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German Pages 279 [292] Year 2003
Bert Kasties J. M. R. Lenz unter dem Einfluß des frühkritischen Kant
Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Begründet als
Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker von
Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer
Herausgegeben von
Ernst Osterkamp und Werner Röcke
23 (257)
W G DE
Walter de Gruyter · Berlin · New York 2003
J. M. R. Lenz unter dem Einfluß des frühkritischen Kant Ein Beitrag zur Neubestimmung des Sturm und Drang
Bert Kasties
W DE G Walter de Gruyter · Berlin · New York 2003
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 3-11-017700-5 ISSN 0946-9419 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © Copyright 2003 by Walter de Gruyter G m b H & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Sigurd Wendland, Berlin
Für Anni, Britta und Nils
,Der Geist des Künstlers wiegt mehr als das Werk seiner Kunst." Lenz: Das Hochburger Schloß, 1777 (DHS, 754)
„[...] der Gebrauch der Vernunft ist nicht unser Vorwitz, sondern unsere Pflicht, ja der Zweck der Schöpfung selbst[.]" Kant: Vorlesung über Metaphysik (M, 344)
Als Sr. Hochedelgebornen der HERR PROFESSOR KANT den 21 sten August 1770 für die Professor-Würde disputierte
Mit echterm Ruhm, als unbesiegte Sieger Nur groß an Glück, am Herzen wild als Tiger, Durch Hart und Wut und unerhörtes Schlachten Zu haschen trachten; Mit echterm Ruhm, als mancher Filz bezahlet, Der mit des Reimers feiler Demut prahlet, Dem Strohmann gleich, den man mit Lappen decket Und Kinder schrecket; Mit echterm Ruhme wird der Mann belohnet, In welchem Tugend bei der Weisheit wohnet, Der Menschheit Lehrer, der, was er sie lehret, Selbst übt und ehret, Des richtig Auge nie ein Schimmer blendte, Der nie die Torheit kriechend Weisheit nennte, Der oft die Maske, die wir scheuen müssen, Ihr abgerissen. Da lag der Orden und des Hofes Ware, Und Kriegeszeichen, Turban und Tiare, Der Priestermantel, Schleier, Kutten, Decken, Die sie verstecken, Und sie stand nackend. Abscheu und Gelächter Ward ihr zu Teile. Aber die Verächter Des schlechten Kittels und berauchter Hütten Samt ihren Sitten Sahn staunend dort, sie, die den Glanz der Thronen Verschmähet, dort die hohe Weisheit wohnen, Die, an Verstand und Herzen ungekränket, Dort lebt und denket.
Schon vielen Augen hat er Licht gegeben, Einfalt im Denken und Natur im Leben Der Weisheit Schülern, die er unterwiesen, Mit Ernst gepriesen: Mit reiner Lust ihr Leben angefüllet, Weil sie den Durst nach Weisheit, den er stillet, Doch nimmer löschet, glücklicher als Fürsten, Zeitlebens dürsten: Den Tod mit Rosen und Jesmin gezieret, Voll neuer Reize ihnen zugeführet, Daß sie den Retter aus des Lebens Schlingen, Vertraut umfingen. Stets wollen wir durch Weisheit Ihn erheben, Ihn unsern Lehrer, wie er lehrte, leben Und andre lehren: unsre Kinder sollen Auch also wollen. Ihr Söhne Frankreichs! schmäht denn unser Norden, Fragt ob Genies je hier erzeuget worden: Wenn Kant noch lebet, werdt ihr diese Fragen Nicht wieder wagen. Lenz, 1770
Inhalt Einführung
1
Erster Teil Geistige Voraussetzungen und Lehrjahre in Königsberg
33
Erstes Kapitel: Pietistische Wurzeln I. Der Vater - Revision eines Stereotyps II. Neureformatorische Grundlagen Individuelle Bibelexegese 45 - Pietistische Historie 46 - Erziehungsideal 47 - Erziehungspraxis 48 - Pietistische Mission 52 Lenzens schulische Ausbildung 55
35 35 44
Zweites Kapitel: Bei Kant I. Als Student in Königsberg Studiendauer 61 - Studieninhalt 62 - Studienende 67 II. Kants 'kopernikanische Wende' Zum Kritizismus 69 - Der Begriff der Welt 71 III. Der Lehrplan IV. Die Unterrichtspraxis Die Kompendien 76 - Lehrmethode 77 - Über Philosophie 80 Forschend lernen 80 V. Die Vorlesungsmitschriften Editionsversuche 86 - Rezeption 87
58 58 68 73 75
85
Zweiter Teil Literarische Konsequenzen
93
Erstes Kapitel: Phasierung des Œuvres
95
Zweites Kapitel: Vernunfterkenntnis und praktische Vernunft Kritik der Begriffe und Entwurf einer allgemeinen Sittenlehre
105
I. Elementarbestimmungen: Empfindung, Raum ... und Vernunft - Der Primat der Moral Empfindung vs. Gefühl, Leidenschaft, Begierde 107 - Zeit und Raum 115 - Der Begriff von Gott 118 - Philosophieren 120 - Verstand 121 - Vernunft 123 - Apriorische Erkenntnis / Zweck der Philosophie 125 - Praxis der Moral 126 - Das sittliche Ideal 128 II. Komponenten einer transzendentalen Sittenlehre 1. R e i z und Sünde: Erbsünde 131 - Das Schöne: Reiz der Begierde 137 - Geschlechtstrieb und Ehestand 140 - Empfindsame Liebe 147 2. G e s e t z und F r e i h e i t : Gesetze 149 - Gutes / böses Handeln 153 - Freiheit 159 - Denken und Sprache 161 - Freies Handeln 168 3. M o r a l und G l a u b e : Leiden, Vollkommenheit, Moral, Glückseligkeit 172 - Moral, Religion und Vernunft 180 - Theologie vs. Religion 183 - Gott / Jesus, Glaube 185 - Tod 193 - Bewertung der Bibel 199 4. M e n s c h und E r z i e h u n g : Natur und Mensch 201 - Genie 204 Erziehen statt unterrichten 208 - Besserung der Welt 219 Drittes Kapitel: Transzendentale Ästhetik und pädagogisches Kunstverständnis Der Prediger 221 - Forderung nach einer ethischen Kunsttheorie 224 - Schamhaftigkeit und allegorisches Frauenbild 228 - Die Aufgabe der Kunst 232 - Die Aufgabe des Poeten 243
105
131
221
'Sturm und Drang' - Ausblick auf ein verändertes Epochenverständnis
249
Anhang
261
Anmerkungen zur Zitierweise Siglen Literaturverzeichnis Register
262 263 267 277
Einfuhrung Nicht sowohl die Erkenntniß selbst, sondern die Methode zu philosophiren, muß unterrichtet werden; [...] Die Philosophie muß nicht nachgeahmt werden, denn zur Nachahmung gehört ein Bild ohne Fehler. [...] Jemandes Gedanken nachahmen heißt nicht Philosophiren, sondern man muß selbst denken und zwar a priori. [...] Die Philosophie handelt eigentlich von den Regeln des richtigen Gebrauchs vom Verstände und der Vernunft. [...] Sowenig als ein wahrer Christ würklich existiert, eben so wenig hat auch ein Philosoph in diesem Sinne ein Daseyn. Sie sind beide Urbilder. Ein Urbild [...] soll bloß zur Richtschnur dienen. Kant: Vorlesung über Philosophische Enzyklopädie (PE, 6ff)
I
Im August 1770 verfaßt der 19-jährige Student Jakob Michael Reinhold Lenz in Königsberg eine Ode auf seinen Dozenten Immanuel Kant,1 die weit mehr als eine rhetorisch ausgefeilte Geste der Ehrerbietung darstellt. Denn in seinen Versen legt der junge Dichter ein glühendes Bekenntnis zur Person Kants und den von ihr vermittelten Erkenntnissen ab - und gibt so Auskunft darüber, wie nachhaltig sie zur 'Richtschnur' für sein Denken und Handeln geworden sind. Seinen Enthusiasmus begründet Lenz in erster Linie nicht etwa mit speziellen philosophischen Lehrinhalten. Statt ihrer hebt er vor allem die auch von vielen anderen Zeitgenossen belegte Besonderheit Kants hervor, sich in Leben und Lehre gleichermaßen nur der Wahrhaftigkeit verpflichtet zu fühlen, also Denken und Handeln in eins zu setzen; nicht zuletzt auch deswegen, um unter Verzicht auf jeglichen Dogmatismus gerade durch das eigene Beispiel für die 1
Lenz: Als Sr. Hochedelgebornen der Herr Professor Kant den 21 sten August 1770 für die Professor-Würde disputierte. (Künftig abgekürzt „DHP".) - In: Jakob Michael Reinhold Lenz. Werke und Briefe in drei Bänden, hrsg. von Sigrid Damm, Frankfurt am Main 1992, künftig abgekürzt „WB"; Bd. 3, S. 83f. Das Gedicht entstand anläßlich der Berufung des bereits 46-jährigen Kant zum Professor der Logik und Metaphysik am 21. August 1770. Bereits seit 1755 war er als Magister Dozent an der Königsberger Universität, wobei dieser Titel mit dem heutigen Dr. phil. vergleichbar ist. Für seine Promotion hierzu hatte er am 17. April 1755 eine lateinische Dissertation, die naturphilosophische Abhandlung De igne, eingereicht, der vier Wochen später das Rigorosum gefolgt war sowie am 12. Juni seine feierliche Promotion im Auditorium maximum der Universität. Schon am 27. September des gleichen Jahres habilitierte er sich mit der Schrift Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio.
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Einführung
Richtigkeit seiner Lehre zu werben. Auf diese Weise - so Lenz - habe Kant es nicht nur verstanden, durch seine Erkenntnisse „vielen Augen [...] Licht" zu geben, sondern er habe darüber hinaus seine Schüler nachdrücklich zum rechten Gebrauch ihrer Verstandeskräfte (zur „Einfalt im Denken")2 sowie zu einer ungekünstelten und wahrhaftigen Lebensführung (zu „Natur im Leben") angeleitet. Dies vor allem habe sie zur geistigen Freiheit befähigt, sie also in die Lage versetzt, ihren „Durst nach Weisheit" kraft eigenen intellektuellen Vermögens zu 'stillen' (vgl. DHP, 84). Lenz betont, dieses 'Stillen' sei jedoch nicht etwa als 'Löschen' des 'Durstes' mißzuverstehen, denn dies käme einem Auslöschen des Verlangens nach Erkenntnis gleich. Aber genau in diesem Verlangen, in dem bei ihm von Kant geweckten und wach gehaltenen unaufhörlichen Verlangen nach weiterer Erkenntnis, in der einmal entfachten, stetig brennenden philosophischen Neugierde erkennt der junge Lenz nicht nur einen wesentlichen Lehrerfolg seines Dozenten, sondern das eigentliche Qualitätsmerkmal eines sinnerfüllten und darum glücklichen Lebens. So habe Kant das Dasein seiner Schüler mit „reiner Lust [...] angefüllet, / Weil sie [jene Lust] den Durst nach Weisheit, den er [Kant] stillet, / Doch nimmer löschet", auf daß jeder einzelne der von seinem Lehrer derart geistig Erweckten fortan in einem Zustand „glücklicher als Fürsten" zeitlebens nach weiterer Erkenntnis „dürsten" - nicht müsse, sondern dürfe (DHP, 84). Mit diesem Urteil verdeutlicht Lenz seine produktive Rezeption von Kants Verständnis der Philosophie als einer Methodenlehre für stete Erkenntniserweiterung. Denn anstelle eines vorgeblich fertigen Systems, dessen Hervorbringen sein Dozent für undenkbar gehalten hat, erkennt auch er einen individuellen und f r e i e n Prozeß des Philosophierens als Ausgangspunkt und Bedingung jeglicher philosophischer Erkenntnisaneignung, - ein Prozeß, der lediglich von den n a t ü r l i c h v o r g e g e b e n e n Regeln des Vernunftgebrauchs, von jenem als 'Einfalt des Denkens' apostrophierten geistigen Zustand geleitet werde. Diese Anschauung basiert auf der obersten Forderung der Aufklärung, der einzelne Mensch möge sich seines eigenen Verstandes frei von der Dominanz eines anderen bedienen. Doch hat Kant seinen Schüler weit über dieses Postulat von der t h e o r e t i s c h e n Selbständigkeit des einzelnen hinausgeführt, indem er es durch die Forderung der Einheit von Denken und Handeln 2
Der Begriff Einfalt darf in diesem Zusammenhang nicht als abwertend im Sinne von Begrenztheit bzw. Unvernunft mißverstanden werden, sondern bedeutet - gemäß seinem Gebrauch durch Kant - Simplizität, also Ungekünsteltheit und Natürlichkeit. Mit der 'Einfalt im Denken' bezieht Lenz sich auf die dem Menschen naturlich gegebenen Verstandeskräfte, die es gemäß den von seinem Dozenten aufgezeigten Regeln zu nutzen gelte. Bei Kant fand der Begriff der Einfalt nicht zuletzt auch bei seinem Werben für einen einfachen Lebensstil stete Verwendung, etwa wenn er in seinen Reflexionen nachdrücklich eine „Einfalt in Bedürfnissen" jedweder Art propagiert. - Vgl. Kants Werke. Akademie-Ausgabe, Bd. XV, Reflexionen zur Anthropologie, 3. Abt., handschriftlicher Nachlass, 2. Bd., Berlin/Leipzig 1923, S. 888.
Einführung
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in die p r a k t i s c h e Selbständigkeit überfuhrt und mit den Prinzipien seiner um zirka 1768 entwickelten und bereits 1770 in großen Zügen fertiggestellten kritizistischen Erkenntnistheorie fundiert hat.3 Damit schuf der Königsberger die philosophischen Grundlagen, um dem Individuum die Perspektive wirklicher Selbstbestimmung zu eröffnen, es instand zu setzen, der 'selbstverschuldeten Unmündigkeit'4 zu entfliehen. Dies setzte als Grundbedingung zunächst eine Lenz offensichtlich elektrisierende Betonung des Freiheitsbegriffs voraus, den Kant in seinem handschriftlichen Nachlaß auch als das „Vermögen" des Menschen bezeichnet, sich - statt durch weltliche oder geistliche Gängelung - „durch die intellektuelle Willkür allein zu bestimmen",5 um der Umklammerung durch seine „dreyfache Unmündigkeit"6 zu entrinnen. Doch warnte Kant davor, dieses Vermögen der Freiheit als Einladung zu rein willkürlichen Handlungen mißzuverstehen, auch lade es nicht zu einer egozentrischen Weltaneignung ein. Vielmehr müsse der einzelne sich durch den freien Gebrauch des Vernunftvermögens die notwendige Anleitung zum praktischen Handeln selbst erschließen, wobei das auf diese Weise erkannte Regelwerk - nach seinem Dafürhalten - von den seit jeher vom M e n s c h e n u n a b h ä n g i g e x i s t i e r e n d e n Moralgesetzen bereitgehalten werde, deren für alle Individuen gleichermaßen kategorische Gültigkeit vom einzelnen aus freien Stücken zu erkennen und anzuerkennen sei. „Tugend" müsse also „bei der Weisheit wohnefn]" (DHP, 83), wie Lenz in seinem Gedicht apodiktisch formuliert und seinen Dozenten dabei als Verkörperung dieses Ideals feiert. In diesem Sinne beschwört Lenz denn auch den wegbereitenden Charakter seines Dozenten, den er als leibhaftige 'Richtschnur' ftir ein Dasein als freiheitliches und moralisch handelndes Individuum erkennt und entsprechend würdigt. So habe Kant sich auch stets unbeeindruckt von den die Ständegesell3 4
5 6
Vgl. Erster Teil, Zweites Kapitel, Π „Kants 'kopernikanische Wende'". Vgl. seine Beantwortung der Frage Was ist Au fklärung?, die im Dezember 1784 in der Berliner Monatsschrift erstveröffentlicht wurde. In: Kants Werke (Akademie Ausgabe), Bd. VIII, Abhandlungen nach 1781, Berlin/Leipzig 1923, S. 33-42. Kant in seinen nachgelassenen Schriften, zitiert nach Karl Vorländer: Immanuel Kant. Der Mann und das Werk, 3. Aufl., Hamburg 1992, Π, S. 354. Als diese drei bezeichnete der Philosoph die h ä u s l i c h e , die b ü r g e r l i c h e sowie die f r o m m e Unmündigkeit. Hierüber führte er aus, wir Menschen würden bislang so erzogen, „als wenn wir Zeitlebens [sie!] unmündig bleiben sollen, nicht selbst denken, sondern anderer Urtheile Folge zu leisten, nicht selbst zu wählen, sondern nach Beyspielen". „Wir werden nach Gesetzen gerichtet, die wir nicht alle kennen können [...], Wir sind dadurch so unmündig geworden, daß, wenn dieser Zwang auch aufhöret, wir uns doch nicht selbst regieren können." „Andere, welche die Sprache der heiligen Urkunden verstehen, sagen uns, was wir glauben sollen; wir selbst haben kein Urtheil. An die Stelle des natürlichen Gewissens tritt ein künstliches, welches sich nach der Sentenz der Gelehrten richtet, und an die Stelle der Sitten und Tugend treten Observanzen [sie!]. Die Bedingung einer allgemeinen Verbesserung ist Freiheit[.]" - In: Kants Werke. Akademie-Ausgabe, Bd. XV, Reflexionen zur Anthropologie, 3. Abt., Handschriftlicher Nachlass, 2. Teil, Berlin/Leipzig 1923, Nr. 1524, S. 898f.
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schaft seiner Epoche dominierenden (Lenz bedrückenden) Institutionen und ihren Dogmen gezeigt, von „des Hofes Ware" und der des ,,Priestermantel[s]". Denn anstatt deren Herrschaftsanspruch blind anzuerkennen, habe Kant sich in seinem Anspruch nach unbedingter Wahrhaftigkeit nur den durch Vernunft erschlossenen und auf eine höhere Ethik ausgerichteten Erkenntnissen verpflichtet gefühlt, die er auch jederzeit ,,üb[e] und ehr[e]" (DHP, 83). Diese im besten Sinne lutherische Standhaftigkeit mache ihn zu einem bleibenden Vorbild, dem es nachzueifern gelte, weshalb Lenz gegen Ende seines Gedichtes im Namen von Kants Schülern denn auch beteuert, er wolle den Philosophen fortan nicht nur durch eigene „Weisheit [...] erheben", sondern auch andere in diesem Sinne erziehen und unterweisen, um sie in gleicher Weise aus ihrer Unmündigkeit zu befreien. Fortan wolle er wie Kant „lehrte [...] leben / Und andre lehren", auf daß „unsre Kinder sollen / Auch also wollen" (DHP, 84).
II Als Lenz dieses Versprechen gibt, nähert sich sein viertes und vorletztes Studiensemester in Königsberg dem Ende zu. Offenbar bereits seit dem ersten Semester hatte er Lehrveranstaltungen Kants besucht, dessen Kollegia zusehends zu seinem Studienschwerpunkt gerieten und das ursprünglich gewählte Fach, die evangelische Theologie, in den Hintergrund drängten.7 Doch obgleich diese biographische Einzelheit eigentlich seit jeher hätte aufmerken lassen müssen, da sie auf eine ungewöhnlich intensive Auseinandersetzung mit den philosophischen Erkenntnissen Immanuel Kants schließen läßt, wurde ihr von der literarhistorischen Forschung nur wenig Beachtung geschenkt. Vermutlich auch deswegen, weil in der breiteren Öffentlichkeit Kants philosophisches Hauptverdienst, die Entwicklung des Kritizismus, für gewöhnlich auf das Erscheinen der ersten seiner drei Kritiken im Jahre 17818 terminiert wird und die diesem epochalen Ereignis nicht direkt vorhergehenden Jahre pauschal seiner sogenannten vorkritischen, kulturhistorisch weniger bedeutenderen Schaffensperiode zugeschlagen werden; eine für die Beurteilung der geistigen Grundlagen Lenzens folgenreiche Fehleinschätzung, denn Kants Durchbruch zum Kritizismus, der die Überwindung des Leibniz-Wölfischen Weltverständ-
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Zum Vergegenwärtigen der Intensität eines damaligen Studiums sei erläutert, daß Kant je Semester bis zu fünf thematisch verschiedene Vorlesungen gehalten hat, die jeweils vier Wochen-Zeitstunden umfaßten und oft von zum Zwecke der Repetition gedachten sogenannten 'Privatissima' begleitet wurden; und dies - da Semesterferien in der heutigen Form unbekannt waren - bei einer durchschnittlichen Vorlesungsdauer von insgesamt 20-22 Wochen. Siehe hierzu Erster Teil, Zweites Kapitel, III „Der Lehrplan". Kant: Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Originalausgabe herausgegeben von Jens Timmermann, Hamburg 1998, künftig abgekürzt „KrV".
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nisses markiert, fällt unmittelbar mit dem Beginn der Studienzeit des jungen Dichters zusammen. Dessen ungeachtet werden die von Lenz in Königsberg verbrachten Jahre in der einschlägigen Sekundärliteratur allenfalls am Rande erwähnt, ist der Einfluß der Kantschen Philosophie auf sein literarisches Werk bislang noch nicht Gegenstand einer eigenständigen wissenschaftlichen Untersuchung gewesen. Hiervon macht auch die wohl am breitesten angelegte der neueren Publikationen zu Lenzens Leben und Werk, die 2001 erschienene, sehr sorgfaltig den aktuellen Forschungsstand reflektierende Studie von Georg-Michael Schulz keine Ausnahme,9 in der - den traditionellen Forschungsansichten gemäß dem Studium des Dichters lediglich wenige Zeilen gewidmet sind. Zwar fehlt nicht als Zitat der Hinweis des Zeitzeugen Johann Friedrich Reichardt, Lenz habe tatsächlich „fast nur ausschließlich" (Schulz, 24) Veranstaltungen von Kant besucht, doch bleibt diese Aussage ohne inhaltliche Konsequenzen, was für den weiteren Verlauf der biographischen Darstellung gleichermaßen gilt wie für die daran anschließende Diskussion und literatur- und geistesgeschichtliche Einordnung des Lenzschen Œuvres.10 Es ist bezeichnend für die in der literarischen Forschung mit Lenz verbundenen Urteile, daß Schulz seinen kurzen Verweis auf die in Königsberg verbrachten Studienjahre lediglich zur Einleitung eines sehr umfangreichen, mit „Straßburg" betitelten Kapitels verwendet (vgl. Schulz, 24-41), in dem ausführlich die nachfolgenden Jahre im Dienst der Barone Friedrich Georg und Ernst Nikolaus von Kleist dargestellt werden. Diese Gewichtung ist wohl auch auf die große Menge des für diesen Zeitabschnitt überlieferten Quellenmaterials zurückzuführen (aus den früheren Jahren ist nur wenig erhalten), doch suggeriert diese Art der Darstellung, zumal wenn der Themenkomplex Kant zuvor weitgehend ausgespart wird, der in Straßburg verbrachte Lebensabschnitt sei für Lenzens intellektuelle Ausrichtung als der eigentlich entscheidende zu interpretieren. Während dieses Urteil bei Schulz nur implizit ausgedrückt wird, spricht es Angela Zeithammer in ihrer im Jahre 2000 erschienenen Dissertation konkret aus. In ihrer Abhandlung widmet die Autorin sich „Ursprung, Bedeutung und Konsequenz der Weltbilder von J.M.R. Lenz und J.W. Goethe" (Untertitel),11 doch in ihrer überwiegend referierenden Arbeit geht sie über die bereits be-
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Georg-Michael Schulz: Jacob Michael Reinhold Lenz. Stuttgart 2001. Zur Rezeptions- und Wirkungsgeschichte vgl. dort S. 308-319 sowie die anschließende Bibliographie, S. 321-342. 10 Schulz zitiert Reichardt nach dessen Essay Etwas über den deutschen Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz (1796); - in: Matthias Luserke (Hrsg.): Jakob Michael Reinhold Lenz im Spiegel der Forschung, Hildesheim 1995 (S. 1-11), S. 1. Die kurze Erwähnung der Königsberger Jahre mündet bei Schulz in der Schlußfolgerung, der Dichter habe sein Studium vornehmlich dazu genutzt, „sich der väterlichen Bevormundung zu entziehen" (Schulz, 24). 11 Angela Zeithammer: Genie in stürmischen Zeiten. Ursprung, Bedeutung und Konsequenz der Weltbilder von J.M.R. Lenz undJ. W. Goethe. St. Ingbert 2000.
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kannten Erkenntnisse der Lenz-Forschung nicht hinaus. Sie richtet die Aufmerksamkeit ebenfalls nur auf den Themenkomplex Straßburg, das sie als „Zentrum der Sturm-und-Drang-Bewegung" bezeichnet (Zeithammer, 27) und als ideellen Geburtsort des - so der Buchtitel - ,,Genie[s] in stürmischen Zeiten" Jakob Michael Lenz stilisiert. Damit erkennt auch Zeithammer die bereits 1966 von Martin Stern festgelegte Periodisierung des Lebens und Werks Lenzens an,12 bei der insgesamt drei „Stadien" ausgemacht werden, die von einem angeblich streng voneinander unterschiedenen Verhältnis des Dichters zur ihn umgebenden Welt charakterisiert sind: 1. die im elterlichen Pfarrhaus verbrachten Kinder- und Jugendjahre, für die ein anerzogenes Vertrauen „in die Vorsehung und Güte Gottes" charakteristisch sei; 2. die 1771 in Straßburg beginnende Lebensphase, die getragen wurde von „der Herrschaft des GenieGedankens, der Prometheus-Hoffnung auf die Kraft des Willens", sowie 3. Lenzens letztes Lebenstadium, in dem der Dichter durch die „Erkenntnis der Bedingtheit des Daseins" in die persönliche „Katastrophe" gestürzt sei (Stern, 170); - womit Stern auf Lenzens gegen Mitte der 70er Jahre beginnenden seelischen Zusammenbruch und auf sein weitgehendes Verstummen als Schriftsteller anspielt. Es ist unstrittig, daß Straßburg bei Lenz den Beginn einer sich allmählich intensivierenden schriftstellerischen Tätigkeit markiert, der zuvor im Elternhaus und in Königsberg - soweit überliefert - nur eine eher sporadische dichterische Arbeit vorangegangen war. Auch ergaben sich während dieses Lebensabschnitts für seinen weiteren Lebensweg wichtige Bekanntschaften mit Gelehrten und Dichterkollegen, die Anlaß und Gelegenheit zu regem geistigen Austausch boten und wichtige Impulse und Anregungen für seine künstlerische Entwicklung vermittelten. Dies gilt im Besonderen für das Zusammentreffen mit Goethe, zu dem Lenz sich - nach ihrer ersten, kürzeren Kontaktaufnahme im Juni 1771 und der anschließenden regelmäßigen Korrespondenz - zunehmend in brüderlicher Verbundenheit hingezogen gefühlt und für dessen aufkeimenden literarischen Ruhm er sich rasch zu einem ernstzunehmenden Konkurrenten entwickelt hat. Vor allem dieses Zusammentreffen, der beginnende Kontakt mit dem späteren Weimarer Geheimen Rat, lädt zur Stilisierung als elementares Ereignis ein, als habe Goethe im weiteren Verlauf ihrer Bekanntschaft gleichsam als prometheische Gestalt entscheidenden Anteil an der geistigen Genese des zwei Jahre jüngeren Dichterkollegen gehabt, der deshalb von manchem eher als Adept eines Genies denn als eigenständiger Künstler verstanden worden ist. Doch wie irreführend dieses von Goethe und seinen zeitgenössischen Apologeten einst selbst lancierte und bis heute nachwirkende Bild ist, machen allein schon die von Lenz während seiner ersten beiden Straßburger Jahre verfaßten erkenntnistheoretischen und moralphilosophischen Ausfüh12 Martin Stern: Akzente des Grams. Über ein Gedicht von Jakob Michael Reinhold Lenz. - In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, Bd. X, Marbach am Neckar 1966, S. 160-178.
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rungen deutlich. Bei ihnen handelt es sich um zahlreiche, zumeist explizit als Predigten verstandene und vor der Straßburger schöngeistigen Gesellschaft 'Société de philosophie et de belles lettres'13 (kurz Sozietät genannt) gehaltene Vorträge, die inhaltlich und methodisch die Intensität seiner Kant-Rezeption dokumentieren und im weiteren Verlauf dieser Untersuchung eingehend dargestellt und diskutiert werden sollen. In ihnen legt der Autor als Frucht seines Studiums die Grundzüge seines auf kritischer Vernunftorientierung aufbauenden Weltverständnisses dar, er legt also gleichsam die geistigen Fundamente seines dichterischen Werks frei - und offenbart sich so als von Goethe und anderen späteren Einflüssen unabhängig existierender, überaus eigenständiger Geist. Und auch gegenüber seinem ehemaligen Dozenten behauptet Lenz seine intellektuelle Unabhängigkeit, indem er dessen Lehre - gemäß der von Kant in der Vorlesung über Philosophische Enzyklopädie erhobenen Forderung - als eine ihn zwar methodisch, nicht aber inhaltlich verpflichtende „Richtschnur" (PE, 8) anerkennt, um - den Prinzipien der kritischen Vernunft folgend - auch zu ganz eigenen und zuweilen widersprüchlichen philosophischen Erkenntnissen zu gelangen.14
13 Wie Peter Müller feststellt, soll es sich dabei um einen bis zu fünfzehn Personen umfassenden, vornehmlich literarischen „Gesprächskreis" gehandelt haben, dessen Eigenart durch das „Miteinander von deutschen und französischen Mitgliedern" bestimmt gewesen war. Ihm gehörten, außer zeitweilig Goethe und Herder, unter anderem an: „der Aktuar Johann Daniel Salzmann, der der Tischgesellschaft präsidierte, sowie Heinrich Jung-Stilling, Franz Christian Lerse und Heinrich Leopold Wagner". Peter Müller: Straßburg. - In: Goethe Handbuch, hrsg. von Bernd Witte u.a., Bd. 4/2, Personen. Sachen. Begriffe L-Z, Stuttgart 1998, (S. 10191022) S. 1021. Zur Geschichte, Intentionen und praktische Arbeit literarischer und anderer vornehmlich deutscher - Gesellschaften des 18. Jahrhunderts vgl. Ulrich Im Hof: Das gesellige Jahrhundert. Gesellschaft und Gesellschaften im Zeitalter der Aufklärung. München 1982. Über die französischen Sozietäten führt er aus, es hätten gegen Ende des Jahrhunderts landesweit zirka 80 'Sociétés littéraires' bzw. 'Chambres de lecture' existiert, ein im Vergleich zu Deutschland „sehr dichtes Netz", das von einer nicht überschaubaren Anzahl von 'Sociétés inorganisées' wie etwa literarischen Salons noch ergänzt worden ist. Speziell auf Straßburg bezogene Angaben hält Im Hof jedoch nicht bereit (Im Hof, 190). Allgemein zur aufklärerischen Kultur der Geselligkeit und ihrer literarischen Darstellung (vornehmlich bezogen auf die deutschen Verhältnisse) vgl. Ortrud Gutjahr u.a. (Hrsg.): Gesellige Vernunft. Zur Kultur der literarischen Aufklärung. (Festschrift fllr Wolfram Mauser.) Würzburg 1993. 14 In diesem Zusammenhang sei auf die Unhaltbarkeit der These Zeithammers hingewiesen, Lenz habe jegliche „philosophische Überlegungen als 'Sklavenkette'" bezeichnet (Zeithammer, 68). Zeithammer glaubt, dies durch einen Brief des Dichters an Salzmann vom Oktober 1772 festmachen zu können, (in WB, Bd. 2, S. 284-287) in dem Lenz den Begriff der „Sklavenkette" (ebd., 285) mit offensichtlicher Ironie aber lediglich dazu benutzt, um seine ihm von Kant vermittelte Methode des freien, des sogenannten somatischen Philosophierens (das er launig auch als ein 'Herumspringen auf blumigen Wiesen' bezeichnet; vgl. ebd.) gegenüber festgefügten philosophischen Schulen und deren ,,lange[r] Kette von Ideen" (ebd.) zu verteidigen.
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III Die von Zeithammer angenommene, besondere Bedeutung der Straßburger Jahre für die geistige Entwicklung des Dichters steht in einer langen Tradition, deren Ende eigentlich schon vor Jahrzehnten Ottomar Rudolfs 1970 erschienene Abhandlung über moralphilosophische Bezüge in Lenzens Werk15 hätte bewirken können bzw. müssen. Denn innerhalb seiner Ausführungen zu Lenzens Studienzeit formuliert Rudolf Thesen, die einen bis dahin völlig ungewohnten Interpretationsansatz vorbereiten und ein kritisches Überprüfen althergebrachter Einschätzungen geradezu eingefordert haben. So hebt Rudolf mehrfach hervor, in Immanuel Kant einen „wichtigen Einfluß auf Lenz' Schaffen" erkennen zu können (Rudolf 1970, 54) - auch wenn er selbst es unterläßt, ihn im Detail festzumachen. Denn anstatt diese Spur konsequent weiter zu verfolgen, verzichtet er auf eine vertiefende analytische Untersuchung und gibt sich im wesentlichen mit wissenschaftlich eher unbefriedigenden Aussagen zufrieden wie „Lenz kannte Kant persönlich, wurde durch ihn in seiner Anschauung bereichert, in seinen Gedanken vertieft". Mit derartigen Thesen hat Rudolf zwar in eine erfolgversprechende Richtung gewiesen, doch sind sie für den weiteren Verlauf seiner eigenen Untersuchung folgenlos geblieben, so daß sich seine anschließende Diskussion der wichtigsten Lenzschen Dichtungen ungeachtet der zuvor geäußerten Vermutung, Kant habe seinen Schüler „mit neuen Ideen, neuen Lehren bekanntgemacht" (Rudolf 1970, 54) - lediglich im Rahmen der traditionell mit Lenz verbundenen Paradigmen bewegt.16 Denn anstatt diese 'Ideen' mittels einer Analyse auch namhaft zu machen, gibt er allgemeinen Hinweisen auf Rousseau und Shaftesbury den Vorzug vor einem neue Erkenntnisse versprechenden kritischen Vergleich Lenzscher Werkinhalte mit Lehrinhalten Kants. Bezeichnend ist zudem, daß er, obgleich er ausdrücklich und aus gutem Grund den Dozenten Kant von dem Schriftsteller unterscheidet („Kant war vor allem aber Erzieher"; Rudolf 1970, 58),17 nicht etwa auf dessen hinreichend durch Mitschriften dokumentierte Kollegia verweist, sondern lediglich auf vorkritische, also vor 1770 entstandene Schriften,18 die
15 Ottomar Rudolf: Jacob Michael Reinhold Lenz. Moralist und Aufklärer. Bad Homburg 1970. 16 Seine Untersuchung basiert auf der jeden anderen Blickwinkel von vornherein ausschließenden Prämisse, Lenz als „einen der führenden Männer der sogenannten Sturm- und DrangPeriode" (Rudolf 1970, 12) anzuerkennen, womit er - nicht zuletzt wegen der impliziten Einbeziehung Goethes - eine bestimmte Gruppenzugehörigkeit unterstellt, die einer vorurteilsfreien Untersuchung etwa gänzlich anderer Einflüsse und Standpunkte kaum Spielraum läßt. 17 Vgl. hierzu im ersten Teil, Zweites Kapitel, IV „Die Unterrichtspraxis". 18 So benennt er unter anderem Kants Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral (1763), die Beobachtungen über das Schöne und Erhabene (1764) sowie Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik (1766); sämtlich Schriften, deren Veröffentlichung in der 1797 in Vorbereitung befindlichen Ausgabe seiner Kleinen Schriften Kant sich verbeten hat, da sie vor seinem als 'kopemikanische Wende' empfundenen Durchbruch zum Kritizismus entstanden waren.
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für das Thema seiner - Rudolfs - Abhandlung „von Bedeutung" seien (Rudolf 1970, 55). 19 Dabei erkennt er nicht die Unzulänglichkeit seiner Argumentation, die ihm den Blick auf den im Kern seiner Überlegungen ruhenden, innovativen Interpretationsansatz verstellt. Denn Rudolf übersieht, daß es größeren Erkenntnisgewinn verspricht, den Einfluß des Dozenten auf seinen Schüler durch die Lehrveranstaltungen selbst zu fassen, als ausschließlich mittels Veröffentlichungen, die ihr Autor zum Zeitpunkt seiner Begegnung mit Lenz in wesentlichen Punkten als bereits überholt angesehen hat. Gerade in der Beachtung der tatsächlichen Studieninhalte des jungen Lenz sowie im kritischen Vergleich seiner philosophischen Standpunkte mit den Erkenntnissen Kants liegt der Schlüssel für ein tieferes Verständnis der Lenzschen Dichtungen und der ihnen zugrundeliegenden Intentionen. Und so mündet Rudolfs Darstellung zwar in der sachlich richtigen These, „Lenz, Schüler und Gesinnungsfreund des großen Philosophen, hat vieles [von Kant] in sein Werk, in seine eigene Moralphilosophie aufgenommen" (Rudolf 1970, 58f), doch ist dieser Gedanke unzureichend abgesichert. Es mag von der in sich oft unstimmigen Argumentationsweise Rudolfs herrühren, daß andere die von ihm aufgezeigte Spur nicht weiterverfolgt haben. Dies ist umso erstaunlicher, als in einer drei Jahre zuvor erschienenen, vielbeachteten Publikation dieser innovative Denkansatz bereits vorgezeichnet wurde. Zu einer ganz ähnlichen Einschätzung, wenn auch ohne Kenntnis der entsprechenden biographischen Details, war bereits Hans Mayer in seinem Nachwort der 1967 erschienenen, von Britta Titel und Hellmut Haug besorgten Lenz-Ausgabe gekommen. 20 Gleich zu Beginn seiner Ausführungen gelangt er - mit Blick auf den moralphilosophischen und erkenntnistheoretischen Inhalt der in Straßburg von Lenz verfaßten Vorträge - zu dem bemerkenswerten Urteil, der junge Dichter trete nicht zuletzt aus seinem Vortrag Versuch über das erste Principium der Moral21 „wie ein zu früh gekommener Kantianer" hervor (Mayer, 795f). Bemerkenswert ist diese Einschätzung vor allem deshalb, weil Mayer offensichtlich nur sehr bruchstückhaft Einzelheiten von Lenzens Aufenthalt in Königsberg bekannt gewesen sind, denn an keiner Stelle seiner scharfsinnigen Betrachtungen über das Werk des Dichters gibt er ein Wissen über dessen Studium bei Kant zu erkennen. Statt dessen weiß er über die von Lenz in der Pregel-Metropole verbrachten Jahre lediglich zu berichten, der Autor sei „in Königsberg Hofmeister [!] gewesen" und habe die dabei gemachten Erfahrungen in seinem gleichnamigen Drama verarbeitet (Mayer, 810). Um so mehr zeigt Mayer sich davon überrascht, wie konsequent Lenz 19 Er tut dies, obwohl er um den philosophischen „Wendepunkt" des Jahres 1769 weiß, der „die Werke Kants in eine vorkritische und eine kritische Zeit" teilt (Rudolf 1970, 54). 20 Hans Mayer: Lenz oder die Alternative. - In: Britta Titel, Hellmut Haug (Hrsg.): Jakob Michael Reinhold Lenz. Werke und Schriften. 2 Bde., Stuttgart 1967, Bd. 2, S. 795-827. 21 Lenz: Versuch über das erste Principium der Moral. - Entstanden 1771/72, in: WB, Bd. 2, S. 499-514. Künftig abgekürzt „VeP".
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traditionelle Standpunkte der Aufklärung weiterentwickelt und dabei künstlerische und philosophische Positionen vorweggenommen hat, die in der Dichtkunst doch eigentlich erst Jahre später von dem Kant rezipierenden Schiller aufgezeigt worden seien. Seine Überlegungen führen schließlich zu dem Schluß, Lenz müsse als absolut eigenständiger Künstler gewürdigt werden, der sein Werk auf „eigenen theoretischen Überlegungen" (Mayer, 807) aufgebaut habe und der - da diese Überlegungen ein ,,außerordentliche[s] poetische[s] und auch denkerische[s] Format" aufwiesen - „weit hinausragte über die anderen Genossen vom Sturm und Drang" (Mayer 823). Darum verdiene er es, als qualitativ neben und nicht etwa unter Goethe stehend gewürdigt zu werden; mehr noch: Lediglich seine mißlichen Lebensumstände und sein früher Tod hätten verhindert, daß aus diesem Potential heraus sich keine „wirkliche Alternative" zur Weimarer Klassik habe entwickeln können (Mayer, 823). Noch Jahrzehnte nach Mayer und Rudolf sind deren Verweise auf Kant weitgehend unbeachtet geblieben, wurde das in ihnen ruhende Erkenntnispotential nicht ausgeschöpft. Hiervon macht auch der 1994 erschienene Aufsatz von Hans-Gerd Winter keine Ausnahme, der sich zehn Jahre zuvor mit einer Studie über die deutsche Lenz-Rezeption22 profiliert hatte. Winter sieht den Dichter ganz in der Tradition der älteren Sturm und Drang-Forschung als „Kritiker der Aufklärung".23 Unter den Begriff der Aufklärung faßt er in erster Linie ihre frühe, vom Rationalismus dominierte Periode, zu der er Lenz zu Recht in demonstrativer Distanz stehend erkennt. Doch obwohl er um Lenzens Studium beim Königsberger Philosophen weiß und es beiläufig erwähnt, nimmt er für Lenz andere philosophische Einflüsse an, was seiner Analyse die weitere Richtung vorgibt. Denn statt die Transzendentalphilosophie des frühkritischen Kant als maßgeblich zu erkennen, glaubt er, Lenz sei in erster Linie „durch den wichtigsten Vordenker des Sturm und Drang", durch Herder, beeinflußt worden, durch Rousseau („den Anwalt des unbedingten Gefühls") sowie „durch den englischen Sensualismus und Empirismus" (Winter 1994, 81). Dabei übersieht er aber unter anderem, daß Lenz Herder erst nach dem Verfassen seiner grundlegenden moralphilosophischen Vorträge rezipiert hat und mit den wichtigsten Schriften Rousseaus sowie dem Empirismus vor allem durch die Vermittlung Kants vertraut gemacht worden ist. Dieser Rezeptionsweg ist in seiner Wirkung auf Kants Schüler gar nicht zu überschätzen. Denn der Dozent hat, wie die Mitschriften all seiner Lehrveranstaltungen anschaulich dokumentieren, philosophische Schulen, Entwicklungen und Gegenstände niemals einfach nur dargestellt, sondern stets kritisch gewogen, ausführlich kommentiert und im engeren Sinne weiterentwickelt, so daß seine Kollegia eher auf die Vermittlung 22 Inge Stephan, Hans-Gerd Winter: 'Ein vorübergehendes Meteor? ' J.M.R. Lenz und seine Rezeption in Deutschland. Stuttgart 1984. 23 Hans-Gerd Winter: 'Denken heißt nicht vertauben. ' Lenz als Kritiker der Aufklärung. - In: David Hill (Hrsg.): Jakob Michael Reinhold Lenz. Studien zum Gesamtwerk. Opladen 1994, S. 81-96.
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seiner philosophischen Methode und eigener Arbeitsergebnisse abgezielt haben als auf wertneutrale reine Wissensvermittlung.24 Grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, daß Lenz seine profunden Kenntnisse der Geschichte der Philosophie sowie der wesentlichen Philosophen der Aufklärung überhaupt erst und vor allem in dieser Lesart vermittelt bekommen hat. Denn eine derart umfassende Wissensaneignung während der seinem Studium vorangehenden Jugendjahre im Elternhaus ist infolge des vom Franckeschen Pietismus geprägten Vaters, der die Philosophie nicht nur mit Abneigung, sondern geradezu mit eiferndem Haß beargwöhnt hat, mehr als unwahrscheinlich. Und dies hat nicht nur in besonderer Weise die inhaltliche Ausrichtung der Lenzschen Rezeption etwa der Leibniz-Wolffschen Philosophie und deren Überwindung durch Kant bestimmt, sondern ganz speziell auch sein - gerade für sein dichterisches Werk so ausschlaggebendes - Verständnis von Rousseaus These über die Entzweiung des Menschen mit der Natur und den von diesem Philosophen selbst aufgezeigten Möglichkeiten einer Wiederversöhnung durch eine neue Art der Erziehung Heranwachsender.25 Daß Winter Jakob Lenz in der Tradition des Sensualismus stehend interpretiert und glaubt, er habe daraus seine Distanz zum „absoluten Vorrang der Vernunft" (Winter 1994, 82) gewonnen, stellt eine zwar ebenfalls gängige, jedoch in mehrfacher Hinsicht kaum zu haltende These dar. So läßt diese Einschätzung nicht nur die im Zuge der Aufklärung - vor allem dank Kant - sich vollziehende Differenzierung des Vernunftbegriffs unberücksichtigt,26 sondern erklärt darüber hinaus auch nicht, weshalb der Dichter in seinen Werken nicht etwa als Propagandist ungezügelter Emotionalität hervortritt, sondern statt dessen (wie Winter im weiteren Verlauf auch zugesteht) „die Notwendigkeit und Schwierigkeit der Selbstdisziplinierung" (Winter 1994, 83) aufzeigt. Zudem vertieft Winter nicht, ob sein Sensualismus-Verweis auf die von John Locke formulierten und von Kant in besonderer Weise angenommenen erkenntnistheoretischen Grundlagen abzielt, oder nicht etwa - was im Kontext gängiger Einschätzungen der literarischen Forschung eher vermutet werden kann - auf die von Condillac (und in seiner Folge Helvétius) vollzogene Zuspitzung des Sensualismus, der im deutschen Sprachraum vor allem in Johann Georg Hamann seinen Vermittler und sein geistiges Pendant gefunden hatte. Doch nichts hat dem mit dem Pietismus niemals brechenden Kantianer Lenz
24 Vgl. Erster Teil, Zweites Kapitel, IV „Die Unterrichtspraxis". 25 Vgl. hierzu auch Zweiter Teil, Drittes Kapitel „Die Aufgabe der Kunst". 26 So gebraucht Winter den Begriff der Vernunft stets pauschal im Sinne der rationalen Vernunft gemäß den von Descartes formulierten Vorgaben eines bewußt methodisch gereinigten Denkens, das 'clare et distincte' den Maßstab für die Gültigkeit aller Erkenntnisse vorgebe. Die Konsequenz dieser Auffassung ist ein Weltverständnis, das von einem Dualismus der denkenden und der ausgedehnten Substanz ausgeht, also von unabhängig und entgegengesetzt voneinander existierendem Geist und Materie, - und das der ehemalige Kant-Schüler Lenz nicht anzuerkennen vermocht hat.
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ferner gelegen, als in der Tradition des den Sensualismus eigentlich erst begründenden Condillac den Verstand gering zu schätzen und statt dessen das Lustempfinden als einzig wahren Lebenswert bzw. als Mittel zur Erkenntnis von Wahrheit zu propagieren. So greift Winters Fazit denn auch viel zu kurz, wenn er unter Zuhilfenahme eines aus dem Kontext genommenen Zitats des postmodernen Philosophen Michel Foucault bilanziert, der Dichter Jakob Lenz unternehme einen Gang an den Grenzen der Rationalität entlang und wehre sich - „modern formuliert - gegen die 'Erpressung der Aufklärung,' in der Tradition ihres 'Rationalismus' zu bleiben oder dessen Prinzipien zu entkommen" (Winter 1994, 94).27 Die Praxis, die unter dem Begriff Sturm und Drang gefaßte Literatur der 70er Jahre des 18. Jahrhunderts in Opposition zur Aufklärung zu interpretieren, fußt auf Hamanns - und in seiner Tradition auf Herders - Kritik an der angeblich durch die Aufklärung vollzogenen Überbewertung des menschlichen Denkvermögens. Auf dieser aufbauend, hätten die Autoren um Goethe und Lenz - so eine von Helga Brandes referierte These der älteren Forschung eine Gegenbewegung gebildet, um anstelle der Vernunft die „lange Zeit vernachlässigten Gefühlswerte"28 zu akzentuieren. Doch dieses Stereotyp ist von großen Teilen der neueren Forschung weitgehend relativiert und der Sturm und Drang als eine den Entwicklungsprozeß der Aufklärung insgesamt forcierende Phase erkannt worden, für die die „Versöhnung von Ratio u. Gefühl, Vernunft u. Natur" (Brandes, 410) charakteristisch sei. Dieser Einschätzung entspricht die unter anderem von Werner Krauss erhobene Forderung, in Anlehnung an die philosophiegeschichtliche Einordnung Kants auch den Sturm und Drang als „Vollendung der Aufklärung"29 zu interpretieren. Doch hiergegen werden in jüngst erschienenen Arbeiten - zum Beispiel von Bodo Plachta und Winfried Woesler - wiederum Vorbehalte angemeldet. So bedauern es Plachta und Woesler im Vorwort einer von ihnen 1997 herausgegebenen Aufsatzsammlung,30 daß es der damaligen Jungen Literatengeneration" trotz „allem radikalen Aufbruch und allen literarischen Fehden" nicht gelungen sei, „die etablier27 Im Kontext dieses pointiert formulierten Gedankens wäre es unzulässig, Kant etwa als einen 'Fluchthelfer' aus dem 'Gefängnis der Aufklarung' zu interpretieren, da der von ihm herangebildete Kritizismus nicht als ihr Ü b e r w i n d e r , sondern als ihre V o l l e n d u n g zu verstehen ist. 28 Helga Brandes: Sturm und Drang. - In: Literaturlexikon, hrsg. von Walther Killy, Bd. 14, Gütersloh/München 1993, (S. 410-413) S. 410. In der von de Boor und Newald herausgegebenen Geschichte der deutschen Literatur wird sogar von einer regelrechten, auf Goethe zurückgehende „Sturm-und-Drang-Ideologie" gesprochen, in deren Zentrum das „im Narzißmus verharren[de]" Individuum stehe. Helmut de Boor, Richard Newald (Hrsg.): Geschichte der deutschen Literatur. Bd. 6, Aufklärung, Sturm und Drang, Frühe Klassik. 1740-i 789, bearbeitet von S.A. Jorgensen u.a., München: 1990, S. 449. 29 Werner Krauss: Zur Periodisierung Aufklärung, Sturm und Drang, Weimarer Klassik. - In: Sturm und Drang, hrsg. von Manfred Wacker, Darmstadt 1985 (S. 67-95) S. 81. 30 Bodo Plachta, Winfried Woesler: Vorwort. - In: Dies. (Hrsg.): Sturm und Drang. Geistiger Aujbruch 1770-1790 im Spiegelder Literatur. S. VII-ΧΠ, Tübingen 1997.
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ten Festungen der Aufklärung zu stürmen". Dennoch dürfe der Sturm und Drang aus heutiger Perspektive nicht als Gegenbewegung zur Aufklärung verstanden werden, ebensowenig wie bloß im Sinne ihrer Vollendung,31 sondern allenfalls - in Anlehnung an eine Formulierung von Krauss - als ihr 'neues dynamisches Stadium'.32 In diesem Sinne hatte Jahre zuvor bereits Matthias Luserke differenziert, der 1993 in seiner Untersuchung der Lenzschen Hauptdramen die Position vertritt, zwar habe sich im „Sturm und Drang [...] die Enttäuschung über die Aufklärung radikal Gehör" verschafft,33 doch müsse dies als dialektisch begriffen werden. Denn der eine Fülle von „Themen, Motive und Schlagwörter" umspannende und deswegen „nicht leicht zu handhabende[...]" Begriff Sturm und Drang sei gekennzeichnet von einer „Gleichzeitigkeit" bei der „Weiterentwicklung und radikale[n] Infragestellung aufgeklärter Positionen", - was Luserke in Anlehnung an eine Formulierung des Goethe-Forschers Gerhard Sauder auch als „Dynamisierung und Binnenkritik" der Aufklärung durch diese literarische Bewegung bezeichnet (Luserke, 1993, 16).34 Doch auf was genau verweist nun dieser offensichtlich so schwer faßbare Begriff'Sturm und Drang', mit dem seit jeher zumeist Schlagworte wie Geniezeit, literarische Revolution und Zivilisationskritik verbunden worden sind; und - ist er überhaupt brauchbar zum Eingrenzen einer womöglich eigenständigen literarhistorischen Epoche? Luserke greift diese Frage auf und will den Begriff, da er für eine eindeutige Definition zu summarisch ausgerichtet sei, allenfalls als einen „Arbeitsbegriff' gelten lassen, der eine Relation, ein inhaltliches Verhältnis zu klarer erkennbaren „Bezugsgrößen" verdeutliche (Luserke 1993, 13). Wegen der gängigen Praxis, Goethe und Lenz als künstlerische Protagonisten des Sturm und Drang zu interpretieren,35 böten sich nach Meinung des Verfassers als solche Bezugsgrößen vor allem der Spinozismus bzw. die Transzendentalphilosophie des frühkritischen Kant an. Doch auf derart konkre31 Vgl. ebd., IXf. 32 Vgl. ebd., X. Plachta und Woesler zitieren Krauss; vgl. dort, 76, Anm. 12. 33 Matthias Luserke: Jakob Michael Reinhold Lenz: Der Hofmeister. Der neue Menoza, Die Soldaten. München 1993, S. 9. Vgl. zu dieser speziellen Thematik ausführlich hier, Zweiter Teil, Zweites Kapitel, II.2 „Denken und Sprache" sowie Drittes Kapitel „Schamhaftigkeit und Frauenbild". 34 Vgl. Gerhard Sauder: Johann Wolfgang Goethe: Der junge Goethe 1757-1777. 'Einführung', Bd. 1.1, München 1985, S. 756. 35 Im 1990 erstveröffentlichten, neu verfaßten sechsten Band von de Boor/Newalds Geschichte der deutschen Literatur wird der Begriff des Sturm und Drang zwar vollkommen auf Goethe bezogen, Lenz aber - ungeachtet aller zugestandenen, jedoch auf ihre geistige Herkunft nicht untersuchten Gegensatze - auch weiterhin unter ihn gefaßt: „In der hier gewählten Konzeption erscheint der Sturm und Drang vorwiegend als eine Bezeichnung für das neue Drama der 1770er Jahre und darüber hinaus als eine Phase in der Entwicklung Goethes: denn seine Gestalt ist es, die allen Versuchen einer Positionsbestimmung gemeinsam ist." (S. 427) „Ohne Zweifel ist Lenz neben Goethe d e r Dramatiker von Rang im Sturm und Drang, wenn er sich auch von Goethe weit unterscheidet: in Herkunft, Bildungsgang, Lebensschicksal und wohl auch in den Intentionen." (S. 464)
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te Bezüge zielt Luserke nicht ab. Statt dessen beabsichtigt er eine viel stärkere Generalisierung und greift hierzu auf ein von Sauder in den 80er Jahren vorgestelltes Drei-Phasen-Modell zurück, das Entstehung, Verlauf und Schluß des Sturm und Drang beschreibt (und offensichtlich an Martin Sterns Periodisierung des Lenzschen Œuvres aus dem Jahre 1966 angelehnt ist): So werde die e r s t e P h a s e von der beginnenden Zusammenarbeit Goethes mit Herder im Herbst 1770 in Straßburg markiert, was von der Forschung seit jeher in 'stillschweigendem Einvernehmen' (vgl. Luserke 1992, 16) als „Keimzelle" (ebd.) der Sturm und Drang-Bewegung anerkannt worden sei, wobei die von ihren Protagonisten zuvor verfaßten Schriften lediglich einen vorbereitenden Charakter besäßen. Vor allem diese Festlegung36 hat der bisherigen Lenz-Forschung eine kaum jemals kritisch hinterfragte Ausrichtung vorgegeben, die den Blick auf die Eigenständigkeit bzw. auf den zu Herder und Goethe gänzlich verschiedenen geistigen Hintergrund des Dichters verstellt hat.37 Statt seine bereits lange zuvor erfolgte geistige Prägung zu registrieren und zum Forschungsgegenstand zu machen, wurden die von Goethe und Herder diskutierte Genieästhetik, ihre Shakespeare-Rezeption und ihr auf Rousseau aufbauender Naturbegriff zum Ausgangspunkt für das Verständnis des Lenzschen Œuvres, wurde insbesondere Goethes spinozistisches Weltverständnis zur Folie für die Einordnung im Grunde sehr gegensätzlicher literarischer Entwicklungen, als deren programmatisches Sprachrohr bis heute die von Merck und Schlosser ab 1772 herausgegebenen Frankfurter Gelehrten Anzeigen gelten. Diese Zeitschrift repräsentiert die z w e i t e , nach Luserke die „ i n t e n s i v s t e " P h a s e , die durch eine „Gruppenbildung" in Straßburg, Frankfurt, Darmstadt und Göttingen definiert sei und ihren Abschluß 1776 gefunden habe; eine Datierung, die tatsächlich auch in Lenzens Leben und Werk eine Zäsur bezeichnet, was die Übertragung dieses Modells auf ihn zu rechtfertigen scheint. D i e d r i t t e , die „ S c h l u ß p h a s e " reiche bis 1778, bis zu einem Zeitpunkt, zu dem die Bewegung im wesentlichen bereits ein Gegenstand der Historie 36 Nicht zuletzt von Heinz Nicolai wurde sie dauerhaft in der Literaturgeschichte verankert, der gleich zu Beginn seines Nachwortes der 1971 erschienenen Anthologie Sturm und Drang programmatisch feststellt, diese „literarische Bewegung" sei vornehmlich aus „persönlichen Begegnungen" heraus „allmählich entstanden", wobei am „Beginn" (Nicolai, 1695) dieser „Gegenbewegung zum Rationalismus" (Nicolai, 1697) „das Zusammentreffen Herders mit Goethe" in Straßburg stehe (Nicolai, 1695). Heinz Nicolai: Nachwort. - In: Sturm und Drang. Dichtungen und theoretische Texte. 2 Bde., Darmstadt 1971, Bd. 2, 1695-1738. 37 Dies wird auch dadurch nicht relativiert, daß Herder einst selbst bei Kant studiert hat. Denn zum einen wurde dieses Studium von 1762-1764 während Kants vorkritischer Phase absolviert und fand also unter gänzlich anderen philosophischen Voraussetzungen statt, zum anderen hat Herder - wie von der philosophischen Forschung hinlänglich dargestellt - stets in offener, schließlich in geradezu erbitterter Opposition zu den Erkenntnissen Kants gestanden. Vgl. hierzu insbesondere Herders Spinoza-Schrift Gott. Einige Gespräche (Gotha 1787), seine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft (Leipzig 1799) sowie, als Gegenschrift zu Kants Kritik der Urteilskraft, seine kunsttheoretische Abhandlung Kalligone (Leipzig 1800).
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geworden sei, was Schillers Frühwerk (dessen Einbeziehung - wie Luserke hervorhebt - in der Forschung seit jeher umstritten gewesen ist) ausdrücklich aus dem eigentlich „nur im Kontext der Gruppenbildung und Gruppenkommunikation" sinnvollen Sturm und Drang-Begriff ausschließe (Luserke 1993, 17). Wie unpraktikabel dieses allzu schematische Modell jedoch ist, wird nicht zuletzt daran deutlich, daß Luserke gemäß der gängigen literarhistorischen Urteile Goethe und Lenz als die maßgeblichen künstlerischen Repräsentanten dieser nicht einmal ein Jahrzehnt umspannenden, aber dennoch in drei Zeitabschnitte fragmentierten Epoche anerkennt. Er tut dies, obwohl er eindringlich auf die Problematik hinweist, einander so gegensätzliche Autoren unter ein und denselben Epochenbegriff fassen zu wollen und damit einen vom alten Goethe in Dichtung und Wahrheit festgeschriebenen Bewertungsmaßstab anzuerkennen. Doch fuhrt ihn diese Erkenntnis nicht zum Bruch mit tradierten und durch Goethe in besonderer Weise legitimierten Denkgewohnheiten, wozu ihn das Erkennen und Analysieren engerer Bezüge zwischen Lenz und Kant vielleicht hätten verleiten können. Lediglich im Kontext des Soldaten-Dramas bezieht er sich kurz auf den Königsberger Philosophen, wenn er mit Blick auf das handlungstragende Sujet der Verführung einer Bürgerlichen durch einen adligen Offizier darauf verweist, die von „Kant am Ende des Jahrhunderts [sie!] postuliert[e]" „Freiheit des Willens" bezeichne nicht die „Entscheidungs- und Handlungsfreiheit einer bürgerlichen Frau" (Luserke 1993, 87). So dominiert auch bei Luserke das Bestreben, das miteinander eigentlich Unvereinbare zu vereinen, indem er die zwischen Goethe und Lenz bestehende Diskrepanz als spezielles Charakteristikum („die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen") der Literatur der „1770er Jahre" interpretiert (Luserke 1993, 13) - und diese Verschiedenheit noch zuspitzt, indem er Lenz in der Tradition der Frankfurter Schule als einen höchst politisierten Dichter interpretiert. Denn im Gegensatz zu anderen „Sturm-und-Drang-Autoren wie Goethe" habe sich bei Jakob Lenz der „Automatismus bürgerlicher Selbstachtung und Selbstverteidigung in Gang" gesetzt und nach künstlerischem Ausdruck verlangt (Luserke 1993, 9). Zur Erläuterung der von Lenz damit angeblich verbundenen Intentionen weist Luserke in Anlehnung an Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung auf vier „heuristisch voneinander abgrenzbare Bereiche" der ,,rebellische[n] Kritik" der Stürmer und Dränger hin, deren Übertragung auf Lenz jedoch wenig gerechtfertigt erscheint, da ihnen - wie im weiteren Verlauf noch dargestellt wird - teilweise diametral entgegengesetzte Intentionen des Dichters gegenüberstehen. Als diese vier Bereiche benennt Luserke: 1. den der gesellschaftlichen Macht, der von Adels- und Ständekritik, aber auch von Kritik am sich bildenden Bürgertum bestimmt sei; 2. den der poetologischen Regeln, in dessen Mittelpunkt die „Aristoteles-Shakespeare-Debatte" stehe, die ästhetische Normen mit Geschmacksurteilen und moralischen Werten verbinde; 3. den der Kritik an der sexuellen Repression, bei dem die „Vemunftherrschaft als Autokratie ab-
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solut gesetzter Normen bürgerlicher Verhaltensstandards" gewertet und entsprechend bekämpft werde; 4. den Bereich des Wissens, bei dem von den Autoren des Sturm und Drang lediglich dem literarischen Diskurs die Möglichkeit zum Ausdruck von „Repressionskritik" zugetraut worden sei und sie sich deshalb jeder anderen Diskursform (sei sie philosophisch, historisch, juristisch, theologisch etc.) verweigert hätten (Luserke 1993, 18f). Zur nachdrücklichen Verteidigung dieser Auffassungen fühlt Luserke sich 1994 durch die Neuherausgabe von Lenzens Philosophische Vorlesungen für empfindsame Seelen durch Christoph Weiss genötigt,38 einer 1780 erstveröffentlichten Sammlung bereits um 1771 entstandener Vorträge, die lange als verschollen galt, von der Weiss in seinem Nachwort (PV, 73-105) zu Recht annimmt, sie könne zur Revision zahlreicher Paradigmen der Sturm und Drang-Forschung beitragen. Als ein Beispiel benennt er - indem er vermutlich auf Luserke reflektiert - die Behandlung des Themas Sexualität, das vor dem Hintergrund der in den Vorlesungen sehr differenzierten moralphilosophischen Ausführungen künftig weniger 'holzschnittartig' interpretiert werden müsse (PV, Nachwort 95). Dieser richtungsweisende Impuls führt bei Luserke jedoch nicht zur kritischen Reflexion, sondern zur Verfestigung des eigenen Standpunktes.39 Den von ihm angekündigten Nachweis der Irrelevanz der wiederentdeckten Quelle bleibt er jedoch schuldig, weil seine hierzu geführte Argumentation - anstatt die von Lenz eröffneten moralphilosophischen Perspektiven vorbehaltlos auf ihre Quellen und Bezüge hin zu untersuchen - einem Zirkelschluß gleicht, bei dem das eigentlich erst zu Beweisende (die angeblich geringe literarhistorische Relevanz der Vorlesungen) bereits als Prämisse des Beweises vorausgesetzt wird. Der weitere Verlauf dieser Abhandlung, bei der die Diskussion der Vorlesungen einen wichtigen Stellenwert einnimmt, wird aufzeigen, daß Lenz ganz im Gegensatz zu dem von Luserke verteidigten Schema gerade dem philosophischen Diskurs den Vorzug vor dem künstlerischen gegeben hat. Darüber hinaus wird deutlich werden, daß Lenzens Überlegungen zur Sexualität erheblich differenzierter ausfallen, als dies traditionelle, auf den Sensualismus Condillacs reflektierende Sturm und Drang-Stereotype vermuten lassen. Auch wird aufgezeigt, daß sich die Gesellschaftskritik des Dichters nicht pauschal gegen 38 Lenz: Philosophische Vorlesungen für empfindsame Seelen. Faksimile-Druck der Ausgabe Frankfurt und Leipzig 1780, hrsg. von Christoph Weiss, St. Ingbert 1994. Künftig abgekürzt „PV". 39 So formuliert er 1995 zu Beginn seiner auf Weiss abzielenden Erwiderung: „Der Herausgeber [der Vorlesungen] glaubt, in dem von ihm edierten Text Belege dafür gefunden zu haben, daß Forschungspositionen zum Sturm und Drang sowie zu Lenz, wie sie auch von uns formuliert wurden, revidiert werden müssen. Daß es sich hierbei um einen Irrtum handelt, soll kurz skizziert sein." Matthias Luserke, Reiner Marx: Nochmals S[turm] ufnd] Dfrang], Anmerkungen zum Nachdruck der Philosophischen Vorlesungen von J.M.R. Lenz. (Originalbeitrag.) - In: Jakob Michael Reinhold Lenz im Spiegel der Forschung, hrg. von Matthias Luserke, Hildesheim 1995, (S. 407-414) S. 407.
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bestimmte soziale Schichten bzw. Stände richtet, sondern in erster Linie gegen die natürliche Disposition des menschlichen Charakters zum unmoralischen Handeln, auf das von mannigfaltigen Einflüssen geforderte Unvermögen des I n d i v i d u u m s also, diese gefährliche Anlage angemessen zu kontrollieren. Ihre Kontrolle ist nach Lenzens fester Überzeugung jedoch durch eine Erziehung des einzelnen zum Vernunftgebrauch erlernbar; eine Erkenntnis, aus der er einen für sich selbst in besonderer Weise angenommenen Erziehungsauftrag abgeleitet hat. Denn werde der Mensch seiner Disposition zur Unmoral überlassen, setze man ihn der Versündigung gegen die elementarsten Seinsbereiche aus, die Lenz in einer aufschlußreich zusammengestellten Trias als „Vernunft, Ordnung und Gott" bezeichnet. Der Dichter hat sie in der vermutlich noch in Königsberg, spätestens jedoch im ersten Straßburger Jahr entstandenen, nicht zur Veröffentlichung bestimmten Selbstvergewisserung 'Meine Lebensregeln' 40 aufgeführt, im Zusammenhang seines Warnens vor der folgenreichsten aller Sünden: der ungezügelten Emotionalität, der sich gegen „Vernunft, Ordnung und Gott empörende[n] Leidenschaft". Denn aus der Unbeherrschtheit, der „Wildheit und Raserei" entsprängen alle großen Übel, und so werde bewirkt, daß der einzelne aus „Unmäßigkeit und Zügellosigkeit" in der Befriedigung seiner „tierischen Begierden" all das aufgebe, was sein Menschsein eigentlich konstituiere (ML, 488). Lenzens Trias ist in mehrfacher Hinsicht aufschlußreich und sie fuhrt direkt zum Kern seiner in Königsberg vertieften philosophischen Auffassungen. Denn sie steht in einem deutlichen und sehr bewußt gesetzten Widerspruch zur damaligen, von Kant zurückgewiesenen Schulmetaphysik, die von den Seinsbereichen Gott, Seele und Welt ausgeht und hieraus als ihre drei Spezialdisziplinen die Theologie, Psychologie und Kosmologie ableitet. Der zu dieser Praxis von Lenz aufgebaute Widerspruch ist offensichtlich. Er rührt nicht von seinem Begriff der Ordnung her, denn damit bezeichnet er kein wie auch immer geartetes soziales Regelwerk, sondern - ins Transzendente gewandt - den Willen Gottes („die von Gott zu unsrer [...] Glückseligkeit festgesetzte Ordnung"; ML, 489). Und als dessen weltliche Manifestation erkennt er die Natur, die er deshalb auch als „Haushaltung Gottes" begreift.41 (MeL, 533) Man kann 40 Lenz: 'Meine Lebensregeln' (eigtl. unbetitelt). - In: WB, Bd. 2, Prosa, (S. 487-499) S. 488. Damm hat den Text in der Form seiner Erstedierung durch M.N. Rosanow übernommen (in seiner Abhandlung Jakob M.R. Lenz. Der Dichter der Sturm- und Drangperiode. Sein Leben und seine Werke. Leipzig 1909, S. 548-554). Lenzens Original-Manuskript ist umfangreicher und war von Rosanow gekürzt publiziert worden. Vollständig transkribiert wurde es erstmals 1994 von Christoph Weiß herausgegeben, unter dem - da das Deckblatt nicht überliefert ist aus dem Inhalt abgeleiteten Titel Catechismus (in ders.: Lenz Jahrbuch 1994, St. Ingbert 1994, S. 31-67). Die nachfolgenden Zitate beruhen auf der von Damm verwendeten Rosanow-Fassung, die alle für diese Darstellung wesentlichen Inhalte wiedergibt; künftig abgekürzt „ML". 41 Lenz: Meinungen eines Laien den Geistlichen zugeeignet. (Künftig abgekürzt „MeL".) Stimmen des Laien auf dem letzten theologischen Reichstage im Jahr 1773. (Künftig abgekürzt
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demnach - in aller an dieser Stelle gebotenen Verkürzung - Lenzens Begriff der Ordnung42 durchaus als Äquivalent zum Welt-Begriff der Schulmetaphysik interpretieren.43 Das Ersetzen des Begriffs der Seele gegen den der - kritischen - Vernunft44 verdient hingegen ungleich stärkere Beachtung, weil hierdurch über ein spezielles Menschenbild hinaus45 der Schlüssel zu seinem vom pietistischen Elternhaus sowie von Kant geprägten Weltverständnis dargeboten wird, in dem spätaufklärerische Vernunft und tief verwurzelte Religiosität gleichermaßen ihren Platz einnehmen. Daß diese beiden Komponenten - also Vernunft und Gott - von Lenz in dieser aufschlußreichen Reihenfolge genannt werden, bei der die Vernunft den ersten Rang behauptet, ist kein Zufall und eröffnet nicht nur für sein Gottesverständnis weitreichende Interpretationsmöglichkeiten und thematische Perspektiven, die an späterer Stelle eingehender erörtert werden.
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„SdL") - Zweiteilige, zwischen 1772 und 1774 zuerst als Vortrag konzipierte, jedoch 1775 als aneinander anschließender Textkorpus publizierte religionsphilosophische Schrift. In: WB, Bd. 2, Prosa, S. 522-618. Vgl. hierzu ausführlich Zweiter Teil, Zweites Kapitel, II.4 „Natur und Mensch". Nach 1781, während seiner letzten Lebensphase, rekurriert Lenz in zwei in Moskau entstandenen Gedichten auf jene Trias, um sie abermals zu modifizieren. Wieder dient sie dem Aufzeigen dessen, wogegen sich der sündige Mensch (in diesem Fall focussiert auf Adel und Klerus) durch schlechtes Handeln vergehe. Erneut bilden Gott und Natur zwei der drei elementaren Seinsbereiche, als dritter wird nun jedoch die Pflicht genannt („Gott, Natur und Pflicht verraten"), womit Lenz die für den einzelnen kategorisch geltende Pflicht zum moralischen Handeln meint (Lenz: Auf den Tod s. Erl. des Oberkammerherrn Senateur und Grafen Boris Petrowitsch Scheremetjeff. - In: WB, Bd. 3, [S. 231-233] S. 232. Vgl. hierzu auch das zweite Gedicht Was ist Satire? [In: Ebd., S. 234-239] S. 236). Daß der Dichter nicht weiterhin die Vernunft als jenen dritten Bereich benennt, bedeutet keinesfalls ein Relativieren Kantscher Positionen, sondern im Gegenteil deren Zuspitzung. Denn nach Kant stellt die kritische Vernunft das dem Individuum zur Verfügung stehende Instrument dar, durch das es seine kategorisch geltende V e r p f l i c h t u n g zum moralischen Handeln zu erkennen vermag. Aufschlußreich ist auch Lenzens an dieser Stelle heftiges Agitieren gegen die 'Geniemode' in der Kunst (vgl. ebd., S. 234, 236) sowie seine aufschlußreiche Interpretation Shakespeares. Diesen schätzte er vor allem nicht etwa wegen seines angeblichen Propagierens formaler und anderer Freiheiten, sondern weil der Engländer nichts Geringeres als „die Moral" „sinnlich", also anschaulich gemacht habe (Lenz: Was ist Satire?, 238). Vgl. ausführlicher hier, Zweiter Teil, Zweites Kapitel, Π.4 „Genie". Opposition zur rationalistischen Aufklärungsphilosophie wird bereits durch den Umstand ausgedrückt, daß Lenz den Begriff von Gott neben den der Vernunft stellt, wobei es - wie im folgenden eingehender dargestellt wird - zusätzlich auf Kant verweist, daß er die Vernunft in augenfälliger Reihung zuerst anführt. Erinnert sei an die antike Lehre von der Trichotomie des Menschen, an die Lenz provokant anknüpft. Es ist dies die Lehre von der Dreiteilung des Individuums in Leib, Seele und Geist, die stets von der Frage begleitet gewesen ist, welcher dieser Teile für die Menschwerdung des Individuums der bedeutendste sei. Durch sein Einbeziehen der Vernunft anstelle der Seele in die drei elementaren Seinsbereiche hat Lenz in seinen 'Lebensregeln' eine eindeutige, tradierte religiöse Vorstellungen zurückweisende Antwort gegeben.
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IV Es ist charakteristisch für die bisherige Forschung, daß über das weitgehende Ignorieren des Themenkomplexes Kant hinaus den bislang unter dem Pauschalbegriff 'theoretische Schriften' zusammengefaßten und dadurch fehleingeschätzten Vorträgen, Predigten und Aufsätzen46 des Dichters nur ein vergleichsweise geringes Interesse entgegengebracht worden ist, was zu einem guten Teil die zahlreichen unbefriedigenden, mit Lenz verbundenen Urteile und Mystifikationen erklären mag. Während umfangreiche Monographien etwa zu seiner Person, den Dramen und selbst zum lyrischen Werk in erheblicher Zahl vorliegen, haben seine theoretischen Überlegungen sich nicht zu einem mit gleicher Intensität untersuchten Forschungsgegenstand entwickelt. So existieren über sie - statt größerer Arbeiten - in der Hauptsache nur Einzelaspekte behandelnde Aufsätze47 bzw. wurden sie vornehmlich als begleitende Quellen etwa zur Analyse der Dichtungen genutzt. Diese problematische Praxis, die von Lenz diskutierten Fragestellungen weitgehend isoliert voneinander zu betrachten und einzelne seiner Vorträge und Aufsätze als ergänzendes Material fur Werkanalysen zu nutzen, ohne daß eine umfassendere, kritische Darstellung ihrer philosophischen Bezüge, ihrer Genese sowie nicht zuletzt der von Lenz benutzten Begrifflichkeiten zugrunde gelegen hätte, generiert Fehldeutungen und verhindert, Lenzens theoretische Überlegungen als eigenständigen und als sicherlich den zentralen Bestandteil des ganzen Œuvres zu würdigen und entsprechend zu gewichten. Schlußendlich hat diese Praxis das Erkennen der geistigen Grundlagen Lenzens und damit die Erkenntnis der philosophischen Fundamente seines dichterischen Werks derart erschwert, als habe man - metaphorisch gesprochen - bei der Erkundung eines fremden Innenraumes auf die Zuhilfenahme der vorhandenen Lichtquellen verzichtet und sich mit dem Vorwärtstasten im Halbdunkel beschieden. Dieses Manko bestimmt auch neueste Forschungsarbeiten, zum Beispiel Stefan Pautlers 1999 vorgelegte Monographie über - so der Untertitel 'pietistische Weltdeutung und bürgerliche Sozialreform im Sturm und
46 Ihre Bezeichnung unter dem Sammelbegriff 'Theoretische Schriften' geht auf die von Franz Blei 1909-1913 herausgegebene Lenz-Ausgabe zurück. Darin werden sie zudem in die Kategorien „Moralisch-theoretische Schriften", „Ästhetische Schriften" und „Gesellschaftspolitische Schriften" differenziert. Dieses bis heute nachwirkende Verfahren läßt aber - außer daß es grundsätzliche Mißverständnisse generiert, weil es bei der Mehrzahl der betroffenen Arbeiten deren eigentliche Zugehörigkeit zur rhetorischen Gattung der Missionspredigt ignoriert - nicht nur die Chronologie ihrer jeweiligen Entstehungszeit außer acht, sondern impliziert auch eine in dieser holzschnittartigen Charakterisierung nicht zutreffende inhaltliche Ausrichtung. Vgl. hierzu ausführlicher Zweiter Teil, Erstes Kapitel, Anmerkung 3 sowie Zweiter Teil, Drittes Kapitel „Der Prediger". 47 Vgl. hierzu bei Schulz unter 10., „Theoretische Schriften", die entsprechende bibliographische Darstellung, S. 338-340.
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Drang'. 48 Ungeachtet ihres ambitionierten Anspruchs, der durch die Bezugnahme auf den Pietismus Erkenntnisgewinne hat erhoffen lassen, knüpft Pautler jedoch vorwiegend an Ergebnisse der älteren Forschung an, über die er letztlich nicht hinausgeht. Dies auch deswegen, weil er sich an längst überholte Paradigmen anlehnt, indem er die Begegnung des jungen Dichters mit dem als vorkritisch fehlinterpretierten Kant der Jahre 1768-70 eher als biographische Randnotiz anstatt als für Lenzens geistige Ausrichtung elementares Ereignis wertet und damit selbst hinter Forschungsergebnissen der 60er Jahre (unter anderem Mayer) zurückbleibt. Nicht minder folgenreich ist Pautlers weitgehend zu undifferenzierte Betrachtung des für Lenzens und auch für Kants Jugend so entscheidenden pietistischen Einflusses. So spricht er pauschal von 'dem' Pietismus und unterschätzt den gravierenden, in jedem Fall zu berücksichtigenden Unterschied zwischen dem Lenzens familiäre Herkunft bestimmenden Franckeschen Pietismus und dem der Herrnhuter des Freiherrn von Zinzendorf, deren einander geradezu feindlich gegenüberstehende Standpunkte49 sich in seiner Darstellung miteinander vermischen. Aus diesem ambivalenten Blickwinkel betrachtet tritt der Dichter schließlich erneut „als Verfechter einer sensualistischen Position" (Pautler, 103) hervor, der sich nach seinem „abgebrochenen Studium" der Theologie(!) (Pautler, 102) erst in Straßburg „intensiv" der Philosophie, genauer: der ,,Popularphilosophie"(!) zugewandt und damit lediglich einer „allgemeinen Tendenz seit der Mitte des Jahrhunderts" entsprochen habe (Pautler, 103). Statt zu versuchen, diese in vielerlei Hinsicht anfechtbare These durch Primärquellen zu belegen (was ihn auf die Unhaltbarkeit seiner These hätte aufmerksam machen müssen), bezieht Pautler sich lediglich auf Rudolfs Publikation von 1970, in der einst lapidar und ohne vorhergehende Analyse festgeschrieben worden ist, nur die „Popularphilosophie der Aufklärung" dürfe als „der Boden" angesehen werden, „aus dem Lenzens Moralphilosophie" erwachsen sei (Rudolf 1970, 62). Die Konsequenzen dieses wenig zukunftsweisenden und auch methodisch fragwürdigen Verfahrens sind offensichtlich, ihre Symptome auch bei Schulz nachweisbar. Dieser vermutet allenfalls einen eher zufälligen Bezug der Lenzschen 'Moralphilosophie' zu Kant und beruft sich dabei ausdrücklich auf Pautler.50
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Stefan Pautler: Jakob Michael Reinhold Lenz. Pietistische Weltdeutung und bürgerliche Sozialreform im Sturm und Drang. Religiöse Kulturen der Moderne (hrsg. von Friedrich Wilhelm Graf und Gangolf Hübinger), Bd. 8, Gütersloh 1999. 4 9 Vgl. hierzu Zinzendorfs Hauptschriften, hrsg. als Faksimile-Druck von Ernst Beyreuther u.a., 6 Bde., Hildesheim 1962/63. Über die von Zinzendorf verfolgten Intentionen und seine Missionstätigkeit vgl. insbesondere Ernst Beyreuther: Studien zur Theologie Zinzendorfs. Neukirchen 1962. 50 Zu Beginn seiner Darstellung der sogenannten 'theoretischen Schriften' formuliert Schulz, man könne von „der späteren 'kritischen' Philosophie Kants her [...] bei der Überschrift 'Moralisch-theologische Schriften' eine Vermengung verschiedenartiger Fragen argwöhnen. Es entspricht aber einer verbreiteten 'popularphilosophischen' Einstellung, moralische Fragen auf der Grundlage des Glaubens zu behandeln (vgl. Pautler, Β 5: 1999, 102-115)." (Schulz,
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Noch prägnanter drückt sich dieses Verkennen des Kantschen Einflusses in einem anderen Zusammenhang aus, was abschließend als Beispiel stellvertretend für ein allgemeines Bild aufgezeigt werden soll. So kommentiert Schulz bei seiner Darstellung des Lenzschen Kunstverständnisses eine vermutlich im Herbst 1774 vom Dichter verfaßte, an den Freund und Schriftstellerkollegen Wilhelm Wagner gerichtete, explizit als Dramentheorie bezeichnete Notiz.51 In dieser stellt Lenz einleitend fest, es existierten beim Drama ebenso wie beim Gartenbau im Grunde nur zwei unterschiedliche Arten, womit er sich auf die klassizistisch strenge, äußerst artifizielle französische sowie die eher naturbelassene englische bezieht: [...] das eine stellt alles aufeinmal und aneinanderhangend vor und ist darum leichter zu übersehen, bei dem andern muß man auf- und abklettern wie in der Natur. Wenn nun die Rauhigkeit der Gegend die Mühe nicht lohnt, so ist das Drama schlecht, sind aber die Sachen die man sieht und hört wohl der Mühe wert seine Phantasei ein wenig anzustrengen, [...] so nennt man das Drama gut. Und ist die Aussicht die er [der Dichter] am Ende des Ganges eröffnet, von der Art daß unsere ganze Seele sich darüber erfreut und in ein Wonnegefühl gerät das sie vorher nicht gespürt hat, so ist das Drama vortrefflich. Das ist die Theorie der Dramata. (FW, 673)
Diesen pointierten Abriß einer Dramentheorie, der Lenzens durchaus nicht vorbehaltlose Fürsprache zugunsten der englischen, sprich shakespeareschen Bühnenkunst verdeutlicht, glaubt Schulz als nicht ernstgemeint entlarven zu können. So stellten diese Ausführungen lediglich einen ,,spielerische[n] Unsinn" dar, bei dem der Dichter „höchst ironisch der Theorie den Boden" entziehe. Denn „das pure Lustprinzip - was gefällt, ist gut, und was missfällt, ist schlecht - , dieses pure Lustprinzip" sei „eben in Wirklichkeit keine Theorie". Dies verdeutliche, so Schulz, bereits der Schlußsatz der Notiz, durch den „der Theorie jeder Anspruch auf eine Bedeutung für die poetische Praxis abgesprochen" werde (Schulz, 269). Seine Bewertung läßt aber unberücksichtigt, daß Lenzens Gedankengang exakt auf einem Grundstein des Kantschen Gedankengebäudes aufbaut, nämlich dem vom menschlichen „Vermögen der Lust und Unlust".52 Dieses stelle - so Kant - neben dem Vermögen der Erkenntnis und
235). Durch dieses Urteil wird aber nicht nur Kants Hinwendung zum Kritizismus beiläufig aus ihrem historischen Umfeld heraus in eine Lenz nicht mehr unmittelbar betreffende 'spätere' Zeit transponiert, intendiert wird darüber hinaus, der Sammelbegriff 'moralischtheologische Schriften' sei von ihrem Verfasser selbst gewählt und nicht - wie tatsächlich geschehen - von dem Lenz-Editor Franz Blei zu Beginn des 20. Jahrhunderts eingeführt worden (vgl. Anm. 46). 51 Lenz: Für Wagnern. Theorie der Dramata. - Künftig abgekürzt „FW". In: WB, Bd. 2, S. 673. 52 Kant: Vorlesung über Metaphysik, Mitschrift Pölitz. - In: Kants Werke (Akademie-Ausgabe), Bd. XXVm, Kant's Vorlesungen, Bd. V, Vorlesungen über Metaphysik und Rationaltheologie, 1. Hälfte, Berlin 1968, S. 193-350. Künftig abgekürzt „M". Zur Entstehung der Mitschrift
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dem des Begehrens das dritte der die menschliche Natur konstituierenden „Vermögen der Seele" dar (M, 245) und dürfe nicht mit dem „Erkenntnißvermögen" verwechselt werden, von dem es sich deswegen grundlegend unterscheide, da es ermögliche, „Bestimmungen" wahrzunehmen, ohne dazu „Vorstellungen" von einem Objekt entwickeln zu müssen („Wenn ich vom Gegenstande rede, so fern er schön oder häßlich, angenehm oder unangenehm ist; so kenne ich den Gegenstand nicht an sich, so wie er ist, sondern wie er mich afficirt." M, 245f). Spricht Lenz nun vom „Wonnegefühl", dessen Wachrufen ein gutes Drama auszeichne, - „daß unsere ganze Seele sich darüber erfreut" (FW, 673) - , so geschieht dies im Bewußtsein, daß - wie Kant formuliert hat - die „geistige L u s t " ihrem Wesen nach „idealisch" sei und „erkannt [werde] aus puren Begriffen des Verstandes". Dies mache sie zur unverzichtbaren E r g ä n z u n g des Erkenntnisvermögens, da durch sie überhaupt erst die menschliche Fähigkeit zu objektiven Werturteilen erwachse. Hieraus folgert Kant kurz und bündig: „Was gefällt aus der Uebereinstimmung der allgemeinen Erkenntnißkraft, ist gut; und wenn es aus demselben Grunde mißfällt, so ist es böse [resp. schlecht]" (M, 249). Noch deutlicher wird die mit Lenzens Entwurf einer Dramentheorie verbundene und von Schulz in Frage gestellte Ernsthaftigkeit, vergegenwärtigt man sich Kants Feststellung, jegliches frei entschiedene „Recipiren" (also nicht nur das durch die Sinne Auf-, sondern das intellektuelle Übernehmen) sei gleichbedeutend mit dem „Gefühl der Lust", während er das „Ausschließen" als das „der Unlust" bezeichnet (M, 247). Vor diesem philosophischen Hintergrund scheint Lenzens Betonen einer emotionalen Beziehung des Zuschauers zum Gegenstand seiner Betrachtung und der davon abhängigen Unterscheidung in ein gutes bzw. schlechtes Werk doch weit mehr darzustellen, als das von Schulz vermutete ironische Spiel mit einem rein willkürlichen Lustprinzip.53 Ist durch den Bezug auf Kant erst einmal der geistige Hintergrund der Argumentation Lenzens deutlich geworden, ohne dessen Kenntnis die theoretischen Überlegungen des Dichters nicht adäquat einzuordnen sind, relativiert sich auch das in der Sekundärliteratur oftmals gefällte und auch von Schulz überund ihrer Auswahl für diese Abhandlung vgl. Erster Teil, Zweites Kapitel, V „Die Vorlesungsmitschriften". S3 Dabei ist es gleichgültig, ob es sich bei dem Objekt einer derartigen Betrachtung um ein durch den Gartenbau domestiziertes Stück Natur oder um ein rein artifiziellen bzw. mehr naturgemäßeren Regeln nachgebildetes Drama handelt, weil für alle Gegenstände die gleichen philosophischen Maßstäbe gelten. Ergänzt sei an dieser Stelle, daß Lenzens Vergleich eines Dramas mit den beiden im 18. Jahrhundert miteinander konkurrierenden Techniken des Gartenbaus sich in der Theaterwissenschaft bis heute als überaus praktikabel zur Beschreibung unterschiedlicher Dramentheorien erhalten hat. So etwa bei Georg Hensel, der am klassischen Aufbau eines Barockgartens die Charakteristika der damaligen französischen Bühnenkunst veranschaulicht. Vgl. Georg Hensel: Spielplan. Der Schauspielfahrer von der Antike bis zur Gegenwart, 2 Bde., München 1992, Bd. 1, S. 229f.
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nommene Urteil, Lenz sei als Theoretiker gescheitert, insbesondere bei dem Versuch, in der Tradition der Aufklärung „objektivierende Festlegungen des Schönen" (Schulz, 269) zu realisieren.54
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Die vorherigen Ausführungen haben die Notwendigkeit verdeutlicht, das Forschungsinteresse gezielt auf Lenzens philosophische Überlegungen zu richten, um den von Immanuel Kant ausgeübten Einfluß nachzuweisen und qualitativ wie quantitativ zu bestimmen. Bei einer solchen Analyse muß berücksichtigt werden, daß Lenzens in der Forschung als unsystematisch bemängeltes freies Philosophieren und sein konsequentes Mißachten tradierter philosophischer Systeme nicht etwa von einem intellektuellen Ungenügen herrührt, sondern vielmehr der von Kant gelehrten philosophischen Praxis (einer „eigenthümliche[n] Methode des Unterrichts in der Weltweisheit") entspricht, die der Dozent in der Tradition der Antike als „zetetisch [...], d.i. f o r s c h e n d " bezeichnet hat.55 Denn die Philosophie - so Kant in seiner Vorlesung über Philosophische Enzyklopädie - könne schließlich nicht wie etwa die Mathematik g e l e h r t werden, weil es dafür erst eines allgemeingültigen Systems bedürfe, eines ,,Urbild[es], das ohne Fehler und folglich zur Nachahmung" geeignet sei.56 Weil er das Erschaffen bzw. Entdecken eines derartigen philosophischen Urbildes durch den Menschen aber für undenkbar halte, vermöge ein Mensch auch keine philosophische „Erkenntniß selbst, sondern [allenfalls] die Methode" (PE, 6) zu vermitteln, auf welche Weise jeder einzelne durch den richtigen Gebrauch der ihm natürlich gegebenen Verstandeskräfte zu philosophischer Erkenntnis gelangen könne. Kant betont in diesem Zusammenhang, man dürfe das Philosophieren keineswegs mit 'jemandes Gedanken nachzuahmen' (vgl. PE, 7)57 verwechseln, denn das Individuum müsse vor allem lernen, selbst zu denken „und zwar a priori" (PE, 7). Deshalb bestehe seine - Kants vornehmste Aufgabe als Dozent der Philosophie darin, seine Schüler in den
54 Dieser Einschätzung wird im weiteren Verlauf eine anderslautende Interpretation entgegengestellt; vgl. hierzu Zweiter Teil, Zweites Kapitel, II. 1 „Das Schöne: Reiz der Begierde". 55 Kant: Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbjahre von 17651766. - In: Kants Werke (Akademie-Ausgabe), Bd. II, Vorkritische Schriften II. 1757-1777, unveränderter photomechanischer Abdruck der Originalausgabe, Berlin 1968, (S.303-314), S. 307. Künftig abgekürzt „N". 56 Kant: Vorlesungs-Mitschrift Philosophische Enzyklopädie, hrsg. in Bd. XXIX der AkademieAusgabe, Kant's Vorlesungen, Bd. VI, Kleinere Vorlesungen und Ergänzungen I, 1. Hälfte, 1. Teil, Berlin 1980, S. 3-45. Künftig abgekürzt „PE". 57 Bereits 1765 stellte Kant hierüber in seiner Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen im nachfolgenden Winterhalbjahr fest: „Um also auch Philosophie zu l e r n e n , mUßte allererst eine wirklich vorhanden sein. Man müßte ein Buch vorzeigen und sagen können: sehet, hier ist Weisheit und zuverlässige Einsicht" (N, 307).
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„Regeln des richtigen Gebrauchs vom Verstand und der Vernunft" zu unterweisen (PE, 7), ihnen ein „Führer der Vernunft" und kein dogmatischer Lehrmeister zu sein, eine geistige „Richtschnur" also, (PE, 8) durch die sie befähigt würden, sich selber in den fortdauernden Prozeß des Philosophierens hineinzubegeben, eigene philosophische Thesen zu formulieren, sie kritisch zu wägen und schließlich zu verifizieren oder zu verwerfen. Nur so sei philosophische Praxis möglich, nur so ließen sich neue Erkenntnisse gewinnen bzw. alte auf ihre aktuelle Relevanz stets neu überprüfen. Sei ein Individuum erst einmal in dieser ,,Methode[,] selbst nachzudenken" erfolgreich unterrichtet worden, habe es also den Gebrauch der - kritischen - Vernunft eingeübt, sei es befähigt, „die fruchtbare Wurzel [der Erkenntnis] in sich zu pflanzen", (N, 307) eine Wurzel, deren Frucht den einzelnen letztlich - als eigentlichen Zweck jeglicher philosophischen Betätigung - seiner Bestimmung, dem moralischen Handeln, zuführe (vgl. PE, 8).58 Dieses Selbstverständnis Kants, als Lehrer - nicht der Philosophie, sondern des Philosophierens - explizit keine eigene philosophische Schule, kein starres System tradieren zu wollen, sondern vor allem Fertigkeiten, die dem einzelnen das Sich-Befreien aus der eigenen Unmündigkeit gestatten, stellt einen wesentlichen Schlüssel zum Verstehen und Einordnen der philosophischen Überlegungen Lenzens dar. So verstünde man den speziellen Einfluß des Dozenten auf ihn falsch, betriebe man eine strenge Analyse des Lenzschen Œuvres nach Kant und interpretierte jede inhaltliche Abweichung sogleich als Symptom elementarer philosophischer Gegensätze. Denn Lenz hat im besten Sinne Kants Gedanken niemals nachgeahmt, er hat sie und die ihnen zugrunde liegende Methode statt dessen w ö r t l i c h g e n o m m e n , um zu eigenständigen - und mitunter auch kontroversen - Erkenntnissen zu gelangen. Deshalb erweist er sich selbst dann noch als wahrer Kantianer, wenn er nicht davor zurückschreckt, die ihm von seinem Dozenten eröffnete geistige Freiheit dafür zu nutzen, sich von der ihm dargebotenen 'Richtschnur' zuweilen auch etwas weiter zu entfernen.
58 Daß Lenzens zeitlebens wahrender Versuch, in diesem Sinne philosophische Erkenntnis und dadurch Anleitung zur moralischen Ausrichtung seines Lebens zu gewinnen, stets auch ein erbittertes Ringen mit diesem Bestreben entgegenwirkenden inneren Kräften bedeutet hat, verdeutlicht er unter anderem in der dreizehnten „Selbstunterhaltung" seiner 1775 verfaßten, autobiographisch intendierten Prosa Moralische Bekehrung eines Poeten. Darin läßt er sein literarisches Alter Ego gestehen, es „fühle", es habe „Anlagen in" sich, „der allerschlechteste Mensch auf dem Erdboden zu werden". Doch wolle es diesen - von Kant als dem Menschen natürlich eingeborener Hang zum Bösen bezeichneten - Trieb mit aller Verstandeskraft bekämpfen und an diesem Konflikt eher zugrunde gehen, als vor dieser Anlage zu kapitulieren („O daß mein Geist mich nie verließe und eh die elende Seichtigkeit und Selbstgefälligkeit über mich käme, mich lieber dafür durch streitende Leidenschaften zu Tode quälte."). Lenz: Moralische Bekehrung eines Poeten. - In: WB, Bd. 2, (S. 330-353), S. 352. Künftig abgekürzt „MB".
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Die nachfolgende Untersuchung geht von der Prämisse aus, daß Lenzens Studium in Königsberg (und nicht etwa während seines anschließenden Aufenthaltes in Straßburg erfahrene Einflüsse) neben seiner pietistischen Erziehung als die zweite der beiden ihn intellektuell maßgeblich prägenden Komponenten anerkannt werden muß. Das Ausmaß ihrer Bedeutung wird vielleicht erst dann faßbar, wenn man sich vergegenwärtigt, daß Lenz an der Bruchstelle einander ablösender Epochen unmittelbarer Zeuge und Betroffener einer Revolution in der europäischen Geistesgeschichte gewesen ist, die erst Jahre später, nach Veröffentlichung von Kants Kritiken, ihre Breitenwirkung entfaltet und damit einen bereits zu Lenzens Studienzeit begonnenen Prozeß dynamisiert hat, der bis heute noch nicht abgeschlossen ist. Zweifelsfrei hat Kant dem vor seinem Studium von der intellektuellen Enge des Franckeschen Pietismus (und dessen Opposition zum von Kant überwundenen Leibniz-Wolffschen Weltverständnis) dominierten jungen Dichter das Erweitern bzw. überhaupt erst das Öffnen seines geistigen Horizontes ermöglicht. Doch vertritt der Verfasser die Überzeugung, daß dieser intellektuelle Emanzipationsprozeß vornehmlich nicht als Überwindung bzw. Zurückweisung der in Lenz einst angelegten pietistischen Grundüberzeugungen verstanden werden darf, sondern in wesentlichen Punkten als deren produktive Weiterentwicklung. Dieser Schluß wird - außer als Ergebnis einer detaillierten Analyse bereits durch einige grundsätzliche Parallelen der Kantschen Philosophie zum Pietismus nahegelegt, die für Lenzens geradezu begeisterte Kant-Rezeption eine vermutlich ebenso entscheidende Rolle gespielt haben dürften wie die Tatsache, daß auch sein Dozent in Elternhaus und Schule einst pietistisch erzogen worden ist.59 Nicht zufällig steht deshalb im Zentrum von Kants Gedankengebäude ebenso wie im Zentrum der pietistischen Glaubenspraxis die Erkenntnis, der Glaube an ein vom menschlichen Begriffsvermögen nicht zu Erfassendes besitze an sich noch keinen sittlichen Wert, - daß vom eigenen Tun, vom moralphilosophisch begründeten Handeln hingegen alles abhänge. Das hierfür notwendige Regelwerk gelte es vom Menschen zu erkennen, - mittels der von Kant benannten erkenntnistheoretischen Prinzipien oder durch den (von Kant - wie noch gezeigt wird - in keiner Weise zurückgewiesenen) religiösen Glauben. Und diese Gewißheit um die zentrale Bedeutung einer vom Menschen unabhängig existierenden Moral wird ebenso bei Immanuel Kant wie auch beim Pietismus in besonderer Weise von erziehungstheoretischen Überlegungen flankiert, die jeweils zu nichts Geringerem anleiten sollen, als den Menschen der ihm zugedachten transzendenten Bestimmung zuzuführen, indem er zum Verwirklichen des sittlichen Ideals befähigt werde. So hat Lenz bei Kant wich-
59 Kants Biograph Karl Vorländer beschreibt ausführlich das pietistisch geprägte Elternhaus des Philosophen sowie dessen Schulzeit am Königsberger Fridericianum, das von einem ausgeprägt pietistischen Charakter 'beseelt' gewesen sei. Vgl. Vorländer, S. 18f u. 32f.
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tige Gemeinsamkeiten - gleichsam säkularisiert - vorgefunden, die sich als förderlich für die weitere Rezeption der Transzendentalphilosophie erwiesen haben und es ihm ermöglichten, sich aus der von seinem Dozenten bekämpften geistigen Unmündigkeit zu befreien, ohne deswegen grundlegende Glaubensvorstellungen und Betätigungsfelder des von ihm im wesentlichen positiv beurteilten Pietismus aufgeben zu müssen.60 Hierzu zählt insbesondere das pietistische Missionsbestreben, das auf grundlegende Sozial- und vor allem Erziehungsreformen zum Zwecke einer weltumfassenden Generalreformation ausgerichtet gewesen ist. Nicht zuletzt dieses für das pietistische Selbstverständnis zentrale Bestreben hat Lenz im aufklärerischen Sinne modifiziert, um - wie er in der an seinen Dozenten gerichteten Ode beteuert - fortan in Kants Sinne nicht nur zu leben, sondern vor allem 'die Kinder zu lehren' und ihren 'Augen Licht zu geben' (vgl. DHP, 84). Dieses konstruktive, aufgeklärte Fortentwickeln der eigenen geistigen Wurzeln wird besonders prägnant von einem Brief illustriert, den Lenz im April 1776 verfaßt hat.61 Er ist an einen Lehrer des Dessauer Philanthropin gerichtet, einer von dem Philanthropen Johann Bernhard Basedow 1774 gegründeten Lehranstalt, dessen erziehungstheoretische Schriften von Kant schon in den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts als vorbildlich erkannt und in seinen Kollegia erörtert worden sind. In seinem Schreiben versucht Jakob Lenz vermittelnd in einen grundsätzliche Positionen der Aufklärung berührenden - Konflikt zwischen der von Dessau ausgehenden pädagogischen Bewegung und führenden Pietisten einzugreifen, wodurch er auf geradezu ideale Weise seinen eigenen Standpunkt veranschaulicht. Ausgelöst worden war die öffentlich geführte Kontroverse durch Basedows von der Leibniz-Wolffschen Philosophie beeinflußtes Menschenbild. Denn im Gegensatz zum Pietismus, der nur den an Katechismus und Bekenntnisformeln gebundenen Christen als idealen Menschen anzuerkennen vermocht hat, propagiert der Philanthrop das Ideal eines freien, nur an Natur und Vernunft gebundenen - in seiner Wertigkeit von jeglicher Religiosität also unabhängigen - Individuums. Lenz nun wirbt um mehr Verständnis für die von
60 Die Einschätzung einer positiven Haltung des Dichters gegenüber dem Pietismus wird - von wenigen, im späteren Verlauf noch zu benennenden Ausnahmen abgesehen - von der literarhistorischen Forschung Uberwiegend nicht geteilt. Statt dessen wird ein tiefgehender VaterSohn-Konflikt vermutet, der Lenzens künstlerische Entwicklung im Sinne eines gegen die Vätergeneration aufbegehrenden Autors befördert haben soll und gleichermaßen als Anlaß wie auch als signifikantestes Symptom für seine angebliche Abwendung vom Pietismus zu werten sei. Dieses - an die gängige Einschätzung der unter dem Sammelbegriff Expressionismus gefaßten jungen Kunstlergeneration des beginnenden 20. Jahrhunderts allzu nah angelehnte - Paradigma scheint aber kaum haltbar zu sein. Denn sowohl die Existenz jenes angeblich Lenzens Werk eine bestimmte Richtung vorgebenden Konfliktes als auch die ihm unterstellte Opposition zum Pietismus können nach unvoreingenommener Neubeurteilung der vorhandenen Quellen ausgeschlossen werden. Vgl. hierzu insbesondere Erster Teil, Erstes Kapitel, I „Der Vater - Revision eines Stereotyps". 61 Lenz an Simon, Weimar, April 1776. - In: WB, Bd. 3, (S. 433-435) S. 434.
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pietistischer Seite hieran geäußerte Kritik und für die Aufnahme eines sachlichen Dialogs. Er tut dies nicht etwa, weil er die pietistischen Vorbehalte teilt, sondern weil er die ihnen zugrundeliegenden Motive mißverstanden sieht. Denn die Pietisten seien - so Lenz - ungeachtet ihres sich leicht erregenden religiösen Eifers beileibe „keine Spitzbuben",62 er „kenne sie besser", schließlich habe er einen ,,Vater[,] der Pietist" und ferner „der vortrefflichste Mann unter der Sonne" sei. Man müsse - so seine optimistische Einschätzung - miteinander lediglich in einen intensiveren Gedankenaustausch eintreten und der pietistischen Seite den eigenen, im Grunde nah verwandten Standpunkt angemessen erläutern, um sie für die vom Dessauer Philanthropin repräsentierten Ansichten einzunehmen. Speziell auf seinen Vater reflektierend, der in einer seiner zahlreichen Veröffentlichungen einen Beitrag zu diesem Diskurs geleistet zu haben scheint, ermuntert Lenz seinen Briefpartner: ,,[G]eben Sie ihm diesen Schlüssel zu Ihren Schriften und ganzem bisherigen Betragen und er, wie alle guten Pietisten, springen [sie!] über die Mauer für Sie". Schließlich seien Pietisten doch „höchst brauchbaref...] Leute", bei denen es lohne, „in ihre Ideen hineinzugehen" und sie in die eigene „Partei zu ziehn". Schließlich verfolge man im Grunde doch die gleichen ambitionierten Ziele, sei doch die in Dessau gepflegte - auf die individuelle Verwirklichung von Brüderlichkeit und Glückseligkeit abzielende - „Tugend" kaum „anderes als die ihrige". Voneinander unterscheiden würde man sich lediglich in der „Vorstellungskraft" womit Lenz implizit seinen eigenen ehemaligen und nun im Sinne Kants aufgeklärten Standpunkt anspricht - , weil den Pietisten „durch ihre vorsätzliche U n v e r n u n f t " der „Kopf zu leicht und dafür ihr Herz desto voller" sei.63
VI Wie auch immer Lenzens Beurteilung aus theologischer oder philosophischer Sicht zu bewerten sei, sie dokumentiert das Bestreben, eine Synthese pietistischer Grundsätze mit den Erkenntnissen der späten Aufklärung zu verwirklichen. Die nachfolgende Darstellung wird zeigen, daß der Dichter - dessen Selbstverständnis als Philosophierender, als Künstler wie auch als Erzieher vor allem von der moralphilosophischen Fragestellung dominiert gewesen ist diese Absicht in der festen Überzeugung verfolgt hat, den e i g e n t l i c h e n Kern der pietistischen Religionspraxis in Königsberg nicht nur lediglich rezipiert und weiterentwickelt, sondern dank Kants Durchbruch zum Kritizismus64 62 Ebd. 63 Ebd. 64 Der Begriff bezeichnet im allgemeinen Sinn die erkenntnistheoretische Richtung, die grundsätzlich vor dem Aufbau eines philosophischen Systems eine kritische Untersuchung des Erkenntnisvermögens vornimmt. Im engeren Sinn bezeichnet er Kants Erkenntnistheorie. Kant betrachtete den Kritizismus als Höhepunkt und Vollendung der von ihm in drei Stadien diffe-
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auch auf eine erkenntnistheoretische Grundlage gestellt und dadurch philosophisch abgesichert vorgefunden zu haben. Um dies zu veranschaulichen und im Detail zu erläutern, ist Lenzens dichterisches Werk weniger geeignet, da ihm im Kontext des gesamten Œuvres vornehmlich die Funktion zufällt, die zuvor theoretisch formulierten moralphilosophischen bzw. erkenntnistheoretischen Erkenntnisse und Lehrsätze an ein breiteres Publikum gerichtet zu illustrieren und dadurch zur Erbauung, Belehrung und Besserung des Individuums beizutragen. Diesen illustrierenden Charakter seiner Dramen, Gedichte und Prosaarbeiten unterstreicht der Autor in seinen philosophischen Vorträgen unter anderem durch das von ihm verwendete Argumentationsschema. Denn er entwickelt seine Gedankenketten auf der Grundlage der aufklärerischen, von Kant in besonderer Weise praktizierten Gepflogenheit, theoretische Ausführungen über den Weltbegriff, Gott, Natur, Vernunft oder die Erziehbarkeit des Menschen etc. durch eine Fülle praxisbezogener Beispiele zu veranschaulichen und ihren philosophischen Gehalt dadurch gleichsam zu popularisieren.65 Vornehmlich diesem Zweck, dem der weitmöglichst forcierten Popularisierung seiner I d e e n , dienen Lenzens Dichtungen, was ihr Autor 1777 - wiederum durch ein praktisches Exempel gleichnishaft veranschaulicht. So illustriert er gleich zu Beginn seines Aufsatzes Das Hochburger Schloss66 am Beispiel einer zerstörten Raubritterburg im Schwarzwald, daß die Endlichkeit eines materiellen Gegenstandes (und nichts anderes stellt eine als Publikation kursierende Dichtung dar) im Grunde nichts über sein eigentliches, sein ideelles Fortdauern in der Zeit aussage. Wichtig sei nicht der intakte Zustand von Mauern und Gebälk, sondern der sie einst beseelende Geist ihres Schöpfers, der auch dann noch von anderen Menschen erschlossen und tradiert werden könne, wenn der einst kreierte Gegenstand schon längst zu einer Ruine zerfallen oder unvollendet geblieben sei. Lenzens Überlegungen münden in der Schlußfolgerung, der „Geist des Künstlers wiegfe] mehr als das Werk seiner Kunst" (DHS, 754); - eine Erkenntnis, die - wird sie auf sein Œuvre bezogen - die Dichtungen als poetische Verweise, als Repräsentanten seiner in den theoretischen Ausführungen unmittelbarer und differenzierter ausgedrückten Geisteshaltung erscheinen läßt. Zu den in dieser Hinsicht aufschlußreichsten Arbeiten zählen vor allem seine in Form von Redemanuskripten überlieferten Vorträge, die Lenz in den
renzierten Philosophiegeschichte der Aufklärung: erstens, das Stadium des Dogmatismus; zweitens, das des Skeptizismus; und drittens, das des Kritizismus der reinen Vernunft. Das erste sei von einem blinden Vertrauen auf das Vemunftvermögen charakterisiert gewesen, das zweite von einem - ebenfalls dogmatischen - Verzicht auf alle behauptete Erkenntnis, während im dritten ohne jegliche vorgefaßte Meinung die Bedingungen der Möglichkeit nicht zuletzt metaphysischer Erkenntnis erörtert werden und dabei praktische Erkenntnisse zur Rechtfertigung der Freiheitsidee einen besonderen Rang erhielten. 65 Vgl. hierzu ausführlich Zweiter Teil, Drittes Kapitel „Der Prediger". 66 Lenz: Das Hochburger Schloss. - In: WB, Bd. 2, S. 753-760, künftig abgekürzt „DHS".
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Jahren 1771 und 1772 verfaßt hat, nachdem ihm durch den Kontakt zur Straßburger Sozietät die Möglichkeit eröffnet wurde, als Prediger wiederholt vor ein geistig interessiertes und gebildetes Publikum zu treten. Die hervorgehobene Bedeutung dieser Predigten wird auch daran deutlich, daß Lenz in jenem Zeitraum - soweit überliefert - nur wenige dichterische Arbeiten verfaßt oder konzipiert hat, sein geistiger Arbeitsschwerpunkt also nicht im Bereich der Poesie gelegen hat. Diese Tatsache ist in der Vergangenheit wohl auch deswegen eher gering geschätzt worden, weil in das Jahr 1772 die Vollendung des seine Rezeptionsgeschichte dominierenden Dramas Der Hofmeister67 fiel, das jedoch bereits drei Jahre zuvor in Königsberg begonnen worden war. Ab 1773/74 verschiebt sich diese Gewichtung in Lenzens Œuvre allmählich, da der sich der Schriftstellerei nun auch als Broterwerb zuwendende Autor zusehends die Dichtkunst als favorisiertes Ausdrucksmittel nutzt und bis zu seiner im Sommer 1777 einsetzenden Lebenskrise ein facettenreiches literarisches Werk schafft, das - auch wenn vieles davon zu Lebzeiten unpubliziert geblieben ist - offenbar weitgehend überliefert vorliegt.68 Aus Lenzens Studienjahren sind hingegen kaum Autographen erhalten. Bei dem wenigen, das zahlreiche gravierende Überlieferungsverluste überstanden hat,69 handelt es sich im wesentlichen um zwei 1770 entstandene lyrische Dichtungen: um jenes bereits erwähnte lyrisch-hymnische Bekenntnis zum Herrn Professor Kant sowie um den erheblich umfangreicheren, 1988 erstveröffentlichten Verszyklus Belinde und der Tod.10 Vor allem sein Vergleich mit den - zahlreicher erhaltenen - poetischen Arbeiten aus den im Elternhaus verbrachten Jugendjahren illustriert prägnant die zwischenzeitlich durch Kant erfahrene Prägung. 71 Die Analyse der Lenzschen Dichtungen wird ebenso wie die im Vordergrund dieser Abhandlung stehende Untersuchung seiner Predigten, Vorträge und theoretischen Aufsätze unter Einbeziehung ausgewählter Mitschriften der
67 Lenz: Der Hofmeister oder Vorteile der Privaterziehung. - In: WB, Bd. 1, S. 41-123, künftig abgekürzt „DH". 68 Zu den einzelnen Stadien seines literarischen Schaffens siehe ausführlich Zweiter Teil, Erstes Kapitel „Phasierung des Œuvres". 69 Verwiesen wird vor allem auf zwei Brandkatastrophen, die die Vernichtung umfangreicherer Manuskript-Konvolute verursacht haben sollen: Zum einen aus dem Jahre 1780/81 eine durch Kriegseinwirkung in Straßburg ausgelöste sowie zum anderen - im Kontext des Napoleonischen Rußlandfeldzuges - der Brand Moskaus im Jahre 1812, bei dem vom Dichter nachgelassene und von Freunden verwahrte Aufzeichnungen der späten Jahre zerstört worden seien. Vgl. Sigrid Damm: Unruhe. Rede anläßlich der Verleihung des Lion-FeuchtwangerPreises der Akademie der Künste/DDR 1987. - In: Karin Wurst (Hrsg.): J.M.R. Lenz als Alternative? Positionsanalysen zum 200. Todestag. Köln 1992, (S. 23-28), S.25. 70 Lenz: Belinde und der Tod. Carrikatur einer Prosepopee. - Hrsg. von Verena TammannBertholet und Adolf Seebaß, Erasmushaus Basel 1988, Faksimile-Ausgabe mit Transkribierung. Künftig abgekürzt „BuT". 71 Vgl. insbesondere Zweiter Teil, Zweites Kapitel, Π.3 „Tod".
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Hauptvorlesungen Immanuel Kants erfolgen.72 Bei kritischem Abgleich untereinander und durch das Einbeziehen anderer Quellen (wie die der für den Entwurf von Kants Raum-Zeit-Lehre grundlegenden Dissertationsschrift De mundi sensibilis
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von 1770) sind die Mit-
schriften geeignet, den philosophischen Entwicklungsstand des Königsberger Dozenten zum Zeitpunkt seiner von Lenz miterlebten 'kopernikanischen Wende' zum Kritizismus74 zu vergegenwärtigen und die von ihm seinen Studenten dargebotenen Lehrinhalte zu erschließen. Auf die Verwendung von Kants 72 Zu deren Charakter und Auswahl vgl. Erster Teil, Zweites Kapitel, V „Die Vorlesungsmitschriften". 73 Kant: De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis (Über die Form und die Prinzipien der Sinnen- und Geisteswelt). - Hrsg. und Ubersetzt von Klaus Reich. Hamburg 1966. Künftig abgekürzt „Dms". Diese Schrift war (abgesehen von einer Rezension im Jahre 1771 sowie zwei Aufsätzen über das Dessauer Philanthropin 1776/77) bis zum Erscheinen der ersten Kritik 1781 für über ein Jahrzehnt die letzte schriftliche Abhandlung, mit der Kant vor die Öffentlichkeit trat. Den vor seiner Dissertation verfaßten - vorkritischen - Abhandlungen maß er später - wie noch eingehend erläutert wird - keine Bedeutung mehr bei, da er sie inhaltlich vom Kritizimus als grundlegend überholt erachtete. 74 Vgl. Erster Teil, Zweites Kapitel, Π „Kants 'kopernikanische Wende'". Zur Erläuterung des Titels dieser Studie, „J.M.R. Lenz unter dem Einfluß des frühkritischen Kant", sei daraufhingewiesen, daß der Begriff f r ü h k r i t i s c h ein in der philosophischen Forschung ungebräuchlicher Terminus ist. Dem Verfasser scheint er jedoch am ehesten geeignet, um den Entwicklungsstand der Kantschen Philosophie um 1770 adäquat zu umschreiben, der nicht mehr als v o r k r i t i s c h , aber im eigentlichen Sinne auch noch nicht als k r i t i s c h bezeichnet werden kann, da der Philosoph für seine Erkenntnistheorie wesentliche Aspekte wie den der Kategoriebildung erst im späteren Verlauf der 70er Jahre entwickelt hat. In diesem Kontext muß ein im folgenden noch mehrfach gebrauchter Zentralbegriff der Kantschen Philosophie erläutert werden, der von Kant beinahe ausschließlich als Eigenschaftswort verwendete Begriff t r a n s z e n d e n t a l . Er stammt ursprünglich aus der mittelalterlichen Hochscholastik und hat im Anschluß an den Königsberger Philosophen noch mannigfache, bis heute nicht erschöpfend untersuchte Wandlungen erfahren. Auf den Kriztizismus bezogen weist er in erster Linie auf eine philosophische Methode hin, worüber der Philosoph in der Kritik der reinen Vernunft ausführt, er nenne „alle Erkenntnis t r a n s z e n d e n t a l , die sich nicht so wohl [sie!] mit Gegenständen, sondern mit u n s e r e r E r k e n n t n i s a r t von Gegenständen, so f e r n d i e s e a p r i o r i m ö g l i c h s e i n s o l l , überhaupt beschäftigt. Ein System solcher Begriffe würde T r a n s z e n d e n t a l - P h i l o s o p h i e heißen"; (KrV, 83 [A13 / B25]) bzw. - wie er in der 1783 die Kritik erläuternden Prolegomena schreibt - „den Namen eines transscendentalen Idealismus" tragen („Das Wort transscendental [...], welches bei mir niemals eine Beziehung unserer Erkenntnis auf Dinge, sondern nur aufs E r k e n n t n i s v e r m ö g e n bedeutet, sollte diese Mißdeutung [den Kantschen Idealismus mit dem empirischen oder gar dem mystischen zu verwechseln] verhüten."). Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können. Hrsg. von Karl Vorländer, 7. durchgesehene Auflage, Hamburg 1993, S. 47. Künftig abgekürzt „Pro". Von dieser Begriffsbestimmung des transzendentalen oder auch kritischen Idealismus werden unter anderem auch der metaphysische Idealismus unterschieden (für den ein im Gegensatz zur Materie stehendes Ideelles existiert - sei es Geist, Wille, Gesetz, Seele oder Gott - , das überhaupt oder zumindest für uns Menschen Grund und Bedingung der Welt darstelle), der magische, der objektive, der subjektive und - als Variation des metaphysischen - der morphologische, der in der Tatsache, daß die Welt nach erkennbaren Ideen gestaltet sei, ihren Sinn erblickt und ru dessen Vertretern Goethe gezählt wird.
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handschriftlichem Nachlaß, insbesondere den sogenannten Reflexionen, soll jedoch weitgehend verzichtet werden, da - wie in der philosophischen Forschung betont wird75 - zum einen ihre jeweilige Niederschrift kaum terminiert werden kann, und zum anderen sich die Vorstellung als unhaltbar erwiesen hat, die Reflexionen repräsentierten unmittelbare Inhalte der Vorlesungen, - die vom Dozenten ohne Vortragsmanuskript und in lediglich freier Anlehnung an die ihnen zugrundegelegten Kompendien gehalten wurden.76 Bei der Diskussion Lenzscher Gedankenmodelle wird die Gegenüberstellung einzelner Formulierungen mit Zitaten Kants eine wesentliche Rolle spielen. Hierdurch soll die Unmittelbarkeit der vom jungen Dichter in Königsberg erfahrenen Beeinflussung verdeutlicht und dem Einwand vorgebeugt werden, Lenz habe sich in wesentlichen philosophischen Überlegungen womöglich lediglich an einem speziellen Personen nicht konkret zuzuordnenden Zeitgeist orientiert. Darüber hinaus soll dieses methodische Vorgehen dafür sensibilisieren, wie bedeutend Lenzens Begegnung mit Kant auch für seine weitere sprachlich-literarische Entwicklung gewesen war. Die nachfolgende Untersuchung ist in zwei Teile gegliedert. Im ersten werden zunächst die vom Pietismus geprägten geistigen Voraussetzungen des Dichters dargestellt und die in der literarhistorischen Forschung mit der Person seines Vaters verbundenen, zumeist negativen Urteile einer Prüfung unterzogen, um eine vorurteilsfreie Neueinschätzung der seine Sozialisation bestimmenden Einflüsse zu ermöglichen. Im direkten Anschluß erfolgt die Beschreibung der von Lenz in Königsberg verbrachten Studienjahre, wobei nicht nur die zentralen philosophischen Standpunkte der zu jener Zeit vollzogenen Hinwendung Kants zum Kritizismus erläutert werden, sondern ebenso der Lehrplan und die Unterrichtspraxis des D o z e n t e n , den es vom S c h r i f t s t e l l e r Kant aus vielerlei noch zu benennenden Gründen sorgfältig zu unterscheiden gilt. Im zweiten Teil erfolgt sodann die eigentliche Diskussion des Lenzschen Œuvres, dessen verschiedene Entstehungsphasen zunächst aufgezeigt werden. Danach veranschaulicht die ausführliche Erläuterung der in den theoretischen 75 Vgl. hierzu Gerhard Lehmann, den Herausgeber der Vorlesungen Kants, der seine frühere Annahme, die Reflexionen enthielten alle inhaltlichen „Voraussetzungen für die Vorlesungsmitschriften", indem sie „Kants Aufzeichnungen [...] in den Kompendien" wiedergaben, grundlegend revidiert hat. Nach eingehender Analyse will Lehmann sie allenfalls noch als „Standpunktindizien" gelten lassen, die geistig zwar mit den Mitschriften und den Kompendien verschrankt seien, sich jedoch nur in direkter Verbindung mit ihnen verwenden und analysieren ließen („Meine Auffassung [...] möchte ich heute dahin revidieren, daß zwar die Aufzeichnungen gegeben sind, aber nicht die Zusammenhänge, in die sie Kant wahrend der Vorlesung stellte, und daß Kant, weil er frei sprach, vieles brachte, was er sich überhaupt nicht notiert hatte. - Sehr charakteristisch sind in dieser Hinsicht die von Adickes als 'Kollegentwürfe' bezeichneten 'Losen Blätter' zur Anthropologie in Bd. XV, 2. Hälfte" der Akademie-Ausgabe.) Gerhard Lehmann: Einleitung. - In: Kants Vorlesungen (AkademieAusgabe Bd. XXIV), Bd. 1, Vorlesungen über Logik, zweite Hälfte, Berlin 1966, (S. 955988) S. 974. 76 Vgl. Erster Teil, Zweites Kapitel, IV „Die Unterrichtspraxis".
