography, New York 1977], übers. v. M. W. Rien, Frankfurt a. M. 1980. 25
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sie ‚richtet‘ und ‚ausrichtet‘, ist die immer schon linearisierte, eine mathematische und mathematisierte Zeit, worauf ebenfalls Stiegler insistiert: Als Technologien der ‚analogen Synthesis‘ von visueller und auditiver Wahrnehmung, der noch schärfer die ‚digitale Synthesis‘ an die Seite gestellt werden kann, kann das Bild – ebenso wie die Audition – einen Teil der Vergangenheit wie ein Alphabet speichern und exakt wiedergeben, jedoch so, dass dabei die Beziehung zwischen Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart allererst geregelt und folglich auch codiert und manipulierbar gemacht wird. Es handelt sich folglich um ein Regime, das Stiegler „orthothetisch“27 nennt – eine Formatierung des Sichrichtens und damit auch der Abrichtung von Zeiterfahrung. Deshalb stiften die einzelnen Fotografien auch kein Gedächtnis – sie registrieren vielmehr und legen insofern nur stumme Zeugnisse ab, die uns solange fremd anblicken, bis sie in eine Serie gestellt, kontextiert und in ein Narrativ gebracht worden sind. Gewiss lassen sich auf einzelnen Fotografien eine Reihe von disparaten Zeitparametern ablesen: die Spezifizität der Kleidung zu einer bestimmten Epoche, typische Inszenierungsformen des Interieurs, Formen des Verkehrs usw. – statische Merkmale, die ihr Werden erst enthüllen, wenn sie mit anderen Fotografien aus derselben Zeit verglichen und mit Dokumenten unterschiedlicher Herkunft konfrontiert werden, wie es die jüngere Geschichtswissenschaft begonnen hat. Das bedeutet, dass die Fotografie, um der Memoria zu dienen, der Serialisierung bedarf, die wiederum ihr ureigenstes Medium ist; aber die Serialisierung bedeutet nicht einfach nur die Wiederholung, psychoanalytisch gesprochen, ihre ‚Wieder-‘ oder ‚Rückholung‘, vielmehr funktioniert sie einzig durch den Abstand, den Spalt, der die Bilder allererst zueinander in eine Relation und Reihung, d. h. eine Anordnung bringen. Das technische Medium kann nicht anders, als die Zeit in Ordnung zu bringen, d. h. auf eine bestimmte, nämlich lineare Weise zu strukturieren und folglich in einen Graphen zu verwandeln. Deswegen assoziieren wir die Fotografie als technisches Verfahren auch mit jener Mathematisierung, die im Digitalen gleichsam zu sich kommt. Zwar handelt es sich in Bezug auf die einzelnen Aufnahmen im ersten Fall um einen physikalischchemischen Prozess, der kausal verläuft, und im zweiten um einen Messvorgang, der analytisch verläuft, doch ist eben nicht das, was die Fotografie zu zeigen vorgibt, relevant, sondern die Differenzialität der Reihung, ihre Strukturalität, die der Erfahrung von Zeitlichkeit allererst einen Platz verleiht. Die Fotografie gibt uns auf diese Weise ihre Zeitordnung vor – und das gilt im gleichen Maße auch für den Film, das Zeitbild und dessen Maschinerie, welche Jean-Luc Godard in seiner Histoire de Cinema mit der der Schreibmaschine verglichen hat, die das Prinzip der Linearität universell macht, um die Manipulation der Zeit entlang der einen linearen Achse vorwärts wie rückwärts vorzunehmen. 27
Stiegler, Grenzen der Maschine (wie Anm. 19), 77.
