Jahrbuch für Universitätsgeschichte 17 (2014): Studentenkulturen 3515114599, 9783515114592

In dieser Ausgabe des Jahrbuchs stellen zwei Aufsatzbeiträge die Entwicklung der aktuellen französischen Universitätshis

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German Pages 278 [282] Year 2016

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Editorial
Aufsätze
Jacques Verger: État actuel et perspectives de la recherche en France sur l’histoire des universités
médiévales
Boris Noguès: L’histoire des universités de France à l’époque moderne (XVIe–XVIIIe siècles).
Un état de la recherche récente (2000–2014)
Themenschwerpunkt
Marian Füssel und Wolfgang Eric Wagner: Studentenkulturen. Begriff – Forschungsstand – Perspektiven
Wolfgang Eric Wagner: Nützliche Absolventen. Motive für die landsmannschaftliche Reservierung von Studentenhäusern und Kollegien in europäischen Universitäten des 13. und 14. Jahrhunderts
Maximilian Schuh: Praktiken studentischen Lebens im Spätmittelalter
Oliver Auge und Frederieke M. Schnack: Gewaltsame Auseinandersetzungen, Verletzungen und Todesfälle im studentischen Milieu der Universität Tübingen im 16. Jahrhundert
Benjamin Müsegades: Stand und Studium – Fürstliche Universitätsbesuche im Spätmittelalter
Ulrich Rasche: Kommunikationspraktiken und mediale Formen studentischer Disziplinarordnungen in der Frühen Neuzeit. Zugleich ein Beitrag zur Genese und Verbreitung
frühneuzeitlicher Gelegenheits- und Massendrucke
Wilhelm Kreutz: Studenten im Kampf für die Weimarer Republik. Vom ‚Reichskartell der Republikanischen Studenten‘ zum ‚Republikanischen Studentenbund‘ (1922–1933)
Philip Rosin: „. . . den Heldentod für Kaiser und Reich erlitten.“ Deutsche Studenten im Ersten Weltkrieg
Alexander Gallus: Studienjahre dreier „Hochbegabter“. Die Stipendiaten der Studienstiftung Ulrike Meinhof, Horst Mahler und Gudrun Ensslin
PROTEST IN DER PROVINZDie Konstituierung einer linksalternativen Studentenkulturan der Universität Münster in den 1970er-JahrenKathrin Baas
Diskussionen
Gisela Bock: „Ende der Vernunft“? Eine Replik auf Angelika Schaser und Falko Schnicke, Der lange Marsch in die Institution. Zur Etablierung der Frauen- und Geschlechtergeschichte
an westdeutschen Universitäten (1970–1990)
Angelika Schaser und Falko Schnicke: Zur Historisierung der Frauen- und Geschlechtergeschichte. Eine Erwiderung auf Gisela Bock.
Anhang
Autorenverzeichnis
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Jahrbuch für Universitätsgeschichte 17 (2014): Studentenkulturen
 3515114599, 9783515114592

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JbUG 17 (2014)

Jahrbuch für Universitäts­ geschichte Wissenschaftsgeschichte

Franz Steiner Verlag

Herausgeber: Rüdiger vom Bruch und Martin Kintzinger

Jahrbuch für Universitätsgeschichte Band 17

JAHRBUCH FÜR UNIVERSITÄTSGESCHICHTE Schwerpunkt (S. 39–262): Studentenkulturen Gastherausgeber: Marian Füssel und Wolfgang E. Wagner

JUG 17 (2014)

FRANZ STEINER VERLAG

jahrbuch für universitätsgeschichte Herausgeben von Rüdiger vom Bruch und Martin Kintzinger Beirat: Robert Anderson, Michael Borgolte, Marian Füssel, Notker Hammerstein, Akira Hayashima, Walter Höflechner, Konrad H. Jarausch, Dieter Langewiesche, Charles E. McClelland, Sylvia Paletschek, Hilde De Rider-Symoens und Rainer C. Schwinges Redaktion: Prof. Dr. Martin Kintzinger / Stefan Hynek Universität Münster, Historisches Seminar, Domplatz 20–22, 48143 Münster E-Mail: [email protected], E-Mail: [email protected] www.steiner-verlag.de/jug

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2016 Druck: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISSN 1435-1358 ISBN 978-3-515-11459-2 (Print) ISBN 978-3-515-11463-9 (E-Book)

INHALTSVERZEICHNIS Martin Kintzinger Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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AUFSÄTZE Jacques Verger État actuel et perspectives de la recherche en France sur l’histoire des universités médiévales . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Boris Noguès L’histoire des universités de France à l’époque moderne (XVIe –XVIIIe siècles). Un état de la recherche récente (2000–2014) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

THEMENSCHWERPUNKT Marian Füssel und Wolfgang Eric Wagner Studentenkulturen. Begriff – Forschungsstand – Perspektiven. . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Wolfgang Eric Wagner Nützliche Absolventen. Motive für die landsmannschaftliche Reservierung von Studentenhäusern und Kollegien in europäischen Universitäten des 13. und 14. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Maximilian Schuh Praktiken studentischen Lebens im Spätmittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Oliver Auge und Frederieke M. Schnack Gewaltsame Auseinandersetzungen, Verletzungen und Todesfälle im studentischen Milieu der Universität Tübingen im 16. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Benjamin Müsegades Stand und Studium – Fürstliche Universitätsbesuche im Spätmittelalter . . . . . . . 139 Ulrich Rasche Kommunikationspraktiken und mediale Formen studentischer Disziplinarordnungen in der Frühen Neuzeit. Zugleich ein Beitrag zur Genese und Verbreitung frühneuzeitlicher Gelegenheits- und Massendrucke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

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Inhaltsverzeichnis

Wilhelm Kreutz Studenten im Kampf für die Weimarer Republik. Vom ‚Reichskartell der Republikanischen Studenten‘ zum ‚Republikanischen Studentenbund‘ (1922–1933) 185 Philip Rosin „. . . den Heldentod für Kaiser und Reich erlitten.“ Deutsche Studenten im Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Alexander Gallus Studienjahre dreier „Hochbegabter“. Die Stipendiaten der Studienstiftung Ulrike Meinhof, Horst Mahler und Gudrun Ensslin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Kathrin Baas Protest in der Provinz. Die Konstituierung einer linksalternativen Studentenkultur an der Universität Münster in den 1970er-Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245

DISKUSSIONEN Gisela Bock „Ende der Vernunft“? Eine Replik auf Angelika Schaser und Falko Schnicke, Der lange Marsch in die Institution. Zur Etablierung der Frauen- und Geschlechtergeschichte an westdeutschen Universitäten (1970–1990) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Angelika Schaser und Falko Schnicke Zur Historisierung der Frauen- und Geschlechtergeschichte. Eine Erwiderung auf Gisela Bock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273

ANHANG Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277

EDITORIAL Martin Kintzinger

Mit dem vorliegenden Jahrbuch 17 (2014) ist erneut ein Wechsel in der Redaktion verbunden: Frau Julia Crispin, die der Redaktion der Ausgabe 16 (2013) betreut hat, ist nach dem erfolgreichen Abschluss ihres Promotionsprojekts in eine Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin gewechselt. Herausgeber und Verlag sind ihr für die gewissenhafte Ausführung der Redaktionsarbeiten dankbar, die bis zur Herstellung der satzfertigen Vorlage reichten. Mit dem vorliegenden Band und bis auf weiteres wird die Redaktionsarbeit nun von Herrn Stefan Hynek (Universität Münster) übernommen, der in seiner Person fachwissenschaftliche und IT-Kompetenz zusammenführt. In der redaktionellen Verantwortung von Herrn Hynek wird es möglich sein, den in der Vergangenheit eingetretenen Rückstand in der Publikation der Bände des Jahrbuchs auszugleichen. Herausgeber und Verlag haben sich darauf verständigt, Band 18 (2015) ebenfalls noch im laufenden Jahr 2016 zu publizieren, sodass ab Band 19 (2016) wieder eine zeitnahe Veröffentlichung der Bände jeweils im ersten Halbjahr des folgenden Kalenderjahres möglich sein wird. Den Anfang des insgesamt 14 Beiträge umfassenden Jahrbuchs machen zwei französischsprachige AUFSÄTZE, die den derzeit aktuellsten Überblick über Entwicklung und Stand der Universitätsgeschichtsforschung zur Vormoderne in Frankreich bieten. Die beiden von Jacques Verger und Boris Noguès erarbeiteten Beiträge sind auf der Grundlage von Referaten auf einer Sommerschule am Deutschen Historischen Institut Paris entstanden, die von Marian Füssel, Johann Lange und Jean-Luc Le Cam 2014 organisiert worden ist. Wie seit langem üblich, enthält auch die vorliegende Ausgabe des Jahrbuchs einen THEMENSCHWERPUNKT mit einer von Gastherausgebern organisierten Sammlung von Beiträgen, in diesem Fall zum Gegenstand der „Studentenkulturen“. Mit Marian Füssel und Wolfgang Wagner wird er von zwei universitätshistorisch profilierten Experten herausgegeben, die seit langem auch dem Vorstand der internationalen Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte angehören. Das Jahrbuch ist der Gesellschaft seit 2011 assoziiert. Mit der neu eingeführten Rubrik DISKUSSIONEN soll in aktuellen Fällen Raum für einen kontroversen Meinungsaustausch zu Fragen der universitätshistorischen Forschung geboten werden. In diesem Jahrbuch wird ein Beitrag aus dem vorausgegangenen Band 16 (2013) besprochen, der sich mit der „Frauen- und Geschlechtergeschichte“ an westdeutschen Universitäten beschäftigt.

AUFSÄTZE ÉTAT ACTUEL ET PERSPECTIVES DE LA RECHERCHE EN FRANCE SUR L’HISTOIRE DES UNIVERSITÉS MÉDIÉVALES Jacques Verger

L’histoire des universités médiévales n’est évidemment pas une spécialité française ; c’est un thème qui intéresse historiens et médiévistes partout en Europe et dans le monde (particulièrement en Amérique du Nord et au Japon). L’historiographie française n’est en la matière qu’un élément d’un courant beaucoup plus large. Situation d’autant plus normale que l’université elle-même n’est en rien, elle non plus, une spécificité française mais qu’elle se veut au contraire, depuis l’origine, et spécialement au Moyen Âge, institution universelle, au sens que cela pouvait avoir à cette époque, c’est-à-dire de Chrétienté, même si certaines particularités et une amorce de conscience « nationales » s’y font jour à la fin du Moyen Âge. Il faut d’ailleurs reconnaître à ce propos que la recherche française porte avant tout sur les universités françaises ou, si l’on préfère, en France, et que les médiévistes français travaillent fort peu sur les universités des autres pays européens, même les plus proches comme l’Italie, l’Angleterre ou la Péninsule ibérique, ce qui est regrettable, car cette orientation assez étroitement nationale ampute la recherche d’une dimension comparative qui serait certainement très féconde. Heureusement, la réciproque n’est pas tout à fait vraie et divers historiens étrangers, surtout anglo-saxons ou canadiens, mais aussi belges et néerlandais, voire japonais, ont consacré d’importants travaux à des universités françaises, celle de Paris au premier chef, mais aussi des universités provinciales, notamment celles d’Orléans, de Caen ou de Montpellier. Mais même ainsi, l’appréhension comparée du phénomène universitaire à l’échelle européenne reste insuffisante et d’ailleurs les synthèses en la matière, qu’elles soient anciennes ou récentes, demeurent peu nombreuses et perfectibles. Avant d’entrer dans le vif du sujet, rappelons, pour fixer les choses, que l’on compte, pour la période médiévale, c’est-à-dire entre 1200 et 1500, dix-sept universités « françaises », c’est-à-dire apparues sur le sol du royaume de France ou de régions limitrophes ultérieurement (avant ou après 1500) rattachées à la France1 . Trois datent du XIIIe siècle : Paris, Montpellier et Toulouse2 . Six du XIVe siècle : Avignon, Orléans, Cahors, Perpignan, Angers et Orange. Huit enfin du XVe siècle : 1

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Voir la liste établie dans A History of the University in Europe, W. Rüegg (gen. ed.), vol. I, Universities in the Middle Ages, H. de Ridder-Symoens (ed.), Cambridge 1992, p. 6264 (il existe une version allemande de ce travail : Geschichte der Universität in Europa, hg. von W. Rüegg, 4 Bde., München 1993–2010). Pour être tout à fait exact, il faut rappeler ici qu’en réalité on a toujours distingué au Moyen Âge deux universités à Montpellier, indépendantes l’une de l’autre, celle de médecine, attestée

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Jacques Verger

Aix-en-Provence, Dole, Caen, Poitiers, Bordeaux, Nantes, Valence et Bourges. À quoi il faudrait ajouter quelques fondations avortées (Gray, Pamiers, Nîmes) ou rapidement disparues (Grenoble), que Rashdall qualifiait de « paper universities »3 . Ce sont là, rapportés à ceux des autres pays d’Europe occidentale, des chiffres relativement élevés et qui témoignent d’une croissance régulière, avec un doublement à chaque siècle du nombre d’universités actives ; cette croissance se ralentira notablement à l’époque moderne (huit universités nouvelles seulement fondées entre 1500 et 1789) et aujourd’hui encore, la plupart des grandes villes universitaires françaises (Paris, Montpellier, Toulouse, Aix-en-Provence, Bordeaux, etc.) peuvent revendiquer, pour leur université, une origine médiévale. Le réseau universitaire français présente cependant, dès le Moyen Âge, une particularité qui est son déséquilibre. L’université de Paris domine de haut toutes les autres, tandis que parmi les universités provinciales, quelques centres anciens et d’une certaine importance (Montpellier, Toulouse, Orléans) tranchent avec les autres universités, souvent plus récentes, qui demeurent à un niveau désespérément médiocre (Avignon, Aix-en-Provence, Bordeaux, Nantes), voire squelettique (Cahors, Orange). Ce déséquilibre a retenti jusqu’à nos jours sur l’historiographie elle-même qui a largement privilégié l’université de Paris, alors que les universités provinciales ne donnaient souvent matière qu’à des monographies rapides, incomplètes ou essentiellement institutionnelles et descriptives.

LES ACQUIS DE L’HISTORIOGRAPHIE ANCIENNE L’historiographie actuelle des universités médiévales n’est pas partie de rien. Elle s’appuie au contraire sur des acquis anciens qu’il faut présenter pour commencer car, plus ou moins consciemment, elle reste largement dépendante de cet héritage, tant pour la documentation qu’elle met en œuvre que pour les orientations qu’elle adopte et les interprétations qu’elle propose. Cette historiographie ancienne commence d’ailleurs actuellement à faire elle-même l’objet de travaux qui visent à la fois à en évaluer la qualité et à en décrypter les présupposés méthodologiques et idéologiques. Pour faire bref, disons que l’on peut aisément, dans cette historiographie universitaire ancienne, distinguer deux grandes strates successives. La première strate est celle que l’on pourrait qualifier d’historiographie d’Ancien Régime, produite entre le XVIe et le XVIIIe siècle. L’œuvre la plus représentative de cette production, mais loin d’être la seule, est ‹ l’Historia Universitatis Parisiensis › de César Égasse Du Boulay4 . Une caractéristique générale de cette historiographie est

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dès 1220, et celle de droit qui apparaît après 1289, alors qu’ailleurs on parlait simplement de facultés séparées, mais appartenant à la même université. H. Rashdall, The Universities of Europe in the Middle Ages, 3 vol., Oxford 1895 (nlle éd. augmentée par F. M. Powicke and A. B. Emden en 1936) ; les universités françaises sont étudiées dans les volumes I (Paris) et II (universités provinciales). César Égasse Du Boulay, Historia Universitatis Parisiensis [. . .] authore Cæsare Egassio Bulæo [. . .], 6 t., Paris 1665–1673 ; l’ouvrage de Du Boulay a fait l’objet au XVIIIe siècle d’une

État et perspectives de la recherche en France sur l’histoire des universités médiévales

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d’avoir été produite par des hommes pour qui l’université « médiévale » était encore une réalité vivante, à laquelle ils appartenaient, non seulement pour y avoir étudié, mais parce qu’ils y enseignaient et y exerçaient souvent des fonctions administratives importantes (recteur, syndic, greffier) ; ils la connaissaient donc bien, en quelque sorte de l’intérieur, et leur souci premier, en écrivant son histoire, était de célébrer sa gloire passée et présente et de défendre ses privilèges traditionnels, encore d’actualité pour eux. Ces histoires universitaires anciennes se présentent souvent sous la forme d’annales, autrement dit de récits événementiels, insistant sur les aspects politiques et institutionnels ; mais elles peuvent aussi adopter des découpages thématiques pour s’attacher à tel ou tel élément des structures ou de la vie universitaires. Le premier mérite de cette historiographie ancienne qui, à dire vrai, concerne beaucoup plus Paris que les universités provinciales, est évidemment pour nous d’être une véritable mine documentaire, car elle a préservé beaucoup de documents dont les originaux ont aujourd’hui disparu. Du Boulay par exemple, a ainsi pu recourir aux registres de la nation française de l’université de Paris pour l’ensemble de la période médiévale alors que n’en subsistent plus actuellement que quelques épaves du XVe siècle. Il faut cependant prendre garde que cette richesse documentaire souffre du fait que les documents ainsi cités et édités le sont généralement sans aucune des exigences de l’érudition moderne (exactitude des transcriptions, recherche des témoins les plus anciens, précision des références archivistiques), ce qui en rend l’utilisation difficile et parfois décevante. D’autre part, cette historiographie ancienne était loin d’être neutre, d’autant plus que, comme nous l’avons dit, ses auteurs ne cherchaient pas à écrire une histoire objective et désintéressée de l’institution universitaire, mais à mettre en valeur la continuité de celle-ci depuis ses origines médiévales jusqu’à leur temps et à justifier les prérogatives corporatistes du corps auxquels ils appartenaient. Ce souci d’actualité nourrissait évidemment des interprétations anachroniques ; il est clair en particulier que Du Boulay et ses émules avaient tout intérêt à flatter le pouvoir royal, à affirmer l’antiquité du lien unissant l’université et le prince et à minimiser à l’inverse, en bons gallicans, méfiants vis-à-vis aussi bien de Rome que des ordres religieux (en particulier les Jésuites), le rôle pourtant essentiel de l’Église et de la papauté dans la naissance et l’essor de l’université médiévale. La seconde strate de l’historiographie universitaire est nettement plus récente. C’est celle qui correspond à l’âge d’or de l’histoire érudite et « méthodique » ou, comme on dit parfois, « positiviste », autrement dit aux dernières décennies du XIXe siècle. Cette école s’est distinguée d’abord par de grandes éditions critiques de sources inédites. Que l’on pense à celles des ‹ Monumenta Germaniæ historica › en Allemagne, à celles patronnées par l’École des Chartes ou l’Académie des Inscriptions et Belles-Lettres en France, aux ‹ Rolls Series › en Angleterre. Dans le cas précis de l’histoire des universités médiévales, la curiosité érudite a été nourrie par le renouveau de l’institution universitaire elle-même. C’est à cette époque, qu’un peu partout en Europe et notamment en France naît l’université adaptation très abrégée et rédigée en français : J.-B.-L. Crevier, Histoire de l’Université de Paris depuis son origine jusqu’en l’année 1600, 7 vol., Paris 1761.

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Jacques Verger

moderne selon le type initié à Berlin dès le début du XIXe siècle. En quête à la fois de modèle et de légitimation historique, les réformateurs, universitaires eux-mêmes ou hommes politiques, se sont tournés vers les origines médiévales de l’institution à laquelle ils espéraient redonner vie. En France, cette entreprise de restauration universitaire aboutira, de manière d’ailleurs très imparfaite, à la « loi Liard » de 1896. Quant à la recherche historique, elle produira dans ces mêmes années, après l’œuvre pionnière de Charles Jourdain5 et la publication de quelques « cartulaires » universitaires provinciaux plus ou moins complets (Aix-en-Provence, Avignon, Montpellier, etc.), deux monuments majeurs : – le ‹ Chartularium Universitatis Parisiensis › et son ‹ Auctarium › édités par Heinrich Denifle et Émile Chatelain entre 1889 et 18976 . – ‹ Les statuts et privilèges des universités françaises depuis leur fondation jusqu’en 1789 ›, édités entre 1890 et 1894 par Marcel Fournier7 . Quoique toutes deux inachevées et de qualité inégale (surtout celle de Fournier), ces grandes entreprises éditoriales ont eu l’immense mérite de mettre à la disposition des chercheurs une masse énorme de documents. Bien que beaucoup aient déjà été signalés voire édités par leurs prédécesseurs (notamment dans ‹ l’Historia Universitatis Parisiensis › de Du Boulay), il y eut cependant là un élargissement considérable des sources accessibles, en particulier parce que Denifle et Chatelain d’un côté, Marcel Fournier de l’autre firent appel non seulement aux archives universitaires « stricto sensu » mais aussi à des fonds extérieurs, en particulier ceux du Vatican extrêmement riches pour l’histoire universitaire médiévale grâce aux registres pontificaux de lettres et de suppliques. Même si ces éditeurs n’ont pas totalement négligé d’autres types de sources comme les archives royales ou municipales, ce recours massif aux fonds de la papauté et des ordres religieux a imposé une vision très ecclésiastique de l’histoire universitaire, au détriment peut-être de sa dimension sociale et politique. Les introductions dont H. Denifle a pourvu les divers volumes du « Chartularium » n’ont fait qu’accentuer cette image8 . En revanche, la France a peu contribué à cette époque à une autre branche de l’histoire universitaire, celle de l’histoire des disciplines, telles que l’histoire de la philosophie, l’histoire de la théologie, l’histoire du droit – alors que ces branches étaient beaucoup plus actives en Allemagne ou en Italie par exemple. 5 6

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Ch.-M.-G. Jourdain, Index chronologicus chartarum pertinentium ad historiam universitatis Parisiensis [. . .], Paris 1862. H. Denifle et É. Chatelain (éd.), Chartularium Universitatis Parisiensis, 4 t., Paris 1889–97 ; H. Denifle et É. Chatelain et al. (éd.), Auctarium Chartularii Universitatis Parisiensis, 6 vol., Paris 1894–1964 (seuls les deux premiers volumes de ‹ l’Auctarium › sont dus à Denifle et Chatelain, les quatre suivants ont été publiés par divers auteurs entre 1935 et 1964). M. Fournier, Les statuts et privilèges des universités françaises depuis leur fondation jusqu’en 1789, 4 t., Paris 1890–94. Sur l’apport personnel de H. Denifle à l’historiographie universitaire, voir les études réunies dans Heinrich Denifle (1844–1905). Un savant dominicain entre Graz, Rome et Paris. Ein dominikanischer Gelehrter zwischen Graz, Rom und Paris, A. Sohn, J. Verger et/und M. Zink (éd./Hg.), Paris 2015.

État et perspectives de la recherche en France sur l’histoire des universités médiévales

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De toute façon, la production historique n’a pas suivi la multiplication des publications documentaires, aucune synthèse comparable à celle de Rashdall9 n’a vu le jour en France où on recense surtout pour cette époque des articles de détail. Ce courant d’érudition « positiviste » s’est lui-même progressivement épuisé dans la première moitié du XXe siècle, avec d’ultimes éditions de sources, concernant surtout l’université de Paris (derniers volumes de ‹ l’Auctarium › et éditions des registres des facultés de décret et de médecine)10 , quelques répertoires d’auteurs et d’écrits universitaires11 et une production historique très faible qui se limite le plus souvent à des plaquettes commémoratives. L’unique synthèse parue à cette époque, celle de Stephen d’Irsay en 1933–3512 , est d’une médiocrité significative.

LE RENOUVEAU DES DERNIÈRES DÉCENNIES Le renouveau de l’histoire des universités médiévales a démarré, en France comme ailleurs, dans les années 1960. Il suffit de rappeler ici la date symbolique de 1965 qui a vu la création de la Commission internationale pour l’histoire des universités faisant suite à la publication du rapport de Sven Stelling-Michaud sur ‹ L’histoire des universités au Moyen Âge et à la Renaissance au cours des vingt-cinq dernières années ›, rapport présenté en 1960 au Congrès international des Sciences historiques tenu à Stockholm et qui, tout à la fois, soulignait les lacunes de l’historiographie existante et ouvrait un certain nombre de pistes de recherche13 . Depuis cette date, non seulement la Commission internationale pour l’histoire des universités a continué à fonctionner sans discontinuer, mais des commissions ou associations nationales sont apparues, ainsi que divers groupes de recherche, spécialement en Allemagne et en Italie (‹ Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftgeschichte › ; ‹ Centro interuniversitario per le storia delle Università italiane ›), des revues spécialisées ont vu le jour (‹ History of Universities ›, ‹ Annali per la storia delle università italiane ›, ‹ Jahrbuch für Universitätsgeschichte ›), des colloques se sont régulièrement réunis, etc. La France, il faut le reconnaître, n’est pas spécialement en pointe dans ces initiatives, mais elle y a cependant occupé une place honorable et les publications portant sur les universités médiévales françaises se sont multipliées ; la belle bibliographie 9 10

Citée supra note 3. La Faculté de Décret de l’Université de Paris au XVe siècle, M. Fournier et al. éd., 4 t., Paris 1895–1942 ; Commentaires de la Faculté de Médecine de l’Université de Paris, E. Wickersheimer éd., Paris 1915. Pour ‹ l’Auctarium ›, voir supra note 6. 11 On pense en particulier à ceux publiés par P. Glorieux, notamment La littérature quodlibétique, 2 t., Paris 1925–35. 12 St. d’Irsay, Histoire des universités françaises et étrangères, 2 t., Paris 1933–35. 13 S. Stelling-Michaud, L’histoire des universités au Moyen Âge et à la Renaissance au cours des vingt-cinq dernières année, dans : Rapports du XIe Congrès international des Sciences historiques, vol. I, Stockholm 1960, p. 97–143. On peut aussi retenir comme point de départ symbolique du renouveau de l’histoire universitaire en France la publication du petit livre de J. Le Goff, Les intellectuels au Moyen Âge, Paris 1957 (nlle éd. en 1985). Il est à noter que S. Stelling-Michaud et J. Le Goff furent respectivement le président fondateur et le premier secrétaire de la Commission internationale pour l’histoire des universités.

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Jacques Verger

publiée en 1978–81 par Simonne Guenée est aujourd’hui largement dépassée14 ; elle peut être mise à jour par la consultation de la bibliographie d’histoire de l’éducation française mise en ligne par l’École Normale Supérieure de Lyon, qui ne se limite évidemment pas à l’histoire universitaire. Le contexte de ce renouveau de l’histoire universitaire du Moyen Âge est, comme cela avait déjà été le cas à la fin du XIXe siècle, double : il y a eu d’une part, dans la société et dans le monde politique, la montée soudaine à partir des années 60 des problèmes et des débats relatifs à l’enseignement supérieur, faisant alterner phases d’agitation paroxystiques comme lors des « événements de mai 68 », périodes d’apaisement et tentatives plus ou moins réussies de réforme. Dans ce contexte, les historiens ont évidemment été convoqués pour essayer, à partir des exemples du passé, d’expliquer les convulsions récentes ou de suggérer des voies de développement pour l’avenir. D’autre part, dans l’analyse du phénomène universitaire, les historiens et plus spécialement les médiévistes ont été précédés et encouragés par les travaux des sociologues du monde étudiant ou professoral15 , les économistes de l’éducation, les historiens quantitativistes des époques modernes ou contemporaines16 : autant de problématiques et de méthodes qui, quoique inégalement transposables aux périodes les plus anciennes, ont stimulé la recherche et renouvelé les questionnaires. Il n’est désormais plus question de grandes éditions imprimées de sources inédites. Tout au plus de la constitution de bases de données informatisées, notamment pour la prosopographie des populations étudiantes (cf. notamment la constitution récente du réseau international ‹ Héloïse ›, accessible en ligne, qui s’efforce de fédérer les diverses entreprises européennes, nationales ou locales, en la matière et au sein duquel les chercheurs français jouent un rôle important). De toute façon, la documentation mise en œuvre a connu un tel élargissement que ses composantes les plus spécifiques (archives universitaires et ecclésiastiques) n’en constituent plus qu’une part limitée. Désormais, pour une historiographie qui ne sépare plus les universités et les universitaires de la société dans laquelle ils étaient immergés, tout ou presque peut être source. On a donc sollicité toutes sortes d’« actes de la pratique », tels que les registres de délibération ou les livres de comptes (universitaires ou municipaux), les contrats notariés, les testaments et les inventaires. On a dépouillé les actes du pouvoir souverain (chartes et ordonnances) et les archives judiciaires (celles du Parlement de Paris en particulier). On a glané de multiples informations dans les textes littéraires (chroniques, sermons, théâtre) et plus encore dans les productions universitaires elles-mêmes que l’on a recensées en reconstituant les inventaires des 14 15 16

S. Guenée, Bibliographie de l’histoire des universités françaises des origines à la Révolution, 2 t., Paris 1978–81. Rappelons par ex., dans le cas de la France, le livre, qui eut un grand retentissement, de P. Bourdieu et J.-Cl. Passeron, Les héritiers : les étudiants et la culture, Paris 1964. On pense en particulier au travail pionnier de L. Stone (éd.), The University in Society, 2 vol., Londres/Oxford 1975, qui a inspiré en France la monumentale enquête dir. par D. Julia, J. Revel et R. Chartier, Les universités européennes du XVIe au XVIIIe siècle. Histoire sociale des populations étudiantes, Paris 1986–89.

État et perspectives de la recherche en France sur l’histoire des universités médiévales

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bibliothèques universitaires et en étudiant les très nombreux manuscrits issus de l’enseignement, analysés à la fois dans leur forme et dans leur contenu. Cessant de privilégier les seules œuvres novatrices des maîtres les plus fameux, on s’est intéressé aux manuscrits les plus communs, aux écrits anonymes, aux simples notes d’étudiants qui témoignaient du niveau moyen de l’enseignement ainsi que des techniques pédagogiques et des méthodes de travail des maîtres, des bacheliers et des étudiants du Moyen Âge. Naturellement, cet élargissement de la documentation mise en œuvre a souvent déporté l’intérêt des historiens vers la fin du Moyen Âge – autrement dit les XIVe et XVe siècles – naguère quelque peu dédaignée car perçue comme moins brillante que le XIIIe siècle – âge d’or supposé de la scolastique médiévale, ce qui est d’ailleurs discutable – mais à coup sûr plus riche en ce qui concerne ces sources non spécifiques que privilégie désormais l’historien17 . Il en a résulté, depuis une quarantaine d’années, une production historique foisonnante dont on ne peut présenter ici que les caractéristiques essentielles et les orientations majeures. C’est évidemment l’université de Paris qui a bénéficié du plus grand nombre de travaux ; il s’agit généralement d’études particulières portant sur tel problème, telle période – celle des origines par exemple18 –, tel groupe (les médecins)19 , telle institution (faculté, nation, collège)20 , tel document exceptionnel, tel événement, etc. Les universités de province en revanche, même si elles ont été plus étudiées que par le passé, l’ont souvent été sous la forme d’études d’ensemble21 , parfois intégrées d’ailleurs à des monographies urbaines plus larges22 . Cette multiplication des recherches, d’allure parfois un peu désordonnée, n’est pas sans inconvénients. Certaines monographies, par exemple de collèges, deviennent un peu répétitives. On préférerait des études comparatives23 , des tentatives 17

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Le premier témoin majeur de ce basculement de l’historiographie vers les universités de la fin du Moyen Âge est sans doute le volume Les universités à la fin du Moyen Âge. Actes du Congrès international de Louvain, 26–30 mai 1975, éd. par J. Paquet et J. Ijsewijn, Louvain 1978. Cf. N. Gorochov, Naissance de l’université. Les écoles de Paris d’Innocent III à Thomas d’Aquin (v. 1200–v. 1245), Paris 2012. Cf. D. Jacquart, La médecine médiévale dans le cadre parisien, XIVe –XVe siècle, Paris 1998. Sur les nations, voir M. Tanaka, La nation anglo-allemande de l’Université de Paris à la fin du Moyen Âge, Paris 1990. Plusieurs collèges parisiens ont fait l’objet, ces dernières années, de monographies exemplaires : N. Gorochov, Le collège de Navarre de sa fondation (1305) au début du XVe siècle (1418). Histoire de l’institution, de sa vie intellectuelle et de son recrutement, Paris, 1997 – C. Fabris, Étudier et vivre à Paris au Moyen Âge. Le collège de Laon (XIVe –XVe siècles), Paris 2005 – Th. Kouamé, Le collège de Dormans-Beauvais à la fin du Moyen Âge. Stratégies politiques et parcours individuels à l’Université de Paris (1370–1458), Leiden/Boston 2005. Voir par ex. L’Université de médecine de Montpellier et son rayonnement, XIIIe –XVe siècles, éd. par D. Le Blévec, Turnhout 2004, à compléter par G. Dumas, Santé et société à Montpellier à la fin du Moyen Âge, Leiden/Boston 2014, qui ne concerne d’ailleurs que partiellement l’histoire universitaire, ou L. Roy, L’université de Caen aux XVe et XVIe siècles. Identité et représentation, Leiden/Boston 2006 ; les auteurs de ces deux derniers livres sont d’ailleurs des historiennes québécoises. Excellentes pages sur l’université de Poitiers par ex. dans : R. Favreau, La ville de Poitiers à la fin du Moyen Âge. Une capitale régionale, 2 t., Poitiers 1978, p. 289–298, 379–392, 473–486. Il en existe cependant, telles que celles d’A. Perraut, L’architecture des collèges parisiens au Moyen Âge, Paris 2009, ou de P. Foissac, Histoire des collèges de Cahors et Tou-

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de pesée globale, à la manière de celle réalisée pour le Saint-Empire par Rainer C. Schwinges24 , des essais de synthèse25 , des mises en contexte dans des perspectives sortant du cadre strictement universitaire26 . En simplifiant sans doute à l’excès, il est possible d’identifier, au sein de l’historiographie récente, trois courants majeurs qui se sont à peu près succédé chronologiquement, non sans chevauchements. Aucun n’est d’ailleurs spécifiquement français. L’historiographie des universités médiévales relève désormais de problématiques largement partagées par tous les spécialistes européens et nord-américains. 1. – Il y a d’abord eu, dès la fin des années 60, un courant d’histoire sociale, fondé principalement sur les actes de la pratique (matricules, « rotuli »), qui a privilégié, malgré ses limites, l’approche quantitative et statistique – on parlait à l’époque, assez maladroitement, d’« histoire externe » des universités. En fait, il s’agissait d’établir pour les universités médiévales, comme cela s’était fait pour l’époque moderne, avec le maximum de précision, les effectifs étudiants et professoraux, les origines sociales et géographiques des « scolares », leurs âges, les formes de la mobilité, le déroulement des cursus, les pourcentages de réussite aux grades, les carrières ultérieures, etc. ; toutes données évidemment essentielles pour évaluer la place de l’université dans la société environnante et son rôle comme facteur de dynamisme ou de stabilité sociale27 . Par la suite, sans être abandonné, ce genre d’études, qui restent indispensables, a fait place à une approche plus qualitative et anthropologique qui s’est intéressée à l’existence quotidienne des universitaires, aux formes de sociabilité et de solidarité, aux pratiques et aux rituels, aux mentalités et à l’imaginaire, en d’autres termes à l’identité et à la conscience de soi de ces milieux28 ou, comme on a dit aussi, à leur « portrait social »29 . 2. – Puis est venu – ou, si l’on préfère, revenu – le temps de l’histoire politique et institutionnelle. La relecture attentive des textes statutaires a amené à s’interroger,

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louse (XIVe –XVe siècles), Cahors 2010, pour les collèges, ou ma propre thèse dactyl., J. Verger, Les université du Midi de la France à la fin du Moyen Âge (début du XIVe siècle – milieu du XVe siècle), Univ. de Paris-Sorbonne 1994. R. C. Schwinges, Deutsche Universitätsbesucher im 14. und 15. Jahrhundert. Studien zur Sozialgeschichte des alten Reiches, Stuttgart 1986. La dernière en date, Histoire des universités en France, dir. par J. Verger, Toulouse, 1986, est déjà un peu ancienne, et J. Verger, Les universités au Moyen Âge, Paris 2007, rapide. C’est ce que j’ai essayé de faire dans J. Verger, Les gens de savoir en Europe à la fin du Moyen Âge, Paris 1997, qui ne se limite pas aux gradués issus des universités. Exemple de ce type d’approche dans mon article de 1970, Le recrutement géographique des universités françaises au début du XVe siècle d’après les suppliques de 1403, reproduit dans J. Verger, Les universités françaises au Moyen Âge, Leiden/New York/Köln 1995, p. 122–173. Voir par ex. le tout récent livre d’A. Destemberg, L’honneur des universitaires au Moyen Âge. Essai d’imaginaire social, Paris 2015. Pour citer W. J. Courtenay, Parisian Scholars in the Early Fourteenth Century. A Social Portrait, Cambridge 1999 ; historien américain qui a consacré de nombreux et importants travaux à l’université de Paris au Moyen Âge.

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loin de tout anachronisme, sur ce que l’on peut appeler l’« esprit des institutions » universitaires : qu’est-ce, au Moyen Âge, qu’une faculté, une nation, un collège, une assemblée de docteurs, un recteur ? Quel était le statut personnel des universitaires ? Que signifiaient leurs privilèges fiscaux et judiciaires ? Quel était le rôle du serment dans la constitution et la cohésion du corps universitaire30 ? Comment fonctionnaient les procédures électives dans la vie de l’université ? Bref, on est ainsi amené à s’interroger sur le rôle éventuel de l’université comme laboratoire de la vie politique et associative pour les futures élites sociales qui s’y retrouvaient. C’était là qu’elles pouvaient découvrir les pratiques de la délibération collective, de l’élection, de la représentation. À cet égard, sont particulièrement intéressantes à étudier les fondations d’universités nouvelles (ou de collèges)31 et les « réformations générales » d’universités déjà existantes32 ; ce sont des épisodes cruciaux, généralement éclairés par une documentation relativement abondante et où les enjeux institutionnels ressortent assez bien, surtout si on arrive à en restituer le contexte général. L’autre volet de l’histoire politique des universités est celui des relations entre celles-ci (prises dans leur ensemble ou à travers telle ou telle de leurs composantes) et les pouvoirs extérieurs, ecclésiastiques, princiers ou urbains33 . Engagements des universitaires dans les débats politiques ou ecclésiologiques de leur temps, ingérences des pouvoirs dans les affaires et les structures de l’université sont des thèmes qui prennent toute leur signification lorsqu’on les étudie pour les périodes de crise, aussi bien du côté du pouvoir royal (affrontement de Philippe le Bel et de la papauté, révoltes des années 1356–58, double monarchie franco-anglaise et guerre civile entre Armagnacs et Bourguignons dans la première moitié du XVe siècle) que de celui de la papauté (Grand Schisme et crise conciliaire). Ici aussi, c’est « in fine » la question de l’image de l’université ainsi que du rôle et de l’autorité qu’elle revendiquait ou que les contemporains étaient disposés à lui reconnaître, qui se trouve à nouveau posée34 . 3. – Enfin, en particulier sous l’impulsion des travaux d’Olga Weijers35 , les historiens se préoccupent de plus en plus du contenu même des enseignements délivrés dans les 30

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Voir par ex. L. Tournier, Serments et pratiques juratoires à l’Université de Paris au Moyen Âge, dans : F. Laurent (éd.), Serment, promesse et engagement : rituels et modalités au Moyen Âge, Montpellier 2008, p. 455–470. Je me permets de citer ici J. Verger, « La fondation de l’université de Bourges (1463–1474), dans : Journal des Savants, juillet–décembre 2014, p. 235–268. Je me permets de citer ici deux articles récents : J. Verger, La première réformation générale de l’université de Paris (1366), dans : Académie des Inscriptions et Belles-Lettres. Comptes rendus des séances de l’année 2011. Juillet-octobre 2011, p. 1229–1251, et J. Verger, La réforme du cardinal d’Estouteville (1452) : l’université de Paris entre Moyen Âge et modernité, dans : Les Universités en Europe (1450–1814), Paris 2013, p. 55–76. Cf. par ex. la thèse dactyl de L. Tournier, L’Université de Paris dans les événements politiques du royaume de France (1405–1452), 2 vol., Univ. de Reims/Champagne-Ardennes 2000. Voir par ex. S. Lusignan, Vérité garde le roy. La construction d’une identité universitaire en France (XIIIe –XVe siècle), Paris 1999 ; E. Marmursztejn, L’autorité des maîtres. Scolastique, normes et société au XIIIe siècle, Paris 2007. Ne citons ici de ses nombreux travaux que O. Weijers, Le maniement du savoir. Pratiques intellectuelles à l’époque des premières universités (XIIIe –XIVe siècles), (Studia Artistarum. Subsidia), Turnhout 1996.

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universités, non plus dans la perspective traditionnelle de l’histoire des idées et des doctrines – non que celle-ci ait d’ailleurs perdu son intérêt, comme en témoignent encore d’excellentes et érudites monographies, en particulier celles dues à Zénon Kaluza36 –, mais dans celle d’une histoire du travail intellectuel (dans les diverses disciplines correspondant aux diverses facultés des universités médiévales) par une approche combinant l’analyse des statuts, la reconstitution des bibliothèques et l’examen des œuvres conservées elles-mêmes – « auctoritates », « originalia », gloses, florilèges, répertoires, commentaires, questions, etc.37 Il s’agit d’abord de savoir ce qui était réellement enseigné dans les universités médiévales, ce qui était négligé ou marginalisé, ce qui était prohibé enfin ; l’étude des condamnations universitaires et des censures a donné matière ces dernières années à quelques recherches très stimulantes38 . Il s’agit ensuite de se demander comment cet enseignement était organisé et assuré. Par-delà la typologie classique des exercices (leçons ordinaires ou cursives, disputes ordinaires ou quodlibétiques), ce sont les données fondamentales de l’activité intellectuelle qui se trouvent en cause : la langue (latin ou vernaculaire), la parole, l’écriture, la lecture, la mémoire etc. Enfin, le propre des universités médiévales, par rapport aux écoles antérieures, ayant été d’avoir inséré les études dans un cadre contraignant de programmes, de cursus et d’examens menant à des diplômes, il est apparu logique de s’intéresser aux techniques concrètes de la « lectio » et de la « disputatio », aux procédures d’évaluation et d’examen, aux rituels de collation des grades, à la rhétorique des discours universitaires39 ; le sujet est d’autant plus complexe que les pratiques effectives s’écartaient parfois notablement des dispositions statutaires. Au total, on pourra ainsi en arriver à reposer, avec prudence, la vieille « quæstio vexata » (depuis les humanistes) des finalités, de l’efficacité réelle, de la valeur intellectuelle et morale des enseignements « scolastiques » : ne permettaient-ils que la transmission de savoirs déjà établis ou autorisaient-ils, pour parler en termes un peu anachroniques, la recherche et le progrès ? Inculquaient-ils au moins une certaine tournure d’esprit, des principes de méthode, une exigence de rationalité ? Les grades auxquels ils aboutissaient et qui jouissaient dans les sociétés médiévales d’un prestige certain, étaient-ils des garanties de compétence intellectuelle, théorique et/ou pratique, ou de simples brevets d’honorabilité sociale ? Etc.

CONCLUSION Une mise au point sur une tendance historiographique en devenir n’appelle pas de longue conclusion. L’histoire des universités médiévales, pratiquée en France comme 36

Par ex. Z. Kaluza., Les querelles doctrinales à Paris. Nominalistes et réalistes aux confins du et du XVe siècle, Bergamo 1988. Voir par ex. L’enseignement des disciplines à la Faculté des arts (Paris et Oxford, XIIIe – XIVe siècles), éd. par O. Weijers et L. Holtz (Studia Artistarum, 4), Turnhout 1997. Cf. L. Bianchi, Censure et liberté à l’université de Paris (XIIIe –XIVe siècles), Paris 1999. Cf. J. Verger, « Examen privatum, examen publicum. Aux origines médiévales de la thèse », dans : Mélanges de la Bibliothèque de la Sorbonne, 1, 1993 (=Éléments pour une histoire de la thèse), p. 15–43. XIVe

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ailleurs par une cohorte restreinte mais dynamique de jeunes – et moins jeunes – historiens, est aujourd’hui un secteur actif de la recherche, où le travail ne manque pas pour les années à venir. Si on veut cependant que cet élan ne s’épuise pas en monographies répétitives ou en études de détail trop partielles, il faudrait veiller à garder le souci : – de recenser et caractériser les sources les plus prometteuses, – d’ouvrir des perspectives suffisamment larges faisant appel aux études comparées, soit entre universités françaises, soit entre universités françaises et étrangères, – de ne pas oublier de produire les synthèses et les bilans, évidemment provisoires mais indispensables, qui doivent périodiquement baliser et relancer la recherche ; il faut ici rappeler en particulier à quel point une histoire générale de l’université de Paris, tenant compte des acquis les plus récents de la recherche (sur le modèle de celles dont ont récemment bénéficié Oxford ou Cambridge)40 , serait utile, – de replacer enfin l’histoire des universités dans des contextes plus larges – ceux des pratiques éducatives, ceux des évolutions sociales et politiques, ceux des courants culturels – à la fois dans une perspective synchronique – replacer l’université en son temps –, soit peut-être même, ce qui est sans doute plus délicat mais pas nécessairement vain, dans une perspective diachronique de longue durée : puisque l’université est une des plus anciennes institutions européennes – et aujourd’hui même mondialisées – encore vivantes, quelle signification et quelle portée assigner à cette remarquable pérennité ?

ABSTRACT The article summarizes the historiography of the history of medieval universities from the 19th century to recent approaches of the beginning 21st century. It includes the appearance of critical editions of fundamental sources and their commentaries, the development of historiography from an institutional history of single universities to modern comparative perspectives, recent studies on social, institutional and political history, as well as the history of ideas and terminologies. In particular, the article focuses on international and interdisciplinary historiography and presents a longneeded review on this subject. Because of its contextual argumentation it offers not least an instructive introduction to late medieval intellectual history and its modern historiography.

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The History of the University of Oxford, T. H. Aston (gen. ed.), 8 vol., Oxford 1984–2000 ; A History of the University of Cambridge, Chr. N. L. Brooke (gen. ed.), 4 vol., Cambridge 1988–2004.

L’HISTOIRE DES UNIVERSITÉS DE FRANCE À L’ÉPOQUE MODERNE (XVIE –XVIIIE SIÈCLES) Un état de la recherche récente (2000–2014) Boris Noguès

L’historiographie des universités françaises de l’époque moderne pourrait se prévaloir d’une tradition très ancienne. Depuis le XVIe siècle, de nombreux ouvrages à caractère historique accordent en effet une place importante aux institutions universitaires. À l’intérieur de cette production, deux types d’écrits doivent cependant être distingués : ceux qui traitent de l’histoire de l’université au titre des antiquités et des curiosités urbaines, généralement dus à des auteurs extérieurs à l’université, et ceux qui s’inscrivent dans une histoire mémorielle et militante, rédigés par les membres de l’université. Le premier genre, dont le ‹ Théâtre des antiquitez de Paris › de Jacques Du Breul paru en 1612 fournit un bon exemple, se caractérise par l’extrême fragmentation de l’approche, puisqu’une chapelle ou un collège universitaire y sont abordés de la même manière, à travers des notices individuelles qui les désignent comme des curiosités ou des monuments.1 Le succès de ce genre ne se dément pas jusqu’au XIXe voire au XXe siècle, avec des monuments érudits, comme celui de Dom Félibien, publié en 1725,2 et la publication de véritables monographies d’établissements, comme celle en 1870 de Marie-Dominique Chapotin, ‹ Une Page de l’Histoire du Vieux Paris : Le Collège de Dormans-Beauvais et la Chapelle Saint Jean-l’Evangéliste ›3 , dont le titre dit bien la perspective : l’inscription, au moins proclamée, dans l’histoire de la ville de Paris, et la difficulté de rompre avec la tradition séculaire précédemment décrite. Sous des formes évolutives, ce genre monographique a suscité la production la plus régulière jusqu’à nos jours. Si le temps des érudits du XIXe siècle est désormais passé, les universités françaises elles-mêmes cultivent encore volontiers leur propre histoire, comme ailleurs en Europe.4 On peut ainsi citer, pour ne retenir que quelquesunes des histoires postérieures à 2000, celles écrites par et sur les universités de 1

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Jacques Du Breul, Le Théâtre des antiquitez de Paris, où est traicté de la fondation des églises et chapelles de la cité, université, ville et diocèse de Paris, comme aussi de l’institution du parlement, fondation de l’université et collèges et autres choses remarquables, Paris 1612. Dom Michel Félibien, Histoire de la ville de Paris, composée par D. Michel Félibien reveue, augmentée et mise au jour par D. Guy-Alexis Lobineau, Paris 1725 (comporte une notice historique érudite pour chaque collège universitaire). Marie-Dominique Chapotin, Une Page de l’Histoire du Vieux Paris: Le Collège de DormansBeauvais et la Chapelle Saint Jean-l’Evangéliste, Paris 1870. Sur ce phénomène, voir Pieter Dhondt (éd.), University Jubilees and University History Writing, Leiden 2014, ainsi que, sur l’histoire de l’éducation en général, Pierre Caspard, L’historiographie de l’éducation dans un contexte mémoriel, in : Histoire de l’éducation 121 (2009) p. 67–82.

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Nantes, d’Orléans ou de Perpignan.5 Joliment illustrées, elles se caractérisent par un fort soutien institutionnel (le président de l’université se réservant souvent la préface en échange du financement) ; par la faible spécialisation des auteurs dans l’histoire universitaire, du moins pour les périodes anciennes (Charles Vulliez constituant l’exception) ; pour la plupart, par la rareté des recherches originales appuyées sur des dépouillements de sources ; enfin et en conséquence, par la difficulté très souvent à renouveler l’histoire de ces universités et à s’inscrire dans la recherche la plus en pointe. Chaque université y est ainsi étudiée pour elle-même et présentée comme un isolat, à l’image de la dernière histoire en date de l’université de Paris.6 L’autre veine, produite ou suscitée dans les périodes de tension par les universitaires eux-mêmes, vise à défendre l’identité, le prestige et les intérêts universitaires. Partisane à l’origine, cette histoire n’en propose pas moins une réflexion approfondie sur ce qu’est ou devrait être l’université. Une journée d’études, tenue à Paris en 2012 et consacrée au recteur de l’université de Paris César-Egasse du Boulay (ca. 1605–1678) et à son ‹ Historia universitatis parisiensis › parue à partir de 1665, voit d’ailleurs dans ce livre la naissance véritable de l’historiographie universitaire française.7 L’organisation de cette journée d’études témoigne par ailleurs de l’effort récemment engagé par les historiens médiévistes et modernistes d’aujourd’hui pour renouer les fils d’une tradition historiographique interrompue – on y reviendra – et pour repenser la production historienne sur les universités françaises dans un cadre plus large. Rappeler comme on vient de le faire le principal clivage qui traverse depuis quatre siècles cette historiographie permet d’emblée d’opposer schématiquement deux approches différentes de l’histoire de l’université : la monographie isolée rédigée par des auteurs parfois très érudits mais qui ne se sont pas spécialisés dans l’histoire des universités ; les travaux et réflexions des universitaires sur le fonctionnement de l’université, envisagée dans son environnement social, politique ou religieux. Pour grossière qu’elle soit, cette catégorisation offre un premier cadre

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Paul Carmignani (dir.), L’Université de Perpignan, tradition humaniste et modernité scientifique, de 1350 à 2000, Perpignan 2001 ; Gérard Emptoz, Histoire de l’Université de Nantes, 1460–1993, Rennes 2002 ; Annie Henwood, Françoise Michaud-Frejaville, Charles Vulliez, Sept cents ans d’université à Orléans, Orléans 2006 (71 p. !). André Thuillier, Histoire de l’université de Paris et de la Sorbonne, 2 vol., Paris 1994. Dans le compte rendu que fait de ce livre Laurence Brockliss, malgré les qualités qu’il lui prête, on peut lire qu’il s’agit d’une « histoire de l’université écrite dans l’isolement » qui « ne peut être que le point de départ pour une véritable histoire moderne de l’université de Paris » (Histoire de l’éducation 77 (1998), p. 45). « Naissance d’une historiographie universitaire César Égasse du Boulay (ca. 1600–1678) – sources et méthodes d’un historien de l’université de Paris », journée d’études organisée le 17 décembre 2012 par Thierry Kouamé et Thierry Amalou, université de Paris I (actes à paraître). Contenu et participants à la journée disponibles à l’adresse . La date de consultation de ce site, ainsi que pour tous ceux qui sont cités par la suite, est mars 2016. Historia universitatis parisiensis ipsius fundationem, nationes, facultates, magistratus, decreta, censuras et judicia in negociis fidei, privilegia, comitia, legationes, reformationes [. . .] Authore Caesare Egassio Bulaeo eloquentiae emerito professore, antiquo rectore et scriba ejusdem universitatis, Paris 1665–1673, 6 vol.

L’histoire des universités de France à l’époque moderne (XVIe –XVIIIe siècles)

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d’analyse de la production historienne et permet de situer utilement les différents travaux. La présente contribution privilégiera plutôt le second type de publications, qui proposent une histoire thématique et problématisée de l’université tout en s’inscrivant dans les approches et les finalités de la recherche historique actuelle. Elle n’entend donc pas énumérer et analyser les multiples monographies à vocation commémorative. Cette orientation posée, il serait injuste et scientifiquement infondé de rejeter en bloc toute étude à caractère monographique, certaines s’inscrivant parfaitement dans les questionnements actuels de la recherche et ayant permis l’avancée de celle-ci à travers des études de cas précises. On notera enfin que la taxinomie des travaux qui vient d’être esquissée a déjà été proposée par d’autres, avec davantage de détail et de nuances, notamment dans deux publications qui proposent à la fois un bilan et une réflexion sur la longue durée de l’historiographie des universités françaises modernes. La première de ces publications, due à Marie-Madeleine Compère, porte sur la seule université de Paris (dont l’historiographie est cependant de très loin la plus riche en France) et retrace son évolution depuis le XVIe siècle jusqu’à la fin du XXe siècle.8 La seconde, rédigée en 2011 par Dominique Julia, est plus récente et plus générale.9 Il y propose une analyse de la production des XIXe et XXe siècles, à partir de la bibliographie très complète établie en 1978 par Simone Guenée,10 et une présentation des avancées des trente dernières années. On ne peut qu’inviter le lecteur intéressé par une analyse détaillée de l’historiographie ancienne (XIXe –XXe siècles) des universités françaises à s’y reporter. L’ensemble pourra être utilement complété et actualisé par la ‹ Bibliographie de l’histoire de l’éducation française ›, entreprise de veille scientifique qui entend recenser toutes les publications qui intéressent ce champ (pour la France)11 et, d’autre part, par la bibliographie régulièrement éditée à la fin de chaque livraison de la revue ‹ History of Universities ›. En s’appuyant sur ces différentes sources, on dressera ici un bilan de la recherche actuelle sur les universités françaises de l’époque moderne (est-elle si faible qu’on le dit ?), avant de préciser les thèmes et les approches qui la caractérisent depuis une quinzaine d’années et d’indiquer les chantiers qui semblent mobiliser le plus largement les historiens aujourd’hui. Renonçant à toute prétention d’exhaustivité (et assumant une moindre attention portée ici aux monographies les plus répétitives), le paysage ainsi brossé relève de choix. A défaut d’être absolument objectifs, les recherches systématiques et les comptages auxquels on a procédé en limiteront l’arbitraire.

Marie-Madeleine Compère, Les collèges français. 16e –18e siècles. Répertoire 3 Paris, Paris/Lyon/Rouen 2002, p. 11–18 « L’historiographie de l’université de Paris ». On renvoie également au plus ancien mais utile Id., L’histoire de l’éducation en Europe. Essai comparatif sur la manière dont elle s’écrit, Paris 1995. 9 Dominique Julia, L’historiographie des universités françaises à l’époque modern, in : Lucien Bély, (préfacier), Les universités en Europe (1450–1814), Paris 2013, p. 13–54. 10 Simone Guenée, Bibliographie de l’histoire des universités françaises des origines à la Révolution, Paris 1978–1981, 2 vol. 11 La ‹ Bibliographie de l’histoire de l’éducation française › est disponible en ligne à l’adresse . La base contient plus de 19 000 notices, correspondant aux travaux parus entre 1996 et 2010, et est en cours d’actualisation pour les années 2011–2014. 8

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UN DOMAINE NÉGLIGÉ ? C’est un lieu commun que de déplorer la faiblesse des recherches sur l’histoire de l’université française moderne, comparée en particulier à l’abondance et à la richesse des travaux consacrés à la période médiévale12 ou à ce qui se pratique dans d’autres pays. Cette faiblesse relative à l’échelle européenne serait ainsi manifestée par l’inexistence en France des revues d’histoire spécialisées, telles les ‹ Annali di Storia delle Università italiane › ou le ‹ Jahrbuch für Universitätsgeschichte ›. Les raisons susceptibles d’expliquer cette faiblesse ne manquent pas. Concurrencées depuis le XIXe siècle par les « grandes écoles » comme Polytechnique ou l’École normale supérieure qui attirent les meilleurs étudiants et, depuis le milieu du XXe siècle, par de grands organismes scientifiques comme le CNRS, qui offrent des conditions plus favorables à la recherche, les universités françaises n’ont pas dans leur patrie l’éclat de leurs voisines européennes ou américaines. Ce désamour est particulièrement fort pour la période qui s’étend du XVIe au XIXe siècle, vue comme une période de décadence de l’institution, de plus en plus sclérosée intellectuellement et socialement, alors qu’on prête aux universités médiévales le rôle enviable de principal foyer de culture et d’innovation intellectuelle.13 De plus, les universitaires français d’aujourd’hui ne se sentent pas les héritiers de leurs prédécesseurs de l’Ancien Régime ou du XIXe siècle. La généalogie de l’institution fut en effet brisée par la Révolution qui supprime en 1793 les universités et par la refondation en trompe-l’œil de Napoléon qui ne recrée en 1808, derrière l’appellation trompeuse d’« Université impériale », qu’une sorte de grand ministère destiné à chapeauter tout l’enseignement, dans lequel les facultés ne sont que des annexes développées des lycées.14 Éclatées à la suite de la loi Faure de novembre 1968 en de multiples universités nommées suivant leur lieu d’implantation et un numéro (Paris 1, Paris 2, et cetera), puis aujourd’hui enjointes de fusionner, ces institutions ont connu ces dernières décennies d’incessantes reconfigurations qui n’ont pas davantage favorisé la culture d’une forte identité ou d’une mémoire.15 Certes, Universitas semper reformanda est, mais l’histoire française semble de ce point de vue particulièrement chaotique. Outre cette histoire malheureuse, des facteurs de nature historiographique pourraient

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Dominique Julia relève ainsi à partir des informations fournies par Simone Guenée, soit jusqu’en 1980, que le Moyen-Âge recueille treize fois plus d’occurrences que la période moderne : Julia, L’historiographie (voir note 9), p. 17. 13 Sur cette image construite dès la Renaissance par les humanistes (Ramus, Rabelais en France), on peut retenir le bilan synthétique et récent qu’en tire Jacques Verger, dans l’Histoire des universités XIIe –XXIe siècle, Paris 2012 : « On a longtemps porté peu d’intérêt aux universités de l’époque moderne (XVIe –XVIIIe siècle) qui ne semblent plus jouer le rôle de foyer culturels dynamiques et créateurs qui avait été le leur au Moyen Âge » (p. 48) et les indications qu’il donne p. 65–67, « décalages et dysfonctionnements ». Voir aussi sur cette image Dominique Julia, L’historiographie (voir note 9), p. 17 et p. 19. 14 Sur l’université napoléonienne, voir par exemple les jugements sévères de Victor Karady, in : Jacques Verger (dir), Histoire des universités en France, Toulouse 1986, p. 310 et celui d’Antoine Prost, Histoire de l’enseignement en France 1800–1967, Paris 1968, p. 223. 15 C’est sur cette idée que s’ouvre l’article cité de Dominique Julia, L’historiographie (voir note 9), p. 13–16.

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également être avancés. Le XXe siècle est en France celui de l’école des Annales, qui a constitué jusqu’aux années 1980 pour l’histoire des universités une sorte de « trappe historiographique », puisqu’elle tourne délibérément le dos à la fois à une histoire érudite privilégiant l’édition de sources, à l’histoire des idées alors que prime longtemps l’histoire des « structures » (en particulier économiques), et enfin à une histoire des élites quand le commun mobilise toute l’attention. Au-delà de ces handicaps, dont certains sont toujours d’actualité, le constat maintes fois répété d’une faiblesse récurrente des études sur l’université moderne en France reste-t-il valable aujourd’hui ? Quelques comptages dans les revues spécialisées et parmi les ouvrages parus ces quinze dernières années permettront d’apprécier le poids de ces études. Dans la revue française ‹ Histoire de l’éducation › on trouve entre 2000 et 2012 huit articles qui abordent le monde des universités modernes, soit un peu moins de 5 % des 170 articles publiés au cours de la période.16 L’ensemble n’est finalement pas si négligeable, compte tenu du champ couvert par une revue consacrée à toutes les formes d’éducation, depuis la petite enfance jusqu’à l’enseignement supérieur. On peut repérer neuf auteurs différents pour ces huit articles, signe d’un vivier assez diversifié. Les dates de publication se distribuent de manière régulière, assurant ainsi une présence assez constante de cet objet d’étude dans la revue. Les thèmes sont également diversifiés, avec des articles traitant du fonctionnement institutionnel, de l’architecture, du contenu ou des formes de l’enseignement. Un élément frappe cependant : tous se rattachent aux collèges ou à la faculté des arts et les facultés supérieures de théologie, droit et médecine apparaissent comme les grandes absentes de cette revue. Il est vrai qu’à l’exception de la théologie l’étude des facultés de droit et de médecine échappe d’une manière générale aux historiens patentés pour être plutôt menée par des juristes ou des médecins. Les premiers disposent depuis 1984 d’une ‹ Revue d’histoire des facultés de droit et de la culture juridique, du monde des juristes et du livre juridique › à laquelle se sont ajoutées en 1997 les ‹ Etudes d’Histoire du Droit et des Idées Politiques ›. Professeurs de droit et de médecine orientent volontiers leurs étudiants vers des thèses d’histoire de leur discipline, mais un contenu jugé étroitement disciplinaire17 (logique du point de 16

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Comptage effectué à partir des numéros disponibles en ligne à l’adresse . Les articles d’Histoire de l’éducation retenus sont les suivants : M. M. Compère et B. Noguès, La direction d’établissement dans les collèges de l’université de Paris sous l’Ancien Régime, in : nº 90 (2001) ; M. Le Cœur, Des collèges médiévaux aux campus, in : nº 102 (2004) ; L. Brockliss, Contenir et prévenir la violence. La discipline scolaire et universitaire sous l’Ancien Régime (XVIIe –XVIIIe siècles), in : nº 118 (2008) ; P. Marchand, La violence dans les collèges au XVIIIe siècle, in : nº 118 (2008) ; A. Firode, Le cartésianisme dans le cours de philosophie au début du XVIIIe siècle, in : nº 120 (2008) ; M. M. Compère, M.-D. Couzinet, O. Pedeflous, Éléments pour l’histoire d’un genre éditorial. La feuille classique en France aux XVIe et XVIIe siècles, in : nº 124 (2009) ; B. Noguès, La maîtrise ès arts en France aux XVIIe et XVIIIe siècles. Rites universitaires, épreuves scolaires et usages sociaux d’un grade, in : nº 124 (2009) ; C. Lehmann, Les multiples facettes des cours de chimie en France au milieu du XVIIIe siècle, in : nº 130 (2011). De manière significative, il n’existe pas de revue d’histoire des facultés de médecine et la principale revue traitant (entre autres) de l’enseignement de la médecine s’intitule ‹ Histoire des sciences médicales ›, ce qui montre bien que l’institution universitaire n’est pas au centre de ces recherches.

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vue des producteurs, futurs juristes ou médecins) a cependant empêché le lien entre ce courant et le milieu des historiens de l’université, à la différence de ce que l’on observe ailleurs en Europe.18 L’exception notable mais isolée est d’ailleurs constituée d’un ouvrage venu. . . d’Angleterre.19 Force est donc de constater qu’historiens de l’université et historiens des disciplines supérieures s’ignorent largement en France. Au-delà de la seule analyse de la revue ‹ Histoire de l’éducation ›, ce jugement est confirmé par l’examen des autres publications, comme on le verra par la suite. Un comptage similaire a été réalisé dans les tables de la revue ‹ History of Universities ›, plus spécialisée comme son nom l’indique, et supposée rendre compte de l’état de la recherche internationale. Pour la période 1997–2014, six articles abordent notre sujet, soit 5 % des 122 articles pris en compte.20 À titre de comparaison, ce nombre place les universités françaises de l’époque moderne au même niveau que leurs homologues germaniques, néerlandaises, italiennes ou espagnoles (6 à 3 articles) mais loin derrière Oxbridge (19 articles, soit 15 % du total). S’il n’y a donc pas de particularisme français très marqué en la matière, on relève que les derniers articles datent de 2008 (signe d’une forme d’épuisement ?). Les thèmes privilégiés diffèrent de la revue ‹ Histoire de l’éducation › : la prosopographie et l’histoire des institutions dominent dans ‹ History of Universities ›. À l’exception de Laurence Brockliss, aucun auteur n’est commun aux deux listes, signe que la jonction entre les chercheurs français et les anglo-saxons reste à réaliser et d’une forme d’isolement des Français (du moins si l’on retient une publication dans ‹ History of Universities › comme un indice pertinent). Enfin, le déséquilibre entre les périodes médiévale et moderne perdure, puisqu’entre 1997 et 2014 on recense 18 articles consacrés aux universités médiévales françaises dans ‹ History of Universities › (15 % des publications), dont les auteurs sont cette fois-ci aussi bien français qu’anglo-saxons. Plus largement que dans ces deux revues, la production et le milieu des historiens actifs sur cette question au cours des quinze dernières années peuvent naturellement être appréhendé à travers la publication de thèses ou de livres, ainsi que par la participation aux colloques spécialisés. Dans la première catégorie, on pourrait retenir

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On le constate par exemple à la lecture des tables du ‹ Jahrbuch für Universitätsgeschichte ›, qui mêlent articles sur les contenus enseignés et histoire des institutions proprement dites. 19 Laurence Brockliss et Colin Jones, The medical world in Early Modern France, Oxford 1997. 20 Tables de la revue peuvent être consultées en ligne à l’adresse . Les articles retenus sont les suivants : Lyse Roy, University Officers and the Universities › Institutional Crisis: Caen 1450–1549, in : XV (1997–1999) ; Thomas O’Connor, The Role of Irish Clerics in Paris University Politics 1730–1740, in : XV (1997–1999) ; Michael Sharratt, Theology and Philosophy at the English College, Douai : A Handlist of Sources, in : VIII/2 (2003) ; Peter Sharratt, Peter Ramus, ‹ L’Affaire du Pré-auxClercs ›, and Social Reform, in : XIX/1 (2004) ; James K. Farge, Sources and Problems Facing the Prosopographer of the University of Paris in the Early Modern Era, in : XXII/2 (2008) ; Laurence W. B. Brockliss, The Collège de Montaigu in the Seventeenth and Eighteenth Centuries, in : XXII/2 (2008). On notera que l’équivalent international le plus proche de la revue française ‹ Histoire de l’éducation est Paedagogica historica › : pour ne pas multiplier à l’infini les éclairages, on ne présente pas ici d’analyse de ses publications, mais la place des universités françaises modernes y est très marginale, car elle n’apparaît que dans des articles dont l’objet principal est autre.

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une bonne dizaine de travaux originaux.21 Leur point dénominateur commun est l’intérêt porté aux hommes de l’université, qu’il s’agisse des étudiants (Marie-Claude Tucker, James K. Farge, Hélène Berlan et surtout Patrick Ferté), des professeurs (Joel Siepierski, Lyse Roy, Liam Chambers, James K. Farge, Boris Noguès) ou des imprimeurs qui sont liés à cette institution (Véronique Meyer). On retrouve logiquement dans cette liste une bonne partie des auteurs repérés dans les revues précédemment étudiées. Il convient de préciser qu’après la forte moisson opérée entre 2002 et 2007 la production semble se tarir (publiée en 2013 seulement, la thèse d’Hélène Berlan avait été soutenue dès 2000). Les colloques permettent aussi de balayer efficacement le paysage de la recherche et de repérer plus largement les historiens qui se sont récemment intéressés aux universités modernes : les six séries d’actes de colloque tenus en France recensés depuis 1999 (soit environ un tous les trois ans) font ainsi apparaître une quinzaine de contributeurs supplémentaires.22

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Ont été retenus les livres suivants : Marie-Claude Tucker, Maîtres et étudiants écossais à la Faculté de droit de l’Université de Bourges (1480–1703), Paris 2001 ; Jacques M. Grès-Gayer, Le Gallicanisme de Sorbonne. Chroniques de la Faculté de Théologie de Paris (1657–1688), Paris 2002 ; Véronique Meyer, L’illustration des thèses à Paris dans la seconde moitié du XVIIe siècle – Peintres, graveurs, éditeurs, Paris 2002 ; Joel Arthur Siepierski, The Politics of Education: The University of Poitiers, 1590–1820, thèse de State University of New York, Buffalo 2002 ; Patrick Ferté, Répertoire géographique des étudiants du Midi de la France : 1561–1793. Pour une prosopographie des élites, Albi/Toulouse 2002–2013 (6 volumes, voir détail note 33) ; Liam Chambers, Michael Moore ca. 1639–1726 : provost of Trinity, rector of Paris, Dublin/Portland 2005 ; Lyse Roy, L’université de Caen aux XVe et XVIe siècle. Identité et représentation, Leiden/Boston 2006 ; James K. Farge (éd.), Students and Teachers at the University of Paris : The Generation of 1500. A Critical Edition of Bibliothèque de l’Université de Paris (Sorbonne), Archives, Registres 89 and 90, Leiden/Boston 2006 ; Boris Noguès, Une archéologie du corps enseignant. Les professeurs des collèges parisiens aux XVIIe et XVIIIe siècles (1598–1793), Paris 2006 ; Jacques M. Grès-Gayer, D’un jansénisme à l’autre : chroniques de la Sorbonne (1696–1713), Paris 2007 ; Hélène Berlan, Faire sa médecine à Montpellier au XVIIIe siècle. Recrutement et devenir professionnel des étudiants montpelliérains (1707–1789), Montpellier 2013. 22 Ont été retenus les actes de colloque suivants : François Cadilhon, Jean Mondot, Jacques Verger (dir.), Universités et institutions universitaires européennes au XVIIIe siècle, Bordeaux 1999 (avec des contributions, concernant la France moderne, de R. Granderoute, B. Noguès, F. Cadilhon) ; Michel Bideaux et Marie-Madeleine Fragonnard (dir.), Les échanges entre les universités européennes à la Renaissance. Colloque international organisé par la Société française d’étude du XVIe siècle et l’Association Renaissance – Humanisme – Réforme, Valence, 15–18 mai 2002, Genève 2003 (contributions sur l’espace français de H. de Ridder-Simoens, James K. Farge, J.-M. Le Gall, M. Huchon, P. Ferté, M. Magnien, M.-C. Tucker, J. Balsamo, A. Balsan, M. Venard, I. Maclean) ; Patrick Ferté et Caroline Barrera (dir.), Étudiants de l’exil. Migrations internationales et universités refuges (XVIe –XXe siècles), Toulouse 2010 (contributions de L. Brockliss, P. Ferté) ; Jean Hiernard, Denise Turrel et Yannis Delmas-Rigoutsos (dir.), Les routes européennes du savoir. Vita Peregrinatio. Fin du Moyen Âge–XVIIe siècle, Paris 2011 (hormis l’introduction due à W. Frijhoff, et une première partie consacrée aux bases de données numériques en Europe à diverses époques présentées par plusieurs auteurs, les deux tiers des contributions sont de la plume du seul Jean Hiernard) ; Lucien Bély (préfacier), Les universités en Europe (1450–1814), Paris 2013 (avec des contributions de D. Julia, T. Amalou, B. Noguès, P. Ferté) ; Thierry Amalou et Boris Noguès, Les Universités dans la ville. XVIe –XVIIIe siècle, Rennes 2013 (contributions sur la France de B. Noguès, G. Rideau, T. Amalou, B. Belhoste). On pourrait y ajouter, même s’il ne s’agit pas d’actes de colloque, un numéro

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Si l’on y ajoute pour être tout à fait complet les deux colloques tenus en 2012 et 2014 dont les actes ne sont pas encore publiés, c’est encore huit personnes qu’il conviendrait d’intégrer à titre d’une contribution ponctuelle.23 Cette description du paysage de la recherche pourrait naturellement être développée, affinée et complétée par la liste des publications réalisées hors des lieux les plus attendus qui ont été utilisés ici. Une recherche dans la ‹ Bibliographie de l’histoire de l’éducation française ›24 à partir du terme « université » pour la période XVIe –XVIIIe siècles permet ainsi d’extraire 99 notices et de repérer quelques autres articles dispersés dans diverses revues scientifiques. Mais, sans courir après une illusoire exhaustivité et en se limitant aux publications de la recherche récente qui ont paru les plus significatives, le tableau brossé plus haut permet déjà de formuler quelques remarques. Si l’on additionne livres et colloques, on atteint près d’une vingtaine d’items (18) assurant une présence régulière du sujet dans l’actualité de la recherche, ce qui montre qu’il est loin d’être négligé. Les études dans ce domaine sont alimentées par un noyau dur de moins d’une dizaine de chercheurs régulièrement actifs depuis 2000, dont les noms apparaissent de manière récurrente dans tous les types de publications mentionnées ici, qu’ils soient plutôt spécialistes de la faculté de théologie (Farge, Grès-Gayer, Amalou), des étudiants (Ferté, Hiernard) ou plus généralistes (Brockliss, Roy, Noguès).25 La publication des colloques est concentrée sur les années 2010–2013, ce qui dément tout désintérêt pour la question, montrant au contraire, avec la participation d’historiens moins directement spécialisés, qu’elle a su récemment attirer au-delà du premier cercle. Recensés de manière très extensive, 45 noms apparaissent dans les publications depuis 1999, soit une trentaine d’historiens qui se sont ponctuellement joints aux auteurs récurrents. Pour donner un sens à cette description des acteurs, il conviendrait cependant de disposer d’évaluation comparable dans les pays voisins.26 Dans le détail, les ‹ thèmes qui sont privilégiés dans ces études témoignent, au moins pour les livres tirés de thèses, d’une assez forte homogénéité de la recherche, directement inspirée d’une nouvelle tradition historiographique qui s’est affirmée à la fin des années 1980.

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spécial de la revue des ‹ Annales du Midi ›, nº 268, octobre–décembre 2009, consacré aux Universités du Midi de la France à l’époque moderne (articles de P. Ferté, J. Slonina, G. Larguier, H. Berlan). Il s’agit de la journée d’études de 2012 mentionnée note 8, ‹ Naissance d’une historiographie universitaire César Égasse du Boulay (ca. 1600–1678) – sources et méthodes d’un historien de l’université de Paris ›, dont les actes sont inédits à la date de rédaction (janvier 2015), qui avait ressemblé les historiens médiévistes et modernistes suivants : B. Noguès, T. Amalou, N. Gorochov, J. Verger, D.-O. Hurel, C. Angotti, T. Kouamé, A. Destemberg et, par ailleurs, du colloque tenu à Créteil et Marne-la-Vallée les 25 et 26 octobre 2014, ‹ Les universités dans la ville : les espaces universitaires et leurs usages en Europe du XIIIe au XXIe siècle ›, avec des communications sur l’université moderne française d’E. Chapron et S. Neggruzzo. Voir note 11. Parmi ceux qui travaillent encore régulièrement sur ces questions sans apparaître dans les publications retenues, il conviendrait d’ajouter Liam Chambers (ses travaux sont diffusés dans des publications qui ne sont ni françaises ni liées à l’histoire internationale de l’université). Dans l’attente de la publication des résultats du projet international lancé dans le cadre de l’ISCHE ‹ Mapping the Discipline History of Education ›, qui a organisé un atelier sur ce thème le 22 juin 2014 à Londres et un autre à Istanbul en juin 2015, à l’initiative d’Eckhardt Fuchs, Rita Hofstetter, Emmanuelle Picard, Joelle Droux, Alexandre Fontaine et Solenn Huitric.

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L’UNIVERSITÉ ET LA SOCIÉTÉ : L’HISTOIRE DE L’UNIVERSITÉ À LA FRANÇAISE La parution en 1989 du second volume de l’‹ Histoire sociale des populations étudiantes › peut être retenue comme acte fondateur d’une « nouvelle histoire » de l’université moderne en France.27 A la suite de travaux antérieurs concernant la charnière entre le Moyen Âge et le monde moderne28 ou d’autres sur la période contemporaine29 et, de manière moins systématique pour la France, de quelques articles isolés sur la période moderne,30 l’ouvrage opère un double désenclavement : historique, en montrant les liens qui unissaient les universités à la société, la politique, la culture de leur temps, et méthodologique, en intégrant les apports d’une histoire quantitative, culturelle et intellectuelle qui avait été si largement mise à l’honneur dans les décennies précédentes par l’école historique française. Fondée sur des dépouillements massifs de matricules universitaires, dont témoignent d’abondantes annexes statistiques, l’étude s’efforce de reconstituer la « conjoncture » universitaire à l’intérieur de l’ensemble royaume pendant trois siècles. En ce sens, l’approche est compatible avec la tradition des Annales, même si l’objet est neuf. C’est aussi une manière de rejoindre le mouvement international de la recherche, initié par Laurence Stone.31 La collection et le rapprochement des effectifs saisis dans les différentes universités françaises permettent d’échapper aux erreurs de perspective liées à la situation singulière de telle ou telle université et de prendre en compte les importants phénomènes de circulation, une large place étant faite dans ce livre à la peregrinatio academica. Au-delà de la méthode quantitative, l’enquête entend répondre (comme l’indique le sous-titre), dans la lignée des travaux de L. Stone, à la question de l’intégration des gradués dans la société ; à celle, quand c’est possible, de leurs origines sociales ; et enfin à celle de la valeur et de la signification sociale des grades. Ce questionnement explique le découpage disciplinaire de l’ouvrage, puisque les études et les trajectoires des étudiants de médecine, droit et théologie différent sensiblement des trois points de vue examinés. L’entreprise est une réussite puisqu’elle conduit à renouveler entièrement le regard porté sur ces universités : délaissant le problème du déclin intellectuel et les jugements de valeur qui l’accompagnaient, le livre envisage

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Dominique Julia et Jacques Revel (dir.), Les Universités européennes du XVIe au XVIIIe siècle, t. 2, Histoire sociale des populations étudiantes, Paris 1989. Voir Cornelia Ridderikhoff et Hilde de Ridder-Simoens puis Christiaan Heesakkers, Les Livres des procurateurs de la Nation germanique de l’ancienne Université d’Orléans, 1444–1602, Leiden puis Leiden/New/York, 5 volumes parus entre 1971 et 1988. Voir pour la période contemporaine le bilan historiographique dressé par Emmanuelle Picard, L’histoire de l’enseignement supérieur français. Pour une approche globale, in : Histoire de l’éducation 122 (2009), p. 11–33. Le pionnier de cette histoire sociale et quantitative de l’éducation à l’époque moderne a été François de Dainville (1909–1971), dont les articles sur cette question ont été regroupés par Marie-Madeleine Compère dans L’éducation des jésuites (XVIe –XVIIIe siècles), Paris 1978. Laurence Stone, The Educational Revolution in England 1560–1640, in : Past and Present 28 (1964), p. 41–80 et la synthèse qu’il a dirigée, The University in the Society, 2 vol., Pinceton 1974.

