Jakob Heinrich Meister und die “Correspondance littéraire”: Ein Beitrag zur Aufklärung in Europa [Reprint 2019 ed.] 9783110848502, 9783110118728


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German Pages 242 [244] Year 1989

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Table of contents :
Danksagung
Inhalt
I. Einleitung
1. Die Absicht der Studie
2. Anmerkungen zur Vita
II. Aufklärung in Europa im Spiegel der Correspondance littéraire
1. Die Correspondance littéraire — Ein Überblick über Forschung, Geschichte und Inhalte
2. Erkenntnis
3. Moral
4. Ästhetik und literarische Kritik
III. Beschluß
Bibliographie
Personenregister
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Jakob Heinrich Meister und die “Correspondance littéraire”: Ein Beitrag zur Aufklärung in Europa [Reprint 2019 ed.]
 9783110848502, 9783110118728

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Komparatistische Studien Band 13 Jakob Heinrich Meister und die „Correspondance littéraire"

Komparatistische Studien Beihefte zu „arcadia" Zeitschrift für Vergleichende Literaturwissenschaft

Herausgegeben von Erwin Koppen

Band 13

w DE

G_ Walter de Gruyter • Berlin • New York 1989

Jakob Heinrich Meister und die „Correspondance littéraire" Ein Beitrag zur Aufklärung in Europa von Maria Moog-Grünewald

w G_ DE

Walter de Gruyter • Berlin • New York 1989

Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Gedruckt auf säurefreiem Papier (alterungsbeständig — pH 7, neutral)

CIP-Titelaufnahme

der Deutschen

Bibliothek

Moog-Grünewald, Maria: Jakob Heinrich Meister und die „Correspondance littéraire" : ein Beitrag zur Aufklärung in Europa / von Maria Moog-Grünewald. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1989 (Komparatistische Studien ; Bd. 13) Zugl.: Bonn, Univ., Habil.-Schr., 1985 ISBN 3-11-011872-6 NE: GT

© Copyright 1989 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30 — Printed in Germany. Alle Rechte des Nachdrucks, der Übersetzung, der photomechanischen Wiedergabe und Anfertigung von Mikrofilmen — auch auszugsweise — vorbehalten. Satz und Druck: Arthur Collignon, Berlin Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin

Danksagung Erwin Koppen hat das Thema der Studie angeregt: ihm eigne ich das Buch in Dankbarkeit und Verehrung zu. Die Mitarbeiter der Forschungsbibliothek Gotha, Schloß Friedenstein, stellten mir großzügig über einen Zeitraum von neun Wochen die Handschriften der Correspondance littéraire zur Lektüre zur Verfügung; Herr Rudolf Reinhart, Winterthur, ließ mich in gleicher Generosität und Selbstverständlichkeit in die nachgelassenen Papiere Meisters Einsicht nehmen. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft gewährte einen Reise- und Druckkostenzuschuß. Herr Andreas Vollmer vom Verlag de Gruyter hat die Drucklegung vorbildlich betreut. Beim Lesen der Korrekturen halfen Frau Katharina von Ruckteschell und insbesondere Herr Matthias Vogel, beim Anfertigen des Registers Frau Helga van de Loo. Ihnen allen sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Koblenz, im Juni 1989

MMG

Inhalt I. Einleitung 1. Die Absicht der Studie Meister ist von der Forschung kaum beachtet (1). — Gründe der Nichtbeachtung (5). — Bedeutung der Meisterschen Correspondance littéraire für die Kenntnis der historischen Aufklärungsbewegung (11). — Die Meistersche Correspondance reflektiert in nuce die grundlegenden philosophischen und anthropologischen Aspekte der Aufklärung (13). — Aufklärung als Dialog und Synthese (16). — Die Absicht der Studie (18). - Quellen (20). 2. Anmerkungen zur Vita Der Zürcher Buchskandal (23). — Erziehung und Ausbildung (26). — Begegnung mit Rousseau (27). — Begegnung mit Voltaire (28). — Meister in Paris (29). — Übernahme der Redaktion der Correspondance (30). — Große Revolution und Flucht nach England (31). — Meister in Zürich (32). — Kuriositäten aus zwei autobiographischen Fragmenten (34). II. Aufklärung in Europa im Spiegel der Correspondance

littéraire

1. Die Correspondance littéraire — Ein Uberblick über Forschung, Geschichte, Inhalte Anmerkungen zur Forschung (41). — Geschichte (43). — Charakterisierung der Tourneuxschen Correspondance-Ausgabe (44). — INHALTE: Monographische Essays (46). — Grimms Correspondance und Meisters Correspondance: Differenzen in Ästhetik und Philosophie (47). — Das Beispiel Delille (52). — Diderot (57). — >Minores< (58). — Unveröffentlichte Briefe der Liselotte von der Pfalz (59). — Faits divers (59). — Mesmerismus (61). — Der Musikstreit (62). — Necker (63). —

Vili

Inhalt

Die Französische Revolution (65). — Nach der Terreur (76). - Kant (79). - Napoleon (80). - Das helvetische Schicksal (82). — Faits divers (83), — Moralistische Stücke (85). — Die Pariser Bühne (87). — Benjamin Constant, Chateaubriand, Mme de Staël, A. W. Schlegel, Goethe, Simonde de Sismondi et al. (89). 2. Erkenntnis LOGIK ( 9 1 ) . — Meisters Logique à mon usage im Vergleich zur Logik von Port-Royal (91). — Meisters >Denklehre< — Paradigma eines aufgeklärten Synkretismus: Descartes, Locke, Newton, Leibniz ( 9 3 ) . — EINBILDUNGSKRAFT ( 1 0 4 ) . — Ideen-Assoziation ( 1 0 7 ) . — Einbildungskraft und sensibilité ( 1 1 0 ) . — Einbildungskraft und Kunstschöpfung ( 1 1 3 ) . — Einbildungskraft und Wahnsinn, Folie und idée fixe ( 1 0 2 ) . — Einbildungskraft und >psychologia ingeniic Der Fall Rousseau ( 1 2 3 ) . — TRANSZENDENZ ( 1 2 6 ) . — Meisters Dialog De l'immortalité de l'âme ( 1 2 7 ) . — Unsterblichkeit: ein praktisches Postulat der Moral ( 1 3 0 ) . - Ugo Foscolo ( 3 1 ) .

3. Moral Meister ein Moralist (133). — De la morale naturelle-, ein moralistisches Werk der Aufklärung (135). — Ableitung der >Kultur< aus der >Natur< (137). — Der Einfluß Humes (138). — Nachahmung des >ordo naturalis< (140). — Bejahung der Affekte (143). — Moralistische Essays (143). — Zur Semantik von morale, moraliste, mœurs (147). — Dilthey, Nietzsche und das XIX. Jahrhundert (151). — Der Erasmus-LutherDialog: Paradigma moralistischen Denkens (155). 4. Ästhetik und literarische Kritik Die Interdependenz von Erkenntnis, Moral, Gesellschaftslehre und Ästhetik (163). — Literarische Canones (163). — Goût (165). — Meisters Ordo-Konzeption in aestheticis (167). — Der Fall Shakespeare: Apologie und klassizistische Vorbehalte (171). — Historisch-relativistische Argumentation (172). — Meisters Shakespeare-Kritik im Vergleich mit Wielands Kritik (174). — Shakespeare und Voltaire (178). — Shakespeares Komödien (182). — Der englische Journalist Jeffrey über Meisters Shakespeare-Kritik (184). — Homer

Inhalt

IX

versus Vergil (185). — Die Ilias — eine Satire? (186). — Die >Modernität< Homers (187). — Die sensibilité Vergils: eine frühromantische >Lektüre< (188). — Der Vorrang Vergils vor Homer (190). — Chateaubriand: Atala (191). — Les Martyrs (193). — Le Génie du Christianisme (195). — Mme de Staël: De la littérature (197). — Meister über Diderot (201). — Meisters Diderot-Porträt im Vergleich mit der zeitgenössischen Rezeption Diderots, insbesondere in Deutschland (204).

III. Beschluß

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Bibliographie

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Register

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I. Einleitung 1. Die Absicht der Studie Am 16. Mai 1778 schreibt Katharina die Große an Friedrich Melchior Grimm1: Je vous ai dit mille fois et je vous répète encore que votre successeur littéraire n'est pas vous (...). Die Rede ist von Jakob Heinrich Meister, einem jungen Zürcher und Wahl-Pariser, der Anfang 1773 die Nachfolge Grimms in der Redaktion der berühmten Correspondance littéraire angetreten hat. Das keineswegs schmeichelhafte Urteil der Zarin hat sich bis zum heutigen Tag mit staunenswerter Beharrlichkeit erhalten2: Die launigen Worte, die eher als Artigkeit gegenüber Grimm denn als Tadel gegenüber Meister verstanden sein wollen3, sind Standard und Tenor aller, die bisher über die Correspondance littéraire und ihre beiden Redakteure geurteilt haben. Doch das Urteil kommt einem Justizirrtum gleich. Es ist bekannt, daß Grimm die Correspondance 1753 bis 1773 verantwortlich redigiert und herausgegeben hat. Daß Meister die Zeitschrift weitere vierzig Jahre lang bis Ende 1813 fortführte, ist weitgehend unbekannt. So vermeldet der Grand Larousse Encyclopédique aus den sechziger Jahren unter dem Stichwort Correspondance littéraireFeuillesde F Origine des principes religieux< herausgegeben. So auch mit Kommentar von Jeanne Carriat in Diderot: Œuvres complètes, éd. Dieckmann, Varloot, Proust, Paris 1975 ff., hier: XVIII (1984), 345 f. 8 Vgl. Inventaire de mes vanités (Ms 43, Archiv Reinhart). Je lui (sc. à la persécution) jus redevable des éloges de Voltaire, de l'amitié de Diderot, des bonnes grâces de toute la secte encyclopédique, très en vogue à cette époque. C'est après avoir lu ce petit ouvrage, que le grand Frederic me fit proposer par le professeur Merian, la place de feu son collègue Suider, au collège royal et à l'académie de Berlin. Je la sollicitai et je l'obtins en Javeur d'un homme bien plus digne que moi de la remplir, M. le professeur Prévôt de Genève. 9 So Voltaire in einem Brief an Madame Necker.