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D. Die fotografische Diachronie Wir haben damit zwei grundlegende Zeiterfahrungen mit Bezug auf die Fotografie herausgeschält: der Schnitt einerseits und die davon abgeleitete Zeit der Aufzeichnung andererseits, die die Zeit tendenziell der mathematischen Sukzession annähert, die sich aus dem Schnitt und seiner Aufeinanderfolge herleitet. Die Fotografie macht damit aus der Zeit ein Schema, einen Algorithmus der Wiederholung; deswegen ist vor allem – bei Benjamin ebenso wie in jüngeren Medientheorien, allen voran bei Friedrich Kittler – die Fotografie als Medium der Reproduktion beschrieben worden, das aber hier zugleich zu einem Medium der Macht, der Ermächtigung über die Zeit wird. Die Reproduktion, die Wiederholung erlaubt insbesondere eine Umkehrung der Zeit, ihre Reversibilität statt Irreversibilität, wie sie besonders drastisch der frühe Film dokumentiert hat, wenn bei den Brüdern Lumière der Abriss einer Mauer umgekehrt und durch den Trick der Kamera aus ihren Trümmer wieder unversehrt hervorkommt. Kittler spricht hier von der neuen Möglichkeit einer „Zeitachsenmanipulation“28, die gestattet, die Zeit technisch in ein Spiel zu bringen – doch kann man von einer Zeitachsenmanipulation nur sprechen, wenn die Zeit gleichsam schon axialisiert und in jene von Henri Bergson gescholtene Linie transformiert worden ist, die auch rückwärts gelesen werden kann. Diese zwei Zeitdimensionen der Fotografie – der Schnitt und die stets invertierbare Linearität – sind in der Tat grundlegend; doch wäre sie durch eine dritte Zeitdimension noch zu ergänzen, die m. E. weit eher als beiden vorangegangenen von einem primären Interesse für unser Thema ist und welche mit ihnen unmittelbar verbunden ist. Denn die technische Reproduktion verdoppelt nur die Zeit durch den Schnitt, die Linie und die Exteriorität der Speicher. Entscheidend ist jedoch, dass diese verdoppelte Zeit rekursiv auf sich selbst bezogen und in Schleifen organisiert werden kann. Sie eröffnet so zwischen der fotografischen Zeit und der gelebten Dauer eine Beziehung, die nicht anders als monströs bezeichnet werden kann. Denn sie impliziert, dass die Zeit ihr Kontinuum einbüßt und wir tatsächlich mit zwei radikal getrennten Zeitlichkeiten konfrontiert sind, die sich mit einem Mal zusammenziehen, sodass sie – jenseits eines Übergangs – sich gleichsam im Sprung miteinander amalgamieren. Deswegen stellt sich die Frage nach der Zeit in der Fotografie – man könnte auch sagen: in technischen Bildmedien überhaupt – auf eine weit dramatischere Weise als die bislang besprochenen. Denn das Foto kippt aus der Temporalisierung und stellt uns einem gebrochenen Zeitverlauf gegenüber: die Zeit der Aufnahme, die in der Vergangenheit liegt, und die Zeit des Blicks, die sie gewahrt und der Gegenwart angehört – und 28
Vgl. S. Krämer, Friedrich Kittler – Kulturtechniken als Zeitachsenmanipulation, in: Medientheorien. Eine philosophische Einführung, hg. v. A. Lagaay / D. Lauer, Frankfurt a. M. / New York 2004, 201 – 220.
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wir können nicht umhin, beide in der gleichen Zeit, d. h. im Wortsinne simultan zu lesen. Die Formulierung: mit einem Mal bedeutet hier, dass die Fotografie in der Lage ist, beide Zeitigungen im selben Augenblick miteinander zu vermischen und in der Betrachtung des Bildes unmittelbar eine Irritation zwischen Präsenz und Nichtpräsenz auszulösen. Diese Irritation ist ebenso unheilbar wie dem technischen Bildmedium selbst imprägniert. Sie bildet eine genuine Frucht der Technizität des Verfahrens. Und sie tritt zum ersten Mal mit der Fotografie hervor, doch trifft sie gleichermaßen für Film, Video und Digitalisierung zu – und zwar deshalb, weil die Fotografie bzw. die technischen Bildmedien mit dem Index einer Indexikalität versehen sind, der zugleich zwei miteinander inkompatible Indizes in Eins setzt. Dabei rekurriere ich auf folgende Erfahrung: Ich sehe mich auf einer Fotografie, die vor zwanzig Jahren aufgenommen wurde. Ich sehe mich als jüngeren Menschen in meinem Alter. Was heißt hier ‚Ich‘, was ‚Mich-sehen‘? Was ich sehe, sind zwei Zeitlichkeiten meiner selbst, die einander fremd gegenüber stehen. Die Überlagerung hinterlässt unweigerlich einen Schrecken, weil an ihr das Altern, d. h. die nicht darstellbare Zeitigung meiner selbst sichtbar wird und ich beginne, die Maske meines Todes zu erahnen. Die These ist, dass es eine solche Erfahrung niemals zuvor gab. Es ist die Erfahrung einer zeitlichen Verdopplung wie zur gleichen Zeit einer zeitlichen Entfremdung, deren Möglichkeit dem Schnitt, dem ‚Axthieb durch die Zeit‘ selbst entstammt. Sie steht außerhalb der Frage der Repräsentation. Denn