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Überlegungen des Dichters zentral behandelten Begriffe das Ausmaß der durch Kant erfahrenen geistigen Prägung, wobei Lenzens hierauf aufbauender, erkenntnistheoretisch abgesicherter Entwurf einer allgemeinen Sittenlehre in seinen wesentlichen Aspekten dargestellt wird, der mit seinem auf pädagogische Wirkung abzielenden Kunstverständnis untrennbar verbunden ist.77 Die im Verlauf dieser Darstellung erzielten Erkenntnisse sollen schließlich den Ausblick auf ein verändertes Verständnis der Epoche des Sturm und Drang ermöglichen, bei dem es unter speziellem Bezug auf Goethe hervorzuheben gilt, daß der bei Lenz erfolgte Nachweis einer intensiven und überaus produktiven Kant-Rezeption nicht ohne weitreichendere Konsequenzen für das Verständnis der Literatur der 70er Jahre des 18. Jahrhunderts bleiben kann.
77 Hiervon handelt das Dritte Kapitel des Zweiten Teils, wobei bereits an dieser Stelle darauf hingewiesen sei, daß der im Titel dieses Kapitels gebrauchte Begriff Transzendentale Ästhetik' - im Sinne Kants - keine „kritische Beurteilung des Schönen" oder eine „Kritik des Geschmacks" bezeichnet (KrV, 95 Anm.), sondern auf eine „Wissenschaft von allen Prinzipien der Sinnlichkeit a priori" verweist. Dieser hat Kant in der Kritik der reinen Vernunft den Ersten „Teil der transzendentalen Elementarlehre" gewidmet, die „im Gegensatz [zu] derjenigen [steht], welche die Prinzipien des reinen Denkens enthalt, und transzendentale Logik genannt wird" (KrV, 95 [A21 / B35f]). Die Bezeichnung 'Transzendentale Ästhetik' hat der Philosoph ausdrücklich von dem zu seiner Zeit üblichen Gebrauch des Begriffs der Ästhetik unterschieden, in der Erkenntnis, daß die Sinnlichkeit nicht auf die Dinge an sich abziele, sondern lediglich auf die Art, „wie uns, vermöge unserer subjektiven Beschaffenheit, Dinge e r s c h e i ne η. Dies war das Resultat der ganzen transzendentalen Ästhetik" (KrV, 362 [A251 / B308]).
Erster Teil Geistige Voraussetzungen und Lehrjahre in Königsberg
Erstes Kapitel Pietistische Wurzeln I
Der Vater - Revision eines Stereotyps
Am 20. September 17681 immatrikuliert sich der 17-jährige Jakob Lenz gemeinsam mit seinem ein Jahr jüngeren Bruder Johann Christian (1752-1831) als Student an der Königsberger Universität. Ihr Weg hat sie aus Livland in die preußische Pregel-Metropole geführt, wo sie gemäß dem Wunsche ihres Vaters ein Studium der Theologie bzw. der Jurisprudenz aufnehmen wollen. In ihrer Heimatstadt Dorpat, einer im Nordischen Krieg 1704 von Schweden an Rußland gefallenen und 1708 in großen Teilen zerstörten estnisch-lettischen Stadt,2 zählt ihre Familie3 zur einflußreichen deutschen Minderheit. Der Vater ist der aufstrebende evangelische Theologe Christian David Lenz (1720-1789), der 1740, nach Abschluß seines Studiums im vom Franckeschen Pietismus geprägten Halle, ins russisch okkupierte Livland ausgewandert war.4 Dort faßte er, der Sproß eines pommerschen Kupferschmiedes, als Hauslehrer (Hofmeister)5 rasch Fuß in der deutsch geprägten, das Land gemeinsam mit den 1 2
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Vgl. Die Matrikel der Albertus-Universität zu Königsberg i. Pr., 3 Bde., Leipzig 1910-1917. Vgl. ebenso Emil Arnoldt Gesammelte Schriften, Bd. V, Berlin 1909, S. 223. Vgl. zur Geschichte sowie besonders über die politisch-sozialen Zustände in der vom Nordischen Krieg (1700-1721) und andauernder wirtschaftlicher Not gezeichneten Region u.a. Johann Gottfried Herder: Journal meiner Reise im Jahr 1769. Historisch-kritische Ausgabe, hrsg. von Katharina Mommsen. Stuttgart 1976. Vgl. ebenso Carl Schirren: Zur Geschichte des Nordischen Krieges. Kiel 1913. Vgl. zur Geschichte der Familie und zu Lenzens Biographie, deren Darstellung nicht Aufgabe dieser Untersuchung sein kann, unter anderem: Paul Theodor Falck: Der Stammbaum der Familie Lenz in Livland nach einem neuen System. Dazu als Pendant ein Goethe-Stammbuch nach demselben System. Nürnberg 1907. Sigrid Damm: Vögel, die verkünden Land. Das Leben des Jakob Michael Reinhold Lenz. Frankfurt am Main 1989. Dies.: Jakob Michael Reinhold Lenz. Ein Essay. (Künftig abgekürzt als „Nachwort".) In: Dies. (Hrsg.): Jakob Michael Reinhold Lenz. Werke und Briefe. (Künftig abgekürzt „WB".) Bd. 3, Frankfurt am Main 1992, S. 687-768. Georg-Michael Schulz: J.M.R. Lenz. Stuttgart 2001. Die Gründe hierfür mögen weniger wirtschaftlicher Natur gewesen als vielmehr von dem in Halle gepflegten pietistischen Missionsgedanken motiviert worden sein, wobei das Baltikum in der Muttergemeinde des Franckeschen Pietismus als eine der bevorzugten Ausbreitungsregionen angesehen wurde. Die Vermittlung erfolgte vermutlich direkt durch die Franckeschen Anstalten, deren pietistisch geschulte Kandidaten von Halle aus in alle deutschsprachigen Gebiete weiterempfohlen wurden.
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russischen Besatzern dominierenden Gesellschaftsschicht, wozu sich auch seine Heirat mit der Pfarrerstochter Dorothea Neoknapp6 als förderlich erwies. Um 1742 erhielt er seine erste Pfarrstelle, war dann von 1749 bis 1759 Pfarrer in Sesswegen, wo er 1757 zum Propst avancierte. Im Februar 1759 übernahm er schließlich als Oberpastor das Pfarramt der Dorpater Kirchengemeinde von Sankt Johannis, was jedoch nur eine weitere Etappe seines allmählichen Aufstieges in der kirchlichen Hierarchie darstellen sollte. Dieser wird in Dorpat davon begünstigt, daß mit seinem Pfarramt ein Sitz im Stadtconsistorium verbunden ist und ihm die Aufsicht über die Stadtschule überantwortet wird. Denn vor allem in letzterer Position erwirbt er sich durch seine sukzessive aber grundlegende Reform des städtischen Unterrichtswesens gerade bei der weltlichen Obrigkeit Respekt und Anerkennung und empfiehlt sich damit als zuverlässiger, dem Gemeinwohl dienender Untertan.7 Darüber hinaus macht er durch religiöse Schriften8 auf sich aufmerksam, so daß seine schließlich 1779 erfolgende Ernennung zum Generalsuperintendenten des Herzogtums Livland zur wohlverdienten Krönung einer respektablen Laufbahn gerät. Die ihm im Laufe der Jahre zuteil gewordene allgemeine Anerkennung illustriert das 1831 erschienene baltische Gelehrtenlexikon, in dem es anerkennend heißt, Christian Lenz sei „der hervorragendste Theologe des alten Livland" gewesen, „ein von hoher und reiner Begeisterung für sein Amt und seine Lehre beseelter, bis in sein höchstes Alter unermüdlicher Kanzelredner und höchst talentvoller theologischer Schriftsteller".9
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Lenzens Mutter (1721-1778) war seit ihrem 24. Lebensjahr mit Christian David Lenz verheiratet. Sie entstammt mütterlicherseits der Adelsfamilie von Rhaden, ging jedoch aus einer unstandesgemäßen Beziehung ihrer Mutter mit deren Hofmeister Neoknapp hervor. Das Thema der unstandesgemäßen Verführung adliger junger Damen stellt vielleicht auch wegen dieses biographischen Bezuges zur eigenen Familie ein wichtiges Sujet in Lenzens dichterischer Arbeit dar. Über die weitläufigen, auch weltlichen Befugnisse und die soziale Stellung der livländischen Kirchenmänner heißt es beim zeitgenössischen livländischen Schriftsteller August Wilhelm Hupel, daß die Geistlichkeit rechtlich in etwa dem Landadel gleichgestellt sei sowie der russischen Gerichtsbarkeit gewisse Hilfestellungen leisten müsse; etwa, daß der Kirchendiener für die Ausführung der allgegenwärtig drohenden Prügelstrafe mit der Rute zuständig sei, die gemäß zaristischem Erlaß - in unmittelbarer Nähe der Kirche im Anschluß an den Gottesdienst zu erfolgen habe. Vgl. hierzu August Wilhelm Hupel: Topographische Nachrichten von Lief- und Ehstland. 2 Bde. Riga 1774 und 1777, 2. Bd., Riga 1777, S. 68f. Vgl. auch Stefan Pautler: Jakob Michael Reinhold Lenz. Gütersloh 1999, S. 46. So etwa seine 1750 in Königsberg erschienene, sich kritisch mit dem sogenannten Herrahutertum, jener von Nikolaus Ludwig von Zinzendorf (1700-1760) begründeten Fortentwicklung des Pietismus, auseinandersetzenden Schrift Gedanken über die Worte Pauli I Cor.l und 18 von der ungleichen Aufnahme vom Kreutz. Zwei Theile nebst einer starken und für unsere Zeiten sehr nöthig geachteten Vorrede, worinnen die Kreutz=Theologie der sogenannten Herrenhuter, vornehmlich aus ihrem XII. Lieder = Anhange und deßen drey Zugaben unpartheyisch und genau geprüfeet wird. J. Fr. Recke, Κ. E. Napersky: Allgemeines Schriftsteller- und Gelehrtenlexikon. Mitau 1831 S. 40.
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In der literarhistorischen Sekundärliteratur wird der ehemalige Dorpater Hauptpastor und Superintendent hingegen in ein zumeist negatives Licht gerückt. Traditionsbildend hierfür war vor allem die biographische Darstellung des Moskauer Privatdozenten M. N. Rosanow, der Lenzens Vater derart einseitig in seiner 1909 erschienenen Monographie10 beschrieben und damit ein lang wirkendes Paradigma für die Interpretation des Lenzschen Œuvres geschaffen hat. Dies ist besonders bei Sigrid Damm nachweisbar, die jenes negative Urteil zur unmittelbaren Richtschnur für das Nachwort ihrer auf die neuere Lenz-Forschung so einflußreichen Werkausgabe gemacht hat. Damm charakterisiert den Vater - getreu Rosanows Vorgaben - als 'übermächtigen' und 'unbarmherzigen' Dogmatiker, der sich durch seinen 'orthodoxen'11 „Fanatismus" und sein ausgeprägtes Obrigkeitsdenken moralisch diskreditiert und mit seinen reaktionären Denk- und Verhaltensweisen einen „lebenslangen und für Jakob Lenz so zerstörerischen Vater-Sohn-Konflikt" provoziert habe.12 An beiden Thesen, also sowohl an jener Beurteilung des Vaters als auch an jenem angeblich für Lenz so selbstzerstörerischen und seine dichterische Arbeit dominierenden Vater-Sohn-Konflikt, müssen jedoch erhebliche Zweifel angemeldet werden.13 Zwar scheinen zahlreiche, nicht erst von Damm aus dem Kontext gerissene Passagen aus überlieferten Predigten14 und anderen theologi10 M.N. Rosanow: Jakob M.R. Lenz. Der Dichter der Sturm- und Drangperiode. Sein Leben und seine Werke. - Leipzig 1909. (Fotomechanischer Nachdruck, Leipzig 1972.) 11 Vgl. Damm: Nachwort, 701. Bereits dieses letztgenannte Attribut weist auf eine grundsätzliche Fehleinschätzung hin, stehen die Pietisten doch gerade zur lutherischen Orthodoxie in Opposition. Ein gleichermaßen negatives und von ähnlichen Mißverständnissen generiertes Bild des Vaters zeichnet auch Martin Rector in einem 1992 erschienenen Aufsatz, in dem er mit vordergründigen Analogiebildungen argumentiert. So ist ihm die Tatsache, daß Lenzens Vater seine pädagogische Ausbildung in den einen restriktiven Erziehungsstil tradierenden Franckeschen Anstalten (vgl. hier Π „Erziehungspraxis") erhalten hat, Indiz genug, um ausschließlich negativ auf den im Pfarrhaus Lenz praktizierten Erziehungsstil zu schließen. Vgl. Martin Rector: Sieben Thesen zum Problem des Handelns bei Jakob Lenz. - In: Zeitschrift für Germanistik, NF 2, 1992, (S. 628-639) S. 630. 12 Damm: Nachwort, S. 703. 13 Vgl. hierzu auch Ottomar Rudolfs Aufsatz Lenz: Vater und Sohn: Zwischen patriarchalem Pietismus und pädagogischem Eros. In: Karin Wurst (Hrsg.): J.R.M. Lenz als Alternative? Köln 1992, S. 29-45. Darin folgt Rudolf nicht dem von Damm und anderen vorbereiteten Interpretationsmodell, sondern kritisiert zu Recht die stereotype Einengung der Vater-SohnBeziehung. Auch er betont, daß die Simplifizierung jenes sich tatsächlich weitaus vielschichtiger darstellenden Themas bereits durch die zahlreichen, den Vater durchaus positiv beschreibenden autobiographischen Zeugnisse Lenzens im Grunde widerlegt werde. Ungeachtet aller offensichtlichen Gegensätze und daraus erwachsenden Spannungen zeugten sie von einer seitens des Sohnes stets beibehaltenen Achtung und Zuneigung gegenüber dem Vater, dessen Verdienste als - fllr seine Zeit durchaus fortschrittlicher - Erzieher und Lehrer vom Sohn nie in Frage gestellt wurden. 14 Vgl. etwa die auch von Damm angeführte Predigt über ein 1748 die Stadt Wenden zerstörendes Feuer, die Christian Lenz eine Woche nach der Katastrophe dort gehalten hat. Statt die Leidgeprüften zu „trösten", wie Damm moniert, habe er die Einwohner beschuldigt, das Unglück (Ch. Lenz: „Sodoms Schwefelbrand") durch ihren „fleischlichen Lebenswandel" (Ch.
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sehen Veröffentlichungen des Vaters eine derart verkürzte Darstellung von Christian Lenz als einem unnachgiebig eifernden, die „Willkürherrschaft der Gutsbesitzer"15 stützenden Geistlichen zu rechtfertigen. Jedoch eröffnet eine unvoreingenommenere, von starren Denkmustern befreite Sichtweise16 weitaus differenziertere Perspektiven, die letztlich auch jenem zu kurz greifenden Interpretationsansatz, Lenzens Dichtungen seien schlußendlich das Resultat eines traumatischen Vater-Sohn-Konfliktes, den Boden entziehen.17 Zwar kann konstatiert werden, daß die innerfamiliären Beziehungen besonders ab 1771 wegen Lenzens vorzeitigem Abbruch seines Königsberger Studiums und seinem nach Ansicht der Eltern - anschließenden 'Herumirren'18 in der Welt nicht
Lenz) selber heraufbeschworen zu haben (In: WB. Bd. 3, S. 703) Damit greift Damm lediglich Rosanows Vorgaben auf (Rosanow: „Lenz trat als [...] Prophet auf und eiferte so masslos gegen die 'sündhaften' Wendener, die sich den Zorn Gottes zugezogen hätten"; Rosanow, 35). Damm Ubersieht jedoch die in der Uberlieferten Predigt dem Brand beigemessene allegorische Bedeutung als Sinnbild ftlr die Zerstörung des heiligen Jerusalem. Darüber hinaus ist ihr - wie Rosanow - nicht geläufig, daß die ihre Kritik begründende Aussage des Pfarrers, 'Sodoms Schwefelbrand' sei eine Strafe für 'fleischlichen Lebenswandel' gewesen, erst drei Jahre n a c h dem Brand, also drei Jahre n a c h dem Halten der Predigt, für das anläßlich ihrer Publikation verfaßte Vorwort formuliert worden ist. Sie war also niemals integraler Bestandteil der Wendischen Predigt gewesen, sondern wurde nachträglich mit der Intention verfaßt, den allegorischen Charakter des verschriftlichten Predigttextes mit Blick auf den anzusprechenden Leserkreis zu akzentuieren und nicht etwa einen konkreten Bezug zu den Wendener Bürgern herzustellen. Vgl. hierzu Friedrich Gadebusch: Livländische Bibliothek (Bd. 2, Riga 1777, S. 175), der hierauf im Verlauf seiner Aufzählung und Besprechung der Schriften des Pfarrers Lenz ausführlich hinweist. Vgl. hierzu auch Rudolf 1992; S. 32. 15 Damm: Nachwort, 703. Die Verfasserin Ubernimmt hier beinahe wörtlich Rosanows Ausführungen, in denen die „Grausamkeiten seitens der Gutsherren" als vornehmliches Charakteristikum der livländischen Gesellschaft benannt und die dortige Bevölkerung in „Herren" und „Sklaven" unterschieden werden; der „tonangebende" Adel habe auf seine „leibeigenen Letten und Esthen wie auf eine minderwertige Rasse" herabgesehen (Rosanow, 29). 16 Die unkritische Rezeption dieses Vaterbildes führt bei Damm zu einer stereotypen Verurteilung des als Chiffre eines 'Klassenfeindes' dämonisierten Pfarrers Christian Lenz; „der Pastor [...] gehört zu den Herrschenden. [...] die Letten sehen den deutschen Pfarrer, wie sie den Gutsbesitzer sehen, als gefürchteten Herrn, als Herrn über ihr Leben und ihren Tod" (Damm: Nachwort, 702). Bei Rosanow finden wir mit dem gleichen Tenor vorformuliert: „die Geistlichkeit [...] im Besitz leibeigener Bauern, wetteiferte sie im Wohlleben mit dem Adel. [...] Besonders häufig war der Missbrauch der Gewalt über die leibeigenen Bauern." (Rosanow, 30) Dieses Pauschalurteil beansprucht bei Rosanow wie bei Damm und in deren Tradition auch bei anderen gerade für den Pfarrer Lenz Gültigkeit, ohne daß hierfür zum Beleg entsprechende Quellen zur Verfügung stünden. Gleichzeitig dient es als Grundlage zur konsequenten Verklärung des Autors als eines in Leben und Werk angeblich primär gegen den Vater und die von ihm repräsentierte Gesellschaftsordnung aufbegehrenden Sohnes, - eine Vereinfachung, die augenfällig an die literarhistorisch gängige Interpretation der Dichter des Expressionismus als gegen die Welt der Väter revoltierende Söhne anknüpft. 17 Vgl. hierzu noch Jahre vor Damm etwa Ivan Nagels Ausführungen, der 1968 in der Süddeutschen Zeitung (Nr. 225, 18. September) Lenzens Werke in dieser Weise interpretiert hat. 18 Im September 1775 z.B. schreibt die Mutter hierzu an Lenz: „Wie vergeblig habe ich nun so viele Jahre auf Deine zu Hause Kunft gewartet, wie oft habe ich nicht umsonst aus dem Fnster gesehn, wenn nur ein Fragtwagen ankam, ob ich Dich nicht erblickte, allein vergebens. [...]
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unbedeutenden, jedoch durchaus familientypischen Belastungen ausgesetzt waren. Doch darf von dieser und späteren Konfliktsituationen nicht automatisch auf eine durch den Vater grundsätzlich negativ beeinflußte Sozialisation des jungen Lenz geschlossen werden. Im Gegenteil, hat doch der Sohn zeitlebens Hochachtung vor der von ihm als aufrichtig anerkannten Frömmigkeit und den hierauf begründeten lebenspraktischen und religiösen Prinzipien des Vaters gezeigt. Zwar beklagt Lenz mitunter die väterliche Strenge, die ihm die Umsetzung der im Elternhaus gepflegten, vom Franckeschen Pietismus geprägten Lebensziele und religiösen Überzeugungen abverlangt habe. Doch macht er gleichzeitig deutlich, vor allem an seinem Unvermögen zu leiden, die eigenen, in ihren Grundzügen denen des Vaters nah verwandten Ideen und Ideale nicht mit der gleichen, ihm vorbildlich erscheinenden väterlichen Beharrlichkeit verfolgen und realisieren zu können. Aufschlußreich ist hierzu ein Brief an Sophie von La Roche aus dem Jahre 1775,19 in dem Lenz einmal mehr seine ungebrochene Zuneigung zu b e i d e n Elternteilen dokumentiert, mit denen der Kontakt wegen konträrer Ansichten über den von ihm künftig einzuschlagenden Lebensweg20 erneut vorübergehend unterbrochen ist. „Meine Eltern", so klagt er der Freundin, „sind - ob böse auf mich, oder bloß kaltsinnig - genug seit mehr als sechs Monaten schweigen sie mir."21 Nachdem er dann sein seelisches Leiden an diesem für ihn schwer erträglichen Zustand eindringlich geschildert hat, erläutert er, welche seiner Charaktereigenschaften er auf welches Erbteil zurückführe. Dabei impliziert er, daß wohl gerade sein vom Vater herstammendes, oft aufbrausendes Temperament - ihrer beider Wesensverwandtschaft also, sich kämpferisch für eine Sache oder einen Standpunkt einzusetzen, - die vielleicht entscheidende Ursache mancher Konflikte darstelle: „Meiner Mutter habe ich alle mein Phlegma mein ganzes Glück - meinem Vater alle meine Feuer [respektive Geist, Genie!] - mein ganzes Unglück - zu danken."22 Isoliert betrachtet lädt diese Aussage zu vorschnellen Urteilen ein, da sie als Ausdruck einer tief empfundenen Kluft zum Vater interpretiert werden kann, denn scheinbar wird in ihr ein zwingender Zusammenhang von Vater und persönlichem Unglück aufgebaut. Doch Lenz entzieht dieser Deutung im direkten Anschluß der Boden, indem er Zeugnis ablegt von seinem uneingeschränkten Empfinden der Wertschätzung und Liebe gegenüber beiden Elternteilen („Beide verehre ich als in ihrer Sphäre die wür-
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Wie lange wiltu so herum irren, und Dich in solche nichtswürdige Dinge vertiefen [...] was will aus Dir werden?" (Dorothea Lenz an Jakob Lenz, Dorpat, September 1775. - In: WB, Bd. 3, S. 339) Lenz an Sophie von La Roche, Straßburg, September 1775. - In: WB, Bd. 3, S. 337-339. So favorisierte der Vater für ihn weiterhin ein Predigeramt, einen Lebensweg also, der seinem eigenen und dem des ältesten Sohnes, des nach seinem Theologiestudium in Königsberg seit 1767 als Pfarrer in Tarwast tätigen Friedrich David (1745-1809), entsprechen sollte. Lenz an Sophie von La Roche, Straßburg, September 1775. - In: WB, Bd. 3, S. 338. Ebd.
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digsten Menschen, die je gelebt haben."). 23 Dabei demonstriert er einen Grad der emotionalen Verbundenheit, den er sich ungeachtet aller später noch streitbar ausgefochtenen und aus seiner Perspektive bereits absehbaren Gegensätze („Beide habe ich Armer beleidigt - muß ich beleidigen.") stets bewahren wird.24 Als Beleg dieser Zuneigung mag auch seine zahlreiche autobiographische Bezüge aufweisende Prosa Der Landprediger25 aus dem Jahre 1777 gelten, in der er den Tod der Eltern seines literarischen Alter Ego und dessen abgrundtiefe Trauer derart plastisch und ergreifend schildert, daß seine Erzählung über das Dichterische hinaus weit in eine von persönlichen Verlustängsten bestimmte Dimension (vgl. DL, 453) reicht. Drei Jahre später (seine Mutter ist zwei Jahre zuvor, kurz nach Vollendung des Landpredigers verstorben) beschreibt Lenz seinen Vater ausfuhrlich in einem Brief an Johann Kaspar Lavater vom Mai 1780,26 in dem er „einige Silhouetten" aus seinem „Vaterlande und aus Petersburg" 27 für Lavaters physiognomische Studien aufzeichnet. Ohne Christian David Lenz explizit beim Namen zu nennen, skizziert er ihn („Verzeihen Sie daß ich so ausfuhrlich über diesen Mann bin ich kenn ihn von Kindesbeinen an.") als einen ,,besondere[n] Mann voll Tiefsinn und Frömmigkeit", wobei er sein Temperament nun jedoch differenzierter beurteilt als noch fünf Jahre zuvor. „Alle feurige Gefühle", erkennt der Sohn nun, würden ihn „schockieren", auch wenn „er sie gleich mit dem Kopf sehr wohl faßt". So liebe der Vater das „Melancholische" und sei „von Herzen fromm und wohltätig". Lenz rekurriert wohl nicht zuletzt auf eigene Kindheitserfahrungen, wenn er dann ausführt, der Beschriebene sei ein „Märtyrer an Duldsamkeit wenn er mit verschrobnen Charakteren zu tun" habe und zum Beleg weiter ausführt: „Welches er an einer Frau bewies, die ihn itzt durch ihren Tod befreit hat und dem Trunk sehr ergeben war." „Keine Ader Falschheit in dem Manne", resümiert der Sohn, dessen Beschreibung so gar nicht zu dem Stereotyp des Vaters als eines intoleranten und gefühlskalten religiösen Eiferers passen will. Im Gegenteil, schildert er ihn doch seinem Wesen nach als „schüchtern", als einen durch und durch lebenspraktisch orientierten, auch schriftstellernden ,,Philosoph[en]" („Spekulationen von denen er große Hefte liegen hat [...] Drucken läßt der - schwerlich"), der sich durch fehlenden Ehrgeiz in weltlichen Dingen („nicht den mindesten, als den das zu sein was die in Griechenland mit Mantel und Bart waren") und seiner trotz hohem Bildungsstand bewahrten Bodenständigkeit auszeichne („er ist ein großer Landwirt obschon er in der Stadt in einem geistlichen Amt steht und treibt
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Ebd. Ebd. Lenz: Der Landprediger. - In: WB, Bd. 2, S. 413-463. Künftig abgekürzt „DL". Lenz an Johann K. Lavater, St. Petersburg Mai 1780. - In: WB, Bd. 3, S. 606-614. E b d , S . 606.
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seinen Garten wie Lavater die Physiognomik")· 28 Dennoch verfüge er gerade gegenüber der Literatur über einen sensiblen Sinn für Ästhetik („Keine Schönheit irgend eines Schriftstellers entgeht ihm"), auch wenn ihm das Gefühl für die modernen Dichter offensichtlich fehle. Der weitere Verlauf des Briefes läßt aber aufhorchen, denn Lenz berichtet weiter, daß der von ihm Beschriebene zwar nicht imstande sei, die zeitgenössische Literatur - für die der Autor nicht sich selbst, sondern Goethe als Beispiel nennt - mit dem Herzen zu erfassen, sie aber „mit dem Verstände" durchaus begreife, was auf ein nicht geringes Maß an Toleranz und Bereitschaft zur konstruktiven Auseinandersetzung hindeutet. 29 1777 widmet Lenz seinem Vater ein eigenes Gedicht, betitelt An meinen Vater, das Damm ohne weiteren Beleg als „taktische Besänftigung des väterlichen Zorns über die ausbleibende Rückkehr des Sohnes in das Vaterland" abqualifiziert. 30 Dabei übersieht sie den Ernst, mit dem Lenz des als positiv empfundenen väterlichen Einflusses gedenkt; eines Einflusses, den er mit einem ihn beschirmenden „Flügel" vergleicht, unter dessen Schutz er - trotz aller Gegensätze - nach „unbekannten Weh und Wohl" habe streben können. 31 Als nicht minder repräsentativ für die Art und Weise von Lenzens literarischer Umsetzung des Vater-Sohn-Motivs kann auch eine kurze Passage aus seiner im Winter 1775/76 in Straßburg entstandenen ,,dramatische[n] Phantasei" (so der Untertitel) Der Engländer32 aufgeführt werden. In diesem Theaterstück weist die Darstellung des Protagonisten Robert in Persönlichkeit und Schicksal einige wesentliche Parallelen zum Autor auf. Dies verdeutlicht bereits die Anfangsszene, in der Lenz das grundsätzliche Dilemma seines Lebens aufzeigt, eine von der Familie strikt abgelehnte Künstlerexistenz führen zu wollen. In dieser Eröffnungsszene offenbart Robert seine Angst, von seinem ihm emotional nahestehenden - Vater in die Heimat, in ein als endlich überwunden geglaubtes bürgerliches Dasein 'zurückgeführt' zu werden (vgl. DE, 318). Mit dieser bedrohlichen Perspektive sah Lenz sich in der Realität stets durch die väterlichen Bemühungen konfrontiert, ihn in das ihm wegen seiner Armut und geistigen Enge verhaßte Livland zurückzuholen, wo er sich, vom Vater protegiert, eine geregelte Existenz aufbauen sollte. Sein Protagonist Robert empfindet die Perspektive eines ihm derart vorgezeichneten Lebensweges - etwa als sozial fest gebundener Familienvater - als „grausam" (DE, 318), weil eine solch geregelte Lebensweise im völligen Gegensatz zu seiner aktuell
28 In der Prosadichtung Der Landprediger hatte Lenz drei Jahre zuvor den Idealtypus eines Gemeindepfarrers entworfen, bei dem sich geistliche und lebenspraktische Ausrichtung (vor allem für die Landwirtschaft) vorbildlich ergänzen. 29 Lenz an Johann K. Lavater, St. Petersburg Mai 1780. - In: WB, Bd. 3, S. 610. 30 Damm: Anmerkungen zum Gedicht An meinen Vater. - In: WB, Bd. 3, S. 805. 31 Lenz: An meinen Vater. - In: WB, Bd. 3, S. 185. 32 Lenz: Der Engländer. Eine dramatische Phantasei. - In: WB, Bd. 1, S. 317-337. Künftig abgekürzt „DE".
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geführten Existenz eines Abenteurers stehe. Sich schon durch seine Bewaffnung mit einer Pistole als Tat-Mensch ausweisend, ist Robert gewohnt, Lebensqualität am Grad des Auslebens seiner Emotionen zu messen. Dem Autor dient diese Charakterisierung jedoch nicht zum Propagieren eines vitalistischen Lebensmodells, vielmehr demonstriert er an Roberts Schicksal zur Warnung des Publikums die selbstzerstörerischen, stets absehbar gewesenen Folgen eines derartigen Mißbrauchs der persönlichen Freiheit. Ein gehöriges Maß an Selbstkritik klingt bei Lenz mit, wenn er im vierten Akt des Schauspiels Robert die kaum mehr abwendbare Selbstzerstörung erkennen läßt. Zwar gelangt er in einem inneren Monolog endlich zu der späten Einsicht, ihm habe seine egozentrische Lebensweise kein nachhaltiges Glück gebracht („Robert, du bist in der Tat ein Narr"; DE, 328), doch verfügt er nun nicht mehr über die Kraft, die Standpunkte des Vaters anzuerkennen („Zurück! zurück! zu deinem Vater und wird einmal klug"; DE, 328) und entsprechend zu handeln. Unaufhaltsam nähert er sich deshalb dem Selbstmord, da er in sich keine ausreichende Stärke fühlt, gewonnene Erkenntnis in ein auf vernünftigem Pragmatismus und moralischem Handeln begründetes Dasein umzusetzen.33 Ein ähnlich positives Vaterbild zeichnete der Autor schon Jahre vor dem Engländer-Drama in seiner komödiantischen Bühnendichtung Der Hofmeister. In ihr ist die Gestalt des alten Stadtpredigers Läuffer, des Vaters des Protagonisten, offensichtlich in vielen Eigenarten liebevoll dem Charakter von Christian David Lenz nachgebildet, auch wenn er ausdrücklich als l u t h e r a n i s c h e r Geistlicher bezeichnet wird. Lenz schildert ihn als ebenso gläubigen wie wortgewaltigen Prediger, der sich durch eine dem Sohn alle Abwege verzeihende Liebe sowie ein gehöriges Maß humoristischer Selbstkritik auszeichnet („ich bin auch ein Choleriker und rede gern von der Lunge ab"; DH, 57). Das Hofmeistertum seines Sprößlings kritisierend (auch Christian David Lenz versuchte vehement, seinem Sohn dessen eigene Bestrebungen in dieser Sache auszureden) 34 und vom Zustand der ö f f e n t l i c h e n Schulen wegen der dort unterrichtenden „ S u b j e c t a " und der von ihnen gepflegten ebenso rauhen wie „pedantischen Methoden" (DH, 58) auch nicht angetan, verkörpert er viele Eigenschaften des gerade für die Erziehungspraxis im ausgehenden 18. Jahrhundert so wegweisenden Hallenser Pietismus.35 In ihrer Gesamtheit bieten die Quellen, die über Lenzens familiäre Beziehungen Auskunft geben, das Bild einer in ihren Konflikten und gefühlsmäßigen
33 In seiner Komödie Die Freunde machen den Philosophen (in: WB, Bd. 1, S. 273-316; künftig abgekürzt „DF") aus dem Jahre 1775 greift Lenz dieses Motiv ebenfalls auf. Dort läßt er seinen Protagonisten Strephon, einen Reisenden „aus philosophischen Absichten", (DF, 273) auf die Frage, weshalb er ungeachtet seines Elends und aller Bemühungen des sich sorgenden Vaters nicht nach Hause zurückkehre, antworten: „Freilich - mein Stolz - meine Freiheit" (DF, 278). 34 Vgl. hier Zweites Kapitel, I „Studiendauer". 35 Vgl. hier Erstes Kapitel, IV „Lenzens schulische Ausbildung".
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Bindungen gar nicht ungewöhnlichen Konstellation. In ihnen wird elterliche Fürsorge und Strenge dokumentiert, die mit dem Emanzipationsbestreben und den oppositionellen Lebensentwürfen eines jungen Erwachsenen ringen. Gleichzeitig belegen sie, daß die hieraus zwangsläufig entstandenen Spannungen auf keiner Seite eine nachhaltige emotionale Entfremdung oder gar einen irreversiblen Bruch bewirkt haben, wie er etwa für viele Autoren der Moderne des 20. Jahrhunderts so charakteristisch gewesen ist. Doch inwiefern ist diese Feststellung für den weiteren Verlauf der Darstellung relevant? Die Analyse wird zeigen - und das oben angeführte Beispiel aus dem Engländer weist bereits in diese Richtung - , daß die von Jakob Lenz bewahrte emotionale Bindung zu beiden Elternteilen von einer als positiv beurteilten Affinität zu den ihm vor allem vom Vater vermittelten Wertvorstellungen und religiösen Grundlagen flankiert gewesen ist und einen äußerst konstruktiven Einfluß auf seine literarische Arbeit ausgeübt hat. Es wäre deshalb eine eigene Untersuchung wert, das in Lenzens Vorträgen, Aufsätzen und Dichtungen aufgezeigte Vaterbild ausführlicher darzustellen und auf seine autobiographischen Grundlagen hin systematisch zu analysieren. Manches ist bereits mit recht unterschiedlichen Ergebnissen von der Forschung in Einzeluntersuchungen vor allem zu den Dramen angesprochen worden, 36 doch steht eine breiter angelegte monographische Bearbeitung dieses Themas noch aus. Die angeführten Beispiele dürften aber hinreichend verdeutlicht haben, daß die These eines elementaren Vater-Sohn-Konfliktes in eine falsche Richtung zielt und daß der väterliche Einfluß auf den heranwachsenden Dichter ungleich positiver beurteilt werden muß, als es bislang geschehen ist. Starke Zurückhaltung ist deshalb bei den auf dieser irreführenden Prämisse aufbauenden Interpretationen des Lenzschen Œuvres geboten, bei denen von der angeblich destruktiven Vater-Sohn-Beziehung 37 auf eine hierdurch motivierte Distanz des
36 Vgl. hierzu etwa Serensen, Bengt Algot: Herrschaft und Zärtlichkeit. Der Patriarchalismus und das Drama im 18. Jahrhundert. München 1984; Voit, Friedrich: Jakob Michael Reinhold Lenz: 'Der Hofmeister oder Vorteile der Privaterziehung'. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart 1986; Wittkowski, Wolfgang: 'Der Hofmeister'. Der Kampf um das Vaterbild zwischen Lenz und der neuen Germanistik. - In: Literatur für Leser. 1996, S. 75-92. 37 Vgl. zum Beleg einer weitaus positiveren Vater-Sohn Beziehung in Rudolfs Aufsatz Lenz: Vater und Sohn die differenzierte Darstellung der Aktivitäten von Christian Lenz, der dem Sohn gerade wahrend dessen sich 1778 zuspitzender seelischer Erkrankung auch aus der Ferne und ungeachtet der Tatsache, daß seine Frau nach langer Krankheit zur gleichen Zeit im Sterben lag, direkte und indirekte Hilfe zu leisten sich bemühte. Hierbei widerlegt Rudolf Uberzeugend die Legende, der Vater habe seinen Sohn während dessen krankheitsbedingtem Zwangsaufenthalt im Hause des Emmendingener Hofrates Johann Georg Schlosser im Stich gelassen (Rudolf 1992, 38ff). Aufschlußreich ist im weiteren Verlauf, daß Rudolf Johann Gottfried Herder dafür verantwortlich macht, daß es Lenz nach seiner vom Vater ermöglichten Rückkehr in die Heimat (Juli 1779) nicht gelungen ist, in Livland wieder Fuß zu fassen. Denn die ausbleibende Fürsprache des einflußreichen Weimarer Generalsuperintendenten sei Ursache gewesen, daß Lenzens Bewerbung für die Stelle als Pro-Rektor der Rigaer Domschule abgelehnt wurde, ungeachtet der väterlichen Bemühungen, die von Damm geringge-
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Sohnes zu den weltanschaulichen Standpunkten des Vaters geschlossen wird, um den Autor- wie es zum Beispiel die ostdeutsche Literaturwissenschaft vorgeführt hat - als s t a a t s p o l i t i s c h wirken wollenden Sozialrevolutionär reklamieren und legitimieren zu können. Im weiteren Verlauf dieser Darstellung wird deutlich werden, wie unhaltbar gerade dieses Erklärungsmodell ist, da in ihm die Motivation, die Lenz als Dichter tatsächlich antrieb, und das sie tragende ideelle Fundament übersehen bzw. ignoriert wird. Denn tatsächlich ging es dem Autor in seinem Bestreben, ein nützlicher Bestandteil der menschlichen Gesellschaft zu sein, niemals um ein Infragestellen des absolutistischen Ständestaates, sondern in pietistischer Tradition stets um die moralische Vervollkommnung seiner einzelnen Glieder, - zum Nutzen dieser im Staat existierenden Individuen wie auch des ganzen Staatskörpers.
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Neureformatorische Grundlagen
Bevor Lenz zu Beginn der 70er Jahre in die für sein Werk so entscheidende, weniger als zehn Jahre umfassende Lebensphase konzentrierter dichterischer Produktion eingetreten ist,38 hat ihm sein 1768 aufgenommenes Studium und die Begegnung mit Kant die Möglichkeit eröffnet, die bis dahin im Elternhaus erfahrene intellektuelle Prägung nicht nur den eigenen Intentionen und neu aufgenommenen Einflüssen gemäß weiter zu entwickeln, sondern sie darüber hinaus erkenntnistheoretisch zu begründen. Dadurch verfügt er schließlich über eine geistige Grundlage, auf der er sein literarisches Werk entwickelt. Die ihm während des Heranwachsens im Elternhaus vermittelten religiösen Vorstellungen und weltanschaulichen Maßstäbe gründen auf der Franckesche Ausformung des lutherischen Pietismus.39 Christian Lenz hatte seine theologischätzt werden. Vgl. ihre Anmerkungen zu diesem Brief. - In: WB, Bd. 3, S. 913); Herder: „Mit Lenzen ist nichts; er taugt nicht zur Stelle, so lieb ich ihn habe." Zitiert nach Fritz Waldmann (Hrsg.): Lenz in Briefen. Zürich 1894, S. 95. 38 Vgl. hierzu ausführlich Zweiter Teil, Erstes Kapitel „Phasierung des Œuvres". 39 In seiner Studie Jakob Michael Lenz. Pietistische Weltdeutung und bürgerliche Sozialform im Sturm und Drang (Gütersloh 1999) beschäftigt sich Stefan Pautler ausführlich mit den pietistischen Einflüssen. Da er in seiner Methode jedoch zu summarisch vorgeht, widmet er den einzelnen Entwicklungsstufen in Lenzens Biographie nicht die ihnen gebührende Aufmerksamkeit und macht darüber hinaus auch von seiner Kenntnis der verschiedenen Ausformungen des Pietismus keinen ausreichenden Gebrauch. Dies führt im wesentlichen zu Pauschalurteilen und Interpretationen, die vor allem in seinen ausführlichen Untersuchungen einzelner Dramen keine neuen Erkenntnisse eröffnen. Auch weiß er über Lenzens Studium bei Kant keine Aussagen zu treffen und referiert Uber Kants damaligen philosophischen Standpunkt lediglich einige grundsätzliche Überlegungen aus dessen in den 50er und 60er (!) Jahren des 18. Jahrhunderts publizierten, naturgeschichtlichen Schriften. Kants 1768 bereits in wesentlichen Punkten vollzogene Hinwendung zum Kritizismus scheint Pautler dabei ebenso unbekannt wie der elementare Unterschied zwischen dem philosophischen Schriftsteller Kant
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sehe Ausbildung zwischen 1735 und 1740 in Halle absolviert, wo die örtliche Universität unter der Ägide August Hermann Franckes (1663-1727) längst zur geistigen Hochburg des lutherischen Pietismus avanciert war. Obgleich dieser zahlreiche Eigenarten des aus den Niederlanden nach Deutschland dringenden reformierten Pietismus übernommen hatte, wurzelt er in der lutherischen Reformorthodoxie des 17. Jahrhunderts. Als Reaktionsbewegung gegen die im Intellektualismus erstarrte Orthodoxie war der Pietismus keine originär theologische, sondern primär eine in der Lebenspraxis wirkende Reformbewegung. Durch sie rückte vor allem die Frage der persönlichen Aneignung des christlichen Glaubens mittels gesteigerter Empfindsamkeit ins Zentrum der Aufmerksamkeit, womit jedoch nur einer grundsätzlichen individualistisch-ethizistischen Tendenz innerhalb der mitteleuropäischen Gesellschaften jener Zeit Rechnung getragen wurde. Eine neue Form der Frömmigkeit bildete sich heran, die äußerlich in geschwisterlich orientierten Gemeindeformen organisiert war. Deren Mitglieder strebten individuelle Selbstheiligung an, die Bekehrung vom alten sündhaften Wesen,40 und verbanden dieses Verlangen mit einem unermüdlichen missionarischen Anspruch, mit permanent praktizierter Nächstenliebe und Werktätigkeit, um dem Rückfall in die überwundene Sündhaftigkeit vorzubeugen.
Individuelle Bibelexegese Der Heiligen Schrift kam dabei eine neu definierte Funktion zu. Drohte sie im orthodoxen Protestantismus zur Fundgrube dogmatischer Belegstellen zu verkümmern, rückte sie nun (wieder) ins Zentrum des Gemeindelebens, wobei ihre Auslegung nicht länger nur Sache der kirchlich-theologischen Würdenträger war, sondern die Mitarbeit der Laien mehr und mehr zuließ. Dadurch wurde die Bibel, deren ständige Reflexion und Interpretation die Grundlagen fur ein rigoroses Glaubens- und Moralverständnis legte, zu einem wahren Volksbuch, das nun auch außerhalb der Kirchen in Bibelgesellschaften und Bibelkreisen größte Verbreitung erfuhr, die Frömmigkeit der protestantischen Bevölkerung auf breiter Basis vertiefte, - gleichzeitig aber auch einem - wie Beyreuther formuliert - „liturgiefeindlichen Subjektivismus im Gottesdienst und einem in der
und dem sich primär über die Mitschriften seiner Unterrichtsveranstaltungen erschließenden Dozenten. 40 Diese wurde in der Diktion des Theologen Philipp Spener auch als 'Wiedergeburt' verstanden, die fllr den derart Erweckten einen neuen Lebensabschnitt als 'Kind Gottes' einläute. Vgl. hierzu ausführlich Wallmann, Johannes: Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus. Tübingen 1970. Vgl. zum Pietismus allgemein auch Schräder, Hans-Jürgen: Pietismus. - In: Killy, Walther: Literaturlexikon. Bd. 14, Begriffe, Realien, Methoden, S. 208-216.
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Bibelauslegung zügellos gewordenen Individualismus"41 Vorschub leistete. Inwieweit dieser Vorwurf eines 'zügellosen Individualismus' auch für Jakob Michael Lenz Gültigkeit besitzt, soll im II. Teil dieser Darstellung („Literarische Konsequenzen") aufgezeigt werden. Festgehalten sei an dieser Stelle aber bereits, daß Lenzens bibelexegetische Studien gerade dann, wenn sie den Rahmen des ihm im Elternhaus vermittelten Weltverständnisses dank kritisch geschulter Verstandesoperationen scheinbar überwinden, zumindest formal in pietistischer Tradition stehen.
Pietistische Historie Ihre wichtigsten Wegbereiter hatte die neureformatorische Bewegung des lutherischen Pietismus im 16. und 17. Jahrhundert zuerst in Johann Arndt (15551621) und Johann Valentin Andreae (1586-1654) gefunden, die eine weitgespannte Glaubenspraxis zwischen inniger religiöser Versunkenheit und aktivistischem Missionseifer propagierten, verbunden mit einer weltumfassenden Bildungsutopie, deren Darstellung Andreae um 1615 seine utopische Schrift Christianopolis widmete. Als der eigentliche geistige Vater des lutherischen Pietismus gilt jedoch der vornehmlich in Frankfurt am Main wirkende Theologe Philipp Jakob Spener (1635-1705), dessen 1675 formulierte Pia desiderio, eine Vorrede zur Neuausgabe der Evangelienpostille Johann Arndts, die Grundforderungen der als notwendig erkannten protestantischen Kirchenreform beinhalten. 42 Das Einsetzen der eigentlichen pietistischen Bewegung, die den konservativen Mächten in Kirche und Staat vor allem ein Versagen in der sozialen Frage vorwarf, datiert jedoch erst um das Jahr 1691 und ist untrennbar mit der Person des aus Leipzig vertriebenen Theologen August Hermann Francke verbunden. Unter seinem Einfluß entwickelte sich die Philosophische Fakultät der vom preußischen Staat in Halle neugegründeten Universität zum Zentrum der 'Studentenerweckungs-Bewegung', die rasch auch Zulauf aus allen anderen Bevölkerungskreisen erhielt.43 Als deren historische Aufgabe
41 Ernst Beyreuther: Pietismus. - In: Evangelisches Kirchenlexikon, hrsg. von Heinz Brunotte und Otto Weber, Göttingen 1959, S. 220. 42 Veranlaßten die von Spener formulierten Überlegungen die weltliche und kirchliche Obrigkeit bereits zur Wachsamkeit, sorgten die immer zahlreichereren Nachahmungen seines sich 1670 in Frankfurt am Main bildenden Collegium pietatis, der ersten pietistischen Gruppenbildung, allmählich fllr Unruhe in der breiteren Öffentlichkeit, da sie als Symptome einer angestrebten Separation von der Amtskirche gewertet wurden. Weitere Gruppen, sogenannte Konventikel, bildeten sich erst in Frankfurt selbst, dann auch an anderen Orten wie Darmstadt, TrabenTrabach und anderswo, wie zum Beispiel in Straßburg. 43 Die Grundlagen hierfür schuf Franckes sogenannte 'Lüneburger Bekehrung'. In dieser Stadt hielt er sich ab Oktober 1687 für einige Monate auf, um in Ruhe und Abgeschiedenheit von seinem Leipziger Lehramt seine Lebensentscheidung für oder wider die Wissenschaft bzw. die Frömmigkeit zu treffen. In Lüneburg erfuhr er schließlich sein individuelles Erlebnis einer
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hatte Francke die innere Evangelisation definiert, eine ambitionierte Missionsarbeit mit dem Ziel einer weltumfassenden Generalreformation sowie eine grundlegende Sozial- und Erziehungsreform. Letztere sollte zuerst im preußischen Staat Fuß fassen und zementiert werden, um diesen in aller Breite zum Träger der pietistischen Kulturmission avancieren zu lassen. Und tatsächlich zeitigten die in Halle von Francke entwickelten Reformvorschläge gerade im Bereich von Bildung und Erziehung größte Auswirkungen und trugen in Gestalt eines autoritär ausgerichteten, den Bedürfnissen des Absolutismus und Merkantilismus entsprechenden Schulwesens wesentlich zur Heranbildung des nüchternen brandenburg-preußischen Beamten- und Militärstaates bei. Für diesen sollte bis zur Thronbesteigung Friedrich II. das gleiche immanente Nichtinteresse an einer konstruktiven Auseinandersetzung mit den Weltanschauungen der sich vollziehenden Aufklärung charakteristisch werden, das für den Pietismus stets typisch gewesen ist.44
Erziehungsideal Die in Halle45 entwickelten Bildungsvorstellungen stellten gleichsam die Speerspitze des Franckeschen Missionsgedanken dar, denn mittels des pietistischen Bildungssystems sollte der Geist der von Halle aus angestrebten sogenannten .zweiten' Reformation46 verbreitet und gefestigt werden.47 Für den
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inneren 'Wiedergeburt', eines der zentralen Inhalte pietistischer Glaubenspraxis, das Francke fortan mit Luthers Worten aus dessen Vorrede zum Römerbrief beschrieb: „Der Glaube ist ein göttlich Werk in uns, das uns wandelt und neu gebiert aus Gott und tötet den alten Adam, macht uns andere Menschen von Herzen, Mut, Sinnen und allen Kräften." (Zitiert nach Klaus Deppermann: August Hermann Francke. - In: Gestalten der Kirchengeschichte, hrsg. von Martin Greschat, Bd. 7, Orthodoxie und Pietismus (S. 241-260), Stuttgart 1982, S. 244.) Vgl. ausführlich De Boor, Friedrich: Erfahrung gegen Vernunft. Das Bekehrungserlebnis Α. H. Franckes als Grundlage für den Kampf des halleschen Pietismus gegen die Aufklärung. - In: Der Pietismus in Gestalten und Wirkungen. Martin Schmidt zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Heinrich Bornkamm u.a., Bielefeld 1975, S. 120-138. Vgl. Beyreuther, 220. Zur Verdeutlichung, daß an der Hallenser Universität außer der Franckeschen durchaus noch andere geistige Strömungen vertreten waren, sei auf den frühaufklärerischen Juristen Christian Thomasius (1655-1728) verwiesen, der nicht nur auch zum dortigen Lehrkörper gezählt hatte, sondern 1710 sogar zum Rektor berufen wurde. Zum Pietismus stand Thomasius anfangs in guter Beziehung, und er gilt für Franckes Berufung nach Halle als eine der treibenden Kräfte. Zur Problematik dieser Bezeichnung vgl. Heinz Schilling (Hrsg.): Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland. Das Problem der' zweiten Reformation '. Wiss. Symposion des Vereins für Reformationsgeschichte. Güterloh 1986. Dieses Ziel wurde besonders durch die Politik des reformierten Fürstenhauses Hohenzollern begünstigt, das zum Aufbau des absolutistischen Staates in seinem Einflußgebiet vor allem die Durchsetzung der religiösen Toleranz gegen den Widerstand der lutherischen Orthodoxie und der Landstände betrieben hat.
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heranwachsenden Jakob Lenz war dieses Bildungssystem von entscheidendem Einfluß. Nicht nur, weil es - repräsentiert vom eigenen Vater - die Art und Weise seiner schulischen Ausbildung bestimmte, sondern weil es darüber hinaus im Zusammenspiel mit den in Königsberg gewonnenen Studienerfahrungen die Entwicklung eigener pädagogischer Konzepte motivierte. Der Franckeschen Bildungspraxis lagen im wesentlichen drei hier bereits diskutierte, aufeinander aufbauende Überzeugungen zugrunde, die einerseits den gravierenden Unterschied der Halleschen Bewegung zur theologischen Lehre der lutherischen Amtskirche exemplarisch aufzeigen und andererseits wichtige Anknüpfungspunkte fur die im folgenden geführte Diskussion der sogenannten 'moralisch-theologischen Schriften' Lenzens (besser: moralphilosophischen Predigten)48 sowie der Bewertung des auf sie wirkenden Einflusses Immanuel Kants zu eröffnen vermögen: So beließ Francke nicht länger Luthers Postulat von der Erfahrung der Sündenvergebung im Zentrum der religiösen Praxis, sondern ersetzte es durch den nur individuell erringbaren Sieg über die atheistische Anfechtung. Aufschlußreich dabei ist, daß Francke nicht etwa wie vielleicht nahe gelegen hätte - die Wirkung des modernen kopernikanischen Weltbildes als eigentliche Versuchung zur Fundamentalsünde des religiösen Zweifels gefürchtet hatte, sondern die offensichtlichen Widersprüche der (nach seinem Verständnis) miteinander konkurrierenden drei monotheistischen Weltreligionen. Hieraus folgerte Francke, die derart verursachte Versuchung des religiösen Zweifels könne nicht institutionell, sondern nur individuell überwunden werden, und zwar nicht mittels einer verstandesmäßigen, der natürlichen Theologie der Aufklärung gemäßen, logisch begründbaren Erkenntnis, sondern nur durch ein existentiell wirkendes, e m o t i o n a l e s Erw e c k u n g s e r l e b n i s . Erst die dadurch vollzogene Überwindung des intellektuellen Zweifels, die dadurch erworbene unbedingte Glaubensgewißheit, biete die Grundlage für eine im pietistischen Sinne ausgerichtete Lebensführung, in deren Zentrum der ganz praktisch ausgerichtete Dienst am N ä c h s t e n stehen musse.
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Erziehungspraxis Als Lenzens Vater Christian sein theologisches Studium 1735 in Halle aufnahm - in dessen Mittelpunkt gemäß der Franckeschen Lehre das fortgesetzte Studium der Bibel stand - , hatte das dort in den sogenannten Franckeschen 48 49
Vgl. Zweiter Teil, Erstes Kapitel, Anmerkung 2. Vgl. Deppermann 1982, 244f. Die Bezeichnung der Angehörigen dieser Frömmigkeitsbewegung als 'Pietisten' rühre - so Deppermann - von der protestantischen Orthodoxie her, die ihn eigentlich als Spottnamen verliehen habe. Erst durch ein Gedicht des Poetikprofessors J o a c h i m Feller, der Francke in Sympathie verbunden gewesen war, sei dieser B e g r i f f zu ei-
nem Ehrennamen geraten (vgl. Deppermann 1982,245).
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Anstalten entwickelte und von Christian Lenz in besonderer Weise 'studierte' Schulsystem bereits ein fur Deutschland einzigartiges Ausmaß entwickelt. Angelehnt an das Drei-Stände-System des preußischen Staates existierten drei unterschiedliche Schulformen nebeneinander, von denen die sogenannte Deutsche Schule als Ausbildungsstätte für Sprößlinge des Bauern- und Handwerkerstandes die Basis darstellte. Der Vorbereitung von Angehörigen des Bürgertums auf die Universität diente die Lateinische Schule, während das Paedagogium Regium auf spätere gehobene Tätigkeiten als Staatsdiener bzw. als Offiziere beim Militär vorbereiten sollte. Standesunterschiede waren bei der Zulassung zu den höheren Schulformen allerdings nicht entscheidend. Was zählte, waren individuelle Begabung und Leistungsbereitschaft, so daß adlige und bürgerliche Kinder - bei strikter Trennung der Geschlechter - gemeinsam erzogen wurden, wobei den Lehrenden ausdrücklich untersagt war, die Kinder gemäß ihrer Herkunft unterschiedlich zu behandeln.50 Christian Lenz selbst entstammte bescheidenen Verhältnissen, die es nicht gestatteten, daß sein Studium von den Eltern finanziert wurde. Seinen Unterhalt sowie die üblichen Kollegienhonorare verdiente er sich deshalb überwiegend durch eine Tätigkeit als Lehrer bzw. in Franckes Terminologie als Informator der Franckeschen Anstalten. Die hierfür übliche Entlohnung bestand anfangs - für eine Tätigkeit von täglich zwei bis maximal vier Stunden Unterricht - aus einem Freitisch in dem den Lehranstalten angegliederten Waisenhaus,51 in dem Christian Lenz zu Beginn seines Studiums ebenfalls gearbeitet haben soll.52 Die Lehrkräfte der Franckeschulen rekrutierten sich überwiegend aus der Hallenser Studentenschaft, wurden durch eine gezielte Aus- und stete Weiterbildung auf ihre Tätigkeiten vorbereitet und von sogenannten Inspektoren (bereits höher ausgebildeten Informatoren) bei der Ausübung ihres Unterrichts kontrolliert. Auch Christian Lenz wurde so zum Eleven der von Francke entwickelten geordneten Lehrerausbildung, der ersten ihrer Art in Deutschland. Bei dieser qualifizierte man die Informatoren über mehrere Jahre hinweg in der alltäglichen Unterrichtspraxis und in den diese begleitenden theoretischen Unterweisungen. Die Lehrenden stiegen so allmählich in der vorhandenen Hie-
50 Vgl. ebd., S. 250. 51 Ursprünglich gingen die Franckeschen Lehranstalten aus diesem zuerst gegründeten Waisenhaus hervor. Vgl. hierzu und zu den weiteren Ausführungen über die Grundzüge des Franckeschen Schulsystems Deppermann 1982, 250ff. Zu den von Francke verfolgten pädagogischen Zielen vgl. die von Kramer hrsg. Pädagogischen Schriften Franckes (Langensalza 1885). Erwähnenswert ist, daß die Kinder des Waisenhauses im Franckeschen Schulsystem gemäß ihrer individuellen Begabung ausgebildet wurden, sie in den drei unterschiedlichen Schulformen den von auswärts kommenden Schülern jederzeit absolut gleichgestellt waren. Als programmatischstes Zeugnis Franckes gilt sein 'Großer Aufsatz' über eine Reform des Erziehungs- und Bildungswesen als Ausgangspunkt einer geistlichen und sozialen Neuordnung der Evangelischen Kirche. Hrsg. von Otto Podczeck, Berlin 1962. 52 Vgl. Paul Theodor Falck: Der Stammbaum der Familie Lenz in Livland nach einem neuen System. S. 14.
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rarchie auf - und wurden entsprechend ihrem Ausbildungsstand auch entlohnt. Nur wer alle Hospitationen, pädagogischen Konferenzen sowie die Ausbildungsseminare (das Praeceptorium) und das darauf aufbauende, zweijährige Selectum Praeceptorum erfolgreich absolvierte, durfte - nach einer mehrjährigen Arbeit an der Lateinschule - letztlich als vollausgebildeter Lehrer am Paedagogium Regium wirken. Hieran Schloß sich in vielen Fällen eine weitere Karriere als Schulleiter an einer dem Franckeschen Modell nachempfundenen Schule innerhalb oder außerhalb Deutschlands an.53 Die von Zöglingen und Informatoren, auch von Christian Lenz in diesem systematisierten Ausbildungsweg verinnerlichten pädagogischen Maximen verfolgten, so beschreibt es Deppermann,54 im wesentlichen ein doppeltes Ziel: Zunächst sollten die Zöglinge durch die Informatoren zur 'wahren Gottseligkeit' (eine Formulierung Franckes) hingeführt werden, zur Übereinstimmung des menschlichen Willens mit dem göttlichen, was - in Franckes Diktion ausgedrückt - die 'Brechung des Eigenwillens' durch Pflege der Kardinaltugenden Wahrheitsliebe, Gehorsam und Fleiß bedeutete. Da körperliche Züchtigungen als unterstützende Erziehungsmittel abgelehnt wurden,55 bildete die beinahe schrankenlose Überwachung der Schüler den Kern dieses Erziehungssystems; vor allem deswegen muß es - trotz seines weitgehenden Verzichts auf körperliche Gewalt als pädagogische Zwangsmaßnahme - selbst nach den Maßstäben des 18. Jahrhunderts als eher repressiv ausgerichtet gewertet werden.56 Als zweites wesentliches Erziehungsziel galt die Hinführung zur 'christlichen Klugheit' (Francke). Hierunter wurde die vom einzelnen zu leistende Erkenntnis der ihm von Gott geschenkten Begabungen und Fähigkeiten verstanden, die es im Sinne eines wahrhaftigen Gottesdienstes nach Kräften auszuüben galt. Unablässiges Tätigsein bestimmte deshalb den schulischen Tagesablauf, der für die in der Schule wohnenden Scholaren mit dem Aufstehen um fünf bzw. im Winter um sechs Uhr morgens begann. Hieran Schloß sich ein in der Regel achtstündiges Unterrichtspensum an, das von täglichem Katechismusunterricht und Exercitia (den heutigen Hausaufgaben zu vergleichen) ergänzt wurde.
53 Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang auch die Größe der in Halle errichteten Schulstadt Franckes. So waren dort in seinem Todesjahr 1727 allein in den sogenannten Deutschen Schulen insgesamt 98 Lehrer und 8 Lehrerinnen tätig, die 1725 Kinder unterrichteten. In den Lateinschulen unterrichteten 32 Lehrer rund 400 Schüler, im Paedagogium Regium 27 Lehrer insgesamt 82 Scholaren; eine auch im Vergleich zu heutigen Verhältnissen außerordentlich positive Relation zwischen Lehrkörper und Schalerzahl. 54 Deppermann 1982,250ff. Francke-Zitate hiernach. 55 Prügelstrafen wurden nur in Ausnahmefällen verhängt, auch mußte, um dem Zögling die Möglichkeit zur tätigen Reue zu eröffnen, zwischen Verhängung und Vollzug eine Woche zeitlicher Abstand bestehen. Vgl. Deppermann 1982,252. 56 Trotz des offensichtlich repressiven Charakters des schulischen Alltags gibt es zu denken, daß z.B. für die Zeit von Franckes aktiver Tätigkeit keinerlei Schulerselbstmorde überliefert sind, was vielleicht zur Relativierung manch übereilter Verurteilung der damaligen Unterrichtspraxis aus heutiger Perspektive beiträgt.
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Hinzu kam die fünfmal wöchentlich in der Kirche abgehaltene Katechisation sowie - als körperlicher Ausgleich und im Rahmen angeleiteter Freizeitbeschäftigung - die Ausübung handwerklicher Betätigungen und Ballspiele. Zweckfreie Muße war verpönt, ebenso Beschäftigungen wie Reiten, Fechten und Tanzen, die angeblich weltlichen Lüsten und dem Hochmut hätten Vorschub leisten können. Die strikte Ablehnung solcherart heute als moralisch unverfänglich erscheinender Beschäftigungen bezeichnet eine für den weiteren Verlauf der Darstellung sehr wichtige Eigenart des schließlich vor allem in Nord- und Mitteldeutschland tonangebend werdenden Franckeschen Pietismus. Denn dieser radikalisierte die einst von Spener angelegte asketische Ausrichtung des lutherischen Pietismus derart, daß bereits die auf harmlosen weltliche Vergnügungen gerichteten natürlichen Affekte als sündhaft interpretiert wurden, mithin unbedingte Tugendhaftigkeit als Synonym für den Glauben angesehen wurde. Jakob Lenzens wechselhafte Biographie ist von einem hieraus resultierenden Konflikt charakterisiert, bei dem der Autor zwar die höfischen Sitten der 'galanten Welt' seiner Epoche streng verurteilte, selber jedoch nicht immer das notwendige Maß an Willenskraft und sittlichem Vermögen aufzubringen vermochte, um diesem Anspruch auch stets folgen zu können. Das Resultat war eine latente Selbstüberforderung, die als eine Ursache für seine wiederholten Lebenskrisen angesehen werden kann. Mag die aus einem solchen Erziehungsmodell resultierende, gerade für eine positive Entwicklung Heranwachsender wenig förderliche Unterrichtspraxis bei aufgeklärten Beobachtern auch seinerzeit schon Ablehnung hervorgerufen haben, so wurde sie doch von zahlreichen Eigenheiten der Franckeschen Lehrmethode begleitet, die bleibende Modernität besitzen. Zum Beispiel die Möglichkeit, daß die Schüler aus einem breiteren Angebot einzelne Unterrichtsfächer gemäß ihrer individuellen Begabungen frei wählen durften. Doch in der praktischen Umsetzung wurde dieser positive theoretische Ansatz diskreditiert, weil die im Unterricht grundsätzlich praktizierte Lehrmethode des 'erothematischen' (Francke) Lernens letztlich nicht der Schulung der individuellen Denkfähigkeit diente, sondern, da die Lerngegenstände in einem Akt des ständigen Wiederholens und Abfragens vermittelt wurden, einzig auf eine einseitige LernstoffVermittlung ausgelegt war. Darüber hinaus dienten die derart behandelten Unterrichtsgegenstände auch nicht einer fundierten Allgemeinbildung in den wichtigsten Disziplinen. Vielmehr waren sie dem didaktischen Ziel untergeordnet, die intellektuellen Kräfte der Schüler methodisch zu bündeln und dabei das Augenmerk auf den Wunsch einer direkten Verbesserung der äußeren Lebensumstände im pietistischen Sinne auszurichten, weshalb - neben dem Bibelstudium - die Vermittlung von Sachkenntnissen mit einem unmittelbaren Praxisbezug favorisiert wurde. Diese Option galt insbesondere für die sogenannten Realfächer Biologie, Anatomie, Experimentalphysik, Geschichte und Erdkunde. Obwohl im Lehrplan enthalten, stellten sie jedoch in der Praxis schon wegen der geringen Anzahl der Unterrichtsstunden keine wirklichen
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Foren zur Darstellung geschweige denn Diskussion der neuen - tradierte Weltbilder auch in Frage stellenden - wissenschaftlichen Erkenntnisse des 18. Jahrhunderts dar. Der eigentliche Unterrichtsschwerpunkt in den beiden höheren Schulformen der Franckeschen Anstalten lag auf der Einübung und Perfektionierung des lateinischen Sprachgebrauchs, weshalb - in Verbindung mit Griechisch und Hebräisch - die klassischen Fremdsprachen in der Regel gut Dreiviertel der Unterrichtszeit in Anspruch nahmen, - wobei das Alte ebenso wie das Neue Testament die bevorzugte Unterrichtslektüre darstellte, die sogar für den Französischunterricht herangezogen wurde. Franckes Schulsystem sollte zuerst in Preußen Vorbildfunktion für zahlreiche neugegründete oder reorganisierte Waisenhäuser und Lehranstalten haben, deren Lehrkörper sich in zunehmendem Maße aus ehemaligen Hallenser Informatoren zusammensetzte. Doch schließlich gewann es auch bei der Konstituierung eines geordneten staatlichen Schulwesens prägenden Einfluß. So erließ der preußische König Friedrich Wilhelm I. unter dem Einfluß von Franckes Reformvorschlägen 1717 ein Dekret über die allgemeine Schulpflicht, und unter seinem - die religiösen Komponenten des Pietismus jedoch verachtenden - Nachfolger Friedrich II. verfaßte schließlich der bis 1739 am Franckeschen Waisenhaus parallel zu Christian Lenz tätige Johann Julius Hekker das sogenannte Generallandschulreglement für sämtliche preußischen Volksschulen. Hierdurch wurde das pietistische System strikter äußerer Disziplinierung nach präzisen Lebensregeln und steter Kontrolle durch die Gemeinschaft zum Charakteristikum eines damit ganz eigene, machtstaatliche Zwecke verfolgenden Bildungsapparates.57
Pietistische Mission Der pietistische Missionsgedanke hat wesentlich dazu beigetragen, das Hallenser Modell in den protestantischen Ländern Europas bekannt zu machen und Nachahmer zu motivieren. Besonders das Baltikum war neben Böhmen und Mähren, wo den durch die Gegenreformation bedrängten protestantischen Gemeinden Rückhalt geboten werden sollte, schon früh von Francke zum favorisierten Missionsgebiet erklärt worden, wozu sich die guten politischen Kontakte des in englischen Diensten stehenden deutschen Diplomaten und Pietisten Heinrich Wilhelm Ludolf zum russischen Zarenhaus als äußerst forderlich erwiesen. Auch Christian Lenz zählte zu den vielen Theologiestudenten der Universität Halle, die nach Abschluß ihres Studiums, erfüllt vom pietistischen
57 Vgl. darüber Deppennann, Klaus: Der hallesche Pietismus und der preußische Friedrich III. (1.). Göttingen 1961.
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Missionsgedanken nach Nordosteuropa gingen, um etwa im lutherischen Livland fortan bekehrend tätig zu werden.58 Von Livland aus hält der junge Theologe weiterhin engen Kontakt nach Halle, - was ihm, folgt man der vorherrschenden Meinung der Sekundärliteratur, eigentlich nicht gestattet war. Denn, so wird in der Forschung tradiert, Christian Lenz habe zu jener Generation protestantischer Pfarrer gezählt, von der seitens der livländischen Amtskirche bei Übernahme eines Pfarramtes die schriftliche Versicherung abverlangt worden sei, daß man keinerlei Beziehungen zum pietistischen Zentrum Halle mehr pflege. Daß Christian Lenz diese Versicherung offensichtlich geleistet habe, gilt nicht zuletzt bei Damm und den ihren Überlegungen folgenden Autoren als Indiz für eine Anpassungsbereitschaft des jungen Pfarrers an die vorherrschende Kirchenpolitik und wird zum Ausgangspunkt weitreichender Überlegungen, die ein negatives Bild des Pfarrers zeichnen.59 Die genaue Lektüre der dieser Argumentation zugrunde liegenden zeitgenössischen Quelle macht aber ein grundlegendes Mißverständnis
58 Damm glaubt hingegen, Christian Lenz sei dorthin 'ausgewandert', weil woanders „die Pfarrstellen knapp" gewesen seien (Damm: Nachwort, 703); eine nicht belegte Vermutung, die den in Halle bei der Ausbildung von Theologen zentralen Missionsgedanken unberücksichtigt läßt. 59 So bei Damm, die glaubt, an jenem Punkt in Christian Lenz' Biographie eine radikale Wendung festmachen zu können, eine grundsätzlich Abkehr von den ihrerseits dem Pietismus zugesprochenen, angeblich radikalen gesellschaftlichen Reformbestrebungen („gegen die Willkürherrschaft der Gutsbesitzer"; Damm: Nachwort, 703). Diese sieht sie auch in den Zielen der Herrnhuter-Bewegung Nikolaus von Zinzendorfs (1700-1760) verwirklicht, als deren zeitweiligen Anhänger sie den jungen Christian Lenz benennt, ohne diese These jedoch belegen zu können. Auch hierin folgt sie - wie bereits vor ihr Rudolf („Pastor Lenz war Pietist, war Hermhuter"; Rudolf 1970, 23) - lediglich Rosanow, der in Unkenntnis der historischen Sachlage und auf Grundlage einer fehlerhaften Darstellung von Julius Eckardt (Livland im 18. Jahrhundert, Leipzig 1876) behauptet, die „pietistischen Pastoren" seien „der Sekte des Grafen Zinzendorf meistenteils sehr gewogen" gewesen (Rosanow, 32). Entsprechend dieser Vorgabe vermag sich Damm die verbal und schriftlich geführten Attacken des Pfarrers Lenz gegen die Herrnhuter-Bewegung (etwa in der 1750 in Leipzig erschienenen Schrift Gedanken über die Worte Pauli...) nur mit einer angeblich vollständigen Hinwendung zur Orthodoxie erklären, vollzogen aus kalkulierter Anpassungsbereitschaft („Als er merkt, daß dies sein Amt bedroht, läßt er sofort die sozialen Belange fallen". „Je orthodoxer er wird, desto größer sind seine Befbrderungsaussichten." Damm: Nachwort, 703). Mit ihrer Diagnose einer angeblichen Wende und ihren hierauf aufbauenden Schlußfolgerungen verkennt sie jedoch wie Rosanow die Unvereinbarkeit der Sozialrevolutionären Bestrebungen Zinzendorfs mit der geistigen Ausrichtung des Franckeschen Pietismus, der einen grundsätzlich staatskonformen, wenn auch in Einzelfragen reformorientierten Charakter aufweist und stets in größter Opposition zu den auf die Aufhebung sozialer Unterschiede abzielenden, an der christlichen Urgemeinde orientierten Bestrebungen der Herrnhuter gestanden hat. Am Primat des Franckeschen Pietismus für sein Denken und Handeln hat Christian Lenz - soweit in seinen Schriften und Lebenszeugnissen nachprüfbar - niemals Zweifel aufkommen lassen. Im Gegenteil, situierte er sich doch stets demonstrativ in klarer Gegnerschaft zur lutherischen Orthodoxie wie auch in geradezu erbitterter Opposition zu den Herrnhutem, deren latente Feindschaft gegen die Konfessionskirchen ihn ebenso abgestoßen hat wie besonders ihre Sozialrevolutionären wirtschaftspolitischen Forderungen.
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offenbar. In ihr heißt es nämlich wörtlich, die neu zu berufenden Seelsorger hätten zu versichern, man stehe „weder in Verbindung mit der B r u d e r g e m e i n d e [Hervorhebung v. V.]", noch wollten sie „fernerhin dergleichen eingehen".60 Der Begriff Brudergemeinde zielte jedoch nicht auf die Gesamtheit der pietistischen Gemeinden und schon gar nicht auf deren Hallenser Zentrum. Vielmehr bezeichnete er, den sprachlichen Usancen jener Tage folgend, eine religiöse Gemeinschaft, die sich ab 1722 auf den Zinzendorfschen Besitzungen in der Oberlausitz angesiedelt hatte. Ihren Kern bildeten Reste der Glaubensgemeinschaft der sogenannten Böhmischen Brüder, die im Dreißigjährigen Krieg beinahe vollständig vernichtet worden war. Unter Führung des Zimmermanns Christian David verließen die Nachfahren der Überlebenden ihre angestammten Siedlungsgebiete, um auf den zu Füßen des Hutberges gelegenen Ländereien des Grafen von Zinzendorf eine neue Heimat zu finden. Am 13. August 1727 traten alle Einwohner der als Herrnhut bezeichneten Gemeinde schließlich nach einem gemeinsamen Erweckungserlebnis in der Berthelsdorfer Kirche zur 'philadelphischen Brüdergemeinde' (so Zinzendorf)61 zusammen, deren Lebensalltag durch eine Fülle von Statuten streng geregelt wurde und der Verwirklichung radikaler sozialrevolutionärer Ziele diente. Und vor allem denen galten Sorge und Aufmerksamkeit der livländischen Amtskirche (ebenso wie auch der weltlichen Obrigkeit), weil die Bestrebungen der Herrnhuter über alle sozialen Veränderungswünsche hinaus auch auf die Auflösung der Konfessionskirchen abzielten und das Baltikum eines der von Zinzendorf bevorzugten Missionsgebiete darstellte. Als überzeugter Parteigänger des Halleschen Pietismus, den Zinzendorf einst als Zögling der Franckeschen Anstalten kennenund abzulehnen gelernt hatte, dürfte es Christian Lenz deshalb nicht schwergefallen sein, seine Opposition zum Herrnhutertum bei Antritt seines ersten Pfarramtes auch schriftlich zu fixieren; und es sollte nicht bei diesem ersten Male bleiben, wie seine späteren, theologisch begründeten Attacken anschaulich dokumentieren.62
60 August Wilhelm Hupel: Topographische Nachrichten von Lief- und Ehstland, Bd. 1, S. 161 sowie Bd. 2, S. 73f. Zitiert auch von P a u t l e r : J M R . Lenz, S. 56. 61 Der Name 'Philadelphia' charakterisiere nach Zinzendorf das Verhalten der 'wahren Kinder Gottes', wenn sie sich in 'unparteiischer' Bruderliebe zusammenfänden und somit im Gegensatz zu den sogenannten 'Sekten' (gemeint sind die Konfessionskirchen) und deren als intolerant abgelehnten Lehrmeinungen stünden. Vgl. Hans Schneider: Nikolaus Ludwig von Zinzendorf. - In: Martin Greschat (Hrsg.): Gestalten der Kirchengeschichte. Bd. 7, Orthodoxie und Pietismus, Stuttgart 1982, (S. 347-372) S. 353. Vgl. NT Offenb. 3,7ff. 62 Vgl. insbesondere seine Veröffentlichung von 1750 (Königsberg-Leipzig): Gedanken über die Worte Pauli..., die vermutlich als Antwort auf die 1749 erfolgte Anerkennung (durch kurfürstliches Versicherungsdekret) Herrnhuts als Gemeinschaft Augsburger Konfessionsverwandter verfaßt wurde.
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Lenzens schulische Ausbildung In seine Dorpater Jahre,63 in denen der Pfarrer Lenz als - zunehmend im Franckeschen Sinne agierender - städtischer Schulaufseher an Einfluß gewinnt, fallen Begebenheiten, die auf intensiv aufrechterhaltene Kontakte nach Halle hinweisen. Denn als im Franckeschen Schulsystem ausgebildeter Informator gilt sein besonderes Interesse den örtlichen Unterrichtsbedingungen, nicht zuletzt, da ihm deren Qualität im Hinblick auf die schulische Ausbildung seiner eigenen sechs Kinder64 besonders am Herzen liegt. Nicht zuletzt wegen des aus wirtschaftlicher Not schlechten Zustande des livländischen Schulwesens hatte er die schulische Unterweisung seiner ältesten Kinder während seiner bis 1759 dauernden Amtszeit in Sesswegen einem eigens engagierten Hauslehrer anvertraut, der wie er Absolvent der Hallenser Lehrerausbildung gewesen war. In Dorpat verfugt er dann endlich über weiterreichende amtliche Einflußmöglichkeiten, um die Reorganisation der städtischen Lateinschule getreu dem Franckeschen Modell zu betreiben. In Anbetracht der damaligen politischen Rahmenbedingungen kann dies als ein geradezu revolutionäres Unterfangen gewertet werden, lag Dorpat doch im russischen Machtbereich, in dem der qualifizierten Ausbildung der Jugend - zumal in einem nur besetzten, also nicht dem eigentlichen Mutterland zugehörenden Landstrich - ein ungleich geringerer Stellenwert beigemessen wurde als zum Beispiel im benachbarten Preußen, wo die Reform des öffentlichen Schulwesens nach pietistischem Vorbild zu diesem Zeitpunkt bereits weit fortgeschritten war. In diese Dorpater Phase der Reorganisation fällt auch Jakobs Schulzeit an jener höheren Lehranstalt, die er ab seinem zehnten bzw. elften Lebensjahr (also ab ca. 1761/62) besucht hat. Wie alle anderen Schüler muß auch er anfangs unter den dort wie überall sonst im öffentlichen Schulwesen praktizierten, von körperlicher Gewalt beherrschten Lehrmethoden leiden.65 Dem Vater sind diese Zustände jedoch unerträglich, weshalb er Jakob mitsamt seinem jüngeren Bruder Johann zeitweise sogar aus der Schule nimmt, um sie zu Hause selbst zu unterrichten. Seine Amtsgeschäfte lassen ihm hierzu nach wenigen Monaten jedoch keine Zeit mehr,66 weshalb ihm grundsätzlichere Veränderungen vonnöten scheinen. Aus dem Frühjahr des Jahres 1763 ist hierzu ein Brief des Pfarrers an den damaligen Lehrer seines Sohnes erhalten, der unmißverständlich gravierende Änderungen des Schulalltages einfordert. Er ist an den einst ebenfalls in Halle ausgebildeten Johann Martin Hehn gerichtet und enthält ausführliche amtliche 63 Der Umzug der Familie nach Dorpat ist für den 25. Februar 1759 überliefert. 64 Jakob Michael Reinhold hatte einen alteren Bruder, zwei altere Schwestern sowie zwei jüngere Brüder. 65 Vgl. hierzu auch Karl Freye: Jakob Michael Rheinhold Lenzens Knabenjahre. - In: Zeitschrift für Geschichte der Erziehung und des Unterrichts, o.O. 1917, 3. Heft, S. 174-193. 66 Vgl. Damm: Nachwort, 706.
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Anweisungen (die vordergründig nur als kollegiale Ratschläge formuliert sind) zur künftigen Gestaltung des Unterrichtsgeschehens. Der Inhalt dieses Briefes legt nicht nur beredt Zeugnis ab vom zunehmenden Einfluß der Franckeschen Unterrichtspädagogik, sondern wirft darüber hinaus ein erhellendes Licht auf die von Christian Lenz in der Familie gepflegte Erziehungspraxis - und trägt damit zur Relativierung der in der Forschung über seine Vater-Qualitäten kursierenden Negativurteile bei. So müsse bei den Kindern, schreibt der in seiner Position in Dorpat mittlerweile gefestigte Pastor und Stadtconsistoriale an den Lehrer Hehn, generell auf Schläge sowie einen rüden Umgangston verzichtet werden, da die Zöglinge hierdurch lediglich entmutigt und verstockt würden. Wenn überhaupt, solle „mit moralischen und schriftlichen Gründen" gestraft werden, zuweilen sei „zwar auch Ernst nöthig", jedoch könnten „Fehler" und „Schwachheiten" kaum besser als durch „liebreiche väterliche Verweise und Vorhaltungen guter Gründe bestraft und abgestellt werden". Konkret über seinen Sohn Jakob führt er sodann aus, daß diesem mit Einfühlungsvermögen begegnet werden müsse, da er „durch Härte und Schärfe nur betäubet, und so confuse" werde, „daß ihm hören und sehen vergehen, und dann nichts mit ihm auszurichten" sei.67 Die fürsorgliche Mahnung des besorgten Vaters und Vorgesetzten scheint bei Hehn auf fruchtbaren Boden gefallen zu sein, anders wäre kaum erklärlich, daß er 1766 durch direkte Fürsprache von Christian Lenz die Leitung der Dorpater Lateinschule übertragen bekommt. Es ist nicht überliefert, wie genau sich der Unterrichtsalltag an dieser Lehranstalt durch den von Christian Lenz zunehmend ausgeübten pietistischen Einfluß verändert hat. Eine rasche Übertragung der Franckeschen Schulpraxis wird angesichts der weltlichen und innerkirchlichen Machtverhältnisse im Baltikum jener Jahre vermutlich nicht möglich gewesen sein, jedoch dokumentieren die Dorpater Personalentscheidungen, in deren Folge schließlich auch die Stelle des Konrektors mit einem Hallenser besetzt wird, eine zumindest sukzessive Reorganisation entsprechend dem Franckeschen Vorbild. Jakob Lenz erfuhr diese Veränderungen sprichwörtlich am eigenen Leib. Er erlebte den Franckeschen Informator Hehn als seinen langjährigen Lehrer und darüber hinaus zwei Jahre seines Rektorats, so daß er auch in der Dorpater Lateinschule, und nicht nur durch den Vater und seinen Sesswegener Hauslehrer, die auf intellektuelle Förderung eher verzichtenden Halleschen Unterrichtsdoktrinen erfahren hat. Ihretwegen wird wohl auch in seiner Lateinschule überwiegend Bibelexegese im Mittelpunkt des Unterrichtsalltages gestanden haben, als deren Ziel keine Theologie reflektierende, aufklärerische Wissenschaftlichkeit, sondern Frömmigkeit angestrebt wurde. Lenz sollte die Prägung durch diese geistig enge, ihrem Wesen nach antiaufklärerische Methodik, der weltliche Gelehrsamkeit - nicht zuletzt die der Philosophie - als verachtenswert galt, ungeachtet seines Studiums niemals vollständig überwinden. Dies 67 Christian Lenz an Johann Martin Hehn, Dorpat April 1763. Zitiert nach Rudolf 1992,33.
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verdeutlicht etwa seine demonstrative Geringschätzung einer von moralphilosophischen Intentionen weitgehend unabhängige Gelehrtheit, zum Beispiel im Bereich der Naturwissenschaften.68 Vergleicht man jedoch die pietistischen Denkmuster - in deren Tradition Christian Lenz in einer seiner maßgeblichen Publikationen gegen Ende der 70er Jahre die sich vollendende Aufklärung mit der Pest gleichsetzt69 - im größeren Zusammenhang mit den noch darzustellenden Erkenntnissen von Jakob Lenz, kann der Einfluß Kants auf den Sproß eines pietistischen Eiferers nicht treffender beschrieben werden als in Anlehnung an die berühmte Kantsche Definition der Aufklärung, daß der Philosoph den jungen Lenz aus seiner geistigen Unmündigkeit befreit habe.70 Dieser intellektuelle Emanzipationsprozeß wird besonders am von Lenz zentral diskutierten Thema des individuellen Strebens nach Glück deutlich, das - in der von Kant vermittelten Lesart der Wolffschen Tradition - vom Autor stets vorbehaltlos als natürlich bejaht und in Schutz genommen worden ist. Dadurch distanziert er sich vom Franckeschen Pietismus, dessen Überakzentuierung eines radikalen religiösen Tugendbegriffs die Möglichkeit unabhängig und individuell zu erlangender Glückseligkeit strikt ausgeschlossen und die Fürsprecher säkularer Tugendlehren als Wegbereiter von in die Sündhaftigkeit führenden Irrwegen vehement bekämpft hat.
68 Vgl. Zweiter Teil, Zweites Kapitel, II.4 „Erziehen statt unterrichten". Daß im Pfarrhause des Pastors Lenz jedoch im Vergleich zu den Usancen anderer pietistischer Pfarrhäuser eine relative geistige Liberalität geherrscht haben könnte, darf immerhin vermutet werden, weil Jakob Lenz in einem Freund des Vaters, dem Heimathistoriker und Juristen Friedrich Konrad Gadebusch, eine Art Mentor und nicht zuletzt während seiner Studienzeit finanziellen Förderer hat finden können, der dem Heranwachsenden - gewiß mit Einverständnis des Pfarrers und unter dessen wachsamen Augen - seine Privatbibliothek zugänglich gemacht haben soll. Ob diese in der Forschung tradierte und mit mancherlei Spekulationen über die intellektuelle Entwicklung Lenzens begleitete These aber der Realität entspricht, kann mangels aussagekräftiger Quellen nicht abschließend beurteilt werden. Angesichts der geistigen Präferenzen des Vaters ist anzunehmen, daß Jakob Lenz das Studium von im Pfarrhaus verpönten Autoren kaum gestattet gewesen sein wird, was besonders für den Bereich der Philosophie und für das Schriftgut der Herrnhuter gegolten haben mag. Deshalb bleiben anderslautende Vermutungen auch künftig Spekulation. Zu letzterem sei in diesem Kontext angemerkt, daß von Lenzens Seite das Entleihen verschiedener Bücher („Das Theatrum pretensionum und die Livonica [verm. Arbeiten Gadebuschs über livländische Geschichte], wie auch, das Werk von Schlegeln [G.v. Schlegel; Rektor der Rigaer Domschule] und die Sachen von Janotzky [J.D.A. Janotzky; polnischer Geschichtsschreiber].") aus Gadebuschs Bestand lediglich für das Jahr 1780 belegt ist (Lenz an Gadebusch, Aya 26.7.1780. - In: WB, Bd. 3, S. 621). 69 Vgl. Christian Lenz: Die Stärke des Schriftbeweises für die in unsern Tagen angefochtene Lehre von der Genugthuung Jesu Christi... (o.O., O.J., vermutlich Riga. 2. Aufl., 1780), 3. Aufl. Berlin 1801, S. 14. Vgl. hierzu die geistesverwandten sogenannten Streitschriften Franckes, hrsg. von Erhard Peschke, Berlin/New York 1981. Vgl. hierüber vor allem Peschke, Erhard: Bekehrung und Reform. Ansatz und Wurzeln der Theologie August Hermann Franckes, Bielefeld 1977. 70 Vgl. Immanuel Kants Beantwortung der Frage Was ist Aufklärung?, die im Dezember 1784 in der Berliner Monatsschrift erstveröffentlicht wurde. - In: Kants Werke (Akademie Ausgabe), Bd. VIII, Abhandlungen nach 1781, Berlin/Leipzig 1923, S. 33-42.
Zweites Kapitel Bei Kant Ein Studirender muß erst den Zweck und den Umfang seiner Kräfte wol erwägen. Es ist schlimm, daß andre uns den Zweck vorschreiben und daß man sie selbst noch nicht kennt wenn man zu studiren anfängt. [...] Der letzte Zweck der Gelehrsamkeit soll seyn dem menschlichen Geschlecht die wahre Form zu geben, es von Vorurtheilen zu befreien, die Sitten zu verfeinern und die Seelenkräfte zu erhöhen. Kant: Vorlesung über Logik (L, 496)
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Als Student in Königsberg
Der pietistische Wunsch nach Unterdrückung der aufklärerischen Erkenntnis von der natürlichen Berechtigung individueller Glückserwartungen geriet bei Francke und seinen Nachfolgern zum bevorzugten Konfliktanlaß mit Andersdenkenden und habe, so Deppermann, nicht unwesentlich zum geistigen Niedergang und dem vor allem von Friedrich II. betriebenen Einflußverlust des Pietismus innerhalb Preußens beigetragen. Denn vor allem an diesem Reizthema entzündete sich in den 20er Jahren des 18. Jahrhunderts an der Universität Halle eine folgenreiche, anfangs scheinbar für Francke siegreich verlaufende Auseinandersetzung seiner Erwekkungsbewegung mit der Aufklärung, vertreten durch die Person des ebenfalls in Halle lehrenden Mathematikers und Philosophen Christian Wolff. Dieser hatte das Streben nach Glück als den wohl stärksten Antrieb individueller Existenz erkannt und vermochte deshalb in einem vernünftigen Genuß aller vom Leben bereit gehaltenen Güter und Freuden nichts Negatives zu erkennen. Wolffs schließlich am Beispiel der Chinesen geführter Nachweis, daß darüber hinaus Atheismus und Unmoral unmöglich als identisch angesehen werden könnten, da Chinesen auch als Nicht-Christen zu tugendhaftem Verhalten in der Lage seien, stellte jedoch zentrale fundamental-pietistische Grundsätze zu sehr in Frage, um noch duldbar zu sein. Auf Initiative Franckes entbrannte an der Universität ein Machtkampf, der am 8. November 1723 in der erwirkten Vertreibung Wolffs aus dem Preußen Friedrich Wilhelms I und dem Verbot seiner Schriften kulminierte. Dieser anfänglich als Sieg interpretierte Landesverweis sollte sich unter Friedrich Wilhelms Nachfolger jedoch als Pyrrhussieg erweisen. Denn Friedrich II. berief Wolff unmittelbar nach seiner 1740 erfol-
Bei Kant
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genden Thronbesteigung nicht nur nach Halle zurück - was die universitären Machtverhältnisse endgültig zuungunsten der pietistischen Bewegung klärte - , sondern gab offen zu erkennen, daß seine so folgenreiche Verachtung der pietistischen Bewegung nicht unwesentlich von diesem Konflikt herrührte. Zum Zeitpunkt des Studienbeginns der Brüder Lenz liegt dieser - durch die Einflußnahme des preußischen Königs entschiedene - Konflikt beinahe drei Jahrzehnte zurück. Womöglich hat ihr Vater, dessen Studienabschluß in jenes denkwürdige Jahr 1740 fiel, noch Wolffs triumphale Rückkehr persönlich miterlebt, die den Niedergang des pietistischen Einflusses an der Universität Halle und letztlich das Obsiegen der Aufklärung versinnbildlicht.1 Die hierdurch bewirkten Veränderungen mögen ein wichtiger Grund dafür gewesen sein, daß der Pfarrer Jahre später nicht Halle, sondern das bislang nicht unbedingt als Speerspitze der Aufklärung geltende, vom Pietismus stark geprägte Königsberg als Studienort seiner Söhne ausgewählt hat. Besonders beim Ältesten, Friedrich David (1745-1809), sollten die vom Vater mit dieser Entscheidung verbundenen Erwartungen auch nicht enttäuscht werden. Denn sein Erstgeborener markierte in Königsberg mit der erfolgreichen Absolvierung eines Theologiestudiums den vielversprechenden Anfang eines ihm vorgezeichneten Lebensweges als livländischer Pfarrer.2 In vielerlei Hinsicht schien die vom heimatlichen Dorpat nicht allzu ferne Königsberger Universität also geradezu ideale Voraussetzungen für die Umsetzung der väterlichen Wünsche bereitzuhalten.3 Und so fanden Jakob Lenz und sein Bruder bei ihrem Antritt an der Albertina eine finanziell äußerst schlecht ausgestattete, mit im Durchschnitt zirka vierhundert Studenten sehr überschaubare Hochschule vor, deren wesentlichste Aufgabe die Versorgung der protestantischen Exklave im äußersten Nordosten mit Geistlichen und Lehrern gewesen sei und nicht etwa Forschung und Heranbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Diesem Anspruch gemäß fiel die Besoldung der Lehrkräfte entsprechend niedrig aus,4 was über-
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Wolff wurde vom König zum Professor für Natur- und Völkerrecht und der Mathematik berufen, erhielt mit 2000 Reichstalern jahrlich das Zehnfache seines Hallenser Anfangsgehalts sowie den Titel eines Geheimen Rates und bekam zusätzlich das Amt des Vizekanzlers der Universität übertragen. 1743 wurde er Kanzler. Vgl. Hans-Joachim Birkner: Christian Wolff. - In: Martin Greschat (Hrsg.): Gestalten der Kirchengeschichte. Bd. 8, Die Aufklärung, Stuttgart 1983, (S. 187-198) S. 191. 1779, dem Zeitpunkt der Ernennung des Vaters zum Generalsuperintendenten des Herzogtums Livland, wurde er schließlich dessen Nachfolger als Oberpastor und Schulinspektor in Dorpat. Über die Stadt Königsberg und die Besonderheiten ihrer Universität vgl. Fritz Gause: Königsberg in Preussen. Die Geschichte einer europäischen Stadt. München 1968. Sowie Anton Schindling: Bildung und Wissenschaft in derfiiihen Neuzeit. 1650 - 1800. München 1999. Aus dem Jahre 1752 ist nach Vorländer überliefert, daß von den neun Professoren der juristischen Fakultät lediglich die drei ersten Ordinarien ein - kärgliches - Gehalt erhielten, der vierte sowie die fünf Außerordentlichen gar keins (über die Theologen macht Vorländer keine Angaben). Dessen ungeachtet sei der Rektor von höchster Stelle angewiesen gewesen, auf die
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ragende Hochschullehrer Königsberg meiden ließ, so daß die Dozenten der vier Fakultäten5 im Vergleich mit anderen Universitäten als weniger qualifiziert galten.6 Vor diesem Hintergrund wirft eine spöttische Bemerkung des Kronprinzen Friedrich ein bezeichnendes Licht auf diesen Studienort. Denn Königsberg könne, so 1739 der spätere Monarch nach einem kurzen Besuch, „besser Bären aufziehen als zu einem Schauplatz der Wissenschaft dienen".7 Doch wird gerade diese der Stadt und ihrer Universität - voreilig, wie sich herausstellen sollte - unterstellte Eigenart den Ansprüchen eines den Wissenschaften mit grundsätzlichem Mißtrauen begegnenden Pietisten und sich um das Seelenheil seiner Söhne sorgenden Vaters wie Christian Lenz ausgesprochen entgegengekommen sein; ein folgenreicher Irrtum, wie der Pfarrer am Beispiel seines zweitgeborenen Sohnes Jakob erfahren mußte. Christian Lenz war es nicht möglich, den gleichzeitigen Studienaufenthalt von zwei Söhnen alleine zu finanzieren, denn als Pfarrer stand ihm lediglich eine bescheidene Besoldung von rund 100 Rubel jährlich zur Verfügung. Im wesentlichen waren Jakob und Johann Lenz deshalb auf ein vom Rat der Gemeinde Dorpat bewilligtes Stipendium angewiesen, das von unregelmäßigen Zuschüssen privater Gönner aus dem väterlichen Freundeskreis ergänzt wurde.8 Doch reichte die erzielte Geldsumme lediglich zur Erhaltung eines minimalen Lebensstandards, wie ein Brief Jakobs vom Oktober 1769 an den Vater verdeutlicht, in dem er sich auch namens des Bruders für ihr „öfteres unverschämtes Geilen nach Geld" entschuldigt, das nur der „Not" entspringe („gegen den Winter kommen viel neue Ausgaben. Holz: ein neuer Schlafrock, Tisch").9
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strikte Einhaltung der Lehrverpflichtungen zu achten und bei erwiesenem 'Unfleiß' die Sünder am Oelde oder gar am Leib' zu strafen (vgl. Vorländer, 1,48f). Die größte war die theologische, es folgten eine juristische sowie eine kleine medizinische, die der größeren philosophischen im Grunde beigefügt war. Königsbergs langjähriger Bürgermeister, der Schriftsteller und Kant-Intimus Theodor Gottlieb von Hippel (1741-1796), zieh viele der ihm wohlbekannten Dozenten der Unfähigkeit, da sie ihre Fachwissenschaft nicht beherrschten, sondern diese im Verlauf ihrer Veranstaltungen erst 'docendo' erlernt hätten. - Vgl. in: Gottlieb von Hippel: Sämmtliche Werke. Bd. 12, Berlin 1835. Zitiert nach Vorländer I, S. 48. Jakob Lenz wird sich hierfür nicht zuletzt durch seinen 1769 gedruckten Gedichtzyklus Die Landpiagen empfohlen haben, der - in Dorpat verfaßt und der Landesherrin, der russsichen Zarin zugeeignet - Katharina der Großen in einer Luxusausgabe durch Lenzens Vater überstellt wurde. Lenz an seinen Vater, Königsberg, 14. Oktober 1769. - In: WB, Bd. 3, (S. 25Iff), S. 252. Über die recht entbehrungsreichen Lebensbedingungen eines weniger begüterten Königsberger Studenten gibt der Königsberger Schriftsteller und Professor der Artillerie-Akademie Ludwig von Baczko in seinen Lebenserinnerungen Auskunft (Ludwig v. Baczko: Geschichte meines Lebens. 3 Bde., Königsberg 1824). Er studierte ab 1771 an der Albertina Jurisprudenz und lebte während dieser Zeit, wie die Brüder Lenz, zur Untermiete in einem sehr einfachen Quartier. Aus diesem flüchtete er im Winter vor der Kälte u.a. in den Vortragssaal Kants, der als stets vorbildlich beheizte Örtlichkeit bekannt und beliebt war. Da er gemäß der damaligen
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Studiendauer Jakobs Studienaufenthalt sollte vom September 1768 bis zum Frühjahr 1771 dauern, also mit fünf komplett absolvierten Semestern eines weniger umfassen, als für einen geregelten Abschluß seinerzeit notwendig schien. Es sind vermutlich wirtschaftliche Gründe, die ihn zur vorzeitigen Beendigung seines Studiums bewegten. Denn um Ostern 1771 traf ein an beide Brüder gerichteter Brief des Vaters in Königsberg ein, in dem offen über die erheblichen Schwierigkeiten berichtet wird, die bisherige Alimentation aufrecht zu erhalten. Im äußersten Fall bis zum Michaelistag (dem 29. September), heißt es, ein weiteres Semester also, könne die Finanzierung garantiert werden, um beiden den nach sechs Fachsemestern möglichen Abschluß zu gestatten. Doch werde es angesichts drohender Schulden „ohnehin schwer genug seyn, sie noch so lange zu unterstützen". Die väterlichen Sorgen können Lenz nicht unvorbereitet getroffen haben, geht aus dem gleichen Brief doch hervor, daß Jakob bereits mit seinem Lehrer Kant über seine Zukunftspläne gesprochen und auch Rat erhalten haben muß. So scheint Lenz bereits die Vermittlung einer im sächsischen Ausland befindlichen Hofmeisterstelle in Aussicht gestellt worden zu sein („gehöret, daß Prof. Cant ihn nach Rehbinder in Danzig recommandiret"), wogegen der Vater schwerste Bedenken vorbringt. Dabei argumentiert er auf zwei unterschiedlichen Ebenen: Zum einen appelliert er an den Patriotismus Jakobs, daß dieser schon aus - pietistischem - Pflichtgefühl, aus „Tugend", seinem „Vaterlande Gott und [seinen] Nächsten [...] zur Ehre und Freude" nützlich sein sollte. Zum anderen wendet er sich grundsätzlich gegen den vom Sohn nach vorzeitigem Studienabbruch und Annahme einer Hofmeisterstelle geplanten Lebensweg als Privatlehrer. Denn fortan wäre er niemals mehr unabhängig, sondern nur ein „ewiger freier Untertan", der nie s. eignes anfangen, nie heiraten, nie selbst e. Wirtschaft fuhren kann, immer die Füsse unter e. fremden Tisch stecken muß. Taugst du nichts u. mußt ihn verlassen, so jägt er dich ohne Recommendation weg. - Taugst du was, u. hat er dich lieb, so wird er aus Eigennutz dich in s. Haus ewig festhalten wollen. 1 0
Studienordnung neben seinem Hauptfach Jura auch philosophische Vorlesungen besuchen mußte, blieb ihm die geistige Auseinandersetzung mit den von Kant behandelten Unterrichtsinhalten jedoch nicht erspart. Hierüber erinnert er sich: „Kant hatte damals seine glänzendste Periode angetreten. Er las, als ich auf die Akademie kam, die Metaphysik unentgeltlich. Ich besuchte nun diese Vorlesung und verstand sie nicht. [...] Ich durchwachte ganze Nachte, brachte, diese miteingeschlossen, zwanzig und mehrere Stunden ununterbrochen beim Buche zu [gem. sind philosophische Werke u.a. von Baumgarten, mit denen er den nicht verstandenen Stoff zu repetieren versuchte] und lernte nichts." (Baczko, Bd. 1, S. 187. Vgl. über den Lebensalltag außerhalb der Universität insbesondere Bd. 1, S. 186ff.) 10 Christian Lenz an seine Söhne Jakob und Johann, Dorpat im Frühjahr 1771. - In: Briefe von und an J.M.R. Lenz. Hrsg. von Karl Freye und Wolfgang Stammler. Leipzig 1918, Bd. 1, (S. 13-15), S. 14f.
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Ein geregelter Studienabschluß (den der Vater ungeachtet aller Geldsorgen propagiert, deren ausführliche Darstellung den Studieneifer der Söhne wohl nur verstärken sollte) sowie die anschließende Rückkehr nach Livland eröffneten hingegen die Perspektive auf mittelfristige Übernahme einer Landpfarre, wofür man eine vor Ort übernommene Hauslehrertätigkeit zumindest vorübergehend ins Auge fassen könne.11
Studieninhalt Dem Vater scheint zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt gewesen zu sein, daß Jakob das ihm auferlegte Studium der Theologie schon lange zugunsten der Philosophie aufgegeben hatte, ihm also die wesentliche Voraussetzung zur Übernahme eines Pfarramtes fehlt. Die in einem Brief Lenzens an den Vater vom 14. Oktober 1769 erklärte Absicht, im folgenden Semester „von theologicis das Theticum bei D. Lilienthal und ein Exegeticum über die Ep. Pauli an die Römer" zu hören, darf nicht darüber hinweg täuschen, daß sein Studienschwerpunkt längst von den in seinem Schreiben nur beiläufig erwähnten „philosophischen [...] Collegiis"12 eingenommen wurde. Biographisch belegt wird dies vor allem durch die Erinnerungen des Königsbergers Johann Friedrich Reichardt, der in den Jahren 1769 und 1770 Lenzens Kommilitone war und sich in einem 1796 publizierten Essay erinnert, Lenz sei „fast nur ausschließlich [...] in die Vorlesungen unsers verehrungswürdigen Lehrers K a n t " gegangen, habe die Veranstaltungen anderer Professoren nur selten besucht und sich intensiv mit „sehr vermischte[r] Lektüre und eigne[n] poetische[n] Ausarbeitungen" beschäftigt.13 11 Vgl. ebd. 12 Lenz an seinen Vater, Königsberg, 14. Oktober 1769. - In: WB, Bd. 3, S. 251-253. Dies macht der Autor auch Jahre später in seiner autobiographisch intendierten Prosa Der Landprediger deutlich, wenn er über die Studienzeit seines dortigen Alter Egos, des Pfarrers Johannes Mannheim, ausführt, dieser habe „in den Kollegien der Herren, an die er von seinem Vater empfohlen war" „unerträgliche lange Weile" gefunden, da sie ihn lediglich „durch ein entsetzlich ödes Labyrinth von Schlüssen von der Wahrheit zu der Wahrscheinlichkeit" zurückgeführt hätten. So sei er - „aller Warnungen seines Vaters ungeachtet" - (DL, 415f) bereits nach „den ersten drei Wochen" (DL, 415) zum „Ausreißer" geworden, um - hier endet die Parallele des fiktiven Mannheim mit den tatsächlichen Interessen des realen Lenz - „die Kameralwissenschaften" (also das fiskalische Rechnungswesen) zu studieren (DL, 416). 13 Johann Friedrich Reichardt: Etwas über den deutschen Dichter J.M.R. Lenz. - Erstveröffentlicht in: Berlinisches Archiv der Zeit und ihres Geschmacks, Februar 1796, (S. 113-123), S. 113. Zitiert nach dem unveränderten photomechanischen Abdruck in: Matthias Luserke (Hrsg.): Jakob Michael Reinhold Lenz im Spiegel der Forschung, Hildesheim 1995 (S. 1-11), S. 1. Bei den von Reichardt angesprochenen 'poetischen Ausarbeitungen' dürfte es sich vor allem um Lenzens umfangreiche, im Winter 1770 entstandene Versdichtung Belinde und der Tod handeln, die beredtes Zeugnis von seiner inzwischen erfolgten Kant-Rezeption ablegt; vgl. ausführlich im Zweiten Teil, Zweites Kapitel, II.3 im Kontext der Behandlung des Begriffs „Tod".
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Ein Grund hierfür wird die Geringschätzung gewesen sein, mit der Lenz der Mehrheit des von ihm offenbar konsequent gemiedenen Königsberger Lehrkörpers begegnet ist. Hierüber legt sein an den Vater im Oktober 1769 gerichteter Brief beredtes Zeugnis ab. „Überhaupt", heißt es da, „wenn man nebst einigen wenigen Professoren die Magister [zu denen auch Kant noch zählte, der erst per Kabinettsorder des Königs vom 31. März 1770 zum Professor der Logik und Metaphysik berufen wurde] von Königsberg nähme, würde die Akademie wenig oder gar nichts wert sein."14 Daß er bei Erwähnung jener Magister besonders an Kant gedacht haben wird, drückt Lenz eindrücklich im Folgejahr gegenüber diesem selbst aus, und zwar in seinem berühmten Huldigungsgedicht vom August 1770. Den äußeren Anlaß zu dessen Verfertigung bot Kants im Rahmen seiner Berufung erfolgende Disputation über seine hierzu eigens verfaßte Dissertationsschrift De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis, die am 21. August im Auditorium Maximum der Königsberger Universität stattfand. Im Anschluß an dieses Ereignis, das Kants offiziellen Amtsantritt markiert, wurde dem frisch Berufenen jene aufwendig gedruckte und eingebundene Ode feierlich von seinen siebzehn - durch ihre Unterschrift namentlich aufgeführten - kur- und livländischen Studenten überreicht. In ihr preist Lenz in insgesamt zwölf Strophen seinen Lehrer mit überschwenglicher Ehrerbietung, die weit über das einem solchen Anlaß Angemessene hinausgeht und nachdrücklich seine vorbehaltlose Bewunderung und Zuneigung demonstriert. Darüber hinaus zeichnet sich Lenzens Gedicht auch durch tatsächlichen Gedankeninhalt aus, da in ihm wichtige Wesenszüge und philosophische Grundhaltungen Kants dargestellt werden, zu denen sich der junge Student feurig bekennt. Denn für ihn ragt Kant weit über die anderen Universitätsdozenten hinaus: Kant sei „der Menschheit Lehrer", der „Tugend" und „Weisheit" vorbildlich in sich vereine und „was er [...] lehret", selbst „übt und ehret". Dies lasse ihn als Sinnbild der Glaubwürdigkeit von innen her förmlich erstrahlen, zumal er selbst sich nie vom äußeren Schein der Dinge habe blenden lasse. Vielmehr reiße er dieser „Torheit", die andere „kriechend [als] Weisheit" bezeichneten, die „Maske" ab: ihre „Orden und des Hofes Ware", ihre „Kriegeszeichen" oder auch ihren „Priestermantel", so daß sie „nackend" dastehen. Die dagegen oft nur in „schlechten Kittels" gekleidete Wahrheit spüre er in ihren im Verborgenen liegenden „Hütten" auf, wo sie, die den „Glanz der Thronen / Verschmähet", und deshalb „an Verstand und Herzen ungekränket" geblieben auf jene „Schüler" warte, die Kant ihr zuführe, - kraft seiner „Einfalt im Denken und Natur im Leben". Das Dasein der derart Geleiteten sei fortan mit „reiner Lust [...] angefüllet, / Weil sie [die von Kant eröffnete Wahrheit] den Durst nach Weisheit, den sie stillet, / Doch mmmer löschet". Hiermit verweist Lenz auf Kants Selbstverständnis als Dozent, der seinen Studenten stets einprägte, sie nicht die Philosophie lehren zu wollen und
14 Lenz an seinen Vater, Königsberg, 14. Oktober 1769. - In: WB, Bd. 3, (S. 251ff), S. 252.
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auch nicht lehren zu können, sondern das Philosophieren. Einen unmittelbaren Bezug zu Kants Metaphysik-Vorlesungen stellt sodann die drittletzte Strophe her, in der Lenz beschreibt, wie ihm durch Kant die Angst vor dem Tod genommen worden sei.15 So erscheine ihm der Tod nun - fern aller im Elternhaus geprägter Ängste vor einem strafenden Gott des Jüngsten Gerichts - wie „mit Rosen und Jesmin gezieret", voll „neuer Reize" und als „Retter" gar „aus des Lebens Schlingen". Eine frohe Perspektive scheint dem jungen Studenten nun endlich eröffnet worden zu sein, die jedoch keine Todessehnsucht gebiert, sondern im Gegenteil Lebensbejahung, wie direkt anschließend das Gelübde verdeutlicht, fortan den „Hochedelgebornen Professor" Kant durch einen Lebensweg in dessen Sinne ehren zu wollen und das bei ihm Erworbene an die kommende Generation („unsre Kinder") weiterzugeben. In der letzten Strophe beschwört Lenz schließlich ihm dank Kant erwachsendes Nationalbewußtsein, vermag er doch, dem ihm arrogant anmutenden Stolz der „Söhne Frankreichs" auf die eigenen „Genies" mit Blick auf den Königsberger Philosophen endlich angemessen erwidern und der vorgeblichen geistigen Übermacht Frankreichs selbstbewußt entgegentreten zu können: Ihr S ö h n e Frankreichs! schmäht denn unser N o r d e n , Fragt o b G e n i e s j e hier erzeuget worden: W e n n Kant n o c h lebet, werdt ihr diese Fragen N i c h t wieder w a g e n . 1 6
Gegenüber seinen Eltern äußerte sich Jakob Lenz nicht in vergleichbarer Weise über seinen vom Besuch der Veranstaltungen Kants geprägten Studienalltag. Dies verwundert nicht, galt es doch, seinen tatsächlichen Studienschwerpunkt geheim zu halten, der ihn weit vom eigentlichen Zweck seines Aufenthaltes in Königsberg fortgeführt hatte. Unbefangener als Jakob konnte sich hingegen Johann Lenz gegenüber dem Vater äußern, wenn er am 14. Oktober 1769 brieflich nach Dorpat berichtet, er werde bei Kant im kommenden halben Jahr Logik und Metaphysik „repetieren".17 In diesem Fall weist das gezeigte philo-
15 Dieser Aspekt wird, wie auch andere Inhalte des Gedichts in anderen Zusammenhängen, im Zweiten Teil vertieft; siehe dort Zweites Kapitel, II.3 „Tod". 16 Lenz: DHP. Als Autorenhinweis befindet sich unter dem Titel die Textzeile „Im Namen der sämtlichen in Königsberg studirenden Cur- und Liefländer aufgesetzt von L.. aus Liefland". Unterzeichner waren auch die beiden Barone von Kleist „aus Curland", die Lenz nach der vorzeitigen Beendigung seines Studiums als Gesellschafter nach Straßburg begleiten sollte. Sie waren seit dem 20. September 1769 gemeinsam mit einem dritten Bruder in Königsberg immatrikuliert. Jenes das Gedicht abschließende Versprechen ist auch Ausdruck von Lenzens zeitlebens starkem Interesse an pädagogischen Fragestellungen, das von Kants Rezeption der philanthropischen Ideen des Pädagogen Johann Bernhard Basedow (1723-1790) stark beeinflußt worden ist; vgl. hierzu Zweiter Teil, Zweites Kapitel „Erziehen statt unterrichten". 17 Johann C. Lenz an den Vater, Königsberg, 14. Oktober 1769. - In: Briefe von und an J.M.R. Lenz. Hrsg. von Karl Freye und Wolfgang Stammler. Leipzig 1918, Bd. 1, S. 287.
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sophische Interesse allerdings nicht auf ein Abweichen vom vorbestimmten Studienziel hin, das von dem künftigen Juristen emsig angestrebt wurde, da der Besuch von Veranstaltungen aus dem Bereich der Philosophie an Universitäten jener Tage stets verpflichtender Bestandteil aller übrigen Studiengänge war. So heißt es hierzu in einem diese Tradition erläuternden Erlaß des zuständigen Berliner Ministers vom Mai 1770, die Studenten aller Fachrichtungen hätten,, j e eher je lieber", die wichtigsten Kollegia der Philosophie zu belegen, vor allem jene, die für ihre „Hauptwissenschaft vorzüglich nötig" seien. Denn so die im besten Sinne aufklärerische Begründung - , die „wahre" Philosophie vermittle Selbständigkeit des Denkens und Unabhängigkeit der Urteile, da sie „eine Fertigkeit" sei, „selbst ohne Vorurteile und ohne Anhänglichkeit an eine Sekte zu denken und die Naturen der Dinge zu untersuchen". 18 Dieser Studienpraxis folgend wird Lenz den Weg zu Kant gefunden haben, und dank eines in jenem Erlaß vom Mai 1770 wiedergegebenen Studienverlaufsplans kann auch mit hoher Wahrscheinlichkeit - wie im weiteren Verlauf aufgezeigt wird - die Abfolge der von ihm dabei besuchten philosophischen Lehrveranstaltungen rekonstruiert werden. 19 In seinem 1777 verfaßten Landprediger scheint Lenz seiner Universitätsjahre zu gedenken, da er dem überaus vorteilhaft gezeichneten Protagonisten, dem Pfarrer Johannes Mannheim, nicht nur an sich selbst und an seinen Vater gemahnende Attribute verliehen hat, sondern auch zahlreiche dem Vorbild Kants entlehnte. Schon die familiäre Situation des Pfarrers weist auf Kant hin, lautet der Name seiner Ehefrau doch Albertine, was zusammen mit weiteren Parallelen kaum als nur eine zufällige Analogie zur Königsberger Universität, der Albertina, interpretiert werden kann, an der der unverheiratete Professor zeitlebens tätig gewesen ist. Auch der liebevoll ironische Verweis auf die Kant stets heimsuchenden Magenprobleme fehlt nicht zur Beschreibung Mannheims, über den in einer Szene gemutmaßt wird, ihm würde „sonst was fehlen im Unterleib. Wie es den gelehrten Herren zu gehen pflegt" (DL, 445). Und dessen Ausmaß an Gelehrsamkeit erweist sich schließlich nach seinem Tode, als man in seinen nachgelassen Schriften „furtreffliche Traktate" findet, in denen er sich - offensichtlich angelehnt an Kants Vorlesung über Physische Geographie und seine sich Naturphänomenen und der Anthropologie widmenden vorkritischen Schriften - unter anderem ausführlich über das „Klima und dessen Einfluß auf Menschen, Tiere und Pflanzen, besonders der Bevölkerung", ausgelassen habe. Dadurch eröffneten sich „Blicke in die Menschennatur und in die allgemeine organisierte Natur [...], die einem Montesquieu würden haben erröten machen." (DL, 445) Lenz fährt fort: 18 Erlaß vom 26. Mai 1770, am 5. Juli 1770 von der Königsberger Universität zum Druck befördert und jedem neuen Studenten ausgehändigt. Zitiert nach Emil Amoldt: Gesammelte Schriften, Hrsg. von Otto Schöndörffer, Bd. V, Kritische Exkurse im Gebiete der Kantforschung, Teil II, Berlin 1909, (S. 224-229), S. 224f. 19 Vgl. hier „Studienende".
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Er fand das große Geheimnis der Ähnlichkeit des Menschen mit der ganzen Schöpfung, die ihn umgibt, ja er fand, welches Montesquieu selbst nicht gesucht haben würde, selbst die Unterschiede der Regierungsform in der Natur des Bodens und dem Einfluß desselben auf Charaktere, Sitten und Meinungen seiner Bewohner. Durch diesen Schlüssel erklärte er die wunderbarsten Phänomene in der Geschichte und noch Erscheinungen, die heut zu Tage sich ergeben, auf eine Art, die keinen Zweifel übrig ließ. (DL, 445) 2 0
Von Kant selber sind keine Aufzeichnungen (etwa in Gestalt von Teilnehmerlisten seiner Veranstaltungen) überliefert, die Lenzens Besuch bestimmter Kollegia belegen könnten. Zwar gilt als gesichert, daß der Dozent schon zur Sicherstellung der ihm zustehenden Honorare über seine einzelnen Veranstaltungen Buch geführt hat,21 jedoch sind derartige Notizen gerade aus den frühen Jahren seiner Lehrtätigkeit - wie überhaupt der Großteil seines schriftlichen
20 Der wie zuvor von Montesquieu auch von Kant noch gelehrten Ableitung der Nationalcharaktere aus der regionalen Beschaffenheit der Natur konnte Lenz auch humoristische Züge abzugewinnen, wenn er im Landprediger etwa behauptet, Mannheim habe die „Melancholie der Engländer" „von den Steinkohlen" abgeleitet (DL, 446). Auch seien die 'flüchtigen Weine' (vgl. DL, 446) der Franzosen für deren „Sorglosigkeit für die öffentlichen Geschäfte" verantwortlich und das „Bier" filr die „Festigkeit" der Deutschen, - welche wegen des „häufigen Gebrauch[s] [...] des Kaffees" jedoch „sehr abgenommen [habe] und in eine weibische Weichlichkeit und Unentschlossenheit ausgeartet wäre" (DL, 446). Doch dürfen diese ironischen Verweise nicht als parodistisch mißverstanden werden. Ihre ernsthafte Bedeutung wird offenbar, vergegenwärtigt man sich in Lenzens 'Lebensregeln' das eindringliche Warnen vor dem unvernünftigen Gebrauch von Genußmitteln. Zu denen hat der Autor - wie auch Kant insbesondere den Kaffee gezählt, der schon lange in Frankreich zum Modegetränk der Aufklärer avanciert war und angeblich auch von Descartes wegen seiner die Verstandeskräfte schärfenden Wirkung propagiert worden ist (vgl. ML, 496). Vgl. über die Nationalcharaktere bei Kant insbesondere den 4. Abschnitt seiner Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764). - In: Kants Werke, Akademie-Ausgabe, Bd. II, Vorkritische Schriften II, Berlin 1968, unveränderter photomechanischer Abdruck der Originalausgabe Berlin 1905/12, (S. 205-256) S. 243-256. 21 Kants Methode der Buchführung erfolgte allerdings sehr unsystematisch und provozierte geradezu ihre Nicht-Überlieferbarkeit, wie aus den Erinnerungen des Kant-Freundes Andreas Wasianski hervorgeht. Er berichtet von der Unbefangenheit, mit der Kant stets eine regelrechte 'Zettelwirtschaft' betrieben habe, bei der jegliche Möglichkeit zur Aufzeichnung ihm wichtiger oder weniger bedeutsam erscheinender Notizen genutzt worden sei; selbst „abgerissene unförmliche Papierchen [...], deren Anzahl zuletzt so angewachsen war, daß [Einzelnes] nur schwer gefunden werden konnte." Was Kant selbst noch in späten Jahren, als er längst große Berühmtheit erlangt hatte, grundsätzlich von einer Archivierung dieser aus Unersetzlichem und Entbehrlichem bestehenden Unterlagen gehalten habe, weiß Wasianski ebenfalls zu berichten: „Beim Ausweißen seiner Studierstube 1802 im August wollte er sie verbrennen lassen." Zitiert nach Werner Stark: Eine Spur von Kants handschriftlichem Nachlaß: Wasianski. - In: Kant-Forschungen. Hrsg. von Reinhardt Brandt und Werner Stark, Bd. 1, Hamburg 1987, (S. 201-227), S. 204. Stark zitiert nach der photomechanischen Wiedergabe des Wasianski-Textes aus Arthur Warda: Immanuel Kants letzte Ehrung. Königsberg 1924, S. 233.