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les universités comme des institutions où priment les fonctions sociales – plus ou moins bien remplies – de régulation de l’accès au monde des élites. Peut-être à cause même de cette réussite, les auteurs principaux (Julia et Revel) ont par la suite délaissé l’histoire des universités et poursuivi leurs recherches personnelles dans d’autres directions, sans directement faire école, c’est-à-dire sans former des cohortes d’étudiants multipliant mémoires et thèses sur la question. Le modèle a cependant inspiré d’autres travaux. L’enquête de la plus grande ampleur a été menée par Patrick Ferté, sur les étudiants du Midi de la France.32 Six volumes sur les sept annoncés sont déjà publiés et l’entreprise finale devrait recenser entre 40 et 50 000 étudiants. S’il s’inscrit dans la lignée de l’‹ Histoire sociale des populations étudiantes ›, l’information collectée dans le cadre de ce travail paraît plus riche, car il ne s’agit plus seulement de compter des étudiants mais de réaliser une véritable prosopographie des élites méridionales, à travers la constitution de notices individuelles qui documentent quand c’est possible la carrière ultérieure des étudiants et qui permettent de reconstituer les liens (d’abord familiaux) entre les individus. On peut évidemment penser ici au projet similaire du ‹ Repertorium academicum germanicum ›.33 Exceptionnel par l’étendue de l’aire géographique et de la période étudiées, ainsi que par l’importance numérique de la population saisie, le travail de Patric Ferté peut, s’il reçoit tous les prolongements imaginables, renouveler profondément l’histoire sociale du quart sud-ouest de la France. Voisine du point de vue géographique et méthodologique, la thèse d’Hélène Berlan sur les étudiants en médecine à Montpellier au XVIIIe siècle s’inscrit également dans cette veine historiographique, avec près de 5 000 étudiants recensés et un traitement essentiellement statistique de son objet.34 A priori très similaire et préparée au même moment, l’étude de Marie-Claude Tucker consacrée aux étudiants écossais de Bourges s’écarte du modèle par un appareil statistique moins prégnant (seulement 45 étudiants pris en compte) et par une place plus importante accordée aux témoignages qui appellent un traitement qualitatif, ainsi que par une interrogation principale bien différente.35 Alors que Hélène Berlan cherche à éclairer la place dans la société des détenteurs du savoir médical, Marie-Claude Tucker s’interroge avant tout sur les mobiles et les pratiques d’une circulation estudiantine qui relie deux espaces aussi éloignés que l’Ecosse et la petite ville de Bourges. Dans le contexte très compa-

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Patrick Ferté, Répertoire géographique des étudiants du Midi de la France : 1561–1793 : Pour une prosopographie des élites t. 1, Diocèses d’Albi, Castres, Lavaur, Montauban, Albi/Toulouse 2002 ; t. 2, Diocèse de Cahors, Toulouse 2004 ; t. 3, Rouergue, diocèses de Rodez et de Vabres, Toulouse 2006, t. 4, Diocèses pyrénéens : Bayonne, Comminges, Couserans, Lescar, Mirepoix, Oloron, Pamiers, Rieux, Tarbes, Toulouse 2008 ; t. 5, Bas-Languedoc et Roussillon : anciens diocèses des départements de l’Aude, de l’Hérault et des Pyrénées-Orientales, Toulouse 2011 ; t. 6, Gascogne gersoise et agenais, Toulouse 2013. 33 Description du projet par Rainer Schwinges, Repertorium Academicum Germanicum. Ein Who’s Who der graduierten Gelehrten des Alten Reiches (1250–1550), in : Peter Moraw, Gesammelte Beiträge zur Deutschen und Europäischen Universitätsgeschichte. Strukturen – Personen – Entwicklungen, Leiden/Boston 2008, p. 577–602. 34 Berlan, Faire sa médecine (voir note 21), annexes statistiques, p. 445–517. 35 Tucker, Maîtres et étudiants (voir note 21).

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rable de l’université de Poitiers, cette même interrogation anime les travaux de Jean Hiernard sur la mobilité étudiante.36 S’ils utilisent aussi volontiers la prosopographie, les auteurs qui ont étudié le personnel enseignant semblent moins sujets au vertige des chiffres que les spécialistes du monde étudiant, certainement parce qu’ils se sont toujours contentés de saisir les professeurs dans le cadre d’une seule université, ce qui réduit la masse d’individus à traiter. Boris Noguès, qui a étudié dans sa thèse les professeurs de la faculté des arts de Paris de 1660 à 1793, n’en a saisi que 1700.37 Les travaux de Joel Siepierski et de Lyse Roy ne portent pas exclusivement sur les maîtres mais leur accordent une large place, en privilégiant aussi un traitement collectif sinon quantitatif de ce milieu, à l’inverse de Liam Chambers qui a choisi d’organiser sa recherche autour d’un seul individu.38 En rupture avec l’historiographie ancienne, ces études se sont efforcées de mettre en lumière les ressorts internes qui permettaient à ces différents groupes enseignants de faire corps (qu’il s’agisse du statut juridique, social ou financier, des divers dispositifs cérémoniels, des représentations que la corporation offre d’elle-même, ou encore d’une éventuelle homogénéité idéologique) et d’étudier les rapports qu’entretenait ce monde enseignant avec l’extérieur, c’est-à-dire avec les autorités politiques et religieuses et avec les grands débats de leur temps. Si la connaissance précise des trajectoires sociales personnelles de ces enseignants reste encore largement à compléter (et les sources permettraient bien souvent de le faire), l’approche a bien été celle d’une histoire sociale, au moins parce qu’on s’est toujours demandé quelle place occupaient ces maîtres dans la société et, d’autre part, parce que chaque auteur s’est efforcé de dépasser le cas emblématique de telle ou telle grande figure intellectuelle ou pédagogique pour saisir globalement une population, en incluant les individus les plus modestes. Une saisie collective plutôt que la mise en avant des célébrités a également animé les travaux majeurs qui ont marqué le troisième courant identifié plus haut, autour des facultés de théologie. Celui-ci apparaît comme l’héritier d’une double tradition historienne. Celle d’abord d’une « tradition exigeante d’érudition, que la France continue de dédaigner » comme l’écrit sévèrement Marie-Madeleine Compère en 2007, qui précise aussi à propos de l’édition d’un registre d’attestations d’études de la Sorbonne rédigé entre 1512 et 1515 que « le document [que J. Farge] publie maintenant a fasciné les historiens de l’université de Paris, qui n’ont pas eu le courage de s’atteler à son édition »39 . On notera que le père James K. Farge, membre de la Congrégation de saint Basile, et le père Jacques Grès-Gayer figurent parmi les ecclésiastiques qui se consacrent à l’érudition historique, aujourd’hui fort rares en France mais qui furent longtemps, avant que quelques laïcs ne prennent le relais, les 36 37 38 39

Hiernard/Turrel/Delmas-Rigoutsos, Les routes européennes (voir note 22), qui regroupe une collection d’articles de Jean Hiernard sur ce thème déjà parus dans d’autres revues. Noguès, Une archéologie du corps enseignant (voir note 21). Références de ces ouvrages indiquées note 21. Marie-Madeleine Compère, « Farge (James K., éd.), Students and Teachers at the University of Paris : The Generation of 1500. A Critical Edition of Bibliothèque de l’Université de Paris (Sorbonne), Archives, Registres 89 and 90 », compte rendu paru dans Histoire de l’éducation 114 (2007), p. 212–213.

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seuls à avoir les compétences théologiques pour comprendre les mondes disparus de la Sorbonne ou de Navarre à l’époque moderne. S’ils sont donc de ce point de vue atypiques parmi les historiens des universités françaises, leur démarche scientifique ne les distingue pas de leurs collègues. Ainsi, dans son ouvrage intitulé ‹ Le Gallicanisme de Sorbonne. Chroniques de la Faculté de Théologie de Paris (1657–1688) ›, Jacques M. Grès-Gayer s’est appuyé sur une large prosopographie des docteurs en théologie qui lui a permis d’établir une catégorisation très fine des prises de positions successives de chacun des individus et des différents groupes et sous-groupes qui se dessinent.40 L’auteur nous propose donc ici une histoire des doctrines appréhendée à travers l’histoire collective des acteurs qui en sont les dépositaires. Ce goût pour la saisie des groupes d’individus se retrouve dans l’étude citée plus haut de James K. Farge qui, à partir de 1022 attestations d’études collectées, parvient à identifier près de 2300 individus (étudiants, professeurs, officiers de l’université), ce qui lui permet de reconstituer largement cette « génération 1500 » des étudiants formés entre les années 1490 et 1510.41 Le document, qui précise les maîtres suivis, les collèges d’études et les diocèses d’origine, autorise ainsi une reconstitution des réseaux et du milieu des hommes qui seront les acteurs des débats autour de la Réforme à Paris et en France. L’étude de l’engagement des théologiens dans les controverses qui agitent le royaume et du rôle de ce groupe dans l’espace public parisien constitue aussi le thème principal des recherches sur l’université menées par Thierry Amalou au cours des dernières années, même si l’approche n’est plus aussi nettement prosopographique.42 L’ensemble de ces travaux témoigne aussi d’un glissement progressif des questionnements des historiens. En effet, si dans les années 1990 et 2000 tous ces chercheurs se sont massivement retrouvés dans une démarche prosopographique appliquée aux acteurs, cette méthode commune a permis de répondre à des finalités qui ont évolué : d’interrogations étroitement sociales (quelles origines familiales, quelle destinée sociale pour les étudiants ?) on est passé à de nouvelles questions qui s’inscrivent dans l’histoire intellectuelle, politique ou urbaine de la France.

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Grès-Gayer, Le Gallicanisme de Sorbonne (voir note 21). Cet ouvrage s’inscrit dans une série du même type due à cet auteur qui a choisi d’explorer systématiquement les développements du jansénisme à la Sorbonne : D’un jansénisme à l’autre (voir note 21); Théologie et pouvoir en Sorbonne : la Faculté de théologie de Paris et la bulle Unigenitus, 1714–1721, Paris 1991 ; Le Jansénisme en Sorbonne : 1643–1656, Paris 1996 ; et aussi En Sorbonne, autour des ‹ Provinciales › : édition critique des ‹ Mémoires de l’abbé de Beaubrun ›, 1655–1656, Paris 1997. 41 Farge, Students and Teachers (voir note 21). On se reportera également aux études plus anciennes de cet auteur : Bibliographical register of Paris doctors of theology, 1500–1536, Toronto 1980 ; Orthodoxy and Reform in Early Reformation France. The Faculty of Theology of Paris, 1500–1543, Leiden 1985 ; Registre des procès-verbaux de la faculté de théologie de l’Université de Paris, de janvier 1524 à novembre 1533, Paris 1990 ; Registre des conclusions de la faculté de théologie de l’Université de Paris, t. II : du 26 novembre 1533 au 1er mars 1550, Paris 1994. 42 Thierry Amalou, Une Sorbonne régicide. Autorité, zèle et doctrine de la faculté de théologie de Paris pendant la Ligue (1588–1593), in : Bély, Les universités en Europe (voir note 22), p. 77–116 et Les disputes académiques et l’espace public parisien au XVIe siècle, in : Amalou/Noguès, Les Universités dans la ville (voir note 22), p. 179–215.

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CHANTIERS OUVERTS Les thèmes et les approches actuellement émergents témoignent tous d’une volonté de repenser de l’histoire de l’université dans un cadre plus large que celui de la seule institution. Alors que les universités ont longtemps été vues à tort comme des isolats intellectuels et sociaux, accusés d’ignorer la marche des idées et d’enfermer la jeunesse entre les murs étroits des collèges,43 une réévaluation de fond a été entreprise. Parmi les historiens de l’université, le chemin a été ouvert par Laurence Brockliss, dans son livre déjà ancien ‹ French Higher Education › (1987) qui a osé se pencher sur les contenus enseignés, alors que les historiens français négligeaient encore largement ce type d’histoire, trop vite assimilée à une histoire philosophique désincarnée.44 Laurence Brockliss a ainsi pu montrer, par exemple à travers la progression du cartésianisme puis du newtonisme dans les cours de philosophie des facultés des arts au XVIIIe siècle, que si les universités anciennes recevaient les nouveautés avec réticence et retard, elles y étaient quand même complètement perméables. Parmi les travaux de cette nature, on peut citer l’ouvrage d’Antonella Romano sur l’histoire des savoirs mathématiques dans l’ordre jésuite, bien qu’il porte sur le monde qui est loin de correspondre exactement à celui des universités françaises.45 Cette histoire des contenus a été confortée a posteriori par la vogue qu’a connue en France l’histoire des savoirs, plus ou moins directement inspirée par les ‹ Science studies ›.46 Une recherche simple avec le terme « histoire des savoirs » sur le portail scientifique ‹ Calenda ›, qui recense les manifestations passées et à venir (tenues pour l’essentiel en France), donne la mesure de cet engouement très général dans les sciences humaines françaises, puisqu’on compte toutes disciplines confondues 4659 colloques et 2060 séminaires se réclamant de près ou de loin à l’histoire des savoirs entre 2000 et 2015.47 Il conviendrait naturellement d’affiner ces données brutes (218 événements seulement concernent en réalité l’histoire de la période moderne), mais le mouvement de fond est indéniable. Le thème de la circulation des savoirs en particulier a largement mobilisé les historiens modernistes (76 43

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Vision en partie héritée de Gabriel Compayré, Histoire critique des doctrines de l’éducation en France depuis le XVIe siècle, Paris 1879, due à une lecture littérale des règlements d’inspiration monastique, à une réception trop peu critique des proclamations universitaires et à enfermement, que l’on retrouve dans bien des études, dans les seules sources universitaires, insuffisamment croisées avec d’autres. Des éléments sur cette vision autarcique dans Dominique Julia, L’historiographie (voir note 9), p. 18. Laurence Brockliss, French Higher Education in the Seventeenth and Eighteenth Centuries. A Cultural History, Oxford 1987. Antonella Romano, La Contre-Réforme mathématique. Constitution et diffusion d’une culture mathématique jésuite à la Renaissance, 1540–1640, Rome 1999. Sur cette histoire des savoirs à la française et la distinction avec l’histoire des sciences, on peut lire Pierre Macherey, Histoire des savoirs et épistémologie, in : Revue d’histoire des sciences 60 (2007/1), p. 217–236 qui insiste sur l’influence première de Michel Foucault, L’Archéologie du savoir, Paris 1969. ‹ Calenda. Le calendrier des lettres et sciences humaines et sociales › consultable en ligne à l’adresse . On a d’une manière générale assisté en France à une multiplication de ces histoires des savoirs, autour d’objets aussi divers que les savoirs urbains, les savoirs professionnels, les savoirs médicaux, les savoirs policiers, etc.

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événements organisés touchant ce thème entre 2003 et 2015). Cependant, force est de reconnaître que l’histoire des universités n’a pour l’heure que marginalement profité de cette forte dynamique, à la fois parce que la définition très extensive de la notion de savoir éloigne parfois beaucoup du monde universitaire, mais aussi parce que les spécialistes de l’histoire universitaire précédemment identifiés sont restés fidèles à leurs premiers objets d’étude, sans participer à ce mouvement de fond. Significativement, les principales contributions sur la circulation des savoirs dans les universités modernes sont majoritairement le fait d’historiens dont les centres d’intérêt principaux se situent ailleurs.48 On rejoint ici les remarques formulées plus haut à propos de la coupure entre les spécialistes de l’histoire du droit ou de la médecine et ceux de l’histoire des universités proprement dites : l’intégration des recherches sur l’histoire des savoirs dans l’histoire de l’université reste à réaliser. Il est ainsi surprenant de constater que l’ouvrage de référence sur ces questions reste celui dirigé par René Taton, ‹ Enseignement et diffusion des sciences en France au XVIIIe siècle ›, publié en 1964.49 La puissante lame qui porte l’histoire des savoirs laisse cependant penser – ou espérer – que les universités françaises finiront par être touchées par ce mouvement. L’ouverture de l’histoire des universités a été plus nettement réussie lorsqu’elle s’est appuyée sur l’histoire sociale et culturelle, solidement établie en France dans les années 1990.50 Sans porter directement sur les universités, puisqu’elle étudie le collège jésuite de la Trinité à Lyon, la thèse de Stéphane Van Damme a ainsi ouvert la voie aux questionnements sur la place des institutions d’enseignement dans la cité.51 Cette entrée, qui avait déjà été explorée par les médiévistes,52 a servi d’axe principal à deux colloques tenus en France en 2010 et 2014 sur l’université et la ville, dont le premier porte exclusivement sur la période moderne et rappelle en introduction les enjeux de cette approche.53 Si ces études de l’université replacée dans son environnement immédiat ont contribué à rompre l’image d’isolat qui avait pu prévaloir, un renouvellement des approches a également été opéré grâce à la réinscription de l’université dans la galaxie d’institutions périphériques ou concurrentes qui l’entourait. En effet, comprendre le fonctionnement des universités nécessite de restituer de manière globale de l’offre scolaire mise à disposition des étudiants. Outre les cours complémentaires ou d’agrément, les études ou les pensions qui contribuent à l’éducation des étudiants et sont plus ou moins intégrées à l’institution,54 il s’est agit de prendre en compte les nouvelles propositions de formation qui apparaissent 48 49 50 51 52 53 54

Constat vérifié dans Bideaux/Fragonnard, Les échanges (voir note 22). René Taton (dir.), Enseignement et diffusion des sciences en France au XVIIIe siècle, Paris 1964. On renvoie par exemple aux travaux sur les Lumières de Daniel Roche, qui a eu de nombreux étudiants. Stéphane Van Damme, Le temple de la sagesse. Savoirs, écriture et sociabilité urbaine (Lyon, XVIIe –XVIIIe siècles), Paris 2005. Patrick Gilli, Jacques Verger, Daniel Le Blevec, Les universités et la ville au Moyen Âge. Cohabitation et tension, Leiden/Boston 2007. Thierry Amalou et Boris Noguès, Hic et ubique terrarum. Écrire une histoire de l’université à l’échelle de la ville, in : Amalou/Noguès, Les Universités dans la ville (voir note 22), p. 7–21. Sur les pensions et les services qu’elles offrent voir Philippe Marchand, Un modèle d’éducation à la veille de la Révolution : les maisons d’éducation particulières, in : Revue d’Histoire Mo-

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en France, comme le Collège de France (1530), les écoles d’ingénieurs et d’officiers.55 Un premier essai de restitution de l’ensemble des ressources savantes et éducatives offertes à Paris au XVIIIe siècle est proposé par la synthèse de Bruno Belhoste, ‹ Paris savant ›.56 La journée d’études tenue en 2014 à l’EHESS sur les académies et les universités en France et en Italie témoigne également de cet effort de confrontation (ou d’étude parallèle) des différentes institutions savantes.57 À défaut de se pencher véritablement sur le contenu des études – sauf, encore une fois, l’ouvrage de Laurence Brockliss qui embrasse les différents types d’institutions58 –, ce mouvement a donc surtout permis d’envisager l’université comme une institution urbaine et il invite à considérer l’ensemble de ces dispositifs d’enseignement comme un système cohérent.59 À condition d’être menée à son terme, à travers une synthèse qui offrirait une vision plus complète du paysage intellectuel et éducatif, il y a là une possibilité de repenser l’idée du déclin des universités à l’époque moderne. La troisième tendance qui caractérise les recherches actuelles sur l’université est d’ordre méthodologique, avec la multiplication des projets de prosopographie en ligne dont on espère une convergence. Plusieurs bases de données informatiques ont en effet été constituées individuellement par des chercheurs au cours des dernières décennies dans le cadre d’études particulières. Le développement d’internet dans les années 2000 a suscité de multiples projets de mise en ligne. On peut ainsi citer ceux qui découlent des recherches de Patrick Ferté, publiés dans le cadre l’infrastructure ‹ Pool Corpus › et qui comprennent une base active sur les étudiants étrangers en France à l’époque moderne (3484 fiches) et, annoncée seulement, un ‹ Corpus Academicum Tolosae › destiné à recenser les étudiants ayant effectué leurs études à Toulouse.60 La base ‹ Scholasticon ›, initiée en 1999 par Jacob Schmutz, comprend pour sa part 2242 universitaires européens et américains pour la période 1500–1800, spécialistes de philosophie et de théologie, dont une bonne partie a

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derne et Contemporaine (1975), p. 549–567 ; Willem Frijhoff et Dominique Julia, Les grands pensionnats de l’Ancien Régime à la Restauration : la permanence d’une structure éducative, in : Annales historiques de la Révolution française (1981), p. 153–198 ; Marie-Madeleine Compère, Les Pensions à Paris (1789–1820), in : Revue du Nord t. LXXVIII, nº 317 (oct.–déc. 1996), p. 823–835. Par exemple Antoine Picon, L’invention de l’ingénieur moderne. L’École des Ponts et Chaussées. 1747–1851, Paris 1992 ou Roger Hahn, L’enseignement scientifique aux écoles militaires et d’artillerie, in : Taton, Enseignement (voir note 49), p. 513 et sq. Bruno Belhoste, Paris savant. Parcours et rencontres au temps des Lumières, Paris 2011. Colloque intitulé ‹ Académies et universités en France et en Italie (1500–1800). Coprésence, concurrence(s) et/ou complémentarité ? ›, organisé par Dinah Ribard et Déborah Blocker, les 16 et 17 mai 2014 à l’EHESS à Paris. Brockliss, French Higher Education (voir note 44). La notion de système d’enseignement qui formerait un tout est inspirée de Pierre Bourdieu et Jean-Claude Passeron, La reproduction. Éléments pour une théorie du système d’enseignement, Paris 1970, notion dont la fortune est illustrée par son emploi par des historiens médiévistes : Thierry Kouamé (dir.), Le système d’enseignement occidental (XIe –XVIe siècle), paru dans les Cahiers de Recherches Médiévales 17 (2009). Les bases de données de ‹ Pool Corpus › sont accessibles à partir de l’adresse .

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enseigné en France.61 Dernier exemple de ce type, le ‹ Repertorium academicum Pictaviense › qui prévoit d’inclure les étudiants étrangers venus prendre des grades à Poitiers ou en France, ainsi que les Poitevins partis étudier ailleurs.62 La finalité de toutes ces entreprises est naturellement d’assurer une large diffusion de ces recensements, sous un format plus commode que de lourds dictionnaires, mais aussi de susciter un travail collaboratif en invitant les autres chercheurs à enrichir ces bases, voire en leur permettant une saisie en ligne des informations. Le projet ‹ Studium Parisiense › (plus de 15 000 notices, essentiellement sur le Moyen Âge, mais qui ne portent cependant pas toutes sur des Parisiens), initié par des historiens médiévistes (mais qui s’étend aux modernistes) entendait ainsi dès sa conception faciliter la saisie par les historiens souhaitant y contribuer, tout en procédant à une collecte des répertoires déjà existants, imprimés ou sous forme informatique.63 On le voit, ces différents projets ont adopté une démarche très voisine et peuvent apparaître comme concurrents : leurs finalités et leurs populations se recoupent largement et ils ont tous, par nature, une dimension expansionniste. Plusieurs (‹ Pool corpus ›, ‹ Studium parisiense ›, ou le « Système modulaire de gestion de l’information historique », dit SyMoGIH64 ) ont été conçus en parallèle pour cela et revendiquent l’accueil de bases existantes, même si aucun ne semble en position de s’imposer comme la référence fédérative et unique. Le problème se pose d’ailleurs à l’échelle européenne, compte tenu de la similitude des entreprises voisines et de la nécessité scientifique d’appréhender globalement ces populations universitaires. Le projet européen ‹ Heloïse › entend répondre à cette nécessaire coordination entre les bases et regroupe les principaux acteurs du paysage européen en vue d’une souhaitable fusion de ces répertoires.65 Chacun espère parvenir à un recensement global des populations universitaires (en particulier pour saisir leur mobilité géographique ou sociale) ou, 61 62 63

. . . Les ambitions du programme ont été présentées au cours de journées d’études organisées par Jean-Philippe Genet et Thierry Kouamé au LAMOP (CNRS/Université Paris 1), les 23–24 juin 2011 et le 12 mars 2014. On en trouvera l’argumentaire et le compte rendu à partir de l’adresse indiquée ci-dessus. 64 Présentation à l’adresse . 65 ‹ Héloise. European Workshop on Historical Academic Databases ›. Des éléments de présentation sont disponibles à l’adresse . La liste qui suit des membres de ce réseau montre une forte représentation des projets français (9 chercheurs travaillant en France sur 22) malgré une indéniable ouverture aux pays germaniques et à l’Italie : Suse Andresen (deputy for the ‹ Repertorium Academicum Germanicum ›) ; Caroline Barrera (deputy for the ‹ Pool Corpus Project ›) ; Francesco Beretta (deputy for the ‹ Symogih Project ›) ; Manuel Ángel Bermejo Castrillo (representative of the ‹ Diccionario de catedráticos españoles de Derecho ›) ; Gian Paolo Brizzi (representative of the ‹ ASFE Project ›) ; Yannis Delmas (representative of the ‹ Repertorium Academicum Pictaviense ›) ; Peter Denley (ex officio member) ; Patrick Ferté (representative of the ‹ Pool Corpus Project ›) ; Willem Frijhoff (ex officio member) ; Carla Frova (representative of the ‹ Onomasticon Project ›) ; Jean-Philippe Genet (ex officio member) Jean Hiernard (deputy for the ‹ Repertorium Academicum Pictaviense ›) ; Victor Karady (ex officio member) ; Thierry Kouamé (representative of the ‹ Studium Parisiense Project ›) ; Stéphane Lamassé (deputy for the ‹ Studium Parisiense Project ›) ; Ulf Morgenstern (representative of the ‹ Catalogus Professorum Lipsiensium ›) ; Thomas O’Connor (representative of the ‹ Irish in Europe Project ›) ; Emmanuelle Picard (representative of the ‹ Symogih Project ›) ; Hilde

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de manière plus réaliste, à une avancée significative du savoir collectif à travers la mise en commun sous un format directement exploitable de données déjà existantes. Malgré les perspectives offertes par cette nouvelle « terre promise numérique », les difficultés techniques de convergence de bases conçues indépendamment ne sont pas négligeables et l’on notera que bien des projets de mise en ligne annoncés depuis des années n’ont pas encore vu le jour. S’il y a indéniablement ici l’un des axes majeurs de la recherche à venir, on peut aussi s’interroger, une fois résolues les questions techniques de saisie et de fusion des bases de données, sur le déséquilibre manifeste qui existe dans certains projets entre la masse des données disponibles et, d’autre part, la modestie des réflexions menées sur l’exploitations qui en sera faite et, en conséquence, sur les résultats qu’il convient d’en attendre. L’autre domaine pour lequel les attentes sont fortes concerne, on l’a vu, l’intégration de l’histoire des universités de France à la dynamique générale de l’histoire des savoirs telle que la pratique la recherche française et internationale. S’il paraît difficile d’envisager une conversion massive et rapide à ces recherches des quelques historiens solidement installés dans l’histoire de l’université, du moins peut-on souhaiter un rapprochement de ces derniers avec les spécialistes des différentes sciences, par le biais d’entreprises communes. Ces deux axes de la recherche récente qui viennent d’être privilégiés pourraient naturellement être discutés et complétés par d’autres qui nous ont parus moins massivement investis par les historiens. On pourrait ainsi facilement identifier nombre de sous-catégories qui n’ont pas été évoquées ici. On peut aussi, pour finir, aligner injonctions ou incantations en vue d’explorer tel ou tel aspect négligé à ce jour. L’histoire économique de l’éducation, qui constitue une clé de compréhension majeure de l’histoire des universités et qui dispose de sources abondantes,66 a peut-être ainsi manqué la conjoncture historiographique favorable des années 1970 et 1980 (en France du moins), ce qui est regrettable. Sans doute promise à un plus bel avenir car stimulée par les productions des historiens médiévistes et étrangers,67 une relecture de l’histoire de l’université comme système structuré par un ensemble de rites complexes et porteurs de sens aurait également sa place dans une « to-do list ». Si cette réinterprétation a été ponctuellement abordée par certains,68 elle n’a pas encore

de Ridder-Symoens (ex officio member) ; Rainer Christoph Schwinges (representative of the ‹ Repertorium Academicum Germanicum ›) ; Jacques Verger (ex officio member) ; Stefania Zucchini (deputy for the ‹ Onomasticon Project ›). 66 On invite ainsi le lecteur à parcourir les séries H/3, M et MM des Archives nationales, qui regorgent de comptes de collèges parisiens. On signale ici l’une des rares entreprises qui abordent cette question, inédite à ce jour : Preston Perluss, Les Communautés régulières d’hommes de la rive gauche dans l’univers urbain parisien au XVIIIe siècle, thèse de l’université de Paris IV, 2003. 67 Voir par exemple Antoine Destemberg, Un système rituel ? Rites d’intégration et passages de grades dans le système universitaire médiéval (XIIIe –XVe siècle), in : Cahier de Recherches Médiévales 18 (2009), p. 113–132 et L’honneur des universitaires au Moyen Âge. Etude d’imaginaire social, Paris 2015 ou Marian Füssel, Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit, Darmstadt 2006. 68 On peut citer Françoise Waquet, Respublica academica. Rituels universitaires et genres du savoir (XVIIe –XXIe siècles), Paris 2010, dont l’essentiel ne porte cependant pas sur la période moderne.

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émergé en France comme sujet à part entière. Mais, au-delà de ces deux exemples, une multiplication indéfinie des pistes de recherche paraît assez vaine, compte tenu de ce que l’on sait de l’état des forces susceptibles de s’y consacrer. On retiendra surtout, pour tous ces travaux publiés, en cours ou souhaitables, qu’ils partagent une dynamique commune qui résume leur histoire récente et qui peut se réduire à une triple ouverture : ouverture de l’histoire de l’université à son environnement social, institutionnel et intellectuel ; extension continue de l’échelle des objets considérés, du simple collège à l’Occident ; ouverture enfin aux questionnements et méthodes des champs connexes de l’histoire des universités.

ABSTRACT The paper presents recent historian output on the universities of France in early modern times. It reminds that — for a number of historical and historiographical reasons — this field of research has most likely experienced a backlog until late 1980s. It was then profoundly reviewed in imitation of the foreign and of medieval history. It also benefited from the contributions of quantitative, social and cultural history, as it was practiced in France. A series of theses and individual or collective researches shows that since 2000 the area is far from neglected. The study of actors, both students and teachers, through prosopographies, and the research that focus on functioning and social functions of universities dominate the production. Emerging issues that mobilize — or should mobilize in the future — the historians of these universities are the history of knowledge, the considering of educational and research institutions that do not belong to university, and, finally, the massive and plentiful development of digital prosopographic online databases. This last point is the major challenge: their fusion into a sole base, which appears to be the new “digital promised land”.

THEMENSCHWERPUNKT STUDENTENKULTUREN Begriff – Forschungsstand – Perspektiven Marian Füssel und Wolfgang Eric Wagner

1. STUDENTENKULTUREN Unter „Studentenkultur“ wollen wir im Folgenden im Sinne eines Verständnisses von Kultur als Praxis die Gesamtheit der Bedeutungen verstehen, die sich in den historischen Praktiken der Studenten als einer sozialen Gruppe konstituierte: lesen, schreiben und hören, den Studienort wechseln, sich verbrüdern und schlagen, protestieren und demonstrieren, konsumieren und verschulden, initiieren und graduieren, erinnern und vergessen.1 Der Student ist für uns nicht eine überhistorisch-abstrakte Einheit, sondern eine historischem Wandel unterliegende partizipative Identität auf Zeit.2 Studentenkultur ist so verstanden kein abstraktes und genau zu konturierendes System, sondern allein in actu präsent und zu untersuchen. Bereits die rechtlichen Ursprünge der europäischen Universitäten im Mittelalter verdanken sich zu wesentlichen Teilen der Unsicherheit der fahrenden Studenten, denen Kaiser Friedrich I. Barbarossa mit seiner Authentica „Habita“ grundlegende

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Vgl. Karl H. Hörning und Julia Reuter (Hg.), Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld 2004; William H. Sewell Jr., The Concept(s) of Culture, in: Beyond the Cultural Turn. New Directions in the Study of Society and Culture, hg. von Victoria E. Bonell und Lynn Hunt, Berkeley/Los Angeles 1999, S. 35–61, hier: S. 46–47. Vgl. etwa die Einteilung der vormodernen Universitätsbesucher durch Rainer Christoph Schwinges in fünf Idealtypen, deren fünfter und letzter noch am ehesten dem modernen Studenten zu gleichen scheint, in „Simplex“, „Bakkalar“, „Magisterstudent“, „Standesstudent“ und „Fachstudent“. Rainer Christoph Schwinges, Der Student in der Universität, in: Geschichte der Universität in Europa, hg. von Walter Rüegg, Bd. 1: Mittelalter, München 1993, S. 181–223, hier: S. 181–187; zuvor auf Englisch erschienene kürzere Version: Ders., Student education, student life, in: A History of the University in Europe, hg. von Hilde de Ridder-Symoens, Bd. 1: Universities in the Middle Ages, Cambridge 1992, S. 195–243, und ebenso das Verständnismodell zur Erfassung der räumlichen und zeitlichen Verschiedenheiten von Peter Moraw, Der Lebensweg der Studenten, in: Rüegg, Universität (s. o.), S. 225–254. Zum Begriff der partizipativen Identität vgl. Alois Hahn, Partizipative Identitäten, in: Ders., Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte. Aufsätze zur Kultursoziologie, Frankfurt am Main 2000, S. 13–79; Matthias Stickler, Universität als Lebensform? Überlegungen zu Selbststeuerung studentischer Sozialisation im langen 19. Jahrhundert, in: Die Berliner Universität im Kontext der deutschen Universitätslandschaft nach 1800, um 1860 und um 1910, hg. von Rüdiger vom Bruch und Elisabeth Müller-Luckner, München 2010, S. 149–186.

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Marian Füssel und Wolfgang Eric Wagner

Rechte und Privilegien einräumte.3 Schon bald galten die vom akademischen Rechtsverband geschützten Studenten jedoch selbst als großer sozialer Unsicherheitsfaktor für eine städtische Ordnung. Während die eigene Studienzeit im Rückblick ehemaliger Studenten oft als Zeit der Entbehrung aber auch der Freiheit verklärt wurde, sind die Studenten jeder Generation immer auch Gegenstand der zeitgenössischen Kritik an ihrem jeweiligen Lebensstil, der sich von seiner sozialen Umwelt deutlich unterscheidet. Studentenkulturen bewegen sich historisch immer wieder zwischen Idealisierung und Verteufelung, Sicherheit und Bedrohung.

2. FORSCHUNGSSTAND Die Historiographie zur Geschichte der europäischen Studenten scheint auf den ersten Blick ähnlichen Mustern zu folgen wie die Entwicklung der Geschichtswissenschaft allgemein.4 Die Aufbruchsphase im 19. und frühen 20. Jahrhundert ist geprägt von konfessionellen Differenzen und dem Pointillismus einer älteren Cultur- und Sittengeschichte.5 Nach dem 2. Weltkrieg folgten zunächst eher rechts- und verfassungshistorische Darstellungen, seit den 1970er und 1980er Jahren sozial- und gesellschaftshistorische Studien und seit den 1990er und 2000er Jahren kulturgeschichtlich- und historisch-anthropologisch orientierte Forschungen. Ergänzt wird dieses Tableau durch Beiträge von benachbarten Disziplinen wie Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte oder Musikwissenschaft.6 Weitet man den Blick in die

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Winfried Stelzer, Zum Scholarenprivileg Friedrich Barbarossas (Authentica „Habita“), in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 34/1 (1978), S. 123–165; vgl. auch Walter Steffen, Die studentische Autonomie im mittelalterlichen Bologna. Eine Untersuchung über die Stellung der Studenten und ihrer Universitas gegenüber Professoren und Stadtregierung im 13./14. Jahrhundert, Bern u. a. 1981; Rainer Christoph Schwinges, Libertas scholastica im Mittelalter, in: Wissenschaftsfreiheit in Vergangenheit und Gegenwart, hg. von Rainer A. Müller und Rainer C. Schwinges, Basel 2008, S. 1–16. Als Überblicke über die Entwicklung der Universitätshistoriographie vgl. Rainer Christoph Schwinges, Resultate und Stand der Universitätsgeschichte des Mittelalters vornehmlich im deutschen Sprachraum, in: Mensch – Wissenschaft – Magie. Mitteilungen der Österr. Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte 20 (2000), S. 97–119; Rainer A. Müller, Genese, Methoden und Tendenzen der allgemeinen deutschen Universitätsgeschichte. Zur Entwicklung einer historischen Spezialdisziplin, in: ebd., S. 181–202; Matthias Asche und Stefan Gerber, Neuzeitliche Universitätsgeschichte in Deutschland. Entwicklungslinien und Forschungsfelder, in: Archiv für Kulturgeschichte 90 (2008), S. 153–202, hier: S. 196–201; speziell zur Studentengeschichte vgl. Matthias Stickler, Neuerscheinungen zur Studentengeschichte seit 1994. Ein Forschungsbericht über ein bisweilen unterschätztes Feld der Universitätsgeschichte, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 4 (2001), S. 262–270. Vgl. Max Bauer, Sittengeschichte des deutschen Studententums, Dresden 1926; Paul Ssymank, Bruder Studio in Karikatur und Satire, Stuttgart 1929; Friedrich Schulze und Paul Ssymank, Das deutsche Studententum von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart, München 4 1932, zu Ssymank vgl. Marek Podlasiak, Paul Ssymank – Chronist der deutschen Studentengeschichte, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 5 (2002), S. 171–184. Karl Konrad, Bilderkunde des deutschen Studentenwesens. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte des deutschen Studententums, Breslau 2 1931; Kurt Lange, Der Student in der deutschen

Studentenkulturen. Begriff – Forschungsstand – Perspektiven

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europäische Forschungslandschaft, so fällt auf, dass gerade die deutsche Studentenhistoriographie jedoch gewisse historisch- und quellenbedingte Eigenarten aufweist.7 Historisch bedingt ist zum einen die Tatsache, dass das Feld im deutschsprachigen Raum offenbar stärker beforscht wird als in anderen europäischen Ländern wie Großbritannien oder Frankreich; zum anderen, und das ist wesentlich schwerwiegender, dass „Studentenhistoriker“ hier oftmals Angehörige studentischer Korporationen und Verbindungen sind und daher ein spezifisches Erkenntnisinteresse mitbringen, das Kolleginnen und Kollegen etwa aus den Niederlanden oder Italien fremd ist. Für die länderübergreifenden historischen Entwicklungen der Studentengeschichte und die Art wie die Forschung ihnen Rechnung trägt ist ein Blick in die Gliederung der von Walter Rüegg herausgegebenen vier Bände europäischer Universitätsgeschichte aufschlussreich. Die Bände 1 bis 3 enthalten je ein Kapitel ‚Zulassung zur Universität‘, in Band 4 umbenannt in „Zugang zur Universität“. Auch der jeweils letzte Abschnitt zur Geschichte der Studenten fällt recht identisch aus und lautet in Band 1 bis 3 ‚Der Lebensweg der Studenten‘, in Band 4 umbenannt in ‚Der Berufsweg der Studenten‘. Im mittleren Kapitel zeichnet sich die meiste Bewegung ab. ‚Der Student in der Universität‘ im Mittelalterband wird gefolgt von ‚Studentenkultur und akademischer Alltag‘ im Frühneuzeitband. In den Bänden zum 19. und 20. Jahrhundert ist diese Kapitelposition bezeichnenderweise jeweils ‚Studentischen Bewegungen‘ gewidmet, im Band zum 20. Jahrhundert noch ergänzt durch ein Kapitel ‚Das Studium‘. Genuin quellenbedingt ist die Eigenart insbesondere der mediävistischen Forschung im deutschsprachigen Raum, sich seit Mitte der 1980er Jahre vornehmlich durch die sozialgeschichtliche Untersuchung der Studentenschaft auf die Erkenntnis der Wechselwirkungen zwischen Universität und Gesellschaft zu konzentrieren.8 Denn Allgemeine Universitäts- oder Rektoratsmatrikeln, die mehr oder weniger vollständig all jene Personen verzeichnen, die durch ihre Mitgliedschaft in einer Universität nach dem Genuss deren akademischer Privilegien trachteten, sind ab dem ausgehenden 14. und im Laufe des 15. Jahrhunderts nahezu ausschließlich an den Universitäten des Alten Reiches und seiner nördlichen und östlichen Nachbarn entstanden.9 Will man die gegenseitige Beeinflussung von Universität und Gesellschaft im Mittelalter ausgehend von den beteiligten Menschen analysieren, so liegt es daher nahe, dies in erster Linie innerhalb des Alten Reiches anzugehen. Methodisch wegweisend für die sozialhistorische Betrachtung des personellen Austauschs zwischen der Universität und ihrer vor allem städtischen Außenwelt war die 1986 im

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Literatur des 18. Jahrhunderts (Diss. Breslau 1930); Herbert Nimtz, Motive des Studentenlebens in der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts (Diss. Würzburg 1937); Katharina von Ruckteschell, Gefangene der Freiheit. Studien zum Typus des Studenten in der Literatur des europäischen Realismus, Frankfurt am Main u. a. 1990; J. Lloyd Winstead, When colleges sang. The story of singing in American college life, Tuscaloosa 2013. Vgl. Rüegg, Universität in Europa, Bd. 1 (Anm. 2), S. 161–275; Bd. 2: Von der Reformation bis zur französischen Revolution, München 1996, S. 235–359; Bd. 3: Vom 19. Jahrhundert zum zweiten Weltkrieg, München 2004, S. 199–322; Bd. 4: Vom Zweiten Weltkrieg bis zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, München 2010, S. 191–328; Mariusz Kulczykowski (Hg.), Les étudiants – liens sociaux, culture, moeurs du moyen-âge jusqu’au XIXe siècle, Kraków 1991. Vgl. Schwinges, Resultate (Anm. 4). Vgl. Jacques Paquet, Les matricules universitaires, Turnhout 1992.

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Druck erschienene Giessener Habilitationsschrift ‚Deutsche Universitätsbesucher im 14. und 15. Jahrhundert‘ von Rainer Christoph Schwinges.10 Nach der Öffnung der deutschen Universitätsgeschichtsforschung gegenüber sozialgeschichtlichen Fragestellungen seit Ende der 1960er Jahre, die vor allem auf Arbeiten von Mediävisten und Frühneuzeithistorikern wie Peter Classen, Laetitia Boehm, Rainer A. Müller und Peter Moraw zurückgeht,11 und in Anlehnung an die grundlegenden Forschungen des Nationalökonomen Franz Eulenburg (1904),12 gestützt auf elektronische Datenverarbeitung und historisch-statistische Methoden, analysierte Schwinges Frequenz und Konjunktur des Hochschulzugangs derjenigen zwölf Universitäten im Alten Reich, von denen im Zeitraum zwischen 1385 und 1505 Matrikeln überliefert sind. Im zweiten Teil seiner Arbeit widmete er sich in einer Fallstudie der Kölner Universität und erörterte ausgehend von einer nach Zehnjahresschritten gezogenen Stichprobe mit über 2 000 Immatrikulierten die räumliche und soziale Herkunft der Scholaren, wobei es ihm gelang, ein sehr differenziertes Bild von der sozialen Stratifikation und den Gruppierungen der Universitätsbesucher zu zeichnen. Bereits zuvor hatte Schwinges einige Studien zu studentischen Teilgruppen und Gruppenbildungen vorgelegt.13 Mittlerweile hat dieser klassische Ansatz zahlreiche Nachfolger in Form von Fallstudien zur sozialen Herkunft der Besucher und damit zur Sozialstruktur und zum Sozialprofil der besuchten Universitäten gefunden, so Christoph Fuchs zu Heidelberg (1386–1450), Uwe Alschner zu Helmstedt (1576–1810), Matthias Asche zu

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Rainer Christoph Schwinges, Deutsche Universitätsbesucher im 14. und 15. Jahrhundert: Studien zur Sozialgeschichte des Alten Reiches, Stuttgart 1986. Vgl. exemplarisch Peter Classen, Die Hohen Schulen und die Gesellschaft im 12. Jahrhundert, in: Archiv für Kulturgeschichte 48 (1966), S. 155–180, erneut in: Ders., Studium und Gesellschaft im Mittelalter, hg. von Johannes Fried, Stuttgart 1983, S. 1–16; Laetitia Boehm, Libertas scholastica und negotium scholare. Entstehung und Sozialprestige des akademischen Standes im Mittelalter, in: Universität und Gelehrtenstand 1400–1800, hg. von Hellmuth Rössler und Günther Franz, Limburg/Lahn 1970, S. 15–61, erneut in: Geschichtsdenken, Bildungsgeschichte, Wissenschaftsorganisation. Ausgewählte Aufsätze von Laetitia Boehm anläßlich ihres 65. Geburtstages, hg. von Gert Melville, Rainer A. Müller und Winfried Müller, Berlin 1996, S. 607–646; Rainer A. Müller, Universität und Adel. Eine sozio-strukturelle Studie zur Geschichte der bayerischen Landesuniversität Ingolstadt 1472–1648, Berlin 1974; Peter Moraw, Zur Sozialgeschichte der deutschen Universität im späten Mittelalter, in: Gießener Universitätsblätter 8 (1975), S. 44–60. Franz Eulenburg, Die Frequenz der deutschen Universitäten von ihrer Gründung bis zur Gegenwart, Leipzig 1904; zu Kritik und Weiterführung für die Frühe Neuzeit vgl. auch Willem Frijhoff, Surplus ou déficit? Hypothèses sur le nombre réel des étudiants en Allemagne à l’èpoque moderne (1576–1815), in: Francia 7 (1979), S. 173–218; Ulrich Rasche, Über die deutschen, insbesondere über die Jenaer Universitätsmatrikeln, in: Genealogie 25 (2000/2001), S. 29–46, S. 84–109. Rainer Christoph Schwinges, Pauperes an deutschen Universitäten des 15. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Historische Forschung 8 (1981), S. 285–309; Ders., Studentische Kleingruppen im späten Mittelalter, in: Politik, Gesellschaft, Geschichtsschreibung. Gießener Festgabe für Frantisek Graus, hg. von Dems. und Herbert Ludat, Köln/Wien 1982, S. 319–361; Ders., Zur Prosopographie studentischer Reisegruppen im 15. Jahrhundert, in: Medieval Lives and the Historian. Studies in Medieval Prosopography, hg. von Neithart Bulst und Jean-Philipp Genet, Kalamazoo/MI 1986, S. 333–341.

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Rostock und Bützow (1500–1800) und Achim Link zu Greifswald (1456–1524).14 Daneben sind einige Studien zu Spezialfragen entstanden, die mit dem gleichen methodischen Instrumentarium arbeiten. So hat Beat Immenhauser aus einer umgekehrten Perspektive nach der praktischen Bedeutung gelehrten Wissens für diejenigen Universitätsbesucher gefragt, die aus einer gemeinsamen Herkunftsregion, dem Bistum Konstanz, stammten.15 Auf diese Weise konnte er die Relevanz gelehrter Bildung als Sprachenstudium, als Ausgangspunkt verschiedener Karrieremodelle und als erste höhere oder höchste Qualifikationsstufe, teilweise zum Zweck des Prestigegewinns, näher bestimmen. Auf einen bestimmten, fachlich abgrenzbaren Teil der Besucher, die Rechtsstudenten, zielen die methodisch ähnlich ausgerichteten Untersuchungen von Jürg Schmutz für die Universität Bologna und von Robert Gramsch für Erfurt.16 Der kürzlich erschienene erste Band der Matrikel der Wiener Juristenfakultät, einer der bedeutendsten juristischen Fakultäten nördlich der Alpen, lädt förmlich zu weiteren ähnlich gelagerten Studien ein.17 Ein sozialhistorisches Standardwerk über die frühneuzeitlichen Universitätsbesucher haben Ende der 1980er Jahre Dominique Julia und Jacques Revel vorgelegt, das in seiner Syntheseleistung bislang immer noch nicht eingeholt wurde.18 Untrennbar verknüpft mit der sozialhistorischen Analyse der Studentenschaft ist, wie gerade die zuletzt genannten Werke zeigen, die Frage nach der akademischen Mobilität. Von der mittelalterlichen peregrinatio academica über die Kavalierstour der Frühen Neuzeit bis hin zum Auslandsstudium des 19. und 20. Jahrhunderts kann das Feld der Mobilitätsforschung epochenübergreifend als außerordentlich produktiv beschrieben werden.19 Arbeiten des Stils ‚Studenten aus Y in X‘ sind Legion und 14

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Christoph Fuchs, Dives, pauper, nobilis, magister, frater, clericus. Sozialgeschichtliche Untersuchungen über Heidelberger Universitätsbesucher des Spätmittelalters, Leiden 1995; Uwe Alschner, Universitätsbesuch in Helmstedt 1576–1810. Modell einer Matrikelanalyse am Beispiel einer norddeutschen Universität, Wolfenbüttel 1998; Matthias Asche, Von der reichen hansischen Bürgeruniversität zur armen mecklenburgischen Landeshochschule. Das regionale und soziale Besucherprofil der Universitäten Rostock und Bützow in der Frühen Neuzeit (1500–1800), Stuttgart 2000; Achim Link, Auf dem Weg zur Landesuniversität. Studien zur Herkunft spätmittelalterlicher Studenten am Beispiel Greifswald (1456–1524), Stuttgart 2000. Beat Immenhauser, Bildungswege – Lebenswege. Universitätsbesucher aus dem Bistum Konstanz im 15. und 16. Jahrhundert, Basel 2007. Jürg Schmutz, Juristen für das Reich. Die deutschen Rechtsstudenten an der Universität Bologna 1265–1425. Teil 1: Text, Teil 2: Personenkatalog, Basel 2000; Robert Gramsch, Erfurter Juristen im Spätmittelalter. Die Karrieremuster und Tätigkeitsfelder einer gelehrten Elite des 14. und 15. Jahrhunderts, Leiden 2003. Kurt Mühlberger (Hg.) und Johannes Seidl (Bearb.), Die Matrikel der Wiener Rechtswissenschaftlichen Fakultät – Matricula Facultatis Juristarum Studii Wiennensis, Bd. 1: 1402–1442, München/Wien 2011. Dominique Julia und Jacques Revel (Hg.), Les universités européennes du XVIe au XVIIIe siècle, 2 Bde.: Bd. 1: Bohême, Espagne, États italiens, Pays germaniques, Pologne, Provinces-Unies, Paris 1986, Bd. 2: France, Paris 1989; zu Spanien vgl. Richard L. Kagan, Students and society in early modern Spain, Baltimore u. a. 1974 und zu England Lawrence Stone, The Size and Composition of Oxford Student Body 1580–1910, in: The University in Society, hg. von Dems., Bd. 1, Princeton 1974, S. 3–110. Jürgen Miethke, Die Studenten, in: Unterwegssein im Spätmittelalter, hg. von Peter Moraw, Berlin 1985, 49–70; Hilde de Ridder-Symoens, Mobilität, in: Rüegg, Geschichte, Bd. 1 (Anm. 2),

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haben in ihrer Gesamtheit ältere Narrative etwa einer akademischen Immobilität im Zeitalter der Territorialisierung deutlich relativiert oder regional-, disziplinenund gruppenspezifisch präzisiert.20 Akademische Migration wird dabei weit häufiger aus der Perspektive der migrierenden Studenten betrachtet als aus der Sicht der sie aufnehmenden Universitäten. Dies gilt sowohl für regional breit angelegte Studien wie die eben genannte von Jürg Schmutz als auch für lokal eher begrenzte Untersuchungen, die ihren Fokus entweder auf eine kleine Region und deren Migrationen21 oder auf eine spezielle Migration aus einer bestimmten Region zu einer einzelnen Universität22 richten. Der verflechtungsorientierte Zugriff auf Einzelbiographien, wie ihn etwa Stephanie Irrgang für Rostock, Greifswald, Trier und Mainz erprobt hat, fördert als Motive und Faktoren für individuelle, überwiegend kleinräumige Migrationsentscheidungen neben der Aussicht auf Pfründen und Statusverbesserung, Klientelbeziehungen und gemeinsame geistige Interessen zutage.23 Zum einen erweisen derartige sozialgeschichtliche Untersuchungen der Universitätsbesucherschaft, dass es sich bei der akademischen Wanderung in der Vormoderne keineswegs um ein Massenphänomen handelte, sondern um einen klischeebehafteten Mythos, der durch romantisierende Schwankliteratur, Vagantenlyrik und studentische Trinklieder tradiert und verfestigt wurde. Zum anderen zeigen sie aber, dass die konkreten sozialen Konsequenzen akademischer Mobilität (soziale Schnitte, Sprach-, Nahrungsund Kleidungswechsel24 , akademische Neu-Sozialisation) in der Vormoderne den

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S. 255–275; Dies., Mobilität, in: ebd., Bd. 2 (Anm. 7), S. 335–359; Elizabeth Murphy-Lejeune, Student Mobility and Narrative in Europe: The New Stranger, London 2002; Simone Giese, Studenten aus Mitternacht. Bildungsideal und „peregrinatio academica“ des schwedischen Adels im Zeichen von Humanismus und Konfessionalisierung, Stuttgart 2009; Daniela Siebe, „Germania docet“. Ausländische Studierende, auswärtige Kulturpolitik und deutsche Universitäten 1870 bis 1933, Husum 2009; Hartmut Rüdiger Peter (Hg.), Universitäten als Brücken in Europa. Studien zur Geschichte der studentischen Migration, Frankfurt am Main u. a. 2003; Jean Hiernard, Denise Turrel und Yannis Delmas-Rigoutsos (Hg.), Les routes européennes du savoir. Vita Peregrinatio. Fin du Moyen Âge–XVIIe siècle, Paris 2011. Vgl. exemplarisch Winfried Dotzauer, Deutsche Studenten an der Universität Bourges. Album et liber amicorum, Meisenheim 1971; Márta Fata (Hg.), Peregrinatio Hungarica: Studenten aus Ungarn an deutschen und österreichischen Hochschulen vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, Stuttgart 2006; Rudolf Hartmann, Japanische Studenten an deutschen Universitäten und Hochschulen 1868–1914, Berlin 2005; Jon Arrizabalaga, Spanish Medical Students’ peregrinatio to Italian Universities in the Renaissance, in: Centres of Medical Excellence? Medical Travel and Education in Europe, 1500–1789, hg. von Dems. und Ole Peter Grell, Farnham 2010, S. 93–126. Vgl. an jüngeren Beispielen Ad Tervoort, The Iter Italicum and the Northern Netherlands. Dutch Students at Italian Universities and their Role in the Netherlands’ Society (1426–1575), Leiden 2005; Claudia A. Zonta, Schlesische Studenten an italienischen Universitäten. Eine prosopographische Studie zur frühneuzeitlichen Bildungsgeschichte, Köln u. a. 2004; Immenhauser, Bildungswege – Lebenswege (Anm. 15). Vgl. etwa Katarina Štulrajterová, La presenza degli studenti del regno d’Ungheria all’Università di Padova 1222–1526, Viterbo 2004. Stephanie Irrgang, Peregrinatio academica. Wanderungen und Karrieren von Gelehrten der Universitäten Rostock, Greifswald, Trier und Mainz im 15. Jahrhundert, Stuttgart 2002. Rainer C. Schwinges, Between Gown and Fashion: a Student’s Clothing in the Late Fifteenth Century, in: Fashion and Clothing in Late Medieval Europe, hg. von Rainer C. Schwinges und Regula Schorta, Basel 2010, S. 25–35.

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Einzelnen als Grenzerfahrung auf seiner existentiellen Ebene berührten. Insgesamt verdeutlichen diese Studien, dass die Auffassung der jüngeren Hochschulforschung und Hochschulpolitik, die akademische Mobilität lediglich als Wechsel von einer zu einer anderen Hochschule betrachten, in historischer Perspektive viel zu kurz greift.25 Auf eine Verbreiterung der Datengrundlage für derartige Forschungen zielt das Forschungsprojekt ‚Repertorium Academicum Germanicum (RAG)‘, das, finanziert durch den Schweizerischen Nationalfonds und die Deutsche Forschungsgemeinschaft und unterstützt von der Historischen Kommission der Bayerischen Akademie in München, seit 1998 in zwei Arbeitsstellen, in Giessen und Bern, die biographischen Informationen zu den graduierten Gelehrten des Alten Reiches, Theologen, Juristen, Medizinern und Artistenmagistern sowie adligen Universitätsbesuchern zwischen 1250 und 1550 erfasst.26 Kernstück des RAG ist eine auf den Methoden der Prosopographie basierende Datenbank, in der neben den üblichen Daten zu Herkunft, Studium und Lebensweg, Positionen, Ämtern, Karrieren, hinterlassenen Werken, Testamenten und Stiftungen mit Rücksicht auf die Andersartigkeit der vormodernen europäischen Gesellschaft auch Angaben über den zugehörigen Sozialraum, seine Einflusstiefe und Reichweite, über verwandtschaftliche Bindungen, über Freundschaften und Feindschaften, über Referenzen und Beziehungen zu Herren jeder Art, über Tischgenossenschaften, Privilegien und Klientelverhältnisse gespeichert sind. Im Endzustand soll die Datenbank die Biographien von über 40 000 Gelehrten enthalten. Damit soll es möglich sein, erstmals gesamthaft quantitative und qualitative Aussagen über die geistige Elite des Reiches, ihre Wirkung und ihre europäische Vernetzung zu treffen.27

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Vgl. Tina Maurer und Christian Hesse (Hg.), Von Bologna zu ‚Bologna‘. Akademische Mobilität und ihre Grenzen, Basel 2011. Rainer C. Schwinges, Repertorium Academicum Germanicum. Ein Who‘s Who der graduierten Gelehrten des Alten Reiches (1250–1550), in: Peter Moraw, Gesammelte Beiträge zur Deutschen und Europäischen Universitätsgeschichte. Strukturen – Personen – Entwicklungen, Leiden/Boston 2008, S. 577–602; Suse Andresen, Das Repertorium Academicum Germanicum. Überlegungen zu einer modellorientierten Datenbankstruktur und zur Aufbereitung prosopographischer Informationen der graduierten Gelehrten des Spätmittelalters, in: Städtische Gesellschaft und Kirche im Spätmittelalter, hg. von Sigrid Schmitt und Sabine Klapp, Mainz 2008, S. 17–36; Christian Hesse und Rainer C. Schwinges, „Universitätsranking“ und Gelehrtenmobilität im Mittelalter: Das Repertorium Academicum Germanicum (RAG) auf dem Weg zu den personalen Grundlagen der Wissensgesellschaft, in: Akademie aktuell. Zeitschrift der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Februar 2008, S. 15–18. Vgl. hierzu etwa Suse Baeriswyl-Andresen, Akzeptanz der Grade. Die Antwort der Gesellschaft bis 1500, dargestellt am Beispiel der Markgrafen von Ansbach und Kurfürsten von Brandenburg, in: Examen, Titel. Promotionen. Akademisches und staatliches Qualifikationswesen vom 13. bis zum 21. Jahrhundert, hg. von Rainer C. Schwinges, Basel 2007, S. 451–487; Wolfram C. Kändler und Frank Wagner, Prosopographische Grundlagenforschung zur Universitätsgeschichte: Die Universitäten in Erfurt und Rostock im Spätmittelalter und das Repertorium Academicum Germanicum, in: Mecklenburgische Jahrbücher 121 (2006), S. 69–92; Christian Hesse, Der Blick von aussen. Die Anziehungskraft der spätmittelalterlichen Universität Wien auf Studenten und Gelehrte, in: Die Universität Wien im Konzert europäischer Bildungszentren, hg. von Kurt Mühlberger und Meta Niederkorn-Bruck, Wien 2010, S. 101–112; Tina Maurer, La mobilité des

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Ebenfalls quellenbedingt ist ein Grundproblem der Studentengeschichte, das sich mit dem Heraufziehen des Aktenzeitalters jedoch noch drastisch verschärfte: die Fokussierung auf aktenkundiges, das heißt meist deviantes Verhalten. So kann es kaum verwundern, dass studentische Zweikämpfe, Prostitution, übermäßiger Alkoholkonsum und öffentlicher Aufruhr auch schon in der älteren Historiographie zu den beliebtesten Themen zählten.28 Die jüngere Forschung arbeitet sich dann an den für die Frühneuzeitforschung lange Zeit prägenden Modernisierungsnarrativen wie Sozialdisziplinierung (Oestreich), Zivilisationsprozess (Elias) oder funktionaler Differenzierung (Luhmann) ab. So hat etwa Stefan Brüdermann das Paradigma der Sozialdisziplinierung am Beispiel der akademischen Gerichtsbarkeit Göttingens im 18. Jahrhundert empirisch fruchtbar gemacht und damit ein zentrales Referenzwerk für die Geschichte studentischer Devianz geschaffen.29 Wolfgang Hardtwig ging mit einer eher an Norbert Elias angelehnten Perspektive in eine andere Richtung und betonte stärker die Selbstzähmung der jugendlichen Bildungsschicht, die angesichts sich ehrhöhenden Karrieredrucks obrigkeitliche Fremdzwänge in durch neue Formen organisierter Geselligkeit abgestützte Selbstzwänge verwandelte.30 Neben diesen aufs Ganze zielenden Ansätzen differenzierte sich das Feld studentischer Devianzforschung weiter aus. Rechtshistorische Forschungen nahmen stärker die institutionelle Gestalt der akademischen Gerichtsbarkeit in den Blick.31 Kulturanthropologisch orientierte Untersuchungen gingen den umgekehrten Weg und versuchten in Mikroanalysen die soziale Logik studentischer Konflikte und Geselligkeit zu ergründen und dabei stärker die Selbstsicht der Akteure, wie beispielsweise ein ausgeprägtes Ehrverständnis, zu berücksichtigen.32 Entsprechende Gruppenidentitäten verstärkten zum Teil auch rechtlich abgesicherte Prozesse der Exklusion etwa von Frauen oder

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savants germaniques au Moyen Age et le résultat du Repertorium Academicum Germanicum, in: Hiernard, Les routes européennes du savoir (Anm. 18), S. 39–47; Suse Andresen und Rainer C. Schwinges (Hg.), Über Mobilität von Studenten und Gelehrten zwischen dem Reich und Italien (1400–1600). Della mobilità degli studiosi e eruditi fra l’Impero e l’Italia (1400–1600), Zürich 2011. Vgl. als exemplarische Auswahl Robert von Mohl, Geschichtliche Nachweisungen über die Sitten und das Betragen der Tübinger Studierenden während des 16. Jahrhunderts, Tübingen 1832 (ND der 4. Aufl. v. 1871), Tübingen 1977; Adolph Hofmeister, Rostocker Studentenleben vom 15. bis ins 19. Jahrhundert, 3 Teile, in: Archiv für Kulturgeschichte 4 (1906), S. 1–50, S. 171–196, S. 310–348. Stefan Brüdermann, Göttinger Studenten und akademische Gerichtsbarkeit im 18. Jahrhundert, Göttingen 1990. Wolfgang Hardtwig, Sozialverhalten und Wertewandel der jugendlichen Bildungsschicht im Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft, in: VSWG 73 (1986), S. 305–335; Ders., Zivilisierung und Politisierung. Die studentische Reformbewegung 1750–1818, in: Ders., Nationalismus und Bürgerkultur in Deutschland 1500–1914, Göttingen 1994, S. 79–107. Bettina Bubach, Richten, Strafen und Vertragen. Rechtspflege der Universität Freiburg im 16. Jahrhundert, Berlin 2005; Christin Veltjens, Die akademische Gerichtsbarkeit der Universität Jena. Rechtsinstitution, Rechtsnorm und Rechtspraxis unter besonderer Berücksichtigung der Visitation von 1766/1767, in: Zeitschrift für Thüringische Geschichte 64 (2010), S. 181–214. Sophie Cassagnes-Brouquet, La violence des étudiants à Toulouse à la fin du XVe et au XVIe siècle (1460–1610), in: Annales du Midi 94 (1982), S. 245–262; Dies., La violence des étudiants au Moyen Âge, Rennes 2012; Kim Siebenhüner, „Zechen, Zücken, Lärmen“. Studenten vor dem Freiburger Universitätsgericht 1561–1577, Freiburg 1999; Lars Geschwind, Stökiga studenter.

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Juden.33 Dass die reichhaltigen Quellen studentischer Devianz auch zu Thesenbildungen anregen können, die den Bereich der Hochschulen übergreifen, zeigt etwa Holger Zaunstöcks Studie zur ‚Emergenz der Denunziation‘ im akademischen Milieu des 18. Jahrhunderts.34 Die kulturgeschichtliche Perspektive auf Alltag, Wahrnehmung und Selbstdeutung der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Studenten hat auch zur Heranziehung bislang für diese Zwecke kaum genutzter Quellenbestände beigetragen, wie etwa der Vatikanischen Register oder von Nachlassinventaren.35 Auch von der älteren Culturgeschichte bereits gekannte und genutzte Quellentypen wie Stammbücher wurden mit neuen ikonographischen oder mentalitätsgeschichtlichen Methoden ausgewertet.36

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Social kontroll och identifikation vid universiteten i Uppsala, Dorpat och Åbo under 1600talet, Uppsala 2001; Barbara Krug-Richter, Von Messern, Mänteln und Männlichkeit. Aspekte studentischer Konfliktkultur im frühneuzeitlichen Freiburg im Breisgau, in: Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit 4 (2004), S. 26–52; Alexandra Shepard, Litigation and locality: the Cambridge university courts, 1560–1640, in: Urban History 31 (2004), S. 5–28; Marian Füssel, Devianz als Norm? Studentische Gewalt und akademische Freiheit in Köln im 17. und 18. Jahrhundert, in: Westfälische Forschungen 54 (2004), S. 145–166; Tina Braun und Elke Liermannn, Feinde, Freunde, Zechkumpane. Freiburger Studentenkultur in der Frühen Neuzeit, Münster u. a. 2007. Ruth Mazzo Karras, Sharing Wine, Women and Song. Masculine Identity Formation in the Medieval European Universities, in: Becoming Male in the Middle Ages, hg. von Jeffrey Jerome Cohen und Bonnie Wheeler, New York/London 1997, S. 187–202; Andrea von Hülsen-Esch, Frauen an der Universität? Überlegungen anläßlich einer Gegenüberstellung von mittelalterlichen Bildzeugnissen und Texten, in: Zeitschrift für historische Forschung 24 (1997), S. 315–346; Rainer C. Schwinges, Zugang für alle? Jüdische Studenten und die mittelalterliche Universität, in: Juden in ihrer Umwelt. Akkulturation des Judentums in Antike und Mittelalter. Eine Publikation der Interfakultären Forschungsstelle Judaistik an der Universität Bern, hg. von Matthias Konradt und Rainer C. Schwinges, Basel 2009, S. 229–253; für die Frühe Neuzeit Monika Richarz, Der Eintritt der Juden in die akademischen Berufe. Jüdische Studenten und Akademiker in Deutschland 1678–1848, Tübingen 1974. Holger Zaunstöck, Das Milieu des Verdachts. Akademische Freiheit, Politikgestaltung und die Emergenz der Denunziation in Universitätsstädten des 18. Jahrhunderts, Berlin 2010. Ludwig Schmugge, Über die Pönitentiarie zur Universität, in: Personen der Geschichte – Geschichte der Personen. Studien zur Kreuzzugs-, Sozial- und Bildungsgeschichte, hg. von Christian Hesse, Beat Immenhauser, Oliver Landolt und Barbara Studer, Basel 2003, S. 255–268; Ders., Gelehrte und Studenten in Vatikanischen Registern des 15. Jahrhunderts, in: Andresen und Schwinges, Mobilität (Anm. 27), S. 69–79; Anja Pohl, Studentische Lebensführung im 18. Jahrhundert. Erkenntnisse aus Nachlassakten verstorbener Studenten, in: Universitätsgeschichte als Landesgeschichte. Die Universität Leipzig in ihren territorialgeschichtlichen Bezügen, hg. von Detlef Döring (Beiträge zur Leipziger Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte Reihe A Bd. 4), Leipzig 2007, S. 205–237. Horst Steinhilber, Von der Tugend zur Freiheit. Studentische Mentalitäten an deutschen Universitäten 1740–1800, Hildesheim u. a. 1995; Ulrich Rasche, Cornelius relegatus und die Disziplinierung der deutschen Studenten (16. bis frühes 19. Jahrhundert). Zugleich ein Beitrag zur Ikonologie studentischer Memoria, in: Frühneuzeitliche Universitätskulturen. Kulturhistorische Perspektiven auf die Hochschulen in Europa, hg. von Barbara Krug-Richter und Ruth-E. Mohrmann (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 65), Köln/Weimar/Wien 2009, S. 157–221; Marian Füssel, Deviante Vor-Bilder? Studentische Stammbuchbilder als Repräsentationen standeskultureller Ordnung, in: Bild – Macht – UnOrdnung. Visuelle Repräsentationen zwischen Stabilität und Konflikt, hg. von Anna-Maria Blank, Vera Isaiasz und Nadine Lehmann (Eigene und fremde Welten 24), Frankfurt am Main 2011, S. 135–163.

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Seit den Anfängen sozialhistorischer Studentenforschung sind vor allem die studentischen Lebensformen37 , Rituale und Festkulturen38 , ihr Alltag der Lebenshaltung und die Studienfinanzierung39 immer wieder thematisiert worden. Im Zuge der Französischen Revolution setzte dann eine Politisierung der Studentenschaft ein, die schließlich in der Gründung der Urburschenschaft in Jena gipfelte.40 Das 19. Jahrhundert wurde damit zum Hauptforschungsgebiet der historischen Selbstvergewisserung von sogenannten Studentenhistorikern, deren Forschungsaktivitäten sich bezeichnenderweise auch in eigenen Zeitschriften und Lexika dokumentieren.41 Während das Feld der Studentengeschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Nationalsozialismus einerseits von ideologischen Grabenkämpfen geprägt ist, die zwischen Legitimation und Delegitimation oszillieren, dürfte der allgemeine konzeptionelle Referenzpunkt lange Zeit die sozialhistorische Bürgertumsforschung gewesen sein. Sie erlaubte es, das studentische Verbindungswesen in die größeren historischen Kontexte des bürgerlichen Assoziationswesens, eines zweiten konfessionellen Zeitalters oder der männlichen Habitusformierung des langen 19. Jahrhunderts zu stellen.42 Eine entsprechende Längsschnittanalyse hat 1984 Konrad Jarausch vor37

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Rainer Christoph Schwinges, Sozialgeschichtliche Aspekte spätmittelalterlicher Studentenbursen in Deutschland, in: Schulen und Studium im sozialen Wandel des hohen und späten Mittelalters, hg. von Johannes Fried, Sigmaringen 1986, S. 527–564. Rainer Christoph Schwinges, Mit Mückensenf und Hellschepoff. Fest und Freizeit in der Universität des Mittelalters (14. bis 16. Jahrhundert), in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 6 (2003), S. 11–27; Marian Füssel, Riten der Gewalt. Zur Geschichte der akademischen Deposition und des Pennalismus in der frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für historische Forschung 32/4 (2005), S. 605–648; Matthias Hensel (Hg.), Pennalismus. Ein Phänomen protestantischer Universitäten im 17. Jahrhundert, Leipzig 2014. Rainer Christoph Schwinges, Stiefel, Wams und Studium oder: Wozu hat man einen geistlichen Onkel. Aus Notizen des Kölner Studenten Gerhard von Wieringen aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, in: Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Peter Moraw, hg. von Paul-Joachim Heinig, Sigrid Jahns, Hans-Joachim Schmidt, Rainer Christoph Schwinges und Sabine Wefers, Berlin 2000, S. 543–563; Andreas Gößner, Die Studenten an der Universität Wittenberg. Studien zur Kulturgeschichte des studentischen Alltags und zum Stipendienwesen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, Leipzig 2003; Rainer Christoph Schwinges, Vom Umgang mit der Universitätsgeschichte: Einblicke in die Welt der Studenten und Gelehrten der Vormoderne, in: Freiburger Universitätsblätter 190, 2010 [2011], S. 85–108; Ulrike Denk, Alltag zwischen Studieren und Betteln. Die Kodrei Goldberg, ein studentisches Armenhaus an der Universität Wien in der Frühen Neuzeit, Göttingen u. a. 2013. Axel Kuhn und Jörg Schweigard, Freiheit oder Tod! Die deutsche Studentenbewegung zur Zeit der Französischen Revolution, Köln/Weimar/Wien 2005; Helmut Asmus (Hg.), Studentische Burschenschaften und bürgerliche Umwälzung. Zum 175. Jahrestag des Wartburgfestes, Berlin 1992. Robert Paschke, Studentenhistorisches Lexikon (GDS-Archiv für Hochschul- und Studentengeschichte, Beiheft 9), Köln 1999; Friedhelm Golücke, Verfasserlexikon zur Studentenund Universitätsgeschichte. Ein bio-bibliographisches Verzeichnis, Köln 2004; Karsten Bahnson u. a. (Hg.), Student und Hochschule im 19. Jahrhundert, Göttingen 1975. Christopher Dowe, Auch Bildungsbürger. Katholische Studierende und Akademiker im Kaiserreich, Göttingen 2006; Renate Müller, Ideal und Leidenschaft. Sexuelle Sozialisation der akademischen Jugend im Biedermeier, Berlin u. a. 1999; Norbert Elias, Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1989; Olaf Blaschke, Das 19. Jahrhundert: Ein Zweites Konfessionelles Zeitalter? in: Geschichte und Gesellschaft 26 (2000), S. 38–75.

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gelegt.43 Quantifizierende Zugänge sind dabei ebenso ertragreich angewandt worden wie für die vormoderne Universität. Im Gegensatz zu manchen vormodernen Frequenzkrisen kehrt spätestens seit dem 18. Jahrhundert jedoch auch immer wieder die Diagnose einer Überfüllung der Universitäten wieder.44 Insbesondere das Duell- und Mensurwesen hat die Forschung kontinuierlich beschäftigt und ist damit gleichsam zu einer Art Symbol für die deutsche Studentenkultur des langen 19. Jahrhunderts geworden.45 Innovative Fragestellungen gingen in jüngerer Zeit einerseits von der Anwendung geschlechtergeschichtlicher Ansätze aus (insbesondere einer boomenden Männlichkeitsforschung), andererseits von der historisch-anthropologischen Perspektivierung scheinbar randständiger Phänomene wie jüdischer Studentenverbindungen.46 So konnte Miriam Rürup in einer wichtigen Studie zeigen, wie das Verbindungswesen gerade für die auf Assimilation setzenden Männer jüdischen Glaubens ebenso zur „Ehrensache“ werden konnte wie für ihre christlichen Kommilitonen.47 Ein Bias der Forschung zum 19. und frühen 20. Jahrhundert besteht allerdings, ganz in struktureller Analogie zur Devianzbegeisterung der Frühneuzeitler, in einer zu weit gehenden Konzentration auf die Mitglieder studentischer Assoziationen.48 Doch auch in der wilhelminischen Gesellschaft war nur ein Teil der Studentenschaft in dieser Form organisiert.49 Der 43 44 45

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Konrad H. Jarausch, Deutsche Studenten. 1800–1970, Frankfurt am Main 1984; vgl. auch Ders., Students, Society and Politics in Imperial Germany, Princeton 1982. Hartmut Titze, Der Akademikerzyklus. Historische Untersuchungen über die Wiederkehr von Überfüllung und Mangel in akademischen Karrieren, Göttingen 1990. Barbara Krug-Richter, „Ein stund ernennen und im ein schlacht lieffern.“ Anmerkungen zum Duell in der studentischen Kultur, in: Ulrike Ludwig, Barbara Krug-Richter und Gerd Schwerhoff (Hg.), Das Duell. Ehrenkämpfe vom Mittelalter bis zur Moderne, Konstanz 2012 (Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven 23), S. 275–288; Ute Frevert, Ehrenmänner. Das Duel1 in der bürgerlichen Gesellschaft, München 1991; Martin Biastoch, Duell und Mensur im Kaiserreich. Am Beispiel der Tübinger Corps Franconia, Rhenania, Suevia und Borussia zwischen 1871 und 1895, Schernfeld 1995; Lisa Fetheringill Zwicker, Dueling students. Conflict, masculinity, and politics in German universities, 1890–1914, Ann Arbor/MI 2011. Paul R. Deslandes, Oxbridge men. British masculinity and the undergraduate experience, 1850–1920, Bloomington/IN u. a. 2005; Rebecca Friedman, Masculinity, autocracy, and the Russian university, 1804–1863, Basingstoke u. a. 2005; Sonja Levsen, Elite, Männlichkeit und Krieg. Tübinger und Cambridger Studenten 1900–1929, Göttingen 2006; Carol Dyhouse, Students. A gendered history, Abingdon 2006. Miriam Rürup, Ehrensache. Jüdische Studentenverbindungen an deutschen Universitäten 1886–1937, Göttingen 2008; siehe auch Keith H. Pickus, Constructing modern identities. Jewish university students in Germany 1815–1914, Detroit 1999; zu den amerikanischen Fraternities vgl. Marianne Rachel Sanua, Going Greek. Jewish college fraternities in the United States, 1895–1945, Detroit/MI 2003. Dietrich Heither u. a. (Hg.), Blut und Paukboden. Eine Geschichte der Burschenschaften, Frankfurt am Main 1997; Harm-Hinrich Brandt und Matthias Stickler (Hg.), „Der Burschen Herrlichkeit“. Geschichte und Gegenwart des studentischen Korporationswesens, Würzburg 1998; Alexandra Kurth, Männer – Bünde – Rituale. Studentenverbindungen seit 1800, Frankfurt am Main u. a. 2004; Marc Zirlewagen, Bibliographie zur Geschichte der Vereine Deutscher Studenten, Bad Frankenhausen 2011. Silke Möller, Zwischen Wissenschaft und „Burschenherrlichkeit“. Studentische Sozialisation im deutschen Kaiserreich 1871–1914 (Pallas Athene 4), Stuttgart 2001; Dies., „Bier, Unfug und Duelle“? Corpsstudentische Erziehung im deutschen Kaiserreich 1871–1914, München 2004.