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Einleitung

freilich die „erste" oder die „zweite", mochte und konnte Henri Meister nie eindeutig entscheiden. Feststeht, daß das philosophische und literarische Paris den Geist und das Schaffen Meisters eindrücklich und nachhaltig geprägt hat. Die Art der Aufnahme und Prägung ist aber nicht zum geringsten gekennzeichnet durch den voraufgegangenen Lebens- und Bildungsweg: Es ist der übliche Weg jener Generation von Zürchern, die um die Mitte des XVIII. Jahrhunderts geboren wurden und die im strengen Carolinum oder in der freieren „peripatetischen Schule" im Platzspitz Breitingers und vor allem Bodmers Einfluß genossen hatten 10 ; die vor Beginn eines jeden anderen Studiums ein Theologiestudium absolvieren mußten. Neben diesem Allgemeinen ist das Besondere der je eigenen Vita, hier der Vita Meisters, zu sehen. Ihre Kenntnis gilt dem besseren Verständnis des literarischen Werkes. — Das Bestbekannte von Meister ist sein Lebensweg: Nichts ist so ausführlich beschrieben, nichts so häufig und meist in genauer Wiederholung dargelegt 11 . Man kann sich daher mit einer knappen biographischen Skizze begnügen. Reizvoll ist hingegen der Versuch einer Charakteristik, die sich vornehmlich auf unveröffentlichte autobiographische Fragmente und Briefe stützt. 12 Jakob Heinrich Meister wird 1744 in Bückeburg/Westfalen geboren. Zu dieser Zeit amtiert dort sein Vater, der Zürcher Johann Heinrich, als Pastor der französischen Hugenottengemeinde. Die Mutter, Marie Malherbe, entstammt einer protestantischen Familie aus der Touraine. Das Kosmopolitische, das Meister zeit seines Lebens anhaftet, ist so von Anbeginn gegeben: Sproß einer seit alters in Zürich ansässigen Familie verbringt er in deutschen Städten — nach Bückeburg lebt er einige Zeit in Erlangen — Kindheit und Jugend. Die Muttersprache — im reinsten Wortsinne — ist das Französische 13 ; zugleich spricht der junge Henri mit

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12

13

Siehe Ulrich (1961), 7. Siehe besonders Muraro-Ganz (1977); Grubenmann (1954); Bessire (1912); Usteri/ Ritter: „Notice sur Henri Meister" ( = Einleitung zu Lettres inédites de Mm de Staël [21904]; Usteri/Ritter: „Vorwort" (1910) zur Neuausgabe von Meisters Souvenirs de mon demier voyage à Paris; Ulrich: „Vorwort" (1961) zur Neuausgabe von Meisters Voyage de Zurieb à Zurich; Wehrli (1969); Massiet du Biest (1949) und (1960); außerdem Betz (1895); Breitinger (1883), (1895) und (1990); Escher-Bürkli (1885); Morel (1893); Usteri/ Ritter (1902). — Lavater-Slomans biographischer Roman (1958) ist die übliche, recht unterhaltsame Mischung von Dichtung und Wahrheit. Fragmens autobiographiques (Ms 48, Archiv Reinhart) und Inventaire de mes vanités (Ms 43, Archiv Reinhart). Meister schreibt in den Fragmens autobiographiques (Ms 48, Archiv Reinhart): La langue française était ma langue maternelle, et c'était encore celle que le goût de mon père et son exemple

Anmerkungen %ur Vita

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der Dienerschaft und der außerhäuslichen Umwelt deutsch; das Lateinische pflegt er — kaum der Artikulation fähig — mit dem Vater 14 . Die Polyglossie wird in späteren Jahren durch die Kenntnis des Griechischen, Englischen und Italienischen erweitert. — 1757 kehrt Meister in die Schweiz >heimRatio< zur Logik der universalen >Idea< entspricht. Hinter dieser Stringenz, die das literarische Werk Meisters offenbart, treten kleinliche biographische Ereignisse zurück, wiewohl sie nicht unbeachtet bleiben dürfen. Um zum rein Faktischen der Biographie zurückzukommen: Im Inventaire de mes vanités verzeichnet Meister nicht ohne Stolz die Personen und Persönlichkeiten von öffentlichem und politischem Rang, mit denen er über kürzere oder längere Zeit seines Lebens in Verbindung stand. Da es sich ohnehin nur um Aufzählungen von Namen handelt, seien die folgenden Zitate erlaubt. Gelegentlich seiner Journalistentätigkeit bemerkt Meister: Un des plus solides avantages recueillis du frivole métier auquel je vouai les plus belles années de ma vie, fut de me procurer des relations plus ou moins directes, plus ou moins interessantes avec les plus augustes personnages de l'Europe, avec Catherine le [sic!] grand, avec Gustave III, avec les rois de Pologne et de Prusse, avec l'illustre et malheureux Duc de Brunswick et son digne ministre M. de Rothencreutavec le grand Duc de Toscane, depuis Empereur, avec les ducs de Deux Ponts, de Saxe Gotha, de Mecklenbourg, de plus intimes avec le Margrave d'Anspach et ses deux célébrés amies, M11' Clairon et Milady Craven qu'il épousa dans la suite, et qui me combla de bontés pendant mon séjour en Angleterre. Um 1780, so fügt Meister hinzu, habe ihn der Herzog von Sachsen-Gotha mit der Erziehung seiner beiden Söhne — à des conditions très avantageuses — betrauen wollen, und kurze Zeit später habe der Herzog von Braunschweig an ihn das gleiche Ansinnen gerichtet. Aber Meister lehnte ab: (...) je ne concevais pas alors qu'il fut possible de renoncer volontairement au séjour de Paris. Für seine Werke wurde Meister mit Ehren und Geschenken bedacht: Prinz Heinrich von Preußen honorierte die Premiers principes du système social mit einer Golddose; der König von Schweden ließ ihm eine weitere Dose, blau-emailliert und brillanten-bestückt, überreichen; der König von Wittenberg entlohnte sein Vergnügen bei der Lektüre der Lettres sur la vieillesse mit einer Medaillon-gezierten Dose. Auch Katharina II. hat Meister wiederholt mit großzügigen Geschenken bedacht: Eine angebliche Unzufriedenheit mit dem Grimm-Nachfolger wird allein hierdurch widerlegt. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu erwähnen, daß Meister seine Werke nicht zu dedizieren pflegte — mit zwei Ausnahmen: Seiner Ubersetzung der Idyllen Gessners ins Französische — sie erschien 1773 — fügte er ein schmeichelhaftes Widmungsgedicht an die Du Barry hinzu und überbrachte das Präsent selbst — Meister ging bei dieser ersten

Anmerkungen \ur Vita

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Gelegenheit leer aus. 42 Fast ein halbes Jahrhundert später erlaubte sich Meister noch einmal eine Dedicatio: Er widmete 1819 die Heures, jene religiösen Meditationsstücke, Alexander, dem Enkel der großen Zarin. Politische Erwägungen und persönliche Neigung mögen hier der Grund gewesen sein. Der Zar dankte mit einem Diamantring ... Es ist nicht zu leugnen, daß Frauen in Meisters Leben eine mindestens ebenso große Rolle spielten, und Meister vergißt nicht, sie in seinem >Inventar< aufzuzählen; man wird an Leporellos Liste erinnert: En me rappelant toutes les faveurs répandues sur mon obscure destinée, oublieraije que j'eus le bonheur de connaître plusieurs des femmes les plus distinguées de la Suisse, de la France, de l'Angleterre, de l'Allemagne et même de l'Italie où je n'ai jamais été! MUe. Bondely dont fean Jacques a dit qu'elle écrivait comme Voltaire et pensait comme LeibnitMme. Necker, Mme. de Staël, Mme. de Vandeul me Diderot, M . Gui^ot de Meulan, Mme. Suard, Mme. d'Epinaj, Mme. de Sou^a, Mme. Steck Guichelin, Mlu. Clairon, Miladj Craven, depuis Margrave dAnspach, Miss Wolstoncraft, depuis Mme. Goodwin, la Comtesse de Forbach Douairiere du Duc de Deux-Ponts, Mms. la Grande duchesse Constantin, Mme. Harmes cidevant Berlepsch, Mme. la Roche la premiere passion de Wieland, Mme. de Buchwald, Mme. de Morando, la générale Dembrowska- Viscontini etc etc. Mme de Vermenoux wird eigens erwähnt. Die diskrete Dezenz, mit der Meister von ihr hier und andernorts spricht, täuscht nicht über die Bedeutung hinweg, die sie für Meisters Leben und Lebensweg hatte: J'ai peint avec asse% d'intérêt une amie à qui fut dévouée la plus heureuse époque de mon existence, pour faire desirer à Catherine II d'en avoir le portrait et le buste — Je l'ai peinte encore mieux, je crois, dans un chapitre de la morale naturelle et dans Euthanasie — Ein anderes wird daraus deutlich: Meister hat diese Lebensskizzen im achten Lebensjahrzehnt niedergeschrieben: Die Zeit in Paris erscheint ihm im Rückblick als die reichste und lebensvollste: Meister war in Geist und Seele der europäischen Metropole zeitlebens verbunden. Nicht umsonst galt er den Zürchern als der „Pariser Meister": Er behielt nicht nur französische Umgangsformen und Kleidermode bei, er pflegte auch 42