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Nachlasses - verschollen bzw. von ihm selbst vernichtet worden.22 Tradiert ist, daß der Philosoph in seinen früheren Jahren ihm unwichtig oder als überholt erscheinende Unterlagen regelmäßig selber vernichtet hat, während er in späterer Zeit vielfältige handschriftliche Materialien Dritten überließ, teils aus Gefälligkeit oder zur Förderung der Beschäftigung mit seiner Arbeit, teils, um einfach von ihnen entlastet zu sein.
Studienende Der für die preußischen Universitäten verbindliche Studienverlaufsplan, auf den sich jener im vorigen erwähnte Erlaß vom Mai 1770 bezieht, besaß Gültigkeit für alle Studierenden. Auf die Königsberger Verhältnisse übertragen, galt er also für die Studenten der Theologischen, Juristischen und Medizinischen Fakultät, wobei Jakob Lenz offiziell in ersterer immatrikuliert war. Präzise schrieb er vor, welche Veranstaltungen der Philosophischen Fakultät im Fachstudium zu welchem Zeitpunkt zu belegen seien. So waren etwa für alle Erstsemester die Veranstaltungen Philosophische und Allgemeine Enzyklopädie sowie Logik und Ästhetik vorgeschrieben.23 Da Kant im Wintersemester 1768/69 unter anderem über Philosophische Enzyklopädie und Logik Kollegia veranstaltete,24 darf mit großer Wahrscheinlichkeit angenommen werden, daß Jakob Lenz bereits zu diesem frühen Zeitpunkt seines KönigsbergAufenthaltes Kant als Lehrenden kennengelernt hat. Für das zweite Fachsemester wird Metaphysik vorgegeben, für das dritte Physik, für das vierte Praktische Philosophie sowie Natur- und Allgemeines Recht, für das fünfte schließlich Ethik und Politik sowie für das sechste Historia Naturalis, insbesondere Mineralogie.25 Sämtlich sind dies seinerzeit der Philosophie zugeordnete Ge-
22 Der mit der Akademie-Ausgabe betraute Wilhelm Dilthey hatte in seinem 1889 erschienenen Aufsatz Archive der Literatur in ihrer Bedeutung für das Studium der Geschichte der Philosophie den weitgehenden Verlust Kantscher Aufzeichnungen und die große Zerstreuung der vergleichsweise wenigen noch erhaltenen Autographen beklagt (in: Archiv für Geschichte der Philosophie, 2, o.O. 1889, S. 343ñ). Damit Schloß er sich jedoch lediglich zahlreichen früheren Klagen an, die ihren Anfang schon bei Kants Zeitgenossen gefunden hatten, von denen nicht zuletzt Rink und Hasse diese 'Selbstentblößung' Kants von nicht zuletzt für sein philosophisches Werk wichtigen Papieren nachhaltig bedauerten und auch kritisierten. Vom gealterten Philosophen selbst sind Äußerungen bekannt, in denen er dieses Bedauern teilt, es jedoch ausdrücklich auf seine schriftstellerische Arbeit betreffende Unterlagen bezieht und private Papiere davon ausnimmt. 23 Vgl. Erlaß vom 26. Mai 1770, am 5. Juli 1770 von der Königsberger Universität zum Druck befördert und jedem neuen Studenten ausgehändigt. Zitiert nach Emil Arnoldt: Gesammelte Schriften, Hrsg. von Otto Schöndörffer, Bd. V, Kritische Exkurse im Gebiete der Kantforschung, Teil II, Berlin 1909, (S. 224-229), S. 228. 24 Vgl. die Darstellung der von Kant zwischen WS 68/69 und SS 71 abgehaltenen Veranstaltungen in Teil ΙΠ dieses Kapitels. 25 Vgl. Anm. 24, zitiert nach Arnoldt, S. 228.
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genstände, die von Kant selbst (bis auf Allgemeine Enzyklopädie, Ästhetik und Politik) auch abgedeckt wurden, so daß Lenz sie - dies demonstriert Kants Veranstaltungsverzeichnis26 - innerhalb seines fünfsemestrigen Studienaufenthaltes auch alle bei ihm zu absolvieren in der Lage war. Dies betrifft auch den letztgenannten Gegenstand, die Mineralogie, über die der frischberufene Professor im Wintersemester 1770/71 (Lenzens fünftem und letztem) eine entsprechende, später niemals wiederholte Vorlesimg abgehalten hat. Aufgrund der Tatsache, daß Kants für das Sommersemester 1771 geplanten Kollegia lediglich eine Wiederholung bereits im Sommersemester 1770 behandelter Gegenstände darstellten, liegt die Vermutung nahe, daß Lenz nach Abschluß seines fünften Fachsemesters das in Königsberg zu erwerbende philosophische Spektrum bereits als gänzlich absolviert erachtet hat. So wird er ohne größere Bedenken die ihm von zwei Kommilitonen, den Baronen Friedrich Georg und Ernst Nikolaus von Kleist, eröffnete Möglichkeit wahrgenommen haben, sie als Gesellschafter nach Straßburg zu begleiten, wo sie in französischen Diensten eine Offizierskarriere anstrebten. Für diesen Entschluß wird auch die Überlegung, dem jüngeren Bruder auf diese Weise den geregelten Abschluß seines Jurastudiums ohne Zeitdruck zu ermöglichen, eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt haben.27 Hinzu kommt die seinerzeit generell etwas geringere Bedeutung offizieller Studienabschlüsse, wofür auch Kant ein sinnfälliges Beispiel abgibt, der 1746 sein 1740 aufgenommenes Studium an der Universität Königsberg - vermutlich ohne Examina - beendete, um (ungeachtet seiner aufsehenerregenden Erstlingsschrift Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte... von 1746; gedruckt erst 1749)28 ohne Magisterwürde oder gar Doktorgrad für Jahre sein Auskommen als Hofmeister zu finden, bevor er 1755 zur Aufnahme einer akademischen Karriere an seine alte Hochschule zurückkehrte.
II
Kants 'kopernikanische Wende'
Als Jakob Lenz im Winter 1768/69 seine ersten Veranstaltungen bei Immanuel Kant besucht, trifft er auf einen mit 44 Jahren nicht mehr ganz jungen Dozen26 Vgl. die Darstellung der von Kant zwischen dem WS 68/69 und SS 71 abgehaltenen Veranstaltungen in Teil III dieses Kapitels. 27 Johann Christian Lenz blieb in Königsberg, absolvierte seine juristische Ausbildung erfolgreich und war ab 1772 als Stadtsekretär in Arensburg, ab 1774 Notar im livländischen Pernau, später Regierungsrat in Riga. 28 Kant: Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte und Beurtheilung der Beweise, deren sich Herr von Leibniz und andere Mechaniker in dieser Streitsache bedient haben, nebst einige vorhergehenden Betrachtungen, welche die Kraft der Körper überhaupt betreffen. - In: Kants Werke. Akademie-Ausgabe, Bd. I, Vorkritische Schriften I, Berlin 1968, unveränderter photomechanischer Abdruck der Originalausgabe, Berlin 1902/10, S. 1-182.
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ten. Dieser hatte sich zwar in den vergangenen Jahren als Wissenschaftler und Lehrer bereits einen Namen gemacht, doch war seine akademische Karriere bis zur 1770 erfolgenden Königsberger Berufung nicht gerade glanzvoll verlaufen, was seit 1765 seine Nebentätigkeit als Unterbibliothekar an der Königsberger Schloßbibliothek notwendig machte. Lenz begegnet Kant in einer Lebensphase, die biographisch und vor allem philosophisch eine Zäsur in dessen Entwicklung bezeichnet. Denn Kant steht (nach zahlreichen - Aufmerksamkeit erregenden - Fachveröffentlichungen, als deren Folge ihm 1769 und 1770 auch Berufungen nach Erlangen und Jena angetragen werden) im Begriff, jene nach seinem späteren Selbstverständnis - kopernikanische Wendung zum Kritizismus zu vollziehen. Damit bewirkt er eine Revolution in der Geistesgeschichte, die allenfalls auf dem politischen Feld ein in der Historie vergleichbar nachwirkendes Pendant in Gestalt der französischen Revolution erhalten sollte.
Zum Kritizismus Zuvor, während seiner als vorkritisch bezeichneten Schaffensphase, hatte sein Interesse vor allem der Naturwissenschaft in Verbindung mit der Metaphysik gegolten; Fachgebiete, die in Kants Schriften während jener Epoche noch eng ineinander griffen und damit den Vorgaben der tonangebenden LeibnizWolffschen Aufklärungsphilosophie entsprachen. Doch schon zu Beginn der 60er Jahre trat die naturwissenschaftliche Thematik in seinen Schriften zurück, und es setzte die nachhaltige Beschäftigung mit Metaphysik und den Grundlagen der Philosophie ein, die ihn in wachsende Distanz zur Schulmetaphysik seiner Zeit rücken ließ. Deren Vertreter apostrophierte er schließlich im dritten Hauptstück, der „Antikabbala" (Titel) seiner 1766 erschienenen Abhandlung Träume eines Geistersehers... sehr allgemein und ohne auf einzelne Namen einzugehen als „Luftbaumeister" und „Träumer", 29 da sie die grundsätzliche Unvereinbarkeit von Metaphysik und Naturwissenschaft nicht realisierten. Denn ungeachtet allen Drängens nach gesicherter Erkenntnis auch der sinnlich nicht mehr erfahrbaren Dinge sei der Mensch nicht in der Lage, kraft seines Verstandes die ihm von seiner Körperlichkeit diktierten Grenzen zu überschreiten. „Wir", die Menschen, müßten also warten - so Kant in Vorbereitung seiner kritizistischen Scheidung von Wissenschaft und Metaphysik - , „bis wir vielleicht in der künftigen Welt durch neue Erfahrungen und neue Begriffe von den uns noch verborgenen Kräften in unserm denkenden Selbst werden belehrt werden." 30 Dieser Erkenntnis, die sich bereits 1755 in seiner naturwissen-
29 Kant: Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik. - In: Kants Werke. Akademie-Ausgabe, Bd. Π, Vorkritische Schriften II, (S. 315-373), S. 342. 30 Ebd., S. 371.
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schaftlichen Schrift Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels31 abzeichnete, war die Beschäftigung mit dem Empirismus und Skeptizismus David Humes vorangegangen, die ihn - so Kant in seinen 1783 erschienenen Prolegomena32 - aus dem „dogmatischen Schlummer" gerissen und seinen Untersuchungen „im Felde der spekulativen Philosophie eine ganz andere Richtung" gewiesen habe, auch wenn er „weit entfernt" gewesen sei, Hume „in Ansehung seiner [zu kurz greifenden] Folgerungen Gehör zu geben".33 Das Verwerfen der tradierten, dogmatischen Denkweisen war der Beginn einer Entwicklung, während der Kant ab zirka 1766 konsequent jenen Standpunkt heranbildete, der nach der Veröffentlichung seines kritischen Hauptwerkes, der 1781 publizierten Kritik der reinen Vernunft, als Kritizismus berühmt wurde.34 Rückblickend beschrieb er 1798 in einem Brief an Christian Garve, daß der Auslöser seiner folgenreichen Überlegungen einst das Phänomen der Antinomiebildung in reinen Vernunftschlüssen gewesen sei,35 jener ihn provozierende, scheinbare Widerspruch der Vernunft mit sich selbst, der ihn zur Kritik der reinen Vernunft förmlich 'hingetrieben' habe.36 Als für diesen Entwicklungsprozeß richtungsweisend erwies sich schließlich das Jahr 1769. Zuvor habe er - wie er in seinen zur eigenen Orientierung niedergeschriebenen 'Reflexionen' ausführt - den kritischen „Lehrbegriff" lediglich wie „in einer Dämmerung" erahnt, doch sei ihm plötzlich wie durch eine Erleuchtung klar geworden, daß Antinomien keine - wie er bis dahin annahm - „Illusion des Verstandes" darstellten.37 Vielmehr existiere die Vernunft tatsächlich in einem Zustand der Entzweiung; eine für die Ausrichtung seiner weiteren Schlüsse grundlegende Wahrnehmung, die ihn „in Nachdenken und Unruhe versetzt" 31 Kant: Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels. - In: Kants Werke. AkademieAusgabe, Bd. I, Vorkritische Schriften I, S. 215-368. Basierend auf den Erkenntnissen Newtons demonstriert Kant die im Kosmos wirkenden, mechanischen Gesetzmäßigkeiten und verweist die Diskussion um das (grundsätzlich nicht in Abrede gestellte) Wirken Gottes als ursächliche Bedingung dieser Naturgesetze in den separat zu behandelnden Bereich der Metaphysik. 32 Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik. - Hrsg. von Karl Vorländer, 7. durchgesehene Auflage, Hamburg 1993. Künftig abgekürzt „Pro". 33 Ebd. S. 6f. An anderer Stelle verweist Kant insbesondere auf Rousseau, durch den ihm das eigentliche Wesen der Menschen entdeckt worden sei, weshalb er seine Wirkung auf ihn mit der Newtons vergleicht. 34 Vgl. zur Entstehungsgeschichte von Kants erster Kritik Emil Amoldt: Die äussere Entstehung und die Abfassungszeit der Kritik der reinen Vernunft. - In: Emil Arnoldt: Gesammelte Schriften. Bd. IV, Kritische Exkurse im Gebiete der Kantforschung, Teil 1, S. 119-225. 35 Etwa die von Kant in einem Brief an Garve vom 21.9.1798 als am elementarsten benannten: Die Welt hat keinen Anfang - sie hat einen Anfang. Und: Es ist Freiheit im Menschen - es ist keine Freiheit, sondern alles ist in ihm Naturnotwendigkeit. Vgl. Kant an Christian Garve, Königsberg 21.9.1798. - In: Kant's Briefwechsel, Bd. III, 1795-1803 (Bd. XII der AkademieAusgabe), 2. Auflage, Berlin-Leipzig 1922, (S. 256-258) S. 257. 36 Vgl. Kant an Christian Garve, Königsberg 21.9.1798. - In: Kant's Briefwechsel, Bd. ΠΙ, S. 258. 37 Kants 'Reflexion' in: Kants Werke. Akademie-Ausgabe, Bd. XVIII, Reflexion 5037.
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und zu dem „schweren Geschäft der Kritik der reinen Vernunft" geführt habe (Pro, 103). Denn der Ursprung aller Antinomien sei - so Kant in freier Anknüpfung an Plato - das menschliche Bestreben, „das Unbedingte in der Sinnenwelt"38 zu suchen, obgleich die Sinne doch nur Erscheinungen und nicht die Dinge an sich wahrnehmen könnten. „Das Jahr 69", resümiert der Philosoph, „gab mir großes Licht";39 ein Licht, dessen Strahlen zu diesem Zeitpunkt erst nur in seinen Vorlesungen zur Geltung gekommen sind.
Der Begriff der Welt In dieser so wegweisenden Lebens- und Arbeitsphase widmet Kant sich - außer seinen Lehraufgaben - vornehmlich der Entwicklung seiner ersten Kritik und vermeidet es, einzelne Zwischenergebnisse in Gestalt kürzerer wissenschaftlicher Schriften an die Öffentlichkeit zu tragen. In der Öffentlichkeit erregte es Verwunderung, daß dieser bisher so fruchtbare Schriftsteller zwischen 1766 und 1780 nichts Wesentliches mehr publiziert. Die einzige Ausnahme hiervon stellt seine 1770 (der akademischen Sitte gemäß bei Antritt seines Königsberger Ordinariats) verteidigte Dissertation De mundi sertsibilis atque intelligibilis forma et principiis dar, die große Bedeutung für die Heranbildung seines kritischen Hauptwerks haben sollte und deshalb bei der Analyse des Lenzschen Œuvres eine wesentliche Ergänzung der für die Untersuchung primär herangezogenen Kollegiamitschriften darstellen wird. Ihren herausragenden, einen Epochenübergang markierenden Stellenwert in seinem Gesâmtwerk betont der Philosoph unter anderem 1781 gegenüber dem befreundeten Arzt und ehemaligen Schüler Marcus Herz, dem er in einem Brief erläutert, daß von dieser Schrift aus seine „mannigfaltigen Untersuchungen" erst ihren Anfang genommen hätten, deren „Ausschlag" seine nun publizierte Kritik bilde.40 Entsprechend dieser Tatsache drängt er 1797 seinen Verleger, die in Vorbereitung befindliche Ausgabe seiner Kleinen Schriften erst bei De mundi sensibilis... beginnen zu lassen, da ihm frühere Arbeiten nun unwichtig erschienen („doch wollte ich wohl, daß nicht ältere als vor 1770 darin aufgenommen würden, so daß sie mit meiner Dissertation [...] anfange").41 In dieser sehr komprimierten, in der Berliner Akademieausgabe seines Werks lediglich 32 Druckseiten umfassenden Dissertation entwickelt Kant, ausgehend von der antiken Unterscheidung in eine sinnliche (phänomenale) und geistige (noumenale) Welt, eine subjektivistische Raum-Zeit-Lehre, in der 38 Ebd., Reflexion 1400. 39 Ebd., Reflexion 5037. 40 Kant an Marcus Herz, Königsberg 1.5.1781. - In: Kant's Briefwechsel, Bd. I, 1747-1788 (Bd. X der Akademie-Ausgabe), 2. Auflage, Berlin-Leipzig 1922, (S. 266f) S. 266. 41 Kant an Johann Tieftnink, Königsberg 13.10.1797. - In: Kant's Briefwechsel, Bd. III, (S. 207f) S. 208.
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Raum und Zeit keine realen Entitäten mehr darstellen, sondern lediglich vom Menschen wahrgenommene Erscheinungsformen. Auf dieser Prämisse definiert er jegliche Wissenschaft als eine Möglichkeit, innerhalb der Sinnenwelt gesicherte Erkenntnis zu erlangen, - wobei er jedoch festhält, daß die dabei gewonnenen Erkenntnisse lediglich über Erscheinungen Auskunft geben. Wirkliche Wahrheit hingegen könne eben nicht durch Verstandesoperationen erschlossen werden, sie sei nur durch Erfahrung möglich. Kant meint damit jedoch nicht Erfahrung im empirischen Sinne, sondern eine im Menschen a priori angelegte Erkenntnisfähigkeit, die er als sinnliche der intellektuellen gegenüberstellt. Es obliege dem richtigen Gebrauch der Vernunft - den Kant hier auch als die „ganze Methode der Metaphysik" (Dms, 77) bezeichnet - , beide Erkenntniswege nicht miteinander zu vermischen; „Grundregel: Man muß sorgfältig verhüten, daß die eigentümlichen Prinzipien der sinnlichen Erkenntnis ihre Grenzen überschreiten und die intellektuellen Prinzipien beeinflussen." (Dms, 77) Auch wenn der Philosoph mit dieser Idee bereits eine für seinen Kritizismus grundlegende Voraussetzung formuliert und später wichtige Abschnitte der Dissertation in seine Kritik aufgenommen hat (etwa die Abschnitte II Über den Unterschied der Sinnendinge und Verstandeswesen im allgemeinen sowie III Von den Prinzipien der Form der Sinnenwelt in den dortigen ersten Teil Die transzendentale Ästhetik), so bleibt sein 1770 verteidigtes Werk - wie dessen Übersetzer Klaus Reich in seiner vorangestellten Einleitung darstellt - in anderen wesentlichen Punkten, etwa der Frage nach dem apriorischen Erkenntnisvermögen des Menschen, noch relativ weit entfernt von den Grundideen der Kritik.*1 Sehr deutlich ist jedoch bereits die nachhaltige Überwindung der Leibnizschen Philosophie und ihrer Schule feststellbar, so etwa, wenn Kant sinnliche Wahrnehmungen entgegen der vorherrschenden Lehrmeinung nicht mehr als 'verworrene' Erkenntnisse begreift, die den 'deutlichen' des Verstandes gegenübergestellt seien, sondern ihnen einen eigenständigen Platz neben den Resultaten von Verstandesoperationen zubilligt. Das Ermitteln von Wahrheit sei demnach auch über die Sinnenerkenntnis möglich, womit Kant sich in Vorbereitung seines eigenen, kritischen Idealismus gegen dessen bis dahin traditionelles Verständnis wendet, Sinneswahrnehmungen als bloßen Schein zu erklären. In diesem Zusammenhang gelangt er geradezu zwangsläufig zu einem der Kernbegriffe seiner Philosophie, dem der Methode. Denn inmitten einer Rea42 Siehe hierzu Klaus Reichs Einführung zu seiner Übersetzung von De mundi sensibilis.... In ihr diskutiert er Friedrich Paulsens Theorie, Kants Dissertation von 1770 könne zum Ausgangs· und Anknüpfungspunkt der Erklärung aller Probleme, die die Kritik der reinen Vernunft behandelt, genommen werden, und kommt zu dem Schluß, daß bei deren Abfassung Kants 'dogmatischer Schlummer' noch keineswegs nachhaltig beendet gewesen sei und auch danach noch „Bedürfnis genug nach Erweckungsmitteln" (S. XVI) - etwa einer Entdeckung von Antinomien der reinen Vernunft im Weltbegriff - bestanden habe (vgl. ebd, Einleitung, S. VII-XVI).
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lität, die sich dem Individuum - wenn überhaupt - höchstens partiell mittels der eingeschränkten Möglichkeiten seiner Sinneswahrnehmungen offenbare, sei das Ermitteln eines gültigen philosophischen S y s t e m s undenkbar; das bedeutet eine kategorische Zurückweisung jeglicher dogmatischen Philosophie, insbesondere der Spinozas. Als Alternative bleibe der reinen Philosophie nur die Entwicklung einer allen künftigen Wissenschaften vorangehenden (später als 'kritisch' bezeichneten) Erkenntnismethode, „ein Verfahren nach G r u n d s ä t z e n " , wie er in seiner Kritik der reinen Vernunft definiert.43 Und deren wichtigster Grundsatz wird bereits vom Titel seiner Dissertation vorgegeben: die strenge Scheidung (Kritik) zwischen der Sinnen- und der Geistes- (d.i. Verstandes-)welt.
III Der Lehrplan Die Unterrichtsveranstaltungen Kants müssen unterschieden werden nach seinen Hauptvorlesungen über Logik, Metaphysik und Enzyklopädie der Philosophie sowie den weniger bedeutenden sogenannten Bildungsvorlesungen, die die Bereiche Physische Geographie, Naturrecht und Mineralogie behandelten. Die Kollegia wurden entweder als Collegium publicum (der Anzahl Interessierter folgend zu Hause bzw. in einem Auditorium) oder - und dies überwiegend - als Collegium privatum bei Kant zu Hause gelesen. In der Regel umfaßte jede dieser Veranstaltungen mindestens vier Semesterwochenstunden, wobei Kant fur gewöhnlich an den vier Haupttagen (Montag, Dienstag, Donnerstag und Freitag) der insgesamt sechstägigen Unterrichtswoche bereits um sieben Uhr morgens mit der ersten begann. Da lange Semesterferien unüblich waren, erstreckte sich die Vorlesungszeit des Sommersemesters von etwa Ende März (bzw. Mitte April) bis Ende September (bzw. Anfang Oktober), die des Wintersemesters von Mitte (bzw. Ende) Oktober bis Ende März (bzw. Anfang April). 44 Insgesamt verlangten diese formale Bedingungen den Studenten ein ungemein konzentriertes und intensives Studieren ab, wenn sie dem ihnen dargebotenen Lernstoff gerecht werden wollten. Nachfolgend sind die Lehrveranstaltungen aufgeführt, die Kant während Lenzens Studienzeit, beginnend beim Wintersemester 1768/69, abgehalten hat, einschließlich des sechsten, von Lenz nicht mehr besuchten Sommersemesters 1771. Für die Kollegia der ersten beiden Semester sind keine Informationen über die Art der Veranstaltungen (ob publice oder privatim abgehalten) über43 Kant: Kritik der reinen Vernunft. - Nach der ersten und zweiten Originalausgabe hrsg. von Jens Timmermann. Hamburg 1998, S. 878 (A 855 / Β 883). 44 Datierungen nach Emil Arnoidts Verzeichnis aller von Kant gehaltenen oder auch nur angekündigten Vorlesungen samt Erläuterungen. - In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Otto Schöndörffer, Bd. V, Kritische Exkurse im Gebiete der Kantforschung, Teil II, Berlin 1909, (S. 173-343) Darin für die Semester WS 1768/69 bis SS 1771: S. 218-233.
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liefert; ebenso fehlen konkrete Zeitangaben, jedoch betrug auch bei ihnen die mindeste Anzahl der Semesterwochenstunden jeweils vier:45 WS 1768/69 1. Logik nach Meier 2. Allgemeine Praktische Philosophie und Ethik 3. Physische Geographie nach Diktaten 4. Metaphysik nach Baumgarten 5. Philosophische Enzyklopädie; privatim SS 1. 2. 3. 4. 5.
1769 Logik Enzyklopädie der gesamten Philosophie Naturrecht nach Achenwall Physische Geographie als Privatissimum vermutlich Metaphysik
WS 1769/70 1. Theoretische Physik nach Eberhard 2. Logik nach Meier 3. Metaphysik nach Baumgarten 4. Physische Geographie nach eigenen Diktaten
privatim, von 9-10 Uhr privatim, von 10-11 Uhr privatim, von 11-12 Uhr privatim, von 8-9 Uhr oder 15-16 Uhr
5. Zwei Privatissima Amoldt vermutet hier eine Veranstaltung über Theoretische Physik, dem steht jedoch die briefliche Ankündigung von Johann Lenz vom 14. Oktober 1769 entgegen, er werde im beginnenden Semester bei Kant Logik und Metaphysik „repetieren", wofür nur diese beiden Privatissima in Frage kämen. 46
45 Die Darstellung folgt Arnoidts ausführlich kommentiertem Verzeichnis der Kantschen Vorlesungen. Vgl. ebd., S. 218-233. 46 Johann C. Lenz an den Vater, Königsberg, 14. Oktober 1769. - In: Briefe von und an J.M.R. Lenz. Hrsg. von Karl Freye und Wolfgang Stammler. Leipzig 1918, Bd. 1, S. 287. Kant bot im Verlauf seiner Lehrtätigkeit in zunehmendem Maße seine Vorlesungen ergänzende Disputations· und Repetitionsstunden an, die der intensiven Diskurspflege mit den Studenten dienten, vergleichbar heutigen Philosophischen Übungen. Eingedenk der teilweise lückenhaften Überlieferung von Informationen Uber seine früheren Kollegia ist es durchaus denkbar, daß Kant auch schon zu Lenzens Studienzeit diese Veranstaltungstypen in erheblich größerem Umfang angeboten hat, als aus den von Arnoldt ausgewerteten Akten der Universität hervorgeht.
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SS 1770 1. Logik 2. Logik nach Meier 3. Allgemeine praktische Philosophie samt Ethik nach Baumgarten 4. Physische Geographie 5. Enzyklopädie der gesamten Philosophie nach Feder WS 1770/71 1. Metaphysik nach Feder 2. Enzyklopädie der gesamten Philosophie mit einer kurzen Geschichte der Philosophie nach Feder 3. Mineralogie 4. ein Privatissimum 5. ein Disputatorium
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publice, von 7-8 Uhr an den vier Haupttagen privatim, von 8-9 Uhr an den vier Haupttagen privatim, von 9-10 Uhr an den vier Haupttagen privatim, von 8-10 Uhr mittwochs und samstags privatim, von 10-11 Uhr täglich
publice, von 7-8 Uhr an den vier Haupttagen privatim, von 8-9 Uhr an den vier Haupttagen privatim, von 9-11 Uhr mittwochs und samstags privatim, von 8-9 Uhr mittwochs und sams,47 tags'
SS 1771 (von Lenz nicht mehr besucht) 1. Logik nach Meier 2. Metaphysik nach Baumgarten 3. Allgemeine Praktische Philosophie 4. Physische Geographie
publice, von 7-8 Uhr an den vier Haupttagen privatim, von 8-9 Uhr an den vier Haupttagen privatim, von 9-10 Uhr an den vier Haupttagen privatim, von 10-11 Uhr an den vier Haupttagen
IV Die Unterrichtspraxis Als Grundlage ihrer Vorlesungen war den Lehrenden die Verwendung eines frei zu wählenden Kompendiums vorgeschrieben, wobei die Einhaltung dieser Vorschrift streng überwacht wurde, um die Verwendung von Dictata der Do47 Zeitangabe nur vermutet. Vgl. Arnoldt, S. 231 (vgl. Anm. 44).
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zenten zu unterbinden.48 Daß dabei auf die inhaltliche Qualität des jeweiligen Lehrbuches wenig geachtet wurde, dokumentierte 1778 der Leiter des preußischen Ministeriums für 'Kirchen- und Unterrichtsangelegenheiten' Karl Abraham von Zedlitz, der in einem Reskript an die philosophische Fakultät der Albertina freimütig bekannte, das schlechteste Kompendium sei immer noch besser als keines, und Aufgabe der Lehrenden sei, ihren jeweiligen Autor nach eigenem Vermögen zu verbessern.49 Von dieser Möglichkeit machte Kant denn auch derart konsequent Gebrauch, daß seine Vorlesungen weit über die Substanz der ihnen zugrunde liegenden Texte hinausreichten bzw. ihnen inhaltlich geradezu widersprachen.
Die Kompendien Für seine Hauptvorlesungen wählte Kant - im für uns relevanten Zeitraum - im einzelnen für Logik die in Wölfischer Tradition stehende Vernunftlehre Georg Friedrich Meiers aus dem Jahre 1752, für Metaphysik und Ethik zumeist50 die Metaphysica (1739) Alexander Baumgartens (den Kant, wenn schon nicht für einen „architektonischen" Philosophen - wie Vorländer den Philosophen zitiert - , so doch immerhin für einen guten „Analysten" hielt)51 sowie für Enzyklopädie der Philosophie das Standardwerk seines späteren Göttinger Intimfeindes Johann Georg Heinrich Feder, der Grundris der Philosophischen Wissenschaften nebst der nöthigen Geschichte zum Gebrauche seiner Zuhörer von 1767. Doch welchen inhaltlichen Stellenwert nahmen diese Lehrbücher in seinen Kollegia ein? Hierzu ist bereits die äußere Gestalt von Kants überlieferten Handexemplaren aufschlußreich, denn diese sind zumeist mit zusätzlichen, eng von ihm beschriebenen Blättern durchschossen. Auch die Buchseiten selbst weisen an geradezu allen hierfür möglichen freien Stellen umfangreiche handschriftliche Notizen auf, die kommentierend und fortentwickelnd zumeist weit über die Vorgaben der Autoren hinausreichen. Zudem liegen sehr aufschlußreiche Berichte von Zeitzeugen über Kants Verwendung dieser dergestalt umgeschriebenen Lehrbücher vor, etwa ein Brief des jungen Grafen Purgstall aus dem Jahre 1795, in dem die bei Kant seit jeher typische Unterrichtssituation dargestellt wird, die unter anderem bereits von Herder zu Beginn der 60er Jahre beschrieben worden ist. So berichtet Purgstall etwa über das von ihm besuchte Logik-Kollegium, daß Kant das als Lehrbuch allen wohlbekannte
48 Dessen ungeachtet wurde es Kant dennoch gestattet, zumindest über Physische Geographie eigene Diktate zu gebrauchen, da kein „ganz schickliches" (Kant, zitiert nach Vorländer: Immanuel Kant, II, S. 57) Lehrbuch zur Verfügung gestanden habe. 49 Zitiert nach Vorländer, I, vgl. S. 56. 50 Im WS 1770/71 las Kant Metaphysik nach Feders 1769 erschienenem Lehrbuch Logik und Metaphysik. 51 Zitiert nach Vorländer, I, S. 56.
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und seitens der Universität empfohlene Kompendium Meiers zwar stets mitbringe, - jedoch als einziger, da die Studenten bloß ihm nachschrieben. Die Blätter seines Handexemplares seien „klein von seiner Hand beschrieben, und noch dazu sind viele gedruckte Seiten mit Papier verklebt und viele Zeilen ausgestrichen, so daß, wie sich dies verstehet, von Meyers Logik beinahe nichts mehr übrig" sei. Kant aber scheine dies gar nicht zu bemerken und folge „mit großer Treue seinem Autor von Kapitel zu Kapitel, und dann berichtet er oder sagt vielmehr alles anders, aber mit der größten Unschuld, daß man es ihm ansehen kann, er tue sich nichts zugute auf seine Erfindungen". 52
Lehrmethode Kant äußert sich über diese Lehrmethode 1796 rückblickend, er habe schon „viele Jahre", bevor er mit seiner Kritik der reinen Vernunft eine „neue schriftstellerische Laufbahn einschlug", in seinen Vorlesungen den Autor, den er sich zum „Leitfaden" wählte, „nicht bloß kommentiert, sondern gesichtet, gewogen, zu erweitern" und auf ihm „besser scheinende Prinzipien zu bringen gesucht". Auf diese Weise seien seine Veranstaltungen „fragmentarisch teils gewachsen, teils verbessert worden, aber immer in Hinsicht auf ein dereinst mögliches System als ein für sich bestehendes Ganze, daß jene später [nach 1781] erschienene Schriften jenen [Vorlesungen] fast nur die systematische Form und Vollständigkeit gegeben zu haben scheinen mochten." Dabei habe er von dem Vorteil des Lehrers gegenüber dem „zunftfreien Gelehrten" profitiert, sich bei J e d e m neuen Kursus" stets aufs neue auf ein Thema vorbereiten zu müssen. Hierdurch eröffneten sich ihm während der Vorbereitung oder, „welches noch öfterer geschieht, mitten [im] Vortrag" immer „neue Ansichten und Aussichten", was ihm gestatte, seinen „Entwurf von Zeit zu Zeit zu berichtigen und zu erweitern". Dies erkläre auch - so Kant weiter - die inhaltlichen Unterschiede zwischen den von seinen Vorlesungen kursierenden Mitschriften und seinen eigenhändig verfaßten Publikationen, wobei er speziell seine Kritiken impliziert. Denn „im freien Philosophieren" könne es nicht anders sein, „als daß lange vor Herausgabe eines Systems einzelne Sätze samt denen ihnen gewidmeten neuen Bemerkungen [...], wenn sie, es sei durch Neuigkeit oder Fruchtbarkeit [...] auffallen, in mancher Abschrift herumliefen, weil der Lehrer [...] es nur späterhin wagte, mit demselben" in modifizierter Form hervorzutreten. 53 Aus diesen Worten wird deutlich, daß große Unterschiede bestehen zwischen dem philosophische Gedanken frei entwickelnden Dozenten, der zusätzlich zu den Kompendien statt strukturierter oder gar ausformulierter Vorle-
52 Graf von Purgstall an einen Freund, Königsberg 1.5.1795. - Zitiert nach Vorländer, Π, S. 57. 53 Kant: Erklärung wegen der von Hippel'sehen Autorschaft (Entwurf, 1796). - Zitiert nach Vorländer, II, S. 58f.
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sungsmanuskripte allenfalls kleine Notizblätter (sogenannte 'Denkzettel') benutzt hat,54 und dem eine fertig durchdachte, philosophische Beweiskette darlegenden Schriftsteller Kant; Unterschiede, die ebenso gedankliche Inhalte wie auch die Art und Weise der Darstellung betreffen. Denn wer den Philosophen lediglich als Autor kennengelernt und seinen vor allem in den Kritiken die Kräfte der Leserschaft verzehrenden Stil bemängelt hat,55 wird erstaunt sein, wie vergleichsweise eingängig seine Gedankengänge in den Mitschriften seiner Kollegia dargelegt sind. Nur zu einem geringeren Teil sind hierfür Einflüsse der jeweiligen Protokollanten verantwortlich,56 vielmehr resultiert diese erhöhte Verständlichkeit - wie auch Vorländer nachdrücklich festhält57 - aus der Unterrichtspraxis und dem Selbstverständnis Kants als Lehrender. Denn er - so Kant - halte seine Kollegia nicht „für die Genies", die ohnehin „ihrer Natur selbst die Bahn" brächen. Auch nicht „für die Dummen", die nicht „der Mühe wert" seien, sondern für jene, „welche in der Mitte stehen und für ihren künftigen Beruf gebildet sein wollen".58 Dabei habe er die besonderen Schwierigkeiten zu berücksichtigen, die daraus entstünden, daß er seine bei Studienbeginn zumeist kaum älter als 16- bis 17jährigen Studenten mit Unterrichtsgegen54 Erich Adickes ist es zu danken, daß die im Vergleich zum vermutbaren Gesamtbestand nur in geringer Zahl Uberlieferten Notizen dieser Art im Umfeld von Kants Opus postumum aus dem handschriftlichen Nachlaß als sogenannte Reflexionen fllr die Akademie-Ausgabe ediert werden konnten. Wichtig in diesem Zusammenhang ist jedoch der Hinweis, daß sie - entgegen früheren Annahmen - nicht geeignet sind, Kants Vorlesungsinhalte verläßlich wiederzugeben. Vgl. hierzu Gerhard Lehmann, der seine zuerst anderslautende Meinung hierüber letztlich grundlegend revidieren mußte und ebenfalls zu der Einsicht gelangte, daß einzig die Vorlesungsmitschriften Kants Unterrichtsinhalte und seinen dabei verwendeten Unterrichtsstil dokumentierten (vgl. Lehmanns Einleitung. In: Kant's Vorlesungen, Bd. 1, Vorlesungen über Logik, 2. Hälfte, Akademie-Ausgabe, Bd. XXIV, S. 974). 55 Dies gilt vor allem für seine Kritik der reinen Vernunft, aus deren Rezeptionsgeschichte besonders das ambivalente Echo des Philosophen Moses Mendelssohn bekannt geworden ist, dem es binnen zweier Jahre nicht gelingen wollte, die Kritik durchzulesen. In seinem berühmt gewordenen Brief an Kant vom April 1783 schreibt er hierüber dem hochgeschätzten Kollegen bedauernd, die Kritik sei ein ,,[n]ervensaftverzehrendes Werk, und ich bin nicht ganz ohne Hoffnung, es in diesem Leben noch ganz durchlesen zu können." (Moses Mendelssohn an Kant, Berlin 10.4.1783. - In: Kant 's Briefwechsel, Bd. I, (S. 307f) S. 308). Selbst eifrige Verehrer des Kritizismus wie Kants Kollege Johann Schultz bezeichneten sie als geradezu „versiegeltes Buch, das niemand öflnen könne", da es lauter „Hieroglyphen" enthalte (Schultz in seinen Erläuterungen zu Kants Kritik der reinen Vernunft, Königsberg 1784. Zitiert nach Vorländer: Immanuel Kant, I, S. 286). Als Reaktion auf Urteile wie diese verfaßte Kant seine 1783 erschienene Erläuterungsschrift Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können. 56 Eine Ausnahme machen vor allem die Mit- bzw. Nachschriften Herders aus den frühen 60er Jahren, da sich ihr Verfasser nicht mit einem bloßen Protokoll zufriedengab, sondern - den eigenen philosophischen und religiösen Intentionen folgend - Kants Ausführungen besonders in den Bereichen Logik, Metaphysik und Praktischer Philosophie in kommentierter und interpretierter Form bzw. überhaupt nicht protokollierte, so daß Kants Vorlesungen aus dieser Zeit von Herder nicht in ihren authentischen Inhalten überliefert wurden. 57 Vgl. Vorländer, II, S. 59. 58 Kant, zitiert nach Vorländer, Π, S. 59.
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ständen konfrontieren müsse, die eigentlich eine höherentwickelte geistige Reife voraussetzten: Alle Unterweisung der Jugend hat dieses Beschwerliche an sich, daß man genöthigt ist, mit der Einsicht den Jahren vorzueilen, und, ohne die Reife des Verstandes abzuwarten, solche Erkenntnisse ertheilen soll, die nach der natürlichen Ordnung nur von einer geübteren und versuchten Vernunft könnten begriffen werden. (N, 305)
Als Zugeständnis an diese Rahmenbedingungen pflegte Kant einen gleichermaßen lebendigen wie gehaltvollen Unterrichtsstil, der sich an den altersbedingten Bedürfnissen und Fähigkeiten seiner Schüler orientierte - und ihn als begnadeten Pädagogen ausweist. Von den Studierenden wurden denn auch die Lebendigkeit und Frische seiner Vorträge gelobt, mit denen er nicht nur bereits ausformulierte Gedankengänge referierte, sondern philosophische Gegenstände in freier Rede stets weiter- oder gänzlich neu entwickelte. So hätten - wie manche seiner Schüler sich später erinnerten - lediglich akustische Hemmnisse seiner allgemein guten Verständlichkeit oft entgegengewirkt, etwa, wenn der Zulauf zu seinen privat abgehaltenen Veranstaltungen so groß gewesen sei, daß man sie von einem Nebenraum oder von der Treppe aus habe verfolgen müssen, wohin Kants eher leise und undeutliche Rede oft nur unvollständig gedrungen sei. In diesem Sinne bestätigt auch der junge Graf Purgstall, daß, „wenn man einmal dahin gekommen" sei, Immanuel Kants „Stimme zu verstehen", es „nicht schwer" falle, auch „seinen G e d a n k e n zu folgen". Selbst komplexeste Gegenstände seien von ihm klar und einfach erläutert worden, „so leicht und verständlich und so unterhaltend, als man sichs nur denken" könne; woraus Purgstall den dringenden Wunsch ableitet, daß „alle Professoren" in dieser verständlichen Weise „sprechen" mögen („so soll eine Wissenschaft, die für den Kopf ist, vorgetragen werden").59 Auch Kollegen schätzten Kants dergestalt bewiesenes pädagogisches Geschick und Vortragsvermögen hoch ein und urteilten entsprechend positiv, daß seine Vorlesungen sich von denen manch anderer dadurch wohltuend abhöben, daß sie ungekünstelt, also „simpel und ungesucht" seien (so sein ehemaliger Schüler, der Philosoph Friedrich Theodor Rink), was Kant, wie der Privatdozent Karl-Ludwig Pörschke glaubte, als praktisch Lehrenden „viel geistvoller als in seinen Büchern" erscheinen lasse.60
59 Graf von Purgstall an einen Freund, Königsberg 1.5.1795. Zitiert nach Vorländer, II, S. 60. 60 Zitiert nach Vorländer, II, S. 60. Über den alten Kant berichtet Rink allerdings, sein Vortrag habe in den späten 80er Jahren an Lebendigkeit derart eingebüßt, daß man zuweilen fürchtete, der Professor werde mitten in seinen Ausführungen einschlummern (vgl. ebd., II, S. 137).
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Über Philosophie In Hinblick auf die nachfolgende Darstellung des Einflusses, den Kant auf die Heranbildung des Lenzschen Werkes genommen hat, ist seine grundsätzliche Einteilung und Aufgabenbestimmung der Philosophie interessant, die in expliziter Form nicht unmittelbar etwa aus seiner Dissertation hervorgeht. So erklärte er dort an verschiedenen Stellen, daß man wegen der von ihm fur die Erkenntnisfähigkeit des Menschen wahrgenommenen Grenzen unter einem Philosophen - in Zurückweisung des antiken Verständnisses - nicht einen Kenner und Beherrscher der Weisheit verstehen dürfe, weil Philosophie schließlich niemals ein dogmatisches System erkennen und anschließend propagieren könne. Deshalb müsse sie in sich unterschieden werden in die sogenannte Kunstlehre und in die ungleich bedeutendere Weisheitslehre, die ein methodisch nachvollziehbares System philosophischer Erkenntnis darstelle, welches auf die höchsten Zwecke der Menschheit ausgerichtet sei, nämlich die Erkenntnis und Hinfuhrung zur aktiven Ausübung ihrer Pflichten.61
Forschend lernen Das in diesem Kontext wohl aufschlußreichste Zeugnis Kants über seine auf diesem Standpunkt aufbauenden Methoden und Intentionen als Dozent stellt seine Nachricht... von der Einrichtung seiner Vorlesungen des Wintersemesters 1765/66 dar. In ihr bekennt er sich - mit besonderem Augenmerk auf die frisch nach Königsberg gekommenen Studienanfänger - zu einer progressiven Unterrichtsform, die Rousseaus Forderung nach einer Rückbesinnung auf natürliche Entwicklungsprozesse mit dem Empirismus Humes vereint und hierdurch dem ,,natürliche[n] Fortschritt der menschlichen Erkenntnis" entspricht. Denn der Verstand bilde sich schließlich nur aus, wenn er „durch Erfahrung zu anschauenden Urtheilen und durch diese zu Begriffen" gelange, deren Gründe und Folgen anschließend mittels der Vernunft und der von ihr ermöglichten Wissenschaft „in einem wohlgeordneten Ganzen" erkannt würden. Deshalb müsse jeglicher Unterricht „eben denselben Weg" nehmen, was ihn, Kant, als Lehrer verpflichte, „an seinem Zuhörer erstlich den v e r s t ä n d i g e n , dann den vern ü n f t i g e n Mann und endlich den G e l e h r t e n " heranzubilden (N, 305). Durch das Einüben von „Erfahrungsurteilen" - so Kant weiter - und das Auf-
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In seiner Prolegomena von 1783 etwa führt Kant diesen Gedanken dahingehend aus, er halte es für naturgegeben, daß „der spekulative Gebrauch der Vernunft in der Metaphysik mit dem praktischen in der Moral" eine ,,notwendig[e] Einheit" bilde („haben muß"; Pro, 132). Die weitere Untersuchung wird zeigen, daß er diese unauflösliche Einheit von philosophischer Erkenntnis und Verpflichtung zu moralischem Handeln mit besonderer Intensität in den von Lenz besuchten Vorlesungen thematisiert hat.
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zeigen dessen, was „die verglichene[n] Empfindungen [der] Sinne lehren können", wolle er das „Wachsthum" des Verstandes beschleunigen. Während dieses Prozesses sei es jedoch nicht Aufgabe der Studierenden, von ihm „Gedanken" zu lernen, sondern das Denken. Denn „tragen" wolle er niemanden, allenfalls „leiten", um damit die Fähigkeit des künftigen Selbergehen-Könnens nicht zu zerstören (N, 306). Doch ausgerechnet diese elementare Qualifikation werde in der Schule nicht vermittelt, wo man statt dessen Unterrichtsmethoden pflege, die nicht „nach der Natur" (N, 305) gingen und die natürlichen menschlichen Entwicklungsprozesse ignorierten. Auch darum sei der aus „den Schulunterweisungen entlassene Jüngling" gewohnt, alles „zu lernen", - und denke deshalb bei Studienbeginn, er werde von ihm, Kant, nun auch „Philosophie lernen". Doch dies sei unmöglich, da lediglich die (von Kant sehr weit gefaßten) Fachbereiche Geschichte („außer der eigentlichen Geschichte auch die Naturbeschreibung, Sprachkunde, das positive Recht") und Mathematik Wissenschaften darstellten, die man - dank vorhandener, eindeutiger Data - „im eigentlichen Verstände lernen" könne (N, 306). Speziell bei der Philosophie sei dies jedoch unmöglich; um sie „zu lernen, müßte allererst eine wirkliche vorhanden sein. Man müßte ein Buch vorzeigen und sagen können: sehet, hier ist Weisheit und zuverlässige Einsicht" (N, 307). In Ermangelung eines solchen Werkes könne man deshalb bei ihm nicht die „Philosophie", sondern lediglich „ p h i l o s o p h i r e n l e r n e n " (N, 306), und dies mittels jener ,,eigentümliche[n] Methode des Unterrichts in der Weltweisheit", die „einige Alten" (gemeint sind die Philosophen der Antike) einst - in Abgrenzung zur Dogmatik - „zetetisch [forschend] nannten" (N, 307). In seiner Vorlesung über Philosophische Enzyklopädie knüpft Kant an diesen Gedanken an und entwickelt aus ihm ein freiheitliches Selbstverständnis als Philosoph wie auch als Lehrender, als dessen oberstes didaktisches Ziel die Befreiung anderer aus ihrer geistigen Unmündigkeit angestrebt wird und das für Lenz besondere Bedeutung gewinnt. Denn weil nicht „die Erkenntniß selbst, sondern [lediglich] die Methode zu philosophieren" (PE, 6) unterrichtet werden könne, sei es unbedingte Voraussetzung, daß der Lehrende kein bloßer Theoretiker sei, der „die Philosophie nur auswendig gelernt" (PE, 7) habe, sondern als Praktiker auch „selbst philosophirt habe". Dabei gelte die Prämisse, daß „Philosophie [...] nicht nachgeahmt werden" könne, „denn zur Nachahmung gehört ein Bild ohne Fehler." (PE, 6) „Jemandes Gedanken" aber nachzuahmen, hieße „nicht Philosophiren, sondern man muß selbst denken und zwar a priori" (PE, 7; womit Kant sich auf den Gebrauch der Vernunft bezieht). Mit dieser Einstellung relativiert der Königsberger Dozent nicht nur den Stellenwert aller bisherigen Philosophen und der von ihnen begründeten geistigen Schulen, sondern auch gleichzeitig seine eigene Position als philosophierender Lehrer, indem er durch sein Plädoyer zugunsten der geistigen Eigenständigkeit eines jeden einer im besten Sinne kritiklosen Übernahme der von
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ihm in seinen Kollegia dargebotenen Erkenntnisse einen Riegel vorzuschieben versucht: So wenig als ein wahrer Christ wiirklich existiert, eben so wenig hat auch ein Philosoph in diesem Sinne ein Daseyn. Sie sind beide Urbilder. [...] Es soll bloß zur Richtschnur dienen. (PE, 8) 6 2
Diesem undogmatischen Selbstverständnis entsprechend entwickelte Kant in seinen Lehrveranstaltungen seine Gedanken während des Vortragens immer wieder aufs Neue und übte seine Zuhörer dadurch in der somatischen Methode des Philosophierens, indem er wie in einer Abfolge aufeinander folgender Versuche vor ihnen philosophische Begriffe aufgriff, sie definierte, in jeder nur denkbaren Weise hinterfragte und gegebenenfalls auch wieder relativierte, wodurch er ebenso seine eigene geistige Freiheit demonstrierte wie er die geistige Beweglichkeit seiner Hörerschaft provozierte und schulte. Agierte Kant in seinen Kollegia allein, so dienten seine Disputations- und Repetitionsstunden - die während Lenzens Studienzeit für die WS 1769/70 und WS 1770/71 nachweisbar sind - dem intensiven philosophischen Dialog. Vor allem diese Veranstaltungstypen, zu denen in der Regel nur der Kern seiner Zuhörer fand,63 boten Kant die Gelegenheit, sich als Pädagoge mit den individuellen Stärken und Schwächen der Studenten auseinander zu setzen und auf deren intellektuelle Entwicklung gezielt Einfluß zu nehmen. So berichtet Vorländer nach ausgiebigem Quellenstudium, daß Kant, der ein „Feind alles gedächtnismäßigen Krimskrams" gewesen sei, hierbei nicht mit offener Anerkennung oder Kritik gespart habe, wobei sich letztere vor allem gegen jene Studenten gerichtet habe, die sich zu 'lebendigen Lexika' hätten entwickeln wollen.64 In der von Rink 1803 besorgten Herausgabe von Kants Pädagogik, in der 62 In seiner Logik-Vorlesung begründet er dies auch damit, daß in der Wissenschaftsgeschichte nach dem Auftreten eines epochemachenden Gelehrten stets eine Phase relativer Stagnation zu beobachten gewesen sei; „grosse Muster bringen die Wissenschaften eine Zeitlang zurück, denn alles ahmt dann nur dies Muster nach und keiner bestrebt sich Original zu werden. So ists mit dem Aristotel, Leibniz, Cartes und Newton geschehen." (L, 492) 63 Zur Vermittlung eines Eindrucks von der Resonanz der Kantschen Lehrveranstaltungen sei auf Amoldts Untersuchungen verwiesen, die ab dem SS 1775 verläßliche und für diese 'vorkritische' Epoche von Kants Dozententätigkeit durchaus typische Angaben machen. So hatte seine Hauptvorlesung über Logik in jenem Semester fünfundvierzig Zuhörer, die Nebenvorlesungen über Naturrecht und Philosophische Enzyklopädie vierundzwanzig bzw. zwanzig, das Examinatorium Uber Logik (von der Veranstaltungsart mit seinen Repetitorien vergleichbar) nur fünfzehn (vgl. Arnoldt: Gesammelte Schriften. Bd. V, Teil II, S. 240). Bei der Beurteilung dieser Zahlen ist zu bedenken, daß die Königsberger Albertina zu jener Zeit lediglich ca. 500 Studierende aufwies, und weiterhin, daß nur die eingeschriebenen Studenten erfaßt wurden, so daß bei Kants öffentlichen Veranstaltungen noch Zuhörer aus anderen Kreisen in unbekannter Anzahl hinzugedacht werden müssen. 64 Vorländer, II, S. 65. Bei aller Kritik an einer vornehmlich lexikalisch begründeten Gelehrsamkeit und seiner klaren Bevorzugung mündlicher Vorträge gegenüber dem Lesen erachtete Kant die Lektüre ausgewählter Werke natürlich als unverzichtbar. Jedoch vermittelte er seinen
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die Essenz seiner insgesamt nur vier Vorlesungen über dieses Fachgebiet zusammengefaßt worden ist, sind entsprechende Äußerungen des Philosophen protokolliert, in denen er sich gegen diese „Lastesel des Parnasses" ausspricht, die zwar Unmengen von auswendig Gelerntem mit sich herumschleppten, jedoch selbst nichts „daraus zustande" brächten. Ebenso scharf richtet der Dozent sich gegen die gelehrten „Zyklopen", die nur für ihr Spezialfach „ein Auge" hätten, während ihnen das zum Erkennen der Selbsterkenntnis der menschlichen Vernunft notwendige andere fehle, - „ohne welches wir kein Augenmaß der Größe unserer Erkenntnis haben".65 Lenz sollte diese Abneigung gegen sinnentleertes Zettelkastenwissen und eingebildete Gelehrsamkeit später oftmals in seinem Werk thematisieren, so etwa in den beiden 1775 entstandenen Dichtungen Der tugendhafte Taugenichts und Zerbin oder die neuere Philosophie, in denen er die tragischen Folgen einer verfehlten Erziehung durch unfähige Hauslehrer bzw. von eitler Selbstüberschätzung und Hochmut anprangerte.66 Auch außerhalb seiner Lehrveranstaltungen eröffnete Kant ausgewählten Studenten die Möglichkeit des geistigen Austausches mit ihm, indem er sie etwa zur Teilnahme an seinen mit täglicher Regelmäßigkeit stattfindenden Spaziergängen am Pregelufer oder sogar an seinen Mittagstisch einlud.67 Es ist
Studenten besonders in seiner Logik-Vorlesung einige Grundsatze, auf welche Art und Weise und zu welcher Tageszeit sie die von ihm empfohlenen Autoren zu studieren hatten. Der nachhaltige Erfolg dieser Ratschläge wird bei Lenz nicht zuletzt daran deutlich, daß die von Kant in diesem Zusammenhang favorisierten Autoren auch in Lenzens Schriften gerne zitiert werden. So betont Kant u.a., man mUsse bei der Lektüre „nach einer gewissen Ordnung gehen und des Morgens und Abends Bücher der Speculation, des Mittags historische Bücher lesen." Zwar solle man „viel lesen", doch sei wichtiger als die Quantität, daß man „das Gelesene" auch ,,verdaue[...]", weshalb es nicht empfehlenswert sei, die Aufmerksamkeit auf zu viele unterschiedliche Themata zu verteilen; „das Feld muß nicht sehr offi geändert werden." Und weil 'einige Bücher' von besonderer „Wichtigkeit" seien, mUsse man eben diese „offi lesen e.g. Hume, Rousseau, Locke der als eine Grammatik für den Verstand kann angesehen werden und Montesquieu von dem Geist der Gesezze." (L, 495) 65 Kant: Pädagogik. - In: Kant's gesammelte Schriften Akademie-Ausgabe, Bd. IX, Logik, Physische Geographie, Pädagogik, Berlin-Leipzig 1923, (S. 437-499) S. 451ff. Künftig abgekürzt „Päd". Rinks Publikation lagen Mitschriften jener vier Kollegia vor, in denen Kant sich speziell der Pädagogik gewidmet hatte. Diese fanden statt im WS 1776/77, SS 1780, WS 1783/84 und WS 1786/87. Der ersten hatte noch Basedows Methodenbuch zugrunde gelegen (vgl. hierzu Zweiter Teil, Zweites Kapitel „Erziehen statt unterrichten"), den übrigen durch obrigkeitliche Anordnung Bocks Lehrbuch der Erziehungskunst zum Gebrauch für christliche Erzieher und künftige Junglehrer, Königsberg 1780. 66 Lenz: Der tugendhafte Taugenichts. - In: WB, Bd. 1, S. 499-526. Künftig abgekürzt „DtT". Lenz: Zerbin oder die neuere Philosophie. - In: WB, Bd. 2, S. 354-379. Künftig abgekürzt 67 Vor allem aus den 60er Jahren liegen Äußerungen Kants vor, in denen er sein starkes Interesse daran bekundet, explizit 'näheren' Kontakt mit seinen Studenten zu pflegen. Diese Sitte begann er jedoch in den 70ern wegen seiner anwachsenden beruflichen und wissenschaftlichen Beanspruchung und angesichts seines zunehmenden Alters immer mehr zu vernachlässigen, um sie schließlich vollkommen aufzugeben.
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nicht überliefert, ob Jakob Lenz oder sein Bruder in den Genuß einer derartigen Aufmerksamkeit gekommen sind, doch weist der Umstand, daß Kant mit Jakob kurz vor Abbruch seines Studiums konkrete Pläne zur Zukunftsgestaltung erörtert und sich offensichtlich sogar zur Vermittlung einer Anstellung als Hofmeister erboten hat,68 auf eine persönlichere Beziehung hin, als sie zwischen Professor und Student wohl seinerzeit üblich gewesen ist. Auch seitens ehemaliger Kommilitonen scheint eine über das sonst übliche Maß hinausgehende Verbindung zwischen Kant und den Gebrüdern Lenz bemerkt worden zu sein. Dies legt zumindest ein Brief des ehemaligen Mitstudenten Ewald Egidius Lübeck an Kant nahe, der sich im Jahre 1788 - also beinahe zwei Jahrzehnte nach seinem Studienaufenthalt in Königsberg - an seinen damaligen Dozenten mit einer erstaunlichen Bitte wendet. Er habe, so Lübeck in seinem Schreiben vom 7. Januar, zufällig in einer Zeitschrift einen Leserbrief des ehemaligen Studienfreundes Johann Christian Lenz gelesen, den er samt dessen Bruder Jakob einst in Kants Vorlesungen kennen- und schätzengelernt habe. In seinem ausfuhrlichen Beitrag habe ersterer sich sehr vielversprechend über die Vorzüge des Dessauer Philanthropin geäußert (d.i. eine für ihre Fortschrittlichkeit seinerzeit berühmte Lehranstalt, an der Johann Christian von 1784-1787 als Lehrer tätig war), weshalb er, Lübeck, den Herrn Professor nun um ein an den ehemaligen Kommilitonen gerichtetes „Empfehlungsschreiben" bitte, da er sich an diesen in einer im familiären Bereich liegenden Angelegenheit mit einer Bitte wenden wolle.69 Sollte also tatsächlich eine persönlichere Beziehung zwischen dem Dozenten Kant und den beiden Studenten Lenz existiert haben, so mag sie auch durch deren geographische Herkunft begünstigt worden sein, denn Kants Biographen schreiben übereinstimmend, daß der Professor gerade für seine aus Kur- und Livland stammenden Schüler ein besondere Zuneigung empfunden habe. Daß sie diese in besonderer Weise erwiderten, wird eindrücklich von jener 1770 von Lenz gedichteten, aufwendig auf weißem Atlas gedruckten und mit rotem Samt eingebundenen Ode auf den „Hochedelgebornen Professor" dokumentiert, die auf ihrem Titelblatt explizit als Geschenk der „studirenden Cur-, und Liefländer" ausgewiesen ist.70
68 Vgl. Christian Lenz an seine Söhne Jakob und Johann, Dorpat im Frühjahr 1771. - In: Briefe von und an J.M.R. Lenz. Hrsg. von Karl Freye und Wolfgang Stammler. Leipzig 1918, Bd. 1, S. 13f („gehöret, daß Prof. Cant ihn nach Rehbinder in Danzig recommandiret"). 69 Ewald Egidius Lübeck an Kant, Berlin, 7.1.1788. - In: Kants Werke. (Akademie Ausgabe) Bd. X, Briefwechsel, 1. Bd., (S. 518-521) S. 520. 70 Angabe nach Anmerkung zu DHP, in: WB, Bd. 3, S. 783.
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Die Gründe für die Entstehung der zahlreichen Mitschriften von Kants Vorlesungen sind vielfältig. 71 Einer davon ist im wachsenden Bekanntheitsgrad des Professors zu sehen, der ihre Anzahl vor allem ab Mitte der 80er Jahre in die Höhe schnellen ließ und auch berufsmäßige Schreiber zur Anfertigung für den Verkauf bestimmter Abschriften motivierte. Denn die Nachfrage nach solchen Aufzeichnungen beschränkte sich zunehmend nicht mehr primär auf die studentischen Kreise Königsbergs, die Mit- und Nachschriften seit jeher als sinnvollste Alternative zu den von Kant teilweise geradezu überflüssig gemachten Vorlesungs-Kompendien angesehen hatten (etwa im Falle des seinem LogikKollegium offiziell zugrunde liegenden von Meier). 72 Angeregt von der Veröffentlichung seiner ersten Kritik wuchs jedoch bis weit über die preußischen Grenzen hinaus bei interessierten Laien und Fachkollegen das Bedürfiiis, aus einer anderen Perspektive als nur der seiner - für viele unverständlichen wissenschaftlichen Abhandlungen die aufsehenerregenden Erkenntnisse des durch seinen Kritizismus Ruhm erlangenden Philosophen kennenzulernen. Doch schon zuvor, seit den 70er Jahren, hatte sich ein geradezu gewerbsmäßiger Handel herangebildet, der allerdings auch sehr nachlässig angefertigte bzw. fehlerhaft voneinander abgeschriebene oder auch nur aus Kants Veröffentlichungen kompilierte Machwerke hervorbrachte, die für die Forschung kaum einen Wert besitzen.
71 So lagen um 1900 zwölf unterschiedliche Mitschriften seiner Metaphysik-Vorlesungen vor sowie sechzehn seines die Moralphilosophie behandelnden Kollegiums über Praktische Philosophie. Einwirkungen des Zweiten Weltkrieges führten jedoch zu gravierenden Überlieferungsverlusten. 72 Bekannt ist aber auch - und dies wirft ein bezeichnendes Licht auf Kant als begeisterungsfähigen Pädagogen - , daß Mitschriften seiner Veranstaltungen auch wegen des nachhaltigeren Eindrucks begehrt waren, den die inspirierte Vortragsweise vor allem des jüngeren Professors hinterlassen hatte. So hat einer seiner Zuhörer, der Medizinstudent Reinhold Bernhard Jachmann, noch Jahrzehnte später berichtet, von Kant in „Herz und Gefühl" gleichermaßen mitgerissen und mitsamt den Kommilitonen vor allem in den moralphilosophischen Kollegs „zu Tränen" gerührt worden zu sein. Kant habe durch seine Ausführungen allen das „Herz" „erschüttert" und dadurch für seine ethischen Überzeugungen eingenommen; „[...] wie oft erhob er unseren Geist und unser Gefühl aus den Fesseln des selbstsüchtigen Eudaimonismus zu dem hohen Selbstbewußtsein der reinen Willensfreiheit! [...] Der unsterbliche Weise schien uns dann von himmlischer Kraft begeistert zu sein und begeisterte auch uns, die wir ihn voll Verwunderung anhörten." Zitiert nach Vorländer, II, S. 62, der sich vermutlich auf Jachmanns Publikation Immanuel Kant geschildert in Briefen an einen Freund stützt, Königsberg 1804.
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Editionsversuche Kant selber wurde regelmäßig mit dem - von ihm nach Kräften entsprochenen - Wunsch auswärtiger Freunde und Verehrer konfrontiert, ihnen Mitschriften seiner Vorlesungen zu übersenden. So etwa im Falle des Berliner Kollegen Marcus Herz, der sie in den späten 70er Jahren zur Grundlage seiner eigenen Kollegia machte. In seinen diesbezüglichen Briefen an Herz beklagt Kant zwar die ihm inhaltlich zu kümmerlich erscheinende Beschaffenheit jener „armseligen Papiere" („Wie sehr wünschte ich, daß ich mit etwas besserem dienen könnte"),73 doch können derartige, Bescheidenheit ausdrückende Äußerungen nicht davon ablenken, daß es Kant selber, in Ermangelung eigens ausformulierter Kollegiamanuskripte, für angebracht hielt, von Mitschriften seiner Vorlesungen - wie deren Herausgeber Gerhard Lehmann in der AkademieAusgabe formuliert - „öffentlich Gebrauch machen zu lassen" und für ihre Beschaffung persönlich Sorge zu tragen.74 Dieses Bemühen kulminierte bei ihm um die Jahrhundertwende schließlich darin, gedruckte Ausgaben seiner Vorlesungen zu initiieren. So autorisierte er zum Beispiel den Kollegen Rink, in Zusammenarbeit mit dem Dorpater Philosophieprofessor Jäsche seine Hauptvorlesungen zu edieren, wozu er Rink auch mit entsprechenden Mitschriften ausstattete. Letztlich konnte Rink statt dieser Publikationsreihe aber lediglich Kants bereits 1790 verfaßte Abhandlung Über die Fortschritte der Metaphysik seit Leibniz und Wolf herausgeben (in Kants Todesjahr 1804), während es hinsichtlich der Vorlesungen im Jahre 1802 bei der bloßen Ankündigung einer nie realisierten Ausgabe des Kollegiums über Metaphysik blieb. 1821 wurde zumindest dieser Editionsteil doch noch publiziert, unter der Ägide des Leipziger Historikers Karl Heinrich Ludwig Pölitz (1772-1838), der das entsprechende Manuskript mitsamt begleitenden Materialien nach eigener Aussage aus dem Nachlaß des 1811 verstorbenen Rink erworben hatte.75 Die Forschung tituliert diese Mitschrift, die sich thematisch mit Metaphysica specialis (Kosmologie, Psychologie und Theologie) befaßt, als „Metaphysik Li nach Pölitz";76 ihr wird für die anschließende Untersuchung der moralphilosophischen Überlegungen Lenzens - im Zusammenspiel mit drei weiteren Mitschriften anderer Kollegia - eine wichtige Rolle zukommen. Über ihre zu ver73 Zitiert nach Gerhard Lehmann: Einleitung. - In: Kant's Vorlesungen (Bd. XXIV der Akademie-Ausgabe), Bd. 1, Vorlesungen über Logik, 2. Hälfte, Berlin 1966, S. 956f. 74 Ebd., S. 957. Lehmann führt weiter aus, daß Kant gerade die Benutzung seiner Logik- und Metaphysikvorlesungen durch Herz besonders gefördert habe, bei anderen jedoch, wie etwa dem Berliner Kollegen Kiesewetter, wegen zwischenmenschlicher Differenzen weniger entgegenkommend gewesen sei. 75 Vgl. Lehmann: Einleitung. - In: Kant's Vorlesungen (Bd. XXIV der Akademie-Ausgabe), Bd. 1, Vorlesungen über Logik, 2. Hälfte, Berlin 1966, S. 961. 76 In der Akademie-Ausgabe herausgegeben in Bd. XXVIII: Kant's Vorlesungen, Bd. V, Vorlesungen über Metaphysik und Rationaltheologie, 1. Hälfte, Berlin 1968, S.193-350. Künftig abgekürzt „M".
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mutende Entstehungszeit liegen unterschiedliche Angaben vor, über ihren Verfasser hingegen keine. Einig ist sich die neuere Forschung jedoch, daß sie aus den 70er Jahren stammen muß und Arnoidts vage Datierung auf die Semester WS 1779/80 bis WS 1784/8577 unhaltbar ist. Lehmann stützt als wahrscheinlichste Entstehungszeit Erdmanns Datierung auf das WS 1773/74, für immerhin denkbar hält er jedoch auch Menzers Datierung auf die WS 1778/79 oder 1779/80.78
Rezeption Die Rezeptionsgeschichte der durch Mitschriften greifbar gemachten Vorlesungen Kants verlief in den ersten hundert Jahren nach seinem Tod recht ambivalent und läßt sich in ihren einzelnen Entwicklungsstadien gerade durch die seines Metaphysik-Kollegs exemplarisch aufzeigen. Während sich diese Mitschriften zu Kants Lebzeiten größten Interesses erfreut hatten, setzte mit dem Erscheinen der ersten Gesamtausgabe seiner Werke (besorgt von Karl Rosenkranz und Friedrich Wilhelm Schubert, Leipzig 1838ff) eine - so Lehmann „vorlesungsfeindliche Strömung"79 ein. Rosenkranz etwa begründete im ersten Band seiner Werkausgabe den Verzicht auf einen Abdruck der seinerzeit bekannten Mitschriften mit dem Pauschalurteil, sie würden nichts wesentlich Neues enthalten. Da ihre inhaltlichen Unterschiede zu Kants eigenen Publikationen nach Rosenkranz lediglich von der 'mangelhaften Auffassung' der Protokollanten herrührten, liefe eine Edierung letztlich auch dem 'Willen Kants' zuwider.80 Noch drastischer fiel einige Jahre später die Wertung eines anderen Kant-Editors aus, dessen Kritik in der Behauptung gipfelte, die Mitschriften könnten keinen Anspruch auf „Authentie" erheben.81 In den Folgejahren beschäftigten sich vor allem Benno Erdmann und der Königsberger Kantforscher Emil Arnoldt mit der Qualifizierung und Datierung nicht zuletzt der Pölitzschen Mitschrift Vor allem Arnoldt mahnte die KantForschung zur Zurückhaltung bei der Hinzuziehung dieser und ähnlicher „Nachschriften", da sie nach seiner Ansicht „zur Eruierung von Kants meta-
77 Vgl. Arnoldt: Gesammelte Schriften. Bd. V, Teil II, S. 62. 78 Vgl. Lehmann: Einleitung. - In: Kant's Vorlesungen (Bd. XXVm der Akademie-Ausgabe), Bd. V, Vorlesungen über Metaphysik und Rationaltheologie, 2. Hälfte, 2. Teil, Berlin 1972, S. 1341 u. 1345. 79 Lehmann: Einleitung. - In: Kant's Vorlesungen (Bd. XXIV der Akademie-Ausgabe), Bd. 1, Vorlesungen über Logik, 2. Hälfte, Berlin 1966, S. 962. 80 Vgl. Karl Rosenkranz in: Immanuel Kant's Sämmtliche Werke. Hrsg. von Karl Rosenkranz und Friedrich Wilhelm Schubert, 1. Bd., Leipzig 1838, S. Xf. 81 Gustav Hartenstein in: Immanuel Kants Sämmtliche Werke. Hrsg. von Gustav Hartenstein, Bd. 1, Leipzig 1867, S. ΠΙ.
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physischen Ansichten nur mit Vorsicht zu gebrauchen" seien.82 Eine Wende leitete jedoch Max Heinzes zeitlich beinahe parallel vorgenommene Analyse von insgesamt fünf unterschiedlichen Mitschriften des Metaphysik-Kollegs ein (darunter auch die Pölitzsche), denn er gelangte nach eingehendem Vergleich der Schriften untereinander und im Abgleich mit Kants eigenen Publikationen zu erheblich positiveren Ergebnissen. Heinzes 1894 hierzu erschienene Abhandlung83 markierte geradezu einen Epochenwechsel in der Kantforschung, da seine präzise Analyse mit tradierten Vorurteilen brach und in der ebenso lapidaren wie nachhaltigen Schlußfolgerung mündete, daß „keine stichhaltigen Gründe dagegen" sprächen, „daß wir in den Heften [gemeint sind die Nachschriften] von Kant wirklich Vorgetragenes, nur mit unwesentlichen Modifikationen, besitzen" (Heinze, 656). „Unkantisches, d.h. solches, was von Kant nicht vorgetragen sein" könne, werde man in ihnen nicht entdecken (Heinze, 563), und träfe man doch einmal auf Widersprüche, so würde „uns dies doch nicht mehr befremden, als wenn wir in seinen kritischen Ausführungen nicht selten schwer oder auch gar nicht miteinander zu Vereinigendes finden" (Heinze, 658).84 Der von Heinze bewirkte Paradigmenwechsel sollte schließlich unter Wilhelm Dilthey zur Aufnahme der Vorlesungen in die seinerzeit in Planung befindliche Berliner Akademie-Ausgabe von Kants Gesammelten Schriften führen.85 Für die nachfolgende Darstellung der philosophischen Hauptgedanken Lenzens wird die Mitschrift Pölitz im folgenden eine wichtige Quellengrundlage darstellen. Auch wenn ihre konkrete Entstehungszeit ungeklärt ist und die Forschung sie nicht präzise zu datieren vermag, sondern ihre Entstehung zwischen 1773 und 1779 vermutet, so ist ihre herausragende Qualität bei der Dokumentation der Vorlesung über Metaphysik nach Baumgarten unstrittig. Bei der Analyse wird zu beachten sein, daß in dieser Mitschrift bereits wesentliche Aspekte des Kantschen Kritizismus in einer Weise realisiert vorliegen, wie sie während Lenzens Studienzeit wohl noch nicht entwickelt gewesen sind.86 Dies betrifft nicht zuletzt die eigentliche Grundfrage der ersten Kritik, wie synthetische Urteile überhaupt a priori möglich seien. Die Lösung dieses für Kant
82 Arnoldt: Charakteristik von Kants Vorlesung über Metaphysik. - In: Gesammelte Schriften, Bd. V, Teil II, S. 37. 83 Max Heinze: Vorlesungen Kants über Metaphysik aus drei Semestern. Leipzig 1894. 84 Heinze-Zitate nach Lehmann: Einleitung. - In: Kant 's Vorlesungen (Bd. XXIV der Akademie-Ausgabe), Bd. 1, Vorlesungen über Logik, 2. Hälfte, Berlin 1966, S. 964 85 Vgl. hierzu Lehmanns Darstellung des in der mit der Edition befaßten Kant-Kommission geführten Diskussionsprozesses, bei dem einerseits zwar auch Bedenken geäußert wurden, andererseits die besondere wissenschaftliche Bedeutung dieses Quellenmaterials unstrittig geblieben sei. Ebd., S. 964ff. 86 Vgl. über die Entstehung der Kritik der reinen Vernunft die bis heute gültige Abhandlung von Emil Arnoldt: Die äussere Entstehung und die Abfassungszeit der Kritik der reinen Vernunft. - In: Emil Arnoldt: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Otto Schöndörffer, Bd. IV, Kritische Exkurse im Gebiete der Kantforschung, Teil I, S. 119-225.
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zentralen Problems sollte er 1771/72, also erst kurz nach Lenzens Fortgang aus Königsberg finden,87 indem er die noch in seiner Dissertation von 1770 vertretene strenge Trennung von Sinneswahrnehmungen und Erkenntnissen des Verstandes zugunsten einer Verbindung beider zur - wie Vorländer formuliert - „Einheit der Erfahrung"88 überwand. Ein zweiter wesentlicher Fortschritt bei der Heranbildung des Kritizismus, der erst nach Lenzens Aufenthalt in Königsberg vollzogen wurde, im Pölitz-Text jedoch schon seinen Niederschlag gefunden hat, ist die Entwicklung des Kantschen Systems der Kategorien, das die präzise Einordnung und Klassifizierung philosophischer Begriffe erst ermöglichte und damit die - so Kant - „Grundgesetze des Verstandes"89 veranschauliche. Ungeachtet dieser und anderer zu beachtender philosophischer Fortschritte Kants reflektiert die Pölitz-Mitschrift jedoch ein sehr zuverlässiges Bild des Metaphysik-Kollegs, wie es auch Lenz erlebt haben wird. Dies gilt vor allem für das bei Lenz herausragend behandelte Thema der Moralität, das Kant bereits in seiner Dissertation von 1770 als das eigentliche Ziel jeglichen Philosophierens bezeichnet hatte und - außer in seinem Metaphysik-Kolleg - auch in seinen übrigen Vorlesungen (mit besonderer Intensität in der über Praktische Philosophie) ausführlich behandelte. Der Rückgriff auf die Dissertation, der Abgleich der Mitschriften untereinander sowie die Einbeziehung zahlreicher Schriften Kants wird deshalb bei der Verwendung der Pölitz-Quelle wie auch bei den übrigen das weitere Vorgehen bestimmen. Hierdurch wird nicht nur sichergestellt, daß die jeweiligen Vorlesungsinhalte den Transfer zu Lenz zulassen. Darüber hinaus soll damit auch die Authentizität einzelner Überlegungen Kants nachgewiesen werden. Dies ist durch Vergleiche der Mitschriften verschiedener Vorlesungstypen vor allem deshalb möglich, da Kant sich nicht streng an ihre systematische Trennung voneinander gehalten, sondern auch themenüberschneidend vorgetragen hat, was zusätzlich den Rückgriff auf aus verschiedenen Semestern stammenden Mitschriften nahelegt und ihren inhaltlichen Bezug auf Lenz absichert. Im einzelnen werden für die nachfolgende Untersuchung vier verschiedene als wichtigste Quellen hinzugezogen, um jene Hauptvorlesungen Kants zu vergegenwärtigen, die der philosophischen Ent-
87 Vgl. hierzu seinen berühmten Brief an Herz vom 21. Februar 1772 (In: Kant's Briefwechsel. Akademie-Ausgabe Bd. X, 2. Abteilung: Briefwechsel, Bd. 1, 1747-1788, 2. Auflage, Berlin und Leipzig 1922, S. 129-135), in dem er detailliert seine philosophischen Fortschritte des vergangenen Jahres darstellt. Kant betont dort, sich nun endlich imstande zu sehen, „eine Critick der reinen Vernunft [...] vorzulegen" (S. 132), die er noch im laufenden Jahr („binnen etwa 3 Monathen". Ebd.) zu vollenden gedenke. - Doch auch wenn die gedankliche Konzeption seiner ersten Kritik zu diesem Zeitpunkt tatsächlich bereits im wesentlichen abgeschlossen gewesen zu sein scheint, sollte es bis zu ihrer schriftstellerischen Ausarbeitung noch Jahre dauern. 88 Vorländer, I, S. 256. 89 Kant an Marcus Herz, Königsberg 21.2.1772. - In: Kant's Briefwechsel. Bd. X., Bd. 1, S. 132.
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wicklung Lenzens die ausschlaggebenden Impulse verliehen haben. Im einzelnen sind dies für das Kolleg: 1. M e t a p h y s i k nach Baumgarten (zu Lenzens Studienzeit in jedem Semester außer im SS 1770 angeboten) - die bereits dargestellte Mitschrift L! (Kosmologie, Psychologie, Theologie) nach Pölitz.90 2. L o g i k nach Meier (in jedem Semester außer im WS 1770/71) - die Mitschrift des seit April 1770 in Königsberg immatrikulierten Studenten W. A. F. Philippi, 91 die im SS 1772 nachweislich unmittelbar aus der Veranstaltung hervorgegangen ist und - diese Annahme legen handschriftliche Zusätze nahe - in nachfolgenden Logik-Vorlesungen noch benutzt und ergänzt worden ist. Ihr Herausgeber in der Akademie-Ausgabe, Gerhard Lehmann, bescheinigt Philippi große Sorgfalt bei der Ausarbeitung, 92 die auch überaus notwendig gewesen ist, war doch gerade diese Vorlesung bekannt dafür, 93 daß Kant dem ihr eigentlich zugrunde liegende Kompendium Meiers weder formal noch inhaltlich folgte, sondern es primär als Ausgangspunkt für vollkommen eigenständige, erheblich weiterreichende Überlegungen nutzte. 3. A l l g e m e i n e P r a k t i s c h e P h i l o s o p h i e und E t h i k nach Baumgarten (zu Lenzens Studienzeit lediglich im WS 1768/69 und SS 1770 abgehalten) - die Mitschrift des 1759 geborenen und seit März 1777 in Königsberg studierenden G. B. Powalski, 94 die vermutlich während des SS 1777 entstanden ist. Kant hatte sich nicht nur äußerlich, sondern in großer philosophischer Tiefe an das dieser Veranstaltung zugrunde liegende Kompendium, an Baumgartens Ethica, angelehnt. Daß sich dabei im Laufe der Jahre teilweise erhebliche inhaltliche Fortentwicklungen ergeben haben, ist selbstverständlich und macht es umso bedauerlicher, daß aus Lenzens direkter Studienzeit keine Mitschrift überliefert ist. Für diese Untersuchung hat der Verfasser jedoch durch den Vergleich mit anderen Mitschriften, unter anderem auch mit einer von Herder in den 60er Jahren verfertigten, die im weiteren Verlauf dargestellten Erkenntnisse abgesichert. Herders Text gibt vermutlich Kants erstes Ethik-Kolleg nach 90 Künftig abgekürzt „M". 91 Die Mitschrift Vorlesungen des Herrn Profeßoris Kant über die Logic (von Philippi mit 'Mai 1772' datiert) ist hrsg. in Bd. XXIV der Akademie-Ausgabe, Kant's Vorlesungen, Bd. I, Vorlesungen über Logik, 1. Hälfte, Berlin 1966, S. 305-496. Künftig abgekürzt „L". 92 Vgl. auch über die Herkunft der Nachschrift in Lehmanns Einleitung zu Bd. XXIV der Akademie-Ausgabe, Kant's Vorlesungen, Bd. I, Vorlesungen über Logik, 2. Hälfte, Berlin 1966, S. 978. 93 Vgl. hier IV. 94 Powalskis Mitschrift Prof. Imman: Kants Practische Philosophie ist hrsg. in Bd. XXVII der Akademie-Ausgabe, Kant's Vorlesungen, Bd. IV, Vorlesungen über Moralphilosophie, 1. Hälfte, Berlin 1974, S. 91-236. Künftig abgekürzt „PP". Ihre Datierung geht auf Lehmann zurück, der sie wegen inhaltlicher Eigenarten als eindeutig jünger als die kürzlich (wieder)entdeckte und in Marburg edierte Mitschrift Kaehler datiert, die demnach nicht - wie in der Forschung lange angenommen - ebenfalls aus jenem Sommersemester stammen kann. Vgl. hierzu Lehmanns Einleitung zu Bd. XXVII der Akademie-Ausgabe, Bd. IV, Vorlesungen über Moralphilosophie, 2. Hälfte, 2. Teil, Berlin 1979, S. 1044.
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Baumgarten wieder (zuvor hatte er nach Baumeister gelesen), das - so vermutet Lehmann95 - doch bereits im SS 1764 und nicht - wie Arnoldt meint96 - erst im darauffolgenden Wintersemester abgehalten wurde, weil es ansonsten von Herder, der im November 1764 Königsberg verließ, überhaupt nicht hätte besucht und aufgezeichnet werden können.97 4. P h i l o s o p h i s c h e E n z y k l o p ä d i e nach Feder (in jedem Semester außer im WS 1769/70) - eine Mitschrift98 vermutlich aus dem SS 1775, wobei es in diesem Fall weder eine ermittelte Autorschaft noch philosophische Standpunkte sind,99 die der Forschung diese Datierung nahelegten, als vielmehr protokollierte Verweise Kants auf aktuelle Publikationen.100 Ebenso wie in den anderen Vorlesungen bediente der Philosoph sich auch in dieser des ihr zugrunde liegenden Kompendiums hauptsächlich als Stichwortgeber, um jeweils eigene umfassendere Darstellungen und weiterführende Überlegungen entwikkeln zu können. Lediglich zehnmal hatte Kant dieses Kollegium während seiner ganzen Lehrtätigkeit angeboten, wobei insgesamt sechs in die Jahre vor Entstehung der Mitschrift fallen (allein vier in Lenzens Studienzeit). Im wesentlichen wird die Mitschrift die Vorlesung so wiedergeben, wie sie auch Lenz erlebt hat, obgleich sie aus etwas späterer Zeit stammt. Hierfür spricht auch, daß diese Veranstaltung von ihrer Anlage her als reine Einführung in die Grundlagen der Philosophie diente, deren Inhalte sich innerhalb des zwischen Lenzens Studium und ihrer Niederschrift liegenden, relativ kurzen Zeitraumes nicht grundlegend verändert haben dürften.
95 Vgl. Lehmann: Einleitung zu Bd. XXVII der Akademie-Ausgabe, Bd. IV, Vorlesungen über Moralphilosophie, 2. Hälfte, 2. Teil, Berlin 1979, S. 1047. 96 Vgl. Arnoldts Angabe in seinem Verzeichnis der Kantschen Vorlesungen. In: Ders. Gesammelte Schriften, Bd. V, Teil II, Berlin 1909, S. 200f. Für das SS 1764 verzeichnet er kein Ethik-Seminar; ein Irrtum, wie Lehmann glaubt. 97 Zu den notwendigen Vorbehalten gegenüber Herders Mitschrift, die von zahlreichen Irrtümern charakterisiert ist und „falsche Akzentuierungen" (Lehmann) setzt, vgl. Lehmann: Einleitung zu Bd. XXVII der Akademie-Ausgabe, Bd. IV, Vorlesungen über Moralphilosophie, 2. Hälfte, 2. Teil, Berlin 1979, S. 1048ff. 98 Vorlesungs-Mitschrift Philosophische Enzyklopädie, hrsg. in Bd. XXIX der AkademieAusgabe, Kant's Vorlesungen, Bd. VI, Kleinere Vorlesungen und Ergänzungen I, 1. Hälfte, 1. Teil, Berlin 1980, S. 3-45. Künftig abgekürzt „PE". 99 Dies erklärt sich vor allem aus Kants Verständnis dieser Vorlesung, deren Aufgabe er darin sah, einen kurzen Auszug der ganzen Wissenschaft darzubieten, also gleichsam die Architektur des ganzen Fachs, statt in erster Linie den eigenen, mitunter erheblich fortgeschritteneren Erkenntnisstand darzustellen, wofür sich sein Metaphysik-Kolleg weitaus besser eignete. Vgl. Kant an Marcus Herz, Königsberg 15.12.1778. - In: Kant's Briefwechsel, Bd. I, (S. 245f) S. 245. 100 Vgl. hierzu Lehmanns Ausführungen in seiner Einleitung von Bd. XXIX der AkademieAusgabe (Kant's Vorlesungen, Bd. VI, Kleinere Vorlesungen und Ergänzungen I, 1. Hälfte, 1. Teil, S. 664), in denen er die von anderen mehrfach erhobene Vermutung einer erheblich späteren Entstehungszeit zurückweist, die sich primär auf Kants Verwendung des Terminus „Critik der reinen Vernunft" stützt. Hierzu belegt Lehmann den bereits langjährigen Gebrauch des Terminus unter anderem durch Briefe Kants vom Beginn bis Mitte der 70er Jahre.
Zweiter Teil Literarische Konsequenzen
Erstes Kapitel Phasierung des Œuvres Das literarische Werk von Jakob Lenz wurde in seinen wesentlichen Teilen innerhalb von nur sieben Jahren verfaßt, zwischen 1771 und 1777. Die im Jahr 1771/72 entstandenen Arbeiten können dabei als diejenigen angesehen werden, die am aufschlußreichsten für das Verständnis seines Œuvres und dessen geistigen Fundaments sind. Denn in jenen Zeitraum fällt nicht nur die Entstehung seines neben den Soldaten (1775) bis heute bekanntesten und wohl bedeutendsten Dramas Der Hofmeister, sondern vor allem die Verfertigung seiner wichtigsten sogenannten 'theoretischen Schriften'. Die Bezeichnung dieser Arbeiten als 'Schriften' ist jedoch irreführend, was in der literarhistorischen Forschung bislang nur zu leicht übersehen und in seinen Konsequenzen unterschätzt worden ist.1 Denn tatsächlich stellen sie Redemanuskripte für moralphilosophische Vorträge dar, die in ihrer Mehrzahl zu Lebzeiten des Autors nicht im Druck erschienen sind. Letzteres ist auch darauf zurückführbar, daß Lenz sie ausdrücklich als Predigten empfunden und als solche für den mündlichen Vortrag konzipiert hatte. Dargeboten wurden sie überwiegend vor der 1767 in Straßburg begründeten 'Société de philosophie et de belles lettres', in der vorübergehend auch Goethe und Jung-Stilling, vor allem aber sein Freund und Mentor Johann Daniel Salzmann (1722-1812) Mitglied war.2 1 2
Vgl. hier Drittes Kapitel. Sigrid Damm hat diese Arbeiten in ihrer Werkausgabe unter dem Titel „MoralischTheologische Schriften" zusammengefaBt (vgl. WB, Bd. 2, 481-624), eine formal und inhaltlich unzutreffende Bezeichnung, die auf die gleichlautende Kategorisierung der Lenzschen 'Schriften' in Franz Bleis Lenz-Ausgabe (J.M.R. Lera: Gesammelte Schriften, 5 Bde., München/Leipzig 1909-13, vgl. Bd. 4) zurückgeht und bis heute weitgehende Praxis geblieben ist (ein schon etwas älteres Beispiel bietet etwa Ottomar Rudolf, der von „moralischtheologischen Aufsätzen" spricht; Rudolf 1970, 201). Die tatsächliche geistige Ausrichtung dieser in ihrer Mehrzahl für den mündlichen Vortrag gedachten P r e d i g t e n ist jedoch eindeutig moralphilosophischer und nicht theologischer Natur, - gerade dann, wenn ihr Autor ausgesprochen religiöse Gegenstände behandelt. Wie irreführend zudem das Adjektiv 'theologisch' für ihre inhaltliche Charakterisierung ist, wird durch Lenzens konsequente Unterscheidung des Begriffs der Religion von dem der Theologie deutlich (vgl. hier Zweites Kapitel, II.3 „Theologie vs. Religion"). Jene hat er (anders als Rudolf mit seiner jeden Widerspruch ausschließen wollenden These „Lenz war Theologe!" zu wissen glaubt; Rudolf 1970, 201) - ganz in der antitheologischen Tradition des Pietismus - stets strikt verurteilt, weshalb er seine eigenen Überlegungen zu religiösen bzw. moralischen Fragestellungen nachdrücklich vom traditionellen Verständnis des Theologiebegriffes unterschieden und ftlr sie allenfalls den Begriff einer ,,weltliche[n] Theologie" (SdL, 617) gelten gelassen hat. Ihre ostentative Oppo-
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Literarische Konsequenzen
In ihnen bietet ihr Verfasser die Grundpositionen seines Denkens dar und gibt dadurch auch Auskunft über die während seines Studiums erfahrene weltanschauliche und erkenntnistheoretische Prägung. Insofern kommt dem Zeitraum ihrer Entstehung, dem unmittelbar an Lenzens Studienende nachfolgendem Jahr, eine besondere Bedeutung zu, - die weite Teile der Forschung bislang allerdings eher im biographischen Bereich vermutet haben. Denn das Jahr 1771 schien vor allem wegen Lenzens Wechsel von Königsberg nach Straßburg als Gesellschafter der Barone von Kleist und der beginnenden Bekanntschaft mit Goethe als entscheidende Wendemarke in seinem Leben interpretierbar, die dem Autor eine wie auch immer geartete geistige Neuausrichtung ermöglicht habe und den Beginn seiner nur kurzen Schaffensperiode als Dichter markiere.3 Doch das Hervorheben dieses Datums mißt den biographischen Äußerlichkeiten eine unangemessene Bedeutung bei. Entscheidend für die inhaltliche und formale Ausrichtung des Lenzschen Œuvres sind nämlich nicht die neuen, in Straßburg gemachten Erfahrungen bzw. Bekanntschaften oder etwa gar der Einfluß Goethes gewesen, sondern die in Königsberg genossene, Lenz geistig formende intellektuelle Erziehung. Deshalb muß als eigentliche Wendemarke seines Lebens das Jahr 1768 angesehen werden, genauer gesagt jener 20. September seiner Einschreibung in die Matrikel der Königsberger Albertina, der den Beginn eines Entwicklungsprozesses markiert, bei dem sich überraschend schnell und konsequent die Einsichten und Vorstellungen ausgebildet haben, die entscheidend für die geistige Ausrichtung seiner schriftstellerischen Arbeit werden sollten. Folgt man hingegen dem 1966 von Martin Stern und anderen tradierten Schema, interpretiert man also Lenzens Übersiedlung nach Straßburg als die ausschlaggebende Zäsur4 und ordnet die Lehrjahre bei sition zur „eigentliche[n] Theologie" (SdL, 616) hat der Autor nicht zuletzt erkenntnistheoretisch begründet, da ihm jene 'eigentliche' wegen ihrer metaphysischen Ausrichtung keine Erkenntnisgewinne verspreche, weswegen er sich lediglich mit ,,unsere[r] Bestimmung in dieser Zeitlichkeit" beschäftigen könne und beschäftigen wolle (SdL, 617). Diese Argumentation verdeutlicht den unmittelbaren Gesellschaftsbezug seiner sogenannten 'moralisch-theologischen Schriften', was der weiteren Klassifizierung der 'theoretischen Schriften' in „ästhetische" (WB, Bd. 2, 625-769) und „gesellschaftspolitische" (WB, Bd. 2, 770-837) weitgehend die Grundlage entzieht. In der - allerdings nur eine Auswahl dokumentierenden - Werkausgabe J.M.R. Lenz. Werke und Schriften, hrsg. von Britta Titel und Hellmut Haug (2 Bde., Stuttgart 1966), sind die irreführenden Begrifflichkeiten nicht übernommen worden, Lenzens Predigten und Vorträge jedoch mit einzelnen Aufsätzen ebenfalls als „Theoretische Schriften" zusammengefaßt (vgl. ebd. S. 327fi). 3
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Stellvertretend für die vielfältige, diesem Paradigma folgende Forschungsliteratur sei lediglich auf Martin Sterns traditionsbildende Einteilung des Lenzschen Schaffens in drei unterschiedliche Stadien verwiesen, in der nicht Lenzens Studienjahre, sondern sein anschließender Straßburg-Aufenthalt als Wendemarke seines Lebens und Werks angesehen und als Eintritt in seine 'Geniezeit' interpretiert wird (Martin Stern: Akzente des Grams. Über ein Gedicht von Jakob Michael Reinhold Lenz. - In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, Marbach 1966 [S. 160-178], S. 170). Stern interpretiert den Übergang vom ersten in das zweite der von ihm bei Lenz diagnostizierten drei 'Stadien' kurzerhand als einen 'Fall' „aus der Geborgenheit seines Väterglaubens
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Kant der Epoche seiner Kinder- und Jugendjahre zu, so ignoriert man die in Königsberg vollzogene - vor allem geistige - Emanzipation von den im Elternhaus erfahrenen Prägungen und gelangt somit zu einer fehlerhaften Gewichtung der auf den Heranwachsenden einwirkenden Einflüsse. Im Grunde ist es verwunderlich, daß bislang so wenig Gebrauch von dem Wissen um Lenzens Studienaufenthalt in Königsberg gemacht worden ist, liegen alle Quellen doch seit Jahrzehnten vor, die ein kritisches Hinterfragen der über Lenz tradierten Urteile und Mystifikationen sowie eine Untersuchung seiner durch Kant erfahrenen philosophischen Prägung ermöglichen. Ein Grund dafür mag aber sein, daß aus dieser Lebensphase nur wenige literarische Arbeiten überliefert und diese in den einschlägigen Werkausgaben nur unzureichend ediert worden sind. Dies betrifft vor allem die für diesen Zeitabschnitt aufschlußreichste Dichtung, Lenzens lyrische „Carrikatur einer Prosepopee" (so der Untertitel) Belinde und der Tod aus dem Jahre 1770, die in der für die neuere Forschung maßgeblichen Werkausgabe von Sigrid Damm weder aufgenommen noch überhaupt erwähnt worden ist. Dabei weist doch gerade dieser mit 44 handschriftlichen Seiten sehr umfangreiche Text (wie später eingehender ausgeführt wird) bereits alle Charakteristika der von Lenz unter dem Einfluß Kants 1770 längst eingeschlagenen geistigen Ausrichtung auf und veranschaulicht die unüberwindbar gewordene Distanz zu den nach 1768 aufgegebenen bzw. weiterentwickelten philosophischen und ästhetischen Fundamenten seiner zuvor im Elternhaus verfaßten Jugenddichtungen. In seinen ab 1771 in Straßburg verfaßten Arbeiten knüpft Lenz unmittelbar an die in seiner Belinde demonstrierten philosophischen Positionen an und beginnt mit der Entwicklung eines Œuvres, dessen Schwerpunkt anfänglich eben nicht im Bereich der Dichtkunst, sondern im Proklamieren seiner programmatischen Hauptgedanken in der rhetorischen Gattung der klassischen Missions-Predigt liegt. Diese Gewichtung wird auch nicht davon in Frage gestellt, daß bis einschließlich 1774 seine Dramen Der Hofmeister1 und Der neue Menoza (1773) entstehen sowie etwas Lyrik und einige wenige Dramenfragmente; Werke, in denen Lenz den philosophischen Gehalt seiner Predigten mit den Mitteln der Poesie für ein breiteres Publikum popularisiert. Noch weit intensiver als den eigenen Dichtungen widmet der Autor sich während dieser in eine neue, rationalistische Welt". So sei das erste Stadium eines „des anerzogenen Vertrauens in die Vorsehung und Güte Gottes" gewesen, „bestärkt durch recht eifriges LeibnizStudium, durch die Lektüre Klopstocks und Edward Youngs". Seinen Abschluß habe es „mit dem Beginn der Straßburger Zeit um 1771" gefunden, die eine Epoche „der Herrschaft des Genie-Gedankens, der Prometheus-Hoffnung und [der] Kraft des Willens" gewesen sei; womit Stern lediglich unreflektiert an mit dem Begriff des 'Sturm und Drang' pauschal verknüpfte Stereotype anknüpft. Lenzens „Erkenntnis der Bedingtheit des Daseins" habe dann den „Sturz" in die dritte „Phase" markiert, die „einer Katastrophe" gleichgekommen sei; womit Stern offenbar auf Lenzens seelische Erkrankung im Jahre 1777 anspielt, die tatsächlich eine Zäsur bewirkt hat (Stern, 170). 5
Entstanden 1771/72, Entwürfe gehen bis 1769 zurück.
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Jahre der Bearbeitung von fünf antiken Komödien des Titus Maccius Plautus,6 wodurch er sich nicht zum letzten Mal auf den Spuren Lessings bewegt, der 1750, als 21jähriger, Plautus' Dreigroschenstück (Trinummus) im Stil der italienischen Komödie übertragen und modernisiert hatte (betitelt Der Schatz). Erst ab 1774 wird Lenz die Rolle des ambitionierten Predigers weitgehend aufgeben und das in Königsberg erworbene geistige Rüstzeug zur Heranbildung seines bis 1777 im wesentlichen abgeschlossenen dichterischen Werkes nutzen.7 Insofern kann das Jahr 1774 als eine weitere Zäsur in seinem Leben gelten, auch wenn mit ihr keine Um- oder gar Neuorientierung seiner bereits 1771 längst gefestigten weltanschaulichen Standpunkte verbunden ist, sondern eine biographische Wendemarke, die den Beginn seines Versuchs markiert, eine Existenz als freier Schriftsteller zu führen. Dieses für die weitere Entwicklung seines dichterischen Werks entscheidende Jahr stellt- im Vergleich zu den vorherigen und nachfolgenden Jahren - geradezu einen Höhepunkt literarischer Unproduktivität dar. Als eine von nur sehr wenigen Arbeiten verfaßt der Autor 1774 die autobiographische Prosa Das Tagebuch,8 die verdeutlicht, daß die Ursache dieser Stagnation seine höchst komplizierte und für ihn kraftraubende Liebe zu der kapriziösen Straßburger Bürgertochter Cleophe Fibich gewesen sein mag. Durch Cleophe, eigentlich mit dem älteren der Barone von Kleist verlobt, der ein ihr gegebenes Eheversprechen nicht zu halten bereit ist, stürzt Lenz in ein emotionales Durcheinander von Empörung über das gebrochene Wort des Offiziers, Mitgefühl mit der öffentlich bloßgestellten Frau und eigenen, - wohl auch wegen seines unattraktiven sozialen Status irrationalen Hoffnungen und unerwidert bleibenden Gefühlen. Als dichterische Nachwirkung dieser Affäre entsteht im Folgejahr das Drama Die Soldaten, in dem er das zeittypische Thema des von einem adligen Offizier verführten und im Stich gelassenen Bürgermädchens aufgreift und dieses individuelle Schicksal in eine gesamtgesellschaftliche Dimension steigert. Die unmittelbare persönliche Betroffenheit, unter der das Schauspiel verfaßt worden ist, hallt aber noch Jahre später in einigen Dichtungen nach, etwa in der 1775/76 verfaßten ,,dramatische[n] Phantasey" (so der Untertitel) Der Engländer, in dem der Autor seinen Protagonisten Robert klagen läßt, daß „unter allen Foltern des Lebens, auf die der Scharfsinn der Menschen gesonnen haben kann," er „keine größere" kenne, „als zu lieben und ausgelacht [also zurückgewiesen] zu werden".9 Im Verlauf der langwierigen Turbulenzen um Cleophe Fibich vollzieht Lenz seine Trennung von den Brüdern Kleist und entscheidet sich - wie Jahre vor ihm Lessing - für das freie Schriftstellertum. Im Folgejahr 1775 ist dem6 7 8 9
In den Jahren 1772/73 entstanden so die Lustspiele Die Aussteuer, Das Väterchen, Die Entführungen, Die Buhlschwester sowie Die Türkensklavin. - In: WB, Bd. 2, S. 7-286. Vgl. hier Drittes Kapitel. Lenz: Das Tagebuch. - In: WB, Bd. 2, S. 289-329. Lenz: Der Engländer. - In: WB, Bd. 1 (S. 317-337), S. 326.
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entsprechend eine geradezu eruptive Zunahme seiner dichterischen Produktion zu verzeichnen. Zuvor als Gesellschafter und Hauslehrer tätig und vom Wohlwollen und den Launen seiner Dienstherren abhängig, widmet er sich nun mit ganzer Kraft seinen literarischen Neigungen und versucht, den vollzogenen Schritt in die äußerlich endlich realisierte Freiheit auch wirtschaftlich abzusichern. Ermutigt von der erfolgreichen Publikation seines Hoftneister-Scheaispiels im Jahre 1774, entwickelt Lenz deshalb das Drama zu seiner bevorzugten literarischen Gattung, doch vermögen die nun zahlreich entstehenden Bühnenstücke und selbst das Schauspiel Die Soldaten nicht, an den Erfolg des Hofmeisters anzuknüpfen. Parallel zu seinen Bühnenwerken verfaßt er zahlreiche Aufsätze, Vorträge und Predigten, in denen er sich zwar stärker mit aktuellen ästhetischen oder gesellschaftlichen Fragestellungen auseinandersetzt als zuvor, dabei jedoch den ab 1771 in seinen Predigten dargelegten moralphilosophischen Prämissen weiterhin treu bleibt.10 Daß Lenz sich ab 1774/75 Themen mit einem stärkeren Gegenwartsbezug zuwendet, mag auch auf Cornelia Schlosser zurückführbar sein. Der Autor lernt Goethes Schwester in diesem Jahr kennen, und rasch scheint sie Einfluß auf die Entwicklung seines dichterischen Werks zu gewinnen, der - im Gegensatz zu dem ihres Bruders - in der Forschung bislang kaum Beachtung gefunden hat. Es ist deshalb offenbar mehr als bloßer Zufall, daß ihr plötzlicher Tod im Juni 1777 zeitlich mit einer Wende in Leben und Werk des Autors zusammenfällt, denn er markiert nicht nur den Beginn des gesundheitlichen Niedergangs Lenzens, sondern auch sein weitgehendes Verstummen als Dichter. Grund genug also, an dieser Stelle kurz Näheres über die Qualität dieser so einflußreichen, in ihrer Wirkung bislang weitgehend unterschätzten und von Goethe mit eifersüchtigem Mißtrauen beobachteten Freundschaft auszuführen. Cornelia Schlosser, selber schriftstellerisch tätig, ist die Frau des Frankfurter Rates und Herausgebers der Frankfurter Gelehrten Anzeigen Johann Georg Schlosser, mit dem der Autor zum Zeitpunkt ihres Kennenlernens schon länger in engerem brieflichen Kontakt steht.11 Zwischen ihr und Lenz entwickelt sich 10 Dem starken Praxisbezug dieser (in Lenzens Diktion) Predigten liegt das Verständnis einer ,,weltliche[n] Theologie" - im Gegensatz zur ,,eigentliche[n] Theologie" - zugrunde (vom Autor auch schlicht „Naturalismus" genannt), das Lenz sich nicht mit metaphysischen Gegenstanden („mit unserm Zustande nach dem Tode und unserer Bestimmung dahin") beschäftigen ließ, sondern ganz diesseits- und gesellschaftsbezogen „mit unserer Bestimmung in dieser Zeitlichkeit" (SdL, 617). Es kann also keine Rede davon sein - wie etwa Damms problematische Klassifizierung der Lenzschen Schriften in 'moralisch-theologische' und 'gesellschaftspolitische' impliziert - , daß der Autor erst in einem späteren Abschnitt seines literarischen Schaffens zu vornehmlich sozial engagierten Themata vorgestoßen sei. 11 Über die von Kühle und Distanz dominierte Ehe vgl. Heinz Otto Burger: Jakob M.R. Lenz innerhalb der Goethe-Schlosserschen Konstellation. - In: Dialog. Literatur und Literaturwissenschaft im Zeichen deutsch-französischer Begegnung. Hrsg. von Rainer Schönhaar, Berlin 1973, S. 95-126. Burgers umfassende Recherche mündet im Urteil: „Cornelia konnte und wollte sich auf Schlossers Pobleme nicht einlassen und ihre eigenen ihm nicht mitteilen. Jeder mußte selbst mit seinem Leben fertig werden." (Burger, 107) Die Qualität dieser Bezie-
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nach der ersten persönlichen Begegnung rasch eine offensichtlich sehr tiefgehende platonische Beziehung, die Lenz gleichermaßen emotional wie geistig fordert und bereichert und der er in seiner 1775 verfaßten Prosa mit dem beziehungsreichen Titel Moralische Bekehrung eines Poeten12 ein literarisches Denkmal setzt. Darin schreibt er es vor allem dem Einfluß Cornelias zu, die unglückselige Straßburger LiebesaffMre der Jahre 1773/74 beendet und glücklich überwunden zu haben, sei ihm doch durch den Vergleich der ihm wesensverwandt anmutenden Cornelia mit Cleophe erst deren wahre Natur aufgedeckt worden: „ich sah allen Zauber [...] verschwinden und ein gemeines und weh daß ich's sagen muß, häßliches Porträt stand da wo mein betörter Kopf vor einem Augenblick Ideale gesehen hatte" (MB, 331). Und mehr noch, Lenz interpretiert das Zusammentreffen mit Goethes Schwester als einen der wesentlichen Marksteine seines Lebens,13 auch deshalb, weil sie ihn habe ahnen lassen, wie anders sein Dasein hätte verlaufen können, wäre er ihr statt Cleophe einst in Straßburg begegnet: Was hätt ich unter der Zeit tun was für edlere und schönere Erfahrungen machen können, an einer mir gleich gestimmten Brust. O zehn Jahre von meinem Leben hat das eine oder die anderthalb weggenommen zerstört und zernichtet, da ich in dem Dienste dieser Zauberin schmachtete. (MB, 333)
Die Freundschaft mit der knapp ein Jahr älteren Cornelia nimmt in den folgenden drei Jahren für Lenz an Bedeutung zu und läßt ihn 1776 bei ihr in seiner bis dahin wohl größten Lebenskrise Hilfe suchen und auch finden. Denn im Hause Schlosser wird ihm im Winter 1776/77 für Monate Aufnahme gewährt, nachdem Goethe, den Lenz nicht nur als Freund, sondern geradezu als einen Bruder verehrt hat, mit ihm gebrochen und im November 1776 aus Weimar hat
hung mag Lenz zu eigenen Hoffnungen ermutigt haben. Hierzu Burger: „Was Goethe bei Frau von Stein zuteil wurde, erträumte Lenz sich zu gleicher Zeit von Goethes Schwester." (Burger, 113) Kaum drei Monate nach dem Kindbett-Tod seiner Frau im Juni 1777 verlobte Schlosser, vielleicht auch mit Blick auf seine beiden Kinder, sich erneut, mit Goethes vertrauter Freundin Johanna Fahimer. Die aus dieser Verbindung 1781 entstammende Tochter Henriette Cornelia Franziska ist - dies als Exkurs - die Urgroßmutter des 1890 in Aachen geborenen Dichters Walter Hasenclever. Zu Cornelia Schlossers tragischem, auch von einer problematischen Geschwisterliebe bestimmten Leben sei ergänzend auf Sigrid Damms Studie Cornelia Goethe (Frankfurt am Main 1988) hingewiesen. 12 Lenz: Moralische Bekehrung eines Poeten. - In: WB, Bd. 2, Prosa, S. 330-353. Erst 1774 fand Lenz zur Prosa als dichterischer Ausdrucksform. Die meisten der dann entstandenen Arbeiten entsprangen einer Uberwiegend autobiographischen Intention, wurden jedoch zusehends auch in die thematische Nähe zu zeitgleich verfaßten Aufsätzen oder Vorträgen gerückt. 13 „Es gibt gewisse Zufälle in unserem Leben zu denen wir so ganz blindlings gekommen scheinen, und die gemeiniglich wenn wir uns die Mühe nehmen sie näher zu betrachten, für die ganze Einrichtung unsres Lebens bestimmend sind. [...] Das war die Frau eines meiner besten Freunde" (MB, 33 lf).
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ausweisen lassen, wo der Autor sich auf Goethes Einladung seit dem Frühjahr 1776 im Glauben an ein fortan gesichertes Auskommen aufgehalten hatte. Das Ende dieser einseitig aufgekündigten Freundschaft stürzt ihn psychisch und vor allem wirtschaftlich in eine tiefe Krise,14 und es ist der bei Schlossers in Emmendingen erfahrenen Zuwendung zuzuschreiben, daß er sie - wie seine Briefe dokumentieren - relativ unbeschadet überstehen konnte. Aber noch im Frühsommer 1777 sollte Cornelia Schlossers plötzlicher Tod den Beginn einer nie überwundenen Lebenskrise markieren. Von Emmendingen aus, wo Cornelias Gesundheit durch eine komplizierte Schwangerschaft belastet wird, reist Lenz vermutlich gegen Ende April für einige Wochen zu Lavater in die Schweiz, wo ihn im Juni durch einen knappen Brief Schlossers die Hiobsbotschaft vom Kindbett-Tod der Freundin erreicht: Lieber Lavater, lieber Lenz, lieber Pfenniger - unsre Hoffnung und Freude war umsonst. Mein armes Weib ist gestern gestorben! Ich kann Euch die Geschichte ihres Leidens nicht erzählen! Es tut mir zu weh! Auf ein andermal[.] 15
Über die unmittelbare Reaktion des Dichters ist nichts außer der augenfälligen Tatsache überliefert, daß er sich nach Erhalt dieser Nachricht, die ihn verspätet erreicht, unverzüglich nach Emmendingen begibt. In den aus den nachfolgenden Wochen überlieferten Briefen zeigt er sich dann in einer merkwürdigen Mischung betroffen, aber auch gefaßt und distanziert. Dies ist besonders augenfällig in seinem ersten Brief an Lavater, den er unmittelbar nach seiner Ankunft im Trauerhaus am 24. Juni schreibt. Sichtlich aufgewühlt gesteht Lenz darin, daß die durch Cornelias Tod nun in seinem Leben entstandene „Lücke" künftig durch nichts wieder ausgefüllt werden könne. Doch schon im nächsten Absatz berichtet er wie geistesabwesend von profanen Nebensächlichkeiten wie etwa neuen Reiseplänen, die ihn als Begleiter eines Barons zurück in die Schweiz fuhren sollen, sowie von einem Brief seines Vaters, den er Lavater zur Kenntnisnahme beilegt („Sein Brief wird Dich lachen machen, schick mir ihn bald wieder"). Erst im Postskriptum kommt er dann schließlich auf den gemeinsamen Freund Schlosser zu sprechen, über dessen Befinden er eingangs lediglich in aller Kürze zu berichten gewußt hat, er „habe sich beruhigt, wie denn aller Verlust am Ende getragen werden" müsse. Zu mehr Anteilnahme scheint Lenz nicht in der Lage, ebensowenig zum Zeigen der eigenen Trauer. 14 Vgl. Uber Lenzens Aufenthalt in Weimar unter anderem Sigrid Damms dichterische Biographie Vögel, die verkünden Land. Das Leben des Jakob Michael Reinhold Lenz. Frankfurt am Main 1989 (Erstveröffentlichung Ost-Berlin 1987), S. 227-295. Vgl. auch Schulz, 41-51, insbesondere S. 49f, wo Schulz mit Blick auf einen Aufsatz von Egon Menz (Lenzens Weimarer Eselei. - In: Goethe-Jahrbuch 1989, S. 91-105) grundsätzliche Divergenzen mit Goethe über moralische Fragen und die „am Weimarer Hofe üblichen Freizügigkeiten" als Ursache vermutet (Schulz, 50). 15 Johann Georg Schlosser an Lavater, Lenz und Pfenninger, Emmendingen 9.6.1777. - In: WB, Bd. 3, Briefe, S. 532. Cornelia Schlosser war am 8. Juni gestorben.
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Abschließend weiß er den verwitweten Freund gegenüber Lavater lediglich zu entschuldigen, weil er noch nicht persönlich geschrieben habe; Schlosser lasse 'grüßen', (vgl. dort) „wird nächstens schreiben, itzt ists ihm unmöglich".16 Es wäre aber zu kurz gedacht, schlösse man von dieser zur Schau gestellten Kühle auf den tatsächlichen seelischen Zustand Lenzens, der seine Empfindungen schließlich in seinen lyrischen Dichtungen auf eine Weise ausdrückt, wie er sie in vergleichbarer Offenheit in einem an das persönliche Umfeld Schlossers gerichteten Brief wohl kaum zu artikulieren gewagt hätte. Er tut dies unter anderem - in einem mit vielerlei autobiographischen Details aufwartenden unbetitelten Gedicht vom August 1777, das als Apotheose der verstorbenen Freundin konzipiert worden ist. Dort heißt es, ihr Tod habe ihm eine nie heilende „Wunde" geschlagen, wobei der Autor (respektive sein lyrisches Ich) sich in seiner Trauer ostentativ als den von der Verstorbenen zurückgelassenen „Gatten" bezeichnet. Nun sei sein „Schutzgeist" „dahin, die Gottheit die mich führte / Am Rande jeglicher Gefahr", die es vermocht habe, ihn einst, als sein „Herz erstorben war" (hier rekurriert Lenz auf die dank Cornelia glücklich überwundene Affäre mit Cleophe Fibich),17 wieder zu 'rühren', ihm also gleichsam neues Leben zu schenken, - das mit ihrem Tod nun wieder erstorben ι»
sei. Diese Verse zählen zu einem seiner letzten überlieferten Gedichte, denn in den Folgemonaten wird Lenz sich in einen Zustand seelischer Zerrüttung steigern, der ihn nicht nur sozial zunehmend entwurzelt, sondern auch als Autor weitgehend verstummen läßt.19 Mangels eigener Einkommensquellen ist er zudem bis zu seinem Tod im Mai 179220 auf die finanzielle Unterstützung 16 Lenz an Johann Kaspar Lavater, Emmendingen 24.6.1777. - In: WB, Bd. 3, S. 533f. 17 Vgl. hier bei Anmerkung 10. 18 Unbetiteltes Gedicht, das Lenz im August 1777 in einem Brief an Jakob und Gertrud Sarasin gesandt hat. - In: WB, Bd. 3, Briefe, (S. 545f), S. 545. 19 Vgl. hierzu die zeitgenössischen Aufzeichnungen des Waldersbacher protestantischorthodoxen Pfarrers J. F. Oberlin, bei dem Lenz zwischen dem 20. Januar und 8. Februar 1778 wohnt, und von dem er schließlich als angeblich gefährlicher Verrückter des Hauses verwiesen wird (Johann Friedrich Oberlin: Der Dichter Lenz im Steinthale. - In: Georg BUchner Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1, Heidelberg 1967, S. 436-482; Büchner konzipierte hieraus rund 50 Jahre spater seine Lenz-Novelle ). Daraufhin findet Lenz erneut bei Schlosser Unterkunft, der ihn im April beinahe ins 'Frankfurter Tollhaus' bringen läßt. Fast ein Jahr lang sorgt Schlosser für Lenz, der schließlich im Sommer 1779 von seinem in Jena studierenden Bruder Karl abgeholt und zurück ins Elternhaus nach Livland gebracht wird. Nach dem erfolglosen Versuch des Vaters, ihm eine Anstellung an der Rigaer Domschule zu verschaffen (vgl. oben Erster Teil, erstes Kapitel, Anmerkung 37), wendet sich Lenz nach Rußland. 20 Nach Aussage des Zeitzeugen J. K. Völkel soll Lenz in Moskau unter gravierenden Alkoholproblemen gelitten haben, die seinen sozialen Abstieg begünstigten. Zuletzt habe er auch „keine feste Wohnung" mehr besessen; „in trunkenem Zustande [sei er] in der Nacht vom 23.-24. Mai auf der Strasse vom Schlage gerührt worden [...], denn man fand ihn am Morgen todt, in einen alten zerrissenen Mantel eingehüllt." (Zitiert nach Schulz, 66) Erinnert sei hier an Lenzens Brief an Lavater vom Mai 1780, in dem er seine im 57. Lebensjahr verstorbene
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Dritter angewiesen, woran auch die ab 1780 in Rußland wieder aufgenommene Tätigkeit als Hofineister bei öfters wechselnden Dienstherren bzw. als Lehrer an verschiedenen öffentlichen Schulanstalten nichts Grundlegendes zu ändern vermag. Nur noch sporadisch widmet er sich nach 1777 der Schriftstellerei, etwa um sich - erfolglos - als Verfasser von Reformvorschlägen in den Bereichen Schulwesen, Wirtschaft und Militär für qualifiziertere berufliche Aufgaben zu empfehlen. Zwar verfaßte er auch einige wenige Dichtungen, darunter Lyrik, das dramatische Fragment Boris21 sowie die Kurzprosa Etwas über Philotas Charakter,22 doch dienen diese unter schwierigen sozialen Bedingungen offensichtlich nur halbherzig verfaßten und zumeist unpubliziert bleibenden Werke nicht dem ernsthaften Versuch, wieder als Dichter bei Verlegern und Publikum Gehör zu finden. 23 Zu diesen wenigen Arbeiten zählt auch das 1781 vollendete, doch bereits 1773 begonnene Schauspiel Die sizilianische Vesper™ - das für die nachfolgende Darstellung der philosophischen Grundpositionen des Autors allerdings ebenso von geringerem Interesse ist, wie auch Lenzens übrige, nicht zuletzt auch auf einen wirtschaftlichen Ertrag hin konzipierten Bühnenwerke. Weitaus größere Bedeutung gebührt dagegen seinen zu Lebzeiten zumeist unveröffentlicht bleibenden Predigten und Vorträgen, in denen der Autor ab 1771 durch die Behandlung religiöser Themen sowie von Gegenständen der Metaphysik und der Erkenntnistheorie die Grundzüge seines moralphilosophisch geprägten Weltverständnisses dargelegt hat. Von hier läßt sich der geistige, in der Begegnung mit Kant grundgelegte Zusammenhang seines Denkens und Schreibens genauer erschließen, was auch, wie angekündigt, erhebliche Konsequenzen fur das Epochenverständnis 'Sturm und Drang' haben wird.
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Mutter als „dem Trunk sehr ergeben" beschreibt (in: WB, Bd. 3, 610). In Rußland hatte Lenz auch Verbindungen zu einer Moskauer Freimaurerloge geknüpft, die zu Beginn der 90er Jahre zusehends politischen Verfolgungen ausgesetzt wurde. Die Verhaftung ihrer führenden Mitglieder am 22. April 1792 scheint Lenz „den verbliebenen Rest seiner Existenzsicherheit" genommen zu haben (Damm: Vögel, die verkünden Land. Das Leben des Jakob Michael Reinhold Lenz. - Frankfurt am Main 1989, S. 414). Über Lenzens Beziehung zu dieser Loge vgl. insbesondere Vera Gündel: J.M.R. Lenz' Mitgliedschaft in der Moskauer Freimaurerloge 'Zu den drei Fahnen'. - In: Lenz-Jahrbuch 1996, hrsg. von Christoph Weiß u.a., St. Ingbert 1996, S. 62-74. Lenz: Boris. - In: WB, Bd. 1, S. 602-603. Vermutlich zwischen 1782 und 1787 entstanden. Aus dem Jahre 1779/80 ist ein weiteres Schauspiel mit dem Titel Myrsa Potagi Uberliefert, bei dem Lenzens Autorschaft allerdings nicht gesichert ist (in: WB, Bd. 1, S. 389-417). Lenz: Etwas über Philotas Charakter. - In: WB, Bd. 2, S. 464-480. Vermutlich 1779 in Livland entstanden. Verwiesen sei hier auf Schulz, der auf jüngere Forschungen rekurriert, wenn er mit Blick auf Lenzens sporadisch verfaßte schriftstellerische Arbeiten feststellt, daß aber „von einem ganzlichen Erlahmen der Geistestätigkeit Lenz' keineswegs die Rede sein" könne. Vielmehr müßten seine „veränderten Interessen" berücksichtigt werden, die ihn sich vor allem in seiner Korrespondenz mit der Förderung der kulturellen Kontakte zwischen Russland und Deutschland und „mit wirtschaftlichen und pädagogischen Fragen" beschäftigen ließen (Schulz, 62). Lenz: Die sizilianische Vesper. - In: WB, Bd. 1, S. 359-391.