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große Anteil der ungebundenen Studenten gerät so aus dem Blick oder wird in biographischen Einzelstudien thematisiert, selten aber als Teil einer allgemeinen Studentengeschichte. Auch ein transnationaler Blick eröffnet ganz anders gestaltete Perspektiven auf die ‚Geburt des modernen Studenten‘, wie sie etwa von Pierre Moulinier für Frankreich entworfen wurde.50 Einen wichtigen transnationalen Vergleichsfall für die Zusammenhänge von Ritual und homosozialer Vergemeinschaftung bilden die Fraternities und Sororities in den USA.51 Etwas geändert hat sich die für die deutsche Forschung charakteristische Engführung auf das Verbindungsmilieu inzwischen auch durch die seit Ende der 1980er Jahre intensivierte Erforschung des Frauenstudiums.52 Auch hier ebnete die Behandlung einzelner Lebensläufe den Weg, führte aber inzwischen auch zu kollektivbiographischen Synthesen.53 Sprach- und medienhistorische Forschungen haben ferner gezeigt, wie die Studentenkultur sich einerseits durch eine eigene Terminologie von ihrer sozialen Umwelt abgrenzte, sich aber seit dem 19. Jahrhundert über eine eigene Publizistik auch gesamtgesellschaftlich wahrnehmbar artikulierte.54 Insbesondere die deutsche Studentengeschichte der Zwischenkriegszeit hat bereits seit längerem besondere Aufmerksamkeit in der Forschung gefunden und gilt daher als gut erforscht.55 Im Mittelpunkt stand dabei die Frage nach der Rolle der Studenten oder genauer: nach ihrem geistigen und politischen Anteil am überraschenden 50 51

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Pierre Moulinier, La naissance de l’étudiant moderne (XIXe siècle), Paris 2002. Thomas A. Leemon, The rites of passage in a student culture. A study of the dynamics of transition, New York 1972, Nicholas L. Syrett, The company he keeps. A history of white college fraternities, Chapel Hill, NC 2009. Anne Schlüter (Hg.), Pionierinnen, Feministinnen, Karrierefrauen? Zur Geschichte des Frauenstudiums in Deutschland, Pfaffenweiler 1992; Claudia Huerkamp, Bildungsbürgerinnen. Frauen im Studium und in akademischen Berufen 1900–1945, Göttingen 1996; Johanna Bleker (Hg.), Der Eintritt der Frauen in die Gelehrtenrepublik. Zur Geschlechterfrage im akademischen Selbstverständnis und in der wissenschaftlichen Praxis am Anfang des 20. Jahrhunderts, Husum 1998; Eva Schöck-Quinteros und Elisabeth Dickmann (Hg.), Barrieren und Karrieren. Die Anfänge des Frauenstudiums in Deutschland, Berlin 2000; Michael Grüttner, Zwischen Numerus clausus und Dienstverpflichtung. Studentinnen im Nationalsozialismus, in: Die BDM-Generation. Weibliche Jugendliche in Deutschland und Österreich im Nationalsozialismus, hg. von Dagmar Reese, Berlin 2007, S. 321–341; Luise Hirsch, Vom Schtetl in den Hörsaal: Jüdische Frauen und Kulturtransfer, Berlin 2010. Lilja Schopka-Brasch, „Ich wollte keine Hausfrau sein, ich wollte Ärztin sein!“ Studentinnen in Hamburg und Oslo zwischen den Weltkriegen, Berlin 2012; Sandra L. Singer, Adventures abroad. North American women at German-speaking universities 1868–1915, Westport/CT u. a. 2003; Marianne Koerner, Auf fremdem Terrain. Studien- und Alltagserfahrungen von Studentinnen 1900 bis 1918, Bonn 1997. Hans Bohrmann, Strukturwandel der deutschen Studentenpresse. Studentenpolitik und Studentenzeitschriften 1848–1974, München 1975; Helmut Henne und Georg Objartel (Hg.), Bibliothek zur historischen deutschen Studenten- und Schülersprache, 6 Bde., Berlin u. a. 1984. Jürgen Schwarz, Studenten in der Weimarer Republik. Die deutsche Studentenschaft in der Zeit von 1918–1923 und ihre Stellung zur Politik, Berlin 1971; Anselm Faust, Der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund. Studenten und Nationalsozialismus in der Weimarer Republik, 2 Bde., Düsseldorf 1973; Michael H. Kater, Studentenschaft und Rechtsradikalismus in Deutschland 1918–1933. Eine sozialgeschichtliche Studie zur Bildungskrise in der Weimarer Republik, Hamburg 1975; Wolfgang Kreutzberger, Studenten und Politik. 1918–1933. Der Fall Freiburg

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Erfolg des Nationalsozialismus in Deutschland – war doch die nationalsozialistische Machtübernahme in der deutschen Studentenschaft auf dem Grazer Studententag 1931 schon anderthalb Jahre vor der politischen Machtergreifung der NSDAP erfolgt. Der Forschung zufolge stand die größtenteils aus der Mittelschicht stammende Studentenschaft der Weimarer Republik mehrheitlich ablehnend gegenüber und gehörte zu jenen Teilen der deutschen Gesellschaft, die sich vom Ideengut und von den Organisationen des Nationalsozialismus verhältnismäßig früh und in besonderer Weise angezogen fühlten. So gehörten die Studenten seit dem Kaiserreich zu den entschiedensten Anhängern des Antisemitismus56 und bildeten einen signifikant hohen Anteil unter den Mitgliedern der NSDAP.57 Als Vorreiter des Nationalsozialismus erlangte der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund (NSDStB) in rasantem Tempo die Meinungsführerschaft. Ein weiteres Forschungsfeld in Bezug auf die Zwischenkriegszeit bildet die studentische Selbstorganisation, insbesondere zu „verfasster Studentenschaft“, Studentenwerk und studentischer Selbstverwaltung.58 Im Gegensatz zur Studentenschaft in der Weimarer Republik hat die Geschichte der Studenten im Nationalsozialismus bis in die 1980er Jahre nur sporadisch Beachtung gefunden, und beschränkte sich auch danach, vor allem bedingt durch die Quellenlage, auf lokalhistorische Untersuchungen etwa zu Erlangen, Würzburg, Heidelberg, Hamburg, Sachsen und Berlin.59 Weitere Lokalstudien dürften indes wenig Neues erbringen, da größere Aktenbestände des NSDStB und der Studentenführung nur von zwei Universitäten (Würzburg, Hamburg) erhalten geblieben sind. Die bislang ausgewogenste und daher maßgebliche Gesamtdarstellung, die in erster Linie die Ergebnisse der bisherigen Forschung über die Studentengeschichte im Dritten

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im Breisgau, Göttingen 1972. Als Vergleich zu Lateinamerika vgl. Juan Carlos Portantiero, Estudiantes y política en América Latina. El proceso de la reforma universitaria (1918–1938), México 1978. Norbert Kampe, Studenten und „Judenfrage“ im Kaiserreich, Göttingen 1988; Thomas Schindler, Studentischer Antisemitismus und jüdische Studentenverbindungen 1880–1933, Jever 1988; Heike Ströle-Bühler, Studentischer Antisemitismus in der Weimarer Republik. Eine Analyse der Burschenschaftlichen Blätter 1918 bis 1933, Frankfurt am Main 1991. Michael H. Kater, The Nazi Party, Cambridge/MA 1983, S. 27 f., S. 44, S. 67. Vgl. etwa Immanuel Birnbaum, Die Entstehung der studentischen Selbstverwaltung in Deutschland 1918/19, in: Festschrift für Hermann Wandersleb zur Vollendung des 75. Lebensjahres, hg. von Victor-Emanuel Preusker, Bonn 1970, S. 37–48; 1921–2001. 80 Jahre Deutsches Studentenwerk, Bonn/Berlin 2002; Ludwig Gieseke, Die verfaßte Studentenschaft. Ein nicht mehr zeitgemäßes Organisationsmodell von 1920, Baden-Baden 2001; Uwe Rohwedder, Zwischen Selbsthilfe und „politischem Mandat“. Zur Geschichte der verfassten Studentenschaft in Deutschland, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 8 (2005), S. 235–243. Manfred Franze, Die Erlanger Studentenschaft 1918–1945, Würzburg 1972; Peter Spitznagel, Studentenschaft und Nationalsozialismus in Würzburg 1927–1933 (Diss. Würzburg 1974); Norbert Giovannini, Zwischen Republik und Faschismus. Heidelberger Studentinnen und Studenten 1918–1945, Weinheim 1990; Geoffrey J. Giles, Students and National Socialism in Germany, Princeton 1985; Ronald Lambrecht, Studenten in Sachsen 1918–1945. Studien zur studentischen Selbstverwaltung, sozialen und wirtschaftlichen Lage sowie zum politischen Verhalten der sächsischen Studentenschaften in Republik und Diktatur, Leipzig 2011; Michael Grüttner, Die Studentenschaft in Demokratie und Diktatur, in: Geschichte der Universität Unter den Linden. 1810–2010. Bd. 2: Die Berliner Universität zwischen den Weltkriegen. 1918–1945, hg. von Rüdiger vom Bruch, Berlin 2012, S. 187–294.

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Reich zusammenfasst, stammt aus der Feder von Michael Grüttner.60 Danach wurde die nationalsozialistische Machtübernahme an den Hochschulen überwiegend mit großem Enthusiasmus begrüßt, auch wenn die meisten Studenten keine überzeugten Nazis waren. Gleichwohl spielten Studenten eine führende Rolle bei der Gleichschaltung der Universitäten und der Vertreibung von linken und jüdischen Professoren. Auf die zahlreichen Eingriffe und Zwangsmaßnahmen des Regimes reagierten viele Studenten allerdings mit wachsender Enttäuschung. Diese Unzufriedenheit als Fundamentalopposition zu interpretieren oder gar anzunehmen, die Studenten seien zu Hitlers „kompromisslosesten Gegnern“ (Michael Kater) geworden, träfe Grüttner zufolge jedoch nicht zu. Bis zuletzt sei die Mehrzahl von ihnen zwar widerwillig, aber doch loyal gegenüber dem Regime geblieben.61 Die Zeit nach dem 2. Weltkrieg stand in der Studentengeschichtsschreibung stark im Zeichen der Umbrüche in der 1968er Zeit.62 Studentische Protestbewegung, Hochschulreform und Linksradikalismus wurden zu beherrschenden Themen.63 Vergleichsweise weniger erforscht waren hingegen lange die frühen Studienjahre der Bundesrepublik. Obwohl es, wie Konrad Jarausch noch 1984 konstatierte, für die Nachkriegszeit reichhaltiges politisch-sozialwissenschaftliches Material gibt, existierten bis dato noch kaum Ansätze zu einer Studentengeschichte.64 Erst seit den 1990er Jahren begann sich das zu ändern.65 Inzwischen existieren mehrere Arbeiten zu einzelnen Hochschulen,66 während eine Synthese noch aussteht. Je weiter sich der Untersuchungszeitraum der Zeitgeschichte annähert, desto stärker verschwimmen jedoch auch die disziplinären Grenzen zwischen geschichtswissenschaftlicher und sozialwissenschaftlicher Hochschulforschung. So ist die Studentenkultur der Jahre 1968 bis 2013 bereits Gegenstand zahlreicher soziologischer, 60 61 62 63

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Michael Grüttner, Studenten im Dritten Reich, Paderborn u. a. 1995. Vgl. auch Joachim Scholtyseck und Christoph Studt (Hg.), Universitäten und Studenten im Dritten Reich. Bejahung, Anpassung, Widerstand, Münster 2008. Vgl. den Überblick von Uwe Schlicht, Vom Burschenschafter bis zum Sponti. Studentische Opposition gestern und heute, Berlin 1980. Thomas Becker und Ute Schröder, Die Studentenproteste der 60er Jahre. Archivführer – Chronik – Bibliographie. Unter Mitarbeit von Eva Maria Felschow, Detlev Franz, Jürgen Siggemann und Wolfgang Müller, Köln/Weimar/Wien 2000; Ingrid Gilcher-Holtey (Hg.), 1968 - vom Ereignis zum Mythos, Frankfurt am Main 2008; Marion Grob, Das Kleidungsverhalten jugendlicher Protestgruppen in Deutschland im 20. Jahrhundert. Am Beispiel des Wandervogels und der Studentenbewegung, Münster 1985; Gerhard Bauß, Die Studentenbewegung der sechziger Jahre in der Bundesrepublik und Westberlin, Köln 1977; Philip G. Altbach, Student politics in America. A historical analysis, New York/Düsseldorf 1974. Jarausch, Deutsche Studenten (Anm. 43), S. 224 Anm. 1. Waldemar Kronig und Klaus-Dieter Müller (Hg.), Nachkriegssemester. Studium in Kriegs- und Nachkriegszeit, Stuttgart 1990; Rainer Maaß, Die Studentenschaft der Technischen Hochschule Braunschweig in der Nachkriegszeit, Husum 1998. Vgl. etwa Karin Kleinen, Ringen um Demokratie. Studieren in der Nachkriegszeit. Die akademische Jugend Kölns (1945–1950), Köln u. a. 2005; Christian Schmidtmann, Katholische Studierende 1945–1973. Eine Studie zur Kultur- und Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Paderborn u. a. 2006; Boris Spix, Abschied vom Elfenbeinturm? Politisches Verhalten Studierender 1957–1967. Berlin und Nordrhein-Westfalen im Vergleich, Essen 2008; Christian George, Studieren in Ruinen. Die Studenten der Universität Bonn in der Nachkriegszeit (1945–1955), Göttingen u. a. 2010.

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psychologischer und pädagogischer Untersuchungen geworden, die aber methodisch meist anders – häufig quantifizierend – vorgehen und wesentlich enger an aktuelle hochschulpolitische und hochschulreformerische Fragen gekoppelt sind.67 Von besonderem Einfluss waren dabei Arbeiten von Pierre Bourdieu und seinen Schülern über die ungleichen Bildungschancen von Studenten aufgrund von in unterschiedlichem Maß ererbten ‚kulturellem Kapital‘.68 Kulturwissenschaftliche und historisch-anthropologische Fragestellungen kommen hier noch vergleichsweise seltener als in der Erforschung vormoderner Studentenkulturen zur Anwendung. Zweifellos ließe sich jedoch die lange Geschichte studentischer Wohn- und Speisegemeinschaften oder von Initiationsritualen bis in das Zeitalter der Mensa, WG und der Erstsemester-Orientierungsphasen fortschreiben. Insbesondere die Geschichte des Lehrens und Lernens könnte enorm von praxistheoretischen Ansätzen der neueren Wissenschaftsgeschichte profitieren und nach dem Einfluss von Technisierung auf das Studium ebenso fragen wie nach Praktiken des wissenschaftlichen Lesens und des Schreibens von Hausarbeiten69 , des Buchbesitzes oder der Geschichte studentischer Hilfskräfte.

3. PERSPEKTIVEN Spätestens mit der Geschichte der Politisierung wird klar, dass die Beschäftigung mit der Geschichte der Studenten keine marginale Subdisziplin der innerakademischen Traditionspflege ist, sondern auch großes Erkenntnispotential für die allgemeine Geschichte einer jeweiligen historischen Gesellschaft bereithält. Es wäre jedoch ein Fehler damit die Bedeutung vormoderner Studentenkulturen gering zu schätzen und zugunsten der neuesten Geschichte abzuwerten. Dieser Aspekt wird in der Universitätsgeschichtsschreibung meist auch deshalb unterschätzt, da es den Anschein hat, als ob die Universitätshistoriographie nur die ohnehin schon vorhandenen theoretischen und methodischen Trends der Geschichtswissenschaft anwende und reproduziere.70 Gerade die quantifizierende Erforschung vormoderner Immatrikulationsfrequenzen und sozialer Profile der Studenten hat eindrucksvoll gezeigt, dass dies nicht der Fall ist und die Universitätsgeschichtsschreibung selbst zum methodischen Referenzpunkt werden kann. Trotz aller Begeisterung für die Erforschung akademischer Mobilität leiden die Perspektiven der Studentengeschichte immer noch an einer sehr nationalen Engführung und das auch jenseits des latenten Nationalismus mancher Verbindungshistoriker. Schon die Existenz von Universitäten außerhalb Europas seit der Frühen 67

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Gunter Schmidt (Hg.), Kinder der sexuellen Revolution. Kontinuität und Wandel studentischer Sexualität 1966–1996. Eine empirische Untersuchung, Gießen 2000; Robert Gramsch und Tobias Kaiser (Hg.), Engagement und Ernüchterung Jenaer Studenten 1988 bis 1995. Unter Mitarb. von Hans-Peter Schmit. Mit einem Vorw. von Lutz Niethammer, Jena 2009. Pierre Bourdieu und Jean-Claude Passeron, Die Erben. Studenten, Bildung und Kultur, Konstanz 2007. Thorsten Pohl, Die studentische Hausarbeit. Rekonstruktion ihrer ideen- und institutionsgeschichtlichen Entstehung (Wissenschaftskommunikation 4), Heidelberg 2009. Vgl. Marian Füssel, Wie schreibt man Universitätsgeschichte?, in: NTM Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 22/4 (2014), S. 287–293.

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Neuzeit wird meist kaum wahrgenommen, geschweige denn die Geschichte ihrer Studentenkulturen.71 Eine transnational vergleichende Studentengeschichte ist jedoch sowohl für historisch-anthropologisch orientierte Fragestellungen ertragreich als auch für die Historisierung der Eigenheiten mitteleuropäischer Studentenkulturen. Den Fokus auf studentische Praktiken zu legen, ermöglicht es, Kontinuität und Wandel, Mechanismen der Reproduktion und die Emergenz des Neuen zusammen zu denken und analytisch fassbar zu machen. Die Kontinuität etwa von Praktiken devianten Verhaltens bedeutet nicht, dass es sich um kulturelle Konstanten handelt, sondern, dass diese sich im Akt der Wiederholung auch ständig verändern. Ähnliches gilt etwa für die Reproduktionsmechanismen sozialer Ungleichheit von der mittelalterlichen Universität bis zu der des 21. Jahrhunderts. Die konkreten Ungleichheitsrelationen unterlagen permanentem Wandel, sind aber gleichwohl strukturbildend und erstaunlich persistent. Eine der großen Herausforderungen dürfte in der Historisierung der weniger spektakulären, braven Studenten liegen und damit eng verbunden der akademischen Praktiken des Wissens. Die eigentliche Kernaufgabe eines Studenten, der Erwerb und die Zertifizierung von Wissen, treten immer wieder zurück gegenüber der Erforschung des Lebensstils, des politischen Engagements und all dessen, was Studenten und Studentinnen neben dem Studium tun und taten. Historische Fragen mit langer Dauer, wie etwa die Genese der Wissensgesellschaften, können jedoch kaum ohne eingehendere Würdigung ihrer akademischen Trägerschichten erfolgen.72 Neben den zahlreichen Fallstudien werden in Zukunft allerdings auch wieder verstärkt Räume wie Zeiten übergreifende Synthesen erforderlich sein, die nicht nur den immer unübersichtlicher werdenden Forschungsstand bündeln, sondern auch systematisieren und inzwischen überholte Narrative und Befunde korrigieren.

ABSTRACT This introductory article provides a research survey on the historiography of student cultures. As “culture” we conceive a set of cultural practices. Hence “student culture” is not understood as a fixed entity but rather as a dynamic setting of various practices like learning, reading, and writing as well as travelling, disputing, drinking, rioting, dueling, or protesting. Practices that underlie permanent historical changes and can provide an appropriate analytical tool to historicize past and present student cultures. The historiography on student culture follows the main paths of general historiographical developments. From the early German ‘Cultur- und Sittengeschichte’ (history of customs) the trajectory leads to the quantifying social history in the 1970s 71

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Zu Kanada vgl. exemplarisch Charles Morden Levi, Comings and goings. University students in Canadian society, 1854–1973, Montreal u. a. 2003; zu Japan vgl. Donald Roden, Schooldays in imperial Japan: A study in the culture of a student elite, Berkeley u. a. 1980; Peter N. Stearns, Schools and students in industrial society. Japan and the West, 1870–1940, Boston 1998; zu Südafrika vgl. Mokubung O. Nkomo, Student culture and activism in black South African universities. The roots of resistance, Westport/CT u. a. 1984. Martin Kintzinger und Sita Steckel (Hg.), Akademische Wissenskulturen. Praktiken des Lehrens und Forschens vom Mittelalter bis zur Moderne, Basel 2015.

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and 1980s to the new cultural history and historical anthropology since the 1990s. Surveying the existing research literature, we can identify main focus areas as well as blind spots. A lot of interest was focused on deviant behavior from the beginning of the universities onwards and the growing political engagement of students, especially since the 19th century. The practices of learning and studying in the proper sense remain rather silent in comparison. Future attention should therefore consider both “worlds”, the conformable and the deviant, the everyday routine as well as the exceptional, and open the horizon towards global comparisons of student cultures.

NÜTZLICHE ABSOLVENTEN Motive für die landsmannschaftliche Reservierung von Studentenhäusern und Kollegien in europäischen Universitäten des 13. und 14. Jahrhunderts Wolfgang Eric Wagner

In einem mittlerweile zum Klassiker gewordenen Aufsatz von 1964 hat Astrik L. Gabriel den Motiven der Stifter von mittelalterlichen Universitätskollegien nachgespürt.1 Klassisch ist diese Untersuchung sowohl wegen ihres Ansatzes, der Sozialund Ideengeschichte aufeinander bezieht, als auch aufgrund der dadurch erzielten Ergebnisse. Über den sozialen Hintergrund der Stifter und den politisch-religiösen Kontext, in dem sie jeweils ihre Bestimmungen für die Stiftungsurkunden und Statuten der Kollegien formulierten, versuchte Gabriel, zu ihren psychologischen Haltungen und spirituellen Einstellungen vorzudringen. Dabei konnte er mehrere deutliche Wandlungen in den Beweggründen der Kollegienstifter ausmachen. Während die ersten im 12. Jahrhundert aus purer Nächstenliebe handelten, entwickelten die späteren eine klar festgelegte Strategie der sorgfältigen Auswahl von Studenten für die Kollegien. Die Stifter, so Gabriel, hätten von Scholaren geträumt, aus denen einst Sterne am Himmel der Gelehrsamkeit würden, um so die Ehre Gottes und seiner Kirche zu mehren. Bestand der Zweck der Kollegien im 13. Jahrhundert darin, das Studium der Theologie zu fördern, weil ihre Gründer, entsprechend den Intentionen der Päpste, die Universitäten zu Festungen des Glaubens machen wollten, so habe die furchtbare Lektion, die der französische König Philipp der Schöne und seine Legisten dem Papsttum 1303 erteilten, Stifter dazu bewegt, ihren Reichtum über jene auszugießen, die sich willig zeigten, das Studium des Römischen oder Kanonischen Rechts in Paris aufzunehmen. Auf diese Weise sollte eine verlässliche Klasse von Rechtsgelehrten herangebildet werden, die im Falle eines Konflikts bereit war, die Rechte des Papsttums zu wahren. Das Aufkommen des Humanismus habe die Stifter dann angeregt, neue Fächer wie Mathematik und Sprachen einzuführen. Zudem legten sie fest, dass in den Kollegien nicht nur Disziplin anerzogen, sondern auch Fachliches unterrichtet werden sollte. Nachdem sie den Niedergang der Pariser Studien im Verlauf des 14. Jahrhunderts wahrgenommen hatten, sich aber zugleich an die ruhmreiche Tradition ihrer Jugend erinnerten, hätten die Stifter durch ihre Kollegiengründungen versucht, das alternde Gesicht ihrer Alma Mater aufzupolieren. In Oxford und Cambridge waren zur gleichen Zeit mehrere Stifter 1

Astrik Ladislas Gabriel, Motivation of the Founders of Mediaeval Colleges, in: Beiträge zum Berufsbewußtsein des mittelalterlichen Menschen, hg. von Paul Wilpert, Berlin 1964, S. 61–72; wieder in: Astrik Ladislas Gabriel, Garlandia. Studies in the History of the Medieval University, Notre Dame u. a. 1969, S. 211–223.

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bemüht, den Mangel an Lehrern zu lindern, der auf das Fehlen kompetenter Magister zurückging, die Seuchen oder Kriegen wie dem Hundertjährigen zum Opfer gefallen waren. Die Leiden und Nöte ihrer Zeit hätten sie veranlasst, für Scholaren friedvolle Umgebungen zu schaffen.2 Als eines der bedeutendsten Motive von Kollegienstiftern nach Barmherzigkeit und Nächstenliebe bezeichnet Gabriel deren Liebe zu Heimat, Geburtsort, -diözese oder -pfarrei. Sie hätten ein glühendes Verlangen gehabt, das geistliche und geistige Niveau in ihren Regionen, Städten und Bistümern zu heben. Lokaler Patriotismus sei überaus bedeutsam bei der Planung und Umsetzung ihrer Kollegienstiftungen gewesen.3 An diesem Beweggrund setzt die nachfolgende Betrachtung an, indem sie erneut nach den Motiven von Stiftern dafür fragt, die Plätze in den von ihnen ins Leben gerufenen Studentenhäusern und Kollegien eigenen Landsleuten vorzubehalten. Allein darauf soll im Folgenden das Augenmerk gerichtet werden. Diese Frage trotz der einleuchtenden Antwort von Gabriel noch einmal gesondert aufzuwerfen, erscheint aus drei Gründen gerechtfertigt: Erstens hat Gabriel in seine Untersuchung „nur“ Studentenhäuser und Kollegien in Paris, Oxford und Cambridge einbezogen. Vergleichbare Einrichtungen in Südeuropa (Spanien, Italien) und Ostmitteleuropa (Prag) blieben somit außer Acht. Zweitens sind seit der Publikation von Gabriels Aufsatz zahlreiche weitere Untersuchungen zu Studentenhäusern und Kollegien erschienen, darunter auch Einzelstudien, die ebenfalls auf die Motivationen ihrer Stifter eingehen und nun zum Teil eine differenziertere Sicht auf sie ermöglichen.4 Drittens hat Gabriel Kollegien, die von Kathedralkapiteln wie denen von Uppsala, Linköping oder Skara gegründet wurden, aus seiner Zusammenschau bewusst ausgenommen, da diese Stiftungen aus gemeinschaftlichen Entscheidungen hervorgegangen seien

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Ebd., S. 221. Ebd., S. 211. Vgl. etwa Jean Faury, Les Collèges à Toulouse au XIIIe siècle, in: Les universités du Languedoc au XIIIe siècle, Toulouse 1970, S. 274–293; Alan Balfour Cobban, Medieval English universities. Their Development and Organization, London 1975, S. 135–137; Peter Denley, The Collegiate Movement in Italian Universities in the Late Middle Ages, in: History of Universities 10 (1991), S. 29–91; Alan Balfour Cobban, The role of colleges in the medieval universities of northern Europe, with special reference to England and France, in: Bulletin of the John Rylands Library, Manchester 71 (1989), S. 49–70; Domenico Maffei und Hilde de Ridder-Symoens (Hg.), I Collegi universitari in Europa tra il XIV e il XVIII secolo. Atti del Convegno di Studi della Commissione Internazionale per la Storia delle Univ., Siena/Bologna, 16–19 Maggio 1988, Milano 1991; Tim Gelhar, Stiftungszweck Bildung? Die mittelalterlichen Pariser Universitätskollegien im interkulturellen Vergleich mit der islamischen Madrasa, in: Bildungsmäzenatentum. Privates Handeln – Bürgersinn – kulturelle Kompetenz seit der Frühen Neuzeit, hg. von Johannes Flöter und Christian Ritzi, Köln/Weimar/Wien 2007, S. 39–72; Thierry Kouamé, Rex Fundator. Les interventions royales dans les collèges universitaires de Paris, Oxford et Cambridge (XIVe –XVe siècle), in: Itinéraires du savoir de l’Italie à la Scandinavie (Xe –XVIe siècle). Études offertes à Élisabeth Mornet, Corinne Péneau (dir.), Paris 2009, S. 231–254; Andreas Sohn und Jacques Verger (Hg.), Die universitären Kollegien im Europa des Mittelalters und der Renaissance/Les collèges universitaires en Europe au Moyen Âge et à la Renaissance (Aufbrüche 2), Bochum 2011.

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und als solche weder die Motive noch die Hoffnungen von individuellen Stiftern ohne weiteres erkennen ließen.5 Im Folgenden sollen nacheinander insgesamt elf Studentenhäuser und Kollegien genauer betrachtet werden, die von ihren Gründern für eigene Landsleute reserviert wurden. In Erwartung eines schärferen Kontrastes wurden dabei vor allem solche Kollegien ausgewählt, deren Stifter nicht in dem Königreich beheimatet waren, in dem sie ihre Stiftung errichteten. Mehrere französische Kollegien, die meisten spanischen und alle englischen Kollegien scheiden unter dieser Bedingung aus. Um die Motive der Stifter für ihren landsmannschaftlichen Vorbehalt zu ermitteln, soll jeweils auf drei Aspekte besonders geachtet werden: 1. den Werdegang der Gründer und ihre soziale Position zum Zeitpunkt der Stiftung, 2. die von ihnen bestimmten Zugangskriterien für die Kandidaten und den Ablauf des Aufnahmeverfahrens und 3. die für die Kollegiaten vorgeschriebenen Studienfächer. Der Untersuchungszeitraum beschränkt sich auf das 13. und 14. Jahrhundert, da allein im 14. Jahrhundert in Europa 87 Universitätskollegien gegründet wurden, während für das 13. und 15. Jahrhundert zusammen nur 58 Gründungen gezählt worden sind.6

PARIS Die Stadt Paris war im Mittelalter, wie Hastings Rashdall formuliert hat „the true home of the collegiate system“.7 Allein im 14. Jahrhundert gab es dort 37 Kollegienstiftungen, bis zum Ende des Mittelalters kamen noch 18 weitere hinzu. Zum Vergleich: Am Ende des 15. Jahrhunderts besaßen die englischen Universitäten zusammengenommen 23 weltliche Kollegien, während es allein in Paris deren 40 gab.8

Zustiftung für fünf Magister, die Flämisch sprechen, zur 1257 von Robert de Sorbon gestifteten domus Sorbonnae (1266) Im Oktober 1266 übergab der Archidiakon der Kirche von Tournai in Flandern, Nicolaus, an Robert de Sorbon, Kanoniker in Paris und Provisor für das Haus der armen Magister, die in der Pariser Theologischen Fakultät studierten, 500 Pariser Pfund, um damit fünf dieser armen Magister zu unterstützen. Für die genannte Summe sollte es dem Archidiakon Nicolaus zu Lebzeiten und danach seinem Nachfolger

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Ebd., S. 211. Aus dem gleichen Grund schloss er auch die Kollegienstiftungen religiöser Orden aus seiner Betrachtung aus. Vgl. hierzu jetzt: Andreas Sohn und Jacques Verger (Hg.), Die regulierten Kollegien im Europa des Mittelalters und der Renaissance/Les collèges réguliers en Europe au Moyen Âge et à la Renaissance (Aufbrüche 4), Bochum 2012. Astrik L. Gabriel, The College System in the Fourteenth-Century Universities, Baltimore 1962, S. 82 f.; Cobban, The Medieval Universities (Anm. 4), S. 128. Hastings Rashdall, The Universities of Europe in the Middle Ages, ed. Frederick Maurice Powicke and Albert Brotherstone Emden, 3 vol., Oxford 1936, Bd. 1, S. 498. Rashdall, The Universities of Europe (Anm. 7) Bd. 1, S. 536–539; Gabriel, The College System (Anm. 6), S. 32 f.

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gestattet sein, jährlich fünf Magister mit gutem Leumund und ehrbarem Lebenswandel in das Haus der Theologenmagister einzuquartieren. Sie sollten dort Theologie studieren und mussten eine gute Kenntnis des flämischen Idioms vorweisen können, das als Muttersprache im Bereich seines Archidiakonats bekannt war. Von der für sie angewiesenen Wohltat sollten die fünf Magister versorgt werden wie die übrigen Magister, so dass sie, wenn sie in der göttlichen Wissenschaft ausgebildet und in den guten Sitten der Lebensgemeinschaft unterwiesen waren, als Dozenten an den Orten, zu denen man sie berief, durch Wort und Vorbild gleichermaßen eine Frucht säten, die nicht verginge.9 Über den Stifter, den Archidiakon Nicolaus, ist nichts weiter bekannt.

Collegium Thesaurarii (Collège de Trésorier, 1268) Im November 1268 widmete Wilhelm de Saâne, Thesaurar der Kathedralkirche von Rouen, testamentarisch eine Summe bis zu einer Höhe von 620 Pfund 17 Schillingen und 5 Pfennigen (Turonenses) aus seinen Gütern in der Stadt Rouen und außerhalb, um sie einem frommen Zweck, zum Nutzen der Armen zuzuwenden (ad pios usus et utilitates pauperum).10 Zwei Jahre zuvor hatte er dafür die Genehmigung Papst Clemens’ VII. eingeholt.11 Mit den Einkünften sollte ein Kollegium für je zwölf Scholaren der Theologie und der Artes errichtet werden, die allesamt aus den Archidiakonaten von Grand-Caux und Petit-Caux von deren Archidiakonen auszuwählen waren und, falls dort keine geeigneten Kandidaten gefunden werden konnten, auf jeden Fall aber aus der Erzdiözese Rouen stammen mussten. Die Studenten der Theologie durften allerdings nur einen begrenzten Zeitraum von sechs Jahren diese Fürsorge genießen, dann waren andere, ebenfalls geeignete an ihrer statt zu wählen.12 Als Intentionen für sein Handeln gab Wilhelm in den Statuten für 9

CUP 1, Nr. 413, 460: Cum dilectus noster Nicholaus Tornacensis ecclesie in Flandria archidiaconus quingentas libras parisiens. magistro Roberto de Sorbona canonico Parisiensi, provisori congregationis pauperum magistrorum studentium Parisius in theologica facultate, contulerit ad redditus comparandos pro sustentandis magistris memoratis, nos ipsius benevolentie grata volentes vicissitudine respondere concessimus quod idem archidiaconus, quoad vivet, quinque magistros bone fame vite et conversationis honeste studentes in theologia, qui planam habeant notitiam ydiomatis Flamingi, quod in suo archidiaconatu proprium esse dinoscitur, possit ponere annis singulis in domo dictorum magistrorum, quibus de bonis dictis magistris assignatis provideatur, sicut ceteris providetur magistris et providebitur in futurum, ut iidem magistri in divina scientia eruditi et ex bonorum convictu moribus informati, docentes verbo pariter et exemplo, in locis ad que ipsos vocari contigerit, fructum facere valeant, qui non perit. Vgl. Palémon Glorieux, Aux origines de la Sorbonne, 2. Bde. (Études de Philosophie Médiévale, 53 und 54), Paris 1965/1966, Bd. 2, Nr. 262, 302 f.; und Bd. 1, Nr. 42, 93, 111 u. 319 f. 10 Antoine Louis de Belbeuf, Notice sur le Collége de Trésorier, Paris 1861, S. 35–37 (Anhang A); CUP I, S. 476–478, Nr. 423, hier: S. 477. Vgl. hierzu: Gabriel, Motivation (Anm. 1), S. 66; Jacques Verger, Fonder un collège au XIIIe siècle, in: Sohn/Verger, Die universitären Kollegien (Anm. 4), S. 29–38, hier: S. 30. 11 CUP I, S. 458, Nr. 411 (1266 Oktober 11). 12 Belbeuf, Notice (Anm. 10), S. 35–37 (Anhang A); CUP I, S. 476–478, Nr. 423, hier: S. 477: Volo etiam el ordino quod predicti scolares omnes eligantur, cum opus fuerit, ab archidiaconis

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sein Kollegium 1280 an, dass er nur wirklich arme, gute und wahrhaftige Studenten fördern wolle, von denen die Kirche und das Seelenheil profitieren, und dass er die Theologiestudenten bis zum Erreichen des Doktorgrades bringen wolle.13 Das waren sehr konkret gemeinte Ziele. Wilhelm de Saâne hatte selbst in Paris studiert und dort den Magistergrad in den Artes erworben.14 Als Angehöriger der familia des Erzbischofs von Rouen, Odo Rigaldi, hatte Wilhelm an dessen Seite jedoch mehrfach die Erfahrung gemacht, dass der Säkularklerus der Kirchenprovinz nicht hinreichend gebildet war. Das Visitationsregister des Erzbischofs (Regestrum visitationum) legt von den zahllosen Missständen in seinem Sprengel beredt Zeugnis ab.15 Es beschreibt eine Reihe von Fällen, in denen der Metropolit Kandidaten, die ihm für Pfarrstellen und Kanonikate präsentiert worden waren, hinsichtlich ihrer Lateinkenntnisse und ihrer Fähigkeit zu singen prüfte – mit zum Teil offensichtlich katastrophalen Ergebnissen.16 Zu den Reformbestrebungen des Erzbischofs gehörte daher die Verbreitung von Gelehrsamkeit unter den Klerikern der Normandie. In diese Bemühungen dürfte auch die Stiftung des Collège de Trésorier durch Wilhelm de Saâne einzuordnen sein. Zwar handelte es sich hierbei gewiss um eine erste zweckdienliche Maßnahme, doch konnte die Förderung von 24 Studenten bei der Ausbildung des Klerus einer Kirchenprovinz wie Rouen mit 1 400 Pfarrsprengeln nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein.17

Domus Dacie (1274) Das ‚Haus Dänemarks‘ (domus Dacie, auch: ‚Haus der Dänen‘, Domus Dacorum) wurde 1274 gestiftet, um Scholaren aus dem Königreich Dänemark aufzunehmen.

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duobus Majoris Caleti et Minoris Caleti cathedralis ecclesie Rothomagensis, qui pro tempore fuerint, interveniente si videbitur assensu domini Rothomagensis archiepiscopi, si tunc inveniri dicti archidiaconi non possint, cum electio aut provisio erit fienda de quodam bursario; quodque dicti scolares sint tam de Majori Caleto, quam de Minori, si in istis duobus Caletis sufficientes et idoneos inveniant, vel si non inveniantur in istis duobus Caletis, saltem ex tota diocesi Rothomagensi sint. [. . .] Item volo et ordino, quod si predicti theologi vel aliqui post sex annos theologiam audierint, vel beneficium aliquod sufficiens fuerint assecuti, quod ex tunc alii idonei et suffcientes eligantur per eosdem electores et substituantur eisdem, sub modis et conditionibus antedictis, omni contradictione et affectione carnali cessantibus [. . .]. CUP I, S. 584–586, Nr. 499 (1280 August 18), hier: S. 585: [. . .] intentio nostra est tantum modo veris et puris pauperibus assidue studentibus providere et eos sustentare [. . .] intendimus providere [. . .] bonis et veris scolaribus, per quos possit ecclesie provideri et animarum saluti. [. . .] intentio nostra tantum est eos disponere ad gradum magisterii theologie assequendum. Palémon Glorieux, La faculté des arts et ses maîtres au XIIIe siècle, Paris 1971, Nr. 1165: Erwähnung als solcher zu 1279 Mai 22. Théodore Bonnin et Niccolò de Lagua (Éds.), Regestrum visitationum archiepiscopi Rothomagensis. Journal des visites pastorales d’Eude Rigaud, archevêque de Rouen 1248–1269, Rouen 1852. Vgl. hierzu: Léopold Delisle, Le clergé normand au treizième siècle, d’après le journal des visites pastorales d’Eude Rigaud, archevêque de Rouen (1248–1269), in: Bibliothèque de l’école des chartes 8 (1847), S. 479–499; Adam Jeffrey Davis, The Holy Bureaucrat. Eudes Rigaud and Religious Reform in Thirteenth-century Normandy, Ithaca 2006. Davis, Eudes Rigaud (Anm. 16), S. 109–111. Ebd., S. 111.

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Einige blasse und daher immer wieder zu Spekulationen einladende Angaben zum Vorgang der Gründung und zur Person des Stifters enthält ein Auszug aus einer Erklärung vor Gericht in einem Prozess, der in den 1380er Jahren geführt wurde. Darin bekundet ein Magister Johann de Dacie, Kanoniker von Roskilde, Scholar der Rechte und Prokurator der domus Dacie, dass im Jahr 1275 ein Doktor aus dänischen Landen ein in Paris gelegenes Haus für die Studierenden des Königreichs Dänemark hergeschenkt habe.18 Bereits Anfang des 19. Jahrhunderts wies der dänisch-norwegische Historiker Peter Frederik Suhm auf ein Dokument hin, das genauere Informationen zum Stiftungshergang liefert und auch den Stifter identifiziert.19 Es findet sich als Eintrag im Dombog, einer Sammlung von Schriftstücken des Hans Søffringsen aus dem Jahr 1596 und gibt auf Dänisch den Text eines Vidimus wieder, den der Pariser Offizial am 5. August 1342 von einer Urkunde eines seiner Amtsvorgänger vom 18. September 1284 angefertigt hat.20 Bei der Urkunde von 1284 handelt es sich um die Bestätigung eines Legats zugunsten armer dänischer Scholaren in Paris. Darin heißt es, dass ein Magister Peder Arnfast, Doktor der Heiligen Schrift und Kanoniker aus Roskilde im Königreich Dänemark, in seinem Testament armen Studenten aus Dänemark ein Haus vermacht habe, um sich in Paris aufhalten und sich den Studien widmen zu können.21 Auch wenn die Überlieferung des Textes recht kompliziert erscheint, bietet sie keinen Anlass, an der Identität des Stifters zu zweifeln. Doch über Peter Arnfast ist außer, dass er Kanoniker von Roskilde, Doktor der Theologie und wahrscheinlich adeliger Herkunft war, nichts bekannt, sodass zu seinen Motiven, in Paris ein Kollegium zu stiften, über ein anzunehmendes eigenes Studium in der 18

Diplomatarium Danicum, 4. Rh., Bd. 2, hg. von Herulf Nielsen, Kopenhagen 1987, Nr. 598; Chartularium universitatis Parisiensis, hg. von Heinrich Denifle und Emile Châtelain, Bd. 1, Paris 1889, S. 536, Nr. 464 (13. Juli 1385): Messire Jehan dict que l’an MCCLXXV un docteur du pays de Dace donna un hostel assis à Paris pour les escolliers du royaume de Dace a tiltre, et depuis en lieu dudit hostel les escolliers du royaume de Dace [. . .] Mit ihren Erwägungen zur Person des Stifters in Anm. 1 riefen die beiden verdienstvollen Editoren unnötige Unsicherheit in dieser Frage hervor. 19 Peter Frederik Suhm, Historie af Danmark, T. 10, Kopenhagen 1809, S. 892; ebenso: Ellen Jørgensen, Nordiske Studierejser i Middelalderen. Nordboerne ved Universitetet i Paris fra det 13. Aarhundredes Begyndelse til det 15. Aarhundredes Midte, in: Historisk Tidsskrift, Rh. 5, Bd. 8 (1914/1915), S. 331–382, hier: S. 343 f.; S. 369. Élisabeth Mornet ist es zu verdanken, die Identität des Stifters wieder ins Bewusstsein gehoben zu haben. Vgl. Élisabeth Mornet, Pieté et honneur. Profil des fondateurs des Colleges nordiques à Paris au Moyen Âge, in: Sohn/Verger, Die universitären Kollegien (Anm. 4), S. 59–76, hier: S. 60 f. mit Anm. 16. Zum Dombog von Hans Søffringsen (Kopenhagen, Königliche Bibliothek, Gl. kgl. saml. fol. 1134) s. Emil Gigas, Katalog over det store kongelige Bibliotheks Haandskrifter, verdrørende Norden, saerlig Danmark, Kopenhagen u. a. 1906, Bd. 2, S. 189. 20 Danske magazin, indeholdende bidrag til den danske histories og det danske sprogs oplysning, 4. Rh., Bd. 1, Kopenhagen 1864, S. 302–304; Diplomatarium Danicum, 3. Rh., Bd. 1, hg. von Carl A. Christensen, Kopenhagen 1958, Nr. 244 (5. August 1342), u. ebd., 2. Rh., Bd. 3, hg. von Adam Afzelius, Kopenhagen 1939, S. 113, Nr. 105 (19. September 1284; Übersetzung ins Französische bei Mornet, Pieté et honneur [Anm. 19], S. 69). 21 Ebd.: Tha fordi mester Peder Arnfast, docter y thend hellige schrift och cannick y Roschilde y Danmarckis rige, hves siel gud naade, gaf och skiøtte y sitt testament ett huus y Pariis, paa then engelske gade wdi Øster liggendis, thill fattige studenteres af Danmarck nytte og brug, thend stund de y Pariis studerer og legge wind paa thennum [. . .]

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Seine-Metropole hinaus nichts weiter vermutet werden kann.22 Gleichwohl passen diese wenigen Informationen gut zu dem, was der Chronist und Abt Arnold von Lübeck über die Dänen in Paris in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts sagt. Arnold zufolge waren die Dänen in der wissenschaftlichen Bildung ziemlich vorangekommen, da die Adligen des Landes ihre Söhne, nicht allein um den Klerus zu fördern, sondern auch zur Ausbildung in weltlichen Belangen, nach Paris schickten. Dort seien sie in die wissenschaftliche Bildung und zugleich in die Sprache dieses Landes eingeführt und nicht nur in den Freien Künsten, sondern auch in der Theologie sehr gekräftigt worden. Denn aufgrund der natürlichen Schnelligkeit ihrer Sprache hätten sie sich nicht allein in den dialektischen Beweisführungen als scharfsinnig erwiesen, sondern sich auch in der Behandlung kirchlicher Geschäfte als gute Kenner des kanonischen wie des weltlichen Rechts bewährt.23 Die Gründung des dänischen Studentenhauses war die erste von vier skandinavischen Stiftungen. Drei von ihnen entstanden im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts, eine vierte kam zwischen 1310 und 1320 hinzu. Auf die Stiftung des dänischen Studentenhauses folgten kurz darauf die Gründungen von drei schwedischen Kollegien: die der domus von Uppsala, Skara und Linköping. Sie sollten Scholaren beherbergen, die aus diesen drei Städten und Diözesen stammten. Uppsala war der Sitz des schwedischen Metropoliten, also des Erzbischofs, während Skara und Linköping die Sitze von Suffraganbischöfen waren.

Collegium Upsaliense (1280) 1280 widmete der Erzbischof von Uppsala, Jakob Israëlsson (1278–1281), zur Ehre Gottes, zum Nutzen der Kirche und zur Steigerung seiner Ehren einen „Armenzehnten“ zugunsten von Scholaren aus seiner Diözese, die sich in Paris aufhielten.24 Fünf Jahre später, im August 1285, kaufte der Propst des Kathedralkapitels, magister Andreas, mit ihm von Gott übertragenen Gütern (de bonis sibi a deo collatis) von einem Pariser Bürger ein Haus mit dessen Zubehör,25 das er wenig später den Scholaren aus 22

Vgl. Mornet, Pieté et honneur (Anm. 19), S. 61 f., mit Überlegungen zum Namen und zur Verwandtschaft des Stifters. 23 Arnoldi Chronica Slavorum, hg. von Johann Martin Lappenberg (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores Rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi 14), Hannover 1869 (ND Hannover 1978), S. 78, Buch III,5: Scientia quoque literali non parum profecerunt, quia nobiliores terre filios suos non solum ad clerum promovendum, verum etiam secularibus rebus instituendos Parisius mittunt. Ubi litteratura simul et idiomate lingue terre illius imbuti, non solum in artibus, sed etiam in theologia multu invaluerunt. Siquidem propter naturalem lingue celeritatem non solum in argumentis dialecticis subtiles inveniuntur, sed etiam in negotiis ecclesiaticis tractandis boni decretiste sive legiste comprobantur. 24 Diplomatarium Suecanum (im Folgenden DS), Stockholm 1829 ff., Nr. 699 (25. April 1280): [. . .] quod nos ad Honorem dei, ecclesie profectum et nobis ad cumulum meritorum studentibus parisiis ex parte ecclesie vpsalensis decimas pauperum prouenientes de prouincia Lyundereth, Telgboa skiplagi, Riudboa skiplagi, Acherboa skiplagi et danarøa skiplagi duximus assignandas. Das Diplomatarium Suecanum ist auch online verfügbar . Hier wird nach der gedruckten Ausgabe zitiert. 25 DS (Anm. 24) Nrn. 808 (August 1285) u. 909 (15. März 1286). Die Zitate stammen aus Nr. 1045, s. die folgende Anm.

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der Diözese Uppsala zum Geschenk machte, auf dass sie sich dort ganz dem Erwerb der guten Eigenschaft von Disziplin und Wissen zuwendeten (in predicto studio, acquisicioni bonitatis discipline et sciencie, intendere cupientibus). Die Schenkung wird in einem Dokument von 1291 erwähnt, mit dem der zum Erzbischof gewählte Johan im Einvernehmen mit dem Kathedralkapitel die Statuten des Hauses promulgierte, in dem zwölf Scholaren und ihr Prokurator zusammenleben sollten.26 Ob bei der Stiftung individuelle oder kollektive, ja familiäre Beweggründe im Vordergrund standen, lässt sich aufgrund der Überlieferung nur vermuten. Erzbischof Jakob Israëlsson, von dem der erste Stiftungsimpuls ausging, war der Onkel mütterlicherseits des Propstes Andreas, der das Haus in Paris kaufte.27 Dieser Magister Andreas And hat wahrscheinlich in Paris studiert. Welche Fächer er studierte und ob er tatsächlich einen akademischen Grad erwarb, ist allerdings unklar. Von 1278 bis zu seinem Tod 1317 hatte er mit einer Unterbrechung 1299–1303 die höchste Prälatur im Kathedralkapitel inne und war damit der ranghöchste Geistliche der Erzdiözese nach dem Erzbischof.

Collegium Scarense (1292) Am 10. September 1292 kaufte ein schwedischer Scholar namens Hemfast (Emphastus), Kanoniker von Växjö, einen Besitz in Paris.28 Bis um das Jahr 1310 hat sich Hemfast anscheinend in Paris aufgehalten.29 Nach dem Kauf des Hauses war er um die Sicherung und das Fortkommen seiner Stiftung sehr bemüht; er kaufte Renten und ließ die Gebäude instand halten.30 In wie weit er an der Abfassung der Statuten des Kollegiums beteiligt war, ist offen. Der älteste überlieferte Statutentext stammt aus dem Jahr 1407, enthält aber keine Aufnahmebestimmungen.31 Hemfast stammte ursprünglich aus der Diözese Skara; 1298 war er mit der Kirche in Falköping bepfründet worden, einer der einträglichsten Präbenden des Bistums.32 Wohl von 1311 an war er Kanoniker von Skara.33 In einem Inventar der Präbende Hinsbo, das gelegentlich ihrer Resignation im Jahr 1340 angelegt wurde, wird Hemfast als einer ihrer vormaligen Inhaber, als Kanoniker von Skara und als

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DS (Anm. 24) Nrn. 1044 u. 1045 (23.–28. April 1291). Mornet, Pieté et honneur (Anm. 19), S. 64 (mit detaillierten Nachweisen). CUP 2, Nr. 556; Astrik L. Gabriel, Skara House at the Mediaeval University of Paris. History, Topography and Chartulary with Resumes in French and Swedish, Notre Dame, Ind. 1960, S. 49 u. 134–137, Nr. V. Ebd., S. 67 f. Vgl. hierzu die von Gabriel, Skara House (Anm. 28), edierten Dokumente, S. 138–158, Nrn. VI–XV. Auctarium Chartularii Universitatis Parisiensis, hg. von Heinrich Denifle und Emile Châtelain, Bd. 2, Paris 1937, S. xi–xii; Karl Magnus Hjalmar Michaëlsson, De äldsta statuterna för svenska studenter, in: Göteborgs Högskolas årsskrift 60 (1954), Abh. 7; Gabriel, Skara House (Anm. 28), S. 159–161, Nr. XVI. Ebd. S. 57 f. u. 143–145, Nr. VIII. Ebd., S. 58 u. 152 f., Nr. XII.

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magister bezeichnet.34 Ob das als Beleg für den Erwerb des akademischen Grades gelten darf oder eher eine Reminiszenz an sein Studium darstellt, kann zwar mangels anderer Nachweise nicht endgültig beantwortet werden, mit Blick auf seinen langen Paris-Aufenthalt erscheint jedoch ersteres sehr wahrscheinlich.35 Am 20. April 1320 war er noch am Leben.36 Entweder bereits vor seinem Tod oder danach hat er seine Stiftung dem Domkapitel von Skara übergeben.

Collegium Lincopense (1312/1317) Der erste nachweisbare Impuls zur Stiftung des Kollegiums von Linköping geht auf eine testamentarische Schenkung Thorstens von Öland vom 25. Mai 1312 zurück. Darin vermachte der Landpropst von Öland und Kanoniker von Linköping der Kirche von Linköping alle seine im französischen Königreich gelegenen beweglichen und immobilen Güter zum Gebrauch durch arme Scholaren von der Insel Öland in Paris. Insbesondere sollten Personen daraus Nutzen ziehen, die aus seiner Verwandtschaft stammten, sofern sie auf Öland als würdig und zum Studium geeignet befunden würden. Falls aber solche dort nicht gefunden werden konnten, sollten welche aus anderen Teilen der Diözese gewählt werden. Darüber hinaus überließ er diesen Scholaren in Paris diverse Bücher für das Studium, kanonistische Werke und Bibelparaphrasen.37 Ihr Inhalt lässt auf die bevorzugten Studienfächer schließen, die der Stifter für seine Begünstigten im Auge hatte: Theologie und Kirchenrecht. Eine Notiz der Rückseite des Testaments berichtet indes davon, dass die Stiftung nicht wie geplant zustande kam. Denn die Güter, die zur Unterstützung der armen Studenten in Paris vorgesehen waren, seien durch einen Herrn Philipp eingezogen und durch andere, in Schweden gelegene, ersetzt worden.38 Bei dieser Person handelte es sich um den Kanoniker von Linköping Filip Ragnvaldson, einen der Testamentsvollstrecker.39 Gleichwohl dienten nun diese Güter zur Einrichtung des Kollegiums von Linköping. 1317 kauften schließlich der Archidiakon von Linköping Johannes und die Kanoniker Philipp, Harald und Erlend aus Linköping im Auftrag

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DS (Anm. 24), Nr. 6520 (16. August 1361). Vgl. Mornet, Pieté et honneur (Anm. 19), S. 65. DS (Anm. 24), Nr. 2236 (20. April 1320): S(igillum) Hemphasti sacerdotis. Ebd., Nr. 1851 (25. Mai 1312): Primo ecclesie lincopensi, in qua eligo sepulturam, lego decem marchas puri argenti necnon et omnia bona mea mobilia et immobilia in regno francie sita, deputo eidem ecclesie iure perpetuo possidenda pro vsibus tamen pauperum scolarium de ølandia et precipue eorum, qui de linea mea sunt; siqui ibidem digni et ad studium apti inueniantur, si autem ibi tales non inueniantur, volo quod de aliis partibus lincopensis dyocesis ydonei eligantur. Ad vsus eciam eorumdem scolarium parisiis studencium deputo et assigno libros infra scriptos, videlicet casus bernardi. Hugicionem, Jnnocencium bibliam, hystorias scolasticas et quasdam decretales, quas habet dominus vlpho de malbech. 38 Ebd.: Testamentum domini Thorstani quondam prepositi Ølandensis. qui pro sustentacione pauperum scolarium parisiis studencium legauit bona sua omnia in regno francie acquisita, que tandem per dominum philippum fuerunt distracta et pro eis bona in Rewom prope thyrnewalla reddita. 39 Ebd.; vgl. Mornet, Pieté et honneur (Anm. 19), S. 65.

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des dortigen Bischofs Karl (1307–1338) für 24 Pariser Pfund ein Haus in Paris.40 Der Archidiakon Johan Tyrgilsson und der Kanoniker Filip Ragnvaldson (Puke) stammten aus zwei der einflussreichsten Adelsfamilien Schwedens in dieser Zeit, deren männliche Angehörige die höchsten kirchlichen und hohe weltliche Ämter besetzten. Johan, sein Bruder und sein Neffe hatten selbst in Paris studiert. Erlend und Harald Ulvsson de Värnamo entstammten dem lokalen schwedischen Adel.41

Collège des Lombards (1333) Am 25. Februar 1333 stifteten vier in Paris tätige Italiener gemeinsam zu Ehren der Heiligen und unteilbaren Dreifaltigkeit und der Heiligen Jungfrau Maria sowie zur Vergrößerung und Erhöhung der Kirche und der Heiligen Theologie mehrere Häuser und Stipendien (Bursen) für insgesamt elf arme italienische Scholaren in Paris, die dort die Freien Künste und Theologie studieren sollten.42 Der Hauptstifter war der Bischof von Arras, Andrea Ghini de Malpighi, der einer adligen Florentiner Familie entstammte. Kurze Zeit nach der Stiftung wurde er Bischof von Tournai (1333–1342) und schließlich Kardinal von Santa Susanna.43 Doch bevor er seinen ersten Bischofsstuhl erklomm, hatte Ghini in Paris den Doktortitel für beide Rechte erworben und als Professor Römisches Recht in Orléans gelehrt.44 Als Kaplan Karls IV. und Ratgeber Philipps V. hatte er zudem im Königsdienst gestanden. Neben Ghini beteiligten sich an der Stiftung der Kleriker der königlichen Bogenschützen Franciscus de Hospitali aus Modena, der Kanoniker der Kollegiatkirche von Saint-Marcel vor Paris Manuel de Rolandis aus Piacenza, und der Bürger und Apotheker in Paris Rainer Johannes aus Pistoia. Die vier Stifter versprachen ihren Besitz und ihre Einkünfte, um den Unterhalt des Hauses und die Bezahlung der Stipendien (14 Florentiner Gulden für jeden Studenten) zu sichern. Andreas Ghini stiftete vier Stipendien, Franciscus de Hospitali und Rainer Johannes je drei und Manuel de Rolandis eines. Als Voraussetzung für die Aufnahme verlangten die Stifter von den Scholaren, dass sie italienische Kleriker und von ehelicher Geburt seien. Und falls sie noch 40 41

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Ebd., Nr. 2103 (30. März 1317): Quittung von Dekan und Kapitel der Kirche Saint-Marcel bei Paris. Vgl. hierzu: Herman Schück, Ecclesia Lincopensis. Studier om Linköpingskyrkan under medeltiden och Gustav Vasa, Stockholm 1959, S. 71 f., 224 f., 271–273 u. 492 f.; Gabriel, Skara Hous (Anm. 28), S. 35, u. Mornet, Pieté et honneur (Anm. 19), S. 65 f. Die Stiftungsurkunde zuerst gedruckt bei Michel Félibien et Guy Alexis Lobineau, Histoire de la ville de paris, Vol. 5 (III), Paris 1725, S. 427–431, jetzt bei Rosalia Manno Tolu, Scolari italiani nello studio di Parigi. Il ‚Collège des Lombards‘ dal 14 al 16 secolo ed i suoi ospiti pistoiesi (Quaderni della Rassegna degli Archivi di Stato 57), Roma 1989, S. 125–132. S. hierzu die ausführliche Besprechung von Astrik L. Gabriel, The College of the Lombards in Paris, in: The Catholic Historical Review 78 (1992), S. 74–79. S. auch Rosalia Manno Tolu, La ‚Domus pauperum scolarium Italorum‘ a Parigi nel 1334, in: Archivio storico italiano 146 (1988), S. 49–56. Er starb am 2. Juni 1348. Gabriel, The College of the Lombards (Anm. 42), hier: S. 77 Verweis auf Paul Fournier, Harangues d’apparat des écoles de droit, in: Histoire littéraire de la France 36 (1927), S. 521–531, hier: S. 522.

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keine Kleriker waren, mussten sie versprechen, bis zum nächsten Fest des Heiligen Johannes des Täufers (24. Juni) einen geistlichen Weihegrad anzunehmen. Die vier Stipendienempfänger von Andrea Ghini sollten immer aus der Stadt Florenz stammen, wenn man dort fähige und geeignete finden konnte; falls nicht, sollten sie aus der Diözese Florenz genommen werden, und wenn das nicht gelang, aus dem Distrikt Florenz oder aus anderen Städten der Provinz Toskana oder schließlich aus anderen Provinzen und Teilen Italiens. Wenn aber danach geeignete Kandidaten aus Florenz oder der Diözese oder dem Distrikt auftauchten, hatten die in Ermangelung ihrer zuvor Aufgenommenen ihnen zu weichen.45 Analog dazu sollten die drei Stipendiaten von Franciscus de Hospitali aus der Stadt Modena kommen, aus der Diözese, der Provinz Lombardei und so weiter, die drei Stipendiaten von Rainer Johannes aus der Stadt Pistoia, aus der Diözese, der Provinz Toskana und so weiter und der eine Stipendiat von Manuel de Rolandis aus der Stadt Piacenza, der Diözese, der Provinz Lombardei und so weiter.46 Den 1392 aufgezeichneten Statuten des Kollegiums zufolge mussten die Kandidaten beim Einritt mindestens sechzehn Jahre alt und mit den elementaren Grundlagen von Logik und Grammatik vertraut sein, so dass sie in der Lage waren, unmittelbar zum Studium der Artes und der Theologie überzugehen. Ihnen war auferlegt, innerhalb von vier Jahren das Lizentiat in den Artes zu erlangen, und sie wurden ermutigt, ihr Studium danach an der Theologischen Fakultät fortzusetzen.47

BOLOGNA In seinem Überblickswerk über die mittelalterlichen Kollegien in Europa zählte Astrik L. Gabriel 1961 sechzehn italienische Gründungen vor 1500; eine im 13., zehn im 14. und fünf im 15. Jahrhundert.48 Peter Denley kam in seiner Studie zum italienischen Kollegienwesen im Mittelalter hingegen bereits auf 37, wozu er noch mit mindestens zehn weitere Vorhaben rechnete.49 Die Ursache für die Kollegiengründungen in Bologna umriss Heinrich Suso Denifle 1885 folgendermaßen: 45

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Manno Tolu, Collège des Lombards (Anm. 42), S. 127: Voluerunt etiam et ordinaverunt fundatores praedicti, quod praedictae domus scholares sint et esse debeant clerici de Italia et de legitimo matrimonio nati et quod illi, qui ad praesens clerici non existunt, promittent et facient se insigniri caractere clericali intra festum nativitatis beati Ioannis Baptistae proxime venturum. Item voluerunt et ordinaverunt, quod praedicti quatuor, quibus praedictus reverendus pater dominus Andreas bursas administrabit, sint et recipiantur perpetuis temporibus de civitate Florentiae, si ad hoc inde reperiantur habiles et idonei, alioqui de diocesi et, illis deficientibus, de districtu Fiorentino et, in defectum illorum, aliunde de propinquioribus partibus ad civitatem praedictam de provincia Tusciae et, si de illa provincia non invenirentur ad hoc idonei, poterunt ad tempus recipi de aliis provinciis et partibus Italiae et, si postea supervenirent Fiorentini seu Florentinae diocesis aut districtus ad hoc idonei, illi aliunde in eorum defectum assumpti cederent eis pro numero supervenientium Florentinorum vel diocesis seu districtus; pro quibuscumque autem aliis supervenientibus non cederent iam assumpti. Ebd., S. 127 f. Ebd., S. 132–148, hier: S. 132 f. Gabriel, The College System (Anm. 6), S. 32–34. Denley, The Collegiate Movement (Anm. 4), S. 32.

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Wolfgang Eric Wagner In Bologna begegnen die Collegien lange Zeit hindurch gleichsam als Institute für auswärtige Nationen oder wenigstens Nicht-Bolognesen. Dies lag für dort ganz und gar in der Natur der Sache.50

Aber worin diese „Natur der Sache“ bestand, erklärt Denifle an dieser Stelle nicht näher.

Collegio Avignonese (1257) Am 10. Februar 1257 stiftete der Bischof von Avignon (1240/43–1261) und päpstliche Legat Zoen Tencarari mit seinem Testament für sein Seelenheil das Collegio Avignonese für acht Scholaren aus Avignon.51 Die Kandidaten sollte sein jeweiliger Nachfolger auf dem Bischofsstuhl von Avignon auswählen, und zwar hatten drei davon Kanoniker aus seinem Domkapitel zu sein, zwei Säkularkleriker aus der Stadt Avignon, zwei weitere Säkularkleriker aus Noves, wohin Zoen die bischöfliche Residenz verlegt hatte, und einer aus den anderen Châteaus (castra), die sich im Besitz der bischöflichen Kirche befanden.52 Die angehenden Scholaren hatten gelehrig zu sein und durften noch keine Pfründe besitzen. Jeder von ihnen sollte jährlich 24 Bologneser Pfund aus dem Güterbesitz des verstorbenen Bischofs in der Nähe von

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Heinrich Denifle, Die Entstehung der Universitäten des Mittelalters bis 1400, Berlin 1885, S. 212. Léon-Honoré Labande, Avignon au XIIIe siècle. L’Evêque Zoen Tencarari et les Avignonais, Paris 1908, S. 357–364, hier: S. 357: [. . .] modum facere et perficere procuravit. In primis quidem pro anima sua reliquid eclesie Avinonensi, id est episcopis Avinonensibus, ejus sucessoribus, totum podere ac affare, quod habet in villa, curia et teritorio Sauliceti Bononiensis diocesis sive sit domus sive terra aratoria sive pratum et quidquid aliud ibi habet sive habuerit tempore obitus sui, et totum afare quod habet juxta Savinam [. . .], hoc modo et condiccione, quod episcopus, qui pro tempore fuerit ejus successor in eclesia Avinonensi, eligat tres de canonicis ipsius eclesie et duos clericos secullares de civitate et duos clericos secullares de Castro Novarum et unum de aliis castris eclesie Avinonensis, qui sint dociles et non habeant aliquod heneficium eclesiasticum, quos destinet Bononiam ad studendum, quorum unicuique provideat in viginti quatuor libris bononiensium quolibet anno ex reditibus percipiendis ex dictis poderibus et affaribus pro expensis causa et gratia studiorum, et possit ibi tenere unumquemque eorum quinque annis vel minus, si ei videbitur expedire. Das Dokument nach Abschriften auch bei Mauro Sarti et Mauro Fattorini, De claris archigymnasii Bononiensis professoribus a saeculo XI. usque ad saeculum XIV., Bononiae 2 1888–1896, Tomus II, S. 177–182, hier: S. 177 f.; Mauro Sarti et Mauro Fattorini, De claris archigymnasii Bononiensis professoribus a saeculo XI. usque ad saeculum XIV., Tomus I, Pars II, Bononiae 1772, S. 118–122. Vgl. hierzu: Denifle, Entstehung (Anm. 50), S. 212–214; Rashdall, The Universities of Europe. Bd. 1, S. 198 f.; Gian Paolo Brizzi, I collegi per borsisti e lo Studio bolognese. Caratteri ed evoluzione di un’istituzione educativo-assistenziale fra XIII e XVIII secolo, Bologna, Istituto per la storia dell’Università di Bologna, 1984 (Studi e memorie per la storia dell’Università di Bologna, n. s., IV), S. 11; Denley, Collegiate Movement (Anm. 4), S. 78. Dabei dürfte es sich um das Château von Bédarrides, um Châteauneuf-Calcernier (das spätere Chateauneuf du Pape) und um das Château von Bédéjun oder Beauveset mit ihren Kirchen gehandelt haben. Vgl. Labande, Avignon (Anm. 51), S. 242 u. 2 f., mit Identifizierungen von Orten in der Bestätigung der namentlich aufgezählten Besitzungen für die Kirche Notre-Dame in Avignon unter Bischof Gaufred durch Papst Hadrian IV. vom 24. April 1155.

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Saliceto und in der Diözese Sabina erhalten und insgesamt fünf Jahre studieren. Danach, oder falls einer von ihnen starb, vom Bischof zurückgerufen wurde oder eine Pfründe erlangte, war ein neuer Scholar auszuwählen, aber so, dass Kanoniker auf Kanoniker folgte, ein städtischer Säkularkleriker auf einen städtischen, ein Kleriker aus Noves auf einen anderen von dort und ein Kleriker aus einem der Châteaus auf einen anderen aus ihnen. Falls man aber an den genannten Orten keinen geeigneten und gelehrigen finden konnte, sollte jemand aus der Stadt oder aus dem Bistum Avignon genommen werden. Wenn sich einer oder mehrere der Scholaren als nachlässig erwiesen, sollte der Stiftungsbesitz an die Bologneser Kirche San Michele in Bosco übergehen; das gleiche galt umgekehrt. Falls sich alle Scholaren als nachlässig erwiesen, war der gesamte Stiftungsbesitz zu verkaufen und der Erlös unter die Armen zu verteilen. Ein bestimmtes Studienfach legte Zoen für seine Zöglinge zwar nicht fest, mit Sicherheit wird er aber das Studium der Rechte für sie im Auge gehabt haben. Zoen, um 1200 in Bologna geboren, stammte aus einer eingesessenen, hochangesehenen und vielköpfigen Honoratiorenfamilie. Er hatte in Bologna die Rechte studiert und es dort bis zum Professor des Römischen und des Kirchenrechts gebracht.53 Der Kanonist Johannes de Deo war einer seiner Schüler, wie aus einem von diesem an Zoen gerichteten Brief hervorgeht.54 In der Mitte der 1220er Jahre erlangte Zoen mit Hilfe seiner familiären Verbindungen ein Kanonikat bei San-Pietro in Bologna, 1235 wurde er in einem päpstlichen Schreiben bereits als Bologneser Archipresbyter angeschrieben.55 Im Jahr 1240 wurde er zwar zum Bischof von Avignon gewählt, aber erst im September 1243 geweiht.56 Der testamentarische Wille des Bischofs wurde bis 1306 umgesetzt, als der Kardinallegat Napoleon Orsini über die Stadt Bologna mit einer Bulle den Kirchenbann verhängte und den Universitätslehrern und Scholaren „empfahl“, nach Padua zu gehen.57 Der Guardian der Dominikaner und der Prior der Franziskaner ließen daraufhin die Liegenschaften des Kollegs durch Paulus Tencararius, einen Verwandten des Stifters, verkaufen, der den Erlös zunächst bei ihnen hinterlegte. Später deponierten die Ordensvorsteher ihn bei Kaufleuten.58 1330 auf päpstliches Betreiben zwar wiedereröffnet und auf 30 Scholaren vergrößert, ging das Kollegium jedoch 1436/37 aufgrund abnehmender Erträge aus den Stiftungsgütern und teilwei-

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Ebd., S. 71 f. Sarti/Fattorini, De claris archigymnasii Bononiensis professoribus, T. II, 2 1888–1896 (Anm. 51), S. 171, Nr. XIX (aus dem Liber Judicum des Johannes de Deo. Vgl. auch Norbert Höhl, Art. ,Johannes de Deo, Kanonist (um 1190–1267)‘, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 5, München/Zürich 1991, Sp. 569. Sarti/Fattorini, De claris archigymnasii Bononiensis professoribus, T. II, 2 1888–1896 (Anm. 51), S. 170, Nr. XVII. Labande, Avignon (Anm. 51), S. 83–85. Francesco Cavazza, Le scuole dell’antico studio bolognese, Milano 1896, S. 176; Attila Veronesi, La legazione del Card. Napoleone Orsini in Bologna nel 1306, in: Atti e memorie (Romagna) Ser. 3, Bd. 28 (1909/10), S. 79–133. Sarti/Fattorini, De claris archigymnasii Bononiensis professoribus, 1772 (Anm. 51), S. 122 f. Vgl. Denifle, Entstehung (Anm. 50), S. 213.

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sem Verlust derselben zusammen mit dem 1326 gegründeten Collegium Brescianum im später gestifteten Collegium Gregorianum auf.59

Spanisches Kolleg (Collegio di Spagna) San Clemente (1364) Am 29. September 1364 verfertigte der Kardinal Aegidius Albornoz (auch: Gil Álvarez de Albornoz, 1302–1367) in Ancona ein umfangreiches Testament, mit dem er neben anderem ein Kollegium mit einer dem Heiligen Clemens geweihten Kapelle für 24 spanische Scholaren und zwei Kapläne in Bologna stiftete.60 Zuvor hatte er die Erlaubnis Papst Innozenz’ VI. und die Zustimmung der Stadt Bologna dafür eingeholt. Nach dem Willen des Kardinals sollte das Kollegium an einem schicklichen Ort, unweit der universitären Schulen, bestehend aus einem Garten, Sälen und Zimmern, errichtet werden und sich ‚Spanisches Haus‘ nennen.61 In seiner Jugend, ab etwa 1317, hatte Aegidius in Toulouse Jura studiert und den Doktorgrad im Kirchenrecht erworben. Anschließend war er Mitglied des königlichen Rates von Alfons IX. von Kastilien, ab 1338 als Nachfolger seines eigenen Onkels Erzbischof 59 60

Ebd., S. 252 f. Vgl. hierzu ebd., S. 214 f.; José Beltrán, El Colegio de S. Clemente de Bolonia y los Colegios Mayores de España, in: Anuario Cultural italo-español 1 (1941), S. 17–30; Joaquín de Arteaga y Echagüe, El Cardenal Gil de Albornoz y su Colegio Mayorde los españoles en Bolonia, Madrid 1944; Vicente Beltrán de Heredia, Primeros Estatutos del Colegio de España en Bolonia, in: Hispania Sacra 11 (1958), S187–224 u. 409–426; Berthe M. Marti, The Spanish College at Bologna in the Fourteenth Century. Edition and Translation of its Statutes, with Introduction and Notes, Philadelphia 1966, S. 17–25; Dies., The Funding of the Spanish College a Bologna, in: Medieval and Renaissance studies 3 (1967), S. 70–94; Evelio Verdera y Tuells (éd.), El cardenal Albornoz y el Colegio de España, 6 Bde. (Studia Albornotiana 11–13 u. 35–37), Bolonia 1972–1979; Denley, Collegiate Movement (Anm. 4), S. 37–40 u. 79 f.; Jacques Lafaye, Un colegio mayor extraterritorial y extemporáneo: el de San Clemento de Bolonia, in: Doctores y escolares. II Congreso Internacional de Historia de las Universidades Hispánicas hg. von Pedro Ruiz Torres, (Valencia, 1995), Valéncia 1998, Tl. 1, S. 293–305; Adeline Rucquoi, Les collèges ibériques aux XIVe et XVe siècles, in: Sohn/Verger, Die universitären Kollegien (Anm. 4), S. 133–144. 61 [Juan Ginés Sepúlveda] Joannis Genesii Sepulvedae Cordubensis, Opera, Bd. IV, Matriti 1730, S. 86–96: LIV. De residuo autem bonorum meorum ordino, quod fiat in civitate Bononiensi unum Collegium scholarium in loco decenti, scilicet prope scholas, et construatur decens hospitium cum viridario et aulis et cameris, et construatur ibi capella decens et bona ad honorem beati Clementis martyris, et emantur reditus sufficientes ad provisionem viginti quatuor scholarium, et duorum capellanorum pro illa bursa et vita de qua ordinabo, quam domum seu Collegium volo domum Hispanicam nominari: et praedictum Collegium vel domum instituo universalem heredem in omnibus pecuniis, baxella, libris tam juris canonici, quam civilis, et quarumcumque aliarum facultarum, et omnibus aliis bonis meis, et alias quocumque modo mihi debitis tam per administratores, qui administraverunt pro me, Toletanae et Segoviensis ecclesiarum , et eorum heredes, quam per Regem Castellae, et alios occupatores bonorum meorum patrimonialium, et redituum omnium beneficiorum meorum, quae habeo et obtineo in regnis Castellae et Legionis, quam etiam per procuratores, qui sunt et fuerunt pro me in beneficiis meis regnorum Castellae et Legionis, Franciae, et Portugalliae , et Aragoniae, ac alias universaliter per quoscumque; excepto quod illud, quod debeatur mihi de capello, per exsecutores meos infrascriptos mandetur distribui pauperibus Jesu Christi in civitate Avinione.

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von Toledo und Kanzler von Kastilien. Erfolgreich kämpfte er gegen die Mauren, indem er an der Spitze des erzbischöflichen Aufgebots aktiv an der Schlacht bei Tarifa (1340) und der Einnahme von Algeciras (1344) teilnahm. 1348 erließ er das Stadtrecht von Alcalá, später die Gesetzessammlungen von Toledo und Sevilla. Nach dem Tod Alfons IX. (1350) und der Thronbesteigung Peters I., des Grausamen, setzte sich Aegidius an den päpstlichen Hof in Avignon ab, wo ihn Clemens VI. noch im selben Jahr zum Kardinal-Priester von San Clemente ernannte (daher wohl das Patrozinium der Kapelle des von ihm gestifteten Kollegiums). 1352 zunächst Leiter der Pönitentiarie und 1353 von Innozenz VI. zum päpstlichen Legaten in Italien und Vikar für die Territorien des Kirchenstaates ernannt, reorganisierte er diese in den folgenden Jahren und konnte sie zum Teil wieder unter päpstliche Kontrolle bringen, weshalb man ihn auch als „zweiten Begründer des Kirchenstaates“ bezeichnet. Im Jahr 1355 wurde er zum Kardinal-Bischof von Sabina ernannt. 1357 berief er in Fano ein ‚Parlamentum generale‘ aller Provinzen der Kirche ein und promulgierte ein von ihm verfasstes Gesetzeswerk, das nach ihm ‚Constitutiones Aegidianae‘ benannt wurde und bis 1816 in Kraft blieb.62 In seinen letzten Lebensjahren war der Kardinal offenbar bemüht, neben seinen vielfältigen politischen Verpflichtungen auch Statuten für sein Kollegium zu verfassen. Am 23. August 1367 forderte er unweit von Viterbo auf dem Totenbett, dass die Zusätze seiner Testamentsvollstrecker dazu genauso beachtet werden sollten, als ob sie von seiner eigenen Hand geschrieben worden seien.63 Mit einer Bulle Urbans V. vom 25. September 1369 wurde das Spanische Kolleg offiziell eröffnet. Einige Jahre später verbesserte Papst Gregor XI. die ersten Statuten und gab sie im November 1377 bekannt.64 Das Kollegium sollte nunmehr 30, ausschließlich spanische Scholaren aufnehmen. In den Statuten heißt es hierzu erklärend: Es sei die hauptsächliche Absicht des Kardinals gleich nach dem Heil für seine Seele gewesen, durch die Errichtung eines solchen Studienhauses die Unwissenheit der Spanier zu 62

Vgl. Salvador Claramunt und Gabriella Severino, Art. ,Albornoz, Aegidius‘, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 1, Zürich 1989, Sp. 310 f.; Friedrich Wilhelm Bautz, Art. ,Albornoz, Gil (Ägidius) Alvarez Carillo‘, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Nachschlagewerk mit aktuellen Nachträgen, Bd. 1, Nordhausen 1990, Sp. 90; Salvador Miranda, Art. ‚Alfonso Carrillo de Albornoz‘, in: The Cardinals of the Holy Roman Church, ed. Salvador Miranda, Florida International University Library, Miami 14. 04. 2016, (15. 04. 2016); Juan Ginés de Sepúlveda, Historia de los hechos del Cardenal Albornoz, Bolonia: Imprenta de los herederos de Juan de Roxó, 1612; Hermann Joseph Wurm, Cardinal Albornoz, der zweite Begründer des Kirchenstaates. Ein Lebensbild, Paderborn 1892; Francesco Filippini, Il Cardinale Egidio Albornoz, Bologna 1933; Juan Beneyto Pérez, El Cardenal Albornoz, Canciller de Castilla y Caudillo de Italia, Madrid 1950; Eugenio Duprè Theseider, Art. ‚Albornoz, Egidio de‘, in: Dizionario Biografico degli Italiani, hg. von Alberto M. Ghisalberti, Vol. 2, Rom 1960, S. 45–53; Adalbert Erler, Aegidius Albornoz als Gesetzgeber des Kirchenstaates. Berlin 1970; José Guillermo García-Valdecasas y Andrada Vanderwilde, Biografía de Gil Álvarez de Albornoz, in: Las Artes de la Paz. Ensayos. Homenaje a treinta años de rectorado en el Real Colegio de España en Bolonia (1977–2007), ed. de José Luis Colomer y Jaime Olmedo Ramos, Madrid 2007, S. 469–486; Dies., Art. ‚Albornoz, Gil del‘, in: Diccionario Biográfico Español, Bd. 3, Madrid 2011, Sp. 426–432. 63 Marti, Spanish College (Anm. 60), S. 21; Rucquoi, Les collèges ibériques (Anm. 60), S. 134. 64 Marti, Spanish College (Anm. 60), S. 118–124.

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versorgen, unter denen wegen der Kriegsgefahren und zahlloser anderer Übelstände, die zu seiner Zeit die spanischen Provinzen heimsuchten, die Kenntnis der Wissenschaften und die Anzahl der Gelehrten sehr abgenommen habe. Deshalb habe er gewollt, dass darin nur Spanier wohnen sollten, und dafür in seinem Testament befohlen, dass es ‚Spanisches Haus‘ genannt werde.65 Seinem Willen folgend, legten die Testamentsvollstrecker daher fest, dass in das Kollegium niemand aufgenommen werden solle, der nicht der spanischen Nation angehöre, wobei das Wort „Spanisch“ in einem sehr weiten Gebrauch zu verstehen sei. Es sollte nämlich alle Königreiche von den spanischen Bergen abwärts umfassen und unter den Spaniern solche aus Orten, in denen der Kardinal zum Zeitpunkt seines Todes oder auch früher kirchliche Ämter und Pfründen besessen hatte. Diese Orte werden dann nach der unterstellten Größe der Wohltaten für den Kardinal aufgezählt, zusammen mit den dort von ihm ausgeübten Ämtern, der Anzahl der zu entsendenden Scholaren und der Fächer, die sie zu studieren hatten (s. Tabelle 1).66 Ort St. u. Diöz. Toledo St. u. Diöz. Sevilla St. u. Diöz. Cuenca St. u. Diöz. Compostella St. u. Diöz. Saragossa St. u. Diöz. Avila St. u. Diöz. Salamanca St. u. Diöz. Burgos Leon

Amt u. andere Gründe Eb., zuvor AD AD v. Niebla erste Pfründe, später AD Kanoniker dort erzogen u. viele Pfründen, später AD v. Daroca AD v. Arevallo AD v. Selesma Abt v. Castrojeriz AD v. Valdera u. Pfründen in Palencia, Osma, Siguenza, Lissabon, Oviedo

Cordoba

Anzahl d. Scholaren 4 3 4 1 3

Theol. 1 1 1 – 1

Fächer KR Med. 2 1 1 1 2 1 1 – 1 1

2 2 2 7

1 1 1 –

1 1 1 7

– – – –

1 29

1 8

– 17

– 4

Tabelle 1: Aufteilung der Kollegiatstellen im ‚Spanischen Haus‘ (Abkürzungen: St. u. Diöz. = Stadt und Diözese; Theol. = Theologie; KR = Kirchenrecht; Med. = Medizin; Eb. = Erzbischof; AD = Archidiakon)

Als potentielle Kandidaten wurden demnach in erster Linie Kastilier ins Auge gefasst, dann Aragonesen und schließlich Portugiesen, aber auch Italiener mit Ausnahme solcher aus der Stadt und der Diözese Bologna, unter der Bedingung, dass diese zurückzutreten hatten, sobald sich wieder spanische Bewerber meldeten. Diese Ausnahme begründete man mit der gleichen Verfahrensweise an anderen Universitätsorten wie Paris, Toulouse, Osma und Perugia, wo ebenfalls keiner aus der eigenen Stadt für freie Kollegplätze genommen würde.67 Die Präsentation der Kandidaten für die Aufnahme sollte den Bischöfen und Domkapiteln der genannten Diözesen und

65 66 67

Ebd., S. 132 (3. Statut). Ebd., S. 132–139 (3. Statut). Ebd., S. 139–151 (4. Statut).