das Altern, das Sterben ist keine Sache der Repräsentation; sie bleibt unsichtbar, darstellbar allein durch Schnitt und Serialisierung. Die Serie aber setzt die Wiederholung voraus, den Augenblick der Verdopplung, des Auseinandertretens, der Trennung, welche dem Verstreichen der Zeit eine äußere Markierung verleihen. Was wir sehen, ist diese Markierung. Sie macht zugleich sichtbar, was sich dem Einzelbild entzieht, was wir nicht einmal gewahren können, wenn wir uns täglich im Spiegel betrachten, um unseren unaufhörlichen Verfall zu beobachten. Das Altern ist eine Latenz; jedes Bild aber offenbart etwas anderes als eine Latenz, die wiederum nur in der Differenz, dem Abstand, gleichsam zwischen den Sprüngen aufscheint. Dieses Aufscheinen ist eine Funktion fotografischer Diachronie. Sie macht sichtbar, was nicht sichtbar ist, wovon wir nicht einmal einen Begriff haben und deren Gewahrung im höchsten Maße eine Beunruhigung oder Unheimlichkeit anhaftet. Anders ausgedrückt: Indem ich ‚mich‘, ohne wissen zu können, was ich über die Dauer der Zeiten ‚bin‘, über die Distanz von zwanzig Jahren hinweg anschaue, blicke ‚ich‘ ‚mich‘ in einer fremden Zeit an, werde von ‚mir‘ weggestoßen, trete ‚mir‘ selbst als ein Anderer gegenüber, der ‚mich‘ vor das Antlitz meiner Vergänglichkeit stellt: Differenz inmitten des Lebens, die ‚mich‘ auf ‚meinen‘ Tod verweist. Paradoxer formuliert: Im Vertrautesten selbst – ‚ich‘ – gewahre ich mein Leben so, wie es sich einerseits in meiner Erinnerung abzeichnet und wie sie andererseits die Indexikalität des Bildes vor zwanzig Jahren aufgezeichnet hat, um nachhaltig
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meine Imagination wie mein Gedächtnis zu verstören. Was mich, als Lebenden, aufbewahrt und zum Element eines Speichers macht, dem, wie es Bazin formuliert hat, das Moment einer Einbalsamierung anhaftet, die mich vor dem Tod zu retten und unsterblich zu machen versucht, stößt mich zugleich aus ‚meinem‘ Leben heraus, bringt mich als Lebenden um mein Leben. Wir stoßen hier auf das Motiv einer Thanatologie des Fotografischen, wie es oft variiert worden ist. Berühmt sind die Passagen in Roland Barthes’ Die helle Kammer, durchtränkt mit jener Melancholie, die der Betrachtung der Fotografie eines schönen Jünglings entspringt, die, wie Barthes sich ausdrückt, die Gewissheit auslöst, dass er sterben wird.29 Demgegenüber behandelt Dubois die Fotografie als Effigie, als Totenmaske, denn mit einem „scharfen Skalpell“, so Dubois, enthaupte die Fotografie den Abgebildeten, „um ihn aufzubewahren und vor seinem eigenen Verlust zu bewahren“30. Dubois thematisiert so in Umkehrung zu Bazins Topos von der Fotografie als Mumifizierung das Festhalten des Lebens im Bild des Toten. Dennoch beziehen beide – Bazin wie Dubois – diese Beziehung der Fotografie zum Tod weiterhin auf die Repräsentation: Wie Insekten im Bernstein, so Dubois, erscheinen wir „lebendigen Leibes“ gefangen und buchstäblich „in natures mortes verwandelt“31. Und doch geht es um weit mehr, weil die Praxis des Einfangens und Fixierens nachhaltige Folgen für unsere Identität und unser Selbstverständnis als Menschen, ja für den Begriff des Humanums selbst auslöst, denn die Fotografie, so die weitere These, präsentiert uns das Gesicht eines Sterbens, ohne dass wir fähig wären, diesem Gesicht, dem Bild zu antworten. Nirgends gibt die Technik uns das ‚Werk-Zeug‘ oder ‚Rüst-Zeug‘ an die Hand, mit dem, was sie hervorbringt, angemessen umgehen zu können; vielmehr eignet ihr eine genuine Blindheit – oder besser: eine Erblindung vor ihren eigenen Folgen. Anders gewendet: die Fotografie macht aus ‚mir‘ einen Sterbenden, aber nicht eigentlich einen ‚Sterblichen‘, der zu Sterben versteht. Vielmehr bleibt mir im Angesicht meiner Jugendlichkeit nur die Scham; liegt sie nicht darin, dass wir nicht anders können, als unsere eigenen Bilder aus anderer Zeit mit dem Augenaufschlag einer verhaltenen Scheu zu betrachten? Gewahrung meines Alterns, meines Verfalls bedeutet somit nicht nur die Erblickung einer diachronen Zeitlichkeit, sondern auch die Gewahrung meiner selbst als Sterbenden ohne Sterblichkeit – denn ich kann nicht umhin, mich in meinem damaligen Leben aus meiner heutigen Sicht und der Verfassung des Jetzt zu erblicken. Ich sehe folglich meine Grenze im Zustand einer Grenzenlosigkeit – wie die ‚Techno-Logie‘ überhaupt das Phantasma einer Grenzenlosigkeit enthält, die Unmöglichkeit des ‚unmöglich‘, wie es Martin Heidegger 29 R. Barthes, Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie [orig. La chambre claire, Paris 1980], übers. v. D. Leube, Frankfurt a. M. 1989. 30 Dubois, Der fotografische Akt (wie Anm. 4), 165; vgl. auch 166 ff. 31 A. a. O. 165.