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Wie aber können diese Grundzüge des Lenzschen Weltverständnisses adäquat erläutert werden, um einen größtmöglichen Erkenntnisgewinn über die mit seinem dichterischen Werk verbundenen Intentionen zu ermöglichen? Diesen Anforderungen kann nur durch die Klärung der von Lenz verwendeten B e g r i f f e entsprochen werden, deren inhaltliche Festlegungen es möglichst klar und eindeutig aufzuzeigen gilt. Begriffe sind - wie bereits John Locke in der Vorrede seines 1670 entstandenen und 1690 publizierten Hauptwerks Über den menschlichen Verstand festgestellt hat - zunächst einmal Worte. Sie deutlich zu machen heiße, ihnen eine bestimmte wiedererkennbare Tatsache zuordnen, für die sie das Zeichen bildeten. Und diese Tatsache müsse - so Locke eine Tatsache des Bewußtseins sein, eine 'Idee' also, - die von Begriffen, von Worten bezeichnet wird, aus denen allein wir das Material unserer ganzen Erkenntnis zu gewinnen vermögen. 25 In Lockes Tradition argumentiert Kant, wenn er gleich zu Beginn seiner Kritik der reinen Vernunft betont, daß dem Menschen außer in Gestalt von Begriffen, in denen sich alles „Denken" vollziehe und die dem „Verstand [...] entspringen", „kein Gegenstand gegeben werden" könne. 26 „Durch sie allein", so Kant an gleicher Stelle über diese „Verstandesbegriffe", sei „Erkenntnis und Bestimmung eines Gegenstandes möglich." 27 So soll es die Aufgabe der folgenden Ausführungen sein, die wichtigsten Lenzschen Begrifflichkeiten zu benennen und inhaltlich zu füllen. Hierbei wird die Darstellung und Diskussion bemüht sein, diese Begriffe in der Perspektive ihres allgemeinen geistigen Zusammenhangs zu erfassen, um der isolierten Betrachtung aus dem philosophischen Kontext genommener einzelner Äußerungen vorzubeugen, die lediglich zu Mißdeutungen einlüde. Dieses Vorgehen wird eine - im Kantschen Sinne - V o r s t e l l u n g des von Begriffen begründeten, moralphilosophischen Weltverständnisses vermitteln, aus dem heraus und zu dessen Propagierung Lenz sein dichterisches Werk geschaffen hat.
25 John Locke: Über den menschlichen Verstand. - 2 Bde., Leipzig o.J. Vgl. darin die Vorrede „Schreiben an den Leser", S. 16. Vgl. auch 1. Buch, 2. Kapitel, §8 „Die Bedeutung des Wortes Idee", S. 24f. 26 Kant: KrV, 93 (A 19 / Β 33). 27 Ebd., 419 (A 310 / Β 367). In diesem Zusammenhang bezeichnet Kant die vom Verstand gebildeten Begriffe auch als „Begriffe aus reiner Vernunft" KrV, 418 ( A 3 1 0 / Β 366) bzw. „transzendente!...] Begriffe". KrV, 418 (A 309 / Β 366).
Zweites Kapitel Vernunfterkenntnis und praktische Vernunft Kritik der Begriffe und Entwurf einer allgemeinen Sittenlehre Das Vermögen sich die Dinge durch Begriffe vorzustellen heißt denken. [...] Die Analysis der Begriffe ist die Klarmachung derselben. [...] Der größte und wichtigste Theil der Philosophie besteht in der Analysis der Begriffe die wir schon haben. Die gantze Moral ist so beschaffen. Denn wie könnten wir z.E. von dem Begrif der Tugend überzeugt werden, wenn er nicht schon in uns läge. Kant: Vorlesung über Philosophische Enzyklopädie (PE, 18) [...] die Metaphysik ist eine Wissenschaft der reinen Vernunft, in der wir untersuchen, ob wir eine Ursache der Welt einzusehen im Stande sind. Aus dieser Erkenntnis können wir hernach alle praktischen Folgen auf unser Verhalten ziehen. Kant: Vorlesung über Metaphysik (M, 302)
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Elementarbestimmungen: Empfindung, Raum ... und Vernunft - Der Primat der Moral
Was ist die Welt, und wie erlange ich Kenntnis von ihr? Zu was verpflichtet mich diese Erkenntnis? Was darf ich darüber hinaus erhoffen, und welcher Mittel bediene ich mich, um meiner einmal erkannten Pflicht zu genügen? So lauten die Grundfragen, in denen Kant alles Interesse der menschlichen Vernunft, das praktische wie das spekulative, vereinigt gesehen und die er zum Ausgangspunkt des Kritizismus gemacht hat. Auch Jakob Lenz widmete sich besonders in seinen ab 1771 verfaßten Predigten ihrer Beantwortung und situierte sie dafür inmitten eines geistigen Feldes, als dessen thematische Eckpunkte er mit den Begriffen 'Freiheit', 'Glückseligkeit' und 'Gott' 1 jene drei philosophischen Gegenstände fixierte, deren Behandlung von Kant als die eigentliche „Endabsicht" der reinen, nicht-empirischen Philosophie bezeichnet 1
Der Behandlung dieser Gegenstände dienten vor allem seine Schriften Über die Natur unseres Geistes (1771-1773; in: WB, Bd. 2, Prosa, S. 619-624); Vorlesungen für empfindsame Seelen (1771/72; hrsg. von Christoph Weiss, St. Ingbert 1994) und Meinungen eines Laien den Geistlichen zugeeignet (1772-1774 - In: WB, Bd. 2, Prosa, S. 522-618).
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worden sind: nämlich die „Freiheit des Willens", die „Unsterblichkeit der Seele" und das „Dasein Gottes".2 Die erste der von Kant formulierten Grundfragen, die nach der Beschaffenheit der Welt, wirft die prinzipielle Frage nach unserer Fähigkeit auf, wie und in welchem Umfang wir als organisch determinierte Wesen überhaupt in der Lage sind, Data der uns umgebenden Welt wahrzunehmen und zu Erkenntnissen zu verarbeiten. Denn unser sinnliches Wahrnehmungsvermögen, dessen wir uns bedienen, besser: auf das wir angewiesen sind, um Wissen über die Beschaffenheit der uns umgebenden Sphäre zu erlangen, bedingt durch die Leistungskapazität seiner einzelnen fünf Sinne die Art und den Umfang der uns zugänglichen Informationen. Erst deren Auswertung kraft unserer Verstandeskräfte ermöglicht uns, eine - wie Kant formulieren würde - Vorstellung bzw. ein Bild von unserer Lebenswirklichkeit zu entwickeln. Welterkenntnis erlangen zu wollen, setzt also voraus, sich zuerst über die Eigenschaften und vor allem über die Grenzen unserer Erkenntnismittel bewußt zu werden, um darüber Schlüsse formulieren zu können, inwieweit wir überhaupt den Zustand der Welt und die von uns in ihr eingenommene Rolle angemessen wahrzunehmen und zu interpretieren vermögen. Eben dies ist die philosophische Vorgehensweise Kants, die ihn - beginnend mit den in seiner Dissertationsschrift von 1770 aufgezeigten Überlegungen über Form und Prinzipien der Sinnen- und Geisteswelt - bereits in den frühen 70er Jahren des 18. Jahrhunderts sein kritizistisches System entwickeln ließ. Den gleichen Gedankengang vollzieht Lenz, der sich eingangs eines seiner frühesten Vorträge für die Straßburger Sozietät, dem um 1771 verfaßten Entwurf eines Briefes an einen Freund, der auf Akademien Theologie studiert,3 ebenfalls mit dieser elementaren erkenntnistheoretischen Frage auseinandersetzt, um im Anschluß sein vom frühkritischen Kant beeinflußtes, aufgeklärt-religiösen Welt-Bild zu entfalten. So läßt Lenz keinen Zweifel daran, daß für ihn die Empfindungsfahigkeit, worunter er das Vermögen des rein sinnlichen Wahrnehmens versteht, den Beginn eines jeden menschlichen Erkenntnisprozesses markiert, während diesem die so erworbenen Data zuerst in „Vorstellungen" (EeB, 483) - nach dem Kantschen Verständnis in Anschauungen und Begriffen - verarbeitet werden, zu verstandesmäßigen Urteilen also, die der Mensch schließlich zu vernunftmäßigen Schlüssen miteinander verknüpft, wodurch ihm erst wirkliche Welterkenntnis zuteil werde („das gibt uns denn all unser Wissen in der Welt"; EeB, 483).
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Kant: Kritik der reinen Vernunft, S. 833 (A 798 / Β 826). Lenz: Entwurf eines Briefes an einen Freund, der auf Akademien Theologie studiert. - In: WB, Bd. 2, Prosa, S. 483-487.
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Empfindung vs. Gefühl, Leidenschaft, Begierde Doch wie füllt Lenz den Begriff der Empfindung inhaltlich aus, und wie grenzt er dieses Verständnis unter anderem gegen die in seiner Epoche pro-pagierte Empfindungsseligkeit ab? Die Antwort gibt seine zwischen 1772 und 1774 zuerst als Vortrag verfaßte, 1775 im Druck publizierte zweiteilige, religionsphilosophische Schrift Meinungen eines Laien den Geistlichen zugeeignet. Stimmen des Laien auf dem letzten theologischen Reichstage im Jahr 1773. In ihr unterscheidet er die Empfindung grundsätzlich vom Gefühl, wobei er letzteres als „angenehme Kützelung und Bewegung unserer Lebensgeister" beschreibt, das den „Umlauf unseres Geblüts" (MeL, 526f) 'beschleunige, erleichtere und beglücke' (vgl. MeL, 526). Doch dies sei eben „noch nicht Empfindung", denn nur „um einen Ton tiefer gestimmt" gehe das gleiche „bei allen Tieren [...] vor" (MeL, 527). Doch sei der Mensch grundsätzlich über den Zustand des Tierischen erhoben und strebe deshalb - so Lenz in seinen um 1771/72 niedergeschriebenen 'Lebensregeln' - mit allen „Kräften zu Gott, der höchsten Quelle alles Guten und aller Glückseligkeit" (ML, 488). Von diesem Weg könne der einzelne allerdings durch einen übermächtig werdenden Einfluß des Gefühls jederzeit abgelenkt werden, denn allzu leicht nur werde durch ,,moralische[...] Unvollkommenheit" aus einem „lebhaften Gefühl eine sich wider Vernunft, Ordnung und Gott empörende Leidenschaft", die sich durch „Unmäßigkeit und Zügellosigkeit" in der Befriedigung von „Begierden" ausdrücke (ML, 488). Um in diesem Kontext den Begriff der Begierde zu klären, differenziert Lenz sie in eine „tierische" und eine „menschliche" (ML, 488), wobei er für erstere als Beispiele die elementaren Begierden des Hungers und des Durstes benennt. Als 'menschlich' gilt ihm vor allem die des Vergnügens, zu der er wenn sie „alsdann in Wildheit und Raserei ausartet" - als ihre gefährlichste Ausformung die Wollust zählt. Des weiteren benennt er die menschlichen Begierden der Eitelkeit (die die „Faulheit unserer Seele mit dem Durst nach Vergnügen immer vergesellschaftet") und der Eifersucht („die nichts als Neid, Mißtrauen oft nur gar Scheuigkeit und Furcht zum Grunde hat"; ML, 488).4 4
Im Zusammenhang seines Aufrufes zur Mäßigung vor allem der schlechten Begierden führt Lenz in seinen 'Lebensregeln' ein Beispiel auf, dem - außer einem ganz persönlichen Hintergrund - womöglich auch ein spezieller Bezug auf Kant zugrunde liegen mag. Die Begierde der Eitelkeit wird Lenz nämlich zum Stichwort, um „Mäßigung [...] in allen [...] Prätensionen unsers Körpers" einzufordern, „der sich sollte genügen lassen wenn er Nahrung und Kleidung" habe. Zu letzterer fügt er wohl nicht frei von Hintergedanken hinzu, daß diese „übrigens so schlecht sein [möge] als sie wolle" (ML, 494). Hierzu sei erläutert, daß Kant sich stets durch äußerste Bescheidenheit bei der Wahl seiner Kleidung ausgezeichnet hat und sie weit über Gebühr aufzutragen pflegte (woran auch der seit Mitte der 60er Jahre in seinen Diensten stehende Diener Martin Lampe nichts zu ändern vermochte), so daß Freunde und Kollegen sich öfters - wie Kants Biographen berichten - genötigt sahen, mittels Kleiderspenden den ärmlichen Aufzug des beliebten Dozenten wenigstens vorübergehend zu sanieren.
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Empfindungen hingegen - so Lenz in seinen Meinungen eines Laien - stellten ein „geordnetes, in Verhältnis gebrachtes Gefühl" (MeL, 527) dar, „das gewissen Vorstellungen untergeordnet" sei; sie drückten ein „Gefühl unsrer Seele" (MeL, 527) aus. In Kants Vorlesung über Praktische Philosophie finden wir die gleiche Differenzierung von Empfindung, Gefühl, Leidenschaft und Begierde vor,5 die zu den gleichen Schlußfolgerungen in ähnlichen Formulierungen gelangt. So warnt Kant vor der Steigerung des „Gefühl[s] bis zum Affect", (PP, 204) werde eine dadurch „zügellose Begierde" doch „alsdann eine Leidenschaft" (PP, 204), „eine Art Raserey, und ist zwischen ihnen [den Leidenschaften] und der Raserey kein Unterschied, als daß man sich von ersterer eher recolligiret" (PP, 206). In diesem Zusammenhang spricht er auch von „der blinden Sinnlichkeit der Menschen, die sich nicht selbst regieren" (PP, 204) könnten, und läßt seinen Gedankengang in der Erkenntnis münden, daß „unsere Gefühle [...] das Mittelmaaß" (PP, 204) erforderten („Wir handeln ganz wieder [sie!] die Vernunft, wenn wir die Gefühle bis zu den Affecten steigen laßen, weil sie dadurch die Oberherrschaft der Vernunft abschütteln"; PP, 205). Denn erst dadurch würden „wir Meister von uns selbst" (PP, 204) und gelangten zu „Sittlichkeit" und „Klugheit" (PP, 206). Schließen wir an dieser Stelle wieder bei Lenzens letztzitierter Bemerkung an, die auch deshalb bemerkenswert ist, weil er in ihr den Gedanken vorbereitet, den Begriff der Seele als Synonym für den der Vernunft zu gebrauchen. Denn der Seele spricht Lenz - ohne jegliche religiös-spirituelle Implikation an dieser Stelle rein vernunftmäßige Attribute zu und stellt hierzu unmißverständlich fest: „Die Kraft, die in uns Vorstellungen abreißt, sammlet, ordnet, unterordnet, in Verhältnis zu einander bringt, ist unsere Seele, unsere Vernunft" (MeL, 527). Dank 'unserem Körper' (vgl. MeL, 527) „in immerwährender Bewegung", (MeL, 527) sei sie in der Lage zu 'handeln' (vgl. MeL, 527)], während sie im Zustand des Empfindens 'ruhe' (vgl. MeL, 527). Während das „Denken [...] eine Handlung" darstelle, beschreibe das „Empfinden einfen] Zustand", der allerdings der Handlung so nahe stehe, daß es im Rahmen einer systematischen Unterscheidung schwer falle, „diese so innig mit einander verwebten Modifikationen unsrer Kraft von einander zu reißen und vor unser Anschauen zu bringen". Hieraus folgert der Autor, der Mensch könne offenbar „nichts empfinden", was er „vorher nicht in einem gewissen Verhältnis gedacht, vorgestellt" habe, und ,je nachdem dies Verhältnis größer, mehr umfassender, richtiger und deutlicher, je nachdem [ist] auch unsere Empfindung" (MeL, 527).6 5 6
Vgl. hierzu den diese Einzelbegriffe differenzierter analysierenden Zweiten Teil. Auch Martin Rector beschäftigt sich mit Lenzens Bestimmung des Begriffs der Empfindung in seinem Aufsatz Optische Metaphorik und theologischer Sinn in Lenz ' Poesie-Auffassung, den er als streng unterschieden von einer sensualitischen Definition würdigt (in: Jakob Michael Reinhold Lenz. Studien zum Gesamtwerk, hrsg. von David Hill, Opladen 1994, S. 11-
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In diesem Kontext ist es wichtig zu betonen, daß Lenzens Urteil über das in seiner Epoche nicht nur in der Literatur grassierende Phänomen der Empfindsamkeit mit seinem erkenntnistheoretischen Verständnis des Begriffs Empfindung nichts gemein hat. Hierzu führt er in Stimmen des Laien auf dem letzten theologischen Reichstage im Jahr 1773 aus, daß ihn das Zur-Schau-Stellen der Empfindsamkeit bzw. der ,,sensibilité"(SdL, 579) 7 „in gewissen Himmelsgegend[en]" (SdL, 579; gemeint ist Frankreich bzw. die den frz. Lebensstil imitierenden deutschen Fürstentümer) lediglich als Ausdruck der Oberflächlichkeit dieser von ihm verachteten 'galanten' Welt (vgl. SdL, 579) 8 anmute. Ganz offensichtlich scheine doch - so Lenz weiter - kaum „der Hundertste, der dies Wort" brauche, wirklich um seine eigentliche Bedeutung zu wissen, und doch werde es „so oft gebraucht, daß es fast der Grundsatz aller unsrer schönen Künste [...] geworden" sei (SdL, 579). Dies überdecke aber das eigentliche Charakteristikum der Kunst: ihre „Schönheit, die wie Gott ewig und unveränderlich, sich an keines Menschen G e f ü h l [Hervorh. d.V.] binde[...], sondern in sich selbst die Gründe und Ursachen ihrer Vortrefflichkeit und Vollkommenheit" trage (SdL, 580); eine - wie Lenz feststellt - „qualitas occulta" (SdL, 579) 9 also, mit ausgeprägt moralphilosophischem Charakter, die sich all jenen, einer gefühlsorientierten Definition der Empfindsamkeit folgenden Künstlern niemals offenbaren werde.10
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26; künftig abgekürzt „Rector 1994-11"). Weiter konstatiert er, daß Lenz ihn jedoch auch nicht „abstraktbegrifflich, wie die Erkenntnis", fasse, womit Rector implizit auf das - kritische - Vernunftvermögen rekurriert. Doch ist er sich dieser Verbindung offensichtlich nicht bewußt und gelangt wohl auch deshalb nicht zu der hieraus sich eigentlich aufdrängenden Schlußfolgerung, diese Begriffsbestimmung explizit als Verbindungslinie zur Kantschen Erkenntnistheorie zu erkennen. Statt dessen mutmaßt er, man müsse Lenzens Definition als „Versuch verstehen", den Begriff der Empfindung „vom Glaubensbegriff der orthodoxen Theologie zu trennen und mit dem Aufklärungsdiskurs" zu verknüpfen, um hierdurch den „theologischen Glauben" mit der „vemünftigefn] Erkenntnis zu versöhnen"; (Rector 1994-11, 22) - eine Analyse, die wichtige Elemente der heute dem Kantschen Kritizismus zuerkannten Verdienste benennt, ohne daß dies erkannt würde. Im Original hervorgehoben. Lenz scheint sich mit diesem Begriff direkt auf den französischen Philosophen Claude Adrien Helvétius zu beziehen, der in seinem 1758 (bzw. in Deutschland 1760) erschienenen Hauptwerk De l'esprit die 'sensibilité', das Gefühlsleben, als den wissenschaftlich erfaßbaren Grund aller Tätigkeiten des menschlichen Geistes erklärte. Damit richtet Lenz sich nicht zuletzt gegen den deutschen Adel an sich, dessen angebliche sittliche Verkommenheit und intellektuelle Begrenztheit er vor allem nach seinen am Weimarer Hof gemachten bitteren Erfahrungen in seiner 1777 niedergeschriebenen Prosadichtung Der Landprediger mit drastischen Worten anprangert. So zeichneten sich dessen Angehörige durch „das Rauhe, Herbe und Ungenießbare des Adelstolzes" aus, der „alle Hochachtung [...] zu Boden schlägt und den gerechten Stolz aller edlen Menschen wider sich empört". „Rechnet man dazu die Leerheit in der Seele, die dieses ewige Aufblähen ihrer selbst verursacht, so wird man ihren Zustand, anstatt ihn zu beneiden, in der Tat eher zu bedauern versucht werden." (DL, 431)
9 Im Original hervorgehoben. 10 Vgl. hier Drittes Kapitel.
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Diese Form der Empfindsamkeit hatte Lenz bereits vor seinem Studium in dem um 1766 entstandenen Jugenddrama Der verwundete Bräutigam kritisiert, auch wenn er zu diesem Zeitpunkt einen vernunftorientierten Gegenentwurf allenfalls erst anzudeuten wußte. Eingebettet in eine auf eine tatsächliche Begebenheit zurückgehende Fabel11 entwickelt der junge Autor ein gefühlvolles Beziehungsgeflecht, in dem die drei maßgeblichen Akteure weniger als eigenständige Charaktere denn als Repräsentanten emotionaler Zustände agieren. So steht Lenchen, die Verlobte des Freiherrn von Schönwald, für die - so Lenz bei Frauen typische reine Gefühlsorientiertheit, die vemunfimäßigem Denken keinen Raum mehr biete, für Leidenschaftlichkeit also, für unbeherrschbare Gefühlsschwankungen, aber auch für bedingungslose Hingabe an den Geliebten. Der Autor verbindet mit dieser - für die Literatur seiner Epoche typischen - Charakterisierung allerdings keine Fundamentalkritik am weiblichen Geschlecht wie in späteren Dichtungen. Denn auch wenn seine Protagonistin von ihren Affekten bis zur Selbstaufgabe getrieben wird („Ich will meinem Geliebten nachsterben, ich muß ihm nachsterben."; DvB, 30), so weiß sie doch der gesellschaftlichen Moral, die ihr vor allem körperliche Treue abverlangt, weiterhin zu entsprechen. Ihre „Hitze" der „Leidenschaften" (DvB, 33) motiviert sie zwar zu keinem sittlichen Fehlverhalten, wie etwa die weibliche Protagonistin in Lenzens bereits in Königsberg konzipiertem Folgedrama Der Hofmeister. Doch verhindert diese 'Hitze' eigenständige, freie Handlungen. Denn Lenchen bleibt stets ein von ihrer Gefühlswelt getriebener Spielball, dessen Laufrichtung sie nicht selber zu bestimmen weiß. Ganz ähnlich verhält es sich mit ihrem männlichen Pendant, dem ebenfalls von seinen Affekten dominierten Diener Tigras, der sein persönliches Ehrgefühl und seine Identität als freier Mensch von seiner Herrschaft, dem Freiherrn von Schönwald, durch eine körperliche Züchtigung elementar in Frage gestellt sieht (Tigras: „Sein Sklave bin ich nicht. Du mußt wissen, daß ich ein freier Mensch bin."; DvB, 17). Nach dieser Bestrafung wachsen bei ihm - da er nicht über das Regulativ vernünftigen Denkens verfügt - der an sich positive Freiheitswille und Ehrbegriff ins Uferlose, geraten also seine Affekte - wie Kant formulieren würde - in Raserei, und nimmt ihn ein destruktiver ,,närrische[r] Stolz" (DcB, 18) in Besitz („Es ist meine Pflicht, meine Ehre zu retten - und sollte ich auch selbst darüber unglücklich werden"; DvB, 19). Der an sich berechtigte Zorn über die erlittene Schmach steigert sich deshalb zur Mordlust, treibt ihn zur unüberlegten Tat, die letztlich aber nicht seinen Herrn, sondern ihn selbst vernichten wird. Das sowohl von Tigras wie auch von Lenchen demonstrierte, rein empfindungsgesteuerte Verhalten kulminiert im Drama in einer grundsätzlichen Fragestellung, die der Autor von Lenchens Vater artikulieren läßt: Ob es nämlich „recht" sei, sich „bei einem mittelmäßigen Leiden sogleich der Wut [seiner] Affekte"
11 Geschildert wird der Mordversuch eines Dieners an seinem Herrn wegen einer als Unrecht empfundenen körperlichen Züchtigung.
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(DvB, 27) zu überlassen? Doch diese Frage bleibt rein rhetorischer Natur, da sie vom Handlungsverlauf, durch die von den übersteigerten Affekten Tigras' verursachte Katastrophe und der bis zur Farce aufgezeigten Hilflosigkeit und Labilität Lenchens längst beantwortet worden ist. Wie aber sähe die Alternative aus? Für ein Plädoyer zugunsten der kritischen Vernunft verfügt Lenz zu diesem Zeitpunkt noch nicht über das notwendige theoretische Rüstzeug. Doch deutet seine Charakterzeichnung des Freiherrn eine bereits früh entwickelte Distanz zu grundlegenden Positionen des Pietismus an. Gleichzeitig ist aber auch die sehr differenzierte und kritische Beurteilung seiner noch von den Erkenntnissen der sogenannten Hochaufklärung dominierten Epoche augenfällig, bei der sich der junge Dichter wiederum auf originär pietistische Standpunkte stützt. Dadurch gibt der Autor eine geistige Haltung zu erkennen, auf der die von Kant vermittelten Studieninhalte später so konstruktiv aufbauen werden. Denn mit Kant verbindet ihn schon jetzt vor allem die durch den Pietismus vermittelte Ablehnung frei ausgelebter Emotionalität,12 die jedoch nicht zum Propagieren des Gegenteils, der 'kalten' Vernunft, sondern zur Suche nach einem Ordnungsinstrument führt, das dem Gefühlsleben klare Regeln vorgibt. Lenzens Schauspiel vom Verwundeten Bräutigam mutet wie eine dichterische Umsetzung dieser Suche an. Auf den ersten Blick scheint der dortige männliche Protagonist, der als Offizier für seine militärischen Fähigkeiten vom Preußischen König ausgezeichnete Schönwald, wie Lenchen ebenfalls nur die zeitgemäße Empfindungsseligkeit zu repräsentieren („ob es sich gleich für einen gewesenen Soldaten nicht schickt, zu weinen, so bin ich doch stolz auf die zärtlichen Tränen, die Sie [d.i. Lenchen] mir herauslocken."; DvB, 9). Doch will ihn der Autor damit lediglich als e m p f i n d u n g s f ä h i g schildern, nicht als von seiner Emotionalität dominiert, womit Lenz sich sowohl gegen die latente Gefühlsfeindlichkeit des Pietismus als auch gegen die Verabsolutierung einer rein rationalen Vernunftorientierung wendet. Denn im Verlauf der Spielhandlung erweist Schönwald sich nicht nur als einfühlsam, sondern auch als diszipliniert, er demonstriert ein hohes Maß an Geduld, ist aber gleichzeitig streng, besonders zu sich selbst. Und obgleich er sich als gottesfürchtig erweist, sind seine Entscheidungen - wenn auch nicht im rationalistischen Sinne - vernunftorientiert. 12 Erinnert sei daran, daß auch Kant unter starken pietistischen Einflüssen heranwuchs, die im Elternhaus besonders von seiner Mutter repräsentiert und gefördert wurden. Auch seine schulische Ausbildung im Königsberger Domgymnasium stand unter diesen Vorzeichen, da die Lehranstalt vollkommen vom Pietismus 'beseelt' (vgl. Vorländer, Immanuel Kant, I, 32) war. Kant sollte diese seine geistigen Wurzeln niemals verleugnen und trotz seiner besonders in religiöser Hinsicht großen Distanznahme noch im Alter etwa gegenüber Rink die Anhänger des inzwischen wachsender Kritik ausgesetzten Pietismus ausdrücklich in Schutz nehmen („Man sage dem Pietismus nach, was man will. Genug! Die Leute, denen er ein Ernst war, zeichneten sich auf eine ehrwürdige Weise aus. Sie besaßen das Höchste, was der Mensch besitzen kann". Kant in einem Brief an Rink. Zitiert nach Vorländer, Immanuel Kant, 1,18f).
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Bereits im ersten Akt benennt der Autor die ein solches Verhalten ermöglichenden beiden Kräfte, wenn er seinen Protagonisten die Pole seines eigenen, zeitlebends nicht mehr in Frage gestellten Weltverständnisses definieren läßt: „Religion und Vernunft" (DvB, 14). Nach Schönwalds Dafürhalten bestimmen diese beiden Größen das Geschick jedes Individuums und sind geeignet, selbst die stärkste aller Empfindungen, den Schmerz über den Verlust eines geliebten Menschen (jene „Wunde"), im Laufe der Zeit zu lindern; „Religion und Vernunft", so Schönwald, „wird sie heilen." (DvB, 14) Die im Bräutigam thematisierte Gegensätzlichkeit von bis zur Leidenschaft gesteigerten Affekten und der alles ordnenden Kraft der Vernunft rückt Lenz im Hofmeister noch stärker in das Zentrum der Spielhandlung. Bediente er sich im Bräutigam noch zweier Personen unterschiedlichen Geschlechts, um die negativen Folgen ungezügelter Emotionalität aufzuzeigen, gestaltet er im Hofmeister die weibliche Protagonistin Gustchen von Berg als Personifizierung von Unvernunft und egoistischer Begierde. In ihr, dem adligen Sproß eines ungebildeten und groben Majors, die aus Langeweile und Abenteuerlust ihren Lehrer verfuhrt, vereinen sich emotionale Unberechenbarkeit und Gefühlskälte mit sittlicher Verderbtheit. Nur ihre eigenen Bedürfiiisse als Maßstab anerkennend, richtet sie ihren sie schwängernden Lehrer Läuffer und sich selbst beinahe zugrunde, können beide nur durch die Kraft der Vernunft vor dem Schlimmsten bewahrt werden: Läuffer, indem er sich auf die in ihm ruhenden geistigen Kräfte besinnt und - unter Zerstörung seines Geschlechtstriebes durch die Kastration - die ihm zur Verfügung stehende Vernunft zu einer Neuausrichtung seines Lebens einsetzt. Und Gustchen, die aus sich selbst heraus nicht zur Überwindung ihrer Unvernunft fähig ist, profitiert schließlich von der sittlichen und verstandesmäßigen Reife ihres Verlobten, des Hallenser (!) Studenten Fritz von Berg, der ihr angesichts ihres Elends nicht nur verzeiht, sondern sich ihrer und ihres unehelichen Kindes aus tief empfundener, jede erlittene Kränkung überwindender Liebe schließlich annimmt. Der junge Student wird dadurch zur Verkörperung einer höheren Moral, die er kraft vernunftmäßiger Schlüsse wahrgenommen und für sich wie in gut pietistischer Tradition als verbindlich anerkannt hat. Da die Moral ihn aus Gründen der Vernunft zu sittlichem Handeln gegenüber seinen Mitmenschen verpflichtet, 'predigt' (vgl. DH, 95) er im Sinne des pietistischen Missionsbestrebens - dieses Moralgebot nicht nur, sondern ist als Tatmensch sogar willens, seine Nächsten notfalls zum Guten zu „zwingen" („Fritz: Ja, ich will dich zwingen, kein Schurke zu sein."; DH, 99). Lenzens Polarisieren von sittlicher Vernunftorientiertheit und moralischem Fehlverhalten auf zwei Geschlechter kann auch als allegorische Darstellung der jedem Individuum innewohnenden Möglichkeit der freien Entscheidung fur oder wider das summum bonum verstanden werden. Für diese Lesart spricht nicht zuletzt die enge Verwandtschaft Gustchens mit Fritz, die einander Cousin und Cousine sind, so daß der alle Entwicklung dominierende Konflikt von Vernunft wider Unvernunft, bei dem ihre jeweiligen Väter im gleichen Gegen-
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satz miteinander ringen, sich innerhalb eines einzigen ideellen 'Körpers' abspielt, nämlich dem einer Familie. Daß der Autor die sich im Handlungsablauf lange abzeichnende Katastrophe letztendlich aber nicht stattfinden läßt, ist dabei weniger eine Folge dichterischer Inkonsequenz oder gar einer Referenz an einen vermuteten Publikumsgeschmack als vielmehr Ausdruck seines Glaubens an die schließlich obsiegende Kraft der Verstandeskräfte. Diesen Optimismus hat Lenz auch in seiner 1770 in Königsberg verfaßten Dichtung Belinde und der Tod ausgedrückt,13 in deren „Anhang" (BuT, 36ff) er sehr differenziert die Grundzüge seines Menschenbildes aufzeigt. Nachdrücklich weist er dabei auch das rationale Vernunftprinzip zurück und steigert seine Reflexion zu einer Hymne auf die ihm gegenwärtig in Königsberg vermittelten erkenntnistheoretischen Grundlagen der - kritischen - Vernunft. Hierzu greift er den von der paulinischen Anthropologie begründeten Gedanken von der Einheit des Menschen auf und vergleicht diesen mit einer Pflanze, mit einem natürlichen Element in der von Gott geschaffenen Ordnung also. Das menschliche Individuum sei wie eine „Blume die der Flur gehöret", die zu verwelken drohe, wenn sie „ihr Gesicht" nicht zum „Himmel" und ihre „Wurzel [nicht] zu der Erde" kehren könne (BuT, 37). Denn der einzelne werde durch zwei „verschiedne Triebe" (BuT, 39) beseelt, durch „Natur und Herz" (BuT, 38) (respektive Verstandeskräfte und Affekte), die ihn gleichermaßen antrieben. Damit weist Lenz die frühaufklärerische Akzentuierung der Ratio sowie die monistische Beschreibung des Menschen entschieden zurück und betont, kein Lebewesen könne nur „Geist [...] seyn", sich also nicht „bloß der Vernunft [...] freun", nicht von „aller Sinnlichkeit entleert" existieren. „Gepflanzt in eine Körperwelt", von der er sich eben nicht losreißen könne, sei der dualistisch angelegte Mensch dazu bestimmt, „in die Sphären" zu reisen; (BuT, 38) Vernunft, vom „menschlichen Affeckt" („die Liebe") getrennt, sei lediglich wie ein „König sonder Land und Leuten", der sich „umsonst mit seiner Macht" umgebe (BuT, 39). 14 Daß die Verstandeskräfte mit den Affekten aber nicht natürlich 13 Vgl. ausführlich hier in Teil II.3 im Rahmen der Behandlung des Begriffs „Tod". 14 In seiner Schrift Über die Soldatenehen hebt Lenz um 1776 hierzu hervor, man dürfe schließlich „die Menschen nicht als M a s c h i n e n b e r e c h n e n " , was die „ E r f a h r u n g a l ler Z e i t e n [...] deutlich bewiesen" habe (ÜdS, 793). Die tragischen Folgen auf Leidenschaft begründeter Handlungen demonstriert Lenz auch in seinem um 1780 verfaßten Schauspiel Die sizilianische Vesper (in: WB, Bd. 1, S. 359-388), einer Dramatisierung der zwischen den Fürstenhäusern Anjou und Aragon aus Blutrache um 1282 geführten kriegerischen Auseinandersetzungen. Die Quintessenz dieses Werks besteht in der Erkenntnis, der Mensch müsse, statt blind den Affekten (hier vor allem dem der Rache) zu folgen, der Stimme seines Herzens folgen (durch die sich ihm der Wille der Natur, also der Wille Gottes offenbare), die ihm den Gebrauch der Vernunft gebiete. Wenn das Individuum diesem Gebot entspreche, gelange es zur wahren Größe, vermöge es - ungeachtet seiner sozialen Stellung - sich zu den höchsten Höhen emporzuschwingen (Admiral zum in diesem Sinne vorbildlichen Herold: „Du bist mein Freund! Herold! sieh in solchen Augenblicken hört aller Unterschied auf, und das menschlichste Herz ist das würdigste zu befehlen. Die Natur sprach durch dich, die Natur die diese Unnatürlichkeiten [den blutigen Konflikt] verabscheut, und obschon du ein einfältiger
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harmonieren, sondern in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen, erkennt Lenz nicht nur als nicht negativ, sondern geradezu als Ausdruck der menschlichen Freiheit, da die hieraus entspringende, wie ein innerer Diskurs geführte Auseinandersetzung das Individuum zu immer neuen eigenen Entscheidungen nötige („Vernunft ist übel angebracht, / Wenn sie nicht hat womit zu streiten."; BuT, 39). Hierbei gelte es,,glicht aus Noth", sondern „freywillig kalt" gegenüber den reinen Affekten zu bleiben, „sein Herz [zu] bezwingen", ohne dabei aber herzlos zu werden (BuT, 39). Denn nur so sei vernünftiges, und damit gleichbedeutend moralorientiertes Handeln möglich, was auch die Grundvoraussetzung für die wirkliche, von den unkontrollierten Affekten geläuterte Liebe darstelle („Wir mögen lieben, was auf Erden / Zu lieben ist! doch ungestraft / Kann nie die blinde Leidenschaft / Perpetuus Dictator werden."; BuT, 40). Doch der Mensch müsse „ein gut Gewissen" (BuT, 41) behalten und deshalb das Verkümmern seiner Natur in einem Monismus verhindern, weil „ein zu abgezogner Sinn / Das ganze Glück des Lebens raube" (BuT, 37). Deshalb - so sein Credo - mögen ruhig andere als er sich nur den Affekten oder nur der rationalen, der 'sinn-entleerten' (BuT, 38) Vernunft hingeben, er dagegen bleibe, wo ihn die Natur, wohin ihn Gottes Ordnung gestellt habe: Ein andrer flieh mit Ueberdruß / Vom Erdball ins Gebiet der Sterne. / Ich bleibe mit vergnügten Bienen, / Auf unsrer Erde lobesan, / Und mache Honig wo ich kann / Stets unter Blumen und im Grünen. (BuT, 40f)15 Hierdurch drückt Lenz ein Verständnis des Menschen aus, bei dem die Grundlagen der von Paulus im Neuen Testament überlieferten Vorstellungen weiterhin Bestand haben. Denn im Gegensatz zur griechisch-hellenistischen Unterscheidung von geistig-höherem und leiblich-niedrigem Prinzip, das für die Aufklärungsphilosophie etwa eines Leibniz entscheidende Bedeutung gewonnen hatte, konnte Lenz auch unter dem Einfluß Kants in der Tradition des von Paulus formulierten Grundsatzes von der natürlichen Einheitlichkeit (nicht zu verwechseln mit einem Monismus) des Individuums verbleiben, die beim Menschen von einem in seinen Teilen gleichberechtigten Dualismus von geistigen und sensualistischen Kräften ausgeht.16 Und in dieser Tradition wird der Mensch erst dann in seiner Ganzheit als geistig betrachtet, wenn er von Gott
Bedienter bist, kannst du deinen Feldherrn, denen ihre Leidenschaften die Vernunft nehmen, Befehle geben." DsV, 386). 15 Nicht zufällig nimmt Lenz für sich das Bild der Biene in Anspruch, die sehr wohl zum Fliegen befähigt ist, wenn auch nicht 'ins Gebiet der Steme', und ihre dabei aufrecht erhaltene Erdverbundenheit durch den Flug von einer unmittelbar erdverwachsenen Blume zur nächsten und durch das Honigmachen verdeutlicht. 16 Vgl. H.J. Wachs: Anthropologie im NT. - In: Evangelisches Kirchenlexikon. Hrsg. von Heinz Brunette und Otto Weber, A-G, Göttingen 1956, (S. 133-135) S. 134.
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ergriffen, d.h. wenn alle seine Handlungen von Gottes Willen gelenkt würden. In seiner Ganzheit fleischlich sei er hingegen, wenn er der Sünde verfalle und durch diese Feindschaft gegen Gott sich dem Tod ausliefere (NT, Röm 8,5ff).17 Kants sapere aude,iS sein Aufruf, der Mensch möge sich mutig seines Verstandes bedienen, hat keinen Gegensatz hierzu formuliert, sondern ist im Gegenteil um die Synthese der während der Aufklärung nicht zuletzt innerhalb des Protestantismus auseinanderklaffenden Lehrmeinungen bemüht. Daß Denken für den Menschen zugleich sittliche Verpflichtung bedeute, zählt ebenso zu Kants anthropologischen Grundüberzeugungen wie das Bewußtsein, der Mensch stelle ein Bindeglied zwischen der irdischen Welt und Gott dar, was ihn zur Ausrichtung nach beidem nötige, um das Sinnliche kraft seiner Verstandeskräfie mit dem Übersinnlichen zu verknüpfen.19 Der Mensch - eine Kopula; oder wie Lenz die gleiche Erkenntnis ungleich poetischer in einem diesmal anders akzentuierten Naturbild formuliert: Der Mensch - eine Blume, das Gesicht zum Himmel gewandt, die Wurzeln in der Erde versenkt (vgl. BuT, 37).
Zeit und Raum Welche Konsequenzen hat dieses Verständnis der Empfindungsfähigkeit als das grundlegende Vermögen der auf Erkenntnis abzielenden Vernunftfähigkeit des Menschen für Lenzens Überlegungen zur Beschaffenheit der Welt und der Möglichkeiten ihres Erkennens? Es ist nur konsequent, daß der Autor auch hierbei den ihm von Kant vermittelten philosophischen Grundlagen folgt. Anknüpfend an die von Kant in seiner Dissertation von 1770 ausführlich dargestellte, in der Tradition des Augustinus stehenden Raum-Zeit-Lehre, ist Lenz sich nämlich bewußt, als sinnlich wahrnehmendes Wesen lediglich ein sehr begrenztes Spektrum der Realität wahrnehmen zu können, und daß die ihm dabei zuteil werdenden Data allenfalls nur ein grobes Abbild, eine vage Vorstellung der objektiven Wirklichkeit repräsentieren; daß Zeit und Raum also reine Anschauungen darstellen und keine - diskursiven - Begriffe im Kantschen Sinne (denn als Begriffe würden Zeit und Raum als Zeichen mittelbar auf etwas Gegenständliches verweisen). Und so folgert Lenz, daß das menschliche Verständnis von Zeit und Raum nur ein Produkt derartiger Anschauungen
17 Vgl. zum Themenkomplex Tod/Sündhaftigkeit hier in II.3 den Abschnitt „Tod". 18 Ursprünglich geht dieser Ausspruch ('Wage es, weise [verständig] zu sein') auf Horaz zurück; Episteln, 1,2,40. 19 Vgl. hierzu auch in Kants Vorlesung über Metaphysik das Anerkennen Gottes als „Urheber der Welt" (M, 342) und in diesem Kontext das Bezeichnen des Vernunftgebrauchs durch den Menschen als den eigentlichen „Zweck d e r S c h ö p f u n g " (M, 344). Denn nur durch den Gebrauch der Vernunft sei wahre Erkenntnis über die mit Gottes Werk verbundene Absicht möglich.
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sei, daß Zeit und Raum also keine objektiven physikalischen Größen, keine selbständige Phänomene darstellten, sondern nur im Zusammenhang mit dem menschlichen Bewußtsein beschrieben werden könnten. Als Ausdruck einer bedingten Erkenntnisfähigkeit stellten sie nur Hilfsmittel dar, um sich in einer Welt zu orientieren, deren reale Beschaffenheit allenfalls Gott zu erfassen vermöge. Genau deshalb „finde" - so der Autor in seinen um 1770 verfaßten 'Lebensregeln' - „in Gott keine Zeit statt [...], da bei ihm alles Gegenwärtigkeit ist, und der Begriff der Zeit nur von Menschen erfunden ist, um in unsem Verstand Licht und Ordnung zu bringen" (ML, 486). In seiner Prosadichtung Der Landprediger bezieht er diese Erkenntnis von der Relativität aller vom Menschen wahrgenommenen und vermittelten Dinge auch auf jegliche Art von Lehrmeinungen - gleich ob religiöse, philosophische oder spezialwissenschaftliche - , die in ihrer Gesamtheit tatsächlich auch nichts „anders als Vorstellungsarten" darstellten (DL, 422). Eine solche Vernunfterkenntnis kann nicht ohne Folgen für die eigene Position gegenüber religiösen Standpunkten bleiben. Und so mündet sie denn auch im grundsätzlichen Infragestellen jenes fundamentalen religiösen Dogmas über die Teilung der Welt in ein Dies- und ein Jenseits, das die Annahme einer jenseitigen Existenz von Himmel und Hölle voraussetzt. Er „hasse" - so der Autor über diese vordergründig der Kantschen Raum-Zeit-Lehre widersprechende, nur sehnsüchtigen Jenseitsvorstellungen entspringende Lehrmeinung „alle die Mißgeburten menschlicher Köpfe von möglichen besseren Welten"; (EeB, 487)20 Lehrmeinungen, die ihn an dieser Stelle zu einem nachdrücklichen Bekenntnis zum aufklärerischen Ideal motivieren, das ganz in der Leibnizschen Tradition zu stehen scheint. Lenz formuliert: wenn Leibniz dem Menschenverstände keinen andern Dienst geleistet als daß er ihn erkennen lehrte diese Welt sei notwendig die beste, so hätt er schon genug getan. Denn auf keiner andern Grundfeste können wir mit all unsern Gerüsten und Leitern jemals das himmelhohe Gebiet der Wahrheit ersteigen. (ML, 487) Doch auch wenn der Autor sich an dieser Stelle auf den Präzeptor der deutschen Aufklärung beruft und damit die vor allem im lutherischen Protestantismus durch die Zwei-Reiche-Lehre gepflegte Jenseits-Vertröstung des an den irdischen Ungerechtigkeiten leidenden Individuums zurückweist,21 so liegt ihm 20 In seiner Vorlesung über Metaphysik wirft Kant gleich zu Beginn die Frage auf ob „außer dieser Welt noch eine andere Welt möglich?" sei. Durch eine Kette von Vernunftschlüssen erbringt er den Nachweis von der Einzigartigkeit dieser Welt, die das Produkt „ e i n e r o b e r s t e n U r s a c h e " - g e m e i n t i s t G o t t - d a r s t e l l e ( M , 197). 21 Luther teilt in der Tradition Augustinus' Gottes Weltregentschaft in zwei 'Regimente': das (himmlische) Reich Christi, das des Evangeliums, und das irdische, weltliche Regiment des staatlichen Rechts. Damit schuf Luther in der Lebenspraxis einen ethischen Dualismus, in dem Gottes irdisches Reich aus der Bindung an seine Gebote entlassen und der sündigen Eigengesetzlichkeit preisgegeben schien. Dies führte zu der auch von Lenz vehement vertrete-
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nichts ferner als das Proklamieren einer Weltsicht, durch die letztlich (in Leibnizscher Manier) die vollkommen logische Gesetzlichkeit des Universums unterstellt würde. Lenzens Standpunkt ist dabei jedoch ambivalent, denn einerseits scheint er - als Schüler der Kantschen Metaphysik - die beweisbare Existenz eines himmlischen Reiches Gottes nachhaltig zu verneinen, andererseits schließt er - weiterhin geprägt vom christlichen Katechismus - das mögliche Vorhandensein einer Hölle nicht mit der gleichen Entschiedenheit aus.22 Denn obschon er sich aus Gründen der Vernunft ausdrücklich von den hierüber in den Dogmengeschichte der christlichen Kirchen tradierten Vorstellungen distanziert, vermag er - getreu der pietistischen Tradition, die Bibel statt aller kirchlichen Dogmatik als alleinige Quelle religiöser Wahrheit anzuerkennen die sowohl im Alten wie auch im Neuen Testament durch die Scheidung des Totenreiches in die verschiedenen Aufenthaltsräume der Frommen und der Gottlosen überlieferten Vorstellungen nicht einfach zurückzuweisen: Soviel sehen wir nun doch wohl schon ein, daß eine Hölle, wie sie sich unsre lieben Voreltern gedacht, nie in den Sinn eines Wesens gekommen sein könnte, für welches wir die Gottheit itzt kennen lernen. Ob aber deswegen die ganze Realität dieser biblischen Vorstellungsarten zu leugnen und in das Gebiet der Undinge zu verwerfen seien, dieses wage ich einigen unsrer neuen Schriftsteller nicht nachzubehaupten. (ML, 487)
Man mag nun vermuten, daß Lenz auch seinen ehemaligen Dozenten Kant, in dessen Kollegia ihm die Leibniz-Wolffsche Philosophie fortentwickelt dargeboten wurde, als einen dieser 'neuen Schriftsteller' im Sinn gehabt hat. Hierzu sei aber darauf hingewiesen, daß Kant explizit weder die Existenz noch NichtExistenz einer außerhalb unserer Anschauungswelt liegenden Realität für bew e i s b a r erachtet hat. Denn eine solche sei, eben da sie außerhalb unserer Sphäre liege, mit unseren Erkenntnismitteln niemals zu ergründen, weshalb sich j e g l i c h e s Urteil über sie von selbst erübrige. Deshalb ist es auch nur konsequent, daß Kant die Begriffe Himmel und Hölle - zumindest in den für diese Untersuchung relevanten Kollegia-Mitschriften - tunlichst vermieden hat, da sie kirchendogmatisch besetzte Bezeichnungen darstellen, die bereits ein Urteil voraussetzen. Eingedenk dieser philosophischen Praxis wird Lenz Kant also wohl kaum zu jenen kritisierten Autoren gezählt haben, wie überhaupt Lenzens Weigerung, ein abschließendes Urteil über ein mögliches Vorhanden-
e n Kirchenkritik, das Luthertum erziehe zu Obrigkeitsgehorsam und verhindere die kritische Auseinandersetzung mit sozialen und politischen Belangen, die - so etwa nach Überzeugung des Herrnhuter Pietismus - doch wesentliches Betätigungsfeld eines praktizierten Christentums sein müsse. 22 Im Verlauf der weiteren Darstellung wird deutlich werden, daß Lenz geneigt scheint, die Welt selbst, seine konkrete Lebenswirklichkeit also, als Synonym, als Manifestation der Hölle zu interpretieren.
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oder Nicht-Vorhandensein speziell der Hölle zu fällen, die er mit der Distanzierung von jenen verbindet, die ihre Nicht-Existenz behaupten, als durchaus in der Tradition einer nachhaltig verinnerlichten kantischen Denk- und Argumentationsweise stehend interpretiert werden kann. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang, daß Lenz an anderer Stelle im Kontext einer moralphilosophischen Betrachtung über die auslösenden Faktoren und Ziele des vernunftmäßigen menschlichen Handelns 2 3 beiläufig den Begriff Hölle als Metapher für jegliche Form der (nicht zuletzt von Kant verachteten) Untätigkeit verwendet, worunter er insbesondere den Verzicht auf das vernunftgesteuerte Denken versteht („warum willst Du zur Pflanze oder Mineral zurück verwesen? Dis ist Hölle, mein Freund! Denn bedenke, welcher Glückseligkeit du quitt gehst -")· 24
Der Begriff von Gott Die derart dokumentierte Nähe zu Kantschen Denkmustern ist bei der Diskussion eines anderen Gegenstandes noch augenfälliger, und zwar bei Lenzens Auseinandersetzung mit dem Begriff von Gott. Kant hat auch in diesem Fall seit der Heranbildung des Kritizismus weder die Existenz noch Nicht-Existenz einer durch diesen Begriff bezeichneten Wesenheit für beweisbar erachtet und in seinerfrühkritischenPeriode allenfalls vernünftige Gründe zugestanden, „einen Gott anzunehmen" (M,320). 2 5 Der mit einer personalen Vorstellung 23 Vgl. ausführlich hier, Π. 24 Lenz: Supplement zur vorhergehenden Abhandlung. - In: Ders.: Philosophische Vorlesungen für empfindsame Seelen. Hrsg. von Christoph Weiss, St. Ingbert 1994, S. 19f. 25 Hervorh. d.V. Weiter führt Kant aus: „Wir müssen einen weisen Urheber der Welt voraussetzen, wenn wir die Ordnung der Natur erklären wollen; ohne einen vernünftigen Urheber bleibt das alles unerklärt" (M, 319). In seiner Vorlesung über Philosophische Enzyklopädie wird dieser Gedanke aufgegriffen und das „Daseyn Gottes" als „eine nothwendige" ebenso „practische" wie „theoretische hypothesis" bezeichnet („Auch selbst wenn ich es nicht beweisen kann"; PE, 43f). Zuvor, in seiner Dissertation von 1770, hat er allerdings erheblich kritizistischer postuliert, daß „nach den Gesetzen des menschlichen Geistes keine Anschauung irgendeines Wesens" denkbar sei, das außerhalb von Raum und Zeit existiere. Den Versuch „der Einbildungskraft", sich dennoch „Bilder" derartiger ,,Ding[e] zu entwerfen", vergleicht er mit dem unvernünftigen Versuch, einen „Bock zu melken" und dabei als Auffanggefäß „ein Sieb unterzuhalten". Als Seitenhieb auf rationale wie orthodoxe Theismen formuliert er abschätzig: „Wenn sie [die Vertreter derartiger Lehren] aber zu dem Begriffe des höchsten und außerweltlichen Wesens gelangt sind, kann man kaum ausdrücken, wie ihnen von diesen ihren Verstand umflatternden Gespenstern mitgespielt wird." Und mit Blick auf den Pantheismus beklagt der strenge Philosoph geradezu angewidert: „Die Gegenwart Gottes malen sie sich als eine örtliche und schließen Gott in die Welt ein" (Dms, 83ff). Jahre später schreibt Kant noch distanzierter in seiner Prolegomena, man müsse sich „nach einer richtigen Maxime der Naturphilosophie [...] aller Erklärung der Natureinrichtung, die aus dem Willen eines höchsten Wesens gezogen worden, enthalten, weil dieses nicht mehr Naturphilosophie ist, sondern ein Geständnis, daß es damit bei uns zu Ende gehe." (Pro, 93)
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von Gott aufgewachsene Lenz argumentiert nach Abschluß seiner Königsberger Lehrjahre nicht anders. Etwa in dem für den Grad seiner erkenntnistheoretischen Bildung aufschlußreichen Entwurf eines Briefes an einen Freund..., in der er Gott mehrfach nachdrücklich als einen reinen „Begriff" (EeB, 484) 26 bezeichnet, also - in Kants Diktion - als einen nicht vom Verstand, sondern a priori von der Vernunft erkannten Gegenstand,27 der für den Menschen nur als abstrakte Idee greif- und begreifbar sei, nie aber kraft sinnlicher Anschauung bzw. Erfahrung innerhalb der empirisch erfaßbaren Welt. Im Umkehrschluß schließt Lenz damit auch die von der Theologie behauptete, angebliche Bezogenheit Gottes auf die Welt aus, womit er an Kants in dessen Vorlesung über Metaphysik formuliertes Diktum anknüpft, daß zwischen „Gott und der Welt" kein „commercium" („wo eines das andere bestimmt und wieder von ihm bestimmt wird") existiere und Gott deshalb „nichts wieder von der Welt" (M, 212) empfange. Damit distanziert er sich auch von einem gegenständlichen Gottesverständnis, das zwischen Höchstem Wesen und der Welt des Endlichen und Sichtbaren nicht zu unterscheiden weiß, wie etwa dem des für Goethes Weltbild wichtigen Spinoza. Gleichzeitig bereitet der Autor den Boden fur ein Weltverständnis, in dessen Zentrum statt einer der christlichen Dogmatik entlehnten Gottesvorstellung eine im Kantschen Sinne als kategorisch verstandene Moralität steht (Kant: „Die Regeln der moral gebiethen categorisch und nicht hypothetisch"; PP, 134). Auf diese Weise vollzieht Lenz im Einklang mit seiner pietistischen Herkunft Kants Widerlegung der auf rationaler Metaphysik basierenden Gotteslehre der Leibniz-Wolffschen Philosophie nach, was ihm letztlich nur dazu dienen wird, die Gotteslehre aus der theoretischen in die
An dieser Stelle muß auf den doch recht unterschiedlichen Gottesbegriff in Kants Dissertation im Vergleich zu seinen Vorlesungen eingegangen werden, in denen der Dozent hinter seine Ergebnisse von 1770 zurückzutreten scheint. Dieses Phänomen einer relativen Uneinheitlichkeit ist durchaus typisch ftlr Kants manchmal einander widersprechende Verwendung philosophischer Begriffe, die vor allem im Falle des Begriffes von Gott auffällt, der in seinen Kollegia - auch noch lange nach Heranbildung des Kritizismus - oft mit einer Selbstverständlichkeit Verwendung findet, als spräche Kant Uber ein in seiner Existenz eindeutig bewiesenes Phänomen. Dies macht einen markanten, nicht zu unterschätzenden Unterschied zu der philosophisch strengen Behandlung dieses Gegenstandes in seinen Publikationen aus, der nachhaltig verdeutlicht, daß der Dozent Kant in Einzelfragen bei seinen Schülern durchaus andere philosophische Inhalte zu vermitteln verstanden hat als sie vom Schriftsteller Kant dokumentiert worden sind. 26 Lenz spricht auch vom „Begriff der Gottheit" bzw. dem „Begriff von der Gottheit". Er verwahrt sich in diesem Zusammenhang gegen das menschliche Bestreben, diesen „Begriff' inhaltlich mit menschlichen Attributen zu füllen und dadurch das eigentlich Göttliche zu mißachten, nämlich die von Zeit und Raum unabhängige Fähigkeit „alles gegenwärtig von Anfang zu Ende durch Ewigkeiten" zu überschauen; „mehr können und dürfen wir von ihm nicht sagen" (EeB, 484). 27 Kant unterscheidet u.a. wie folgt: „Durch die Sinnlichkeit werden wir nur die Form der Dinge gewahr [...] Ein jeder allgemeine Begrif ist eine Vorstellung, die als eine Regel gedacht wird." (PE, 16) Erinnert sei daran, daß allgemeingültige Urteile nach Kant nur durch vernunftmäßige Schlüsse zu erzielen sind.
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praktische Vernunft zu transponieren, also in die praktizierte Morallehre (Kant: „der theoretische Gebrauch der Vernunft [ist] derjenige, durch den ich a priori (als notwendig) erkenne, daß etwas sei; der praktische aber, durch den a priori erkannt wird, was geschehen solle").28
Philosophieren Die philosophische Praxis, die Lenz in seinen Predigten, Vorträgen und Aufsätzen pflegt, ist orientiert an jener, die ihm in Kants Vorlesungen vermittelt worden ist. Es handelt sich um eine Praxis des Philosophierens, die nicht vorgibt, ein in seiner Konstruktion abgeschlossenes Lehrgebäude darbieten zu können (womit Lenz sich einmal mehr ganz bewußt in Opposition zu der von ihm heftig attackierten protestantischen Orthodoxie stellt),29 sondern Erkenntnisse in einem freien, wenn auch relativ systematisch vorangetriebenen geistigen Prozeß entwickelt, der den Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Vernunft folgt. Schließlich wolle und könne er - so Lenz - kein „Glaubensbekenntnis" (VeP, 499) postulieren, womit er ganz in der Tradition seines Lehrers steht, der die Existenz eines verbindlichen philosophischen Lehrgebäudes als (noch) nicht existierend erachtet hatte. Deshalb bezeichnet Lenz seine gewonnenen Erkenntnisse und daraus abgeleiteten Schlußfolgerungen auch ausdrücklich als „Meinungen", die ihm „aber solange als bare Münze gelten", bis jemand sie „gegen bessere aus[zu]wechseln" vermöge (VeP, 499). In diesem Zusammenhang beruft er sich auf Sokrates und die von ihm praktizierte Methode des 28 KrV, 701 (A 633 / Β 661). 29 In seinen 'Lebensregeln' etwa schreibt er, „die Theologen" würden Gottes Botschaft wissentlich verfälschen, indem sie Gottes Wunsch nach „Gerechtigkeit" als Verlangen nach „Rache" verdrehten, wo doch die Lektüre der Bibel deutlich mache, daß Gott nur voller „Eifer ftlr unsre Beßrung" sei („es ist eine feine Linie, die Gerechtigkeit und Rache scheidet und Rache ist den Christen ganz und auf ewig verboten"). Tatsächlich habe „Gott uns unsere Sünden vergeben wolle[n]", was zeige, daß all jene, die Gegenteiliges predigten, „selbst ein sehr rachgieriges und gar nicht christliches Herz" hatten (ML, 495). In seinem Schauspiel Die sizilianische Vesper (um 1780) steigert er seine Kritik durch die entlarvende Darstellung des Geistlichen Leotychius als blutrünstigen Verschwörer, der seiner gerechten Strafe durch die Hand eines Menschen.noch entkommen kann, - um einer Art Gottesgericht anheim zu fallen (vgl. DsV, 380 u. 383f). Geradezu irreführend ist in diesem Zusammenhang Gerhard Sauders Analyse, der in seiner Darstellung der Vorlesungen Lenzens strenge Opposition zur protestantischen Orthodoxie zwar hervorhebt, mit Blick auf den von Weiß herausgegebenen und wohl parallel zu den Vorlesungen entstandenen Catechismus (d.i. die ungekürzte Fassung der 'Lebensregeln') jedoch - ohne dies durch Zitate zu belegen - Gegenteiliges zu diagnostizieren vermeint: „Im Catechismus kehrt er allerdings wieder zu orthodoxeren protestantischen Auffassungen zurück." (Gerhard Sauder: Konkupiszenz und empfindsame Liebe. - In: Lenz Jahrbuch ¡994, hrsg. von Christoph Weiß, St. Ingbert 1994, [S. 7-29] S. 15) Eingedenk von Lenzens durch den Pietismus geprägter traditioneller Opposition zur protestantischen Orthodoxie verweist jedoch bereits die Formulierung, Lenz 'kehre' zu jenen 'Auffassungen zurück', auf ein grundsätzliches Mißverständnis Sauders hin.
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Philosophierens in Gestalt frei entwickelter Gedankenketten, die schon Kant als vorbildlich für seine eigene Unterrichtspraxis bezeichnet hatte.30 Die jeweiligen Resultate der auf diese Weise vollzogenen Verstandesoperationen („Philosophie [ist], der gesunde Gebrauch unsers Verstandes"; SdL, 572) - die nach Kant von ihrem Charakter her auf keinen Fall rhapsodisch, sondern systematisch angelegt sein müssen31 - betrachtet Lenz als Bausteine eines in seiner Struktur durchkomponierten Gedanken-, wohlgemerkt nicht eines Lehrgebäudes, für dessen Übernahme er bei seinen Rezipienten nachdrücklich wirbt. Dies jedoch ausdrücklich unter dem Hinweis der Freiwilligkeit, denn in Abschwächung nicht zuletzt des rigorosen pietistischen Missionsgedankens ist sein erklärtes Bestreben zu überzeugen, nicht zu indoktrinieren.32 Erst mit dieser Intention handele er - so sein Selbstverständnis - „als Philosoph"; (SdL, 600) und was es heiße, als solcher zu belehren, oder - um es in seiner Diktion zu formulieren - zu 'reden' (vgl. SdL, 600), verdeutlicht er an seine Zuhörer gewandt durch seine expressive Aufforderung: „ich reiße Sie mit meinem System fort, schwimmen Sie eine Weile mit mir, hernach sollen Sie Ihre Freiheit wieder haben" (SdL, 600).
Verstand Das Begriffsrepertoire, dessen sich der Dichter bei der Entwicklung seines 'Systems' bedient, verdeutlicht einmal mehr die in Königsberg erfahrene geistige Schulung und die Unterschiede zu der seine Epoche dominierenden Leibnizschen Philosophie. So differenziert er in Kantscher Diktion die beiden besonderen Erkenntniswege des menschlichen Denkvermögens als den des Ver30 Wichtig ist in diesem Zusammenhang jedoch, daß Kant mit zunehmendem Alter und parallel zur Vollendung seines kritizistischen Systems von dieser Methode des Philosophierens immer mehr abrückte und den griechischen Philosophen schließlich in seinem Spätwerk Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) nachsichtig als 'Orakel' apostrophierte, dessen zu unsystematischer Methode er nun die Erkenntnisse der 'studierten Wissenschaft' gegenüberstellte (vgl. dort, hrsg. von Karl Vorländer, 7. Aufl., Hamburg 1980, S. 28f sowie S. 116). 31 Vgl. hierzu Kants Methodenlehre, zu der er in seiner Kritik ausführt, als Wissenschaft betriebene Philosophie müsse 'architektonisch' angelegt werden; KrV, 860 (A 832 / Β 860). 32 In einem Brief an Salzmann bezeichnet Lenz die Produkte seiner freien Denkprozesse auch als „Kartenhäuser", die er sich im Disput mit anderen auch gerne „niederreißen lasse"; „weil in einer Stunde wieder ein neues da" sei. Auf seine pietistische Herkunft und wohl insbesondere auf die pietistische Praxis einer individuellen Bibelexegese anspielend, betont er, bereits „von Kindesbeinen an" als „Philosoph verdorben" worden zu sein, womit er sich einerseits gegen jegliche geistige Dogmatik ausspricht, aber auch dagegen, sein freies Philosophieren einem festen System unter zu ordnen. Eine hierdurch wohl nur scheinbar mögliche „lange Kette von Ideen, wo eine die andere gibt", bis man „die letzte find't", also bis ein komplettes philosophisches System erbaut wäre (das Kant zu Beginn der 70er Jahre im übrigen als vermutlich niemals konstruierbar erachtet hat), empfände er als „Sklavenkette", der das freie 'Herumspringen' „auf blumigten Wiesen" in jedem Fall vorzuziehen sei (Lenz an Salzmann, Landau, Oktober 1772. - In: WB, Bd. 3, (S. 284-287) S. 285.
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standes und den der Vernunft. Unter dem Begriff Verstand versteht er die empirische Erkenntnisfähigkeit des Menschen, die auf sinnlichen Erfahrungen aufbaue und Wissenserweiterung durch strikt aufeinander folgenden Gedankenketten zulasse („eine unendliche Reihe von Begriffen aus einem ersten einzigen Begriff herzuleiten"; VeP, 500). Von Kant wird dieses heuristische Prinzip als das Vermögen des Verstandes beschrieben, aus Begriffen („d.i. eine Kenntniß von Dingen durch allgemeine Vorstellungen"; PE, 16) Urteile („Urtheile, wenn ich im Verhältniß etwas erkenne"; PE, 16) zu bilden, das nicht mit dem weit höheren geistigen Vermögen verwechselt werden dürfe, vernunftmäßige Schlüsse zu bilden („Schlüße, sind das Verhältniß der Urtheile unter einander"; PE, 16).33 Auf der Grundlage dieser erkenntnistheoretischen Prämissen verurteilt denn auch Lenz die rational ausgerichtete philosophische und wissenschaftliche Praxis seiner Gegenwart, an der er bemängelt, sie lasse leichtfertig die Dominanz jenes rein verstandesorientierten Erkenntnisverfahrens in allen Lebensbereichen zu. „Der menschliche Verstand", fuhrt er hierzu aus, ist von der Art, daß er in jeder Wissenschaft, oft in seiner gesamten Erkenntnis, auf ein erstes Principium zu kommen strebt, welches alsdenn die Basis wird auf der er baut, und, wenn er einmal zu bauen angefangen, von welcher er nie wieder abgeht, es müßte dann der Herr vom Himmel selber herabfahren und ihm die Sprache verwirren. Soli ich aufrichtig reden, so deucht mich dieses Verfahren des menschlichen Verstandes allemal ein wenig vorwitzig. (VeP, 500)
Eben weil der Mensch von Natur aus ein 'zusammengesetztes Wesen' (vgl. VeP, 500) sei, bestehend aus „Materie" und „Seele" (VeP, 500), dürfe er sein Erkenntnisbestreben nicht ausschließlich auf Erfahrungen der empirisch faßbaren Welt konzentrieren. Vielmehr müsse er sein Augenmerk über diese hinaus auf eine nur geistig sich erschließende Wirklichkeit richten. „Mich deucht", formuliert er weiter, „wir haben in der Republik der Gelehrten Erfahrungen genug gehabt, wieviel Irrungen schon aus der gefährlichen E i n h e i t s s u c h t , dem Bestreben, alles auf eins zurückzubringen, entstanden." (VeP, 500) Mit dieser Formulierung, mit der er vielleicht auch auf Klopstocks umstrittene, ihm womöglich bereits durch einen Vorabdruck bekannt gewordene Prosaschrift Die deutsche Gelehrtenrepublik (1774) anspielt, weist er implizit das LeibnizWolffsche philosophische System zurück, das bis zu Kants Auftreten die deutsche Philosophie des 18. Jahrhunderts beherrscht hat, und dessen mechanisti-
33 Vor dem Hintergrund dieses Prinzips, daß Wissen durch das Ziehen von Schlußfolgerungen erweitert wird, bewertet Lenz auch die menschliche Furcht (die gleichermaßen Produkt wie Ausgangspunkt von Schlußfolgerungen über mögliche Gefahren und negative Konsequenzen einer Sache sein kann) als positiv, da sie einen wichtigen Motor für die Entwicklung der Geisteskräfte darstelle; „entwickelte sich [des Menschen] Verstand mit seiner Furcht" (MeL, 534).
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scher Naturerklärung, der Annahme einer rein logisch konstituierten Gesetzlichkeit des Universums, Lenz nicht zu folgen vermag.
Vernunft In seinem Vortrag Entwurf eines Briefes... widmet Lenz sich jenem von Kant als einzig maßgeblich erkannten menschlichen Erkenntnismittels - „unsere Vernunft" (EeB, 483) - , durch das sich dem Individuum die Möglichkeit zur Wissenserweiterung eröffiie. Dabei weiß er in der Tradition Kants der Vernunft den ihr gebührenden Rang in der Hierarchie des menschlichen Erkenntniserwerbs (Sinnlichkeit, Verstand, Vernunft) ebenso präzise zuzuordnen, wie auch die mit ihr verbundenen Möglichkeiten - und Grenzen zu differenzieren. Lenzens Überlegungen liegt Kants Prämisse zugrunde, der Verstand sei rein an die Erfahrung gebunden, weil alle Erkenntnis schließlich auf sinnlichen Anschauungen basiere; - eine Feststellung, mit der Kant nur scheinbar an die Tradition des Empirismus anknüpft, da sie von der Überlegung flankiert wird, daß der Erfahrung selbst apriorische Voraussetzungen bzw. Verstandesgesetze zugrunde lägen und es Aufgabe der Vernunft sei, all jene vom Verstand gebildeten, auf Anschauungen basierenden Begriffe auf eine höhere Einheit zusammenzuführen, - also das den Einzeldingen übergeordnete Ganze in seinem umfassenden Zusammenhang zu begreifen. In Lenzens Entwurf eines Briefes... beginnt die Argumentation mit der Feststellung, daß nach allgemeinem Verständnis derjenige angeblich über großes Wissen verfuge, der sich möglichst „viel V o r s t e l l u n g e n " (EeB, 483; Hervorh. d.V.) erwerbe. 34 Diese sinnlich erworbenen Vorstellungen bzw. - in Kants Worten - Bilder, „die in Empfindungen oder auch wohl nur in bloßes Gefühl" übergingen, würden „Begierden, Leidenschaften, oder wenn der Geist edler und stärker, Entschlüsse und Handlungen" auslösen, die der Verstand miteinander „vergleicht, also in ihren Folgen übersieht und daraus Endschlüsse [Kant hätte sie als Urteile bezeichnet] zieht". Diese gelten jedoch „nur für den Kreis von Wirkungen [...], den [die] Erfahrung gezogen" habe. 35 Einzig „unsere Vernunft" - entwickelt Lenz seinen Gedanken fort - könne „eine jedesmalige Erfahrung [...] ins Unendliche mit andern eigenen und fremden Er-
34 Bereits diese eine Formulierung verdeutlicht die nachhaltige Rezeption von Kants frUhkritischem Idealismus. Denn sie ist Produkt der Erkenntnis, daß jegliche vom Menschen sinnlich erfahrenen und anschließend als Begriffe und Urteile interpretierten Data nicht die Realität repräsentieren, daß sie also nicht das tatsächliche Sein der Welt wiedergeben, sondern nur Anschauungen bzw. V o r s t e l l u n g e n über diese Welt, weshalb diese in der Gestalt unserer Wahrnehmung auch als eine Welt der Erscheinungen bezeichnet werden müsse. 35 Vgl. im Vergleich hierzu Kants Definition in seiner Prolegomena von 1783, wo es auf S. 89 heißt, daß der „Gebrauch" von „Verstandesbegriffen [...] nur i m m a n e n t " sei, „d.i. auf Erfahrung geht".
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fahrungen" vergleichen und „neue a l l g e m e i n e [Hervorh. d.V.] Endschlüsse daraus" ziehen; dies gebe „uns denn all u n s e r W i s s e n [Hervorh. d.V.]" (EeB, 483). 36 Etwa zeitgleich um das Jahr 1771 ergänzt Lenz diese an die kritische Erkenntnistheorie anknüpfende Feststellung in seinen 'Lebensregeln' implizit durch ein aufschlußreiches Werturteil, das vor seinem Studium undenkbar gewesen wäre. So nennt er im Kontext der Frage, wogegen sich der Mensch in erster Linie versündige, wenn er vom ihn zur Glückseligkeit hinführenden Pfad der Tugend abweiche, in durchaus programmatisch zu verstehender Reihenfolge „Vernunft, Ordnung und Gott" (ML, 488). Auch in der Mitschrift von Kants Metaphysik-Vorlesung ist eine vergleichbar prägnanter Gedanke überliefert, durch den der alles andere überragende Stellenwert der Vernunft hervorgehoben wird und der fur Lenz in dieser oder einer ähnlichen Formulierung durchaus zur Richtschnur seines philosophischen Denkens geworden sein könnte. So ist Kant dort mit den Worten protokolliert: „der G e b r a u c h d e r V e r n u n f t ist n i c h t u n s e r V o r w i t z , s o n d e r n u n s e r e P f l i c h t , j a der Z w e c k der S c h ö p f u n g s e l b s t . " (M, 344) Wie nachhaltig Lenz diese Grundüberzeugung nicht nur vordergründig rezipiert, sondern auch die Feinheiten der dahinterstehenden Erkenntnistheorie wahrgenommen und konstruktiv verarbeitet hat, wird in seinen Stimmen des Laien... deutlich. Dort erweist er sich als sensibel für die von Kant aufgezeigten natürlichen Grenzen jeglicher Vernunfterkenntnis, wenn er feststellt, daß die Vernunft „sich keinen Zoll, keine Linie über den Kreis der allgemeinen Erfahrungen" erheben könne. Doch schränkt er diese Feststellung sogleich durch die Aussage ein, daß er lediglich auf die „verglichenen besondern Erfahrungen" abziele, aus denen der einzelne „Schlüsse" ziehe, „die dem ungeübtem Auge Uber diesen Erfahrungskreis herauszugehen scheinen, die aber eben so wenig wirklich drüber herausgehen können, als ein Stein höher fliegen kann, als ihn die angewandte Kraft oder Stoß bestimmt." (SdL, 600) Damit reflektiert er Kants Verständnis der Vernunft als das „ganze obere Erkenntnisvermögen", 37 das dem Empirischen entgegengesetzt sei, die kollektive Einheit aller möglichen Erfahrung umfasse und diese mittels Schlußfolgerungen systematisiere („alle unsere Erkenntnis hebt von den Sinnen an, geht von da zum Verstände und endigt bei der Vernunft, über welche nichts Höheres in uns angetroffen wird"). 38 Den Gedanken, daß die Grenzen der Vernunft sich dabei - wie es Lenz formuliert - 'keinen Zoll, keine Linie über den Kreis der allgemeinen Erfahrungen' hinaus erheben könnten, finden wir bei Kant in ähnlicher Formulierung vor, wenn er - Mißverständnissen vorbeugend, die aus seiner Differen36 Weiter heißt es, daß „die Grenzsteine unserer Erfahrung und also auch der daraus entstandenen Vernunft nie dieselben bleiben, sondern in Ewigkeit fort immer verrückt werden, nur daß die Erweiterung derselben die vorigen Kreise immer mit in sich schließt, oder unter sich begreift, diese also deswegen durchaus nicht verloren sind". 37 KrV, 863 (A 835 / Β 863). 38 Ebd., 409 ( A 2 9 8 / Β 355).
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zierung der Vernunft „in ein logisches und ein transzendentales Vermögen"39 resultieren mögen - unmißverständlich feststellt, daß „alle Vernunft im spekulativen Gebrauche [...] niemals über das Feld möglicher Erfahrung hinauskommen könne", weil - eingedenk unserer Beschränkung auf die sinnlich wahrnehmbare Welt - außerhalb dieser „für uns nichts als leerer Raum" existiere.40
Apriorische Erkenntnis / Zweck der Philosophie Im diesem Kontext muß auf die fern aller Erfahrung von der Vernunft apriorisch zu erlangenden Erkenntnisse reflektiert werden, was - so man Kants Argumentationskette folgt - zur Frage nach dem eigentlichen Zweck jeglicher systematisch betriebenen Philosophie hinführt. So spezifiziert der Königsberger Dozent etwa in seiner Vorlesung über Philosophische Enzyklopädie die höchste menschliche Erkenntnisfähigkeit, indem er ausführt, daß Vernunft, „wie sie ohne alle Erfahrung urtheilt", lediglich in der Mathematik denkbar sei, in der „die Sätze entlehnt aus der reinen Anschauung ohne alle Erfahrung" existierten (PE, 40). Demnach müßte sie auf allen anderen Gebieten also an die Erfahrung gebunden sein. Aber sind denn nicht doch vernünftige Schlußfolgerungen bzw. synthetische Urteile über Gegenstände möglich, deren Vorstellung dem Menschen kraft seines Verstandes unmöglich ist, da sie sich seiner sinnlichen Anschauung entziehen? Kant verneint dies ausdrücklich („Ueber die Gegenstände der Erfahrung darf sie nicht gehn."; PE, 40), ohne deswegen aber für den Empirismus zu argumentieren, gesteht er doch der Vernunft die Fähigkeit zu, „allgemeine Regeln a priori von der Erfahrung ganz abgesondert zu erkennen" („Z.E. Alles Zufällig muß eine erste Ursache haben; das lehrt nicht die Erfahrung"; M, 242f). Diese apriorischen, allgemeingültigen Erkenntnisse stellten Erkenntnisse nicht-psychologischen Ursprungs dar, die Kant auch als 39 Ebd., 410 (A 299 / Β 355f). In seiner Vorlesung über Metaphysik bietet Kant folgende Definition der drei Geisteskräfte Verstand, Urteilskraft und Vernunft dar, die er auch summarisch als das „obere Erkenntnißvermögen" bezeichnet: Dieses „bestehet also 1) aus einem allgemeinen Urtheile; 2) aus der Subsumtion unter dieses Unheil, und 3) aus dem Schlüsse. [...] Verstand ist das Vermögen, aus dem Allgemeinen das Besondere - die Urtheilskraft, aus dem Besonderen das Allgemeine - und die Vernunft, das Allgemeine a priori zu erkennen, und aus den mannigfaltigen Erscheinungen Regeln zu sammeln. [...] Vernunft ist das Vermögen, allgemeine Regeln a priori von der Erfahrung ganz abgesondert zu erkennen. Z.E. Alles Zufällige muß eine erste Ursache haben; das lehrt nicht die Erfahrung. [...] Wenn ich mit meinen Erkenntnißkräften nicht weiter gehe, als nur so weit die Erfahrung es bestätigen kann; so ist das der gesunde Gebrauch der Erkenntnißkräfte." Hierbei unterscheidet Kant zwischen dem „gesunden" und dem „spekulativen Gebrauch" der Erkenntniskräfte, wobei er unter „spekulativ" das Vermögen versteht, „ohne Erfahrung die Regel zu gebrauchen", weil der „Grund des richtigen Gebrauchs nicht in der Erfahrung, sondern in allgemeinen Gründen" liege, also a priori vorliege (M, 241-244). 40 KrV, 755 (A 702 / Β 730).
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„rein" bezeichnet, da ihnen „nichts Empirisches beigemischt" sei. Denn sie fänden „schlechterdings von aller Erfahrung unabhängig"41 statt und gingen jedem Erkennen logisch, nicht zeitlich voraus, weshalb sie die Quelle aller metaphysischen (d.h. jenseits der Erfahrung liegenden) Erkenntnis darstellten. Als die in dieser Hinsicht wichtigste vom Menschen zu erlangende Erkenntnis bezeichnet Kant die der moralischen Gesetze („durch die Vernunft völlig a priori gegeben")42, weil „die letzte Absicht der weislich uns versorgenden Natur, bei der Einrichtung unserer Vernunft, eigentlich nur aufs Moralische gestellet" worden sei.43 Damit beantwortet Kant nun auch die zweite seiner eingangs formulierten vier Grundfragen, in denen er alles Interesse der menschlichen Vernunft vereinigt gesehen hat: wozu denn die Erkenntnis der Welt das Individuum eigentlich verpflichte? Hierüber heißt es in seiner Kritik der reinen Vernunft, der „Endzweck" aller Erkenntniserweiterung ziele auf „die ganze Bestimmung des Menschen" ab, „und die Philosophie über dieselbe heißt Moral".44 Letztlich nichts anderem als der Entwicklung eines 'Systems der reinen Sittenlehre'45 diene also jegliche systematisch betriebene Philosophie, denn der „praktische Nutzen" dieser spekulativen Wissenschaft realisiere sich erst, so Kant in seiner Prolegomena, wenn „der spekulative Gebrauch der Vernunft in der Metaphysik mit dem praktischen in der Moral notwendig Einheit" habe (Pro, 132).
Praxis der Moral Mit dieser Schlußfolgerung verbindet der Königsberger Dozent die für alle Philosophierenden geltende Verpflichtung, über die Grundsätze der Moral nicht nur zu theoretisieren, sondern ihre Verwirklichung auch selber im alltäglichen Leben anzustreben. Nachdrücklich pflegte er deshalb auch seine Studenten in diesem Sinne zu ermahnen, wenn er etwa in seiner Vorlesung über Praktische Philosophie Diogenes' Definition der Philosophie als „kurtzen Weg" zur Tugend aufgreift und fordert, wahre Philosophen „sollten leben wie sie lehrten" (PE, 9). Schließlich, so sein protokollierter Appell an die junge Zuhörerschaft, dürfe man „doch nicht immer speculiren, sondern auch einmal an die Ausübung denken" (PE, 12). Diese an pietistische Grundüberzeugungen anknüpfende Forderung sollte bei Lenz einen bleibenden Eindruck hinterlassen und ihren Widerhall auch in seinen Dichtungen finden. Unter anderem ist dies in der um 1775 entstandenen Komödie Die Freunde machen den Philosophen der Fall, in der der Autor 41 42 43 44 45
Ebd., 45 (B 3). Ebd., 835 (A 800 / Β 828). Ebd., 835 (A 8 0 1 / Β 829). Ebd., 866f (A 840 / Β 868). Vgl. ebd. 867 (A 840 / Β 868).
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seinen Protagonisten Strephon an zentraler Stelle energisch gegen jegliche nur geistig wirkende „Philosophie" argumentieren läßt. Denn Philosophie bedürfe stets ihrer unmittelbaren Anwendung durch eine von ihr gelenkte Handlung, so Lenz, wohl wissend, „daß ein bloßer Beobachter nur ein halber Mensch sei" (DF, 311). Dieses Verständnis resultiert auch aus Lenzens Definition des Begriffs der Moral, die er zum Beispiel in seiner um 1771 für die Straßburger Sozietät verfaßten Predigt Versuch über das erste Principium der Moral als „Lehre von der Bestimmung des Menschen" bezeichnet, durch welche der einzelne über den „rechten Gebrauch seines freien Willens" unterwiesen und dadurch in die Lage versetzt werde, jene „Bestimmung zu erreichen" (VeP, 499). Doch was darf der einzelne erhoffen - um damit auch Kants dritte der vier Grundfragen über das Interesse der menschlichen Vernunft anzusprechen - , wenn er der für ihn kategorisch geltenden Morallehre freiwillig zu genügen bereit ist? Nichts Geringeres als das Erlangen der Glückseligkeit, des ewigen Lebens, das ihm von Gott selbst gewährt (oder vorenthalten) werde. 46 Daß Kant über die Morallehre nicht nur theoretisiert, sondern sie - der von ihm stets proklamierten Forderung entsprechend - den Studenten gegenüber auch nach Kräften selbst vorgelebt hat, bezeugt Lenz in seiner 1770 verfaßten Ode auf den frisch berufenen und von ihm als der „Menschheit Lehrer" (DHP, 83) gepriesenen Professor. Damit beantwortet der junge Dichter in seiner für sein weiteres Leben programmatischen Ode implizit auch Kants letzte jener vier Grundfragen, in der nach den Mitteln gefragt wird, deren sich das Individuum bedienen solle, um seiner einmal erkannten Pflicht zum Einhalten der Moralgesetze zu genügen: Er - Lenz - wolle fortan nämlich selber leben und andere lehren wie Kant (vgl. DHP, 84);47 ein Versprechen, um dessen Einhalten er sich nach Beendigung des Studiums redlich bemüht hat, sowohl als im Sinne des pietistischen Missionsbestrebens tätiger Verfasser moralphilosophischer Predigten und in vielfältiger Form vorgetragener Reformvorschläge für das Erziehungswesen als auch ganz allgemein als auf pädagogische Wirkung abzielender Schriftsteller 48 mit einem festumrissenen, moralorientierten und erkenntnistheoretisch abgesicherten Weltverständnis.
46 Vgl. ausführlich hier, II.3 „Leiden, Vollkommenheit, Moral und Glückseligkeit". 47 „Stets wollen wir durch Weisheit ihn erheben, / Ihn unsern Lehrer, wie er lehrte, leben / Und andre lehren: unsre Kinder sollen / Auch also wollen." (DHP, 84). In seiner Prosadichtung Zerbin oder die neuere Philosophie entwirft Lenz 1775 mit der Gestalt seines der Sünde der Eigenliebe verfallenen Protagonisten eine Art Anti-Kant. Der fordert als Professor zwar die Einhaltung der Tugenden und hat hierfür sogar ein „Kompendium der philosophischen Moral, gepfropft aufs Natur- und Völkerrecht" verfaßt, „das in allen gelehrten Zeitungen bis an den Himmel erhoben ward" (Z, 371). In Wahrheit aber handelt er nur aus Eigennutz und ohne Gewissen, weshalb er schließlich auch seine von ihm schwangere, ihm unstandesgemäß vorkommende Geliebte im Stich läßt, die deshalb als Kindesmörderin auf dem Schafott endet. 48 Vgl. ausführlicher hier, Drittes Kapitel „Der Prediger".
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Das sittliche Ideal Vor allem in den im direkten Anschluß an sein Studium verfaßten Predigten und Vorträgen wird unmittelbar deutlich, daß Lenz der moralischen Unterweisung seines Publikums höchste Priorität eingeräumt hat. Seine hierzu vorgebrachten moralphilosophischen Ausführungen basieren vor allem auf Kants Überlegungen über die vom Menschen a p r i o r i zu erlangenden Erkenntnisse, denen Lenz folgt, ohne dabei den Begriff als solchen zu verwenden.49 Denn den Ausgangspunkt seiner Erörterungen bildet die Frage nach der Quelle der Moralität, die Frage ihres Ursprungs, als den er die christliche Kirche mit ihrer institutionalisierten Moral in seinem Versuch über das erste Principium der Moral gleich zu Beginn seiner Argumentation kategorisch ausschließt. Doch nicht nur der kirchlichen Lehre spricht er eine alleinige Verbindlichkeit ab, er weist auch die für das Werden des Christentums so einflußreiche Sittenlehre der tradierten antiken Philosophie vehement als zu kurz greifend zurück. „Jeder von diesen Herren", gesteht er den antiken Philosophen immerhin zu, „hat fürtreffliche Wahrheiten gesagt, aber keiner von ihnen hat sein Ziel getroffen." (VeP, 501) Von welchem Ziel spricht Lenz? Und weshalb wurde es verfehlt? Lenz bleibt die Antwort nicht schuldig, er spricht vom „summum bonum" (VeP, 501), dem sittlichen Ideal, das er auch als das „erste Principium der Moral" (VeP, 501) bezeichnet. Und es sei seiner Überzeugung nach von den vorchristlichen wie christlichen Philosophen deswegen nicht lokalisiert worden, weil man es stets an der falschen Stelle vermutet habe. Mit dieser grundsätzlichen Überlegung bereitet Lenz an dieser Stelle nicht etwa den Entwurf einer wie auch immer gearteten Sittenlehre vor. Mitnichten, denn eingedenk der ihm vermittelten erkenntnistheoretischen Grundlagen geht es ihm hier nicht um eine spezielle Lehre, sondern um die M e t h o d e , durch die das summum bonum von jedermann in einem individuellen Erkenntnisprozeß erschlossen werden könne. Vergegenwärtigt man sich Kants hierzu in seinen Vorlesungen formulierten Ausführungen, wird die Tragweite dieses Gedankengangs offenbar. Bereits Lenzens Verwendung des Begriffs Principium verweist auf Kants erkenntnistheoretische Überlegungen, bei denen dieser Begriff auch synonym für die Vernunfterkenntnisse gebraucht wird. Die vollständige Phrase 'Principium der Moral' wiederum stellt bei Kant eine feststehende Wendung dar, zum Beispiel in seinem die Moralphilosophie abhandelnden Kollegium über Praktische Philosophie, in der die elementare Frage nach der Herkunft der Moral zudem mit der gleichen thematischen Gliederung abhandelt wird, wie sie
49 Im ersten Abschnitt seiner um 1772 entstandenen Schrift Meinungen eines Laien den Geistlichen zugeeignet, in dem er sich eng an Kant angelehnt vor allem erkenntnistheoretischen Überlegungen über das menschliche Empfindungsvermögen und der sich dieses bedienenden Vernunft widmet, verwendet Lenz hingegen schon im ersten Absatz diese Kantsche Begrifflichkeit, indem er „philosophische Beweise a priori" von den ,,historische[n]" „a posteriori" erlangten klar unterscheidet (MeL, 526).
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schließlich Lenz in seinem Versuch verkürzt vornimmt.50 Kant hält in jener Vorlesung die Erkenntnis der allgemeinen, idealen Moral einzig a priori durch die Vernunft für möglich („Das Moralische System leitet die Moralität her aus Vernunft. [...] Nur die Erkenntniße der Vernunft sind objective."; PP, 120), was ihn zur Zurückweisung jeglicher theologisch begründeten Moralsysteme veranlaßt. Denn derjenige, der das principium aller Moralitaet in nichts anderes setzt als in die Uebereinstimmung der Handlungen mit dem Göttlichen Willen, der sezt ein theologisches principium aller Moral zum Grunde. Das Theologische principium ist aber ganz unrichtig und falsch und schädlich. D a s p r i n c i p i u m der m o r a l i t a e t b e s t e h t in d e r A u s ü b u n g a l l e r m o r a l i s c h e n G e s e z z e . Wenn wir aber nicht einmal das principium der Moralitaet hätten, so würde auch die Ausübung des Göttlichen Willens nicht moralisch seyn. (PP, 135)
Kant trennt also systematisch Moral von Theologie, die er als nicht identisch miteinander erkennt; und mehr noch, er entwirft eine Rangfolge, in der selbst Gott bei der Ausübung seines Willens nicht allmächtig, nicht absolut frei, son50 So verknüpft Lenz diesen Begriff eng mit den philosophischen Gegenstanden Gott und Religion, deren Stellenwert er in Relation zu einem als kategorisch gültig verstandenen Moralsystem setzt. Die dabei getroffenen Aussagen dienen ihm jedoch lediglich zur Vorbereitung seines an dieser Stelle als zweiten inhaltlichen Schwerpunkt abgehandelten Themas, dem der Glückseligkeit als oberstem vom Individuum zu erstrebendem Ziel. Die gleiche systematische Vorgehensweise finden wir in Kants Vorlesung über Praktische Philosophie vor (vgl. PP u.a. S. lOOff: besonders die Abschnitte „Die Historie der Moral", „Von den ersten Quellen und principien der moralischen Beurtheilung", „Moral", „Das moralische System", „die ersten principia der obligation", „Von dem moralischen Zwange", „Vom moralischen Gesezz"). Besonders deutlich wird Lenzens Anknüpfen an dieses Kollegium nicht zuletzt anhand seines hervorgehobenen Verweises auf die „alten Philosophen" Plato, Diogenes, Zeno und Epikur (VeP, 501), auf die er auch in anderen Schriften wiederholt als philosophisches Viergestirn verweist und sie dabei öfters nur als 'die Alten' bezeichnet. In dieser Konstellation fungieren sie auch in Kants Vorlesungen als ein regelmäßig wiederkehrender Topos, von Kant ebenso als „die Alten" (siehe unter anderem PP, 116) apostrophiert. Für Kant verkörperten sie die vier unterschiedlichen 'Ideale des Höchsten Guts' (vgl. PP, 104), also jene vier verschiedenen Pfade, durch die der Mensch zur Glückseligkeit zu gelangen hoffe. Interessant ist in diesem Kontext, wie Lenz die ihm durch Kant bekannt gemachten Charakterisierungen ihrer philosophischen Schulen pointierte und dadurch auch aufschlußreich kommentierte (folgende Zitate stammen aus Kants Vorlesung über Praktische Philosophie und Lenzens Versuch)·. Kant: „Plato [...] behauptete daß das Höchste Gut gar nicht in der Natur liege, sondern dies sey das Höchste Wesen" (PP, 105) / Lenz: „Plato zog seine Linie in die Sphären" (VeP, 501). Kant: „Diogenes war der Mensch der Natur" (PP, 117)/ Lenz: „Diogenes [zog seine Linie] in den Kot" (VeP, 501). Kant: „Zeno [glaubte], die Sittlichkeit wäre das wahre Gut, und die Glückseeligkeit die Folge davon" (PP, 104); man verbinde diese Aussage nun gedanklich mit Kants Erkenntnis, die Sittlichkeit gelte kategorisch, so gewinnt Lenzens Typisierung „Zeno [zog seine Linie] in eine absolute Notwendigkeit" (VeP, 501) erst ihre eigentliche Bedeutung. Kant: „Epicurs [sie!] war der Welt Mann das heißt von der Welt so viel zu genießen, so viel man kann, durch alle Mittel und Wege" (PP, 117)/ Lenz: „Epikur [zog seine Linie] grade in das Weinglas" (VeP, 501).
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dem an ein auch für ihn verbindliches, oberstes Prinzip gebunden sei, welches sich der Mensch kraft seiner Fähigkeit zu Vernunftschlüssen vergegenwärtigen könne: Der Mensch kann aus der Vernunft einen Begriff des Göttlichen Willens und der Religion machen. Diese Regeln des Göttlichen Willens sind die moralischen Gesezze. [...] Die Erkenntniß des Göttlichen Willens muß nicht vor der moral vorhergehen, denn wenn wir nicht vorher moralische Gesezze erkennen, so würden wir 1. Nicht einmahl einen Begrif vom Göttlichen Willen haben und 2. würden wir auch nicht die Befolgung des Göttlichen Willens begreifen. Der Göttliche Wille läßt sich nur durch die moralische Gesezze denken. [...] Unsere Handlungen sind nicht darum gut, weil sie Gott befohlen hat, sondern Gott hat sie darum befohlen, weil sie gut sind. (PP, 135f) Diese Relativierung der von der Theologie traditionell behaupteten Allmacht Gottes kann nicht folgenlos bleiben für sein Verständnis einer jeglichen Religion. Denn Kant beschränkt sich nicht auf die christliche, er argumentiert allgemeingültig und streitet jeder Glaubenslehre den Anspruch ab, sich als einzig einer göttlichen Instanz unterstellt definieren und dadurch jeglicher menschlichen Kritik entheben zu dürfen. Zudem besitze keine Religion die Deutungshoheit über den göttlichen Willen, und insofern selbst Gott einem höheren Prinzip unterstehe, so gelte dies desto mehr für eine jede ihm verpflichtete religiöse Lehre, denn die Religion ist nichts als gereinigte sittliche Gesinnungen, die man hernach auf das allervollkommenste Wesen anwendet, deßen Willen der allervollkommenste ist. Denn das ist nicht Religion daß ich Gott einen Gehorsam leiste, sondern die Religion ist eigentlich das Verhalten gegen Gott aus moralischen Gründen [...] Ueberhaupt ist die Religion ganz unzertrennlich von der moralitaet [...] Religion muß nach der Sittlichkeit beurtheilet werden. (PP, 135-138) Diese Akzentuierung der Moralität harmoniert mit Lenzens vom Pietismus geprägten ethischen Überzeugungen, während Kants Relativierung von Gottes Bedeutung für die Ethik („Gott ist der Gesezzgeber [durch sein in der Bibel offenbartes Wort] aber nicht der Urheber der moralischen Gesezze."; PP, 146f) Lenz geradezu elektrisiert haben muß. Kants eigener Gedankengang über den Bezug von Moral und Gott kulminiert in der Feststellung, „daß das principium der moralitaet sich nicht auf den Göttlichen Willen gründe" (PP, 137). Doch worauf sonst? Auf diese Frage vermag der Philosoph nichts zu erwidern, da die Antwort - so seine Gewißheit - außerhalb jeglicher menschlichen Erfahrungsebene ruhe. Sicher ist er jedoch, daß das Principium der Moralität seit jeher, seit dem Beginn aller Zeit, als natürlich gegebene Größe schon existiert haben müsse, daß seine Herkunft zwar unbestimmbar sei, - aber daß es dennoch in seinen einzelnen Principia
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von jedermann durch den Gebrauch der eigenen Vernunft, durch das Erkennen der „moralischen Regeln [...] a priori" erschlossen werden könne (PP, 138). In seiner Vorlesung über Philosophische Enzyklopädie stellt Kant hierzu apodiktisch fest, daß der „größte und wichtigste Theil der Philosophie [...] in der Analysis der Begriffe [bestehe,] die w i r s c h o n h a b e n [Hervorh. d.V.]. Die gantze Moral ist so beschaffen. Denn wie könnten wir z.E. von dem Begrif der Tugend überzeugt werden, wenn er nicht schon in uns läge." (PE, 18) Nichts anderes meint Lenz, wenn er in seinem Versuch über das Erste Principium der Moral in ähnlichen Worten seine Überlegungen über die Gründe, weshalb den Philosophen der Antike und ihren Nachfolgern das Lokalisieren des sittlichen Ideals bislang nicht gelingen wollte, in der Schlußfolgerung münden läßt: Keinem von allen diesen Herren aber ist es eingefallen, das erste Principium der Moral, das summum bonum in u n s s e l b e r [Hervorh. d.V.] zu suchen. (VeP, 501)
II
Komponenten einer transzendentalen Sittenlehre
Durch diese Lokalisierung des summum bonum gestaltet sich der Entwurf einer allgemeinen Sittenlehre51 für Lenz als anthropologische Aufgabenstellung. In der christlichen Tradition stehend, widmet er sich der Aufgabe, das Wesen des Menschen in einem in sich geschlossenen Bild zu ordnen. So setzt er getreu dieser Tradition voraus, daß der Mensch die Krone der göttlichen Schöpfung darstelle, der zwar zu ihrer Beherrschung bestimmt worden sei, jedoch als kreatürliches, unvollkommenes und dem Tode verfallenes Wesen nicht selber Schöpfer zu sein vermag. Dabei zeichne ihn eine gewisse Unabhängigkeit von Gott aus, die ihn zur Freiheit befähige - und ihn dadurch in die Verantwortung nehme, aus eigener Kraft seiner Berufimg zum Erlangen der Glückseligkeit, zum Erreichen des ewigen Lebens zu folgen.
1. Reiz und Sünde Erbsünde In der christlichen Dogmatik wurde dieses Menschenbild stets von der Lehre vom sogenannten Urständ des Menschen flankiert, von der Frage nach dem
51 Wörtlich heißt es bei Lenz, man müsse aus den „ersten Principia der Moral [...] ein richtiges, festes und dauerhaftes System derselben entwickeln", das er in Anlehnung an den Prometheus-Mythos als „Feuerfunken" bezeichnet, der Licht in die „dunkle Kammer" des menschlichen Herzes ,,hinabbringe[...]" (VeP, 502).
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status integritatis, der Auskunft darüber gebe, wie Gott den Menschen eigentlich erschaffen habe (also als freies, leiblich unsterbliches Wesen nach seinem Bilde) und weshalb der Mensch in seiner jetzigen Existenzweise so sehr von Gottes eigentlicher Schöpfung abweiche. Als den entscheidenden Wendepunkt erkennt die jüdische wie die christliche Lehre den Sündenfall, auf den die Vertreibung aus dem Paradies erfolgt sei, seitdem sich der Mensch im Zustand der Verderbtheit, dem status corruptions befinde. Denn die durch den Mißbrauch der gottgegebenen Wahlfreiheit begangene Sünde des Urvaters Adam wirke seitdem im Menschengeschlecht fort, werde also als Erbsünde von Generation zu Generation weitergetragen und pflanze dergestalt auf alle Zeit in jedes Individuum den unausrottbaren Hang zum Bösen, die concupiscentia, die sich nach kirchlichem Verständnis nicht zuletzt in der fleischlichen Begierde manifestiert. In der Dogmengeschichte beider großen christlichen Konfessionen fällt die Beurteilung der Erbsünde traditionell sehr unterschiedlich aus, wobei der rigide protestantische Standpunkt für die Heranbildung der zu ihm in Opposition befindlichen moralphilosophischen Überlegungen Lenzens - und Kants ausschlaggebend gewesen ist. Sowohl von der lutherischen als auch der reformatorischen Dogmatik wurde die Erbsünde als die Grundsünde beurteilt und als Argument dafür gebraucht, dem Menschen eine ihm natürlich gegebene Willensfreiheit abzustreiten. Denn schließlich sei der Mensch - so die diesbezügliche Glaubenslehre - seit dem Sündenfall qua Geburt böse und deswegen auch nicht aus eigenem Vermögen in der Lage, den christlichen Glauben wahrhaftig zu praktizieren. Und dies verpflichte ihn zur Gottesfurcht, zu unbedingter Demut,52 um der göttlichen Vergebung teilhaftig zu werden. Die kritische Auseinandersetzung mit dieser in der lutherischen Dogmatik zentralen Lehrmeinung nimmt in Lenzens Werk breiten Raum ein. Vor allem in sieben ab 1771/72 entstandenen und zu dem Kompendium Philosophische 52 Der Begriff der Demut wird heute anders und weitaus negativer interpretiert als noch zu Lenzens Zeit. Dies rührt nicht zuletzt von Nietzsche her, der sie als 'Sklavengesinnung' apostrophierte. So bezeichnet der Begriff in Lenzens Verwendung weder eine derartige Gesinnung noch eine aus Selbstreflexion zu erlangende Selbsterniedrigung. Im christlichprotestantischen Sinne bezeichnet Demut keine Unterwürfigkeit bzw. eine knechtische Gesinnung, sondern eine Existenzweise, nämlich das V e r h ä l t n i s des Christen zu Gott sowie das der Ethik verpflichtete Handeln den Mitmenschen gegenüber. Der Begriff beschreibt die Anerkennung dessen, was als göttlicher Wille erkannt worden ist, er charakterisiert eine christliche Existenzweise, die konkreten Regeln unterliege, die das Verhältnis des einzelnen Christen zu Gott und seinen Mitmenschen bestimmen. Entsprechend definiert Lenz den Begriff der Sünde denn auch als „Vernachlässigung des Verhältnisses, in welchem wir mit der Gottheit stehen" (MeL, 530). Die der Demut von Lenz zugemessene große Bedeutung macht nicht zuletzt ein ihr gewidmetes, mit 23 Strophen ungewöhnlich umfangreiches Gedicht deutlich, das vermutlich während Lenzens Straßburger Jahren verfaßt worden ist. Darin wird sie vom lyrischen Ich als „der Christen und nur der Christen / Einziger allerhöchster Segen" bezeichnet, als „Heiliger Balsam", der von „Stolz" und „Eitler Ehre" geschlagene „Wunden" zu heilen vermöge. Lenz: Die Demut. - In: WB, Bd. 3, (S. 88-92) S. 89. Vgl. auch hier „Geschlechtstrieb und Ehestand".
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Vorlesungen für empfindsame Seelen53 zusammengefallen Vortrags-Manuskripten widmet er sich ausführlich diesem Thema, das ihm zum Ausgangspunkt einer breit angelegten Diskussion über die auslösenden Faktoren und die Zweckgebundenheit allen menschlichen Handelns dient, aus der heraus er schließlich seine rigorose Morallehre entwickelt, die nicht zuletzt das Konzept einer idealtypischen Geschlechterbeziehung mit einschließt. Christoph Weiss, der Herausgeber der Vorlesungen, interpretiert sie in seinem Nachwort dergestalt, daß er Lenz in der Auseinandersetzung mit den ,,Komplexe[n] Konkupiszenz und Erbsünde [...] weitgehend auf der Linie der Neologie" (PV, Nachwort, S. 93) argumentieren sieht. Dieser Ansatz - der typisch ist für die in der literarischen Forschung übliche geistige Situierung des Dichters - greift jedoch zu kurz, da ihm nicht nur die grundsätzliche Geringschätzung des Kantschen Einflusses auf den Autor zugrunde liegt, sondern auch weil er unkritisch an ein seit der Romantik überliefertes, überwiegend negative Reminiszenzen bewahrendes Verständnis der Neologie anknüpft. Die traditionelle Charakterisierung der um 1760 erstarkenden Neologie als eine 'Übergangstheologie' zwischen Wolffianismus und Kantschem Rationalismus vereinfacht jedoch - wie die theologische Forschung vielleicht gerade mit Blick auf die Literaturwissenschaft immer wieder betont hat54 - zu stark, da in der Fachwissenschaft nicht einmal über die Definition des Begriffs oder über die darunter zu fassenden Personen Einigkeit herrsche. So klammere die in der literarhistorischen Forschung übliche Praxis die weitaus spezifischeren Merkmale der Neologie einfach aus, zu denen vor allem zählen: kosmischer Pluralismus, der die Existenz anderer Welten behauptet; Annahme einer gottgewollten Hierarchie aller im All existierenden Wesen und nicht zuletzt eine neue 53 Lenz: Philosophische Vorlesungen für empfindsame Seelen. (Erstveröffentlicht Frankfurt und Leipzig 1780.) - Hrsg. und mit einem Nachwort (S. 73-105) von Christoph Weiss, St. Ingbert 1994. Die in dieser Sammlung edierten Texte (Baum des Erkenntnisses Gutes und Bösen / Supplement zur vorhergehenden Abhandlung / Zweites Supplement / Drittes und letztes Supplement / Anmerkung / Anhang. Einige Zweifel über die Erbsünde / Unverschämte Sachen), deren Anordnung wohl nicht der Chronologie ihrer Entstehung entspricht, ergänzen einander inhaltlich und wurden zu Beginn der 70er Jahre im Umfeld der Straßburger Sozietät Johann Daniel Salzmanns verfaßt (frühestens 1771/72, ihre inhaltlichen Zusammenhänge weisen auf eine zeitlich eng beieinander liegende Entstehungszeit hin; Weiss hält ihre Verfertigung bis spätestens 1774 ftlr möglich, wobei er dies mit dem Vergleich der Manuskriptblätter mit anderen Schriften Lenzens aus dieser Zeit begründet). Ihre Erstausgabe erfolgte mit offensichtlich falscher Ortsangabe und ohne Nennung des Autors. Wie der Herausgeber in seinem Nachwort nachweist, muß der Druck in Basel von dem Verleger Carl August Serini unter der Herausgeberschaft Georg Schlossers besorgt worden sein, wobei die Unterdrückung des Autornamens vermutlich mit Rücksicht auf den als inzwischen geistig verwirrt geltenden Lenz erfolgt ist. In die Werkausgabe von Sigrid Damm wurden lediglich zwei der Texte (Supplement zur Abhandlung vom Baum des Erkenntnisses Gutes und Bösen, Zweites Supplement-, WB, Bd.2, Prosa, S. 514-522) aufgenommen, da das vollständige Textkorpus als verschollen galt. 54 Vgl. hierzu auch W. Philipp: Neologie. - In: Evangelisches Kirchenlexikon. Hrsg. von Heinz Brunotte und Otto Weber, H-O, Göttingen 1958, (S. 1541-1544) S. 1541.
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Engellehre sowie einen moralorientierten Wunderglauben. Statt dessen werde einseitig die von der Neologie vollzogene - für Lenz ebenso wie für Kant überaus bedeutende - systematische Trennung von Heiliger Schrift und kirchlichem Dogma akzentuiert, die aber bei Kant ebenso wie bei Lenz auf die ungleich ältere pietistische Tradition zurückgeführt werden muß. Daß dies in der Sekundärliteratur nicht immer adäquat gewürdigt worden ist, rührt vermutlich auch daher, daß Lenz während seines Aufenthaltes in Straßburg eine Kernschrift des in Berlin als Propst der Nikolaikirche tätigen Neologen Johann Joachim Spalding, die 1761 erschienenen, vor allem gegen den Franckeschen Pietismus gerichteten Gedanken über die Bestimmung des Menschen rezipiert hat. Nach dieser Lektüre schreibt der - wie wir gesehen hatten - erkenntnistheoretisch und moralphilosophisch von Königsberg nachhaltig geprägte Lenz im September 1772 an den Freund Salzmann, auch er müsse dieses Buch lesen; „mein Sokrates! es macht wenigstens Vergnügen zu finden, daß andere mit uns nach demselben Punkt [d. i. Spaldings betriebener Versuch einer Synthese religiöser mit spätaufklärerischer Gedanken] visieren".55 Für Rudolf wird diese Briefpassage Anlaß zu einem Mißverständnis, denn er glaubt, durch sie den prägenden Einfluß der Neologie auf Lenz belegen zu können. Lenzens Formulierung, Spalding würde mit ihm „nach demselben Punkt visieren", ist ihm gleichbedeutend mit einem grundsätzlichen „gleicher Meinung sein" (Rudolf 1970, 49). Dabei drückt Lenz lediglich aus, mit Spalding ein g l e i c h e s Z i e l anzuvisieren, nicht aber, deswegen auch seine zum großen Teil diametral entgegengesetzten philosophischen bzw. religiösen Grundüberzeugungen zu teilen, was schon allein aus erkenntnistheoretischen Gründen für den Autor undenkbar gewesen wäre. Schon Lenzens Verständnis des Begriffs Konkupiszenz gibt die Denkrichtung seiner weiteren philosophischen Überlegungen vor. So definiert er sie entgegen jeglicher christlichen Doktrin wertungsneutral als die dem Menschen eingeborene Fähigkeit, Begierde zu empfinden. Dieses natürliche Vermögen könne zwar zur Sünde hinführen, jedoch entscheide darüber der einzelne dank der ihm verliehenen Freiheit selber, weshalb sich für Lenz eine pauschale Beurteilung der Menschheit als gut oder böse von selber verbietet, da eine solch grundsätzliche Frage stets nur zur Betrachtung der einzelnen Person führen könne. Dementsprechend müsse auch die Frage der Beurteilung der Begierde als positiv oder negativ lediglich durch die Art und Weise ihres individuellen Gebrauchs entschieden werden; ihre theologisch-dogmatische Definition als ein in Gestalt einer erblichen Sünde in der Menschheitsgeschichte auf ewig tradierter Hang zum Bösen führt laut Lenz in die Irre. Mehr noch, die gängige Dogmatik scheint nach seiner Überzeugung geeignet, ein vollkommen falsches Gottesverständnis zu generieren, da die Begierde als im Menschen natürlich angelegtes Vermögen in Wahrheit ein Geschenk Gottes und keinen Fluch dar55 Lenz an Johann Daniel Salzmann; Landau 7.9.1772. - In: WB, Bd. 3, (S. 270-272) S. 271.
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stelle. Denn die „ K o n k u p i s c e n z " sie die „Triebfeder [aller] unserer Handlungen"; (PV, 15) ohne Begier nach etwas bleiben wir ruhig, und da handeln die größte aller menschlichen Realitäten ist, wie sträflich wär es[,] den Keim unserer Thätigkeit[,] aller unserer Vortrefflichkeit zu ersticken. (PV, 15) Wenn Gott aus dem Menschen blos ein denkendes und empfindendes Wesen hätte machen wollen so würde ers bei den Schatten die er um ihn her pflanzte [...] haben bewenden lassen. (PV, 15) Doch Gott habe den Menschen ,,handelnd[,] nicht bloß leidend" gewollt, damit dieser „einen Blick [...] ins schöne Weltall" werfe, „frei" sei und als „kleiner Schöpfer der Gottheit nachhandel[e]";57 (PV, 15) Damit weist Lenz die lutherische Lehrmeinung ebenso nachhaltig zurück, wie er deren Präzeptoren in einem anderen Teil der Vorlesungen unter Berufung auf seine detaillierte Kenntnis der Bibel mit aller Schärfe jegliche Befugnis abspricht, sich zu rechtmäßigen Bewahrern und Interpreten der christlichen Botschaft zu erklären. Er sei kein „Theolog" (PV, 36) 58 schreibt er bereits im ersten Satz seines
56 Ein euphorisches poetisches Manifest auf das freie und unabhängige Handeln, das ganz offensichtlich in die thematische Nähe zu Goethes Prometheus gestellt ist, verfaßt Lenz 1776 mit seinem Gedicht Aus einem Neujahrswunsch aus dem Stegreif. Aufs Jahr 1776 (in: WB, Bd. 3, S. 172-176). Hymnisch läßt er sein lyrisches Ich dort ausrufen: „Mensch, Mensch, du bist nicht filr die Ruh!" (173), um dann zu fragen, was dem Menschen beim Verzicht auf das freie Handeln in dieser Welt bliebe, „wenn zwischen Tod und Leben / Wir ohne Mut und Kraft gekrümmt am Boden kleben, / Was sind wir denn, wir Götter, wir / Auf diesem Würmerneste hier? [...] Wir sterben - pocht mit euren Fäusten, / Ihr Freunde! auf die Brust, und schreit: Wir sterben? Nie! / Mit dieser Flamm' im Herzen, dieser Harmonie, / Darf sich der Tod uns je zu nahn erdreisten? / [...] Wir sterben? Götter sterben? - Nimmer" (174). Wie eine Vorwegnahme von Nietzsches Lebens- und Übermenschenideal klingt es, wenn Lenz schließlich formuliert: „Nein, leben, ewig leben wollen wir, / Und müssen wir, der Welt zur Ehre, / Bis Welt und Zeit und Atmosphäre / An unsem Sohlen hängt, und glühende Begier / Den ungebändigt stolzen Geist, / Von Welt zu Welt, von Sphär zu Sphär reißt, / Ha immer unersättlich - leben, / Ja leben wollen wir, und beben / Soll unter unserm Tritt der Boden der uns scheut / Die Luft sich auseinander pressen" (17S). 57 Dieses 'Nachhandeln' darf nicht als Synonym für Imitieren bzw. 'gottgleich handeln' gedeutet werden, da es Lenz um das Unterstreichen der sittlichen Vorbildfunktion Gottes geht, dem es nach-zuhandeln gilt. Auch wenn der Dichter nicht zuletzt in seinem Neujahrswunsch auf das Jahr 1776 vordergründig ein an Goethes Prometheus angelehntes Menschenbild proklamiert (vgl. die vorige Anm.), bei dem der Mensch Gottgleichheit beansprucht, so deckt sich der Inhalt dieser Verse, die ein von Lenz nur kurze Zeit empfundenes euphorisches Lebensgefühl ausdrücken, nicht mit seinen an anderer Stelle erheblich differenzierter geäußerten Grundüberzeugungen. 58 Wie unnachsichtig er den Berufsstand der Theologen bewertet, macht Lenz in seinen Stimmen des Laien... deutlich, wo er „gewisse zunftmässige Theologen" polemisch mit den „Priestern des Altertums" vergleicht, die - gleich ihren theologischen Nachfolgern - „den Glauben des Pöbels gepachtet hatten, um sich anderweitige Vorteile damit einzutauschen" (SdL, 571).
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'Anhanges' Einige Zweifel über die Erbsünde (vgl. PV, 36), um sein Verständnis dieses Begriffs durch die Feststellung zu präzisieren, man habe ihn, Lenz, „in keiner Dogmatik initiiert". Statt dessen orientiere er sich an einem anderen „Zeugen der Wahrheit" (PV, 36), dem „höchsten und besten", an Gott selbst, und wolle deshalb nur das glauben, „was Gott durch die heiligen Männer [die Evangelisten] zu meiner Glückseligkeit mir [in der Heiligen Schrift] hat aufschreiben lassen" (PV, 36). Denn man müsse lediglich „von allen kindischen von Jugend auf eingepflanzten Vorurtheilen und vorgefaßten Meinungen [befreit] unbefangen in die Bibel sehen", (PV, 38) um zu erkennen, „daß „in der ganzen Erzählung von dem vermeinten Fall Adams keine Spur von Erbsünde" (PV, 38) zu finden sei. Er aß und ward sterblich, ward aus dem Garten gejagt [...] Kein Wort noch von Adams Nachkommen. (PV, 38) [Wjelcher böse Dämon lehrt hier die Leute von Erbsünde träumen? (PV, 40)
Nicht nur durch seine intensiven Bibelforschungen wurde Lenz zu der Überzeugung gebracht, wie „höchst schädlich" (PV, 37) der „hergebrachte Begrif von [der] Erbsünde" (PV, 36) für Gottes „Ehre" und die „Vervollkommnung und Glückseligkeit des menschlichen Geschlechts" (PV, 37) sei. Auch Kant hat sich in seinem Kollegium über Philosophische Enzyklopädie kurz dieses Themas angenommen, das er im Zusammenhang mit seiner grundsätzlichen Zurückweisung des von Leibniz aufgegriffenen Gedanken Piatons vom angeblichen Angeborensein bestimmter Kenntnisse und Begriffe behandelt. Hierzu stellt er unmißverständlich fest, daß nicht die Begriffe „in uns" liegen, „sondern das Vermögen zu reflektieren" (PE, 16): Etwas als angeboren anzunehmen ist der Philosophie sehr zuwieder [sie!]. Es ist eben so, als wenn man alle Laster von der Erbsünde herleiten will, da doch ihrer viele erworben sind. Auf das angebohren sich berufen ist die sacra ancora der Unwißenheit und der Faulen der Philosophen. Denn hört alles philosophiren auf. (PE, 16)
Derart gleichermaßen erkenntnistheoretisch wie auch durch das Wort Gottes abgesichert, wirft Lenz in seinen Vorlesungen mit Blick auf sein Selbstverständnis als Prediger mehr rhetorisch die Frage auf, wie er sich gegenüber der kirchlichen Orthodoxie künftig verhalten solle („Was soll ich also dabei thun?" PV, 37). Solle er darüber etwa ,,[s]chweigen?" (PV, 37); dazu spühr' ich izt keinen Beruf, da die Gegenparthei allenthalben so überlaut ist. In einer Gesellschaft guter Freunde darf man doch wohl einmal grade zu seine Meinung sagen. (PV, 37)
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Denn schließlich gelte es doch, der ,,menschliche[n] Vernunft", der „Wahrheit" gegenüber dem „Aberglaube" (PV, 38) wieder Gehör zu verschaffen.
Das Schöne: Reiz der Begierde Lenzens Suche nach den den auslösenden Faktoren und Konsequenzen der menschlichen Begierde findet ihren Ausgangspunkt in Kants Erkenntnistheorie. Denn wegen der sinnlichen Determiniertheit des Menschen steht auch bei der Begierde - ebenso wie beim dreistufigen Modell des Erkenntnisvermögens ein äußerer Reiz, den der Mensch kraft seiner Empfindungsfahigkeit wahrnimmt, am Beginn einer innerlich ablaufenden Ereigniskette. Eben jenen Reiz beschreibt Lenz mit dem Begriff der „Schönheit", (PV, 3) die ein Phänomen darstelle, das seiner Ansicht nach intellektuell nicht näher beschrieben, sondern nur „empfunden werden" (PV, 3) könne.59 Allenfalls lasse es sich mit dem Begriff „Uebereinstimmung" (PV, 3) charakterisieren, der eine Differenzierung in subjektive bzw. objektive Schönheit zulasse. So sei Schönheit dann „objektiv" (bzw. „ideal"), wenn „die höchste Uebereinstimmung der Theile untereinander zu ihrem eigenen Ganzen" verwirklicht worden sei; „subjektiv" (bzw. „homogen") dagegen bei „Uebereinstimmung dieser Theile zu dem Ganzen des sie erkennenden Subjektes" (PV, 3).