Inventaire (Ms 43, Archiv Reinhart): L'espoir d'interésser aux talens du moderne Théocrite l'attention de la sultane en faveur, et d'obtenir ainsi pour lui quelque marque d'une reconnaissance royale, me fit faire la sottise de solliciter la permission de lui présenter un exemplaire de ma traduction magnifiquement relié, de plus orné d'un asse^joli madrigal. Cette belle spéculation me fit dépenser fort inutilement une douzaine de louis, f e n'en recueillis point d'autre profit que celui de contempler de fort près une des plus célébrés et des plus séduisantes odalisques qu'il y eut alors en Europe. Meister hat das Gedicht in die CL aufgenommen (s. CL-Tourneux X 243 [= Mai 1773]).

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Einleitung

weiterhin, wo immer es möglich war, die französische Sprache. Das „Züridütsch" war und blieb seinen Ohren fremd, ja wirkte auf ihn barbarisch. 43 Außer dieser eher aufzählenden Liste der „Lebenseitelkeiten" hat Meister der Nachwelt die Fragmens autobiographiques44 hinterlassen. Die „Fragmente" sind im späten Rückblick geschrieben: Sie erklären und deuten aus der Kenntnis und Erfahrung des alten Meister, und sie bieten einen eigentümlich intimen Zugang zu Mensch und Werk. Das Interesse der autobiographischen Aufzeichnungen besteht nämlich weniger darin, daß sie genaue Daten geben und festumrissene Episoden schildern; es liegt vielmehr in der psychologischen Analyse des Einflusses, den Naturell und Erziehung auf Neigungen und Haltungen, Entscheidungen und Handlungen gewinnen 45 : Sij'ose recueillir ici ces souvenirs de mon enfance, ce n'est pas comme des circonstances remarquables d'une destinée dont l'ensemble même n'a rien de remarquable que pour moi même et pour mes amis; c'est uniquement comme des observations psychologiques dont on pourrait tirer, je pense, quelques résultats utiles. Die Beobachtungen und Schlußfolgerungen, die Meister notiert und die für heutige Leser nicht frei sind von einer gewissen Naivität, geben Zeugnis von einer Psychologie, die gegen Ende des XVIII. und zu Beginn des XIX. Jahrhunderts Mode war, ja zur Manie wurde und die darin bestand, den Einfluß der Physis auf den Geist und vice versa des Geistes auf die Physis zu untersuchen und zu systematisieren. So betont Meister wiederholt, daß er ein zartes Kind von delikater Gesundheit gewesen sei. Das hatte zur Folge, daß die Eltern ihn mit ausgesuchter Behutsamkeit und ängstlicher Umsicht behandelten — au physique et au moral, wie Meister sich auszudrücken beliebt. Der kleine Henri wurde ungewöhnlich lange am Laufband gehalten, um dem Risiko zu entgehen d'avoir de tems en tems quelques bosses de plus à la tête; er mußte bis zum siebten oder achten Lebensjahr ein Fischbeinkorsett tragen pour préserver ma taille d'accident. In diesen Vorsichtsmaßnahmen sieht Meister den Grund dafür, daß er sich späterhin physisch nie allzu frei bewegen konnte, daß 43

44 45

Meister bemerkt in Voyage de Zurich à Zurich (1818): C'est le caractère trop connu de notre idiome tellement rude, tellement pénible, tellement rempli d'inflexions sourdes et d'aspirations gutturales, qu'il est impossible de le prononcer sans que le mouvement habituel des lèvres et de la bouche n'en soit plus ou moins défiguré. Und etwas weiter: (...) avec leur langage habituel, le moins musical, le moins mélodieux, que je connoisse; aussi presque tout le monde semble-t-il faire la grimace en s'écoutant parler. (Zit n. der Neuausgabe 1961, 55 f. und 57). Ms 48, Archiv Reinhart. Ebd.

Anmerkungen \ur Vita

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sein Gang weniger sicher und fest war; er sieht darin weiterhin eine mögliche Voraussetzung für seine konservative geistige Haltung 46 : Mon très humble respect pour l'utilité de certaines barrières, pour la nécessité de garantir le repos public par de puissantes lois prohibitives, ne tiendrait-il pas un peu de l'impression que m'ont laissée les habitudes qui me furent imposées par la prudence ou par la timidité de ces systèmes conservateurs? ... Es kann hier nicht erörtert werden, ob die Thesen Meisters zutreffen oder nicht; nur soviel: Es trifft in der Tat zu, daß Meister zeit seines Lebens moderat-konservativ eingestellt war; eine umsichtige Prudentia kennzeichnet seine Meinungen und Handlungen. In scheinbarem Kontrast zur geordnet-bewahrenden Haltung steht Meisters Methode zu lernen und zu denken. Er bedauert, die fremden Sprachen nie nach Regeln und System erlernt zu haben, sondern nach einer Methode 47 , die die moderne Didaktik als die „direkte" anpreist. Sie war offentsichtlich die einzig adäquate: Comme tous les enfans délicats, j'étais (...) peu capable d'une application longue et soutenue. Entsprechend knapp und einprägsam waren die literarischen Proben, die der pädagogisch geschickte Vater seinem Sohn vorlegte: Exzerpte aus den Heiligen Büchern und den Werken der antiken Moralisten, die den Charakter von Sentenzen und Maximen hatten. Die kurzen Literaturstücke ermüdeten nicht den Geist, belebten vielmehr die Phantasie. Meister bemerkt dazu 48 : Je ne puis douter encore que je ne doive à ce mode d'instruction mon goût pour les idées générales, pour le style sententieux, une asse% grande aptitude à généraliser toute espèce d'observation particulière, trop grande même, puisque cette disposition devenue habituelle nous empêche souvent de porter une attention suffisante sur des détails, sur des circonstances que l'on ne néglige jamais impunément. 46

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48

Entsprechend interpretiert Meister die geistige Haltung seines Cousin und engen Freundes Leonhard Meister, der, Halbwaise, weniger streng erzogen wurde und weniger behütet aufwuchs: Cependant par son âge, par la vivacité naturelle de son esprit, par l ' e f f e t même d'une éducation moins suivie, moins surveillée que la mienne, il avait sur moi plus d'un avantage incontestable. (...) Il y avait contracté des habitudes plus indépendantes; il s'était livré davantage à son goût pour la philosophie et pour les belles lettres, que l'influence de Bodmer et de Breitinger sur la jeunesse de leur tems avait mis fort à la mode. Sa pensée avait pris en conséquence un essor plus libre que celui qu'avait laissé prendre à la mienne une instruction plus concentrée, plus attentive et plus scrupuleuse. Fragmens autobiographiques (Ms 48, Archiv Reinhart): Un tort plus grave encore de l'indulgente méthode que mon père crut devoir suivre dans ma premiere éducation, ce fut de ne pas appliquer plus sérieusement majeune intelligence à l'étude fort triste à la vérité, mais si profitable néanmoins, du rudiment. A sept ans, je lisais, j'écrivais, je parlais tant bien que mal trois à quatre langues, mais je n'en avais appris aucune par principes. (...) Die nachfolgenden Zitate sind den Fragmens autobiographiques entnommen.