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treffend ausgedrückt hat.32 Darin liegt zugleich ihr an-ethisches Moment. Die Fotografie ist in diese Anethik verwickelt, denn das Neue technischer Bildmedien in Bezug auf die Zeit liegt weniger in neuen Möglichkeiten der Archivierung und Zeitachsenmanipulation, auch nicht in der Verwandlung des Abbildes in eine Mumie, sondern in der Sichtbarmachung des Sterbens, ohne dass wir das Sterben selbst vermöchten. Im Gegenteil: Je mehr wir uns mit unseren technischen Bildern den Blick verstellen, je mehr scheinen wir den Tod, der sich uns in ihnen aufdrängt, zu verdrängen, um allein die Phantasmagorien der Gegenwart zu feiern. Die Fotografie, die uns die Bildaufzeichnung und die Genauigkeit des Bildgedächtnisses jenseits der Metapher beschert hat, vertreibt uns vielmehr ganz offensichtlich umso eindringlicher aus der Geschichte, wie die Ubiquität digitaler Bilder, Videos oder Handyfilme bezeugt, die sich instantan speichern, übertragen und umcodieren lassen, ohne die geringste Relevanz zu besitzen oder im Gedächtnis zu verbleiben. Das technische Bild konfrontiert uns auf diese Weise mit dem Bild eines fortgesetzten Sterbens, das uns umgekehrt an die Gegenwart kettet und das Bild, im Augenblick des absoluten Archivs, zu einem Medium pausenloser Selbstpräsentationen depraviert.
E. Vorgezogene Sterblichkeit Das wird in seiner ganzen Mehrdeutigkeit nirgends besser zur Anschauung gebracht als in Federico Fellinis L’intervista von 1987, dem auch Bernard Stiegler in seinem Aufsatz Verkehrte Aufzeichnungen und photographische Wiedergabe eine Reihe von Anmerkungen gewidmet hat.33 Im dunklen Schein der Nacht fährt nacheinander ein Filmteam vor, sorgt eine Hebebühne mit Schwenk arm für Licht und Kamera, entwickelt der alternde Regisseur vor den jungen Journalisten, die mit ihm ein Interview führen wollen, die Visionen des Kinos, indem er tastend durch seine Hände vor ihren Augen nichts als eine Imagination entstehen lässt. Ununterbrochen wird in diesem Film gefilmt, filmen die Interviewer das Filmteam, diese die Interviewer, fotografieren die Schauspieler andere Schauspieler und Passanten die Schauspieler usw. Doch besteht 32 Vgl. M. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), Gesamtausgabe, Bd. 65, hg. v. F.‑W. von Herrmann, Frankfurt a. M. 1989, 442: „Das einzig Unmögliche“, heißt es hier, „ist das Wort und die Vorstellung ‚unmöglich‘“, aber dieses Unmögliche beginne das Technische selbst heimzusuchen, ohne es als solches je denken zu können. An anderer Stelle heißt es ähnlich: „[D]ie Gänze des Berechenbaren ist nicht die Summe des Berechneten, auch nicht das Produkt des vorgreifend in die Rechnung gestellten Restlosen. Die Gänze des Berechenbaren ist das Unberechenbare selbst“; vgl. M. Heidegger, Das Ereignis, Gesamtausgabe, Bd. 71, hg. v. F.‑W. von Herrmann, Frankfurt a. M. 2009, 83. 33 Vgl. B. Stiegler, Verkehrte Aufzeichnungen und photographische Wiedergabe, in: Ethik der Gabe. Denken nach Jacques Derrida, hg. v. M. Wetzel / J.‑M. Rabaté, Berlin 1993, 193 – 210.