59 Mit seinen Überlegungen Uber das Schöne folgt Lenz im wesentlichen den von Kant in dessen „Eintheilung der geistigen Vermögen" getroffenen Aussagen. Kant unterscheidet in seiner Vorlesung Uber Metaphysik deren drei voneinander: 1. das Erkenntnisvermögen bzw. das der „Vorstellungen", 2. das des Geftlhls der „Lust und Unlust" und 3. das der Begierden (M, 228), die er als die „ G r u n d k r ä f t e " (M, 262) des Menschen bezeichnet. Das Vermögen des Gefühls von Lust/Unlust, das strikt vom Erkenntnisvermögen zu differenzieren sei, entscheide letztlich darüber, ob der Mensch einen Gegenstand als schön oder häßlich e m p f i n de, ob er - so Kant - von einem Gegenstand „afficirt" (M, 246) werde, „ein Wohl- oder Mißfallen zu finden" (M, 229). Hierzu sei zwar die Erkenntnis des Gegenstandes die unmittelbare Voraussetzung, jedoch würde der Einzelne ohne jenes zweite Vermögen von ihm unberührt bzw. „ungerührt" (M, 246) bleiben, und wäre deshalb auch zu keinem abschließenden Werturteil (schön/häßlich, gut/böse) in der Lage („Was gefällt aus der Uebereinstimmung der allgemeinen Erkenntnißkraft, ist g u t ; und wenn es aus demselben Grunde mißfällt, so ist es b ö s e " ; M, 249). An späterer Stelle schränkt Kant ein, daß die Beurteilung in gut oder böse jedoch keine Angelegenheit eines 'Gefühls-' bzw. 'Geschmacksurteil' (vgl. M, 250) sein könne; „um das Böse und Gute zu unterscheiden brauchen wir Vernunft" (M, 250). Zur Verdeutlichung dieses komplexen Gedankenganges unterscheidet er ein unteres und ein oberes Vermögen der Lust/Unlust, das mit Lenzens Unterscheidung in ein homogenes und eine ideales Schönheitsempfinden korrespondiert. Das „untere Vermögen", so Kant, beruhe auf der „Sinnlichkeit", das „obere" hingegen auf dem „Verstand" (M, 252), womit er in diesem Falle jedoch eindeutig die Vernunft meint, was auf einen Protokollfehler bzw. eine verbale Unklarheit im Vortrag hinweist.
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Sie sehen aus dieser Erklärung, daß die ideale Schönheit zugleich nothwendig und unveränderlich seyn müße, weil sie ihren Grund in sich selber hat: die homogene aber sich nach dem sie erkennenden Subjekt richte. (PV, 3f)
Die Begriffe 'nothwendig' und 'unveränderlich' verdeutlichen den direkten Bezug der idealen Schönheit auf die erkenntnistheoretischen Prinzipien allgemeingültiger Vernunftschlüsse, wodurch Lenz die Diskussion über das ideale Schöne in einem geistigen Bezirk situiert, in dem das Schöne über die Vorläufigkeit menschlicher, an gesellschaftliche Konventionen gebundener Geschmacksurteile erhaben ist und demnach zum Thema der Metaphysik wird. In diesem Zusammenhang entwickelt Lenz eine weitere Definition des Gottesbegriffes, die er ausdrücklich als Resultat eines Vernunftschlusses bezeichnet. So sei Gott selbst die „höchste ideale Schönheit", (PV, 4) was aus seiner Schöpfung heraus ersichtlich werde („worinn jeder Theil mit dem andern und zum Ganzen aufs harmonischste stimmt"); „wir schliessen also von der Wirkung auf die Ursache. Ich sage, wir erkennen; wir schliessen" (PV, 4). Bei Kant finden wir in seiner Vorlesung über Metaphysik einen vergleichbaren Gedankengang, in dem der Begriff Gott - ebenfalls im Kontext seiner Definition dessen, was als das Schöne zu bezeichnen sei - zwar nicht ausdrücklich genannt, jedoch implizit einbezogen wird. So führt Kant über den Begriff des Schönen aus (wobei er Lenzens Definition der homogenen Schönheit vorwegnimmt), daß das „Schöne" nicht durch „das Verhältniß der Erkenntniß zum Object" bestimmt werde, sondern durch das Verhältnis der Erkenntnis „zum S u b j e c t " ; (M, 247) Schönheit entspringe also einem subjektiven Geschmacksurteil, das letztlich das Produkt einer gesellschaftlichen Konvention darstelle. „Der Geschmack hat seine Regel", stellt er fest, jedoch seien diese Regeln „nicht a priori" (also nicht allgemeingültig und notwendig), „sondern sie sind empirisch", müssen also „a posteriori erkannt werden". Deshalb lasse sich über sie auch lediglich „streiten, aber nicht disputiren" („Denn Disputiren heißt, den Gründen des Andern aus Principien der Vernunft widerstreiten"; M, 251). Schließlich gelangt Kants Gedankengang an einen Punkt, an dem er über o b j e k t i v schöne Gegenständen philosophiert, wobei der Begriff Gegenstand nicht im materiellen Sinne mißverstanden werden darf. Ein Gegenstand - so der Philosoph - sei dann o b j e k t i v schön, wenn er „allgemein gefalle", also nicht länger an das „Privatwohlgefallen des Subjects" gebunden sei, sondern übereinstimme „mit den allgemeinen Gesetzen der Sinnlichkeit überhaupt" (M, 252). Zu diesen Gesetzen gehöre - und nun gelangt Kant zum zentralen Gesichtspunkt - „z.E., daß in dem Gegenstande Ordnung, Idee des Ganzen usw. wahrgenommen werde", also ein „allgemeines Urtheil für jedermann" (M, 253). Nichts anderes stellen diese Anforderungen dar, als die von Kant aufgestellten, allgemeinen erkenntnistheoretischen Prinzipien der Vernunftschlüsse. Und als deren zwei wichtigste hat der Philosoph 1. den auf das a priori zu erkennende Erste Principium der Moral abzielenden sowie 2. den zur
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vernunfimäßigen Annahme Gottes als erste Ursache der Welt hinführenden betrachtet; - womit eben jene beiden philosophischen Gegenstände benannt sind, die nach Lenzens Verständnis die Gegenstände idealer Schönheit darstellen. Was nun bewirkt die Schönheit, sofern der Mensch ihrer ansichtig geworden ist? Ihr Offenbarwerden - so Lenz - „erregt ein Ergetzen, [...] Neigung und Bestreben", (PV, 5) das in sich ebenso differenziert werden könne, wie „die beiden Arten von Schönheit verschieden" seien, von denen der Mensch letztlich auf die schmale „Wegscheide von Glück und Elend" geführt werde (PV, 5). So animiere die ideale Schönheit „zur Nachahmung", damit das Individuum dem von Gott als dem höchsten Ideal vorgezeichneten Weg der Moralität folge. (Diesen Gedanken bezeichnet Lenz im Oktober 1772 in einem Brief an Salzmann als seine „Lieblingsidee", als „die einzige", auf die er „alle anderen zu reduzieren suche".)60 Die homogene Schönheit hingegen verführe „zur V e r e i n i g u n g " , und es ist eben dieses Bestreben, das Lenz als die eigentliche „Begier" begreift, aus der gleichermaßen Gut wie Böse zu entspringen vermögen. Sie sei „Gottes Gabe und nöthig zu unsrer Glückseligkeit", (PV, 5) auch wenn sie den Menschen, wenn er sie nicht zu beherrschen verstehe, wie „mit den Klauen einer hungrigen Harpye" (PV, 6) um sich greifen lasse. Durch diese Zweiteilung des 'Begehrungsvermögens' finden wir bei Kant (vgl. M, 228) vorgegeben, das nach dem Erkenntnisvermögen und dem Gefühlsvermögen von Lust und Unlust die dritte und letzte der von ihm definierten menschlichen Grundkräfte darstelle (vgl. Anm. 59). Ebenso wie das zweitgenannte Gefühlsvermögen wird es von Kant in ein 'unteres' und ein 'oberes' (vgl. M, 228) unterschieden; eine Terminologie, die inhaltlich Lenzens Differenzierung in 'homogen' und 'ideal' entspricht. So stelle das untere Begehrungsvermögen jene „Kraft" (M, 228) dar, durch die der Mensch einen ihn sinnlich 'afFicirenden' (vgl. M, 228) Gegenstand begehre. Aus dem oberen hingegen erwachse das Verlangen nach „etwas aus uns selbst" (M, 228), das durch keinen sinnlich wahrnehmbaren Gegenstand repräsentiert werde, ein auf ein rein intellektuelles Ziel gerichtetes Begehren also, das sich dem einzelnen dank seiner Vernunft erschließe. Grundsätzlich sei jegliche Begierde als „Lust" (M, 254) zu qualifizieren, weshalb sie, da sie zur Tätigkeit animiere, „der Beförderung [...] des Lebens" (M, 253) diene, im Gegensatz zur Unlust, die die Entfaltung des Lebens behindere. Während das obere, das intellektuelle Begehrungsvermögen nicht zuletzt auf die Verwirklichung der „Regeln der Moralität" (M, 257) abziele, werde das untere von den „sinnlichen Antriebe[n]" (M, 256) gesteuert, von den „ A f f e c t e n und L e i d e n s c h a f t e n " , deren erste60 1772 spricht Lenz in einem Brief an Johann Daniel Salzmann auch von der 'echten' Schönheit, die seine „Lieblingsidee" darstelle, auf die er „alle andern zu reduzieren suche". In ihr bildeten die „Liebe gegen Gott (die Schönheit in a b s t r a c t o [respektive idealiter])" sowie die Liebe „gegen alles was geschaffen (die Schönheit in c o n c r e t o ) " miteinander eine Synthese (in: WB, Bd. 3, S. 286).
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re unser Gefühl 'afficirten' (vgl. M, 256), während letztere uns in die Gefahr brächten, von ihnen „fortgerissen" zu werden, was moralisch verwerfliches, also böses Handeln motiviere. Deshalb gelte es, um der „Tugend" (M, 257) willen, „die Sinnlichkeit [...] in seiner Gewalt" (M, 256) zu behalten, wodurch der einzelne - wenn er seine Sinnlichkeit durch seine Geisteskraft beherrsche seine Freiheit und Unabhängigkeit erst wirklich erringe („Je weniger er aber die Sensualität durch die Intellectualität zwingen kann; desto weniger Freiheit hat er." M, 256f) 61
Geschlechtstrieb und Ehestand Ebensowenig wie Kant bezieht Lenz die aus dem homogenen bzw. unteren Schönheitsempfinden erwachsende Begierde nicht exklusiv auf den sexuellen Bereich, auch wenn er ihm in diesem Zusammenhang letztlich - wie auch sein Dozent - gesteigerte Aufmerksamkeit widmet. So fuhrt er in seinen Philosophischen Vorlesungen als Beispiele jener auf Vereinigung abzielenden Begierde (die sich außer rein körperlich, also sexuell, auch in intellektueller Neugier, also erkenntnissuchend, äußern könne) die Neugier eines Kindes an, das mit dem Finger in eine Flamme ziele, „ohne noch was anders davon erkannt zu haben, als den Glanz". Im Anschluß daran nennt er das Exempel der biblischen Eva, die ein Gebot Gottes mit den bekannten Folgen bewußt mißachtet und eine Frucht vom verbotenen Baum der Erkenntnis genommen habe („so fiel Eva auf den Apfel und aß, ohne noch zu wissen, ob er auch gut schmekke, noch weniger, wie er ihr bekommen werde"; PV, 6). Ungeachtet dieses, nach biblischem Verständnis die gesamte Menschheitsgeschichte bestimmenden Ereignisses, bezeichnet Lenz das Streben nach uneingeschränkter Erkenntnis nicht als die stärkste und wegen ihrer möglichen Folgen auch nicht gefährlichste aller Begierden. Diesen Rang spricht er der „heftigsten und unwiderstehlichsten" (PV, 51) zu: der des Geschlechtstriebes („oder um das Kind beim Namen zu nennen, der Trieb sich zu gatten"; PV, 51). Denn ungeachtet aller anderen Phänomene dieser Welt, die den Wunsch etwa nach Erkenntniserweiterung zu wecken vermögen, interessiere „der M e n s c h " (PV, 9) „unter allen erschaffenen Dingen" doch am meisten, da er am „homogensten [...] mit uns" sei. Doch müsse diese Begierde, „die sich
61 Wie sehr Lenz wegen seiner so strengen Vorsätze um sein eigenes Voranschreiten auf dem Pfad der Tugend hat ringen müssen, drückt er in dem um 1774 in Straßburg verfaßten Gedicht Auf ein Papillote (in: WB, Bd. 3, S. 107-109) aus, das im Zuge seiner unglücklichen Liebe zu der Bürgertochter Cleophe Fibich entstanden ist. Dort bekennt er, der sich aus Vernunftgründen die „Tugend" vorgenommen habe, sich „oft selbst" strafen zu müssen, da sie nicht immer leicht zu bewahren sei (108); „[Ich] kämpf und ring mit mir und sterb und kann nicht sterben / Weil mich mein Unstern nur zum Leiden auserkor" (108), „Gott! erhalt mir den Verstand!" (109).
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am wenigsten von allen [...] der Vernunft unterordnen oder dadurch leiten lasse[...]" (PV, 51) - „wie alle Kräfte in uns" (PV, 5) - nach Kräften gezügelt werden und sich „nach unsrer besten Erkenntnis richten" (PV, 5), „ob denn der beliebte Gegenstand wirklich homogen mit uns sei" (PV, 6). Doch ist Lenz die Zügelung des Genusses nicht gleichbedeutend mit einem Verzicht. Im Gegenteil, und hier wird die durch Kant vermittelte Rezeption der Wolffschen Rechtfertigung individueller Glückserwartungen besonders deutlich, wenn Lenz den Anspruch auf individuelles Glück als untrennbar mit dem Genuß und dem ihm vorangehenden Begehrungsvermögen verknüpft, indem er fragt: „wie können wir glücklich sein, ohne zu geniessen und wie können wir geniessen ohne begehrt zu haben" (PV, 5).62 Doch gelte es - und hier beugt der Autor jedem Mißverständnis vor, er würde etwa einem triebhaften Ausleben egoistischer Begierden das Wort reden - beim Genuß „langsam und bedächtig" zu ,,wäge[n]", „ohne Stoß und Schütteln", eingedenk dessen, daß der Mensch zur Realisierung seiner Glückseligkeit „nicht blos körperliche[r] sondern auch geistige[r] Homogenität" bedürfe (PV, 10). Denn die Konzentration auf lediglich das Erstere überantworte ihn der „Wollust", (PV, 64) was den Verlust des Menschseins an die „thierischen Triebe" (PV, 70) bedeutete; ein Verhalten, das auch Kant in seiner Vorlesung über Praktische Philosophie als „viehisch" verurteilt, als „die höchste Erniedrigung des Menschen",(PP, 215) da der einzelne dadurch nicht nur seine geistigen Fähigkeiten, sondern „seinen p e r s ö n l i c h e n W e r t h " (PP, 214) mißachte, indem er „seine Person zur Sache" mache, „der sich ein anderer bedienet" (PP, 215). Der Mensch als eine Person betrachtet hat aber eine Würde über alle Geschöpfe, daß er kein Gegenstand des Genußes und Gebrauchs eines andern seyn könne. [...] Es sind keine größeren Verbrechen in Ansehung der Schändung seiner eigenen Person als der Selbstmord und der Mißbrauch des Geschlechts Vermögens. (PP, 215f)
Um eben diesem Mißbrauch vorzubeugen, müsse, so Lenz, der Verwirklichung b e i d e r Homogenitäten Priorität eingeräumt werden, wofür als äußere soziale Form die Institution der Ehe geschaffen sei.63 Nur so, bei Beibehaltung dieses moralischen Grundsatzes (Kant: „Wenn die Geschlechter Neigung nicht durch Moralität moderirt wird, so ist sie blind"; PP, 215) erfülle sich die eigentliche Bestimmung des nach Vereinigung strebenden Individuums. Über dieses na-
62 In seiner Vorlesung über Praktische Philosophie benutzt Kant eine vergleichbare Terminologie bei der Charakterisierung des Geschlechtstriebes. So bezeichnet er jenen als den dem Menschen natürlich eingeborenen „appetit", der vom Begriff der Liebe streng unterschieden werden müsse und die ,,Menschliche[...] Natur" stets gefährdende „Nahheit zu den Thieren" verdeutliche: „Die Geschlechter Neigung ist nichts anders als wo einer den andern g e n i e ßet. [Hervorh. d.V.]" (PP, 215) 63 Vgl. im Anschluß.
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türliche Streben nach Vereinigung heißt es wie zur Erläuterung bei Kant, der „Mensch" sei „eine Einheit", weshalb er sich auch „eines Theils [seines geschlechtlichen Gegenparts] nicht entäußern" könne, „wofern er sich nicht ganz dem Mangel" unterwerfe. „Also übergeben sich die Personen beym Genuß nicht einen Theil", also nicht lediglich der in Lenzens Diktion körperlichen Homogenität, „sondern sich ganz" (PP, 216). Und Lenz formuliert ganz in diesem Sinne in seinen Vorlesungen: am v o l l k o m m e n s t e n h o m o g e n unter den Menschen sind sich die beiden Geschlechter Mann und Weib, hier thut die homogene Schönheit [...] ihre völlige Wirkung, sie reizt, zieht, zwingt zur V e r e i n i g u n g . Mögen die Geschlechter also zu einander streben, sich vereinigen, eins sein, es ist ihre Bestimmung - [...] Glückseligkeit des Ehestandes. Sich wechselseitig zu geniessen, ganz zu geniessen, nicht vergeblich da zu sein, das heißt - denn warum sollen wir einen ursprünglichen Wunsch unsers Wesens verkleistern? - nicht vergeblich schön zu sein. (PV, 9f)
Mißachte man jedoch das Gebot der Tugendsamkeit und suche statt vollkommener Homogenität lediglich die Befriedigung wollüstiger Begierden, setze man sich - so Lenz - „den schröklichsten Folgen aus[...]", (PV, 51)64 riskiere nicht nur den „gänzlichefn] Ruin und Untergang [des] Körpers", sondern „oft auch der Seele selber" (PV, 51) (Kant: „so ist dieses die Schändung der Menschheit in seiner eigenen Person"; PP, 215). Ungeachtet dieser rigorosen Verurteilung der Wollust situiert Lenz die Verantwortung filr ein etwaiges Fehlverhalten aber nicht ausschließlich beim Individuum selbst, - denn schließlich stelle dieses mit all seinen positiven wie auch negativen Anlagen lediglich ein von Gott erschaffenes Lebewesen dar, was letztlich den Schöpfer dieses unvollkommenen Wesens namens Mensch mit in die Pflicht nehme: So wüthen wir [durch unsere Wollust] wieder [sie!] uns selber. Das ist seltsam, [...] und sollte uns fast versuchen, wider den Schöpfer zu murren, der diesen Trieb so allgemein ausgetheilt hat, daß es scheint, er habe uns allen, aus Reue daß er uns geschaffen Dolche in die Hände gegeben, sein herrliches Werk wieder zu zerstören. (PV, 51f)
Lenz läßt diesen Gedanken jedoch nicht in eine Gotteskritik münden, was vielleicht ebenso nahe gelegen hätte, wie ein in orthodoxer Tradition grundsätzliches Verdammen des potentiell zum Bösen verleitenden Triebes sowie 64 Erinnert sei hier an das Schicksal Läuffers, des Protagonisten im Hofmeister, dessen unvernünftiges Nachgeben der fleischlichen Begierde beinahe das Leben einer Vielzahl von Personen zerstört hätte. Erst nach der rigorosen Ausmerzung dieses bei ihm wegen mangelnder Vernunft unkontrollierbaren Triebes durch die Kastration ist er in die Lage versetzt, eine im idealen Sinne Geist und Gefühl erfüllende Liebesbeziehung mit der natürlichen, von der 'galanten Welt' noch nicht verdorbenen Lise einzugehen, die deshalb die fleischliche Begierde Uberwinden kann.
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die hieraus resultierende Forderung seiner weitgehenden Unterdrückung. Indem er sich schließlich vor allem hiergegen wendet, relativiert er auch die Mitverantwortung Gottes für die Sündhaftigkeit seiner Geschöpfe. Dank der „Vernunft" lasse sich auf die von Gott mit seiner nur scheinbar fehlerhaften Schöpfimg verbundenen tieferen Absichten schließen. Denn durch sie, die Vernunft, seien jene „zwey Klippen" deutlich erkennbar und voneinander zu unterscheiden, die die „göttliche Vorsehung" bei der „Austheilung" dieser Begierde dokumentierten: nämlich die „Allgemeinheit und die Stärke dieses Triebs selbsten", die „uns aufmerksam machen" sollten, weil sie Zeugnis davon ablegten, daß „dieser Trieb ein Institut sey, das die ganze Natur umfängt, um alles was lebet, glücklich zu machen" (PV, 54). Kein anderes von der Natur eingerichtetes 'Institut' sei nämlich imstande, die Menschen, „die vermöge der in ihnen lebenden Kraft [gemeint ist die Disposition zum Handeln] geneigt waren sich von einander zu entfernen [...] einander wieder zu nähern" (PV, 55) - und dadurch die von Kant beschworene Einheit des Menschen wiederherzustellen. Eben durch jene Fähigkeit werde dieser Trieb, trotz oder gerade wegen des ihm eigenen Potentials, auch Böses erzeugen zu können, zum „ G r u n d t r i e b aller lebenden Geschöpfe", der nicht nur überhaupt erst ihr Überleben gestatte, sondern darüber hinaus auch - wie Lenz formuliert - „ihre H a u p t g l ü c k s e l i g k e i t " ausmache (PV, 55).65 In der Tat liegen hier Zerstörung und Erbauung in einem Keime beisammen. [...] in der ganzen Natur ist es nicht anders. Die Fäulniß, welche doch gewiß Zerstörung und Auflösung ist, ist zugleich die Mutter einer neuen Schöpfung und die e i n z i g e [ . ] (PV, 60)
Diese optimistische Perspektive, durch die der Autor auch der Sünde, dem schlechterdings Negativen seinen notwendigen Platz in Gottes Ordnung einzuräumen scheint, darf jedoch nicht als Relativierung eines kategorischen Moralverständnisses mißverstanden werden. Denn unmißverständlich warnt Lenz vor den unvermeidlichen Konsequenzen einer u n g e z ü g e l t e n Triebbefriedigung
65 Hier unterscheidet Lenz sich erheblich von Kants weitaus zurückhaltenderer Beurteilung. Kant akzeptiert zwar den Geschlechtstrieb als etwas Naturgegebenes und verbindet mit ihm auch keine in kirchlicher Tradition stehende Verurteilung seiner angeblichen Sündhaftigkeit. Doch mißtraut er diesem Trieb gerade wegen dessen so stark erhaltener Naturmäßigkeit, da er durch sie die eigentliche Eigenschaft des Menschseins - das intellektuelle Vermögen des Einzelnen - als stets bedroht erkennt. Die mit diesem Urteil verbundene grundsätzliche Geringschätzung der Sexualität, die von Lenz nicht geteilt wird, führt bei Kant zu der Schlußfolgerung, der Geschlechtstrieb solle lediglich der „Erhaltung der Art" dienen. Diesem Standpunkt, den der Philosoph mit einer eher abschätzigen Meinung Uber den „Genuß der Geschlechter Neigung" verbindet, (PP, 216) stellt Lenz seine Erhöhung des durch die Ehe sanktionierten Triebes entgegen.
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(also auch innerhalb der Ehe!), die er als eigentliche Ursache der charakterlichen Mängel des Menschen erkennt: Alsderui kommen die kalten unfreundlichen Leidendenschaften [sie!] wie sieben böse Geister und nehmen den Platz eurer Liebe ein, die anstatt in der Schaale des Geschlechtstriebes zu den herrlichsten Früchten zu gedeyhen, schon frühzeitig im Keim erstarb. Dann kommt Hochmuth und Ehrgeitz und spornen euch ohne Ruhe Felsen an, dann kommt Kleinmuth und Furcht mit allen den kriechenden Passionen hinter sich, Neid, Geiz, Tiike und Schadenfreude, und pressen euch unaufhörlich bis in euer Grab hinab, wo Würmer an eurer Seele fressen. (PV, 68)
Um dies zu verhüten, bedürfe es der christlichen Demut, die - wie Lenz in seinen 'Lebensregeln' ausführt - die zweite der insgesamt drei den Menschen von Christus gegebenen, sogenannten Hauptlehren darstelle: „Demut, aber nicht die der Mienen, der Gebärden, der Worte, sondern des Herzens" fordert der Autor, durch die das Individuum erst in die Lage versetzt werde, „aller Eitelkeit, Eigendünkel und Hochmut nun und in Ewigkeit Abschied [zu] geben, da sie zu nichts dienen als uns zu martern unglücklich zu machen und noch obendrein unsern Wachstum an wahrem Wert zu hindern." (ML, 490) Wer sich ihr hingegen verschließe, seinen körperlichen Bedürfnissen also unvernünftig nachgebe, 66 werde - so Lenz in seinen Vorlesungen - „kränklich und mürrisch" und „schaal und kaltsinnig gegen alles, was [ihn] umgiebt" (PV, 65). Und dies äußere sich - wie auch Kant in seiner Vorlesung über Praktische Philosophie hervorhebt 67 - besonders negativ im Verhalten den Mitmenschen gegenüber: Solche Personen sind an der nächsten Stufe zur Grausamkeit und was noch fürchterlicher ist, zur kaltblütigen Grausamkeit. Selbst unempfindlich gegen alles, können sie sich auch oft nicht einmal einen Begriff von den Empfindungen anderer machen und können ihnen Pein und Qualen im gerüttelten und geschüttelten Maaß zumessen, ohne daß sie ein mitleidiger und zärtlicher Gedanken darüber beunruhigt. (PV, 65)
Zum Verhüten einer derartigen charakterlichen Verrohung komme der Institution der Ehe, die Lenz auch als „wechselseitige G e h ü l f s c h a f t " (PV, 57) und als „die große von Gott etablirte Ordnung" (PV, 61)68 charakterisiert, bei der 66 In diesem Sinne heißt es bei Kant: .jemehr wir Bedürfniße haben, desto unglücklicher sind wir. [...] Ein jedes Bedtlrfniß ist eine Quelle der Uebel. Jemehr wir unsere Bedürfniße einschränken, desto mehr haben wir in unserer Gewalt. [...] Glückseeligkeit [...] kann erlangt werden 1. d u r c h G e n ü g s a m k e i t . 2 . d u r c h S t a n d h a f t i g k e i t " (PP, 218) 67 Kant führt hierzu aus, daß der „Mißbrauch des Geschlechts Vermögens" auch deswegen „schändlich" sei, weil es das Individuum „feindselig gegen die Menschheit" werden lasse (PP, 216). 68 Vgl. hierzu der filr die protestantische Auffassung von der Ehe als Gottesordnung maßgebliche, 1522 entstandene Traktat Luthers Vom ehelichen Leben, in dessen drittem Teil es im letzten Absatz heißt: „daß kein Geschlechtsverkehr ohne Sünde geschieht. Aber Gott verschont ihn [den Menschen] vor Strafen aus Gnade, weil der eheliche Stand sein Werk ist und
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sozialen Lenkung sowie der Kanalisierung des als grundsätzlich positiv bewerteten Geschlechtstriebes die ausschlaggebende Aufgabe zu.69 Da sie einen wichtigen Beitrag leiste, den einzelnen zur Moral hinzuführen, nehme die Ehe - aufgrund der bei Lenz wie bei Kant praktizierten Ineinssetzung von Moral und Religion - auch eine wichtige religiöse Funktion wahr, die ihr in der protestantischen, insbesondere in der lutherischen Tradition in dieser Form zuvor weder explizit noch implizit zuerkannt worden ist. Denn ungeachtet der Abkehr Luthers vom Zölibat galt die Geschlechtlichkeit stets als grundsätzliches Hindernis für das religiöse Leben, galt die Ehe deshalb primär als äußeres Ordnungsorgan, das die geschlechtliche Begierde in sehr eng gefaßten Schranken zu halten hatte. Sich von dieser Anschauung nachhaltig zu lösen, hat Lenz allerdings nicht vermocht, was seine von ihm in der Lebenspraxis niemals ganz überwundene, gerade vom Pietismus geförderte Angst vor der im Geschlechtlichen stets lauernden Sünde veranschaulicht. Denn eindringlich mahnt er in seinen Vorlesungen, man dürfe das Bedürfiiis nach Sexualität, „diesen Trieb", in der Ehe lediglich „mäßig [Hervorh. d.V.] stillen", (PV, 61) weil diese Begierde auch in sanktionierter Form potentiell destruktiv auf den Menschen wirke („wie alle körperlichen Triebe, Hunger und Durst nicht ausgenommen, [trägt er] zur endlichen Zerstörung unsrer Maschine etwas" bei. PV, 61). 70
auch mitten in der Sünde und durch sie hindurch das Gute behält, was er in ihn gepflanzt und gesegnet hat." (In: Martin Luther: Ausgewählte Schriften, Bd. 3, hrsg. von Karin Bornkamm und Gerhard Ebeling, Frankfurt am Main 1982, [S. 165-199], S. 199) Vgl. über die Ehe und deren moralische Qualifizierung auch Lenzens 'Lebensregeln', wo der Autor mittels verschiedener Grade der „Liebe" bzw. der ,,freundschaftliche[n] Zuneigung" zwischen einer moralisch guten und „minder" guten Ehe differenziert (ML, 487ff). 69 Ein mahnendes Gegenbeispiel einer 'Liebe', die nur auf der Eigenliebe des Mannes basiert, zeigt Lenz 1775 in seiner Prosadichtung Zerbin oder die neuere Philosophie auf. Darin pervertiert der Protagonist „die große Weisheit unserer heutigen Philosophen", „daß Ehe eine wechselseitige Hülfeleistung" und „Liebe eine vorübereilende Grille" sei. Denn um seinen sozialen Aufstieg nicht zu gefährden, sucht Zerbin eine „Mißheirat" zu vermeiden (sie „schien seinem aufgeklärten Verstände nun ein [...] unverzeihbares Verbrechen") und beschwört so für seine schwangere, jedoch ihm nicht standesgemäße Geliebte eine Tragödie herauf: sie wird zur Kindesmörderin und endet auf dem Schafott (Z, 369). 70 Über den rechten Umgang mit Genußmitteln führt Lenz in seinen 'Lebensregeln' weiter aus, daß es „wider die christliche Freiheit" sei, „sich an gewisse Arten Speisen, Getränke und andrer sinnlichen Kützelungen wie Tabak, Opium, Branntewein, Bäder etc. zu gewöhnen", weil man dann „zu Sklaven unser Sinnen und unglücklich" werde. Lenzens Ablehnung gilt jedoch lediglich dem M i ß b r a u c h , weshalb er ergänzt: „Doch muß ich alle diese Dinge brauchen können wenn ich will und die Vernunft es erlaubt." (ML, 496) Auch der oft als Asket fehlverstandene Kant ist manchen dieser 'gewissen Arten' von Genußmitteln nicht abgeneigt gewesen und hat ausdrücklich für ihren v e r n ü n f t i g e n Konsum geworben und deshalb - wie seine Biographen einvernehmlich berichten - bei seinem stets ausgedehnt zelebrierten Mittagstisch besonders gerne dem Wein täglich und in größeren Mengen zugesprochen. 'Fressen' und 'Völlerei' wurde von ihm jedoch scharf kritisiert. Vgl. hierzu in Lenzens Prosadichtung Der Landprediger die Warnung vor dem „Rauchen, sobald es Gewohnheit" werde (DL, 439) und den statt dessen täglich im Pfarrhaus des Protagonisten servierten Wein (vgl. DL, 441).
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Doch Lenz bemüht sich wiederum um die Relativierung solcher Bedenken und schreibt, wir sollten auch in diesem Fall unser irdisches Leben nicht so hoch schätzen, daß wir es auf Kosten unserer ganzen irdischen Vergnügtheit und des Lebens einer uns verewigenden Nachkommenschaft zu erhalten suchen [...] Also - nur frisch geheirathet, ihr Herren. (PV, 61)
Im starken Gegensatz ebenso zur protestantischen Dogmatik wie zur Glaubenspraxis des Franckeschen Pietismus befürwortet Lenz ausdrücklich den ehelich sanktionierten Lustgewinn durch das Geschlechtsleben, auch wenn er einschränkt, daß der naturgemäße Sinn des sexuellen Verkehrs eigentlich nicht darauf abziele. Jedoch brauche der Sexualakt nicht an die Bedingung gebunden sein, der Zeugung von Kindern zu dienen, - womit er in diesem Punkt auch seinem Dozenten Kant widerspricht, aus dessen Vorlesung über Praktische Philosophie die eindeutige Feststellung überliefert ist, die Ehe sei „die moralische Condition, worunter der Genuß der Geschlechter Neigung statt finden kann, i n s o f e r n die E r h a l t u n g der Art d a d u r c h f o r t g e p f l a n z t wird [Hervorh. d.V.]" (PP, 216). Daß Lenz die Sexualität jedoch noch aus einem weitaus bedeutenderen Grund wertschätzt als wegen ihrer Potentiale des individuellen Lustgewinns und der Erhaltung der Gattung, erläutert er gegen Ende seiner Überlegungen, wenn er resümiert, seine „Beobachtungen" würden klar und deutlich zeigen, daß die [...] Austheilung des Geschlechtstriebs unter den Menschen, mehr als die blosse Befriedigung desselben und das daraus entspringende Vergnügen zur Absicht gehabt [hat]. Ich sage mehr, und schliesse auch die Fortpflanzung des menschlichen Geschlechts, welche freilich mit eine Nebenabsicht war, von diesem m e h r aus. (PV, 67)
Doch was ist dieses Mehr, was der eigentliche Zweck, zu dem der Geschlechtstrieb, diese „Veranstaltung Gottes" (PV, 67), den Menschen gegeben wurde und „ihre H a u p t g l ü c k s e l i g k e i t " (PV, 55) ausmacht? Lenzens Antwort hierauf ist klar und ohne Zweifel: Der Geschlechtstrieb begründe die Fähigkeit des Individuums, überhaupt empfinden zu können, oder - in seinen Worten und wie zu Vorwegnahme des Beginns der Psychoanalyse um 1900: „Um kurz von der Sache zu kommen, der Geschlechtstrieb ist die M u t t e r aller u n s e r e r E m p f i n d u n g e n " (PV, 68). Zerstreut und verschwendet diesen Schatz, und ihr werdet kalte und leere Geschöpfe, Kinder ohne Dankbarkeit und Pietät, Ehegatten ohne Zärtlichkeit und eheliche Treue, Väter ohne Freude an eurem multiplicierten Selbst werden, kalt, kalt, kalt - (PV, 68)
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Empfindsame Liebe Kalt, also gefühllos werde der Mensch durch ein ungehemmtes Ausleben seines Geschlechtstriebes; ein Verhalten, daß dem Zweck dieser gottgegebenen Anlage zuwiderliefe, da die individuelle Empfindungsfähigkeit - jenes Wahrnehmungsorgan, mit dem der Mensch die ihn umgebende Welt aufnimmt, die wiederum für ihn die Grundlage vernunftmäßiger Schlüsse darstellen - durch Zerstreuung und Verschwendung mutwillig zerstört würde. Ein pfleglicher Umgang mit diesem sensiblen 'Organ' scheint Lenz deshalb geboten und fordert dafür „die Zähmung unsers Geschlechtstriebes", - eine Forderung, die er auch als den ,,erste[n] Grundsatz in unserer Moral" (PV, 69) bezeichnet. 71 Dieser gebiete die Zügelung, nicht das Abtöten der geschlechtlichen Begierde, was der Autor in seinen 'Lebensregeln' auch als die erste der drei uns durch Christi Beispiel gegebenen, sogenannten Hauptlehren charakterisiert, die in ihrer Gesamtheit dazu dienten, „die von Gott zu unsrer [...] Glückseligkeit festgesetzte Ordnung [nicht] zu unterbrechen" und die „rechte Maße und Ordnung in allen unseren Handlungen" zu bringen (ML, 489f). In diesem Sinne gelte es, so Lenz in seinen Vorlesungen, „uns nach Mittel um zu sehen, der Heftigkeit des bloß thierischen Triebes Zügel anzulegen und Einhalt zu thun" (PV, 72). Denn wir sehen wohl, daß er [der Geschlechtstrieb] nur geleitet, nicht getödtet werden muß, so wenig wir Fug haben, andere thierische Instinkte die zu heilsamen Zwecken in uns gelegt waren, auszurotten. Und dieses Mittel muß von der Art sein, daß es bei allen Fällen und zu allen Zeiten gleich kräftig und probat ist (PV, 70) [...] Es kommt hier also auf eine Medicin an, die ihre Kraft vor der Krankheit äussert welche sie verhüten soll - und die ist (PV, 70) [...] Die empfindsame Liebe. (PV, 72)
Die empfindsame Liebe realisiere also jene vom Autor geforderte vollkommene Homogenität der Geschlechter; eine Form der Liebe, die in Lenzens Verständnis nichts mit dem in seiner Epoche modernen Phänomen der von ihm unter anderem als ,,sensibilité"(SdL, 579) verachteten Empfindungsseligkeit gemein hat. Denn die empfindsame Liebe zeichne sich eben dadurch aus, daß in ihr den Affekten nicht blind nachgegeben werde, daß man statt dessen stets den „eisernen Arm der Vernunft gespannt" (PV, 11) halte, um der „Tugend" (PV, 11) willen und für die „reinem Flammen der Liebe und Ehrfurcht" (PV, 65). 72
71 In Verkennung der damaligen moralischen Anschauungen interpretiert Sauder diese Überlegung als einen „skandalösen Gedanken", dessen Äußerung er sich nur damit erklären kann, daß Lenz von den Mitgliedern der Sozietät „offenbar ein experimentelles Denken" zugestanden worden sei (Sauder, 23). 72 Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang, daß Lenz an anderer Stelle seiner Vorlesungen das Lieben als gleichbedeutend mit dem Gefühl setzt, etwas als „schön [zu] empfinden"
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D i e rechte Verhältnisse und Grade in der L i e b e zu finden, dazu habt ihr die Vernunft, Gottesgabe und v o l l k o m m e n s t e s Gesetz. Cela! ( P V , 7 2 )
Ein sehr markantes Beispiel für die Realisierung dieser empfindsamen Liebe zeigt Lenz in seinem Drama Der Hofmeister auf. Dort muß der Protagonist Läuffer erst alle Tiefen einer von blinder Leidenschaft und verbotener körperlicher Lust bestimmten, unvernünftigen Geschlechtsbeziehung durchleben, an der Mann und Frau gleichermaßen beinahe zugrunde gehen. Doch bevor der Hauslehrer Läuffer an dieser unstandesgemäßen Liaison mit der Tochter seines Dienstherren vollends zerbricht, kann er die Ursache seines Leids, seine Triebhaftigkeit, durch die Kastration ausmerzen. Derart von den für ihn destruktiven, weil von ihm unkontrollierbaren Begierden befreit, besinnt er sich endlich auf seine Vernunft und findet sein Glück schließlich in einer auf jenen „reinem Flammen der Liebe und Ehrfurcht" (PV, 65) basierenden Beziehung zu einem anderen, tugendhafteren und ihm standesgemäßeren Mädchen. 73 Das Ideal einer auf Vernunft basierenden Liebesbeziehung wird auch von Kant propagiert, wenn er im zwischenmenschlichen Bereich etwa die unbedingte Beherrschung der Leidenschaften (der „Sensualität durch die Intellectualität"; M, 256) zur Bewahrung der Tugend einfordert, damit der Erhalt des höchsten menschlichen Guts garantiert werde: der individuellen geistigen Freiheit. Den Begriff der Liebe versteht Kant - wie Lenz - als von dem an das menschliche Vermögen der Lust und Unlust gebundenen Begriff des Gefühls vollkommen geschieden. Lieben bezeichnet für ihn eine der Ethik verpflichtete, auf den Mitmenschen ausgerichtete Handlungsweise, nämlich „die Neigung, die Wohlfahrt eines anderen zu befördern" (PP, 215). Und dieser Neigung müsse in aller Uneigennützigkeit die ,,moralische[...] Gesinnung" zugrunde liegen, „den Willen Gottes gerne zu tun" (PP, 181): „[...] fragt Euer Herz dann gebt Ihr mit Aufrichtigkeit ohne Furcht und ohne Zwang" (DL, 46 lf).
(PV, 11), wobei er dieses Attribut über den Bereich der Ästhetik hinaus gerade in dem der Metaphysik gebraucht, etwa durch seine Bezeichnung Gottes bzw. des sittlichen Ideals als 'höchster Schönheit'. 73 Vgl. im Hoftneister die zehnte Szene im fünften Akt, in der der Autor mit Läuffer und Lise samt dem alten Schulmeister Wenzeslaus das versöhnliche Tableau einer nicht durch Blutsverwandtschaft, sondern durch die Vernunft gebildeten Familie entfaltet. Die in der Forschung kursierende These, dieser Schluß müsse in erster Linie parodistisch verstanden werden, scheint zwar vor allem mit Blick auf Lenzens Beschäftigung mit Lessing naheliegend. In der Substanz mutet er aber wenig schlüssig an, würde der Autor hierdurch doch die mit seinem Drama verbundenen und durch einen geduldigen Handlungsaufbau realisierten aufklärerischen Intentionen wieder weitgehend konterkarieren.
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2. Gesetz und Freiheit Gesetze Daß Lenz die Begierde als menschliches Vermögen grundsätzlich positiv bewertet („Unsere Konkupiscenz soll also befriedigt werden - denn Gott hätte sie uns sonst nicht gegeben"; PV, 29), verdeutlicht auch seine philosophische Betrachtung der staatlichen Regelwerke des sozialen Miteinanders, der weltlichen Gesetze. Auch diese diskutiert er im engen Sinnzusammenhang mit dem von der biblischen Eva provozierten Sündenfall, wobei er nicht nur ein von jeglicher kirchlichen Doktrin abweichendes Verständnis dieses Ereignisses demonstriert, sondern zu überraschenden, weit über religiöse Grundfragen hinausreichenden Schlußfolgerungen gelangt. So unterzieht er - in der Tradition des Augustinus und dessen Überlegungen zum 'felix culpa' - jenen für das Selbstverständnis der christlichen Kirchen so entscheidenden Mythos einer schon beinahe revolutionären Umdeutung, wenn er implizit feststellt, Eva habe durch ihren Griff zu den Früchten des verbotenen Baumes der Erkenntnis zwar Gottes Gesetz gebrochen, jedoch damit gleichzeitig in s e i n e m Sinne gehandelt. Denn „Gott" habe im Grunde lediglich „unsere Konkupiscenz in Bewegung setzen" wollen, und „das konnte nur durch ein Verbot geschehen" (PV, 15).74 Diesen nur scheinbaren Widerspruch erläutert Lenz auf der Grundlage der von Issac Newton formulierten und von Kant unter anderem ausfuhrlich in seiner im WS 1769/70 abgehaltenen Vorlesung über Theoretische Physik75 74 In seinen Meinungen eines Laien... hebt Lenz des weiteren hervor, daß alle von Gottes Gesetzen, „wenigstens die wichtigem", in diesem Sinne „negativ" seien. „Alle moralischen Gesetze sind n e g a t i v , müssen negativ sein, sie zeugen uns, was wir unterlassen müssen, [...] falls wir uns nicht in Schaden und Unglück verwickeln wollen." (MeL, 549f) 75 Die unvergleichliche Bedeutung Newtons für seine komplette philosophische Entwicklung (also gleichermaßen für die Teilgebiete Metaphysik, Ethik und Ästhetik) hat Kant nicht zuletzt in seinen Vorlesungen durch zahllose, offensichtlich bei Lenz auf fruchtbaren Boden gefallene direkte oder nur implizierte Verweise auf den englischen Physiker und Astronomen hervorgehoben (etwa in seinem Metaphysik-Kollegium, in dem es im Kontext der Tranzendentalen Kosmologie in Anspielung auf die Bewegungsgesetze heißt: „Das Wesentliche im Begriffe der Welt macht die Verknüpfung der Substanzen aus. Die wechselseitige Wirkung macht die Form der Welt aus." M, 208). Bereits in seiner 1755 verfaßten Schrift Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels hatte der junge Philosoph den - so der Untertitel des Werks - „mechanischen Ursprünge des ganzen Weltgebäudes" nach den „Newtonischen Grundsätzen" abzuhandeln versucht (in: Kants Werke. Akademie-Ausgabe, Bd. I, Vorkritische Schriften 1, S. 215-368). Seine erklärte Absicht dabei war, auf Newton aufbauend - also auf der Grundlage der von diesem formulierten wissenschaftlichen Richtlinie und der hiervon begründeten Weltsicht - den Begriff der Natur als von den mechanischen Gesetzen geregelte Einheit der Erscheinungen zu begreifen und so ein philosophisches Lehrgebäude zu errichten, das nichts Geringeres als das - wie Vorländer formuliert - „ganze Weltsystem" (Vorländer, I, 97) darstellen solle. In der VorTede dieser frühen Schrift schreibt Kant hierzu, daß er sich wie auf einer ,,gefährliche[n] Reise" wähne und am Horizont bereits „die Vorgebirge neuer Län-
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behandelten physikalischen Bewegungsgesetze, den sogenannten drei Newtonschen Axiomen.76 Lenz knüpft dabei an das dritte (von der Gleichheit von Kraft und Gegenkraft) an, wenn er eingangs feststellt, es sei „unwiedersprechlich, daß in der ganzen Natur alle Kräfte nur entgegen wirken. Alle Aktion ist Reaktion [...] wo kein Stoß da keine Bewegung [...] da bleibt alles ruhend und leidend" (PV, 16).77 Und diese physikalische Gesetzmäßigkeit gelte - so Lenz - auch für jegliches menschliches Handeln,78 da Materie und Geist im erkenntnistheoretisch-logischen Sinne nicht als voneinander getrennt betrachtet werden dürften. Deshalb verwahre er sich, wie es an anderer Stelle heißt, gegen die Versuche ,,gewisse[r] Psychologen", die „uns gern überreden" wollten, „wir wären entweder ganz Geist, oder ganz Materie" (VeP, 502).79 Denn der Mensch bedürfe, ebenso wie jeglicher unbeseelte materielle Gegenstand, zur Motivation seiner intellektuellen Tätigkeit ebenfalls äußerer Anstöße, um 'in
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der" erblicke (S. 221). 'Neue Länder' - , eine gelungene Metapher für sein Jahre später mit dem Kritizismus tatsächlich erreichtes Ziel, von dem er sich in jener frühen Zeit allerdings noch keine Vorstellung hat machen können. Ebenso entschieden, wie Kant Newtons naturwissenschaftliche Verdienste würdigte, lehnte er jedoch Newtons im Alter entwickelte spekulativ-religiöse Überlegungen vom sogenannten absoluten Raum und der absoluten Zeit ab, die auf Mores (von den Deisten als Beweis für das Dasein Gottes verwendete) Auffassung des Raums als des 'Sensorium Gottes' aufbauten. Das philosophische Pendant zu Newtons naturwissenschaftlichen Erkenntnissen fand Kant vor allem bei David Hume, dessen „Begriff der Verknüpfung von Ursache und Wirkung" - so Kant in seiner Prolegomena - ihn aus seinem „dogmatischen Schlummer" (Pro, 6) geweckt und zu der Einsicht geführt habe, daß auch die „Metaphysik ganz und gar" jenem Prinzip der „Verknüpfung der Dinge" unterworfen sei (Pro, 7). Als grundlegend für alle Bewegungsvorgänge erkannte Newton drei Bewegungsgesetze (Axiome): das Trägheitsgesetz Galileis, das Gesetz der den Kräften proportionalen Beschleunigungen und das Gesetz der Gleichheit von Kraft und Gegenkraft. Unter Leiden versteht Lenz - außer der Untätigkeit - auch jegliche „Handlung aus Instinkt" heraus, da diese eine dem Tierischen, also einer unvernünftigen Verhaltensweise entspreche (PV, 16). Nicht zuletzt gilt dies aber auch für die Interaktionen zwischen den einzelnen Ständen einer Gesellschaft, wie Lenz 1777 in der Prosa Der Landprediger hervorhebt, in der er hierzu feststellt, der Adel würde bei seinem die Rechte des Bürgertums verletzenden Verhalten nicht bedenken, „daß eben dieser Stoß in die Rechte der andern, einen Gegenstoß veranlaßt, der gerade das macht, was sie Unterdrückung nennen, und am Ende die traurige Spalte zwischen den beiden Ständen, ich meine dem A d e l und dem e d l e n B ü r g e r zurückläßt, die einander doch so unentbehrlich sind." (DL, 432) Damit weist Lenz einerseits die Grundvoraussetzung des kritischen Materialismus' zurück, der die Eigengesetzlichkeit des Geistes gegenüber dem Naturhaften behauptet, das eine in sich geschlossene, mechanisch-energetischen Gesetzen gehorchende Sphäre darstelle. Andererseits stellt diese Formulierung auch eine Absage an den vor allem auf Plato zurückgehenden metaphysischen Idealismus und seine Annahme einer parallel zur Materie existierenden ideellen Realität (sei es Gott, Geist, Wille etc.) dar und knüpft an die Wurzeln des von Kant entwickelten transzendentalen oder kritischen Idealismus an.
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Bewegung zu geraten' (vgl. PV, 16).80 Einzig deshalb habe Gott, um „uns [respektive Eva] zur Handlung zu determinieren", (PV, 16) „ v e r b i e t e n " (PV, 16) müssen,81 denn es war dies V e r b o t die vis centrifuga die Gott dem menschlichen Wesen eindrükte, d a die K o n k u p i s c e n z gleichsam seine vis centrípeta war, und nur bei dem Streit dieser beiden entgegenwirkenden Kräfte konnte sich seine F r e i h e i t i m H a n d e l n , seine Selbstwirksamkeit, seine V e l l e i t ä t äussern. (PV, 16f)
Lenz sieht diesen Mechanismus auch bei den weltlichen Gesetzen verwirklicht („Was der Baum des Erkenntnisses im Garten, das ist uns das Gesetz"; PV, 22), die er grundsätzlich für gerechtfertigt erachtet, da sie „unserer Konkupiscenz die gehörigen Einschränkungen zur allgemeinen Glückseligkeit" (PV, 22) gäben.82 Doch darf dieses positive Urteil über weltliche Rechtsnormen nicht als pauschales Bekenntnis zu jeder Art gesetzlicher Reglementierung mißverstanden werden, denn Lenz urteilt ausdrücklich über die „bürgerlichen [Hervorh. d.V.] Geseze die der Geist der Gesellschaft zur Beförderung ihres Wolstandes erfunden und denen wir uns unterwerfen, so bald wir an diesem Wolstand Theil nehmen" (PV, 29).83 Nur aus diesem Grunde seien „Gesetze also überhaupt [...] die Ursachen aller unserer H a n d l u n g e n " , wobei Lenz differenziert, daß sie aber lediglich deren „ g e l e g e n h e i t l i c h e n " und nicht ihre „wirkenden Ursachen" darstellten. Denn diese seien in der individuellen „ W i l l e n s f r e i h e i t " (PV, 22) des Menschen situiert, die durch Gesetze „nur in Bewegung gesetzt" werde (PV, 22). Bei Kant lesen wir: „Der Mensch fühlt also ein Vermögen in sich, sich durch nichts in der Welt zu irgend Etwas zwingen zu lassen." (M, 255). Die moralische Beurteilung staatlicher Gesetze ergibt sich für Lenz aus der Qualität der von ihnen motivierten Handlungen. In seinem hierüber entwickelten Gedankengang erweist er sich insofern als Kind seiner vom Absolutismus geprägten Epoche, als er es wegen der für ihn geltenden repressiven Rechtsnormen in der Öffentlichkeit eben nicht wagen darf, seine nach einer höher entwickelten Gerechtigkeit verlangenden Überlegungen unverschlüsselt zu
80 Weiter fìlhrt Lenz aus: „Die Materie ist nur beweglich nach dem Maaß der Kraft die sie hat zu wiederstehen [sie!]. Die Geister haben nur nach dem Maaß ihrer grösseren Kraft zu wiederstehen, eine grössere Beweglichkeit." (PV, 16) 81 In diesem mechanischen Prinzip erkennt Lenz auch die Ursache einer jeglichen Gottesvorstellung, denn „auf diesem Weg allein konnten die vernünftigen Geschöpfe zur Idee einer Gottheit kommen" (PV, 16). 82 An anderer Stelle führt er hierzu aus: ein „Gesez ist die Lehre von den Verhältnissen, welche allein das Maas von Realität bestimmen, das wir zu erreichen suchen sollen, und unsere Vernunft ist das Vermögen, diese Verhältnisse einzusehen." (PV, 29) 83 In Kants Vorlesung Uber Praktische Philosophie finden wir als ähnliche Formulierung, daß die „Bürgerlichen Gesezze [...] auch darinn von den moralischen unterschieden [seien], daß sie auf den allgemeinen Nuzzen gehen, die moralischen aber nicht." (PP, 109)
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äußern. Er löst diesen Konflikt geradezu spielerisch, wofür ihm als Präludium der zuvor wie beiläufig gefallene Hinweis auf die b ü r g e r l i c h e n Gesetze dient. Lapidar stellt er nun fest, daß „alle Geseze eigentlich nur v e r n e i n e n " , um in gespielter Naivität fortzufahren, Gesetze würden nur „Handlungen verbieten, die die a l l g e m e i n e [Hervorh. d.V.] Glückseeligkeit Stohren" (PV, 22f); diese optimistische These wird der Lebenswirklichkeit des ausgehenden 18. Jahrhunderts wohl kaum entsprochen haben. Die Hintergründigkeit dieses Gedankens wird schließlich offenbar, wenn man ihn umkehrt und bedenkt, daß Lenz die Verwirklichung von Glückseligkeit untrennbar mit der Bewahrung eines kategorischen Tugendbegriffs verknüpft hat, dessen Zurückweisung oder nur Relativierung einem Sich-Empören „wider Vernunft, Ordnung und Gott" (ML, 488) gleichkäme. Und so werfen sich wie von selbst die von Lenz nur implizit gestellten Fragen auf, wie es denn um die Legitimation weltlicher Gesetze bestellt ist, wenn sie Untugenden wie die Selbstsucht, den Stolz, den Neid, den Hochmut oder die Eitelkeit befördern? Wenn sie nicht der a l l g e m e i n e n Glückseligkeit dienen, wie Lenz eindringlich fordert, sondern dem Nutzen einiger weniger und dadurch die berechtigten Interessen der Mehrheit verletzen? Denn Lenz verlangt ausdrücklich nach allgemeingültigen also vernunftmäßigen - Regeln, nach einem ,,allgemeine[n] Gesetz", (PV, 26) das „eine so ziemliche Idee von den P f l i c h t e n j e d e s [Hervorh. d.V.] Individui zur Glückseeligkeit des Ganzen" (PV, 26) formuliere; schließlich existiere natürlicherweise „Gleichheit unter allen Menschen, so ferne sie [...] alle [von Gott] zur höchsten Glückseeligkeit erschaffen, alle berufen sind" (PV, 32).84 Von Kant werden derartige allgemeine Gesetze auch als „natürlich moralische" Gesetze (PP, 145) bezeichnet, die in sich „1. das Maaß aller Vollkommenheiten" bergen würden sowie „2. das principium der Beurtheilung", die „Richtschnur", mit der unsere „Handlungen" übereinstimmen müßten („Aus der Natur der Handlungen fließt auch ihre äußere bonitaet."; PP, 146). Für diese unsere Handlungen könnten jene Gesetze, jene „Regeln der Moralität" (PP, 128) nur als kategorisch gültig, also als nicht relativierbar verstanden werden, weil in ihnen unbedingte „Gewißheit herrsche" (PP, 127). Und auch der Königsberger Dozent verwendet im Zusammenhang seiner Argumentation über Regelwerke, die unbedingt zur Tugend hinführen müssen, den Begriff der Pflicht und benennt explizit „zwey Tugend Pflichten", denen es zu genügen
84 An anderer Stelle stellt er als HinfUhrung zum gleichen Thema zunächst allgemein fest, daß „uns kein Gesetzgeber vorschreiben" könne, was „wir zu tun haben", denn dies würde „uns [...] zu Maschinen und Rädern [degradieren], die herumgedreht werden mtlssen, weil sie nicht von selber laufen können." Im direkten Anschluß erfolgt sein unmißverständlicher Transfer zur sozialen Gegenwart, der auch Kritik am zeitgenössischen mechanistischen Weltbild impliziert: „Das mag der Fall wohl beim politischen Gesetzgeber sein, der die Seele seiner Staatsmaschine ist, der das unbehelfsame Volk mit Gebiß und Zaum regiert wie ein Knabe den Elefanten - aber beim moralischen Gesetzgeber, der freihandelnde selbständige Wesen bilden will, ist er's nicht und kann es nicht sein." (MeL, 550)
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gelte: „Eine T u g e n d P f l i c h t g e g e n u n s und d i e z w o t e g e g e n a n d e r e . " (PP, 163) Der Begriff der Tugend wird von ihm dabei als Synonym für die von Gott geoffenbarte Ethik verstanden („Die Ethik heißt demnach die Tugend Lehre."; PP, 163), von der er die Lehre des staatlichen Rechts grundsätzlich unterscheidet, - und an deren geringerer Verbindlichkeit für den Menschen er wie auch Lenz keinen Zweifel läßt: Die Ethic ist von der Lehre des Rechts unterschieden. Sie ist der Innbegriff der beliebigen Pflichten und das Recht ist die Schuldigkeit. In Ansehung Gottes sind alle unsere Pflichten Zwangs Pflichten. In Ansehung der Menschen aber sind nicht alle Pflichten Zwangs Pflichten. Der Innbegriff der Pflichten also wozu wir durch Menschlichen Zwang nicht können gezwungen werden, macht die Ethic oder die Tugend Lehre aus. (PP, 143)
Um den Begriff der Pflicht, also der gegen sich selbst und der gegen andere, zusätzlich zu verdeutlichen, formuliert Kant im direkten Anschluß, daß jegliche „Handlung so fern sie zur moralischen Vollkommenheit gehöret", „unsere Pflicht" sei, (PP, 143)85 was im Umkehrschluß den Gedankengang provoziert, daß von einem staatlichen Gesetz verlangte Handlungen, die nicht der moralischen Vollkommenheit förderlich sind, unmöglich als verpflichtend aufgefaßt werden können. Hierzu müßten sie erst, um es mit Lenz wiederum positiv zu formulieren, der „allgemeinen Glückseligkeit" dienen („Von der Art sind [...] alle bürgerlichen Geseze die der Geist der Gesellschaft zur Beförderung ihres Wolstandes erfunden und denen wir uns unterwerfen, so bald wir an diesem Wolstand Theil nehmen"; PV, 22).
Gutes / böses Handeln Zur qualitativen Differenzierung des Begriffs des Gesetzes in gut oder böse verwendet Lenz die gleichen Kriterien, die ihm zur Unterscheidung guter von bösen Handlungen dienen. So definiert er in seinen Vorlesungen zwei Arten von Handlungen: „ g e s e t z w i d r i g e " , die den gesetzlich bestimmten „Verbo85 Über die Entwicklung und Inhalte von Kants Philosophie des Rechts sei auf Werner Büschs verdienstvolle Abhandlung Die Entstehung der kritischen Rechtsphilosophie Kants 17621780 verwiesen (Berlin/New York 1979), in der der Verfasser bei der Darstellung der „Einheit von Recht und Moral in der civitas dei" (Kap. 4.4.2) jedoch nicht logisch folgert, wenn er unter Hinzuziehung von Kants Dissertation von 1770 annimmt, der Philosoph habe während der frühen 70er Jahre die göttliche „Moral", also die im sittlichen Ideal repräsentierte Ethik „durch das [staatliche] Recht" zu ersetzen gewünscht. Gerade Kants expliziter Verweis auf Malebranche am Ende des dortigen §22 in Verbindung mit dem Zusatz, der Mensch „schaue" „alles in Gott" (S. 73), verweist aber auf seine im Anschluß dargestellte transzendentale Erkenntnislehre, in der er den Begriff von Gott und den des Ersten Principiums der Moral als miteinander verknüpfte philosophische Gegenstände behandelt.
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t[en] grad entgegenlauffen" (PV, 23) und „ethische, die über das Gesetz erhaben" seien, weil sie „die allgemein Glückseeligkeit nicht nur nicht stöhren, sondern befördern und stuffenweise erhöhen". Letztere könnten als grundsätzlich gut klassifiziert werden, wobei Lenz sie darüber hinaus - gemäß ihrer jeweiligen „Abstufung" - in „schön, edel, fürtrefflich, englisch, [und] göttlich" unterscheidet. Den guten Handlungen stünden die bösen gegenüber, die „unnützen, verneinenden, gesezmäßigen, die weder unser noch anderer Glück befördern und also lieber Unthätigkeit als Handlungen heissen mögen (wie das Beten, Fasten, Almosengeben der Pharisäer)" (PV, 23). Die Darbietung eines derartigen Klassifizierungsmodells und die Beförderung der guten Handlungen sieht Lenz als den „Hauptzweck der Lehre Christi" an, weil die „frohe Botschaft", die das Evangelium86 überliefert, „die einzigwahren Quellen einer Glückseligkeit eröffnet" (PV, 23). Wohlgemerkt, das Evangelium e r ö f f n e nur die Quellen einer Glückseligkeit (auch von Kant wird dieser Terminus in einem ähnlichen Zusammenhang benutzt);87 es repräsentiert demnach also nur einen, nicht den Schlüssel zu einer von potentiell m e h r e r e n Möglichkeiten, um Glückseligkeit zu erlangen. Die durch diese Formulierung implizierte Zurückweisung des christlichen (vom Pietismus in besonderer Weise geförderten) Missionsgedankens, der nicht zuletzt aus dem intoleranten Selbstverständnis entsprungen ist, für alle Menschen, gleich welcher kulturellen und religiösen Herkunft, den e i n z i g e n Weg zur Erlösung bereitzuhalten, verstärkt Lenz noch in Verbindung mit seiner konsequenten Verurteilung all jener ,,boshafte[n] und unthätige[n] Personen" (PV, 23), die das „Wort" Christi nicht verstünden: das Wort eines Mannes, den er als „Propheten" der Tat beschreibt (PV, 24).88 Diese Art von Boshaftigkeit und Untätigkeit erkennt er nicht nur bei den „schwärmerischen Andächtler[n]" (PV, 27), die sich selbst als die wahren christlichen Vorbilder89 stilisieren, sondern auch bei deren schärfsten Gegnern, 86 In diesem Zusammenhang sei erwähnt, daß Lenz in seinen Vorlesungen mehrfach Inhalte des Matthäus-Evangeliums paraphrasiert, um seine Argumentationen zu strukturieren bzw. inhaltlich auszubauen; so z.B. im Kontext seiner Überlegungen Uber Gesetze sowie über das Gute und Böse, bei denen er zur Konturierung seines christlichen Selbstverständnisses wesentliche Elemente der in Matthäus S aufgezeichneten Bergpredigt (Seligpreisungen und Die rechte Gesetzeserfüllung) reflektiert. 87 Kant spricht von den „ersten Quellen und principien der moralischen Beurtheilung", die er vor allem aus von der Vernunft erkannten „objectiven Gründen" ableitet (PP, 106). Nicht anders argumentiert Lenz, der zum Gewahrwerden des Ersten Principiums der Moral den gleichen Erkenntnisweg propagiert und letztlich feststellt, daß die christliche Botschaft lediglich e i n e Offenbarungsmöglichkeit dieses sittlichen Ideals darstellt. 88 Lenz beschreibt Christus nicht bloß formelhaft als 'Gottes eingeborenen Sohn', sondern hebt ihn auch deswegen über die normalen Menschen hervor, weil er - außer daß er der Prophet der 'frohen Botschaft' gewesen sei - „wohl that, sein L e b e n l i e ß ftlrs a l l g e m e i n e W o h l " (PV, 24), womit er sich einer auch von Neologen vertretenen Anschauung anschließt. 89 In seinen 'Lebensregeln' stellt Lenz im Zusammenhang mit seiner Verurteilung der Hoffart als Sünde fest, daß die Hoffart, andere „hinunter [zu] setzen", um sich selbst zu erhöhen, bei
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den „von ihnen verketzerten Freigeisteren [sic!]" (PV, 27). Denn beide Gruppierungen behaupteten „so ganz wie aus einem Munde" (PV, 27) die Unmöglichkeit, die Botschaft des Evangeliums in der alltäglichen Lebenspraxis umzusetzen. Dabei zeige doch ein wörtlich verstandenes Evangelium („die Lehre von der freien Gnade Gottes, die durch Jesum Christum geschehen ist, die den Grund alles dessen enthält, was wir Gutes, Schönes und Edles hervorbringen, den Grund unserer ganzen Seeligkeit"; PV, 32) die Möglichkeit auf, „das geschehene zu verbessern". 90 Und dies heiße, das Gute in dieser Welt wollen und praktizieren zu können, 91 und dadurch den einzelnen Menschen „auf der Bahn der Glückseligkeit" (PV, 27) unmittelbar voran zu bringen, 92 ihn letztlich sogar - wie Lenz um 1774 in seiner Rezension von Goethes Götz von Berlichingen schreibt - „Gott ähnlich werden" (ÜG, 638) zu lassen. An dieser Stelle sei hervorgehoben, daß Lenz, wenn er von der Glückseligkeit als dem höchsten spirituellen Ziel spricht, ausdrücklich eine nur individuell zu realisierende Erlösungsvorstellung im Sinn hat. Denn kategorisch schließt er die Möglichkeit aus, daß die bloße Zugehörigkeit zu einer religiösen Gruppe oder Institution das Erreichen der Glückseligkeit befördern oder sogar eine zwingende Voraussetzung hierfür sein könne.93 Das geistige Fundament, auf dessen Grundlage Lenz diese Überzeugung vertritt, ist aus vielfältigen Bestandteilen aufgebaut und vereinigt in sich weniger pietistisches Gedankengut als erkenntnistheoretische Überlegungen - und in besonderem Maß die Essenz von Kants Kollegia über Philosophische Enzyklopädie sowie über Physische Geographie, die über die reine Wissenserweiterung hinaus nicht zuletzt dazu konzipiert waren, die Studenten zu einem tieferen Verständnis und damit zur Toleranz gegenüber ihnen fremden Kulturen anzuleiten. Denn im Verlauf von Kants „Betrachtung der Erde", 94 während der er seinen Zuhörern „mit der ver-
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jenen „Leuten" am stärksten ausgeprägt sei, „die auf einen besonderen Eifer in der Religion, auf eine besondre Frömmigkeit Anspruch machen und alles um sich herum verdammen, verketzern und verbrennen" (ML, 492). Lenz: Zweites Supplement. - In: PV, 27. In seinem Anhang der Philosophischen Vorlesungen behandelt Lenz 'gutes Handeln' auch als Synonym für 'leben' schlechthin („zu leben, das heißt versucht gut zu handeln"), während der Tod die geradezu naturgesetzliche Strafe für Jedwede böse That" darstelle (PV, 47). Diese Wertschätzung der christlichen Botschaft korrespondiert mit Kants Standpunkt, der die Evangelien in seiner Vorlesung über Praktische Philosophie als „ein Übernatürliches Mittel" bezeichnet hat, das aufzeige, „wie wir zur wahren Vollkommenheit" gelangten, indem wir uns „der Glücksseligkeit würdig" erwiesen (PP, 105f). Damit weist er einmal mehr den Anspruch der christlichen Amtskirchen zurück, daß die Mitgliedschaft in ihnen zwingende Voraussetzung zum Teilhaftigwerden der göttlichen Vergebung sei. Kant: Entwurf und Ankündigung eines Collegii der physischen Geographie nebst dem Anhange einer kurzen Betrachtung über die Frage: Ob die Westwinde in unseren Gegenden darum feucht seien, weil sie über ein großes Meer streichen. - Entstanden 1757 (künftig abgekürzt „Entwurf"), in: Kants Werke. Akademie-Ausgabe, Bd. II, Vorkritische Schriften 2, Berlin 1968, (S. 1-12), S. 3. Über Kants Kollegia über Physische Geographie und die hieraus
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nünftigen Neubegierde eines Reisenden"95 das „Merkwürdige, das Sonderbare und Schöne" (Entwurf, 3) aus dem „Mineralreich", dem „Pflanzenreich" sowie dem „Thierreich" dargeboten hat, rücken - so protokollieren es auch die jeweiligen Mitschriften - zusehends anthropologische Gesichtspunkte, Fragen nach den Unterschieden und Gemeinsamkeiten der Menschen „in verschiedenen Gegenden der Erde" (Entwurf, 9) ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Frage nach der Naturbeschaffenheit der Erdkugel mündet bei Kant deshalb in grundsätzliche Überlegungen über die Naturbeschaffenheit und regionale Verschiedenheit des Menschen, wobei der Darstellung geschichtlicher Entwicklungen breiter Raum eingeräumt wird, um - so Kant 1765 in einer Charakterisierung dieses Kollegiums - der „Vernachlässigung der studierenden Jugend" entgegenzuwirken, die „frühe vernünfteln" lerne, „ohne genügsame historische Kenntnisse" zu besitzen.96 Sich mit diesen Kenntnissen um 1773 wohlausgestattet fühlend, vermag Lenz den Alleinvertretungsanspruch des Christentums auf Gottes Wort nicht mehr nachzuvollziehen, fällt sein Urteil über 1700 Jahre praktiziertes Christentum fast vorbehaltslos negativ aus („Nun ja freilich der Christ. - Wir finden unter keiner Sekte [Hervorh. d.V.] in der Welt größere Verbrecher, größere Scheusale, als unter den Christen"; SdL, 567). Und doch, so gibt er zu bedenken, sage der Mißbrauch der christlichen Lehre nichts über ihre tatsächliche Qualität aus („Kann nun die Religion dafür?" SdL, 567), die es vom einzelnen nur richtig - im Sinne der von Gott dem Menschen einst gegebenen Gebote zu verstehen und umzusetzen gelte: D e n n unsere B e s t i m m u n g ist die h ö c h s t e und verhältnismäßige, oder individuelle Realität. D i e s e wächst und nimmt zu nur nach d e m u n v e r ä n d e r l i c h e n G e s e z unsere S c h ö p f e r s w e l c h e s w i r e i n s e h e n l e r n e n m ü s s e n . ( P V , 2 9 ) 9 7
hervorgegangenen Vorlesungen über Anthropologie vgl. ausführlich Anhang No. 3 in Arnoidts Gesammelte Schriften, Bd. IV, Teil I, S. 335-434. 95 Man beachte den sich bei dieser Formulierung aufdrängenden Bezug zu Lenz, der in zahlreichen seiner Dichtungen die jeweiligen Protagonisten ausdrücklich als „Reisende" charakterisiert hat, wobei dieser Bezeichnung oft ein Zusatz folgte wie „reisend aus philosophischen Absichten" (DF, 273). Reisende in diesem Sinne sind unter anderem der Erzähler in der Prosa Moralische Bekehrung eines Poeten, der Prinz Tandi des Dramas Der neue Menoza und der wegen seiner Fähigkeit zur Vernunft nicht minder vorbildliche Strephon aus Die Freunde machen den Philosophen. 96 Kant: Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbjahre von 17651766, S. 312. Kant gebraucht die Bezeichnung 'vernünfteln' grundsätzlich als abschätzige Beschreibung eines in seinem Sinne unangeleiteten, unkritischen Philosophierens, dem er das 'vernünftige' Philosophieren gegenüber stellt. 97 Auch Kant urteilt in diesem Sinne vorbehaltslos positiv über das „Urbild des Christentums" (wohlgemerkt über das „Urbild" - womit er sich auf das sogenannte Erste Principium der Moral, das summum bonum bezieht - , und nicht über die in seiner Gegenwart ausgeübte Praxis), über das er anmerkt, es „Übertrift alle Ideale der Vernunft" (PP, 106).
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Wer aber soll das Individuum auf jener „Bahn der Glückseligkeit" (PV, 27) fuhren, damit es den Weg nicht verfehle („wenn ihr davon zur Seite abgeht, wegirrt - schade für euch, ihr geht v e r g e b e n s , ihr geht v e r l o r e n " ; PV, 27)? Wodurch soll der einzelne Anleitung erfahren, wenn nicht durch kirchliche Institutionen und deren - von Lenz in vielen seiner Schriften heftig kritisierten - Theologen? Die Antwort des Autors überrascht kaum und demonstriert, wie nachhaltig sich in seinem Fall ein individualistisch-ethizistische Religionsverständnis mit der kritizistischen Erkenntnistheorie verbunden hat: D i e L e h r e v o n d e n Verhältnissen ist die g r o s s e L e h r e u n s e r e r G l ü c k s e e l i g k e i t . So bald wir durch unsere Einbildungskraft uns aus dem Verhältnis [zur Tugend] heraus sezen, indem wir uns gegenwärtig mit der ganzen Sammlung unserer Fähigkeiten befinden, sobald gehen wir auf dem Wege der Glückseligkeit irre. Und diese Gemüthsverfassung nennen wir Eitelkeit oder Hochmut. [...] Die Vernunft ist das Vermögen Verhältnisse einzusehn. Die Einbildungskraft sieht kein anderes Verhältnis richtig als durch die Vernunft. (PV, 30f)
Vemunftorientierung im Sinne Kants98 und Glaubensstärke, - miteinander im Einklang, um dem Individuum zielgerichtete Schritte auf dem Wege zur Glückseligkeit zu ermöglichen. Für die Beurteilung der vom einzelnen auf diesem Weg gesetzten Schritte, der praktischen Ausübung der durch das Evangelium überlieferten moralischen Maximen also, zählt für Lenz die Reinheit der mit diesem Voranschreiten verbundenen Intention weitaus mehr als das äußerlich erkennbare Resultat. So führt er als Beispiel eines schlechten Handelns das „Almosengeben der Pharisäer" an (PV, 23)," entscheide doch einzig die Absicht über die Qualität einer Handlung, weshalb er über der Menschenwelt auch einen Gott vermutet, „der mißlungene Versuche nicht mit dem Tode bestraft, sondern mit dem Leben, ewigem Leben, wenn sie nur fortgesetzt werden" (PV, 27). „Christi Sinn" (PV, 28) gelte es darum anzunehmen, doch wer trotzdem als Pharisäer handele, dem nützten auch keine „gekünstelten Reuen" („alle eure schönen Träume und Eingebungen sind umsonst"; PV, 28), da Glückseligkeit nur der erlange, der ohne egoistische Motive gut handele. „Die
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Dieser argumentiert gleichermaßen anti-institutionell, auch wenn er diplomatischer formuliert, man könne in „der Vergleichung mit andern Menschen" kein „Maaß" finden, seine Moralität „zu beurtheilen"; „alle Moralitaet gründet sich nicht auf Beyspiele sondern auf die Idee und auf das Gesezz der Vernunft" (PP, 195). Und in seiner Vorlesung über Metaphysik stellt er über das ihm maßgebliche, weder staatlich noch religiös gebundene Entscheidungsorgan kurz und bündig fest: „um das Böse und Gute zu unterscheiden brauchen wir Vernunft" (M, 250). In seinem Kollegium über Praktische Philosophie betont Kant ebenfalls diesen Primat des uneigennützigen guten Willens, dem selbst Gott unterworfen sei: „Das e i g e n t l i c h e m o r a l i s c h e p r i n c i p i u m ist a l s o der gute W i l l e und hierinn besteht das absolutem. - Nichts ist gut als das, was einen guten Willen hat. Selbst das Höchste Wesen ist darum nur gut, weil es einen guten Willen hat." (PP, 130)
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lohnsüchtige Tugend ist immer noch keine ächte Tugend", (PV, 33) 100 formuliert Lenz in Übereinstimmung mit Kant, der diesen Gesichtspunkt in seiner Vorlesung über Praktische Philosophie besonders ausführlich behandelt hat und dort unmißverständlich feststellt, daß der „innere Werth" verschwinde, „wenn wir unsre Handlungen von der Seite der Vortheile und Belohnungen" betrachten: Die moralische bonitaet bestehet eigentlich in den moralischen Bewegungs Gründen und der Lust, solche Handlungen auszuüben. Haben wir einen pragmatischen Bewegungs Grund zu unsern Handlungen, so sind dieselben schlau, klug, eigennüzig. [...] Die größte bonitaet ist die innerliche. (PP, 149)101 Deshalb führt für Lenz nur die „uneigennützige, unehrgeizige", die „verborg e n e Tugend" zur „Seeligkeit", (PV, 34) 102 über deren Gewähren einzig Gott entscheide („ihr [...] seid schon jetzt gerichtet vor Gott, nicht nach dem was ihr geträumt habt, sondern was ihr g e h a n d e l t habt bei Leibes Leben, es sei gut oder böse"; PV, 28). 103 Aus dieser Prämisse ergibt sich schließlich eine natürliche, vom einzelnen in seinem Tun zu berücksichtigende Rangfolge der vom 100
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Weiter heißt es, daß Christus unserer Tugend „allen Lohn absprach, und wahrhaftig nur eine so uneigennüzige Tugend kann die süssesten Empfindungen geben." In seinem Versuch über das erste Principium der Moral greift Lenz diesen Gedanken in Verbindung mit seinen Vorstellungen von der Freundschaft auf, deren Qualität er untrennbar mit dem Prinzip der Uneigenntltzigkeit verbindet. So folgert er: „Die Freundschaften aus Eigennutz, aus Eitelkeit, aus unlautern Absichten sind der menschlichen Natur unwürdig." (VeP, 506) In seinem vermutlich zwischen 1771 und 1775 verfaßten dramatischen Fragment Cato (in: WB, Bd. 1, S. 549-552) heißt es in diesem Sinne über gute, respektive „schöne" Handlungen: „die schönen Handlungen sind nicht allemal die besten. Mancher verletzt tausend andere Pflichten, um eine in die Augen fallende schöne Tat zu tun. Der Zusammenhang deiner Taten muß schön sein, wenn du in deine Handlungen einen Wert setzen willt [sie!]." (Ca, 552). Kant widmet sich diesem Thema besonders intensiv, vor allem in den Vorlesungsabschnitten „De Praemiis oder physischem Gut", „Von der Strafe", „Von der Zurechnung", „Die Imputation ist von Dreyerley Art, die unterschieden werden müßten", „De Conscienta", „Von der Ethic" (PP, 148-168), was auf die ihm zugemessene Bedeutung hinweist. In seiner Vorlesung über Praktische Philosophie unterscheidet Kant die beiden Triebfedern jeglichen menschlichen Handelns in die der Sinnlichkeit und die der Sittlichkeit. Erstere ziele auf die Befriedigung von Begierden und Leidenschaften ab, letztere auf die Erfüllung einer kategorischen Moralität, wozu Kant feststellt, daß sittliche Handlungen nicht von Motiven ftlr eine Befriedigung sinnlicher Triebe beeinflußt werden dürften, „wenn man aus Triebfedern der Sinnlichkeit [...] Handlung ausübt die man nach Regeln und Triebfedern der Sittlichkeit zu thun verbunden wäre. Hier ist zwar die gute Handlung nach dem Buchstaben gleichsam da aber nicht nach dem Geist d.i. dem wahren Werth derselben." (PP, 114) Lenzens Formulierung, man 'sei schon jetzt gerichtet vor Gott', entspringt der Rezeption der antiken, von der christlichen Tradition aufgegriffenen und von Kant 1770 für seine Dissertation verarbeiteten und fortentwickelten Lehre Uber Raum und Zeit als reine Vorstellungen des Menschen, nach der einzig Gott die Welt in ihrer gleichzeitigen Gänze überschauen könne.
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Evangelium gesetzten moralischen Wertmaßstäbe gegenüber jeglichem weltlichen Gesetz. Zwar betont Lenz, daß das biblische Wort die weltlichen Regelwerke nicht einfach 'aufhebe' (vgl. PV, 24). Dies „sei ferne", beteuert er vordergründig, denn ohne „Gesez wäre kein Evangelium möglich [...] mag es nun göttlich oder menschlich sein" (PV, 24f). Doch impliziert auch hier die hervorgehobene Einschränkung, ein weltliches Gesetz müsse „ e t h i s c h e Handlungen" (PV, 25) veranlassen, daß der Autor, wenn er von Gesetzen spricht, auf eine noch zu verwirklichende Idee und nicht auf die juristische Realität seiner sozialen Gegenwart reflektiert, die diesem strengen Kriterium wohl kaum genügt haben dürfte. Vor diesem Hintergrund wirkt denn auch sein diesen Gedankengang abschließender Appell Also - das G e s e z studirt - und das E v a n g e l i u m a u s g e ü b t - das giebt glückselige Menschen - nach dem V e r h ä l t n i s glückseeliger, nachdem sich ihre Handlungen über das Gesez, über die Regel des Rechts e r h e b e n . (PV, 28)
mehrfach auslegbar. Denn einerseits scheint ihm ein rein transzendent zu verstehender Erlösungsgedanke zugrunde zu liegen, doch andererseits ist er - da explizit ein sich Erheben 'über die Regel des Rechts' gepriesen wird - auch als Ermunterung zum Überwinden bzw. Zurückweisen aller der allgemeinen Moralität widersprechenden staatlichen Rechtsnormen interpretierbar.
Freiheit Ob der Mensch aber letztlich im Sinne dieser höheren Moral gut handele, sich also auf dem Erlösung versprechenden Weg hin zur Glückseligkeit vorwärts bewege, oder aber böse und dadurch die „von Gott geordnete Harmonie" (PV, 12) störe, ist nach Lenzens Überzeugung keine Frage von Schicksal oder Zufall, sondern Konsequenz einer individuellen Entscheidung, die jeder einzelne kraft der ihm verliehenen Freiheit des Willens selber zu treffen vermag. In der zwischen 1771 und 1773 als Vortrag für die Straßburger Sozietät entstandenen „Predigt" (so der Untertitel) Über die Natur unsers Geistes104 beschäftigt er sich ausführlich mit dieser Thematik und beschreibt dabei den Zwiespalt, in dem der Mensch zwischen Abhängigkeit und Freiheit des Ichs existiere. Denn einerseits sei er - so Lenz in Zurückweisung des alttestamentarischen Schöpfungsmythos - „ein Produkt der Natur", das „alles", seine materielle und geistige Form, „nur ihr und dem Zusammenlauf zufälliger Ursachen zu danken" habe. Andererseits äußere sich im Menschen aber „schon in der Windel und in der Wiege" jenes „erste aller menschlichen Gefühle", nämlich das, „unabhän104
Lenz: Über die Natur unsers Geistes. - In: WB, Bd. 2, Prosa, S. 619-624. Künftig abgekürzt „ÜdN".
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gig zu sein" (ÜdN, 619). Hierdurch drücke die ,,menschliche[...] Seele" aus, „eine Substanz" darzustellen, die zwar „nicht selbständig geboren" sei, „aber ein Bestreben" in sich spüre, „sich zur Selbständigkeit hinaufzuarbeiten" (ÜdN, 620). Diese Polarität von Naturbezogenheit und eingeborenem Bestreben nach persönlicher Freiheit bezeichnet Kant in seiner Metaphysikvorlesung als „die zwei Erklärungsgründe des Verstandes, die dem blinden Ohngefähr entgegengesetzt" seien (M, 200). Denn ihnen gegenüber stünden als philosophische Gegenstände die „blinde" oder auch „absolute Nothwendigkeit" (M, 200) des Schicksals sowie das „blinde Ungefähr" des Zufalls, die beide, da sie „vernunftwidrige Undinge" (M, 199) darstellten, niemals als „Erklärungsgrund von Begebenheiten" taugten („dienen nur zum Polster der Unwissenheit, und entziehen dem Verstand allen Gebrauch"; M, 200). Erklärende Qualität besäßen einzig die Phänomene „Natur und Freiheit", bei denen Kant, indem er sie einander kritisch gegenüberstellt, eine hierarchische Ordnung bemerkt, in der die Freiheit die obere Position einnehme, weil die „hypothetische Nothwendigkeit" der Natur „nicht der Erklärungsgrund von allem allein seyn" könne und die Freiheit deshalb „der erste Grund des Entstehens" der Natur gewesen sein müsse (M, 200).105 In seinem Entwurf eines Briefes... präzisiert Jakob Lenz sein hierauf aufbauendes Verständnis des Begriffes der Freiheit, indem er diesen in eine moralische und eine metaphysische Freiheit differenziert. Unter die Erstere faßt er die Freiheit der Entscheidung, die das Individuum („Die moralische Freiheit gestehen wir ihm herzlich gern zu"; EeB, 484) in die Lage versetze, den Einflüssen der Natur - aus der es hervorgegangen ist, und von der es in Abhängigkeit existiere - wenn schon nicht zu entsagen, so doch immerhin zu widerstehen. Hierdurch werde es „moralisch immer freier, immer willkürlicher" (EeB, 486), wobei aber das Erlangen völliger Freiheit undenkbar sei. Denn dies hieße, sich als Wesen in eine Region zu „schwingen", in der „nicht mehr Luft", sondern nur noch „leerer Raum" den Menschen umgebe; „wo wir gesetzlos bloß von unserm Ich determiniert, nach unsern Kapricen umhertaumeln" (EeB, 486). Um dies zu verhindern, um das Individuum zu moralischem Handeln zu verpflichten, durch das es zur Glückseligkeit gelangen könne, bedürfe es der Bindung an eine höhere, allgemeingültige Gesetzmäßigkeit: an das von Gott erschaffene Regelwerk des sittlichen Ideals, weshalb man dem Menschen zwar die moralische Freiheit, jedoch „die metaphysische gewiß nicht" (EeB, 484) zugestehen könne.106 105 106
Diese Erkenntnis bietet einen wichtigen Differenzpunkt zu dem insbesondere von Goethe rezipierten spinozistischen Weltverstandnis. In Stimmen des Laien... spricht Lenz darum auch von der Freiheit nicht v o n , sondern v o r Gott, die es erlaube, vor ihm „wie Kinder unter den Augen ihres liebreichen Vaters frei scherzen und spielen zu dürfen". Kehrten „wir ihm aber den Rücken, so rennen wir in den Tod, und die Freiheit, die uns von dort entgegenwinkt, ist kalt und grauenvoll, ist der Wink
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Wie sehr Lenz sich durch diese philosophischen Überlegungen von den ihm während seiner Kindheit vermittelten religiösen Grundsätzen inhaltlich entfernt hat, verdeutlicht das Vergegenwärtigen des seinerzeit kirchlicherseits propagierten Freiheitsbegriffs. So wurde der Begriff der Freiheit in der lutherischen Dogmatik in einer Weise strikt auf das Neue Testament zurückgeführt, die jegliche Übertragimg auf politische, soziale oder emanzipatorische Sachverhalte ausgeschlossen hat. Nicht etwa Befreiung aus Ungerechtigkeit oder Unterdrückung bezeichnet er demnach, also keine durch menschliches Wirken zu erzielende Veränderung irdischer Verhältnisse, sondern die durch Gottes Eingreifen in die menschliche Historie bewirkte, völlig neuartige, messianische Zeit. Deshalb bezeichnet dieser Begriff - im spezifisch biblischen bzw. neutestamentlichen Sprachgebrauch - in erster Linie die Freiheit von der Sünde, womit die Befreiimg von der Macht des Todes impliziert wird (vgl. NT: Röm 6,18-23; Joh 8,31-36; Röm 6,21.22; Röm 8,21). Da hierfür der Opfertod Christi als die maßgebliche Voraussetzung angesehen wird, gelangt der Mensch, so die dogmatische Lehre, auch nicht durch eigene, diesseitige Freiheitsbestrebungen zur Freiheit, sondern im Jenseitigen einzig dank der selbstopfernden Tat des Gottessohnes. Dies drückt ein Bibelverständnis aus, dem der Autor in seinen Jugenddichtungen noch weitgehend gefolgt ist und das er erst während seines Studiums revidiert hat. Erst dann ist ihm eine Neubewertung von Jesu Opfertod möglich, die ihn fortan nicht länger den messianischen Charakter Christi hervorheben läßt, sondern das auf das Diesseits bezogene moralische Vorbild des Nazare-
Denken und Sprache Eine fiir dieses Jesus-Verständnis elementare Erkenntnis von Lenz ist, daß das im Individuum natürlich angelegte Streben nach Freiheit zur Tätigkeit führe (Kant: „nur durch Freiheit kann man anfangen zu handeln"; M, 342), wobei er das Denken als die „allerunabhängigste Handlung unserer Seele" (ÜdN, 620) bezeichnet. Hierdurch werde dem einzelnen die Fähigkeit zur Reflexion eröffnet - nicht nur der ihm begegnenden Phänomene der Welt im allgemeinen, sondern auch des als Teil seiner Existenz ihn zeitlebens begleitenden Unglücks. Besonders diesem Aspekt spricht der Autor außerordentliche Bedeu-
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des Chaos und der alten Nacht" (SdL, 566). Daß Lenz den Begriff der Freiheit ganz bewußt in starker Abhängigkeit von der urchristlichen Bedeutung des Evangeliums-Begriffs definiert, verdeutlicht er in seinen 'Lebensregeln', wenn er ausdrucklich betont, er beachte die moralischen Regeln, nach denen er sich richte und die er als allgemeingüttig anerkenne, „mit e v a n g e l i s c h e r F r e i h e i t " , nicht „mit ängstlichem Zwang" (ML, 498), - womit er eben nicht auf die konfessionelle Bindung zum Protestantismus rekurieren will. Vgl. über dieses Verständnis auch in diesem Teil „Gott / Jesus, Glaube".
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tung für die (Über-)Lebensfähigkeit des einzelnen zu, da erst das Vergegenwärtigen der von dieser elementarsten Lebenserfahrung rührenden „schmerzhaftesten Gefühle" es dem Menschen gestatte, „in sich" eine „Kraft", ein „Gegengewicht" aufzubauen, das der ,,äußerste[n] Wut seines Schicksals" standzuhalten vermöge und ihm die Möglichkeit eröffne, seinen „innern Frieden" zu bewahren (ÜdN, 621): es war der einzige Rat den die ohnmächtige menschliche Weisheit oder Erfahrenheit bekümmerten Unglücklichen geben konnte, sie sollten über die Natur ihres Unglücks nachdenken, philosophieren - das heißt sich gewissermaßen über ihre Umstände hinaussetzen, und den Schwung der Unabhängigkeit gegeben [sie!]. (ÜdN, 620)
Doch sollte die Erkenntnis dieses Umstandes nicht dazu verleiten, das Denken auf Kosten der Empfindungsfähigkeit zu verabsolutieren, weil dies die „Seele stumpf (ÜdN, 621) gegenüber den von außen auf sie einstürmenden, oft „unangenehmen Eindrücken" mache. Bei den „meisten Denkern oder Philosophen" sei aber gerade dieses Phänomen zu beobachten, da sie dem ,,seltsame[n] Selbstbetrug" zum Opfer gefallen seien, sie hätten „ihre Independenz auf den höchsten Grad getrieben", indem sie „ihre Aufmerksamkeit von den sie afïizierenden Gegenständen" abzögen „und entweder auf sich selbst oder andere gleichgültige Dinge" richteten. „Denken" dürfe aber niemals als gleichbedeutend mit emotional „vertauben" verstanden werden, vielmehr hieße es, „seine unangenehmen Empfindungen mit aller ihrer Gewalt wüten lassen und Stärke genug in sich fühlen, die Natur dieser Empfindungen zu untersuchen und sich so über sie hinauszusetzen". Denn nur durch das Annehmen des Unangenehmen - konstatiert der Autor in Vorwegnahme moderner psychologischer Erkenntnisse - , nicht durch dessen Verdrängen, gewinne das Individuum die für ein freies und tätiges Leben notwendige innere „Festigkeit" (ÜdN, 621). So [...] erschafft sich die Seele selber und somit auch ihren künftigen Zustand [...] wird selbst Schöpfer, mischt sich in die Welt nur in so fern als sie es zu ihrer Absicht dienlich erachtet, je größer ihre Stärke desto größer ihre freiwillige Teilnehmung [...] Selbständigkeit [gründet sich] auf die Menge den Umfang die Wahrheit unsrer Gefühle und Erfahrungen, und auf die Stärke mit der wir sie ausgehalten, das heißt Uber sie gedacht haben oder welches einerlei ist, uns ihrer b e w u ß t g e w o r d e n s i n d . (ÜdN, 6 2 l f )
Im Kontext von Lenzens Bestimmung des Denkens als der unabhängigsten aller menschlichen Handlungen ist es aufschlußreich, auch seine sprachphilosophischen Überlegungen zu betrachten. In ihnen scheint er nämlich weit über Kants Vorstellung vom Zeichencharakter der Sprache hinauszugehen und dem
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von Wilhelm von Humboldt prägnant formulierten Gedanken vorzugreifen, daß die „Sprache" das „bildende Organ des Gedanken" darstelle.108 Doch zuvor erst ein kurzer Blick auf den von Lenz selbst demonstrierten Sprachgebrauch, dessen Analyse nach der Humboldtschen Auslegung auch Rückschlüsse auf sein Denken gestattet. In der Forschung wurde von diesem Interpretationsansatz bislang reger Gebrauch gemacht, wobei zumeist nicht die Dichtungen, sondern die Vorträge, Predigten und Aufsätze zum Objekt einer teilweise vernichtenden Sprach-Kritik gerieten. Als ausgesprochen wohlmeinend sticht hierbei noch die Beurteilung von Schulz aus der Fülle der Äußerungen hervor. Er weist zwar in seiner Darstellung von Lenzens Anmerkungen übers Theater besonders auf die den Gedankengängen des Dichters zugrunde liegende „scheinbar ungezügelte[...] Spontaneität" hin, die fehlende Systematik erkennen lasse, doch nötigt ihm der geradezu ,,übermütige[...] Schwung" des Autors auch Bewunderung ab (Schulz, 257). Er sieht darin typische Eigenschaften des von Lenz gepflegten Stils des freien Philosophierens, in dem andere Literarhistoriker wie etwa Alan C. Leidner, vornehmlich einen Ausdruck von „Unfertigkeit" und ,,kreative[r] Schwäche" erkennen können.109 Es soll hier keine weitere sprachkritische Untersuchung hinzugefügt werden, doch ist immerhin darauf hinzuweisen, daß auch der als Stilist für den Dozenten Kant wie für Lenz stets Vorbild gewesene Rousseau sich nur zu oft einer vergleichbaren Kritik ausgesetzt gesehen hat. Ernst Cassirer stellt hierzu lakonisch fest, daß gerade diese angebliche Schwäche Rousseau als Philosophen erst ausgezeichnet und wertvoll gemacht habe. Denn nicht etwa aus kreativer Schwäche oder Unfertigkeit sei er „ständig von der strengen Linie der Gedankenführung" abgewichen, vielmehr habe er seinen philosophischen Gegenstand, „die Sache", „nicht lediglich [...] selbst" 'sprechen lassen' wollen, sondern habe versucht, seinen „ganz-persönlichen, individuellen Eindruck von [ihm zu] vermitteln.": Gegen nichts hat sich Rousseau, als Darsteller und Schriftsteller, so heftig gewährt [sie!], als gegen das Ideal eines 'abstrakten', kühl-sachlichen Stils. 'Wenn eine lebendige Überzeugung uns beseelt - wie sollten wir dann eine eisige Sprache führen können? [...] Nein - wer die Wahrheit liebt, der kann sich nicht enthalten, sie anzu-
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Wilhelm von Humboldt: Grundzüge des allgemeinen Sprachtypus. - In: Wilhelm von Humboldt: Gesammelte Schriften, hrsg. von Albert Leitzmann u.a., Berlin 1903-1935, Bd. 5, S. 335. Zitiert nach Schulz, 235. Martini, der speziell mit Blick auf die Anmerkungen zu einer grundsätzlich positiveren Beurteilung des Lenzschen Stils gelangt („beredt und von sprachlicher Fülle", Martini, 237) diagnostiziert hingegen stets da eine „Sprachnot" (Martini, 237), wo Lenz in Überwindung der rationalistischen Aufklärungspoetik seine eigene Grundkonzeption in Opposition zu Aristoteles und zu Lessings Bestimmung der Tragödie und Komödie darstellen möchte (Fritz Martini: Die Einheit der Konzeption in J.M.R. Lenz' 'Anmerkungen übers Theater'. - In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, 14, 1970, S. 159-182).
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beten - und wer ihr gegenüber kalt bleiben kann, der hat sie nie erkannt.' So bleibt Rousseau, in seiner Gedankenführung wie in seiner Sprache, 'einmalig' und eigenwillig. Er hat sich mit Stolz zu dieser Einmaligkeit bekannt.110
Man sollte auch Lenz diese Eigenwilligkeit zugestehen, und es sollte darüber hinaus nicht das sprachästhetische Empfinden des Analysten zur Meßlatte für die philosophische Qualität des Autors erhoben werden. Auch müßte der von Lenz in seinen theoretischen Überlegungen praktizierte Stil künftig verstärkt unter dem Aspekt untersucht werden, daß er überwiegend dem mündlichen Vortrag gedient hat, was den Einsatz anderer rhetorischer Mittel verlangt als bei einem Aufsatz, zumal wenn man in der Rhetoriktradition der Missionspredigt111 sein Publikum nicht lediglich überzeugen, sondern es förmlich packen und mit sich reißen möchte („ich reiße Sie mit meinem System fort, schwimmen Sie eine Weile mit mir, hernach sollen Sie Ihre Freiheit wieder haben." SdL, 600). Etwas weniger temperamentvoll als in seinen Predigten über moralphilosophische und erkenntnistheoretische Fragestellungen geht Lenz in seinen sprachtheoretischen Überlegungen vor. Ihnen hat er 1775 zwei Vorträge 112 für die Straßburger Sozietät gewidmet, in denen er erstaunlich vorausschauend die bei Humboldt so zentrale Erkenntnis über die das Denken konstituierende Funktion der Sprache vorwegzunehmen scheint. Beide Vorträge dienten der Absicht, die als „Gesellschaft gelehrter Freunde" (ÜdB, 770) bezeichnete Sozietät zur Keimzelle einer Neugründung umzugestalten, die sich - womöglich motiviert von Klopstocks Gelehrtenrepublik und nach dem Vorbild der 1635 von Kardinal Richelieu gegründeten Académie Française - vor allem der „Reinigkeit" (ÜdB, 771) der deutschen Sprache widmen sollte.113 Um dies als Desiderat zu begründen, knüpft Lenz an die epochentypische, auch von Kant oft diskutierte Frage nach dem „Nationalcharakter" der Deutschen an, den er -
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Ernst Cassirer: Das Problem Jean Jacques Rosseau. Darmstadt 1975 (Reprint), S. 72. Vgl. hier Drittes Kapitel „Der Prediger". Dies sind Über die Bearbeitung der deutschen Sprache im Eisass, Breisgau und den benachbarten Gegenden (in: WB, Bd. 2, S. 770-777; künftig abgekürzt „ÜdB") sowie Über die Vorzüge der deutschen Sprache (in: WB, Bd. 2, S. 777-782; künftig abgekürzt „ÜdV"). Ziel dieses Bemühens sollte die Stärkung des Hochdeutschen sein, wobei Lenzens Kritik sich nicht primär gegen die grundsätzliche Verwendung von Fremdwörtern richtet, sondern vor allem gegen die Tendenz der deutschen Dialekte zu sogenannten „Provinzialwörtern" und ausufernder „Redseligkeit". Dabei bestehe doch der „Wohllaut in der Sprache [...] nicht in der Menge, sondern in der Auswahl der Wörter", weshalb mit „Sparsamkeit und „Kürze" jenem ,,schallreiche[n] Geschwätz" begegnet werden müsse, (ÜdB, 771) um letztlich zu einer ,,natürliche[n]", nicht „gekünstelten" Sprache (ÜdB, 775) zu gelangen, die dem „Nationalcharakter" (ÜdB, 773) der Deutschen am ehesten entspreche. „So allein können wir uns griechische Ründe, römische Stärke, englischen Tiefsinn, französische Leichtigkeit zu eigen machen, ohne das Eigentümliche unserer Sprache zu verlieren, welches K ü r z e und B e s t i m m t h e i t ist" (ÜdB, 772).
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wie schon sein Lehrer Kant114 - besonders stark vom französischen unterscheidet. Dabei erkennt auch er als Wesensart der Deutschen das natürlich 'Rauhe' statt des künstlich 'Gebildeten' (vgl. ÜdB, 774), das „mehr aus dem Herzen als aus dem Verstände" (ÜdB, 774) entspringe. Doch dürfe diese spezielle intellektuelle Disposition, die sich in den Charakteristika der deutschen Sprache manifestiere, nicht als Hindernis einer vernunftgemäßen geistigen Fortentwicklung mißverstanden werden, biete doch gerade der im Deutschen übliche 'freie' Gebrauch der Verben die ideale Voraussetzung für einen 'edlen' und 'kühnen' (vgl. ÜdV, 778) „Ausdruck unserer Gedanken" (ÜdV, 778). Deshalb sei unsere Nationalsprache „den Wissenschaften und denen die in denselben auf Erfindungen ausgehen, weit vorteilhafter als die französische, weil sie dem Geist mehr Freiheit" lasse (ÜdV, 778). So gelangt Lenz in seinem Vortrag Über die Vorzüge der deutschen Sprache zur Erkenntnis von der das Denken konstituierenden Funktion der Sprache.115 In seinem anderen scheint er diesem Gedanken jedoch zu widersprechen, wenn er feststellt, man müsse zuerst „ h a n d e l n um r e d e n zu können" (ÜdB, 776). Besonders problematisch erscheint darin die mit dem Verb 'reden' verbundene Konnotation. Sollte Lenz hiermit das Sprechen an sich meinen, stellte dies seine im vorigen aufgezeigten Überlegungen auf den Kopf, denn dann behauptete er - eingedenk seiner Festlegung, das Denken als die unabhängigste aller Handlungen anzusehen - nichts anderes, als daß das Denken die Sprache determiniere statt umgekehrt. Der weitere Verlauf seiner Ausführung bringt jedoch Klärung, denn darin zielt Lenz auf die Darstellung einer allerdings nur vage angedachten Sprachursprungstheorie ab, die - wie er zu bedenken gibt - seiner Hörerschaft womöglich noch „nicht von selbst einleuchtet" (ÜdB, 776). Er schließt nämlich aus, daß der Ursprung der Sprache lediglich auf einer gesellschaftlichen Konvention beruhe, daß eine Nationalsprache also weit mehr darstellen müsse, als le114
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Dieser Fragestellung hatte Kant bereits 1764 den kompletten vierten Abschnitt seiner Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen gewidmet. - In: Kants Werke. Akademie-Ausgabe, Bd. II, Vorkritische Schriften 2, Berlin 1968, unveränderter photomechanischer Abdruck der Originalausgabe, Berlin 1905/12, S. 205-256. Auch in seinen Vorlesungen räumte er ihr im Rahmen grundsätzlicher anthropologischer Überlegungen breiten Raum ein, deren Quintessenz in seiner 1798 erschienenen Anthropologie in pragmatischer Hinsicht umfassend dargestellt wird (vgl. dort, hrsg. von Karl Vorländer, 7. Auflage, Hamburg 1980, S. 260-273). Über die philosophische Genese der Humboldtschen Sprachtheorie vgl. besonders Christian Stetten Schrift und Sprache ( Frankfurt 1997), S. 391-514, insbesondere S. 391-411, worin Stetter sich besonders - außer auf Herder und Fichte - auf die filr Humboldt aus Kants Transzendentalphilosophie abgeleiteten Grundlagen bezieht und dabei auch Kants Vorlesung über Metaphysik hinzuzieht. Speziell zu Kant betont Stetter, dieser sei grundsätzlich noch dem Modell vom Zeichencharakter der Sprache verhaftet gewesen: „Sprache kann in in dieser Systematik filr Erkenntnis nicht konstituiv sein, sie hat die noumenalen Produkte des Denkens, die als solche 'natürlich' im doppelten Sinn des Wortes grammatisch durchformt sind, sinnlich zu repräsentieren." (Stetter, 398)
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diglich die Summe eines jederzeit auswendig zu lernenden und darum im Grunde austauschbaren Wortrepertoires. Woher die so diversen Sprachen der Menschen aber statt dessen stammen, ob von einer hypothetischen, einst gottgegebenen Ursprache oder aus verschiedenen, wie auch immer entstandenen Sprachstämmen, weiß er nicht zu sagen. Lediglich über eine elementare Qualität ist er sich sicher, daß von den Eigenschaften einer einmal erlernten Sprache auch die innersten Wesensmerkmale des sie erlernenden Individuums geprägt werden, daß Spracheigenschaften also nachhaltig Eigenarten des Denkens und der daraus resultierenden Betätigungen bestimmen. Und da der Mensch diese Prägung nicht einfach durch das Erlernen einer ihm fremden Sprache ersetzen könne, folgert Lenz, sei es grundsätzlich unmöglich, mehrere Nationalsprachen wie die eigene Muttersprache zu verinnerlichen: Welch ein Unterschied unter einer Sprache die nur erlernt ist und einer die wir uns selber gelehrt haben? Das erste macht Papageien, das andere Menschen. (ÜdB, 776) Aufgrund dieser neuerlichen Bestätigung seiner These von der das Denken konstituierenden Kraft der Sprache, scheint Lenz in seiner Phrase, man müsse zuerst „handeln um r e d e n zu können", (ÜdB, 776) mit dem Verb 'reden' lediglich auf den reinen Sprechakt zu rekurrieren. Also nicht auf das Phänomen Sprache, sondern auf eine Handlung, der eine andere Art des Handelns stets vorausgehe, die des Denkens in Sprache. Daß der Autor unter dem Begriff der (National-)Sprache etwas Abstrakteres faßt als lediglich eine Summe repräsentativer Zeichen, sondern geradezu einen Zustand der Seele, verdeutlicht sein Hinweis, er habe „kein Buch in einer fremden Sprache leichter" und „ohne L e h r m e i s t e r " verstanden, „als wenn ich's in einer ähnlichen Lage der Seele las", womit er auf rein gedankliche Prozesse rekurriert, in der der Verfasser es geschrieben habe (ÜdB, 776). Diese Äußerung widerspricht im Grunde seinen vorherigen Überlegungen, denn nach seiner eigenen Argumentation hätte es ihm eigentlich unmöglich sein müssen, ein in einer fremden Sprache verfaßtes Buch wie ein muttersprachliches zu verstehen. Lenz war sich der Ungereimtheit als Resultat seines freien Philosophierens sehr wohl bewußt und entschuldigt sie denn auch als Ergebnis noch nicht systematisch vollendeter Überlegungen: „Verzeihen Sie, wenn mich hier der Enthusiasmus zu weit führt." (ÜdB, 776) Doch ungeachtet aller Spontaneität vergißt der Autor bei seinen sprachphilosophischen Überlegungen keinen Augenblick die natürliche Bindung des Individuums an die elementaren moralischen Grundsätze. So setzt er voraus, daß der Gebrauch der von der deutschen Sprache gewährten geistigen Freiheit „mit Geschmack" und mit dem „Gefühl des Anständigen" geschehe („des jedem Verhältnisse Angemessenen"), „das die wahre Philosophie allein lehren" könne. - Auch hier können wir eine an Kant gemahnende, feine Unterscheidung der 'wahren' von der allgemeinen Philosophie erkennen. Und als wolle
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Lenz diese gedankliche Brücke zum Königsberger Philosophen und dessen (einem breiten Publikum noch unbekannte) Propagierung des zum sittlichen Ideal hinführenden kritischen Gebrauchs der Vernunft zusätzlich betonen, beklagt er, daß diese 'wahre' Philosophie „freilich heut zu Tage, leider, n o c h [Hervorh.d.V.] kein Stück unserer öffentlichen Erziehung ausmacht." (ÜdB, 776) Ziehen wir, zur zusätzlichen Verdeutlichung dieser eher sich tastend vorwärtsbewegenden und von Lenz nicht systematisch weitergeführten Überlegungen, sein dramatisches Werk hinzu. Darin fällt besonders auf, daß bei der Darstellung der auftretenden Charaktere deren sprachliches Vermögen eng mit ihrem jeweiligen geistigen Vermögen verknüpft wird. So ist in Lenzens Schauspielen individueller Persönlichkeitsverfall stets gleichbedeutend mit Sprachverlust, befinden sich - wie Helga Madland formuliert - viele „der Dramenfiguren [...] in einem sprachlichen Sumpfland", in dem sie als Verkörperung 'geschlagener', also geistig zerrütteter Individuen gleichzeitig die Unfähigkeit „zu 'handeln'" veranschaulichten;116 und wie schon Bruce Kieffer nachgewiesen hat, gewinnen bei Lenzens Akteuren in diesem Fall gestische Artikulationsversuche als kommunikative Elemente an Bedeutung. 117 Verfügen die Akteure hingegen über ein ausgeprägt entwickeltes Sprachvermögen, sind in den Dramen des Autors grundsätzlich zwei Kategorien zu unterscheiden, die moralisch sehr unterschiedlich bewertet werden. Als deren Repräsentanten seien hier aus dem Drama Die Soldaten die Figur des Desportes genannt sowie aus dem Hofmeister die des Geheimen Rates sowie des Schulmeisters Wenzeslaus. Alle drei verfügen über große Beredsamkeit, über ein wohlausgeprägtes rhetorisches, aber immer noch an den 'Nationalcharakter' der Sprache gebundenes Vermögen, das sie auch zur unmittelbaren Einflußnahme auf ihre Mitmenschen nutzen. Bei Desportes, einem Edelmann aus dem französischen Hennegau, mündet die Verwendimg des artifiziellen Sprachrepertoires der 'galanten Welt' jedoch in moralisch negativen Handlungen, zur Verführung der naiven, im besten Sinne sprachlosen und schon durch ihr Geschlecht zu unvernünftigen Handlungen disponierten Mariane. Dem entgegen stehen im Hofmeister der Geheime Rat und Wenzeslaus, die, einer natürlicheren, ungekünstelten Sprache mächtig, sich durch ihr offensichtliches Bemühen um vernunftgeleitetes, sittliches Handeln auszeichnen und in diesem Sinne - letztlich erfolgreich - auf ihre Mitmenschen einwirken.118
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Helga S. Madland: Lenzens Sprachwahrnehmung in Theorie und Praxis. - In: J.M.R. Lenz als Alternative? Hrsg. von Karin Wurst, Köln 1992, (S. 92-111) S. 110. Vgl. Bruce Kieffer: The Storm and Stress of Language. Linguistic Catastrophe in the Early Works of Goethe, Lenz, Klinger and Schiller. - London 1986. Madland will diese positive Wirkung jedoch nicht anerkennen und spricht von einem „sprachlichen Overkill", mit dem Wenzeslaus und der Geheime Rat ihre Zuhörer „überfluten", was zum Verfehlen ihrer Ziele führe; (Madland, 1 lOf) eine Interpretation, die durch den optimistischen Schluß des Dramas allerdings zurückgewiesen wird.
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Freies Handeln Gilt Lenz das Denken als die unabhängigste aller Handlungen, scheint es ihm doch wenig zu bedeuten, wenn es nicht vom freien Agieren flankiert wird, das er oft auch als das eigentliche „Handeln" (ÜdN, 622) bezeichnet. In ihm sieht er die Freiheit schlechthin augenfällig manifestiert, demonstriere es doch weithin sichtbar die individuelle „Unabhängigkeit", „dies L e b e n s f e u e r , das unser Prometheus vom Himmel brachte" (PV, 20) („o wie göttliches Vergnügen verbreitet jede f r e i e Handlung" PV, 20). 119 Denn beim Denken nehme man seine „Lage", sein „Verhältnis" und seine „Gefühle wie sie sind, beim Handeln aber verändere" man sie willkürlich („wie es mir gefällt"; ÜdN, 622). Dieses Bestreben zum praktischen Agieren charakterisiert Lenz an anderer Stelle auch als die „Begierde nach dem Außerordentlichen" (PV, 19) und als 'Suche' nach der Tugend (vgl. PV, 11), wodurch er an Gedanken aus Kants Vorlesung über Praktische Philosophie anknüpft, in der als die dem Menschen angemessene Ursache jeder freien Handlung sittliche 'motiva' (vgl. PP, 111) 120 beschrieben werden. Doch deren Realisierung werde im Menschen selbst von zwei erst zu überwindenden Kräften bedroht, die Lenz - in Anlehnung an das von Kant bestimmte Gefuhlsvermögen der Unlust121 - als „Erbschaden" (PV, 19), als „die zwei Bleigewichte der Materie die unsere emporsteigende Velleität herabziehn" bezeichnet: „Trägheit und Furchtsamkeit" ( P V , 19); die eine will nichts thun, die andere nichts hoffen und das Resultat von beiden ist Ungedult. (PV, 19)
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Kant hat in seiner Vorlesung über Metaphysik das ,,innere[...] Princip [...] zu handeln" mit dem „Leben" schlechthin gleichgesetzt (M, 247) und weiter festgestellt, „die F r e i h e i t " , die er vor allem im „geistigen Leben" realisiert sieht, sei „der größte Grad der Thätigkeit und des Lebens" (M, 249); mehr noch, sie stelle „ e i n e n o t h w e n d i g e B e d i n g u n g a l l e r u n s e r e r p r a c t i s c h e n H a n d l u n g e n " (M, 270) dar. Dort heißt es weiter: „Die Gründe warum die Handlungen geschehen, [...] werden eingetheilet [in] stimuli, das sind Vorstellungen des angenehmen und unangenehmen [und] motiva oder Vorstellungen des guten [sie!] und Bösen. [...] Die Sittlichkeit bestehet nicht darinn, daß man nach stimulis sondern nach motivis handelt. [...] D a h e r ist d i e F r e y h e i t des M e n s c h e n im m o r a l i s c h e n V e r s t ä n d e g e n o m m e n n i c h t s a n d e r s als das V e r m ö g e n n a c h m o t i v i s zu h a n d e l n . " (PP, U l f ) Kant stellt geradezu eine Gleichung auf, in der die Begriffe der freien Handlung und des sittlichen Ideals einander konstituierende Größen darstellen: „Alles ist im moralischen Verstände Handlung, was einen Bewegungsgrund hat" (PP, 128). „Desto mehr Tugend ist aber bey der Handlung, je mehr Absicht jemand auf das gute gehabt hat." (PP, 158) „Jemehr jemand aus Vorsazz gethan, mit desto größerer Freyheit hat er es gethan." (PP, 158) „Der moralische Zwang ist also der Höchste Grad der Freyheit." (PP, 132) Vgl. hierzu in Kants Metaphysikvorlesung die Kapitel „Von der allgemeinen Eintheilung der geistigen Vermögen" (M, 228ff) und „Vom Begehrungsvermögen" (M, 253ff).
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Erst ihre Überwindung führe das Individuum zur Selbständigkeit („Um vollkommen selbständig zu sein, muß ich also viel gehandelt, das heißt meine Empfindungen und Erfahrungen oft verändert haben"; ÜdN, 622).122 Doch müsse jegliche Tätigkeit, um nicht zuletzt auch jenen ,,grosse[n] F e h l e r unserer Welt" zu korrigieren, „daß in ihr kein Muth, keine Hoffnung, kein Glaube mehr anzutreffen ist", (PV, 11) „nach gewissen Gesetzen der allgemeinen Harmonie geschehen", die das Individuum zu nichts anderem verpflichteten, als „gut [zu] handeln"; (ÜdN, 622) ein Gedankengang, den Pautler als einen Akt der „Säkularisierung" (Pautler, 137) pietistischer Grundüberzeugungen bezeichnet. Aber was versteht Lenz unter der allgemeinen Harmonie, deren Gesetze offensichtlich vom Menschen erst wahrgenommen werden müßten, um ihn zum guten Handeln zu befähigen? In seinen Ausführungen hierüber scheint der Autor sich unvermutet von den in Königsberg eingeprägten erkenntnistheoretischen Prinzipien zu lösen und einem Sensualismus in der Tradition Condillacs oder Helvétius' das Wort zu reden, wenn er betont, daß jene Harmonie sich dem Menschen durch das G e f ü h l erschließe: Diese Harmonie läßt sich aber eher fühlen als bestimmen [Hervorh. d.V.]. Denn welcher Verstand ist soweit durchgedrungen - und was müßte er für einen Weg gemacht haben, um dahin zu kommen? Böse Handlungen geben sich gleich zu erkennen[.] (ÜdN, 622) Doch bevor dieser scheinbare Widerspruch geklärt werden kann, ist zuerst den Begriff der Harmonie zu erläutern, mit dem Lenz eine vielschichtige Bedeutung verbindet. So meint er damit etwa an einer Stelle seiner Vorlesungen den Naturzustand der Welt, wenn er auf „die von Gott geordnete Harmonie" reflektiert, die er auch als ein Synonym für den Begriff des ,,Schicksal[s]" versteht (PV, 12). In einer anderen seiner moralphilosophischen Predigten vereinigt er die Begriffe des Guten, der Harmonie und des Schönen miteinander, wenn er in bester Kantscher Tradition aufzeigt, daß das moralisch handelnde Individuum nur kraft seiner Vernunft in die Lage versetzt werde, seiner Vollkommenheit entgegen zu streben, um so auch ein Stück von Gottes Ordnung wieder herzustellen bzw. seinen Beitrag zur Errichtung des Reiches Gottes auf Erden zu leisten („Denn jede gute Handlung wirkt auf das Universum aller Menschenhandlungen auf dem Erdboden in unendlicher Progression, und reverberiert endlich auf uns zurück, [...] das ist das Gesetz der Natur."; SdL, 614):
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In Stimmen des Laien... formuliert Lenz diese Forderung nach unablässigem Tätigsein durch die prägnante Metapher, daß ein „Säemann" auf dem Feld „mit dem Korn in der Hand" auch „nicht stehn bleiben" könne „und philosophieren bis Frühjahr und Sommer vorüber" seien, „denn in der Hand wird ihm nichts aufwachsen." (SdL, 615)
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sein inneres Gefilhl seine gemachten Erfahrungen und die Entscheidung seiner Vernunft wird ihn darin am besten unterrichten. (VeP, 505) Dieses innere Gefühl, das dem Menschen Kenntnis von jener allgemeinen Harmonie vermittle, bezeichnet hier nichts anderes, als das von Lenz und Kant gleichermaßen untersuchte, durch die Vernunfterkenntnis greifbar werdende Erste Principium der Moral. Und so führt Lenz aus, daß in unserm Bestreben nach Vollkommenheit eine gewisse Übereinstimmung aller unserer Kräfte zu einem Ganzen, eine gewisse Harmonie sein [müsse], welche eigentlich den wahren Begriff des höchsten Schönen gibt. Sehen Sie nun, daß die Linien des wahren Schönen und des wahren Guten im strengsten Verstände, in einen Punkt zusammen laufen? (VeP, 505) Vergegenwärtigen wir uns vor diesem Hintergrund erneut seine Feststellung, daß die allgemeine Harmonie, die Ordnung Gottes, sich eher f ü h l e n als bestimmen lasse, wird der Unterschied zum Sensualismus ersichtlich. Denn jene Berufung auf das Fühlen, auf das Empfindungsvermögen, scheint nun nicht mehr als das alleinige Erkenntnisprinzip, sondern verweist auf die unterste, die elementare Ebene des von Kant gelehrten dreistufigen Erkenntnismodells. Lenzens Absage an die B e s t i m m b a r k e i t von Gottes Harmonie muß wörtlich verstanden werden und darf nicht mit einer Vernunfterkenntnis verwechselt werden, durch die sich nach Kant sehr wohl auf die allgemeine Harmonie und die von ihr determinierten sittlichen Prinzipien (Gesetze) schließen lasse. Gerade an Lenzens hier so beiläufig anmutender Verwendung des Begriffs des Bestimmens macht sich der nachhaltige Einfluß des Königsberger Philosophen bemerkbar. Dessen Überlegungen über das Bestimmbare und seine Relation zum Bestimmenden nehmen etwa bei der Entfaltung seiner erkenntnistheoretischen Ausführungen in der Kritik der reinen Vernunft breiten Raum ein, wobei Kant - dies sei hier in aller gebotener Verkürzung resümiert - das Denken als das schlechthin Bestimmende und die M a t e r i e als das durch von der Anschauung geprägte Begriffe Bestimmbare angesehen hat.123 Da aber weder Gott selbst noch die von ihm errichtete, sogenannte allgemeine Harmonie und die ihr zugrunde liegenden Gesetze Gegenstände der sinnlichen Anschauung darstellen, entziehen sie sich als nicht-empirische, metaphysische Objekte der reinen Verstandesebene, auf der sie durch B e g r i f f e b e s t i m m b a r gewesen wären; als in diesem Sinne Nicht-Bestimmbares kann auf sie also nur auf der Vernunftebene durch Schlüsse gefolgert werden. In der literarhistorischen Forschung wird seit längerem auf eine angebliche Differenz zwischen Lenzens theoretischen Äußerungen über das freie Handeln
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Vgl. KiV, 379 (A261 / B317).