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Einleitung

Wiederum nennt und begründet Meister einen Hauptwesenszug: die Neigung zur Verallgemeinerung, die in der Sentenz ihre adäquate Ausdrucksform findet. Die Werke und Artikel, die Meister verfaßt hat, zeichnen sich tatsächlich in der Regel dadurch aus, daß sie übergreifende Synthesen der oft kontroversen Diskussionen seiner Zeit geben, einprägsam, griffig — freilich, und das liegt in der Natur der Sache, unter Verzicht auf das akribische und korrigierende Detail. Prägnanz und raffende Verkürzung ist eine Verfahrensweise, die dem Moralisten, dem aufmerksamen Beobachter menschlicher Dinge eigentümlich ist. Dazu paßt in auffalliger Weise eine literarische Vorliebe: die helle Begeisterung des erst Siebenjährigen für Molière. Meister berichtet: C'était un soir d'hiver avant souper que j'en dévorai plusieurs scènes. Il n'y eut aucun moyen de m'envoyer coucher, avant d'avoir achevé la pièce. (...) J'avais de la peine à continuer de lire à force de rire, et je ne pouvais me rassasier d'un plaisir qui se renouvelait à chaque scène, à chaque trait avec plus de vivacité. C'était véritablement comme une jouissance nouvelle de toutes les facultés de ma jeune tête. Der junge Meister ist der ideale Leser der Molièreschen Stücke, denn ihm ist eine natürliche Neigung zueigen, die bei dieser Gelegenheit erst offenbar wurde: ce penchant à saisir le ridicule, à le relever avec tant d'intérêt et de plaisir. Das Lächerliche am Menschen aufzudecken gehört seit jeher zu den vornehmsten Aufgaben der Komödienschreiber ganz allgemein und der Moralisten im besonderen. Meister hat diese Aufgabe über lange Zeit seines Lebens mit Verve und Vergnügen, ohne Bissigkeit wahrgenommen, nicht zuletzt in seinen kritischen Beiträgen zur Correspondance littéraire. Der alte Meister jedoch vermerkt die Gefahren eines allzu übermütigen „esprit goguenard": Si j'ai vécu, durant une grande partie de ma vie, d'une sorte de talent pour démêler le ridicule de mes semblables, ne sont-ce pas quelques mauvaises plaisanteries qui, dès mon entrée dans le monde, faillirent m'exposer au triste honneur de périr sur l'échafaud comme martyr d'une philosophie, dont j'ai trop bien reconnu depuis les torts et le danger? Meister spielt auf die Principes religieux an: Etliche Ausführungen dort erscheinen ihm bei Abfassung seiner autobiographischen Fragmente nur noch als quelques mauvaises plaisanteries. Meister zeigt sich skeptisch gegenüber der Philosophie der Aufklärung, deren Verdienste er anerkannte und deren Erkenntnisse er stets verteidigte, vor deren Gefahr er jedoch von Anbeginn warnt: dem Umschlag der Ratio in den Rationalismus. Rationalismus und dogmatisches Systemdenken hat Meister immer bekämpft, ihre Irrtümer immer gebrandmarkt — eine bare Selbstverständ-

Anmerkungen %ur Vita

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lichkeit für den, dessen Haltung von Toleranz und moderatio geprägt ist. Der ältere Meister — so zeigen die autobiographischen Fragmente — hegt darüber hinaus Mißtrauen gegenüber der Aufklärungsbewegung ganz allgemein und kultiviert Gemüt und Religiosität. Die Verlagerung der Neigung ist zweifelsohne durch die Französische Revolution ausgelöst und bestimmt. Davon legen die Schriften deutliches Zeugnis ab 48î . Es wäre aber verfehlt, a l l e i n in dem historischen Ereignis und dem in ähnlicher Weise ganz allgemein veränderten geistigen Klima der Zeit den ausschlaggebenden Grund zu sehen. Meister hatte von Anbeginn natürliche und anerzogene Dispositionen zur Religiosität, zur Metaphysis allgemein. Er ist der keineswegs untypische Fall, der raison und sensibilité verbindet, dem sich observation und expérience mit imagination in selbstverständlicher Weise verbinden. Allein die Gewichtung verlagert sich im Laufe der Zeit. Demgemäß bemerkt der alte Meister noch einmal zu der ihm unseligen Schrift über die Principes religieux-. Ces égaremens de mon esprit furent cependant dès-lors fortement reprimés par tous les principes que m'avaient inspirés les premieres instructions de mon enfance, par la sensibilité naturelle de mon cœur et de mon imagination (...) Mon sens religieux l'emportait encore asse% souvent sur toute la force et sur toute la subtilité des raisonnemens dont l'orgueil de ma faible raison s'était laissé si facilement éblouir. Wiederum erklärt Meister aus seiner Physis, seiner zarten Natur, die geistige Neigung, seine außergewöhnliche Einbildungskraft, die ihrerseits die Religiosität bestimme. Meister schildert zur Anschauung des Gemeinten eine Episode aus der Kindheit: Comme tous les enfans délicats, et par cette raison-là même, d'une imagination très mobile et très susceptible, j'étais fort sujet la nuit, avant de m'endormir, à me laisser aller à toute sorte d'impressions qui me faisaient peur; et j'avais en même tems asse% d'amour propre déjà pour vouloir m'en cacher. Um sich abzulenken, nimmt er das Gebetsbüchlein Benedikt Pictets, eines Genfer Pastors, zur Hand und liest darin. Die fromme Lektüre bringt ruhigen Schlaf — und Meister kommentiert: Ne devrais-je pas, sans m'en douter à l'heureux e f f e t de cette superstition de mon enfance, mon goût naturel pour la priere, une disposition plus facile et plus intime à la confiance, au calme, au tranquille abandon d'une sainte résignation, qu'y cherche, qu'y trouvera toujours toute ame vraiment pieuse, mais avec plus de recueillement, sans doute, plus de lumieres et plus de reflexion que je ne pouvais en avoir alors. 48a Die Skepsis gegenüber der Aufklärung nach der Revolution ist Zeichen aufgeklärten Geistes und somit Fortführung der Aufklärung.

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Einleitung

In eigentümlicher Weise resümiert die Passage den Charakter Meisters: Objektiver Erkenntniswille und Reflexion werden ergänzt durch Einbildungskraft und Transzendenzbewußtsein. Das eine bleibt auf das andere eng bezogen. Darin zeigt sich der Wille zur Synthese, der die Gegensätze zu überwinden sucht.

II. Aufklärung in Europa im Spiegel der Correspondance littéraire 1. Die Correspondance littéraire — Ein Überblick über Forschung, Geschichte und Inhalte Die Correspondance littéraire 2ählt zu den weit bekannten und viel gerühmten Zeitschriften des X V I I I . Jahrhunderts, und dennoch fehlt eine grundlegende Studie, die sich ausschließlich die Präsentation der Correspondance um ihrer selbst willen, in all ihrer Fülle an Themen und Aspekten angelegen sein ließe. Der Mangel zeugt für die Tatsache, daß das Interesse an der Correspondance littéraire immer ein Interesse zweiter Ordnung war und auch noch ist. So lernte Tourneux ihre Bedeutung und Kuriosität erst auf dem Umweg über Diderot in vollem Umfang schätzen: Die imponierende und bis heute nicht übertroffene Edition der Correspondance1 ist gewissermaßen ein Folge-Produkt der Diderot-Werkausgabe, die Tourneux mit Assézat 2 besorgte. Auch die Correspondance littéraireRenaissance der fünfziger und sechziger Jahre unseres Jahrhunderts 3 — und verbunden damit das Wiederaufleben der Studien zu Grimm — ist in ihrem Ausmaß allein eine Folge der großen Voltaire-Briefausgabe durch Besterman 4 und, in jüngster Zeit, der neuen kritischen und kommentierten Ausgabe der Werke Diderots 5 . Denn bekanntlich waren Voltaire 6 und

1

In neueren Arbeiten wird die Tourneux-Ausgabe immer wieder als lückenhaft bemängelt — was zutrifft. Doch bisher hat sich kein Team an Wissenschaftlern (ein einzelner vermag das Unternehmen — wie noch Tourneux — nicht durchzuführen) und kein Verlag gefunden, die es auf sich nähmen, die gewünschte kritische und vollständige A u s g a b e d e r C L v o r z u l e g e n . D i e B e m ü h u n g e n des Centre d'étude des XVII'

2 3 4 5

6

et

XVIII'

siècles, Sorbonne IV, Paris, scheinen nach Anläufen zu stagnieren. Œuvres complètes de Diderot I —XX, éd. Assézat et Tourneux, Paris 1875 — 77. Siehe die Titel im Literaturverzeichnis. Vo/taire's Correspondence I — CVII, ed. Th. Besterman, Genève 1953 — 1965. Die von H. Dieckmann, J. Proust und J. Varloot bei Hermann, Paris, herausgegebene Edition der Œuvres complètes Diderots erscheint seit 1975. Vgl. dazu Emile Lizé: Voltaire „collaborateur" de la CL, in: „Colloque 1974" (1976), 4 9 - 6 7 ; Schlobach (1970).