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einer der Höhepunkte des Films in der Ankunft der ebenfalls gealterten Stars Marcello Mastroianni und Anita Ekberg, die besonders in Fellinis La dolce vita ihre großen Rollen verkörpert hatten und die nur noch Erinnerung sind und von ihren Erinnerungen leben. Das gilt vor allem für das einstige Sexsymbol Anita Ekberg, die, ein Schatten ihrer selbst, sich selbst spielt und dabei noch einmal die berühmte Brunnenszene in La dolce vita an sich vorüberziehen lässt. Es ist genau diese Verdopplung, die Unentscheidbarkeit eines Spiels im Spiel, das gleichzeitig nicht Spiel ist, mit der wiederum der Film spielt: ein Spiel der Illusion, worin ein hauchdünner subtiler Bruch in der Illusion für deren Scheitern sorgt. Fellini, der große Zauberer des Kinos, lässt den Schauspieler Marcello Mastroianni als Zauberer auftreten, der mit viel Theatereffekt eine Leinwand sich entfalten lässt, hinter der, wie in einem Schattenspiel, das einstige FilmLiebespaar noch einmal tanzt, um sich dann in die Rolle des Zuschauers zu begeben und in Sentimentalitäten zu schwelgen. Der Situation, die so entsteht, erzeugt dabei das, wovon im Grunde jeder Film lebt: Es handelt sich nicht allein um eine Kunst der Illusionserzeugung, die eine endlose Kette von Geschichten entfacht, sondern die Illusion wird auch durch jene stille Melancholie begleitet – jedenfalls solange es sich um ein analoges Medium handelt –, wie sie gleichermaßen für die Fotografie gilt: die Durchtränkung, wie Bernard Stiegler von Roland Barthes her hinzufügt, mit dem ‚So ist es gewesen‘. Jeder Film ist, was immer er sonst noch zeigt, die Dokumentation einer Vergangenheit – und es ist genau diese Dokumentation, die Fellinis L’intervista in dieser Szene thematisch macht. Man spürt im übrigen dieselbe Melancholie, wenn man sich Filme vergangener Stars aus den 1960er, 70er Jahren anschaut und das Unwiederbringliche erblickt, das uns abermals unmittelbar auf den Tod verweist. Dann deutet das unvermeidbar Melancholische auf das, was den meisten Untersuchungen über den Schauspieler zwischen Figur, Rolle, Paradoxie und Starkult fehlt: die nicht zu tilgende Spur der Alterität. Es wäre gewiss verfehlt zu sagen, dass in L’intervista in diesem Augenblick Realität und Fiktion zusammenstoßen und sich vermischen; vielmehr sehen Marcello Mastroianni und Anita Ekberg eine Vergangenheit, die für sie dieselbe unerbittliche Unwiderruflichkeit hat wie für den Betrachter: Ihre Differenz ist für einen Moment suspendiert. Was beide sehen, ist nicht reine Nostalgie, sondern sie sehen in der Gegenwart ihr eigenes Vorüber, das in ihnen eine schmerzliche Betroffenheit auslöst, die sie nur dadurch ertragen können, dass sie hastig einen Grappa herunterstürzen. Stiegler kommentiert: „Anita sieht sich endlich, man müsste schreiben ‚am Ende‘. [. . .] Anita sagt: [. . .] ich bin sterbend [. . .]. Ich bin sterblich“,34 was der Film, oder besser: die filmische Wiederkehr der berühmten Szene hartnäckig dementiert. Was daher Fellinis L’intervista zeigt, 34
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ist ein Spiel, das sich als Spiel in dem Maße zurücknimmt, wie es sich spielend wiederholt. Keine Ebene des Spiels verlässt das Spiel – und doch entsteht auf allen Ebenen einen Brüchigkeit, die hinter dem Spiel etwas anderes aufscheinen lässt: die Vergangenheit und in der Gewahrung der Vergangenheit die Endlichkeit, den Tod. Das lässt sich auch so ausdrücken: Im Spiel erkennen die Figuren etwas, was buchstäblich aus der Rolle fällt, und dieses Aus-der-Rolle-Fallen ist die Wunde der Sterblichkeit, die sie – als Menschen – überhaupt erst konstituiert. Ihr Stachel zeugt dabei nicht nur vom Begehren und seiner Verfehlung, seiner Unerfüllbarkeit, die derselben Endlichkeit genügt; er deutet auch weniger auf die Beschädigungen hin, die wir uns zuziehen, soweit wir leben und genießen, sondern er verweist auf den Stich jener Vergeblichkeit oder Nutzlosigkeit, wie wir sie im Angesicht des Todes erblicken. Die Verletzung, die Marcello Mastroianni und Anita Ekberg, und zwar jeder für sich auf seine Weise, erfahren, und die dieselbe Verwundung ist, die uns gestattet, diese Szene in ihrer Erschütterung angemessen zu verstehen und mitzufühlen, ist das Erkennen der eigenen Hinfälligkeit, des vorgezogenen Todes, das uns kein anderes Medium erlaubt als die Fotografie und der Film. So ist das, was beide erfahren, zugleich das, was sich wie in einem Spiegel in der Fassungslosigkeit der jungen Zuschauer der Szene abzeichnet und die nichts anderes als unsere eigene Fassungslosigkeit ist. Man kann diese Szene nicht sehen, ohne zu erschrecken und ohne inwendig die Tränen als eigene zu empfinden, die Ekberg, der Schauspielerin, aus den viel zu stark geschminkten Augen fließen und über die Wangen rinnen. In diesem Sinne fungieren die beiden Schauspieler als unsere Doppelgänger, wie wiederum die Interviewer, die sich vor ihnen niedergelassen haben, um die Szene, die sie allein aus dem Kino kennen, unsere Doppelgänger sind, deren Reaktion von den beiden Schauspielern ihrerseits mit Genugtuung betrachtet wird. Die Erfahrung der Alterität mischt sich auf diese Weise in die Erfahrung der Zeit als etwas ein, was gerade nicht erfahrbar ist, aber Bedingung jeder Erfahrung ist. Wenn daher vom Realismus des Films oder des Kinos gesprochen werden kann – dann wäre er hier zu suchen: Ein Realismus, den es nur durch die Trauer der verstreichenden Zeit hindurch gibt. Deswegen heißt es auch bei Stiegler: Für uns vermag La dolce vita nicht einfach eine Fiktion zu sein: Es ist ein Film, der in der Realität existiert, die die unsere ist. [. . .] In L’intervista verdoppelt, erscheint diese Fiktion auf einer manifesten Ebene real, eine Realität der Fiktion, die den Gegensatz überwindet und umfasst, in dem wir uns befinden, wenn wir uns beim Anschauen eines Films sagen: Das ist nur Kino.35
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A. a. O. 206.