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dem Adelshaus Albornoz vorbehalten sein, die endgültige Entscheidung jedoch beim jeweiligen Oberhaupt der Familie verbleiben.68 Von den Kollegiaten hatten acht Theologie zu studieren, achtzehn Kirchenrecht und vier Medizin. Ein Kriterium für die Aufnahme war Bedürftigkeit. Zudem sollten die Kandidaten Bakkalare sein, die in Grammatik und Dialektik gut bewandert waren und Latein beherrschten, sie hatten die Kurse an der Universität von Bologna zu belegen, sollten aber ebenfalls Unterricht in den genannten drei Fächern im Kollegium selbst erhalten. Die Verweildauer der Kanonisten im Kollegium war auf sieben Jahre begrenzt, die Theologie- und Medizinstudenten konnten noch länger bleiben, sofern sie den Doktorgrad erworben hatten.69 Wie aus der Verteilung der Stipendiaten auf die Fächer ersichtlich wird, sollte der fachliche Schwerpunkt der Studienstiftung zwar eindeutig auf dem Studium des Kirchenrechts liegen, doch auch Theologie und Medizin wurden durch Albornoz in Bologna gefördert. Ein Charakteristikum der frühen Universitäten hatte in der Konzentration auf ein Fach bestanden. Pflegte man in Paris vornehmlich Philosophie und Theologie, so in Orléans die Artes und in Salerno und Montpellier die Medizin. Bolognas Lehrer genossen seit dem Beginn im 12. Jahrhundert sowohl im kanonischen als auch im Römischen Recht ein unübertroffenes Ansehen. Ungeachtet ihrer Spezialisierung auf beide Rechte verfügte die Universität Bologna zugleich über eine hervorragende Medizinschule und rühmte sich ihrer Studiengänge in den Artes. Eine theologische Fakultät besaß sie jedoch zunächst nicht. Vor der Stiftung des Spanischen Kollegs durch Albornoz und der gleichzeitigen Einrichtung der Theologischen Fakultät im Jahr 1364 gab es überhaupt nur wenige Generalstudien in Europa, die päpstlicherseits dazu ermächtigt waren, das theologische Doktorat zu verleihen. Erst als der 1347 in Prag gegründeten Universität von vorne herein eine theologische Fakultät zugestanden wurde, war das bis dahin bestehende Monopol der Universitäten Paris und Oxford gebrochen und der Weg zu einer „Dezentralisierung des akademischen Theologiestudiums“ frei.70 Der Kardinal hatte bereits 1360 eine an die Kurie gerichtete Supplik der Universität um eine Theologische Fakultät unterstützt.71 Die Stiftung des Kardinals war also explizit darauf ausgerichtet, Gelehrte in Theologie, kanonischem Recht und Medizin für eine entsprechende Tätigkeit auf der iberischen Halbinsel auszubilden. Bereits vier Jahre nach dem Tod von Albornoz, im Jahr 1371, wurde im Königreich Aragon, in Lérida, das Colegio de la Asunción gegründet, 1381 in Salamanca das Colegio Menor del Pan y el Carbón. Beide Stiftungen richteten ihre Statuten an denen des Spanischen Kollegs in Bologna aus, waren allerdings ausschließlich für arme spanische Scholaren bestimmt.72 68 69 70

Ebd., S. 137 (3. Statut). Ebd., S. 129–133 (2. Statut). Monika Asztalos, Die theologische Fakultät, in: Geschichte der Universität in Europa, hg. von Walter Rüegg, Bd. 1, München 1993, S. 359–385 hier: S. 379. 71 Francesco Ehrle, I più antichi statuti della facoltà teologica dell’Università di Bologna, Bologna 1932. 72 Francisco Martín Hernández, Influencia del Colegio de San Clemente de Bolonia en los Colegios Mayores españoles, in: El cardenal Albornoz y el Colegio de España, hg. von Evelio Verdera y

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PADUA Collegio S. Marco (1393) In seinem Testament vom 3. März 1393, das in Nikosia von dem Notar Manuele de Valente aufgezeichnet wurde, widmete der Admiral des Königreichs Zypern Petrus de Cafrano (Pietro di Garfano) aus seinem Vermögen 5 000 Golddukaten mit einem Ertrag von 200 Golddukaten für den Unterhalt von vier zyprischen Scholaren an der Universität Padua.73 Cafrano war auf Zypern, in Nikosia, geboren. Er entstammte einer der ältesten und vornehmsten lateinischen Familien im östlichen Mittelmeerraum, der Familie Caffran oder Caffra, die seit dem 13. Jahrhundert nachweislich enge Beziehungen zum Königshaus der Lusignan auf Zypern unterhielt. Cafrano selbst war ein professioneller Heerführer und Diplomat in königlichen Diensten, insbesondere in den genuesisch-zyprischen Angelegenheiten und in den Beziehungen zu Venedig. Nach jahrelanger Geiselhaft in Genua zusammen mit dem späteren König Jakob I. von Zypern (1382–1398) gehörte er an dessen Hof zu den einflussreichsten Persönlichkeiten. Auf Zypern gab es keine Universität, weshalb Zyprer, die höhere Bildung suchten, Universitätsstädte auf dem europäischen Festland aufsuchen mussten. Die größte Anziehungskraft für Zyprer, die studieren wollten, besaß in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts die Universität Padua. Doch die Reise nach Padua war aufwändig und kostspielig, so dass sie sich nicht jeder leisten konnte. Unterstützung vom König oder aus anderen zyprischen Herrschaftsstrukturen war nicht zu erwarten. Entweder besorgte man sich die nötigen Geldmittel selbst oder man musste auf die Hilfe eines Mäzens hoffen. Ein solcher Mäzen tauchte am Ende des 13. Jahrhunderts in Gestalt von Petrus de Cafrano auf. Zwar ist der Wortlaut von Cafranos letztwilliger Verfügung nicht vollständig überliefert, doch lässt sich ein Teil davon und so auch ihr Inhalt aus späteren Dokumenten über die Wahl der Stiftungsbegünstigten erschließen, vor allem aus Notariatsinstrumenten.74 Demnach hatte der Admiral durch seinen Prokurator und

Tuells, Bd. II, Bolonia 1972, S. 239–260; Rucquoi, Les collèges ibériques (Anm. 60), S. 135 f. u. 140 f. 73 Vgl. hierzu und zum folgenden Antonio Favaro, Collegii, commissarie, legati, pie fondazioni ed assegni di studio, in: L’Università di Padova, Venezia 1922, S. 177–215, 185 f.; Luigi Gaudenzio, Collegi e case dello studente, Padova 1966; Denley, Collegiate Movement (Anm. 4), S. 84; Pietro del Negro (Hg.), I collegi per studenti dell Universita di Padova. Una storia plurisecolare, Padua 2003; С[ветлана] В[ладимировна] Близнюк, Первый гуманитарный фонд Пьетро ди Кафрано на Кипре (1393–1570) [Svetlana Vladimirovna Bliznyuk, Die erste Bildungsstiftung auf Zypern von Pietro di Cafrano, 1393–1570], in: Mare et litora. Essays presented to Sergei Karpov for his 60th Birthday, ed. by Rustam Shukurov, Moscow 2009, S. 107–138. 74 So in: Archivio di Stato di Venezia, Cancelleria inferiore, Notai, B, S. 123, Doc. 11 (Nicosia, 1446 Mai 20): [. . .] vigore et ex forma cuiusdam particule testamenti et ultime voluntatis prefati quondam domini Petri de Cafrano, admirati predictiscripti et scripte manu Manuelis de Valente, notarii. Anno Domini MCCCLXXXXIII, indictione prima, die tertia Martii, hora [ma]tutinorum visi et vise a me notario infrascripto, cuius quidem particule et ultime voluntatis tenor sequitur et est [talis]: Item dico et protestor, quod habeo et habere debeo in comuni venetiarum in columna

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Testamentsvollstrecker, den venezianischen Patrizier Marco Faliero (Faletro, Faledro), die beachtliche Summe von 5 000 Dukaten mit 3 % Zinsen in venezianischen Gütern anlegen lassen, so dass jährliche Einkünfte von 150 Dukaten zu erwarten waren. Diesen Ertrag sollte der Prokurator wiederum in Gütern anlegen, so dass die Erträge bis zu Cafranos Ableben auf jährlich 200 Dukaten gesteigert würden. Diese 200 Dukaten waren vier Einwohnern Zyperns zugedacht, von denen einer Theologie bis zum Doktorgrad studieren sollte, der zweite Römisches Recht und die beiden anderen die Artes und Medizin. Die Auswahl der Stipendiaten hatte durch eine Kommission aus insgesamt fünf Personen zu geschehen: drei Verwandte des Admirals, den Vikar der Kirche von Nikosia und den Provinzial des Ordens der Heiligen Maria vom Berg Karmel in der Stadt Nikosia. Für die Wahl eines Kandidaten waren mindestens drei ihrer Stimmen nötig. Kriterien für die Auswahl sollten sein: glänzende Klugheit, scharfsinnige Auffassungsgabe, Alteingesessenheit der namhaften und adeligen Eltern, ererbtes und großherziges knabenhaftes Benehmen und Sittsamkeit sowie möglichst viele andere hervorragende und wohlgefällige Tugenden, aus denen sicher abzuleiten sei, dass sich die Kandidaten zu Berühmtheiten entwickeln würden, die sich nicht etwa nur durch Ruhm und Ehrwürdigkeit über die gesamte Menschheit stolz erheben, sondern auch durch ihre versöhnliche Herzenswärme überall begehrt sein sollten.75 Jeder der vier so gekorenen Stipendiaten sollte 50 Dukaten pro Jahr mutuorum ducatorum auri quinque [milia], de quibus michi dantur annuatim pro proventibus dictorum locorum ducati auri centum quinqua[ginta] ad rationem trium p[roc]entinario. Qui quidem proventus per dominum Marcum Faletro, venetum, procuratorem meum, ponebantur et apponi debe[b]ant ac converti ad emptionem aliorum locorum in dicta cambra et sic volo, quod post decessum meum fiat et observetur [quo]usque scilicet in dicta cambra habebuntur de proventibus annuatim ducati auri ducenti. Et tunc et abinde in antea [volo] et mando, quod de illis fiat et fieri debeat isto modo, videlicet quod dicti ducati auri ducenti proventuum predictorum exp[en]dantur et convertantur et expendi etconverti debeant ad regendum et manutenendum quatuor cyprienses in s[tu]dio, quorumquidem unus studeat et studere debeat in iure civili, alius [ve]ro studeat et studere debeat tantum, quod efficiatur magister in sacra pagina, et reliqui duo in artibus et medicina, et eis dentur et assignantur de dicta peccunia dictorum proventuum, videlicet unicuique ipsorum ducati auri quinquaginta. Qui siquidem cyprienses sic studere debentes primo [et ante omn]ia declarentur et eligantur in Cypro per tres ex proximioribus affinibus meis et per vicarium ecclesie [Ni]cosiensis et per provincialem Ordinis domine Sancte Marie de Monte Carmello civitatis Nicosiensis, in qua quidem electione et declaratione concordantibus tribus ex dictis quinque valeat et teneat declaratio et electio ante dicta et non aliter antequam ad studium transmittantur. In quorum quidem missione dicti quinque vel tres vel quatuor unanimes et concordes scribant et scribere debeant predicto domino Marco, procuratori meo, quod de proventibus dictorum locorum meorum det et assignet et dari et assignarifaciat eidem vel eisdem sic declaratis et electis causa studendi ducatos auri quinquaginta pro uno[qu]oque, et alia prout in ipso testamento continentur (zitiert nach Bliznyuk, Bildungsstiftung (Anm. 73), S. 126–128, hier: 127). S. auch Archivio di Stato di Venezia, Cancelleria inferiore, Notai, B, 63 (1474), 195 (1429) u. 231 (1485; ebd., S. 125–133); Fasti Gymnasii Patavini Jacobi Facciolati. Studio atque opera collecti, Padova 1756, Pars 1, S. XXV–XXVI, hier: S. XXVI; Giuseppe Giomo, L’archivio antico della Università di Padova, Padoca 1893, S. 69 f. 75 Archivio di Stato di Venezia, Cancelleria inferiore, Notai, B, S. 231. Doc. (nicht numeriert): [. . .] claritas ingenii, perspicacitas studiorum,assiduitas optimorum ac nobilium parentum, origo magnaque puerilitatis indoles et iudicia ac alie quam plures virtutes claros redunt et ornatos, ex quibus certo presumendum est evadere clariores nedum totis viribus,gloria et dignis laudibus extollendi verum etiam ubique propitiis foveribus sunt amplectendi [. . .]

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erhalten, wovon man zu Zeiten des Stifters ein Jahr leben konnte. Das Geld sollte ihnen sein venezianischer Prokurator Faliero in seinem Namen auszahlen. Nach dessen Tod sollten dies die Prokuratoren der Kirche San Marco in Venedig übernehmen.76 Da die Prokuratoren die Notariatsinstrumente, die mit den auserwählten Stipendiaten nach Venedig kamen, anschließend im dortigen Archiv deponierten, sind sie in Venedig überliefert. Über Cafranos Beweggründe machen diese Dokumente zwar keine direkten Aussagen, lassen aber indirekt Schlussfolgerungen zu. Denn weder dürfte seine Bestimmung von Venezianern zu Prokuratoren und Testamentsvollstreckern noch die Wahl der Universität Padua zufällig geschehen sein.77 Der Admiral war als Bevollmächtigter des Königs von Zypern in den Beziehungen zu Venedig aktiv und umgekehrt handelte Faliero im Auftrag des Dogen auf Zypern. Cafrano und Faliero waren also höchstwahrscheinlich über lange Jahre sehr gut miteinander bekannt. Nach den schweren Auseinandersetzungen mit Genua orientierte sich Zypern zudem im letzten Viertel des 14. Jahrhunderts zunehmend an Venedig, und der wechselseitige politische und kulturelle Austausch nahm an Intensität zu. Das lediglich knapp 40 Kilometer westlich von Venedig gelegene Padua beherbergte neben Bologna eine der attraktivsten Universitäten Europas in dieser Zeit.

PRAG Litauisches Kolleg (Collegium Reginae Hedvigis, 1397) Am 10. November 1397 stiftete die polnische Königin Hedwig (Jadvyga) in Prag ein angekauftes Haus und eine Summe von 2 600 Prager Groschen für ein Kollegium, das zwölf Scholaren aus Litauen aufnehmen sollte.78 Bei diesen Scholaren sollte es sich, wie es in der in die Stiftungsurkunde eingefügten Bestätigung des römischen und böhmischen Königs Wenzel heißt, um Personen handeln, die in Litauen oder anderswo geboren waren. Sie hatten den Auftrag, an der Prager Universität Theologie zu studieren und im Anschluss daran nach Litauen zurückzukehren, um dort und in benachbarten Gebieten den katholischen Glauben zu verbreiten.79 Weitaus 76

Archivio di Stato di Venezia, Cancelleria inferiore, Notai, B, S. 63, Doc. 13 (1474 Februar 10): [. . .] et mortuo dicto domino Marco loco suo ad faciendam solutionem antedictam eligo et esse volo nobiles viros dominos procuratores ecclesie Sancti Marci comunis venetiarum, qui tunc erunt, qui illam facere valeant et debeant eo modo et forma, quibus superius continetur (zitiert nach Bliznyuk, Bildungsstiftung (Anm. 73), S. 128–130, hier: 129). 77 Vgl. zum Folgenden Bliznyuk, Bildungsstiftung (Anm. 73), S. 113 f. 78 Der Text der Stiftungsurkunde wurde zuerst ediert von: Józef Muczkowski, Wiadomo´sc´ o załoz˙ eniu Uniwersytetu Krakowskiego [Nachricht über die Gründung der Universität Krakau], Kraków 1849, S. 66–71. Einen neueren Abdruck, nach dem hier zitiert wird, bietet: Leon Koczy (Éd.), Documents sur les origines de l’Université de Cracovie (966–1966), Dundee u. a. 1967, S. 47–50, Nr. VIII. Für die Überreichung dieses Quellenbandes als Geschenk bedanke ich mich herzlich bei Slawomir Gawlas. 79 Ebd., S. 48, Nr. VIII: Sane pro parte serenissimae principis Hedvigis, reginae Poloniae etc., sororis nostrae carissimae, oblata nuper majestati nostrae petitio continebat, quod cum ipsa

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farbiger stellt die Narratio der Stiftungsurkunde die Intentionen der Königin dar: Seit sie, Hedwig, die höchsten Würden in ihrem Königreich Litauen und dessen angrenzenden Gebieten erstieg, habe sie wahrgenommen, wie sich das Volk, das in der Finsternis höllischer Verderbnis einherging, erst kürzlich von der Blindheit des Heidentums zum Licht, zum wahren Gott, zu erheben begann und durch die Quelle der heiligen Taufe zum größten Teil schon wiedergeboren, an der Einheit der heiligen römischen und der ganzen Kirche festhalte und dieser die gebührende Obödienz erweise, und dass bereits einige Söhne der Litauer und anderer, nachdem sie vom Heiligen Geist benetzt worden waren, dem katholischen Studium, dürstend wie der Hirsch zur Quelle, zugeströmt seien, um das Wissen der Lehrenden überaus wohlgesittet anzunehmen wie vordem die Kinder die Milch und gleichsam glücklich die Verstockten die Brosamen des Gotteswortes, die von der Tafel der edlen und so herrlichen Theologie herabfielen, und den Samen, der von ihr auf der Erde ausgestreut wird, zu begehren. Daher wolle sie, dass diesen Neophyten nicht nur die Klarheit der Wissenschaften und der Tugenden, die zuvor durch Irrtümer verdunkelt war, durch die Strahlen des katholischen Glaubens aufgehellt werde, sondern auch dass durch die Sonne der Gerechtigkeit, Jesus Christus, in sie selbst, so wie in goldene Schilde zurückstrahlend, die Berge des litauischen und anderer Völker in den Werken der Katholiken unauslöschbar erstrahlten, und der Weinstock des Herrn dort von ihnen eingepflanzt werde. Und auf diese Weise könnten ihre Seelen die frommen Werke, die zu tun sie Ihnen mit Hilfe der ihr, Hedwig, von Gott anvertrauten Güter ermöglicht habe und die sie auf der sterblichen Erde aussäten, in der ewigen Seligkeit ernten. Durch derartige Betrachtungen stark bewegt, habe sie überlegt, wie man diese Absicht zum Erfolg führen könne, viele Nächte schlaflos durchwacht, den Gedanken im Herren hin und her gewälzt und dann den Entschluss zur Stiftung des Kollegs gefasst.80 Obwohl die Stifterin bereits 1399 verstarb, trat

ad propagandam in terris et dominis suis ac etiam locis circumvicinis sacrosanctam fidem catholicam certas personas a partibus Lytwaniae vel alibi oriundas eligere, ipsasque ad studium civitatis nostrae Pragensis decreverit destinare sub eo proposito, ut ibidem sacra facultate theologica cognita, et quantum ipsis ab alto concessum fuerit, realiter apprehensa veritatis doctrinam in gentes illarum partium, quae hactenus nec Dominum norunt, nec eius nomen magnidicum invocarunt, debeant fideliter derivare. 80 Ebd., S. 47 f., Nr. VIII: [q]uod considerantes et diligenter dirigentes aciem nostrae mentis, quomodo a tempore, quo, Deo auspice, culmina conscendimus regni nostri, in terris nostris Litnuaniae et aliis convicinantibus eisdem, populus, qui in gehennalis mortis caligine ambulabat, de coecitate perfidiae ad lucem, Deum verum, dudum incepit consurgere atque sacri baptismatis fonte in maxima parte jam renatus sacrosanctae Romanae ac universalis ecclesiae unitatem firmiter teneat, et eidem faciat obedientiam reverentem, jamque nonnulli de Lithuanorum et aliorum inibi filiis sancti Spiritus rore perfusi ad scolasticum studium catholicum, tamquam cervus ad fontes aquarum, sitientes confluunt, et disciplinam docentium eos mansuetissime amplectendo, jam quasi modo geniti infantes lac, et tamquam felix Chananaea micas verbi Dei, quae cadunt de mensa nobilis et opulentissimae theologiae, et in orbe semen ejus seminantium concupiscunt ; unde nos volentes, quantum nobis ab alto conceditur, ut in praedictis neophitis non solum scientiarum et virtutum claritas, quae olim tenebrescebat erroribus, fidei catholicae splendor ibus serenius modo jam diescat; verum etiam sole justitiae, Christo Jesu, in ipsos, velut in clypeos aureos refulgente, montes populi Lithuani et aliorum in operibus catholicis inextinguibiliter resplendeant ab eisdem, vineaque Domini Sabaoth per eos ibi indeficienter

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das Kollegium ins Leben, da die Königin sämtliche Vollmachten für die Einrichtung an einen Beauftragten übergeben hatte.81 Die Litauer waren erst kurz zuvor christianisiert worden. Als das Jahr der endgültigen Christianisierung des Landes gilt 1387.82 1386 hatte sich der litauische Großfürst Jogaila (Jagiello) auf den Namen Władysław (Ladislaus) katholisch taufen lassen, wenige Tage danach die polnische Thronerbin Hedwig (polnisch: Jadvyga) geheiratet und war noch im selben Jahr zum König Polens gekrönt worden. Beide Ehegatten entfalteten unverzüglich Aktivitäten zur Festigung ihrer Territorialgewalt auf lehnsrechtlicher Basis und zur Verbreitung des katholischen Bekenntnisses. Bereits Anfang 1387 bemühte sich Jagiello, die polnische Lehnshoheit über Masowien wiederherzustellen und die Taufe der Litauer zu organisieren, während sich seine Gemahlin in das zum Teil bereits orthodox christianisierte Ruthenien (Rotreußen) begab, um es wieder an Polen anzugliedern. 1390 gründete Hedwig in Kleparz (Kleparczy) bei Krakau das Kloster zum Heiligen Kreuz, das von ihr mit Mönchen aus dem Prager Emaus-Kloster besetzt wurde. In diesem Kloster sollte die Messe in slawischer Sprache gelesen werden, um so den katholischen Glauben unter der ruthenischen Bevölkerung leichter zu verbreiten. Diese Maßnahme zeigt, auf welche Weise die Königin dem Mangel an geeigneten Personen begegnen wollte: durch deren Import. Wie die Ruthenen waren auch die Litauer bereits teilweise christianisiert, wobei auch bei ihnen das orthodoxe Bekenntnis überwog. Für die Ausbildung eines katholischen Klerus existierten weder in Litauen noch in Ruthenien Voraussetzungen. In Litauen gab es zwar einige kirchliche Elementarschulen, aber keine

plantetur, ac urticae perfidiae in atrio Domini pungentes radicitus extirpentur, sicque ipsis animas Christo lucrificantibus operationes pias, quas ad haec eis de bonis a Deo nobis creditis cooperamur, et seminamus in hac tellure mortali colligere in aeterna beatitudine valeamus. Horum contemplatione invigilavimus sollicite et quomodo affectum manciparemus effectui, plurimas noctes transivimus insomnes et jactantes in Domino cogitatum, decrevimus unam domum et cum hac ducentas sexagenas grossorum ad usus dictorum Lithuanorum et aliorum in sacra pagina studere volentium in civitate Pragensi vel citra comparandas [. . .] 81 Adolfas Šapoka, Karalien˙es Jadvygos Lietuviu˛ Kolegija Prahoje [Das Litauische Kolleg in Prag, gegründet von Königin Hedwig], Kaunas (Varpas) 1939; Celina Zawodzi´nska, Kolegium królowej Jadwigi przy Uniwersytecie Karola w Pradze i jego pierwszy statut [Die Burse der Königin Jadwiga an der Karlsuniversität in Prag und ihr erstes Statut], in: Zeszyty Naukowe Uniwersytetu Jagiello´nskiego 56, Prace Historyczne 9, Kraków 1962, S. 19–38; Michal Svatoš, Litevská kolej pražské univerzity 1397–1622 [Das Litauische Kolleg der Prager Universität 1397–1622], in: Praha – Vilnius. Sborník prací k 400. výroˇcí založení univerzity ve Vilniusu, ˇ hg. von Jan Petr, Luboš Rehᡠcek, Praha 1981, S. 19–32; Michal Svatoš und Jan Havránek, University Colleges at Prague from the 14th to 18th Centuries, in: I collegi universitari in Europa tra il XIV e il XVIII secolo, hg. von Domenico Maffei und Hilde de Ridder-Symoens, Milano 1991, S. 143–154, hier: S. 147 f.; Paul W. Knoll, Jadwiga and education, in: The Polish review 44 (1999), S. 419–431, hier: S. 425–427; ders., The Jagiellonians and the University of Cracow, in: Hofkultur der Jagiellonendynastie und verwandter Fürstenhäuser – The culture of the Jagellonian and related courts, hg. von Urszula Borkowska und Markus Hörsch, Ostfildern 2010, S. 185–191, hier: S. 185. 82 Vgl. hierzu: Gotthold Rhode, Kleine Geschichte Polens, Darmstadt 1965, S. 243 f.; Adolfas Šapoka (Red.), Lietuvos istorija [Die Geschichte Litauens], Vilnius 1989; Jürgen Heyde, Geschichte Polens, München 2012, S. 22.

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Einrichtung, die höhere theologische Bildung vermitteln konnte.83 Abhilfe sollte daher zunächst Hedwigs Stiftung eines Kollegiums für litauische und ruthenische Scholaren an der Universität in Prag schaffen. Bereits 1364 war in Krakau zwar auf dem Pergament eine Universität gegründet worden, aber nicht ins Leben getreten.84 Seit Beginn der neunziger Jahre des 14. Jahrhunderts unternahmen Hedwig und ihr Gemahl Wladislaw Anstrengungen für eine Neugründung, zu denen vor allem die erfolgreiche Einholung einer päpstlichen Erlaubnis gehörte, in Krakau eine Theologische Fakultät zu errichten, die 1364 von der Kurie nicht gewährt worden war.85 Doch erst 1400, also ein Jahr nach Hedwigs Tod, konnte das Vorhaben in die Tat umgesetzt werden. Die Narratio in Wladislaws Neustiftungsurkunde einer Universität in Krakau vom 26. Juli 1400 gibt einen zweifachen Zweck für diese Bemühungen an: Zum einen sei es nötig, das noch unzureichend christianisierte Litauen und die ihm untergebenen Gebiete weiter zu missionieren, zum anderen brauche man für die Grundlagen und Tiefen der Schriften Experten, durch deren Rat der königliche Thron gestärkt und durch deren tüchtige Tätigkeit das Gemeinwesen gefestigt werde.86 Vergleicht man diese Intentionen mit denen Hedwigs bei der Stiftung des litauischen Kollegs, so ergibt sich, zumindest was den ersten Zweck angeht, eine deutliche Ähnlichkeit.87 Beide Stiftungen zielten darauf ab, eigenen Untertanen eine höhere theologische Ausbildung zu ermöglichen, um sie dann für die katholische Mission in den eigenen Territorien einsetzen zu können. Nur sollten im Fall des Kollegs die Theologen in Prag und in dem der Universität Krakau vor Ort ausgebildet werden. Zeitlich gesehen, folgten die beiden Gründungen im Abstand von fast drei Jahren aufeinander (Hedwigs-Kolleg 1397, Krakauer Universität 1400). 83

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Paulius Rabikauskas, Die Gründungsbulle der Universität Vilnius (30. Oktober 1579). Vorgeschichte, Ausstellung und Bedeutung, in: Archivum Historiae Pontificiae 16 (1978), S. 113–170, bes. S. 115 f. Peter Moraw, Die Hohe Schule in Krakau und das europäische Universitätssystem um 1400, in: Studien zum 15. Jahrhundert. Festschrift für Erich Meuthen, hg. von Johannes Helmrath, Heribert Müller und Helmut Wolff [Bearb.], München 1994, Tl. 1 S. 521–539, hier: S. 525–531. Text der Erlaubnis Bonifaz‘ IX. vom 11. Januar 1397 in: Koczy, Documents (Anm. 78), S. 46, Nr. VII; vgl. hierzu: Mieczysław Markowski, Dzieje Wydziału Teologii Uniwersytetu Krakowskiego w latach 1397–1525 – De Theologiae Facultatis Universitatis Cracoviensis rebus annis MCCCXCVII–MDXXV gestis (Studia do dziejów Wydziału Teologicznego Uniwersytetu Jagiello´nskiego 2), Kraków 1996, S. 48–61. Koczy, Documents (Anm. 78), S. 51, Nr. IX: Ex quo eterni regis dispensacio inefabili cuncta disponens racione, Nos de gentilitatis eduxit erroribus, et ad regalis dignitatis fastigium, quamuis nostris insufficientibus meritis, dignata est euocare, ad hoc precipue sedula meditacione propositorum nostrorum studia dirigimus, curamque nostre interne diligencie deputamus, vt hos terrarum nostrarum Lythuanie indigenas et subditos, presertim quos in vetustri erroris caligine olim constituti socios tenebrarum habuimus, quosque per assumpcionem sacre fidei catholice ad gremium sancte matris ecclesie, illo volente, qui celestia pariter et terrena moderatur et dirigit, adtulimus per asuefaccionem et habitudinem ac scienciam pyorum operum, sine quibus ipsa fides vacua, in lucis filios conuertamus, horum tamen ope pariter et opera, quorum animos sapiencie et doctrine plenitudo decorauit, videlicet in fundamentis et profunditatibus scripturarum expertorum, quorum eciam consilio trhonus roboratur regius, vt eorum virtuosis actibus reipublice stabilitas semper salubribus proficit incrementis. Oskar Halecki, Jadwiga of Anjou and the Rise of East Central Europe, hg. von Thaddeus V. Gromada, New York 1991, S. 262.

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Sie als „großzügige Doppelung herrscherlichen Handelns“ oder gar „als Alternative“ zu deuten,88 erscheint daher verfehlt.89 Vielmehr legt die zeitliche Aufeinanderfolge beider Stiftungen nahe, dass hier ähnlich vorgegangen wurde wie bei der Gründung des Heilig-Kreuz-Klosters in Kleparz 1390: Aufgrund des einheimischen Mangels an Experten wurden diese zunächst von auswärts ins Land geholt, um dann eigene auszubilden.

ZUSAMMENFASSUNG Fasst man die Ergebnisse dieses Überblicks zusammen, so wird deutlich, dass das Motiv des lokalen Patriotismus, das Astrik L. Gabriel seinerzeit für die landsmannschaftliche Reservierung von Stipendien durch die Stifter von Kollegien herausgearbeitet hat, durchaus auch weiterhin als zutreffend und bedeutsam angesehen werden kann. Aus Liebe zu ihrer Heimat, ihrem Geburtsort, ihrer Geburtsdiözese oder -pfarrei bemühten sich die Gründer, das geistliche und geistige Niveau in ihren Regionen, Städten und Bistümern zu heben und schränkten deshalb die Aufnahme in ihre Kollegien allein auf ihre Landsleute ein. Indem jedoch im Vorangegangenen das geographische Spektrum an Studentenhäusern auch auf diejenigen in Italien und Böhmen ausgeweitet und neuere Studien zu einzelnen Kollegien und Kollegien-Regionen einbezogen wurden, lässt sich die Motivlage der Stifter nun genauer differenzieren und um weitere Beweggründe ergänzen. Richtet man hierbei den Blick insbesondere auf die soziale Position der Stifter zum Zeitpunkt ihrer Stiftung, auf die von ihnen bestimmten Zugangskriterien für die Kandidaten und die für diese vorgesehenen Studienfächer, so ergeben sich folgende Beobachtungen: Die Stifterpersönlichkeiten, die in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts und im 14. Jahrhundert Kollegienplätze für eigene Landsleute reservierten, waren weit überwiegend hochrangige Kleriker – ein Kardinal, mehrere Bischöfe, Archidiakone, Kanoniker und Prälaten. Die meisten von ihnen hatten selbst in der Fremde studiert und dabei akademische Grade erworben, einige wie Peder Arnfast, Zoen Tencarari, Andrea Ghini und Aegidius Albornoz sogar als Professoren Theologie oder die Rechte gelehrt. Unter den weltlichen Stiftern finden sich mit dem Pariser Apotheker Rainer Johannes aus Pistoia ein Bürger, mit Petrus Cafrano ein Admiral in königlichen Diensten und mit Hedwig/Jadvyga eine Königin. Bis auf den genannten Pariser Bürger Rainer Johannes dürften die anderen geistlichen und weltlichen Stifter von adeliger Herkunft gewesen sein. In den Königreichen, aus denen sie stammten, gehörten sie somit der sozialen und geistigen Elite an. Aus dem Wortlaut 88

So Moraw, Hohe Schule (Anm. 84), S. 531; Krzysztof Stopka, The Jagiellonian Foundation of Cracow University, in: Quaestiones medii aevi novae 8 (2003), S. 47–66, hier: S. 53 f.; Matthias Nuding, Matthäus von Krakau: Theologe, Politiker, Kirchenreformer in Krakau, Prag und Heidelberg zur Zeit des Großen Abendländischen Schismas, (Spätmittelalter und Reformation N. R. 38), Tübingen 2007, S. 145. 89 Klaus Zernack, Krakau. Ne cedat academia, in: Stätten des Geistes, hg. von Alexander Demandt, Köln u. a. 1999, S. 205–221, hier: S. 207 f. Vgl. hierzu auch: Markowski, Dzieje Wydziału Teologii (Anm. 85), S. 52.

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ihrer Stiftungsurkunden und den statutarischen Festlegungen über die Herkunft der Stipendiaten lassen sich individuelle, überindividuelle und kollektive Motive entweder offen ersehen oder indirekt erschließen. Als überindividuelle Motive sind die Sorge um das eigene Seelenheil und der Nutzen für die Armen anzusehen, die von einigen Gründern explizit genannt werden. Mit dem Anliegen der Barmherzigkeit und der Nächstenliebe korrespondieren zahlreiche Verfügungen, die darauf abzielten, „arme“, „bedürftige“ oder gar „nur wirklich arme“ Magister und Scholaren ohne Pfründen fördern zu wollen und darunter wiederum allein solche, die sich „gelehrig“, „studierfähig“ oder als „gute und wahrhaftige“ Studenten zeigten. In diesen Zusammenhang gehören sowohl mehrfach auftretende Bestimmungen über eine erwünschte Vorbildung der Kandidaten, die aus Grammatik-, Dialektik- und Logikkenntnissen bestehen sollte, um eine reibungslose Aufnahme des Studiums zu ermöglichen, als auch zeitliche Begrenzungen der Studien- und Förderdauer bis hin zur Vorgabe zu erreichender Grade, um einerseits die Anzahl der Geförderten (und damit den jenseitigen Gnadenschatz) in regelmäßigen Abständen vergrößern zu können und sie andererseits zur raschen Absolvierung ihres Studiums anzuhalten. Gegenüber diesen verhältnismäßig offenen Zugangsbedingungen, die ausschließlich von den Klerikern unter den Stiftern formuliert wurden, mutet die Forderung des zyprischen Admirals Cafrano nach sittsamen Kandidaten mit namhaften und adeligen Eltern wie eine Maßnahme zur gezielten Elite-Förderung an. Sichtbar werden jedoch in dieser Festlegung wie auch in den anderen bislang aufgezählten Motiven und Zweckbestimmungen übergreifende Denkformen, Haltungen und Einstellungen, die über das einzelne handelnde Subjekt des Stifters hinaus auf soziale Großgruppen wie Schichten oder Stände verweisen, von denen sie geteilt wurden. Als kollektive Motive sind demgegenüber solche Beweggründe zu begreifen, die verwandtschaftlich oder institutionell begründeten kleineren sozialen Gruppen wie Familienverbänden oder Stiftskapiteln zuzuschreiben sind. Was dabei den vor allem im nordalpinen Reich beobachtbaren „familialen Charakter“ der Vergabe von Kollegiumsplätzen angeht, also deren Abhängigkeit davon, wie stark ein Kandidat in das örtliche und räumliche Geflecht der fürstlichen, kirchlichen, städtischen oder privaten Stifterfamilia eingebunden war,90 so ist für die hier untersuchten Beispiele der Befund zu konstatieren, dass sich unter den Aufnahmebestimmungen der Gründer nur wenige offensichtliche verwandtschaftliche oder familiale Bezüge feststellen lassen. So sollten nach dem Willen des Landpropstes von Öland, Thorsten, insbesondere Personen aus seiner Stiftung Vorteil ziehen, die aus seiner Verwandtschaft stammten, während sich der Kardinal Albornoz und der Admiral Cafrano auf eine Mitwirkung ihrer Familienangehörigen bei der Auswahl der Kandidaten beschränkten.91 Mehrfach, insbesondere bei den skandinavischen Studentenhäusern, lässt sich beobachten, dass geistliche Kollegiengründer in ihrem Handeln durch ihre Domkapitel und Bischöfe auch über den Tod hinaus unterstützt wurden.92 Das damit gezeigte

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Rainer Christoph Schwinges, Der Student in der Universität, in: Geschichte der Universität in Europa, hg. von Walter Rüegg, Bd. 1: Mittelalter, München 1993, S. 181–223, hier: S. 211. Siehe o. (Anm. 68 u. 74). Mornet, Pieté et honneur (Anm. 19), S. 66 f. u. 70.

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Verantwortungsgefühl ist möglicherweise ein Indiz dafür, dass das Bemühen um den eigenen Klerikernachwuchs als kollektive Aufgabe begriffen wurde. Angesichts des Übergewichts an hochgestellten Klerikern unter den Stiftern überrascht allerdings, dass zur Beschreibung der Herkunftsregionen, aus denen die Stipendiaten stammen sollten, nur gelegentlich, etwa im Fall des Collège de Trésorier oder des Collegium Upsaliense, auf kirchliche Amtsbezirke wie Diözesen oder Archidiakonate zurückgegriffen wurde. Vielmehr reicht die Palette geographischer Umschreibungen hierbei von der Heimatstadt, -insel oder -region über die Nennung des entsprechenden Königreichs bis zur regional üblichen Sprachvariante (Flämisch), die von den Kandidaten beherrscht werden musste. Während die Kollegien insgesamt dazu dienten, das Gedenken an ihre Stifter wachzuhalten, waren insbesondere ihre Aufnahmebestimmungen dazu geeignet, an die geistliche Karriere der Gründer zu erinnern. Indem sie Scholaren gerade aus den Orten und Regionen förderten, deren Wohltaten sie ihr Fortkommen verdankten, zahlten die Stifter diesen ihre Schuld zurück.93 Einen höchst individuellen Zug trägt insofern die Liste der Herkunftsorte, aus denen die Stipendiaten des Spanischen Kollegs rekrutiert werden sollten. Denn diese Orte wurden von seinem Stifter bewusst gemäß ihrer Bedeutung für seinen Lebensverlauf, vor allem für seine kirchliche Karriere, ausgewählt. Offensichtlich wollte Kardinal Albornoz so einen Teil der in seiner spanischen Heimat empfangenen Wohltaten zurückgeben, indem er die Unwissenheit seiner Landsleute zu lindern suchte. In Bologna ausgebildete spanische Kleriker sollten nach ihrem Studium in ihre Heimatorte zurückkehren, um dort ihr Fachwissen anwenden zu können. Ähnliche Motive dürften den Archidiakon von Tournai Nicolaus und den Thesaurar der Kathedralkirche von Rouen Wilhelm de Saâne bei ihren Stipendienstiftungen für Theologen und Artistenmagister bewegt haben. Am deutlichsten wird diese Absicht jedoch in der Stiftungsurkunde der Königin Hedwig für ein Theologen-Kollegium in Prag ausgedrückt, die mit ihren dort ausgebildeten litauischen und ruthenischen Untertanen die katholische Mission in ihrem Reich vorantreiben wollte. Einen, räumlich gesehen, umgekehrten und insofern bisher verkannten Fall bietet das von Zoen Tencarari in Bologna gestiftete Collegio Avignonese. Hier sollte die Förderung genau in entgegengesetzter Richtung erfolgen. Denn Zoen Tencarari stiftete in seiner Geburtsstadt Bologna ein Kollegium, um dort Kleriker ausbilden zu lassen, die danach in der Diözese Avignon, der er als Bischof vorstand, wirksam werden sollten. Zwar gibt es also auch in diesem Fall ein „Franco-Italian link“, doch war Frankreich hier einmal nicht der Sender, sondern der Empfänger. Insofern ist das Collegio Avignonese weder als typisches italienisches „Echo“ auf den „besonderen französischen Beitrag zur Entwicklung der Universitäten, die Kollegien“ zu begreifen, noch war die erste, bolognesische Phase der italienischen Kollegiengründungen „very French“.94 Tencarari hatte, soweit bekannt ist, ausschließlich in Bologna studiert. Woher er die Anregung für seine Kollegsstiftung empfing, ist unklar; möglicherweise hat er in Avignon etwas von den Pariser Kollegien erfahren, die

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Vgl. Marti (Anm. 60), S. 32 f. Denley, The Collegiate Movement (Anm. 4), S. 33.

Nützliche Absolventen

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älter als das Sorbonicum waren, oder von denen in Orlèans oder Toulouse. Bemerkenswert erscheint, dass er ausgerechnet seine französische Diözese mit Bologneser Bildungsgut bedenken wollte. Offenbar erachtete er seine dortigen Mitkleriker in dieser Hinsicht als besonders bedürftig. Schon Heinrich Suso Denifle hat zudem auf „das so genaue Zusammentreffen des (Gründungs-)Datums der Sorbonne, des ersten weltlichen Universitätscollegs in Paris, mit dem der ersten Stiftung in Bologna“ hingewiesen und dies als „gewiss höchst interessant und merkwürdig“ bezeichnet, da beide Kollegien im gleichen Jahr 1257 gestiftet wurden.95 Der von Gabriel anhand der Pariser und englischen Kollegien festgestellte Wandel in den Beweggründen der Stifter, findet in dem hier betrachteten Ausschnitt aus der europäischen Kollegienlandschaft indes keine Bestätigung. Auch im 14. Jahrhundert handelten noch einige der Gründer offenbar aus purer Nächstenliebe, und eine klar festgelegte Strategie der sorgfältigen Auswahl von Stipendiaten begegnet bereits bei der ältesten Bologneser Kollegienstiftung durch Zoen Tencarari von 1257. In Italien ist vielmehr von Beginn an und durchweg eine hohe Regelungsdichte bei den Aufnahmebestimmungen für Kollegien zu konstatieren, was mit der dort besonders gepflegten Rechtskultur zusammenhängen dürfte. Eine Veränderung lässt sich allerdings bei den Studienfächern beobachten, mit denen sich die Kollegiaten nach dem Willen der Stifter befassen sollten. Während in Paris im 13. Jahrhundert, wenig überraschend, die Theologie und die Artes dominierten und das Studium des Kirchenrechts erst zu Beginn des 14. Jahrhunderts einmal vorgeschrieben wurde, herrschten in Italien lange die Rechte vor. Erst ab der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts kamen dort auch Theologie, Medizin und die Artes als von den Gründern gewünschte Fächer hinzu. Dass sich Kollegienstiftungen für Studenten der Medizin oder des Römischen Rechts insgesamt viel seltener finden, verwundert ebenfalls kaum. Galten diese beiden Fächer doch als lukrative Studien (scientiae lucrativae)96 und gegenüber den Wahrheits- als Nützlichkeitswissenschaften,97 weil sie zahlreiche Studierende anzogen, praktische Anwendungsmöglichkeiten boten und so einträgliche Karrieren eröffneten. Deshalb wurde es als überflüssig erachtet, sie durch Plätze in Studentenhäusern oder Kollegien zu unterstützen. Die Gründer der hier betrachteten Kollegien zeigten hingegen vor allem an Studierenden der sogenannten Wahrheitswissenschaften Interesse. Es ging ihnen um deren Bildung. Mehrere schrieben ihren Schützlingen daher wohl auch maximale Studiendauern und sogar zu erreichende akademische Grade vor, damit sie recht bald dort, wohin sie berufen wurden, durch Wort und Vorbild wirken konnten, wie es Nicolaus, der Archidiakon von Tournai, formulierte, als nützliche Absolventen. 95 96 97

Denifle, Entstehung (Anm. 50), S. 213 Anm. 588. Vgl. Friedrich Wilhelm Oediger, Über die Bildung der Geistlichen im späten Mittelalter, Leiden/Köln 1953, S. 29. Martin Kintzinger, Die Artisten im Streit der Fakultäten. Vom Nutzen der Wissenschaft zwischen Mittelalter und Moderne, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 4 (2001), S. 177–194; Frank Rexroth, Die Einheit der Wissenschaft und der Eigensinn der Disziplinen. Zur Konkurrenz zweier Denkformen im 12. und 13. Jahrhundert, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 67 (2011), S. 19–50.

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ABSTRACT The paper is asking for the motives founders had for reserving places in their student houses and colleges to compatriots at the universities of Paris, Italy, and Prague in the second half of the 13th and the 14th century. It focuses on the social position of the founders at the moment of their endowment, the access criteria for the prospects and the subjects of study they were designated for. From the wording of the donation deeds and the statutes about the provenance of the stipendiary, not only local patriotism opens up as a motive for the reservation of grants to compatriots, as Astrik L. Gabriel has promoted before, but further individual, superindividual and collective motives. For example, the list of origins the stipendiaries had to be recruited from can feature an individual trait if those places were chosen by the founder intentionally concerning their relevance in his life, as it is for his ecclesiastic career. Superindividual motives some of the founders mention explicitly are care for salvation of their own’s soul and for the poor. With collective motives those reasons are meant that do not concern the founder alone but the social groups he is related to by cognation or institution like the kin or the chapter of a collegiate church.

PRAKTIKEN STUDENTISCHEN LEBENS IM SPÄTMITTELALTER Maximilian Schuh Das wier [. . .] kain parner noch fierer schicken noch geben wellen1 , schrieb Ulrich Mayr aus Brixen kurz nach Fronleichnam 1507 seinem in Ingolstadt studierenden Sohn Georg. Dieser hatte zuvor von seinen Eltern wiederholt brieflich Geld und Kleidung verlangt. Der Student konnte mit den zur Verfügung gestellten Mitteln offensichtlich nicht den Lebensstil praktizieren, der ihm als Mitglied der Universität angemessen erschien. Studentische Briefe, die Forderungen nach Geld an die Eltern herantragen, waren keinesfalls selten und zeigen, dass sich die Besucher spätmittelalterlicher Universitäten in der konkreten Ausgestaltung ihrer Lebensführung Beschränkungen ausgesetzt sahen.2 Begrenzte finanzielle Möglichkeiten waren dabei nicht die einzigen, wenn auch die am deutlichsten spürbaren Einschränkungen. Welche Möglichkeiten der einzelne hatte, ging zudem Hand in Hand mit seiner Stellung nicht nur in der universitären Hierarchie, sondern in der mittelalterlichen Gesellschaft insgesamt. Nachdem im deutschsprachigen Bereich lange egalisierende Vorstellungen vom gemeinsamen Streben nach Wissen die Sicht auf vormoderne Universitäten geprägt hatten,3 arbeitete die sozialgeschichtlich orientierte Forschung der letzten Jahrzehnte auf Impulse aus England und Frankreich hin präzise den engen Zusammenhang von sozialem Status in der mittelalterlichen Gesellschaft und Stellung in der Hierarchie des akademischen Personenverbands heraus.4 Ein weiteres zentrales Ergebnis der

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München, Bayerische Staatsbibliothek, Oefeleana 335 I, fol. 114r . Für die Frühe Neuzeit vgl. Marian Füssel, Selbstzeugnisse, in: Quellen zur frühneuzeitlichen Universitätsgeschichte. Typen, Bestände, Forschungsperspektiven, hg. von Ulrich Rasche (Wolfenbütteler Forschungen 128), Wiesbaden 2011, S. 399–419, 403 f. Herbert Grundmann, Vom Ursprung der Universität im Mittelalter (Berichte über die Verhandlungen der sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Philologisch-historische Klasse 103,2), Berlin 1957 (ND Darmstadt 1960, 1964, 1976). In der angelsächsischen und französischen Forschung wurde dieser Zusammenhang zuerst betont, bevor deutschsprachige Forscher ihn aufgriffen. Vgl. etwa John M. Fletcher, Wealth and Poverty in the Medieval German Universities with Particular Reference to the University of Freiburg, in: Europe in the late Middle Ages, hg. von John Rigbey Hale, John Roger Loxdale Highfield und Beryl Smalley, London 1965, S. 410–436 und Jacques Verger, Les universités au moyen âge, Paris 1973, S. 172–174. Peter Moraw, Zur Sozialgeschichte der deutschen Universitäten im späten Mittelalter, in: Gießener Universitätsblätter 8,2 (1975), S. 44–60; Rainer A. Müller, Universität und Adel. Eine soziokulturelle Studie zur Geschichte der bayerischen Landesuniversität Ingolstadt 1472–1648 (Ludovico Maximilianea. Forschungen 7), Berlin 1974; Rainer C. Schwinges, Deutsche Universitätsbesucher im 14. und 15. Jahrhundert. Studien zur Sozialgeschichte des Alten Reiches (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte

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Analyse des Universitätsbesuchs im ausgehenden Mittelalter war, dass nur der geringere Teil der Studenten irgendeinen akademischen Abschluss erwarb. Die Mehrzahl beließ es bei dem Versuch, durch den Besuch einiger universitärer Lehrveranstaltungen Wissen und Fähigkeiten zu erwerben, die die Chancen auf eine Beschäftigung als Kleriker, Lehrer oder Schreiber erhöhten. Zudem hoffte man, durch den Aufenthalt an der Hohen Schule soziales Prestige zu erwerben und durch an der Universität gemachte Bekanntschaften karrierefördernde Netzwerke aufbauen zu können.5 Auch wenn zum Teil Kritik an der Starrheit der vorgeschlagenen inneruniversitären Gliederung geäußert wurde6 , hat sich diese Deutung weitgehend durchgesetzt und ihren Eingang in geschichtswissenschaftliche Einführungswerke und sogar in Geschichtsbücher für den Schulunterricht gefunden.7 Neuere kulturgeschichtliche Studien haben die soziale Binnendifferenzierung der universitas magistrorum et scolarium aufgegriffen und die symbolischen Praktiken erhellt, mit denen die verschiedenen Gruppen ihre Statusansprüche sowohl in zeremoniellen Kontexten als auch im täglichen Leben inszenierten und behaupteten.8 Dieser Blick auf die Praktiken vormodernen Universitätsbesuchs ermöglicht, bisher getrennt voneinander betrachtete Phänomene in Beziehung zu setzen. So kann gezeigt werden, auf welche Weise sich der Zusammenhang von sozialer Herkunft und Stellung an der Universität auf die Praktiken des täglichen Lebens und Studierens der Universitätsbesucher auswirkte. Die große Varianz unterschiedlicher Studententypen ging mit zahlreichen Möglichkeiten einher, diese Praktiken in verschiedenen Formen des Wohnens, Kleidens, Essens und Studierens auszugestalten.

I Bereits bei Eintritt in die Universität spielte die soziale Herkunft eine gewichtige Rolle. Zentrale Quellen für die studia generalia im spätmittelalterlichen Reich nörd-

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Mainz 123), Stuttgart 1986; ders., Der Student in der Universität, in: Geschichte der Universität in Europa, hg. von Walter Rüegg, Bd. 1: Mittelalter, München 1993, S. 181–223. Vgl. Schwinges, Der Student in der Universität (Anm. 4), S. 181–187; Christian Hesse, Qualifikation durch Studium? Die Bedeutung des Universitätsbesuchs in der lokalen Verwaltung spätmittelalterlicher Territorien im Alten Reich, in: Sozialer Aufstieg. Funktionseliten im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, hg. von Günther Schulz (Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit 25), München 2002, S. 243–268; Götz-Rüdiger Tewes, Dynamische und sozialgeschichtliche Aspekte spätmittelalterlicher Artes-Lehrpläne, in: Artisten und Philosophen. Wissenschafts- und Wirkungsgeschichte einer Fakultät vom 13. bis zum 19. Jahrhundert, hg. von Rainer C. Schwinges (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 1), Basel 1999, S. 105–128. Robert Gramsch, Erfurter Juristen im Spätmittelalter. Die Karrieremuster und Tätigkeitsfelder einer gelehrten Elite des 14. und 15. Jahrhunderts (Education and Society in the Middle Ages and Renaissance 17), Leiden/Boston 2003, S. 213–215. Wolfgang E. J. Weber, Geschichte der europäischen Universität, Stuttgart 2002, S. 34 f.; Harald Müller, Mittelalter (Studienbuch Geschichte), Berlin 2008, S. 171 f.; Dagmar Bäuml-Stosiek u. a. (Hg.), Forum Geschichte Bayern 11, Berlin 2009, S. 123. Marian Füssel, Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit, Darmstadt 2006; William Clark, Academic Charisma and the Origins of the Research University, Chicago 2006.

Praktiken studentischen Lebens im Spätmittelalter

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lich der Alpen sind die Rektoratsmatrikeln. Die Namen, Herkunftsorte und oftmals die Gebührenzahlungen der sich an den Hohen Schulen neu Immatrikulierenden wurden wie auch das mehr oder weniger genaue Datum der Immatrikulation festgehalten. Das Dokument, in dem die zuvor auf Zetteln notierten Immatrikulationen säuberlich eingetragen wurden, legte klar fest, wer der Universität angehörte und ihre Privilegien genießen konnte. Der akademische Personenverband fand hier seine schriftliche Fixierung.9 Die Matrikel spiegelt dabei auch die Binnendifferenzierung der Korporation wider. Die Höhe der Gebühren, die bei Eintrag zu entrichten waren, hing vom sozialen Stand des zu Immatrikulierenden ab, ist zugleich aber auch als Hinweis auf den Rang in der Universität zu verstehen. Die Entrichtung der „regulären“ Gebühr wies den Bezahlenden schon als Mitglied der finanzkräftigen Mittelschicht aus. Mehr bezahlten adlige oder patrizische Inhaber von kirchlichen Pfründen.10 In verschiedenen Abstufungen konnte auch weniger bezahlt werden, was sich aber auf die Position in der Universität niederschlug. Die Möglichkeit, sich als ‚pauper‘ einzuschreiben und so die Gebühren vollständig zu sparen, bedeutete, am Ende der sozialen Hierarchie zu stehen.11 Die Einträge in der Matrikel der Universität Erfurt für das Sommersemester 1445 führen dies deutlich vor Augen. Mit Johannes von Hurenheim erscheint hier zum Beispiel ein Eichstätter Domherr. Er bezahlte ebenso wie Hieronymus von Suntheim, der Kanonikate in Eichstätt und Augsburg innehatte, die für Prälaten vorgesehene Gebühr von einem Gulden (=30 alte Groschen).12 Auf die Bedeutung studentischer Kleingruppen, die sich gemeinsam auf den Weg an die Universität begaben, wurde in der Forschung wiederholt hingewiesen.13 Auch die beiden Domherren hatten sich gemeinsam auf den Weg nach Erfurt gemacht. Sie brachten dabei ihre gewohnte Lebensführung an die Universität mit. Denn gemeinsam mit ihnen immatrikulierte sich Johannes Gopboldt aus dem in der Diözese Eichstätt gelegenen Spalt, der als

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Jacques Paquet, Les matricules universitaires (Typologie des sources du moyen âge occidental 65), 2 Bde., Turnhout 1992–2003; Rainer C. Schwinges, Resultate und Stand der Universitätsgeschichte des Mittelalters vornehmlich im deutschen Sprachraum – einige gänzlich subjektive Bemerkungen, [ED 2002], in: ders., Studenten und Gelehrte. Studien zur Sozial- und Kulturgeschichte deutscher Universitäten im Mittelalter (Education and Society in the Middle Ages and Renaissance 32), Leiden/Boston 2008, S. 57–84, hier: S. 64–68. Rainer C. Schwinges, Die Universität als sozialer Ort des Adels im deutschen Spätmittelalter [ED 2000], in: ders. Studenten und Gelehrte (Anm. 9), S. 317–337. Rainer C. Schwinges, „Pauperes“ an deutschen Universitäten des 15. Jahrhunderts [ED 1981], in: Ders., Studenten und Gelehrte (Anm. 9), S. 237–263. Acten der Erfurter Universität, Teil 1: Päpstliche Stiftungsbullen. Statuten von 1447. Allgemeine Studentenmatrikel, erste Hälfte (1392–1492), hg. von Hermann Weissenborn (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen 8,1), Halle 1881, S. 204: Dominus Johannes de Hurnheym canonicus ecclesie Augustensis dedit 1 florenum. Dominus Iheronimus de Suntheym canonicus Augustensis et Eystetensis ecclessiarum dedit 1 florenum. Johannes Gopholt de Spalt gratis ob reverenciam domini sui. Rainer C. Schwinges, Studentische Kleingruppen im späten Mittelalter. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte deutscher Universitäten, [ED 1982], in: Ders., Studenten und Gelehrte (Anm. 9), S. 265–299; ders., Zur Prosopographie studentischer Reisegruppen im fünfzehnten Jahrhundert, in: Medieval Lives and the Historian. Studies in Medieval Prosopography, hg. von Neithard Bulst und Jean-Philippe Genet, Kalamazoo 1986, S. 333–341.

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Hieronymus’ Diener keine Gebühr zu entrichten hatte.14 Auf Bedienstete musste der Kanoniker also auch während seiner Studienzeit nicht verzichten. Der als Graf im Matrikeltext besonders herausgehobene Ernst von Schaumburg bezahlte ebenfalls die Gebühr von einem Gulden. Für Pfründeninhaber war die ehrende Bezeichnung dominus in der Matrikel vorgesehen, die den so Bezeichneten von den anderen Einträgen deutlich abhob.15 Nicht alle Prälaten mussten jedoch die Taxe von einem Gulden bezahlen. Der Domherr Johannes Waltheri aus Metz entrichtete nur einen halben Gulden, Hartung und Heinrich Truchseß, Kanoniker der Neuen Kapelle in Würzburg, lediglich die normale Gebühr von 23 alten Groschen.16 Offensichtlich bestand auch hier die Möglichkeit, über den zu zahlenden Betrag zu verhandeln. Dasselbe war bei dem ritteradligen Wilhelm von Reichenau der Fall, der erst später Domherr und Bischof in Eichstätt werden sollte.17 Die anderen Einträge für das Sommersemester 1445, die offenbar nach dem Termin der Ankunft vorgenommen wurden, zeigen das breite Spektrum der bei der Immatrikulation zu zahlenden Gebühr, das von dem Gesamtbetrag von 23 alten Groschen, über zwanzig, neunzehn, siebzehn, vierzehn, zwölf, elf, zehn, neun, acht, sechs, fünf und drei alten Groschen reichte.18 Denn in Erfurt bestand die Möglichkeit, eine Anzahlung auf die Immatrikulationsgebühr zu leisten, der Rest wurde erst fällig, wenn man sich zum artistischen Bakkalar promovieren lassen wollte.19 Die Mehrzahl der Studierenden zahlte die Gebühr lieber in Teilen, als sich gleich an die unterste Stelle in der universitären Rangordnung zu begeben. Neben Ordensangehörigen und Familiaren des Rektors und des Dekans der juristischen Fakultät wurde in diesem Semester nur ein ‚pauper‘ unter Erlassung jeglicher Gebühr immatrikuliert.20 Dieser Befund spiegelt Erfurts Status 14 15

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Acten der Erfurter Universität 1 (Anm. 12), S. 204: Johannes Gopholt de Spalt gratis ob reverenciam domini sui. Acten der Erfurter Universität 1 (Anm. 12), S. 204, Z. 15–17: Nobilis comes dominus Ernestus de Schaumburg canonicus Hildensemensis ecclesie intitulatus die quinta Iunii dedit unum florenum. Vgl. Hans-Georg Aschoff, Art. ‚Ernst, Graf von Schaumburg († 1471). 1458–1471 Bischof von Hildesheim‘, in: Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches. Ein biographisches Lexikon, Bd. 2, hg. von Erwin Gatz unter Mitw. von Clemens Brodkorb, Berlin 1996, S. 160. Acten der Erfurter Universität 1 (Anm. 12), S. 204, Z. 15–29: Iohannes Waltheri de Metis canonicus chathedralis ecclesie ibidem, intitulatus 2 da septembris dt. ½ flor. [. . .] Hartungus Thruchzis canonicus Herbipolensis (tm. B). Heinricus Truchsizs canonicus Novi monasterii Herbipolensis tm. Acten der Erfurter Universität 1 (Anm. 12), S. 203: Wilhelmus de Richenauwe totum. Alfred Wendehorst, Das Bistum Eichstätt, Bd. 1: Die Bischofsreihe bis 1535 (Germania Sacra, N. F. 45,1), Berlin/New York 2006, S. 220–241. Acten der Erfurter Universität 1 (Anm. 12), S. 205, Z. 16: Cristianus Ratlose de Wacholde XX antq; S. 203, Z. 36: Magnus Petri de Alandya dt. XIX antq. S. 204, Z. 32 f.: Bernhardus Wilting alias Rensick de Bochuldia dt. XVII antq. S. 204, Z. 31: Nicolaus Luterßdorffer de Herbipoli XIV antq. S. 204, Z. 44: Iohannes Strack de Bacherach XII antq. S. 205, Z. 9: Nicolaus Arner XI gr. antq. S. 204, Z. 7: Gregorius Dentis de Peßing dt. X. antqu. S. 204, Z. 40: Thomas Textoris de Ingwiler dt. IX antq. S. 205, Z. 8: Cristianus Krieg VIII gr. antq. S. 204, Z. 30: Nicolaus Grobitsch de Lobda VI antqu. S. 205, Z. 11: Iohannes Kulmann de Benßheym V antq. S. 204, Z. 38: Iodocus Textoris de Argentina III antq. Gramsch, Erfurter Juristen (Anm. 6), S. 50–52. Acten der Erfurter Universität 1 (Anm. 12), S. 204, Z. 37 ff.: Frater Heinricus Brulandis de Vach ordinis fratrum sanctae Marie gratis ob reverenciam ordinis. Z. 20 f.: Heinricus Kypß de

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als Universität für Reiche und Adelige wider. Hier versammelten sich gehobene soziale Gruppen.21 Das teure studium generale suchten ärmere Studierende gar nicht erst auf. Sie zogen eher nach Leipzig, Wien oder Köln, selbst wenn Erfurt näher an ihrem Herkunftsort lag. Diese großen Städte versprachen nicht nur niedrigere universitäre Gebühren, sondern auch ein größeres Angebot an günstigen Unterkünften und Nahrungsmitteln als kleinere Hochschulorte. Zudem waren hier die Möglichkeiten vielfältiger gestreut, sich durch verschiedene Beschäftigungen und Dienstleistungen zusätzliche finanzielle Mittel zu erschließen.22 In Ingolstadt wurde die zu zahlende Gebühr nicht nur von sozialen Merkmalen wie Adel oder Pfründenbesitz, sondern auch von der Fakultät bestimmt, an der man studieren wollte. Während Artisten lediglich 48 Pfennig zahlten, mussten die Besucher der oberen Fakultäten 64 Pfennig entrichten.23 Dies legt nahe, dass die Stellung der höheren Fakultäten im Gesamtgefüge der Universität nicht zuletzt auf dem gesellschaftlichen Rang ihrer Besucher gründete. Der Zusammenhang von Gebührenzahlung und sozialem Rang innerhalb der Universität, der auch für andere Hohe Schulen nachgewiesen wurde,24 wird in der Erfurter Matrikel ab 1470 nochmals deutlicher hervorgehoben. Denn seit dem Sommersemester des Jahres wurden die Neuimmatrikulierten nach Höhe der gezahlten Gebühren gruppiert in die Matrikel eingetragen: Zunächst Prälaten, dann Vollzahler, daraufhin diejenigen, die die halbe Gebühr zahlten und schließlich in nicht mehr ganz strenger Reihenfolge die, die bei der Immatrikulation weniger als die Hälfte der Gebühr entrichteten.25 Der Stellung in der universitären Rangordnung wurde bei Eintritt in den akademischen Personenverband festgelegt und schriftlich fixiert. In dem verbreiteten Studienführer ‚Latinum ydeoma pro novellis studentibus‘, der Studieninteressierten und -anfängern zu Informations- und Sprachlehrzwecken typische universitäre Gesprächssituationen präsentiert, fragt der Magister den am Hochschulort neu angekommenen Studieninteressierten daher auch gleich zu Beginn des Gesprächs nach den finanziellen Umständen der Eltern. Dieser antwortet mit dem Verweis auf ihre sozio-ökonomische Stellung als Handwerker und betont mehrfach seine beschränkten Möglichkeiten.26 Der bereits bei der Immatrikulation festgestellte

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Argentina gratis ob reverenciam domini rectoris, quia familiaris. Z. 5 f.: Georgius Leissinger de Eystete gratis ob reverenciam domini doctoris Bok decani facultatis iuris. Z. 47 f.: Iohannes Dachsberch de Argentina propter deum intitulatus, bedelli sua etiam remiserunt. Schwinges, „Pauperes“ (Anm. 11), S. 254. Schwinges, „Pauperes“ (Anm. 11), S. 251–253; Christian Hebeisen und Thomas Schmid, De Zusato, Colonensis diocesis. Über Herkunftsräume armer Universitätsbesucher im Alten Reich (1375 bis 1550)“, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 6 (2003), S. 28–50. Müller, Universität und Adel (Anm. 4), S. 64. Christoph Fuchs, Dives, pauper, nobilis, magister, frater, clericus. Sozialgeschichtliche Untersuchungen über Heidelberger Universitätsbesucher des Spätmittelalters (1386–1450) (Education and society in the Middle Ages and Renaissance 5), Leiden/Boston 1995; Ulrike Denk, Alltag zwischen Studieren und Betteln. Die Kodrei Goldberg, ein studentisches Armenhaus an der Universität Wien, in der Frühen Neuzeit (Schriften des Archivs der Universität Wien 16), Göttingen 2013, S. 100–125. Vgl. Acten der Erfurter Universität 1 (Anm. 12), S. 337–339. Gerhard Streckenbach, Paulus Niavis, Latinum ydeoma pro novellis studentibus. Ein Gesprächsbüchlein aus dem letzten Viertel des 15. Jahrhunderts II, in: Mittellateinisches Jahrbuch 7 (1972),

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und festgeschriebene gesellschaftliche Rang entfaltete auch im weiteren Verlauf des Universitätsbesuches seine Wirkung. Wer einen höheren Status geltend machen und die für diesen bestimmte Gebühr bezahlen konnte, stand in der Hierarchie nicht nur bei Prozessionen und feierlichen Akten an vorderer Stelle,27 sondern auch in den Verwaltungsakten. Denn nicht nur die Reihenfolge in der Matrikel, sondern auch die Lozierung bei Promotionen war eher vom gesellschaftlichen Rang des einzelnen Prüflings als von den konkreten Leistungen bei der Prüfung bestimmt. Auch hier wurde soziale Rangordnung durch räumliche Anordnung visualisiert. Das Nacheinander der Promovenden bei der Feierlichkeit spiegelte sich in der Reihenfolge wider, in der ihre Namen in den Akten notiert wurden.28 So wurde im Herbst 1447 Wilhelm von Reichenau als der erste von 50 Bakkalaren genannt, die von der Erfurter Artistenfakultät promoviert wurden.29 An diesem Termin wurde niemand Vornehmeres promoviert, alle anderen hinter ihm loziert. Solche Ranggliederungen machten nicht vor der Universität angeschlossenen Institutionen halt. Die Matrikel der als confraternitas bezeichneten Gebetsverbrüderung30 der Ingolstädter Artistenfakultät etwa ist ebenfalls klar nach den Ranggruppen der universitären Hierarchie gegliedert. Die semesterweise neu aufgenommenen Magister, Bakkalare und Scholaren wurden in getrennten Abschnitten notiert.31 Nicht nur bei der Erstaufnahme als Scholar war eine Gebühr von vier Pfennig zu bezahlen, sondern auch nach der Promotion zum Bakkalar und zum Magister – und zwar sechs und zehn Pfennig. Adelige entrichteten wiederum den erhöhten Beitrag von acht Pfennig, wie Einträge im Rechnungsbuch der Fakultät zeigen.32 Der Einzelne konnte also, wenn er denn die entsprechenden

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S. 187–251, Hier: S. 192: Magister: Cur huc advenisti, expone mihi! Bartoldus: Studii causa. Magister: Habundant parentes tui? Bartoldus: Mediocriter se habent diviciis, acquirunt artificio alimentum; verum pollitici sunt, si studio adiunxero, velle omnem circa me facere diligenciam, ne me premat paupertas. Vgl. Hilde de Ridder-Symoens, Rich Men, Poor men. Social Stratification and Social Representation at the University (13th –16th Centuries), in: Showing Status. Representations of Social Positions in the Late Middle Ages, hg. von Wim Blockmans und Antheun Janse, Turnhout 1999, S. 159–175. Schwinges, Deutsche Universitätsbesucher (Anm. 4), S. 355–360; Clark, Academic Charisma (Anm. 8), S. 105–109; Füssel, Gelehrtenkultur (Anm. 8), S. 166–175; Rainer C. Schwinges und Klaus Wriedt (Hg.), Das Bakkalarenregister der Artistenfakultät der Universität Erfurt / Registrum baccalariorum de Facultate arcium Universitatis Studii Erffordensis existencium, (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen 3), Jena/Stuttgart 1995, XXVII–IXXX. Bakkalarenregister der Artistenfakultät der Universität Erfurt, S. 75: Sequitur examen de quinquaginta personis celebratum in decanatu magistri Henrici Dasle de Hildensem in autumpno anno domini Mº CCCCº XLVII. 1. Wilhelmus de Richenouwe. Albrecht Liess, Die artistische Fakultät der Universität Ingolstadt 1472–1588, in: Die LudwigMaximilians-Universität in ihren Fakultäten, hg. von Laetitia Boehm und Johannes Spörl, Bd. 2, Berlin 1980, S. 9–35, hier: S. 15 f. München, Universitätsarchiv, O–IV–1, fol. 1r –12v : Magister; fol. 13r –51v : Bakkalare; fol. 52r – 160v : Scholaren. München, Universitätsarchiv, O–V–1, fol. 62r : Percepta occasione fraternitatis subsequuntur: [. . .] Item 8 ß et 28 d a septuagentaseptem scolaribus quorum quilibet 4 d solvit. Item 64 d ab octo nobilibus ubi quilibet eorum dedit 8 d. Item 4 ß et 12 d a vigintiduobus baccalauriis [=6 d je Bakkalar]. Fol. 56v : Item v ß d a quindecim magistris hoc anno promotis [=10 d je Magister].

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akademischen Grade erwarb, bis zu dreimal in der Matrikel der confraternitas der Artisten erscheinen und musste jeweils bezahlen. Viele Besucher der Fakultät ließen sich daher erst nach Erwerb des Bakkalaureats eintragen. So ist etwa Leonhard Estermann aus Wasserburg 1485 als Bakkalar und 1488 als Magister,33 nicht aber als Scholar zu finden.

II Sofort nach der Immatrikulation waren die ersten Kosten für studentische Alltagspraktiken fällig. Mit dem rituellen Akt der Deposition wurde, wie die ‚Trivita studentium‘, ein weiterer Studienführer des 15. Jahrhunderts, knapp beschreibt, der als beanus bezeichneten Studienanfänger symbolisch von seiner Wild- und Rohheit gesäubert und in den Kreis der Universitätsangehörigen aufgenommen.34 Im Anschluss waren die neuen Standesgenossen zu bewirten. Im ‚Latinum ydeoma‘ zeigt sich auch bei dieser Gelegenheit die Angst des beanus vor den damit verbundenen Ausgaben. Er bittet seinen Magister, den Kreis der Einzuladenden klein zu halten. Dieser entspricht seinem Wunsch zum Teil und beschränkt die Teilnehmer auf drei Magister, zwei Bakkalare und einige seiner Studenten.35 Die weitere Lebensführung der verschiedenen sozialen Gruppen an der Universität gestaltete sich sehr verschieden. Bestimmend waren die jeweiligen Möglichkeiten, die Kosten für die Lebenshaltung und das Studium zu bestreiten. Die genannten Domkanoniker etwa hatten ebenso wie die Söhne von Bürgern der Universitätsstädte nicht nur die Erlaubnis, selbstständig ohne universitäre Aufsicht zu wohnen, sondern konnten sich adelige oder patrizische Haushaltsführung mit Bediensteten und Privatlehrern leisten. Zudem stand ihnen durch Herkunftsfamilie und kirchliche Pfründen ausreichend Mittel zur Verfügung, um nach kurzem Studienaufenthalt im Reich die prestigereichen Juristenuniversitäten in Italien aufzusuchen und dort Doktorgrade zu erwerben. Wilhelm von Reichenau etwa beschäftigte während seiner juristischen Studien in Padua Ulrich Gossembrot, immerhin Sohn des Augsburger Bürgermeisters,

München, UA, O–IV–1, fol. 2v (1488) und 17r (Sommersemester 1485). Goswin Kempgyn de Nussia, Trivita studentium. Eine Einführung in das Universitätsstudium aus dem 15. Jahrhundert, hg. von Michael Bernhard, München 1976, S. 61 f. Vgl. dazu Rainer C. Schwinges, Mit Mückensenf und Hellschepoff. Fest und Freizeit in der Universität des Mittelalters (14. bis 16. Jahrhundert)“ [ED 2003], in: ders., Studenten und Gelehrte (Anm. 9), Leiden/Boston 2008, S. 489–512; Rainer A. Müller, Studentenkultur und akademischer Alltag, in: Die Geschichte der Universität in Europa, hg. von Walter Rüegg, Bd. 2: Von der Reformation zur Französischen Revolution (1500–1800), München 1993, S. 263–286, hier: S. 281–283; Marian Füssel, Riten der Gewalt. Zur Geschichte der akademischen Deposition und des Pennalismus in der frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für Historische Forschung 32 (2005), S. 605–648. 35 Streckenbach, Paulus Niavis, Latinum ydeoma (Anm. 26), S. 192 f.: Bartoldus: Optime magister, divitie parve mihi sunt. Ne porsus sumptuosa collacio fiat apprime rogo, neque etiam volo, ut nimium extenuetur ac honestas offendetur in hac re, sed mediocritas retineatur cum consuetudine. Magister: Probe intellego. Vocabo igitur tres magistros et baccalarios duos et quosdam ex sociis meis. Sic nemo te arguet parcitate et superflui sumptus evitentur. Bartoldus: Honorande magister, et id mihi vehementer placet.

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um eine private Vorlesung über den römischen Geschichtsschreiber Valerius Maximus zu halten.36 Das Beispiel Johannes Riedners zeigt jedoch, dass nicht alle nach Italien aufgebrochenen Studenten über ausreichend Geld verfügten. Der Jurist, den sein Bruder mit geringen Beträgen finanziell unterstützte, wurde wegen Armut von der Verpflichtung befreit, nach der Promotion in Bologna dem Doktorenkollegium Birette und Handschuhe zu bezahlen.37 Im Reich hingegen konnten vermögende Studenten wie Johannes Hofmann, der zu Beginn des 15. Jahrhunderts an der Universität Leipzig seine in Prag begonnenen Studien fortsetzte, zu Wohnzwecken ein eigenes Haus kaufen. Dieses schenkte er, als er Bischof von Meißen wurde, der polnischen Universitätsnation, die den großzügigen Bau als Kollegiengebäude nutzte.38 Der Großteil der spätmittelalterlichen Universitätsbesucher war in Bursen untergebracht. Dort lebten und studierten sie unter strenger Aufsicht. Unternehmerisch agierende Artistenmagister, die von ihrer Fakultät für diese Aufgabe ausgewählt worden waren, boten kostengünstig Kost, Logis und Lehrveranstaltungen an. Zugleich wurde das Leben der Bewohner stark reglementiert und überwacht.39 Die Statuten des Freiburger ‚Collegium Sapientiae‘, das freilich keine klassische Burse, sondern eine Stipendienstiftung war, vermitteln einen durch zahlreiche Illustrationen veranschaulichten Eindruck vom Leben in einer solchen Institution.40 Die normativen Vorgaben betonen das Beten und Studieren und reglementieren die Lebensführung und den Tagesablauf der Bewohner bis ins Detail. Die Gestaltung der Schlafkammern wurde ebenso genau festgelegt wie Aufstehzeiten oder die ausführlich beschriebene Durchführung der gemeinsamen Mahlzeiten.41 Die Versorgung in Bursen war nicht üppig und unter anderem Ziel der Kritik in den humanistischen Dunkelmännerbriefen, die die karge Kost in der Leipziger Heinrichsburse karikierten. Ständig gebe es Getreidegrütze und Suppe, selten bis nie Fleisch, Obst und Käse.42 Auch Erasmus von Rotterdam und zahlreiche andere spätmittelalterliche Studenten beschwerten sich über die in Bursen gereichten Speisen.43 Der zu Beginn erwähnte Georg Mayr gab sich mit dem Essen in der Ingolstädter Burse ebenfalls nicht zufrieden. Der Vater

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Maximilian Schuh, Zwischen Erfurt, Wien und Padua. Wege Wilhelms von Reichenau in der Bildungslandschaft des Spätmittelalters, in: Reform und früher Humanismus in Eichstätt. Bischof Johann von Eych (1445–1464), hg. von Jürgen Dendorfer (Eichstätter Beiträge N. F.), Regensburg 2015, S. 163–179. Maximilian Schuh, Aneignungen des Humanismus. Institutionelle und individuelle Praktiken an der Universität Ingolstadt im 15. Jahrhundert (Education and Society in the Middle Ages and Renaissance 47) Leiden/Boston 2013, S. 74. Siegfried Hoyer, Der Alltag an einer Universität des 15. Jahrhunderts. Magister und Scholaren an der der Alma Mater Lipsiensis, in: Mentalität und Gesellschaft im Mittelalter. Gedenkschrift für Ernst Werner, hg. von Sabine Tanz, Bern/Frankfurt 1993, S. 237–260. Rainer C. Schwinges, Sozialgeschichtliche Aspekte spätmittelalterlicher Studentenbursen in Deutschland [ED 1986], in: ders., Studenten und Gelehrte (Anm. 9), S. 341–387. Johanner Kerer, Statuta Collegii Sapientiae. Satzungen des Collegium Sapientiae zu Freiburg im Breisgau, hg. von Josef Hermann Beckmann und Robert Feger, Konstanz 1957. Statuta Collegii Sapientiae (Anm. 40), S. 48–54, 64–68. Schwinges, Mit Mückensenf und Hellschepoff (Anm. 34), S. 510. Denk, Alltag zwischen Studieren und Betteln (Anm. 24), S. 234–239.

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weist ihn in seinem Brief ausdrücklich darauf hin, dass seine finanziellen Probleme unter anderem daher rührten, dass er ständig außerhalb der Burse esse.44 Alle Vergnügungen, die als Hindernisse für das Studium gesehen wurden, wie Glücksspiele, Singen und Musizieren waren im ‚Collegium Sapientiae‘ verboten, ebenso wie der Umgang mit Frauen oder das Tragen von Waffen.45 Ganz ähnliche Regelungen finden sich in den Statuten der Freiburger Pfauenburse sowie der Wiener und Ingolstädter Artistenfakultät.46 Insgesamt wurde das Leben der Bewohner von detaillierten Regelungen stark eingeschränkt. Hauptanliegen der universitären Obrigkeit scheint dabei die Konfliktvermeidung mit der Stadtbewohnerschaft gewesen zu sein. Universitäre Gerichtsakten aus Ingolstadt zeigen, dass die rigiden Verbote regelmäßig zur Übertretung der Vorgaben durch die Studenten führten. Man nahm die Einschränkungen der Lebensführung nicht einfach hin, sondern verließ nachts die Burse, besuchte Gasthäuser, spielte Karten, trug Waffen und geriet dabei immer wieder in Konflikt mit anderen Bewohnern der Stadt. Dass das Rektoratsgericht solche Vergehen mit Geldbußen und Haftstrafen belegte, hielt die Universitätsbesucher nicht von solchen zentralen Praktiken studentischer Lebensweise ab. Ihre Störungen aktualisierten beständig den Konflikt der beiden landesherrlich privilegierten Personenverbände Stadt und Universität.47 Da die finanziellen Beiträge, die von den Bursen verlangt wurden, nicht von jedem Universitätsbesucher bezahlt werden konnten, wurden etwa im Erfurter ‚Collegium zur Himmelspforte‘ spezielle Dienstposten geschaffen, mit denen ‚pauperes‘ durch die Erledigung täglich anfallender Arbeiten, wie die Bedienung der Kollegiaten und die Verwaltung der Speisekammer, Wohnrecht erwarben.48 In Wien richtete die Universität Armenbursen wie die Kodrei Goldberg ein, die in ihrem ebenfalls

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München, Bayerische Staatsbibliothek, Oefeleana 335 I, fol. 114r: [. . .] wo du dein sachen recht tätest, als ander dein gesellen thuen und das dein behieltest und nicht verzerest auserhalb der wurschen in den loter winckelen und an unendlichen steten, des wier woll bericht durch geschrifft und auch mundlichen. Statuta Collegii Sapientiae (Anm. 40), S. 70–80. Für die Freiburger Pfauenburse vgl. Johann Nepomuk Mederer, Annales Ingolstadiensis Academiae, Ingolstadt 1782, Bd. 4, S. 95–102. Zur Mederers fälschlicher Zuordnung dieser Bursenstatuten nach Ingolstadt vgl. Carl von Prantl, Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität in Ingolstadt, 2 Bde., München 1872, hier: Bd. 1, S. 94 Anm. 82. Für die Wiener Artistenfakultät vgl. Denk, Alltag zwischen Studieren und Betteln (Anm. 24), S. 148–150. Für die Ingolstädter Artistenfakultät, Mederer, Annales, Bd. 4, S. 83–88. Maximilian Schuh, Von alten Bürgern und jungen Studenten im spätmittelalterlichen Ingolstadt. Das Verhältnis von Stadt und Universität als Generationenkonflikt?, in: Generationen in spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städten, hg. von Mark Häberlein, Lina Hörl und Christian Kuhn, (Konflikte und Kultur 20), Konstanz 2011, S. 73–92. Für die Frühe Neuzeit vgl. Barbara Krug-Richter, Du Bacchant, quid est grammatica? Konflikte zwischen Studenten und Bürgern im frühneuzeitlichen Freiburg/Br., in: Praktiken des Konfliktaustrags in der Frühen Neuzeit, hg. von ders. und Ruth-E. Mohrmann, Münster 2004, S. 79–104, Tafeln I–VII; Marian Füssel, Umstrittene Grenzen. Zur symbolischen Konstitution sozialer Ordnung in einer frühneuzeitlichen Universitätsstadt am Beispiel Helmstedt, in:Machträume der frühneuzeitlichen Stadt, hg. von Christian Hochmuth und Susanne Rau (Konflikte und Kultur 13), Konstanz 2006, S. 171–191. Kempgyn, Trivitia studentium (Anm. 34), S. 33 f.