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Aufklärung

in Europa im Spiegel der „Correspondance

littéraire"

Diderot 7 eifrige Zulieferer und Mitarbeiter der Correspondance: Von Voltaire liest man dort geistreich-spitze Epigramme, interessante Briefe und engagierte Stellungnahmen zu Tagesereignissen von mehr und minder großer Tragweite. Diderot hat fast sein komplettes literarisches Portefeuille den Herausgebern Grimm und Meister zur Verfügung gestellt: Gerade seine besten Literaturstücke erschienen erstmals und exklusiv in wohlproportionierten Teilsätzen in der Correspondance littéraire: Die fürstlichen Abonnenten hatten das Vergnügen, viele Jahre vor der Drucklegung so weltliterarisch bedeutende Werke zu goutieren wie die Religieuse, die man zumindest formal als ersten „Feuilleton"-Roman bezeichnen kann, Jacques le fataliste8, den „Traum d'Alemberts", nicht zuletzt die Salons von 1759, 1761 und 1769, kunstkritische Abhandlungen ersten Ranges — um nur diese Titel zu nennen 9 . Bei den Recherchen nach bisher unveröffentlichten Schriften Diderots und Voltaires konstatierte man mit einigem Unbehagen die Lücken- und Mangelhaftigkeit der Tourneux'schen Ausgabe und faßte — nun auch überzeugt von dem hohen eigenen Wert der Correspondance littéraire — den Plan, die zahlreichen und verstreuten Handschriften der >Feuilles< in europäischen Bibliotheken ausfindig zu machen, sie zu kollationieren — und eine vollständige Correspondance littéraire raisonnéeFasti< besiegelt: Es ist nunmehr bekannt, daß ohne Wissen und Zutun Meisters im Juli 1812 bei Buisson in Paris fünf Bände einer Correspondance littéraire, philosophique et critique im Druck erschienen sind; es handelt sich um die Sendungen aus den Jahren 1770 bis 1782; der Herausgeber ist ein gewisser Salgues. Es herrscht inzwischen ebenso Klarheit darüber, daß Meister, nachdem er von diesem „Raubdruck" wenige Tage später zu hören bekam, anfanglich zwar verängstigt und empört war 21 , sich dann aber kurzerhand entschloß, gemeinsam mit Suard, dem ihm seit Jahrzehnten bekannten und freundschaftlich verbundenen Pariser Verleger und früheren Herausgeber des Publiciste, die nachfolgenden Jahrgänge 1782 bis 1790 auf den Markt zu bringen und damit der Neugierde eines nachrevolutionären Publikums preiszugeben 22 . Meister bleibt freilich als Herausgeber weiterhin anonym. Allein David Heß hat in seinem Nekrolog auf Meister in der Neuen Zürcher Zeitung am 11. November 1826 unmißverständlich mitgeteilt, daß Meister „eine Menge (...) Erinnerungen an Zeitgenossen und Zeitereignissen" gegeben habe, „deren viele in der berühmten Grimmschen Korrespondenz, an welcher [dieser] den grösten Antheil gehabt hat", zu lesen seien. Doch öffentlich wurde diese Tatsache erst ein halbes Jahrhundert später, und wirklich zur Kenntnis nimmt man sie erst seit dreißig Jahren. Dessen unbeschadet: Die äußeren Gegebenheiten und Umstände sind zwischenzeitlich gut erforscht und dargelegt. Auf Neuentdeckungen und Überraschungen wird man dennoch gefaßt sein müssen. Ein Überblick über die Inhalte der Correspondance, insbesondere und ungleich mehr für den weitaus größeren Teil, den Meister verantwortlich herausgegeben hat, fehlt. Eine globale Präsentation soll im folgenden versucht werden. 20

21

22

Siehe dazu insbesondere de Booy (1963) und als wichtige Ergänzung Schlobach (1970) und Inventaire (1984), I lxxxvi —c. Vgl. dazu den Brief Suards an Meister vom (?) Juli 1812 (zit. n. de Booy [1963], 222 f.): Mon cher et aimable ami, je conçois la sorte d'inquiétude qu'a pu vous causer la publication de cette correspondance de Grimm, mais vous vous en exagere£ sans motif les inconvéniens pour vous. C'est à la vérité m honteux brigandage que ces révélations de correspondances particulières qui n'étaient pas destinées au public. (...) und weiter unten: (...) qu'est-ce que tout cela peut vous faire? Personne au monde n'a songé à attribuer cet ouvrage à un autre qu'à Grimm (...) Reste£ bien tranquille; „in utramque aurem dormies"; votre nom ne sera point prononcé; (...) Zu den Einzelheiten siehe de Booy (1963); zur möglichen Herkunft des Manuskriptes, das dem dritten Teil der Correspondance-Druckhssung (1753 — 1769; 6 Bde.), besorgt von Chéron und Michaud, zugrundeliegt, siehe Schlobach (1970) und Inventaire (1984), I lxxxvii — lxxxix.

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Wer die Ausgabe von Tourneux zur Hand nimmt, wird nur bedingt den Wert ermessen können, den die Correspondance für die Abonnenten hatte, denn die gedruckte Ausgabe spart das eigentlich Attraktive aus: die Prosawerke Diderots, die in der Correspondance in Fortsetzung und lange vor der Drucklegung erschienen sind, sowie die zahlreichen Briefe und Gelegenheitsschriften Voltaires, Rousseaus, Marmontels und anderen. Eine authentische Edition dürfte allein um der Wirkung willen diese Partien nicht unterschlagen, wenngleich sie andernorts in den jeweiligen kritischen Werkausgaben längst und in bester Form zugänglich sind. Eine andere Lücke schmerzt empfindlicher: Es fehlen bei Tourneux die ausführlichen Resümees der zeitgenössischen Bühnenstücke, die Meister der Kritik und dem Bericht über die Aufnahme bei Publikum und Presse vorausschickte. Die meist nach Akten eingeteilten Inhaltsreferate dienten der notwendigen Information über Stücke, die damals wie heute gleichermaßen unbekannt sind, die meist nur wenige Aufführungen erlebt haben und von denen kaum eines im Druck erschienen ist. Um so wertvoller sind die Meisterschen Auszüge und Zusammenfassungen. Der Forscher, der sich mit dem Theater des XVIII. Jahrhunderts befaßt, findet hier eine unentbehrliche Quelle. — Darüber hinaus fehlen in der Tourneuxschen Ausgabe Texte, meist Gedichte von poetae minores, die entweder noch im XVIII. Jahrhundert veröffentlicht wurden oder wegen Belanglosigkeit ungedruckt blieben, so z. B. Poésies von Lemierre 23 , Dorât 24 , Ximénèz 25 , Fontanes 26 , Bouffiers 27 , um nur diese zu nennen. Es fehlen gelegentlich Buch- und Theaterbesprechungen, die in ihrer Bedeutung den abgedruckten nicht nachstehen. Auswahlkriterien festzumachen fällt schwer. Doch wird der Gesamteindruck der Correspondance littéraire durch diese relativ geringfügigen Auslassungen nicht wesentlich beeinträchtigt. Trotz der Einwände vermag die sechzehnbändige Tourneux-Ausgabe den bestimmtesten Eindruck zu geben, daß die Correspondance littéraire, philosophique et critique die größte, interessanteste und thematisch vielfältigste jener Korrespondenzen, Memoiren und vertraulichen Mitteilungen 23

24 25 26 27

Z. B. Gotha I: B 1 1 3 8 1 4 4 v - 4 7 r ( = III.1776); B 1 1 3 8 1 1 2 2 v - 1 2 3 v ( = X.1776); B 1138 n 68v —69v ( = IV. 1780); B 1138 o 2 2 8 r - 2 2 9 v ( = X.1782); B 1138 o 3 1 3 v - 3 1 7 r ( = 11.1783); B 1138 p 3 3 8 r - 3 4 0 v (= 11.1785). Z. B. Gotha I: B 1138 1 3 6 v - 3 7 v ( = III. 1776); B 1138 m 491v ( = XI.1779). Z.B. Gotha I: B 1138 q 9 1 v - 9 3 r (= IV. 1786). Z.B. Gotha II: B 1279: 2 1 1 v - 2 1 2 v ( = XII.1789). Z.B. Gotha I: B 1138 k 458v (= XII.1775). Eine vollständige Auflistung der Vers, Madrigales etc. der unter Anm. 23 bis 27 genannten Poetes findet sich im Inventaire (1984).

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ist, die während des XVIII. Jahrhunderts zirkulierten. Das gilt entgegen der verbreiteten Meinung für die Meistersche Correspondance nicht anders als für den von Grimm redigierten Teil. Wer wie Sainte-Beuve nichts von zwei Redakteuren weiß, konstatiert die Einheit der Zeitschrift. Doch der Einschnitt, den Tourneux mit dem Abbruch der Drucklegung gesetzt hat, ist nicht willkürlich. In der Tat erfährt die Meistersche Correspondance mit dem Jahr 1794 eine deutliche Zäsur, so daß man billigerweise zwei Teile bzw. zwei Folgen unterscheiden muß, die sich nach Form und auch nach Inhalt voneinander abheben. Eine Präsentation der Correspondance littéraire hat diesem Sachverhalt Rechnung zu tragen, indem sie die beiden Teile gesondert charakterisiert. Der erste Teil der Meisterschen Fortsetzung der Correspondance schließt sich in der Form wie in den Inhalten an die Grimmsche ohne erkennbaren Bruch an. Es existiert weiterhin keine feste Ordnung nach Themen und Sujets; der Zufall der Ereignisse bestimmt die Reihenfolge. Die Inhalte sind die nämlichen: Buchbesprechungen, Theaterrezensionen, Hof- und Salonklatsch, unveröffentlichte Poesie und Prosa, Salons ... Und doch hat die Meistersche Correspondance ihr charakteristisches Profil und ihren eigenen Tenor. Es fallen zunächst die großen monographischen Essays auf, die Meister zu Dichtern, Schriftstellern, Philosophen und Politikern von Rang und internationaler Bedeutung verfaßt hat. Der Reigen der Laudationes beginnt mit Molière 28 und Montaigne 29 , er wird fortgesetzt mit Voltaire30, d'Alembert31, Diderot32, Holbach33, er endet in den ersten Jahren des folgenden Jahrhunderts mit Lavater 34 , Grimm35, Necker36. Der Artikel über Montaigne gehört zum Besten und Treffendsten, was je über den Moralisten des XVI. Jahrhunderts geschrieben wurde 37 : Er eignete sich noch heute als Einführung zu einer neuen Ausgabe der Essais. Nicht 28 29