Farbtafeln
Farbtafel zu: Michael Moxter ‚Einleitung‘
Abb. 1: N. Poussin, Le Bergers d’Arcadie [1637 / 38] (Quelle: http://zeno.org – Contumax Gmbh & Co. KG).
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Farbtafeln zu: Gottfried Boehm ‚Die Sichtbarkeit der Zeit‘
Abb. 2: S. Botticelli, Verleumdung des Apelles [1494 / 95].
Farbtafeln zu: Gottfried Boehm ‚Die Sichtbarkeit der Zeit‘
Abb. 3: P. Klee, Scheidung Abends [1922].
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Farbtafeln zu: Gottfried Boehm ‚Die Sichtbarkeit der Zeit‘
Abb. 8: P. Mondrian, Broadway Boogie Woogie [1942 – 43].
Farbtafeln zu: Gottfried Boehm ‚Die Sichtbarkeit der Zeit‘
Abb. 12: Mechanische Räderuhr [nach 1300].
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Farbtafeln zu: Gottfried Boehm ‚Die Sichtbarkeit der Zeit‘
Abb. 13: Astronomische Räderuhr, Rostock [15. Jahrhundert].
Farbtafeln zu: Gottfried Boehm ‚Die Sichtbarkeit der Zeit‘
Abb. 15: Astrolabium (Sternengreifer).
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Farbtafeln zu: Gottfried Boehm ‚Die Sichtbarkeit der Zeit‘
Abb. 16: G. de Chirico, Solitude (Melancholia) [1912].
Farbtafeln zu: Gottfried Boehm ‚Die Sichtbarkeit der Zeit‘
Abb. 18: G. Morandis, Natura morta [1963].
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Farbtafeln zu: Gottfried Boehm ‚Die Sichtbarkeit der Zeit‘
Abb. 19: N. de Staël, The Grey and Blue of Figure.
Farbtafeln zu: Gottfried Boehm ‚Die Sichtbarkeit der Zeit‘
Abb. 20: J. S. Cotán: Quince, Cabbage, Melin, Cucumber [c. 1602], San Diego (The San Diego Museum of Art, gift of Anne R. and Amy Putnam).
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Farbtafeln zu: Gottfried Boehm ‚Die Sichtbarkeit der Zeit‘
Abb. 21: C. Twombly, Tulips (I) [1985].
Farbtafeln zu: Petruschka Schaafsma ‚Telling Images‘
Abb. 1: Rembrandt van Rijn, The Holy Family with Angels [1645], St Petersburg.
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Farbtafeln zu: Petruschka Schaafsma ‚Telling Images‘
Abb. 2: Rembrandt van Rijn, The Holy Family with Painted Frame and Curtain [1646], Kassel.