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statutarisch geregelten Tagesablauf ein eigenes Zeitfenster zum Sammeln von Almosen und zum Betteln festlegten, was von Landesherr und Stadt ausdrücklich erlaubt wurde.49 Weniger reglementiert, aber dennoch unter Aufsicht, konnte man in einem Magisterhaushalt leben. Dies eröffnete anderweitig nicht besoldeten Magistern die Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt durch die Beherbergung von Studenten mitzufinanzieren.50

III Das Studium in einer Universitätsstadt bedeutete nicht, dass die Verbindungen zu Familie und Heimat getrennt wurden. Vielmehr waren solche Kontakte gerade für die Mitglieder der besser gestellten „Mittelschicht“ ein wichtiges Element zur Sicherstellung der Versorgung. Der Kölner Student Gerhard von Wieringen etwa konnte aufgrund der großzügigen Förderung durch seinen Onkel Francko, der eine Pfarrstelle in Jülich innehatte, nicht nur seine artistischen Studien überdurchschnittlich schnell vollenden, sondern auch ein angenehmeres Leben als viele seiner Kommilitonen führen. Doch profitierte er nicht nur von den materiellen Zuwendungen des Onkels in Gestalt von Matratzen, Bettwäsche, Geschirr, Kleidung und Nahrung, sondern vor allem auch von dessen sozialen Netzwerken. Sie ermöglichten etwa den Kontakt zu Magistern und Bursenvorstehern und erleichterten so den Zugang zu und das Weiterkommen an der als Personenverband organisierten Universität.51 Dass der Kontakt zur Heimat nicht nur Vorteile mit sich brachte, sondern auch soziale Kontrolle, zeigt der Brief von Ulrich Mayr, aus dem ein intensiver Kommunikationszusammenhang rekonstruiert werden kann. Ulrich informierte sich aus verschiedenen Quellen über den Studieneifer und die Lebensführung seines Sohnes Georg. Denn dessen ständige briefliche Forderungen nach Unterstützung in Form von Geld und Kleidung hatten das Misstrauen der Eltern geweckt.52 Ebenso ein Brief des Ingolstädter Gläubigers Peter Karm, der die Begleichung von elf rheinischen Gulden forderte. Ulrich hatte sich deshalb an Georgs Magister, wohl den Bursenvorsteher gewandt, um zu erfahren, was in Ingolstadt passiere und ob sein Sohn anders behandelt werde als die anderen Bursenmitglieder.53 Darüber hinaus hatte er von einem namentlich nicht genannten Chorherrn erfahren, dass Georg 49 50 51

Denk, Alltag zwischen Studieren und Betteln (Anm. 24), S. 245–249. Schwinges, Der Student (Anm. 5), S. 202 f. Rainer C. Schwinges, Stiefel, Wams und Studium oder: Wozu hat man einen geistlichen Onkel? Aus den Notizen des Kölner Studenten Gerhard von Wieringen aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts [ED 2000], in: ders., Studenten und Gelehrte (Anm. 9), S. 529–551. 52 München, Bayerische Staatsbibliothek, Oefeleana 335 I, fol. 114r : Lieber sun, wier lassen dich wissen, das du uns vast krenckst und voller unmuet machst, ursachen halben, das wier wintzig guets von dier hören in deinem verschreyben, du schreybst uns umb under zug, under rockh hosen joppen, du vermainst, ich soll dier ein aygen poten halden, der ander nicht tät, dan das er dier stätes zu trewg wes dir not wer und mer gegerst dn dier nott ist. 53 München, Bayerische Staatsbibliothek, Oefeleana 335 I, fol. 114r : [. . .] als wier ein brieff schicken deinem mayster, wie er auff sechen auff sich hab und dich das dein las verczeren oder

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sich ständig in die huerren winckel und tafernen begebe, nichts lerne und alles in ihn investierte Geld verloren sei.54 Im gut 300 km entfernten Brixen konnten zu Beginn des 16. Jahrhunderts detaillierte Informationen zu Georgs Lebensführung in Ingolstadt zusammengetragen werden. Dies hatte Konsequenzen. Ulrich drohte, dem Sohn die Unterstützung zu entziehen und seine Schulden nicht zu bezahlen, falls er seinen Lebenswandel nicht ändere. Unterstrichen wurde diese Drohung durch den Verweis auf die Mutter, die wegen der Sorge um den Sohn sterbenskrank geworden sei.55 Der Brief schließt mit der Bemerkung: Damit thue das pest. Nicht mer dan spar dich got gesundt.56 Kleidung spielte nicht nur als Kostenfaktor für den Lebensunterhalt eine Rolle, sondern auch als ständisches Kennzeichen. Mit ihr wurde sowohl die Zugehörigkeit zur Universität als auch die Stellung in der Korporation deutlich sichtbar vor Augen geführt.57 Ein knöchellanges dunkles Gewand mit Kapuze etwa war die Grundausstattung an der Universität Basel. Scholaren vor dem artistischen Bakkalaureat hatten zusätzlich einen Gürtel anzulegen. Erst nach Promotion zum Bakkalar konnte auf den Gürtel verzichtet werden. In Ingolstadt, wo ähnliche Regelungen galten, regte der Rektor Johann Permeter von Adorf gegenüber einer herzoglichen Untersuchungskommission an, diese Kleidungsvorschriften abzuschaffen. In seiner Wahrnehmung waren sie ein unnötiger Eingriff in studentische Alltagspraktiken und die Verpflichtung, einen Gürtel auf wienisch art zu tragen, ließe Studieninteressierte angeblich nach Leipzig und anderswohin abwandern.58 Adlige, Domherren und Doktoren der Rechte durften als Kopfbedeckung ein rotes Birett tragen, Artistenmagister

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ob er dier nit zu essen als anderen seinen knaben und schicken ym auch damit den brieff den uns der Peter Karm geschickt hat und er fordert von uns XI gulden reinisch, das doch dein maister sech mit wen du umbgest. München, Bayerische Staatsbibliothek, Oefeleana 335 I, fol. 114r : Man hat auch gesagt den korherren, wie du in die huerren winckel und tafernen lauffest und nicht lernest und das gelt verloren sey, was man dier geb und uns sollichen grossen unmuedt machest, das wier wissen wes wier uns versechen sollen gen dier. München, Bayerische Staatsbibliothek, Oefeleana 335 I, fol. 114r : Du sollst auch wissen, das wier dem Peter Karm kain parner noch fierer schicken noch geben wellen an recht allain wier weren dan anders underricht von deinem mayster. Du schreybest uns, du wist nicht wes sich ainer halden sol, du haldest dich als ein nar und esel halden sol, daran alle kost verloren ist. Darumb gedenck, was du dier schuldig seyst, wier wellen kain herren an dier haben und unser herte arbayt als unutzlich an legen. Thuest aber noch recht und als ander dein gesellen, so well wie noch nit hand abziechen und trewlichen helffen. Du wekumerst dein mueter, das sy dester sterben mues und gantz kranckh ist. Ebd. Andrea von Hülsen-Esch, Gelehrte im Bild. Repräsentation, Darstellung und Wahrnehmung einer sozialen Gruppe im Mittelalter (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 201), Göttingen 2006, S. 147–151; Füssel, Gelehrtenkultur (Anm. 8), S. 104–106. Prantl, Geschichte, Bd. 2 (Anm. 46), S. 132: Item zum andern die grösst vacultet sein die artisten, die tragen gürttl auf wienisch art, aber dieweil sy dieselben gürtl tragen müessen, ziehen sy gen Leybz und ander enndt; es wären auf ein zeyt sechzehen zu Nürmberg gewesen, wollten miteinander gen Innglstat zogen sein, da sy gehört hetten, die gürtttel zetragen, wärn sy all gen Leybz gezogen, und wär sein rat, dieselben abzethun. Vgl. Maximilian Schuh, Ingolstadt oder Italien? Möglichkeiten und Grenzen akademischer Mobilität im Reich des 15. Jahrhunderts, in: Von Bologna zu ‚Bologna‘. Akademische Mobilität und ihre Grenzen, hg. von Tina Maurer und Christian Hesse (Itinera 31), Basel 2011, S. 23–45, hier: S. 31 f.

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ein braunes.59 Der Ingolstädter Artistenmagister und Mathematiklektor Johannes Tolhopf versuchte dieses Rangsystem der Kleidung für seine Zwecke zu nutzen. Durch das Tragen eines roten Biretts beanspruchte er symbolisch eine Stellung, die der von Professoren der höheren Fakultäten gleichkam. Im ständischen Gefüge der Universität führte das zu erheblicher Unruhe, da es ihm andere Artistenmagister gleichtaten und so die Inszenierung von Rang durch Kleidung nachhaltig in Frage gestellt wurde. Letztlich wurde der Konflikt durch landesherrliches Eingreifen und die päpstliche Sondererlaubnis, ein rotes Birett zu tragen, gelöst.60 Aber auch Studenten widersetzen sich diesen Vorschriften und versuchten durch individuelle Änderungen – etwa durch das Abschneiden der Ärmel –, ihre Erscheinung modischer zu gestalten, was vom Rektoratsgericht mit Geldstrafen geahndet und von landesherrlicher Seite als allgemeiner Sittenverfall der Jugend betrachtet wurde.61 Ein Student, der nachts gemeinsam mit anderen durch die Straßen der Stadt Basel streifte, trug einen den Bürgern vorbehaltenen Kugelhut, um so getarnt die Burse verlassen zu können. Nachdem er von der aus Handwerkern bestehenden Nachtwache aufgegriffen worden war, verpfändete er seine Laute, um den geliehenen Hut behalten zu können. Um diese wieder auszulösen, musste er schließlich mehr als elf Liter Wein übergeben.62

IV Neben den Kosten für die elementaren Bedürfnisse wie Essen, Wohnen und Kleidung verbrauchten Ausgaben für das Studium selbst einen erheblichen Teil des Budgets spätmittelalterlicher Universitätsbesucher. An erster Stelle standen die Gebühren für den Besuch der Lehrveranstaltungen. Die ‚Trivita studentium‘ schärft deren Zahlung in einem eigenen Kapitel nachdrücklich ein, betont aber zugleich verschiedene Möglichkeiten, sie für ärmere Studenten zu reduzieren.63 Zentrales Kennzeichen der Unterrichtsfinanzierung war, dass jede Veranstaltung einzeln zu bezahlen war.64 Universitäts- und Fakultätsstatuten geben daher präzise Auskunft darüber, wie viel für einzelne Kurse zu entrichten war. Vor allem für Artistenmagister ohne feste Besoldung stellten diese Hörergelder die Hauptfinanzierungsquelle dar. In Ingolstadt lässt sich für das ausgehende 15. Jahrhundert dabei ein von Angebot und Nachfrage geregelter Markt beobachten, der relativ heftige Preisschwankungen für die eher am Rande des Lehrplans stehende Rhetoriklehrveranstaltung verursachte. Zahlreiche

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Marc Sieber, Ungehobelte Studenten, Wölfe und singende Professoren. Das Basler Universitätsleben im ausgehenden Mittelalter, in: Begegnungen mit dem Mittelalter in Basel. Eine Vortragsreihe zur mediävistischen Forschung, hg. von Simona Slaniˇcka (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft 171) Basel 2000, S. 123–141, hier: S. 137. Schuh, Aneignungen des Humanismus (Anm. 37), S. 63 f. Schuh, Von alten Bürgern (Anm. 47), S. 81 f. Sieber, Ungehobelte Studenten (Anm. 59), S. 133 f. Kempgyn, Trivita studentium (Anm. 34), S. 62 f.: Capitulum secundum de latinisacione et solucione pastus. Schwinges, Der Student (Anm. 5), S. 217.

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Anschläge am „Schwarzen Brett“, sogenannte intimationes, die Werbung für die Vorlesungen einzelner Magister machten, unterstreichen diesen Zusammenhang.65 Die Studenten notierten die von ihnen besuchten Veranstaltungen ebenso wie die dafür entrichteten Gebühren auf einem Belegzettel, um bei der Meldung zu Promotionen ihren erfolgreichen Studienverlauf nachweisen zu können.66 Das Dokument von Martin Reitmayr, der in den 1480er Jahren von der Universität Wien nach Ingolstadt wechselte, weist neben zahlreichen Wiener Vorlesungen auch den Eintrag zu einer Ingolstädter Logikvorlesung aus. Allerdings zahlte er mit 35 Pfennig nur einen Teil der anfallenden Gebühr von 90 Pfennig. Anscheinend hatte er die Veranstaltung nur einige Stunden und nicht das gesamte Semester besucht, entsprechend bezahlte er weniger.67 Außerdem bestand die Möglichkeit, sich gegen Zahlung der für die Vorlesung fälligen Gebühr vor der Anmeldung zur Promotion von nicht besuchten Veranstaltungen dispensieren zu lassen. Versäumte Veranstaltungen konnten also durch das Bezahlen der Gebühr „nachgeholt“ werden, was zeigt, welch hohe Bedeutung den Zahlungen zukam. Gerade bei den offenbar unbeliebten mathematischen Vorlesungen wurde in Ingolstadt von dieser Möglichkeit rege Gebrauch gemacht.68 Als gewichtiger Kostenfaktor waren die im Unterricht verwendeten Lehrbücher von großer Bedeutung. Da sie in den Veranstaltungen sprachlich und inhaltlich erläutert wurden, sollten sie den Teilnehmern idealerweise vorliegen. Weil die Bibliothek in Ingolstadt ausschließlich den Lehrenden der Artistenfakultät zugänglich war,69 mussten Studenten die Bücher entweder kaufen oder anderweitig beschaffen. Für Leonhard Estermann stellte das keinerlei Problem dar. Der Student aus Wasserburg, der aufgrund der Zahlung der Gebühr für die höheren Fakultäten einer sozial höher gestellten Gruppe zuzurechnen ist,70 verfügte über einen umfangreichen Buchbesitz. Während seines von 1483 bis 1491 dauernden Studiums erwarb er insgesamt 21 Inkunabeln, die sowohl im universitären Unterricht als auch zum persönlichen Studium verwendet wurden. Unter ihnen befinden sich sowohl Werke des juristischen, theologischen und artistischen Lehrplans als auch italienische Ausgaben antiker Autoren.71 Diese Zusammensetzung deutet darauf hin, dass er tatsächlich erst Jura studierte, bevor er sich ausschließlich dem Studium an der Artistenfakultät widmete.72 Der Zusammenhang von sozialer Herkunft und den Möglichkeiten, das 65 66

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Schuh, Aneignungen des Humanismus (Anm. 37), S. 99–104. Ulrike Bodemann, Cedulae actuum. Zum Quellenwert studentischer Belegzettel des Spätmittelalters. Mit dem Abdruck von Belegzetteln aus dem 14. bis frühen 16. Jahrhundert, in: Schulliteratur im späten Mittelalter, hg. von Klaus Grubmüller (Münstersche Mittelalter-Schriften 69), München 2000, S. 433–499. Schuh, Aneignungen des Humanismus (Anm. 37), S. 77. Christoph Schöner, Mathematik und Astronomie an der Universität Ingolstadt im 15. und 16. Jahrhundert (Ludovico Maximilianea, Forschungen 13), Berlin 1994, S. 147–149. Ladislaus Buzás, Die Geschichte der Universitätsbibliothek München, Wiesbaden 1972, S. 13. Die Matrikel der Ludwig-Maximilians-Universität Ingolstadt-Landshut-München, hg. von Götz Freiherrn von Pölnitz in Verbindung mit Georg Wolff, Teil I: Ingolstadt, Band I: 1472–1600, München 1937, S. 122, Z. 8 f. (17. Mai 1483): Bernhardus Esterman de Wasserburg 8 gr. Vgl. Gerhard Stalla, Leonhard Estermann aus Wasserburg und seine Büchersammlung in der Benediktinerabtei Tegernsee, in: Heimat am Inn. Beiträge zur Geschichte, Kunst und Kultur des Wasserburger Landes 14/15 (1994/95), S. 79–86. Schuh, Aneignungen des Humanismus (Anm. 37), S. 208–210.

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Studium nach unterschiedlichen Interessen und Erwartungen zu gestalten, wird hier deutlich. Estermann konnte ohne Probleme die für den Unterricht benötigten Bücher kaufen. Dem Leitungsgremium der Artistenfakultät war aber vollkommen bewusst, dass dies nicht den Normalfall darstellte und andere Möglichkeiten zum Bucherwerb eingerichtet werden mussten. Zwar wurde statutarisch festgehalten, dass mindestens drei Studenten ein Exemplar des in der Vorlesung erläuterten Werkes vorzuliegen hatte.73 Um aber eine kostengünstige Möglichkeit zu eröffnen, die Texte zu beschaffen, bezahlte die Artistenfakultät zwei Magister, die den zukünftigen Unterrichtsbesuchern vor Semesterbeginn die entsprechenden Bücher diktierten. Ihre Bezahlung wurde dabei zum Teil von der Fakultät übernommen.74 So wurde weniger begüterten Studenten ermöglicht, kostengünstig an die behandelten Lehrwerke zu kommen, auch wenn dafür ein höherer persönlicher Arbeitseinsatz notwendig war. Und selbst Estermann nutzte diese Möglichkeit, um in mehreren Studienhandschriften weitere Unterrichtstexte zu versammeln.75 Ein Codex aus der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg zeigt, wie die Lehrtexte weitergegeben und -genutzt wurden. Conrad Hess schrieb an der Universität Wien den Text der ‚Elegantiolae‘ des italienischen Humanisten Augustinus Datus, der klassische lateinische Grammatik und Stilistik erläuterte,76 in den späten 1470er für das artistische Studium ab.77 Ein Besitzvermerk zu Beginn der Abschrift verrät Schreiber und Entstehungsort.78 Mit seinem 1481 erfolgten Studienortwechsel gelangte diese Abschrift nach Ingolstadt. Dort verwendete sie nicht mehr Hess als Textvorlage, sondern Johannes Stetmaister. Der eine Student hatte dem anderen offenbar die ‚Elegantiolae‘ abgekauft und benutzte sie, um dem Unterricht besser folgen zu können. Dass diese Abschrift im Unterricht Verwendung fand, belegen die handschriftlichen Notierungen, die zwei verschiedene Schreiberhände in den Zeilenzwischenräumen und an den Rändern der Seiten vornahmen. Die Glossen der zweiten Schreiberhand, die Johannes Stetmaister zuzuordnen ist, weisen dabei zahlreiche Bezüge zur Lebenswelt des Studenten auf. Seine Mutter, sein Bruder sowie andere Ingolstädter Studenten und Dozenten werden ebenso wie seine Beliebtheit

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München, Universitätsarchiv, O–I–1, fol. 10r , abgedruckt bei Prantl, Geschichte, Bd. 2 (Anm. 46), S. 74: Item ut ad proximam futuram mutationem cogantur scolares et baccalarii ad minus tres habere unum textum in qualibet eorum lectione, quod ita se complevisse iurabit quisque in congregatione facultatis ante admissionem ad examen. München, Universitätsarchiv, O–I–1, fol. 8r, abgedruckt bei Prantl, Geschichte, Bd. 2 (Anm. 46), S. 73: Quarta angaria penthecostes facta prima congregatione facultatis conclusum fuit ab eadem, quod statuantur duo magistri lectores textuum ad beneficium calami, quibus dabitur pastus et a facultate et ab audientibus scriptoribus secundum dispositionem decani et suorum assessorum. Vgl. Schöner, Mathematik (Anm. 68), S. 151. Schuh, Aneignungen des Humanismus (Anm. 37), S. 181–192. Paolo Viti, Art. ‚Dati, Agostino‘, in: Dizionario Biografico degli Italiani 33 (1987), S. 15–21. Herrad Spilling, Die Handschriften der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg 2º Cod 101– 250 (Handschriftenkataloge der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg 3), Wiesbaden 1984, S. 222. Augsburg, Staats- und Stadtbibliothek 2º Cod. 213, fol. 1r : Conradus Hess ex Novoforo waccalaureus studii Wiennensis.

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bei der Ingolstädter Damenwelt herangezogen, um die stilistischen Regeln des Lehrbuchtextes durch konkrete, selbst formulierte Beispiele zu illustrieren.79 Stetmaisters Lozierung bei der Bakkalaureatspromotion im Dezember 1479 an letzter Stelle zeigt, dass er nicht auf gesellschaftlichen Rang und große finanzielle Ressourcen zurückgreifen konnte. Hierin wird der Grund dafür liegen, dass er einen gebrauchten Lehrbuchtext erwarb und mit diesem sein Studium durchführte.80 Während seines Universitätsaufenthaltes schrieb er noch weitere rhetorische Texte ab und ließ sie in Ingolstadt mit den ‚Elegantiolae‘ zu einem Studiencodex zusammenbinden, der in das Augsburger Kloster St. Ulrich und Afra gelangte und in diesem institutionellen Kontext erhalten blieb.81 Die in Italien studierenden Reichen und Adeligen blieben nicht auf einer solch basalen Ebene des Wissenserwerbs stehen. Wilhelm von Reichenau etwa hatte keinerlei Probleme, sich zahlreiche Texte für sein juristisches Fachstudium sowie zudem die Handschriften von Werken antiker römischer Autoren zu leisten.82 Die Studenten von Stand wurden darüber hinaus selbst literarisch tätig und versuchten sich etwa im Verfassen von fingierten Liebesabenteuern nach dem humanistischen Vorbild Enea Silvio Piccolominis.83 In einen Brief an Sigmund Gossembrot, einen weiteren Sohn des Augsburger Bürgermeisters, behauptet Wilhelm, in Augsburg eine schwangere Geliebte zurückgelassen zu haben. Dies drohe, seine kirchliche Karriere zu beenden. Wilhelm schicke Gossembrot daher Geld, mit dem er die aufgebrachte Verlassene beruhigen und den zu erwartenden Nachwuchs versorgen möge. Auch wenn er sein unglückliches Schicksal am Ende des Briefes wortreich und eindringlich bedauert, ist davon auszugehen, dass es sich lediglich um eine literarische Übung handelte.84 79

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So z. B. Augsburg, Staats- und Stadtbibliothek, 2º Cod 213, fol. 7v : Johannes Stetmaister longe carior est puellis ceteris waccalareis. Vgl. Schuh, Aneignungen des Humanismus (Anm. 37), S. 201. Schuh, Aneignungen des Humanismus (Anm. 37), S. 199–202. Spilling, Handschriften (Anm. 77), S. 222. Spilling, Handschriften (Anm. 77), XII; Wendehorst, Das Bistum Eichstätt (Anm. 17), S. 238. Richard Stauber, Die Schedelsche Bibliothek. Ein Beitrag zur Geschichte der Ausbildung der italienischen Renaissance, des deutschen Humanismus und der medizinischen Literatur, Freiburg i. Br. 1908, S. 163 f.; Franz Josef Worstbrock, Art. ‚Piccolomini, Aeneas Silvius‘, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, hg. von Kurt Ruh u. a., Bd. 7, Berlin/New York 1989), S. 634–669, hier: S. 644 f. Hermann Schedels Briefwechsel (1452–1478), hg. von Paul Joachimsohn, Tübingen 1983, Nr. 15, S. 36–38, hier: S. 36 f.: Scis enim quo in statu verser, quanta de me exspectacio habeatur, ac qualia exspectaturus siem. [. . .] Quare ne ex scintillula maiora quidem periculam incurram, ut illi muliercule blandiciis persuadeas et minis – si id consultum videbitur – inducas vehementer cupio, ne modo aliquot ad me veniat. Quantum enim periculi hiis mihi temporibus induceret, melius quam scribere promptum est, tuo colligere ex animo poteris peroptime. Primum quidem an secum pacisci valeas labora, summam VI vel VIII flor. promettendo, ut alicui corivalium meorum vagientem donet, quod si fecerit omnia que mihi possibilia erunt sui ex parte me facturum polliceri poteri set debebis. Attamen si fieri minime poterit, hos tres uti vides florenos transmisi, ut ille dones, vivere ut habeat, et ante adventum sancti Jacobi meus ad te veniet famulus. [. . .] Tunc si partus tempore terminus verbis factisque correspondet ac habere me puerum necessitas coget, accipiam et si non pro puero, tamen pro misello ac delericto – ne tibi caruca videar – educabo. [. . .] Heu peccavi, hiis maiora merui! Utinam summus ille Jupiter mihi non lance iustiticie set miserecordie tribuat etc.

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Auch universitätspolitische Wirren und ihre sozialen Implikationen an den italienischen Universitäten wurden literarisch verarbeitet. Ein anonymer Autor verfasste eine an den antiken Vorbildern Terenz und Plautus orientierte Komödie, die der Nürnberger Hartmann Schedel während seines Studiums in Padua notierte. Sie handelt von der Konkurrenz zweier deutscher Studenten um eine besoldete Lektorenstelle, die durch studentische Wahl besetzt wurde und die zuvor der ebenfalls aus Nürnberg stammende Patriziersohn Johann Pirckheimer innegehabt hatte.85 In den Dialogen werden die Beeinflussung der Wähler, die persönlichen Verbindungen der einzelnen Handelnden und die Beziehung zur Heimat thematisiert. Der Protagonist Jakob erkennt im Verlauf des knappen Stückes, dass er einen erfahreneren Mitbewerber nicht zum Rückzug bewegen kann und verunglimpft ihn daher. Die soziale Herkunft des Kontrahenten Konrad Schütz, der seinen Lebensunterhalt als Lehrer an einer Schule verdienen musste und den Jakob als Sohn eines Spielkartenmalers verunglimpft, wird als Argument gegen ihn genutzt.86 Der so Eingeschüchterte, der in Erwartung des kommenden Gehalts bereits Geld geliehen und seinem erwarteten Status angemessene, teure neue Kleidung gekauft hat, bangt nun um seinen sicher geglaubten Wahlerfolg. Trotz seiner besseren intellektuellen Eignung schätzt er aufgrund des bekannt gewordenen sozialen Status seine Chancen gering und begibt sich zur seiner Geliebten, um bei ihr den Kummer zu vergessen.87 Jakob hingegen blickt am Ende der Komödie der Wahl gelassen entgegen. Die soziale Stellung der Figuren ist für die Handlung des Stücks zentral. Der Vorwurf, Konrad verberge seine Herkunft, reicht aus, um ihm die Hoffnung auf Erfolg zu nehmen. In dem adelig-patrizischen Milieu Paduas88 kann er als armer Handwerkersohn offensichtlich nicht auf die Stimmen der anderen Studenten hoffen. Ständische und mit ihnen verbunden ökonomische Grenzen versperren auch oder gerade in der literarischen Satire den Weg zu sozialem Aufstieg.

Wolfgang Hradský, Streit deutscher Studenten um eine Lektorenstelle im Padua des 15. Jahrhunderts. Eine anonyme lateinische Komödie, in: Sprache und Literatur der Romania. Tradition und Wirkung. Festschrift für Horst Heintze zum 70. Geburtstag, hg. von Irmgard Osols-Wehden, Giuliano Staccioli und Babette Hesse, Berlin 1993, S. 58–76. 86 Hradský, Streit deutscher Studenten (Anm. 85), S. 69: „Jakob: [. . .] Ich weiß nur dies: daß es hier Leute gibt, die behaupten, einer von den Nürnbergern sei der Sohn eines Vaters oder der Neffe eines Onkels, der einst Karten bemalt hat, mit denen wir jetzt spielen. – Siehe zu, daß du nicht die Wahrheit verrenkest, während du über andere Menschen Lügen verbreitest.“ 87 Hradský, Streit deutscher Studenten (Anm. 85), S. 69: „Konrad: Das sind Male meine künftigen Sieges. Ich habe mir ein Wams, das man ein doppeltes, gefüttertes nennt, und diese Stiefel hier in der Hoffnung angeschafft, das Gehalt von der Lektorenstelle an der Universität zu bekommen. Sollte etwas übrigbleiben, so wollen wir’s versaufen.“ Ebd., S. 71: „Konrad: [. . .] Ich weiß nämlich, ich weiß es ganz genau, was sie für sich wollen: sie scheuen sich vor meinem Geiste wie vor meinem Glück. Erhielt ich den Preis für meine Mühen, könnte ich leicht allen vorgezogen werden. Das fürchten sie jetzt, von daher rührt jener Haß. Auf sie alle gebe ich keinen Pfifferling, bekäme ich nur das Lektorat an der Universität. [. . .] Ich lege dies Fortuna in die Hände ich habe genug geworben, heute noch will ich die Geliebte wiedersehen. Wenn der Geldmakler weg ist, werde ich dort am Busen der Geliebten Ruhe finden. O Rosabella!“ 88 Paul F. Grendler, The Universities of the Italian Renaissance, Baltimore/London 2002, S. 22–31.

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Praktiken studentischen Lebens im Spätmittelalter

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V Gesellschaftlicher Rang und ökonomische Möglichkeiten bestimmten Alltags- und Studienpraktiken mittelalterlicher Universitätsbesucher von der Aufnahme in den Personenverband an nachhaltig. Zum einen entschieden sie über Studienort, Studienfachwahl, Studienverlauf und Studienabschluss, da sie an bestimmte soziale Milieus gebunden waren und zum Teil erhebliche Kosten mit sich brachten. So konnten sich nur Adlige und Patrizier das durch kirchliche Pfründen finanzierte Jurastudium an italienischen Universitäten leisten. Studenten mit weniger guten Ausgangschancen und geringeren Einkünften blieben zumeist auf das Reich und die übrigen Fakultäten beschränkt. Zum anderen wurden die Möglichkeiten, Wohnen, Kleiden und Essen zu gestalten, maßgeblich von den zu Verfügung stehenden finanziellen Ressourcen bestimmt. Während Wilhelm von Reichenau und seine Standesgenossen aufwendige Haushalte mit Bediensteten und Privatlehrer unterhalten konnten, suchte sich der Großteil der Universitätsbesucher kostengünstige Unterkunft in Bursen. Wie der Brief von Ulrich Mayr an seinen Sohn zeigt, versuchten Studenten, sich Einschränkungen im Bereich ihrer Alltagspraktiken zu widersetzen. Zahlreiche andere Beispiele zeigen, welche Bedeutung dem Erwerb ständisch angemessener Kleidung zugeschrieben wurde. Georgs Überschreitung seiner finanziellen Möglichkeiten in der fernen Universitätsstadt wurde aber von seinen Eltern bemerkt und sanktioniert. Die unterschiedliche Herkunft schlug sich schließlich auch in den Praktiken des Wissenserwerbs nieder. Im artistischen Milieu wurde mit der Aneignung elementarer sprachlicher Bildung gerungen, wobei die tägliche Lebenswelt miteinbezogen wurde. In den oberitalienischen Universitätsstädten hingegen hatten die Standesstudenten genug Zeit und Möglichkeit, an antiken und humanistischen Vorbildern orientierte Briefe über fingierte Liebesabenteuer und Komödien über universitätspolitische Ereignisse zu verfassen. Gerade in diesen literarischen Verarbeitungen wurden soziale Aufsteiger aufgrund ihrer Herkunft lächerlich gemacht und in ihre Schranken verwiesen. An der spätmittelalterlichen Universität kam nicht akademischer Leistungsfähigkeit die bedeutendste Rolle zu, sondern der sozialen Herkunft. Diese Herkunft und die mit ihr verbundenen finanziellen Ressourcen bestimmten die Möglichkeiten jedes Einzelnen, an den unterschiedlichen Praktiken studentischen Lebens teilzuhaben.

ABSTRACT Although they shared common academic privileges and rights, the members of the late medieval universities in the Holy Roman Empire did not form a homogenous social body as was suggested by scholarship in the 19th and 20th century. Their courses of study and their position within the academic hierarchy was closely linked to their status in the estate-bound medieval society. The social and economic possibilities of this non-academic status determined the practices of student life. While poor students, for example, were hardly able to pay for tuition, exams, books, accommodation and food, wealthy noble students brought their life style into the academic

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community. By examining official university records as well as personal and literary sources created by students, the paper identifies different practices of late medieval student life and analyses their economic, social and symbolic dimensions.

GEWALTSAME AUSEINANDERSETZUNGEN, VERLETZUNGEN UND TODESFÄLLE IM STUDENTISCHEN MILIEU DER UNIVERSITÄT TÜBINGEN IM 16. JAHRHUNDERT Oliver Auge und Frederieke M. Schnack

Caeterum studentes ipsi voluptati inservientes vini cybique avidi, pauci emergunt docti; die noctuque vagantur magnasque civibus molestias inferunt, cum quibus sæpe levibus de causis contendentes ad arma prorumpunt ac velut in iusto bello aciem dirigunt. Ad quam rem plurimum eos instigat mulierum procacitas. Quibus et loquendi quando velint et eundi quo velint libertas est neque adeo pudice sunt quam formos˛e.1

Vergnügungssüchtig, zu exzessivem Weingenuss und Völlerei neigend, leichtfertig zu allen Tages- und Nachtzeiten Unruhe stiftend und überdies wenig gelehrt – es sind beileibe keine schmeichelnden Worte, mit denen der italienische Humanist Eneas Silvius Piccolomini (1405–1464) in seiner österreichischen Geschichte die Wiener Studenten charakterisierte. Insbesondere schockierte den späteren Papst (Pius II., 1458–1464), wie oft sich die Universitätszöglinge in gewaltsame Auseinandersetzungen mit den Wiener Bürgern stürzten. Doch sprach der prominente Beobachter keineswegs nur Einzelfälle an, die sich allein auf die Donaumetropole beschränkten. Blicke auf andere Universitätsstädte legen vielmehr das Gegenteil nahe, wie ein anschauliches Beispiel aus Heidelberg zeigt: Im Jahr 1430 zog sich der Student Stephan Minner von Rottweil im Zuge einer Schlägerei eine schwere Kopfwunde zu. Heinrich Münsinger (1397–1476), als pfalzgräflicher Leibarzt ein sehr gefragter Chirurg, behandelte diese und wies den jungen Mann in ein Spital ein. Statt dortzubleiben und die Wunde auszukurieren, verkehrte der Student jedoch wieder in Wirtsund Frauenhäusern, sodass er der Verletzung erlag. Münsinger sah sich mit dem Vorwurf konfrontiert, den jungen Mann falsch behandelt zu haben, konnte sich aber

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Martin Wagendorfer (Hg.), Eneas Silvius Piccolomini, Historia Austrialis, Teil 2, 3. Red. (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores rerum Germanicarum, Nova series 24), Hannover 2009, hier: I. Buch, 3. Red., S. 271, Z. 4–11. Eine Übersetzung der Verse findet sich bei Karl Brunner, Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters, München 2012, S. 167: „Übrigens gehen die Studenten selbst eifrig dem Vergnügen nach, sind auf Wein und Speisen begierig, wenige erweisen sich als gelehrt, Tag und Nacht ziehen sie umher und bereiten den Bürgern großen Ärger. Sie kämpfen mit ihnen oft aus den geringsten Ursachen, greifen zu den Waffen und führen Schlachten wie in einem gerechten Krieg. Dazu reizt sie am häufigsten die Zudringlichkeit der Frauen, die sowohl den Freimut haben, zu sprechen, wann sie wollen, als auch zu gehen, wohin sie wollen, und sie sind nicht so keusch, wie sie schön sind.“ In der Kurzfassung der 2. Redaktion schilderte Piccolomini dies ähnlich, doch nicht ganz so drastisch: Ceterum studentes ipsi voluptati operam prebent. Vini cibique avidi pauci emergunt docti neque sub censura tenentur, die noctuque vagantur magnasque civibus molestias inferunt. Ad hec mulierum procacitas mentes eorum alienat. Piccolomini, Historia Austrialis, I. Buch, 2. Red., S. 271, Z. 7–10.

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mit einer Verteidigungsschrift davon befreien.2 Weitere mittelalterliche Beispiele für studentische Todesfälle sind angesichts der Überlieferungslage vereinzelt zu finden. Unabhängig von der teils schütteren Überlieferungssituation wird es sich aber wohl kaum um seltene Einzelfälle gehandelt haben, worauf schon Befunde hinweisen wie die Darstellung des Studententods auch im Lübecker Totentanz.3 Nachrichten über Vorfälle mit Studenten gelangten natürlich auch in den hohen Norden des Reichs. Vor der Gründung der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel im Jahr 1665 befürchteten die Bürger daher – teilweise zu Recht4 –, die Studenten könnten ihnen mit nächtlichem grassiren / tumultuiren und allerley Frevel / in Worten und Wercke zur Last fallen und sich mit fressen / sauffen und allerley leichtfertigem Wesen sehr ärgerlich hervortun.5 Einen guten Einblick ermöglicht die Quellenlage zur Universität Tübingen: Eine Auflistung von Aktennotizen über die Vergehen der dortigen Studenten im 16. Jahrhundert füllt einen ganzen Band.6 Laut Marian Füssel bildeten die Studenten eine „Untergruppe innerhalb der privilegierten Gemeinschaft der akademischen Bürger“7 und wurden auch genau als solche wahrgenommen. Das eigene, sie als gesellschaftliche Gruppe definierende „Ehrverständnis“ habe zu andauernden Konflikten „mit anderen Gruppen wie den 2

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Oliver Auge, ‚Tu si vixisses, multis jam vita daretur‘ – Der Leibarzt der Pfalzgrafen bei Rhein Heinrich Münsinger, in: Arzt und Patient im Mittelalter. Zum 600. Geburtstag von Dr. Heinrich Münsinger, hg. von Roland Deigendesch, Münsingen 1997, S. 52–61, hier: S. 55 mit Anm. 20. Das Dokument zur Rechtfertigung Münsingers ist ediert in: Eduard Winkelmann (Hg.), Urkundenbuch der Universität Heidelberg, Bd. 1, Heidelberg 1886, S. 124–128, Nr. 91 (1430 Okt. 15/16). Hermann Baethcke (Hg.), Des Dodes Dantz, nach den Lübecker Drucken von 1489 und 1496, Tübingen 1876, S. 55–57. Dazu für die esten Jahre nach der Gründung der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel jüngst Frederieke Maria Schnack, „Daß die Studenten ein so dissolutes Leben führen . . .“. Studentische Devianz zwischen Vorurteil und Realität in den Anfangsjahren der Christiana Albertina, in: Christiana Albertina 81 (2015), S. 47–78. Einen Überblick über studentische Devianz in Kiel, leider ohne genaue Angaben der verwendeten Archivalien, bietet außerdem folgender Aufsatz: Alexander Scharff, Kieler Studenten und Studentenleben in den ersten zwei Jahrhunderten der Christiana Albertina, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte 59 (1975), H. 5/6, S. 53–64. Besonders häufig und heftig scheinen in Kiel Scharmützel unter Einsatz des Degens gewesen zu sein, derer sich die Bürger oft nur mit dem Griff zum Messer erwehren konnten. Ferner seien Raufereien, Trinkgelage und Sachbeschädigungen (bes. von Fenstern und Laternen) an der Tagesordnung gewesen: Jan Schlürmann, Matrikel, Meister und Mensuren. Die Christian-Albrechts-Universität, ihre Studenten und die Fechtkunst im 17./18. Jahrhundert, in: Schleswig-Holstein (2002), H. 4, S. 8–10. Friedrich Jessen, Kielische Lob-, Denck- und Danck-Predigt, in: Alexander Julius Torquatus á Frangipani, Christiano-Albertinæ Inauguratio, Schleswig/Kiel 1666, S. 26. Darauf offenbar Bezug nehmend Annerose Sieck, Kiel. Eine kleine Stadtgeschichte, Erfurt 2005, S. 45 f. Robert von Mohl, Geschichtliche Nachweisungen über die Sitten und das Betragen der Tübinger Studirenden während des 16ten Jahrhunderts, Tübingen 4 1977, unveränd. Nachdruck der 2. Aufl.; hier zitiert nach der 2. Aufl., Tübingen 1871. Eine überblicksartige Darstellung des studentischen Lebens ohne tiefergehende Quellenanalysen bietet außerdem Michael Weiß, Bücher, Buden, Burschenschaften. Tausend Semester Tübinger Studentenleben, Tübingen 1991. Marian Füssel, Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Studien zur Geschichte, Literatur und Kunst), Darmstadt 2006, S. 250. Auch zum Folgenden.

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Handwerkern“ sowie „mit der städtischen und der eigenen akademischen Obrigkeit“ geführt. Füssel konstatiert, der Anspruch auf die „akademische Freiheit“ habe deviantes Verhalten innerhalb der studentischen Kultur geradezu zur Norm werden lassen. Gleichwohl sei die in sich heterogene Gruppe der Studenten nicht mit einer „Subkultur“ oder „Gegengesellschaft“ gleichzusetzen, sondern müsse aufgrund der begrenzten Zeit, in der die jungen Männer ihr angehörten, als heterogene „Standeskultur auf Zeit“ gesehen werden.8 In einem kurzen sozialtheoretischen Abriss der bisherigen Forschung, die sich mit dem Devianzbegriff auseinandergesetzt hat,9 betont Füssel außerdem, dass bei der Untersuchung abweichender Verhaltensweisen zwangsläufig gefragt werden müsse, „was in einer jeweiligen Gesellschaft überhaupt als ‚kriminell‘ angesehen wurde“.10 Da die Universitäten der frühen Neuzeit von den Städten losgelöste Rechtsräume darstellten und aus diesem Umstand regelmäßig Konflikte erwuchsen, muss dies gerade im Fall der studentischen Devianz genau herausgearbeitet werden: Welche Handlungsweisen waren es, die aufgrund der „sozialen Bedingungen“ im Umfeld von Universität und Stadt „als Normenverstoß gewertet wurden“?11 Lassen sich Abstufungen in der Schwere der Vergehen feststellen? Welche Anzeichen gibt es für Konflikte zwischen Universitätsangehörigen und Stadtbevölkerung? Hier möchte dieser Beitrag ansetzen.

UNTERSUCHUNGSANSATZ UND ÜBERLIEFERUNGSPROBLEMATIK Das Thema der studentischen Devianz ist bislang erst für die Universitäten Göttingen, Freiburg und Köln eingehend untersucht worden.12 Im Mittelpunkt der

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Zur studentischen Devianz in Köln: Ders., Devianz als Norm? Studentische Gewalt und akademische Freiheit in Köln im 17. und 18. Jahrhundert, in: Westfälische Forschungen 54 (2004), S. 145–166, hier: S. 166. 9 So u. a.: Joachim Eibach, Kriminalitätsgeschichte zwischen Sozialgeschichte und Historischer Kulturforschung, in: Historische Zeitschrift 263 (1996), S. 681–715, u. Gerd Schwerhoff, Aktenkundig und gerichtsnotorisch. Einführung in die historische Kriminalitätsforschung (Historische Einführungen 3), Tübingen 1999, S. 11 f. 10 Füssel, Devianz (Anm. 8), S. 146 f. 11 Zitate: Ebd., S. 147. 12 Für Göttingen: Stefan Brüdermann, Göttinger Studenten und akademische Gerichtsbarkeit im 18. Jahrhundert (Göttinger Universitätsschriften, Serie A,15), Göttingen 1990; für Freiburg: Kim Siebenhüner, „Zechen, Zücken, Lärmen“. Studenten vor dem Freiburger Universitätsgericht 1561–1577, Freiburg 1999; für Köln: Füssel, Devianz (Anm. 8). Blicke auf studentische Devianz finden sich auch in Füssels Überblicksdarstellung: Ders., Gelehrtenkultur (Anm. 7), zum Auftreten adliger Studenten in Tübingen vgl. insbesondere Kapitel V. 3. 4. Einen Überblick über die Situation in Kiel kurz nach der Universitätsgründung bietet ferner der bereits genannte Aufsatz Frederieke Maria Schnacks: Schnack, Studentische Devianz (Anm. 4); außerdem: Scharff, Kieler Studenten (Anm. 4). Auf Akte studentischer Gewalt hat auch Ulrich Rasche in seinem als Anregung zur weiteren Beschäftigung mit dem Untersuchungsgebiet konzipierten Aufsatz zur Universität Helmstedt hingewiesen: Ulrich Rasche, Aspekte studentischer Konfliktund Erinnerungskultur im 17. Jahrhundert, in: Das Athen der Welfen. Die Reformuniversität Helmstedt 1576–1810, hg. von Jens Brüning und Ulrike Gleixner (Ausstellungskataloge der Herzog-August-Bibliothek 92), Wolfenbüttel 2010, S. 58–67.

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folgenden Ausführungen soll nun die Universität Tübingen (gegründet 1477) stehen. Für die Wahl Tübingens als Untersuchungsgegenstand sprechen die günstige Quellenlage und vor allem ihre bisherige Aufarbeitung. Die verschiedenen Quellen des dortigen Universitätsarchivs, die über Vergehen der Studenten Auskunft geben können, hat Robert von Mohl für das 16. Jahrhundert bereits in einem zuerst 1840 gedruckten Band erschlossen.13 Als regestenartige Materialsammlung sind die aktenkundig gewordenen Vorfälle zwischen 1518 und 1600 somit bereits greifbar und als Materialbasis für eine überblicksartige Untersuchung über häufige Vergehen im Allgemeinen und gewaltsame Auseinandersetzungen sowie Todesfälle im Speziellen sehr gut geeignet. Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die universitäre Überlieferung einerseits und ihre bisherige Aufarbeitung andererseits alles andere als unproblematisch sind. Wie von Mohl am Beginn seiner teils mehrjährige Lücken aufweisenden Materialsammlung erklärt, sei aufgrund der Quellenlage „eine vollständige Darlegung der Ereignisse nicht möglich“ gewesen. Im Hinblick auf die Überlieferung insgesamt falle zwar „der größere Reichthum des Universitäts-Archives“ hinsichtlich der Quellen zu studentischen Vergehen auf, das erste halbe Jahrhundert der Hochschule könne allerdings nicht untersucht werden, da nahezu alle Schriftstücke dieser Zeit aufgrund eines Brandes verloren seien.14 Und obwohl von Mohl versucht hat, für das 16. Jahrhundert zumindest möglichst alle greifbaren Aktenstücke zu sammeln, weist seine Arbeit über die „Sitten und das Betragen der Tübinger Studirenden“ auch insgesamt problematische Züge auf. Denn sie ist im Kontext der sogenannten älteren Kulturgeschichte entstanden. Dieser am Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte Ansatz betrachtete vor allem in deszendenzgeschichtlicher Perspektive sittenhistorische Themen und wollte im Falle der Universitätsgeschichtsschreibung oftmals dazu beitragen, ein im Vergleich zur eigenen, mehr oder minder als ideal oder vorbildlich empfundenen Gegenwart konträres Bild des studentischen Lebens in der Vergangenheit zu entwerfen. Darüber hinaus fassten einige der oft unvollständigen, meist eher erzählenden als analysierenden Panoramen Gewalt als harmlosen Teil studentischer Tradition auf und romantisierten das Thema ohne Reflexion der Konfliktfelder.15

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Von Mohl, Geschichtliche Nachweisungen (Anm. 6). Eine bloße, überblicksartige und sehr kurze Zusammenfassung der bei von Mohl angeführten Vergehen liefert außerdem Karl-Hermann Kästner, Die Tübinger Studenten im 15. und 16. Jahrhundert und die öffentliche Ordnung, in: Ferdinandina. Herrn Prof. Dr. jur. Ferdinand Elsener zum 60. Geburtstag am 19. April 1972 gewidmet von seinen Schülern, hg. von Friedrich Ebel u. a., Tübingen 2 1973, S. 43–55. Zum Wirken Robert von Mohls (1799–1875) als Staatswissenschaftler u. a. an der Universität Tübingen siehe Ulrich Scheuner, Robert von Mohl. Die Begründung einer Verwaltungslehre und einer staatswissenschaftlichen Politik, in: 500 Jahre Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Beiträge zur Geschichte der Universität Tübingen 1477–1977, hg. von Hansmartin Decker-Hauff, Gerhard Fichtner und Klaus Schreiner, Tübingen 1977, S. 515–538. 14 Von Mohl, Geschichtliche Nachweisungen (Anm. 6), S. 8–10. 15 Zur generellen Problematik dieser und ähnlicher, das Thema meist verharmlosender Untersuchungen einer Kulturgeschichte älterer Prägung vgl. mit weiteren Literaturhinweisen Füssel, Devianz (Anm. 8), S. 146 mit Anm. 6. Verharmlosende und romantisierende Anklänge der Geschehnisse in Tübingen finden sich in: Hans Lenz (Hg.), Tübinger Studenten. Eine Festschrift zum 450. Jubiläum den Freunden der Universität dargebracht von der Studentenschaft, Tübingen

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Von Mohls Arbeit dient für die folgenden Überlegungen deshalb als reine Materialsammlung, kann aber nicht als bereits geleistete Untersuchung zur studentischen Devianz in Tübingen verstanden werden. In diesem Zusammenhang ist ausdrücklich zu betonen, dass eine erneute Sichtung des im Tübinger Universitätsarchiv aufbewahrten Quellenmaterials, die für weitergehende Studien gewiss unerlässlich ist, im Rahmen dieses als Skizze oder Problemaufriss zu verstehenden Aufsatzes nicht möglich war. Freilich wurden in Ergänzung zur von Mohlschen Materialsammlung andere Quellen(-gattungen) hinzugezogen. Um zu erkennen, warum Handlungen als deviant bewertet wurden, müssen nämlich auch die Universitätsordnungen des 16. Jahrhunderts und die unterschiedlichen Verordnungen zu studentischen Handlungen ausgewertet werden.16 Darüber hinaus sind die bei von Mohl genannten Namen anhand des gedruckten Matrikelverzeichnisses der Universität Tübingen auf weitere biographische Informationen, etwa zu deren sozialem Status, zu überprüfen.17 Erkenntnisse über gewaltsame Todesfälle 1927. Unkritische Nostalgie gegenüber studentischer Devianz zeigt sich vor allem in fünf von Kurt Kayser verfassten Gedichten (S. 25–29), die im Band unter dem Titel „Tübinger Studentenleben im 16. Jahrhundert“ präsentiert werden. Exemplarisch sei hier das erste Gedicht zitiert: Auf dem Marktbrunnen Das waren noch andere Zeiten, Das war noch ein Studium! Mit langen Schlaegern und Spießen Zog da der Studiosus herum.

Und hieben mit den Schlaegern Die hellen Funken heraus, Und schlugen die Laute und hoehnten Den alten Philister noch aus:

An Ellenbogen und Knieen Geschlitzet war sein Kleid: Aus allen Ecken und Enden Schaut’ ihm die Heiterkeit.

Was braucht der Spießer zu schlafen, Schlaeft so den ganzen Tag – Und der Stadtknecht soll nur kommen, Wenn er Schmisse haben mag –

Und Nachts, wenn die Buerger schliefen, Da wachte der Bursch noch lang: Auf dem alten Brunnen am Rathaus, Da zechten sie mit Gesang

Was braucht der warm zu schlafen, Indeß wir wachen hier, Auf dem harten Brunnenstein sitzen Und saufen das kalte Bier!

Wie der folgende Abschnitt zeigen wird, nennt dieses Gedicht fast alle Tübinger Ausprägungen studentischer Devianz des 16. Jahrhunderts. Möglicherweise ist von Mohls Darstellung als Vorlage benutzt worden. Von der älteren Kulturgeschichte ist beispielsweise auch eine Darstellung zur Universität Rostock geprägt: Gustav Kohfeldt, Rostocker Professoren und Studenten im 18. Jahrhundert. Schilderungen nach den Akten und nach zeitgenössischen Berichten, Rostock 1919; zum studentischen Leben s. den Abschnitt „Aus dem Studenten-Leben und -Treiben“ ab S. 65. Zur Kritik an solchen Bearbeitungen mit weiteren Literaturhinweisen Füssel, Devianz (Anm. 8), S. 146, Anm. 6; zur älteren Kulturgeschichte und ihren Unterschieden zu neuen Untersuchungsansätzen: Richard van Dülmen, Historische Kulturforschung zur Frühen Neuzeit, Entwicklung – Probleme – Aufgaben, in: Geschichte und Gesellschaft 21 (1995), S. 403–429, bes. S. 420–423. 16 Für die Zeit von der Universitätsgründung 1477 bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts sind diese Quellen im folgenden Band ediert: Rudolf von Roth (Hg.), Urkunden zur Geschichte der Universität Tübingen aus den Jahren 1476 bis 1550, Tübingen 1877. 17 Heinrich Hermelink (Hg.), Die Matrikeln der Universität Tübingen, Bd. 1: Die Matrikeln von 1477–1600, Stuttgart 1906 (im Folgenden: MUT I); Albert Bürk und Wilhelm Wille (Hg.), Die Matrikeln der Universität Tübingen, Bd. 2: 1600–1710, Tübingen 1953 (im Folgenden: MUT II).

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von Studenten können außerdem Grabplatten und Epitaphien der Universitätsangehörigen in der Tübinger Stifts- und Universitätskirche St. Georg liefern.18 Mit dem Tagebuch des Universitätsprofessors Martin Crusius (1526–1607),19 in dem der Tod des 1596 erschossenen Gottfried von Öttingen sowie das Begräbnis des jungen Mannes beschrieben sind, tritt eine weitere Quellenart hinzu, die noch detailliertere Informationen zu verletzten und verstorbenen Studenten liefern kann. Dasselbe gilt für Leichenpredigten. Diejenigen Tübinger Studenten, zu denen es sowohl eine Grabplatte beziehungsweise ein Epitaph sowie eine Leichenpredigt20 gibt, sind allerdings offenbar alle an Krankheiten und nicht wegen devianter Gewaltpraxis verstorben. Insgesamt gesehen ist eine verbindende Analyse aller verfügbaren Quellen am Beispiel Tübingens dennoch sehr gut möglich. Dies ist ein weiterer Punkt, der für die Wahl dieses Untersuchungsgegenstandes spricht. Für andere alte Universitäten, etwa Heidelberg, Rostock, Greifswald oder Jena, mag freilich ganz Ähnliches gelten. Bei den Möglichkeiten, die diese Quellen für die Untersuchung studentischer Devianz bieten, bleibt ein wichtiges Problem bestehen: Die Gruppe der Studenten war in Tübingen nicht homogen, da sowohl bürgerliche als auch adlige junge Männer an die dortige Universität geschickt wurden, wobei letztere allerdings in der Minderheit waren.21 Insbesondere bei Vergehen gegen Stadtbürger muss deshalb gefragt werden, aus welcher sozialen Gruppe die studentischen Verursacher jeweils stammten. 18

Zu den Grabsteinen und Epitaphien der Universitätskirche St. Georg vgl. Stefanie A. Knöll, Die Grabmonumente der Stiftskirche in Tübingen (Beiträge zur Tübinger Geschichte 13), Stuttgart/Tübingen 2007. Zur Geschichte des St. Georgen-Stifts und seiner Entstehung im Zuge der Universitätsgründung vgl. Johann Baptist Sproll, Verfassung des St. Georgen-Stifts zu Tübingen und sein Verhältnis zur Universität im Zeitraum von 1476–1534, in: Freiburger Diözesan-Archiv 30, N. F. 3 (1902), S. 105–192 sowie 31, N. F. 4 (1903), S. 141–197; Oliver Auge, Universität und Schule im Rahmen der Tübinger Stiftsgeschichte, in: Stiftsschulen in der Region. Wissenstransfer zwischen Kirche und Territorium, hg. von Sönke Lorenz, Martin Kintzinger und Oliver Auge (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 50), Ostfildern 2005, S. 141–166. 19 Wilhelm Göz und Ernst Conrad (Hg.), Diarium Martini Crusii 1596–1597, Tübingen 1927, S. 164 f. (Tod Gottfrieds von Öttingen) und S. 179 (Begräbnis). Zu Crusius: Karl Klüpfel, Art. ‚Crusius, Martin‘, in: Allgemeine Deutsche Biographie 4 (1876), S. 633 f.; Gerhard Philipp Wolf, Martin Crusius (1526–1607). Philhellene und Universitätsprofessor, in: Fränkische Lebensbilder, hg. von Erich Schneider, Bd. 22 (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Fränkische Geschichte, Reihe VII A), Würzburg 2009, S. 103–119; Hans Widman, Art. ‚Crusius, Martin‘, in: Neue Deutsche Biographie 3 (1957), S. 433 f. 20 Leichenpredigten sind in der Württembergischen Landesbibliothek für folgende Studenten überliefert: Wilhelm Ernst von Waldeck (1584–1598; Signatur: Fam.Pr.oct.K.23567); Jacob Kotze (um 1590–1606; Signatur: Fam.Pr.oct.K.9451); Friedrich von der Schulenburg (1591–1613; Signatur: Fam.Pr.oct.K.16058); Johann Reisco (um 1597–1617; Signatur: Fam.Pr.oct.K.13770); Christoph Skiel (1604–1622; Signatur: Fam.Pr.oct.K.16730); Joachim Friedrich Kaplirs von Sulewitz (1644–1665; Signatur: Fam.Pr.oct.K.8319); Erich Anton von Marquard (wohl 1683– 1703; Signatur: Fam.Pr.oct.K.11189). Vgl. Knöll, Grabmonumente (Anm. 18), S. 98–100, Nr. 69; S. 137–141, Nr. 93 f.; S. 30 f., Nr. 25 (Grab) u. S. 150 f., Nr. 101 (Epitaph); S. 114–116, Nr. 79; S. 142 f., Nr. 96; S. 116 f., Nr. 80; S. 88–90, Nr. 61. Der soeben genannte Christoph Skiel war ein dänischer Adliger und stammte aus Ripen. Das Grabmal der Eltern befindet sich in einer Kapelle im rechten Seitenschiff des dortigen Doms. 21 Siehe hierzu (leider nur mit Daten zum 17. Jh.): Rainer A. Müller, Aristokratisierung des Studiums? Bemerkungen zur Adelsfrequenz an süddeutschen Universitäten im 17. Jahrhundert,

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Anhand des teilweise lückenhaften Matrikelverzeichnisses lässt sich jedoch gerade das nicht immer klären, da sich ab 1594 diejenigen jungen Männer, die das neue, von der Universität losgelöste und spätestens ab 1596 nur noch für Adlige, aber nicht mehr für die Söhne reicher Bürger offene Collegium Illustre besuchten, oftmals gar nicht darin wiederfinden. Für die Vorgängerinstitution dieses Collegiums, eine 1559 auf Betreiben des württembergischen Herzogs Christoph (1515–1568) gegründete Institution, die vornehmlich junge Adlige auf den Verwaltungsdienst vorbereitete, ist noch weniger zu klären, wer sich dort eingeschrieben hatte. Klar ist allerdings, dass sich bereits dieses frühe Collegium, in dem der Universitätsprofessor Martin Crusius bis 1572 die Funktion des Inspektors und ersten Praeceptors innehatte,22 doch eher abgeschieden von der Universität in den nicht abgebrannten Räumen des ehemaligen Franziskanerklosters befand. Mit dem 1594 eröffneten Neubau blieb diese räumliche Trennung bestehen, außerdem wurden unter dem neuen Hofmeister Hans Jakob Breuning von Buchenbach (um 1552–1617) fortan neben den in geringerem Umfang als an der Universität unterrichteten wissenschaftlichen Fächern nun auch vermehrt höfische Fähigkeiten wie Ballspiel, Fechten, Reiten und Tanz gelehrt.23 Ähnlich wie bei den jungen Männern, die das im vormaligen Augustinereremitenkloster untergebrachte geistliche Kolleg besuchten, ist bei den adligen Studenten somit nicht klar, inwieweit sie überhaupt Kontakt zu bürgerlichen Studenten und zur Universität als solcher hatten.

in: Geschichte und Gesellschaft 10 (1984), S. 31–46, Tabelle 6 auf S. 3: Zwischen 1600 und 1700 lag der Anteil immatrikulierter Adliger an der Gesamtzahl aller Eingeschriebenen nie höher als 12,7 Prozent. In sieben von zehn Dekaden war er nicht einmal zweistellig und rangierte damit auf deutlich niedrigerem Niveau als beispielsweise in Ingolstadt. Trotz dieser niedrigen Zahlen ist zwischen 1500 und 1650 eine deutliche Zunahme (Verdreifachung) des Anteils Adliger an der Studentenschaft zu erkennen (ebd., S. 31 f.), was an der neuen Stärke des Bürgertums und dem Streben vieler Bürgersöhne nach einer guten, universitären Ausbildung lag, hinter der der Adel zumindest pro forma nicht zurückstehen wollte. Zu den vergleichsweise anspruchslosen Lektionen am Tübinger Collegium Illustre vgl. Anm. 23. 22 Hans-Wolf Thümmel, Die Tübinger Universitätsverfassung im Zeitalter des Absolutismus (Contubernium 7), Tübingen 1975, S. 435, zur Entwicklung des Collegiums und seiner Statuten insgesamt S. 434–448, zu Crusius’ Tätigkeit S. 435. 23 Zu den obigen Aussagen über das Collegium Illustre vgl.: Karl Klüpfel, Geschichte und Beschreibung der Universität Tübingen, Tübingen 1849, S. 105–113; Eugen Schneider, Das Tübinger Collegium illustre, in: Württembergische Vierteljahrshefte für Landesgeschichte, N. F. 7 (1898), S. 217–245, hier: S. 217–220 (Gründung), S. 223–228 (Statuten von 1594 und 1596). Außerdem: August Willburger, Das Colegium illustre zu Tübingen, Tübingen 1912; Henny Glarbo, En Adelsskole i det 16. og 17. Aarhundrede. Collegium Illustre i Tübingen (Studier fra Sprogog Oldtidsforskning 127), Kopenhagen 1923, S. 29 f., S. 51–57; Josef Forderer, Der Tübinger Student im Laufe der Jahrhunderte, in: Festausgabe der Tübinger Chronik zur 450-Jahr-Feier der Landesuniversität vom 24./26. Juli 1927, S. 8–11, hier: S. 9; Norbert Conrads, Ritterakademien der Frühen Neuzeit. Bildung als Standesprivileg im 16. und 17. Jahrhundert (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 21), Göttingen 1982, S. 113; Füssel, Gelehrtenkultur (Anm. 7), Kap. V.3.4. Wie das Collegium Illustre im Jahr 1601 aus der Universität herausgelöst wurde und auf welche Widerstände dies stieß, ist eingehend bei Thümmel, Universitätsverfassung (Anm. 22), S. 437–439 beschrieben. Zu Breuning von Buchenbach: Max Miller, Art. ‚Breuning von und zu Buchenbach, Hans Jakob‘, in: Neue Deutsche Biographie 2 (1955), S. 608.

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Da sich diese Fragen hinsichtlich der devianten Handlungsweisen nicht vollständig beantworten lassen und die lückenhafte Überlieferung es nicht sinnvoll macht, für das 16. Jahrhundert große Entwicklungslinien studentischer Devianz in Tübingen nachzuzeichnen, soll gegenüber von Mohls chronologischer Darstellung ein neuer Untersuchungsansatz gewählt werden. Generell stellt sich zunächst die Frage, welche Ausprägungen studentischer Devianz es im Tübingen des 16. Jahrhunderts überhaupt gegeben hat. Ausgehend von diesem Überblick soll anschließend nachvollzogen werden, welche Arten gewaltsamer Auseinandersetzungen mit studentischer Beteiligung stattfanden. Hierbei muss vor allem gefragt werden, welche sozialen Gruppen sich gegenüberstanden, da dies Hinweise auf das Verhältnis der Studenten untereinander sowie zu den übrigen Stadtbewohnern geben kann. Als ein besonderer Teilaspekt der Auseinandersetzungen soll abschließend der gewaltsame Studententod beleuchtet werden. Bei der gesamten Untersuchung steht die Frage im Raum, welche Handlungsweisen explizit als Normverstöße gewertet wurden und welche Bedingungen zu gewaltsamen Auseinandersetzungen und sogar Todesfällen führen konnten.

AUSPRÄGUNGEN STUDENTISCHER DEVIANZ IN TÜBINGEN Diverse universitäre Verordnungen, die Universitätsstatuten von 153724 sowie die Fülle der bei von Mohl überlieferten Fälle ermöglichen einen guten Überblick über unterschiedliche Formen studentischer Devianz im 16. Jahrhundert. Rein im universitären Rechtsraum bewegten sich die häufigen Verstöße gegen die Kleiderordnung.25 Die Grundlage dieser mehrfach erweiterten und vor allem präzisierten Regelung 24

Von Roth, Urkunden (Anm. 16), S. 205–231, Nr. 41, zu Bestimmungen gegen studentische Vergehen v. a. ab S. 218. Am Ende des Dokuments erklärt ein editorischer Zusatz, dass die Statuten in früheren Abhandlungen fälschlicherweise auf das Jahr 1518 datiert worden seien. Die Sprache, „das Werk eines Latinisten“, weise allerdings darauf hin, dass es sich bei den undatiert überlieferten Statuten um diejenige Fassung handle, die unter Mitwirkung des Professors Joachim Camerarius ausgearbeitet wurde. Diese Form der Statuten blieb bis 1601 in Kraft; ebd., S. 231. Auch von Mohl datiert die Statuten demnach falsch: Ders., Geschichtliche Nachweisungen (Anm. 6), S. 11. 25 Bereits Klüpfel hat dies, allerdings mit den entsprechenden Ansichten der älteren Kulturgeschichte, für Tübingen herausgestellt: Klüpfel, Geschichte und Beschreibung (Anm. 23), S. 134 f. Zu Aktennotizen über Kleiderordnungen und Verstöße vgl. auch von Mohl, Geschichtliche Nachweisungen (Anm. 6), beispielsweise S. 13 f., Nr. 3; S. 17, Nr. 13; S. 19, Nr. 25; S. 21, Nr. 33; S. 22 f., Nr. 35 u. 37, 38; S. 27, Nr. 59; S. 32–34, Nr. 85; S. 35, Nr. 90; S. 36 f., Nr. 96; S. 40, Nr. 111; S. 57, Nr. 177. Dieser Verstoß wird auch in einer überblicksartigen Auflistung bei Thümmel genannt: Hans-Wolf Thümmel, Universität und Stadt Tübingen, in: 500 Jahre Eberhard-Karls-Universität Tübingen (Anm. 13), S. 33–84, hier S. 54 f. Thümmels Auflistung beruht nach den Angaben in der dortigen Anm. 199 auf den Arbeiten von Mohls (von Mohl, Geschichtliche Nachweisungen [Anm. 6]) und Forderers (Forderer, Tübinger Student [Anm. 23]). Vgl. zu Verstößen gegen die Kleiderordnung auch die zweite Strophe des in Anm. 15 wiedergegebenen Gedichtes von Kurt Kayser. Zum Delikt des Verstoßes gegen die Kleiderordnung und zu einer knappen Auflistung anderer Tübinger Studenten kurz auch Kästner, Tübinger Studenten (Anm. 13), ab S. 44. Eine wie hier dargebotene umfassende Betrachtung des 16. Jahrhunderts inklusive Zusammenstellung der gewaltsamen Auseinandersetzungen leistet Kästner nicht, sondern gibt überblicksartig für verschiedene Delikte lediglich Beispiele.

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wurde bereits 1477 mit den ersten Statuten der Universität gelegt, nach denen sich die Universitätsangehörigen dem klerikalen Habitus gemäß kleiden und keine Waffen tragen sollten.26 1533 sollte eine Bekanntmachung des Universitätsrektors dafür sorgen, dass in der Studentenschaft [. . .] bekleidung vnd gang nit wie bisher so gantz gail vnd vngezam gesehen werde, wol aber leuten erlicherer zuuersicht vnd achung gemees vnd nit ainem ieden geringesten trabanten oder landsknecht geleich.

Statt sich beispielsweise in Wapenrök, Kappen (kurze Mäntel) oder kurtze leibröklin zu kleiden, sollten die Studenten ehrbare, unauffällige Stücke wie bespielsweise pyretter (Barette) wählen, welche erlichern vnd liebhabern der tugent gezimmen.27 Auch die Universitätsstatuten von 1537 verboten sogenannte „barbarische Kleidung“28 generell und grenzten dies auf einzeln beschriebene Kleidungsstücke, wie beispielsweise absichtlich zu kurz geschnittene Gewänder29 ein. Ähnliche Konflikte an anderen Universitäten zeigen, dass Verstöße gegen die Kleiderordnung insgesamt eines der häufigsten Vergehen der Studenten darstellten.30 Müller erklärt die hohe Zahl der Verstöße und die immer neuen Verordnungen damit, dass die Befreiung Adliger von der im 16. Jahrhundert üblichen Studententracht bürgerliche junge Männer dazu bewog, sich über die Kleidervorschriften hinwegzusetzen.31 Um vom eigentlich vorgeschriebenen klerikalen Habitus abzuweichen und sich schon rein

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Von Roth, Urkunden (Anm. 16), Erste Statuten der Universität von dem päpstlichen Bevollmächtigten Abt Heinrich zu Blaubeuren (1477 Okt. 9), S. 39–67, hier: S. 54: Item statuimus et irrefragabiliter obseruari uolumus, vt membra et supposita vniuersitatis honestos clericalis et scolasticos habitus deferant, non nimia breuitate aut alia leuitate notandos, Cum palliis a parte pectoralium ante siue a lateribus appertis vt corpus detegendum videatur. („Ebenso beschließen und wollen wir, dass unverbrüchlich beachtet werde, dass die Mitglieder und Unterstellten der Universität ehrbare Kleriker- und Scholarenkleider tragen, die nicht aufgrund übermäßiger Kürze oder anderer Leichtfertigkeit zu tadeln sind, mit an der Brust vorn oder an den Seiten geöffneten Mänteln, so dass der Körper entblößt erscheint.“). Ebd., Auszug aus einer öffentlichen Bekanntmachung auf S. 138 f. (1533 Aug. 24). Auch zum vorangegangenen längeren Zitat. Ebd., Statuten der Universität von 1537, S. 223: vestitus barbaricus. Darunter fielen beispielsweise verschiedene Arten von Kopfbedeckungen wie etwa Filzkappen, die offenbar an türkische Hüte erinnerten (pileos oblongos illos, qualibus turcica barbaries delectatur). Ebd., hier sind besonders sehr kurze Togen zu nennen, die kaum den Schambereich bedeckten (quae uix pudendas corporis partes tegere possunt), hierzu auch: von Mohl, Geschichtliche Nachweisungen (Anm. 6), S. 36 f., Nr. 96. Der betreffende Abschnitt der Statuten schließt mit dem Hinweis, dass diejenigen, die gegen die Regelungen verstießen, von der Universität ausgeschlossen würden. Hinweise, dass dies tatsächlich umgesetzt worden ist, gibt es nicht. Von Roth, Urkunden (Anm. 16), S. 223: Qui contra statuta tali uestitu delectabuntur, sciant sibi in hac Schola posthac locum non esse futurum. Dass die Durchsetzung der Kleiderordnung auch an anderen Universitäten problematisch war, hat Füssel an den Beispielen Wittenbergs und Freiburgs aufgezeigt: Füssel, Gelehrtenkultur (Anm. 7), S. 256–260. Zu den vergleichsweise luxuriösen Kleidungsstücken Göttinger Studenten: Brüdermann, Göttinger Studenten (Anm. 12), S. 342–344. Müller, Aristokratisierung (Anm. 21), S. 46 u. a. im Rückgriff auf L. C. Eisenbart, Kleiderordnungen der deutschen Städte zwischen 1350 und 1700, Göttingen 1962, zu Kleiderordnungen als Mittel der Abgrenzung von Ständen S. 59–61.

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äußerlich als eigenes soziales Segment zu definieren,32 orientierten sich die Studenten stattdessen an adliger Kleidung33 oder den schon genannten Wapenrök der Soldaten. Im Rahmen dieser Entwicklung hatten sich die jungen Männer außerdem soweit über das Verbot des Waffentragens aus den ersten Statuten34 hinweggesetzt, dass eine Bekanntmachung des Jahres 1533 erlaubte, Gewehre oder Schwerter zur beschützung zu tragen, diese durften allerdings nit nach kriegs gebrauch oder landsknechtischen sitten hindersich gestörzt werden.35 Schon rein äußerlich unterschieden sich die Studenten damit von den Bürgern, denen das Waffentragen seit dem 13./14. Jahrhundert verwehrt war.36 Indem die jungen Universitätsangehörigen diesen genuin adligen Habitus annahmen und die Waffen auch als Provokationsmittel nutzten,37 grenzten sie sich nicht nur durch ihr Erscheinungsbild, sondern auch durch ihre prinzipielle Wehrfähigkeit deutlich von den Bürgern ab, die bei gewaltsamen Auseinandersetzungen oft als ihre Kontrahenten auftraten. Studentische Devianz zeigte sich jedoch bei Weitem nicht nur im Verstoß gegen Kleidervorschriften: Neben Fällen von Überschuldung38 und Blasphemie39 traten Sexualdelikte auf. Hierzu zählten Besuche von Frauenhäusern, Beherbergung von Prostituierten sowie die Verführung unverheirateter Frauen.40 Ferner gab es Beschwerden über Trinkgelage, was schließlich zu strengeren Regelungen für Kosttische und ihre Betreiber führte.41 Um derartige Ausschweifungen zu begrenzen, reglementierten schon die Universitätsstatuten von 1537 den Besuch von Festen und Wirtshäusern, die Studenten fortan nur noch, um jemanden zu suchen, in Begleitung von Eltern, Verwandten oder, wohl nur im Falle adliger oder besonders reicher Studenten, zusammen mit ihren Praeceptoren (Hofmeistern) betreten durften.42 Eng 32 33

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Füssel, Gelehrtenkultur (Anm. 7), S. 250. Vgl. hierzu eine Passage in der Bekanntmachung von 1533, die es verbot, das Barett mit seidengewand federn oder anderer zierd vnd geschmucken aufgemutzt vnd gezieret zu tragen. Von Roth, Urkunden (Anm. 16), S. 138. Diese Statuten verboten nicht nur das Tragen von Waffen und Dolchen, sondern auch das Mitführen von Falken und anderen Vögeln: Arma quoque et pugiones accipitres nisos aut alias volucres non deferant. Ebd., S. 54. Das Verbot von Greifvögeln weist besonders auf die in den Statuten proklamierte Abgrenzung der Studenten vom adligen Lebensstil hin. Ebd., S. 139. Hans-Wolfgang Strätz, Art. ‚Waffenrecht‘, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte 5 (1998), Sp. 1080–1083, hier: Sp. 1081. Zum habituellen Einfluss der Adligen auf die studentische Kultur: Müller, Aristokratisierung (Anm. 21), S. 46. Hier ist das Wetzen der Waffen, z. B. an Steinen zu nennen: Von Mohl, Geschichtliche Nachweisungen (Anm. 6), S. 67, Nr. 228; S. 73, Nr. 253. Ebd., S. 31, Nr. 77, 81 f.; S. 68 f., Nr. 237. Ebd., S. 53 f., Nr. 159 sowie S. 70 f., Nr. 242 (Ein verschuldeter Student hat sich dem Teufel verschrieben, in der Hoffnung, von diesem Geld zu erhalten.). Verbot der Gotteslästerung und Störung des Gottesdienstes: Ebd., S. 43 f., Nr. 128. Ebd., S. 26 f., Nr. 56; S. 59, Nr. 184; S. 60, Nr. 190; S. 63 f., Nr. 210; S. 66, Nr. 221; S. 71, Nr. 243 (mit späterer Heirat); S. 73, Nr. 252. Auch in den Universitätsstatuten wurden solche Vergehen thematisiert: Von Roth, Urkunden (Anm. 16), S. 221, Nr. 41. Von Mohl, Geschichtliche Nachweisungen (Anm. 6), S. 46 f., Nr. 141. Zu speziellen Verboten von übermäßigem Weinausschank und Trinkgelagen, die auch „heimliche Trinkstuben“ umfassten: S. 32–34, Nr. 85; S. 36, Nr. 95; S. 47, Nr. 142; S. 55 f., Nr. 168; S. 68, Nr. 236. Von Roth, Urkunden (Anm. 16), S. 221 f., Nr. 41. Als Beispiel für ein konkretes Vergehen vgl. von Mohl, Geschichtliche Nachweisungen (Anm. 6), S. 15 f., Nr. 16 vom Februar 1533:

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verbunden mit übermäßigem Alkoholkonsum43 waren Fälle der (nächtlichen) Ruhestörung, die bereits 1524 Thema einer Bekanntmachung (De noctiuagis) gewesen waren,44 in der das nächtliche Umherziehen mit Waffen sowie das Musizieren auf offener Straße untersagt worden waren. Insbesondere Feste und Tanzveranstaltungen, mit Ausnahme von Hochzeiten, durften nicht mehr besucht werden. Ähnliche Bestimmungen finden sich, teilweise samt Höhe der zu verhängenden Karzerstrafe, auch in den Universitätsstatuten.45 Ferner wurde als Form der Ruhestörung in einer separaten Bekanntmachung des Rektors das Schießen verboten.46 Derartige Vergehen tangierten 1565 selbst den Herzog von Württemberg: Christoph erklärte gegenüber dem Senat der Universität, er habe eigentlich erwartet, dass seine mündlich ergangenen Anweisungen, die nächtlichen Krawalle der Studenten zu unterbinden, seitens der Universität befolgt würden. Wie er jedoch bei einem Besuch in Tübingen festgestellt habe, durchdringe das Geschrei der Studenten selbst die Mauern des Schlosses und habe ihn so um den Schlaf gebracht.47 Dezidiert gegen einzelne Personen richteten sich Fälle der Verleumdung und des Hausfriedensbruchs.48 In einem eigenen Abschnitt behandelten die Universi-

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Mehrere Studenten hatten sich tagsüber in einem Wirtshaus betrunken, gedroht, den Wirt zu erstechen, und nachts auf dem Marktplatz gelärmt. Zum Alkoholkonsum in Württemberg im 16. Jahrhundert vgl. auch: Oliver Auge, Trinken und Trinkbräuche in Herrenberg an der Wende vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit (15./16. Jahrhundert), in: Leben mit der Vergangenheit (2004), S. 121–154; Ders., Das württembergische Vorgehen gegen Alkoholmißbrauch anhand von Göppinger Urfehden des 16. Jahrhunderts. Eine exemplarische Untersuchung als Beitrag zur frühneuzeitlichen Sozialgeschichte, in: Hohenstaufen/Helfenstein. Historisches Jahrbuch für den Kreis Göppingen 6 (1996), S. 129–152. Thümmel spricht in seinem Aufsatz zum Verhältnis von Universität und Stadt Tübingen das Problem an, dass Universitätsbürger aufgrund der im Freiheitsbrief gewährten Privilegien ohne Beschränkung sowie zoll- und abgabenfrei Wein nach Tübingen einführen und dort ausschenken durften. Dies förderte insgesamt den Weinkonsum und ließ die Universitätsangehörigen in wirtschaftliche Konkurrenz mit den Tübinger Bürgern treten, die ihren Wein meist nicht ähnlich billig anbieten konnten. Thümmel, Universität und Stadt (Anm. 25), S. 47 f. Von Roth, Urkunden (Anm. 16), S. 135–138, Nr. 31 (1524 Jan. 24). Stellvertretend für die vielen bei von Mohl angeführten Beispiele für Ruhestörung vgl. den in Anm. 41 genannten Vorfall sowie von Mohl, Geschichtliche Nachweisungen (Anm. 6), S. 28, Nr. 64; S. 38, Nr. 101; S. 40, Nr. 110; S. 43, Nr. 123–125. Von Roth, Urkunden (Anm. 16), S. 220 f., Nr. 41 (1537). Ebd., S. 140 f., Nr. 32 (1524 Febr.). Außerdem zeugt ein herzogliches Reskript von 1547 von Beschwerden über sog. „Feur-Büchsen“: Von Mohl, Geschichtliche Nachweisungen (Anm. 6), S. 17, Nr. 14. Weitere herzogliche Verbote des Waffentragens und Jagens: ebd., S. 27, Nr. 60; S. 32, Nr. 83; S. 40, Nr. 112; S. 52, Nr. 156; S. 68, Nr. 234. Dem steht entgegen, dass der 1594 eröffnete Neubau des Collegium Illustre im Garten angeblich einen „Stand für das Büchsenschießen“ besaß: Schneider, Tübinger Collegium illustre (Anm. 23), S. 223. Dies tritt zwar den Verboten des Schießens in der Stadt entgegen, korrespondiert aber mit dem am Collegium gepflegten höfischen Bildungsideal. Von Mohl, Geschichtliche Nachweisungen (Anm. 6), S. 29 f., Nr. 69. Einen ähnlichen Vorfall nimmt das zweite von Kaysers Gedichten mit dem Titel „Herzog Ulrichs Nachtruhemandat“ auf: Tübinger Studentenleben (Anm. 15), S. 26 f. Zu beiden Vergehen s. von Roth, Urkunden (Anm. 16), S. 159 f., Nr. 36. Wenn ein Student sich an einem Universitätsangehörigen oder Bürger in der Weise vergehe, dass er Sein behußung vffboldert di thür hinein trett, in sein Huß würff, Schmachbrieff anschlieg oder dergleichen schmach oder schaden vnderstünd zuzufiegen, solle dies der Rektor untersuchen.