30 31 32

33 34

35 36 37

CL-Tourneux X 2 6 7 - 2 7 1 ( = Août 1773). CL-Tourneux X 430 — 39 (=Juin 1774); der Artikel erschien auch im Journal de lecture, hg. v. Leuchsenring. CL-Tourneux XII 1 0 8 - 1 1 2 ( = Juin 1778). CL-Tourneux XIII 4 5 6 - 4 6 4 ( = Jan. 1784). CL-Tourneux XIV 460 — 468 ( = Nov. 1786); der Nekrolog erscheint erst zwei Jahre nach Diderots Tod. CL-Tourneux XV 4 1 5 - 4 2 4 ( = Mars 1789). CL-Tourneux XIII 2 0 0 - 2 1 0 ( = Oct. 1782) und insbesondere Gotha I: B 1138 v 7r—llr (= 11.1801); auch in Mélanges II (1822), 2 8 - 5 7 . Gotha I: B 1138 x 2 5 r - 2 7 v ( = IV. 1808); auch in Mélanges II (1822), 8 3 - 1 0 4 . Gotha I: B 1138 v 5 2 1 r - 5 2 4 v ( = XI.1804); auch in Mélanges II (1822), 5 8 - 8 2 . Vgl. dazu Sainte-Beuve: Causeries VII, 315 f.

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anders der Nekrolog auf Diderot: Er ist die erste und auf lange Zeit die einzige Würdigung des universalen Aufklärers und diente verschiedenen Werkausgaben, die gegen Ende des XVIII. Jahrhunderts erschienen sind, als Vorwort; noch Assezat nahm Meisters Essay in seine zwanzigbändige Werkausgabe auf. An Gültigkeit und vor allem an lebensvoller Anschaulichkeit hat er bis auf den heutigen Tag nichts verloren 38 . Das gilt mutatis mutandis für alle übrigen Abhandlungen: Sie verraten immer erneut Meisters profunde literarische Bildung, sie zeigen, daß er in der modernen europäischen Literatur ebenso bewandert ist wie im antiken Schrifttum. Die universale Bildung, die die Schranken einer einzigen Schule nicht kennt bzw. nicht anerkennt, bringt nicht nur Offenheit für das Vielfaltige mit sich, sondern erlaubt, die Litterae des Abendlandes in Beziehung miteinander zu sehen und in Bezug zueinander zu setzen. Meister analysiert, erläutert, wo immer es die Sache lohnt und fordert, in europäischem Kontext und erweist sich damit als Komparatist avant la lettre. Das zeigen die monographischen Abhandlungen nicht minder deutlich als bspw. die differenzierten Äußerungen zur Shakespeare-Rezeption in Frankreich oder die verstreuten Bemerkungen zur Bukolik und zur Moralistik, zur Gattung des Romans und zur klassischen Tragödie, das zeigt insbesondere seine Übersetzungskritik. Ohne auf Einzelheiten hier in der ersten Übersicht eingehen zu können, wenigstens soviel: Das ästhetische Urteil Meisters ist relativierend; es bezieht in seine Wertung den historischen, gesellschaftlichen und nationenspezifischen Hintergrund ein; es beachtet die unterschiedlichen semantischen, phonetischen und metrischen Gegebenheiten der Sprachen. Der Mangel an Entschiedenheit, den man Meister zum Vorwurf macht, ist nichts anderes als Interesse am Vielfältigen und Rücksicht 'auf das Individuelle. Die großen Einzeldarstellungen wie die gelegentlichen literaturkritischen Bemerkungen zeugen von Meisters Teilnahme an den Strömungen und Tendenzen der Zeit. In der Beachtung und Anerkennung des Individuellen und des Verschiedenen, das gleichwohl im >Klassischen< Gesetz und Rahmen finden muß, unterscheidet sich Meister wesensmäßig von Grimm, dessen ästhetische Wertung deutlich von Klassizismus und Rationalismus geprägt ist. Die Unterschiede in der Kunstanschauung und ineins damit in der Lebensanschauung, d. i. „Philosophie", zeigen beispielsweise die Berichte, die Grimm und Meister von den Tätigkeiten der Akademie geben. Weit ausführlicher als Grimm unterrichtet Meister über die jährlich am Festtage des Heiligen Ludwig stattfindende öffentliche Versammlung

38

Näheres dazu s. unten S. 147.

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der Akademie sowie über Sitzungen, die zwecks Nachwahl eines neuen Mitglieds — infolge Ablebens eines >Unsterblichen< — abgehalten wurden. Die detaillierten Reportagen Meisters geben direkten Einblick in den zeitgenössischen Literaturbetrieb: Sie informieren über die Preisaufgaben und Preisverleihungen, stellen die preisgekrönten Werke in Poesie und Prosa vor und referieren insbesondere die Laudationes, die das nachrückende Akademie-Mitglied auf seinen verblichenen Vorgänger pflichtgemäß hält. Es sind Abrisse über Leben und Werk von literarhistorischem Interesse. Doch darauf beschränkt sich der Wert der Meisterschen Berichte nicht: Sie machen vielmehr deutlich, daß der schwindende Einfluß der Philosophes innerhalb der Académie française keine innerakademische Erscheinung ist, nicht so sehr die Folge von Rankünen und Uneinigkeit der Enzyklopädisten-Partei, sondern nur Reflex einer allgemeinen geistigen Entwicklung, die Meister im voraus erkennt, beschreibt und auch im wesentlichen begrüßt. Auch in der Bewertung der Vorgänge unterscheidet sich Meister grundlegend von Grimm 39 . Grimm ist verstimmt, daß die personale Besetzung und öffentliche Wirkung der akademischen Gesellschaft nicht genügend philosophisch, d. h. aufklärerisch, progressiv und den Geist der Zeit bestimmend sei; er ist verstimmt, daß sie anläßlich ihrer Jahresfeier im August 1772 nicht der Bartholomäusnacht, jenes schreckerregenden und fanatischen Massakers, gedenkt 40 , sondern sich wie ganz Paris in Schweigen hüllt, Vergessen zur Schau trägt (ce silence universel, cet oubli total)-, und er bemerkt bitter 41 : Nous vantons tous les jours les progrès de l'esprit philosophique: mais, à y regarder de près, ces progrès sont si mesquins, si peu sensibles, qu'on ne s'aperçoit que trop que la lumière, qui point de tous les côtés, ne frappe encore que des yeux faibles qui ne sauraient la soutenir. Im ganzen ist Grimm verärgert über die Lauheit, ja Ungeschicklichkeit, die d'Alembert, der Sekretär der Akademie, im Umgang mit den „Devoten" zeige: eine Haltung, die geradezu symptomatisch sei für die 39

40

41

Zu Grimms Einschätzung der Académie siehe Karlis Racevskis: L'Académie française vue par Grimm, in „Colloque 1974" (1976), 247 — 254. — Eine Unterscheidung zwischen Grimm und Meister als Herausgeber der Correspondance hat bspw. Brunei in seiner gründlichen Studie zu Les Philosophes et l'Académie française au dix-huitième siècle (1884; repr. 1967) nicht getroffen: Brunei nimmt an, Grimm habe auch die Akademie-Berichte nach 1773 verfaßt und ist daher außerstande, die unterschiedliche Haltung angemessen zu bewerten und für seine Ausführungen fruchtbar zu machen. CL-Tourneux X 51 (= Sept. 1772): Quoi! ¡Académie française avait un prix de poésie à distribuer le lendemain de ce jubilé fatal, et elle n'a pas songé à donner pour sujet le massacre de la Saint-BarthélemjX CL-Tourneux X 50.

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Partei der Philosophen. Denn nicht genug, daß es den Philosophes in der Akademie nicht gelänge, die Dévots mit kämpferischen Argumenten aus dem Feld zu schlagen, machten sich ihrerseits die Dévots philosophische Attitüden zu eigen: (...) c'est le comble de l'extravagance de nos orateurs sacrés de vouloir être moitié philosophes et moitié chrétiens42. Das schreibt Grimm im Oktober 1772 anläßlich der Jahresfeier der >ImmortelsAufklärung< und >EmpfindsamkeitSensualismus< und >Sentimentalismus< offenbar: Sinnliche Wahrnehmung, Gemütsbewegung, Phantasie und Einbildung werden als wesensmäßig zusammengehörig angesehen. Der Vorstellung liegt das sensualistische So Meister (CL-Tourneux XIII 179 [= Août 1782] und öfter); Sperrung von MMG. =7 Critische Dichtkunst (1740), I 47. 58 Allgemeine Theorie der Schönen Künste, 2. Aufl., Th. I - I V , 1792-1794; hier: T. III, 1793, 172. 59 In Versuche in Lehrgedichten und Fabeln (1747), 6 f. (zit. n. Leibfried [1974], 77).