Personenregister Kursivgesetzte Seitenzahlen verweisen auf Anmerkungen Adolf, Adam 151, 153 Alberti, Leon Battista 43 Anderson, Bent 31 Aristoteles 17, 39, 120, 121 Armstrong, David F. 171, 173 Arnheim, Rudolf 162, 176, 177 Assmann, Jan 30, 68, 118 – 121 Augustinus 32, 61 – 69, 71 – 81, 83, 84, 179 Bartelmus, Rüdiger 138 Barth, Karl 152 Barthes, Roland 186, 196, 198 Baudelaire, Charles 192 Bazin, André 88, 99, 100, 184, 187, 196 Belting, Hans 19, 105, 106 Benjamin, Walter 189, 194 Bergson, Henri 194 Blanchot, Maurice 20, 21, 25 Blumenberg, Hans 1, 23 Blümle, Claudia 10 Boehm, Gottfried 8, 12, 19, 24, 25, 27 – 29, 32, 38, 40, 43, 50, 55, 56, 144 – 148, 150, 153, 155, 157, 163, 204 – 214 Bœspflug, Francois 108 Bonnemann, Jens 33, 34, 85, 89, 100 Bossart, William 100 Borst, Arno 54 Brachtendorf, Johannes 68 Bredekamp, Horst 6, 10 Browning, Don 158 Brumlik, Micha 4 Bunting, Ian 90 Burckhardt, Jacob 155 Burkert, Walter 121 Busch, Werner 110, 116 Byre, Calvin 130
Cabestan, Philippe 95 Campaux, François 187 Campe, Rüdiger 55 da Caravaggio, Michelangelo Merisi 18 Casey, Edward S. 87, 90, 92 Cassirer, Ernst 5 – 8, 23, 61, 174 Castoriadis, Cornelius 31 Cavell, Stanley 183 – 185, 187 Celmins, Vija 56, 57 Cézanne, Paul 41 Christin, Olivier 108 Cignon, Cyril 26 Cohen, Hermann 17 Collon, Dominique 121, 127 Condillac, Étienne 168 Corballis, Michael 168, 173, 174, 178 Critchley, Macdonald 166, 167 Cusanus, Nikolaus 40 Dalgarno, George 166 Damast, Thomas 94, 167 Danesi, Marcel 167 Darwin, Charles 171, 172, 174, 175 de Goya, Francisco 30, 115, 144 De Jorio, Andrea 169, 173, 182 de l’Epée, Charles-Michel 168 de Staël, Nicola 56, 212 Degas, Edgar 50, 51 Delacroix, Eugène 41 Deleuze, Gilles 3, 4, 43 Derrida, Jacques 3, 190, 197 Descartes, René 62, 64, 65, 72 Deuber-Mankowsky, Astrid 187 Dillen, Annemie 149 Dionigi, Francesco 67 Dohrn-van Rossum, Gerhard 50 Donald, Merlin 173, 177
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Personenregister
Drury, Maurice O’Connor 163 Dubois, Philippe 184 – 188, 196 Edzard, Dietz 128 Ego, Beate 141 Eisenstein, Sergei 187 Engelmann, Paul 161, 182 Erlemann, Hildegard 151 Euklid 43, 82 Fellini, Frederico 37, 197, 198 Findlay, John Niemeyer 180 Fink, Eugen 86, 87 Flasch, Kurt 62 Flaubert, Gustave 85, 101 Fónagy, Iván 174 Foucault, Michel 1 von Freiberg, Dietrich 68 Freud, Sigmund 4, 23, 189 Friedrich, Caspar David 26, 30, 109 – 112, 114 Gadamer, Hans-Georg 113, 114 Galton, Francis 162, 175 Gärtner, Hans 134 Gauger, Hans-Martin 174 Geiger, Lazarus 173 Gentilucci, Maurizio 174 George, Andrew R. 122 Gertz, Jan C. 136 Giuliani, Luca 119, 120, 127, 129, 131 Godard, Jean-Luc 187, 193 Gombrich, Ernst 42 Goodman, Russell 164, 173 Gregor der Große 107, 108 Grimm, Jacob / Wilhelm 66, 79, 83 Grünbaum, Abraham 162 Guattari, Felix 43 Hartenstein, Friedhelm 20, 30, 118, 125, 127, 128, 131, 135 – 138 Hartmann, Klaus 25 Hauerwas, Stanley 157 Haverkamp-Begemann, Egbert 154 – 156 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm 17, 24, 25, 29, 63, 108, 109 Heidegger, Martin 3, 29, 61, 94, 196 Heiler, Friedrich 181