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tätsstatuten ferner die Verwüstung fremden Eigentums, in Sonderheit Schäden an Häusern, Gärten und Feldern.49 Sollten bei diesen und anderen Vergehen mutmaßliche Täter ergriffen oder Strafen ausgesprochen werden, stellte sich oft das Problem der rechtlichen Trennung von Universität und Stadt.50 Die Universität als von der Stadt Tübingen losgelöster Rechtsraum besaß eine eigene Gerichtsbarkeit, was dazu führte, dass studentische Vergehen zwar von Bürgern angezeigt werden konnten, die Verhandlungen aber in den Händen der Universität lagen. Entsprechend konnten Studenten zwar von den wachtern vnd Statknechten gefasst und in Gewahrsam genommen werden, mussten aber so schnell wie möglich an den Rektor und damit an die universitäre Gerichtsbarkeit übergeben werden.51 Dabei durften weder der Untervogt noch seine Wächter tätlich gegen Studenten vorgehen.52 Dass es dessen ungeachtet zu gewaltsamen Zusammentreffen kam, zeigt der folgende Abschnitt. GEWALTSAME AUSEINANDERSETZUNGEN53 OHNE TODESFOLGE Damit die verschiedenen Formen der Gewalt, die im Umfeld der Universität Tübingen im 16. Jahrhundert auftraten, schlüssig erfasst werden können, muss im Hinblick auf die beteiligten Personen differenziert werden. Auf diese Weise fallen verschiedene Konstellationen auf, die im Folgenden näher beschrieben werden sollen: Gewalt zwischen Tübinger (A) Studenten (B) Studenten und dem Pedellen (C) Studenten und Bürgern (C1) Studenten und Wächtern54 (D) Studenten und Bewohnern umliegender Orte

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Ebd., S. 223 f., Nr. 41. Hierzu sind beispielsweise Fälle von Weintrauben- und Obstdiebstahl überliefert: Von Mohl, Geschichtliche Nachweisungen (Anm. 6), S. 32, Nr. 84; S. 60, Nr. 189. Außerdem: Beschädigung einer Haustür mit einem Degen: Ebd., S. 71, Nr. 245. Thümmel, Universitätsverfassung (Anm. 22), S. 41–46. Ausführlich zu den sich daraus ergebenden Problemen und gegenseitigen Beschwerden sowie zur Praxis, dass seitens der Stadt jedes Jahr die Einhaltung der Universitätsprivilegien beeidet werden musste: Ders., Universität und Stadt (Anm. 25), zum Eid und zum Freiheitsbrief bes. S. 59–61. Hierzu auch: Füssel, Gelehrtenkultur (Anm. 7), S. 291–296. Zum Text des sog. Freiheitsbriefs des Grafen Eberhard im Bart vgl. von Roth, Urkunden (Anm. 16), ab S. 30. Vgl. zu diesen Bestimmungen eine Urkunde über die rechtliche Praxis bei Überschneidung der Rechtsräume: Ebd., S. 157–160, Nr. 36 (1533 Aug. 9). Bei nächtlichen Vergehen genügte es, wenn die Studenten erst am nächsten Tag an die Universität übergeben wurden: Ebd., S. 159. 1524 war dies den Wächtern noch nicht erlaubt. Sie mussten die jungen Männer unter Eid auffordern, sich am folgenden Tag beim Rektor zu melden und durften diesem selbst nur die Namen der Verdächtigen nennen. Ebd., S. 135–138, Nr. 31; Thümmel, Universität und Stadt (Anm. 25), S. 55 f. Von Mohl, Geschichtliche Nachweisungen (Anm. 6), S. 18, Nr. 17. In ihrer Gesamtheit sind alle unter diesen Punkt zu zählenden Ereignisse in einer Tabelle im Anhang erfasst. Dieser Sonderfall erklärt sich folgendermaßen: Neben den wenigen städtischen Wächtern (drei Stadtknechte, vier Nachtwächter, zwei Bettelvögte, hierzu mit weiteren Verweisen: Thümmel,

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Gewaltsame Auseinandersetzungen unter Studenten (A) gab es in verschiedenen Ausprägungen. Eine Form waren Duelle55 sowie oft bewaffnete Auseinandersetzungen größerer Gruppen,56 deren Verbot die Universitätsstatuten von 1537 in einem Abschnitt mit der Überschrift De conflictibus et armorum vsu regelten.57 Wahrscheinlich wegen des Potenzials, in gewaltsame Auseinandersetzungen auszuarten, stand bereits auf Beleidigungen eine Strafe von 15 Kreuzern. Wurde hierbei vom provozierenden Studenten die Waffe in die Hand genommen, ohne den Kontrahenten anzugreifen, lag die Strafe bei 22 Kreuzern. Im Falle eines tatsächlichen Angriffs wurde dies mit Beschlagnahmung der verwendeten Waffen und je nach Ausgang mit einem Gulden (keine Verletzungen), zwei Gulden (bei leichten Verletzungen) oder einer nach Schwere des Falles zu bestimmenden Strafe (u. a. Verweis von der Universität, Karzerstrafe) geahndet. Einzelne Fälle zeigen, dass diese dritte Möglichkeit bei besonders schweren Vergehen durchaus zur Anwendung kam. Beispielsweise wurde im Herbst 1583 beschlossen, gegen einen nunmehr verhafteten Studenten namens von Zillenhard, der seinen älteren, ebenfalls studierenden und mit ihm zusammenwohnenden Bruder bei einem Streit lebensgefährlich verletzt hatte und daraufhin geflohen war, einen Prozess anzustrengen. Da jedoch der Verwundete selbst sowie weitere Adlige baten, von einem Verfahren abzusehen, wurde der Student stattdessen für fünf Jahre von der Universität ausgeschlossen.58 Ähnliches sollte nach einem Senatsbeschluss im Jahr 1600 mit einem jungen Mann namens Cellius geschehen, bei dem es sich vermutlich um den auch bei anderen Vergehen genannten Sohn des gleichnamigen Professors handelte. Der Student hatte aus Eifersucht auf einen Kommilitonen ein Mädchen dazu gebracht, diesen mit einem Messer am Hals zu verletzen.59 Dass es bei einem Fall 1586 nicht zu einer härteren Verurteilung kam, lag an der Genesung des Opfers. Ein Student namens Hügel60 hatte einem Kommilitonen so schwere Stichverletzungen zugefügt, dass dessen Därme bis auf den Boden hinunter hingen. Da der Verwundete trotz allem nicht verstarb, erhielt Hügel nur eine Karzerstrafe.61 So schwere Verletzungen scheint es bei gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Studenten und dem Pedellen (B) als Organ der universitären Ordnung62

55 56 57 58 59 60 61 62

Universität und Stadt [Anm. 25], S. 56), die Auseinandersetzungen mit Studenten oft aus dem Wege gingen, wurde seitens der Universität eine sog. Scharwacht eingesetzt, die vor allem sonntagnachts patrouillierte, dem Universitätsrektor unterstellt war und sich aus Universitätsangehörigen und Stadtbürgern zusammensetzte. Letztere waren zumeist Handwerker (oft Buchbinder), zwischen denen und den Studenten es auch außerhalb der Scharwache oft zu Konflikten kam. Damit diese Fälle getrennt werden können, ist in der obigen Einteilung ein Sonderfall eingefügt worden. Ders., Universitätsverfassung (Anm. 22), S. 402. Vgl. z. B. von Mohl, Geschichtliche Nachweisungen (Anm. 6), S. 45, Nr. 136; S. 75, Nr. 263. Ebd., u. a. S. 20, Nr. 28; S. 40, Nr. 109; S. 50 f., Nr. 148 (vier adlige Studenten); S. 69 f., Nr. 241. Von Roth, Urkunden (Anm. 16), S. 219 f., Nr. 41. Von Mohl, Geschichtliche Nachweisungen (Anm. 6), S. 52, Nr. 153. Ebd., S. 79, Nr. 277. MUT I (Anm. 17), S. 732, Nr. 226,45 (1597 Jan. 27): Johannes Philipp Cellius Tubingensis cuius pater professor. Wahrscheinlich: Ebd., S. 617, Nr. 199,63 (1583 Juni 10): Philippus Hügelius Mergenthalensis, B. a. 1584 Sept. 23. Von Mohl, Geschichtliche Nachweisungen (Anm. 6), S. 56, Nr. 170. Vgl. den entsprechenden Abschnitt bei Thümmel, Universitätsverfassung (Anm. 22), S. 161–166, zu polizeilichen Funktionen des Pedells S. 163 f.

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grundsätzlich nicht gegeben zu haben. Gleichwohl treten verschiedene Fälle von Beleidigungen und tätlichen Angriffen auf, zu denen es offenbar dann kam, wenn der Pedell gegenüber den Studenten explizit sein Amt ausübte, sei es im Karzer63 oder bei disziplinarischen Zurechtweisungen. Im Jahr 1576 informierte der Pedell den Senat beispielsweise, dass ihn Studenten, denen er kurz zuvor das Musizieren auf der Straße verboten hatte, angegriffen hätten. Nur mühsam habe er sich wehren können, sodass ihm schließlich Bürger zur Hilfe kommen mussten.64 Diese waren selbst häufig Ziel von studentischer Gewalt (C), wie mehrere unterschiedliche Vorfälle belegen. Auseinandersetzungen entstanden beispielsweise dann, wenn Studenten ungeladen bürgerliche Feste besuchten oder gar stürmten.65 Beispielsweise wurde auf einer Hochzeit im Jahr 1579 ein Bürgersohn von einem sächsischen Studenten im Streit erschlagen. Angesichts der wenigen und milden Strafen, die letzterer und seine Kommilitonen erhielten, scheinen die Studenten aber offenbar eine geringere Schuld am Ausbruch des Konflikts gehabt zu haben.66 Ferner geschahen Übergriffe, wie zum Beispiel im Zuge eines Ausbruchs aus dem Karzer (1598): Um seine Kommilitonen zu befreien, holte ein Student namens Traw67 einen Messerschmied, der mit Nachtschlüsseln den Karzer öffnen sollte. Während der Handwerker auf diese Weise beschäftigt war, vergewaltigte Traw dessen Frau.68 1591 wurde eine schwangere Frau von Studenten geschlagen und getreten.69 Ähnliches ereignete sich bei Streitigkeiten zwischen Studenten und ihren sogenannten Kostherren oder Tischwirten. 1583 wuchs sich eine solche Auseinandersetzung zu einem größeren Konflikt aus, weil dem offenbar von mehreren Studenten angegriffenen Kostherrn seinerseits Bürger zur Hilfe kamen. Zwar versuchten der Universitätsrektor und der Obervogt, die streitenden Parteien zur Ruhe zu bringen, doch angesichts weiterer Proteste in den folgenden Tagen, bei denen es um die Höhe der zu verhängenden Strafe ging, war dies kaum möglich. Während Obervogt und Bürger forderten, die beteiligten Studenten zum Antritt der Karzerstrafe zu zwingen, drohten einige bewaffnete Kommilitonen, in einem solchen Fall die beteiligten Stadtknechte umzubringen. Andere Studenten trafen Vorkehrungen, um sich in einigen Häusern zu verschanzen, woraufhin sich Bürger auf dem Markt versammelten. In der Zwischenzeit war Nicolaus

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Für 1559 ist ein Fall zweier Universitätsangehöriger, Dr. Burkhard und M. Stählin, überliefert, die bei einem Besuch im Karzer eine Auseinandersetzung mit dem Pedellen gehabt haben sollen. Die Konsequenzen waren Geldstrafen und der Einzug eines Degens. Von Mohl, Geschichtliche Nachweisungen (Anm. 6), S. 26, Nr. 55. Ebd., S. 38, Nr. 101. Als weitere Beispiele: Ebd., S. 58, Nr. 181; S. 76, Nr. 265. Ebd., S. 14 f., Nr. 4; S. 15 f., Nr. 8; S. 74 f., Nr. 260. Ebd., S. 42, Nr. 122. MUT I (Anm. 17), S. 728, Nr. 225,32 (1596 Juni 25): Michael Trauu Weidensis Misnianus. Über den weiteren Werdegang dieses Studenten ist nichts bekannt. Dass ein Student namens Traurer gemeint war, ist eher unwahrscheinlich, da dieser sich bereits 1589 eingeschrieben hatte. Ebd., S. 668, Nr. 210,70 (1589 April 19): Paulus Traurer Staniensis ex Austria. Über seinen weiteren Verbleib findet sich im Matrikelverzeichnis jedoch ebenfalls keine Angabe. Von Mohl, Geschichtliche Nachweisungen (Anm. 6), S. 74, Nr. 259. Als die anderen Studenten aus dem Karzer freikamen, lärmten sie auf den Straßen und warfen dem Professor Nicolaus Varnbühler die Fenster ein. Zu Varnbühler s. Anm. 70. Ebd., S. 64, Nr. 211.

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Varnbüler (1519–1604), Professor der Rechtswissenschaften,70 als Gesandter an den herzoglichen Hof gereist, von wo er wenige Tage später in Begleitung einer Kommission zurückkehrte, an die der Senat der Universität die Lösung des Falls abtrat. Diejenigen drei Studenten, die den Streit begonnen hatten, sowie fünf Kommilitonen, die den Aufstand angeführt hatten, wurden relegiert. Mit der Begründung, er habe nachlässig gehandelt, wurde außerdem der Pedell mit einer zweitägigen Karzerhaft bestraft.71 Unter den Konflikten zwischen Bürgern und Studenten gab es auch solche, bei denen es zu teils schweren Verletzungen kam. Im Jahr 1554 wurde vor dem Stadtgericht der Fall eines Studenten namens Moser verhandelt, der von mehreren Bürgern schwer verwundet worden war; selbiges passierte fünf Jahre später drei weiteren jungen Universitätsangehörigen.72 Im Streit mit Weingartschützen, die den Diebstahl von Weintrauben verhindern sollten, wurde ein Student 1574 „mit dem Spieße durch den Arm gestochen“, woraufhin vier Kommilitonen am folgenden Tag versuchten, am Verantwortlichen Rache zu üben. Dies misslang, weil letzterer sich nicht auffinden ließ.73 1559 verletzten drei Studenten einen Bürgersohn und flohen anschließend nach Reutlingen.74 Besonders interessant ist der Fall eines Studenten namens von Rantzau: Bereits einige Monate zuvor als Provokateur in einem studentischen Streit aufgefallen, schlug er um die Jahreswende 1584/85 einem Mann namens Georg Waibel die Hand ab.75 Während sich bei Waibel nicht klären lässt, ob es sich tatsächlich um einen Studenten handelte, steht dies bei von Rantzau außer Frage, da seine Herkunft recht genau rekonstruiert werden kann. Aus familiengeschichtlichen Forschungen zu Nicolaus Gercken, dem ersten Bürgermeister von Salzwedel, geht hervor, dass dieser 1580 als Praeceptor/Hofmeister die drei Söhne des holsteinischen Adligen Bredas von Rantzau zum Studium nach Tübingen begleitete, wo er selbst Rechtswissenschaften studierte. Anschließend reiste er nach Basel weiter, um dort zu promovieren. In Tübingen schrieben sich die drei Brüder am 6. Juli 1582 unter den Namen Hieronymus, Joanes und Mathias mit dem Zusatz Rantzofius Holsatus und ihr Hofmeister als Nicolaus Göritius Salqualensis praeceptor eorum ein.76 Insofern 70 71 72

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Friedrich Wintterlin, Art. ‚Varnbüler, Nikolaus‘, in: Allgemeine Deutsche Biographie 39 (1895), S. 498 f. Von Mohl, Geschichtliche Nachweisungen (Anm. 6), S. 47–49, Nr. 144. Zu einem weiteren Konflikt mit einem Kostherren: Ebd., S. 78, Nr. 271. Nähere Angaben zum Tathergang fehlen: Ebd., S. 19, Nr. 24. Möglicherweise handelte es sich um Daniel Moser, der sich am 20. Dezember 1553 immatrikuliert hatte (MUT I [Anm. 17], S. 370, Nr. 141,39). Zum Fall von 1559: Von Mohl, Geschichtliche Nachweisungen (Anm. 6), S. 27, Nr. 57. Ebd., S. 32, Nr. 84. Ebd., S. 23, Nr. 41; S. 25, Nr. 51. Ebd., S. 55, Nr. 164. MUT I (Anm. 17), S. 605, Nr. 197,66–69. Hierzu: Patronat der Gerckenschen Familienstiftung (Hg.), Geschichte der Familienstiftung des Domsyndicus Nicolaus Gercken. Mit genealogischen Tabellen, Magdeburg 1883, S. 1 f.; Paul Gerhardt, Die Nicolaus Gerckensche FamilienStipendien-Stiftung zu Salzwedel, in: Familienforschung Heute 7 (1993), S. 39–48, hier: S. 39 f. Der erstgenannte Titel nennt allerdings nur zwei Söhne sowie als Jahr der Einschreibung 1580. Ob es angesichts der zeitlichen Diskrepanz zwischen diesem Jahr und dem Sommer 1582 noch weitere Stationen der vier gegeben hat, muss unklar bleiben. Für die umfassenden Hinweise zu Nicolaus Gercken danken die Verf. herzlich Martin Göllnitz, Kiel.

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liegt es mehr als nahe, dass der in den Senatsprotokollen erwähnte Student namens von Rantzau einer der holsteinischen Brüder ist. Leider lassen sich bei Weitem nicht alle Beteiligten an Streitfällen so genau identifizieren. Die gut erschließbaren Einzelfälle können aber dennoch aufzeigen, welche weiteren Formen gewaltsamer Auseinandersetzungen mit studentischer Beteiligung es im Tübingen des 16. Jahrhunderts gegeben hat. Mehrere Vorfälle scheinen sich zwischen Studenten und oftmals gleichaltrigen Handwerksgesellen ereignet zu haben, von denen einige zu schweren Verletzungen auf beiden Seiten oder gar Todesfällen führten. 1558 wurden beispielsweise zwei Küferknechte von ebenfalls zwei Studenten namens „Böck und Steck“ verwundet,77 1576 führte ein bewaffneter Streit dazu, dass ein Student namens von Thalheimer einen Hafnergesellen mutmaßlich tödlich oder mindestens bis zur Arbeitsunfähigkeit verwundete, und 1592 schlug ein Schmied einen Studenten mit einer Eisenstange nieder, nachdem der Sohn Professor Hambergers (1536–1599) eine wohl größere Auseinandersetzung begonnen hatte.78 Derartige Konflikte mit Handwerkern müssen im Zusammenhang mit dem oben benannten Sonderfall (C1) der Auseinandersetzungen von Studenten mit Nachtwächtern gesehen werden: Als solche fungierten ebenjene Handwerker, die, wie schon erwähnt, reihum mit der Scharwacht betraut wurden.79 Die Auslöser dieser Konflikte80 waren vielfältig und reichten von Zurechtweisungen seitens der Wachen bis zu Provokationen seitens der Studenten; Gewalt fand sich dann auf beiden Seiten: Nach einem Streit wegen Ruhestörung wurde ein Student 1549 vom Spieß des Untervogts im Gesicht getroffen, während ein Kommilitone mit einem Blechhandschuh einen Schlag auf den Kopf erhielt. Fünf Jahre später ereignete sich ein Vorfall, bei dem die Wächter offenbar auf Befehl des Untervogts einige Studenten angriffen, die sich gestritten, aber schon wieder beruhigt hatten.81 Allerdings kam es auch zu direkten Angriffen seitens der Studenten, wie sie der Untervogt 1577 schilderte: Da die Bürger nachts oft „mit Schimpfreden, Stein-, Koth- und Schneewürfen belästigt, mit bloßem Degen verfolgt worden“ seien und dies „alles ohne Ursache von ihrer Seite“ geschehe, weigerten sie sich, als Wächter tätig zu sein.82 Der Senat beschloss, die Vorfälle zu untersuchen und fortan auch universitäre Wächter einzusetzen. Bei weiteren Beschwerden erklärten die städtischen Ordnungshüter jedoch, ihre universitären Kollegen trügen nichts zur Sicherheit bei, da sie 77

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Von Mohl, Geschichtliche Nachweisungen (Anm. 6), S. 24, Nr. 45. Mit „Böck und Steck“ waren möglicherweise die Folgenden gemeint: MUT I (Anm. 17): Johannes Bock: S. 369, Nr. 141,9 oder ein Student gleichen Namens: S. 392, Nr. 148,25; Jacobus Steck: S. 352, Nr. 136,41 bzw. S. 370, Nr. 141,36. Zum Fall des Hafnergesellen: Von Mohl, Geschichtliche Nachweisungen (Anm. 6), S. 38 f., Nr. 104. Zum Fall von 1592 vgl. ebd., S. 64 f., Nr. 216. Vgl. die Ausführungen in Anm. 54. Beispiele für Auseinandersetzungen mit Wächtern finden sich in der Tabelle im Anhang. Zu beiden Fällen: Von Mohl, Geschichtliche Nachweisungen (Anm. 6), S. 17 f., Nr. 16; S. 20, Nr. 28. Ebd., S. 39, Nr. 105. Aus dem Jahr 1591 ist überliefert, dass der Pedell sowie die Buchbinder und Buchdrucker abgemahnt werden sollten, weil sie, anstatt nach den Vorschriften durch die Straßen zu gehen, „auf der Rathausbank sitzen“ blieben und sich nicht darum kümmerten, den studentischen Vergehen entgegenzuwirken. Ebd., S. 64, Nr. 214.

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selten ihren Dienst versähen und stattdessen gemeinsam mit den Studenten durch die Stadt zögen.83 Neben gewaltsamen Auseinandersetzungen mit Tübinger Bürgern fielen die Studenten jedoch auch in der Umgebung der Universitätsstadt durch deviante Handlungen und Gewalt auf (D). Hierbei wird deutlich, dass dies insbesondere bei Ausflügen in katholische Nachbarorte der Fall war. Beispielsweise beschwerten sich die Franziskanerinnen des Klosters Sülchen bei Rottenburg bei der Universität Tübingen über „die häufigen und zudringlichen Besuche der Studirenden“; sollten diese nicht aufhören, wollten die Nonnen Beschwerde beim Herzog einreichen.84 Wie ein Verbot derartiger Ausflüge von 1593 zeigt,85 war auch das katholische Rottenburg selbst Ziel der Studenten – und blieb es: 1599 wurde ein junger Mann namens Grätter bei der Ruhestörung in der Kirche erwischt und musste mit Gewalt nach draußen gebracht werden, wobei er sich verletzte. Die Tübinger Studenten wurden fortan aufgefordert, keine katholischen Kirchen mehr zu betreten.86 Insgesamt gesehen wird deutlich, dass sowohl junge Adlige als auch bürgerliche Studenten, unter ihnen Professorensöhne, durch deviante Handlungsweisen auffielen. Genau trennen lassen sich die Gruppen anhand der beschriebenen Vergehen nicht, weshalb es äußerst schwierig, wenn nicht unmöglich ist, aus den Vorfällen beispielsweise einen schlechten Einfluss der jungen Adligen auf die bürgerlichen Studenten abzulesen. Da in den Quellen außerdem entgegengesetzte Meinungen vertreten werden und neutrale, zeitgenössische Darstellungen fehlen, kann gerade bei Konflikten zwischen Studenten und Bürgern nicht immer geklärt werden, von welcher Gruppe die Auseinandersetzungen provoziert wurden. Insgesamt gesehen vermitteln die verschiedenen Delikte dennoch bereits einen umfassenden Überblick über die Bandbreite studentischer Devianz im frühneuzeitlichen Tübingen. Wenngleich für das 16. Jahrhundert nur wenige gewaltsame Todesfälle von Studenten überliefert sind, wäre das Bild ohne sie unvollständig. Zumindest teilweise war die Motivlage dieselbe wie bei den oben dargestellten Auseinandersetzungen; zum Tod eines Studenten führte in diesen Fällen die stärkere Eskalation des Konflikts.

DER GEWALTSAME STUDENTENTOD Angesichts der Überlieferungslage ist unklar, ob die fünf in von Mohls Darstellung verzeichneten und hier im Folgenden vorzustellenden gewaltsamen Todesfälle wirklich die einzigen waren, die es im 16. Jahrhundert unter Tübinger Studenten gab. Der Blick auf die Grabmäler und Epitaphien der Universitätskirche St. Georg und in das Tagebuch des Martin Crusius legt etwas Anderes nahe: In einem Eintrag vom 6. September 1596 ist dort die Rede von einem Begräbnis dreier adliger junger Männer, namentlich genannt ist jedoch nur Gottfried von Öttingen, über den Crusius

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Ebd., S. 72, Nr. 249. Ebd., S. 29, Nr. 68. Ebd., S. 66, Nr. 226. Ebd., S. 76 f., Nr. 269.

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außerdem vermeldet, dass er gewaltsam ums Leben gekommen sei. Dies offenbart abermals nicht nur das schon bekannte Problem der Überlieferung, sondern auch das der Rangunterschiede zwischen Studenten: Gottfried von Öttingen (1582–1596) war Zögling des Collegium Illustre, mit Sicherheit war es sein adliger Stand, der dazu beitrug, dass sein Tod vergleichsweise umfassend überliefert ist. Allerdings zog dieser wohl keine näheren Untersuchungen nach sich; in den erhaltenen Universitätsakten der damaligen Zeit ist das Ereignis nicht verzeichnet, da das Collegium Illustre formal keine Institution der Tübinger Universität war.87 Die sehr wenigen überlieferten Fälle machen eine statistische Auswertung der Todesfälle schwierig. Auch eine Chronologie zu erstellen, mit der Tendenzen des gesamten 16. Jahrhunderts aufgezeigt werden könnten, ist nicht möglich. Insofern bietet sich nur eine Auswertung der Fälle nach inhaltlichen Gesichtspunkten, etwa nach Tathergang und, wenn bekannt, Stand der getöteten Person an. So können eventuell auftretende Parallelen zwischen den Todesfällen benannt werden, ohne dass zwingend große Entwicklungslinien nachvollzogen werden müssen. Insbesondere ersteres ist bei zwei Fällen aus den Jahren 1559 und 1581 nicht einfach, da der Tathergang offenbar nicht genau geklärt ist. Im ersten Fall wurde ein polnischer Student erschlagen,88 wobei sich die Suche nach dem Täter erfolglos gestaltete. Aus den Akten geht nach von Mohl lediglich hervor, dass der Tote wohl im Begriff gewesen sei, eine häretische Schrift über die Dreieinigkeit drucken zu lassen, was möglicherweise im Zusammenhang mit der Tat gestanden habe. Die übrigen polnischen Studenten89 waren mit dem mangelnden Fortschritt der Untersuchungen unzufrieden, weshalb sie sich sowohl beim Herzog beschwerten als auch drohten, den Tod des Kommilitonen zu rächen. Im zweiten Fall wurde gegen einen Studenten namens „M. Hofmann“, der einem Kommilitonen eine so schwere Verletzung beigebracht hatte, dass dieser verstorben war, am 20. April 1581 eine Karzerstrafe verhängt. Der Senat verfügte außerdem, weitere Untersuchungen anzustellen,90 zu denen von Mohl jedoch keine näheren Angaben macht. Allerdings kann das Matrikelverzeichnis den Fall erhellen: Es weist ab 8. August 1577 einen Studenten namens Michael Hoffmann aus Knielingen oder Durlach nach. Dieser erlangte nach dem Grad des Baccalaureus (1578 Sept. 24) im Jahr 1580 (Aug. 17) den des Magisters. Da ansonsten keine weiteren Lebensstationen verzeichnet sind,

87

Ebd.: In von Mohls Überblicksdarstellung wird der Fall nicht genannt. Zu den Informationen, die Crusius über den Fall berichtet, vgl. die späteren Ausführungen im vorliegenden Absatz. 88 Ebd., S. 26, Nr. 53. Die studentischen Todesfälle sind in der angehängten Tabelle grau unterlegt. 89 Um wen es sich gehandelt haben könnte, geht aus von Mohls Angaben nicht hervor. Das Matrikelverzeichnis weist allein für das Jahr 1559 mehrere Polen aus, die sich neu immatrikuliert hatten. MUT I (Anm. 17), u. a. S. 397, Nr. 150,6: Conrad Grubeck Polonus; S. 403, Nr. 151,66: Joannes Rosdrasousky Polonus. Auch in den vorangegangenen Jahren hatten sich wiederholt Polen eingeschrieben, beispielsweise am 15. Januar 1554. Für dieses Datum finden sich auf S. 371 unter den Nummern 141,51–54 die folgenden Namen: Ludovicus Decius Polonus, Petrus Gnoiugenius Polonus, Steinslaus Vogelwaider, Jacobus Saleuius Polonus. Obwohl der dritte Name nicht den Zusatz der Nationalität trägt, ist aufgrund der Stellung zwischen den übrigen mit ziemlicher Sicherheit davon auszugehen, dass es sich ebenfalls um einen Polen handelte. 90 Von Mohl, Geschichtliche Nachweisungen (Anm. 6), S. 44, Nr. 130.

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ist es sehr wahrscheinlich, dass es sich um den bei von Mohl genannten Verurteilten handelt.91 Eine erkennbare Tötungsabsicht lag offenbar beim Fall eines jungen Mannes namens Widmann vor. Dieser war wohl Angehöriger der Tübinger Hochschule und wurde am Abend des 26. Juli 1578 trotz lauter Hilferufe neben dem Gebäude der Universität erstochen. Ob es sich beim Getöteten, dessen Mörder unter mehreren Verdächtigen und trotz Mantel, Hut und Dolch, die neben dem Toten gefunden worden waren, wohl nicht gefasst werden konnte, tatsächlich um einen Studenten gehandelt hat, geht laut von Mohl aus der Überlieferung nicht hervor.92 Unwahrscheinlich ist dies mit Blick auf das Matrikelverzeichnis jedoch nicht. Allein zwischen 1572 und 1577 (für das Todesjahr selbst ist der Name nicht unter den Neuimmatrikulierten nachweisbar) schrieben sich sieben junge Männer mit dem Nachnamen Widman ein, ferner ist ein Student namens Wideman überliefert.93 Für vier dieser Männer ist entweder kein Studienabschluss (mindestens Magister) vor 1578 oder keine andere eindeutige Angabe zum Verbleib nach diesem Jahr überliefert, sodass das in den Universitätsakten genannte Opfer möglicherweise unter den Studenten Karl, Kaspar und Christoph Widman beziehungsweise David Wideman zu suchen ist. Mehr zu erhellen vermögen diese Hinweise aus dem Matrikelverzeichnis den Fall jedoch nicht. Daneben gibt es einen Todesfall, der Parallelen zu einigen oben beschriebenen Beispielen gewaltsamer Auseinandersetzungen mit Wächtern aufweist und die universitären und städtischen Ordnungshüter vor große Probleme stellte. Ein junger, offenbar sogleich als Student erkannter Mann hatte im Februar 1577 versucht, nachts gewaltsam in ein Wirtshaus einzudringen. Aufgrund des Tumults erschien der Pedell

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MUT I (Anm. 17), S. 562, Nr. 187,66. Zum Herkunftsort: Hoffmann hat sich mit dem Namenszusatz Knielingensis immatrikuliert, ist laut einer Anm. des Herausgebers der MUT I in den Matrikeln der philosophischen Fakultät aber mit dem Zusatz Turlacencis verzeichnet. 92 Von Mohl, Geschichtliche Nachweisungen (Anm. 6), S. 42, Nr. 120. 93 MUT I (Anm. 17), in chronologischer Reihenfolge (Datum der Einschreibung) handelt es sich um folgende Studenten: Israel Widman aus Münssheim (1572 Juni 11; B. a. 1572 Sept. 27, nach weiterem Universitätsbesuch allerdings 1576 ausgeschlossen; S. 517, Nr. 177,18), Wilhelm Widman aus Halle (1573 Nov. 21; wiedereingeschrieben 1580 März 17, Doktor beider Rechte 1586 Aug. 2; S. 529, Nr. 180,20), Ambrosius Widman aus Möringen (1574 Sept. 22; S. 535, Nr. 181,55), Karl Widman aus Halle (1574 Okt. 29; S. 537, Nr. 182,16), Kaspar Widman aus Nördlingen (Norlingensis) (1574 Nov. 1; B. a. 1575 Sept. 28, M. a. 1577 Febr. 13; S. 537, Nr. 182,17), Christopher Widman aus Schwäbisch-Hall (1575 Okt. 27; S. 545, Nr. 184,13), David Wideman aus Ulm (1576 Aug. 18; B. a. 1577 März 27; S. 553, Nr. 185,71), Martin Widman aus Sindelfingen (1577 Mai 8; B. a. 1677 Sept. 25, M. a. 1581 Aug. 16; S. 559, Nr. 187,5). Über eine mögliche Verwandtschaft zwischen Wilhelm, Karl und Christoph Widman aus Schwäbisch-Hall liefert das Matrikelverzeichnis keine Angaben. Darüber hinaus ist unklar, ob Verwandtschaftsbeziehungen des Verstorbenen zu den Tübinger Rechtsprofessoren Beatus, Ambrosius und Mangold Widman vorliegen. Zu ihnen: Karl Konrad Finke, Die Professoren der Tübinger Juristenfakultät (1477–1535) (Tübinger Professorenkatalog I,2), Ostfildern 2011, S. 370–379 (Beatus Widmann), S. 360–369 (Ambrosius Widmann), S. 380–383 (Mangold Wildmann). Zu Ambrosius Widmann auch: Werner Kuhn, Die Studenten der Universität Tübingen zwischen 1477 und 1534. Ihr Studium und ihre spätere Lebensstellung, Teil 2 (Göppinger akademische Beiträge 38), Göppingen 1971, S. 547, Nr. 3746.

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als universitärer Ordnungshüter, woraufhin der junge Mann jedoch behauptete, nicht der Universität anzugehören. Die Zuständigkeiten wechselten auf die städtische Seite, sodass schließlich der Stadtknecht hinzukam und prompt vom Unruhestifter mit dem Degen angegriffen wurde. In der folgenden Auseinandersetzung brachte einer der Wächter dem jungen Mann mit einem Schweinsspieß eine tödliche Kopfwunde bei.94 Da leider keine Namen genannt werden, muss im Dunkeln bleiben, um welchen Studenten es sich handelte. Zu diesen Ereignissen treten einige Unfälle. Ein solcher, der fünfte in von Mohls Darstellung verzeichnete Todesfall, lag offenbar bereits bei seiner Meldung an den Senat so klar, dass das Gremium ihn zweifelsfrei als Unglück wertete und von weiteren Untersuchungen absah.95 Ein Student namens von Bünau war von einem Reutlinger Messerschmied in der Fechtschule so schwer an der Schläfe verletzt worden, dass er, so die Nachricht, „wohl sterben müsse“. Ob der Tod wirklich eingetreten ist, bleibt unklar, da auch hier weitere Hinweise fehlen. Dagegen kann mit Hilfe des Matrikelverzeichnisses recht genau eingegrenzt werden, um wen es sich bei dem Verunglückten gehandelt hat. Am 29. April des Jahres 1579 hatten sich gemeinsam mit Johannes Ernestus Herrn von Schonburckh, Herren zu Glochaw u. Waldenburg, und Maximilianus Freyherr von Scharpfennburg nachfolgend tres nobiles baronum an der Universität Tübingen immatrikuliert,96 unter denen neben einem Vuolffgangus a Berbisdorff zwei junge Männer, vielleicht Brüder, die Namen Guntherus a Binauu und Rudolphus a Binauu führten. Da ähnliche Namen in den fraglichen Jahren vor 1581 fehlen, liegt es nahe, den Betroffenen unter diesen beiden Studenten zu vermuten. Näher einzugrenzen ist dies nicht, da für keinen der beiden Studenten Hinweise zum weiteren Studienverlauf existieren. Wesentlich umfassender als diese fünf Fälle ist der Tod des schon genannten jungen Adligen Gottfried von Öttingen dokumentiert, der sich am 7. Juli 1596 an der Universität eingeschrieben hatte97 und das Collegium Illustre besuchte. Am 23. August 1596 hielt Martin Crusius in seinem Tagebuch Folgendes fest: Comes generosus Oeting. D. Gotfridus, Gotfridi F. (.puer 13 annorum, non ita pridem à generoso patre suo, comite Gottfrido, hîc constitutus in novo collegio.) circa horam primam post meridiem, auff dem obern gang Novi collegii, praesente Princ. D. Ioanne Friderico, erschossen etc. Metuitur, ne per lusum sclopus sit incautè et petulanter tractatus.98

Interessant ist, dass sich der Verstorbene bei seinem Tod in der Nähe des gleichaltrigen Erbprinzen Johann Friedrich von Württemberg (1582–1628) befunden hatte – dieser hatte sich übrigens gleich nach seinem Studienbeginn über das nächtliche 94 95

Von Mohl, Geschichtliche Nachweisungen (Anm. 6), S. 40 f., Nr. 113. Dieser Fall wurde dem Senat am 18. Juli 1581 gemeldet: Ebd., S. 44, Nr. 132. Hieraus auch das folgende Zitat im Text. 96 MUT I (Anm. 17), S. 578 f., Nr. 190,90–94. Die beiden Adligen namens von Bünau finden sich unter den Nummern 190,92–93. 97 Ebd., S. 728, Nr. 225,35: Gottefridus comes ab Öttingen promisit illustrissimo rectori fidem manu. 98 Göz/Conrad, Diarium Martini Crusii (Anm. 19), S. 165. Die Schilderung des Todesfalls ist eine von zwei Begebenheiten, die Crusius unter der Überschrift Tragisches und Trauriges hier in Tübingen darlegt (ebd., ab S. 164).

Gewaltsame Auseinandersetzungen im studentischen Milieu der Universität Tübingen 123

Lärmen der Kommilitonen im Collegium beschwert.99 Crusius erklärte, Gottfried von Öttingen habe nicht geglaubt, dass aus der Mündung der Waffe überhaupt eine Kugel austreten könne. Ad inspirationem autem oris, also offenbar beim Pusten in die Mündung, sei dann aber doch die Kugel herausgeschossen – eine Verkettung unglücklicher Umstände, die Crusius auf Griechisch mit dem Ausruf Herr, erbarme dich!100 kommentierte. Obwohl offenkundig schockiert, rang sich Crusius noch zu einer kritischen Bewertung des Unglücks durch: Wiederum auf Griechisch notierte er, der Vorfall sei ein schlechter und beklagenswerter Beginn dieses neuen Collegiums.101 In Bezug auf das Collegium Illustre ist Crusius allerdings nicht als neutraler Beobachter anzusehen, da er bis zu seinem Ausscheiden 1572 selbst an dieser Einrichtung lehrte und über Jahre hinweg Gelegenheit hatte, ihre Entwicklung persönlich zu gestalten. Vor diesem Hintergrund ist Crusius’ Äußerung nicht nur als Ausdruck persönlicher Betroffenheit, sondern auch als offene Kritik an der überaus negativen Entwicklung der Einrichtung und deren neuen Sitten zu verstehen. Der während des Unglücks amtierende Oberhofmeister Hans Jakob Breuning von Buchenbach scheint sich in seiner nur kurzen, von der Verabschiedung der neuen Statuten 1596 bis längstens zur Visitation 1597 dauernden Amtszeit vor allem durch Entschärfung fast aller Regeln profiliert zu haben.102 Abgesehen davon, dass er für sich selbst das Recht erwirkte, trotz seiner leitenden Funktion nicht länger im Collegium wohnen zu müssen und überdies mehrere Monate pro Jahr in eigener Sache abwesend zu sein, entsprach er den Wünschen der Collegiaten insoweit, als er das Abendgebet und die frühen Weckzeiten an Sonn- und Feiertagen abschaffte. Theologische Tischgespräche wurden ebenfalls, möglicherweise aus mangelnder Fähigkeit des Oberhofmeisters, diese zu führen, weitestgehend aufgegeben. Dass diese Entwicklung auch mit dem Tod Gottfrieds von Öttingen nicht endete, belegt das Ergebnis der oben erwähnten Visitation, die nur ein Jahr später ans Licht brachte, dass im Collegium Illustre weder auf das Studium noch auf die Erziehung der jungen Männer geachtet würde und daran der Oberhofmeister sowie der Praeceptor des Erbprinzen schuld seien.103 Ob es angesichts dieser katastrophalen Bewertungen weitere Untersuchungen zum Tod Gottfrieds von Öttingen gegeben hat, verrät Crusius nicht. Er erwähnt in seinen Aufzeichnungen nur noch das bereits genannte Begräbnis dreier junger Adliger am 6. September 1596 in St. Georg, unter denen einer, Gottfried von Öttingen nämlich, ante introitum Chori, iuxta latus Sacristiae, Neccarum versus beigesetzt worden sei.104 Gesandte, die sich offenbar als Stellvertreter der Eltern um die Bestattung 99 100 101 102

Von Mohl, Geschichtliche Nachweisungen (Anm. 6), S. 68, Nr. 234. Göz/Conrad, Diarium Martini Crusii (Anm. 19), S. 165, Z. 8. Ebd., Z. 10. Vgl. zu den im Folgenden genannten Einwirkungen Breuning von Buchenbachs die Aufzählung bei Schneider, Tübinger Collegium illustre (Anm. 23), S. 226 f. 103 Ebd., S. 227. In von Mohls Materialsammlung ist, da das Collegium Illustre keine universitäre Einrichtung war, kein Protokoll einer solchen Visitation zu finden, aber ein Beschluss, nach dem der Hofmeister des Collegium Illustre angewiesen werden solle, „seine Collegiaten Nachts zu Hause [zu] behalten“. Hierzu: Von Mohl, Geschichtliche Nachweisungen (Anm. 6), S. 72, Nr. 249. 104 Göz/Conrad, Diarium Martini Crusii (Anm. 19), S. 179, Z. 17. Zu den weiteren Informationen über das Begräbnis vgl. ebenfalls S. 179.

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des Jungen gekümmert hatten, seien vor die Wahl gestellt worden, den Leichnam entweder in den Heimatort überführen oder ihn in St. Georg an einem selbst gewählten Ort außerhalb des Chores – dieser war den Grabstätten des württembergischen Fürstenhauses vorbehalten – beisetzen zu lassen. Aus Crusius’ Beschreibung geht recht detailliert hervor, wie das Begräbnis abgelaufen ist. D. Pro-Rector Haffenraeff habe aus dem zweiten Buch Samuel gepredigt, in einer Prozession sei man zum Chor gezogen, Crusius habe sich anschließend in eine den Universitätsangehörigen vorbehaltene Bank gesetzt. Später sei man zum Collegium zurückgekehrt. Einige Professorenehefrauen sowie die fraw vomm Fyrst hätten dem Begräbnis ebenfalls beigewohnt.105 Crusius’ Worte über Gottfried von Öttingen machen es sogar wahrscheinlich, dass der Professor den jungen Verstorbenen persönlich gekannt hat: Der Student sei ein optimus puer gewesen und habe 40 Psalmen auswendig gewusst. Das laut Crusius in den Blick fallende, für die Ewigkeit bestimmte Grabmonument des jungen Mannes ist nicht mehr erhalten, wohl aber das vier Jahre später entstandene Epitaph, das die Todesursache nicht eigens thematisiert. Die erste der zwei kurzen Inschriften auf dem Gedächtnismal, ein elegisches Distichon, beschränkt sich auf die bloße Tatsache, dass der junge Mann verstorben ist.106 Die zweite Inschrift, die als weiteres elegisches Distichon zusammen mit der ersten eine bildliche Darstellung in der Mitte des Epitaphs umschließt, liefert keine weiteren Informationen zum Verstorbenen. Stattdessen verweist sie im Sinne des Vanitas-Gedankens auf das Geborenwerden und Sterben als unverrückbare Angelpunkte menschlichen Lebens sowie die Tatsache, dass der Todeszeitpunkt jedes Menschen unbekannt ist.107 Das zwischen den beiden Inschriften angebrachte Hauptfeld zeigt Gottfried von Öttingen, natürlich nicht im Studententalar, sondern mit adligen Kleidern und Umhang versehen, kniend und zum gekreuzigten Christus aufblickend; aus dem von Wolken völlig verdeckten Himmel fallen Hagelkörner direkt auf den jungen Mann, nicht aber auf die im Hintergrund abgebildete Stadt. Das Motiv des Hagels war in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, bedingt durch mehrere große Katastrophen und daraus folgende Predigten und Abschnitte in Andachtsbüchern, ein Sinnbild für verheerendes, plötzlich auftretendes Unheil – das einzige Stilelement auf dem Epitaph, das das dem jungen Mann widerfahrene Unglück überhaupt andeutet.108 105 In der betreffenden Passage wird auch eine Frau namens generosa Bappenhaimia (ebd., Z. 28 f.) genannt. Sollte es sich hierbei um eine Adlige aus dem Geschlecht derer von Pappenheim gehandelt haben, wäre zumindest eine Bekanntschaft mit dem jungen Mann aus dem nahe Pappenheim gelegenen Grafengeschlecht von Öttingen denkbar. Näheres erhellt aus Crusius’ Angaben jedoch nicht. 106 VIXIT ET OCCVBVIT GOTOFRIDVS OTHINGICA PROLES / SPES ET DELICIÆ RHÆTIA LAVTA TIBI. Die Inschrift ist wiedergegeben nach Knöll, Grabmonumente (Anm. 18), S. 39. Im Original der Inschrift steht PROLES in einer separaten Zeile, gehört aber, so Knölls richtige Bemerkung, zum Hexameter des ersten Verses. Die Hervorhebung einiger Buchstaben im Fettdruck geht auf Knöll zurück. Sie wählt dieses Mittel der Hervorhebung, um auf einzelne, über das Zwei-Linien-Schema hinausgehende Buchstaben hinzuweisen, die als Chronogramm römische Zahlen darstellen und addiert das Todesjahr Gottfrieds von Öttingen ergeben. Zum Epitaph insgesamt vgl. ebd., S. 39–41. 107 NASCIMVR ET MORIMVR NATI CVIVSLIBET INSTAT / QVÆLIBET OCCVLTO CVILIBET HORA NECIS. Ebd., S. 39. 108 Ebd., S. 40 f. mit Quellenverweisen.

Gewaltsame Auseinandersetzungen im studentischen Milieu der Universität Tübingen 125

Obwohl im Mittelpunkt dieses Aufsatzes das 16. Jahrhundert steht, lohnt sich an dieser Stelle doch ein kurzer Blick auf das 17. Jahrhundert: In der Tübinger Universitätskirche ist noch ein zweiter gewaltsamer Todesfall eines Studenten dokumentiert, der sogar Parallelen zum Tod Gottfrieds von Öttingen aufweist. Hier findet sich nämlich die Grabplatte des 1684 verstorbenen Adligen Christoph Gottlieb Breitschwert von Buchenbach (geboren 1667). Der den Großteil dieser Platte ausfüllende, von den Wappen der Vorfahren des Verstorbenen umrahmte Text widmet sich dem Lobpreis des jungen Mannes und erklärt am Ende, wie dieser aus dem Leben geschieden ist: LETHALI. IN. SE. BOMBARDÆ. EXPLOSIONE. HEV. TRISTEM. CASVM. INFELICI. FATO. HAVD. LVBENS. TRAIECTVS. BREUNING CVM. VITA. FINIIT109

Bemerkenswert ist das in der obigen Transkription hervorgehobene Wort BREUNING. Es passt nicht zur übrigen Inschrift der Grabplatte, da es in einer anderen Schriftart vorliegt und weniger tief und ebenmäßig in die Steinplatte eingebracht ist. Darüber hinaus ist es vom nachfolgenden Wort CVM nicht, wie sonst in der Inschrift, durch einen Punkt abgetrennt und enthält, wiederum im Unterschied zu den ansonsten auf der Grabplatte verwendeten schriftlichen Konventionen, ein U statt eines V. BREUNING ist damit offenbar eines von zweien erst nachträglich aufgebrachten Graffiti. Das zweite Graffito ganz am Ende der Grabinschrift ist unlesbar.110 Der Name BREUNING war im Tübingen der frühen Neuzeit nicht unbekannt. Mehrere Mitglieder dieser einflussreichen Familie sind ebenfalls in der Stiftskirche bestattet, einige studierten an der Tübinger Universität.111 Dieser Name wurde nicht nur mitten in die Grabinschrift eingeritzt, sondern auch noch an einer Stelle, an der er theoretisch als Ablativ im lateinischen Satzgefüge den Auslöser des gewaltsamen Todes des jungen Studenten bezeichnen kann. Dies weist, so Knölls einleuchtende Deutung,112 mindestens auf eine Verbindung eines Familienmitglieds zu dem Verstorbenen, möglicherweise sogar zu dessen Tod hin. Genaueres erschließt sich allein aus der Grabplatte jedoch nicht, und auch keine Leichenpredigt ist vorhanden, die, wie etwa im Fall eines anderen, allerdings an einer Krankheit verstorbene Studenten,113 detaillierte Angaben über die näheren Todesumstände machen könnte.

109 Wortlaut und Hervorhebung nach der Transkription Knölls (ebd., S. 66 f.). 110 Vgl. ebd., S. 68 Anm. 5, sowie das zugehörige Foto auf S. 67. 111 Unter den Personen mit Namen Breuning, die an der Universität Tübingen eingeschrieben waren, findet sich auch ein junger Mann namens Johann Christian, der sich im Jahr 1680 immatrikulierte (MUT II [Anm. 17], S. 381, Nr. 27.633). Er schlug die theologische Laufbahn ein und wurde nach dem Baccalaureat 1682 Stipendiat. 1688 wurde er Pfarrer in Wippingen. Die Herkunftsbezeichnung Oberjetingensis deutet allerdings an, dass er nicht direkt aus Tübingen, sondern aus Oberjettingen stammte. Ob es eine Verbindung zum Namen auf der Grabplatte gibt, ist unklar. 112 Knöll, Grabmonumente (Anm. 18), S. 66 mit Anm. 5. 113 Hier ist der Fall des österreichischen Adligen Johann Reisco von 1617 zu nennen. Während das Epitaph in der Tübinger Stiftskirche keine Informationen zu den Lebens- und Todesumständen liefert (ebd., S. 114 f.), ist in der Leichenpredigt Der dritte Theil / von der abgeleibten Adenlichen Person aussagekräftiger: Da sowohl an Johann Reisco selbst, alß auch an seinem Junckern Bru-

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SYNTHESE UND AUSBLICK Die vorliegende Untersuchung zeigt, dass die Ausprägungen studentischer Devianz im Tübingen des 16. Jahrhunderts, genau wie in anderen Universitätsstädten,114 äußerst vielfältig waren. Abgesehen von Verstößen gegen die Kleiderordnung wurden unter anderem Delikte wie Ruhestörung, nächtliches Umherlaufen, übermäßiger Alkoholkonsum, Beleidigungen und Provokationen, Diebstahl, Hausfriedensbruch, Beschädigung fremden Eigentums und die Störung bürgerlicher Feste aktenkundig. Aufgrund der Lage Tübingens in der Nähe mehrerer katholischer Gebiete kam es außerdem zu Vergehen wie Übergriffen auf Nonnen und Störung des Kirchenfriedens. Diese Fülle von devianten Handlungsweisen bildete oft die Grundlage für gewaltsame Auseinandersetzungen, bei denen es, wie die Untersuchungsprotokolle des Universitätssenats zeigen, unterschiedliche Konstellationen gab. Die gewöhnlich Waffen tragenden Studenten gerieten sowohl untereinander als auch mit Bürgern in Konflikt. Die schon zahlenmäßig unterlegenen städtischen Wachen konnten dies, ebenso wie der Pedell und die von der Universität eingesetzte, aber aus Bürgern bestehende Scharwacht, nicht verhindern – auch die Ordnungshüter wurden von Studenten angegriffen. Da solche Auseinandersetzungen nicht von neutraler Seite, sondern stets in städtischen oder universitären Aufzeichnungen überliefert sind, fällt es schwer, den genauen Tathergang zweifelsfrei zu ermitteln. Einige Fälle legen zumindest nahe, dass Bürger nicht nur angegriffen wurden, sondern teilweise

dern bald in seiner Kindheit ein grosse vnd beschwerliche Melancholia (deren ein mittlauffende Einfalt von Mutterleib angehangt) verspueret worden / welche fast von Jahr zu Jahren / je mehr vnd mehr bey ihnen zugenommen, habe die Mutter zusammen mit den Vormündern (der Vater war bereits verstorben), beschlossen, die Jungen in andere frembde Ort / so wol wegen verhoffter Correction solches ihres besagten Zustands / alß auch (sovil mueglich) zu erlehrnung loeblicher morum und anderer Kuensten zuuerschicken. Das gemeinsame Studium von Geschwistern und schnell aufeinanderfolgende Aufenthalte an mehreren Universitäten waren damals nicht untypisch unter jungen, adligen Studenten: Müller, Aristokratisierung (Anm. 21), S. 43. Konkret machten die beiden Österreicher in Altdorf bei Nürnberg (1614 Sept. 14, Aufenthalt: zwei Monate), Nürnberg (Aufenthalt: sechs Monate), Straßburg (dreizehn Monate) und Tübingen Station. Nach einem dortigen Aufenthalt von zehn Monaten, in denen der laut obigem Zitat offenbar psychisch kranke Johann Reisco zu nichts anderem alß einig und allein zur Gotts Forcht / zum letzten in H. Schrifft / erlernung der vornemsten Spuerchen und gantzer Psalmen / wie nicht weniger auch zu fleissiger besuchung der Predigten angehalten werden konnte, verstarb der 20-Jährige am 6. Mai 1617 an einer Magenerkrankung. Zu den betreffenden Passagen der Leichenpredigt vgl. Ein Christlich Predigt Bey der Adelichen Leich vnd Begraebnus / Weiland des Edlen und Vesten / Johan: Reischco von Steyer aufz Oesterreich ob der Ens / welcher den 6. May dieses 1617. Jahrs / seines Atlers [sic] im 20 ½. zu Tuebingen seeliglich entschlaffen / vnd den 9. hernach in der StifftsKirchen zu S. Georgen daselbsten gebuehrlich zur Erden bestattet worden: Gehalten / durch Iohannem Georgium Sigwartten / der H. Schrifft Doctorn / Pfarrern der Kirchen / vnd Professorn der hohen Schul zu Tuebingen. P RÆFIXVM EST, M AGNIFICI D OMINI R ECTORIS Programma sive Funeris & Concionis hujus Indictio. Tuebingen / Bey Johann Alexandro Cellio / Anno 1617, S. 30–32. Standort: Württembergische Landesbibliothek; Signatur: Fam.Pr.oct.K.13770. 114 Vgl. insbesondere die Angaben der in Anm. 12 genannten Studien zu Göttingen, Freiburg und Köln.

Gewaltsame Auseinandersetzungen im studentischen Milieu der Universität Tübingen 127

auch selbst Konflikte auslösten, beispielsweise in Form bewaffneter Übergriffe auf Studenten. Mehrere gewaltsame Auseinandersetzungen führten zu teils schweren Verletzungen, einige sogar zu Todesfällen auf bürgerlicher wie studentischer Seite. Eine chronologische oder statistische Untersuchung dieser Geschehnisse ist aufgrund der Quellenlage nicht möglich, da angesichts mehrjähriger Lücken in der Überlieferung der Senatsprotokolle unklar bleibt, wie viele Fälle es wirklich gegeben hat. Unter den für das 16. Jahrhundert insgesamt sechs überlieferten gewaltsamen studentischen Todesfällen finden sich Unfälle, mindestens ein Mord sowie einige Fälle mit ungeklärtem Hintergrund. Schon deshalb, aber auch aufgrund der Unterschiede zwischen den Verstorbenen, unter denen bürgerliche Studenten der Tübinger Universität ebenso auftreten wie junge Adlige, die Mitglieder des Collegium Illustre waren, ist es kaum möglich, die Todesfälle miteinander zu vergleichen. Ferner wäre es verfehlt, mit Blick auf die zum Ende des 16. Jahrhunderts insgesamt reichere Überlieferung gewaltsamer Auseinandersetzungen große Entwicklungslinien konstruieren zu wollen und beispielsweise eine fortschreitende Radikalisierung der Studentenschaft anzunehmen. Dass möglicherweise die Neubegründung des Collegium Illustre 1584 und die damit steigende Zahl adliger junger Männer im Umfeld der Universität zu einer Zunahme devianter Handlungsweisen geführt haben könnten, muss in dieser allgemeinen Formulierung angesichts der schütteren Überlieferungslage ebenfalls eine Hypothese bleiben, zumal unter den bürgerlichen Studenten auch Professorensöhne als Unruhestifter erwähnt werden. Trotz dieser Einschränkungen konnten im vorliegenden Aufsatz anhand einzelner Fälle dennoch die Grundzüge der studentischen Devianz anhand verschiedener Delikte herausgearbeitet und Konfliktfelder zwischen Studenten, Wachpersonal und bürgerlichen Stadtbewohnern benannt werden. Auch am Beispiel der Universität Tübingen lässt sich somit das eingangs erwähnte, von Marian Füssel postulierte Auftreten der Studenten als eigene gesellschaftliche Gruppe gegenüber den Stadtbürgern, insbesondere den Handwerkern, nachweisen.115 Außerdem fällt auf, dass auch die Tübinger Studenten hinsichtlich Herkunft und Stand eine ungemein heterogene Gruppe darstellten. Oftmals lässt sich jedoch nicht klären, ob die Identifikation mit dem studentischen Ehrverständnis auch über Standesgrenzen unter Tübinger Studenten hinweg wirkte, das heißt ob sich adlige wie bürgerliche Studenten bei gemeinsam verübten devianten Handlungsweisen zusammenfanden. Zwar ist eine Fülle von Delikten überliefert, doch lassen die Lücken in den universitären Aufzeichnungen für Tübingen im 16. Jahrhundert keine Aussage darüber zu, ob „deviantes Verhalten innerhalb der studentischen Kultur geradezu zur Norm“116 geworden sei. Auch für die Gewaltdelikte und Todesfälle ist es deshalb schwer, auf generelle Entwicklungslinien zu schließen.

115 Füssel, Gelehrtenkultur (Anm. 7), S. 250. Besonders eindrucksvoll zeigt sich dies bei einer Auseinandersetzung des Jahres 1583, die in einen Aufstand der Studenten gipfelte, bei dem sich die jungen Männer gegen die universitäre Obrigkeit und die Tübinger Bürger zusammenschlossen. Von Mohl, Geschichtliche Nachweisungen (Anm. 6), S. 47–49, Nr. 144. 116 Füssel, Gelehrtenkultur (Anm. 7), S. 250.

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Trotz dieser Probleme ist die studentische Devianz ein Untersuchungsfeld, dessen Bearbeitung sich schon aufgrund der Vielzahl unterschiedlicher Quellen lohnt und weitergehende Erkenntnisse nicht nur im Rahmen der Universitätsgeschichtsschreibung ermöglicht. Die enge räumliche Verbindung von Universität und Stadt führte zu einem oftmals gespaltenen Verhältnis zwischen Universitätsangehörigen und Stadtbürgern, das notwendigerweise Teil einer Analyse studentischer Devianz sein muss. Sowohl für die Untersuchungen einzelner Universitäten als auch für vergleichende Analysen steht somit weiterhin die Frage im Raum, ob es auf dem Gebiet der studentischen Devianz hinsichtlich der Art der Delikte, der Zahl der Vorfälle und der beteiligten Personen in verschiedenen Jahrhunderten und Universitätsstädten Unterschiede oder Parallelen gegeben hat. Bis ein solches Gesamtbild entstehen kann, muss das Thema der Devianz in seinen Einzelaspekten allerdings noch für die meisten Universitäten aufgearbeitet werden. Auf dem wissenschaftlichen Kolloquium „Universitas scholarium. Sozial- und Kulturgeschichte des europäischen Studenten vom Mittelalter bis zur Gegenwart“, das im Oktober 2013 in Köln stattfand, wurde dieser Weg unter anderem mit dem Vortrag Matthias Hensels zu studentischen Sterbefällen an der Universität Jena 1548–1700 und den Möglichkeiten ihrer statistischen Auswertung weiter beschritten.117 Die Kieler Abteilung für Regionalgeschichte organisiert in diesem Zusammenhang vom 6. bis 8. Juli 2017 in Greifswald eine Tagung zum Thema „Radikale Überzeugungstäter? Studentische Gewalt zwischen Befreiungskriegen und Bologna-Prozess“.118

ABSTRACT The purpose of this study is to take a closer look at different forms of deviant behaviour among students during the early modern period. Focusing on the University of Tübingen in the 16th century, questions such as the following are dealt with: Which behaviour was considered deviant from social norms? To what extent did social norms among members of the university differ from those of regular citizens? To what extent can forms of deviant behaviour be categorized in terms of their severity? Which signs of conflicts between members of the university and the citizens can be noticed? The study mainly addresses these questions by examining a corpus of incidents compiled in the 19th century. Considering the fact that this corpus is a mere collection of incidents without enquiring further into them, this study aims at classifying them according to their severity, their consequences, and the people involved. Thus, we can gain a more nuanced description of students’ deviant behaviour in the 16th century. The study is complemented by an appendix containing a register of the incidents in question. 117 Dazu nähere Informationen in: Thomas-Institut der Universität zu Köln, 19. Jahresbericht. Oktober 2012 bis Oktober 2013, November 2013, S. 43. Online unter: (05. 04. 2016). 118 Das Programm findet sich unter: .

Gewaltsame Auseinandersetzungen im studentischen Milieu der Universität Tübingen 129

ANHANG Register gewaltsamer Auseinandersetzungen, Verletzungen und Todesfälle im studentischen Milieu der Universität Tübingen im 16. Jahrhundert Nr.* Datum

Ort der Überlieferung

I. Ereignis (Verletzungen und studentische Todesfälle sind durch Fettdruck hervorgehoben) II. Namentlich genannte Studenten (wenn möglich mit Angabe aus MUT I)

4

1532 Dez. 7

DS

I. Ungeladener Besuch mehrerer Studenten auf einer Hochzeit, daraufhin Auseinandersetzung mit den Bürgern. II. V. Lung, vermutlich der wegen weiterer Vergehen erwähnte (v. Mohl, Nr. 5) Vitus Lung von Planek (S. 271, Nr. 100,9 [1533 Nov. 20]: Vitus Lung de Planek).

8

1533 Febr. 14

DS

I. Drohung zweier betrunkener Studenten, einen Wirt zu erstechen; Stürmung eines Festes, die Studenten werden durch bewaffnete Nachbarn der Feiernden verjagt. II. V. Lung (s. hier Nr. 4), Schenk von Winterstetten (S. 267, Nr. 95,21 [1530 Okt. 5]: Philippus Schenck ab Winterstetten, [. . .] canonicus Augustensis ecclesie cathedralis).

16

1549 Dez. 5

DS

I. Streit mit dem Untervogt wegen Ruhestörung, Übergriff des Untervogtes auf die Studenten. Ein Student ist „mit dem Schweinspies ins Gesicht gestoßen“, ein anderer „mit dem Blechhandschuh auf den Kopf geschlagen worden“. II. M. Volland (S. 317, Nr. 122,9 [1544 Mai 27]: Michael Volland Gröningensis, vermutlich Immatrikulation eines Verwandten unter S. 345, Nr. 133,26 [1550 Febr. 5]: Henricus Vollandus Gröningensis); J. Roschbeck (S. 335, Nr. 129,43 [1548 Jan. 23]: Joannes Roschbeck ex Reckingen pago non procul ab Ötinga); J. Widmann (S. 319, Nr. 123,6 [1544 Nov. 23]: Joannes Widman Hailprunnensis); G. Bloch (möglicherweise S. 312, Nr. 120,35 [1543 Aug. 5]: Gabriel Blech Ombergensis, B. a. 1548 Febr.).

23

1553 Dez. 23

SP

I. Bewaffneter Streit von Studenten und Bürgern.

24

1554 April 5

SP

I. Ebenso, dabei „schwere Verwundung“ eines Studenten namens Moser durch Bürger. II. Moser (S. 370, Nr. 141,39 [1553 Dez. 20]: Daniel Moser Augustanus).

26

1554 Sept. 15

DS

I. Bericht von Universitätsrektor und Senat an den Herzog: Die Universität halte die Statuten, aber es komme immer wieder zu Übergriffen von Bürgern auf Studenten.

*

Nummerierung, Datum und Überlieferungsort nach von Mohl, Geschichtliche Nachweisungen (Anm. 6), S. 10, Anm. 5. DS = Aktenfaszikel „Disciplinarsachen“ in der Universitätsregistratur; SP = Senatsprotokolle.

130 27

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1554 Okt. 13

SP

I. Gewaltsame Auseinandersetzung zweier Studenten mit der Wache am Lustnauer Tor. II. „die Pauren“.

28

1554 Nov. 7, 10 u. 30

SP

I. Gewaltsame Auseinandersetzung unter Studenten; nach deren Ende haben die hinzugekommenen Wächter auf Befehl des Untervogts die Studenten angegriffen.

30

1555 Ende Jan.

SP

I. Bewaffnete Auseinandersetzung zwischen „etlichen Edelleuten und Studenten“ mit Bauern.

36

1557 Juli 4

SP

I. Verurteilung zweier Studenten zu einer Karzerstrafe, weil sie einander die Finger abschneiden und darum spielen wollten. II. Jörg von Hanau (wahrscheinlich S. 383, Nr. 145,33 [1556 Juli 15]: Georgius ab Hanaw nobilis); M. Kalt.

41

1557 Nov. 18

[unklar]

I. Dr. Aehrne hat einem Diener ein Loch in den Kopf geschlagen.

45

1558 Mai 23

SP

I. Verwundung zweier Küferknechte durch zwei Studenten namens Böck und Steck. II. Böck (S. 369, Nr. 141,9 [1553 Nov. 10]: Joannes Bock oder ein Student gleichen Namens: S. 392, Nr. 148,25 [1557 Dez. 16]: Joannes Bock Feichtwangensis); Steck (S. 352, Nr. 136,41 [1551 Juli 12] bzw. S. 370, Nr. 141,36 [1553 Dez. 15]: Jacobus Steck Stutgardianus).

48

1558 Nov. 28

SP

I. Streit zwischen Studenten und Nachtwächtern.

50

1559 Jan. 12

SP

I. Ein Student namens Roß wollte „den ihm begegnenden M. Heller“ „mit einem Schweinspieße“ verletzen. II. M. Roß, M. Heller (möglicherweise S. 386, Nr. 146,43 [1557 März 15]: M. Thomas Heller se rursus indicavit.). Einen Verweis auf die erste Immatrikulation gibt es hier nicht.

51

1559 Jan. 12

SP

I. Auseinandersetzung dreier Studenten mit einem Bürgersohn; nach Verletzung des Bürgersohns Flucht der Studenten nach Reutlingen.

53

1559 März

SP

I. Ein polnischer Student ist erschlagen worden.

55

1559 Juli 21

SP

I. Auseinandersetzung zweier Universitätsangehöriger mit dem Pedellen bei Besuch des Karzers. II. Dr. Burkhardt (möglicherweise S. 374, Nr. 142,34 [1554 Mai 31], M. a. 1559 Febr. 1: Michael Burckhardus Horbensis), M. Stählin.

Gewaltsame Auseinandersetzungen im studentischen Milieu der Universität Tübingen 131

57

1559 Sept. 16

SP

I. Verwundung dreier Studenten durch Bürger.

74

s. d.

DS

I. Nächtliche Auseinandersetzung zwischen Bürgern und Studenten. Die Bürger haben sich u. a. mit Spießen bewaffnet und angegeben, sie hätten vor Übergriffen durch Studenten Angst.

84

1574 Sept. 16

DS

I. Streit zwischen Studenten und Weingartschützen über Diebstahl von Weintrauben; ein Student wurde „mit dem Spieße durch den Arm gestochen“.

91

1575 Aug. 28

SP

I. Verurteilung eines Studenten zu einer Karzerstrafe „wegen seiner Misshandlung“. II. H. von Wuttenow (der kleine Sachs; möglicherweise: S. 522, Nr. 178,4 [1572 Okt. 24]: Hainricus Wetterow a Seygletz ex marchionatu Brandenburgensi).

92

1575 Sept. 10

SP

I. Bewaffnete Auseinandersetzung unter Studenten auf dem Kirchhof. II. M. Löcker (wahrscheinlich S. 519, Nr. 177,37 [1572 Juni 18]: Matthias Lecker Studtgardianus).

98

1576 Febr. 20

DS

I. Mehrere Angriffe von Studenten auf die Scharwacht. II. Varnbühler (entweder S. 498, Nr. 172,2 [1570 Okt. 29]: Hieronymus Varnbüler Tubingensis oder einer seiner Brüder Anthonius und Johannes Wilhelm, die wie er auf S. 519, Nr. 177,45–47 [1572 Juni 26] genannt sind; ebenso auch möglich: Johannes und Jacob Varnbüler aus Baden, S. 517, Nr. 177,2 [1572 Mai 29]); Etzig, Bromberg.

101

1576 Mai 27

SP

I. Angriff zweier Studenten auf den Pedell wegen Verbot des Musizierens auf der Straße, Unterstützung des Pedells durch Bürger.

103

1576 Juli 26

SP

I. Prügelei von Studenten mit einem Schuster, Belästigung eines anderen Bürgers.

104

1576 Okt. 10

SP

I. Bewaffneter Streit zwischen einem Studenten und zwei Hafnergesellen, von denen einer schwer, d. h. mutmaßlich tödlich oder zumindest bis zur Arbeitsunfähigkeit verletzt worden ist. II. Von Thalheimer.

105

1577 Jan. 4

SP

I. Weigerung Tübinger Bürger, wegen der gegen sie gerichteten Gewalt weiterhin das Amt des Wächters (wahrscheinlich die Scharwacht) auszuüben. Sie seien nachts oft „mit Schimpfreden, Stein-, Koth- und Schneewürfen belästigt, mit bloßem Degen verfolgt worden [. . .], alles ohne Ursache von ihrer Seite“.

132 106

Oliver Auge und Frederieke M. Schnack

1577 Jan. 4

SP

I. Gewaltsame Auseinandersetzung zwischen Studenten und Schmiedsknechten, dabei selbst verschuldete Verwundung des Studenten M. Libius. II. M. Libius.

109

1577 Jan. 31

SP

I. Gewaltsame Auseinandersetzung zwischen Studenten.

113

1577 Anf. Febr.

SP

I. Nächtlicher, gewaltsamer Eintritt eines Studenten in ein Wirtshaus, gewaltsame Auseinandersetzung mit Pedell und Wächtern. Dabei: Verwundung eines Stadtknechts; tödliche Verwundung des Studenten am Kopf durch einen Wächter.

114

1577 Febr. 3

DS

I. Öffentliche Bekanntmachung, um während des Faschings u. a. Angriffe auf die Scharwacht zu verhindern.

115

1577 Aug. 16

DS

I. Angriffe eines Studenten auf Wächter. II. W. E. von Thalheimer (s. S. 104).

118

[1578] Jan. 14

DS

I. Gewaltsame Auseinandersetzung eines Studenten mit der Scharwacht. II. Maier (mehrere Möglichkeiten: S. 523, Nr. 178,9 [1572 Okt. 29]: Christophorus Maier Marpurgensis; S. 527, Nr. 179,34 [1573 Juli 19]: Franciscus Maier Norlingensis; S. 561, Nr. 187,38 [1577 Juni 18]: Vlricus Maier Cantharopolitanus; S. 561, Nr. 187,47 [1577 Juni 27]: Conradus Maier Alperspacensis; S. 562, Nr. 187,56 [1577 Juli 27]: Mattheus Maier e Thermis ferinis).

120

1578 Juli 26

SP

I. Der Universitätsangehörige (möglicherweise auch Student) Widmann ist erstochen worden. II. Widmann (vgl. die Ausführungen im Text auf S. 121 f.).

121

1578 Juli 31

SP

I. Angriff zweier mit einem Dolch bewaffneter Studenten auf Bürger.

122

1579 Dez.

SP

I. Auseinandersetzung zwischen einem sächsischen Studenten und einem Bürgersohn, wobei letzterer, offenbar bei geringerer Schuld des Studenten, erschlagen worden ist.

125

1580 März 20

SP

I. Nächtliche Ruhestörung und gewaltsame Auseinandersetzung nicht näher genannter Art.

130

1581 April 20 I. Der Student M. Hofmann hat einen Kommilitonen „auf den Tod verwundet“. II. M. Hofmann (vgl. die Ausführungen im Text auf S. 120).

SP

Gewaltsame Auseinandersetzungen im studentischen Milieu der Universität Tübingen 133

132

1581 Juli 18

SP

I. Unglücksfall im Fechtunterricht, dabei Tod des Studenten von Bünau. II. Von Bünau (vgl. die Ausführungen im Text auf S. 122 f.).

136

1582 Okt. 25

SP

I. Duell zweier adliger junger Männer, die noch nicht eingeschrieben sind.

138

1582 Okt. 29

SP

I. Während einer Senatssitzung: Klage über Angriffe von Bürgern auf Studenten, ferner hätten die Bürger „früher schon einmal einen Studenten todt geschlagen“.

140

1582 Dez. 21

SP

I. Verwundung eines Knechts durch einen Steinwurf eines Studenten in der Nacht.

144

1583 Febr. 28

SP

I. Gewaltsame Auseinandersetzung zwischen einem Studenten und dem Inhaber seines Kosttisches; Beteiligung von Bürgern, anschließend heftige Auseinandersetzungen um die Beilegung des Streits und die Bestrafung der beteiligten Studenten.

147

1583 April 3

SP

I. Schießerei während des abendlichen Gottesdienstes, dabei schwere Verwundung eines Studenten durch einen anderen.

148

1583 April 5

SP

I. Gewaltsame Auseinandersetzung zwischen vier adligen Studenten.

150

1583 Mai 21

SP

I. Gewaltsame Auseinandersetzungen auf dem Marktplatz, verursacht durch einen betrunkenen Studenten namens Reinhardt, der von der Universität fortgeschickt wird. II. Der „Sachse Reinhardt“ (schon am 5. April neben den vier Adligen zu einer Karzerstrafe verurteilt; möglicherweise S. 608, Nr. 198,6 [1582 Okt. 22]: Burckhardus Reinhardt Enfalstattensis Francus).

153

1583 Sept. 19

SP

I. Streit unter Brüdern (Studenten), der jüngere hat den älteren verwundet. II. Zwei Brüder namens von Zillenhard (wohl einer von ihnen: S. 589, Nr. 198,82 [1580 Sept. 11]: Ludovicus Erberhardt von Zillenhard).

157

1584 Febr. 4

SP

I. Ergebnis der Universitätsvisitation: häufige Vorfälle wie nächtliche Ruhestörung, gewaltsame Auseinandersetzungen und Übergriffe auf Bürger. Ein Junge ist am Brunnen von einem Studenten niedergeschlagen worden.

161

1584 Juni 24 I. Nächtliche Ruhestörung und gewaltsame Auseinandersetzungen unter Studenten. II. Von Unruhe, von Rantzau (zu Letzterem vgl. die Ausführungen im Text auf S. 117).

SP

134 162

Oliver Auge und Frederieke M. Schnack

1584 Ende Okt.

SP

I. Der Student Tegernau ist von drei Wächtern schwer verwundet worden. II. Tegernau (bei von Mohl ist der Name in Klammern gesetzt, vielleicht ist der unter folgendem Eintrag Immatrikulierte gemeint: S. 615, Nr. 109,26 [1583 Mai 22]: Adamus Cumerus Tegernowensis).

164

s. d.

SP

I. Der Student von Rantzau hat einem gewissen Georg Waibel die Hand abgeschlagen. II. Von Rantzau (s. hier Nr. 161, vgl. die Ausführungen im Text auf S. 117).

170

1586 Febr. 28

SP

I. Ein Student namens Hügel hat einen anderen so verwundet, dass dessen Därme bis auf den Boden hingen, er aber nicht gestorben ist. II. Hügel (S. 617, Nr. 199,63 [1583 Juni 10]: Philippus Hügelius Mergenthalensis, B. a. 1584 Sept. 23).

178

1588 Aug. 5

DS

I. Gewaltsame Auseinandersetzung zwischen Studenten und Bürgern, offenbar hatten adlige Studenten die Scharwacht beleidigt.

180

1588 Sept. 1

SP

I. Der in dieser Hinsicht schon bekannte Student Heller war in eine Auseinandersetzung verwickelt und ist dabei „schwer im Arme verwundet worden“. II. Heller (S. 630, Nr. 202,30 [1584 Nov. 25]: Nicolaus Heller Kirchensis sub Teck, B. a. 1585 Sept. 28 oder S. 653, Nr. 207,46 [1587 Juli 21]: Conradus Heller Stutgardianus).

181

1589 Jan. 11

SP

I. Bewaffneter Angriff von Studenten auf den Pedell, der sie wegen Ruhestörung zurechtweisen wollte. II. Truchseß (möglicherweise: S. 611, Nr. 198,84 [1583 Jan. 5]: Wilhelmus Truchses ab Höfingen); Schertlin (vielleicht S. 630, Nr. 202,7 [1584 Okt. 23]: Gebhardus Scherpflinus Memmingensis), Stockheimer.

188

1589 Juli 6

SP

I. Schwere Verwundung eines Stipendiaten durch einen Studenten.

193

s. d.

DS

I. Gewaltsame Auseinandersetzung zwischen Studenten und Bürgern.

198

s. d.

SP

I. Klage zweier Studenten über eine gewaltsame Auseinandersetzung mit einem Bäcker.

199

1590 Nov. 26

SP

I. Ein Student hat einen Tübinger und einen Reutlinger Bürger verwundet.

202

1591 März 27 I. Gewaltsame Auseinandersetzung zwischen drei Studenten und einem Schreiber.

SP

Gewaltsame Auseinandersetzungen im studentischen Milieu der Universität Tübingen 135

204

1591 April 24

SP

I. Eine Bürgerin ist von einem Studenten „auf freiem Markte“ überrannt worden.

205

1591 Mai 7

SP

I. Gewaltsame Auseinandersetzung zwischen vier betrunkenen Studenten und mehreren Handwerksgesellen.

209

1591 Juli 16

SP

I. Angriff eines Wächters durch den Sohn von Professor Hamberger. II. Hamberger (S. 649, Nr. 206,28 [1587 Jan. 7]: Joannes Georgius Hamberger Tubingensis, B. a. 1589 Sept. 24; Dr. med. 1599 Okt. 10).

211

1591 Sept. 11

SP

I. Zwei Studenten haben eine schwangere Frau geschlagen und getreten.

216

1592 Jan. 13

SP

I. Von Prof. Hambergers Sohn begonnene gewaltsame Auseinandersetzungen. Ein Student ist von einem Schmied „mit einer eisernen Stange niedergeschlagen“ worden. II. Hamberger (s. hier Nr. 209).

220

1592 Mai 7

SP

I. Übergriff auf einen Studenten durch „Calixtus“, der als „Medicus“ bezeichnet wird. Der Student ist drei Mal niedergeschlagen und mit einem Stein verletzt worden. II. Von Senfft (möglicherweise S. 636, Nr. 203,78 [1585 Aug. 9]: Christophorus Senfft a Salburg; oder S. 672, Nr. 212,7 [1589 Okt. 23]: Albertus Senft a Sulburg).

222

1592 Juni 25

SP

I. Gewaltsame Auseinandersetzung auf dem Markt, „Blöcke“ sind „in den Brunnen“ geworfen worden.

223

1592 Aug. 19

DS

I. „Misshandlung der Wächter am Lustnauer Thor“.

227

1593 Sept. 16

SP

I. Ein Student ist vom Tübinger Bürgermeister angegriffen worden.

232

1595 März 16

SP

I. Übergriff eines Studenten auf den Sohn des Burgvogtes.

241

1596 Juli 9

SP

I. Der Student Notnagel hat mehrere gewaltsame Auseinandersetzungen begonnen und dabei fast einen anderen Studenten getötet. II. Notnagel (eventuell S. 662, Nr. 209,48 [1588 Juli 22]: Ludovicus Notnagelius Wertheimensis, B. a. 1590 April 8).



1596 Aug. 23 I. Tod Gottfrieds von Öttingen im Collegium Illustre. II. Gottfried von Öttingen (vgl. Ausführungen im Text auf S. 122–124).



136 246

Oliver Auge und Frederieke M. Schnack

1597 Febr. 19

SP

I. Schwere Verwundung des Famulus M. Herlinger durch M. Rambacher. II. M. Rambacher; M. Herlinger.

248

1597 Juni 15

SP

I. Übergriff auf den Pedell, zuvor Entwendung von drei den Wächtern gehörenden Schweinspießen durch Studenten. Der Pedell ist bei der Abmahnung der Studenten von diesen angegriffen worden.

249

1597 Juni 29

SP

I. Gewaltsame Auseinandersetzung mit Bürgern, Klagen über Angriffe auf Wächter.

250

1597 Sept. 1

SP

I. Verletzung eines Schneiders durch den Sohn von Prof. Cellius. II. Cellius (S. 732, Nr. 226,45 [1597 Jan. 27]: Johannes Philipp Cellius Tubingensis cuius pater professor.)

258

1598 April 25

SP

I. Nicht näher benannte gewaltsame Auseinandersetzung unter Beteiligung von Studenten. II. M. Brastberger (hier sind nur zwei Studenten mit anderen Vornamen überliefert: S. 703, Nr. 219,30 [1593 Juni 15]: Joannes Brastperger Stutgardianus; S. 716, Nr. 222,28 [1595 März 13]: Heinricus Brasperger Wilesylvanus).

260

1598 Juni 2

SP

I. Gewaltsame Auseinandersetzung zwischen Bürgern und Studenten, weil letztere unerlaubt einen Tanz besucht haben, dabei gegenseitige Verletzungen. II. Hopf (wohl S. 738, Nr. 227,44 [1597 Aug. 5]: Petrus Hopffius Weidensis Variscus famulus).