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und die in seinem dramatischen und epischen Werk demonstrierte Praxis hingewiesen, ein Paradigma, auf das es an dieser Stelle kurz einzugehen ist. Martin Rector etwa glaubt in einem Aufsatz über die Prosadichtung Zerbin oder die neuere Philosophie, Lenz habe das theoretisch beschriebene freie Handeln als grundsätzlich in der sozialen Wirklichkeit nicht realisierbar erkannt, es habe sich, „wie in einer ästhetischen Probehandlung durch das Fegefeuer der zeitgenössischen gesellschaftlichen Wirklichkeit [geschickt], als empirisch nicht existent und nicht durchsetzbar erwiesen". Doch habe der Autor die sich aus dieser Erkenntnis eigentlich notwendig ergebenden Konsequenzen nicht gezogen; zwar habe er die Unmöglichkeit des freien Handelns in der sozialen Realität erkannt, doch „ohne es theoretisch zurücknehmen zu wollen".124 Dieser Standpunkt wirft einige Fragen auf: nach der Intention der moralphilosophischen Überlegungen des Autors, nach seinem Glauben an ihre Durchsetzbarkeit sowie nach der Beziehung der ihrer Darlegung gewidmeten Vorträge und Predigten zu seinem dichterischen Werk. Vergegenwärtigt man sich Lenzens Œuvre und die es fundierenden philosophischen wie erkenntnistheoretischen Grundlagen, ließe sich die Gegenfrage formulieren, weshalb Lenz diesen theoretischen Widerruf überhaupt hätte leisten sollen? Denn mittels seiner moralphilosophischen Ausführungen hat er eindringlich für das Ausrichten aller individuellen menschlichen Handlungen nach dem von ihm als kategorisch geltend anerkannten Moralgebot geworben. Und zwar nicht durch ein bloßes Aufzeigen der M ö g l i c h k e i t einer solchen Ausrichtung, sondern, indem er die absolute N o t w e n d i g k e i t derart orientierten Handelns hat aufzeigen wollen. Dieser Intention folgen auch seine Dichtungen, in denen er versuchte, die eigentliche Natur des menschlichen Individuums und die in ihr angelegten Möglichkeiten und Pflichten, aber auch die in ihr angelegten Gefährdungen zu demonstrieren. Letztlich veranschaulichen diese Werke auf populäre, leicht verständliche Weise nur die zentralen Gedanken seiner sich an ein zahlenmäßig überschaubareres, aber auch intellektuelleres Publikum gerichteten Vorträge und Predigten.125 Sie hingegen als 'Probehandlungen' zu interpretieren, also als Versuchsanordnungen zuerst theoretisch formulierter, gesamtgesellschaftlich ausgerichteter Theorien, die erst noch des Beweises ihrer praktischen Umsetzung bedürfen, um akzeptiert zu werden, erscheint deshalb als fragwürdig - und würde ein Mißverständnis von Lenzens religiösen Glauben bedeuten, der von seiner Natur her eines solchen empirischen Beweises überhaupt nicht bedarf. Wenn Rector Lenz zitierend und dabei dessen Intentionen übersehend meint, der Dichter vertrete die „emphatisch-aufklärerische" Überzeugung, daß der Mensch als „gottähnliches Geschöpf ein ,,'un124
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Martin Rector: Zur moralischen Kritik des Autonomie-Ideals. Jakob Lenz' Erzählung 'Zerbin oder die neuere Philosophie '. - In: Inge Stephan und Hans-Gerd Winter (Hrsg.): 'Unaufhörlich Lenz gelesen...'. Studien zu Leben und Werk von J.M.R. Lenz. Stuttgart/Weimar 1994, (S. 294-308) S. 294. Künftig abgekürzt „Rector 1994-1". Vgl. hierzu auch hier Drittes Kapitel, „Der Prediger".
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endlich freihandelndes Wesen'" darstelle (Rector 1994-1, 294), so wird sein Mißverständnis vollends ersichtlich. Der weitere Verlauf der vorliegenden Darstellung wird zeigen, daß Jakob Lenz keinesfalls (wie das aus dem Zusammenhang gelöste Zitat, der Mensch sei ein 'unendlich freihandelndes Wesen', zu belegen scheint) ein an Goethes Prometheus-Verständnis anknüpfendes und Gottähnlichkeit beanspruchendes Menschenbild hatte.126
3. Moral und Glaube Leiden, Vollkommenheit, Moral, Glückseligkeit Daß für Lenz das Realisieren einer höheren Moral stets untrennbar mit der erst durch das Denken eröffneten Möglichkeit verbunden ist, erfahrenes Leid überhaupt ertragen zu können, verdeutlicht er am Beispiel Jesu Christi. Ihn benennt er unter Zurückweisung der christlichen Dogmatik als das exemplarische Vorbild praktizierter Moral, der als die Welt verändernder und an ihr leidender „Mensch" gewirkt habe (ÜdN, 623) und dadurch über das bloße Mensch-Sein hinausgewachsen sei. Vom Autor wird er deshalb einmal mehr nicht nur als Gottes Sohn apostrophiert, sondern - außer einfach als ein Mensch - mehrfach als ein „Gott" (als e i n e n wohlgemerkt, nicht als den) bzw. „göttlich" bezeichnet (ÜdN, 622ff) („Ein Gott der auf der ganzen Erde Revolutionen zu machen die Kraft und den Beruf in sich spürte"; ÜdN, 624). Lenz betont in diesem Kontext, daß Christus uns ein Symbol geben wollte, was den vollkommenen Menschen mache und wie der nur durch allerlei Art leiden und Mitleiden w e r d e und b l e i b e . Denn seine Auferstehung und Auffahrt sind nur Fortsetzung dieses selben großen Plans zu leiden und zu handeln. (ÜdN, 624) 1 2 7
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Vgl. hier Drittes Kapitel „Die Aufgabe der Kunst". Zum Begriff des Handelns und seiner dichterischen Anwendung sei insbesondere auf Thorsten Unger verwiesen, der in seiner philologischen Studie Handeln im Drama (Göttingen 1993) Lenzens theoretische Überlegungen und ihre praktische Anwendung im Vergleich mit denen Gottscheds analysiert. Dabei interpretiert er Lenz (jedoch ohne dessen philosophische Fundamente adäquat darzustellen) wegweisend als einen direkten Vordenker der dichterischen Moderne des 20. Jahrhunderts, indem er etwa zu Brecht hinführende Bezüge aufzeigt („Was bei Lenz erst implizit postuliert wird, wird im 20. Jahrhundert problematisiert."; Unger, 130). Aufschlußreich ist, daß Lenz „die Geringschätzung" als das „allerhöchste Leiden" ansieht (ÜdN, 624). Er bezieht sich damit zwar explizit auf das Beispiel Jesu und die von ihm erfahrene Verurteilung „als ein gefährlicher Mensch" (ebd.), jedoch finden sich in Lenzens an bitteren Lebenserfahrungen reichen Biographie ausreichend Ereignisse,die auch auf einen sehr persönlichen Hintergrund als Motiv für diese Ansicht verweisen. Bei Kant finden wir den Begriff des Leidens in Polarität zu dem des Handelns, d.h. in einer durchaus weniger pathologischen Verwendung. Kant stellt grundsätzlich zwei dem Menschen mögliche Daseinszustände fest, die er als die der Passivität bzw. Aktivität beschreibt („Ich fühle mich
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Was ist der Zweck jenes 'großen Plans', der auf den scheinbar so gegensätzlichen, doch offenbar einander bedingenden Komponenten Leiden und Handeln aufbaut? (Denn was könnte stärker den Freiheitsdrang motivieren als erlittene Unfreiheit, was eher zum Handeln anstoßen als erlittene Passivität?) Jener Plan leitet nach Lenz das Individuum dazu an, dem „Schicksal, oder nach unsern Begrif [der] von Gott geordnetefn] Harmonie" zu folgen, um letztlich durch den „Genuß" seiner Vollkommenheit, seiner „vollkommenen Homogenität", die von Gott für ihn bestimmte „Glückseligkeit" zu erlangen (PV, 12). Was aber ist in diesem Zusammenhang unter den Begriffen Vollkommenheit und Glückseligkeit zu verstehen? In seinem Versuch über das erste Principium der Moral bezeichnet sie der Autor als die zwei grundsätzlich voneinander geschiedenen, im Menschen angelegten „Grundtriebe", (VeP, 503) die das moralische Wirken des Individuums bedingen und nicht verwechselt werden dürften mit den Begierden, zu denen er vor allem den Geschlechtstrieb zählt: es liegen zween Triebe in unserm Herzen, wie sie hineingekommen sind, mag der liebe Gott wissen, was wir darüber sagen können, wird immer mangelhaft sein. Genug, sie sind da, und sie sollen die zween Füße sein, auf welchen wir den Körper unserer Moral zu stehen machen wollen und diese Füße werden uns [...] geschwind und leicht zum Ziel tragen, da wir auf einem allein nur langsam dahin hinken würden. Diese beiden Grundtriebe die in die menschliche Natur von ihrem Schöpfer gelegt sind, heißen: der Trieb nach Vollkommenheit und der Trieb nach Glückseligkeit. (VeP, 503)
Mit seiner „Definition, oder vielmehr Deskription von der Vollkommenheit" („einem Wort, das [die] meisten Menschen [...] mit dem Wort Glückseligkeit verwechseln") knüpft Lenz explizit an Kants Kollegia über Praktische Philosophie und Metaphysik an, indem er sich auf den Verfasser der ihnen zugrunde liegenden Kompendia bezieht. Er wolle „nach der Baumgartischen Art [...] reden", betont der Dichter eingangs seiner Erläuterung, daß der Mensch „von Natur gewisse Kräfte und Fähigkeiten" in sich fühle, sich „ihrer bewußt" sei, und dies um so deutlicher, je mehr sie sich entwickelten (VeP, 503). So sei der „Trieb nach Vollkommenheit" das „ursprüngliche Verlangen unsers Wesens, sich eines immer größeren Umfanges unserer Kräfte und Fähigkeiten bewußt zu werden", (VeP, 504) die es letztlich zu entwickeln und zu erhöhen gelte (vgl. VeP, 504f). Bei diesem Streben nach Vollkommenheit unterscheidet Lenz ausdrücklich die Kräfte des Geistes von dem Vermögen des Körpers.128 Sein
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entweder als l e i d e n d , oder als s e l b s t t h ä t i g . " M, 228). Wichtig in diesem Zusammenhang ist der Hinweis, daß Kant den Begriff der Passivität als Synonym für den Zustand der Unfreiheit verwendet hat (vgl. hierzu auch PP, 154), den es zu überwinden gelte, der Freiheit und der erst in ihr möglichen Realisierung des sittlichen Ideals wegen. In der Mitschrift seiner Vorlesung über Praktische Philosophie wird Kant mit einer vergleichbaren Systematik zitiert, in der er die „Vollkommenheit einer Person" als „zwiefach" beschreibt: „1. moralisch 2. pragmatisch die erste ist die Vollkommenheit des Willens, die
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Hauptaugenmerk richtet er auf die Ersteren, „und unter diesen [auf die] sogenannten oberen Seelenkräfte, [die] [...] edlern" (VeP, 504), kraft derer das Individuum das summum bonum" (VeP, 501), das Erste Principium der Moral erkennen könne. Dieses trage in sich die unbedingte Verpflichtung zum sittlichen Handeln, so daß der einzelne erst dann Vollkommenheit erreiche, wenn er die Realisierung der moralischen Gesetze aus freiem Willen anstrebe.129 Erst die Förderung jener oberen Seelenkräfte verwirkliche den „wahren Begriff der Vollkommenheit", wofür man - den Prinzipien der Kantschen Erkenntnistheorie folgend - erst „Erfahrungen anstellen, sie vergleichen, und die Vernunft entscheiden lassen" (VeP, 504) müsse, um dem kategorisch gebietenden sittlichen Ideal zu entsprechen („die Entscheidung seiner Vernunft wird ihn [den Menschen] am besten unterrichten"; VeP, 505). 130 Auf diesem Wege solle das Individuum „immer weiter gehen und nie stille stehen", da - wie Newton erkannt hat - nichts „in der Welt [...] zu einer absoluten Ruhe geschaffen" sei (VeP, 504). Das fortwährende „Bestreben nach Vollkommenheit" führe schließlich an jenen Zielpunkt, an dem man sich der Gewährung der Glückseligkeit als würdig erwiesen habe, wenn eine „gewisse Übereinstimmung aller unserer Kräfte zu einem Ganzen", „eine gewisse Harmonie [...], welche eigentlich den wahren Begriff des höchsten Schönen" realisiere (d.i. in diesem Sinne das Erste Principium der Moral), erreicht sei (VeP, 505). 131 Bereits hieraus ergibt sich die grundsätzliche Verschiedenheit des Begriffs der Vollkommenheit von dem der Glückseligkeit, zu deren weiterer Verdeutlichung der Autor ausführt, die Vollkommenheit ,,beruh[e] auf uns selber, die
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leztere ist die Vollkommenheit der Talente. [...] Die wahre bonitaet besteht in dem Willen [...] Das eigentliche moralische principium ist also der gute Wille und hierinn bestehet das absolutum - Nichts ist gut als das, was einen guten Willen hat. Selbst das Höchste Wesen ist darum nur gut, weil es einen guten Willen hat." (PP, 130) Über den Charakter dieser Verpflichtung hat Kant ausgeführt, daß die „Erkenntniß der Pflicht [...] offenbar" sei: „Wir mtlßen [...] darum dem Willen Gottes [...] folgen, [...] weil das was er befiehlt gut ist. [...] Die moralischen Gesezze gebiethen alle categorisch." (PP, 136f) „Es kann kein größeres Verbrechen gefunden werden, als wenn man das moralische Gesezz zu corrumpiren sucht." (PP, 164) Kant spricht- außer von der Vernunft - auch von den „Regeln der Klugheit", wenn er das „Mittel" benennt, um letztlich zur „Glückseligkeit zu gelangen" (PP, 116). Von elementarer Bedeutung ist jedoch seine Einschränkung, die „moral kann nicht betrachtet werden als ein Mittel zur GlUckseeligkeit, sondern die Bedingung unter welcher wir der GlUckseeligkeit würdig werden." (PP, 164) Diesen Moment, in dem man sich durch sein sittliches Handeln endlich der Gewährung der Glückseligkeit als würdig erwiesen habe, bezeichnet er als den Zustand der sittlichen Vollkommenheit (vgl. PP, 209). Als einen „Hülfstrieb" des Strebens nach Vollkommenheit bezeichnet Lenz in diesem Zusammenhang den „Trieb - uns m i t z u t e i l e n " . Dieser sei ausschlaggebend, um die „Fähigkeiten und Kräfte", derer „wir uns bewußt" geworden seien, „auch andern [...] fühlbar zu machen und eben dieses ist das einzige Mittel, dieselben zu entwickeln und zu erweitern. Die meisten, die größesten und fürtrefflichsten unserer Fähigkeiten liegen tot, sobald wir aus aller menschlichen Gesellschaft fortgerissen uns v ö l l i g a l l e i n befinden" (VeP, 505).
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Glückseligkeit nicht". Weiter spezifiziert er, daß erstere eine „Eigenschaft" darstelle, letztere hingegen einen „Zustand", (VeP, 506) der „eine gewisse Lage, eine gewisse Relation unsers Selbst mit den Dingen außer uns" bezeichne. Lenz hebt dabei hervor, „daß es in der ganzen Schöpfung nur zween mögliche Zustände gebe, die Ruhe und die Bewegung", von denen der Zustand der Ruhe - „wie die Physiker lehren" - „in unserer Welt keine Statt" habe, da die „Ruhe der Materie [lediglich] [...] eine entgegengesetzte Bewegung gleicher Kräfte [darstelle], die sich unter einander auflieben" (VeP, 507). Von dieser Prämisse aus gelangt er schließlich auch zu einer allgemeinen Definition des Begriffs des Glücks, indem er folgert, daß der für den Menschen „glücklichste" Zustand der „Zustand der Bewegung" sein müsse, weil er „unserer Vollkommenheit, dem Umfang unserer Fähigkeiten am angemessensten" entspreche. Denn unmöglich könne man für ein Wesen, das in sich als Grundtrieb den Wunsch „zu einer immer höheren Vervollkommnung, zu einer immer weitem Entwickelung seiner Fähigkeiten" spüre, den Zustand der Ruhe, bzw. der „kleinstmöglichsten Bewegung" (VeP, 507) als glückseligmachend annehmen, womit er beiläufig die hierzu völlig gegensätzlichen Positionen Rousseaus zurückweist. Denn seiner Ansicht nach ist der Mensch „also nur alsdenn w a h r h a f t i g glücklich", wenn er sich in einem Zustande befinde, der es ihm gestatte, kraft seiner „Vernunft, die von allen Vorurteilen befreit ist und die höchste Oberherrschaft über alle unsere übrigen Seelenvermögen erhalten" habe, die in ihm angelegten Potentiale zu befördern und dabei den unumstößlichen Grundsätzen der Moral zu folgen (VeP, 509). Und diese geböten eindeutig, nicht das eigene Glücksempfinden in das Zentrum der Aufmerksamkeit zu stellen (womit er über den philosophischen Standpunkt Christian Wolffs hinausgeht), sondern das gute Werk am Nächsten.132 Schließlich gelte es doch, am Aufbau einer besseren Welt mitzuwirken, die sich an Christi Vision von einem „Reich Gottes auf Erden" (VeP, 510) orientiere. Denn: ach diese Welt, ist keine solche Welt. Jeder sorgt nur für seinen eignen Zustand, für den Zustand seines Nachbaren aber schließt er die Augen zu. Und sollen wir Moralisten - sollen wir Christen uns darin nicht von dem gemeinen Haufen unterscheiden? Das ist eben der große Probierstein von der Wahrhaftigkeit und Realität unsers Glaubens. Frisch an die Arbeit, meine Brüder, die ihr Mut genug habt, Menschenfreunde zu sein. Überlaßt euren Zustand dem Gott der die Welt geschaffen, strebt einzig und allein darnach b e s s e r zu werden und eure Nebenmenschen um euch herum nicht allein b e s s e r , sondern auch glücklich zu machen! (VeP, 511) 1 3 3 132
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Über die hieraus resultierenden Grenzen des persönlichen Glücksstrebens führt Lenz in seinen 'Lebensregeln' aus, daß für das Realisieren jenes individuellen ,,Endzweck[s]" nur diejenigen Mittel erlaubt seien, „wodurch der Fortsetzung der Existenz aller unsrer Mitgeschöpfe nicht der geringste Eintrag geschieht, sondern diese vielmehr befördert und erhöhet wird." (ML, 493) In diesem Orientiertsein auf den Mitmenschen drückt sich für Lenz die völlige soziale Abhängigkeit des Individuums aus, so daß er zu erkennen glaubt, die „meisten, die größe-
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Dem Freund und Mentor Johann Daniel Salzmann versichert er in diesem Sinne im Oktober 1772 brieflich, alle auf Erden vom Menschen zu sammelnden Erkenntnisse dienten lediglich dem Zweck, Gott „nachzuahmen", zu ihm „hinauf zu steigen", zu ihm, der „Quelle alles Wahren, Guten und Schönen", um „wie er ganz Liebe und Wohltätigkeit gegen das menschliche Geschlecht" zu sein, um dadurch s e l b e r „kein größeres Glück kennen 'zu lernen", als andere glücklich zu machen" 134 „Und das ist dies: es geht mir gut in der Welt und wird mir in Ewigkeit gut gehen, so lang ich selbst gut bin". 135 In seinen 'Lebensregeln' bezeichnet Lenz dieses Verhalten der „Uneigennützigkeit" als die letzte der drei moralischen Pflichten, „die uns Christus durch sein Beispiel und Lehre h a u p t s ä c h l i c h eingeschärft" habe (ML, 492), an anderer Stelle schließlich als den ,,fruchtbarste[n] Teil meiner Prinzipien" („Wir m ü s s e n s u c h e n a n d e r e um uns h e r u m g l ü c k l i c h zu m a c h e n . " ; VeP, 510). Wohin das Gegenteil der Uneigennützigkeit, die Eigenliebe, fuhren könne, demonstriert der Autor 1775 in seiner Prosadichtung Zerbin oder die neuere Philosophie.136 Exemplarisch zeigt er darin am Beispiel des jungen Berliners Zerbin die elementare Schwäche seiner um Aufklärung bemühten Epoche auf, deren „Modephilosophie" zwar „Menschenliebe und Empfindsamkeit" proklamiere, in Wahrheit aber am „menschlichen Geschlecht nur die Gattung, nie die Individuen zu lieben" lehre (Z, 354). Die Erzählung baut auf dem zu dieser Zeit im deutschen Strafrecht sehr aktuellen und deswegen auch von anderen Autoren wie Heinrich Leopold Wagner und Goethe aufgegriffenen Motiv des Kindsmordes auf, zu dem in Lenzens Prosa eine junge Frau durch ausweglos erscheinende Umstände getrieben wird. Der Urheber dieser Tragödie ist der Protagonist, ein nach Gelehrsamkeit und gesellschaftlicher Karriere strebender Mann, der eine Liaison mit der unerfahrenen Bürgertochter Marie beginnt, die seine Leidenschaft für Liebe hält. Mit einer ungewollten Schwangerschaft konfrontiert, für die ihr Geliebter die Verantwortung nicht übernehmen will, wird sie zur Kindesmörderin, vor Gericht gestellt und schließlich enthauptet, ohne daß der um sein eigenes Wohl bangende Zerbin den Versuch einer Rettung unternommen hätte (Zerbin: „meine eingebildete Gelehrsamkeit, mein Hochmut waren die einzigen Hindernisse."; Z, 378). Mit Zerbin demonstriert Lenz die tragischen Konsequenzen, die Eigenliebe und Furcht vor dem Aufgeben persönlicher Glückserwartungen (hier: der Hoffnung auf eine vorteilhaftere Partie durch die Heirat mit einer anderen) nachfolgen, wenn sie moralisches Handeln verhindern. Lenzens Plädoyer für
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sten und fürtrefflichsten unserer Fähigkeiten [lägen] tot [darnieder], sobald wir aus aller menschlichen Gesellschaft fortgerissen uns v ö l l i g a l l e i n befinden." (VeP, 505) Lenz an Johann Daniel Salzmann, Landau Oktober 1772. - In: WB, Bd. 3 (S. 293-295), S. 295. Lenz an Johann Daniel Salzmann, Landau Oktober 1772. - In: WB, Bd. 3 (S. 284-287), S. 285. Lenz: Zerbin oder die neuere Philosophie. - In: WB, Bd. 2, S. 354-379.
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die moralische Pflicht, den Nächsten glücklich zu machen, impliziert jedoch keine Verurteilung des persönlichen Strebens nach Glück. Vielmehr bejaht er dies in der Wölfischen Tradition ausdrücklich, auch wenn er es in seinem Stellenwert - gerade in Hinblick auf das individuelle Streben nach Vollkommenheit - relativiert sehen möchte. Diesen Gedanken führt er in seinen Philosophischen Vorlesungen aus, worin die Metapher der Leiter der Darstellung des nach Glückseligkeit verlangenden und die Vereinigung mit homogener Schönheit erstrebenden Menschen dient, auf der sich das Individuum Sprosse für Sprosse den von der Vernunft erkannten Prinzipien der Moral folgend aufwärts bewegt. „Aber", so gibt Lenz zu bedenken, indem er das Erlangen persönlichen Glücks anspricht, „wenn ihr nun so glücklich geworden seid, so bedenkt, daß ihr nur an der untersten Staffel der Leiter steht" (PV, 12f). Weiter hinauf komme man nur durch den v e r n ü n f t i g e n Genuß der homogenen Schönheit - die Lenz auch als die 'körperliche' (vgl. PV, 12) Schönheit bezeichnet - , durch das Beachten seiner moralischen Pflicht, wodurch man jene untere Stufe schließlich überwinden und allmählich in eine höhere, letztlich metaphysische Sphäre gelangen könne. An der Schwelle hierzu erreiche das Individuum dann endlich den Zustand der „vollkommenen Homogenität" (PV, 12),137 den Kant in seiner Vorlesung über Praktische Philosophie auch als den Zustand der sittlichen Vollkommenheit bezeichnet hat (vgl. PP, 209). Dieser stelle - so Lenz - den Übergang zur idealen Schönheit, zu Gott dar, den Übergang in eine Sphäre, in der dem einzelnen die ersehnte wahrhaftige „Glückseeligkeit" (PV, 12) zuteil werde, die der Autor mit dem Bild 'unzähliger' (vgl. PV, 13) Brunnen veranschaulicht, „Brunnen die Wasser enthalten, das ins ewige Leben fließt" (PV, 13).138 Doch auch wenn für das Erlangen der Glückseligkeit letztendlich „der Vogel auf dem Dache mehr [gelte], als eine ganze Sammlung schöner Schmetterlinge", (PV, 12) brauche man auf den irdischen Genuß nicht zu verzichten; im Gegenteil, schließlich lasse sich durch das v e r n ü n f t i g e Stillen der Begierden die gleichsam in einer Sammlung schöner Schmetterlinge vereinzelte homogene Schönheit „zu einem vollkommenen Ganzen" (PV, 13) wieder zusammenfügen. Darum, so sein Rat, ,,[e]sset von allerlei Bäumen [der Erkenntnis] im Garten" in der festen Überzeugung, daß die „homogene Schönheit" in all der Unterschiedlichkeit ihrer jeweiligen, vom Menschen durch seine Begrenztheit nur zu oft unerkannt bleibenden Erscheinungsformen stets auch „ein Theil der
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An gleicher Stelle hebt der Autor hervor, die „ v o l l k o m m e n - h o m o g e n s t e Schönheit" sei „die letzte Stufe zur i d e a l e n , der Genuß jener muß unsrer Konkupiscenz also auch den höchsten Schwung geben, zu dieser überzugehen." (PV, 8) Kant beschreibt die vom einzelnen angestrebte Glückseligkeit in seiner Vorlesung über Metaphysik auch als den eigentlichen Lebenszweck (vgl. M, 303), als die „Triebfeder" der menschlichen Existenz, (M, 317) die den Einzelnen erst dazu motiviere, aus freien Stücken den moralischen Gesetzen zu entsprechen, die in sich keine vergleichbare „treibende Kraft" (M, 318) trügen.
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idealen" (PV, 8) sei, die zu erreichen letztlich die Bestimmung des Menschen ausmache; und wir können nicht anders zu d e r I d e e v o n d i e s e r [idealen Schönheit] k o m m e n [Hervorh. d.V.], als auf dem Wege des verhältnismässigen Genusses von jener [homo-genen], (PV, 8) Kein Ding das unsern Sinnen oder Geistes Kräften gegenwärtig werden kann, ist vergeblich für uns erschaffen, keines, auch das häßlichste nicht, von allem Reiz für uns entblößt, der Fehler liegt an uns, wir suchen den Reiz darinn nicht auf, oder unsere Kräfte sind nicht genug ausgeschliffen, ihn wahrzunehmen. (PV, 9) [...] ganz schön empfinden, das heißt lieben (PV, 11) Eine andere Schönheit hat die Sonne; eine andere der Mond; eine andere die Sterne, aber e i n e r ist, der sie alle in ewige Harmonie gebracht hat. Und wieder von oben herabschaun und raffen kann: es ist gut - so können auch wir eine Sprosse nach der andern auf der grossen Leiter empor zu ihm klimmen, rükwärts hinab schauen und mit Tränen der Entzückung ihm nachflüstern: es ist gut! es ist gut - (PV, 13)
Doch ungeachtet allen Bemühens, jene 'grosse Leiter' des tugendhaften Handelns emporzusteigen, könne der Mensch die Glückseligkeit nur durch eigenes Bestreben doch niemals erreichen. Hierzu bedürfe es der aktiven Teilnahme Gottes, durch die das zu ihm emporgeklommene und sich dadurch der Glückseligkeit als würdig erweisende Individuum dieser Gnade erst teilhaftig werde.139 Gott - so Lenz - „gibt [Hervorh. d.V.] uns unsern Zustand, unsere Glückseligkeit nach Maßgebung unserer Vollkommenheit, das heißt, unsere Bestrebens nach Vollkommenheit"; (VeP, 509) eine Schlußfolgerung, die er mit Kant teilt, der sie in seinem Metaphysik-Kollegium aus der Erkenntnis heraus entwickelt hat, daß „die moralischen Gesetze [...] apodiktisch und irresistibel" seien. Hieraus folgert der Philosoph: Da es nun ohne die moralischen Gesetze nicht möglich ist, die Glückseligkeit zu erlangen; die moralischen Gesetze aber keine solche Glückseligkeit versprechen; so [...] muß demnach eine Verheißung seyn, der Glückseligkeit wirklich teilhaftig zu werden, wenn man sich ihrer würdig gemacht hat. Da aber in der ganzen Natur solche Verheißungen nicht wahrgenommen werden, und wir, nach der Ordnung der Natur, gar nicht der Glückseligkeit theilhaftig werden können, der wir uns durchs moralische
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Unger gelangt an dieser Stelle zu einer völlig gegensätzlichen Interpretation, wenn er anfangs noch ganz in Lenzens Sinne schreibt, der „Zustand der Glückseligkeit" sei „nicht fìlr jeden einzelnen durch tugendhaftes Handeln mehr und mehr erreichbar", dann jedoch nicht die Gott von Lenz zugesprochene Funktion des Gewährens der Glückseligkeit erkennt, sondern annimmt, sie sei nur „in einem Zusammenwirken aller" erreichbar, „nur wenn ideell alle Mitglieder einer Sozietät daran mitwirken" („Die Glückseligkeit ist damit der Gewalt der Sozialpartner überantwortet"; Unger, 150).
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Gesetz würdig gemacht haben, indem die Moralität in den Gesinnungen besteht, die Natur aber nicht, in Ansehung der Glückseligkeit nach Proportion meiner Sittlichkeit, mit der Moralität übereinstimmt, s o muß e i n a l l g e m e i n e r W e l t r e g i e r e r der N a t u r a n g e n o m m e n w e r d e n , d e s s e n W i l l e e i n m o r a l i s c h e r W i l l e ist, und der nur unter der B e d i n g u n g der m o r a l i s c h e n G e s e t z e d i e G l ü c k s e l i g k e i t e r t h e i l e n kann, der im S t a n d e ist, das W o h l v e r h a l t e n mit d e m W o h l b e f i n d e n z u s a m m e n z u s t i m m e n . (M, 318f)
In der Mitschrift seines Metaphysik-Kollegiums befindet sich am Ende des die Vorlesung abschließenden Themenblocks „Angewandte rationale Theologie" (M, 339-350) der nur wenige Bemerkungen umfassende Abschnitt ,,c)", betitelt: „Vom letzten Zwecke der Welt" (M, 349f). In ihm hat Kant äußerst komprimiert die für ihn wesentlichen religiösen Standpunkte seines auf der Rezeption Leibniz-Wolffs basierenden, doch eigenständig weiterentwickelten Weltverständnisses zusammengefaßt, deren nachhaltige Rezeption durch seinen Studenten Lenz im Vorherigen bereits deutlich wurde. So erkennt Kant den eigentlichen „Zweck der göttlichen Schöpfung", das „höchste Gut", aus den beiden Komponenten „ G l ü c k s e l i g k e i t " sowie „Würdigkeit der G l ü c k s e l i g k e i t " zusammengesetzt. Dieses Gut erwerben könnten lediglich „die vernünftigen Wesen" („diese machen den Zweck der Welt aus"), indem sie von der Vernunft geleitet sittlich handeln. Letztlich werde ein „vernünftiges Wesen" aber lediglich „so viel Glückseligkeit erhalten, als es sich derselben würdig macht". Eben hieraus schlußfolgert der Königsberger Philosoph seine bei Lenz auf überaus fruchtbaren Boden gefallene Vernunfterkenntnis, daß in diesem Akt des Gewährens der Glückseligkeit der eigentliche „Zweck G o t t e s " bestehe, (M, 349f) während der Zweck des Menschen, und mit diesem anthropologischen Grundsatz schließt er seine Vorlesung, durch das sittliche Streben bestimmt sei: Auf unserer Seite müssen wir durch unser Wohlverhalten uns dieser Glückseligkeit würdig zu machen suchen, und dann können wir auch zuversichtlich hoffen, solcher Glückseligkeit theilhaftig zu werden. (M, 350)
Bei Lenz finden wir in seinem Versuch über das Erste Principium der Moral den gleichen Gedankengang in ähnlicher Formulierung als Quintessenz seiner vorangestellten Überlegungen: Gott gibt uns unsern Zustand, unsere Glückseligkeit und zwar (dies lernen wir aus der großen Weltordnung und eigenen täglich und stündlich anzustellenden Erfahrungen) nach Maßgebung unserer Vollkommenheit, das heißt, unsers Bestrebens nach Vollkommenheit. (VeP, 509)
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Und aus dieser Erkenntnis leitet der Autor unmittelbar den für ihn gültigen Begriff des Glaubens ab, worüber er, in enger Anlehnung an Kants Synthese von kritischer Vernunft und moralorientierter Religiosität, ausführt: Diesen Lehrsatz so lebendig zu erkennen, dessen so gewiß zu sein, daß wir uns durch keine Scheinwidersprüche darin irre, oder davon abwendig machen lassen, nenne ich: G l a u b e n . Es ist dieses der moralische, [...] der n a t ü r l i c h e Glaube[.] (VeP, 509) 1 4 0
Moral, Religion und Vernunft Mit dieser Formulierung setzt Lenz den Begriff der Moral synonym für den der Religion, womit er auch Kants Überzeugung wiedergibt, der in seinen Kollegia ausführlich dargestellt hat, daß zwischen beiden nicht unterschieden werden dürfe.141 Diese Festlegung dient Lenz als Voraussetzung seines kategorischen Zurückweisens des traditionellen, zu missionarischem Eifer wie zur Intoleranz gleichermaßen einladenden christlichen Selbstverständnisses, man verfüge durch die biblische Botschaft über die e i n z i g seligmachende religiöse Lehre: Hier gehe ich von der Moral zur Religion über. Es ist seltsam, daß man unter der natürlichen und theologischen Moral einen Unterschied macht, gleich als ob die ewigen Gesetze Gottes über unser Verhalten nicht zu allen Zeiten dieselben gewesen wären. Die Bibel ist uns nicht gegeben uns eine neue Moral zu lehren, sondern nur die einzige und ewige Moral, die der Finger Gottes in unser Herz geschrieben, in ein neues Licht zu setzen. (VeP, 511) 1 4 2
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In seiner ersten Kritik benutzt Kant ebenfalls den Begriff des „ m o r a l i s c h e n G l a u b e n [ s ] " („dieser Vernunftglaube"), den er ausdrücklich rechtfertigt und vom Wissen und Erkenntnis verhindernden dogmatischen streng unterscheidet (KrV, 857f [A828 / B856], vgl. hier „Gott / Jesus, Glaube"). Das natürliche einander Ergänzen des spätaufklärerischen Vernunftgedankens mit seiner religiösen Glaubenspraxis zeigt Lenz im Drama Der neue Menoza auf, wo er seinen Protagonisten, den Prinzen Tandi, feststellen läßt, „Vernunft ohne Glauben" sei „kurzsichtig und ohnmächtig". Denn bei der „echten Vernunft" (womit er auf Kants Vernunftverständnis reflektiert, das er von der 'unechten', der rationalen Vernunft unterscheidet) stelle „der Glaube das einzige Gewicht [dar], das ihre Triebräder in Bewegung setzen" könne; „sonst stehen sie still und rosten ein, und wehe denn der Maschine!" (DnM, 147) Auf dieser Prämisse aufbauend postuliert Kant etwa in seiner Vorlesung Uber Praktische Philosophie, der „Göttliche Wille" lasse sich „nur durch die moralische[n] Gesezze denken". Schließlich stelle „Religion [...] nichts als gereinigte sittliche Gesinnungen" dar, denn: „das ist nicht Religion daß ich Gott einen Gehorsam leiste, sondern die Religion ist eigentlich das Verhalten gegen Gott aus moralischen Gründen" (PP, 136). Auch beim Königsberger Philosophen finden wir die Überzeugung explizit ausgedrückt, religiöse Lehren, insbesondere die christliche, hätten bei sittlichen Gesetzen niemals eine konstiuierende Funktion besessen, sondern stellten lediglich eine Reflexion auf die bereits seit jeher in der Welt vorhandene, kraft der Vernunft zu erkennende Moralität dar: „Unsre
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Ganz selbstverständlich gelangt Lenz an dieser Stelle zur Frage nach der eigentlichen Bedeutung Gottes für die Existenz der moralischen Grundsätze. Denn was bedeutet in diesem Zusammenhang dessen Charakterisierung als G e s e t z g e b e r der moralischen Regeln, die von ihm in die Herzen der Menschen geschrieben worden seien? Ist sie gleichbedeutend mit der Annahme, Gott auch als ihren U r h e b e r anzusehen? Auf den ersten Blick scheint diese Problemstellung vielleicht von geringerem Belang. Doch ihre Erörterung vermittelt wesentliche Einblicke in Lenzens Weltverständnis, in dem nach seinem Königsberg-Aufenthalt eben nicht mehr wie zuvor Gott, sondern ein über diesem stehendes, kraft der Vernunft zu erkennendes sittliches Ideal im Zentrum steht. In Gott erkennt er nun mitnichten den Schöpfer dieses Ideals. Statt dessen interpretiert er ihn als dessen wichtigsten Advokaten, der seine Bedeutung einzig aus der getreuen Übereinstimmung all seiner Handlungen - bzw. seiner unter anderem durch die Bibel geoffenbarten Worte - mit jenem auch ihn verpflichtenden Ideal gewinne. So stellt nach Lenz „die Übereinstimmung seiner [gemeint ist Gott] Lehre mit dieser Moral" letztlich die „einzige Probe" seiner „Göttlichkeit" dar; (VeP, 511) eine Auffassung, die mit Kants Erkenntnis korrespondiert, daß Gott „nicht der Urheber der moralischen Gesezze" (PP, 147) sei, da diese - als seit jeher „natürlich" existierend - „keinen Urheber" (PP, 145) besäßen, weshalb selbst „das Höchste Wesen [...] darum nur gut" sei, „weil es einen guten Willen" (PP, 130) habe, seine Göttlichkeit also nicht aus einem Zustand der Allmächtigkeit gewinne, sondern einzig aus seinem Vermögen, moralisch vollkommen zu sein („Das Ideal des Göttlichen Willens ist die allerhöchste moralische Vollkommenheit."; PP, 121).143 In seiner zweiteiligen, zuerst als Vortrag für die Straßburger Sozietät verfaßten Schrift Meinungen eines Laien den Geistlichen zugeeignet...144 vertieft
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Religion würde also nichts zu bedeuten haben, wenn wir nicht schon vorher einen Begriff von der Moralitaet hatten." (PP, 136) Nicht zuletzt auf dieser Erkenntnis basiert seine strikte Absage an jegliches religiöse Eiferertum, das den Grundsätzen der Vernunft zuwider liefe: „Der Enthusiasmus ist in Ansehung der Religion viel schädlicher als in Ansehung anderer Dinge, kein größeres Laster hat mehr destruction angerichtet als die Heilige Hizze." (PP, 176) Kant spricht auch von der „Heiligkeit" Gottes, die alles bezeichne, „was keine Neigung zum bösen hat, und das ist allein Gott." (PP, 165) In späteren Jahren äußerte er sich ungleich distanzierter über diesen philosophischen Gegenstand, was besonders für seine schriftstellerische Arbeit zutrifft, insbesondere seine erste Kritik. Darin kommt er schließlich zu dem Schluß, kein Gegenstand, auch keiner der Tranzendentalphilosophie, könne so heilig sein, daß nicht auch er einer „prüfenden und musternden Durchsuchung" seiner moralischen Qualität durch die kritische Vernunft unterzogen zu werden brauchte (KrV, 784f [A738 / B766]). Lenz: Meinungen eines Laien den Geistlichen zugeeignet. Stimmen des Laien auf dem letzten theologischen Reichstage im Jahre 1773. - In: WB, Bd. 2, Prosa, S. 522-618. Den im Titel genannten beiden Hauptschriften (I., S. 526-564; Π., S. 565-618) stellte der Autor einen sogenannten Brief eines Geistlichen voran, in dem die anschließenden Überlegungen als Reaktion auf Herders 1774 anonym erschienene, gegen den Aufklärungsgeist der Zeit
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der Autor seinen Gedanken über die Entsprechung von Religion und Moral und erweist sich dabei in der Frage nach der primären Aufgabe der Religion als unnachgiebig dogmatisch. Denn ungeachtet seiner Beteuerung, lediglich einige „individuelle Aussichten in unsre Religion" (MeL, 528) darstellen zu wollen („nach Maßgabe seiner Individualität hat jeder seinen individuellen Glauben"; SdL, 613), erheben seine Überlegungen, daß Religion in erster Linie die elementare menschliche Glückserwartung zu stillen habe, durch ihre Imperativische Formulierung einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit, der weder Widerspruch noch philosophische Zweifel zuläßt, jedoch auch hierin der von Kant gepflegten philosophischen Praxis entspricht.145 So „soll TIervorh. d.V." die Religion146 „uns weder fromm noch gelehrt ganz allein machen, sondern glücklich" (MeL, 530), „sonst nehmen wir sie nicht an" (MeL, 526). Doch könne dieser Glückszustand nicht separat, sondern nur in Verbindung mit dem Bestreben nach Verwirklichung des sittlichen Ideals erreicht werden. Erneut die Einheit von Religiosität und moralischem Handeln implizierend, betont Lenz, daß „glücklich sein wollen, ohne tugendhaft zu sein, [...] ein Wider-
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gerichtete religiös-theologische Abhandlung Älteste Urkunde des Menschengeschlechts angekündigt werden. Erinnert sei daran, daß auch Kant in Fragen der Moral bewußt dogmatisch argumentiert hat, da nach seiner Überzeugung dieser Teil der Philosophie - als einziger - keine andere Behandlung zulasse. Im Zusammenhang mit dem Begriff der Religion verwendet Lenz öfters das Adjektiv 'einfältig', womit er die Ursprünglichkeit, die natürliche Unverbildetheit der religiösen Empfindung herausstellen möchte, die keiner Anleitung durch akademische Lehrer, Theologen oder Kirchenmanner bedürfe, um Kern und Intention der christlichen Botschaft richtig zu erfassen. Vgl. hierzu etwa in Meinungen eines Laien... („dem einfältigen Gefühl von unserer Religion"; MeL, 563); oder in Stimmen des Laien...(„vom christlichen einfältigen Glauben"; SdL, 611). Bei Kant finden wir verwandtes Gedankengut, wenn er etwa in seiner Vorlesung über Praktische Philosophie den Unterschied von Theologie und Religion hervorhebt und zu einer klaren Bevorzugung der Religion gelangt: „Die Theologie liegt im Kopf, die Religion im Herzen", heißt es dort, und die „Religion ist nichts anderes als die moralitaet die auf die Theologie angewandt ist." Deshalb könne - so Kant ganz in der Wölfischen Tradition - ein sich moralisch verhaltender „Mensch [...] wenig Theologie, und viele Religion haben." (PP, 169) Die damit implizierte Relativierung der Bedeutung der Theologie ergibt sich auch automatisch aus Kants Akzentuierung der eigenständigen Vernunfterkenntnis, bei der beim Erkennen des summum bonum kein „theologisches principium" erforderlich sei. Auch für dessen praktischer Umsetzung durch den Einzelnen sei die Theologie im Grunde entbehrlich (wenn nicht sogar schädlich), ausschlaggebend hingegen einzig das Erkennen des ,,principium[s] der moralitaet". Zwar habe Gott den Menschen die moralischen Gesetze offenbart, doch sei - so Kant unmißverständlich - zu ihrem Verständnis die Theologie nicht notwendig, da der Mensch über die natürliche Fähigkeit verfüge, die moralischen Gesetze aus individuellem Vermögen heraus zu erkennen („Die Erkenntniß des Göttlichen Willens [mittels der Theologie] muß nicht vor der moral vorhergehen, denn wenn wir nicht vorher moralische Gesezze erkennen, so würden wir 1. nicht einmahl einen Begrif vom Göttlichen Willen haben und 2. würden wir auch nicht die Befolgung des Göttlichen Willens begreifen.") (PP, 135f)
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spruch" sei, weil „Ruhe und Genuß [...] ihren wahren Wert nur durch das Maß von Arbeit [gewönnen], das sie zu erhalten angewendet worden" (SdL, 618).
Theologie vs. Religion Welchen Stellenwert besitzt im Kontext eines solchen Religionsverständnisses deren klassische Vermittlerin, die Theologie? Sie betrachtet Lenz in pietistischer Tradition vollkommen aus der Kirchlichkeit herausgelöst, womit er den zu seiner Zeit von der protestantischen Orthodoxie weitgehend realisierten Anspruch zurückweist, die Theologie durch die Institution Kirche (gleichsam als ihrer Brotherrin) zu vereinheitlichen, sie zu verkirchlichen. Diesem nicht zuletzt an den Universitäten weitgehend verwirklichten Verständnis protestantischer theologischer Praxis steht seine Definition des Begriffs der Theologie entgegen, die er von der institutionalisierten Dogmatik der lutherischen bzw. reformierten Tradition unterscheidet. Grundsätzlich differenziert Lenz Theologie in zwei unterschiedliche Richtungen, deren eine sich mit metaphysischen Gegenständen befasse, während die andere, der er sich wohl nicht zuletzt aus erkenntnistheoretischen Gründen verpflichtet fühlt, diesseitsbezogen sei:147 die eigentliche Theologie beschäftigt sich mit unserm Zustande nach dem Tode und unserer Bestimmung dahin, die weltliche Theologie oder der Naturalismus, den ich Ihnen predige, beschäftigt sich mit unserer Bestimmung in dieser Zeitlichkeit (SdL, 616f) 147
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Dies mag auch eine Erklärung dafür sein, daß Lenz in seinen Schriften eine intensivere geistige Auseinandersetzung mit dem Phänomen Tod weitgehend meidet, da philosophische Schlußfolgerungen Uber diesen Gegenstand schließlich außerhalb jeglicher in dieser Welt zu erlangenden Erkenntnismöglichkeit liegen. In seiner Vorlesung über Metaphysik gelangt Kant zu einer vergleichbaren „Eintheilung der Theologie". So differenziert er grundsätzlich in theologiam revelatam, die direkt auf Gottes „Bekanntmachung" beruhe und „daher nicht aus der Vernunft entsprungen" sei, und in theologiam rationalem, die die „Erkenntniß von Gott durch die Vernunft" bezeichne. Aus letzterer resultiere - dem „Bedürfniß" der Vernunft entsprechend - eine theologische Dreiteilung, die aus der theologia transcendentales (reine Vernunfterkenntnis Gottes) der theologia naturalis (empirische Gotteserkenntnis) und als drittes und für Kant wesentlichstes der theologia moralis, der „ M o r a l t h e o l o g i e " , bestehe (M, 305f). Aus Kants weiterer Argumentation wird deutlich, daß Lenz sich explizit auf dessen Vorstellung des Begriffs der Moraltheologie bezieht, wenn er davon spricht, 'weltliche Theologie' bzw. den 'Naturalismus zu predigen' und sich 'mit unserer Bestimmung in dieser Zeitlichkeit' zu befassen. Hierzu finden wir bei Kant die Feststellung, die „Moraltheologie [sei] wohl die wichtigste unter allen; denn unser Wohlverhalten ist die größte Sache; auf die Moral bezieht sich alles." (M, 306) „Der Begriff der theologia moralis ist nun der Begriff von Gott als e i n e s s u m m i b o n i u n d e i n e s h e i l i g s t e n W e s e n s . Gott als summum bonum ist der Begriff der theologia moralis. [...] das summum bonum [...] ist d i e V e r e i n i g u n g der h ö c h s t e n G l ü c k s e l i g k e i t mit dem h ö c h s t e n Grade der F ä h i g k e i t ,
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Für beide gelte jedoch, daß sie „auf ein Haar zusammenpassen [müssen], wenn sie echt sein wollen", (SdL, 617) womit er die Gültigkeit erkenntnistheoretischer Prinzipien auch für die sich mit metaphysischen Fragen beschäftigende 'eigentliche' Theologie impliziert. Mit dieser revolutionären Forderung nach einer grundsätzlichen Neufundierung der traditionellen Theologie durch die Erkenntnisse der Philosophie Kants wird Lenz zum Fürsprecher einer später vom Protestantismus tatsächlich vollzogenen Entwicklung. Denn sein religiöses Selbstverständnis nimmt in wesentlichen Punkten jene Veränderungen vorweg, die der Protestantismus im 19. Jahrhundert durch den Einfluß des Kritizismus erfahren sollte. So ermöglichte die Rezeption der Kantschen Erkenntnis von der kritischen Selbstbegrenzung der menschlichen Vernunft der protestantischen Theologie die Herausbildung einer wissenschaftlichen Dogmatik (respektive Glaubenslehre), die sie letztlich nicht mehr wie im 18. Jahrhundert im Namen der rationalen Vernunft, sondern im Namen des Glaubens von Gott reden ließ. Dies gestattete ihr auch die Neubewertung der Heiligen Schrift nach dem Vorbild der pietistischen Glaubenspraxis, so daß im vormals orthodox orientierten Kirchenalltag zunehmend der sogenannte Biblizismus an Bedeutung gewinnen konnte, also eine Theologie von Gottes Wort, die dem Christen als individuelle Erfahrung in der Begegnung mit dem neutestamentlichen Christus erwuchs. Hierdurch veränderte sich radikal das protestantische Selbstverständnis, denn die Christenheit wurde nun als eine immer neu vom Geiste Gottes gewirkte Gemeinschaft definiert, die sich zwar jederzeit in bestimmten Formen verwirkliche, aber letztlich an keine bestimmte Form gebunden sei. Und dies ermöglichte es, die Theologie endlich - ungeachtet mannigfacher Wechselverbindungen - als frei neben der Institution Kirche stehend zu begreifen. Lenzens Kritik an der in seiner Epoche gängigen, jenseitsorientierten theologischen Praxis fand einen besonders markanten literarischen Niederschlag in seiner Prosadichtung Der Landprediger. Darin entwickelt er als Gegenentwurf sein Ideal eines aufgeklärten evangelischen Pfarrers, der seine vornehmliche Aufgabe in der konkreten Verbesserung der allgemeinen Lebensumstände seiner Gemeinde erkannt hat. Dieser Johannes Mannheim, in dessen Charakterisierung als Erzieher und Lehrender deutliche Parallelen zu Wesensmerkmalen und Unterrichtsmethoden Immanuel Kants hervortreten, begnügt sich nicht mit
d i e s e r G l ü c k s e l i g k e i t w ü r d i g zu s e y n . [...] diese W ü r d i g k e i t [besteht in] der practischen Uebereinstimmung unserer Handlungen m i t der I d e e der allgemeinen Glückseligkeit", wobei das Streben nach dieser 'Übereinstimmung' den eigentlichen „Zweck" des menschlichen Daseins darstelle (M, 336f). Lenzens Bezeichnung dieser 'weltlichen Theologie' als 'Naturalismus' sollte nicht mit Kants Begriff der 'natürlichen', empirischen Theologie verwechselt werden. Die Formulierung erklärt sich wohl eher aus Kants eigener, zuweilen unscharfer Trennung dieser Begrifflichkeiten voneinander, wenn er etwa in seiner Vorlesung über Praktische Philosophie äußert, die „Natur bestätige" die Moral, und daß die „natürliche Theologie" auf „die pure moralitaet gegründet" sei (PP, 168).
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den traditionellen Aufgaben eines Geistlichen, sondern sorgt in seinem Pfarrhaus, das er in eine„Akademie der Künste und Wissenschaften" umgewandelt hat, (DL, 439) für die qualifizierte Erziehung der „Jünglinge" (DL, 438) des Dorfes. 149 Darüber hinaus lenkt er - ausgestattet mit dem hierfür durch ein Universitätsstudium erworbenen Fachwissen - überaus erfolgreich auch die wirtschaftlichen Geschicke seiner Gemeinde. Geistliches „Amt" und „wirtschaftliche^..] Angelegenheiten" (DL, 437) gelangen so zu einer an die pietistische Lebenspraxis angelehnten Synthese, in der der Pfarrer in die Lage versetzt ist, den „Bauren zu weisen", „daß Religion geehrt und reich mache". Wie sonst - so die Quintessenz der Dichtung - solle „sich die Religion äußern", wie solle „sie ihre Kraft und Wirksamkeit beweisen", wenn man sie nicht durch „unsere ganzes Leben und Gewerbe dringen" lasse. Sich dieser Erkenntnis zu verweigern, hieße, die Religion „als einen abgezogenen Spiritus in Flaschen [zu] verwahren" (DL, 459).
Gott / Jesus, Glaube Es ist notwendig, im Kontext dieses Religionsverständnisses erneut auf das mit Lenzens moralphilosophischen Überlegungen verbundene Gottesverständnis zu reflektieren. Denn indem Lenz zuweilen eine sehr personale Vorstellung von Gott zu erkennen gibt, scheint er seiner im ersten Teil dieses Kapitel bereits dargestellten, an den Prinzipien der kritischen Vernunft orientierten Definition des G o t t e s b e g r i f f s zu widersprechen. So verwendet er den Begriff von Gott beiläufig oder auch offensichtlich gezielt auf eine Weise, als bezeichne er ein in seiner faktischen Existenz zweifellos bewiesenes Wesen. In den Mitschriften von Kants Kollegia finden wir das gleiche Phänomen vor, und nicht etwa nur in den seiner vor- bzw. frühkritischen Vorlesungen. Bei beiden Autoren sollte diese philosophische Unscharfe nicht überbewertet werden. Sie ist bei Lenz, außer daß sie in sicherlich nicht geringem Maß eine kontextuell erzwungene oder nahegelegte Ausdrucksweise darstellt, auch ein Relikt einer niemals ganz aufgegebenen, unaufgeklärten, besser gesagt: unkritischen Vorstellungswelt der Kinder- und Jugendjahre, die sich unterhalb der in Königsberg angeeigneten, erkenntnistheoretisch geschulten Verstandesebene erhalten hat. In ihrer Bedeutung relativiert wird diese sprachliche Eigenart vor allem dadurch, daß Lenz sich von den ihm in jungen Jahren vermittelten i n h a l t l i c h e n Vorstellungen Gottes (etwa als eines unnachsichtig strafenden Herrn des Jüngsten Gerichts, vor dessen Thron die Taten des einzelnen nach dem Maß ihrer Sündhaftigkeit gewogen und gesühnt würden) zu nachhaltig entfernt hat, als daß sie noch maßgeblich für sein Denken hätte sein können. Und so beschreibt er das Höchste Wesen zum Beispiel in seinen Meinungen 149
Vgl. hier unter „Erziehen statt unterrichten".
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eines Laien... betont personal als „zärtlichst besorgtesten Vater", der „für das Wohl" aller Menschen Sorge trage, die er als seine „Kinder", und nicht als seine „Untertanen" ansehe (MeL, 561).150 Die hierdurch ausgedrückte Wandlung seines Gottesbildes rührt besonders von seinem sich seit den Dorpater Jugendjahren grundlegend verändertem Christus-Verständnis her, in dem auch Lenzens häufigeres Personalisieren des Gottesbegriffs begründet ist. Denn der Herr sei („welche Idee von der Gottheit!"; MeL, 564) durch Christus Mensch, also Person geworden („er lebte um zu leiden und zu sterben"; ÜdN, 622), und habe durch diese Erfahrung jenen Teil seiner Schöpfung gleichsam erst zu verstehen gelernt: es war ihr nicht genug, als Gottheit über uns erhaben, an unserm Unglück und Tode Teil zu nehmen, sie mußte Mensch werden, um es auch als Mensch zu empfinden. (MeL, 564) Um 'als Mensch zu empfinden', und um durch eigenes, gutes Handeln den Menschen ein Beispiel zu geben; also nicht - wie Lenz an anderer Stelle unmißverständlich feststellt, um als Sozialrevolutionär „zu den erstaunlichsten Revolutionen auf dem Erdboden" („zu Rauch, Dampf, Blut, Belagerung, Zerstörung und Ruin"; SdL, 586) zu ermutigen. Dieses Christus-Verständnis, das zunächst an Luthers Zwei-Reiche-Lehre angelehnt scheint, mutet widersprüchlich zu der Rigorosität an, mit der Lenz für den nach seinem Verständnis durch die Bibel tradierten Katalog kategorisch gültiger, sittlicher Prinzipien argumentiert, der den Menschen zu konsequentem moralischem Handeln verpflichte. Die Ursache dieser scheinbaren Inkonsequenz liegt im zugrundeliegenden pietistischen Denkansatz, der streng auf das Individuum und dessen jeweilige sittliche Vervollkommnung abzielt; auf eine M i s s i o n von innen also, als Keimzelle für gesamtgesellschaftliche Veränderungen, - da rein äußerlich an den einzelnen herangetragene (revolutionäre) Veränderungen das Individuum kaum besserten, und statt einer sittlichen Reifung der Gesellschaft, nur soziales Leid heraufbeschwörten. Daß Lenz
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Dieses im Vergleich zum Alten Testament weitaus versöhnlichere neutestamentarische Gottesbild findet bei Kant sogar eine erkenntnistheoretische Begründung, etwa wenn der Philosoph in seiner Metaphysik-Vorlesung im Hinblick auf die dem Menschen natürlich zur Verfügung stehende Freiheit als deren Prämisse feststellt, daß „Gott nicht Urheber der freien Handlungen der Menschen" sei und daraus folgert, Gott könne demnach auch nicht als „Urheber des Bösen" gelten („Aus demselben Grunde ist auch Gott nicht Urheber des Guten, sofern es aus dem freien Willen der Geschöpfe entspringt"; M, 346). Auch als Richter, der letztlich das gute wie auch das böse Handeln der Menschen sanktioniere, könne Gott dem Menschen gegenüber nicht willkürlich agieren, er könne in seinem Urteil nicht frei entscheiden, da er wie auch der Mensch an die Gesetze der Moralität gebunden sei. Deshalb, so Kant in seiner Vorlesung über Praktische Philosophie, dürften die sogenannten „Strafen Gottes" auch „nicht als eine Rache" interpretiert werden, „sondern nur als Folge unserer Uebertretungen der moralischen Gesezze, davon Gott der Executor ist" (PP, 174f).
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Christi Lehre gerade wegen dieser Individualisierung des moralischen Handelns als Richtschnur für ein tatkräftiges Eintreten bei der Verwirklichung eines allgemeingültigen, weltlichen Rechts erkennt und deshalb in grundsätzlicher Opposition zu Luthers jenseitsvertröstender Zwei-Reiche-Lehre steht, zeigt die in seinen 'Lebensregeln' dargebotene Interpretation der in der Bergpredigt tradierten Maxime Jesu, „einen Backenstreich" (ML, 495) mit dem Präsentieren der anderen Wange zu beantworten. Denn statt sich mit einer wörtlichen Auslegung dieser Bibelpassage zu begnügen, münden Lenzens weiterführende Überlegungen in der vielfältige Konsequenzen eröffnenden Erkenntnis, daß man die andere Wange durchaus darbieten könne, ohne sich für den ersten Streich „zu rächen" (ML, 495), - doch nur, wenn „Ehre und die Gerechtigkeit nicht darunter leiden" (ML, 495). 151 Auch wenn Lenz den Gottesbegriff personalisiert und Jesus Christus als seine Fleischwerdung interpretiert, beharrt er doch weiterhin auf der Erkenntnis, daß über den von der Vernunft erschlossenen Begriff von Gott152 keine die natürlichen Grenzen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit überschreitenden Aussagen gemacht werden könnten. Seine philosophische Auseinandersetzung mit anderslautenden Auffassungen läßt er schließlich in den Stimmen des Laxen.... in der rhetorischen Aufforderung kulminieren, jene, die ein anderes, erkenntnistheoretisch unreflektiertes Gottesverständnis verträten, möchten ihm doch den ihre Überzeugung rechtfertigenden Gottesbeweis endlich präsentie-
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Sein Verständnis eines zur Verteidigung ethischer Prinzipien kampferischen Christentums begründet Lenz auch durch die philologische Untersuchung einer von Luther aus dem Altgriechischen übersetzten Bibelstelle, die die dem Menschen angemessene Reaktion auf soziale Mißstände thematisiert. So heiße es in Luthers Übertragung, „ich sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Übel", wogegen Lenz einwendet, der Reformator habe „hier den Sinn ganz unrecht gefaßt". So müsse die korrekte Übertragung bei Beachtung der in der Antike gangigen Sprachpraxis lauten: „dem Übel kein Übel entgegenzustellen, das Übel nicht zu erwidern". Dies mache „einen gewaltigen Unterschied in dem ganzen Sinne dieses Spruchs" aus, da statt des vormals bloßen Erduldens eines Mißstandes nun das - die ethischen Prinzipien beachtende - Reagieren als christliche Verpflichtung festgeschrieben werde („ich will mit Hilfe meines Gottes jedem Übeltäter fest widerstehen im Glauben bis in den Tod, und halte das ftlr die Pflicht jedes rechtschaffenen Biedermanns") (SdL, 609). Zum Vergleich von Lenzens explizit an Kant anknüpfender Terminologie (z.B. in seinen 'Lebensregeln') sei an dieser Stelle seine Formulierung über die „Idee vom alles erfüllenden Gott" (ML, 490) mit Kants auch in späteren Jahren beibehaltener Darstellung Gottes - so in seiner Kritik der reinen Vernunft - als „Idee eines an sich n o t w e n d i g e n Urwesens" einander gegenüber gestellt (KrV, 738 [A 679 / Β 707]). Lenzens in Meinungen eines Laien... dargebotene semiotische Definition Gottes als ein „gewisses c h a r a k t e r i s t i s c h e s Zeichen", das die Menschen, da sie seine wahre Natur nicht zu erkennen vermochten, in den Begriff 'Gott' gefaßt hatten („und dies Zeichen nannten sie G o t t : und Gott redete." MeL, 545) reflektiert Kants zeichentheoretische Überlegungen über die 'Idee von Gott'. Hierzu hat der Philosoph unter anderem prägnant noch in seiner ersten Kritik ausgeführt, diese „Idee" repräsentiere „ein bloßes Etwas [...], wovon wir, was es an s i c h sei, keinen Begriff' besäßen (KxV, 738 [A 679 / Β 707]).
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ren: „was ist der Geist Gottes, zeigt mir ihn, beschreibt mir ihn, definiert mir ihn, malt mir ihn an die Wand! Von wem denn? wir wissen nicht" (SdL, 572). Die Unmöglichkeit einer solchen Beweisführung vor Augen, gilt seine eigentliche philosophische Aufmerksamkeit denn auch nicht Gott selbst, sondern seinem durch die Propheten und letztlich durch Jesus verkündeten Wort, seinen „göttlichen Offenbarung[en]" (MeL, 545), die er als „ein Wunder" (MeL, 545) begreift. Letztere Formulierung bedarf der Erläuterung, da Lenz sich in seinen Vorlesungen ebenso eindeutig wie vehement gegen den in der christlichen Religion üblichen - und auch von den Neologen beibehaltenen - Wunderglauben ausspricht, der das aufklärerische Denken konterkariere. Und so stellt er unmißverständlich fest, daß Gott in seinem Werk keiner Wunder bedürfe, da alles nach seiner „ewigen Ordnung" (PV, 18) funktioniere, „in nothwendiger Continuität fort" (PV, 18f). Wie das zugehe? Mensch, warum willst dus ergründen? [...] Warum harrest du auf Wunder? [...] Wunder wären Lücken, Sprünge, soll Gott die d e i n e t w e g e n machen? (PV, 18f) Welcher Art Wunder stellt Gottes Wort also demnach dar, wenn nicht ein klassisches Miraculum, das dem gewöhnlichen Verlauf des Weltgeschehens widerspricht, sich also nicht aus Naturgesetzen ableiten lasse und auf das Wirken einer übermächtigen Kraft hinweise? Die göttlichen Offenbarungen, erklärt der Autor, wobei er sich auf die Zeit vor Christi Geburt bezieht, seien „kein kosmologisches, sondern ein psychologisches" (MeL, 545) Wunder gewesen, 153 das die Menschen zuerst „in ihrer Seele" als „Regungen, Gedanken, Worte" verspürt hätten, „die in keines Menschen Herz kommen waren".154 Sind sie 153
Mit dieser eingeschränkten Rechtfertigung des Wunderglaubens, die die Annahme von Wundern lediglich in Bezug auf Jesus fllr berechtigt hält, steht Lenz nicht zuletzt in der Tradition Luthers. Der hatte sich zwar nicht offen gegen die in beiden Testamenten Uberlieferten biblischen Wunderberichte ausgesprochen, doch ist bei ihm augenfällig, daß in seinen Schriften die Aufmerksamkeit ostentativ vornehmlich auf die sogenannten 'hohen Wundertaten' Jesu gerichtet wird. In der Mitschrift von Kants Metaphysik-Vorlesung finden wir erstaunlicherweise eine Passage, in der ein vergleichbarer Umgang mit diesem Thema protokolliert wird. Darin wird deutlich, daß der Philosoph in seinem Kollegium die Möglichkeit von Wundern nicht schlichtweg geleugnet habe, was eigentlich zu erwarten gewesen wäre, sondern die A n n a h m e ihres Seins explizit zuließ. Denn grundsätzlich existierten - laut Kant - lediglich „zweierlei Köpfe [gemeint sind mögliche Standpunkte] in Ansehung der Wunder; einige, die zwar die Wunder nicht läugnen, aber sie schwierig machen: andere aber, die sehr geneigt sind, solche anzunehmen. Die Ursache liegt im Gebrauche der Vernunft. Wer gewohnt ist sich seiner Vernunft zu bedienen, macht Schwierigkeit in Ansehung der Wunder; wer aber keinen Gebrauch von der Vernunft macht, nimmt sehr gerne Wunder an; denn alsdann braucht er nicht nachzudenken" (M, 220. Die an dieser Stelle vorhandene Kopfzeile „Metaphysik Herder" stellt einen Druckfehler dar.).
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In Stimmen des Laien... betont Lenz, für wie natürlich er den Vorgang von Gottes SichOffenbaren empfindet, indem er rhetorisch fragt: „daß der Herr mit ihnen [den Propheten] geredet [...] Finden Sie nun darin etwas Wider- oder Übernatürliches? ich im geringsten
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nicht 'gekommen', so müssen sie also - nach Kant - als bereits a priori vorhanden gelten, müßte ihr Gewahrwerden nach den von ihm dargestellten erkenntnistheoretischen Prinzipien erfolgen. Und auf diese bezieht Lenz sich tatsächlich, wenn er beschreibt, daß die Menschen jene Offenbarungen wirklich „fühlten [...] so anschauend, so klar", wofür etwaige „trübe Gedanken und Zweifel" durch den „Glauben" überwunden worden seien (MeL, 545), bis zu dem Tage, als diese Offenbarungen, „das substantielle Wort Gottes", endlich „in der Person Christi" ihren Ausdruck, ihre Verkörperung gefunden hätten (MeL, 547). Doch wie paßt dieser Standpunkt zu Kant? Dem 'klaren Fühlen' stellt Lenz den 'Glauben' als ergänzendes Instrument zur Seite (nicht zu verwechseln mit der ihm verachtenswert erscheinenden 'Frömmelei'), der es dem einzelnen ermögliche, über die offensichtlichen Grenzen der Erkenntnisfähigkeit hinaus auf eine rein spirituelle Ebene zu gelangen. Und damit befindet Lenz sich eben nicht in Widerspruch zu den philosophischen Überzeugungen seines Dozenten. Denn der hat im Rahmen seiner kritischen Erkenntnistheorie sehr wohl auch dem Glauben einen hohen Stellenwert eingeräumt, und dies nicht etwa nur in jenen frühen 70er Jahren, in denen er zum Kritizismus gelangte, sondern noch weit darüber hinaus. Dies verdeutlicht auch und gerade seine Kritik der reinen Vernunft, wenn Kant dort zum Beispiel die „drei Stufen" des menschlichen „Fürwahrhaltenfs]" (das er auch als die „subjektive Gültigkeit des Urteils" bezeichnet), darstellt. Als diese benennt er „ M e i n e n , G l a u b e n und W i s sen", 1 5 5 wobei er dem Glauben - ungeachtet aller prinzipiellen Einwände wegen seiner objektiven und theoretischen Unzulänglichkeiten - auch positive Wirkungen (subjektive und praktische) zuerkennt. In seiner Prolegomena rechtfertigt er schließlich nicht nur das Praktizieren eines v e r n ü n f t i g e n Glaubens, sondern scheint ihn sogar zu fordern, wenn er feststellt, daß über das, „was jenseits der Grenzen aller möglichen Erfahrungen" liege, vom Menschen weder etwas „zu m u t m a ß e n , geschweige etwas zu w i s s e n " sei, weshalb das jenseits der Erkenntnisgrenzen Liegende „zum praktischen [...] Gebrauch" kraft des Glaubens zumindest vermutet ( „ a n z u n e h m e n " ) werden dürfe, da dies „zur Leitung des Verstandes und Willens im Leben möglich und sogar unentbehrlich" sei (Pro, 29). So scheinen spätaufklärerische Erkenntnistheorie und tief verwurzelte Religiosität, wie sie beide bei Lenz deutlich werden, einander nicht nur nicht zu widersprechen, sondern - mehr noch - eine produktive Synthese bilden zu können, die dem Autor ein naturgemäßes und den elementaren menschlichen
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nicht. Es ist Mutter Natur, dieselbe, wie sie aus der Hand Gottes kommt, dieselbe, wie ich sie itzt um mich herum allenthalben in ihren Wirkungen fortschreiten sehe und auf meinem Antlitze fußfällig anbete." (SdL, 574) KrV, 852 (A822 / B850).
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Bedürfnissen adäquates Lebensmodell eröffnet. 156 Eben hierüber trifft Lenz in seinen Meinungen eines Laien die prägnante Aussage, daß „unsere Erkenntnis und die sich darauf beziehende Empfindung" ohne „Glauben [...] so arm" wäre, „daß einem die Lust zu leben vergehn möchte" (MeL, 527f). Verfolgt man in seinem dichterischen Werk die inhaltliche Entwicklung seines Gottesverständnisses, wird gerade durch die Lyrik unmittelbar deutlich, wie nachhaltig die sich in Königsberg durch Kant eröffnete intellektuelle Weite zu einer geistigen Neuorientierung gefuhrt hat. In seinen frühen Gedichten bewegt Lenz sich noch deutlich außerhalb der Wolffschen Gotteslehre, die in der Aufklärungstheologie maßgeblich die Vorstellung Gottes als eines allgütigen Vaters geprägt hat, der gleichermaßen als Weltbaumeister agiert wie er auch die weise Vorsehung bestimmt, die nach dem Maßstab der moralischen Gerechtigkeit alles und jeden zum Wohl und zur Glückseligkeit der Menschheit lenkt. In dieser Tradition stand Kant, der die aus der antiken Philosophie stammende ontologisch-rationale Gotteslehre der kirchlichen Theologie durch die Entwicklung des Kritizismus erst erweitern und schließlich überwinden sollte, indem er zu einer auf rationaler Metaphysik basierenden Gotteslehre gelangte, die er - als Postulat des moralisch-autonomen Willens - aus der theoretischen in die praktische Vernunft übertrug. Lenzens frühe Gedichte drücken noch ein vollkommen anderes Verständnis als das Wolffsche aus, geschweige denn, daß in ihnen bereits Parallelen zu Kant ersichtlich wären. Diese frühen Verse sind ausgeprägt religiöser Natur, wobei in ihnen als zentrales Sujet Gottes Wirken in der Welt thematisiert wird; - ein denkwürdiger Unterschied zu Lenzens späterer Beschäftigung mit diesem Gegenstand, bei der das Sujet Gott eindeutig hinter die moralphilosophischen Implikationen des Jesus-Themas und dessen praktischem Bezug auf den Lebensalltag zurücktreten wird. Faßt der Autor zu diesem späteren Zeitpunkt Gott vornehmlich als einen philosophischen Begriff auf, 157 so tritt Gott in den Jugendversen in der Personifizierung eines gestrengen Vaters hervor. Es ist eine übermächtige „Vater"-Gestalt, jemand, der willkürlich entscheidet, ob er mit
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Über Lenzens Bezug zur Spätaufklärung gelangt Sauder zu einem völlig entgegengesetzten Werturteil. So bezeichnet er den Autor mit Blick auf dessen Vorlesungen und die in ihnen enthaltenen Überlegungen zur Sexualität als einen „Gefangenen der späten Aufklärung", der sich „sehnsüchtig zumindest in einem Teil seiner letzen Vorlesung in die Idylle seiner Soldatenehen" 'geträumt' habe (Sauder, 26; gemeint ist der Jahre später entstandene Aufsatz Über die Soldatenehen, in dem weniger eine Idylle beschrieben wird, als die aus sachlichen Gründen abgeleitete Notwendigkeit, das gesetzlich vorgeschriebene Eheverbot der einfachen Soldaten aufzuheben). Gegen den von den Kirchen propagierten 'blinden Glauben an Gott' (vgl. DK, 497) wendet Lenz sich speziell in seinem dramatischen Fragment Die Kleinen (um 1775), in dem er entschieden dafür wirbt, mit „Klugheit und Vernunft und gerechter Selbstliebe zu handeln", statt dem „Wahn" zu verfallen, „es schwebe ein besonderes Gericht Gottes über" einem, das das Büßen ,,alte[r] Sünden" abverlange („die doch längst durch Jesum vergeben sind"; DK, 497).
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„Geduld" den „unglaublich vielen Fehlern" seiner Geschöpfe begegne („Und wie oftmals hast du nicht Teufel, Sünd und Tod gewehret / Daß sie uns nicht überwältigt"), oder als strafender Richter das Mißachten seiner Gebote ahndet. Gehorsam und Unterwürfigkeit gegen ihn seien deshalb die dem in seiner Sündhaftigkeit gefangenen Menschen angemessene Haltung. In seiner Ohnmacht könne der einzelne allenfalls um das Gewähren auch künftiger Gnade flehen („Laß dich Schöpfer, laß dich doch von verfluchtem Staub besingen."), 158 doch sei Gott nicht so leicht zu besänftigen, wie Lenz eindrücklich in seinem noch im Elternhaus verfaßten, aber erst 1769 in Königsberg gedruckten Gedichtzyklus Die Landplagen darstellt. Dort beschreibt er - zur Mahnung seiner Leser - ausführlich die Schrekken, 159 die Gott bereit halte, um sie jederzeit als gerechte Strafe zur Erde niederfahren zu lassen („die schrecklichen Plagen, / Die unerbittlich der Todesengel aus Schalen des Zornes / Über die Länder ausschüttet, wenn frech gehäufete Schulden / Wider ein ganzes Volk vom Richter Gerechtigkeit heischen."; DLp, 33) Ein furchtverbreitender, ein auch gnadenloser Gott steht hier im Zentrum von Lenzens Weltverständnis, ein unberechenbarer Gott, der mal seine „Gewitter der Rache" (DLp, 34) auf die Menschen herniedergehen lasse, dessen Strafe „wie das Feuer zu Sodom" alles vernichte, und dann wieder „den feurigen Strom" unterdrücke, und, statt zu strafen, mit „besänftgendem Fittig" über dem tobenden „Chaos" schwebe (DLp, 66). Es ist dies das vom Pietismus in besonderer Weise rezipierte paulinische Gottesverständnis des Neuen Testaments, nach dem der Mensch durch die Offenbarungen des Schöpfers, durch die von ihm gegebenen Gesetze und seine für alle sichtbaren Werke, seiner Menschenpflicht ansichtig werde. Handele er jenen dennoch zuwider, 'gebe' er Gott also nicht die ihm gebührende Ehre, sei sein Tun unentschuldbar, verfalle er dem richtenden Zorn des Herrn. 160 Aus dieser Vorstellung erwächst bei Paulus auch die Beurteilung des christlichen Glaubens als dem Menschen einzig angemessene Haltung 161 gegenüber Gott und seiner Schöpfung; ein Standpunkt, der den jungen Lenz zu einer überaus positiven Beurteilung demonstrativer Frömmigkeit gelangen läßt, die er später grundlegend relativieren wird. Sollte er später über derartige 'Frömmelei' nur noch spotten und sie als 'Philistertum' abqualifizieren, zollt er ihr in seinen frühen Gedichten wie dem 1766 veröffentlichten Versepos Der Versöhnung158 159 160 161
Lenz: Neujahrs Wunsch an meine hochzuehrende [sie!] Eltern. - Vermutlich zum Neujahr 1763 entstanden, in: WB, Bd. 3 (S. 7f), S. 7. Als diese werden genannt: Krieg, Hungersnot, Pest, Feuersbrunst, Wassernot (d.i. Überschwemmung) und Erdbeben. Vgl. NT, Röm 1.18-20. Erinnert sei in diesem Kontext daran, daß Lenz in der ihm von Kant vermittelten Tradition Wolffs den christlichen Glauben schließlich nicht mehr als einzig mögliche Hinfllhrung zur Glückseligkeit angesehen hat, sondern die allen Menschen ungeachtet ihrer kulturellen Herkunft gemeinsame Fähigkeit, das sittliche Ideal erkennen und sich daran orientieren zu können.
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stod Jesu Christi162 noch uneingeschränkte Bewunderung. So mutet ihn dort z.B. das Gebet der Frommen wie ein „durchdringender Ton der Jubel" an, der sein „Ohr" geradezu 'hinreiße' (vgl. DVC, 19) („Es sind gläubige Fromme, die hier um den Weltsöhner weinten, / Die wie geläutertes Gold aus großen Trübsalen weinten, / Die im Blute des Lamms ihre Kleider gewaschen." DVC, 19). Und in den Landplagen vertritt er sogar die Überzeugung, daß vor Gottes Strafgericht nur der wahrhaft Fromme verschont bleibe (vgl. DL, insbes. 78 und 82). Die Glaubenslehre des Paulus ist untrennbar mit dem von ihm tradierten Verständnis der Soteriologie, der Erlösungslehre, verbunden, durch die Jesu Tod als Sühneopfer begriffen und die Gottes Sohn zukommende Bedeutung primär hiervon (und nicht etwa von seinen Handlungen) abgeleitet wird (NT, Röm 3,25). Auch Lenz folgt dieser Tradition zuerst und setzt sich in seinen frühen Versen primär mit dem Kreuzestod Christi und dem damit verknüpften theologischen Erlösungsgedanken auseinander. Noch gilt seine Aufmerksamkeit also nicht dem Tat-Menschen Jesus, von dessen ebenso mutigen wie verantwortungsvollen Realisieren des sittlichen Ideals, des summum bonum, Lenz Jahre später die - seiner Ansicht nach - wahre Bedeutung des Nazareners ableiten wird. Statt Jesus derart zum Kristallisationspunkt moralphilosophischer Überlegungen zu machen, steht der junge Autor noch in jener altkirchlichen christologischen Tradition, die ein erhöhtes Christusbild im Auge gehabt und dem geschichtlichen Jesus kaum Beachtung geschenkt hat. So formuliert er dementsprechend denn auch, Jesus, diese „Unschuld", dieser „Mann unsers Heils" (DVC, 8), sei gestorben „als Sünder", beladen mit den „Strafen der Kinder vom Adam, / Die sie von Pole zu Pol seit der Schöpfung Morgen verschuld'ten", als „ein göttlicher Bürge" (DVC, 9). Und um sein Werk zu vollenden, „das Werk der großen Erlösung", habe er zu Gott „um Erhörung" gefleht, daß er „von Myriaden erretteter Menschen begleitet" einst in sein „Reich zieh und ewig ihr Halleluja empfange" (DVC, 10).163 Doch dieser Qualität als Erlöser stellt der junge Lenz noch eine zweite zur Seite, durch deren Hervorheben er ein furchteinflößendes Jesusbild zeichnet, das er nach Königsberg ebenfalls nicht beibehalten wird. Denn seine Darstellung der von Gott geschickten sechs Landplagen kulminiert in der ultimativen Heimsuchung, dem Jüngsten Gericht, zu dem - wie es im Versöhnungstod Jesu heißt - Jesus herabfahre „mit majestätischer Hoheit", (DVC, 19) um als Richter ebenso unbeirrbar wie sein Vater „die Fürsten des Abgrunds" zu stürzen und die Sünder zu verdammen: „JESUS (beugt euch, Frevler! wie Rohr vor reißenden Winden, / Vor dem Namen des Richters!)" (DLp, 81)". Beinahe triumphierend schildert der knapp 15-jährige diese apokalyptische Vision in
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Lenz: Der Versöhnungstod Jesu Christi. - In: WB, Bd. 3, S. 8-19. Künftig abgekürzt „DVC". Man beachte hier den offenbaren Bezug zu Klopstocks Messias.
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den Landplagen, wenn er in frommer Begeisterung genüßlich die Vernichtung der „Gottesverächter" schildert. Diese würden sich zu Christi „Füßen krümmen", der wie ein zeitgenössischer Kriegsheld über das Schlachtfeld ziehe („Neben ihm jauchzende Seelen der Väter. / [...] Hinter ihm folgen die TodesEngel in furchtbarem Zuge, / Die mit blitzenden Schwertern den heulenden Gottlosen dräuen.") (DLp, 19) Es ist nicht nur jugendlicher Überschwang, der diese Art der Darstellung motiviert hat. Vielmehr ist schon beim jungen Lenz eine grundsätzliche Desillusionierung über den Zustand der menschlichen Natur ersichtlich, die ihn - den in einem von Kriegen und Hungersnöten weitgehend zerstörten Land aufgewachsenen Livländer - die Welt als Hölle beschreiben läßt.164 Und so gelangt der auferstandene Christus denn auch an einen Ort zurück, den „Gott einst donnernd verfluchte" (DVC, 9), weil dort der Mensch als das fleischgewordene Böse existiere. Zur Stützung dieses Gedankens knüpft Lenz in den Landplagen an das orthodoxe Dogma von der auf Adam und Eva zurückgehenden Erbsünde an, das er später aus Vernunftgründen so vehement bekämpfen sollte. Doch hier, im Kontext seiner Darstellung des Krieges als schwerster der vom Menschen provozierten Landplagen vergleicht er das Menschengeschlecht mit leibhaftigen Teufeln. Diese zögen aus, um „Henker den Henkern zu werden", - und eiferten dabei lediglich ihren Ahnen im Paradies nach, jenen ,,Satane[n]", die einst aus dem wegen ihrer selbstverschuldeten Sündhaftigkeit „toderfullten Eden" hätten ausziehen müssen (DLp, 38).
Tod Vor dem Hintergrund eines derart pessimistischen Menschenbildes, angesichts der von Lenz erfahrenen sozialen Realität in seinem Heimatland und einer religiösen Weltsicht, in der ein unnachsichtig strafender Gott letztlich über jedes Individuum zu Gericht sitzen wird, ist es nicht verwunderlich, daß der Autor sich in dieser frühen Schaffensphase dem Thema Tod besonders ausfuhrlich zugewandt hat. Diesem wird in jedem der aus dieser Zeit erhaltenen Gedichte große Aufmerksamkeit gewidmet, was insbesondere fur den Zyklus Die Landplagen gilt, in dem mit eindrücklicher Sorge ums Detail verschiedene, 164
Vgl. hierzu auch sein aus dem Jahre 1775 stammendes Gedicht Matz Höcker (in: WB, Bd. 3, S. 143-151), worin der Autor sein lyrisches Ich Kritik an der ihn umgebenden Gesellschaft üben läßt, in der „keiner an den andern" denke und jedermann „den andern durch Lächeln und Lügen / Wieder um Lügen und Lächeln zu betrügen" suche (ebd., 145). Im gleichen Tenor ist auch das Cornelia Schlossers neugeborener Tochter Elisabeth 1777 gewidmete Gedicht gehalten, das Lenz kurz vor dem Kindbett-Tode der geliebten Freundin verfaßt hat. In ihm heißt er die „kleine Bürgerin" willkommen im „bunten Tal der Lügen", in dem nichts „beständig" sei und der Mensch in seiner Ignoranz von der „Sonne" „weg sich kehrt / Zu blind für ihre Wonne." Lenz: 'Willkommen kleine Bürgerin' (Kopfeeile). In: WB, Bd. 3, S. 213.
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auch mit menschlicher Gewalteinwirkung verbundene, stets aber schreckliche Todesarten geschildert werden. Angst drückt sich hierdurch aus, die Angst eines Jugendlichen vor dem Tod als drohendem Gegensatz zum Leben, Angst vor dem, was gemäß theologischer Überlieferung angeblich nach ihm folge (also die Beurteilung der Sünden durch einen höchsten Richter und die anschließende Bestrafung), Angst aber vor allem wohl vor dem Sterben an sich, das dem jungen Livländer in seiner nächsten Umgebung schon in vielfältiger Weise begegnet ist. Beredtes Zeugnis legt hiervon auch sein vermutlich zwischen 1765 und 1768 entstandenes Gedicht Gemälde eines Erschlagenen ab,165 in dem er überaus naturalistisch das Opfer eines Raubmordes beschreibt, wobei er detailliert nicht zuletzt das Erscheinungsbild der tödlichen Verwundimg zu beschreiben weiß. So nimmt denn bei ihm auch die Klage über das Sterben etwa im 'Fragment über das Begräbnis Christi'166 oder in dem Gedicht über den Abschiedsbrief des vor Jerusalem tödlich verletzten Kreuzritters Tankred {Schreiben Tankreds an Reinald)161 - breiten Raum ein. Und gerade diese Furcht vor Leid, Schmerz und dem Jenseitigen scheint Lenzens noch positives Urteil über die Frömmigkeit in besonderer Weise zu motivieren, gibt sie ihm doch die Hoffnung, jenes hinter dem Diesseits auf den Menschen Wartende berechenbarer werden zu lassen. Auffällig ist, wie konsequent bereits der junge Lenz das Thema des Todes mit dem der Liebe verknüpft hat, weist er doch in seinem Jugenddrama Der verwundete Bräutigam mit Emphase darauf hin, daß einerseits der Schrecken über eine unerwiderte bzw. verlorene Liebe nur mit dem Schrecken des Todes vergleichbar sei, andererseits eine realisierte Liebe selbst der Macht des Todes zu widerstehen vermöge: „Schönwald: Ohne Sie würde mir das Leben ein Tod sein. [...] Lenchen: [...] Tod! ich biete dir Trotz. Alle deine Schrecknisse sollen mich von meinem Schönwald nicht scheiden!" (DvB, 35f) Wenige Jahre später, im Winter 1770, widmet er diesem Thema mit seiner „Carrikatur einer Prosepopee" Belinde und der Todi6t eine umfangreiche Dichtung, in der er nach dem französischen Vorbild des genre mêlé Lyrik und Prosaelemente miteinander verknüpft.169 Siebenundvierzig handschriftliche 165 166 167 168
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Lenz: Gemälde eines Erschlagenen. - In: WB, Bd. 3, S. 30f. Lenz: 'Fragment eines Gedichts Uber das Begräbnis Christi' - In: WB, Bd. 3, S. 21-26. Lenz: Schreiben Tankreds an Reinald. - In: WB, Bd. 3, S. 26-31. Lenz: Belinde und der Tod: Carrikatur einer Prosepopee. Entstanden „im Anfange des Winters 1770", (BuT, 3) zu Lebzeiten unveröffentlicht und als unpaginiertes Manuskript überliefert. Als Faksimile und transkribiert hrsg. von Verena Tammann-Bertholet und Adolf Seebaß, Erasmushaus/Haus der Bücher AG, Basel 1988. Dieses bedeutende Dokument aus Lenzens Studienzeit, aus der ansonsten kaum literarische Zeugnisse Uberliefert sind, wurde zuvor in keiner der Werkausgaben berücksichtigt. Künftig abgekürzt „BuT". Mit seiner „Carrikatur" knüpfte Lenz nicht nur an ein zu seiner Zeit Mode gewordenes literarisches Muster an, er nutzte auch ungeniert reichliches Zitatwerk aus Werken ihm wichtiger Dichterkollegen. So übernahm er mit nur leichten Veränderungen etwa ganze Passagen aus Gerstenbergs Gedicht eines Skalden und bediente sich unter anderem bei
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Seiten umfaßt dieses Werk, das unmittelbaren Aufschluß über die sich in Königsberg beim Autor vollzogene geistige Entwicklung bei der Auseinandersetzung mit diesem Thema zu geben vermag. In ihm berichtet das lyrische Ich von seinem in einer stürmischen Winternacht ihn ereilenden „Traum", (BuT, 34) in dessen Mittelpunkt die ebenso schöne wie stolze, von ihm über alle Maßen geliebte Belinde gestanden habe. Sie ist unerreichbar für ihn, den armen Poeten, da sie „stolz gegen die Liebe", (BuT, 4) also unempfindlich sei. Deshalb habe sie sich auch dem nur wegen seines Reichtums begehrenswerten Stax hingeben können, so daß dieser nun jenes „Glück" zu erfahren vermöge, das dem lyrischen Ich nur noch in der Phantasie beschieden sein wird („Und Stax [...]/ Erfährt vielleicht das Glück, das ich mir nur erdichtet."; BuT, 35). Ist das lyrische Ich diesen Umständen gegenüber in seiner Realität zur Passivität verurteilt, so vermag es träumend eine völlig andere Rolle, die eines heldenhaften Retters, einzunehmen. Denn im Traum buhlt er nicht gegen den eigentlich verachtenswerten Stax um Belindes Besitz, sondern gegen einen ungleich ernsthafteren Konkurrenten, der in der Gestalt des Todes auftritt. Doch mutig tritt ihm der arme Poet entgegen, jenem furchtbarsten Feind des Menschen, vor dessen Umarmung er die schlafende Frau zu retten versucht. Der sich anbahnende Zweikampf mutet aussichtslos an, denn Gevatter Tod strahlt schier unbeugsame Macht aus, vor der nicht nur die Belinde stets umtändelnden „Liebesgötter" (BuT, 4) die Flucht ergreifen, sondern selbst die Kräfte des Himmels hilflos erscheinen („dein Knochenherz kann nicht ein Gott bezwingen"; BuT, 10). Die Liebe zu Belinde läßt den Poeten jedoch nicht verzagen, tapfer beschwört er „Gott Amor" (BuT, 14), auf daß dieser „gekleidt als Preussischer Soldat" (BuT, 15) zu Hilfe eilen möge und mit „sicherm Pfeil" den Feind „durchbohre" („Dein Herz, wo du eins hast, Cyklope!"; BuT, 15). Aber sein Ruf scheint ungehört zu bleiben. Auf sich allein gestellt und zum Äußersten entschlossen, wagt er, „was kein Poët bisher gewagt", (BuT, 21) den „mächtigen Tod zu schmähn" (BuT, 21) und sich als Opfer anzubieten. Und dieser Handel erscheint dem Tode vorteilhaft („So stirb! [...] da dein Tod Belinden retten soll"; BuT, 22), - doch ein deus ex machina in Gestalt Amors verhindert diesen leichten Sieg. Im nun entbrennenden Kampf stehen sich zwei Parteien gegenüber, die gleichermaßen verbissen um die Hoheit über das Leben, um „die Königin der Liebe" (BuT, 18) ringen: der mächtige Tod, „den die ganze Welt mit ihrem Hasse drücket" (BuT, 19), und Gott Amor mitsamt dem von Liebe beseelten Poeten, der seinem 'hochangesehenen' (vgl. BuT, 25) Feind durchaus auch die ihm gebührende Reverenz erweist. Er tut dies aber ohne Furcht, die er dank Amors überwinden kann, so daß er den Tod schließlich sogar tapfer als
Vergil, Dante und Lessing, - allerdings nicht ohne diese künstlerischen Anleihen in Form illustrierender Verweise und Beispiele sorgfältig kenntlich zu machen.
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,,Franzose[n]" (BuT, 13)170 zu verspotten vermag, während Amor selbst sich als des Todes 'Knecht' ironisiert (vgl. BuT, 25, 27). Den Kampf weiß der Gott der Liebe mit überraschend leichter Hand für sich zu entscheiden. Doch bevor Amor anschließend dem Poeten die gerettete Belinde als Lohn für seinen Mut zuzuführen vermag („Der Tod wie der Dichter, / Sind in dich verliebt: / Wem Amor dich giebt, / Der lobe den Richter."; BuT, 30), bevor er den entscheidenden Pfeil auf ihr Herz abschießen kann, - erwacht das lyrische Ich aus seinem Traum. Unerfüllt bleibt es allein zurück mit dem Wissen, daß wirkliche Liebe (dieses „Joch"; BuT, 31), die selbst den Tod zu bezwingen vermag, nicht lohnsüchtig sein dürfe: selbstlos müsse sie sein und auch den Verzicht mit einschließen. Schon im Verwundeten Bräutigam hatte Lenz Jahre zuvor diese Uneigennützigkeit, die der Liebe ihre eigentliche Macht verleiht, beiläufig thematisiert; im vierten Akt, in dem Schönwalds Verlobte sich gegen den drohenden Tod des Geliebten stemmen will („Tod! ich biete dir Trotz" DvB, 36). Doch bleibt diese Bereitschaft in seinem frühen Drama ein uneingelöstes, nur vom Überschwang typisch weiblicher Emotionen motiviertes Lippenbekenntnis, das bei dem tatsächlich längst der Todesgefahr entronnenen Schönwald denn auch lediglich Rührung hervorzurufen vermag („Welch ein Entzücken" DvB, 36). Dem Tod, dessen Kommen oder Fernbleiben der in diesem Schauspiel zur Ohnmacht verurteilte, im Sinne der rationalen Vernunft aufgeklärte Schönwald demütig abwartet, vermag der junge Dichter noch keinen Trotz zu bieten; er wird als Sinnbild lähmenden Schreckens wahr- und hingenommen („Tod! Tod, du fürchterlicher Tod"; DvB, 37) Wie ist nun der später in Belinde und der Tod so beredt dargestellte, geradezu gegensätzliche Standpunkt erklärlich, den Lenz etwa zeitgleich auch im Hofmeister durch den geistigen Repräsentanten einer bereits kritischen Vernunft artikuliert, durch den Geheimen Rat. Der bezeichnet den Tod als etwas, das „ein Mensch, der den Adel seiner Seele fühlt", nicht stärker als nur „eine Handlung, die wider seine Grundsätze läuft", „scheuen sollt[e]"? (DH, 55) Diese grundsätzliche Neubewertung des Todes wird in einem unbetitelten Gedicht noch deutlicher,171 das Lenz während der Arbeit am Hofmeister als Reaktion auf die Todesnachricht einer Freundin der Familie verfaßt hat. Dort formuliert er vor dem Hintergrund seiner weiterhin negativen Beurteilung der ihn umgebenden Lebenswirklichkeit, daß nur „der Pöbel" (worunter er zu diesem Zeitpunkt alle nicht vernunftorientierten Zeitgenossen faßt) vor dem Tod 170
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Lenz erläutert hierzu eigens in einer Anmerkung, da die Franzosen „kein Bedenken" trügen, „unsere Sitten auszulachen", wolle er sich revanchieren, zumal doch schon Cäsar „in seinem bello gallico der weichen Sitten und Galanterie der Gallischen Kaufleute" kritisch gedacht habe (BuT, 13). Lenz: 'Ach meine Freundin tot?' (Kopfzeile) - In: WB, Bd. 3, S. 85f. Künftig abgekürzt „AmF". Weiter heißt es, der Tod sei „unaussprechlich Glück", da der Mensch durch ihn zu „besseren Welten fliehen" könne (AmF, 86).
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„zittern" würde. Betrachte man ihn hingegen mit den Augen der Vernunft, erkenne man, daß er nicht etwa Leid verursache, sondern mache, daß „unser blinder Schmerz [...] Lust" werde. Denn der Tod zerreiße lediglich „die tausend Ketten", die den Menschen „ans Elend" schmiedeten, mehr noch, er sei „der große Lehrer / Der Tugend und des Glückes", da es zweifellos vieler „Bosheit" und „Heuchelei" bedürfe, um „glücklich in d e r W e l t zu leben" (AmF, 85). Leicht ließe sich spekulieren, der Heranwachsende habe seine früheren Todesängste in erster Linie dank seines zunehmenden Alters und wachsender Reife überwunden, doch würde diese These den religiösen Ursprung seiner Angst zu gering schätzen. Denn sie ließe unbeachtet, daß der Tod nach christlicher Überlieferung Gottes Strafe für begangene Sünden darstelle. Zwar sei er, wie das Neue Testament veranschaulicht, durch Christi Opfer für den Menschen letztlich überwunden worden, was ihm - zumindest theoretisch eigentlich auch beim jungen Lenz den Schrecken hätte nehmen müssen. Doch darf dieses h e u t e von den Amtskirchen als selbstverständlich anerkannte christliche Verständnis so nicht auf das 18. Jahrhundert und den seinerzeit aktuellen Stand der Bibelexegese übertragen werden, so daß Lenzens Gedichte - über das rein Persönliche hinaus - auch den Entwicklungsstand der damaligen christlichen Dogmatik und insbesondere den des Franckeschen Pietismus reflektieren. Umso drängender erhebt sich die Frage, wodurch Lenz zwischen dem Zeitpunkt des ungefähren Abschlusses der Landplagen im Frühjahr/Sommer 1769 und der Niederschrift der Belinde im Winter 1770 zu einer derart gravierenden Relativierung seines einstmals so pessimistischen Standpunktes bewegt worden ist. Die Antwort gibt der Student Lenz gegen Ende seines vierten Studiensemesters in seinem Vershymnus auf den „hochedelgeborenen" Herrn Professor Kant, den er mit größtem Ernst als „der Menschheit Lehrer" feiert (DHP, 83), weil er nicht zuletzt in Bezug auf das Phänomen des Todes seinen „Augen [...] Licht gegeben" und sein Leben dadurch mit „reiner Lust [...] angefüllet" habe (DHP, 84). Ein Blick in die Mitschrift von Kants Vorlesung über Metaphysik verdeutlicht die philosophische Grundlage für dieses euphorische Urteil. Darin referiert der Dozent etwa in der Mitte seines Kollegs ausführlich über „den Zustand der Seele nach dem Tode" (M, 284) und erörtert dabei die beiden Kernfragen, ob denn die Seele „nach dem Tode leben und fortdauern w e r d e " und ob sie „ihrer Natur nach leben und fortdauern m ü s s e ? d.h. ob sie uns t e r b l i c h sey?" (M, 284) Um die Tragweite, die ihre Beantwortung gerade für Lenz gehabt hat, aufzuzeigen, muß zuerst Kants Verständnis vom Begriff der Seele erläutert werden. Er interpretiert sie als das „Princip" des Lebens, 172 das vom bloß Materi-
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Wörtlich heißt es hierzu: „alle Materie, die da lebt, lebt nicht als Materie, sondern hat ein Princip des Lebens und wird belebt. Sofern aber Materie belebt wird; sofern ist sie auch
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eilen, vom von der Natur Unbeseelten, also Unbelebten unterschieden werden könne. Daß die Seele lebe, bedeute jedoch nicht automatisch, daß sie „ihrer Natur nach nothwendig leben müsse". Schließlich sei es durchaus möglich, daß sie von Gott lediglich „aus gewissen Absichten der Belohnung oder der Besserung, lebendig gehalten" werde und deshalb auch jederzeit wieder aufhöre zu existieren („so könnte die Zeit kommen, wo sie aufhören könnte zu leben"; M, 284). Sei sie jedoch „ihrer N a t u r n a c h " (M, 284f) unsterblich, wofür vernünftigerweise alles spreche, so müsse sie „nothwendiger W e i s e immer fortdauern", (M, 285) worauf selbst Gott keinen Einfluß habe. Die Konsequenzen dieses Gedankengangs fur das Verständnis von Religion können gar nicht überbewertet werden. Denn Kants Schlußfolgerung über die natürlich gegebene Unsterblichkeit der Seele ist nicht nur geeignet, jene christliche Gottesvorstellung hinfällig zu machen, in der das Höchste Wesen als ebenso strafender wie belohnender Richter begriffen wird, sondern sie diskreditiert nicht zuletzt auch die orthodoxe Jenseitsvorstellung, die die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Glaubensrichtung für das Erreichen der Glückseligkeit voraussetzt. Und eben diesen Beweis, daß die „Unsterblichkeit [...] die natürliche Notwendigkeit, zu leben" sei, (M, 285) entwickelt Kant, indem er ihn „aus der Natur und aus dem Begriffe" „transscendental" 1 7 3 ableitet. Sein Vernunftschluß beruht auf der Prämisse, daß das Leben letztlich nichts anderes darstelle als das Vermögen, „aus dem innern Princip, aus der Spontaneität, zu handeln" Die Seele nun stelle ein „Subject" dar, das Spontaneität in sich enthalte und sich selbst „aus dem innern Princip" determiniere. „Sie ist der Quell des Lebens, der den Körper belebt", und da alle Materie von Natur aus leblos sei („denn das ist der Begriff von der Materie, den wir davon haben"), so könne alles, was zum Leben gehöre, „nicht von der Materie herkommen" (M, 285). Bereits das Bewußtsein des bloßen Ich verdeutliche - so Kant - , daß das Leben eigentlich nicht vom Körper, sondern von einem besonderen Prinzip begründet sein müsse, das vom Körperlichen unterschieden sei und vollkommen unabhängig davon existiere (vgl. M, 287). A l s o kann kein Körper Ursache v o m L e b e n seyn. denn w e i l der Körper Materie ist, alle Materie aber l e b l o s ist; s o ist der Körper kein Grund des Lebens, sondern vielmehr ein Hinderniß des Lebens, das d e m Princip des L e b e n s widersteht. (M, 2 8 5 )
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b e s e e l t . Es liegt also [...] ein Princip des Lebens zum Grunde, und das ist die Seele." (M, 275) Dies erscheint ihm als der einzig legitime Weg, weil die „andern Beweise fllr die Unsterblichkeit der Seele, die man sonst noch hat, [...] nicht Beweise fllr ihre Unsterblichkeit" seien; „sie beweisen nur die H o f f n u n g des zukünftigen Lebens" (M, 285). Und über den transzendentalen Beweis formuliert Kant, dieser sei „der e i n z i g e [...], der a p r i o r i k a n n g e g e b e n w e r d e n " , da er „aus der Erkenntniß und der Natur der Seele, die wir a priori eingesehen, hergenommen ist" (M, 287).
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Darin erkennt Kant den Beleg, daß „der Grund des Lebens" in einer „anderen Substanz liegen [müsse], nämlich in der Seele" (M, 285). Woraus er folgert, daß deswegen weder der Beginn noch die Fortdauer des Lebens materiell begründet sein könne. Höre der Körper auf zu existieren, bleibe das vom Körperlichen unabhängige „Princip des Lebens" (M, 286) dennoch erhalten. Es geht hier mit einer Seele, die an den Körper geschlossen ist, wie mit einem Menschen, der an einen Karren befestigt ist. wenn sich dieser Mensch bewegt; so muß sich der Karren mitbewegen. Es wird aber niemand behaupten, daß die Bewegung von dem Karren herrühre; eben so rühren die Handlungen nicht vom Körper, sondern von der Seele her. So lange der Mensch an dem Karren ist; so ist dies die Bedingung seiner Bewegung. Wird er davon befreiet, so wird er sich leichter bewegen können; also war dies ein Hinderniß seiner Bewegung. (M, 286) Also ist der Tod nicht die absolute Aufhebung des Lebens, sondern eine Befreiung der Hindernisse eines vollständigen Lebens. (M, 287)
Auf der Grundlage dieser Erkenntnis ist es nur nachvollziehbar, daß Lenz sich vornehmlich durch Kant von seiner einst übermächtig wirkenden Angst vor dem Tod entlastet gesehen hat. Der erscheint ihm nun alles andere als weiterhin furchteinflößend, sondern - wie er in seiner Kant-Hymne ausfuhrt - dank seines philosophischen Lehrmeisters geradezu „mit Rosen und Jesmin gezieret" und so voll „neuer Reize [...] zugeführet", daß er ihn nicht länger als Zerstörer entgegen bangt, sondern ihn als „Retter aus des Lebens Schlingen" 1 7 4 erwartungs- und hoffnungsvoll begrüßt (DHP, 84).
Bewertung der Bibel Die geistige Fortentwicklung, die Lenz gerade bei der Beurteilung dieser so existentiellen Thematik erfahren hat, ist nicht ohne weitreichende Konsequenzen für seine Haltung gegenüber elementaren Glaubensinhalten geblieben. Dies gilt besonders für seine Beantwortung der Frage, ob Christi primäre Bedeutung tatsächlich in seiner Funktion als messianischer Erlöser liege oder doch eher in der Person des historischen Jesus und ihrem Vorbildcharakter für moralorientiertes menschliches Handeln. Die Neubestimmung der Seele als etwas, deren Unsterblichkeit natürlich gegeben und nicht etwa an irgendjemandes Richterspruch gebunden sei, könnte für Lenz die ausschlaggebende Voraussetzung dafür geboten haben, sein messianisches Christusbild am historischen Jesus neu auszurichten. Damit wurde ihm ein Glaubensverständnis möglich, für das die Heilige Schrift zwar in biblizistischer Tradition eine hohe Bedeutung besessen
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hat, dies jedoch nicht länger als ein religionsstiftendes Zeugnis göttlicher Offenbarung, sondern als ein zeithistorisches Dokument. Die Bibel sei „das älteste Geschichtsbuch, das wir haben", konstatiert er deshalb in den Stimmen des Laien..., denn mit dem Neuen Testament verfüge man über ein unanzweifelbares und - fern theologisch begründeter (Um-) Deutungsversuche - wörtlich zu nehmendes Zeugnis von Jesu Leben und Lehre, das einen für jedermann zugänglichen und kategorisch gültigen Moralkodex bereit stelle. Die Bibel enthalte konkret, was „zu tun" sei, („hier müssen wir doch "ihr" glauben"), (SdL, 573) - auch wenn sie im Grunde nichts wirklich Neues aussage, weil die von ihr tradierten Wertvorstellungen schon zuvor und unabhängig von ihr existiert hätten. Als revolutionär könne allenfalls Jesu Entscheidung gewertet werden, diese Moral als Mensch vorbildlich leben zu wollen. Denn Lenz bestreitet, „daß Christus dazu erschienen [sei], uns ein neues allgemeines Moralsystem zu geben. Denn wozu ein neues? ist doch das alte da, liegt es doch in unserer Natur" (SdL, 605f), und zwar das vom einzelnen in sich selbst zu findende Erste Principium der Moral. Daß die Bibel dieses sittliche Ideal („Seit Anfang der Welt ist's dagewesen, in allen Weltteilen, unter allen Völkerschaften." SdL, 598) getreu überliefere, mache ihre „innere Vortrefflichkeit" aus und dokumentiere ihre „Authentizität" und „Autorität" (MeL, 526). Diese Eigenschaft unbedingter Wahrhaftigkeit stellt für Lenz das maßgebliche Kriterium zur qualitativen Beurteilung des auf der Bibel gegründeten Christentums wie auch jeder anderen Glaubenslehre dar. Es gebe „den Ausschlag", bekräftigt er unmißverständlich; „Und keine Religion auf der Welt ist, deren Wahrheit auf eine andere Weise erhärtet werden kann." (MeL, 526). Wenn er von der Wahrheit der Religionen bzw. speziell von der der Heiligen Schrift spricht, so stellt diese Wahrheit für ihn einen philosophischen Gegenstand dar, der keiner besonderen Vermittlungsinstanzen wie kirchlicher Repräsentanten, Katechismen oder gar theologischer Lehren bedürfe, um sich dem Gläubigen zu erschließen. „Die Theologen", formuliert er in dieser Überzeugung, hätten „unrecht getan, aristotelische und scholastische Philosophie in der Bibel aufzusuchen" (MeL, 530), weil sich - so Lenz gleichermaßen in der Tradition des pietistischen Biblizismus wie auch der Kantschen Erkenntnistheorie - einzig durch die individuelle Begegnung des Menschen mit dem verschriftlichten Wort Gottes („dies war das erste Kollegium der Moral das Gott dem Menschen las, und d a b e i sollte es b l e i b e n . " PV, 17) der Inhalt der christlichen Botschaft offenbare. Deshalb bedürfe diese ebensowenig einer institutionalisierten Auslegung wie willkürlich konstruierter Bezüge, da sie „so lauter und klar in ihren Lehren für die allerunphilosophischsten Laien dahin rinnt" (MeL, 530) und den einzelnen - dem schließlich das individuelle Vernunftvermögen zur Verfügung stehe - ganz unmittelbar zum Erkennen und Nacheifern auffordere („Und nur in soferne kann uns die Lehre vom Verdienst Christi etwas nützen, als wir in dem Augenblick anfangen nach diesen alten ewigen Gesetzen zu leben"; MeL, 564).
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4. Mensch und Erziehung Natur und Mensch Für diese 'alten ewigen', auf die Realisierung des sittlichen Ideals abzielen-den Gesetze nimmt Lenz den gleichen natürlichen Ursprung und die gleiche ewig währende Gültigkeit an wie für die von der Naturwissenschaft erkannten Gesetzmäßigkeiten, etwa den Bewegungsgesetzen Newtons. Sie alle seien Produkte des göttlichen Willens, für den der Autor wiederholt als Synonym auch den Begriff der Natur benutzt. Denn die Natur ist - so heißt es in den Meinungen eines Laien... - nichts anderes als die „Haushaltung Gottes" (MeL, 533). Damit scheint Lenz seine Überlegungen über das seit ewigen Zeiten bereits vorhandene Erste Principium der Moral und Gottes eigenes Gebundensein an dieses zu relativieren, indem er Gott selbst nun als ihren Schöpfer bezeichnet. Doch bedeutet Schöpfer sein nicht zugleich Allmacht bzw. Willkür, denn auch als Schöpfer der vom Menschen bewohnten Sphäre ist Gott an auch für ihn geltende Regeln gebunden und nicht befähigt, sie willkürlich zu verändern. Nicht zuletzt hieraus resultiert nach Lenzens Ansicht die dem Menschen verliehene Freiheit, daß das Individuum in jenem einmal erschaffenen, unendlich komplexen Gebilde namens Welt zur freien Entfaltung der in ihm angelegten Möglichkeiten sich selbst überlassen existiere. Lediglich Anleitung erfahre es dabei, wie es sein Leben im Einklang mit seiner von jenen ewigen Gesetzen determinierten natürlichen Bestimmung einrichten, wie es aus freien Stücken seinen Lebenszweck, seine Glückseligkeit, verwirklichen könne. Etwa durch die Bibel, in der ihm Gottes Wort geoffenbart vorliege, das inhaltlich jedoch nichts anderes leiste, als eben jene Regeln aufzuzeigen, an denen er, Gott, seine Schöpfung ausgerichtet habe und denen er selbst stets verpflichtet gewesen sei: Die Offenbarung konnte nichts weiter tun, als das in uns liegende Naturgesetz näher bestimmen, die Linien höher ausziehen zu dem Hauptzwecke der in uns gelegten Wünsche und Verlangen nach größerem Umfange von Glückseligkeit. Es ist also die Offenbarung des göttlichen Willens oder des Gesetzes, denn das ist einerlei, nichts als Fortsetzung der Schöpfung, Regeln, nach welchen Gott uns geschaffen, weiter ausgedehnt, nach welchen wir uns itzt selber fortschaffen und unsere Existenz erhöhen können. (SdL, 603)
In seinen Vorlesungen fuhrt Lenz den Gedanken des Ineins von Natur und Werk Gottes175 weiter aus, indem er zuerst das tugendsame Verhalten eines 175
Auch Kant betrachtet das Phänomen Natur in strikter Zurückweisung des spinozistischen Weltbildes nicht als wesensgleich mit einem in seiner Existenz immerhin von ihm angenommenen Höchsten Wesen, sondern sieht sie als dessen einmal erschaffenes und nach seinen Gesetzen organisiertes Werk an. Diese Überlegung bezeichnet er in seiner Metaphysik-Vorlesung ausdrücklich als Verstandeserkenntnis und bekräftigt, daß nach der
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Menschen als „Erwerb der höchsten Realität" beschreibt und dabei die von Gott hierzu als „Unterstützung" geoffenbarten „Geseze" als „Geseze der höchsten objektiven Schönheit" bezeichnet. Diese höchste Schönheit sei synonym mit der „von Gott geordnete[n] Natur - die in Christo Jesu realisirt" worden sei; (PV, 21) eine Auffassung, die einer deutlichen Distanzierung vom spinozistischen Pantheismus gleichkommt, der die seinsmäßige Einheit der Gottheit mit dem Weltall behauptet und die Natur als ein sich selbst gestaltendes Wesen betrachtet. Lenz hingegen erkennt die Natur als einmal kreierten, jedoch nicht statisch existierenden, sondern steten Veränderungen unterworfenen Organismus, dessen Entwicklung nach einmal etablierten Regeln erfolge. Demnach unterliege also jeder natürliche Prozeß, gleich ob chemisch, physikalisch oder psychologisch, diesem Regelwerk und keinen willkürlichen Entscheidungen des Höchsten Wesens,176 so daß es nur folgerichtig erscheint, daß Lenz im Umkehrschluß die von Gott geoffenbarten moralischen Prinzipien ebenfalls explizit als „Naturgesetze" (SdL, 603)177 bezeichnet.
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„gemeinen Vernunft" schließlich „alle Begebenheiten [...] einen ersten Anfang" besäßen, und so auch für „die Welt [...] eine erste Ursache", „eine f r e i e v e r n ü n f t i g e Intellig e n z " angenommen werden mtlßte, - „die von der Welt verschieden" sei („Diese oberste Ursache der Welt, die von der Welt verschieden ist, Verstand und freien Willen hat, ist Gott."; M, 302f). Daß Welt und Gott zusammengenommen kein Ganzes bildeten, sondern wirklich eigenständige Objekte darstellten, ist dabei eine Erkenntnis, die Kant besonders hervorhebt: „Das Urwesen der Welt steht mit den Dingen der Welt zwar in Verknüpfung, aber nicht in Verbindung, als zu einem Ganzen gehörig, sondern es steht nur in Verbindung der Ableitung [...] In jedem Ganzen ist [...] eine Verknüpfung und ein Zusammenhang. [...] dies ist das commercium, wo der Zustand des einen von dem Zustande des andern abhängt, wo eines das andere bestimmt und wieder von ihm bestimmt wird. Zwischen Gott und der Welt ist aber nicht ein solches commercium; denn Gott empfängt nichts wieder von der Welt." (M, 212) Erst durch diese Unabhängigkeit von einem göttlichen Willen könne der Mensch wirklich frei handeln, was auch Kant hervorhebt, wenn er den Begriff der Freiheit als unlösbar verbunden mit dem der Natur erklärt (vgl. M, 200). In seiner ersten Kritik kulminiert diese Überlegung in der Erkenntnis, die „Gesetzgebung der menschlichen Vernunft", die „Philosophie", ziele ohnehin auf lediglich „zwei Gegenstände": „Natur und Freiheit", die „sowohl das Naturgesetz, als auch das Sittengesetz" repräsentierten (KrV, 867 [A 840 / Β 868]). An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, daß Kant in den dieser Abhandlung zugrunde liegenden Vorlesungsmitschriften noch nicht jene in seiner ersten Kritik vorgenommene Differenzierung der Naturgesetze in empirische und reine entwickelt hat, die ihn schließlich zu der Schlußfolgerung führt, den menschlichen Verstand - und nicht etwa Gott - als Ges e t z g e b e r der Natur zu begreifen. In seiner Prolegomena führte er über die Frage, wie „Natur selbst möglich" (Pro, 77 [§36]) sei, in diesem Sinne aus („Diese Frage, welche der höchste Punkt ist, den transcendental Philosophie nur immer berühren mag"; ebd.), daß „die oberste Gesetzgebung der Natur in uns selbst, d.i. in unserem Verstände liegen müsse, und daß wir die allgemeinen Gesetze derselben nicht von der Natur vermittelst der Erfahrung, sondern, umgekehrt die Natur, ihrer allgemeinen Gesetzmäßigkeit nach, bloß aus den in unserer Sinnlichkeit und dem Verstände liegenden Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung suchen müssen; [...] der Verstand s c h ö p f t seine Gesetze (a p r i o r i ) n i c h t aus der N a t u r , s o n d e r n s c h r e i b t sie dieser vor."(Pro,78f[§36])
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Ob Gott uns die Offenbarung gegeben, um eins von unsem Naturgesetzen aufzuheben - nein. Kann denn die Linie außer ihrem Anfangspunkte anfangen - oder ihrem Anfangspunkte widersprechen? (SdL, 604)
Durch diese lediglich rhetorisch gemeinte Frage, mit der Lenz die Gleichrangigkeit sittlicher Prinzipien zum Beispiel mit physikalischen Gesetzen betonen will, wird deutlich, daß seiner Beschäftigung mit dem Phänomen Natur (im Unterschied etwa zu Goethe) kein naturwissenschaftliches Interesse zugrunde liegt.178 In seinen Stimmen des Laien... führt er hierüber unmißverständlich aus, der Begriff der Natur sei für ihn primär Ausgangspunkt von Überlegungen aus dem Bereich der Transzendentalphilosophie, weshalb er auf die Erforschung ihrer sinnlich wahrnehmbaren, äußerlichen, vom Individuum schließlich nur vorgestellten Erscheinungsformen denn auch gerne verzichte: ich habe mit dem Walde hier nichts zu tun, sondern mit den Keimen dazu. (SdL, 598) 1 7 9
Es seien eben diese Keime, die sowohl positive als auch negative Einflüsse auf den Menschen ausübten („Begierde und Neid sind in der Natur aller Tiere schon so verschwistert, daß dies den Philosophen unmöglich unaufmerksam lassen kann." MeL, 523) und eine Art mechanisches Wechselspiel bewirkten, dem aber eine höhere Absicht zugrunde liege: denn die „Natur" habe „ihre Zwecke", (MeL, 532) sie verfolge also eigene Zielsetzungen. Will Lenz mit dieser Aussage seinem Gedanken von der grundsätzlichen Freiheit des in der Natur agierenden Individuums widersprechen? Im Gegenteil, denn er betont, auch „der wahrhaftig freie Mensch [habe] die seinigen [Zwecke], und die Vereinigung dieser Zwecke gibt das vollkommenste Ganze" (MeL, 532) („und so geht es unaufhörlich in der Natur, nichts ohne Zweck"; ÜG, 639). Um diese Synthese von Mensch und Natur zu ermöglichen, sei der Mensch den in ihr für ihn bereitgehaltenen Gefährdungen auch nicht einfach ausgeliefert. Denn ungeachtet aller auf ihn einwirkenden Einflüsse („Wer dem Menschen die Depen-
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Deutlich wird hieran auch Lenzens geistige Nahe zu scholastischen Denkmustern (etwa die frühscholastische unklare Scheidung von Philosophie und Theologie sowie die aus der Hochscholastik stammende klare Scheidung von Glauben und Wissen), die ab dem 16. Jahrhundert bis weit in das 18. hinein eine ursprünglich von Spanien ausgehende Renaissance erfahren und in Deutschland nicht zuletzt zahlreiche protestantische Universitäten erobert haben. Einer der wichtigsten Vertreter dieser sogenannten Barockscholastik, Francisco Suárez, hat gerade auf Christian Wolff einen nicht zu unterschätzenden Einfluß ausgeübt. In der Mitschrift von Kants Metaphysik-Kollegium ist ein besonders hervorgehobener Lehrsatz protokolliert, der prägnant das in Lenzens Äußerung ausgedrückte philosophische Interesse beschreibt sowie den ihr zugrunde liegenden methodischen Ansatz: „Der L a u f der N a t u r k a n n e m p i r i s c h e r k a n n t w e r d e n ; d i e O r d n u n g a b e r d u r c h den V e r s t a n d , i n d e m ich d i e R e g e l w a h r n e h m e . " (M, 216)
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denz von der Natur abspricht, der hat ihn noch nie recht angesehen."; EeB, 485) verfüge er über die Anlage, autonom zu agieren und den n a t u r g e g e b e n e n Bedrohungen wie etwa „Haß, Neid, Mord, Ehebruch" („Ich nenne sie Natur. [...] alles liegt in der Natur") (MeL, 532) erfolgreich begegnen zu können. Deshalb reiche das reine Vorhandensein des Bösen auch nicht aus, das in seiner Entscheidung freie Individuum zum Bösen zu zwingen,180 weil der einzelne doch qua Naturgesetz befähigt sei, durch die Synthese seines Handelns mit dem in der Schöpfung angelegten sittlichen Ideal (also durch die Vereinigung seiner Zwecke mit denen der Natur) Gottes Willen und damit die „von Gott etablierte]../ große]../ W e l t o r d n u n g " (ML, 493) zu verwirklichen; - seiner „Bestimmung" folgend und dadurch das „ewige Leben, die Erkenntnis Gottes und Jesu Christi" erlangend (ML, 497). D a ß wir also vorzüglich unsrem Geist die tätige Kraft i n u n s [Hervorh. d.V.] bilden, nicht die leidende - höchstens empfindende und genießende Materie denn das tut das Tier auch v o n dem wir doch um eine so herrliche Stufe erhöht sind u m zur Gottheit emporzusteigen. A l s o t u n ist unsere Hauptbestimmung [...] w o e s am meisten nützlich sei, Heil bringen kann zur Ehre Gottes und der Menschen und so v o n Form zu Form übergehen ins e w i g e Leben. (ML, 4 9 7 )
Genie Aus der Relation des Menschen zur Natur gewinnt Lenz auch seine Definition des Genie-Begriffs. Dieser bezeichne zwar das schlechthin kreative Individuum („wie Aristoteles und Longin dieses Wort brauchten, eines Schöpfers"; SdL, 580), jedoch nicht etwa in dem Sinne, daß damit eine völlige Freiheit von der alles determinierenden Natur impliziert wäre. Denn weil der Mensch samt seinen Gaben und Möglichkeiten natürlichen Ursprungs sei, könnten auch seine Schöpfungen letztlich nur dem Natürlichen nachgeahmt werden. An anderer Stelle scheint Lenz diesem Gedanken durch seine bloße Wortwahl zu widersprechen, indem er zwischen dem sogenannten „Genie" und einem bloßen „Nachahmer" unterscheidet, wobei letzteren das Fehlen der elementarsten 180
Kant führt hierzu in seiner Vorlesung über Praktische Philosophie aus, daß die menschliche Natur von einer „fragilitas" determiniert sei, die von einem grundsätzlichen „Hang zum bösen" herrühre. Diese von der Natur gegebene „Neigung" könne zwar nicht getilgt, jedoch durch die ,,sittliche[...] Reinigkeit der Handlungen" überwunden werden; „Wir haben zwar einen Hang zum bösen, aber kein Hang, keine Neigung kann es machen, daß wir nothwendig das böse wählen sollen." (PP, 159) Um zu unterstreichen, wie diese das Individuum stets gefährdende Neigung elementar das Mensch-Sein konstituiere und gleichzeitig der menschlichen Existenz einen konkreten Daseinszweck vorgebe, betont Kant, daß einzig Gott von diesem Hang frei sei (der allein deshalb mit dem Begriff der „Heiligkeit" beschrieben werden könne) und der Mensch die „Tugend" als seine „wahre Bestimmung" anstreben müsse (PP, 165).