von Hochheim, Eckhart 68 Hoeps, Reinhard 29, 30, 104, 108, 110, 112 Hofmann, Hasso 19 Hofmann, Werner 115 Hölderlin, Friedrich 64 Husserl, Edmund 16, 34, 61, 86, 87, 89, 92, 94 – 96, 98 Ihde, Don 52 Immendorf, Jörg 10 Ingarden, Roman 86, 87, 100 Jacob, Benno 139, 140 James, William 164, 171, 177, 180, 181 Jastrow, Joseph 31 Kaegi, Werner 155 Kandinsky, Wassily 27, 44, 45 Kant, Immanuel 6, 8, 25, 64, 67, 68, 72, 76, 81, 83 Kantorowicz, Ernst 10 Keel, Othmar 121 Kemp, Wolfgang 43, 155 Kendall, Amos 170, 171 Kendon, Adam 169, 173 Kisser, Thomas 27 Kittler, Friedrich 194 Klee, Paul 1, 11, 12, 26, 41, 42, 46, 47 – 49, 205 Koschorke, Albrecht 151, 152, 159 Krämer, Sibylle 174, 194 Krauss, Samuel 139 Kreuzer, Johann 5, 32, 61 – 63, 68, 74, 75, 78 Krois, John Michael 5 – 7 Kruse, Otto F. 169 Kuehl, James 96 Kugel, James 139 Lacan, Jacques 187, 191 Lange, Armin 139 Lange, Carl Georg 164 Lange, Günter 108 Latacz, Joachim 129 Leibniz, Gottfried Wilhelm 24, 65, 197 Lentes, Thomas 108 Leonardo da Vinci 43
Personenregister
Leroi-Gourhans, André 190 Lesch, Walter 87 Lessing, Gotthold Ephraim 5, 16, 21, 22, 27, 40, 41, 119 Lévinas, Emmanuel 4, 36 Lévi-Strauss, Claude 121 Lumière, Auguste / Louis 194 Luther, Martin 108 MacIntyre, Alasdair 157 Malcolm, Norman 163 Mallery, Garrick 162, 167, 172 Malraux, André 20 Mann, Heinz H. 52 Marin, Louis 2, 3, 11 – 20 Marrou, Henri-Irénée 61 Maul, Stefan 128 McNeill, David 173 Meister Francke 112 Mercier, Jacques 44 Merleau-Ponty, Maurice 16, 162, 172, 174 Mersch, Dieter 27, 35, 36, 163 Mondrian, Piet 28, 46 Monet, Claude 20 Moortgat, Anton 121 Morandi, Giorgio 29, 56 – 59 Moxter, Michael 42, 136 Natorp, Paul 8 Newman, Barnett 26, 107 Nietzsche, Friedrich 174 Nitz, Genoveva 151 Nyíri, Kristóf 34, 35 Orthmann, Winfried 126 Oswald, Wolfgang 136 – 138 Ovid 39 Peirce, Charles Sanders 5 – 7, 42 Petrarca, Francesco 67 Platon 62, 64, 73, 77, 166, 173 Pochat, Götz 42 Propp, Vladimir 121 Quintilian, Marcus 166 Rabinowitz, Isaac 137 Réau, Louis 150
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Rembrandt van Rijn 26, 31, 145, 153 – 160, 215, 216 Richards, Ivor A. 164, 165 Richter, Gerhard 186 Richter, Klemens 151 Ricœur, Paul 23, 93, 136, 142 Rodin, Auguste 50 Rorty, Richard 1 Rousseau, Jean-Jacques 168 Russell, Bertrand 165, 180 Ryle, Gilbert 7 Sachs, Heinke 150, 153 Sallaberger, Walther 122 Sánchez-Cotán, Juan 58, 59 Santayana, George 192 Sartre, Jean-Paul 21, 33, 34, 36, 85 – 103 Schaafsmaa, Petruschka 31, 32, 49 Schleiermacher, Friedrich 27, 111, 166 Schmalz, Eduard 169, 170, 172 Schön, Erhard 50 Schöne, Wolfgang 104, 111 Schrott, Raoul 122 Schukowski, Manfred 53 Schulz, Martin 8, 9 Scorsese, Martin 187 Seidl, Ursula 124, 126 – 128 Serres, Michel 54 Sicard, Abbé 169 Sittl, Karl 167, 172, 181, 182 Spadoni, Carl 168 Squire, Michael 130, 132 – 135 Steymans, Hans Ulrich 123, 126 Stiegler, Bernard 190, 191, 193, 197 – 199 Stock, Alex 106 Stoellger, Philipp 25, 40, 42 Stokoe, William 166, 169, 173 Streeck, Jürgen 173 Strixner, Stefan 178 – 180 Taine, Hippolyte 162, 175 Taylor, Charles 64 Theissing, Heinrich 42 Theodor von Samos 135 Tigay, Jeffrey 122 Tillich, Paul 29 Titchener, Edward 176 Tolstoi, Lew 163
220 Tomasello, Michael 34 Tugendhat, Ernst 7 Tümpel, Christian 154 Turner, William 41 Twombly, Cy 60 Tylor, Edward 169, 170 Utzschneider, Helmut 136, 137, 138 Vernant, Jean-Pierre 135 Vico, Giambattista 167, 168 Vitali, Lamberto 59 Waldenfels, Bernhard 87 Wallace, Alfred 174
Personenregister
Watteau, Jean-Antoine 26 Westerkamp, Dirk 22 – 26 Wiesing, Lambert 25, 33, 86 – 88, 98 – 100 Wilcox, Sherman 171, 173 Wittgenstein, Ludwig 2, 31, 34, 81 – 84, 161 – 165, 177, 182 Wolf, Serona 178 – 180 von Wright, Georg Henrik 163 Wulf, Silke 63 Wundt, Wilhelm 167, 172, 177, 178, 182 Wunenburger, Jean-Jacques 5 Zimmermann, Heidy 122, 139, 140, 141