261

1598 Nov. 3

DS

I. Gewaltsame Auseinandersetzung zwischen zwei Adligen einerseits und dem Pedellen und einigen Wächtern andererseits. II. Graf Schlick (S. 746, Nr. 229,46 [1598 Juli 28]: Joannes Albinus Schlick comes a Passauu et baro a Weisskirchen) samt einem gleich nach ihm immatrikulierten Familienangehörigen namens Georg Campanus; von Frankenberg (wahrscheinlich S. 729, Nr. 226,3 [1596 Okt. 24]: Balthasarus a Franckenberg Silesius).

262

1598 Nov. 13

DS

I. Angriff des beim eben genannten Vorfall beteiligten Grafen auf Wächter (trotz vorheriger Abmahnung). II. Graf Schlick (s. hier Nr. 261).

263

1599 Jan. 21

SP

I. Duell zwischen zwei Studenten. II. Cellius (s. 250); Kotulensky (S. 743, Nr. 228,66 [1598 Febr. 19]: Nicolaus Kottulinski, Silesius).

265

1599 Febr. 8

SP

I. Prügelei des Cellius mit dem Pedell nach vorangegangener Ruhestörung und Beleidigung der Wächter. II. Cellius (s. hier Nr. 250).

Gewaltsame Auseinandersetzungen im studentischen Milieu der Universität Tübingen 137

267

1599 März 27

SP

I. Der Student von Weltsch hat seinen Praeceptor mit „Dolch und Rapier“ bedroht. II. Von Weltsch.

269

1599 Mai 16

SP

I. Ruhestörung in einer kath. Kirche in Rottenburg. Der Verursacher, ein Repetent des Stipendiums, ist dabei verletzt worden. II. M. Grätter.

271

1600 Jan. 2

[unklar, wohl SP]

I. „Ch. Utsim aus Pommern“ hat die Tür seines Hausherrn eingetreten und diesen im Bett verprügelt. II. Ch. Utsim.

277

1600 Dez. 29

SP

I. Cellius hat aus Eifersucht ein Mädchen dazu gebracht, einen anderen Studenten mit einem Messer am Hals zu verletzen. II. Cellius (s. hier Nr. 250).

STAND UND STUDIUM – FÜRSTLICHE UNIVERSITÄTSBESUCHE IM SPÄTMITTELALTER Benjamin Müsegades

Im November 1454 kam es in der italienischen Universitätsstadt Pavia zu einem denkwürdigen Vorfall. Zu Ehren eines frisch promovierten Studenten sollte ein Umzug stattfinden. Im Hof des Bischofssitzes nahmen die Teilnehmer Aufstellung. Hierbei kristallisierte sich schnell ein grundlegendes Problem heraus. Neben den deutschen Rektor Georg Heßler stellte sich der rector designatus, der Italiener Giorgio da Pescarola. Hinter ihm gingen die drei Markgrafen von Baden, die Brüder Johann, Georg und Markus, die in Pavia studierten. Kaum war die Prozession vorangekommen, da griffen Familiaren der Markgrafen Giorgio an, offenbar unzufrieden damit, dass die deutschen Fürsten hinter dem Italiener gehen sollten. Giorgio da Pescarola wich nun zurück, wurde jedoch vom Rektor Georg Heßler aufgefordert, wieder seinen Platz einzunehmen. Kaum hatte er dies getan, begannen die Begleiter der Margrafen erneut auf ihn einzuprügeln. Nun entspann sich zwischen Deutschen und Italienern eine Massenschlägerei.1 Die Ereignisse illustrieren zweierlei: Zum einen wird die generelle Bedeutung von Rang an vormodernen Universitäten erkennbar, die die Forschung der letzten Jahrzehnte aufgezeigt hat.2 Zum anderen wird deutlich, dass der von außen eingebrachte fürstliche Rang an der Universität neu verhandelt werden musste, und sei 1

2

Zu den Ereignissen Agostino Sottili, Zur Geschichte der „Natio Germanica Ticinensis“. Albrecht von Eyb, Georg Heßler und die Markgrafen von Baden an der Universität Pavia, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 132 N. F. 93 (1984), S. 107–133, hier: S. 114. Der Bericht des Graciano de Pescarola zu diesem Vorfall ist ediert ebd., Anhang XX, S. 131 f. Zu dem Vorfall in Pavia s. auch Rainer Christoph Schwinges, Illustre Herren. Markgrafen von Baden auf Bildungsreise (1452–1456), in: Adel und Königtum im mittelalterlichen Schwaben. Festschrift für Thomas Zotz zum 65. Geburtstag, hg. von Andreas Bihrer, Matthias Kälble und Heinz Krieg (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in BadenWürttemberg B/175), Stuttgart 2009, S. 393–405, hier: S. 402–404. Grundlegend zum Rang des Adels an vormodernen Universitäten ist die Fallstudie von Rainer A. Müller, Universität und Adel. Eine soziostrukturelle Studie zur Geschichte der bayerischen Landesuniversität Ingolstadt 1472–1648 (Ludovico Maximilanea, Forschungen 7), Berlin 1974. Zum Spätmittelalter s. Rainer Christoph Schwinges, Die Universität als sozialer Ort des Adels im deutschen Spätmittelalter, in: Grand Tour. Adeliges Reisen und europäische Kultur vom 14. bis zum 18. Jahrhundert. Akten der internationalen Kolloquien in der Villa Vigoni 1999 und im Deutschen Historischen Institut Paris 2000, hg. von Rainer Babel und Werner Paravicini (Beihefte der Francia 60), Ostfildern 2005, S. 357–372; Rainer Christoph Schwinges, Studentische Kleingruppen im späten Mittelalter. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte deutscher Universitäten, in: Politik, Gesellschaft, Geschichtsschreibung. Giessener Festgabe für František Graus zum 60. Geburtstag, hg. von Herbert Ludat und Rainer Christoph Schwinges (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 18), Köln/Wien 1982, S. 319–361. Zu Rang und Rangkonflikten an Universitä-

140

Benjamin Müsegades

es durch das Faustrecht. Rainer Christoph Schwinges hat darauf hingewiesen, dass der Eintritt in die mittelalterliche universitäre Gemeinschaft durch die Immatrikulation für einen Studenten keinesfalls den Verlust seiner gesellschaftlichen Stellung bedeutete. Vielmehr wurde der Rang auch in die Universität eingebracht und dort dargestellt.3 Der Fokus der bisherigen Forschung lag vor allem auf der Frage, wie der nichtfürstliche Adel seinen Rang behauptete.4 Die Rolle fürstlicher Studenten ist hingegen trotz der in den letzten Jahren entstandenen Arbeiten zu den principes des Reichs bisher noch nicht in vergleichender Perspektive untersucht worden.5

3

4 5

ten der Frühen Neuzeit s. Marian Füssel, Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit, Darmstadt 2006; vgl. zum fürstlichen Rang im Spätmittelalter jetzt auch Jörg Peltzer, Der Rang der Pfalzgrafen bei Rhein. Die Gestaltung der politisch-sozialen Ordnung des Reichs im 13. und 14. Jahrhundert (RANK 2), Ostfildern 2013. Schwinges, Universität als sozialer Ort (Anm. 2), S. 357 f; Rainer Christoph Schwinges, Sozialgeschichtliche Aspekte spätmittelalterlicher Studentenbursen in Deutschland, in: Schulen und Studium im sozialen Wandel des hohen und späten Mittelalters, hg. von Johannes Fried (Vorträge und Forschungen 30), Sigmaringen 1986, S. 527–564, insbesondere S. 527–529; anders Arno Seifert, Studium als soziales System, in: ebd., S. 601–619. Siehe Anm. 2. Allgemein zum Reichsfürstenstand im Spätmittelalter zu konsultieren sind noch immer die grundlegenden Aufsätze von Karl-Friedrich Krieger und Peter Moraw: Karl-Friedrich Krieger, Fürstliche Standesvorrechte im Spätmittelalter, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 122 (1986), S. 91–116; Peter Moraw, Fürstentum, Königtum und „Reichsreform“ im deutschen Spätmittelalter, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 122 (1986), S. 117–136; s. aus der Vielzahl der vergleichenden Arbeiten zu den verschiedenen Aspekten reichsfürstlichen Handelns nur die bisher erschienenen Untersuchungen aus dem Greifswalder Principes-Projekt von Karl-Heinz Spieß zu Tod, Kleidung und generationsübergreifenden Verträgen: Cornell Babendererde, Sterben, Tod, Begräbnis und liturgisches Gedächtnis bei weltlichen Reichsfürsten des Spätmittelalters (Residenzenforschung 19), Ostfildern 2006; Erhard Hirsch, Generationsübergreifende Verträge reichsfürstlicher Dynastien vom 14. bis zum 16. Jahrhundert (Studien zur brandenburgischen und vergleichenden Landesgeschichte 10), Berlin 2013; Kirsten O. Frieling, Sehen und gesehen werden. Kleidung an Fürstenhöfen an der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit (ca. 1450–1530) (Mittelalter-Forschungen 41), Ostfildern 2013. Einen konzisen Überblick zu den Reichsfürsten im Mittelalter bietet Karl-Heinz Spieß, Fürsten und Höfe im Mittelalter, Darmstadt 2008. Perspektiven der Erforschung von Fürsten und ihren Höfen werden aufgezeigt bei Andreas Bihrer, Curia non sufficit. Vergangene, aktuelle und zukünftige Wege der Erforschung von Höfen im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für historische Forschung 35 (2008), S. 235–272; Karl-Heinz Spieß, Research on the Secular Princes of the Holy Roman Empire. State-of-the-Art and Perspectives, in: Princely Rank in Late Medieval Europe. Trodden Paths and Promising Avenues, hg. von Thorsten Huthwelker, Jörg Peltzer und Maximilian Wemhöner (Rank 1), Ostfildern 2011, S. 27–47; Oliver Auge, Late Medieval German Princes and their Image. Written Records and Avenues of Research, in: ebd., S. 71–96. Eine Studie zu Fürsten als Universitätsbesuchern fehlt bisher. In der Forschung wurden entsprechende Universitätsaufenthalte nur im Kontext kleinerer, vor allem landesgeschichtlicher, Einzelstudien zu einzelnen Personen oder im Rahmen größerer Untersuchungen zu einzelnen Häusern in den Blick genommen. Gerrit Deutschländer kommt in seiner Studie zur höfischen Erziehung mit Ausnahme einiger Beobachtungen zu den Universitätsaufenthalten der Fürsten von Anhalt zu keinen neuen Erkenntnissen hinsichtlich fürstlicher Studenten: Gerrit Deutschländer, Dienen lernen, um zu herrschen. Höfische Erziehung im ausgehenden Mittelalter (1450–1550) (Hallische Beiträge zur Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 6),

Stand und Studium – Fürstliche Universitätsbesuche im Spätmittelalter

141

Ausgehend von der vor allem in den letzten zwei Jahrzehnten betriebenen Erforschung des Reichsfürstenstands als soziale Gruppe stehen zwei Leitfragen im Mittelpunkt dieses Beitrags. Erstens: Wie gestaltete sich das universitäre Leben eines Fürsten, wie trat er in Kontakt zu Mitgliedern der universitas und in welchem Maße partizipierte er an universitären Ritualen? Damit zusammenhängend zweitens: Wie behauptete er innerhalb der Universität seinen Rang? Untersucht werden jene Söhne deutscher Reichsfürsten, die im Spätmittelalter eine Universität besuchten. Aus Gründen der Vergleichbarkeit werden punktuell auch die ersten drei Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts mit in die Untersuchung einbezogen. Es wird mit einer Untersuchung des durch die Vielzahl der edierten Matrikelbücher gut nachvollziehbaren Immatrikulationsvorgangs begonnen, bevor der eigentliche Aufenthalt an der Universität behandelt wird.6 Zuvor ist jedoch zu untersuchen, warum sich Reichsfürsten im Spätmittelalter überhaupt an einer Universität immatrikulierten.

I. WAHL DER UNIVERSITÄT Seit Beginn des 15. Jahrhundert finden sich verstärkt Studenten aus deutschen Adelshäusern an den Universitäten Europas. Für viele Niederadlige war deutlich geworden, dass die prestigeträchtigen Stellen an den Höfen der großen Territorialfürsten nicht mehr allein aufgrund der adligen Geburt vergeben wurden. Promovierte Bürgerliche nahmen immer häufiger diese Positionen ein. Entsprechend zog der Adel nach und erwarb, zumindest teilweise, selbst akademische Titel.7 Für fürstliche Hochadlige stellte sich dieses Problem nicht, da für sie die Anstellung als Rat eines anderen Fürsten kaum in Frage kam. Dennoch lassen sich,

6 7

Berlin 2012, insbesondere S. 103–107, 222–260. Die Aufenthalte der Reichsfürsten, die eine Universität besuchten und später zur Herrschaft in den jeweiligen Fürstentümern gelangten, untersucht Benjamin Müsegades, Fürstliche Erziehung und Ausbildung im spätmittelalterlichen Reich (Mittelalter-Forschungen 47), Ostfildern 2014, insbesondere S. 119–131. Zu universitären Matrikelbüchern im Mittelalter Jacques Paquet, Les matricules universitaires (Typologie des sources du Moyen Âge occidental A/65), Turnhout 1992. Allerdings lässt sich im Spätmittelalter vor allem im Hochadel noch eine Reserviertheit gegenüber akademischen Prüfungen beobachten; hierzu sowie zur Frequenz und den Motiven adliger Universitätsbesuche Rainer A. Müller, Norm und Praxis adliger Bildung 1350–1550 mit besonderer Berücksichtigung Südwestdeutschlands, in: Gelungene Anpassung? Adelige Antworten auf gesellschaftliche Wandlungsvorgänge vom 14. bis zum 16. Jahrhundert. Zweites Symposion „Adel, Ritter, Reichsritterschaft vom Hochmittelalter bis zum modernen Verfassungsstaat“ (24./25. Mai 2001, Schloß Weißenburg), hg. von Horst Carl und Sönke Lorenz (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 53), Ostfildern 2005, S. 139–161, hier: S. 153–161; Laetitia Boehm, Konservatismus und Modernität in der Regentenerziehung an deutschen Höfen im 15. und 16. Jahrhundert, in: Humanismus im Bildungswesen des 15. und 16. Jahrhunderts, hg. von Wolfgang Reinhard (Mitteilungen der Kommission für Humanismusforschung 12), Weinheim 1984, S. 61–93, hier: S. 67–69, 74–78; Müller, Universität und Adel (Anm. 2), S. 17–32. Insbesondere für die Immatrikulationsfrequenz grundlegend sind die Ergebnisse bei Rainer Christoph Schwinges, Deutsche Universitätsbesucher im 14. und 15. Jahrhundert. Studien zur Sozialgeschichte des Alten Reichs (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abteilung Universalgeschichte 123; Beiträge zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reiches 6), Stuttgart 1986, S. 379–392.

142

Benjamin Müsegades

verstärkt seit der Mitte des 15. Jahrhunderts, immer wieder Fürsten an Universitäten des Reichs nachweisen. Grund war, dass sich die Nachfolgeregelungen innerhalb der Familien veränderten. Wurden während des 14. Jahrhunderts Fürstentümer in der Regel noch geteilt, um jedem legitimen Sohn die Herrschaft zu ermöglichen, so gingen die Oberhäupter der fürstlichen Versorgungsfamilien im 15. Jahrhundert dazu über, zumindest einige Söhne in den geistlichen Stand abzuschichten, das heißt für sie eine Karriere als Domherr und im Optimalfall sogar als Bischof voranzutreiben.8 Immer wieder wurde auch, häufig erfolgreich, versucht, von der Nachfolge

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Abschichtungen hochadliger Söhne in eine geistliche Laufbahn, hierbei selten als Mönch oder Ordensritter, sind bereits seit dem Frühmittelalter belegt; s. Gerhard Streich, „aus der kutt gesprungen“. Die Rückkehr hochadeliger Kleriker und Mönche in den Laienstand im Mittelalter, in: Herrschaftspraxis und soziale Ordnung im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Ernst Schubert zum Gedenken, hg. von Peter Aufgebauer und Christine van den Heuvel (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 232), Hannover 2006, S. 405–433; Aloys Schulte, Der Adel und die deutsche Kirche im Mittelalter. Studien zur Sozial-, Rechtsund Kirchengeschichte, Darmstadt 3 1958, S. 263–271. Beispiele aus dem Hochmittelalter finden sich bei Jonathan Lyon, Princely Brothers and Sisters. The Sibling Bond in German Politics 1100–1250, Ithaca/London 2013, passim. Die verstärkt feststellbare Tendenz in reichsfürstlichen Familien ab der Mitte des 15. Jahrhunderts einen Teil der Söhne in die Richtung einer geistlichen Karriere zu lenken ist aufgearbeitet bei Karl-Heinz Spieß, Erbteilung, dynastische Räson und transpersonale Herrschaftsvorstellung. Die Pfalzgrafen bei Rhein und die Pfalz im späten Mittelalter, in: Die Pfalz. Probleme einer Begriffsgeschichte vom Kaiserpalast auf dem Palatin bis zum heutigen Regierungsbezirk. Referate und Aussprachen der Arbeitstagung vom 4.–6. Oktober 1988 in St. Martin/Pfalz, hg. von Franz Staab (Veröffentlichungen der Pfälzischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft in Speyer 81), Speyer 1990, S. 159–181, hier S. 170 f.; Hirsch, Generationsübergreifende Verträge (Anm. 5), S. 128–138; Müsegades, Fürstliche Erziehung (Anm. 5), S. 29–47; zu den Hohenzollern: Cordula Nolte, Familie, Hof und Herrschaft. Das verwandtschaftlichen Beziehungs- und Kommunikationsnetz der Reichsfürsten am Beispiel der Markgrafen von Brandenburg-Ansbach (1440–1530) (Mittelalter-Forschungen 11), Ostfildern 2005, S. 114–147; zu den Grafen von Henneberg-Schleusingen: Johannes Mötsch, Die gefürsteten Grafen von Henneberg und ihre fürstlichen Statussymbole, in: Hochadelige Herrschaft im mitteldeutschen Raum (1200–1600). Formen – Legitimation – Repräsentation, hg. von Jörg Rogge und Uwe Schirmer (Quellen und Forschungen zur sächsischen Geschichte 23), Stuttgart 2003, S. 227–242, hier: S. 235. Die geistlichen Karrieren einzelner Reichsfürsten sind bisher ausschließlich in prosopographischen Studien und biographischen Einzeluntersuchungen aufgearbeitet. Fürstliche Domherren sind für den süddeutschen Raum mit kurzen Biogrammen erfasst bei Johannes Kist, Das Bamberger Domkapitel von 1399 bis 1556. Ein Beitrag zur Geschichte seiner Verfassung, seines Wirkens und seiner Mitglieder (Historisch-Diplomatische Forschungen 7), Weimar 1943, S. 144–145 (Baden), 145–148 (Pfalz), 194–201 (Henneberg); Gerhard Fouquet, Das Speyerer Domkapitel im späten Mittelalter (ca. 1350–1540). Adlige Freundschaft, fürstliche Patronage und päpstliche Klientel, 2 Bde. (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 57), Mainz 1987, hier: Bd. 2, S. 325–332 (Baden), 704–712 (Pfalz); Michael Hollmann, Das Mainzer Domkapitel im späten Mittelalter (1306–1476) (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 64), Mainz 1990, S. 329–330 (Baden), 342–343 (Braunschweig-Lüneburg), 422–423 (Pfalz), 436 (Sachsen). Zu Mainz siehe zudem noch Wilhelm Kisky, Die Domkapitel der geistlichen Kurfürsten in ihrer persönlichen Zusammensetzung im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert (Quellen und Studien, Band 1/3), Weimar 1906, S. 143 (Sachsen). Zu Köln ebd., 38–39 (Baden), 39–41 (Pfalz und Bayern), 45 (Brandenburg-Ansbach), 47 (Kleve), 52 (Henneberg), 53 (Hessen), 76 (Sachsen-Lauenburg), 76–77 (Sachsen); zu Trier ebd., S. 168 (Baden), 168–169 (Pfalz), 173 (Kleve). Die Karrierewege

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ausgeschlossenen unehelichen Fürstensöhnen eine geistliche Laufbahn zu eröffnen.9 Für die Inanspruchnahme der Pfründe an einem Domkapitel war es notwendig, ein meist zweijähriges Universitätsstudium, das sogenannte Biennium zu absolvieren.10 Hierfür erhielten die Domherren, so sie bereits eine Pfründe erworben hatten, Urlaub von ihrem Kapitel.11 So ließ sich 1481 der Domherr Ruprecht von Pfalz-Simmern-Zweibrücken in Mainz für zwei Jahre für das Studium in Paris beurlauben.12 Andere Bildungsbestrebungen als das Absolvieren der vorgeschriebenen

einzelner Reichsfürsten sind untersucht bei Christine Reinle, Id tempus solum. Der Lebensentwurf Herzog Johanns von Mosbach-Neumarkt († 1486) im Spannungsfeld von dynastischem Denken, kirchlicher Karriere und gelehrten Interessen, in: Der Pfälzer Löwe in Bayern. Zur Geschichte der Oberpfalz in der kurpfälzischen Epoche, hg. von Hans-Jürgen Becker (Schriftenreihe der Universität Regensburg 24), Regensburg 1997, S. 157–199; Ellen Widder, Karriere im Windschatten. Zur Biographie Erzbischof Ruprechts von Köln (1427–1478), in: Vestigia Monasteriensia. Westfalen – Rheinland – Niederlande, hg. von Ellen Widder, Mark Mersiowsky und Peter Johanek (Studien zur Regionalgeschichte 5), Bielefeld 1995, S. 29–72; Wolfgang Breul, Abt wider Willen. Johann III. von Henneberg (1503–1541) in der Reichsabtei Fulda, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschiche 55 (2003), S. 227–258. Eine vergleichende Untersuchung der geistlichen Karrieren von Reichsfürstensöhnen, insbesondere ihrer Rolle als Bischöfe, ist nach wie vor ein Desiderat der Forschung. Die Eintragungen in die Matrikel machen es nicht immer möglich, die unehelichen Söhne zu 9 identifizieren. In Bologna wurde 1422 Bernhard von Baden, wahrscheinlich ein außerehelicher Sohn Markgraf Bernhards I., immatrikuliert; vgl. Gustav C. Knod (Bearb.), Deutsche Studenten in Bologna (1289–1562). Biographischer Index zu den Acta nationis Germanicae universitatis Bononiensis, Berlin 1899, Nr. 166, S. 25 f. An derselben Universität findet sich 1378 zudem ein natürlicher Sohn Herzog Stephans von Bayern; ebd., Nr. 173, S. 26 f. Zu Konkubinat und unehelichen Söhnen der Reichsfürsten siehe Paul-Joachim Heinig, Omnia vincit amor. Das fürstliche Konkubinat im 15./16. Jahrhundert, in: Principes. Dynastien und Höfe im späten Mittelalter, hg. von Cordula Nolte, Karl-Heinz Spieß und Ralf-Gunnar Werlich (Residenzenforschung 14), Stuttgart 2002, S. 277–314; Ellen Widder, Konkubinen und Bastarde. Günstlinge oder Außenseiter an Höfen des Spätmittelalters?, in: Der Fall des Günstlings. Hofparteien in Europa vom 13. bis zum 17. Jahrhundert. 8. Symposium der Residenzen-Kommission der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, hg. von Jan Hirschbiegel und Werner Paravicini (Residenzenforschung 17), Ostfildern 2004, S. 417–480. 10 Vgl. hierzu mit weiterführender Literatur: Müsegades, Fürstliche Erziehung (Anm. 5), S. 119. Eine Ausnahme von dieser Regel stellt Albrecht von Brandenburg, der spätere Erzbischof von Mainz und Magdeburg dar. Der Hohenzoller war Inhaber einer Majorpräbende am Magdeburger Domstift ohne das hierfür vorgeschriebene dreijährige Studium absolviert zu haben. Papst Leo X. dispensierte ihn 1513 mit dem Verweis hiervon, Albrecht sei in came(ri)s sub diversis utriusque iuris doctoribus et magistris in artibus ac aliis viris doctis, in humanitete ac arte oratoria eruditis; Ingrid Heike Ringel, Nunquam in aliquo studio generali seu privilegiato . . . studuisti. Ein Studiendispens für Albrecht von Brandenburg, in: Erzbischof Albrecht von Brandenburg (1490–1545). Ein Kirchen- und Reichsfürst der Frühen Neuzeit, hg. von Friedhelm Jürgensmeier (Beiträge zur Mainzer Kirchengeschichte 3), Frankfurt am Main 1991, S. 37–48, hier: S. 38 (Verweis auf die Präbende), S. 48 (Zitat). 11 Zu den Bestimmungen der einzelnen Kapitel siehe etwa Kist, Das Bamberger Domkapitel (Anm. 8), S. 91; Fouquet, Speyerer Domkapitel, 1 (Anm. 8), S. 46. 12 Fritz Hermann (Bearb.), Die Protokolle des Mainzer Domkapitels, Bd. 1: Die Protokolle aus der Zeit 1450–1484, Darmstadt 1976, Nr. 1376, S. 494. Der Fall des Mainzer Domherren Markgraf Johann Albrecht von Brandenburg-Ansbach, der 1519 Studienurlaub für den Aufenthalt in Rom bewilligt erhielt – vgl. hierzu: Fritz Hermann (Bearb.), Die Protokolle des Mainzer Domkapitels,

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zwei Jahre dürften bei der Entsendung von Reichsfürsten an Universitäten höchstens eine untergeordnete Rolle gespielt haben.13 Da die Nachfolgeordnungen steten Veränderungen unterworfen waren, schickten fürstliche Väter in einigen Fällen gleich mehrere Söhne an eine Universität, wohl mit dem Hintergedanken, möglichst vielen von ihnen die Option auf eine geistliche Karriere offenzuhalten.14 Warum welcher Nachkomme für eine geistliche Karriere ausgewählt wurde, ist nicht immer aus den Quellen ersichtlich.15 Das Studium selbst war noch keine Garantie dafür, dass einzelne Söhne tatsächlich in den geistlichen Stand eintraten. In mehreren Fällen führten Änderungen der Erbfolge oder der Widerstand einzelner Söhne dazu, dass auch Fürsten, die eine Universität besucht hatten, die Regierung im jeweiligen Fürstentum antraten.16 Die Auswahl der konkreten Universität für das Studium eines Fürsten konnte durch eine Vielzahl von Faktoren beeinflusst sein. Quellen, die die Motive thematisieren, fehlen jedoch im Großteil der Fälle.17 Die Qualität der universitären Lehre spielte, wie für die meisten spätmittelalterlichen Studenten, keine Rolle für die Entscheidung.18 Beobachten lässt sich, dass in vielen Fällen die jeweilige Landesuniversität oder die nächstgelegene Universität ausgewählt wurde. So bezogen mehrere Söhne aus der pfälzischen Linie der Wittelsbacher im 15. Jahrhundert die Universität Heidelberg.19

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Bd. 3/1: Die Protokolle aus der Zeit des Erzbischofs Albrecht von Brandenburg 1514–1545, Paderborn 1929, S. 171 –, aber das Studium nicht wirklich verfolgte, ist aufgearbeitet bei Christine Schuchard, Preußen – Franken – Rom. Der Briefwechsel zwischen Hochmeister Albrecht von Brandenburg und seinen Brüdern Johann Albrecht und Gumprecht, in: Schriftkultur und Landesgeschichte. Studien zum südlichen Ostseeraum vom 12. bis zum 16. Jahrhundert, hg. von Matthias Thumser (Mitteldeutsche Forschungen 115) Köln/Weimar/Wien 1997, S. 219–239. Zur Entwicklung der Erziehung und Ausbildung deutscher Reichsfürsten im Spätmittelalter siehe Müsegades, Fürstliche Erziehung (Anm. 5), insbesondere S. 34–36. Karl-Heinz Spieß, Reisen deutscher Fürsten und Grafen im Spätmittelalter, in: Grand Tour (Anm. 2), S. 33–51, hier: S. 38. Ebd. wird auf die drei Söhne Herzog Johanns IV. von Sachsen-Lauenburg verwiesen, die sich 1484 an der Universität Köln immatrikulierten; vgl. Hermann Keussen (Bearb.), Die Matrikel der Universität Köln (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 8), Bd. 2: 1476–1559, Bonn 1919, S. 153. Die Primogenitur hatte sich noch nicht in allen Häusern durchgesetzt. Es konnte auch durchaus der Erstgeborene für eine geistliche Karriere ausgewählt werden. So wurde der älteste Sohn Graf Wilhelms IV. von Henneberg-Schleusingen, Johann, 1521 erst Koadjutor und später Abt von Fulda. Grund für den Ausschluss von der Nachfolge in der gefürsteten Grafschaft war möglicherweise eine körperliche Behinderung; vgl. Hilde Liederwald, Die Studienjahre des Grafen Johannes von Henneberg (1516 bis 1521), in: Neue Beiträge zur Geschichte deutschen Altertums 33 (1928), S. 23–53, hier: S. 24, u. Breul, Abt (Anm. 8), S. 231. Hierzu Müsegades, Fürstliche Erziehung (Anm. 5). Eine der wenigen Quellen zu dieser Thematik findet sich für die gefürsteten Grafen von Henneberg. Wilhelm IV. wurde 1527 für das Studium seines Sohns Poppo die Universität Tübingen empfohlen, da daselbst vil von Graven und hern kind, auch anderer vil vom adel studenden seien; Thüringisches Staatsarchiv Meiningen, Gemeinschaftliches Hennebergisches Archiv I, Nr. 6408, fol. 1r , Schenk Karl von Limburg an Graf Wilhelm IV. von Henneberg-Schleusingen, 11. März 1527. Hierzu Schwinges, Deutsche Universitätsbesucher (Anm. 7), S. 204. Als erstes bezogen im Jahr 1439 die Brüder Ruprecht und Stephan aus der Linie SimmernZweibrücken die pfälzische Landesuniversität; Gustav Toepke (Bearb.), Die Matrikel der Uni-

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Die Herzöge von Mecklenburg schickten ihre Söhne ins nahegelegene Rostock und die Fürsten von Anhalt wiederum ihre Söhne nach Leipzig.20 An der Universität in Köln immatrikulierten sich häufig Fürsten, die am dortigen Domkapitel eine Pfründe innehatten.21 In einigen Fällen war es wahrscheinlich die bereits existierende oder gesuchte Bindung an den in der jeweiligen Stadt angesiedelten Hof, die die Auswahl der Universität bedingte.22 Natürlich muss bei der Betrachtung der Gründe bedacht werden, dass die Zahl vorhandener Universitäten die Wahl des Studienorts entscheidend beeinflusste. Ende des 14. Jahrhunderts gab es weit weniger Universitäten im Reich und in den umliegenden Gebieten als in der Mitte des 15. Jahrhunderts.23 Die Immatrikulation des Herzogs Barnim VI. von Pommern-Wolgast an der Universität

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versität Heidelberg von 1386 bis 1662, Bd. 1: Von 1386 bis 1553, Heidelberg 1884, S. 222. Die Brüder Ruprecht, Albrecht und Johannes von Pfalz-Mosbach folgten 1454; ebd., S. 475 u. 479. Für die Mecklenburger ist die Entsendung der Herzöge Balthasar (1467) und Erich (1493) belegt; Adolf Hofmeister (Hg.), Die Matrikel der Universität Rostock, Bd. 1: Rostock 1889, S. 152 u. 270; zur Beziehung der Herzöge von Mecklenburg zur Universität Rostock im 15. Jahrhundert Marko A. Pluns, Die Universität Rostock 1418–1563. Eine Hochschule im Spannungsfeld zwischen Stadt, Landesherren und wendischen Hansestädten (Quellen und Darstellungen zur hansischen Geschichte 68), Köln/Weimar/Wien 2007, S. 31–131. In Leipzig wurden Magnus, Wilhelm, Georg II. und Adolf (1471/1472), Philipp (1478), Wolfgang (1500) und Georg III. (1518) von Anhalt immatrikuliert; Georg Erler (Hg.), Die Matrikel der Universität Leipzig (Codex Diplomaticus Saxoniae Regiae 16/2), Bd. 1: Die Immatrikulationen von 1409–1559, Leipzig 1895, S. 283, 313, 435, 563. Zudem besuchte Joachim, der Bruder Georgs III., 1520 dort Lehrveranstaltungen ohne an der Universität eingeschrieben zu sein; Deutschländer, Dienen lernen (Anm. 5), S. 244. Bei den Herzögen von Pommern ist mit Swantibor (1462) nur ein Mitglied des Hauses im Spätmittelalter auf der Landesuniversität Greifswald nachweisbar: Ernst Friedländer (Hg.), Aeltere Universitäts-Matrikeln. II. Greifswald (Publicationen aus den Königlich Preußischen Staatsarchiven 52), Bd. 1: 1456–1646, Leipzig 1893, S. 22. An der Universität Ingolstadt studierte der Sohn des Landesherrn, Herzog Ernst von Bayern, seit 1515; Götz Freiherr von Pölnitz (Hg.), Die Matrikel der Ludwig-MaximiliansUniversität Ingolstadt-Landshut-München, Teil I: Ingolstadt, Bd. 1: 1472–1600, München 1937, Sp. 386. Zum Studium an Landesuniversitäten im nicht-fürstlichen Adel: Müller, Norm und Praxis (Anm. 7), S. 155. Rainer Christoph Schwinges hat darauf hingewiesen, dass es vor allem das Domkapitel war, das adlige Studenten nach Köln lockte und nicht die Universität; Schwinges, Deutsche Universitätsbesucher (Anm. 7), S. 390; Schwinges, Universität als sozialer Ort (Anm. 2), S. 370. Die im 15. Jahrhundert an der Hohen Schule immatrikulierten Stephan von PfalzZweibrücken-Veldenz (1441), Ruprecht von der Pfalz (1443), Albrecht und Ruprecht von PfalzMosbach (1454), Georg und Markus von Baden (1455), Albrecht von Bayern-München (1461) und Hermann von Hessen (1462) hatten in Köln eine Pfründe inne, waren nominiert oder erwarben eine solche während des Aufenthalts dort. Siehe zu den Immatrikulationen Hermann Keussen (Bearb.), Die Matrikel der Universität Köln (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 8), Bd. 1: 1389–1475, Bonn 2 1928, S. 434, 471, 580 f., 593, 670, 690. Die Verweise auf die Kanonikate und das Studium finden sich bei Kisky, Domkapitel (Anm. 8), S. 39–41, 53; die in Köln studierenden Fürsten sind auch erwähnt bei Schwinges, Universität als sozialer Ort (Anm. 2), S. 370–371. Beispiele hierfür bei Müsegades, Fürstliche Erziehung (Anm. 5), S. 121 f. Allgemein zur Entwicklung der Universitätslandschaft und den Neugründungen im 15. Jahrhundert Sönke Lorenz (Hg.), Attempto – oder wie stiftet man eine Universität. Die Universitätsgründungen der sogenannten zweiten Gründungswelle im Vergleich (Contubernium 50), Stuttgart 1999.

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Prag im Jahr 1387 mutet weniger ungewöhnlich an, wenn bedacht wird, dass Prag von der südlichen Ostseeküste aus gesehen tatsächlich die nächstgelegene Universität war.24 Hundert Jahre später sah die Universitätslandschaft im Reich bereits anders aus.25 In vielen Fällen besuchten fürstliche Studenten mehr als eine Universität. Die drei eingangs erwähnten Brüder Johann, Georg und Markus von Baden bezogen nicht nur die Universität in Pavia, sondern wurden auch in Erfurt (1452) und Köln (1454) immatrikuliert.26 Rainer Christoph Schwinges hat den Wechsel des Studienorts im Spätmittelalter als „klare[n] Ausweis von Herrenverhalten“ bezeichnet, da solche Bildungsreisen vor allem dem Adel möglich waren.27 Insofern ähnelte das Verhalten der Reichsfürsten durchaus dem des nicht-fürstlichen Adels. Allerdings muss bedacht werden, dass der Aufenthalt an verschiedenen Universitäten – auch über den Erwerb des Bienniums hinaus – eine Möglichkeit gewesen sein dürfte, junge Fürsten bis zum Antritt ihrer Domherrenstellen zu beschäftigen und ihnen quasi die gelehrte Version der Reisen an auswärtige Höfen, die ihre für den weltlichen Stand vorgesehenen Brüder absolvierten, zu ermöglichen.28 Es ist auffällig, dass Aufenthalte an Universitäten offensichtlich ab dem Zeitpunkt als überflüssig angesehen wurden, ab dem ein Fürst Aussicht auf ein Bischofsamt hatte. So verließ Herzog Ernst von Bayern die Universität Ingolstadt 1517, da er zum Koadjutor des Bistums Passau ernannt worden war.29 Der bereits zum Bischof von Regensburg gewählte Ruprecht 24

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Album seu matricula facultatis juridicae Universitatis Pragensis ab anno Christi 1372 usque ad annum 1418 (Monumenta Historica Universitatis Carolo-Ferdinandeae Pragensis 2), T. 1, Prag 1834, S. 139 f.; zur Identifizierung des Herzogs mit Barnim VI. Otto Heinemann, Welcher Herzog Barnim von Pommern studierte 1387 in Prag?, in: Pommersche Monatsblätter 20 (1906), S. 118 f. Allerdings gibt es durchaus Fälle, in denen unklar bleibt, warum bestimmte Universitäten ausgewählt wurden. Fürst Johann von Anhalt besuchte 1452 anders als der Großteil von Studenten aus seiner Familie die Universität in Erfurt und nicht in Leipzig; Hermann Weissenborn (Bearb.), Acten der Erfurter Universitaet (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete 8/1), T. 1, Halle 1881, S. 230. Vier Söhne Kurfürst Philipps von der Pfalz bezogen 1506 die Universität Mainz und nicht die pfälzische Landesuniversität Heidelberg; Maximilian Weigel, Pfalzgraf Wolfgang der Ältere 1494–1558, in: Zeitschrift für die Geschichte der Oberrheins 94 N. F. 55 (1942), S. 358–381, hier: S. 361 f.; Fouquet, Speyerer Domkapitel, 2 (Anm. 8), S. 706. Allgemein zur Immatrikulationsfrequenz an den Universitäten des spätmittelalterlichen Reiches Schwinges, Deutsche Universitätsbesucher (Anm. 7), S. 61–220. Weissenborn, Acten 1 (Anm. 25), S. 229; Keussen, Matrikel 1 (Anm. 21), S. 593; hierzu Schwinges, Illustre Herren (Anm. 1). Schwinges, Universität als sozialer Ort (Anm. 2), S. 366. Zur studentischen Mobilität auch Stephanie Irrgang, Peregrinatio Academica. Wanderungen und Karrieren von Gelehrten der Universitäten Rostock, Greifswald, Trier und Mainz im 15. Jahrhundert (Beiträge zur Geschichte der Universität Greifswald 4), Stuttgart 2002; Maximilian Schuh, Ingolstadt oder Italien? Möglichkeiten und Grenzen akademischer Mobilität im Reich des 15. Jahrhunderts, in: Von Bologna zu „Bologna“. Akademische Mobilität und ihre Grenzen, hg. von Christian Hesse und Tina Maurer (Itinera 31), Basel 2011, S. 23–45. Zu den Hofaufenthalten junger Reichsfürsten Müsegades, Fürstliche Erziehung (Anm. 5), S. 71–118. Herzog Ernst verließ Ingolstadt laut des Hauskalendereintrags seines Erziehers Johannes Aventin am 3. Februar; Georg Leidinger (Hg.), Johannes Turmair’s, genannt Aventinus Kleinere Schriften, Nachträge (Johannes Turmair’s genannt Aventinus sämmtliche Werke 6), München 1908, S. 30.

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von Pfalz-Mosbach begleitete seine Brüder Albrecht und Johannes zwar 1458 noch an die Universität Pavia, bezog aber, anders als die beiden anderen Wittelsbacher, nicht mehr 1464 oder 1466 die Universität Freiburg.30 Teil des „Herrenverhaltens“ spätmittelalterlicher Standesstudenten war auch der Aufenthalt an Universitäten außerhalb des Reichs, vor allem in Italien und Frankreich. Häufig führte der Weg dabei an Orte, die für ihre juristischen Fakultäten bekannt waren.31 Da Fürsten keine akademischen Grade erwarben, waren entsprechende Reisen vor allem eine Prestigeangelegenheit. Dies verdeutlicht ein Brief Albrechts von Brandenburg-Ansbach, des späteren Hochmeisters des Deutschen Ordens, an seinen Vater Friedrich aus dem Jahr 1506. Der junge Markgraf betonte darin, ihm sei von iderman geratten [. . .] worden, von fursten, geistlichen und wertlichen, ins Belschland zu ziehen.32 Die Prestigereise in den Süden oder Westen traten junge Fürsten in den meisten Fällen erst dann an, wenn sie vorher bereits Universitäten innerhalb des Reichs besucht hatten. Es waren zudem eher Söhne aus südwestdeutschen Häusern wie die bayerischen Wittelsbacher, die Pfalzgrafen bei Rhein oder die Markgrafen von Baden, die sich, wohl auch wegen der geographischen Nähe, zu diesem Schritt entschlossen.33 Zum Aufenthalt der drei Pfalzgrafen in Pavia Reinle, Lebensentwurf (Anm. 8), S. 167 f.; Agostino Sottili, Tunc floruit Alamannorum natio. Doktorate deutscher Studenten in Pavia in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, in: Humanismus im Bildungswesen (Anm. 7), S. 25–44, hier: S. 33–37. Die Umstände von Ruprechts Wahl sind behandelt bei Karl Hausberger, Art. ‚Ruprecht, Pfalzgraf bei Rhein (1437–1465). 1457–1464 Administrator des Bistums Regensburg‘, in: Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches 1448 bis 1648. Ein biographisches Lexikon, hg. von Erwin Gatz, Bd. 2, Berlin 1996, S. 604 f. Zur Immatrikulation Johanns und Albrechts in Freiburg Hermann Mayer (Hg.), Die Matrikel der Universität Freiburg i. Br. von 1460–1656, Bd. 1, Freiburg 1907, S. 30, 38. 31 Schwinges, Deutsche Universitätsbesucher (Anm. 7), S. 386; Schwinges, Universität als sozialer Ort (Anm. 2), S. 366 f. Zu den Studieninhalten junger Fürsten siehe unten. 32 Ernst Friedländer, Aus der Jugendzeit des Herzogs Albrecht von Preußen, in: HohenzollernJahrbuch 1 (1897), S. 197–198, hier: S. 198. Ein Aufenthalt in Italien oder Frankreich kam für Albrecht jedoch nicht zustande. 33 Die Brüder Albrecht, Johann und Ruprecht von Pfalz-Mosbach und Johann, Markus und Georg von Baden hatten vor ihrem Studium in Pavia bereits in Heidelberg und Erfurt studiert; siehe dazu oben, Anm. 26. Markgraf Friedrich von Baden wurde 1466 mit seinen Brüdern Christoph und Albrecht in Freiburg immatrikuliert bevor er 1473 nach Paris ging; zur Immatrikulation in Freiburg: Mayer, Matrikel 1 (Anm. 30), S. 37; zum Studium in Paris Joseph Neff, Markgraf Jakob II. von Baden und der Humanist Philipp Beroaldus d. J., in: Zeitschrift der Gesellschaft für Beförderung der Geschichts-, Altertums- und Volkskunde von Freiburg, dem Breisgau und den angrenzenden Landschaften 11 (1894), S. 1–22, hier: S. 7. Graf Johann von HennebergSchleusingen begann sein Studium 1516 in Mainz und wechselte anschließend nach Paris; Liederwald, Die Studienjahre (Anm. 15), passim. Albrecht IV., Christoph und Wolfgang von Bayern-München reisten 1463 wegen der Hochzeit ihrer Schwester Margarethe nach Italien. Anschließend verweigerte sich Herzog Christoph einem angedachten Universitätsaufenthalt. Herzog Albrecht studierte möglicherweise in Pavia. Konkret nachweisbar ist jedoch nur der Aufenthalt des jüngsten Bruders Wolfgang in Perugia, Bologna und Pavia; zusammenfassend hierzu Georg Strack, Thomas Pirckheimer (1418–1473). Gelehrter und Frühhumanist (Historische Studien 496), Husum 2010, S. 148 f.; zu den Universitätsaufenthalten Wolfgangs: Friedrich Schmidt, Geschichte der Erziehung der Bayerischen Wittelsbacher von den frühesten Zeiten bis 1750 (Monumenta Germaniae Paegagogica 14), Berlin 1892, S. XXVI; Knod, Deutsche 30

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II. FÜRSTLICHER RANG AN DER UNIVERSITÄT Wie gestaltete sich der Aufenthalt junger Fürsten an einer Universität? Der Eintritt in die Rechtsgemeinschaft der universitas erfolgte durch die Immatrikulation. Die für das Reich bis auf wenige Ausnahmen edierten Matrikelbücher geben hiervon Zeugnis. Die besondere Stellung der Fürsten innerhalb der Universität manifestierte sich bereits darin, dass sie in einigen Matrikeln ihrem Rang gemäß an erster Stelle genannt wurden.34 Über das Ablegen des Immatrikulationseids geben die Matrikelbücher hingegen nur selten Auskunft. Hochadlige konnten durch den Eid in Gewissenskonflikte geraten, da dieser sie eng an die Universität band. Bereits die Kölner Statuten von 1392 legten daher für Personen von hohem Rang fest, dass sie auf den Eid verzichten konnten. In der Praxis verweigerten die meisten Fürsten in Köln das Ablegen von Teilen des Eids; sie schworen incomplete.35 In einigen Fällen könnte der Verzicht auch damit zusammengehangen haben, dass der Fürst noch nicht das 14. Lebensjahr vollendet hatte. Dies illustriert die Immatrikulation Herzog Albrechts IV. von Bayern-München an der Universität Köln im Jahr 1461. Der junge Wittelsbacher schwor nicht selbst, sondern berührte nur, wie für den Schwur vorgesehen, das Heiligtum – wohl eine Reliquie –, während ein anderer den Eid las. Zudem spendete er, möglicherweise als Gegenleistung für die erlassene Immatrikulationsgebühr, einen nicht näher spezifizierten Betrag an die Universität.36 Der Erlass der Gebühr und die stattdessen geleistete Spende lässt sich für eine Vielzahl von Fürsten nachweisen.37 Die Kölner Matrikel haben in diesem Zusammenhang den Vorteil, dass sie sowohl die erfolgte oder nicht erfolgte Ableistung des Immatrikulationseids als auch Spenden an die Universität vermerken. In einigen anderen Matrikelbüchern fehlen entsprechende Angaben.38 Feststellbar ist zudem, dass Fürsten im Normalfall mit einem eigenen Gefolge an die Universität kamen, das ihren herausgehobenen Rang deutlich unterstrich,

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Studenten (Anm. 9), S. 27; Georg Strack, Christoph Schachner († 1500) und Caspar Schmidthauser († 1485). Zwei Karrieren im Dienst der Herzöge von Bayern-München, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 73 (2010), S. 791–815, hier: S. 806–809. Dies war beispielsweise seit circa 1470 in Erfurt der Fall, Schwinges, Studentische Kleingruppen (Anm. 2), S. 322. Schwinges, Deutsche Universitätsbesucher (Anm. 7), S. 378 f.; Schwinges, Universität als sozialer Ort (Anm. 2), S. 361. Keussen, Matrikel 1 (Anm. 21), S. 670: ill. et magnificus princeps d. Alb., dux Bavarie, de Moenchen; i. imperfecte, tetigit sacra et alius legit; propinavit familie, nichil fuit alias receptum ob rev. pers. Ähnliches feststellen lässt sich beispielsweise für die Immatrikulation Landgraf Hermanns von Hessen in Köln 1462; Keussen, Matrikel 1 (Anm. 21), S. 690. Fürst Johann von Anhalt spendete bei seiner Immatrikulation in Erfurt 1452 zwei Gulden; Weissenborn, Acten 1 (Anm. 25), S. 230. In Rostock gaben Herzog Balthasar 1467 und Herzog Erich von Mecklenburg 1493 10 Gulden, erhielten diese jedoch von der Universität zurück: Pro istis quinque [Herzog Balthasar und die mit ihm zusammen eingeschriebenen vier Begleiter] Dominus obtulit X florenos, sed universitas Dominum honoravit cum suis, und: Dedit dominus Dux X flor., sed universitatis ei restituit; Hofmeister, Matrikel 1 (Anm. 20), S. 152 u. 270. Angaben zum Immatrikulationseid und zur Zahlung der Immatrikulationsgebühr fehlen beispielsweise in den Freiburger Matrikeln.

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da sich unter den Begleitern neben einem eigenen Lehrer oder Kaplan meist auch Adlige aus dem Herrschaftsverband des heimischen Fürstentums befanden.39 Nicht immer jedoch lassen sich die mit dem Fürsten immatrikulierten Personen hinsichtlich ihrer genauen Tätigkeit auseinanderhalten. So wurden 1438 gemeinsam mit den beiden pfalzgräflichen Brüdern Ruprecht und Stephan von Simmern-Zweibrücken in Heidelberg noch Adam Bach, Walramus de Coppenstein und Jakobus de Kyria immatrikuliert, wobei unklar bleibt, ob sich unter ihnen möglicherweise der Lehrer der beiden Wittelsbacher befand.40 Nicht immer wurden zudem alle Personen des fürstlichen Gefolges auch eingeschrieben. So vermerken die Kölner Matrikel nur sechs Begleiter der dort am 16. Juli 1484 immatrikulierten Brüder Erich, Magnus und Bernhard von Sachsen-Lauenburg.41 In einem Schreiben Herzog Wilhelms II. von Jülich an die Stadt Köln vom 29. Juni waren noch dreißig Personen erwähnt worden, die mit den drei jungen Fürsten anreisen sollten.42 Die herausgehobene Stellung von Fürsten an Universitäten konnte sich auch in der Immatrikulation an einem besonderen Ort niederschlagen. So wurden die bereits erwähnten Markgrafen von Baden Georg, Johann und Markus 1452 an der Universität Erfurt nicht in der Amtsstube der Universität, sondern in der Abtei St. Peter in Gegenwart mehrerer hoher universitärer Würdenträger immatrikuliert.43 Zur Deposition, die Neuimmatrikulierte über sich ergehen lassen mussten, finden sich für die fürstlichen Studenten kaum Hinweise.44 Für die 1454 an der Universität 39 40

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Hierzu auch Müsegades, Fürstliche Erziehung (Anm. 5), insbesondere S. 172. Toepke, Matrikel 1 (Anm. 19), S. 222. Ein Walr. de Cappensteyn wurde 1441 auch mit Ruprecht gemeinsam in Köln immatrikuliert; Keussen, Matrikel 1 (Anm. 21), S. 434. Gemeinsam mit den Brüdern Georg, Markus und Johann von Baden wurden 1452 in Erfurt duo comites et six alii immatrikuliert; Weissenborn, Acten 1 (Anm. 25), S. 229. Nur in einem Fall sind die Begleiter eines Fürsten bisher eingehend untersucht worden; siehe zum Aufenthalt Ruprechts von der Pfalz in Köln Widder, Karriere im Windschatten (Anm. 8), S. 37–41. Die Präzeptoren, die die jungen Fürsten an die Universität begleiteten, tauchen in den Matrikelbüchern nur gelegentlich namentlich auf. Einer der wenigen Fälle ist die gemeinsame Immatrikulation des Magisters Brandanus Danckwort und der drei Brüder Erich, Magnus und Bernhard von Sachsen-Lauenburg in Köln im Jahr 1484; Keussen, Matrikel 2 (Anm. 14), S. 153. Für den 1462 an derselben Universität immatrikulierten Landgrafen Hermann von Hessen wird ein namentlich nicht näher bezeichneter pedagogus erwähnt; Keussen, Matrikel 1 (Anm. 21), S. 690. Möglich ist, dass die Fürsten auch von den gelegentlich mit ihnen in den Matrikeln genannten Kaplänen unterrichtet wurden. Eine entsprechende Person findet sich etwa für Albrecht von Pfalz-Mosbach (Freiburg 1465); Mayer, Matrikel 1 (Anm. 30), S. 30. Keussen, Matrikel 2 (Anm. 14), S. 153. Drii unser neven jungherzougen zo Sassen etc. [. . .] mit namen hertzouch Erych hertzouch Magnus ind hertzouch Berndt werdent zo Coelne koemen alda zo studium zo gain, begern gutlich van uch denselven unsen neven mit yren knechten ind denern zo XXX personen ind perden zo off darunder eyn halff jaer uyre vurwarde ind geleyde bynnen uyre stat zo geven; Schreiben des Herzogs Wilhelm II. von Jülich-Berg an die Stadt Köln wegen der Söhne des Herzogs Johann IV. von Sachsen-Lauenburg, die in Köln studieren wollen, in: Zeitschrift des Bergischen Geschichtsvereins 29 (1893), S. 192. Zur Frage, wer in die universitären Matrikel eingetragen wurde Paquet, Les matricules universitaires (Anm. 6), S. 50–70; Matthias Asche und Susanne Häcker, Matrikeln, in: Quellen zur frühneuzeitlichen Universitätsgeschichte. Typen, Bestände, Forschungsperspektiven, hg. von Ulrich Rasche (Wolfenbütteler Forschungen 128), Wiesbaden 2011, S. 243–267, hier: S. 243. Weissenborn, Acten 1 (Anm. 25), S. 229 f.; hierzu Schwinges, Illustre Herren (Anm. 1), S. 394. Hierzu mit weiterführender Literatur Müsegades, Fürstliche Erziehung (Anm. 5), S. 125.

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Heidelberg eingeschriebenen Brüder Johann, Albrecht und Ruprecht von PfalzMosbach heißt es nur kurz: Eodem die domini principes deposuerunt beanium.45 Es ist fragwürdig, ob die Mehrzahl der teilweise schon vom Schwur des Immatrikulationseids befreiten Fürsten sich diesem erniedrigenden Ritual unterzog. Möglich ist, dass für sie ein entschärftes Verfahren angewandt wurde wie es sich etwa 1558 für die Söhne Herzog Philipps I. von Pommern an der Universität Greifswald nachweisen lässt.46 Die beschriebenen Beispiele machen deutlich, dass Fürsten bereits beim Eintritt in die universitäre Gemeinschaft eine herausgehobene Stellung hatten. Die Immatrikulation ist für sie zweifellos der Moment der stärksten Sichtbarkeit an der Universität. Anschließend verschwinden viele von ihnen vollständig aus den Überlieferungen der jeweiligen Hohen Schulen. Statuten oder andere normative Quellen machen in der Regel keine Unterschiede zwischen Bestimmungen über nicht-fürstliche und fürstliche Adlige. Festlegungen zur Rolle einzelner Fürsten innerhalb der universitären Gemeinschaft wurden meist erst getroffen, wenn diese bereits vor Ort waren.47 Rang wurde vor allem dann verhandelt, wenn fürstliche Adelige in Konflikte verwickelt waren. Dies illustriert die Ordnung, die Friedrich III. von Sachsen 1520 für die Universität Wittenberg erließ. Auch Herzog Barnim IX. von Pommern studierte zu diesem Zeitpunkt dort, was der Kurfürst entsprechend würdigte: Unserm ohmen dem herzogen von Bommern etc., welcher diese zeit zu Wittenberg wesende ist, und seiner lieb dienern sollen in diese ordnung nit gemaint, sondern ausgeschlossen sein, den wir sein sonder zweifel, sein lieb sein gnaigt das ubende tugenth gebraucht werden.48

Wahrscheinlich bestanden bei Friedrich Bedenken, dass Barnim bei einem Verstoß gegen die Ordnung unter die städtische Gerichtsbarkeit fallen könnte; für einen Fürsten ein Ding der Unmöglichkeit.49 Spiegelte sich der herausgehobene Rang eines Fürsten an der Universität auch in dem an ihn vermittelten Wissen wider? In den Quellen spielt dies kaum eine Rolle.50 Die Mitnahme eines eigenen Lehrers verweist jedoch darauf, dass universitären Veranstaltungen für die Unterweisung eines Fürsten nur ein komplementärer

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Toepke, Matrikel 1 (Anm. 19), S. 278. Zu den Söhnen Philipps I. von Pommern Dirk Alvermann, Landesfürst und Bildung. Zur Erziehung der pommerschen Prinzen in der Zeit Bogislaws XIII., in: Unter fürstlichem Regiment. Barth als Residenz der pommerschen Herzöge, hg. von Melanie Ehlers und Matthias Müller, Barth 2005, S. 229–250, hier: S. 235–236. Beispiele finden sich auch bei Müsegades, Fürstliche Erziehung (Anm. 5), S. 125–128. Walter Friedensburg (Bearb.), Urkundenbuch der Universität Wittenberg (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und des Freistaates Anhalt N. R. 3), Bd. 1: 1502–1611, Magdeburg 1926, Nr. 80, S. 96–99, hier: S. 99. Müsegades, Fürstliche Erziehung (Anm. 5), S. 127. Die an Universitäten des Reichs vermittelten Bildungsinhalte haben in der Forschung bisher kaum Interesse gefunden. Möglichkeiten ihrer Rekonstruktion werden grundlegend am Beispiel Ingolstadts aufgezeigt bei Maximilian Schuh, Aneignungen des Humanismus. Institutionelle und individuelle Praktiken an der Universität Ingolstadt im 15. Jahrhundert (Education and Society in the Middle Ages and Renaissance 47), Leiden/Boston 2013.

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Charakter zukommen sollte.51 Dies illustriert die Erziehungsordnung für Philipp von Pfalz-Neuburg für sein Studium an der Universität Freiburg aus dem Jahr 1517. Nach dieser sollte der Fürst vor allem von seinem Kaplan im Lateinischen unterwiesen werden.52 Das Niveau, das Fürsten in dieser Sprache erreichten, dürfte jedoch äußerst begrenzt gewesen sein.53 Auch dem Verfasser der Ordnung war bewusst, dass Pfalzgraf Philipp nur Bruchteile dessen, was in lateinischen Vorlesungen vermittelt wurde, aufnehmen können würde: Item so Doctor Zasius list, sol sein gnad propter investigare aliquos juris terminos dieselben Lektionen Visitirn und mit Fleiß aufmerken.54

Im Mittelpunkt des Universitätsaufenthalts stand für Philipp die Unterweisung durch den mitgeführten Lehrer.55 Lassen sich im Fall des Pfalzgrafen zumindest noch die Vorschriften für den Unterricht fassen, so mangelt es bei anderen Fürsten weitestgehend an Hinweisen zu ihrem Universitätsstudium. Die Fakultät, deren Besuch intendiert war, wurde meist in den Matrikeln nicht vermerkt. Selbst in jenen wenigen Fällen, in denen die Immatrikulation an der Juristenfakultät nachweisbar ist, kann nicht automatisch von einer regelmäßigen Teilnahme am universitären Lehrbetrieb ausgegangen werden.56 Ein Fall, in dem sich scheinbar ausführlich die Bildungsinhalte eines fürstlichen Universitätsaufenthalts rekonstruieren lassen, ist jener Jakobs II. von Baden, des späteren Erzbischofs von Trier. Jakob war der älteste Sohn Markgraf Christophs und wahrscheinlich schon früh für eine geistliche Karriere vorgesehen gewesen. Er besuchte um 1488 die Universität Bologna.57 Joseph Neff bezieht in seiner Studie zum 51 52

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Müsegades, Fürstliche Erziehung (Anm. 5), S. 172. Zudem sollte Pfalzgraf Philipp eine juristische und eine artistische Vorlesung besuchen; Friedrich Schmidt, Geschichte der Erziehung der Pfälzischen Wittelsbacher (Monumenta Germaniae Paedagogica 19), Berlin 1899, Anhang Urkunden. Nachrichten, Nr. 2, S. 256 f. Zum reichsfürstlichen Lateinunterricht Müsegades, Fürstliche Erziehung (Anm. 5), S. 228–245. Schmidt, Geschichte der Erziehung der Pfälzischen Wittelsbacher (Anm. 52), S. 256; hierzu auch Müsegades, Fürstliche Erziehung (Anm. 5), S. 172. Schmidt, Geschichte der Erziehung der Pfälzischen Wittelsbacher (Anm. 52), S. 256. Siehe auch das Beispiel der 1511 in Wittenberg immatrikulierten Brüder Ernst und Otto von Braunschweig-Lüneburg bei Müsegades, Fürstliche Erziehung (Anm. 5), S. 122. In Prag wurde Herzog Barnim VI. von Pommern 1387 in die Matrikel der Juristenfakultät eingeschrieben; Album 1 (Anm. 24), S. 140. Ruprecht von der Pfalz (1443) und Albrecht von Pfalz-Mosbach (1454) sollten in Köln die juristische Fakultät besuchen; Keussen, Matrikel 1 (Anm. 21), S. 471 u. 581. Interessanterweise wurde bei den drei 1484 an derselben Universität immatrikulierten Herzögen von Sachsen-Lauenburg nur für den Zweitältesten Erich vermerkt, dass er Recht studieren sollte, während seine Brüder Magnus und Bernhard an die Artistenfakultät gehen sollten; Keussen, Matrikel 2 (Anm. 14), S. 153. Markgraf Philipp von Baden-Hachberg-Sausenheim hatte bereits 1484 geraten, Jakob nicht an den französischen Hof zu entsenden, da dieser vernünft, geschicklicheit, flyß, ernst und güten willen [. . .] zu(o) der lere habe und dieser nicht entfremdet werden sollte; M. H. M. von Rastatt an Markgraf Christoph von Baden, 18. August 1484, in: Deutsche Privatbriefe des Mittelalters, hg. von Georg Steinhausen (Denkmäler der deutschen Kulturgeschichte, I. Abt., Briefe 1), Bd. 1. Fürsten und Magnaten, Edle und Ritter, Berlin 1899, Nr. 385, S. 259–264, hier 260. Dies könnte darauf hinweisen, dass Jakob schon länger für eine geistliche Karriere vorgesehen war. Neff, Markgraf Jakob II. (Anm. 33), S. 8, führt ohne Belege aus, auch Kaiser Friedrich III. und sein Sohn Maximilian hätten dem jungen Markgrafen zum Studium geraten.

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Aufenthalt des jungen Badeners in Italien Informationen zu dessen Bildungsgang vor allem aus der Vorrede des ‚De Felicitate Opvscvlvm‘ von Philipp Beroaldus dem Älteren, das dieser dem Markgrafen gewidmet hatte.58 Der italienische Humanist pries darin den Fürsten als Kenner der Wissenschaft und Zierde für die Universität.59 Es ist allerdings fragwürdig, aus einer Quelle wie der von humanistischen Topoi überformten Widmung auf tatsächliche Bildungsinteressen eines Fürsten oder die Inhalte seines Universitätsstudiums zu schließen. Belastbare Quellen zu den vermittelten Bildungsinhalten finden sich für Jakob keine.60 Dies ist auch bei den meisten anderen fürstlichen Studenten der Fall.61 Die ohnehin nur spärlichen Hinweise für die Aufenthalte an den Universitäten des Reichs und Italien klammern das erlernte Wissen fast vollkommen aus. Punktuelle Hinweise finden sich erst zu Beginn des 16. Jahrhunderts. Herzog Ernst von Bayern-München hielt 1516 zum Ende seines Rektorats eine lateinische Rede vor der Universität Ingolstadt.62 Es ist unwahrscheinlich, dass der sechzehnjährige Fürst in der Lage war, die mit Beispielen aus der antiken und mittelalterlichen Literatur versehene Rede selbst zu entwerfen. Wer auch immer den lateinischen Text geschrieben hat – es liegt nahe, dass dies sein Präzeptor Johannes Aventin war –, wusste jedoch, worauf es aus humanistischer 58

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Benutzt wird im Folgenden die Ausgabe Philippi Beroaldi de felicitate opusculum, Bologna 1495 (GW 4132) der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel (Sign. 69.2. Quod 5; online einsehbar unter [14. 02. 2014]). Josef Benzing, Eine deutsche Übersetzung des ‚Opus de felicitate‘ von Philipp Beroaldus (1502), in: The Library Chronicle of the Friends of the University of Pennsylvania Library 40 (1976), S. 55–61, hier: S. 60, Anm. 6, verweist darauf, dass es sich beim Autor des De Felicitate Opvscvlvm nicht, wie von Neff angenommen, um Philipp Beroaldus den Jüngeren handelt. Tu uere Clarissime Iacobe in amplissimis fortunarum bonis positus imperatorio stemate prefulgens: inter opes principales indulgenter enutritus iuuenis immo adolescens ad huc. Studia litterarum sitienter amplexaris. Doctos foues. Dasque iugiter operam: ut Natalium tuorum splendor eruditione magis magisque illustretur [. . .] Nam cum ceteri ferme scholastici ex gymnasio littterario ornamenta querere soleant: tu ipsi gymnasio maximo es ornamento honestamentoque; vgl. Philippi Beroaldi de felicitate opusculum (Anm. 58). Eine Übersetzung der Vorrede findet sich bei Neff, Markgraf Jakob II. (Anm. 33), 13–16. Neff geht ohne Belege davon aus, Jakob habe in Bologna eine Vorlesung über römische Dichter gehört und an einem Kollegium über Vergil teilgenommen; Neff, Markgraf Jakob II. (Anm. 33), S. 12. Siehe hierzu auch Müsegades, Fürstliche Erziehung (Anm. 5), S. 128. Für den Unterricht von Reichsfürsten im universitären Umfeld genutzte Handschriften haben sich bisher nicht nachweisen lassen. Eine Ausnahme könnte die von Kaspar Schmidhauser, dem Präzeptor Herzog Wolfgangs von Bayern-München, wohl 1464 in Perugia zusammengestellte Sammlung von Texten (Bayerische Staatsbibliothek München, Clm 19652) sein, deren Gebrauchskontext allerdings noch nicht näher untersucht wurde; siehe zu dieser Handschrift bisher nur Schmidt, Geschichte der Erziehung der Bayerischen Wittelsbacher (Anm. 33), S. XXVI, Anm. 4. In der Anhaltinischen Landesbücherei in Dessau sind Drucke überliefert, die möglicherweise von Fürst Georg von Anhalt während seines Studiums in Leipzig in den späten 1510er und frühen 1520er Jahren benutzt wurden; Deutschländer, Dienen lernen (Anm. 5), S. 245. Der Text der Rede ist abgedruckt in den Rudimenta grammaticae seines Lehrers Johannes Aventin; Johannes Turmair’s genannt Aventinus Kleinere historische und philologische Schriften (Johannes Turmair’s genannt Aventinus sämmtliche Werke 1), München 1880, S. 576 f. Zu dieser Rede siehe auch Schmidt, Geschichte der Erziehung der Bayerischen Wittelsbacher (Anm. 33), S. XXXIII.

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Perspektive ankam, wenn ein Fürst über die Vergangenheit sprach. Die Rede bemühte eine Vielzahl realer und fiktiver Verwandter des Wittelsbachers und betonte die Bedeutung von Fürsten für die Gelehrten vergangener Tage. Es gelang dem Verfasser der Rede, den herausgehobenen Rang Herzog Ernsts als Nachfahre prominenter Herrscher, mit der an der Universität betriebenen Wissenschaft in Verbindung zu setzen.63 Hierdurch konnte er sich sowohl verbal in die universitäre Gemeinschaft integrieren, als auch seine besondere gesellschaftliche Position betonen. In der Rede wird erwähnt, Ernst habe ein Werk, das zwischen Karl dem Großen und seinem Lehrer Alkuin besprochene Themen der Rhetorik, Dialektik und Philosophie beinhalte, gelesen.64 Es ist fragwürdig, ob der junge Fürst es wirklich konsultierte oder ob es an dieser Stelle schlichtweg darum ging, den Topos des gelehrten Fürsten zu bedienen. Wahrscheinlich ist, dass der Text wie andere öffentlich gehaltene Reden deutscher Reichsfürsten, wohl vor allem als performativer Ausweis vorgeblich guter Lateinkenntnisse zu sehen ist.65 Zu während der Universitätsaufenthalte an Fürsten vermittelten weiteren Lehrinhalten wie dem adligen Wissen, das die körperliche

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Die Rede nennt wiederholt Gelehrte und Dichter in Verbindung mit Verwandten Herzog Ernsts und betont dessen angebliche Belesenheit: testis Attalus ditissimus regum, de quo apud Horatium et Propertium legi, testis Iulius Caesar; cuius commentaria extant elegantissima, testis quoque Augustus Horatii carminibus notissimus. Alphonsus rex Hispaniae Caesarque Romanus ceterique reges et principes literarum studiosorumque claritate memorabiliores extiterunt quam regno [. . .] Imperator Ludovicus quartus Caesar Augustus, atavus meus, Vilhelmum Ockamensem, praestantissimum suae tempestatis theologum et philosophum, summo honore exulem suscepit atque tanquam numen aliquod sapientiae coelo demissum veneratus est et in nostra urbe Monachio honorifice sepeliri iussit. novisti probe, quemadmodum Albertus divae memoriae, parens meus, literarum amantissimus fuerit, cui Nicolaus Cusanus, vir undecunque doctissimus, dialogum de globo nominatim inscripsit. nottissimum est, quantum in literis peritiaque multarum linguarum valeat divus Maximilianus Imperator Caesar Augustus, avunculus ac dominus meus clementissimus; Johannes Turmair’s genannt Aventinus Kleinere historische und philologische Schriften (Anm. 62), S. 576 f. 64 Carolus ille Magnus [. . .] am locos ex rhetorica, dialectica, philosophia cum Albino praeceptore suo tractavit, quem librum ego habeo, vidi et legi; ebd. 65 Gerald Strauss, Historian in an Age of Crisis. The Life and Work of Johannes Aventinus 1477–1534, Cambridge/Mass. 1963, S. 66, hingegen sieht die Rede als „evidently a test piece of Ernst’s successfully completed humanistic training“. Möglicherweise stand die Rede auch im Zusammenhang mit der wenige Monate zuvor erfolgten, von Aventin vorangetriebenen, Errichtung einer Humanistenburse an der Universität; siehe hierzu den Eintrag in das Protokoll der Artistenfakultät vom 1. September 1516: Arno Seifert (Bearb.), Die Universität Ingolstadt im 15. und 16. Jahrhundert. Texte und Regesten (Ludovico Maximilianea. Quellen 1), Berlin 1977, Nr. 17, S. 84 f.; hierzu auch Strauss, Historian (Anm. 65), S. 67. Zu lateinischen Reden junger Reichsfürsten siehe Müsegades, Fürstliche Erziehung (Anm. 5), S. 239–241; zu Lateinkenntnissen von Fürsten auch Wolfgang Eric Wagner, Princeps litteratus aut illiteratus? Sprachfertigkeiten regierender Fürsten um 1400 zwischen realen Anforderungssituationen und pädagogischem Humanismus, in: Schriften im Umkreis mitteleuropäischer Universitäten um 1400. Lateinische und volkssprachliche Texte aus Prag, Wien und Heidelberg. Unterschiede, Gemeinsamkeiten, Wechselbeziehungen, hg. von Fritz Peter Knapp, Jürgen Miethke und Manuela Niesner (Education and Society in the Middle Ages and the Renaissance 20), Leiden/Boston 2004, S. 141–177.

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Erziehung und Ausbildung sowie das Erlernen höfischen Verhaltens und das Wissen um die Ausübung von Herrschaft umfasste, fehlen jegliche Hinweise.66 Lassen sich über den Studiengang deutscher Fürsten an spätmittelalterlichen Universitäten verhältnismäßig wenige Angaben machen, so ist, wie bereits gezeigt, doch die Betonung und Verhandlung ihres Ranges auch nach der Immatrikulation gelegentlich fassbar. Deutlich wird dies unter anderem darin, dass Fürsten keinesfalls in Bursen untergebracht waren, sondern meist in eigens gemieteten Räumlichkeiten, etwa Herbergen, logierten.67 In vielen Fällen wurde jungen Fürsten, wie auch anderen Adligen, das Rektorat an einer Universität angetragen. Ein Muster bei der Vergabe dieser Ehrenrektorate, die kaum konkrete Verpflichtungen nach sich zogen, ist nicht erkennbar. Fürstliche Rektoren finden sich sowohl an den Landesuniversitäten einzelner Fürstentümer als auch an Generalstudien, die städtische Gründungen waren.68 Zur Ausgestaltung der fürstlichen Rektorate fehlen weitestgehend Quellen.69 Noch wenig untersucht ist, ob die Ernennung bestimmter Rektoren ein Mittel war, 66

Zur Vermittlung adligen Wissens in der fürstlichen Erziehung und Ausbildung Müsegades, Fürstliche Erziehung (Anm. 5), S. 216–228. 67 Johannes Reuchlin vermerkte in einem Brief an die Pariser Theologische Fakultät, er habe gemeinsam mit seinem damaligen Schüler Friedrich von Baden während ihres Aufenthalts an der dortigen Universität im Gasthaus „Zur Sonne“ gewohnt: Sum enim scholaris universitatis Parrhisiensis, egregii quondam theologiae doctoris domini Ioannis de Lapide discipulus in Serbona et postea marchionis Badensis, nunc episcopi Traiectensis, condiscipulus quondam Ad solem habitans in via Sancti Iacobi ante annos, si rite recordor, XLII; Johannes Reuchlin an den Dekan und die Professoren der Pariser theologischen Fakultät, 19. Juni 1514, in: Johannes Reuchlin. Briefwechsel, bearb. von Michael Dall’Asta und Gerald Dörner, Bd. 3: 1514–1517, Stuttgart/Bad Cannstatt 2007, S. 72. Graf Johann von Henneberg bewohnte 1519 ein vom Pedell der deutschen Nation vermietetes Haus, in dem er zwei feine stublein [. . .] und eine schone kammer hatte; Graf Johann von Henneberg-Schleusingen an Graf Wilhelm IV. von HennebergSchleusingen, 23. Februar 1519, in: Liederwald, Studienjahre (Anm. 15), Anhang IV, S. 50. Weitere Beispiele für die Unterbringung von Fürsten in Universitätsstädten finden sich bei Müsegades, Fürstliche Erziehung (Anm. 5), S. 125 f. 68 Die Vergabe von Ehrenrektoraten lässt sich für eine Vielzahl reichsfürstlicher Häuser, die Söhne an Universitäten entsandten, nachweisen. Herzog Swantibor von Pommern wurde 1462 an der Landesuniversität in Greifswald Rektor: Friedländer, Universitäts-Matrikeln 1 (Anm. 20), S. 23. In Rostock wurde Balthasar von Mecklenburg gleich dreimal, 1467, 1470 und 1473 zum Rektor der Universität gewählt; Hofmeister, Matrikel 1 (Anm. 20), S. 153, 167 u. 180. Fürst Adolf von Anhalt wurde 1475 Rektor in Leipzig: Erler, Matrikel 1 (Anm. 20), S. 298. Albrecht und Johann von Pfalz-Mosbach wurden ebenso 1465 und 1466 Rektoren in Freiburg wie die Brüder Karl und Christoph von Baden 1496 und 1497; Hermann Mayer (Hg.), Die Matrikel der Universität Freiburg i. Br. von 1460–1656, Bd. 2: Tabellen, Personen- und Ortsregister, Freiburg 1910, S. 5 f. u. 8. Während seines Studiums an der Universität Erfurt wurde Johann von Baden 1452 Rektor; Weissenborn, Acten 1 (Anm. 25), S. 233. Zum Adelsrektorat s. Müller, Universität und Adel (Anm. 2), S. 133–136; Boehm, Konservatismus (Anm. 7), S. 76 f.; Müller, Norm und Praxis (Anm. 7), S. 154. 69 Das Rektorat Herzog Swantibors von Pommern fand in den Annalen der Greifswalder Universität nur deshalb ausführliche Erwähnung, weil der junge Fürst im Zuge der Unruhen nach der Ermordung des Universitätsgründers Heinrich Rubenow 1462 aus der Stadt floh: Hic princeps et rector statim post interfectionem domini doctoris Rubenowe, pedagogi sui et hospitis, fuit per Sundenses abductus de gripeswald ad patrem suum in Grimmis, dominum Wartislaum, consimiliter ducem Stettinensem et dominum terre; Annalen der Universität aus den Jahren 1456

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um die jeweilige Universität für Studenten aus bestimmten Regionen attraktiver zu machen. So ist nach der Ernennung Johanns von Baden zum Rektor Anfang der 1450er Jahre ein verstärkter Zuzug adliger und badischer Studenten zur Universität Erfurt feststellbar.70 Mit dem Amt verbunden gewesen sein dürften höhere Ausgaben für den jeweiligen Fürsten. So fielen für den im Dezember 1524 zum Rektor der Universität Heidelberg gewählten Graf Christoph von Henneberg-Schleusingen Kosten dafür an, dass er sein Wappen in die Matrikel eintragen ließ und im Februar 1525 ein Essen für die neu promovierten Magister abhielt.71 Das zu seinem Aufenthalt in den Jahren 1524 und 1525 in Heidelberg erhaltene Rechnungsbuch macht insgesamt deutlich, dass einem fürstlichen Studenten schlichtweg andere finanzielle Ressourcen zur Verfügung standen als dem durchschnittlichen spätmittelalterlichen Studiosus.72 Christoph gab innerhalb eines Jahrs die stolze Summe von 244 Gulden aus, die er zu einem nicht geringen Teil zu Repräsentationszwecken, etwa als Almosen für arme Leute und für Gesindelohn, benötigte.73 Um aus der Masse der Universitätsmitglieder hervorzustechen, reichte der qua Geburt verliehene Rang alleine nicht. Dieser musste auch finanziell untermauert werden. An Christophs Beispiel lässt sich auch zeigen, dass die Interaktion eines Fürsten mit Universitätsmitgliedern und Bürgern und die Integration in die universitäre Ordnung vielfältiger Natur sein konnten. So wurde der junge Graf 1525 von einem Bürgersohn aus dem Fenster eines Hauses heraus beleidigt. Es entspann sich ein Rechtsstreit, der auch sieben Jahre später noch nicht gelöst war.74 Auch die schon klassisch zu nennenden und in vielen Topoi

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bis 1487, in: Johann Gottfried Ludwig Kosegarten, Geschichte der Universität Greifswald mit urkundlichen Beilagen, Bd. 2: Greifswald 1856, S. 157–200, hier: S. 181; siehe auch Alvermann, Landesfürst und Bildung (Anm. 46), S. 235. Theodor Müller, Die Markgrafen Johann, Georg und Markus von Baden auf den Universitäten zu Erfurt und Pavia (1452 ff.), in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 46 N. F. 6 (1891), S. 701–705, hier: S. 705; Robert Gramsch, Erfurter Juristen im Spätmittelalter. Die Karrieremuster und Tätigkeitsfelder einer gelehrten Elite des 14. und 15. Jahrhunderts (Education and Society in the Middle Ages and Renaissance 17), Leiden 2003, S. 137, 164–165; Schwinges, Illustre Herren (Anm. 1), S. 398. Hierzu Johannes Mötsch, „Zu Verkurtzweilen mit Schiessen und Zechenn . . .“. Die Rechnung für den Heidelberger Studenten Christoph Grafen zu Henneberg 1524/25, in: Archiv für Diplomatik 45 (1999), S. 335–377, hier: S. 351. Die Verweise auf die Ausgaben für die Eintragung des Wappens in die Matrikel und das Festmahl für die Magister finden sich ebd., S. 372 f. Es fehlt bisher eine mehrere Universitäten vergleichende Arbeit zu den Studienkosten für Studenten im vorreformatorischen Reich. Für eine solche Studie wäre es notwendig, das disparate Quellenmaterial zusammenzuführen; zum bisherigen Forschungsstand siehe Stephanie Irrgang, Studienförderung und Stipendienwesen an deutschen Universitäten im Mittelalter, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 15 (2012), S. 19–36; Schuh, Ingolstadt oder Italien (Anm. 27), S. 32–38. Die exemplarische Auswertung eines spätmittelalterlichen Notiz- und Rechnungsbüchleins findet sich bei Rainer Christoph Schwinges, Stiefel, Wams und Studium oder: Wozu hat man einen geistlichen Onkel? Aus Notizen des Kölner Studenten Gerhard von Wieringen aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, in: Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Peter Moraw, hg. von Paul-Joachim Heinig u. a. (Historische Forschungen 67), Berlin 2000, S. 543–563. Vgl. die Edition der Rechnung und die Ausführungen zu den Ausgaben Graf Christophs bei Mötsch, Rechnung (Anm. 71), S. 345–377. Ebd., S. 344.

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durchscheinenden Probleme vormodernen Studentenwesens lassen sich an Christoph exemplifizieren, wie ein Brief seines Vaters Graf Wilhelm IV. aus dem Jahr 1525 zeigt: Aber ist unsere ernstliche meynung und begerde an dich, du wollest der bubischen kleidung, wie die fußknechte gehen, desgleichen langer messer und schwertter zu tragen dich enthalten und gehen, wie einer, der zum geistlichen standt geordnet und zu der schule gezogen gezymbt, [. . .] so haben wir doch durch sonderliche kuntschaft, die wir darauf gelegt, erfaren, das du dich bubisch gnug haltest, des nachtes uff der gassen umblaufest und gar eygensinnig seiest.75

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass fürstliche Studenten an spätmittelalterlichen Universitäten eine herausgehobene Stellung einnahmen. Der fürstliche Rang, den sie einbrachten, musste innerhalb der universitären Gemeinschaft jedoch stets verhandelt werden, sei es in Ordnungen oder sogar, wie bei den eingangs beschriebenen Markgrafen von Baden, mit der Faust. Die besondere Rolle von Fürsten innerhalb der universitären Ordnung wurde zudem dadurch unterstrichen, dass sie zu Rektoren der Universität gewählt wurden. Darüber hinaus musste der fürstliche Rang auch finanziell unterfüttert werden wie das Beispiel Christophs von Henneberg deutlich gemacht hat. Fürsten waren Mitglieder der universitas, jedoch waren sie aufgrund ihres herausgehobenen Standes das, was man heutzutage wohl als exklusive Mitglieder bezeichnen würde.