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Prinzip der Aufklärung zugrunde, das Delille im ersten Gesang seiner Imagination schlicht formuliert: Tout entre dans l'esprit par la porte des sens. Der Vers bildet Grundlage und Ausgang höchst differenzierter — und im übrigen auch verworrener — Ausführungen über Wesen und Wirkung der Einbildungskraft! Delilles Imagination, Versgedicht in acht Gesängen 60 , ist ein einzigartiges und erst kürzlich hinreichend beachtetes Paradigma 60 *, das bei aller nicht zu übersehenden Differenz einen Zusammenhang zwischen Aufklärungsepoche und Romantik im Mittel der Einbildungskraft sinnfällig macht. Belehrend und beschreibend hüllt es sich in das sinnen- und gemütsansprechende Gewand des Poème; sensualistisch und aufklärerisch erörtert es eine erkenntnistheoretische und ästhetische Kategorie, die weit mehr der Romantik als dem Siècle des Lumières zugehörig scheint. Die Übergänge macht das Werk selbst sichtbar. Zum Beleg müssen hier einige Zeilen aus der exposition générale du plan de l'ouvrage, die Delille klärend seinen weitschweifigen Gesängen vorausgeschickt hat, genügen. Der erste Gesang, der „den Menschen als geistiges Wesen" {L! homme sous le rapport intellectuel) zum Gegenstand hat, hebt bedeutsamerweise mit der Funktionsbeschreibung der Sinne an; im „Argument" liest man 61 : Les sens sont frappés par les divers objets qui se présentent à eux; ces impressions se gravent dans la mémoire: phénomène inexplicable de cette faculté; c'est dans son vaste dépôt que l'imagination les choisit, les colore, les modifie, les assortit à son gré; les songes, ouvrage de l'imagination encore agissante dans le repos de la nuit, l'action de l'imagination dans la création et l'emploi des figures, ses voyages du monde moral au monde physique, du monde physique au monde moral, et l'art avec lequel elle embellit l'un par l'autre; (...) Die Einbildungskraft ist Mittler zwischen sens und esprit, zwischen monde moral und monde physique. Sie bewirkt eine harmonische Wechselwirkung und Korrespondenz zwischen Leib und Seele, zwischen Mensch und Natur. Demgemäß besingt der dritte Gesang les couleurs, les formes, leur harmonie-,

les mouvemens, la grâce qui résulte de leur élégance et de

Im Vorwort zu L!Imagination schreibt Delille: Ce poème a été commencé dans l'année 1785, et fini en 1794. Doch schon 1784 erwähnt Meister in der Correspondance das Gedicht (CL-Tourneux XIII 493 [= Févr 1784]). - Erst 1806 wurde das Werk veröffentlicht. 60a Abschluß dieser Arbeit erschien zum Thema die Monographie von Becker (1987). 61 Den nachfolgenden Zitaten liegt die Ausgabe zugrunde: Œuvres de Delille I —X, Paris 1 8 3 2 - 3 3 ; hier: VIII 8 - 1 0 . 60

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und der vierte erörtert in bezug auf die Impression des lieux-, E f f e t s réciproques de l'imagination sur les lieux, et des lieux sur iimagination; influence des lieux sauvages et rians, agissant sur nous avec une variété qui dépend des dispositions de notre âme. A la puissance physique des lieux se joint la puissance morale, qui prend sa source dans nos souvenirs agréables ou tristes. Die Vorstellungen, die Delille vorträgt, kennzeichnen bei aller qualitativen Differenz auch die romantische Philosophie und Ästhetik. Das gleiche gilt für die übrigen Gedichte Delilles, insbesondere für Les Jardins und L!Homme des Champs: Sie sind — wie Jean Fabre bemerkt — „dans la zone indécise entre les lumières et le romantisme" 62 angesiedelt. Dies ist zugleich die „Zone", innerhalb derer sich die Meistersche Correspondance bewegt. Daß Meister fast vierzig Jahre lang so häufig und so ausgiebig die keineswegs brillanten Verse Delilles in die >Fastes littéraires< fügt, ist nicht Folge einer übertriebenen Hochschätzung des eher mittelmäßigen Dichters: In den Comptes rendus der Werke Delilles beschränkt sich Meister auf ein Referat des Inhalts und eine gemäßigte Verteidigung Delilles gegen allzu harsche Angriffe der Kritiker. Vielmehr wählt Meister Delille, weil dieser kenntnisreich Themen erörtert, die die Themen der Zeit und zugleich die Themen der Correspondance sind: Der Mensch in seinem Verhältnis zur Natur, die Erkenntnisfrage, der Mesmerismus, das „Mitleid" ... Delille paßt in die Correspondance und paßt in seine Zeit. 62a Literarische Texte, die allein durch ihre Präsenz den zwischen Aufklärung und Romantik changierenden Geist der Correspondance sinnfällig machen, ließen sich noch viele nennen: So die heute längst verschollenen Dichtungen von Fontanes, Roucher, Dorat, Lemierre 63 . Zu nennen wären 62

62a 63

Fabre ( 2 1980), 280. - Zur Ästhetik Delilles s. Schon (1976). Allgemein informiert gut der Sammelband Delille est-il morti (1967). Hierzu vor allem die breite Studie von Guitton (1974). Zu Roucher bemerkt Meister bspw. im August 1779 ( = Gotha I: B 1138 m 4 1 4 r - 4 1 7 ) : Le Poème de M. Roucher ne devant paraître que vers la fin de l'année, nous sommes flattés de pouvoir en o f f r i r ici les prémices en transcrivant un des morceaux qui a le plus réussi dans les différentes lectures que l'auteur a faites de son ouvrage (se. Les Mois). — Auszüge davon in Gotha I: B 1138 m 450r—v (= IX.1779); eine von der Zensur gestrichene Passage in Gotha I: B 1138 n 4 2 1 v - 4 2 2 v (== VIII.1781); Besprechung des Gesamtwerks in Gotha I: B 1138 n 9 2 r - 9 6 r ( = V.1780). - Weitere Beispiele: Gotha I: B 1138 k 456v—458v ( = XII.1775): Le Confesseur de la Beauté./par M. de Pezai. - B 1138 1 320r—321r ( = X.1777): Cantate guerriere/ P. M. le Marquis de Pezai. - B 1138 1 44v —47r ( = III.1776): Fragmens/ des Fastes français,/Poëme en seize chants, / par M. Le Mierre. - B 1138 1 1 2 2 v - 1 2 3 v ( = X.1776): L'Origine de la Flute,/imitation libre d'Ovide./ Par M. Lemierre. - B 1138 m 9 5 r - 9 6 r ( = V.1778): Vers/ à Mme de Vermenoux./ Par M. Lemierre. - B 1138 n 6 8 v - 6 9 v ( = IV.1780): Epitre/ de M. le Mierre à M. le Marquis de Saint-Marc. - B 1138 1 3 6 v - 3 7 r (=111.1776): Aux Poëtes

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auch die ersten literarischen Versuche der jungen Germaine Necker, nachmaligen de Staël, die Meister in Auszügen 64 oder in vollem Umfang in die Correspondance rückt: Die Novelle La Folle de la forêt de Sénart ist ein Beispiel für die in den achtziger Jahren modisch gewordene peinture d'un sentiment exalté jusqu'à la folie.65 Doch wirklich prägend, die Zeitschrift charakterisierend sind die großen Schriften Diderots: La Religieuse, Le rêve de d'Alembert, facques le Fataliste, La Réfutation d'Helvétius, Les Lettres à Falconet und andere 66 . Sie sind Bestandteil, ja Markenzeichen der Meisterschen Correspondance. Dank dieser Werke repräsentiert die Correspondance selbst die Fülle und Vielfalt des Siècle philosophique, dem Diderot wie kein zweiter Schriftsteller Ausdruck gegeben hat. Diderot versammelt alle Strömungen der Zeit in sich: Als >Aufklärer< par excellence erweist ihn die Enzyklopedie; als >Empfindsamen< die bürgerlichen Dramen und die Dramentheorien; als >Vorromantiker< die ästhetischen Schriften. Die Beispiele sind beliebig gewählt, da sie mit Beliebigkeit gewählt werden dürfen: Denn jedes einzelne ist Pars pro toto. Eine Präsentation der Werke Diderots, die in die Correspondance Eingang gefunden haben, steht hier nicht zur Debatte. Doch nur soviel: Die Werke Diderots prägen die Correspondance nicht allein durch ihre Präsenz als literarische Texte, sie waren auch nicht ohne Einfluß auf den Herausgeber und damit auf die geistigen, ästhetischen, moralischen Tendenzen der Zeitschrift. Diese spezifische Eingebundenheit und indirekte Einflußnahme hat die Forschung bisher nicht berücksichtigt. Sie hat verkannt oder nicht erkennen wollen, daß die Meistersche Correspondance dem Geist Diderots verpflichtet oder zumindest affin ist, weil ihr Herausgeber keinem zeitgenössischen Philosophen näher stand als Diderot. Die Werke Meisters haben weder die bewegte, genialische, höchst moderne Form der Werke Diderots, sie haben nicht die Kühnheit der Ideen, die Sprunghaftigkeit der Gedanken,

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modernes. Par M. Dorât. - B 1138 1 5 7 r - v ( = VI.1776): Vers/ par M. Dorât. - B 1138 m 438v —439v (= IX.1779): Epitre/à celle qui s'y reconnaîtra./ Par M. Dorât. Et passim. — Die literarische Situation beschreibt Meister leicht ironisch in der JuniSendung des Jahres 1779 (CL-Tourneux XII 263): On répète tous les jours que nous n'aimons plus les vers, que la philosophie a desséché l'imagination qu'il faut écrire en prose pour être lu, et jamais on n'a vu entreprendre à la fois plus de grands poëmes. So bspw. die Lettres sur les ouvrages et le caractère de ].-]. Rousseau, ein Essay, der in nur 20 Exemplaren gedruckt wurde und daher „nicht öffentlich" war (CL-Tourneux XV 3 7 5 - 3 8 2 [= Jan. 1789]). So auch die Tragödie fane Gray, die 1790 in kleiner Auflagenzahl {un très-petit nombre d'exemplaire pour les donner à ses amis) im Druck erschienen ist; Meister kopiert daraus weite Auszüge (Gotha II: B 1280: 149r—156v [= X.1790]); in CL-Tourneux XVI 99 f. nur die Préface. CL-Tourneux XIV 3 8 1 - 3 8 5 ; hier: 382 ( = Juin 1786). Eine genaue Auflistung gibt de Booy (1969).