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menschlichen Qualitäten charakterisiere; er sei „mehr Tier als selbständig denkender Mensch" (MeL, 533). Im Gegensatz dazu seien Genies befähigt - so Lenz in seinen ab 1771/72 entstandenen Anmerkungen übers Theater - , „alles, was ihnen vorkommt, gleich so durchdringen, durch und durch sehen [zu können], daß ihre Erkenntnis denselben Wert, Umfang, Klarheit hat, als ob sie durch Anschaun oder alle sieben Sinne zusammen wäre erworben worden" (AüT, 648). Diese Definition knüpft erkennbar an die Grundlagen der Kantschen Erkenntnistheorie an und findet ihre Entsprechung nicht zufällig in Kants Metaphysik-Vorlesung, in der (vergleichbar mit Lenzens Scheidung in Nachahmer und Genie) zwischen „ N a t u r e l l " („eine Neigung zu lernen") und „ G e n i e " differenziert wird, wobei der letztgenannte Begriff die nur wenigen gegebene Fähigkeit bezeichne, „Erkenntnisse zu finden, die gar nicht können gelernt werden" (M, 244). Doch wie läßt sich Lenzens an Aristoteles scheinbar anknüpfendes Eingeständnis, auch ein Genie könne Natur lediglich nachahmen, im Kontext seiner stets strikten Zurückweisung der aristotelischen Poetik verstehen (die doch auch eine Polemik gegen Lessing dargestellt hat)? 181 Schließlich gilt doch deren Überwindung zugunsten einer Dramentheorie nach englischem Vorbild als das Hauptverdienst der deutschen Dichtkunst des ausgehenden 18. Jahrhunderts, weshalb zum Beispiel Franz Werner den griechischen Philosophen geradezu als Lenzens „Aggressionsobjekt" 182 zu erkennen vermeint. Die Antwort gibt die Differenzierung, daß nicht der Frage Aufmerksamkeit gebühre, ob nachgeahmt werde - dies sei bereits durch die (Kantsche) Philosophie hinlänglich beantwortet - , sondern w a s . Es kommt itzt darauf an, was beim Schauspiel eigentlich der Hauptgegenstand der Nachahmung: der Mensch? oder das Schicksal des Menschen? Hier liegt der Knoten, aus dem zwei so verschiedene Gewebe ihren Ursprung genommen, als die Schauspiele der Franzosen (sollen wir der Griechen sagen?) und der ältern Engländer, oder vielmehr überhaupt aller ältern nordischen Nationen sind, die nicht griechisch gesattelt waren. (AüT, 650)
Während Aristoteles die Nachahmung einer Handlung, also des Schicksals der Menschen, zur Aufgabe des Dramas bestimmt und zu ihrer Typisierung ein enges, allgemeingültiges Regelwerk entworfen habe, befürworte er - Lenz 181
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Im 51. Stück seiner Hamburgischen Dramaturgie hatte Lessing bekanntlich festgestellt, die Charaktere stellten in der Komödie das wesentliche dramatische Element dar, während die Handlung lediglich als Instrument zu ihrer Entfaltung diene. Bei der Tragödie hingegen verhalte es sich umgekehrt, da dort den Charakteren eine der Spielhandlung unterordnete Funktion zukomme; ein Standpunkt, dem Lenz seine Idee des h a n d e i n e n M e n s c h e n als Mittelpunkt jeglicher Spielhandlung entgegen gestellt hat (vgl. hierzu auch Martini, 240-243). Franz Werner: Soziale Unfreiheit und 'bürgerliche Intelligenz' im 18. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1981, S. 37.
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die Darstellung des nur individuell geltenden Regeln unterliegenden menschlichen Charakters, der von den Griechen zu Unrecht als „Nebensache" (AüT, 659) abqualifiziert worden sei. Er tue dies aufgrund der (erkenntnistheoretischen) Prämisse, daß einer konstruierten Handlung stets nur menschliche Erfahrungen zugrunde liegen könnten, jene „ewige Atmosphäre des strengen Philosophen", über die sich das „Räsonnement keinen Nagelbreit drüber erheben" könne, „so wenig als eine Bombe außer ihrem berechneten Kreise fliegen kann" (AüT, 652). Die Kunst jedoch, die letztlich der höheren, nicht durch Erfahrungen, sondern lediglich durch vernunftmäßige Schlüsse zugänglichen s i t t l i c h e n Wahrheit verpflichtet sei, bedürfe der formalen Freiheit, um eine Wirkungsästhetik zu entfalten, die dem Publikum eben diese individuellen Schlußfolgerungen ermögliche. Diese formale Freiheit sieht Lenz bei den „ältern Engländerin]" (und nicht zuletzt bei Shakespeare,183 ,,unser[em] Landsmann"; AüT, 654) vorbildlich realisiert (AüT, 650). 184 Auch Kant betonte in seinen Vorlesungen mehrfach den Vorbildcharakter vor allem Shakespeares, den er als ideale Verkörperung eines Genies empfunden hat. Dessen NichtBeachten der aristotelischen Dramentheorie zugunsten einer natürlichen Dar-
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Über die Lenzsche Shakespeare-Rezeption hat Eva Maria Inbar 1982 eine analytisch sehr präzise Studie vorgelegt, in der sie die grundsätzlichen und folgenreichen Unterschiede vor allem zu Herders und Goethes Shakespeare-Verständnis aufzeigt, deren Darstellung jedoch nicht Aufgabe dieser Abhandlung sein kann. Sie hebt - in der Tradition von Hans-Günther Schwarz' bereits während der 70er Jahre dargestellten Erkenntnissen (J.M.R. Lenz Anmerkungen übers Theater, Shakespeare-Arbeiten und Shakespeare-Übersetzungen, Stuttgart 1976) - besonders hervor, daß Lenz (ebensowenig wie andere Autoren des ausgehenden 18. Jahrhunderts) keine historische Würdigung dieses Dichter-Vorbildes beabsichtigt habe, sondern im Rahmen eines auch ,,polemische[n] Vergleich[s]" mit Aristoteles in strikter Abgrenzung zum französischen Theater lediglich ein ganz persönliches „Fundament [...] für das deutsche Drama der Zukunft" habe aufzeigen wollen, den authentischen Shakespeare also zugunsten seiner eigenen Intentionen und den speziellen künstlerischen Erfordernissen seiner Epoche in den Hintergrund gerückt hat. Eva Maria Inbar: Shakespeare in Deutschland: Der Fall Lenz. - Tübingen 1982, S. 28. Die theaterhistorische Forschung hat hinlänglich aufgezeigt, daß eine derartige Beurteilung der Realität weit eher entspricht, als das im ausgehenden 18. Jahrhundert in Deutschland gängige Paradigma von Shakespeares angeblicher Regellosigkeit. Daß die damalige Shakespeare-Rezeption darüber hinaus auf einigen elementaren, wenn auch produktiven Mißverständnissen beruht hat, verdeutlicht nicht zuletzt die vom Shakespeare-Rezipienten Goethe in Weimar liebevoll gepflegte Tradition der italienischen, reich dekorierten Guckkastenbühne, die in der elisabethanischen Theatertradition gänzlich unbekannt war. In ihr erforderte unter anderem der weitgehende Verzicht auf Buhnendekoration auf dem nach drei Seiten offenen Bühnensteg eine völlig anders geartete Dramaturgie und Buhnenästhetik, die dem gesprochenen Wort eine ungleich größere Bedeutung verlieh (und deshalb auch nach einem eigenen Regelwerk verlangte), als sie vom italienisch-deutschen Ausstattungstheater realisiert werden konnte. Inbar faßt das Phänomen dieser - über buhnenästhetische Fragen weit hinausgehenden - sehr individuellen Shakespeare-Rezeption in die prägnante Formel, daß die Autoren des ausgehenden 18. Jahrhunderts, und insbesondere Goethe, „sich das Recht" genommen hätten, den englischen Dichter „unbekümmert durch die eigene Optik zu sehen" (Ingbar, 31).
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Stellung von Charakteren und Handlungen läßt den Philosophen schlußfolgern, daß - obgleich Regellosigkeit eigentlich keinen Vorzug bedeute - der Engländer in seinen Theaterstücken bewiesen habe, als Genie nicht 'Sklave' von 'theatralischen Regeln' zu sein, sondern deren 'Meister'. Dessen ungeachtet so Kant vermutlich mit Blick auf die Geniemode der 70er Jahre in seiner Anthropologie - bedürfe die „aufbrausende Lebhaftigkeit" eines Genies stets der 'Mäßigung' und 'Einschränkung' „durch die Sittsamkeit des Geschmacks". 185 Daraus ist zu folgern, daß für Kant die Freiheit des Genies lediglich in einer formalen, nicht etwa in einer ethischen Regellosigkeit bestanden hat. Mit Blick auf die aristotelische Regelpoetik und die von den Dichtern der 70er Jahre dagegen proklamierten 'Freiheiten' demonstriert Lenz in diesem Sinne um 1775 ein erheblich differenzierteres Shakespeare-Verständnis, als ihm gemeinhin unterstellt wird. So begrüßt er zwar die Überwindung jenes griechischen Regelwerks („die so erschröckliche jämmerlichberühmte Bulle von den drei Einheiten"; AüT, 654), doch betont er in seinem Schriftfragment Von Shakespeares Hamlet, daß auch bei diesem englischen Vorbild die angebliche Regellosigkeit nur eine - selber wiederum Regeln unterworfene - Ausnahme dargestellt habe. Man vergißt, daß auch Shakespeare die Veränderung der Szene immer nur als Ausnahme von der Regel angebracht, immer nur höheren Vorteilen aufgeopfert und daß je höher die dadurch erhaltenen Vorteile waren, desto mehr Freiheit man in dem Stück dem Dichter gestatten mußte und zu gestatten gar kein Bedenken trug. (VSH, 739)
Dies entschuldige „aber nicht um ein Haar junge Dichter die aus bloßem Kitzel einem großen Mann in seinen Sonderbarkeiten nachzuahmen ohne sich mit seinen Beweggründen rechtfertigen zu können, ad libitum von einem Ort zum anderen herumtaumeln und uns glauben machen wollen, Shakespeares Schönheiten beständen bloß in seiner Unregelmäßigkeit." (VSH, 739) Und in seiner im gleichen Jahr entstandenen Schutzschrift für Wieland bekräftigt er diesen Gedanken, indem er feststellt, „Shakespeare Manier ist nicht ungebunden, [...] sie ist gebundener als die neuere, für einen, der seine Phantasei nicht will gaukeln lassen, sondern fassen, darstellen, lebendig machen, wie er tat." (VHW, 729f). Dank des Vorbildes der englischen Bühnenkunst und in Übereinstimmung mit der „Baumeisterin" jedes einzelnen Charakters, der „in allen ihren Wirkungen mannigfaltigfen]" Natur (AüT, 660), vermöge es das Genie, jenem einzigartigen, individuellen Phänomen der „Mannigfaltigkeit der Charaktere und Psychologien" nachzuspüren, es in allen nur denkbaren Facetten und Wirkungen aufzuzeigen und dabei die schöpferische Kraft der Baumeisterin Natur -
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Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, S. 170.
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jener „Fundgrube" - nachzuempfinden („hier allein schlägt die Wünschelrute des Genies an."; AüT, 661). Doch gerate die „Ausmalung großer und wahrer Charaktere und Leidenschaften und Anlegung solcher Situationen" (VSH, 740) - dieser „Schrei der Natur" (DHS, 755) - erst dann zum wahren „Meisterstück eines Genies", wenn ein „solches Gemälde" „bei all [seiner] Neuheit nie unwahrscheinlich noch gezwungen" ausfalle (VSH, 740).186 Martini faßt diese Konzeption in seiner Analyse der Anmerkungen übers Theater dahingehend zusammen, daß Lenz den 'dramatischen Dichter' als einen 'Handelnden in der Nachahmung' begreife (vgl. Martini, 166); dies bedeutet nicht, daß er nur wiedergibt, was sich ihm in der Natur anbietet, es bedeutet vielmehr, daß er in der Darstellung von handelnden Personen selbst zu einem Handelnden wird, ein frei handelndes selbständiges Geschöpf. (Martini, 166)
Erziehen statt unterrichten Die Freiheit des Genies erkennt Lenz also als nicht weniger an die Vorgaben der Natur gebunden als die Freiheit des einfachen Menschen. Dieser Gedanke, das Individuum folge, wenn es der Natur nacheifere (was dem Autor gleichbedeutend mit dem Streben nach Tugend ist), lediglich einer natürlichen Bestimmung, wenn es sich individuell - und unabhängig vom Urteil anderer - für das moralische Handeln entscheide, findet sich auch bei Kant, der ihn in seiner Vorlesung über Praktische Philosophie als Lehrsatz besonders hervorgehoben hat. Darin heißt es: Eine Haupt Pflicht in Ansehung der Moralitaet ist, daß wir uns nicht in dem was unsere Sittlichkeit betrifft, auf andere verlaßen, sondern wir müßen es mit unseren eigenen Augen betrachten. [...] Die Bestimmung der Menschlichen Natur ist die, wie er sich dem moralischen Gesezz gemäß verhalten soll[.] (PP, 193)
Doch was ist über jene Individuen zu sagen, die die unbedingte Gültigkeit dieser so prägnant formulierten Maxime nicht ebenso vorbehaltlos teilen, die sich unsicher sind über das angeblich in ihnen angelegte natürliche Bestreben, sich zur „Selbständigkeit hinaufzuarbeiten", (ÜdN, 620) um dem „Trieb" zum Erreichen ihrer „Bestimmung" zu folgen? Solche Menschen, dies versichert
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Ein ähnlicher Gedankengang findet sich in Kants Anthropologie, worin es heißt, das „Produkt" eines Genies müsse ungeachtet aller Originalität und Ursprünglichkeit einer 'gewissen mechanischen Grundregel' entsprechen, die in der „Abgemessenheit des Produkts zur untergelegten Idee" bestehe; „d.i. W a h r h e i t in der Darstellung des Gegenstandes, der gedacht wird." Diese Überlegung führt Kant schließlich zu der Definition, daß „man Genie auch das Talent nennen kann, 'durch welches die Natur der Kunst die Regel gibt'" (Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, S. 146f).
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Kants Schüler ganz in dessen Sinne, sind für ihre dadurch bewiesene Unzulänglichkeit persönlich nur bedingt verantwortlich zu machen. Denn ihre Zweifel und ihr gebremstes Streben nach Tugend ließen vor allem die ungenügende Qualität ihrer „Erzieher und Freunde" offenbar werden, die schon frühzeitig diesen „Trieb in seiner Entwicklung aufgehalten" hätten (SdL, 614). 187 Als Konsequenz ergibt sich aus dieser Feststellung, daß - um derlei negativen Einflüssen auf möglichst breiter Basis zu begegnen und dadurch eine allgemeine Orientierung zu tugendhafterem Handeln zu erwirken - die maßgeblichen staatlichen Stellen in besonderer Weise gefordert seien, die Qualifizierung des Berufsstandes der Erzieher voranzutreiben, um - so der Standpunkt des Franckeschen Pietismus - der Gesellschaft nützliche Generationen zuzuführen. Lenzens grundsätzliche Kritik am seinerzeit noch üblichen Hauslehrertum ist von der Forschung hinlänglich dargestellt worden, vor allem im Zusammenhang seines bereits in Königsberg konzipierten Schauspiels Der Hofmeister. Deshalb sei hier lediglich daran erinnert, daß die in diesem Drama dargestellte unstandesgemäße Liebesbeziehung zwischen einem nur unzureichend auf seine Aufgaben vorbereiteten Erzieher bürgerlicher Herkunft und seinem - Standesunterschied, männliche Schwäche und fehlende Autorität ausnutzenden weiblichen Schützling nur den plakativen Aufhänger einer sehr viel tiefergehenden Auseinandersetzung mit dem Bildungswesen des ausgehenden 18. Jahrhunderts darstellt. Dessen marodes öffentliches Schulsystem hatte - so die am eigenen Leibe einst in Dorpat erfahrene Gewißheit des Autors - noch keine wirkliche Alternative zur Privaterziehung geboten. 188 Diese Kritik artikuliert Lenz im Drama vor allem durch die Person des gleichermaßen nach schulischen Reformen im Sinne von Moral und Vernunft 189 verlangenden und das Hofineistertum ebenfalls ablehnenden Geheimen Rates von Berg, dessen wohlgeratener und vernunftbegabter, auch die spätaufklärerische Moralorientiertheit
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Diese Feststellung ist eine Kernaussage zum Verständnis der von Jakob Lenz besonders in seinem Drama Der Hofmeister propagierten und auch selbst praktizierten Erziehungsvorstellungen, die pointiert die mit seinem Selbstverständnis als Lehrender verbundenen pädagogischen Ziele benennt. Beide (private wie öffentliche Erziehung) werden im Hofineister vom unaufgeklärten, körperliche Gewalt und geistloses Arbeiten als Erziehungsmittel propagierenden Major von Berg repräsentiert, dessen vorgebliche Sorge um die qualifizierte Ausbildung seiner Kinder tatsächlich nur von egoistischer Willkür, Geiz und Empfindungslosigkeit bestimmt wird (Major zum Hofineister: „wenn die Kanaille nicht behalten will, Herr Läuffer, schlagen Sie ihm das Buch an den K o p f . Zu seinem Sohn: „Bist empfindlich, wenn dir dein Vater was sagt? [...] Du sollst mir anders werden, oder ich will dich peitschen, daß dir die Eingeweide krachen sollen [...] Feriieren und Pausieren und Rekreieren, das leid ich nicht."; DH, 47). Vgl. im Hofineister die erste Szene des zweiten Akts, in der der Geheime Rat in der Terminologie Kants den Respekt vor der individuellen „Freiheit" einfordert („Ohne Freiheit geht das Leben bergab rückwärts, Freiheit ist das Element des Menschen wie das Wasser des Fisches"), um Heranwachsende durch qualifizierte Erzieher „zu höherer Glückseligkeit zu erheben" und gleichzeitig zu befilhigen, dem Allgemeinwohl zu dienen („Laßt den Burschen was lernen, daß er dem Staat nützen kann."; DH, 55).
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repräsentierender Sohn Fritz nicht zufällig ausgerechnet in Halle studiert. Mit dieser Besinnung auf den einstigen Studienort seines Vaters weist Lenz nicht etwa auf die einstige Bedeutung der dortigen Universität als religiöser Kristallisationspunkt des Pietismus hin, der sie zu Christian Lenzens Zeiten noch gewesen ist. Vielmehr steht Halle mit seinen inzwischen weit über die deutschen Landesgrenzen hinaus bekannten Franckeschen Anstalten als Synonym einer - im Vergleich zum öffentlichen Schulwesen der meisten deutschen Kleinstaaten - vorbildlichen Erziehungspraxis,190 in denen bei Schillern wie bei Lehrern gleichermaßen ein bis dahin andernorts unerreichter Ausbildungstand realisiert werden konnte. Daß Lenz das Hallenser Modell allerdings nicht unkritisch propagiert, sondern lediglich an ihm sinnvoll erscheinende Elemente anknüpft, verdeutlicht er im Hofmeister vor allem durch die Gestalt des Schulmeisters Wenzeslaus. Dessen pädagogische Überzeugungen werden zwar - wie auch die des Pietismus - von Tugend und Religiosität bestimmt, doch vertritt er darüber hinaus einen selbstbewußt demonstrierten Freiheitsbegriff und überragt als Träger eines kategorischen Toleranzgedankens die von geistiger Enge bestimmten Unterrichtsprinzipien einer traditionellen pietistischen Lehranstalt. Hierdurch wird Wenzeslaus zur Verkörperung eines Erziehungsideals, in dem sich pietistische Glaubenselemente und spätaufklärerische Erkenntnisse konstruktiv miteinander verknüpfen, was denn auch von Lenzens Protagonisten Läuffer als vorbildlich erkannt und entsprechend gewürdigt wird. Es ist deshalb bestimmt kein Zufall, daß die Gestalt des alten Dorflehrers, der pflichtbewußt und demütig nur seinem ,,gute[n] Gewissen" (DH, 82) folgt, zahlreiche Eigenschaften aufweist, die an den Königsberger Philosophen erinnern. Dies beginnt bei reinen Äußerlichkeiten, wie zum Beispiel seiner Bedürfnislosigkeit in Fragen der Kleidung und Ernährung, und endet nicht etwa schon bei der Organisation seines überaus geregelten Tagesablaufs, der - bis hin zu zeitlichen Übereinstimmungen - ebenso auf das Vorbild Kants hinweist wie Wenzeslaus' streng kontrollierter, aber regelmäßiger Konsum bestimmter Genußmittel (vgl. DH, 82f).191 Auch das Beharren auf seiner geistigen Unabhängigkeit - im vol-
190 191
Vgl. hierüber im Ersten Teil, Erstes Kapitel, Π. Dies betrifft besonders den Tabak, dessen kontrollierten Genuß Kant nachdrücklich verteidigt; auch hat er selbst bekanntlich französischen Rotwein bevorzugt. Nach eigener Aussage pflegte der Philosoph den Lebensstil eines 'Diätetikers', in der Absicht, durch zweckmäßige Lebensweise Krankheiten vorzubeugen (hierüber handelt auch seine 1798 erschienene Schrift Von der Macht des Gemüts...). Mit dieser Lebensweise macht Lenz das Publikum im Hofmeister durch den Schulmeister Wenzeslaus vertraut, - unter Übernahme des Ablaufs eines typischen Kantschen Arbeitstages. Bei dessen Darstellung blieben allerdings Kants berühmte, stets zur gleichen Zeit am gleichen Ort stattfindenden Spaziergänge am Pregelufer unberücksichtigt. Hierzu der alte Lehrer im Hofmeister. „Das ist so meine Diät: des Morgens kalt Wasser und eine Pfeife, dann Schul gehalten bis eilfe [auch Kants Vormittagskollegien endeten Punkt elf Uhr], dann wieder eine Pfeife bis die Suppe fertig ist
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len Bewußtsein seiner Tätigkeit als Staatsdiener - findet eine Parallele in Kant. Denn wie dieser ist auch Lenzens literarische Gestalt in ihrem Selbstverständnis als Lehrer energisch um persönliche Freiheit bemüht („bin ich doch auch mein eigner Herr und hat kein Mensch mich zu schikanieren"), deren Bewahrung unverzichtbar erscheint, um sich unablässig zum Nutzen seiner Schützlinge engagieren zu können („daß ich mehr tu als ich soll"). Denn nicht lediglich allgemeines Wissen und grundlegende Fertigkeiten gelte es zu vermitteln („lesen und schreiben ich lehre sie rechnen dazu und Lateinisch"), sondern die Schüler vor allem im rechten Gebrauch der Verstandeskräfte zu unterrichten (um „mit Vernunft ^zu. lesen und gute Sachen schreiben dazu"). Der Verzicht auf weltliche Güter als Lohn seiner Mühen fällt dem uneigennützigen Wenzeslaus dabei leicht, weiß er doch, daß ihm, da er seine Schützlinge nicht nur belehrt, sondern sie durch seine Unterweisung im rechten Vernunftgebrauch vor allem zur Tugend hingeleitet („zugleich die bösen Begierden mit einschläfer[t]"; DH, 85 ) letztlich „Gottes Lohn" (DH, 84) gewiß sei. Dient das Hofmeister-SchwisçveX als Entwicklungs-Drama noch dazu, beispielhaft die Notwendigkeit einer qualifizierten Erziehung Heranwachsender aufzuzeigen, 192 demonstriert der Autor in seiner nachfolgenden Bühnendichtung Der neue Menoza den nachhaltigen Erfolg einer derartigen Erziehung anhand seines dortigen Protagonisten, des Prinzen Tandi. Dieser ist eigentlich ein geborener deutscher Bürgersohn, der jedoch in der Fremde, im fernen Land
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[...] dann wieder eine Pfeife, dann wieder Schul gehalten, dann Vorschriften geschrieben bis zum Abendessen [...] und dann wieder eine Pfeife vor Schlafengehen." (DH, 83f) Daß Lenz - ungeachtet seiner grundsätzlichen Progressivität in Erziehungsfragen - die zu seiner Zeit speziell für das weibliche Geschlecht geltenden Usancen nicht in Frage gestellt und damit fortschrittliche Erziehung implizit zu einer reinen Männersache deklariert hat, dokumentiert ein Brief von ihm an den Baseler Kaufmann Jakob Sarasin (Lenz an Sarasin, vermutlich Zürich, den 28.9.1777. - In: WB, Bd. 3, S. 550-558), dem er seine Vorstellungen von einer „Frauenzimmerschule" (S. 553) mitteilt. In ihrer Summe reflektieren Lenzens diesbezügliche Überlegungen vornehmlich epochentypische Konventionen, durch die der natürliche Wirkungskreis der Frau auf ihren Haushalt begrenzt worden ist. Und so propagiert er für das andere Geschlecht denn auch hauswirtschaflliche Qualifizierung statt tatsächlicher Bildung sowie körperliche Ertüchtigung, um für sein Ideal einer vor allem n a t ü r l i c h e n Frau zu werben, das er den 'galanten' Auswüchsen der höfischen Damenwelt entgegenstellt („Ich habe keine schlankeren, stärkeren, gesunderen und schönern Geschöpfe gesehen als die Milchmädchen um Straßburg"; S. 554). Und über andere denkbare Bildungsinhalte führt er aus: „Naturhistorie, Kenntnis von Pflanzen und Tieren auch Mineralien ist ihnen wohl unentbehrlich, sowie die anatomische Kenntnis des Menschen, ohne der sie elende Kinder erziehen werden. [...] Alle übrige Wissenschaften können sie entbehren. [...] Man muß ihren Männern auch was übrig lassen." (S. 556f) „Sollte ich zu irgend einer Kunst oder Wissenschaft bei Ihren Frauenzimmern [gemeint sind die Töchter Sarasins] raten, so wär es das Zeichnen." (S. 554) Zu Lenzens Ansichten über das weibliche Geschlecht vgl. ausführlicher hier, Drittes Kapitel „Schamhaftigkeit und allegorisches Frauenbild". Zu Lenzens weiteren Überlegungen über 'Frauenzimmerschulen' vgl. auch Walter Ernst Schäfer: Mädchenerziehung. Kontroversen zwischen Gottlieb Konrad Pfeffel und Jakob Michael Reinhold Lenz. - In: Ortrud Gutjahr u.a. (Hrsg.): Gesellige Vernunft. Zur Kultur der literarischen Aufklärung. (Festschrift für Wolfram Mauser.) Würzburg 1993, S. 277-296.
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Cumba aufgewachsen und erzogen wurde. Als Reisender lernt er das Land seiner Herkunft, Deutschland, kennen und sucht dabei herauszufinden, ob es „des Rühmens auch wohl wert sei" (DnM, 126). Im Grunde funktioniert das aus dieser Prämisse heraus entwickelte Drama in Anlehnung an Kants dreistufiges erkenntnistheoretisches Modell: Der Zuschauer bzw. Leser wird des von Tandi bereisten Landes und seiner Einwohner durch die Sinne, durch das Wahrnehmungsvermögen des Prinzen ansichtig. Er registriert also gemeinsam mit dem Protagonisten dessen unmittelbare Eindrücke, die in Worten und Taten sich manifestierenden Eigenarten der ihm begegnenden Menschen, - und gelangt so zu eigenen Urteilen, indem er unter anderem den Egoismus und die Kaltherzigkeit der Tandi begegnenden Personen erkennt.193 Dies wiederum führt zu der vom Autor geschickt geförderten Schlußfolgerung, der Zustand dieses Landes müsse - so man es „durchs Fernglas der Vernunft" betrachte (DnM, 142) - notwendigerweise nach dem Vorbild des Landes Cumba verändert werden.194 Auch in Lenzens um 1775 entstandenem dramatischen Fragment Der tugendhafte Taugenichts195 nimmt das Thema Erziehung breiten Raum ein, indem der Autor am Beispiel eines ungleichen Brüderpaares exemplarisch vorführt, wie die fehlerhafte Förderung Heranwachsender zu menschlicher Verrohung und hieraus resultierenden Katastrophen fuhren könne. Eine besondere Bedeutung erhält die unvollendet überlieferte Dichtung durch die Tatsache, daß ihre Verfertigung auf eine Anregung Schubarts zurückgeht, die sechs Jahre später von Friedrich Schiller ebenfalls aufgegriffen und in Gestalt seines Räuber-Dramas verarbeitet wird. Schubart hatte 1775 im Schwäbischen Magazin von Gelehrten Sachen das Thema der einander feindlich gesonnenen Brüder entwickelt und dazu aufgerufen, ein „Genie" möge sich seiner annehmen, um daraus einen „Roman" oder eine „Komödie" zu entwickeln, „wenn er nur nicht aus Zaghaftigkeit die Scene in Spanien und Griechenland, sondern auf teutschem Grund und Boden eröffnet".196 193
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Im zweiten Akt werden diese vom Prinzen, Lenzens Alter Ego, adäquat kommentiert, indem er Uber den Zustand und die geistigen Errungenschaften Deutschlands im ausgehenden 18. Jahrhundert mit bitterer Ironie ausführt: „Das der aufgeklärte Weltteil! Allenthalben wo man hinriecht Lässigkeit, faule ohnmächtige Begier, lallender Tod ftlr Feuer und Leben, Geschwätz für Handlung - Das der berühmte Weltteil! o pfui doch!" (DnM, 140) „Das bloß Genießen scheint mir recht die Krankheit, an der die Europäer arbeiten [...] Handeln macht glücklicher als Genießen. Das Tier genießt auch." (DnM, 146) „wer ohne Zweck lebt, wird sich bald zu Tode leben, und wer auf der Studierstube ein System zimmert, ohne es der Welt anzupassen, der lebt entweder seinem System all Augenblick schnurstracks zuwider, oder er lebt gar nicht." (DnM, 147) Über die Lebenspraxis der Cumbaner heißt es, sie hätten „Gottesfurcht, das macht es, sie finden ihr Vergnügen an der Arbeit, mit Kopf oder Faust, das ist all eins" (DnM, 155). Lenz: Der tugendhafte Taugenichts. - In: WB, Bd. 1, S. 499-526. Künftig abgekürzt: „DtT". Christian Friedrich Daniel Schubart: Zur Geschichte des menschlichen Herzens. - In: Christian Friedrich Daniel Schubart. Gesammelte Schriften und Schicksale. Acht Bände in
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Lenz hat dieses Anliegen beherzigt und seine Spielhandlung aus einer Unterrichtsszene in einer deutschen Haushaltung heraus entwickelt, in der der gestrenge Vater die Lernfortschritte seiner beiden von einem Hauslehrer unterwiesenen Söhne begutachtet. Wie schon im Hofmeister wird die Vaterfigur als engstirniger Repräsentant seiner Epoche und adligen Herkunft beschrieben, der im Grunde zwar beiden Söhnen in Liebe zugetan ist, dem aber Toleranz und Verständnis fehlen, um die von seinen niemals kritisch hinterfragten Prinzipien abweichende Entwicklung des älteren Kindes zu akzeptieren. Erziehung ist ihm gleichbedeutend mit einem mechanisch ablaufenden Unterricht, in dessen Mittelpunkt die Vermittlung von - im Stück als nutzlos dargestelltem Zettelkastenwissen steht, weshalb er bei seinem jüngeren Sprößling auch die Fähigkeit über alle Maßen schätzt, alle „Kaiser in der Geschichte [...] mit Namen und Jahrzahl" (DtT, 501) aufzählen zu können. In der Absicht, seinen Kindern „eine gute Erziehung zu geben", versammelt er darüber hinaus „alle Vergnügungen weit und breit um sie her" (DtT, 509) 197 und bietet ihnen außen diesen Hervorbringungen der von Lenz verachteten galanten Welt auch ständige materielle Anreize, sogenannte „Preise" (DtT, 501), die ihren Lerneifer fördern sollen. Ihr Heranwachsen gerät so zu einem geschäftlich organisierten, mechanisch funktionierenden Austausch zwischen der galanten Welt und ihrem Verstand, bei dem sie in dem Maß mit materiellen Gütern entlohnt werden, in dem sie ihre geistigen Ressourcen dem verderblichen Einfluß dieser Welt zur Verfugung stellen, respektive opfern. Beim jüngeren der beiden funktioniert dieser fatale Mechanismus denn auch wunschgemäß, wenn auch mit unvorhergesehenen, tragischen Konsequenzen für alle Beteiligten, da der kaltherzig gewordene Sohn seine Familie aus Gier und Eifersucht durch eine Intrige ins Unglück stürzt.198
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vier Banden (Nachdruck der Originalausgabe Stuttgart 1839). Bd. V/VI, Hildesheim/New York 1972, (Bd. VI, S. 82-89) S. 83. Vgl. hierzu auch Lenzens tiefgründigen Vergleich, mit dem er in seiner Prosa Moralische Bekehrung eines Poeten vor einem Übermaß an derlei Unterhaltung warnt: „Die menschliche Natur halt das immerfortwahrende Vergnügen eben so wenig aus als das Feld den ununterbrochenen Sonnenschein." (MB, 350) Ihr Vater, als Repräsentant und Förderer dieser künstlichen Welt des Scheins ist allem 'Natürlichen' (vgl. DtT, 504) gegenüber entsprechend ablehnend eingestellt („es taugt nit es verderbt"; DtT, 504). Mit dieser Haltung hat er auch den grundlegenden menschlichen Empfindungen wie Liebe und Mitgefühl entsagt, aber auch Tugenden wie etwa die Ehrlichkeit für sich ausgeschlossen; eine nicht nur für ihn weitreichende Entscheidung, deren Tragweite ihm erst dann bewußt wird, als die in Gang gesetzte familiäre Tragödie kaum noch abwendbar scheint. Just, sein jüngerer Sohn, verkörpert das logische Produkt seiner Erziehungsmethode. Angefüllt mit unnützem Wissen und ohne eigenes sittliches Vermögen, verlangt es ihm nach maximaler Befriedigung seiner Triebe, was ihn aus Neid und Begierde eine Intrige zur Vernichtung des älteren, in der Erbfolge ihm vorangehenden Bruders David ersinnen läßt. Dieser bildet den dritten Part in dem auch von Schiller beibehaltenen Beziehungsdreieck. David, der nicht zufällig den Namen des im Alten Testament als gottesfürchtiger Kämpfer gepriesenen jüdischen Königs trägt, bleibt in seines Vaters Sinne ungebildet und wird deswegen verachtet. Doch ist er als einziger der Akteure mit jenen Tugen-
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Auf welch vorbildliche Weise der Lerneifer Heranwachsender hingegen geweckt werden könne, demonstriert der Autor in seiner Prosadichtung Der Landprediger, in der das Ideal eines sich nicht nur um die geistlichen Belange seiner Gemeinde kümmernden Pfarrers aufgezeigt wird. Denn auch für das wirtschaftliche Wohl trägt der als Agronom und Handelsmann ausgebildete Pastor Mannheim Sorge - und nicht zuletzt für die qualifizierte Erziehung der „Jünglinge" seiner Gemeinde; damit sie nicht „durch Kriechen, oder sich an Schürzen hängen, sondern durch das Bewußtsein innrer Kräfte, in Ämter, oder zu Künsten" strebten (DL, 438). Sein Haus gestaltet er hierzu gleichsam in eine „Akademie der Künste und Wissenschaften" um, in der nicht nur seine Schüler, sondern auch „Künstler und Gelehrte" jederzeit ein Obdach finden (DL, 439). Der von ihm dort praktizierte Erziehungsstil ist wie bei Wenzeslaus im Hofmeister nicht auf das reine Vermitteln von faktischem Wissen ausgerichtet, sondern zielt auf eine weit höhere Verstandesebene, auf die Befähigung zu eigenem Vernunftgebrauch. Um diesen zu üben, gibt Mannheim Impulse, die die Neugierde des einzelnen wecken und damit jenen schon von Aristoteles als Urtrieb erkannten Motor aller Wissensaneignung in Gang setzen sollen: den auf Neugier basierenden Trieb nach Erkenntnis. Die Methode, der er sich dabei bedient, knüpft an jenen vom Autor so eindrücklich in seinen Vorlesungen199 beschriebenen Mechanismus an, daß gerade ein Verbot beim Menschen das Begehren nach Aneignung wecke:200
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den ausgestattet, die ihm gottgefällige Handlungen ermöglichen („Gott weiß am besten was in unserm ältesten jungen Herrn verborgen liegt"; DtT, 513): Indem er sein Elternhaus verläßt, wählt er die ihm natürlich zustehende Freiheit; er ist tugendsam, indem er mit den Menschen mitempfindet; er ist zur Liebe fähig, die er einer ihr eigentlich unwürdigen Frau schenkt, der ihm unerreichbar erscheinenden, oberflächlich tändelnden Brighella. Da ihn auch kämpferische Tatbereitschaft auszeichnet, läßt er sich vom preußischen Heer anwerben („Ich will streiten und fechten, daß Brighella lieben und karessieren kann." DtT, 505). Darüber hinaus verfügt er in besonderer Weise Uber jene von Lenz als Grundvoraussetzung eines sittlich vorbildlichen, gottgefälligen Lebens erkannten Elementartugend: Uber die auch das menschliche Urvertrauen auf Gott ausdrückende Demut (David, der auf sein Adelsprivileg verzichtet und nur als einfacher Soldat kämpfen will: „Ein Mensch der nicht von unten auf gedient hat, [...] kann es nie weit bringen"; DtT, 513). Gerade diese Haltung wird ihm vom Schicksal in der Stunde größter Not gelohnt, als ihn ein Deus ex Machina in der Gestalt eines Bauern - ein vom Dichter oft gebrauchtes Sinnbild des n a t ü r l i c h e n Menschen - vor dem sicheren Tode auf dem Schlachtfeld rettet. Der weitere Verlauf der nicht zu Ende ausgeführten Handlung wird durch dieses, einen Wendepunkt markierende wundersame Geschehnis absehbar. Ein zumindest für David positives Ende deutet sich auch deshalb an, weil der Vater, gepeinigt von seinem erwachenden Gewissen, aus Liebe und Sorge um den Erstgeborenen eine grundlegende innere Wandlung erfahren hat („Sänger und Sängerinnen, Zwerge und alles - den ganzen Spektakel - fort mit ihm [...] sie haben mich um meinen Sohn gebracht"; DtT, 519). Dort heißt es, Gott habe Adam und Evas Wunsch nach Erkenntniserweiterung 'in Bewegung setzen wollen', weshalb er ihnen hintersinnig das Pflücken des Apfels vom Baum der Erkenntnis ausdrücklich verboten habe. Vgl. PV, 15 Vgl. hier unter dem Begriff „Gesetze".
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Er hatte den Grundsatz, daß alles, was aus dem Menschen wird, aus ihm selber kommen muß und daß seine Erzieher aufs höchste nur als Stahl dienen müssen, etwas aus ihm herauszuschlagen. Zu dem Ende gab er wohl Acht, daß der Bube [sein jeweiliger Schüler] in seiner Studierkammer, wo er ihm einige Bücher wie von ungefähr hingelegt, auch wohl gar diejenigen anzurühren aufs strengste verboten hatte, von denen er am liebsten wünschte, daß er sie läse[.] (DL, 451) Hatte Lenz sein Desiderat nach einer umfassenden Reform der Bildung Heranwachsender zunächst hauptsächlich im Rahmen seiner Dichtungen artikuliert und in seinen Predigten bzw. Aufsätzen sich dieses Themas eher nebenbei im Kontext anderer Gegenstände gewidmet, so verfertigte er 1780 hierüber eine grundlegende Schrift, in der er die mit seiner Forderung bislang eher verstreut vorgetragenen Überlegungen prägnant zusammenfaßte. Motiviert worden war dieser im Dezember 1780 veröffentlichte Entwurf einiger Grundsätze für die Erziehung überhaupt, besonders aber für die Erziehung des Adels201 von seiner erfolgloser Bewerbung als Lehrer im russischen Schuldienst, was die vielfältig im Text an die russische Obrigkeit gerichteten Ergebenheitsadressen erklärt. Doch ungeachtet des aus diesem Adressatenbezug entspringenden, geradezu formelhaft erstarrten Bemühens, jeglichen Gedanken über Pädagogik mit einer dem russischen Staat dienenden Funktion zu begründen, führt Lenz doch auch Aufschlußreiches Uber den ihm als Quelle der Pädagogik anmutenden Gegenstand - die Natur - aus. Hierzu stellt er eingangs fest, der grundsätzlich freie Mensch habe keine andere Wahl, als sein ganzes Handeln an feststehenden „Grundsätzen" zu orientieren, sobald sein „Leben einen selbstgewählten Zweck" habe, da er nur so zum eigentlichen Menschsein gelangen könne („das einzige was es "das menschliche Dasein] von dem Leben des Tiers unterscheidet, das nach Instinkten handelt"; EeG, 830). Damit reflektiert er nicht etwa auf willkürlich festgelegte soziale Normen, wie zum Beispiel „Gesetze und Gewohnheiten", die ohnehin nur „das Äußere" bestimmten (EeG, 830). Vielmehr unterstreicht er abermals die Verbundenheit des einzelnen mit der Natur als Schöpfung Gottes, mit dem ihr innewohnenden, bereits vielfach erwähnten sittlichen Ideal, aus dem allein eben jene Grundsätze abgeleitet werden dürften, die „allein das Innere der Handlungen" (EeG, 831) bestimmen. Im konkreten Bezug auf die Erziehung Heranwachsender bedeute dies, daß das Individuum zur „Anerkennung einer Macht über" ihm erzogen werden müsse. Mit Blick auf den mit seiner Schrift verbundenen Zweck führt Lenz aus, daß er hiermit auch
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Lenz: Entwurf einiger Grundsätze für die Erziehung überhaupt, besonders aber für die Erziehung des Adels. - In: WB, Bd. 2, S. 830-837. Bei der Lektüre dieser Schrift assoziiert man unwillkürlich Intention, Form und Inhalte von Kants Kollegium über Physische Geographie. Denn hier wie dort wird - auch mittels vielfältiger anschaulicher Beispiele - hervorgehoben, wie wichtig die Kenntnis fremder Lander und das Wissen um Sitten und Historie der dort lebenden Völker für die Entwicklung des eigenen Landes sei.
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„die Ergebenheit" des Menschen „für seine Obern" meine, doch fährt er dann fort, daß diese Treue zur weltlichen Herrschaft lediglich die „Quelle" für die Ergebenheit gegenüber „der höchsten Macht" darstelle. Um Heranwachsende aber in derlei Weise erfolgreich zu unterrichten, bedürfe es entsprechend qualifizierter Erzieher, die vor allem über eine ausgeprägte Kenntnis der Literatur und über einen gereiften Geschmack verfügen mtißten, damit die Schüler Jemand haben, der mit ihnen liest, weil es ihnen an Unterscheidungskraft fehlt, denn übelverdaute Lektüre hat schon die verderblichsten Folgen angerichtet" (EeG, 833). Grundsätzlich sei es Aufgabe des Lehrenden, ebenso durch kritische Auswahl der Lektüre und lenkende Erklärungen wie aber auch durch eigenes vorbildliches Handeln „die jungen Leser bis ans Ziel" zu begleiten und „zur Nachahmung" anzuleiten (EeG, 834). Wichtig in diesem Zusammenhang ist der Hinweis, daß Lenz bei seinen Vorstellungen über eine erfolgreiche Unterweisung der Jugend nun ganz in der Tradition Rousseaus ausdrücklich „zwischen Unterrichten und Erziehen" unterscheidet. Ersteres gilt ihm dabei weniger, da schließlich Jeder" „Kenntnisse" unterrichten könne, „die uns nötig sind". Erziehimg hingegen sei „nur [durch] die Wirkung des Beispiels" möglich, (EeG, 835) bei der die „großen Züge" der „Seele" durch das „Bild" eines „Lehrers" (EeG, 836) herangebildet würden; - eines ganz im Sinne der Spätaufklärung wirkenden Lehrers wohlgemerkt, zu dessen Maßstäben Lenz Vernunftorientiertheit und Streben nach Glückseligkeit erhebt, indem er gegen Ende seiner Schrift ausdrücklich betont, daß nur „durch dauerndes Anhalten bei einem vernünftigen Plan [...] sich wahre Glückseligkeit und ihr Wachstum gedenken" ließen (EeG, 837). Welche Grundlagen - außer der pietistischen Schulpraxis sowie der von Kant proklamierten und in der Praxis erprobten pädagogischen Vorstellungen202 - haben diesen Standpunkt noch untermauert? Läßt sich bei Lenz wo202
Pädagogischen Fragestellungen hatte Kant erstmalig im WS 1776/77 eine eigene Vorlesung gewidmet, der er Basedows Methodenbuch zugrunde legte. In den nachfolgenden Semestern sollte er dieses Kollegium lediglich noch drei Mal abhalten. In ihnen entstandene Mitschriften stellte Rink für seine in Zusammenarbeit mit Kant 1803 besorgte Ausgabe von Kants Pädagogik zusammen (In: Kants Werke, Akademie-Ausgabe, Bd. IX, Logik. Physische Geographie. Pädagogik, Berlin 1972). Aus ihr seien an dieser Stelle einige grundlegende Standpunkte des Philosophen zitiert, die auch immer wieder in den für diese Darstellung relevanten Vorlesungsmitschriften anklingen und wie von Lenz in besonderer Weise rezipierte Lehrsätze anmuten: So stellt Kant fest, der Mensch besitze „von Natur einen großen Hang zur Freiheit", (Päd, 442) der seine „Wartung und Bildung" durch qualifizierte Erzieher notwendig mache, was allerdings nicht mit „Zucht und Unterweisung" zu verwechseln sei, derer nicht einmal ein „Thier" bedürfe (Päd, 443). Der Begriff der Erziehung - und nicht der des Unterrichts - steht auch bei Kant im Zentrum seiner vor allem auch Erkenntnisse Rousseaus reflektierenden pädagogischen Überlegungen, als deren Kernaussage gelten mag „Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht." (Päd, 443) Als oberste Ziele jeglicher Erziehung formuliert er sodann vier Kriterien, die es zu beachten gelte: So müsse der Mensch 1. „ d i s c i p l i n i e r t
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möglich eine Rezeption der erziehungstheoretischen Schriften des französischen Philosophen Claude Adrien Helvétius nachweisen, dessen Hauptwerk De l'Homme, de ses facultés et de son éducation203 im Europa des ausgehenden 18. Jahrhunderts nicht unwesentlich zur Modernisierung des Schulwesens beigetragen hat? Bereits ein oberflächliches Studium dieser Schrift macht denn auch auf zahlreiche grundsätzliche Parallelen aufmerksam, etwa was die der Erziehung zuerkannte gesamtgesellschaftliche Bedeutung anbelangt und die Betonung der Individualität, die es zu fordern gelte, sowie die Bevorzugung einer öffentlichen Erziehung vor der häuslichen. Doch stellen diese Parallelen keinen Hinweis auf eine von Lenz erfolgte Rezeption dar, läßt doch allein schon das Datum der Erstpublikation von Helvétius Abhandlung, das Jahr 1772, vermuten, daß die Thesen dieses Philosophen keinen unmittelbaren Einfluß mehr auf die Heranbildung seines zu diesem Zeitpunkt bereits entwickelten Standpunktes genommen haben. Dies scheint auch der Umstand zu belegen, daß sich in seinen Predigten, Aufsätzen oder hinterlassenen Briefen kaum Anzeichen für eine später erfolgte Rezeption finden lassen. Im Gegenteil, scheint Lenz doch das Wenige, was ihm über den in Frankreich lange verfolgten Philosophen bekannt gewesen ist, nur als negativ beurteilt zu haben. Dies scheint auch seine knappe Bezugnahme auf Helvétius in seinem um 1772 entstandenen Vortrag Über die Natur unsers Geistes zu bestätigen, wenn er dort im Kontext der für ihn zweifelsfrei bestehenden ethischen Bindung des Menschen an die der Natur zugrunde liegenden Ordnung abschätzig fragt, ob denn „die Helvetiusse und alle Leute die so tief in die Einflüsse der uns umgebenden Natur gedrungen" seien, tatsächlich „dieses Gefühl ableugnen" wollten, das die Natur „das aus ihnen gemacht hat was sie geworden" seien? (ÜdN, 620) Lenz scheint sich damit auf Helvétius in Frankreich wegen der in ihr enthaltenen Angriffe auf Religion und Politik verbotenen Schrift De l'esprit zu beziehen (1758, deutsch 1760), in der der menschliche Egoismus, die Selbstliebe (l'intérêt) und nicht das Gefühl, aus freien Stücken dem summum bonum zum Erreichen der Glückseligkeit nacheifern zu wollen - als einzige Ursache des menschlichen Handelns dargestellt wird. Im Kontext seiner Überlegungen über die notwendige Reform des öffentlichen Bildungswesens nennt Lenz jedoch vielfach einen anderen Name, auf den sich auch Kant in seinen Vorlesungen gerne bezogen hat: den des Johann
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werden", um zu „verhüten, daß die Thierheit [...] die Menschlichkeit" überlagere. 2. „ c u l t i v i r t werden", wobei Kant in diesem Kontext „Kultur" vor allem als vernunftorientierte „Belehrung und Unterweisung" begreift. 3. müsse Erziehung zur „ C i v i l i s i r u n g " des Einzelnen führen, worunter er „Manieren", .Artigkeit" und eine „gewisse Klugheit" faßt. Und als 4. und oberstes Ziel diene Erziehung der „ M o r a l i s i r u n g " , damit der Einzelne „auch die Gesinnung bekomme[...], daß er [ftlr sein Handeln] nur lauter gute Zwecke erwähle" (Päd, 449f). Auf Deutsch unter dem Titel Vom Menschen, seinen geistigen Fähigkeiten und seiner Erziehung erst 1877 erschienen. Die hier zugrunde gelegte Ausgabe wurde hrsg. von Günther Mensching, Frankfurt am Main: 1972.
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Bernhard Basedow. Seit den 50er Jahren des 18. Jahrhunderts durch zahlreiche philanthropische Schriften in Erscheinung getreten, in denen er unter vielerlei Bezugnahme auf Rousseau und auf der Basis einer 'gesunden Vernunft' die Grundzüge einer 'menschenfreundlichen' Pädagogik entworfen hatte,204 war Basedow 1771 vom Fürsten Leopold Friedrich nach Dessau berufen worden. Zur praktischen Umsetzung seiner erziehungstheoretischen Überlegungen gründete er dort 1774 das bald weithin bekannte Philanthropinum, das in Deutschland und der Schweiz zum Vorbild ftlr eine Vielzahl ähnlicher pädagogischer Anstalten werden sollte. Auf Kant hatte vor allem Basedows 1770 erschienenes Methodenbuch Eindruck gemacht, das ihm für den dritten Hauptteil seiner Vorlesung über Logik, in dem er über den 'gelehrten Vortrag' referiert, wertvolle Grundlagen vermittelte. Als besonderer Ausdruck seiner Wertschätzung mag aber gelten, daß der Philosoph seinem ab dem Wintersemester 1776/77 gehaltenen Kollegium über Praktische Pädagogik jene Basedowsche Schrift als Kompendium zugrunde legte, wobei jedoch nicht übersehen werden darf, daß Kant Basedow beileibe nicht in allen Fragen zu folgen bereit gewesen ist. So stand er zum Beispiel dessen schwärmerischer Glückseligkeitstheorie und der Bevorzugung spielerischer Elemente (anstelle eines strengen Pflichtbegriffs und der Würdigung der Arbeit) eher befremdet gegenüber. Es wundert deshalb kaum, daß Kant seine Studenten entsprechend nachdrücklich auf diese angeblichen Mängel jener ihm ansonsten vorbildlich erscheinenden Pädagogik hingewiesen hat. Auch bei Jakob Lenz wird diese eindringliche Mahnung - eingedenk des hohen Stellenwertes, den der Begriff der Pflicht in seiner Weltauffassung einnimmt - ihren Eindruck nicht verfehlt haben. Dennoch übt Lenz - dieser trotz seines Bemühens um größte Toleranz gegenüber allen Weltreligionen in der Konfessionsfrage weiterhin überzeugte Protestant - an ganz anderer Stelle Kritik, nämlich an Basedows auf Negierung der konfessionellen Schranken abzielendem Religionsverständnis. Dieses bezeichnet Lenz im Juli 1776 in einem Brief an den Leiter der Kolmarer Erziehungsanstalt denn auch als „Grille", die wohl „die meisten Eltern" davon abhalte, ihre Sprößlinge nach Dessau zu schicken. Daß diese unterschiedlichen Auffassungen der - offenbar gegenseitigen - Wertschätzung jedoch keinen Abbruch getan haben, dokumentiert der gleiche Brief, in dem Lenz - der mittlerweile von Goethe nach Weimar berufen wurde - von einer ihm durch Basedow eröffneten und (leichtfertig verspielten) berufliche Perspektive berichtet: Herr Basedow hat mir die Ehre angetan, mir einen Ruf als Schriftsteller ans Philanthropin zuzuschicken; ich mußte wirklich lachen über diese neue Art zu komplimen-
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Vgl. hierzu etwa sein Theoretisches System der gesunden Vernunft (1765), die Vorstellung an Menschenfreunde und vermögende Männer (1768) sowie sein Methodenbuch für Väter und Mütter der Familien und Völker (1770).
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tieren. Indessen hoffe ich dennoch von dieser Anstalt in unseren Gegenden viel Gu-
» r i205 tes[.]
Besserung der Welt Lenzens ständige Verurteilung des unseligen Einflusses unfähiger Lehrer und falscher Freunde korrespondiert mit seiner grundsätzlich pessimistischen Beurteilung seiner sozialen Wirklichkeit. In seinen 'Lebensregeln' drückt er diese durch die drastische Unterscheidung bewußt vernunftorientierter Individuen (die in Lage oder zumindest willens seien, „sich zu V e r r i c h t u n g e n e i n e s G e i s t e s zu entwickeln") von jenen hierzu Unwilligen aus, die er als dem „größten Haufen der menschlichen Tiere" (ML, 489) zugehörig abqualifiziert. Die Quantifizierung des letztgenannten Personenkreises als 'größten Haufen', also als Mehrheit innerhalb der menschlichen Gesellschaft, sowie ihre abschätzige Verurteilung als 'menschliche Tiere' könnte dergestalt interpretiert werden, daß Lenz im Grunde doch der zu Beginn dieses Kapitels dargestellten kirchlichen Lehrmeinung vom Urständ des Menschen folge, nach der Adam und Eva ihr Dasein im Paradies einst leichtfertig verspielt hätten und die ihnen Nachgeborenen deshalb für alle Zukunft im Zustand der Verderbtheit existieren müßten. Doch dies wäre zu kurz geschlossen, denn die von Gott eingerichtete und vom Individuum anzustrebende Ordnung sucht der Autor eben nicht in einem von der Menschheit in einer fernen Vergangenheit aufgegebenen paradiesischen Zustand. Statt einer verlorenen Idealwelt erkennt er die ihn umgebende Natur in ihrer so komplexen und widersprüchlichen Gegenwärtigkeit als Sinnbild von Gottes höherer Ordnung, in der der Daseinszweck des Individuums darin bestehe, sich selbst und damit seine soziale Umwelt entsprechend den moralischen Gesetzen stetig fortzuentwickeln, um zuletzt der Gewährung der Glückseligkeit würdig zu werden. Nicht die Frage, woher die Menschheit stamme, beschäftigt ihn, sondern einzig die nach ihrem Wohin; - was Winter zu der Feststellung führt, Jakob Lenz halte „an einem optimistisch-metaphysischen Denken in der Tradition von Leibniz und Wolff' fest.206 Daß Lenz dabei die Möglichkeit einer umfassenden Verbesserung der menschlichen Gesellschaft seiner unmittelbaren Gegenwart als nicht allzu hoch einschätzt, geht aus seiner Vorlesung Einige Zweifel über die Erbsünde hervor, in der er die ihn umgebende Welt mitunter als die einzig leibhaftig existierende Hölle zu interpretieren scheint. Jedoch führt ihn gerade diese Überlegung dazu, nachdrücklich zur Überwindung und Verbesserung ihrer negativen Teile zu ermutigen, auch wenn er mit nur gerin205 206
Lenz an Konrad Pfeffel, O.A., (Weimar, etwa Mitte Juli 1776). - In: WB, Bd. 3, S. 486f. Hans-Gerd Winter: 'Denken heißt nicht vertauben. ' Lenz als Kritiker der Außlärung. - In: Jakob Michael Reinhold Lenz. Studien zum Gesamtwerk, hrsg. von David Hill, Opladen 1994, (S. 81-96) S. 83.
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gem Optimismus an den Erfolg dieses Unterfangens glaubt. Denn in den Vorlesungen enden seine diesbezüglichen Überlegungen in der düsteren Prognose, die „Welt" müsse „sich in sich selbst" womöglich erst „zerstören", bevor die Menschheit einsehe, „es könne sich doch wohl in unser System ein Irrthum eingeschlichen haben"; nämlich der, man dürfe getrost das von Gott gegebene Tugendgebot ignorieren und angesichts des allerorten sich entfaltenden Bösen untätig „die Hände andächtig in unsern Schooß" legen (PV, 49). Doch hoffnungslos läßt ihn diese Perspektive nicht werden, wie er in seinen Meinungen eines Laien... verdeutlicht. Dort betont er, daß womöglich gerade aus diesem bedrohlichen Szenario dem einzelnen die Motivation erwachse, sich selbst und damit auch seine Umwelt im Sinne des sittlichen Ideals zu verändern. Und die Menschheitsgeschichte scheint zu dieser Hoffnung Anlaß zu geben, habe sich in ihr - so Lenz - „die Not" doch stets als „die große Lehrmeisterin" Aller erwiesen; (MeL, 535) eine Erkenntnis, die ihn in dem Glauben an eine vielleicht nur langsame, aber dennoch stete Verbesserung der Welt bestärkt, deren „Resultat [...] früher oder später, die höchstmögliche Glückseligkeit" sein werde (MeL, 549). Kant benutzt bei der Erörterung derselben Frage den Begriff der „Reihe", als die er die Entwicklungslinie der Menschheit begreift, und an deren Abschluß auch er den die Glückseligkeit gewährenden Gott vermutet (M, 205).207 Daß der Mensch - ungeachtet aller in ihm selbst liegenden Widerstände dieses letzte und höchste aller Ziele dereinst erreichen werde, dessen ist Jakob Lenz sich ebenso wie Kant gewiß. Diesem Optimismus liegt die Erkenntnis zugrunde, daß die Natur selbst die Keimzelle des hierfür notwendigen moralischen Triebes fest in jedem Individuum verankert habe („woher dies, wenn der Keim dazu nicht in der menschlichen Natur gelegen, Liebe zu seiner Gattung, Liebe zu seinen Jungen") sowie auch den unverzichtbaren Motor („ihre Vernunft"), der ihr ganzes sittliches Handeln, „ihr Räsonnement in Bewegung setzt" (SdL, 599). Dank dieser Erkenntnis offenbart die Welt sich Jakob Lenz als ein lebendiger Organismus, der in seiner Gesamtheit nicht grundsätzlich verdorben sein könne, so daß der Versuch einer nachhaltigen Besserung der negativen Teilbereiche als durchaus lohnend und erfolgversprechend erscheint.208
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Er bezeichnet diese dem Menschen vorherbestimmte Entwicklungsrichtung auch als das „physische Gesetz der Continuität" (M, 205). Bei Kant heißt es entsprechend, die „ganze Schöpfimg, oder die ganze erschaffene Welt" sei „in Ansehung des Willens Gottes das höchste erschaffene Gut. [...] Nun ist aber in Gott kein besserer Wille möglich, weil sein Wille der b e s t e i s t ; a l s o i s t a u c h k e i n e a n d e r e b e s t e W e l t m ö g l i c h ; f o l g l i c h i s t d i e s e d i e b e s t e [...] und die Uebel sind nur in den Theilen zu finden." (M, 344f)
Drittes Kapitel Transzendentale Ästhetik und pädagogisches Kunstverständnis Der Prediger Welche Konsequenzen zieht Jakob Lenz aus seiner erkenntnistheoretisch begründeten Schlußfolgerung, daß er als Individuum kategorisch zum moralischen Handeln verpflichtet sei und es sich durchaus lohne, gemäß dem persönlichen Vermögen und den sich bietenden Möglichkeiten einen Beitrag zum Versuch einer nachhaltigen Besserung der Welt zu leisten? Die Antwort gibt er, indem er sich im Anschluß seines Aufenthaltes in Königsberg zunächst vornehmlich die Rolle eines ambitionierten Predigers zu eigen macht, denn als nichts anderes als Predigten hat er den überwiegenden Teil seiner ab 1771 vor der Straßburger Sozietät gehaltenen Vorträge empfunden und sie so auch explizit bezeichnet.1 Auch dies dokumentiert, daß er vom Schwerpunkt seines Studiums her zwar dem ursprünglichen Wunsch des Vaters (der die Philosophie ablehnte) zuwider gehandelt, sich aber dennoch nicht weit von dessen religionspraktischen, dem Sohn als eigentlicher Daseinszweck vorgelebten Zielen und Inhalten entfernt hat. Denn Lenz knüpft konsequent an das ihm im Elternhaus vermittelte pietistische Missionsbestreben an und fuhrt auf diese Weise eine gleichsam säkularisierte pietistische Frömmigkeit mit dem ihm in Königsberg vermitteltem spätaufklärerischen Gedankengut in einer Synthese zusammen.2 Für deren Verkündigung bedient er sich der traditionellen Form
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An dieser Stelle sei daran erinnert, wie irreführend die von Damm in ihrer Werkausgabe verwendete Bezeichnung und thematische Differenzierung der Lenzschen Predigten und Vortrage als „Theoretische Schriften" ist, da ihr überwiegender Teil eben nicht mit der Absicht einer schriftlichen Publikation verfaßt, sondern primär als Redemanuskript konzipiert worden ist. Erst relativ spät gelangte Lenz in seinem Œuvre zur literarischen Form des Aufsatzes und verfaßte vor allem nach seiner 1774 erfolgten Hinwendung zum freien Schriftstellertum einige Beiträge etwa für Schlossers Frankfurter Gelehrte Anzeigen und Wielands Teutschen Merkur, die vornehmlich der Einfluflnahme auf aktuelle literarische Debatten (etwa über Goethes Werther und Herders Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit) gedient haben. Inwiefern Lenz das Predigertum in seinen nach 1771 verfaßten Dichtungen auch explizit thematisiert und welche religiösen bzw.theologischen Traditionen dabei anklingen, stellt Pautler ausführlich dar, wobei er jedoch von der zu Fehleinschätzungen führenden Prämisse einer intensiven Rezeption des Neologen Johann J. Spalding durch Lenz ausgeht (Pautler,
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der Missions-Predigt, die nicht an einem etwa durch eine spezielle Konfessions- oder Gemeindezugehörigkeit klar definierten Kreis von Zuhörern gerichtet ist; durch ihre inhaltliche Gestaltung und die mit ihr verbundene Intention unterscheidet sie sich grundlegend von der Gemeinde-Predigt, die einen eher bestärkenden als werbenden, einen überzeugenden und sammelnden Charakter besitzt. Es ist nur folgerichtig, daß Lenz diese Form der verbalen Wissens- und Ideenvermittlung - anders formuliert: der Erziehimg einer Hörerschaft - wählt, ist ihm die unmittelbare Wirkung des gesprochenen und nicht etwa des verschrifilichten Wortes doch von Kindheit an durch die im Zentrum der pietistischen Glaubenspraxis stehende mündliche Bibelauslegung wohlvertraut. Bei der formalen Ausarbeitung seiner in dieser Tradition stehenden Predigten kommen ihm aber nicht zuletzt auch die in Kants Kollegia vermittelten Grundlagen des gelehrten und belehrenden philosophischen Vortrages zugute.3 Hierüber hat Kant besonders in seiner Logik-Vorlesung ausgeführt,4 in der auch kunsttheoretische Überlegungen breiteren Raum einnehmen. Lenz wird dabei gerade Kants Favorisieren des gesprochenen Wortes vor jeglicher verschriftlichen Form als durch die eigene Lebenserfahrung in besonderer Weise bestätigt empfunden haben. Denn auch der Königsberger Philosoph wurde nicht müde, seine Studenten auf die unübertrefflichen Vorzüge der sokratischen sowie der platonischen „Lehrart" hinzuweisen, die der Wissensaneignung durch bloßes Lesen - für das der Mensch spezieller Anleitung bedürfe bei weitem überlegen seien („die sokratische [...] ist die [...] durch Gespräche
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339-373). Vgl. zu Lenzens Bezug zur Neologie hier Zweites Kapitel, II. 1 „Erbsünde", Anmerkung 45. Diese kamen Lenz auch bei der Vorbereitung von 'richtigen' Predigten zugute, die er obwohl nicht ordiniert - wiederholt in regulären Gottesdiensten hatte halten dürfen. Die letzten sind aus dem Sommer 1779 im Umfeld seiner erfolglosen Bewerbung um die Stelle des Pro-Rektors der Rigaer Domschule bezeugt. Vgl. hierzu besonders den Dritten Haupttheil. Vom gelehrten Vortrage. (In: L, 484-493.) Dieser umfaßt die vier Unterabschnitte Vom Gebrauch der Worte, Von der gelehrten Schreibart, Von einer gelehrten Rede und Von gelehrten Schriften. Dem dritten, Von einer gelehrten Rede, wurde in diesem Kontext von Kant die offensichtlich größte Bedeutung zugemessen. Darin wird in komprimierter Form und mit unmittelbarem Bezug auf den von ihm hochverehrten philanthropischen Pädagogen Johann Basedow Uber die beiden wesentlichsten „Requisiten" ausgeführt, deren ein Lehrer bedürfe, um in „Öffentlichen Vorträgen" erfolgreich die „Erziehung der Jugend" zu betreiben. So müsse man sich 1. „in die Stelle seiner Zuhörer" versetzen, da ein jeder nur belehrt werden könne „durch seinen eigenen Verstand". 2. müsse man gerade in „öffentlichen Vorträgen" Sorge tragen, daß das Dargebotene gleichermaßen „fllr fähige und schlechte Köpfe" geeignet sei, man also als geistiges Niveau „einen Mittelgrad wähle", damit alle Zuhörer „für sich was finden" könnten. Dabei gelte es anschaulich vorzutragen, mit vielen „Illustrationes und Similia", wobei auch an die „Erholung" der Hörer zu denken sei. Denn einen gelungenen Vortrag zeichne nicht zuletzt das Beherzigen der elementaren Erkenntnis aus, daß die „Gelehrsamkeit [...] die Quelle des Scherzes [zu] seyn" habe (L, 488).
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[...] die platonische [...] bestand in einer freyen Rede"; L, 482f). 5 Daß Kant schon zu Lenzens Studienzeit die auf diesen beiden Lehrarten aufbauenden wissenschaftlichen Vorträge streng von der klassischen Redekunst, der Rhetorik, unterschieden hat (gegen die er in späteren Jahren wegen ihrer Akzentuierung subjektiver und manipulativer Elemente immer stärkere Vorbehalte artikulierte), geht aus den hier zugrunde liegenden Vorlesungs-Mitschriften nicht explizit hervor.6 Die Ernsthaftigkeit seines aufklärerischen und nicht etwa - im pietistischen Sinne - missionarischen Anspruchs macht Lenz durch sein Bemühen deutlich,
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Kant ging in seinen Kollegia mitunter so weit, ausdrücklich vor dem Viellesen zu warnen, das in den meisten Fällen doch nur zu einer Fülle unnützen Zettelkastenwissens fìlhre. Statt dessen dürfe man sich gerade in der Philosophie lediglich wenigen Standardwerken widmen, doch müßten diese um so öfter gelesen werden, um sie auch wirklich zu verstehen („Allein um vielen Nutzen vom lesen zu haben, muß man wenig und gut lesen. Wer viel ließt behalt wenig. [...] Es giebt Wißenschaften wo die Besenheit eher schädlich als nützlich ist, z.B. die transcendentale Philosophie."; PE, 30). Es wäre eine eigenständige Untersuchung wert, Lenzens Vorträge (respektive Predigten) ausführlich auf die ihnen zugrunde liegenden rhetorischen Mittel hin zu untersuchen. An dieser Stelle sei aber lediglich daraufhingewiesen, daß schon bei oberflächlicher Analyse ihrer jeweiligen elocutio etwa das Befolgen der von Kant als unabdingbare „Requisiten" (L, 488) eines gelehrten Vortrages bezeichneten Ratschläge (siehe hier Anm. 4) auffällig ist. So der deutliche Versuch, sich auf einem 'mittleren' Niveau an das Publikum zu wenden, wodurch nicht zuletzt wegen der reichlichen Verwendung illustrierender Metaphern und einprägsamer Beispiele das jeweils behandelte, anspruchsvolle Thema auch für philosophisch weniger gebildete bzw. aufnahmefähige Köpfe anschaulich und verständlich gemacht worden ist. Auch fällt der unprätentiöse Stil Lenzens auf, der aufgesetzter Belesenheit und unwesentlichem Zitatwerk keinen Raum bietet; ein Sich-Beschränken auf wenige wesentliche Quellentexte sowie auf das eigene Verstandesvermögen, wie es vom Dozenten Kant stets gefordert und auch selbst praktiziert worden ist. Unterschieden sei hier allerdings der Schriftsteller Kant, dessen Schreibstil in der vorkritischen Epoche eher populär gehalten war, während vor allem seine erste Kritik sich dem Leser geradezu hermetisch verschließt. Bei seinem Schüler ist keine vergleichbare stilistische Diskrepanz zwischen dem Vorträger und dem Schriftsteller Lenz feststellbar. Bei ihm ergeben sich Unterschiede mehr in Fragen des argumentativen Vorgehens, der Verwendung grundsätzlicher rhetorischer Mittel sowie der auch wechselnden definitorischen Klarheit verwendeter Begriffe. Über die sprachlichen Charakteristika von Lenzens Bühnendichtungen sei hier auf die - trotz neuerer Untersuchungen etwa von Thorsten Unger - weiterhin aktuelle Studie von Eva Maria Inbar verwiesen, die den Autor als ,,shakespearisierende[n] Dichter" (Inbar, 177) charakterisiert und seine Schauspiele auf das sprachliche und bühnentechnische Vorbild des Engländers hin untersucht (vgl. 177-261). Mögliche sprachtheoretische Bezüge dieser Analyse zu Lenzens Vorträgen und Predigten und den in ihnen verarbeiteten Kantschen 'Requisiten' ergeben sich freilich nur indirekt. Hingegen bietet Inbar konkrete Bezüge zu den philosophischen Grundlagen Lenzens dar, etwa wenn sie seiner Darstellung von „Raum und Zeit" (230) ein Einzelkapitel widmet, (vgl. 230-240) wobei sie (ohne die erkenntnistheoretischen Hintergründe zu benennen) große Unterschiede zu Shakespeare feststellt, oder wenn sie die dramatische Funktion der Natur bei der Zeichnung der einzelnen Charaktere und deren jeweiligen Seelenzustände untersucht (vgl. 236ff). Einen anderen Ansatz hat der Philologe Unger gewählt, der Lenzens Arbeiten in Abgleich mit Gottsched untersucht und das Augenmerk auf die praktische Umsetzung des Begriffs des Handelns focussiert.
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in seinen Predigten nicht etwa nach Kräften dogmatische Wahrheit zu verkünden, sondern im besten Kantschen Sinne zu philosophieren. Entsprechend frei entwickelt wirken denn auch die von ihm dargebotenen Gedankenketten, in denen Lenz sich - mal mehr, mal weniger analytisch präzise und oft auch sehr schwärmerisch - mit Vorliebe den Grundsätzen der Sittenlehre widmet. Daß im Verlauf dieses Philosophierens Begriffe wie etwa Vernunft, Ordnung oder Gott auch in einer Weise verwendet werden, die den von ihm selbst vorgestellten Bestimmungen zuweilen widerspricht bzw. über diese hinausgeht, ergibt sich bei einer Argumentationsweise, die den Gedanken derart frei entwickelt, geradezu zwangsläufig. Und so stellt denn auch die hieraus öfters resultierende begriffliche Unscharfe in Lenzens Predigten ein von der Forschung vielmals beklagtes Charakteristikum dar. Aber auch in diesem Punkt steht der Schüler seinem Lehrmeister nicht fern,7 ist doch bei Kant, und nicht etwa nur in den Mitschriften seiner Kollegia, zum Beispiel was die Verwendung eines so zentralen Begriffs wie Gott betrifft, selbst in den für sein philosophisches System so elementaren Schriften wie den drei Kritiken manch inhaltlicher Widerspruch, manche philosophische Inkonsequenz augenfällig.
Forderung nach einer ethischen Kunsttheorie Erheblich geringeren Raum für derart begründete philosophische Mißverständnisse läßt Lenz bei seiner grundsätzlichen Verurteilung des von ihm als typisch menschlich erkannten Hangs zur Unvernunft.8 Dieser habe seit jeher die mei7
Daß der hieraus resultierende Stil von der Literaturwissenschaft oft bemängelt worden ist, hebt Martin Rector in seinem Aufsatz Uber Lenzens Poesie-Auffassung hervor, in dem er den Autor - ohne jedoch die Bezugspunkte zu Kants Redepraxis zu erkennen - ausdrücklich vor der ,,steifleinerne[n] Krtitik" in Schutz nimmt, die ihm seine allgegenwärtige Verwendung von ausschmückenden Metaphen, Allegorien und sinnfälligen Beispielen „seit jeher übel genommen" und ihm „mangelnde begriffliche Schärfe und gedankliche Zucht angekreidet" habe. Tatsächlich sei Lenzens Predigtstil streckenweise geradezu „rhetorisch fulminant" (Rector 1994-Π, 21). Weiterhin wendet er ein, man könne ihn jedoch auch nicht „pauschal als Tugend" anrechnen und einfach „unter die Sturm-und-Drang-Opposition gegen das 'tintenklecksende Säculum'" 'abbuchen'. Zur künftigen Verhütung derartiger Pauschalisierungen sei deshalb die längst überfällige „sprachliche Entzifferung der Texte" vonnöten, die sich der Analyse der verwendeten sprachlichen Mittel und der argumentativen Strategie widmen müsse (Rector 1994-Π, 11). Eine solche Untersuchung hätte den besonderen sprachbildenden und literarsoziologischen Einfluß des sozialen Umfeldes zu berücksichtigen, in dem Lenz aufgewachsen ist: dem des protestantischen Pfarrhauses. Vgl. hierüber insbesondere die grundlegende Studie von Albrecht Schöne: Säkularisation als sprachbildende Kraft (Göttingen 1968), in der das 'Phänomen des hohen Prozentsatzes von Pfarrerssöhnen in der Belletristik seit der Mitte des 16. Jahrhunderts' (vgl. dort, Klappentext) erörtert wird.
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Dieser Standpunkt darf nicht mit einer g e n e r e l l e n Verurteilung der Menschheit gleichgesetzt werden, die von Lenz deshalb als in ihrer Anlage positiv beurteilt wird, da sie die Schöpfung Gottes darstelle und demnach nicht schlecht s e i n könne, sondern wegen der ihr verliehenen Freiheit allenfalls schlecht zu h a n d e l n vermöge. Daß der Grad des eigenen Wohler-
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sten Individuen leichtsinnig ihre Chance zum Erreichen der Glückseligkeit verspielen lassen. Deshalb erkennt er eine nachhaltige Einflußnahme auf die Entwicklung Heranwachsender durch eine qualifizierte Erziehung als unverzichtbar, da ohne sie das Individuum niemals befähigt sein würde, sich erfolgreich dieser in ihm angelegten latenten Gefährdung zu erwehren. Als zeitgenössisches Symptom für die gesamtgesellschaftliche Dimension jenes individuellen Unvermögens, ungeleitet zur - kritischen - Vernunft zu gelangen, erkennt Lenz das vor allem in den deutschen Landen übliche Imitieren der französischen Lebensart und Kunst, auf das er die ihm allgegenwärtige sittliche Verdorbenheit zurückführt. Denn dieser französische Einfluß führe zu einem Reduziert-Sein auf Äußerlichkeiten, das die Relativierung aller ethischen Grundwerte in sich berge. Ein striktes Besinnen auf die Grundlagen der Moralität sei deshalb vonnöten, was Lenz - entsprechend seinen eigenen künstlerischen Neigungen - insbesondere für die Erzeugnisse der von der französischen Literatur angeblich vorwiegend negativ beeinflußten deutschen Dichtkunst fordert. Gerade sie bedürfe einer geistigen Neuausrichtung auf einer ausformulierten theoretischen Grundlage, um sich endlich im wahrhaft vorbildlichen Sinne entfalten und wirken zu können. Vorwurfsvoll wendet er sich deshalb an die Protagonisten der ihn umgebenden und ihm verachtenswert erscheinenden ,,galante[n] Welt"9 (SdL, 579), denen er bissig vorhält, es sei ihnen trotz all der in ihrer Epoche möglich gewordenen und von ihnen proklamierten Aufgeklärtheit bislang nicht annähernd gelungen, die Gegenwartskunst zu einem Träger der grundlegendsten ethischen Prinzipien gemacht zu haben, obwohl doch gerade deren Vermittlung das eigentliche Ziel jeglichen vor allem geistigen Fortschritts hätte sein sollen und sein müssen. Statt dessen habe sie sich wegen ihrer Morallosigkeit selber diskreditiert. Es mutet ihn „seltsam" an, daß dieses „Säkulum der Wissenschaften" noch keine dieser Aufgabe dienende „Theorie der schönen Künste" hervorgebracht habe, obwohl eine solche sich
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gehens in der vom Menschen gestalteten Welt vor allem vom i n d i v i d u e l l e n Verhalten abhänge und nicht etwa von äußeren gesellschaftlichen Einflüssen oder gar schicksalsbedingt sei, verdeutlicht er im Oktober 1772 in einem Brief aus Landau an Johann Daniel Salzmann. Denn grundsätzlich gehe es dem Einzelnen „gut in der Welt". Und weiter heißt es gemäß der ñlr alle geltenden Verpflichtung nach Verwirklichung des summum bonum, wodurch man sich dereinst der Glückseligkeit als würdig erweisen könne: es werde einem „in Ewigkeit gut gehen, so lang ich selbst gut bin" (in: WB, Bd. 3, S. 285). Hervorh. d.V. Lenz bezieht sich hier nicht auf die komplette Schöpfung, sondern - wie das durchaus Verachtung ausdrückende Attribut 'galant' verdeutlicht - lediglich auf einen bestimmten Teil der menschlichen Gesellschaft: dem höfischen, nach französischem Vorbild gekünstelten. In seiner um 1774 entstandenen Hommage für Goethes Götz von Berlichingen verstärkt er diesen Gegensatz von natürlicher und galanter Welt noch, indem er hervorhebt, nirgends sonst als „im Schöße der Natur" könne „der rechtschaffene Mann sicherer und freier atmen" (ÜG, 636). In seinem Vortrag Über Ovid faßt er im Folgejahr seine Verachtung der 'galanten Welt' in die prägnante Formel, man könne von einem „Schuster" ebensowenig verlangen zu „schneidern", wie „vom galant-homme er sollte auch seinen Namen schreiben lernen." (ÜO, 707)
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doch leicht ebenso „aus der Bibel [...] wie aus dem großen Buche der Natur" „abstrahieren" ließe.10 (SdL, 579) Damit gibt Lenz ein Verständnis von Literatur zu erkennen, das als Charakteristikum und Aufgabe der Dichtkunst das Hinführen des einzelnen zum natürlich Schönen, zu Gott, - zum vernünftigen Handeln versteht. Denn Kunst berge in sich eine „Schönheit, die wie Gott ewig und unveränderlich sei, sich an keines Menschen Gefühl binde[...], sondern in sich selbst die Gründe und Ursachen ihrer Vortrefflichkeit und Vollkommenheit" trage (SdL, 580). Eine „qualitas occulta"(SdL, 579),11 wie Lenz sie bezeichnet, die ihren Wert aus dem Maße gewinne, in dem sie der Darstellung und Vermittlung des summum bonum, des mittels der Heiligen Schrift und der Natur (als Werk Gottes) dank der Vernunft erschließbaren sittlichen Ideals diene. Einer mimetischen, keiner schöpferischen (oder im Sinne Goethes prometheischen) Kunstauffassung folgt Lenz damit,12 wobei er vor allem die Literatur als Reflexionsmedium und Vermittlerin des mit Gottes Schöpfung verbundenen Willens begreift und sich damit - wie Hans-Günther Schwarz erkannt hat - an den Beginn einer zum literarischen Realismus hinführenden Tradition stellt.13 All jenes aber, das von der galanten Gesellschaft bislang als „die Kunst" hervorgebracht worden sei und dieser Maxime nicht folge, und - mehr noch vorgebe, selber welterschaffend wirken zu können, führe die Menschen nur „auf krumme Wege" (SdL, 613). Eine solche Kunst verstoße gegen die „Regeln" Gottes und generiere, anstatt der Natur „treu" zu sein,14 eine Art „Su-
10 Dieses Hervorheben der Bibel bedeutet jedoch nicht, daß Lenz die Theologisierung der Ästhetik angestrebt habe. Die Auseinandersetzung mit religiösen Grundfragen stellt fllr ihn vielmehr stets einen im spätaufklärerischen Sinne philosophischen Vorgang dar. So schreibt er hierzu im Oktober 1772 an Johann Daniel Salzmann, er sei im Laufe der Zeit „ein Christ geworden"; geworden, also nicht schon seit jeher gewesen, denn zuvor hätten ihn stets große Zweifel („an allem") geplagt. Doch habe er diese dank „einer Überzeugung" überwinden können, „einer philosophischen, nicht bloß moralischen". Weshalb ihn dies zum Christen gemacht habe? Weil der „theologische Glaube [...] das complementum unserer Vernunft [sei], das dasjenige ersetzt, was dieser zur gottgefälligen Richtung unsers Willens fehlt". „Je mehr sich aber unsere Vernunft entwickelt (das geht bis ins Unendliche), desto mehr nimmt dieser m o r a l i s c h e Glaube, der in der Tat mehr in den Empfindungen als in der Erkenntnis gegründet ist, ab und verwandelt sich in das Schauen, in eine Überzeugung der Vernunft. [...] dieses [gem i. d. moralische Glauben] müssen wir viel mehr suchen in Erkenntnis und Anschauung zu verwandeln, weil, nach der Ordnung Gottes, unser Wille [zur Realisierung des sittlichen Ideals] sich nach unserer Erkenntnis richtet." (In: WB, Bd. 3, S. 293f) 11 Im Original hervorgehoben. 12 Erinnert sei hier an Lenzens Vorlesungen, in denen der Autor über die 'objektive' oder auch 'ideale' Schönheit ausftlhrt, sie sei erst erreicht, wenn „die höchste U e b e r e i n s t i m m u n g [Hervorh. d.V.] der Theile untereinander zu ihrem eigenen Ganzen" verwirklicht werden könne (PV, 3). 13 Hans-Günther Schwarz: Dasein und Realität. Theorie und Praxis des Realismus bei J.M.R. Lenz. - Bonn 1985. 14 Seine mimetische Kunstauffassung drückt Lenz um 1774 besonders einprägsam in seiner Rezension über Goethes Götz von Berlichingen durch die rhetorische Frage aus, wo sonst
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pernatur", die das eigentlich Schöne nicht reflektiere und das Individuum auch nicht zum Nacheifern anhalte. Statt dessen würde sie - so Lenz in Anlehnung an Kants Topos vom 'Ding an sich' - lediglich so etwas produzieren wie „schöne Natur, die das Ding besser verstehen will als Gott und alle seine Propheten" (SdL, 613). Zu dieser „Kunst" („wie das Wort heut zu Tage mißbraucht wird") sei der zum sittlichen Handeln bestimmte Mensch jedoch nicht „gemacht". Vielmehr trage jeder einzelne kraft der ihm natürlich verliehenen Freiheit „seine Kunst in sich. Seine Kunst zu leben, seine Kunst, andern Menschen nützlich zu werden, denn den Trieb fühlen wir doch alle in uns" (SdL, 613f). Demnach besitze wirkliche Kunst ebenfalls eine ihr eigene Bestimmung, nämlich die des Vermitteins der moralischen Grundwerte. Das sei eine jeden Künstler verpflichtende Aufgabe, deren striktes Befolgen den einzigen Weg eröffne, um dem wahrhaft Schönen gerecht werden zu können, um sich dereinst der Glückseligkeit als würdig zu erweisen. Eingedenk dieser Einschätzung mutet Lenzens allmähliche Entwicklung vom Prediger- zum Künstlertum15 nicht wie eine Metamorphose an, sondern wie eine logische Fortführung der alten missionarischen Absichten unter lediglich formal geänderten Bedingungen.16 Der Autor selbst äußert sich 1777 hierüber in seiner Prosadichtung Der Landprediger, in der er sein literarisches Alter Ego einen vergleichbaren Entwicklungsschritt vom reinen Predigertum zum Dichter vollziehen läßt und dies auf der Grundlage eines missionarischen Anspruchs begründet. So sei der Schritt zur „Autorschaft" für einen Geistlichen doch ein ganz natürlicher, hätten diese doch bereits vor „alten Zeiten Postillen" geschrieben.17 Nun aber, „als der Postillen zu viel waren" („Christen „der Genius [denn] ein anderes, höheres, tieferes, größeres, schöneres Modell" fllr seine Werke vorfände, wenn nicht in „Gott und seine[r] Natur" (ÜG, 639). 15 Diese Formulierung fußt auf der quantitativen Dominanz, die Lenzens moralphilosophische Vorträge respektive Predigten in seinem Œuvre zuerst eingenommen haben, während mit seinem 1774 aufgenommenen Versuch, eine freie Schriftstellerexistenz zu führen, dann zunehmend Dichtungen zum Schwerpunkt seines Werks geworden sind. 16 Daß Lenz sich auch nach 1774 noch als missionarischer Prediger empfunden hat, verdeutlicht zum Beispiel sein um 1775/76 entstandenes Gedicht Der verlorene Augenblick / Die verlorene Seligkeit, das er im Untertitel explizit als eine Predigt bezeichnet, die die biblische Textstelle „Die Mahlzeit war bereitet, aber die Gäste waren ihrer nicht wert" behandele. Das Zitat stammt aus NT, Matt. 22, 2-14 (in: WB, Bd. 3, S. 139-142). 17 Er spricht hier ein für den Protestantismus insgesamt typisches Phänomen an: das besondere Verhältnis des Pfarrhauses zur Schriftstellerei, das über Jahrhunderte einen hohen Prozentsatz von Pfarrerssöhnen zur Dichtkunst hingeführt hat. Zu nennen seien unter anderem Gryphius, Postel, Schnabel, Bodmer, Gottsched, Geliert, Lessing, Wieland, Claudius, Lichtenberg, Bürger, Jean Paul, Schlegel, Nietzsche, Benn - und natürlich Lenz. Verwiesen sei hierzu insbesondere auf die Studie von Albrecht Schöne: Säkularisation als sprachbildende Kraft, in der durch einen einführenden Überblick sowie fünf Fallbeispiele der enge Bezug der „väterlichen Studierstube" (Schöne, 18) bzw. der Kanzel zur späteren literarischen Entwicklung der Söhne aufgezeigt wird. Zu den von Schöne Porträtierten zählt - außer Gryphius, Gotthelf, Bürger und Benn - zwar auch Lenz, doch sei vor allem auf die umfangreiche, weiterhin aktuelle und erkenntnisreiche Einführung (S. 7-36) verwiesen.
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zu allen T a g e n und Z e i t e n des Jahrs"), habe dieses Medium durch seine allgegenwärtige Präsenz an Wirksamkeit verloren, - zumal auch und gerade die „Buchhändler" sie nicht mehr wollten. Warum also - gibt Lenz zu bedenken - „sollte ein Prediger nicht auch durch Romanen und Schauspiele nützen können, wie durch Predigten und geistliche Lieder?" Schließlich müsse der „Nutzen" daraus „noch weit größer sein, weil dergleichen Bücher in weit mehrere Hände kommen, weit begieriger gelesen werden, wenn es dem Verfasser an Witz nicht mangelt" (DL, 443).
Schamhaftigkeit und allegorisches Frauenbild Daß Jakob Lenz bei den Künstlern seiner Epoche eben jenen Witz, jene Verstandeskraft schmerzlich vermißt, daran läßt er besonders in seinen Vorträgen und Dichtungen des Jahres 1774, dem Jahr seiner Hinwendung zum freien Schriftstellertum, keinen Zweifel.18 Doch außer der Intention, dadurch auch die eigene Stellung im Kunstbetrieb zu definieren und seine Arbeiten in der vielfältigen Konkurrenz anderer Autoren zu positionieren, artikuliert er durch dieses Urteil auch die in ihm weiterhin wirkende Prägung durch die dem Pietismus eigene Kunstfeindlichkeit. Diese niemals ganz überwundene Tradition erklärt auch zu einem guten Teil Lenzens schon um 1771 formulierte, geradezu wütende Abqualifizierung der ihm gerade in Fragen der Liebe und der Geschlechterbeziehung viel zu beliebigen Gegenwartsliteratur, der er in schärfsten Worten (doch ohne einzelne Autoren zu benennen) in seinen vermutlich noch in Königsberg verfaßten 'Lebensregeln' ihre - französische - „Unmäßigkeit und Zügellosigkeit bei [der] Befriedigung [der] menschlichen Begierde" (ML, 488) vorhält. Denn statt die „Phantasei von allen wollüstigen19 Vorstellungen [zu] befreien" und die Leserschaft zu vernünftigem Handeln anzuleiten, konfrontierten viele „Schriftsteller" das Publikum mit ,,böse[n] Bilder[n] und Irrlichterfn]", indem sie „den keuschen Schleier vor dem Angesicht eines Geheimnisses wegreißen, das fürs menschliche Geschlecht die höchste Glückseligkeit, aber auch das höchste Elend aufbehält" (ML, 489). Entsprechend seiner zu diesem Zeitpunkt noch wenig ausgeprägten Lebenserfahrung, die ihn in späteren Jahren etwas nachsichtiger urteilen lassen wird, formuliert der erst knapp 20-jährige denn auch kategorisch:
18 Etwa in seinem während dieser Zeit entstandenen Gedicht Über die deutsche Dichtkunst (in: WB, Bd. 3, S. 115-117), in dem er ausgiebig den ihm beklagenswert anmutenden Zustand seiner Heimat beklagt („O traure, traure Deutschland [...] Deutschland, armes Deutschland"; 115), die nicht im Begriff zu sein scheine, einen „Homer", „Dante" oder „Shakespear" (115) hervorzubringen, sondern statt derlei 'Blumenzier' (vgl. 116) auf ,,kranke[n] Stengel[nj" allenfalls „matte Blüten" (115). 19 Wollust versteht der Autor als Synonym für das Böse und die Unmoral.
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Seit dem die Schamhaftigkeit aus unsern Büchern und Gesellschaften entflohn ist, gibt's auch keine wahre Freude und Glückseligkeit auf dem Erdboden mehr. Es zeigt eine große Armut an Scherz und Witz an wenn man Sachen zu ihrem Gegenstande macht, die nicht ernsthaft und wichtig genug können behandelt werden, die Adam und Heva schon aus Furcht vor Gott mit Blättern bedeckten, und die ewig bedeckt bleiben sollten, wenn wir nicht mit aller galanten Galanterie zum Vieh herabarten wollen, das sich ohne Ordnung und Regel bespringt, w o es sich antrifft und in heißer Brunst seine Geister verhaucht eh sie noch haben, sich zu V e r r i c h t u n g e n e i n e s G e i s t e s zu entwickeln. (ML, 489)
Doch auch bei Kant finden wir eine vergleichbare Verurteilung der angeblich primär an der Bedienung fleischlicher Begierden orientierten GegenwartsDichtkunst. Dies jedoch nicht etwa in den hier interessierenden Mitschriften seiner Kollegia, sondern in seiner 1764 veröffentlichten Abhandlung Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen. In diesem Text, in dem der Philosoph - gemäß der üblichen Praxis seiner Zeit - das, was wir heute als das Ästhetische begreifen, in die Begriffe des Schönen und des Erhabenen unterscheidet,20 warnt Kant eindringlich vor jenem „derben Geschmack", der sich „zu nahe auf den Geschlechtstrieb" beziehe: vor der ungehemmten Begierde des „ w o l l ü s t i g e n " Mannes, die, da sie „außer dem Bezirke des feinern Geschmackes" stehe, dem wahrhaft Schönen entgegen wirke (BGS, 237). Auch Lenzens Ablehnung des französischen Einflusses auf die deutsche Dichtkunst und Lebensart ist bereits von Kant vorweggenommen worden, denn dieser diagnostiziert im späteren Verlauf der eben genannten Schrift (bei der Beschreibung der unterschiedlichen Nationalcharaktere) beim Deutschen außer durchaus negativen Eigenschaften wie jene, „wetterwendisch" und oft „falsch gekünstelt" zu sein - mehr „Bescheidenheit und Verstand" als beim Franzosen. Auch beschäftige sich ersterer - indem er „methodisch" das „Schöne mit dem Edlen" verbinde - intensiver „mit den Überlegungen des Anstandes" (BGS, 248), womit Kant eine ihm als typisch deutsch geltende Eigenschaft benennt, deren scheinbar gänzliches Fehlen er vor allem bei den französischen „Frauenzimmern" bemängelt. Und denen gilt sein besonderes Augenmerk, glaubt er doch, sie seien im Nachbarland der „Gegenstand, auf welchen sich die Verdienste und NationalfMhigkeiten dieses Volkes am meisten
20 Als das Schöne begreift Kant - in aller gebotenen Verkürzung - hier in erster Linie einen sinnlich erfahrbaren Reiz, der nach dem menschlichen Empfindungsprinzip von Lust oder Unlust wahrgenommen und beurteilt werde. Ebenso wie das Gefühl des Erhabenen, das keinen Reiz, sondern eine Rührung des menschlichen Gemüts darstelle, werde es als angenehm empfunden. Im Gegensatz zum Erhabenen könne das Schöne auch einer artifiziellen Quelle entspringen, es „kann geputzt und geziert sein", (BGS, 210) während das Erhabene sich als geistige Qualität gerade dem an äußeren Formen und Begrenzungen interessierten Sinneninteresse durch seine wörtlich zu verstehende Formlosigkeit entziehe.
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beziehen". Denn offensichtlich sei, daß „allein [...] die Dame" in Frankreich „den schönen Ton anfgebe]", wofür er als Beleg ausführt: (BGS, 246) Nach dem französischen Geschmack heißt es nicht: Ist der Herr zu Hause?, sondern: Ist Madame zu Hause? Madame ist vor der Toilette, Madame hat Vapeurs (eine Art schöner Grillen); kurz, mit Madame und von Madame beschäftigen sich alle Unterredungen und alle Lustbarkeiten. (BGS, 246, Anm.)
Im täglichen Leben wie auch in der Kunst führe dies aber, außer zur Unmoral, auch zwangsläufig zu Langeweile, sei doch Allgemeingut, daß nichts „so sehr verekelt als lauter Süßigkeit" (BGS, 246). Mehr noch als diese Langeweile ekelt Kant jedoch, daß die Süßigkeit in Gestalt eines jederzeit 'tändelnden' (vgl. BGS, 247) Frauentypus' daherkomme, der grundsätzlich jegliches „Gefühl sowohl der wahren Achtung als auch der zärtlichen Liebe" entbehre, wodurch „das Frauenzimmer" nun „gar nicht mehr geehrt" dastehe (BGS, 247, Anm.). Kants Kritik zielt über die nationale Herkunft hinaus jedoch ins Grundsätzliche, denn an zahlreichen Stellen seines Œuvres weist er auf seine diesem Urteil zugrundeliegende grundsätzliche Antipathie hin, daß - unabhängig von der nationalen Herkunft - derlei 'französische' Verhaltensweisen das elementare Unvermögen des weiblichen Geschlechts zum angemessenen Gebrauch des Verstandes aufzeigten. In seinen Dichtungen zeichnet Lenz ein ähnliches, epochentypisches Bild, wenn er seine weiblichen Protagonisten überwiegend als Repräsentanten blinder Leidenschaftlichkeit und Schwärmerei zeichnet, während er die ordnende, konstruktive und vor allem eine höhere Moral realisierende Kraft vernunftorientierter Erkenntnisse und Entscheidungen bevorzugt in männlicher Gestalt auftreten läßt. In seinem noch in Königsberg entworfenem Drama Der Hofmeister folgt der Autor diesem durch Kant legitimierten negativen Frauenverständnis, indem er die weibliche Protagonistin Gustchen als - nach französischem Vorbild ewig tändelnde und von ihren unbeherrschten Gefühlen Getriebene darstellt, deren stete Unvernunft nicht nur den zum willfährigen Objekt ihrer Leidenschaft erkorenen Hofmeister Läuffer, 21 sondern vor allem sie selbst, ins Unglück stürzt. In späteren Dramen sollte der Autor diesem Frauentypus als gleichgeschlechtlichen Antagonisten den Typus einer sittsamen, explizit 'englischen' Frau gegenüberstellen (verkörpert etwa in Der neue Menoza und Die Soldaten durch die Bürgertöchter Wilhelmine und Mariane). Im Hofmei-
21 Auch Läuffer vermag schließlich, sich erfolgreich dem Einfluß der den Verstand blind machenden Leidenschaft zu entziehen, - wenn auch erst durch die rigide Methode der SelbstKastration. Daß Lenz durch die auch autobiographisch intendierte Gestalt Läuffers in erheblichem Maß eigene Unsicherheit und Unvermögen verkörpern läßt, verdeutlicht die Beschreibung des Hofmeisters als ehemaligen Königsberger Studenten, während der uneingeschränkt als Vorbild aufgebaute Fritz von Berg nicht zufällig als Student in Halle an der gleichen Universität weilt, die einst Lenzens Vater besucht hatte.
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ster hingegen wird dieser gleichgeschlechtliche Gegenpol noch nicht dargestellt, vielmehr figuriert als Gegenposition zu Gustchen der auch geschlechtlich streng von ihr unterschiedene, sie trotz allem liebende Fritz von Berg. Als erfolgreicher Student der vormals pietistischen Hochburg Halle weiß er sittliche Standfestigkeit und spätaufklärerische Vernunft beispielhaft miteinander zu verbinden und dank seiner hieraus entspringenden Befähigung zu ethischen Handlungen schließlich auch Gustchens tragisches Schicksal und das ihres unehelichen Kindes zu wenden, so daß das Stück am Ende doch noch in einem versöhnlichen Tableau endet.22 Ein etwas nachsichtigeres Frauenbild hatte Lenz in seinem als Schüler verfaßten dramatischen Erstlingswerk Der verwundete Bräutigam demonstriert, in dem er die Protagonistin Lenchen noch mit allen an Lessings Frauengestalten gemahnenden Attributen der sogenannten Empfindsamkeit ausgestattet hat. Bedingungslose Liebe, bis zur ungezügelten Leidenschaft gesteigerte Gefühle23 und Bereitschaft zur Selbstopferung sind hier markante Wesensmerkmale des zumindest bedingt als positiv beurteilten weiblichen Geschlechts, dessen ausgeprägten Hang zum „übermäßigen Schmerz" und zur „Wut [der] Affekte" (DvB, 27) der Autor allerdings schon mit Strenge bemängelt. Als geistiger und damit andersgeschlechtlicher Gegenspieler, jedoch nicht etwa im Sinne eines wie im Hofmeister konstruierten Widerparts agiert ihr Verlobter, der Freiherr von Schönwald, der ein noch in der Lessingschen Tradition stehendes Vorbild rationaler Vernunftorientierung abgibt und dadurch einen männlichen Typus des Bürgerlichen Trauerspiels repräsentiert, den der Autor nicht beibehalten wird.24 22 Zuvor ist jedoch erst die Versöhnung des in seiner selbstgerechten Strenge moralisch fehlhandelnden Vaters mit seiner entehrten Tochter Gustchen notwendig, für die Lenz die moralische Bekehrung des Familienoberhauptes inszeniert: Der rettet durch eine mutige, selbstvergessene Tat einer vermeintlich fremden Frau, einer Selbstmörderin, das Leben, - die sich schließlich als seine eigene Tochter entpuppt (vgl. DH, 93). Das gleiche Szenario entwirft der Autor in den Soldaten, wenn der in seiner Selbstgerechtigkeit erstarrte Galanteriehändler(!) Wesener erst dann wieder zu seiner Tochter Mariane findet, als er - nach einem Akt großer Selbstüberwindung - einer Bettlerin hilft, die sich als niemand anderer als seine Tochter herausstellt (vgl. DS, 244f). Dieses Selbstzitat des Dichters ist auch deswegen aufschlußreich, da es veranschaulicht, wie sich seine einmal in Königsberg entwickelten philosophischen Erkenntnisse als roter Faden durch sein gesamtes, in die wenigen Jahre zwischen ca. 1770 und 1777 komprimiertes literarisches Schaffen ziehen. 23 Als männliches Negativ-Beispiel für die tragischen Folgen ungezügelter Leidenschaft und irrationaler Schlußfolgerungen fungiert der Kammerdiener Tigras, der von seinem falsch verstandenen Ehrgefühl zum Verbrechen gegen den Freiherrn von Schönwald getrieben wird (vgl. hier Zweites Kapitel, I, „Empfindung vs. Gefühl..."). 24 In den in bzw. nach seinem Studium entstehenden Vortragen, Aufsätzen und Dichtungen unterscheidet Lenz das männliche Geschlecht in zwei gegensätzliche Charaktertypen: In den Typus „Mann", (ÜG, 640) den er wegen seiner herausragenden Qualitäten gegenüber dem anderen Typus, dem des von der galanten Welt herangebildeten „Herren", (ÜG, 641) klar favorisiert. Dieser Betonung der 'Mannbarkeit', die ihn die Verkörperungen des ersten Typus' auch bewundernd als 'Kerle' bezeichnen läßt („das sind Kerls"), (AüT, 668) liegt jedoch nicht
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Lenz überträgt also - wie Wolfgang Riedel formuliert - die „Antithetik von Natur und Kultur respektive Sinnlichkeit und Vernunft auf den Unterschied von Frau und Mann".25 In diesem bereits von Rousseau formulierten Gegensatz, der typisch fur den anthropologischen Diskurs der Spätaufklärung ist, figuriert das weibliche Geschlecht als reine Körperlichkeit, dem - aus typisch männlicher Perspektive - ebenso elementare intellektuelle wie auch moralische Mängel unterstellt werden. In Lenzens Frühwerk führt dies durch die Akzentuierung von Naivität und ungesteuerter Emotionalität noch zu einer nachsichtigeren Beurteilung, die sich im weiteren Verlauf seines Schaffens allerdings zur unnachsichtigen Verurteilung der angeblichen Triebbindung der Frau steigert und ihn die weiblichen Protagonisten vor allem seiner Dramen als Allegorie der in der Natur angelegten menschlichen Disposition zum Bösen zeichnen läßt.26
Die Aufgabe der Kunst Für Lenzens 1774 erhobene Forderung nach einer grundlegenden 'Theorie der schönen Künste', die sein Jahre zuvor im Hofmeister dichterisch vorgebrachtes Werben für eine Erziehung zum sittlichen Handeln in einer allgemeingültigen, philosophisch und ästhetisch abgesicherten Weise ausdrücken sollte, finden wir bei Kant keine Entsprechung. Zumindest gilt dies für die hier in Frage kommenden Vorlesungsmitschriften, in denen sogar ein völlig entgegengesetzter
die Idealvorstellung des Mannes als einer bloßen Kraftnatur zugrunde. Vielmehr sei ein 'Herr' dann erst zu einem richtigen 'Mann' geworden (Lenz nennt hierfür als Beispiel etwa die Person des Werther aus Goethes gleichnamigem Brief-Roman; vgl. BtlM, 687), wenn er das „Kindische" abgelegt habe, wenn er also in der Lage sei, „Kraft, Geist und Leben" in sich zu spüren, „um mit Nachdruck zu handeln" (ÜG, 641). In seinen 'Werther-Briefen' betont Lenz, die menschliche Seele befinde sich erst dann in einem Zustand ,,glückliche[r] Harmonie", wenn die „starken und mannlichen Arbeiten" mit den „ausgewählten Vergnügungen der Einbildungskraft" (gem.i. vernunftbegründetes Denken) eine Synthese bildeten (BüM, 685). „O guter edler Jüngling, heiliger Werther! [...] Ein Werther muß viel getan und gelitten haben, eh er Werther zu sein anfangen kann" (BüM, 687). Auch hier existiert eine markante Parallele zu Kant, der in seinen Vorlesungen und Schriften stets ein Ideal der 'Mannhaftigkeit' gezeichnet hat, das sich nicht von körperlicher Kraft oder äußerlicher Heldenhaftigkeit, sondern von der das Handeln bestimmenden moralischen Gesinnung her ableitet. 25 Wolfgang Riedel: Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. - In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Hrsg. von Walter Erhart u.a., 6. Sonderheft, Forschungsreferate, 3. Folge. - Tübingen 1994, (S. 93-158) S. 118. 26 Riedel weist hierzu auf die zahlreichen theoretischen Schriften hin, die dieses 'männliche Phantasma' vor allem in der ausgehenden zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hervorgebracht haben (etwa Ernst Brandes Pamphlet Über die Weiber, Meiners' Geschichte des weiblichen Geschlechts, Fichtes „Bannflüche wider die weibliche Sexualität" Das System der Sittenlehre oder Schillers noch vergleichsweise 'hamlose' Würde der Frauen) und resümiert, „der Diskurs über den Menschen und seine Natur" habe als exklusiv „männlicher Monolog" stattgefunden (Riedel, 118f).
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Wunsch protokolliert ist. So erhebt der Philosoph etwa in seiner LogikVorlesung Einwände gegen G.F. Meier, den Verfasser des seiner Veranstaltung zugrunde liegenden Kompendiums, der in frühaufklärerischer Manier den Kunstbegriff vom Prinzip einer rationalen, vernunftmäßigen Erkenntniserweiterung abhängig gemacht und damit unmißverständlich definiert hat. Kants Ablehnung gegen dieses Vorgehen reicht über inhaltliche Kritikpunkte hinaus, sie ist elementarer, denn - so wendet er als Überleitung zu allgemeinen erkenntnistheoretischen Überlegungen ein - es dürfe „nicht alles defmirt werden", und schon gar nicht das soziale Phänomen der Kunst. Im gleichen Atemzug betont er die grundsätzliche Übereinstimmung jeder nur denkbaren Kunstform und dem, was in der Schule als „künstliche Lehrart" (L, 482) praktiziert werde, wodurch er die Kunst als eine - wie Meiers Kompendium auch vorgibt „Lehrart der gelehrten Erkenntniß" (L, 480)27 anerkennt und damit ihre auch von Lenz in besonderer Weise angenommene didaktische Funktion würdigt. Dank dieser Einordnung ist Kants Bemerkung über die zivilisatorische Dimension der Gelehrsamkeit, mit der er seine Logik-Vorlesung abschließt, denn auch direkt auf die Kunst im allgemeinen wie auf die Literatur im speziellen zu beziehen: In ihr stellt er fest, es sei der „letzte Zweck der Gelehrsamkeit", „dem menschlichen Geschlecht die wahre Form zu geben, es von Vorurtheilen zu befreien, die Sitten zu verfeinern und die Seelenkräfte zu erhöhen" (L, 496). Dem entspricht Lenz mit seiner Erkenntnis, daß nur „unser Unglaube an die Menschheit macht, daß sie so böse ist" - respektive böse bleibt (DL, 462). Über den sich hieraus ergebenden Erziehungsauftrag der Kunst hinaus weist Kants strikte Ablehnung eines weitergehenderen Defmitionsversuches auf ein Kunstverständnis hin, das sich in den frühen 70er Jahren offenbar noch nicht allzu weit von seinen eigenwilligen Auffassungen der 60er Jahre entfernt hat. So zählte er während seiner Magisterjahre unter anderem das Vermögen zu möblieren und sich zu kleiden ebenso wie die Feuerwerkerei und die höfische Tradition, ein Gefolge prächtig anzuordnen, zu den sogenannten schönen Künsten. Noch 1790 findet diese ambivalente Auffassung ihren Ausdruck in seiner dritten Kritik, der Kritik der Urteilskraft, in der nun auch die 'Farbenkunst' sowie die 'Lustgärtnerei' in den dort vorgestellten Kunstbegriff einbezogen werden. Es wäre allerdings ein Fehlschluß, hieraus bei Kant - obgleich er selbst den in Königsberg vorhandenen Sammlungen bildender Kunst kaum Beachtung geschenkt hatte und bekannt dafür war, aus England stammende Trivialromane vor allen anderen Dichtungen mit größtem Genuß zu lesen mangelnde Ernsthaftigkeit oder gar ein grundsätzliches Desinteresse an derlei höherwertigen kulturellen Errungenschaften zu attestieren. Denn ebenso wie bei der Mathematik oder der Geschichte setzte Kant sich mit der Kunst eben nicht als eigenständig auf diesem Gebiet Schaffender auseinander, sondern
27 Auch Überschrift des diese Frage behandelnden Kapitels (L, 480-484).
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gemäß seiner Neigung als Philosoph, der dieses gesellschaftliche Phänomen lediglich einzuordnen und zu erklären versucht.28 In Kontext dieser Darstellung ist Kants Verhältnis zur Dichtkunst von größerem Interesse als seine erst in den 80er Jahren herausgebildete und in seiner Kritik der Urteilskraft niedergelegte Kunstphilosophie, für die hier lediglich summarisch auf die zahlreich vorliegenden Einzeluntersuchungen der philosophischen Forschung verwiesen sein soll. Kants Verhältnis zur Gegenwartsliteratur ist gerade in den 70er Jahren im Wesentlichen von Ablehnung dominiert. So warnt der Dozent vielfach seine Zuhörer etwa ebenso vor den Romanen Gellerts wie auch vor den Dichtungen Klopstocks, denen er - in enger Geistesverwandtschaft mit Lessing - eine bis ins Unerträgliche gesteigerte Empfindungsseligkeit sowie Schamlosigkeit in ihrem Zurschaustellen persönlichster Seelenzustände vorwirft. Mit diesem Urteil verbindet Kant - auch wenn er es stets mit der Ermahnung verknüpft, man möge sich doch bitte auf die Qualitäten des Verstandes besinnen - jedoch kein Plädoyer für die in der Kunst überwundene Epoche der reinen Verstandeskultur, sondern wendet sich gegen das dem Verstand entgegengesetzte Extrem. Dies erklärt auch seine strikte Ablehnung der literarischen Repräsentanten der 70er Jahre, insofern sie ihm als sogenannte Originalgenies' aufgefallen sind und ihn durch angebliche Undiszipliniertheit, Amoralität und Kultivieren der Geniemode abgestoßen haben. 29 Seiner Ablehnung dieser Richtung hat Kant noch lange Zeit später in der 1798 erschienenen Abhandlung Anthropologie in pragmatischer Hinsicht beredten Ausdruck verliehen, in der die Quintessenz seiner bis ins Wintersemester 1772/73 zurückreichenden Vorlesungen über Anthropologie dargeboten wird. So läßt er in §12 dieses Werkes ganz offensichtlich das an Selbstbewußtsein und Tatendrang überbordende Auftreten jener 'Kraftgenies' der 70er Jahre
28 Hiervon darf auch der Umstand nicht ablenken, daß Kant 1764 vom Berliner Justizministerium die Königsberger Professur für Poesie und Beredsamkeit angeboten wurde, ein ihn unerwartet treffendes, ihn ehrendes, jedoch wissenschaftlich zu Abwegen verleitendes Angebot, das der Magister hellsichtig ausschlug, um weiterhin seinen tatsächlichen geistigen Interessen und Begabungen zu folgen. Die zuweilen von Kant verfaßten lyrischen Texte (etwa ab 1770 gereimte Nachrufe auf verstorbene Kollegen, wozu ihn als Ordinierten die damalige akademische Sitte verpflichtet hat) legen bereits durch ihre eintönige poetische Form beredtes Zeugnis über das nur schwach ausgeprägte dichterische Talent ihres Verfassers ab, - das von ihm auch nie in Abrede gestellt worden ist. 29 Über Lenz sind keine diesbezüglichen Äußerungen Kants Uberliefert. In Bezug auf Goethe sei erwähnt, daß Kants Kenntnis zumindest des Werther sowie des Prometheus-Gedichts bezeugt ist, sich in seinen gesamten Schriften oder im persönlichen Nachlaß aber keinerlei Hinweise auf ein positives Urteil oder gar Zuneigung zu Person oder Werk ihres Verfassers finden läßt. Im Gegenteil scheint ihm Goethe - so Zeitzeugen - vornehmlich als Ärgernis ein Begriff gewesen zu sein. So ist aus Kants privatem Umfeld durch die Königsbergerin Elisabeth Stägemann überliefert, der Philosoph habe sich zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Goethes und Schillers Xenien im Musenalmanach für 1797 'unzufrieden' und 'erzürnt' über das unwürdige Benehmen' der beiden gezeigt (vgl. diesen zeitgenössischen Bericht in: GoetheJahrbuch 1906, S. 264).
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vom Schlage des Prometheus-Dichters Goethe Revue passieren, wenn er die ihm offensichtliche Inhaltsleere ihrer längst überlebten Attitüde beschreibt: Was ist aber von dem ruhmredigen Ausspruche der Kraftmänner, der nicht auf bloßem Temperament gegründet ist, zu halten: „Was der Mensch w i l l , d a s k a n n er"? Er ist nichts weiter als eine hochtönende Tautologie: was er nämlich a u f d e n G e h e i ß s e i n e r m o r a l i s c h - g e b i e t e n d e n V e r n u n f t will, d a s s o l l er, f o l g l i c h k a n n er es auch tun (denn das Unmögliche wird ihm die Vernunft nicht gebieten). Es gab aber vor einigen Jahren solche Gecken, die das auch im physischen Sinn von sich priesen und sich so als Weltbestürmer ankündigten, deren Rasse aber längst ausgegangen ist. 30
In seinen philosophischen Überlegungen über die Kunst verwendet Kant eine von der heute gebräuchlichen sehr verschiedene Terminologie. Dies gilt besonders für den Begriff der Ästhetik, den er in Anlehnung an den antiken Gebrauch nutzt, um unter dem Begriff der Transzendentalen Ästhetik die Lehre von den notwendigen Voraussetzungen sinnlicher Anschauungen zu fassen.31 Auch wenn er in diesem Kontext niemals über die Kunst speziell gehandelt hat, so sind die innerhalb der Transzendentalen Ästhetik entwickelten erkenntnistheoretischen Grundlagen über Raum und Zeit doch unmittelbar auch auf sie zu beziehen; - auf das, was sie zu leisten vermag und wie ihre natürlichen Grenzen beschaffen sind. Folgt man, wie Lenz, Kants Raum-Zeit-Lehre, die in der Quintessenz mündet, die menschliche Wahrnehmung von Realität beruhe lediglich auf einer vagen Vorstellung, die nur ein mittels des menschlichen Empfindungs- und Verstandesvermögen konstruiertes Bild darstelle, das keinerlei Anspruch auf objektive Wirklichkeit erheben könne, hat dies auch Konsequenzen darauf, welche Ziele und Aufgaben man der in dieser Welt der Bilder und Vorstellungen existierenden Kunst zubilligen kann und welchen Anforderungen sie auf keinen Fall zu genügen vermag.
30 Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Hrsg. von Karl Vorländer. 7. Auflage, Hamburg 1980, S. 39f. 31 Dieser ist denn auch in Kants Kritik der reinen Vernunft der erste Teil der Transzendentalen Elementarlehre gewidmet (KrV, 93-127). Vor dem Hintergrund von Kants Kunstverständnis verwundert es nicht, daß der Philosoph auch in seiner ersten Kritik diesem sozialen Phänomen keine große Aufmerksamkeit geschenkt hat, hielt er doch eine wissenschaftliche Begründung, eine 'Kritik des Geschmacks' zu diesem Zeitpunkt noch für unmöglich. So bezeichnet er es dort als eine „verfehlte Hoffnung", daß die „Deutschen" („die einzigen, welche sich jetzt des Worts Ä s t h e t i k bedienen, um dadurch das zu bezeichnen, was andre Kritik des Geschmacks heißen") in der Nachfolge Baumgartens nun „die kritische Beurteilung des Schönen unter Vernunftprinzipien" bringen wollten, um „die Regeln derselben zur Wissenschaft zu erheben", - obgleich diese Regeln zu apriorischen (d.h. allgemeingültigen) Gesetzen ungeeignet seien (KrV, 95 [A 22 / Β 35], Anm.). Erst gegen Ende der 80er Jahre vermochte Kant die Lösung dieses Problems in einer Synthese der Kritik des Geschmacks mit der Naturteleologie zu erkennen und schließlich in seiner Kritik der Urteilskraft darzustellen.
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Auf der Grundlage der Transzendentaler Ästhetik ist es durchaus folgerichtig, daß Lenz eine mimetische Kunstauffassung vertritt und hierbei vor allem der Literatur die Aufgabe zuspricht, im weitesten Sinne die Natur, bzw. den durch sie realisierten Willen Gottes nachzubilden („die Begierde 's ihm gleichzutun"; AüT, 645) und den mit ihr verbundenen Endzweck zu erreichen. 32 Denn was sonst bedürfte einer erklärenden Darstellung und Deutung als diese vom Menschen höchstens als Schemen der Wirklichkeit wahrnehmbare Vorstellung namens Welt und die mit ihr verknüpfte metaphysische Absicht? Dieses Verständnis drückt Lenz auch durch seinen Versuch aus, die Existenz der Dichtkunst mit einer Theorie der zwei 'Quellen' zu erklären, die er in seinen 1774 publizierten, doch bereits ab 1771/72 als Einzelvorträge für die Straßburger Sozietät verfaßten Anmerkungen übers Theater darstellt.33 Hierzu benennt er ganz im Sinne der ihm vermittelten erkenntnistheoretischen Grundlagen als erste dieser „Quellen" der „Poesie" (AüT, 646) das aus der menschlichen Sehnsucht nach Erkenntniserweiterung entspringende Bedürfnis nach Vereinfachung komplexer Sachverhalte. Dieses definiert er auch als „das Bestreben, all unsere gesammelten Begriffe wieder auseinander zu wickeln und durchzuschauen", was angesichts der dem Menschen nur begrenzt zur Verfugung stehenden Sinnes- und Verstandeskräfte ein natürliches Bedürfiiis sei, denn: „Wir suchen alle gern unsere zusammengesetzte Begriffe in einfache zu reduzieren" (AüT, 647). Als zweite Quelle, die dem Menschen jene zu vereinfachenden Begriffe überhaupt erst zugänglich mache, benennt er sodann die Notwendigkeit der „Nachahmung" (AüT 649), durch die erst die einzelnen Dinge, die die Welt in ihrer Komplexität bilden, einem biblischen Gleichnis vergleichbar, „anschaulich und gegenwärtig" (AüT, 647) gemacht würden.
32 Dieser von Lenz auch als der „erste Trieb, den wir in unserer Seele fühlen," (AüT, 645) bezeichnete Drang darf nicht mit dem prometheischen Anspruch verwechselt werden, etwas gottgleich n e u e r s c h a f f e n zu wollen. Als Künstler Gott nachzueifern bedeutet bei Lenz nichts Geringeres, als Gottes Werk gleichnishaft n a c h z u a h m e n („seine Schöpfung ins Kleine zu schaffen"), also nicht n a c h z u b i l d e n (AüT, 645). Werner mißdeutet dieses differenzierte dichterische Selbstverständnis, indem er feststellt, Lenz betrachte sich „als Schöpfergott en miniature" (Werner, 39) und wertet diese übersteigerte Haltung als „Therapeutikum gegen den Mangel an Existenz und ästhetisches Mittel zum Zweck der Lebenserweiterung bzw. Wirklichkeitsaneignung" (Werner, 40). 33 Schulz würdigt sie traditionsgemäß als „die wichtigste dramentheoretische Schrift des Sturm und Drang" (Schulz, 257), eine Einordnung, gegen die schon Fritz Martini 1970 in seinem bis heute wegweisenden Aufsatz über die Anmerkungen übers Theater Vorbehalte angemeldet hat. So hält er es für zumindest „fraglich", ob man die Anmerkungen tatsächlich neben Herders Shakespeare-Aufsatz und Goethes Rede Zum Shakespeares-Tag als „dritte Grundschrift zum neuen Drama des Sturm und Drang" aufführen könne (Martini, 159). Für seine Zweifel, die ihn schließlich die Annahme einer originären „Sturm und Drang-Poetik" zurückweisen läßt, (160) macht er unter anderem grundsätzliche Unterschiede zu Herders Deutung der griechischen Tragödie geltend (vgl. 172), die Bindung von Lenzens literarischer Grundkonzeption an das Gebot moralorientierten Handelns und nicht zuletzt die differenzierte Verwendung des Genie-Begriffs („das Zauberwort dieser Generation"; 166).