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den Schwung des Vortrags: Sie nehmen sich neben Diderot schwerfällig, moralisierend aus. Und doch sind sie vom selben Geist durchdrungen: Abneigung gegen jede Form von Systemdenken, Ablehnung jedes religiösen Dogmatismus, Toleranz, eine humanistisch fundierte Moral, Skepsis gegenüber unbegrenztem Fortschritt sind nur erste und grundlegende Haltungen, die Meister mit Diderot teilt und die in seinen Schriften Ausdruck finden. Darüber hinaus gibt es deutliche Parallelen in Fragen der Ästhetik und Ethik. Eine Gegenüberstellung beider Schriftsteller würde verlohnen, und sie könnte zeigen, daß es nicht unbedingt des „Schweizer Umwegs" bedarf, um zu einer eklektischen Synthese der verschiedenen Strömungen der Zeit zu finden. Doch dessen unbeschadet: Die Meisterschen Werke, ob kurze Artikel oder längere Abhandlungen, flankieren nicht nur die Werke Diderots und „ersetzen" sie nach 1788 in der bewährten Form der fortgesetzten Lieferungen, sondern sie bilden eine Ergänzung und — freilich absichtslose — Erläuterung zu den nicht immer leicht verständlichen Texten Diderots. Auch dies hofft die Studie implicite zu zeigen. Doch ist erst ein Bruchteil der >Feuilles< charakterisiert. Denn die Correspondance littéraire ist keineswegs eine Anthologie aus Texten von Diderot, Rousseau, Voltaire, Marmontel, von Gedichten der Minores Pezay, Lemierre, Dorat, Roucher, Delille, Bouffiers. Sie enthält auch interessante Briefe und Korrespondenzen, die „unter dem Siegel größter Verschwiegenheit" mitgeteilt werden: Briefe des Preußischen Königs an d'Alembert aus dem Jahre 177667; Briefe Voltaires an den Preußischen König 68 ; Briefe Rousseaus an M. du Peyrou aus den Jahren 1765 und 1766, die Meister aber erst nach Rousseaus Tod in die zehnte Sendung des Jahres 177969 rückt. Man darf annehmen, daß ihm Moultou, der mit der Herausgabe der Werke Rousseaus betraut war 70 , diese privaten Inedita 67

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Gotha I: B 1138 1 2 9 r - v (= 11.1776); B 1138 1 1 3 9 r - 1 4 2 r (= XI.1776): Lettre(s) du Roi de Prusse à M. d'Alembert de Potsdam, le 9 Juillet 1776; (...) le 17 Septembre 1776; (...) le 22 Octobre 1776; (...) le 26 Octobre 1776. Gotha I: B 1138 1 4 7 r - 4 8 r ( = III.1776). Gotha I: B 1138 m 4 7 8 v - 4 8 0 r ( = X. 1779): Lettres de Rousseau (8.II.1765; 22.V.1765; à M. du Peyrou: VII.1766; 19.IX.1766; 28.XI.1766). - Und früher: B 1138 m 2 0 0 r - v ( = X.1778): Lettre/ de M. J . J . Rousseau à un jeune homme de vingt ans, qui lui avait envoyé une Ode sur le sujet du Pseaume XC. 6 févr. 1759. In einem Brief in der elften Sendung 1788 schreibt Moultou an Meister: Nous allons donner une superbe et complete édition des Œuvres de Jean-Jaques Rousseau. Quand je dis nous, c'est M. Dupayrou et moi (...) (In Gotha I: B 1138 m 2 1 9 v - 2 2 1 r [= XI.1778]). Der Brief Moultous an Meister ist in die Correspondance complète de Jean Jacques Rousseau (I- , ed. Leigh. Oxford 1965 ff.) unter Nr. 7434 aufgenommen. Er trägt das Datum ,Lundy 12 Janvier 1779'. Daß Meister ihn in die elfte Sendung des Jahres 1778 aufgenommen

Ein Überblick über Forschung, Geschichte und Inhalte

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zukommen ließ. Dem Interesse seiner Abonnenten an Privatem kommt Meister auch mit den Anecdotes / extraites de la Correspondance de Madame Charlotte-Elisabeth d'Orléans, Veuve du Duc Philippe I, avec le Duc AntoineUlrich de Brunswick-Wolfembuttel, et la Princesse de Galles Caroline dAnspach entgegen, die viele Blätter von August 1787 bis Mai 1788 füllen. 71 Sie waren bis dato nicht veröffentlicht; Meister besaß ein Manuskript und übersetzte daraus Auszüge für seine Leser ins Französische. Doch spätestens im August 1788 erschienen zwei Duodez-Bände Fragmens de Lettres originales de Madame Charlotte-Elisabeth de Baviere, Veuve de Monsieur (...)72. Meister kündigt sie in der Correspondance an und bemerkt unter anderem: Si nous avions prévu que l'on obtiendrait si facilement la permission de publier ces lettres, nous aurions beaucoup resserré sans doute l'extrait que nous avons eu l'honneur de vous en donner dans nos feuilles; peut-être même nous serions-nous bornés à en traduire les vingt ou trente anecdotes que l'éditeur et son censeur ont cru devoir supprimer. Geschickt sucht Meister den Anspruch der Correspondance auf Exklusivität zu wahren und zitiert — den Lesern zur Entschädigung und zum Ergötzen — weitere „Anekdoten" von der pfälzischen Liselotte. Im ganzen fehlt es an erheiternden Geschichten nicht, sei es aus den Salons, sei es aus der Theaterwelt. Amüsantes, Hintergründiges, Intimes aus der feinen Gesellschaft und von der Demi-monde war damals so gefragt wie heute. Hübsch die Anekdote vom jungen Vestris, den der „große Vestris" (il Diou de la dansé) erst als Sohn anerkennt, als dessen tänzerische Begabung (und damit das Erbteil) offenbar wird und über den der „Rivale" Dauvernal bedauernd bemerkt: „Quel talent! C'est le fils de Vestris, ce n'est pas le mien! Hélas! je ne l'ai manqué que d'un quart d'heure/"73 Peinlich-amüsant die Tölpelhaftigkeiten, die man sich von M. Geoffrin erzählt 74 . Unterhaltsam die Rivalitäten der Schauspielerinnen Sainval und Vestris75. Auch das Verbrechen fehlt nicht: So die Nachricht über einen unerhörten Geldraub, dem Meister durch die Kopie zweier Briefe der

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hat, zeigt einmal mehr, daß die Sendungen nicht pünktlich waren, somit die offizielle' D a t i e r u n g der Sendungen f ü r die Feststellung eines terminus post q u e m bzw. ante q u e m nicht verläßlich ist. G o t h a I: B 1138 r 1 8 4 r - 1 8 6 v ( = VIII.1787); B 1138 r 1 9 9 v - 2 0 3 v ( = IX.1787); B 1138 r 223v—227v ( = XI.1787); B 1138 r 2 5 1 r - 2 5 3 v ( = 1.1788). G o t h a II: B 1278: 83r—86v ( = V.1788); außerdem in Dec. 1787 (vgl. Inventaire 87:225). G o t h a II: B 1278: 1 4 2 r - v ( = VIII.1788); der Titel ist nach dem Manuskript zitiert. In CL-Tourneux X V 260—62 ist die Buchbesprechung in die Mai-Sendung eingereiht. CL-Tourneux X I I 410 ( = Juillet 1780). CL-Tourneux X I I 157 ( = A o ü t 1778). CL-Tourneux X I I I 557 ( = J u i n 1784).

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Aufklärung

in Europa im Spiegel der „Correspondance

littéraire"

Täter über Art der Durchführung des Raubes und Weise der Verwendung des Geldes höchste Authentizität verleiht76; so der Bericht über den gemeinsamen Freitod zweier Dragoner 77 , die gelassen, ohne ersichtliches Motiv, es sei denn aus Ekel am Leben78, sich am Weihnachtsabend des Jahres 1773 eine Kugel durch den Kopf schießen. >Acte gratuit