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Ausgerechnet der Kunst die Fähigkeit zuzutrauen, die hinter der Welt der Vorstellungen verborgene Wirklichkeit verständlicher zu machen, greift methodisch zu kurz und resultiert aus einem von Lenz nicht erkannten Zirkelschluß. Denn welche Erkenntnis über die hinter der Welt der Vorstellungen verborgene Wirklichkeit vermag ein vom Menschen erdachtes Medium zu vermitteln, das nicht nur selbst ein Produkt dieser vorgestellten Welt darstellt, sondern auch noch von den gleichen menschlichen Wahrnehmungsorganen und Verstandeskräften aufgenommen und inhaltlich entschlüsselt werden muß, durch deren begrenztes Vermögen diese Welt der Vorstellungen doch erst erschaffen worden ist und stets aus Neue erschaffen wird? Doch in seiner Selbstwahrnehmung stellt Lenz sich schließlich nicht als systematischer Philosoph vor, sondern als philosophierender Erzieher und Literat, der zudem seit frühester Jugend mit der nicht zuletzt auch psychologischen Wirkung z.B. biblischer Gleichnisse in Predigten vertraut ist und sich wohl auch durch diese Erfahrung dazu ermutigt fühlt, nun seinerseits missionarisch auf seine Mitmenschen einwirken zu wollen. Und so zielt sein Bemühen nach gleichnishafter Abbildung der sozialen Zustände der Welt, das Bemühen um ihre Nachahmung, darauf ab, die Notwendigkeit des sittlichen Handelns beispielhaft aufzuzeigen - und dadurch das Publikum zu diesem Handeln zu erziehen - , da die mit Gottes Schöpfung verbundene Absicht, das Erreichen der individuellen Glückseligkeit, vom Individuum sonst nicht zu verwirklichen sei. In der literarischen Forschung fehlt es beim Thematisieren der Lenzens Werk zugrundeliegenden didaktischen Überlegungen (insbesondere im Kontext des Hofmeister-Dramas) nicht an Verweisen auf Rousseau und dessen offensichtlicher Rezeption durch den Autor. Doch der durch derlei zumeist sehr allgemein gehaltene Hinweise eröffnete Erkenntnisgewinn ist in vielen Fällen eher gering, zumal sie sich oft lediglich vordergründig auf die vielerorts in Lenzens Briefen oder Dichtungen anzutreffende Namensnennung des in Genf geborenen Schriftstellers und auf populärwissenschaftliches Allgemeingut stützen. Ein nachhaltigerer Erkenntnisgewinn stellt sich jedoch ein, vergegenwärtigt man sich, daß Lenz offensichtlich erst durch Kants Rousseau-Rezeption mit dessen philosophischen Grundgedanken vertraut gemacht worden und hierdurch zu niemals revidierten Einsichten gelangt ist. Weshalb ist dies von Bedeutung? Vor allem, weil bis heute im kollektiven Bewußtsein primär die marxistische Rousseau-Rezeption nachwirkt, für die nicht zuletzt Friedrich Engels 1886 in Zürich erschienener Artti-Dühring traditionsbildend gewesen ist. Engels erkennt Rousseau in erster Linie als Interpret der Entfremdung der menschlichen Gesellschaft (respektive Kultur) von der Natur. Basierend vor allem auf Rousseaus Gesellschaftsvertrag (1762) und der Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen (1754) attestiert ihm Engels einen hieraus resultierenden revolutionären Impetus, der belegen soll, der Philosoph habe zum Sturz der bestehenden Ordnung des monarchistischen Frankreichs animiert. Damit schuf Engels ein Paradigma,
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das sich bei der weltanschaulichen Einordnung zahlreicher sich auf Rousseau berufender Wissenschaftler und Künstler (wie etwa Jakob Lenz) als äußerst effektiv und richtungsweisend erwiesen hat. Die fortwirkende Dominanz dieses Interpretationsansatzes macht hingegen vergessen, daß Kant die Grundlagen eines vollkommen anderen Verständnisses gelegt hat, indem er auf ein ganz entscheidendes Moment in Rousseaus Denkgebäude hinwies, das gut einhundert Jahre nach ihm von Engels weitgehend ausgeklammert wurde: auf das der Erziehung. Eben dieses müsse - so Kant in unmittelbarem Zusammenhang mit der Diagnose von der Entzweiung von Kultur und Natur betrachtet werden, da es von Rousseau als Mittel der Versöhnung dieser Gegensätze propagiert worden sei (was Engels These, Rousseau habe nach einer revolutionären Lösung dieses Konfliktes verlangt, eigentlich gegenstandslos macht). Zu dieser Interpretation gelangte Kant durch den direkten Bezug des Emile und der pädagogischen Schriften Rousseaus auf den Gesellschaftsvertrag, ein Verfahren, an das nach ihm erst wieder im 20. Jahrhundert von Ernst Cassirer angeknüpft worden ist. Doch welche inhaltlichen Konsequenzen hat dies für die Einordnung Lenzscher Überlegungen über die Gegenstände Erziehung, Kultur und Natur? Kant macht sich den von ihm bei Rousseau festgestellten Standpunkt zu eigen, daß der Mensch erst in dem Augenblick, da seine Kultur den Grad ihrer höchstmöglichen Entwicklung erreicht haben wird, jene ihn von der Natur trennende Kluft erfolgreich überwinden könne. Deshalb sei es Aufgabe jeglicher Form von Erziehung, diesem Prozeß förderlich zu sein, an dessen Ende das Wiederverschmelzen von Kultur und Natur (als der von Gott erschaffenen höchsten Ordnung) stehe.34 Dem entgegen wirke jedoch das Böse, worunter all jene Kräfte zu verstehen seien, die diese Entwicklung zu hemmen vermögen. Und so beschwört Kant den Imperativ der Tugend, durch den allein jener anzustrebende Zusammenhalt, jene Versöhnung von Mensch und Natur zu ermöglichen sei. Dieser Standpunkt wird von Kant, und in seiner Nachfolge auch von Lenz, in Kenntnis der Worte Rousseaus vertreten, man müsse „die Menschen" dazu „bewegen", sprich erziehen, „aus freiem Willen Gutes zu tun" und werde erst dann „sehen", was Tugend, Wissenschaft und Autorität vermögen, wenn sie, von einem edlen Wettstreit belebt, vereint an der Glückseligkeit des Menschengeschlechts arbeiten.35 34 Vgl. hierzu Kants diesbezügliche Ausführungen auch in seiner Schrift Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschiche (1786). - In: Kants Werke. Akademie-Ausgabe Bd. VIII, Berlin 1912, S. 107ff. 35 Jean-Jacques Rousseau: Abhandlung über die Frage, ob die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen hat?. (Entstanden 1750.) - In: Jean-Jacques Rousseau. Schriften, 2 Bde., hrsg. von Henning Ritter, Frankfurt 1995, Bd. 1 (S. 27-60), S. 59. Wie eine Vorwegnahme des Lenzschen Werbens für eine zum sittlichen Ideal hinführende, nach englischem Vorbild ausgerichtete Dichtkunst (die die negativen Folgen des die 'galante Welt' bestimmenden französischen Einflusses beseitigen solle) klingt Rousseaus Formulierung des Ideals der Synthese von Kultur und Natur mittels der Kunst, die
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Im Jahre 1775 publiziert Jakob Lenz einen Aufsatz, in dem er seinem sich auf Kants Rousseau-Rezeption gründenden, auf HinfÜhrung zur Tugend abzielenden pädagogischen Kunstverständnis jedoch zu widersprechen scheint. Inzwischen als freier Schriftsteller mühevoll um Anerkennung seiner künstlerischen Eigenständigkeit und um bleibenden wirtschaftlichen Erfolg ringend, verfaßt er eine umfangreiche Schrift, mit der er programmatisch in die entflammte Debatte um Goethes kurz zuvor erschienenen Werther eingreifen will. In ihr lehnt er sich formal an das Vorbild des Brief-Romans an, indem er nun seinerseits in Briefform einem fiktiven Freund seine Kommentare zu der von Goethes Dichtung ausgelösten Auseinandersetzung sowie allgemeine kunsttheoretische Überlegungen mitteilt. Dabei bezieht er sich auch immer wieder auf seine eigene literarische Produktion und verwahrt sich so zum Beispiel im zweiten seiner sogenannten 'Werther-Briefe' 36 entschieden gegen die von der Kritik geäußerte Annahme, er habe bei seinen „Komödien" Der Hofmeister und Der neue Menoza, die allerdings den Weg auf die Bühne noch nicht gefunden haben, „allerlei moralische Endzwecke und philosophische Sätze" im Sinn gehabt. Tatsächlich habe er - Lenz - lediglich „ein bedingtes Gemälde" „geben" wollen, „von Sachen wie sie da" seien, und keinesfalls eine bestimmte „Philosophie" oder gar einige „Religionsverbesserungen" beabsichtigt (BüM, 675). Speziell diese isoliert betrachtete Bemerkung ist geeignet, Mißverständnisse zu produzieren. Denn auf den ersten Blick scheint Lenz mit ihr tatsächlich seine Abkehr von der ,,didaktische[n] Literaturkonzeption der Aufklärung" zu dokumentieren, wie Damm in ihrer Werkausgabe vermutet.37 Bei Einbeziehung des kompletten Textes wird jedoch deutlich, daß sich lediglich Lenzens Argumentationsweise gegenüber früheren Äußerungen weiterentwickelt hat, die Grundzüge seines Kunstverständnisses aber beibehalten sind. So präsentiert Lenz sich nun nicht mehr als in erster Linie erzieherisch wirken wollender Literat oder gar als philosophierender Prediger wie noch in früheren Jahren, sondern explizit nur noch als 'Dichter'. Und dessen vornehmliche Aufgabe sei nun einmal so Lenz - , „das Herz und die Imagination" seiner „Leser" zu fesseln. Denn läge er in der ersten Version des Gesellschaftsvertrages darbietet. Darin fordert er dazu auf, „in der vollendeten Kunst die Heilung der Übel zu suchen, welche die Kunst zu Beginn der Natur antat". Zitiert nach Jean Starobinski: Rousseau. Eine Welt von Widerständen (Frankfurt 1993), S. 54, Anmerkung 24. Zur Vertiefung dieser Thematik sei auf Reinhard Aulkes Monographie Grundprobleme moralischer Erziehung in der Moderne. Locke-Rousseau-Kant (Leipzig 2000) hingewiesen, in der anschaulich die in Kants Pädagogik kulminierenden moralphilosophischen Entwicklungslinien des 17.-18. Jahrhunderts aufgezeigt werden. Speziell zu Rousseaus Erziehungsideal vgl. Reiner Bolle in seiner Publikation Jean-Jacques Rousseau. Das Prinzip der Vervollkommnung des Menschen durch Erziehung und die Frage nach dem Zusammenhang von Freiheit, Glück und Identität (Münster 1995). 36 Lenz: Briefe über die Moralitàt der Leiden des jungen Werthers. - In: WB, Bd. 2, S. 673-690 37 Sigrid Damm in ihren Anmerkungen zu Lenzens Briefe über die Moralität.... - In: WB, Bd. 2, S. 915.
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ihm an einem „moralischen Endzweck", so höre er zwangsläufig auf „Dichter zu sein" (BüM, 676); weshalb ihm, Lenz, lediglich an der „Wirkung" (BüM, 677) seiner Poesie auf das Publikum gelegen sei. Doch auf welche Art Wirkung reflektiert der Autor? Es ist aufschlußreich, sich in diesem Kontext zunächst den Adressatenbezug dieser auf ihre schriftliche Veröffentlichung abzielenden Worte zu vergegenwärtigen, denn sie richteten sich nicht - wie bei einer Predigt oder einem Vortrag - an einen überschaubaren und vor allem berechenbaren Personenkreis. Lenz zielte auf ein breiteres kunstinteressiertes Publikum ab, dessen Erwartungshaltung er ebenso zu beachten hatte wie dessen von der Hochaufklärung geprägte Ansichten über ästhetische Grundfragen. Wollte Lenz also Einfluß auf die von diesem Publikum geführte Werther-Debatte nehmen, mußte er sich zwangsläufig von der Rolle des philosophierenden Pädagogen entfernen, galt es, subtiler als in seinen Predigten zu argumentieren, um die Gunst dieses anonymen Publikums zu gewinnen, das gewiß weder belehrt noch erzogen oder gar missioniert, sondern womöglich nur auf geistvolle Art unterhalten werden wollte. Zu guter Letzt bedeutete dies für den Autor, sich auch eigentlich konträre Standpunkte zumindest vordergründig zu eigen machen zu können; kurz: er hatte sich als ein sich allenfalls gleichberechtigt fühlender Diskussionspartner in Bescheidenheit zu gerieren. Dieser äußere Zwang zur Anpassung an die Gewohnheiten der ihn umgebenden Gesellschaft offenbart auch die eigentliche Misere seines letztlich wohl nicht an etwa fehlendem Talent scheiternden Versuches, als freier Schriftsteller ein wirtschaftliches Auskommen zu finden. Und es bedarf keiner weiteren Ausführungen, um zu verdeutlichen, in welchem Ausmaß Lenzens gesamte literarische Produktion ab 1774 Zwängen und Rücksichtnahmen unterlegen hat, die ihm ein im Vergleich zu seinen Predigten vollkommen ungewohntes und ihm womöglich wesensfremdes Sich-Präsentieren abverlangt haben, wollte er als Schriftsteller erfolgreich sein.38 Im Jahre 1776, nachdem er bereits zwei Jahre lang den beschwerlichen Weg eines freien Autors zurückgelegt hat, äußert er sich über die unbefriedigenden Sachzwänge in einer Schutzschrift für Wieland ungewohnt offen und selbstkritisch, indem er lapidar
38 Bei der Beurteilung von Lenzens 'Werther-Briefen' unter dem Gesichtspunkt des Adressatenbezugs kann ein weiterer Adressat gar nicht überbewertet werden: Goethe. Lenz hatte ihm das Manuskript im Frühsommer 1775 nicht nur in der Hoffnung gesandt, jener würde es zum Druck befördern, sondern auch, um sich für eine weiterreichende Förderung zu empfehlen. Letztlich sollten sich beide Hoffnungen nicht erfüllen. Denn Friedrich Heinrich Jacobi, dem Goethe das Manuskript tatsächlich zur Drucklegung empfohlen hatte, riet wegen angeblicher methodischer und inhaltlicher Unzulänglichkeiten von einer Publizierung ab, wogegen Goethe keine Einwände erhob; so erfolgte die Erstveröffentlichung erst 1918. Und Goethes schließlich im Folgejahr an Lenz ergangener Ruf nach Weimar, wo Lenz hoffte, ihm möge sich eine dauernde Anstellung eröffnen, endete bekanntermaßen für Lenz als persönliche Katastrophe im Zerwürfnis mit seinem Förderer.
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konstatiert, „Poeten" seien eben auch nur „als Kaufleute anzusehen", „von denen jeder seine Ware, wie natürlich, am meisten" anzupreisen habe.39 Inwieweit er eingedenk dieser für den wirtschaftlichen Erfolg unabdingbaren äußeren Zugeständnisse in seinen 'Werther-Briefen' dennoch an seinem bisherigen Kunstverständnis festgehalten hat, deutet eben jene oben bereits genannte Formulierung an, ihm gehe es als Dichter um die beim Publikum erzielte Wirkung. Denn welche Art Wirkung strebt er an? Beabsichtigt er - in völliger Abkehr von den mit seinen Predigten verfolgten Zielen - nun womöglich nur noch die schöngeistige Unterhaltung der Menschen? Oder verfolgt er ins andere Extrem gesteigert - plötzlich eine konkrete politische Absicht, die ihn seine Kritik an den unvernünftigen Verhaltensweisen des Menschen zur Kritik am Staat steigern läßt? Weder noch, denn Lenz betont weiterhin ausdrücklich die „moralische Wirkung, 4 0 die das Lesen [...] auf die Herzen des Publikums haben könne und haben müsse" (BüM, 676f). Die Formulierung, das Lesen 'müsse' eine moralische Wirkung beim Publikum zeitigen, verweist deutlich auf sein aufrecht erhaltenes Selbstverständnis, daß das Bemühen eines Kunstschaffenden um das Nachempfinden bzw. Nachbilden des wahrhaft Schönen gleichbedeutend sei mit dem Bemühen um das sittlich Gute. Und dieses erkennt Lenz wiederum als identisch mit jenem dem Menschen als ureigener Drang eingeborenen Bemühen um Glückseligkeit, weil schließlich „alle Glückseligkeit des menschlichen Lebens in dem Gefühl des Schönen bestehet. Das Schöne ist nur das Gute quintessenziiert zu nennen, wie sollte ein menschliches Herz dessen entbehren können" (BüM, 674). So bietet Lenz auch in seinen 'Werther-Briefen' ein abgerundete Bild seiner ethisch-künstlerischen Grundüberzeugungen dar, in das sich auch seine Bemerkung über den natürlichen Daseinszweck eines Poeten einfügt, die er 1775 an den Beginn seiner die Eigenliebe und den Hochmut anprangernden 39 Lenz: Verteidigung des Herrn W gegen die Wolken von dem Verfasser der Wolken (in: WB, Bd. 2, S. 713-736), S. 719. An gleicher Stelle fllhrt Lenz auch über jene aus, die er als einzige für würdig und genügend qualifiziert halte, Uber unter derartigen Bedingungen entstehenden literarischen Werke ein Werturteil abzugeben. Nicht dem einfachen Bürger noch dem professionellen Kritiker oder gar einem anderen Künstler stehe dies zu, sondern einzig einem „ w a h r e n G e l e h r t e n " , einem „ P h i l o s o p h e n " , der „das ganze Reich der Wissenschaften durchwandert" und dabei die „schärfsten und reichhaltigsten Einsichten" nebst „Geschmack" und „Gefühl" „für alle Rechte der Menschheit und auch für den geringsten Eingriff in dieselbigen" gewonnen habe. „Diesen und nur der vereinten Stimme dieser überlasse man es, ein E n d u r t e i l [man beachte diese an Kants Erkenntnistheorie anknüpfende Terminologie] Uber den Dichter zu fällen [...] Diese allein sollten den heiligen Namen der Rezensenten tragen" (VHW, 720). Für sich selbst hat Lenz in diesem Sinne denn auch nie den Rang eines Rezensenten beansprucht, sondern - wie er in seiner Prosa Der Landprediger Uber sein dortiges Alter Ego schreibt - lediglich den eines Autors, der „andern Leuten Brillen" schleife, „wodurch sie sehen können, ohne welche ihnen tausend Sachen verborgen blieben". Rezensent zu sein, sein „Urteil andern Menschen aufbinden zu wollen", sei hingegen nie sein „Fall gewesen" (DL, 443). 40 Hervorh. d.V.
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Prosadichtung Zerbin oder die neuere Philosophie gesetzt hat. Dort stellt er schon im ersten Satz lakonisch die Mannigfaltigkeit der „Arten des menschlichen Elends" fest, die gerade seine Epoche hervorgebracht und der Kunst reichhaltige Sujets beschert habe. „Wie unerschöpflich ist diese Fundgrube für den Dichter", bekräftigt er und betont, ein Autor müsse deswegen gewissenhaft der ihm obliegenden Aufgabe dienen, bei seinen „Mibürgem" die „vertaubten Nerven des Mitleids [...] wieder aufzureizen" und all das irdische Elend aufzuzeigen, das von der „Modephilosophie" der Gegenwart „mit grausamen Lächeln von sich" gewiesen werde. Diesen Auftrag habe man seinem „Gewissen" folgend zu erfüllen, nicht aus „Eitelkeit und Eigennutz" (Z, 354). In seinem 1775 entstandenen dramatischen Fragment Die Kleinen41 präzisiert Lenz dieses Selbstverständnis durch seinen Protagonisten Engelbrecht, der - wie schon der Protagonist Strephon aus der Komödie Die Freunde machen den Philosophen - als ein Reisender „aus philosophischen Absichten" (DK, 473) bezeichnet wird. In einem Monolog läßt ihn der Autor erklären, er wolle sich gezielt „in aller Menschen Angelegenheiten" mischen und sie als seine eigenen 'empfinden' (vgl. DK, 492),42 um zu bewirken, daß sich „die Leute sich ihrer Freude und ihres Leid bewußt" werden, und ihnen auf diese Weise „das einzige Glück des Lebens" vermitteln zu können (DK, 492). Eine frühere Textstelle des dramatischen Fragments bereitet diesen Gedanken vor, wenn Engelbrecht dort über seinen eigentlichen Daseinszweck ausführt, er wolle „die unberühmten Tugenden [...] studieren, die jedermann mit Füßen" trete. Wie „Apoll, als er aus dem Himmel geworfen ward," wolle er dafür „unter den armen zerbrochenen schwachen Sterblichen umhergehn und von ihnen lernen"; „was mir fehlt, was euch fehlt - Demut" (DK, 474).43 Daß ein derartiges, an sein Jesus-Verständnis anknüpfendes Bestreben seitens eines 'reisenden' Philosophen bzw. Dichters keinen egoistischen Motiven entspringen dürfe, darüber äußert Lenz sich im Folgejahr in seiner Schutzschrift für Wieland. Dort bezeichnet er die „Uneigennützlichkeit" (VHW, 718), über deren elementare Bedeutung für das menschliche Handeln er sich schon in früheren Jahren eingehend geäußert hatte,44 als den zentralen Beweggrund jedes Poeten („der große, der ewige Probierstein aller wahren Dichter"; VHW, 718), womit er seine Leser an die letzte der einst in seinen 'Lebensregeln' postulierten drei moralischen Pflichten des Menschen erinnert, 41 Lenz: Die Kleinen. - In: WB, Bd. 1, S. 473-497. 42 Damit knüpft Lenz auch an ein wesentliches Element seines Jesus-Verständnisses an, als dessen Verkörperung Gott zur Erde herabgestiegen sei („welche Idee von der Gottheit!"; MeL, 564) und als Mensch gelebt habe („er lebte um zu leiden und zu sterben"; ÜdN, 622), um durch diese Erfahrung den menschlichen Teil seiner Schöpfung erst verstehen zu lernen. 43 Weiter heißt es über jene, die die natürliche Verpflichtung zur Demut mißachteten: „Pfui doch mit den großen Männer, die herrschen wollen, es sind die kleinsten Pygmäen, Kolibris und Staubinsekten, in die sich die hohen weiten Endzwecke der Natur nur jemals haben verschränken können." (DK, 474) 44 Vgl. hier Zweites Kapitel, Π.2 „Gutes / böses Handeln".
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„die uns Christus durch sein Beispiel und Lehre hauptsächlich eingeschärft" habe (ML, 492).
Die Aufgabe des Poeten Es kann also kein Zweifel daran bestehen, daß Lenz auch zum Zeitpunkt der Niederschrift seiner 'Werther-Briefe' das Werben für sittliches, vernunftorientiertes Handeln als die zentrale Aufgabe seines künstlerischen Strebens angesehen hat, und daß er in diesem Sinne auch künftig in seiner Eigenschaft als Dichter hat wirken wollen, seine Mitmenschen auf den zur Glückseligkeit hinführenden Weg zu geleiten. Diese Schlußfolgerung wird auch nicht durch mißverständliche Äußerungen in dem 1775 für die Straßburger Sozietät verfaßten Vortrage Über Ovid in Frage gestellt, die bei isolierter Betrachtung in einem sensualistischen Sinne interpretierbar sind. Darin heißt es, von einem Poeten müsse man „verlangen" können, „daß er uns erwecken und beleben, mit neuem prometheischen Feuer entzünden und inspirieren soll, so daß wir unsere Existenz zehnfach fühlen"; (ÜO, 709) eine Formulierung, die nicht nur bei Unger zu dem Fehlschluß beigetragen hat, Lenzens „Dichterbegriff' beinhalte eine „Analogie Dichter - Gott".45 Es verwundert, daß Lenzens zahlreiche Prometheus-Verweise bislang so selten wörtlich genommen und sein Verständnis des 'Dichterbegriffs' nicht, wenn schon in einer Analogiebildung, als Analogie Dichter-Prometheus dargestellt worden ist. Freilich müßte dieses Bild dann auch durch ein in Lenzens Sinne differenziertes Prometheus-Verständnis erläutert werden, das sich wesentlich von dem populären, in erster Linie wohl von Goethe abgeleiteten unterscheidet. Worin besteht nun deren Unterschied? Wie das obige Zitat bereits belegt, spricht Lenz im Zusammenhang seiner kunsttheoretischen Überlegungen wiederholt vom prometheischen Charakter besonders der Poesie. Damit bezieht er sich jedoch stets auf den Heros der griechischen Mythologie als Sinnbild für die menschliche Erkenntniserweiterung, darauf, daß Prometheus einst als Überbringer des göttlichen Lichts, des himmlischen Feuers, zum Urheber der menschlichen Kultur und des Geisteslebens geworden sei. Bei Goethe fmden wir hingegen ein anders akzentuiertes Verständnis, bei dem das Erschaffen des ersten Menschen aus einem Klumpen Lehm im Zentrum steht, - ein Aspekt des antiken Mythos, der für Lenz keine signifikante Rolle gespielt hat.46 Vergegenwärtigt man sich nun Lenzens Äußerung über die bele45 Thorsten Unger: Handeln im Drama. Theorie und Praxis bei J.Chr. Gottsched und J.M.R. Lenz. - Göttingen 1993, S. 140. 46 Auf diese leicht mißzuverstehende Differenzierung hat bereits Rudolf hingeweisen, der im Kontext von Lenzens 'prometheischen Freiheitsgedanken' das mit diesem verbundene, kategorisch gültige Gebot der sittlichen Ausrichtung jedweden Handelns hervorhebt, das einem von jeglicher Bindung freien 'Sichausleben' entgegen wirke (vgl. Rudolf 1970,215f).
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bende Kraft eines Poeten, die das Publikum sich „zehnfach fühlen" (ÜO, 709) mache, in einem größeren Zusammenhang, wird deutlich, daß dieses SichFühlen auch in keiner Weise als reiner Selbstzweck im Sinne der von Lenz verachteten Empfmdungsseligkeit verstanden werden darf, sondern im erkenntnistheoretischen Sinn als Grundlage jeglicher weiteren, individuell zu vollziehenden Verstandesoperation.47 Jenes Sich-fühlen-Können erscheint dabei als unbedingte Voraussetzung, damit das Individuum als Resultat eines vernunftorientierten Erkenntnisprozesses dem Primat der Moral, das summum bonum, in sich selbst zu entdecken vermöge. Wie sehr Lenz als Dichter stets auf der Grundlage der ihm von Kant vermittelten erkenntnistheoretischen Grundsätze argumentiert, veranschaulicht er in seinen 'Werther-Briefen', wenn er über sein dichterisches Selbstverständnis ausführt, als Poet den Menschen eine V o r s t e l l u n g davon vermitteln zu wollen, weshalb und auf welche Weise die Verwirklichung des sittlichen Ideals angestrebt werden müsse. Deshalb sei vom einzelnen Einsicht gefordert, die Fähigkeit also, das ihm künstlerisch Dargebotene empfindend wahrzunehmen, es danach richtig zu erkennen und schließlich die notwendigen Schlußfolgerungen daraus zu ziehen. Doch möge der Leser sich bei der Lektüre stets bewußt sein, so Lenz anschließend über die von der Erkenntnistheorie auch der Poesie aufgezeigten Grenzen, „daß der Dichter nur eine Seite der Seele malen kann die zu seinem Zweck dient und die andere dem Nachdenken überlassen muß." (BüM, 685) 48 47 Dieses Lenzsche Rekurrieren auf eine i n d i v i d u e l l e moralphilosophische Wirkung seiner Werke gilt es an dieser Stelle erneut zu betonen, um Mißverständnissen wie von Franz Werner vorzubeugen, Lenz sei von einem extrem politisierten Kunstverständnis getragen worden, das auf „eine handfeste, aktuelle Gesellschaftskritik am feudalabsolutistischen System" abgezielt habe (Werner, 56). Differenzierter als Werner beurteilt hingegen Rudolf Käser Lenzens dichterisches Selbstverständnis, wenn er etwa den hohen Stellenwert des moralphilosophischen Arguments der Selbstlosigkeit bei Lenz hervorhebt und die „spirituellen" Zielsetzungen der „Lenzschen Anthropologie" diskutiert. Rudolf Käser: Die Schwierigkeit, ich zu sagen. Rhetorik der Selbstdarstellung in Texten des 'Sturm und Drang '. Herder - Goethe - Lenz". - Bern 1987, S. 281. 48 Welch weiten Weg Lenz in seiner Entwicklung hin zu diesen ethisch begründeten Standpunkten zurückgelegt hat, wird deutlich, vergegenwärtigt man sich seine wohl unmittelbar vor Aufnahme seines Studiums formulierte Nachbemerkung zur Druckausgabe seines Lyrikbandes Die Landplagen, in den außer dem titelgebenden Gedichtzyklus auch einige seiner frühen Gedichte aufgenommen worden sind. Darin heißt es betreffs des künstlerischen Selbstverständnisses etwas gewollt elitär, der „Dichter dieser Versuche" widme seine Arbeit jenen „Kennern, die reife Kenntnisse mit einem wahren Eifer für die Ausbreitung des guten Geschmacks verbinden (denn für die schreibt er nur)" (Lenz in seiner Anmerkung zum Gedicht Gemälde eines Erschlagenen, WB, Bd. 3, S. 779). Erheblich weniger gezwungen wirkt der vom Studenten Lenz 1770 in Königsberg formulierte Adressatenbezug seiner Dichtung Belinde und der Tod, wenn er mit bis dahin bei ihm ungewohnter Selbstironie schreibt, sich mit seinem Werk „nur an die Schönen wenden" zu wollen, „die nicht [wie er] hypochondrisch" seien „und doch schon manches lustigen Hypochondristen Einfalle zu lesen gewürdigt haben". Ernster ist es Lenz dann aber mit der nachfolgenden Feststellung, er wende sich „an die offenen Köpfe [...], die nicht allentai lesen, um Herz oder Verstand zu bessern, sondern auch
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Mit diesem Hinweis rekurriert Lenz implizit auf die dem einzelnen verliehene Freiheit des Denkens, auf die Freiheit der eigenen Entscheidung, auf die Freiheit zu individuellem Handeln, - die er als natürlich gegeben erkennt, und die das Individuum im Gegenzug nicht zuletzt zur Toleranz gegenüber der Freiheit anderer verpflichte. Es ist in der aufschäumenden Debatte um Goethes Werther gerade der von kirchlich-orthodoxen Kritikern stammende Verstoß gegen dieses Toleranzgebot, der den Autor der 'Werther-Briefe' einige Grundsätze über das Verhältnis von Literatur und Moral entwickeln läßt. Dabei interpretiert er den Goethe-Roman allerdings in einer Weise, die vermutlich mehr über sein eigenes künstlerisches Selbstverständnis und über die mit seinem Schriftstellertum verbundenen Intentionen verrät, als daß sie der thematisierten Dichtung gerecht wird. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die heftige Kritik an der angeblich durch den Roman propagierten Unmoral, die sich besonders in Goethes scheinbarer Verklärung des doch eigentlich als Todsünde zu verurteilenden Selbstmordes äußere. Doch zwischen der vorgeblichen Moralität der diese Ansicht vertretenden Kritiker und der tatsächlichen Sittlichkeit, die nicht durch willkürliche Konventionen begründet, sondern natürlichen Ursprungs und apriorisch kraft der Vernunft erkennbar sei, weiß Lenz zu unterscheiden. Und dies fuhrt ihn zu der rhetorischen Frage, wie sich wohl „unsere Sitten [...] jemals verbessern" ließen, „wenn wir unempfindlich für wahre Vorzüge bleiben und das aus lieber lauterer Moralität"? (BüM, 682) Wie zur Antwort setzt er an späterer Stelle seiner Ausführungen den als pharisäisch gegeißelten Moralvorstellungen seiner Epoche, jenen 'steifen Sitten' (vgl. BüM, 686), die von Werther offensiv zur Schau gestellte, lebensbejahende und in sich aufrichtige Tatkraft entgegen, die sich so angenehm von der ihn ekelnden Scheinheiligkeit und Empfmdungsseligkeit der ihn umgebenden galanten Welt abhebe. Denn diese stelle ungeachtet ihres lautstarken Sich-Berufens auf die Moral in Wahrheit nur eine der menschlichen Verrohung überlassene Sphäre dar, wo insgeheim doch die verbotene Lust zehnmal rasender wütet, wo jenachdem denn nun endlich die französische Freiheit sich ausbreitet, alles in die elendeste Karikatur
oft, um sich zu erholen, um aus der Studirstube in Gesellschaften mit heiterer Stim gehen zu können, auf der tiefsinnige Betrachtungen sonst manche ungesellige Runzel würden zurückgelassen haben" (BuT, 45). Wo Lenz diese 'offenen Köpfe' sozial situiert, dokumentiert er in seiner 1776 publizierten Schutzschrift für Wieland, Verteidigung des Herrn W gegen die Wolken von dem Verfasser der Wolken, in der er das Beziehungsgeflecht zwischen Künstler und Gesellschaft definiert. Letztere unterscheidet er in „Volk" und „Pöbel", wobei er letzteren, da er „weder Dichter noch Gelehrte anders als vom Hörensagen" kenne, für unfähig zum Diskurs über Kunst oder Gelehrsamkeit halte. Das 'Volk' hingegen, als das er die gebildeteren Stände bezeichnet, müsse ungeachtet seiner höheren Qualifikation dennoch vom Künstler „geführt werden, da es sonst in seinem Geschmack eben so unbestimmt und schwankend sein würde, als es in seinen Handlungen zu sein pflegt" (VHW, 719f).
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ausartet, [...] wo niemand ein Herz hat und wer noch eins hat nicht weiß was er damit anfangen soll[,] (BüM, 687) wo man ein ewiges Gerede von Pflichten und Moral hört und nirgends Kraft und Leben spürt [...] wo man in den eisernen Fesseln eines altfränkischen Etikette alle seine edelsten Wünsche und Neigungen in den berauchten Wänden seiner Studierstube vorsichtig ersticken läßt und so bald sie sich melden, irgend ein System der Moral dagegen schreibt, oder in neueren Zeiten jämmerlich süßtönende Klagen, Idyllen und Romanzen und Spaziergängef.] (BüM, 686)
Bei dieser Klage über die 'Pflichten' und 'Systeme der Moral' hat Lenz nicht etwa seinen Lehrer Kant im Sinn gehabt, sondern dessen der kirchlichen Orthodoxie nahestehende philosophische Vorgänger bzw. zeitgenössische Gegner, die er 1776 in seiner Schutzschrift für Wieland besonders heftig attakkiert.49 Dies ergibt sich auch aus jener Formulierung, mit der er Kritik an der galanten, empfindungsseligen Literatur übt. Denn indem er sie durch die Phrase „in neueren Zeiten" in seiner eigenen Gegenwart situiert, versetzt er die von ihm zuvor verurteilten 'Moralsysteme' und deren 'Gerede' als Relikte in eine vor allem geistig - fernere Vergangenheit. Doch sieht er diese weiterhin nachwirken, was gerade - so auch Kants Überzeugung - an den nach französischem Vorbild ausgerichteten höfischen Verhaltensweisen der deutschen Frauen deutlich werde. Deshalb favorisiere er, so Lenz an gleicher Stelle, wenn ,jede Tochter Germaniens", statt diese verruchte Lebensart zu pflegen, sich lieber „ihrer verlernten und verkünstelten Natur allein wieder zurück näher[n]" möge (BüM, 679).50 49 Dort heißt es unter anderem, er „verachte" die „Weisheit" jener „HeiTen" „Philosophen", die doch lediglich in der „Zufriedenheit" darüber bestehe, alle „Rechte der Menschheit" durch das „Zusammenlegen der Hände in den Schoß" längst aufgegeben zu haben. Die „Faulenzerei" werde so zum Inhalt einer „Religion" erhoben, deren vornehmliche Aussage in der Versicherung bestehe, daß die „Mäßigung unsrer Begierden und Wünsche" - hiermit meint Lenz vor allem die ideellen, nicht die materiellen - „im Himmel tausendfach werde belohnt werden" (VHW, 730f). In seiner Schrift Über die Soldatenehen bezieht Lenz die Vertreter der rationalen Philosophie in diese grundsätzliche Kritik ein. Ihnen wirft er vor, lediglich „ihr Hirn auseinander zu dehnen", statt „die menschliche Gesellschaft" zu lehren, wie sie „g 1 ü c k 1 i c h " werden könne (ÜdS, 820). Die sich derart artikulierende Gelehrtenkritik deckt sich mit vielfältigen, nicht minder scharf formulierten Äußerungen Kants, den sein Schüler Lenz in einem vermutlich 1777 entstandenen Text zu zitieren scheint, wenn er in Briefe eines jungen L...von Adel an seine Mutter bissig formuliert, „die Gelehrten machen oft dumme Streiche", weshalb sie „deswegen immer Gelehrte" blieben, - „sagt der Herr Professor". In: WB, Bd. 2, (S. 827830), S. 828. 50 Kants Kritik an höfischen Verhaltensweisen zielte stets auch in eine ausgeprägt politische Dimension. Daß Kant die französische Revolution begeistert begrüßt hat, muß nicht weiter dargestellt werden, ebensowenig die wachsenden Schwierigkeiten des alten Kant mit der sich nicht zuletzt an seiner kirchenkritischen Haltung reibenden preußischen Zensur. Und auch zu Lenzens Studienzeit hatte der Dozent - in seinen Vorlesungen - teils erstaunlich freimütige Kritik an den sogenannten Stützen des Staates geübt. So etwa in seinem Kollegium Uber Metaphysik, wenn er in Bezug auf das kategorisch geltende sittliche Gebot zur „Redlichkeit"
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Lenzens Lob der sprühenden Lebenskraft Werthers und dessen ihm vorbildlich erscheinender Bereitschaft zum freien Handeln darf nicht losgelöst von der ebenso Kantschen wie pietistischen Überzeugung interpretiert werden, daß jedes Individuum der strikten Verpflichtung zum ethischen Handeln unterliege. Frei soll und muß Werther nach Lenzens Verständnis denn auch unbedingt sein dürfen, aber nicht frei vom Moralgesetz; weil der Mensch dazu von Gott nicht bestimmt worden sei, weil er nur Bestandteil, nicht Schöpfer der Natur sein solle. Mit dieser Ansicht spricht er der menschlichen Natur zwei unterschiedliche Attribute zu, die nur scheinbar einander ausschließen: individuelle, mutig praktizierte Freiheit und natürliches Gebundensein an ein kategorisch geltendes Moralgesetz. Und diesen scheinbaren Widerspruch erkennt Lenz ausgerechnet durch die Gestalt des Werther in geradezu vorbildlicher Weise aufgelöst. Denn im Gegensatz zu den allerorten gegen den Goethe-Roman erhobenen Vorbehalten, die zumeist Werthers angebliche sittliche Verfehlungen verdammen und seinen Freitod als den tragischen Höhepunkt dieser Sündhaftigkeit ansehen, interpretiert Lenz eben jene Todesbereitschaft nicht etwa als Zeichen des Lebensüberdrusses und Höhepunkt der Versündigung gegen Gottes Gebote. Vielmehr werde in ihr die Werther grundsätzlich auszeichnende Fähigkeit manifestiert, die früheren Verstöße gegen den Primat der Moral aus eigener Kraft und aus eigenem sittlichen Vermögen an sich selber sanktionieren zu können. So beweise Werther, „der im Stande ist sich selbst zu s t r a f e n wenn er es wo v e r s e h e n haben s o l l t e " (BiiM, 687), gerade durch diesen alles entscheidenden Entschluß ein Höchstmaß an sittlicher Reife, mit dem er schlußendlich doch noch - und zwar aus freiem Willen - die Gültigkeit des auch ihn verpflichtenden Moralgesetzes anerkenne. Diese positive Beurteilung des Freitodes als selbstverordneter Sühne stellt keinen für Lenz neuen Gedanken dar. Er läßt sich in dichterischer Überhöhung schon im Hofmeister-Drama nachweisen, wo er als der entscheidende Wendepunkt des schier unaufhaltsam einem tragischen Ende zustrebenden Schicksals der weiblichen Protagonistin stilisiert wird. Denn Gustchen widerfährt erst nach einem Suizidversuch von höherer Seite Vergebung. Das Schicksal gewährt ihr nach der wundersamen Rettung durch die Hand des eigenen Vaters eine neuerliche Chance, indem Gustchens Verlobter, der von der nur durch Zufall abgewendeten Tragödie erfahren hat und sich Gustchens Reue durch ihre bewiesene Tatbereitschaft gewiß sein darf, sich seiner sittlichen Pflicht besinnt. Dem göttlichen Prinzip der Vergebung folgend, verzeiht er ihre Sünden und nimmt Gustchen samt dem unehelichen Kind Läuffers zu sich. Der in dieser Dichtung stilisierte Freitod stellt für den Autor mehr dar als nur ein dichterisches Sujet. Daß er ihn als denkbaren Ausweg aus einer ungeliebten Welt auch für sich selbst ernsthaft erwogen hat, verdeutlicht er in seiner (das zu beachten sei, um vor Gott der Glückseligkeit würdig zu werden) lapidar feststellt, daß man wohl nur „bei Hofe" durch .Aufrichtigkeit [...] nicht fort[komme]" (M, 288).
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autobiographischen, nicht zuletzt zur Bewältigung quälender Erlebnisse verfaßten Prosa Der Waldbruder aus dem Jahre 1776, mit der er schon durch den Untertitel „Pendant zu Werthers Leiden" (DW, 380) demonstrativ an den Goethe-Roman anknüpft. Und ebenso wie Werther empfindet auch Lenzens Ich-Erzähler das Leben als „Last", die ihn „in der Welt herum von einem Ort zum andern nimmer ruhig" habe umherziehen lassen; eine Last, der er sich zuweilen „gar zu gern" entledigt hätte, - „wenn er nicht den Selbstmord, ohne dringende Not, nach seinem Glaubenssystem für Sünde" hielte (DW, 410).
'STURM UND DRANG' AUSBLICK AUF EIN VERÄNDERTES EPOCHENVERSTÄNDNIS
I Lenzens Interpretation des Werther kann im Detail sicherlich kontrovers kommentiert werden. Unstrittig wird aber sein, daß das Propagieren der Idee einer unauflöslichen Bindung des Menschen an ein für alle verpflichtendes ethisches Ideal sicherlich mehr über den Dichter selbst aussagt, als über den von ihm vordergründig behandelten literarischen Gegenstand.1 Vergleicht man nun diese Lenzsche Positionsbestimmung und ihren geistigen Hintergrund mit den von der Forschung über Goethe gewonnenen Erkenntnissen, setzt man also Lenzens Œuvre und die mit ihm verbundenen Intentionen und Traditionen sowie die philosophischen und kunsttheoretischen Überzeugungen des Dichters in Relation zu denen seines Künstlerkollegen, erscheint jeder Versuch ungerechtfertigt, beide Autoren noch länger unter dem gemeinsamen Begriff des sogenannten Sturm und Drang fassen zu wollen. Deshalb gilt es nun, nachdem die Revision der theoretischen Grundlagen Lenzens geleistet und ihre Genese aufgezeigt worden ist, Konsequenzen aus der Kenntnis seiner auf ihre Quellen zurückverfolgten geistigen Besonderheiten zu ziehen und einige Überlegungen über die künftig mit dem Begriff des Sturm und Drang noch zu verbindenden Inhalte anzustellen. Seit diese Bezeichnung gegen Ende des 19. Jahrhunderts von Dilthey dem gleichnamigen Drama F.M. Klingers entlehnt worden ist, hat - wie in der Einführung dieser Untersuchimg bereits verdeutlicht wurde - die damit bezeichnete Epoche zahlreiche Beschreibungsversuche erfahren, die durch erhebliche Unstimmigkeiten und unzulängliche Systematik charakterisiert sind. Die gravierenden Unsicherheiten bei der literaturgeschichtlichen Einordnung der zwischen etwa 1770 und 1780 entstandenen Dichtungen haben bis heute die Formulierung eines klaren, von Widersprüchen freien Epochenbegriffs verhindert, der zur Eingrenzung ganz spezifischer philosophischer wie auch literarischer Traditionen hätte dienen können. Doch obwohl diese Unzulänglichkeiten stets
1
Zu Lenzens Methode, in seinen Arbeiten vorgeblich diskutierte literarische und andere Gegenstände lediglich als äußere Aufhänger zur primären Darstellung der eigenen Positionen zu gebrauchen, vgl. Robert Stockhammers Aufsatz Zur Politik des Herz(ens): J.M.R. Lenz ' 'misreadings' von Goethes 'Werther' (In: Jakob Michael Reinhold Lenz. Studien zum Gesamtwerk, hrsg. von David Hill, Opladen 1994, S. 129-139). Darin zeigt Stockhammer auch am Waldbruder, dem Tagebuch und der Zerim-Prosadichtung Lenzens Methode einer systematischen „Desorientierung" auf (Stockhammer, 133), bei der, wie etwa im vorliegenden Fall bei der Behandlung von Goethes Briefroman, auf eine 'innerästhetische' bzw. 'esoterische' (vgl. Stockhammer, 137) Auseinandersetzung mit dem eigentlichen Gegenstand zugunsten der ausführlichen Darlegung eigener Standpunkte verzichtet wird.
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'Sturm und Drang' - Ausblick auf ein verändertes Epochenverständnis
offenbar gewesen sind, haben sie keinen Bruch mit der vom alten Goethe in Dichtung und Wahrheit getroffenen Festlegung zu provozieren vermocht, daß die während der 70er Jahre - die Goethe traditionsbildend als die 'WertherZeit' apostrophiert hat - in seinem persönlichen Umfeld entstandene Literatur insgesamt unter einen gemeinsamen Begriff, unter eine gemeinsame I d e e gefaßt und damit vereinheitlicht werden könne. Durch die Übernahme dieses Paradigmas wurde von der literarischen Forschung implizit auch jene zeitgenössische, im Teutschen Merkur publizierte Einordnung anerkannt, Lenz und Goethe stellten die beiden künstlerischen Protagonisten der „Parthey" bzw. „Secte" Hamanns und Herders (!) dar.2 Diese bei Lenz - wie in der vorliegenden Untersuchung gezeigt worden ist - nicht gerechtfertigte Einschätzung wirkt bis heute ungebrochen fort und dominiert die mit dem Begriff Sturm und Drang verknüpften Ansichten, auch wenn inzwischen differenzierter über die in diesem geistigen Umfeld situierten Autoren geurteilt wird, deren Unterschiede und Gegensätze zueinander mittlerweile stärkere Beachtung gefunden haben. Aber welchen Erkenntnisgewinn gestattet eine derartige Forschungspraxis überhaupt, die auf dem Status quo von - nach Überzeugung des Verfassers und als Ergebnis der vorliegenden Untersuchung - überholten Paradigmen beharrt und bei der fortgesetzt ein Epochenbegriff verwendet wird, der von inneren Widersprüchen charakterisiert ist? Welche Funktion, welchen Nutzen und welche Rechtfertigung kann ein auf diese Weise gebildeter Begriff haben, wenn sein Inhalt zumeist umstritten und vielfältigen Neubestimmungen unterworfen gewesen ist und er bereits der eigentlich grundlegenden Eigenschaft entbehrt, nämlich dauerhaft eine schlüssige Zeichenfunktion für eine eindeutige und wiedererkennbare Tatsache - für eine Idee - zu besitzen? Wer diese einst von John Locke3 formulierte und insbesondere von Kant aufgenommene strenge Anforderung an einen Begriff gering wertet und etwa wie Luserke 'Sturm und Drang' trotz aller freimütig eingestandenen Vorbehalte dennoch als einen „Arbeitsbegriff' gelten läßt, um unter Verweis auf nicht minder unklare „Bezugsgrößen" das eigentlich Unvereinbare - nämlich Goethe und Lenz - auch künftig miteinander zu vereinen („die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen"; Luserke 1993, 13) schätzt die Bedeutung von Begriffen und die Funktion ihres Gebrauchs falsch ein. Denn begriffliche Unklarheit und Beliebigkeit zu rechtfertigen, mißachtet die Bedeutung der Tatsache, daß alles Denken sich nur in Begriffen vollziehen kann und daß unserem Verstand keine anderen Gegenstände als diese zum Erkenntnisgewinn zur Verfügung stehen. Nur klare und eindeutige Begriffsbestimmungen ermöglichen vernünftige Er2
3
Zitiert nach Helmut de Boor, Richard Newald (Hrsg.); Geschichte der deutschen Literatur. Bd. 6, Aujklärung, Sturm und Drang, Frühe Klassik. 1740-1789, bearbeitet von Sven Aage Jergensen u.a., Manchen 1990, S. 425. John Locke: Über den menschlichen Verstand. - Entstanden 1670, 2. Bde., Leipzig o.J., vgl. darin die Vorrede „Schreiben an den Leser", S. 16. Vgl. auch 1. Buch, 2. Kapitel, §8, „Die Bedeutung des Wortes Idee", S. 24f.
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kenntnis, weshalb auch beim Sturm und Drang Kants Diktum zu gelten hat, man müsse einem Begriff eindeutige Merkmale zuordnen können, die einer sachlichen Analyse standhalten. Deshalb kann der bei Lenz erfolgte Nachweis einer intensiven und überaus produktiven Kant-Rezeption nicht ohne weitreichende Konsequenzen für die Einordnung dieses Autors in die Literatur der 70er Jahre des 18. Jahrhunderts bleiben, deshalb werden - da Goethe methodisch und inhaltlich eine konträre geistige Tradition repräsentiert - die im Verlauf der vorliegenden Untersuchung erzielten Arbeitsergebnisse zwangsläufig zu einem veränderten Verständnis des Sturm und Drang führen müssen.
II Um dies abschließend zu verdeutlichen, seien von beiden Autoren zwei aufschlußreiche, etwa zeitgleich entstandene schriftliche Zeugnisse kurz einander gegenübergestellt, die sehr pointiert Auskunft geben über die miteinander so unvereinbaren Welt- und Selbstverständnisse ihrer Verfasser und dabei auf die hierfür verantwortlichen philosophischen Bezugsgrößen verweisen. Beim ersten handelt es sich um einen Brief Lenzens vom Oktober 1772 an den Freund und Mentor Johann Daniel Salzmann,4 in dem der Dichter die Quintessenz seiner - wie er formuliert - „philosophischen, nicht bloß moralischen [...] Überzeugung" (293) („den Extrakt meiner Religion"; 295) darbietet. Zwei Jahre sind seit der Beendigung seines Studiums bei Kant vergangen, ein für die theoretische Grundlegung seines künftigen dichterischen Œuvres ausschlaggebender Zeitraum, in dem Lenz die wichtigsten seiner moralphilosophischen und erkenntnistheoretischen Überlegungen ausformuliert und mündlich vor der Straßburger Sozietät vorgetragen hat. Er betrachte sich, faßt der Dichter seine Selbstwahrnehmung gegenüber Salzmann bündig zusammen, als „ein guter evangelischer Christ" („kein orthodoxer"), dessen oberstes Lebensziel die Christenpflicht zu moralischem Handeln sei. Und dies gebiete ihm, Jesu Vorbild einer unbedingten Menschenliebe nachzueifern („kein größeres Glück [...], als andere glücklich zu machen"), um allmählich, Stufe für Stufe, „zu Gott, als dem höchsten Gut, hinaufzusteigen" und dadurch letztlich der Erlösung („Seligkeit"; 293) würdig zu werden (295). Dieses am historischen Jesus orientierte und eine kategorisch gültige Moral anerkennende Selbstverständnis fuhrt Lenz nicht etwa auf seine pietistische Erziehung und die dabei erfolgte Hinführung zum christlichen Glauben zurück. Vielmehr interpretiert er es als natürliche Folge des methodisch richtigen Gebrauchs der Vernunft und der hierdurch ermöglichten Erkenntnisgewinne. Denn der „Glaube" könne - so seine Schlußfolgerung - allenfalls als „complementum unserer Vernunft" angesehen werden, vermöge er doch ledig4
Lenz an Johann Daniel Salzmann, Landau Oktober 1772. - In: WB, Bd. 3, S. 293-295.
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lieh „dasjenige" zu ersetzen, was der Vernunft „zur gottfälligen [sie!] Richtung unsers Willens" fehle (293). Wirkliches Erkennen der dem Menschen vorgegebenen Bestimmung, die ihn im Innersten, im 'Herzen', mit „Liebe zur Tugend, zum Wahren, Guten und Schönen" erfülle, gestatte der „mehr in den Empfindungen gegründete]" Glaube jedoch nicht, weshalb er - als „notwendige Gabe Gottes" - vor allem für all jene Bedeutung besitze, bei denen „die Vernunft noch erst im Anfange ihrer Entwicklung" begriffen sei (293). Jedoch einzig die Vernunfterkenntnis eröffne den Blick auf die alles Seiende konstituierenden Zusammenhänge in der „Ordnung Gottes" (294) und auf die mit dieser Ordnung verbundene Absicht. Und nur dieses Erkennen versetze den einzelnen in die Lage, nicht nur diesem seinem Zweck - „als dem letzten Ziel" - zu entsprechen und Gottes „Willen auszuüben" („alle Erkenntnisse, die wir hier erwerben [, führen] zu ihm"), sondern Gott, diese „Quelle alles Wahren, Guten und Schönen", dafür auch „mit allen Kräften [der] Seele zu lieben" (295). „Dieses sind die Prämissen [...] von meiner Überzeugung von unsrer Religion [...,] das Lieblingsstudium meiner Seele" (294f). Nur kurze Zeit nachdem Lenz diese Grundlagen seines von Kants Transzendentalphilosophie geprägten, moralorientierten Welt- und Selbstverständnisses benennt, verarbeitet Goethe (vermutlich gegen Mitte des Jahres 1773) einen der antiken Mythologie entnommenen Stoff zu zwei thematisch ineinander greifenden Dichtungen, denen ein Welt- und Menschenbild zugrunde liegt, das zu dem von Lenz demonstrierten kaum gegensätzlicher hätte ausfallen können. Es ist der Prometheus-Mythos,5 an den Goethe in einer lyrischen sowie einer nur als Fragment überlieferten dramatischen Dichtung anknüpft, wobei er ihn weit ab von der antiken Vorlage gleichsam neu erschafft. Denn Goethes Prometheus bietet nicht das Bild eines von höheren Kräften ob seiner Freveltaten Gestraften und Erniedrigten, sondern stellt sich als ein den Göttern erfolgreich trotzender Titan dar, dessen Macht auch die ihm von Zeus als Verderberin geschickte Pandora erliegt. Und so kann Prometheus weiterhin als Menschenbildner wirken, der - begleitet nur von Minerva, der ihn liebenden Göttin der Weisheit und des Krieges, - die Olympier kraftvoll in ihre Schranken weist, dadurch zu einem neuen Adam, zum Übermenschen wird und ein neues Geschlecht nach seinem Bilde und aus eigenem Vermögen erschafft. Diese Umdichtung des antiken Mythos drückt ein wie durch einen Sturm bewegtes, einzig auf das Diesseits orientiertes Lebensgefühl aus („Hier meine Welt, mein All!"; PF, 325) und stellt dadurch die pointierte Standortbestimmung eines energisch aufstrebenden, primär sich von der eigenen Lebensener5
Im einzelnen literarisch verarbeitet zum Gedicht (Ode) Prometheus sowie zum gleichnamigen dramatischen Fragment; entstanden vermutlich in Frankfurt zwischen September 1772 und Oktober 1773. In: Der junge Goethe, hrsg. von Hanna Fischer-Lamberg, neu bearbeitete Ausgabe in fllnf Bänden, Bd. III, September 1772-Dezember 1773, Berlin/New York 1999; Zeitangabe: Anmerkung, S. 466. Abdruck Prometheus-Geàicht: S. 78f (Anm., S. 437-439); dramatisches Fragment, künftig abgekürzt „PF": S. 322-338 (Anm., S. 465-472).
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gie erfüllt fühlenden Künstlers dar, dem der Drang nach trotziger Weltaneignung und nicht (wie beim pietistisch erzogenen Lenz) nach demütigem Dienst am Glück des Nächsten Sinn und Aufgabe des Lebens zu sein scheint.6 Und so läßt Goethe seinen Prometheus denn auch das Leben und die für die Menschheit geltenden Maßstäbe aus der Kraft des eigenen Willens heraus erschaffen, wodurch er nicht nur die ins Transzendente zielende Gottes-Behauptung von Religion und Schulmetaphysik zurückweist, sondern auch die von Lenz in besonderer Weise vertretene Vernunfterkenntnis einer vom Menschen unabhängig existierenden, dem Individuum kategorisch gebietenden Moral, dem summum bonum (Prometheus: „Und wähnt ich eine Gottheit spreche, / Sprach ich selbst. [...] So haben meine Kräfte sich entwickelt / [...] meine Kräfte! / Sie sind mein, und mein ist ihr Gebrauch." PF, 326f). Diese Neubestimmung des Phänomens Leben, die Goethe nicht zuletzt durch seine Absage an die an eine konkrete Gottesvorstellung gebundene
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Zwar ist Goethes intensivere Beschäftigung mit dem Pietismus zwischen 1768 und 1770 Allgemeingut, doch konnte man zu keiner Zeit Goethe, der einem orthodox-lutherischen Elternhaus entstammt, deswegen als Pietist bezeichnen. Hinzu kommt, daß seine Aufmerksamkeit unter Anleitung von Susanna Katharina von Klettenberg vor allem der HermhuterBewegung gegolten hat, deren Neubewertung der gleichermaßen vom Franckeschen Pietismus wie auch von der lutherischen Orthodoxie verfemten Sinnlichkeit mit Goethes eigener, sich von der 'trockenen Moral' des Elternhauses emanzipierenden Anschauung korrespondierte. Lenz hat Goethes intensive Beschäftigung mit den Publikationen des HerrnhutGründers von Zinzendorf - und das ihm maßlos Ubersteigert vorkommende Ich-Gefilhl des Freundes - ausgiebig und mit nur unvollkommen kaschiertem Mißfallen in einer dichterischen Persiflage auf den Freund, dem vermutlich zwischen 1772 und 1775 noch in Straßburg entstandenen dramatischen Fragment Zum Weinen oder Weil Ihrs so haben -wollt vorgeführt (in: WB, Bd. 1, S. 568-575, vgl. insbesondere die zweite Szene, in der auch Goethes angeblich nur aus Langeweile und ohne bleibende Nachwirkung erfolgte Lektüre von John Lockes Hauptwerk Versuch über den menschlichen Verstand ironisiert wird). Aufschlußreich in diesem Kontext sind Lenzens zahlreiche Anspielungen auf Goethes angebliche Charakterschwächen, die er im zeitlichen Umfeld seines Weimarer Zerwürfnisses mit dem Freund in einigen Dichtungen hat anklingen lassen und die über das persönliche Verletzt-Sein hinaus doch auch eine bereits vor diesem Streit öfters angedeutete Einschätzung widerspiegeln. So läßt er zum Beispiel in seiner autobiographisch intendierten Prosa Der Waldbruder Goethes Alter ego Rother an Herz (d.i. Lenz) über sich selbst schreiben, er wolle sich des eigenen Vorteils willen „überall hinzupassen", denn die „Selbstliebe" sei „immer das, was uns die Kraft zu den anderen Tugenden geben muß, merk Dir das, mein menschenliebiger Don Quischotte! [sie!]" (DW, 384) In seinem dramatischen Fragment Zum Weinen... hatte er bereits Jahre vor dem Weimarer Eklat seinen Protagonisten „L." (Lenz) zu „Gth." (Goethe) sagen lassen: „Bruder Gth. [...] Du suchst nur einen großen Namen zu erlangen. Meiner Meinung nach aber ist ein guter Name weit besser als ein großer" (s.d., 574). Während Lenz sich auch nach seiner von Goethe betriebenen Verweisung aus Weimar weiterhin zwar sehr kritisch, aber unpolemisch über die Wesenszüge des Freundes geäußert hat, sind Goethes Urteile über Lenz und andere stets ungleich drastischer formuliert worden. So schreibt Goethe am 16. September 1776 an Lavater: „Lenz ist unter uns wie ein kranckes Kind und Klinger wie ein Splitter im Fleisch, er schwürt, und er wird sich heraus schwüren leider." (Goethe an Lavater, Weimar 16.9.1776. In: Goethes Briefe in vier Bänden. Hamburger Ausgabe, Bd. 1, Briefe der Jahre 1764-1786, Hamburg 1962, [S. 228f] S. 229.).
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christliche Jenseitsvermutung erreicht, kann nicht folgenlos bleiben für das Verständnis des Phänomens Tod. Denn ebenso wie das Leben an Bedeutung gewinnt, wenn man die Existenz eines Jenseits ausschließt, erhält auch der Tod eine neue Funktion zugesprochen, markiert er doch nicht länger die unumgehbare Schwelle in eine andere, im Unbekannten liegende Daseinsform. Für Prometheus stellt er kein Sinnbild für die Endlichkeit und Einmaligkeit des individuellen Lebens dar und bezeichnet auch keinen Angst verbreitenden Übergang ins Ungewisse, für den der einzelne sich bestenfalls mit der optimistischen Erlösungsvorstellung wappnen könne, daß ihm im Jenseits diesseitige Moralorientierung vergolten werde. Im Gegenteil, für Prometheus besitzt der Tod lediglich die Funktion, das alte Leben („Begier und Freud und Schmerz") in „stürmenden Genuss" aufzulösen, - auf daß alles von neuem beginne, auf daß der Mensch „aufs jüngste wieder" auflebe, „erquickt [von] Wonne Schlaf' und freudig beseelt wieder in den ewigen Kreislauf des Lebens eintrete, um aufs „neue zu fürchten zu hoffen und zu begehren" (PF, 338). Diese Vorstellung vom Kreislauf des Lebens, die Goethe in Anlehnung an Leibniz' Monadenlehre Jahrzehnte später auch mit dem Bild einer 'rotierenden Bewegung um sich selbst' der als Hauptmonade verstandenen menschlichen Seele beschreibt,7 entspringt einer Weltauffassung, die nicht nur dem christlichen Weltverständnis widerspricht. Sie steht auch in Opposition zu dem von Lenz durch Kant in besonderer Weise rezipierten mechanistischen Weltverständnis Isaac Newtons, das Goethe nicht zuletzt mit seiner Farbenlehre vehement bekämpfte, weil es dem eigenen diametral entgegengesetzt war.8 Goethes Auffassung fußt auf dem antiken Entelechiegedanken, auf jener von ihm vermutlich durch die den Pantheismusgedanken propagierenden Schriften Giordano Brunos rezipierten teleologischen Lehre, daß die Entwicklung jedes Lebewesens durch ein
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Vgl. in Goethes Werke, hrsg. von Paul Raabe, Nachdruck der Ausgabe Weimar 1887-1919, München 1990, Bd. 1-3, Π, 6, S. 216. Wörtlich heißt es dort: „Das Höchstef,] was wir von Gott und der Natur erhalten haben, ist das Leben, die rotirende Bewegung der Monas um sich selbst, welches weder Kraft noch Ruhe kennt". Und an Zelter schreibt Goethe in diesem Sinne im März 1827: „Die entelechische Monade muß sich nur in rastloser Tätigkeit erhalten; wird ihr diese zur andern Natur, so kann es ihr in Ewigkeit nicht an Beschäftigung fehlen. Verzeih diese abstrusen Ausdrücke! man [sie!] hat sich aber von jeher in solche Regionen verloren, in solchen Sprecharten sich mitzuteilen versucht, da wo die Vernunft nicht hinreichte und wo man doch die Unvernunft nicht wollte walten lassen." Goethe an Karl Friedrich Zelter, Weimar (19.)3.1827. - In: Johann Wolfgang Goethe. Briefe. Auswahl von Rudolf Bach, mit einem Nachwort von Hans Heinrich Borcherdt, München 1958, (S. 1020f) S. 1021. Dies verweist auch auf die fllr Goethe typische Auffassung von Wissenschaftlichkeit, die (da er hierunter primär das sinnliche Beobachten von Objekten in ihrer natürlichen Umgebung verstanden hat) der kausalanalytischen, experimentellen und streng methodischen entgegengesetzt ist. Goethes nach modernen Maßstäben unwissenschaftliche Methodik lag nicht nur seinen naturforscherischen Studien zugrunde, sondern war auch charakteristisch für seine Beschäftigung mit Philosophie, bei der er - statt möglichst methodisch präzise vorzugehen - der Universitätsphilosophie à la Kant stets den sogenannten gesunden Menschenverstand vorgezogen hat.
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in ihm selbst liegendes Kraftzentrum, die Entelechie, vorherbestimmt und auf einen genau festgelegten Endpunkt ausgerichtet sei.9
III Durch seine Neugestaltung des Prometheus-Mythos hat Goethe in nicht geringerem Ausmaß als Lenz mit seinem Brief an Salzmann einen Schlüssel zum Verständnis seiner Dichterpersönlichkeit und der ihr zugrundeliegenden geistigen Fundamente dargeboten. Vervollständigt worden ist dieser Schlüssel von seinem vermutlich im Frühjahr 1774 verfaßten, nur vordergründig im Gegensatz zum Prometheus stehenden Komplementärgedicht Ganymed,1,0 in dem Goethe der Sehnsucht nach einem Aufgehen des Individuums in der Allharmonie, in der Vereinigung mit Gott Ausdruck verleiht. Sagt Prometheus sich vom Gottvater Zeus los und trotzt ihm, um selber gottgleich und Weltschöpfer zu sein, verkörpert Ganymeds Sehnsucht ein im Grunde ganz ähnliches Empfinden, nämlich den Wunsch nach vollkommener Identität zwischen Mensch und Gott, wobei die Natur, in der sich das Göttliche offenbart und von der der Mensch einen Teil darstellt, das diesen Zustand ermöglichende Medium ist. Nicht nur das von Prometheus und vor allem von Ganymed artikulierte pantheistische All-Einheitsgefuhl,11 sondern auch der von Prometheus demon-
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Gefestigt wurde diese Auffassung bei Goethe insbesondere von Herder, dessen Einfluß auf seine Entwicklung einer diesseitsbezogenen bürgerlichen Ethik, die unabhängig von religiösen Vorstellungen und Konfessionen kosmopolitisch ausgerichtet war, nicht unterschätzt werden darf. Besonders der Kontakt mit diesem ehemaligen Schüler und erklärten Gegner Kants hat bekanntlich einen der Goethe intellektuell maßgeblich prägenden Einfluß dargestellt, was nicht nur für seine Beurteilung des Geniegedankens, sondern gerade für die bedingungslose Verehrung Shakespeares gilt. So habe Goethe von Herder hierbei nicht nur Inhalte übernommen, sondern etwa bei seiner Rede Zum Schäkespeares Tag auch Herders „emphatische Deklamation und dithyrambische[n] Stil imitiert" (zitiert aus Anmerkungen zu Goethes Shakespeare-Rede, in: Der junge Goethe, hrsg. von Hanna Fischer-Lamberg, Bd. 2, April 1770-September 1772, [S. 327-329] S. 328). Aber gerade in religiösen Fragen sei der Theologe zu Goethes ,,wichtigste[m] Mentor" avanciert (Hans-Jürgen Schings: Religion/Religiosität. - In: Goethe Handbuch, Bd. 4/2, Personen, Sachen, Begriffe L-Z, [S. 892898] S. 895), was nicht zuletzt für Goethes Ablehnung der Schulmetaphysik gilt, die er bei Herder - wie Hans Adler formuliert - in Verbindung mit einer „Aufwertung der Sinne und der Subjektivität als Kempunkte[...] seiner anthropozentrischen Erkenntnislehre" vorgefunden hat (Hans Adler: Erkenntnis. - In: Goethe Handbuch, hrsg. von Bernd Witte u.a., Bd. 4/1, Personen, Sachen, Begriffe Α-K, [S. 277-280] S. 277f). Hierzu hatte Herder filr das Jahr 1765 - ebenso wie unter völlig anderen Vorzeichen Kant für das Jahr 1769 - für sich eine 'kopernikanische Wende' reklamiert, die nach seinem Verständnis die Konkretisierung der Philosophie als antimetaphysische Anthropologie markiert habe. 10 Goethe: Ganymed, in: Der junge Goethe, hrsg. von Hanna Fischer-Lamberg, neu bearbeitete Ausgabe in fllnf Bänden, Bd. IV, Januar-Dezember 1774, Berlin/New York 1999; Angabe der Entstehungszeit: Anmerkung, S. 337. Abdruck Ganymed: S. 30. 11 Vgl. hierzu aus Goethes Frühwerk besonders Mahomet, Werther und Ur-Faust.
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strierte unbändige Drang nach Selbstbehauptung und freier Verwirklichung der in sich gespürten Anlagen verweisen auf Goethes ab zirka 1770 erfolgte Rezeption der spinozistischen Immanenzphilosophie.12 Sie stellt das wohl wesentlichste Bildungserlebnis des späteren Weimarer Rates dar und trug ihm den von Heine verliehenen Ehrentitel eines „Spinoza der Poesie" ein.13 Die Begegnung mit der Lehre des jüdischen Philosophen beförderte nicht nur seine Bibelund Kirchenkritik, sondern fundierte vor allem seine säkulare Weltsicht und pantheistisch-sensualistische Grundüberzeugung und vermittelte ihm den elektrisierenden Gedanken der Identität von Gott und Natur. Letztlich wurde hierdurch auch seine Praxis als Naturforscher und seine damit verbundene Opposition zum Weltverständnis Newtons begründet, indem Goethe Spinozas Lehre folgte, Wissenserweiterung durch konkrete Anschauung zu erlangen und nicht etwa durch kausalanalytische Überlegungen. Die grundsätzliche Verschiedenheit der geistigen Traditionen und künstlerischen Intentionen Goethes und Lenzens, die - wie Lenz sensibel bemerkt hat schon früh auch ihr zwischenmenschliches Miteinander belastet hat und vielleicht der eigentliche Grund ihres Zerwürfnisses gewesen ist, wirft die Frage nach der künftigen Funktion und Bedeutung des Begriffs Sturm und Drang auf, unter den - mit dem in einer völlig gegensätzlichen geistigen Tradition stehenden Lenz - nun einer seiner beiden bisherigen Protagonisten nicht länger gefaßt werden kann. In diesem Zusammenhang erscheint es hilfreich, an die von Hermann August Korff zu Beginn des 20. Jahrhunderts formulierte geistesgeschichtliche Periodisierung der Aufklärung zu erinnern, bei der der Sturm und Drang lediglich als die erste der in drei Phasen gegliederten 'Goethezeit' verstanden wird, der als zweite und dritte die Weimarer Klassik und die Romantik gefolgt seien.14 Auch wenn viele der von Korff im Umfeld dieser Festlegung formulierten Erkenntnisse durch die Forschungsgeschichte bereits revidiert worden sind, verdient seine Charakterisierung des Sturm und Drang als unmittelbare Vorbereitung der Romantik gerade angesichts der Neubewertung Lenzens neue Beachtung. Denn sie gibt eine praktikable Richtung vor, wie dieser von seinem größten Widerspruch nun gleichsam befreite Begriff künftig qualifiziert werden könnte; eben nicht länger mit der Intention, durch ihn eine mehr oder weniger selbständige literarische Epoche zu benennen, sondern tatsächlich und mit allen Konsequenzen eine primär auf Goethe abzielende literarische Entwicklungsphase, aus der sich Goethes weiteres Werk organisch entwickelt habe. In diesem Kontext wird die Einordnung anderer Autoren wie zum Beispiel Friedrich Maximilian Klinger und Heinrich Leopold Wagner wohl eben12 Vgl. hierzu insbesondere Martin Bollacher: Der junge Goethe und Spinoza. Studien zur Geschichte des Spinozismus in der Epoche des Sturm und Drang. Tübingen 1969. 13 Heinrich Heine: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. - In: Heinrich Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hrsg. von Manfred Windfuhr, Hamburg 1973ff, Bd. 8.1, S. 101. 14 Vgl. Hermann August Korff: Geist der Goethezeit. 4 Bde, Leipzig 1923-1953, Bd. 1, S. 23.
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falls revidiert werden müssen, um ihre Nähe bzw. Distanz zu diesem veränderten Verständnis des Sturm und Drang zu überprüfen.15 Jakob Lenz hingegen wird gleichsam als der Beginn einer neu entstandenen, völlig eigenständigen literarischen Traditionslinie zu begreifen sein, deren wesentliche Bezugsgröße die Transzendentalphilosophie Immanuel Kants darstellt. Sich parallel zur Goethezeit entwickelnd und untrennbar mit der allmählichen Durchsetzung des Kritizismus verknüpft, hat diese mit Kants kopernikanischer Wende von 1769 ihren Ausgang nehmende literarische Tradition in den Kantianern Schiller und vor allem Kleist weitere Protagonisten und Fortentwickler gefunden,16 die ihre Sujets aus einem elementaren Krisenbewußtsein bezüglich Staat und Gesellschaft gewonnen und es vermocht haben, das Bewußtsein für die Verantwortung des einzelnen für moralisches Handeln am Nächsten konstruktiv mit dem spätaufklärerischen Vernunftgedanken zu verknüpfen.
15 Aufschlußreich ist, daß bereits vor über einem Jahrhundert der leider niemals konsequent fortgeführte Versuch unternommen worden ist, Klingers Dichtungen nach Kant zu interpretieren. Auch wenn die damals erzielten Ergebnisse angesichts des heute viel reichhaltiger zur Verfügung stehenden Quellenmaterials zu Wagner und Kant keine neuerliche und umfassende (an dieser Stelle nicht zu leistende) Analyse zu ersetzen vermögen, wird durch sie doch eine vielversprechende, von den Ergebnissen dieser Abhandlung gestützte Fährte offenbar, der weiter zu folgen lohnende Erkenntnisse verspricht. Denn als Ergebnis ist eine Neueinschätzung von Klingers Œuvre im Geiste des hier Dargebotenen sehr wahrscheinlich, was die hier vorgebrachte These über die Notwendigkeit einer grundsätzlichen Neubestimmung des Sturm und Drang zusätzlich stützen würde. Vgl. Oskar Erdmann: Ober die Stellung F.M. Klingers zur Kantschen Philosophie. - In: Altpreußische Monatsschrift, 15, 1878, S. 57-65. 16 Es sei kurz an Goethes problematisches Verhältnis zu diesen Dichtern erinnert, die außer durch diesen äußeren Umstand auch durch ihre Affinität zu Kant mit Lenz und Klinger in besonderer Weise geistig verbunden waren. So hätten Schillers Räuber Goethe nach eigener Aussage 'angewidert' (vgl. Goethe: Erste Bekanntschaft mit Schiller 1794 [auch Glückliches Ereigniß] - In: Goethes Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in 40 Bde., hrsg. von Eduard von der Hellen, Bd. 30, Annalen, Stuttgart/Berlin o.J. [S. 388-392] S. 388). Wörtlich schrieb er über seine frühere Distanz zu Schiller: „Die Kantische Philosophie [...] hatte er mit Freude in sich aufgenommen. [...] Niemand konnte leugnen, daß zwischen zwei Geistesantipoden mehr als e i n Erddiameter die Scheidung mache, da sie denn beiderseits als Pole gelten mögen, aber ohne deswegen in eins nicht zusammenfallen können." (Ebd. S. 388ff) Und weiter bekennt er, ihre sich dennoch entwickelnde Freundschaft sei keine Selbstverständlichkeit gewesen und habe ,,große[...] Liebe und Zutrauen, Bedürfnis und Treue im hohen Grad gefordert [...], um ein freundschaftliches Verhältnis ohne Störung immerfort zusammen wirken zu lassen" (Goethe: Ferneres in Bezug auf mein Verhältnis zu Schiller. - In: Ebd., [S. 392-393] S. 393). Bei Lenz, Klinger und Kleist haben diese freundschaftlichen Bande den Belastungen nicht standgehalten, und seine unnachsichtige Kritik am Letztgenannten hat Goethe später den Vorwurf eingetragen, für Kleists Selbsttötung Mitverantwortung zu tragen.
Anhang
Anmerkungen zur Zitierweise Die Lenz-Zitate wurden vorwiegend der von Sigrid Damm besorgten Werkausgabe entnommen (Frankfurt am Main 1992). Die Quellenangabe erfolgt jeweils durch das den Titel des jeweiligen Einzeltextes bezeichnende Sigle sowie durch die Seitenangabe des entsprechenden Werkbandes. Hervorhebungen sind durch Sperrungen kenntlich gemacht. Die in den Mitschriften von Kants Vorlesungen reichlich enthaltenen gesperrten Textpassagen wurden in dieser Form übernommen. Auslassungen bzw. Ergänzungen des Verfassers sind durch eckige Klammern bezeichnet. Nicht gesicherte Titel von Lenzschen Texten wurden nicht kursiv gesetzt, sondern in einfache Anführungszeichen gestellt.
Siglen Werke Lenzens (in Klammern ist - soweit überliefert - die Entstehungszeit angegeben) WB AüR AüT BüM BuT Ca Co DbA DE DF DH DHP
DHS DK DL DLp DnM DS DsV DtT DvB DVC
Jakob Michael Reinhold Lenz. Werke und Briefe in drei Bänden. - Hrsg. von Sigrid Damm, Frankfurt am Main 1992. Anmerkungen über die Rezension eines neu herausgekommenen französischen Trauerspiels. - In: WB, 2, S. 625-632. (1772) Anmerkungen übers Theater. - In: WB, 2, S. 641-671. (1771/72) Briefe über die Moralität der Leiden des jungen Werthers. - In: WB, 2, S. 673-690. (1774/75) Belinde und der Tod. - Hrsg. von Verena Tammann-Bertholet und Adolf Seebaß filr das Erasmushaus, Basel 1988. (1770) Cato. - In: WB, 1, S. 549-552. (1771-1775) Coriolan. - In: WB, 1, S. 667-698. (1774/75) Die beiden Alten. - In: WB, 1, S. 339-358. (1771-1776) Der Engländer. - In: WB, 1, S. 317-337. (1775/76) Die Freunde machen den Philosophen. - In: WB, 1, S. 273-316. (1775) Der Hofmeister oder Vorteile der Privaterziehung. - In: WB, 1, S. 41-123. (1769-1771/72) Als Sr. Hochedelgebomen der Herr Professor Kant den 21 sten August 1770 für die Professor-Würde disputierte. - In: WB, 3, S. 83-84. (1770) Das Hochburger Schloß. - In: WB, 2, S. 753-760. ( 1777) Die Kleinen. - In: WB, 1, S. 473-497. ((1775/76) Der Landprediger. - In: WB, 2, S.413-463. (1776/77) Die Landplagen. - In: WB, 3, S. 32-82. (1769) Der neue Menoza oder Geschichte des cumbanischen Prinzen Tandi. - In: WB, 1, S. 125-190. (1773) Die Soldaten. - In: WB, 1, S. 191-246. (1775) Die sizilianische Vesper. - In: WB, 1, S. 359-388. (1773-1781) Der tugendhafte Taugenichts. - In: WB, 1, S. 499-526. (1775/76) Der verwundete Bräutigam. - In: WB, 1, S. 7-39. (1766) Der Versöhnungstod Jesu Christi. - In: WB, 3, S. 8-19. (1766)
264 DW EeB EeG
FW MB MeL ML MP NW PG PV RNM SdL Τ ÜdB
ÜdN ÜdS ÜdV ÜG ÜO VdV VeP VHW VSH
Anhang Der Waldbruder ein Pendant zu Werthers Leiden. - In: WB, 2, S. 380-412. (1776) Entwurf eines Briefes an einen Freund, der auf Akademieen Theologie studiert. - In: WB, 2, S. 483-487. (1771/72) Entwurf einiger Grundsätze fur die Erziehung überhaupt, besonders aber für die Erziehung des Adels. - In: WB, 2, S. 830-837. (1780) Für Wagnern. Theorie der Dramata. - In: WB, 2, S. 673. ( 1774) Moralische Bekehrung eines Poeten. - In: WB, 2, S. 330-353. (1775) Meinungen eines Laien den Geistlichen zugeeignet. - In: WB, 2, S. 522-564. (1772-1774) 'Meine Lebensregeln'. - In: WB, 2, S. 487-499. (1770-1771/72) Myrsa Polagi oder Die Irrgärten. - In: WB, 1, S. 389-417. (1779/80) Neujahrs Wunsch an meine hochzuehrenden Eltern. - In: WB, 3; S. 7-8. (1763) Pandämonium Germanicum. - In: WB, 1, S. 247-271. (1775) Philosophische Vorlesungen für empfindsame Seelen. - Hrsg. von Christoph Weiß, St. Ingbert 1994. (1771/72) Rezension des Neuen Menoza von dem Verfasser selbst aufgesetzt. - In: WB, 2, S. 699-704. (1774/75) Stimmen des Laien auf dem letzten theologischen Reichstage im Jahre 1773. - In: WB, 2, S. 565-618. (1772-1774) Das Tagebuch. - In: WB, 2, S. 289-329. (1774) Über die Bearbeitung der deutschen Sprache im Elsaß, Breisgau und den benachbarten Gegenden. - In: WB, 2, S. 770-777. (1775) Über die Natur unsers Geistes. - In: WB, 2, S. 619-624. (17711773) Über die Soldatenehen. - In: WB, 2, S. 787-827. (1773-1776) Über die Vorzüge der deutschen Sprache. - In: WB, 2, S. 777782. (1775) Über Götz von Berlichingen. - In: WB, 2, S. 637-641. (17731775) Über Ovid. - In: WB, 2, S. 704-713.(1775) Verteidigung der Verteidigung des Übersetzers der Lustspiele. In: WB, 2, S. 691-698.(1774) Versuch über das erste Principium der Moral. - In: WB, 2, S. 499-514.(1771/72) Verteidigung des Herrn W. gegen die Wolken von dem Verfasser der Wolken. - In: WB, 2, S. 713-736. (1775) Von Shakespeares Hamlet. - In: WB, 2, S. 737-744. (1775/76)
Anhang
Ζ ZüV
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Zerbin oder die neuere Philosophie. - In: WB, 2, S. 354-379. (1775) Zweierlei über Virgils erste Ekloge. - In: WB, 2, S. 632-637. (1773)
Werke Kants BGS
Dms Entwurf
KrV L
M
Ν
PE
Päd
Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen. In: Kants Werke (Akademie-Ausgabe), Bd. II, Vorkritische Schriften II, unverändeter photomechanischer Abdruck der Originalausgabe, Berlin 1968, S. 205-256. De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis. Hrsg. und mit einer Einleitung von Klaus Reich, Hamburg 1966. Entwurf und Ankündigung eines Collegii der physischen Geographie nebst dem Anhange einer kurzen Betrachtung über die Frage: Ob die Westwinde in unseren Gegenden darum feucht seien, weil sie über ein großes Meer streichen. - In: Kants Werke (Akademie-Ausgabe), Bd. II, Vorkritische Schriften II, unverändeter photomechanischer Abdruck der Originalausgabe Berlin 1905/12, Berlin 1968, S. 1-12. Kritik der reinen Vernunft. - Nach der 1. und 2. Original-Ausgabe hrsg. von Jens Timmermann, Hamburg 1998. 'Vorlesungen des Herrn Profeßoris Kant über die Logic'. Mitschrift Philippi. - In: Kants Werke (Akademie-Ausgabe), Bd. XXIV, Kant's Vorlesungen, Bd. I, Vorlesungen über Logik, 1. Hälfte, Berlin 1966, S. 305-496. Vorlesung über Metaphysik, Mitschrift Pölitz. - In: Kants Werke (Akademie-Ausgabe), Bd. XXVIII, Kant's Vorlesungen, Bd. V, Vorlesungen über Metaphysik und Rationaltheologie, 1. Hälfte, Berlin 1968, S.193-350. Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbjahre 1765-1766. - In: Kants Werke (Akademie-Ausgabe), Bd. II, Vorkritische Schriften II, unverändeter photomechanischer Abdruck der Originalausgabe Berlin 1905/12, Berlin 1968, S. 303-314. Vorlesung über Philosophische Enzyklopädie, Mitschrift. - In: Kants Werke (Akademie-Ausgabe), Bd. XXIX, Kant's Vorlesungen, Bd. VI, Kleinere Vorlesungen und Ergänzungen I, 1. Hälfte, 1. Teil, Berlin 1980, S. 3-45. Pädagogik. - In: Kant's gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), Bd. IX, Logik, Physische Geographie, Pädagogik, BerlinLeipzig 1923, S. 437-499.
266 PP
Pro
Anhang 'Prof. Imman: Kants Practische Philosophie'. Mitschrift Powalski. - In: Kants Werke (Akademie-Ausgabe), Bd. XXVII, Kant's Vorlesungen, Bd. IV, Vorlesungen über Moralphilosophie, 1. Hälfte, Berlin 1974, S. 91-236. Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik. - Hrsg. von Karl Vorländer, 7., durchgesehene Auflage, Hamburg 1993.
Übrige PF
Goethe: Prometheus (Fragment). - In: Hanna Fischer-Lamberg (Hrsg.): Der junge Goethe. Unveränderte Neuausgabe, Berlin/New York 1999, Bd. 3, September 1772-Dezember 1773, S. 322-338.
Literaturverzeichnis 1
Lenz-Ausgaben
Werke und Briefe in drei Bändea - Hrsg. von Sigrid Damm, Frankfurt am Main 1992. Gesammelte Schriften. - 5 Bde. Hrsg. von Franz Blei. München/Leipzig 19091913. Werke und Schriften. - 2 Bde. Hrsg. von Britta Titel und Hellmut Haug. Stuttgart 1966-1967. Belinde und der Tod. - Hrsg. von Verena Tammann-Bertholet und Adolf Seebaß für das Erasmushaus, Basel 1988. 'Catechismus'. - Aus dem Inhalt abgeleiteter Behelfstitel. In: Christoph Weiß (Hrsg.): Lenz Jahrbuch 1994, St. Ingbert 1994, S. 31-67. Philosophische Vorlesungen für empfindsame Seelen. - Hrsg. von Christoph Weiß, St. Ingbert 1994. Briefe: Lenz in Briefen. - Hrsg. von Fritz Waldmann. Zürich 1894. Briefe von und an J.M.R. Lenz. - Hrsg. von Karl Freye und Wolfgang Stammler. Leipzig 1918.
2
Forschungsliteratur zu Lenz
Burger, Heinz Otto: Jakob M.R. Lenz innerhalb der Goethe-Schlosserschen Konstellation. - In: Dialog. Literatur und Literaturwissenschaft im Zeichen deutsch-französischer Begegnung. Hrsg. von Rainer Schönhaar, Berlin 1973, S. 95-126. Damm, Sigrid: Jakob Michael Reinhold Lenz. Ein Essay. - In: Dies. (Hrsg.): Jakob Michael Reinhold Lenz. Werke und Briefe. Bd. 3, Frankfurt am Main 1992, S. 687-768. Dies.: Unruhe. - Rede anläßlich der Verleihung des Lion-FeuchtwangerPreises der Akademie der Künste/DDR 1987. In: Karin Wurst (Hrsg.): J.M.R. Lenz als Alternative? Positionsanalysen zum 200. Todestag. Köln 1992, S. 23-28. Dies.: Vögel, die verkünden Land. Das Leben des Jakob Michael Reinhold Lenz. - Frankfurt am Main 1989.
268
Anhang
Falck, Paul Theodor: Der Stammbaum der Familie Lenz in Livland nach einem neuen System. Dazu als Pendant ein Goethe-Stammbuch nach demselben System. - Nürnberg 1907. Freye, Karl: Jakob Michael Rheinhold Lenzens Knabenjahre. - In: Zeitschrift für Geschichte der Erziehung und des Unterrichts, o.O. 1917, 3. Heft, S. 174-193. Gündel, Vera: J.M.R. Lenz' Mitgliedschaft in der Moskauer Freimaurerloge 'Zu den drei Fahnen'. - In: Lenz-Jahrbuch 1996, hrsg. von Christoph Weiß u.a., St. Ingbert 1996, S. 62-74. Inbar, Eva Maria: Shakespeare in Deutschland: Der Fall Lenz. - Tübingen 1982. Käser, Rudolf: Die Schwierigkeit, ich zu sagen. Rhetorik der Selbstdarstellung in Texten des 'Sturm und Drang'. Herder-Goethe-Lenz". - Bern 1987. Kieffer, Bruce: The Storm and Stress of Language. Linguistic Catastrophe in the Early Works of Goethe, Lenz, Klinger and Schiller. - London 1986. Luserke, Matthias und Marx, Reiner: Nochmals S[turm] u[nd] D[rang], Anmerkungen zum Nachdruck der Philosophischen Vorlesungen von J.M.R. Lenz. (Originalbeitrag) - In: Jakob Michael Reinhold Lenz im Spiegel der Forschung, hrg. von Matthias Luserke, Hildesheim 1995, S. 407-414. Luserke, Matthias: Jakob Michael Reinhold Lenz: Der Hofmeister. Der neue Menoza, Die Soldaten. - München 1993. Madland, Helga S.: Lenzens Sprachwahrnehmung in Theorie und Praxis. - In: J.M.R. Lenz als Alternative? Hrsg. von Karin Wurst, Köln 1992, S. 92-111. Martini, Fritz: Die Einheit der Konzeption in J.M.R. Lenz' 'Anmerkungen übers Theater'. - In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, 14, 1970, S. 159-182. Mayer, Hans: Lenz oder die Alternative. - In: Britta Titel, Hellmut Haug (Hrsg.): Jakob Michael Reinhold Lenz. Werke und Schriften. 2 Bde., Stuttgart 1967, Bd. 2, S. 795-827. Menz, Egon: Lenzens Weimarer Eselei. - In: Goethe-Jahrbuch 1989, S. 91-105. Nagel, Ivan: o.T. - In: Süddeutsche Zeitung, Nr. 225,18. September 1968. Oberlin, Johann Friedrich: Der Dichter Lenz im Steinthale. - In: Georg Büchner Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1, Heidelberg 1967, S. 436-482. Pautler, Stefan: Jakob Michael Reinhold Lenz. Pietistische Weltdeutung und bürgerliche Sozialreform im Sturm und Drang. - Religiöse Kulturen der Moderne, hrsg. von Friedrich Wilhelm Graf und Gangolf Hübinger, Bd. 8, Gütersloh 1999. Rector, Martin: Optische Metaphorik und theologischer Sinn in Lenz' PoesieAuffassung. - In: Jakob Michael Reinhold Lenz. Studien zum Gesamtwerk, hrsg. von David Hill, Opladen 1994, S. 11-26. Ders.: Sieben Thesen zum Problem des Handelns bei Jakob Lenz. - In: Zeitschrift für Germanistik, NF 2, 1992, S. 628-639.
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Ders.: Zur moralischen Kritik des Autonomie-Ideals. Jakob Lenz' Erzählung 'Zerbin oder die neuere Philosophie'. - In: Inge Stephan und Hans-Gerd Winter (Hrsg.): 'Unaufhörlich Lenz gelesen...'. Studien zu Leben und Werk von J.M.R. Lenz. Stuttgart/Weimar 1994, S. 294-308. Reichardt, Johann Friedrich: Etwas über den deutschen Dichter J.M.R. Lenz. Erstveröffentlicht in: Berlinisches Archiv der Zeit und ihres Geschmacks, Februar 1796, (S. 113-123), S. 113. Zitiert nach dem unveränderten photomechanischen Abdruck in: Matthias Luserke (Hrsg.): Jakob Michael Reinhold Lenz im Spiegel der Forschung, Hildesheim 1995, S. 1-11. Ders.: Etwas über den deutschen Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz (1796). - In: Matthias Luserke (Hrsg.): Jakob Michael Reinhold Lenz im Spiegel der Forschung, Hildesheim 1995 (S. 1-11). Rosanow, M.N.: Jakob M.R. Lenz. Der Dichter der Sturm- und Drangperiode. Sein Leben und seine Werke. - Leipzig 1909. (Fotomechanischer Nachdruck, Leipzig 1972.) Rudolf, Ottomar: Jacob Michael Reinhold Lenz. Moralist und Aufklärer. - Bad Homburg 1970. Ders.: Vater und Sohn: Zwischen patriarchalem Pietismus und pädagogischem Eros. - In: Karin Wurst (Hrsg.): J.R.M. Lenz als Alternative? Köln 1992, S. 29-45. Sauder, Gerhard: Konkupiszenz und empfindsame Liebe. - In: Lenz Jahrbuch 1994, hrsg. von Christoph Weiß, St. Ingbert 1994, S. 7-29. Schäfer, Walter Ernst: Mädchenerziehung. Kontroversen zwischen Gottlieb Konrad Pfeffel und Jakob Michael Reinhold Lenz. - In: Ortrud Gutjahr u.a. (Hrsg.): Gesellige Vernunft. Zur Kultur der literarischen Aufklärung. (Festschrift für Wolfram Mauser.) Würzburg 1993, S. 277-296. Schulz, Georg-Michael: Jacob Michael Reinhold Lenz. - Stuttgart 2001. Schwarz, Hans-Günther: Dasein und Realität. Theorie und Praxis des Realismus bei J.M.R. Lenz. - Bonn 1985. Ders.: J.M.R. Lenz Anmerkungen übers Theater, Shakespeare-Arbeiten und Shakespeare-Übersetzungen. - Stuttgart 1976. Serensen, Bengt Algot: Herrschaft und Zärtlichkeit. Der Patriarchalismus und das Drama im 18. Jahrhundert. - München 1984. Stägemann, Elisabeth: o.T. - In: Goethe-Jahrbuch 1906, S. 264. Stephan, Inge und Winter, Hans-Gerd: 'Ein vorübergehendes Meteor?' J.M.R. Lenz und seine Rezeption in Deutschland. - Stuttgart 1984. Stern, Martin: Akzente des Grams. Über ein Gedicht von Jakob Michael Reinhold Lenz. - In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, Bd. X, Marbach am Neckar 1966, S. 160-178. Stockhammer, Robert: Zur Politik des Herz(ens): J.M.R. Lenz' 'misreadings' von Goethes 'Werther'. - In: Jakob Michael Reinhold Lenz. Studien zum Gesamtwerk, hrsg. von David Hill, Opladen 1994, S. 129-139.
Anhang
270
Unger, Thorsten: Handeln im Drama. Theorie und Praxis bei J.Chr. Gottsched und J.M.R. Lenz. - Göttingen 1993. Voit, Friedrich: Jakob Michael Reinhold Lenz: 'Der Hofmeister oder Vorteile der Privaterziehung'. Erläuterungen und Dokumente. - Stuttgart 1986. Winter, Hans-Gerd: 'Denken heißt nicht vertauben.' Lenz als Kritiker der Aufklärung. - In: David Hill (Hrsg.): Jakob Michael Reinhold Lenz. Studien zum Gesamtwerk. Opladen 1994, S. 81-96. Wittkowski, Wolfgang: 'Der Hofmeister'. Der Kampf um das Vaterbild zwischen Lenz und der neuen Germanistik. - In: Literatur für Leser. 1996, S. 75-92. Zeithammer, Angela: Genie in stürmischen Zeiten. Ursprung, Bedeutung und Konsequenz der Weltbilder von J.M.R. Lenz und J.W. Goethe. - St. Ingbert 2000.
3
Kant-Ausgaben
Sämmtliche Werke. - Hrsg. von Karl Rosenkranz und Friedrich Wilhelm Schubert, Leipzig 1838ff. Sämmtliche Werke. - Hrsg. von G. Hartenstein, Leipzig 1867ff. Kants Werke (Akademie-Ausgabe). - Hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften (fortgeführt - zeitweise unter dem Titel 'Kant's gesammelte Schriften' - von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, der Akademie der Wissenschaften der DDR, der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen,), Berlin (/Leipzig) 1902ff. Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte und Beurtheilung der Beweise, deren sich Herr von Leibniz und andere Mechaniker in dieser Streitsache bedient haben, nebst einige vorhergehenden Betrachtungen, welche die Kraft der Körper überhaupt betreffen. - In: Kants Werke (Akademie-Ausgabe), Bd. I, Vorkritische Schriften I, unveränderter photomechanischer Abdruck der Originalausgabe Berlin 1902/10, Berlin 1968, S. 1-182. Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels. - In: Kants Werke. Akademie-Ausgabe, Bd. I, Vorkritische Schriften I, S. 215-368. Entwurf und Ankündigung eines Collegii der physischen Geographie nebst dem Anhange einer kurzen Betrachtung über die Frage: Ob die Westwinde in unseren Gegenden darum feucht seien, weil sie über ein großes Meer streichen. - In: Kants Werke (Akademie-Ausgabe), Bd. II, Vorkritische Schriften II, unverändeter photomechanischer Abdruck der Originalausgabe Berlin 1905/12, Berlin 1968, S. 1-12. Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen. - In: Kants Werke (Akademie-Ausgabe), Bd. II, Vorkritische Schriften II, S. 205-256.
Anhang
271
Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbjahre 1765-1766. - In: Kants Werke (Akademie-Ausgabe), Bd. II, Vorkritische Schriften II, Berlin 1968, S. 303-314. Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik. - In: Kants Werke (Akademie-Ausgabe), Bd. II, Vorkritische Schriften II, S. 315-373. De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis. (Über die Form und die Prinzipien der Sinnen- und Geisteswelt.) - Hrsg., neu übersetzt und mit einer Einleitung von Klaus Reich, Hamburg 1966. Kritik der reinen Vernunft. - Nach der 1. und 2. Original-Ausgabe hrsg. von Jens Timmermann, Hamburg 1998. Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik. - Hrsg. von Karl Vorländer, 7., durchgesehene Auflage, Hamburg 1993. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. - Hrsg. von Karl Vorländer. 7. Auflage, Hamburg 1980. Pädagogik. - In: Kants Werke (Akademie-Ausgabe), Bd. IX, Logik, Physische Geographie, Pädagogik, Berlin-Leipzig 1923. Reflexionen. - In: Kants Werke (Akademie-Ausgabe), Bd. XV, Reflexionen zur Anthropologie, 3. Abt., handschriftlicher Nachlaß, 2. Teil, Berlin/Leipzig 1923. Reflexionen. - In: Kants Werke (Akademie-Ausgabe), Bd. XVIII, Reflexionen zur Metaphysik, 3. Abt., handschriftlicher Nachlaß, Bd. V, 2. Teil, Berlin/Leipzig 1928. Was ist Aufklärung? - In: Kants Werke (Akademie Ausgabe), Bd. VIII, Abhandlungen nach 1781, Berlin/Leipzig 1923, S. 33-42. Briefe: Kant's Briefwechsel. - In: Kants Werke (Akademie-Ausgabe), Bd. X, Briefwechsel Bd. I, 1747-1788, 2. Auflage, Berlin/Leipzig 1922. Kant's Briefwechsel. - In: Kants Werke (Akademie-Ausgabe), Bd. XII, Briefwechsel Bd. III, 1795-1803, 2. Auflage, Berlin/Leipzig 1922. Vorlesungs-Mitschrifien: 'Vorlesungen des Herrn Profeßoris Kant über die Logic'. Mitschrift Philippi. - In: Kants Werke (Akademie-Ausgabe), Bd. XXIV, Kant's Vorlesungen, Bd. I, Vorlesungen über Logik, 1. Hälfte, Berlin 1966, S. 305-496. Vorlesung über Metaphysik, Mitschrift Herder. - In: Kants Werke (Akademie-Ausgabe), Bd. XXVIII, Kant's Vorlesungen, Bd. V, Vorlesungen über Metaphysik und Rationaltheologie, 1. Hälfte, Berlin 1968, S. 1-166. Vorlesung über Metaphysik, Mitschrift Pölitz. - In: Kants Werke (Akademie-Ausgabe), Bd. XXVIII, Kant's Vorlesungen, Bd. V, Vorlesungen über Metaphysik und Rationaltheologie, 1. Hälfte, Berlin 1968, S. 193-350.
Anhang
272
Vorlesung über Philosophische Enzyklopädie, Mitschrift. - In: Kants Werke (Akademie-Ausgabe), Bd. XXIX, Kant's Vorlesungen, Bd. VI, Kleinere Vorlesungen und Ergänzungen I, 1. Hälfte, 1. Teil, Berlin 1980, S. 3-45. Vorlesung über Praktische Philosophie, Mitschrift Herder. - In: Kants Werke (Akademie-Ausgabe), Bd. XXVII, Kant's Vorlesungen, Bd. IV, Vorlesungen über Moralphilosophie, 1. Hälfte, Berlin 1974, S. 1-90. 'Prof. Imman: Kants Practische Philosophie'. Mitschrift Powalski. - In: Kants Werke (Akademie-Ausgabe), Bd. XXVII, Kant's Vorlesungen, Bd. IV, Vorlesungen über Moralphilosophie, 1. Hälfte, Berlin 1974, S. 91-236.
4
Forschungsliteratur zu Kant
Arnoldt, Emil: Gesammelte Schriften. - Hrsg. von Otto Schöndörffer, Bd. IV und Bd. V, Kritische Exkurse im Gebiete der Kantforschung, Teil I und Teil II, Berlin 1908f. Ders.: Die äussere Entstehung und die Abfassungszeit der Kritik der reinen Vernunft. - In: Emil Arnoldt: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Otto Schöndörffer, Bd. IV, Kritische Exkurse im Gebiete der Kantforschung, Teil I, Berlin 1908, S. 119-225. Busch, Werner: Die Entstehung der kritischen Rechtsphilosophie Kants 17621780. - Berlin/New York 1979. Dilthey, Wilhelm: Archive der Literatur in ihrer Bedeutung für das Studium der Geschichte der Philosophie. - In: Archiv für Geschichte der Philosophie, 2, o.O. 1889, S. 343ff. Heinze, Max: Vorlesungen Kants über Metaphysik aus drei Semestern. - Leipzig 1894. Kaulbach, Friedrich: Das Prinzip Handlung in der Philosophie Kants. - Berlin/New York 1978. Lehmann, Gerhard: Einleitung. - In: Kants Werke (Akademie-Ausgabe), Bd. XXIV, Kants Vorlesungen, Bd. I, Vorlesungen über Logik, zweite Hälfte, Berlin 1966, S. 955-988. Ders.: Einleitung. - In: Kants Werke (Akademie-Ausgabe), Bd. XXVII, Kants Vorlesungen, Bd. IV, Vorlesungen über Moralphilosophie, 2. Hälfte, 2. Teil, Berlin 1979, S. 1037-1062. Ders.: Einleitung. - In: Kants Werke (Akademie-Ausgabe), Bd. XXVIII, Kant's Vorlesungen, Bd. V, Vorlesungen über Metaphysik und Rationaltheologie, 2. Hälfte, 2. Teil, Berlin 1972, S. 1338-1372. Ders.: Einleitung. - In: Kants Werke (Akademie-Ausgabe), Bd. XXIX, Kant's Vorlesungen, Bd. VI, Kleinere Vorlesungen und Ergänzungen I, 1. Hälfte, 1. Teil, Berlin 1980, S. 650-671.
Anhang
273
Stark, Werner: Eine Spur von Kants handschriftlichem Nachlaß: Wasianski. In: Kant-Forschungen. Hrsg. von Reinhardt Brandt und Werner Stark, Bd. 1, Hamburg 1987, S. 201-227. Vorländer, Karl: Immanuel Kant. Der Mann und das Werk. 3. Auflage. Hamburg 1992. Warda, Arthur: Immanuel Kants letzte Ehrung. - Königsberg 1924.
5
Werkausgaben anderer Autoren
Baczko, Ludwig von: Geschichte meines Lebens. 3 Bde. - Königsberg 1824. Basedow, Johann Bernhard: Elementarwerk. 3 Bde., Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1909. - Hildesheim 1972. Bock: Lehrbuch der Erziehungskunst zum Gebrauch für christliche Erzieher und künftige Junglehrer. - Königsberg 1780. Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments. Nach der deutschen Übersetzung D. Martin Luthers. Hrsg. von der Sächsischen Haupt-Bibelgesellschaft. - Dresden o.J. Francke, August Hermann: Pädagogische Schriften. Hrsg. von G. Kramer. Langensalza 1885. Ders.: Streitschriften. Hrsg. von Erhard Peschke. - Berlin/New York 1981. Goethe, Johann Wolfgang: Erste Bekanntschaft mit Schiller 1794 [auch: Glückliches Ereigniß] - In: Goethes Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in 40 Bde., hrsg. von Eduard von der Hellen, Bd. 30, Annalen, Stuttgart/Berlin o.J., S. 388-392. Ferneres in Bezug auf mein Verhältnis zu Schiller. - In: Goethes Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in 40 Bde., hrsg. von Eduard von der Hellen, Bd. 30, Annalen, Stuttgart/Berlin o.J., S. 392-393. Der junge Goethe. - Hrsg. von Hanna Fischer-Lamberg. Neu bearbeitete Ausgabe in fünf Bänden, Berlin/New York 1999. Der junge Goethe 1757-1777. - Hrsg. von Gerhard Sauder, München 1985. Werke. - Hrsg. von Paul Raabe, Nachdruck der Ausgabe Weimar 18871919, Bd. 1-3, München 1990. Briefe in vier Bänden. - Hamburger Ausgabe, Bd. 1, Briefe der Jahre 17641786, Hamburg 1962. Briefe. - Auswahl von Rudolf Bach, mit einem Nachwort von Hans Heinrich Borcherdt, München 1958. Heine, Heinrich: Gesammelte Werke. Historisch-kritische Ausgabe. - Hrsg. von Manfred Windfuhr, Hamburg 1973ff. Helvétius, Claude Adrien: De l'Homme, de ses facultés et de son éducation / Vom Menschen, seinen geistigen Fähigkeiten und seiner Erziehung. - Hrsg. von Günther Mensching, Frankfurt am Main: 1972.
Anhang
274
Herder, Johann Gottfried: Journal meiner Reise im Jahr 1769. Historischkritische Ausgabe. - Hrsg. von Katharina Mommsen. Stuttgart 1976. Hippel, Gottlieb von: Sämmtliche Werke. - Berlin 1835. Humboldt, Wilhelm von: Grundzüge des allgemeinen Sprachtypus. - In: Wilhelm von Humboldt: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Albert Leitzmann u.a., Bd. 5, Berlin 1903-1935. Lenz, Christian David: Die Stärke des Schriftbeweises für die in unsern Tagen angefochtene Lehre von der Genugthuung Jesu Christi überhaupt kürzlich gezeigt und auf Verlangen besonders herausgegeben von Christian David Lenz, Generalsuperintendenten des Herzogthums Livland, Präses des Kaiserlichen Oberconsistoriums und Scholarchen. - 3. Aufl., Berlin 1801. Ders.: Gedanken über die Worte Pauli I Cor.l und 18 von der ungleichen Aufnahme vom Kreutz. Zwei Theile nebst einer starken und für unsere Zeiten sehr nöthig geachteten Vorrede, worinnen die Kreutz=Theologie der sogenannten Herrenhuter, vornehmlich aus ihrem XII. Lieder=Anhange und deßen drey Zugaben unpartheyisch und genau geprüfeet wird. - Königsberg 1750. Lessing, Gotthold Ephraim: Hamburgische Dramaturgie. - In: Lessings Werke in sechs Bänden, Bd. 4, Leipzig o.J. Locke, John: Über den menschlichen Verstand. - 2. Bde., Leipzig o.J. Luther, Martin: Ausgewählte Schriften. - 6 Bde., hrsg. von Karin Bornkamm und Gerhard Ebeling, Frankfurt am Main 1982. Rousseau, Jean-Jacques: Schriften. - 2 Bde., hrsg. von Henning Ritter, Frankfurt 1995. Schubart, Christian Friedrich Daniel: Zur Geschichte des menschlichen Herzens. - In: Ders. Gesammelte Schriften und Schicksale. Acht Bände in vier Bänden (Nachdruck der Originalausgabe Stuttgart 1839). Bd. V/VI, Hildesheim/New York 1972, Bd. VI, S. 82-89. Zinzendorf, Nikolaus Ludwig von: Hauptschriften. - Hrsg. als Faksimile-Druck von Ernst Beyreuther u.a., 6 Bde., Hildesheim 1962/63.
6
Allgemeine Forschungsliteratur
Aulkes, Reinhard: Grundprobleme moralischer Erziehung in der Moderne. Locke-Rousseau-Kant. - Leipzig 2000. Beyreuther, Ernst: Studien zur Theologie Zinzendorfs. - Neukirchen 1962. Ders.: Pietismus. - In: Evangelisches Kirchenlexikon. Hrsg. von Heinz Brunotte und Otto Weber, Göttingen 1959. Birkner; Hans-Joachim: Christian Wolff. - In: Martin Greschat (Hrsg.): Gestalten der Kirchengeschichte. Bd. 8, Die Aufklärung, Stuttgart 1983, S. 187-198.
Anhang
275
Bollacher, Martin: Der junge Goethe und Spinoza. Studien zur Geschichte des Spinozismus in der Epoche des Sturm und Drang. - Tübingen 1969. Bolle, Reiner: Jean-Jacques Rousseau. Das Prinzip der Vervollkommnung des Menschen durch Erziehung und die Frage nach dem Zusammenhang von Freiheit, Glück und Identität. - Münster 1995. Brandes, Helga: Sturm und Drang. - In: Literaturlexikon, hrsg. von Walther Killy, Bd. 14, Gütersloh/München 1993, S. 410-413. Cassirer, Emst: Das Problem Jean Jacques Rosseau. - Reprint, Darmstadt 1975. Damm, Sigrid: Cornelia Goethe. - Frankfurt am Main 1988. De Boor, Friedrich: Erfahrung gegen Vernunft. Das Bekehrungserlebnis A.H. Franckes als Grundlage für den Kampf des halleschen Pietismus gegen die Aufklärung. - In: Der Pietismus in Gestalten und Wirkungen. Martin Schmidt zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Heinrich Bomkamm u.a., Bielefeld 1975, S. 120-138. De Boor, Helmut und Newald, Richard (Hrsg.): Geschichte der deutschen Literatur. - Bd. 6, Aufklärung, Sturm und Drang, Frühe Klassik. 17401789, bearbeitet von Sven Aage Jergensen u.a., München 1990. Deppermann, Klaus: Der hallesche Pietismus und der preußische Staat unter Friedrich III. (I.). - Göttingen 1961. Ders.: August Hermann Francke. - In: Gestalten der Kirchengeschichte. Hrsg. von Martin Greschat, Bd. 7, Orthodoxie und Pietismus. Stuttgart 1982, S. 241-260. Erdmann, Oskar: Über die Stellung F.M. Klingers zur Kantschen Philosophie. - In: Altpreußische Monatsschrift, 15, 1878, S. 57-65. Gadebusch, Friedrich: Livländische Bibliothek. - Bd. 2, Riga 1777. Gause, Fritz: Königsberg in Preussen. Die Geschichte einer europäischen Stadt. - München 1968. Gutjahr, Ortrud u.a. (Hrsg.): Gesellige Vernunft. Zur Kultur der literarischen Aufklärung. (Festschrift für Wolfram Mauser.) - Würzburg 1993. Hensel, Georg: Spielplan. Der Schauspielführer von der Antike bis zur Gegenwart. - 2 Bde., München 1992. Hupel, August Wilhelm: Topographische Nachrichten von Lief- und Ehstland. - 2 Bde. Riga 1774/1777. Im Hof, Ulrich: Das gesellige Jahrhundert. Gesellschaft und Gesellschaften im Zeitalter der Aufklärung. - München 1982. Korff, Hermann August: Geist der Goethezeit. - 4 Bde, Leipzig 1923-1953. Krauss, Werner: Zur Periodisierung Aufklärung, Sturm und Drang, Weimarer Klassik. - In: Sturm und Drang. Hrsg. von Manfred Wacker, Darmstadt 1985, S. 67-95. Müller, Peter: Straßburg. - In: Goethe Handbuch. Hrsg. von Bernd Witte u.a., Bd. 4/2, Personen. Sachen. Begriffe L-Z. Stuttgart 1998, S. 1019-1022.
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Register Die Namen von J.M.R. Lenz und Immanuel Kant, die beide ständige Erwähnung finden, wurden nicht berücksichtigt. Lenzens Hauptdramen stehen in chronologischer Reihenfolge.
Achenwall, Gottfried 74 Andreae, Johann Valentin 46 Aristoteles 15; 82; 200; 204; 205; 206; 207 Arndt, Johann 46 Augustinus 115; 116 Baczko, Ludwig von 60 Basedow, Johann Bernhard 26; 64; 83; 216; 218; 219; 222 Baumgarten, Alexander 74; 75; 76; 88; 90; 173;235 Benn, Gottfried 227 Bodmer; Johann Jakob 227 Brandes, Emst 232 Brecht, Bertolt 172 Bruno, Giordano 256 Büchner, Georg 102 Bürger, Gottfried August 227 Cäsar, Gajus Julius 196 Claudius, Matthias 227 Condillac, Etienne Bonnot de 11; 12; 16; 169 Dante Alighieri 195; 228 David, Christian 54 Descartes, René 11; 66; 82 Dilthey, Wilhelm 67; 88 Diogenes 126; 129 Eberhard, Johann August 74 Engels, Friedrich 237 Epikur 129 Fahimer, Johanna 100 Feder, Georg Heinrich 75; 76; 91 Feller, Joachim 48 Fibich, Susanne Cleophe 98; 100; 102; 140
Fichte, Johann Gottlieb 165 Foucault, Michel 12 Francke, August Hermann 11; 20; 35; 39; 44; 45; 46; 47; 48; 49; 50; 51; 52; 53; 54; 55; 56; 57; 58; 134; 146; 197; 209; 210; 255 Friedrich II. 47; 52; 58; 59; 60; 63 Friedrich Wilhelm I. 52 Gadebusch, Friedrich Konrad 57 Garve, Christian 70 Geliert, Christian Fürchtegott 227; 234 Gerstenberg, Heinrich Wilhelm von 194 Goethe, Johann Wolfgang 5; 6; 8; 10; 12; 13; 14; 15; 30; 32; 41; 95; 96; 99; 100; 119; 135; 160; 172; 176; 203; 206; 218; 225; 226; 232; 234; 235; 236; 239; 240; 243; 244; 245; 247; 248; 251; 252; 253; 254; 255; 256; 257; 258; 259 Gotthelf, Jeremias 227 Gottsched, Johann Christoph 172; 227; 243 Gryphius, Andreas 227 Hamann, Johann Georg 11; 252 Hasenclever, Walter 100 Hecker, Johann Julius 52 Hehn, Johann Martin 55; 56 Heine, Heinrich 258 Helvétius, Claude Adrien 11; 109; 169; 217 Herder; Johann Gottfried 10; 12; 14; 43; 78; 90; 91; 165; 181; 188; 206; 236; 244;252;257 Herz, Marcus 71; 86; 89 Hippel, Theodor Gottlieb von 60 Homer 228
278
Anhang
Humboldt, Wilhelm von 163; 165 Hume, David 70; 80; 83; 150 Jachmann, Reinhold Bernhard 85 Jacobi, Friedrich Heinrich 240 Janotzky, Johann Daniel Andreas 57 Jäsche, G.B. 86 Jean Paul 227
Lenz, Karl Heinrich Gottlob 102 Leopold Friedrich 218 Lerse, F.C. 7
Jung-Stilling, Johann Heinrich 7; 95 Kleist, Emst Nikolaus von 5; 64; 68; 96; 98 Kleist, Friedrich Georg von 5; 64; 68; 96; 98
Locke, John 11, 83; 104; 239; 252
Kleist, Heinrich von 259 Klettenberg, Susanna K. von 255 Klinger, Friedrich Maximilian 255; 258; 259 Klopstock, Friedrich Gottlieb 97; 122; 164; 192; 234 Kopernikus 3; 30; 48; 257 La Roche, Sophie von 39 Lampe, Martin 107 Lavater, Johann Kaspar 40; 41; 101; 102; 255 Leibniz, Gottfried Wilhelm 4; 11; 26; 69; 72; 82; 97; 116; 117; 119; 122; 179; 219 Lenz, Christian David 11 ; 27; 29; 31 ; 35; 48; 49; 52; 53; 54; 55; 56; 57; 59; 60; 61; 62; 64; 65; 74; 102; 210; 221; 230 Lenz, Dorothea 36; 38; 39; 40; 43; 103 Lenz, Friedrich David 39; 59 Lenz, Jakob Michael Reinhold (Dramen) Der verwundete Bräutigam 110; 111 ; 112; 194; 196; 231 Der Hofmeister 9; 13; 29; 42; 43; 95; 97; 99; 110; 112; 148; 167; 196; 209; 210; 211; 213; 214; 230; 231; 232; 237; 239; 247 Der neue Menoza 13; 97; 156; 180; 211; 212; 230; 239 Die Soldaten 13; 15; 95; 98; 99; 167, 230;231 Die Freunde machen den Philosophen 42; 126; 127; 156; 242 Der Engländer 41; 42; 98 Die Sizilianische Vesper 103; 113; 114; 120 Lenz, Johann Christian 35; 55; 59; 60; 64; 68; 74; 84
Lessing, Gotthold Ephraim 148; 163; 195; 205; 227;231; 234 Lichtenberg, Georg Christoph 227 Lilienthal, D. 62 Longinus 204 Lübeck, Ewald Egidius 84 Ludolf, Heinrich Wilhelm 52 Luther, Martin 4; 42; 45; 47; 48; 51 ; 116; 132; 145; 186; 187; 188 Malebranche, Nicole 153 Meier, Georg Friedrich 74; 75; 76; 77; 85; 90; 233 Meiners, Christoph 232 Mendelssohn, Moses 78 Merck, Johann Heinrich 14 Montesquieu 65; 66; 83 Morus (More), Thomas 150 Napoleon Bonaparte 29 Newton, Isaac 82; 149; 150; 174; 201; 256; 258 Nietzsche, Friedrich 135; 227 Oberlin, Johann Friedrich 102 Paulus 113; 114; 191; 192 Pfeffel, Konrad, 219 Pfenninger; Johann Konrad 101 Plato 71; 129; 150 Plautus, Titus Maccius 98 Pörschke, Karl-Ludwig 79 Postel, Guillaume 227 Purgstall, Wenzel Gottfried Graf von 76; 77; 79 Reichardt, Johann Friedrich 5; 62 Richelieu, Armand-Jean du Plessis 164 Rink, Friedrich Theodor 79; 82; 83; 86; 111; 216 Rousseau, Jean-Jacques 8; 10; 11; 14; 83; 163; 164; 175; 216; 217; 218; 232; 237; 238;239 Salzmann, Johann Daniel 7; 95; 133; 139; 176; 226; 253 Sarasin, Jakob 211
279
Anhang
Sarasin, Jakob und Gertrud 102 Schiller, Friedrich 10; 212; 234; 259 Schlegel, Friedrich von 227 Schlegel, Gottlieb von 57 Schlosser, Henriette Cornelia Franziska 100 Schlosser, Johann Georg 14; 43; 100; 101; 102; 133; 221 Schlosser, Cornelia 99; 100; 101; 102; 193 Schnabel, Johann Gottfried 227 Schubart, Christian Friedrich Daniel 212 Schultz, Johann 78 Serini, Carl August 133 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper Earl of 8 Shakespeare, William 14; 15; 18; 21; 206; 207; 228; 236 Sokrates 82; 120; 134; 222 Spalding, Johann Joachim 134; 221 Spener, Philipp Jakob 45; 46; 51 Spinoza, Benedictus (Baruch) de 14; 73; 119; 160;202;258
Stägemann, Elisabeth 234 Stein, Charlotte Albertine von 100 Suárez, Francisco 203 Thomasius, Christian 47 Tieftrunk, Johann 71 Vergil, Publius Vergilius Maro 195 Völkel, J.K. 102 Wagner, Heinrich Leopold 7; 21; 176; 258; 259 Wasianski, Andreas 66 Wieland, Christoph Martin 207; 221; 227; 240; 242;245;246 Wolff, Christian 4; 11; 26; 57; 58; 59; 69; 76; 117; 119; 122; 133; 141; 175; 177; 179; 182; 190; 191; 203; 219 Young, Edward 97 Zedlitz, Karl Abraham von 76 Zelter, Karl Friedrich 256 Zeno 129 Zinzendorf, Nikolaus Ludwig Graf von 20; 36; 54; 255
Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Sabine Mainberger
Ansgar M. Cordie
• Die Kunst des Aufzählens
• Raum und Zeit des Vaganten
Elemente zu einer Poetik des Enumerativen
Formen der Weltaneignung im deutschen Schelmenromann des 17. Jahrhunderts
2002. X, 364 Seiten. Gebunden. ISBN 3-11-017246-1
2001. XII, 632 Seiten.
Band 22 (256)
44 Abbildungen. Gebunden. ISBN 3-11-017011-6
Silke Pasewalck
Band 19 (253)
• „Die fünffingrige Hand"
Gerhard Wolf
Die Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung beim späten Rilke
• Von der Chronik zum Weltbuch
ISBN 3-11-017265-8
Sinn und Anspruch südwestdeutscher Hauschroniken am Ausgang des Mittelalters
Band 21 (255)
2002. XII, 519 Seiten. Leinen.
2002. X, 331 Seiten. Gebunden.
ISBN 3-11-016805-7
• Situationen des Erzählens Aspekte narrativer Praxis im Mittelalter Herausgegeben von Ludger Lieb und Stephan Müller
I
Band 18 (252)
Julia Cloot
• Geheime Texte Jean Paul und die Musik 2001. IX, 346 Seiten. Gebunden.
2002. VIII, 290 Seiten. Gebunden.
ISBN 3-11-016895-2
ISBN 3-11-017467-7
Band 17 (251)
Band 20 (254)
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