ABSTRACT Towards the middle of the 15th century, German princely dynasties tended to avoid the partition of their territories among two or more sons. Instead, the number of – mostly younger – sons destined for a clerical career grew considerably. To enjoy the money stemming from benefices, most cathedral chapters around the Empire demanded that the holders of the respective prebends attend a university for at least two years. To fulfill this requirement, the number of princes at universities increased towards the end of the Middle Ages. There, they rarely visited lectures but rather enjoyed individual lessons organized by private teachers. The contents they were taught remain rather blurry. When attending a university, princes continued to be treated according to their rank. They were often exempt from university legislation and in several cases did not have to pay money when joining the universitas.

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Graf Wilhelm IV. von Henneberg-Schleusingen an Graf Christoph von Henneberg-Schleusingen, 9. Dezember 1525, in: Wilhelm Dersch, Der Heidelberger Humanist Adam Wernher von Themar und seine Beziehungen zur hennebergischen Heimat, in: Neue Beiträge zur Geschichte deutschen Altertums 27 (1916), S. 1–58, hier Anhang Nr. 8, S. 50; der Brief ist auch angeführt bei Mötsch, Rechnung (Anm. 71), S. 344 f.

KOMMUNIKATIONSPRAKTIKEN UND MEDIALE FORMEN STUDENTISCHER DISZIPLINARORDNUNGEN IN DER FRÜHEN NEUZEIT Zugleich ein Beitrag zur Genese und Verbreitung frühneuzeitlicher Gelegenheits- und Massendrucke Ulrich Rasche

1. AUFRISS In der Vormoderne war die tatsächliche Kenntnis eines Gesetzes seitens der Normempfänger Voraussetzung für dessen Geltung und Anwendung.1 Frühneuzeitliche Obrigkeiten haben deshalb bei der Implementierung von Normen stets enorme Anstrengungen im Hinblick auf deren „materielle“ Publikation, also auf deren unmittelbar an die Normempfänger gerichtete Publikation und gegebenenfalls sogar regelmäßig Kommunikation, unternehmen müssen.2 Grundlegende Einsichten darüber verdanken wir der modernen Policeyforschung, die mit ihrem ‚Repertorium der Policeyordnungen der Frühen Neuzeit‘ sukzessive auch Zugänge zu den Texten selbst legt.3 Ich erwähne dieses, um wenigstens andeutungsweise den gesamtgesellschaftlichen Bezugsrahmen herzustellen beziehungsweise übergreifende Forschungskontexte aufzuzeigen, in denen universitätsgeschichtliche Fragen profanerer Art stets betrachtet werden sollten. Die gewiss lohnende Parallelisierung von obrigkeitlicher Normenkommunikation gegenüber Studenten und anderen genossenschaftlich organisierten Bevölkerungsgruppen wie etwa Handwerkern oder gar

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Vgl. Thomas Simon, Vom „materiellen“ zum „formellen“ Publikationsprinzip. Über den Wandel der Geltungsvoraussetzungen von Gesetzen im 18. und 19. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Neuere Privatrechtsgeschichte 30 (2008), S. 201–220; problematisierend: Pascale Cancik, Verwaltung und Öffentlichkeit in Preußen. Kommunikation durch Publikation und Beteiligungsverfahren im Recht der Reformzeit (Jus Publicum 171), Tübingen 2007, S. 155–208. Vgl. André Holenstein, Gute Policey und lokale Gesellschaft im Staat des Ancien Régime. Das Fallbeispiel der Markgrafschaft Baden(-Durlach) (Frühneuzeit-Forschungen 9), 2. Bde., Epfendorf 2003, Bd. 1, S. 191–242; Karl Härter, Policey und Strafjustiz in Kurmainz. Gesetzgebung, Normdurchsetzung und Sozialkontrolle im frühneuzeitlichen Territorialstaat (Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte 190), 2 Bde., Frankfurt am Main 2005, Bd. 1, S. 221–245. Zum Konzept der Normenimplementation: Achim Landwehr, ‚Normdurchsetzung‘ in der Frühen Neuzeit? Kritik eines Begriffs, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 48 (2000), S. 146–162. Bislang (Stand 2016) sind 11 Bände erschienen, siehe . Zum Forschungsstand: Karl Härter, Art. „Polizei“, in: Enzyklopädie der Neuzeit 10 (2009), S. 170–180; Andrea Iseli, Gute Policey. Öffentliche Ordnung in der Frühen Neuzeit, Stuttgart 2009.

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Ulrich Rasche

der Texte selbst kann hier freilich nicht geleistet werden. Ziel dieses Beitrags ist lediglich, auf universitätsspezifische Publikations- und insbesondere Kommunikationsformen studentischer Normen sowie auf die mannigfaltigen Querverbindungen zu entsprechenden Textsorten und Druckschriften aufmerksam zu machen.4 Dies alles liegt ziemlich im Dunkeln, obwohl das aus der Perspektive universitärer Sozial-, Kultur- und Institutionengeschichte zentrale Phänomen der Sozialkontrolle und Disziplinierung von Studenten5 ohne Kenntnis seiner kommunikativen Bezüge und medialen Formen nicht begreifbar ist und einige der im Folgenden vorgestellten studentischen Disziplinarordnungen vermutlich zu den meistgedruckten profanen Texten der Frühen Neuzeit zählen.

2. „NEVE IS IGNORANTIAM STATUTORUM PRAETENDAT“ – MÜNDLICHE NORMENKOMMUNIKATION Der Umstand, dass die frühneuzeitlichen Universitäten eine Unmenge an Druckschriften, vor allem Gelegenheitsschriften,6 produziert haben, sollte nicht vergessen machen, dass die akademische Kommunikationskultur nicht nur in ihren mittelalterlichen Ursprüngen, sondern auch noch in der Frühen Neuzeit (und darüber hinaus) in hohem Maße eine ebenfalls situationsbezogen orale gewesen ist. Im gegebenen Zusammenhang ist zu unterscheiden zwischen I. der „face to face“-Instruktion des einzelnen Studenten und II. der öffentlichen Verkündigung von Normen gegenüber der gesamten Studentenschaft durch Verlesung. I. Jeder Student trat während seines Studiums mindestens einmal seiner Obrigkeit in Gestalt des Rektors persönlich gegenüber, nämlich bei seiner Immatrikulation.7

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Insofern versteht sich der Beitrag als Ergänzung zu Ulrich Rasche, Norm und Institution, in: ders. (Hg.), Quellen zur frühneuzeitlichen Universitätsgeschichte. Typen, Bestände, Forschungsperspektiven (Wolfenbütteler Forschungen 128), Wiesbaden 2011, S. 121–170. Ich danke den in den folgenden Fußnoten genannten Archiven und Bibliotheken für zahlreiche Auskünfte und Digitalisate. Vgl. Stefan Brüdermann, Göttinger Studenten und akademische Gerichtsbarkeit im 18. Jahrhundert (Göttinger Universitätsschriften A 15), Göttingen 1990; Marian Füssel, Devianz als Norm. Studentische Gewalt und akademische Freiheit in Köln im 17. und 18. Jahrhundert, in: Westfälische Forschungen 54 (2004), S. 145–166; Ulrich Rasche, Cornelius relegatus und die Disziplinierung der deutschen Studenten (16. bis frühes 19. Jahrhundert). Zugleich ein Beitrag zur Ikonologie studentischer Memoria, in: Frühneuzeitliche Universitätskulturen. Kulturhistorische Perspektiven auf die Hochschulen in Europa, hg. von Barbara Krug-Richter und Ruth-E. Mohrmann (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 65), Köln/Weimar/Wien 2009, S. 157–221; Holger Zaunstöck, Das Milieu des Verdachts. Akademische Freiheit, Politikgestaltung und die Emergenz der Denunziation in Universitätsstädten des 18. Jahrhunderts (Hallische Beiträge zur Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 5), Berlin 2010. Siehe unten Anm. 20. Zum Problemkreis Immatrikulation/Universitätsmatrikeln: Ulrich Rasche, Über die deutschen, insbesondere über die Jenaer Universitätsmatrikeln, in: Genealogie 25 (2000/2001), S. 29–46, S. 84–109; ders., Cornelius relegatus (Anm. 5), S. 163–168; Matthias Asche, Susanne Häcker, Matrikeln, in: Rasche, Quellen zur Universitätsgeschichte (Anm. 4), S. 243–267.

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Während dieses Aktes, der durch den Eintrag in die Universitätsmatrikel beurkundet wurde, musste jeder Student einen promissorischen Eid leisten und dabei unter anderem schwören, Rektor und Senat als Richter anzuerkennen und die Disziplinargesetze, die Leges academiae, zu befolgen. Es gehörte deshalb allenthalben zu den Aufgaben des Rektors bei der Immatrikulation, dem Studenten im Zuge der Eidesleistung mündlich die wichtigsten Disziplinargesetze einzuschärfen, damit ein Student im Übertretungsfall nicht die Unkenntnis der Gesetze vorschützen konnte (neve is ignoratiam statutorum praetendat).8 Institutionell und organisatorisch eng mit der Immatrikulation verklammert war der ursprünglich im studentisch geprägten Milieu der spätmittelalterlichen Bursen und Magisterfamilien angesiedelte Initiationsritus der Deposition.9 Infolge ihrer obrigkeitlichen Überformung seit dem 16. Jahrhundert bekam auch die nunmehr als offizieller Universitätsakt durchgeführte Deposition die Funktion, die Anfänger, die tyrones, auf statutengemäße Schulzucht, Studien- und Lebensführung einzuschwören.10 Als die Deposition im Laufe des späteren 17. und 18. Jahrhunderts ihre rituellen Formen verlor, blieb diese den Dekanen der philosophischen Fakultäten und den Depositoren zugewiesene Kernaufgabe mancherorts erhalten.11 II. Auch die regelmäßige öffentliche Statutenverlesung geschah – so der Rektor der Erfurter Universität in einem eigens dazu gedruckten Einladungsprogramm aus dem

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Der von 1558 bis 1615 reichende Originalband der Jenaer Universitätsmatrikeln (Universitätsbibliothek Jena, Ms. Prov., fol. 109) enthält vorne auf gegenüberliegenden Seiten links ein Bild des Jüngsten Gerichts, welches die Studenten während der Eidesleistung mit den Fingern berühren mussten und rechts den von den Studenten dabei zu sprechenden Text des Iuramentum scholasticum. Unterhalb des Eides befindet sich folgende Notiz, die den semesterweise wechselnden Rektoren offenbar die für den mündlichen Vortrag gegenüber dem Studenten wesentlichen disziplinarischen Bestimmungen in Erinnerung rufen sollten: Neve is ignorantiam statutorum praetendat, operae pretium erit, simulatque iuramentum datur, eum commonefieri specialiter de pietate, sobrietate, de honesto habitu, de non gestandis armis, de non vastandis hortis aut oppugnandis aedibus, de nemine provocando, de non tumultando in plateis nec ulli inferendo iniuriam, de vitandis nocturnis discursationibus et vociferationibus. Siehe für Nachweise und Abbildung Rasche, Cornelius relegatus (Anm. 5), S. 164–168. 9 Grundlegend und einführend: Marian Füssel, Riten der Gewalt. Zur Geschichte der akademischen Deposition und des Pennalismus in der frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für historische Forschung 32 (2005), S. 605–648; ferner etwa Ulrich Rasche, Art. „Deposition“, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 2, Stuttgart/Weimar 2005, Sp. 924–927. 10 Rasche, Cornelius relegatus (Anm. 5), S. 175–181. 11 Vgl. exemplarisch zu Rationalisierung und Funktionswandel der Deposition in Jena Ulrich Rasche, Über die Unruhe am academischen Uhrwerck. Quellenstudien zur Geschichte des Dienstpersonals der Universität Jena vom 17. bis zum frühen 19. Jahrhundert, in: Zeitschrift des Vereins für thüringische Geschichte 53 (1999), S. 45–12, hier: S. 63 f., S. 70–76. – Die 1692 erlassenen Statuten der Universität Halle verzichteten zwar auf das Ritual: Ritum depositionis [. . .] ingenuis adolescentibus indignum ab hac academia merito removemus. Sie behielten aber die admonitio der Studienanfänger durch den Dekan der philosophischen Fakultät bei: Interea tamen finem ispum [sc. ritum depositionis], quo prudens antiquitas ritum illum induxit, retinemus, ut a Facultatis Philosophicae Decano adolescentes examinentur de pietate, modestia moribusque ingenuo juvenae dignis admoneantur [. . .] Siehe Wilhelm Schrader, Geschichte der Friedrichs-Universität zu Halle, 2 Bde., Berlin 1894, Bd. 2, S. 395.

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Jahr 1676 –, ne scilicet quis ignorantiam post admissum delictum causari queat.12 Der hohe Stellenwert der kollektiven mündlichen Unterweisung der Studenten wurde bereits bei den Inaugurationsfeiern der Universitäten beschworen. Eine der zentralen performativen Akte solcher Feiern bestand darin, die dem ersten Rektor übergebenen Statuten zum ersten Mal feierlich zu verlesen.13 Das war eine symbolische Handlung, die nicht unbedingt der Vermittlung der Normen, sondern in erster Linie der Verstetigung dieses Aktes galt. Dementsprechend erfolgte an den frühneuzeitlichen Universitäten die regelmäßige Normenkommunikation durch Verlesen der disziplinarischen Ordnungen ein- bis zweimal im Jahr, meistens am Tag der ebenfalls feierlichen Einsetzung eines neuen Rektors, bei der der alte dem neuen Rektor zusammen mit den anderen Rektoratsinsignien auch das Statutenbuch überreichte,14 oder im zeitlichen Umfeld dieser Prozedur. Außer für die Studentenschaft insgesamt gab es Verlesungen für Professoren, Stipendiaten, Bedienstete und sonstige Universitätsbürger.15 In den Universitätsstatuten, insbesondere des 16. und 17. Jahrhunderts, in Amtsbüchern und Chroniken sind Norm und Praxis der regelmäßigen Statutenverlesung hinlänglich bezeugt.16 Wie lange die deutschen Universitäten versucht

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Universitätsbibliothek Jena, 2 H. l. VI, 12, S. 204. Vgl. Marian Füssel, Universität und Öffentlichkeit: Die Inaugurationsfeierlichkeiten der Universität Halle 1694, in: Vergnügen und Inszenierung. Stationen städtischer Festkultur in Halle, hg. von Werner Freitag und Katrin Minner, Halle 2004, S. 59–78; ders., Actus publicus academicus. Die Inaugurationsfeierlichkeiten der Universität Göttingen 1737, in: Tradition – Autonomie – Innovation. Göttinger Debatten zu universitären Standortbestimmungen, hg. von Gerd Lüer und Horst Kern, Göttingen 2013, S. 38–62. Weil die Statuten bei den Einweihungsfeierlichkeiten der Universität Kiel noch nicht vorlagen, ist dort lediglich das Privileg verlesen worden, vgl. Jan Könighaus, Die Inauguration der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel 1665. Symbolgehalt und rechtliche Bedeutung des Universitätszeremoniells (Rechtshistorische Reihe 252), Frankfurt a. M. u. a. 2002, S. 124–129. 14 Vgl. Marian Füssel, Zeremoniell und Verfahren. Zur Wahl und Einsetzung des Rektors an der frühneuzeitlichen Universität, in: Orte der Gelahrtheit. Personen, Prozesse und Reformen an protestantischen Universitäten des Alten Reichs, hg. von Daniela Siebe (Contubernium 66), Stuttgart 2008, S. 119–142, ferner etwa Christoph Friedrich Weber, Ces grands privilèges: The symbolic use of written documents in the foundation and institutionalization processes of medieval universities, in: History of Universities 19 (2004), S. 12–62. 15 Vgl. etwa Hans-Wolf Thümmel, Die Tübinger Universitätsverfassung im Zeitalter des Absolutismus (Contubernium 7), Tübingen 1975, S. 265 f.; Hans Georg Gundel, Die alten Statuten der Gießener Universität 1629–1879. Statuta Academiae Marpurgensis 1629–1649. Prolegomena zu einer Textausgabe, Gießen 1977, S. 49–52. 16 Rudolph von Roth, Urkunden zur Geschichte der Universität Tübingen aus den Jahren 1476 bis 1550, Tübingen 1877 (ND Aalen 1973), S. 210 (Statuten 1537); Daniel Heinrich Arnoldt, Ausführliche und mir Urkunden versehene Historie der Königsbergischen Universität, 2 Teile, Königsberg 1746, Teil 1, Beylagen 145 (Statuten 1554); Paul Reh, Die allgemeinen Statuten der Universität Frankfurt a. d. Oder (1510–1610) (Acten und Urkunden der Universität Frankfurt a. O., Heft 2), Breslau 1898, 77 (Statuten 1564); Dirk Alvermann und Karl-Heinz Spieß (Hg.), Quellen zur Verfassungsgeschichte der Universität Greifswald, Bd. 1: Von der Universitätsgründung bis zum Westfälischen Frieden 1456–1646 (Beiträge zur Geschichte der Universität Greifswald 10,1), Stuttgart 2011, S. 238 f. (Statuten 1570); Peter Baumgart, Ernst Pitz, Die Statuten der Universität Helmstedt (Veröffentlichungen der niedersächsischen Archivverwaltung 15), Göttingen 1963, S. 25, S. 44, S. 182 f. (Statuten 1576); Herbert Kater, Die Statuten der Universität Rinteln/Weser 1621–1809 (Einst und Jetzt, Sonderheft 1992), S. 116–119; Hans

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haben, der ignorantia statutorum mit der regelmäßigen öffentlichen Verlesung ihrer Normen vorzubeugen, müsste im Einzelfall geprüft werden.17 An vielen älteren Universitäten ist sie vielleicht erst mit der Abschaffung der feierlichen Rektoratswechsel im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts18 aufgegeben worden. In Gießen hielt sie sich bis 1779.19

3. „IN OMNIUM CONSPECTU PUBLICE PROPOSITAE“ – NORMENKOMMUNIKATION DURCH GEDRUCKTE ANSCHLÄGE An den frühneuzeitlichen deutschen Universitäten haben sich mündliche und schriftliche Kommunikationstechniken nicht etwa gegenseitig ausgeschlossen und abgelöst, sondern ergänzt, beeinflusst und durchformt. Das gilt für alle Arten von Reden, für ein Leitmedium der akademischen Wissenskultur, nämlich für Disputationen/Dissertationen, und es gilt auch für die Normenkommunikation gegenüber Studenten. Das Pendant zur kollektiven mündlichen Unterweisung der Studenten durch regelmäßiges Verlesen statutarischer Texte war der gedruckte öffentliche Anschlag I. von Einzelverordnungen und II. von Fassungen der Disziplinarordnung insgesamt an den schwarzen Brettern. I. An den größeren frühneuzeitlichen Universitäten dürften die Pedelle seit dem 16. Jahrhundert laufend damit beschäftigt gewesen sein, nicht nur Oster-, PfingstWeihnachtsprogramme, Vorlesungsverzeichnisse, Relegationspatente, sogar Zeugnisse, ferner Ankündigungen und Einladungen aller Art, zum Beispiel zu feierlichen Rektoratswechseln und Statutenverlesungen, Disputationen, Promotionen, Leichenbegängnissen, Ferien, Festen, Feiern und anderem, sondern eben auch die zahllosen Georg Gundel, Statuta Academiae Marpurgensis deinde Gissensis de anno 1629. Die Statuten der Hessen-Darmstädtischen Landesuniversität Marburg 1629–1650 / Gießen 1650–1879 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 44), Marburg 1982, S. 76 f.; J. C. Hermann Weissenborn, Acten der Erfurter Universität, Teil 2 (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen 8,2), Halle 1884, S. 26 (Statuten 1634/36); Julius Caesar, Academiae Marpurgensis privilegia, leges generales et statuta facultatum specialia, Marburg 1868, 16 (Statuten 1653). Jürgen Miethke (Hg.), Die Amtsbücher der Universität Heidelberg, Reihe A: Die Rektorbücher der Universität Heidelberg, Bd. 1: 1376–1410, Heidelberg 1986–1999, Bd. 2: 1411–1451, Heidelberg 2001–2003 (regelmäßige Einträge über Einladungen zu den Verlesungen sowie über diese selbst). Ernst Devrient (Hg.), Jenaische Stadt- und Universitäts-Chronik von Martin Schmeizel, Jena 1908, S. 165–169 (Jenaer Rektoratswechsel 1688). 17 Während die Hallenser Statuten von 1692 in ihrem recht ausführlichen Abschnitt zum feierlichen Rektoratswechsel die Statutenverlesung nicht erwähnen, schrieben sie die Göttingen Statuten von 1736 vor, siehe Schrader, Geschichte Halle (Anm. 11), Bd. 2, S. 385 f.; Wilhelm Ebel, Die Privilegien und ältesten Statuten der Georg-August-Universität zu Göttingen, Göttingen 1961, S. 44–47. Auch die erneuerten Tübinger Statuten von 1752 ordneten die Statutenverlesung noch an, siehe Statuta renovata universitatis Tubingensis, Tübingen 1752, S. 12. Für Heidelberg finden sich entsprechende Vorschriften in allen Generalstatuten von 1558 bis 1786, siehe August Thorbecke, Statuten und Reformationen der Universität Heidelberg vom 16. bis 18. Jahrhundert, Leipzig 1891, S. 8, S. 305. 18 Füssel, Zeremoniell und Verfahren (Anm. 14), 135, S. 140 f. 19 Gundel, Prolegomena (Anm. 15), S. 49–52.

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Patente von Rektor und Senat sowie die ebenfalls häufig erscheinenden landesherrlichen Edikte zur Kontrolle der studentischen Disziplin auszuhängen.20 Manche dieser Einzelverordnungen, die als besonders wichtig empfunden wurden, sind nicht nur angeschlagen, sondern auch öffentlich verlesen worden.21 Zentrale Verordnungen, wie etwa die Kredit- und Duellmandate, die Tumultedikte oder die Nationalismusund die späteren Ordensverbote, sind wiederholt ausgehängt worden, zumal wenn sie neue Fassungen, erläuternde Ausführungsbestimmungen und Ähnliches bekamen.22

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Vgl. z. B. Devrient, Chronik Schmeizel (Anm. 16), S. 67 zu Jena 1631: Dieses Jahr durch hat man folgende Patente am Breth gesehen: am 9. Febr. wider das Schwermen, Duelliren und Pennalisiren, am 20. dito wider die Fastnachtsmummerey, am 18. Jul. wider die Schlagereyen und Duelle, auch Ablegung der Mäntel, am 28. Aug. wider das Einbrechen und Stehlen in den Weinbergen. – Einen vorzüglichen Eindruck über die ungeheure Vielfalt der sogenannten Universitätsprogramme verschafft die mit rund 9 000 Stücken weltweit größte Sammlung originaler Exemplare in der Jenaer Universitätsbibliothek. Der Jenaer Bibliothekar Hans Müller hat die Sammlung, in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts durch einen Zettelkatalog und andere Verzeichnisse prosopographisch und teilweise auch systematisch erschlossen und ihre nahezu alle Bereiche der akademischen Lebenswelt durchdringende Inhalte durch zwei kleinere Publikationen bekannt gemacht: Hans Müller, Die Sammlung von Universitätsprogrammen in der Universitäts-Bibliothek Jena, in: Zentralblatt für Bibliothekswesen 60 (1944), S. 337–353; ders., Universitätsprogramme. Eine neu erschlossene Quelle für Familiengeschichte in Jena, in: Familiengeschichtliche Blätter 41 (1943), S. 8–12; vgl. ferner Friedhilde Krause (Hg.), Felicitas Marwinski (Bearb.), Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland, Bd. 20: Thüringen H-R, Hildesheim (u. a.) 1999, S. 142 f., sowie zur Sache F. Neumann, Art. „Programm“, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 7 (2005), S. 154–158, und etwa auch den Hinweis auf die freilich sehr viel bescheidenere Tübinger Sammlung von Thilo Dinkel, UniversitätsProgrammata als personengeschichtliche Quellen, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 59 (2000), S. 427–431. Den besten Überblick über die Programmüberlieferung der deutschen Universitäten bieten immer noch Wilhelm Erman, Ewald Horn, Bibliographie der deutschen Universitäten, 3 Bde., Leipzig/Berlin 1904/1905. Insbesondere in Bd. 2 finden sich Listen für einzelne Universitäten, die angesichts der enormen Überlieferungsmasse zwar insgesamt sehr lückenhaft sind und lediglich einen Auswahlcharakter haben, aber gerade die jeweiligen Disziplinarordnungen erstaunlich gut erfassen. Siehe auch unten Anm. 22. 21 So wurden etwa in Jena 1661 die Edikte gegen den Pennalismus den eigens zu diesem Anlaß in das theologische Auditorium bestellten jungen Studenten verlesen und die „Pennäle“ aufgefordert, ihre Juniorenkleidung abzulegen, siehe Thüringisches Staatsarchiv Altenburg, Landesregierung Nr. 4512, Bl. 51a–52b. Das am 2. Juli 1661 für Jena erlassene Pennalismusedikt ist sowohl in Latein als auch in Deutsch veröffentlicht worden: Pennalismus proscriptus profligatusque ab academia Jenensi bzw. Gäntzliche Abschaffung des schädlichen Pennal-Wesens auf der Universität zu Jehna. Exemplare: Universitätsarchiv Jena, A 2196, Bl. 164a–177a; Thüringisches Staatsarchiv Altenburg, Landesregierung Nr. 4512, Bl. 29a–42a; Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel, Pd 55 4º. 22 Listenförmige Übersichten für einzelne Universitäten existieren außer bei Ermann/Horn, Bibliographie (Anm. 20), Bd. 2, etwa für Göttingen, siehe Brüdermann, Göttinger Studenten (Anm. 5), S. 538–545, oder für Jena, siehe Achatius Ludwig Carl Schmid, Zuverlässiger Unterricht von der Verfassung der Herzoglich Sächsischen Gesamtakademie zu Jena, Jena 1772, nach S. 358, oder für Altdorf, siehe Georg Andreas Will, Bibliotheca Norica Williana, Teil 5, Altdorf 1775, S. 57–74. Ausgewählte Patente von Rektor und Senat finden sich gelegentlich in gedruckten Sammlungen und Editionen von normativen Quellen einzelner Universitäten. Zugänge zu landesherrlichen Edikten bieten regionale Sammlungen von Gesetzen und Verordnungen sowie nun auch das Repertorium der Policeyordnungen (siehe oben Anm. 3). Zum insgesamt mäßigen

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II. Der weitgehend unbekannten oder zumindest wenig beachteten, gleichwohl reichen Überlieferung nach zu urteilen, hielt man es allenthalben für nötig, auch die gesamte Disziplinarordnung außer durch öffentliche Verlesung und individuelle mündliche Instruktion von Zeit zu Zeit ebenfalls per Anschlag in Erinnerung zu rufen. An manchen Universitäten scheint dies schon im 16. Jahrhundert geschehen zu sein. So erließen Rektor und Senat der Universität Rostock 1604 eine Art Studienordnung in Form eines Einblattdrucks und ordneten darin an, dass dieser Druck in jedem Semester nicht nur öffentlich verlesen, sondern ebenso und zur gleichen Zeit ausgehängt werden soll, zu der usitato et recepto more auch die leges academiae angeschlagen würden.23 Selbstverständlich geschah auch der Anschlag der Leges, ut deinceps nemo legitime per ignoratiam se excusare possit, wie der imposante Salzburger Legesdruck von 1653 ausführt.24 Die Texte solcher Leges, die im 17. und 18. Jahrhundert an fast allen Universitäten als ein- oder auch mehrblättrige Programme massenhaft und – wie im nächsten Abschnitt zu zeigen sein wird – nicht nur für den Aushang gedruckt worden sind, scheint in vielen Fällen auf Fassungen der Disziplinarordnung zurückzugehen, die für die öffentliche Verlesung bestimmt waren.Solche Fassungen finden sich etwa in den Heidelberger Statuten von 1558, 1580, 1588, 1672 (und 1786), auf deren Grundlage 1683 die als Einblattprogramm gedruckten ‚Leges et statuta universitatis Heidelbergensis‘ konzipiert worden sind.25 Die Rostocker Einblattleges des 17. Jahrhunderts hießen: ‚Epitome legum universitatis Rostochiensis revisarum, quae bis quotannis publice praeleguntur‘ (Abb. 1). Der Erfurter Legesdruck aus der Zeit um 1700 trägt die Überschrift ‚Summa statutorum academiae Erfordiensis‘ und gibt im Untertitel als Quelle der insgesamt 24 Paragraphen an: ‚Tit. II. de iis, quae studiosos agere et vitare decet‘ (Abb. 2). Dieses bezieht sich auf eine leider nirgendwo abgedruckte Statutenversion, die 1565 eigens für die Verlesung hergestellt worden ist.26 Auch der Text des mit ‚Studiosi Giessensis Officium‘ überschriebenen einblättrigen Gießener Legesdrucks ist periodisch

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Erschließungs- und miserablen Editionsstand siehe Rasche, Norm und Institutionn (Anm. 4), S. 150–157. Gegenstand der Forschung waren zuletzt etwa die Duelledikte, vgl. Zaunstöck, Milieu des Verdachts (Anm. 5), S. 61–110. (Sehr seltenes) Exemplar: Universitätsbibliothek Frankfurt am Main, Flugschr. G. Fr. 933a: Has leges [. . .] singulis semestribus, quando leges academiae usitato ac recepto more propenentur, simul recitari non solum jubemus, sed et eas operi et effectui trademus [. . .] Zu den Rostocker Legesdrucken siehe Erman/Horn, Bibliographie (Anm. 20), Bd. 2, S. 914 f., die allerdings keine Drucke aus dem 16. Jahrhundert kennen. Zur Praxis der Rostocker Statutenverlesung und des Anschlags vgl. Etwas von gelehrten Rostockschen Sachen, 1742, S. 231 f., S. 325–336 (mit einer Liste der Einladungsprogramme und Reden). Exemplar: Universitätsarchiv Salzburg, bA 96, Nr. 33. Textabdruck in: Wissenschaftliche Studien und Mitteilungen aus dem Benedictiner-Orden 2 (1881), Bd. 1, S. 283–287. Vgl. Thorbecke, Statuten und Reformationen (Anm. 17), S. 29–31 (1558), S. 170 f. (1580), S. 233 f. (1588), S. 280 f. (1672) und S. 334–336 (1786). Die beiden von mir eingesehenen Legesdrucke – Universitätsbibliothek Heidelberg, F 2113 Gross RES und F 2103 Folio RES – stimmen weitgehend mit der Statutenversion von 1672 überein. Weitere Drucke und Exemplare nennen Thorbecke, ebd., und Ermann/Horn, Bibliographie (Anm. 20), Bd. 2, S. 441. In dem Amtsbuch RA 334 des Universitätsarchivs Heidelberg (1672–1784) befinden sich handschriftliche Versionen. Siehe auch unten bei Anm. 42. Diese Statutenversion hieß: ‚Excerptum statutorum, quae publice quotannis toto scholastico coetui praelegenda sunt‘. Vgl. Just Christoph Motschmann, Erfordia literata oder Gelehrtes

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verlesen worden.27 Der Untertitel gibt an, dass dessen ad quotidianam inspectionem et meditationem bestimmte Text eine komprimierte Fassung des Titels 75 der Statuten darstellt (‚Officium [. . .] ex Statut. Tit. LXXV [. . .] compendio traditum‘). Offenbar ist der außergewöhnlich umfangreiche Text von Titel 75 der Statuten28 für die Verlesung und die Instruktion per Anschlag als ungeeignet empfunden worden. Vor allem dort, wo die in den alten Statuten verankerte Disziplinarordnung sich in langen, teils moralisierenden und didaktisierenden Belehrungen ergingen, die wenig praktische Relevanz hatten, sind im Laufe des 17. Jahrhunderts solche meistens in knappen Paragraphen eingeteilten und auf konkrete Formen von Devianzen zugeschnittenen Texte konzipiert und in Form von Legesdrucken publiziert worden. Diese Texte konnten erheblich von den entsprechenden Abschnitten der Statuten abweichen. Die aus einem vermutlich 1619 gedruckten einblättrigen Exemplar bekannten Helmstedter ‚Leges academiae Iuliae breviter contractae et in omnium conspectu publice propositae‘ erinnern nur noch entfernt an die ausschweifenden ‚Leges de disciplina et moribus studiosorum bis quotannis publice praelegendae‘ der Helmstedter Statuten von 1576.29 Die etwa seit der Mitte des 17. Jahrhunderts kursierenden Einblattdrucke der ‚Summa legum ac statutorum academiae Jenensis de moribus et studiis scholasticorum‘ komprimieren und konkretisieren die bereits 1548 verfassten und den Statuten von 1558 und 1591 inserierten ‚Leges academiae Jenensis de moribus‘.30 Vorbild für die ausführlichen Helmstedter und Jenaer Statutenversionen waren die ‚Leges academiae Witebergensis de studiis et moribus auditorum‘, die Melanchthon 1545 für Wittenberg verfasst hat.31 Mitte des 17.

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Erffurth, Fünfte Sammlung, Erfurt 1731, S. 677–683. Sie bildete später die Vorlage für die bei Motschmann, Sechste Sammlung, Erfurt 1732, S. 790–810, abgedruckten Statuten von 1670/1671, vgl. ebd. S. 789. So Gundel, Statuta (Anm. 16), S. 193 Anm. a, S. 194 Anm. 1; sowie ders., Prolegomena (Anm. 15), S. 49–52. Exemplar: Universitätsbibliothek Gießen, A 56455/20, fol. (19). ‚De officio studiosorum‘, siehe Gundel, Statuta (Anm. 16), S. 193–202. Für eine Abbildung des Legesdrucks, eine Paraphrasierung des Textes und Nachweise siehe Ulrich Rasche, Aspekte studentischer Konflikt- und Erinnerungskultur im 17. Jahrhundert, in: Das Athen der Welfen. Die Reformuniversität Helmstedt 1576–1810, hg. von Jens Bruning und Ulrike Gleixner, Wolfenbüttel 2010, 58–67, hier S. 60–62. Text der Statutenversion: Baumgart/Pitz, Statuten (Anm. 16), S. 168–179. Vermutlich ist die Statutenverlesung mit dem Erscheinen des Legesdrucks auf dessen Text umgestellt worden. Jedenfalls bezieht sich Hermann Conring in seiner anläßlich seines Rektoratsantritts am 2. Januar 1640 gehaltenen Rede gewiß auf den Legesdruck, indem er die Statutenverlesung ankündigt und an die Studenten gerichtet sagt: Versantur enim inter manus verstras hae ipsae leges, & quotidie legendae hoc in loco ac conspiciendae proponuntur. Siehe Hermanni Conringii de antiquitatibus academicis dissertationes sex habitae in academia Iulia, Helmstedt 1651, S. 162. Siehe zur Entwicklung der Jenaer Legesdrucke unten bei Anm. 33 ff. Zur Statutenversion: Rasche, Cornelius relegatus (Anm. 5), S. 168 Anm. 23. Walter Friedensburg, Urkundenbuch der Universität Wittenberg, Teil 1 (1502–1611), Teil 2 (1611–1813) (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und des Freistaates Anhalt, Neue Reihe 4), Magdeburg 1926/27, Teil 1, S. 255–261. Der Text ist bereits 1553/60 revidiert worden, siehe ebd. S. 302–308, und am häufigsten in einer von 1545 bis ins frühe 17. Jahrhundert hinein oft gedruckten umfangreichen Sammlung studentischer Verordnungen von Universität, Stadt und Landesherr überliefert. Siehe unten Anm. 52.

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Jahrhunderts erhielten auch sie eine Kurzfassung in Form eines Einblattdrucks.32 Die Legesdrucke sind immer wieder neu aufgelegt worden. Dadurch bot sich die Möglichkeit, die Disziplinarordnung von Zeit zu Zeit zu aktualisieren und somit das alte Statutenrecht nicht nur zu versachlichen, sondern auch um wichtige Bestimmungen von Senatspatenten und landesherrlichen Edikten zu ergänzen. So zeigt etwa die fast zweihundertjährige Versionsgeschichte der Jenaer Legesdrucke nicht nur, wie weit sich der Text von Legesdrucken von dem der Statuten entfernen konnte, sondern auch, wie die im Zusammenwirken von landesherrlichem Universitätsregiment und inneruniversitärer Verordnungsgewalt ständig forcierte Fortentwicklung des studentischen Disziplinarrechts Titel, Text, und Form der Legesdrucke selbst im Laufe der Zeit verändern konnten. Die bislang zum Zweck einer geplanten Edition gesammelten Exemplare lassen drei Entwicklungsstufen erkennen (A-C): (A) Die oben schon erwähnte älteste, etwa von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis zu den 1720er Jahren gedruckte Version besteht aus einem Blatt zunächst im Quer-, dann im Hochformat und weist 24 bis 27 Paragraphen auf.33 Entweder 1718 oder kurz vorher hat Johann Caspar Posner, Professor der Beredsamkeit 1705–1718, den Text sprachlich überarbeitet.34 Zuletzt lautete der Titel: ‚Summa legum ac statutorum, quibus civium academiae Ienensis mores et studia diriguntur‘ (Abb. 3). (B) Dann war von den 1720er bis zu den 1780er oder frühen 1790er Jahren des 18. Jahrhunderts ein Doppelblatt üblich, von dem drei Seiten mit elf bis fünfzehn Paragraphen und bis zu achtzehn regestenförmigen Bestimmungen aus landesherrlichen Mandaten bedruckt waren. Auf der ersten Seite dieser Fassungen stand nur der Titel: ‚Tabula legum, statutorum, edictorum ac formulae iurisiurandi civium academiae Ienenis.‘35 (C) In der letzten bis zum Sommersemester 1817 ausgegebenen Fassung bestand der Druck ebenfalls aus einem Doppelblatt; die erste Seite war nun allein für den Immatrikulationseid bestimmt, auf den anderen drei Seiten befand sich die ‚Summa legum academicarum‘ mit siebzehn Paragraphen, die statutarische Bestimmungen und landesherrliche Anordnungen miteinander verschmolzen.36 32

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‚Leges academiae Wittebergensis de studiis et moribus studiosorum‘, Exemplare: Universitätsbibliothek Halle, AB BB 2421 (42), und Universitätsbibliothek Jena, 2 H. l. VI, 12 (60). Friedensburg, Urkundenbuch Wittenberg (Anm. 31), Teil 2, S. 151–155, ediert den Text des Jenaer Exemplars und datiert ihn auf „vor 1655“; ferner erwähnt er ebd. 155 eine Redaktion 1678/79 und druckt ebd. 336 f. Erweiterungen von 1713 ab. Exemplare: Forschungsbibliothek Gotha Phil 2 268,9 (93), ca. aus der Mitte des 17. Jahrhunderts; Thüringisches Staatsarchiv Altenburg, Sammlung Schönberg Nr. 36, Bl. 174 f., von 1679, abgebildet bei Rasche, Norm und Institution (Anm. 4), S. 130. Siehe dessen Eloquentia Academica, Jena 1718, S. 510–520 (Leges civium Academiae Ienensis a minus Latinis nuperius expurgatae). Exemplare: Universitätsbibliothek Jena, 2009 C 23 (5), ausgestellt am 15. 07. 1729 für Wilhelm Friedrich Ernst Schultz, siehe die Abb. bei Rasche, Norm und Institution (Anm. 4), S. 131; Stadtarchiv Mühlhausen/Th., 10/I 5b, Nr. 9b, Bl. 12a–13b, von 1752, vgl. Eduard Heydenreich, Die Jenaer Immatrikulationsurkunde des Ernst Wilhelm Petri aus Mühlhausen vom Jahre 1752 und die studentischen Gewohnheiten jener Zeit, in: Mühlhäuser Geschichtsblätter 5 (1904/05), S. 49–53; Goethe- und Schillerarchiv Weimar, 125/1, ausgestellt für Johann Gottfried Friedrich Kirsten am 18. 03. 1779. Exemplare: Goethe- und Schillerarchiv Weimar, 06/4457, ausgestellt für Ludwig Friedrich Froriep am 24. 6. 1796; ebd., 83/2213, ausgestellt für Ernst von Schiller am 11. 11. 1813.

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Jena ist ein Beispiel dafür, wie sich die Disziplinarordnung losgelöst von den quasi erstarrten Statuten in Gestalt von Legesdrucken schubweise fortentwickelt hat. Entscheidend für die Kenntnis des Disziplinarrechts sind dort für die Zeit ab etwa der Mitte des 17. Jahrhunderts nicht mehr die zunehmend veraltenden Statuten, sondern die Legesdrucke in ihrer jeweiligen Version. Möglicherweise sind dort, wo die Statuten häufig revidiert worden sind, Statutentext und Text der Legesdrucke regelmäßig einander angeglichen worden. Bei den jüngeren, im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts gegründeten Universitäten stimmen die Texte der Legesdrucke eher mit denen der entsprechenden Statutenabschnitte überein. Zum einen sind deren statutarische Bestimmungen bereits in einem eher nüchternen, lebens- und alltagsnahen Stil formuliert worden, so dass der statutarische Text direkt in die teils zeitgleich, teils später aufgelegten Legesdrucke überführt werden konnte. Zum anderen scheint bisweilen der Prozess der Ausdifferenzierung der Normen nicht oder kaum auf die Legesdrucke abgeleitet worden zu sein. Beispiele dafür sind die Statuten und Legesdrucke der Universitäten Straßburg (privilegiert 1621), Bamberg (gegr. 1648), Halle (gegr. 1692) oder Erlangen (gegr. 1743).37 In Kiel (gegr. 1665) und später in Bonn (gegr. 1786) ist die Disziplinarordnung überhaupt nur in Form eines Legesdrucks festgehalten worden.38 37

Straßburg: Statutenfassung 1621, ‚Leges de disciplina et officio studiosorum‘: Marcel Fournier, Charles Engel, Les Statuts et Privilèges des Universités francaises, Tome IV: L’Université des Strasbourg et les Académies protestantes francaise, Fascicule I: Gymnase, Académie, Université de Strasbourg, Paris 1894 (ND Aalen 1970), S. 452; Legesdruck, Exemplar 1773, ‚Leges universitatis Argentoratensis de disciplina et officio studiosorum‘, Universitätsbibliothek Leipzig, Univ. 466 (K). – Zu den Bamberger Legesdrucken (‚Leges et statuta universitatis Bambergensis bzw. Summarium statutorum universitatis Bambergensis‘) und zu den Universitätsstatuten, siehe Bernhard Spörlein, Die ältere Universität Bamberg (1648–1803). Studien zur Institutionen- und Sozialgeschichte (Sektrum Kulturwissenschaft 7), 2 Bde., Berlin 2004, Bd. 1, S. 142–163. – Halle: Statutenfassung 1694, ‚De legibus academicis a studiosis observandis‘: Schrader, Geschichte Halle (Anm. 11), Bd. 2, 395–398; Legesdruck, Exemplar 1714: ‚Leges academicae a studiosis in regia Fridericiana observandae‘, Universitätsbibliothek Halle, Pon Yb 3890, 4º. – Erlangen: Statutenfassung 1748, ‚Leges academicae a studiosis in academia Fridericiana Erlangensi servandae‘: Anja Beyer, Die Verfassungsentwicklung der Universität Erlangen 1743–1810 (Erlanger juristische Abhandlungen 41), Köln u. a. 1991, S. 29–301; Legesdruck, Exemplar: ‚Academiae Fridericianae Erlangensis leges, quarum observantiam studiosi cives promittunt‘, Universitätsbibliothek Bayreuth, 45/AV 11000 K96; laut Beyer, ebd. S. 61, S. 129, ist der Legesdruck bereits 1743/44, also vor der Promulgation der Statuten erschienen. 38 Kiel: Legesdruck, Exemplar 1665: ‚Leges studiosis in academia Christiana Albertina quae Chilonii Holsatorum est praescriptae et ad continuam officii sui commonefactionem editae‘, Universitätsbibliothek Rostock, Hc-12.11. Die erst 1666 in deutscher Sprache erlassenen Universitätsstatuten enthalten keinen Abschnitt über die studentische Disziplin, wohl aber einen Hinweis auf diesen Legesdruck im Abschnitt ‚De Jurisdictione‘, vgl. den Druck der Statuten in: Systematische Sammlung der für die Herzogthümer Schleswig und Holstein erlassenen, annoch gültigen, Königlichen, Fürstlichen, Großfürstlichen und gemeinschaftlichen Verordnungen und Verfügungen, Bd. 4, Kiel 1832, S. 351–361, hier: S. 352. – Bonn: (sehr seltenes) Exemplar: ‚Leges universitatis Bonnensis‘, Erzbischöfliche Akademische Bibliothek Paderborn, EB 42. Vgl. auch den Entwurf mit kurfürstlichen Monita bei Conrad Varrentrapp, Beiträge zur Geschichte der kurkölnischen Universität Bonn, Bonn 1868, S. 19–21. – Auch die akademischen Gymnasien scheinen Legesdrucke hergestellt und öffentlich angeschlagen zu haben, siehe beispielsweise den Legesdruck (‚Statuta generalia‘) des Zerbster Gymnasiums aus dem 17. Jahrhundert in: Landeshauptarchiv Sachsen, Anhalt, Abt. Dessau, Hauptarchiv Zerbst, CL Nr. 16, Bl. 262.

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Ob Legesdrucke dauerhaft oder nur zu Beginn des Semesters ausgehängt worden sind und wo das jeweils geschah, müsste im Einzelfall untersucht werden. Ersteres lässt sich jedenfalls im Falle der speziellen Leges für Konviktoristen und Stipendiaten annehmen, die ebenfalls an vielen Universitäten in den verschiedensten Versionen kursierten. So schlug der Verfasser der 1693 erlassenen Greifswalder ‚Disziplinarordnung für die Freitische in der Oeconomie‘ vor, dass diese statuta [. . .] auf einer taffel wieder affigiret werden sollten.39 Aus Jena ist die Holzmontur mit den auf Pergament geschriebenen und darin eingelassenen Konviktsgesetzen überliefert; für Rostock gestattet uns ein Bild des berühmten Stammbuchmalers Friedrich Georg Zimmer (gest. 1763) sogar einen Blick auf die an der Wand des Konvikts hängende Tafel mit den ‚Leges atque statua Convictorii Rostock‘ (!).40

4. „ZU DESTO BESSERER ANLEITUNG DER STUDIRENDEN JUGEND UND EINSCHRENKUNG DERO LICENTZ“ – NORMENKOMMUNIKATION DURCH AUSHÄNDIGUNG VON DRUCKSCHRIFTEN Im Unterschied zum ländlichen Raum, wo der „allgemeine öffentliche Anschlag von Einzelblattdrucken (das Affigieren) als Publikationstechnik“ gegenüber dem Verlesen erst im 18. Jahrhundert an Gewicht gewann,41 sind also im durchweg literaten Milieu der Universitäten schriftliche Formen der Normenkommunikation den mündlichen spätestens im 17. Jahrhundert gleichwertig zur Seite getreten oder haben sie sogar – ohne sie gänzlich zu ersetzen – in den Hintergrund gedrängt. Da es sich bei Studenten jeweils um eine recht überschaubare Zahl von Normenempfängern auf vergleichsweise engem Raum handelte, konnte sich an den Universitäten sogar die individuelle mündliche Instruktion bei der Immatrikulation/Deposition als eine universitätsspezifische Variante oraler Normenkommunikation herausbilden. Diese bekam nun ebenfalls noch im 17. Jahrhundert ihr schriftliches Pendant, nämlich die Vermittlung der Disziplinarordnung durch die Übergabe von Druckschriften an die Studenten bei deren Immatrikulation. Übergeben worden sind Einzelverordnungen, Mandatssammlungen und später auch deutsche Gesetze, anfangs vor allem aber die Legesdrucke. Die meisten dürften nicht nur für den Anschlag, sondern gerade auch zum Zweck der Aushändigung an die Studenten konzipiert und gedruckt worden sein. So beauftragte etwa der Heidelberger Senat 1683 zwei Professoren damit, die leges acad. zu kontrahiren, damit sie auf einem halben Bogen gedruckt und den studiosen bei der immatrikulation zugestellt werden können.42 39

Dirk Alvermann und Karl-Heinz Spieß (Hg.), Quellen zur Verfassungsgeschichte der Universität Greifswald, Bd. 2: Die schwedische Grossmachtzeit bis zum Ende des großen Nordischen Krieges 1649–1720 (Beiträge zur Geschichte der Universität Greifswald 10,2), Stuttgart 2012, S. 193. 40 Für Nachweise und Abbildungen siehe Rasche, Norm und Institution (Anm. 4), S. 134 f. 41 So lautet jedenfalls der Befund von Härter, Policey und Strafjustiz in Kurmainz (Anm. 2), Bd. 1, S. 229. 42 Eduard Winkelmann, Urkundenbuch der Universität Heidelberg, Bd. 2: Regesten, Heidelberg 1886, S. 217. Siehe auch oben Anm. 25.

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In Königsberg entwarf der Senat 1706 einen Legestext, welcher so wol aus denen Statutis academicis, als auch aus denen nach und nach gedruckten Programmatibus, zu desto besserer Anleitung der studirenden Jugend und Einschrenkung dero Licentz zusammengestellt worden war; die königliche Bestätigung schrieb der Universität vor, den Text drucken zu lassen und den Druck denen Immatriculandis zu deren Betragens behöriger Nachricht zu übergeben.43 In Greifswald wurden den Studenten mindestens seit 1669 die ‚Leges studiosorum academiae Gryphiswaldensis‘ in Form eines Einblattdrucks ausgehändigt. In diesem Jahr berichtete nämlich der Rektor: Quia sub initium rectoratus huius denuo impressae sunt leges studiosorum, dedi ipsis sub inscriptione exemplum et mea manu nomen cuiusque et patriam, studii genus et inscriptionis annum et diem adieci.44 Der Greifswalder Rektor vermerkte also auf jedem Exemplar, das er bei der Immatrikulation ausgab, handschriftlich den Namen und die Herkunft des jeweiligen Studenten, dessen Fakultätszugehörigkeit sowie den Tag der Immatrikulation. In der Regel war solchen Legesdrucken der Immatrikulationseid inseriert (Abb. 1–3). Einige auf diese Weise quasi ausgefertigte Exemplare aus dem 17. und 18. Jahrhundert, die mir aus Jena, Rostock, Gießen, Altdorf, Straßburg und Bützow vorliegen, zeigen, dass der jeweilige Rektor durch seinen eigenhändigen Eintrag die Ableistung des Immatrikulationseides eines Studenten und dessen Aufnahme in die akademische Bürgerschaft bezeugte (Abb. 1 und 3).45 Auf diese Weise wurde ein Legesdruck zur Urkunde, genauer gesagt zur Immatrikulationsurkunde. 43

1717 entstand eine erweiterte Fassung. Auch für diese ordnete der König an, daß sothane Leges allsofort zum Druck befordert, und nicht allein im Collegio Academico an gewöhnlichem Orte publice affigiret werden sollten, sondern daß von nun an einem jedweden Studioso, wann er immatriculiret wird, ein Exemplar davon gegeben, und was es auf sich hat, wenn er seinem geleisteten Eyde gemäß, sothane Leges nicht observiren würde, wohl eingeschärfet werden soll. Die Texte der beiden Leges und der königlichen Bestätigungen sind abgedruckt bei Arnoldt, Historie (Anm. 16), Teil 1, Beylagen 417–429. Exemplare habe ich bislang nicht finden können. 44 Alvermann/Spieß, Quellen zur Verfassungsgeschichte 2 (Anm. 39), S. 141 Anm. 1. Ebd. S. 140–145 ist der Text der Leges auf der Basis von sieben Exemplaren aus der Zeit von 1672 bis 1693 ediert. 45 Zu Jena: siehe die Auswahl oben Anm. 33–36 und Abb. 3. – Rostock: siehe Abb. 1 (Rektoreneinträge: Anno M. DC. LXXIIX d. XXIII. Maii, rectore universitatis Rostochiensis Augusto Varenio D. serenissimorum ducum consistorii assessore ac directore, professore theologo et collegii theologici seniore inmatriculatus academiae Rostochiensis receptus est Hinricus Lipstorpius Lübecensis. Ferner: Renovavit matriculam a. 1687 d. 13. Januarii, rectore J. C. Schomero m. p. Bei dem ersten Eintrag handelt es sich vermutlich um eine Kindesimmatrikulation. Die Erneuerung der Matrikel, die dann den tatsächlichen Beginn des Studiums markieren würde, fiel laut Rostocker Universitätsmatrikel auf den 13. Januar 1688). – Gießen: Exemplar wie oben Anm. 27, ausgestellt am 10. 10. 1750 für Ludwig Christian Teuthorn (Text des Rektoreintrags: Anno MDCCL die X. Octobris, Dn. Ludovicus Christianus Teuthorn, Biedencopilensis [Biedenkopf, Nordhessen], data fide in numerum civium academicorum receptus est; id quod testor Reinh. Henr. Rollius, Dr. Acad. Ludov. h. t. Rector). – Altdorf: Exemplar: Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, 8 W 1758 (Leges universitatis Altorfinae Norimbergensium quibus recens advenientes studiosi iureiurando adstringuntur), ausgestellt am 31. 7. 1770 für Georg Paul Rahm (Text des Rektoreintrags: Dom. Georgium Paulum Rahmium, Norimbergensem, legibus academicis stipulata manu obedientiam promisse, eundemque civibus academicis adscriptum esse die 31 Julii 1770 testatur D. J. N. Weis, Rector). – Straßburg: Exemplar wie oben Anm. 37, ausgestellt am 11. 1. 1773 für Joseph Jacquerez. – Bützow: Exemplar: Universitätsbibliothek

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Manche Universitäten haben zwar den Studenten schon im 17. Jahrhundert zusätzlich zum unterschriebenen und später auch besiegelten Legesdruck einen einblättrigen formularartigen Urkundendruck ausgehändigt, welcher ebenfalls den Vollzug der Immatrikulation bestätigte.46 Göttingen (gegr. 1734) und Erlangen (gegr. 1743) nahmen von ihrer Gründung an die erst im 19. Jahrhundert allgemein übliche Praxis vorweg, indem sie die Beurkundung der Immatrikulation ganz solchen einblättrigen und später auch großformatigen Matrikelscheinen überließen (Abb. 4)47 und ihre Leges beziehungsweise akademischen Gesetze als reine Druckschriften getrennt von jenen Scheinen ausgaben. Das sind aber Sonderfälle. In aller Regel haftete im 17. und 18. Jahrhundert die Funktion der Immatrikulationsbeurkundung entweder ganz oder eben ergänzend an den Legesdrucken. Für die Studenten waren die auch Matrikel (matricul) genannten ausgefertigten Legesdrucke wertvolle Dokumente, weil sie damit nach Art eines Ausweises/Passes gegenüber anderen Obrigkeiten ihr akademisches Bürgerrecht nachweisen konnten.48 Die vermutlich um die Mitte des 17. Jahrhunderts erfundene funktionale Verknüpfung von druckschriftlicher Vermittlung der Disziplinarordnung und Immatrikulationsbeurkundung in einem Druck war

Rostock, MK-7975.A.1 (Leges quibus studiosi litterarum in academia Buetzoviensi tenentur), ausgestellt am 2. 9. 1775 für Karl Gustav Friedrich. Ferner weisen Erman/Horn, Bibliographie (Anm. 20), Bd. 2, S. 441, einen Heidelberger Legesdruck mit Rektoreinträgen von 1712 in der Universitätsbibliothek Heidelberg nach, der aber nach freundlichen Auskünften dieser Bibliothek sowie des dortigen Universitätsarchivs zur Zeit nicht auffindbar ist. 46 In Jena hießen diese Urkundendrucke „Depositionsscheine“, für eine Abbildung siehe Rasche, Universitätsmatrikeln (Anm. 7), 43 (ausgestellt 1722). Johann Christian Müller erwähnt einen solchen, von ihm als „testimonium“ bezeichneten Schein bei der Schilderung seiner Jenaer Immatrikulation im Jahr 1739: Hierauf nahm mich obgedachter Freund mit nach dem Herrn Pro Rectore, welches damals der berühmte Hofrath Teichmeyer war. Hirselbst wurden mir die Pflichten kürtzlich vorgehalten, ich musste meinen Eid ablegen, bekam die Leges und Statuta nebst dem Testimonio, daß ich in die Zahl derer Academischen Bürger aufgenommen worden. Siehe Katrin Löffler und Nadine Sobirai (Hg.), Johann Christian Müller, Meines Lebens Vorfälle und Nebenumstände. Erster Teil: Kindheit und Studienjahre (1720–1746), Leipzig 2007, S 58. Vermutlich sind vor der Einführung solcher gedruckten Immtrikulationsurkunden an einigen Universitäten – wie in Freiburg – formlosere handschriftliche Depositions- und Immatrikulationszeugnisse ausgestellt worden, vgl. Hermann Mayer, Die Matrikel der Universität Freiburg i. Br. von 1460–1656, Bd. 1, Freiburg 1907, S. LXVI–LXXI; Otto Clemen, Zur Jenaer Universitätsgeschichte, in: Zeitschrift des Vereins für thüringische Geschichte und Altertumskunde 19 N. F. 11 (1899), S. 542 f. Auch die Straßburger Statuten von 1621 ordnen an, dass der Rektor jedem Studenten nach der Immatrikulation einen schein der immatriculation undt geleisteter pflichten ertheilen soll; siehe Fournier/Engel, Statuts et Privilèges, Bd. 4,1 (Anm. 37), S. 407. 47 Den Göttingen Matrikelscheinen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts war noch der Immatrikulationseid aufgedruckt. Zur Ausgabe eines solchermaßen konzipierten „Immatriculations-Patents“ wurde die Universität durch ein königliches Reskript vom 9. Oktober 1734 verpflichtet, siehe Emil F. Rössler, Die Gründung der Universität Göttingen. Entwürfe, Berichte und Briefe der Zeitgenossen, Göttingen 1855, 258. Das älteste bekannte Exemplar stammt von 1744 (Abb. 4). – Die Erlanger Matrikelscheine waren offenbar reine Immatrikulationsbestätigungen; bereits aus dem Jahr 1743 ist ein Exemplar überliefert: Universitätsarchiv Erlangen, A3,1 Br. 1,1 (28). Zu Jena siehe unten Anm. 55. 48 Siehe das Zitat unten Anm. 62.

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deshalb die intensivste Variante der Normenkommunikation per Aushändigung von Druckschriften.49

5. „WENIGER MISSDEUTUNGEN“ – TRENDS IM 18. JAHRHUNDERT Das 18. Jahrhundert brachte keine neuen Kommunikationstechniken mehr hervor. Seine beiden Haupttrends waren I. die noch stärkere Einbeziehung von landesherrlichen Mandaten und Senatspatenten in das Sample der den Studenten bei der Immatrikulation übergebenen Druckschriften sowie II. die Verschmelzung der lateinischen Leges und der in verschiedensten Formen kommunizierten Einzelverordnungen zu deutschsprachigen akademischen Gesetzen. I. Ersteres geschah, indem einerseits, teils schon im 17. Jahrhundert, Inhalte von Einzelverordnungen entweder in knappen Zusammenfassungen oder in längeren Auszügen in Legesdrucke aufgenommen worden sind.50 Andererseits wurden – wie schon erwähnt – besonders wichtige oder jeweils aktuelle Einzelverordnungen als separate Drucke bei der Immatrikulation verteilt.51 Vielleicht noch mehr als in Form von separaten Exemplaren dürften den Studenten die Texte von Edikten und Patenten in Form von gedruckten Sammlungen vermittelt worden sein. Vermutlich hat hier die erstmals 1545 erschienene Wittenberger Drucksammlung vorbildhaft gewirkt, die die von Melanchthon konzipierten Leges zusammen mit Texten städtischer, 49

Das Verhalten des jungen Heinrich von Kleist in Würzburg zeigt gewissermassen ex negativo, dass diese Verknüpfung durchaus sinnvoll gewesen ist. Kleist schrieb im Jahr 1800 in einem Brief an Wilhelmine von Zenge über den Tag seiner Immatrikulation: Wir gingen zu Hause, bestellten Post, wickelten unsre Schuhe und Stiefeln in die akademischen Gesetze und hoben sorgsam die Matrikel auf ; zitiert nach Brüdermann, Göttinger Studenten (Anm. 5), S. 116. 50 Zum Beispiel ist in Marburg schon 1676 ein 22seitiges Programm angeschlagen worden (‚publice affixum‘), in dem den einzelnen Paragraphen des Titels 17 (‚De officio studiosorum‘) der bei Caesar, Privilegia (Anm. 16), S. 28–30, abgedruckten Marburger Universitätsstatuten von 1653 ergänzend Auszüge aus landesherrlichen Verordnungen und Senatsbeschlüssen zugefügt sind. (Sehr seltenes) Exemplar: Universitätsbibliothek Marburg, VIII B 1079e. In den Jenaer Legesdrucke sind seit den 1720er Jahren die Paragraphen unterteilt worden in ‚Summa legum academicarum‘ und eben ‚Summa edictorum serenissimorum principum et senatus academici‘, siehe oben bei Anm. 34. Etwa zur gleichen Zeit geben sich die Tübinger Leges als ‚Sylloge legum ex tabulis statutorum Universitatis Tubingensis ac senatus academici edictis collectarum, ad quarum praescriptum in alma hac Eberhardina vivendum est civibus‘. Exemplar: Würtembergische Landesbibliothek Stuttgart, HBFC 6154. Siehe auch das Zitat oben bei Anm. 43 zu den Königsberger Leges von 1706. 51 In Jena waren dies zum Beispiel 1711 ein Duelledikt und zwei Senatspatente, siehe Reinhold Jauernig, Marga Steiger, Die Matrikel der Universität Jena, Bd. 2: 1652 bis 1723, Weimar 1961–1977 (zehn Lieferungen), S. XXXIX. In Leipzig sind im 18. Jahrhundert zusätzlich zu dem um 1700 aufgelegten Legesdruck ‚Synopsis statutorum a studiosis academiae Lipsiensis observandorum‘, von dem sich mehrere Exemplare in der Universitätsbibliothek Halle befinden (etwa: Pon Yc 6897 2II, 10) mehrere Einzelverordnungen ausgegeben worden, die zusammen mit dem Legesdruck Johann Christian Eschenbach, Annalen der Rostockschen Akademie, Bd. 10, Rostock 1802, S. 169–172, S. 178–182, S. 189–192, S. 195–199 und S. 204–206, bespricht und abdruckt.

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landesherrlicher und universitärer Verordnungen unter variierenden Titeln bot und die im frühen 17. Jahrhundert auf über 130 Druckseiten angeschwollen war.52 Ob jeder Student eine solches „Buch“ erhielt? Ganz sicher lässt sich dieses etwa – schon der Name verrät es – für die Jenaer Sammlung der ‚Leges et statuta academiae Ienensis nec non edicta et programmata studiosis civibus promulgata, quae recens adventantibus distribui solent‘ behaupten (Abb. 5). Die Sammlung kam erstmals in den 1720er Jahren parallel zur Erweiterung des dortigen Legesdrucks um eine Sparte für regestenartige Kurzfassungen der Einzelverordnungen heraus.53 1769 wurde sie durch eine ebenfalls für die Verteilung bei der Immatrikulation bestimmte und bis 1810 mehrmals neu aufgelegte deutsche Version ersetzt (‚Neuerliche Patente und Mandate der sämmtlichen Durchlauchtigsten Herren Erhalter der Jenaischen Academie wie auch andere academische Verordnungen‘).54 Erst das Erscheinen der gänzlich neu konzipierten deutschsprachigen ‚Gesetze für die Studierenden der Gesamtakademie Jena‘ im Jahr 181755 hat dort sowohl den lateinischem Legesdruck als auch die deutschsprachige Verordnungssammlung obsolet gemacht. 52

Vgl. zu dieser Sammlung Ermann/Horn, Bibliographie (Anm. 20), Bd. 2, S. 1143–1145, sowie Andreas Gößner, Die Studenten an der Universität Wittenberg. Studien zur Kulturgeschichte des studentischen Alltags und zum Stipendienwesen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts (Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte 9), Leipzig 2003, S. 46–57. 53 Das Exemplar: Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel, Pd 55 4º (3), ca. Mitte des 18. Jahrhunderts, enthält vorne ein Inhaltsverzeichnis und – von 1. (‚Leges & statuta academica‘ = Legesdruck) und 12. (‚Catalogus lectionum‘ = Vorlesungsverzeichnis) abgesehen – folgende Texte: 2. ‚Edictum ducale contra duella & iniurias‘ (1709), 3. ‚Edictum ducale adversus concursationes ac turbas academicas‘ (1715), 4. ‚Programma, quo interdictum ducis Isenacensis contra venationes civium promulgatur‘ (1701), 5. ‚Interdictum academicum contra turbas in urbe et pagis sacris praesertim temporibus datas‘ (1714), 6. ‚Programma academicum contra tumultus nocturnos‘ (1711), 7. ‚Interdictum academicum contra abusum vocabuli ‚Vivat“ (1716), 8. ‚Interdictum senatus contra nuptiarum conviviorumque turbationem‘ (1713), 9. ‚Interdictum academicum contra spatiores in templis & turbatores sacrorum, clamatores item & cantores molestos‘ (1718), 10. ‚Interdictum adversus hos, qui temeraria militum provocatione & vexatione suam aliorumque innocentium simul salutem in discrimen adducere, clamoribus item & grassationibus nocturnis aut alia quacunque ratione tranquillitatem & securitatem publicam laedere sustinent‘ (1718), 11. ‚Edictum academicum de locatione & conductione conclavium ac lectorum &c.‘ (1720). 54 Exemplare: Jena 1769 (Universitätsbibliothek Jena, 4 Jur. XVII, 87 [7]); Jena 1774 (Universitätsbibliothek Jena, 4 Jur. XVII, 87 [13]); Jena 1787 (Universitätsbibliothek Jena, 4 H. l. VI, 78 [17a]); Jena 1796 (Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel, M: Pd 197 [11]); Jena 1804 (HerzoginAnna-Amalia-Bibliothek Weimar, 19 B 3318); Jena 1810 (Universitätsarchiv Jena, H/C Nr. 142). Schmid, Zuverlässiger Unterricht (Anm. 22), S. 265, S. 271–273, erwähnt des öfteren diese Sammlung von Statuten und Gesetzen, so unter die neuankommenden Studenten vertheilet werden. Der am 27. Oktober 1778 in Jena immatrikulierte Student Heinrich Adolph Weise schickte die Gesetzessammlung am 10. Februar 1779 an seine Mutter nach Altenburg: Hier schicke [ich] die Wäsche und die Schachtel u. die Studenten Gesetze, damit Sie unsere Policey kennen lernen; zitiert nach dem Originalbrief, in: Thüringisches Staatsarchiv Altenburg, Handschriftensammlung Nr. 823,4. M. Meißner, Aus Briefen des stud. jur. H. A. Weise in Jena (1778–1782), in: Mitteilungen der Geschichts- und Alterthumsforschenden Gesellschaft des Osterlandes 11 (1907), S. 60–74, hier: S. 63 f., hielt diese Passage nicht für mitteilenswert und hat sie in seiner Ausgabe weggelassen. 55 Edition: Joachim Bauer, Gerhard Müller, Thomas Pester (Bearb.), Statuten und Reformkonzepte für die Universität Jena von 1816 bis 1829 (Quellen und Beiträge zur Geschichte der Universität

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II. Wie Wilhelm Ermans und Ewald Horns großartige Bibliographie der deutschen Universitäten56 zeigt, der viele Hinweise auf die hier erwähnten Drucke verdankt werden, hat Jena vergleichsweise spät moderne deutschsprachige Studentengesetze herausgegeben. Die ältesten stammen wohl aus Tübingen (1752, siehe Abb. 6) und Göttingen (1755).57 Beide Texte sind allerdings noch kompilierende Übersetzungen bzw. Paraphrasierungen ihrer lateinisch-deutschen Gegenstücke (Statuten, Leges, Verordnungen). Auch die erstmals 1763 aufgelegten ‚Academische[n] Gesetze für die Studiosos auf der Georg-Augustus-Universität zu Göttingen‘58 sind in enger Anlehnung an Einzelverordnungen formuliert und drucken deren Texte im Anhang ab. In Greifswald hat man sich bei der Neufassung deutscher Studentengesetze 1774 an diesen Göttinger Gesetzen orientiert, aber auf einen solchen Anhang verzichtet.59 Es folgten mit zunehmender Tendenz zur Bildung eines eigenständigen Gesetzestextes Gießen 1779 (Abb. 7), Würzburg 1785, Mainz 1785, Ingolstadt 1788, Marburg 1790, Salzburg 1796, Altdorf 1798, Heidelberg 1805, Rostock 1812, Jena 1817 und Leipzig 1822 (jeweils mit weiteren Auflagen).60 Für die preußischen Universitäten Frankfurt an der Oder, Königsberg, Halle, Duisburg, ebenso für Erlangen, galten seit 1796 auf der Grundlage des Allgemeinen Landrechts konzipierte und auf dieser Basis jeweils modifizierte allgemeine Studentengesetze.61

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Jena 12), Stuttgart 2016, S. 67–84. Da diese Gesetze auch die Legesdrucke abgelöst haben, sind zur Beurkundung der Immatrikulation ab dem Sommersemester 1818 einblättrige Matrikelscheine mit Eidesformel, aber ohne aufgedruckte Gesetzestexte ausgegeben worden, siehe Universitätsarchiv Jena, A 2285 (mit beiliegenden Exemplaren). Die dreibändige Bibliographie ist nun bequem online benutzbar über den „Rostocker Dokumentenserver“ (http://rosdok.uni-rostock.de/). Zur Würdigung des Werks: Manfred Komorowski, Hundert Jahre nach ‚Erman/Horn‘. Bibliographie zur Geschichte der alten Duisburger Universität (1900–2003), in: Duisburger Forschungen 51 (2004), S. 29–58. Tübingen: ‚Kurzer Auszug aus denen Statuten der Universität Tübingen, so fern solche die Studiosos, ihre Aufnahme, Studia & Mores, die Lectiones et Collegia, die Gradus Academicos, der Collegiorum und Graduum Academicorum, wie auch der Kost und Logien Tax betreffen‘, Exemplar: Universitätsbibliothek Tübingen AT 90/554 (2) (viele weitere Auflagen, etwa 1763, siehe Abb. 6). – Göttingen: ‚Auszug und Wiederholung der Gesetze, welche in den Königlichen Statuten wie auch besonderen Edikten den Studirenden auf der Georg-August-Universität in Göttingen vorgeschrieben sind‘, Exemplar: Universitätsbibliothek Götingen, 4 HLP IV 10/4 (2). Exemplar: Universitätsbibliothek Göttingen, 4 HLP IV, 16/5; vgl. zu Publikation und Entwicklung der Göttinger Disziplinarordnungen Brüdermann, Göttinger Studenten (Anm. 5), S. 106–122. ‚Gesetze fuer die Studierende auf der Koeniglichen Universitaet zu Greifswald‘. Edition: Dirk Alvermann und Karl-Heinz Spieß (Hg.), Quellen zur Verfassungsgeschichte der Universität Greifswald, Bd. 3: Von der Freiheitszeit bis zum Übergang an Preussen 1721–1815 (Beiträge zur Geschichte der Universität Greifswald 10,3), Stuttgart 2014, S. 339–369. Ganz entgegen diesen Trend erschienen in Fulda noch 1778 ausführliche lateinische Leges mit Matrikelformular: ‚Leges et statuta communia studiosis in universitate Fuldensi observanda revovata sub gloriosissimo regimine [. . .] D. Henrici, Ecclesiae Fuldensis episcopi [. . .] rectore magnifico [. . .] D. Henrico L. B. de Warnsdorf [. . .] Fuldae‘, 1778, Exemplar: Hochschulund Landesbibliothek Fulda, Fuld 48/10, ausgefertigt für den Studenten Johannes Söder am 7. 12. 1799. Auch die 1786 gegründete alte Bonner Universität gab lediglich einen lateinischen Legesdruck heraus, siehe oben Anm. 38. ‚Allgemeine Gesetze für alle königliche Preußische Universitäten‘, vgl. Beyer, Verfassungsentwicklungg (Anm. 3), S. 207.

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In vielen Fällen – zum Beispiel bei den genannten katholischen Universitäten in den 1780er Jahren – sind die deutschen Disziplinargesetze im Zuge von Reformen entstanden. Manche dieser broschürenartigen kleinen Drucke fungierten gleichzeitig als Immatrikulationsurkunde und scheinen sogar während der Immatrikulation vorgelesen worden zu sein (Abb. 8).62 Vermutlich wurden auch sie angeschlagen.63 Ihr Hauptzweck aber war die Aushändigung an die Studenten bei deren Immatrikulation.64 Der zeitgemäße Wechsel zur deutschen Sprache bedeutet keinen Funktionswandel, sondern diente der Intensivierung von Disziplin und Kontrolle.65

6. DIE MEISTGEDRUCKTEN PROFANEN TEXTE DER FRÜHEN NEUZEIT? – ERGEBNISSE UND SCHLUSSFOLGERUNGEN Das studentische Disziplinarrecht der frühneuzeitlichen Universitäten ist laufend verändert und ergänzt worden. Es war das mit Abstand wandelbarste Segment des Universitätsrechts und ist den Studenten stets aufs Neue kommuniziert worden. Dabei haben sich vier Techniken herausgebildet, die kumulativ zusammenwirkten: individuelle mündliche Instruktion, kollektive Verlesung, Anschlag und Aushändigung von Druckschriften. Für die Verlesung konzipierte Statutenfassungen, Legesdrucke, landesherrliche Edikte und Senatspatente, Sammeldrucke solcher Einzelverordnungen und Drucke deutscher Disziplinargesetze sind die medialen Formen dieser Kommunikationspraktiken. Die Texte, die all diese Stücke überliefern, sind freilich weniger gut erschlossen und viel weniger bekannt als die in den Statutenausgaben publizierten Abschnitte zur

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Zum Beispiel die erstmals 1785 aufgelegten Würzburger Gesetze (‚Allgemeine Akademische Statuten‘), die am Ende bestimmen: Diese Artikel [es sind 15] werden jedem Studirenden bey der Immatriculation vorgelesen, darauf von demselben angelelobet und mittels einer Handunterzeichnung in dem Matrikelbuche derselben Vesthaltung versprochen. Auch wird demselben ein Exemplar dieser Statuten sowohl zu seiner Nachachtung, als allenfalsigen Legitimation der geschehenen Immatriculirung zugestellet. Für ein 1786 ausgestelltes Exemplar mit entsprechendem Formular siehe Abb. 8. 63 So heißt es in der kurfürstlichen Verordnung vom 1. 12. 1787, die den erstmals 1788 erschienen Ingolstädter Gesetzen beigedruckt ist, dass diese zu Anfang jeden Studienjahrs sämmentlichen Akademikern kund gemacht und zu öfterer ihrer Belehrung jedem ein Exemplar zugestellt werden soll, Exemplar: Bayerische Staatbibliothek München, 4 Bavar. 2216–1571/1789. 64 Viele der Gesetze enthalten einen eigenen Paragraphen über die Immatrikulation, in denen dieses vorgeschrieben wird; so heißt es etwa in einer Anmerkung zum betreffenden § 5 der Salzburger Gesetze von 1796: Bey dieser Gelegenheit wird einem jeden nebst dem geschriebenen Immatrikulations-Zeugnisse ein Exemplar unserer akademischen Gesetze überreicht. Exemplar: Bayerische Staatbibliothek München, 4 H. lit., S. 89 (m). 65 So führt etwa die Vorrede der Pflichten der auf der Universität Gießen sich aufhaltenden Studenten von 1779 (Abb. 6), S. 5 f., aus: Zwar könne von einem Studenten erwartet werden, dass er so viel Kenntniß der lateinischen Sprache besitze, um die Gesetze zu verstehn. Da aber doch immer die Muttersprache stärker ans Herz redet und weniger Mißdeutungen unterworfen ist, so ist um deswillen die deutsche Sprache der lateinischen vorgezogen worden. Vgl. zum Hintergrund: Jürgen Schiewe, Sprachenwandel – Funktionswandel – Austausch der Denkstile. Die Universität Freiburg zwischen Latein und Deutsch, Tübingen 1996.

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studentischen Disziplin, obgleich sie im Gegensatz dazu massenhaft gedruckt und periodisch kommuniziert worden sind, mithin das jeweils aktuelle Disziplinarrecht widerspiegeln, eine viel größere Verbreitung erfahren haben und aus diesen Gründen in der Regel auch einen weitaus höheren Quellenwert für die Erforschung von Disziplinierung, Sozialkontrolle und Devianz der Studenten besitzen. Untersuchungen dazu sollten sich also nicht unbesehen auf Statutenausgaben stützen, zumal auf solche, die lediglich die Gründungsstatuten bieten, sondern auf das jeweilige Sample von Texten, das den Studenten wirklich kommuniziert worden ist. Künftige Editionen von Quellen des studentischen Disziplinarrechts sollten diese Texte einbeziehen und dabei dem Umstand Rechnung tragen, dass sie nur dann adäquat als Quellen nutzbar sind, wenn ihre medialen und kommunikativen Bezüge in entsprechenden Kommentaren und Vorbemerkungen offengelegt werden.66 An den größeren frühneuzeitlichen Universitäten dürften allein von den lateinischen Legesdrucken (Abb. 1–3) jeweils mehrere zehntausend Exemplare in unzähligen Auflagen gedruckt und auf den beschriebenen Wegen vermittelt worden sein. In Jena etwa sind von der Einführung des Legesdrucks um die Mitte des 17. Jahrhunderts bis zu dessen Ablösung durch die deutschen Disziplinargesetze rund 75 000 Studenten immatrikuliert worden, von denen theoretisch jeder einen solchen Legesdruck erhalten hat. Gab es in der Frühen Neuzeit eigentlich profane Texte, die häufiger gedruckt worden sind? Jedenfalls scheint es sonst keine frühneuzeitlichen Massendrucke gegeben zu haben, bei denen sowohl jeder Leser/Empfänger67 namentlich als auch Zeit und Ort des Empfangs exakt bestimmt werden können (nämlich mit Hilfe der Universitätsmatrikeln). Dieses macht die für die Kenntnis des jeweiligen Disziplinarrechts unverzichtbaren Legesdrucke darüber hinaus zu einzigartigen Quellen der frühneuzeitlichen Medien- und Kommunikationsgeschichte.

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Negativbeispiel wäre etwa Weissenborn, Acten (Anm. 16), der die in der Praxis relevante, weil verlesene Statutenversion von 1565 in seiner an sich professionell angelegten Edition Erfurter Universitätsstatuten und die auf der Grundlage der Statutenversion von 1565 konzipierten Statuten von 1670/1671 (siehe oben Anm. 26) nicht berücksichtigt hat und darüber unzureichende Angaben macht. Im Hinblick auf die Texterfassung zuverlässiger ist von den älteren Editionswerken etwa Friedensburg, Urkundenbuch Wittenberg (Anm. 31) sowie nun inbesondere die auf drei Bände angelegte Edition statutarischer Quellen der Universität Greifswald von Alvermann/Spieß (Anm. 16, 39 u. 59), die sich nicht auf editionstechnische und sachliche Kommentare beschränkt, sondern zu jedem Band eine Art Statutengeschichte und darüber hinaus zu jedem Dokument vorzügliche Einführungen bietet. 67 Nicht jeder Student dürfte die ihm ausgehändigten Gesetze ungelesen entsorgt haben, wie es Heinrich von Kleist 1800 in Würzburg getan hat (siehe oben Anm. 49). Zum Beispiel notierte der Tübinger Jurastudent Christian Kausler über den Tag seiner Immatrikulation in sein Tagebuch, dass er am 8. November 1780 nachmittags zum Prorektor gegangen sei, um zu inscribiren. Ich hatte noch 3 Kameraden. Zu Haus las ich die Statuten (Universitätsbibliothek Tübingen, 161/802, 349). Der letzte Paragraph der Erlanger Leges (siehe oben Anm. 37) lautet: Leges has saepius legunto releguntoque.

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ABSTRACT This paper is about ways of communicating student disciplinary laws of the German universities in the early modern period and examines the multitudinous cross-links to the appropriate text types and prints. The student disciplinary law has been continuously modified and supplemented. It was by far the most changeable segment of the university law and has been communicated to the students always anew. Four techniques have emerged that interacted cumulatively: individual oral instruction, public reading, announcement and handing out of prints. Versions designed for public reading of the statutes, prints of the “leges”, sovereign and university edicts, printed collections of such individual regulations, and prints of German disciplinary laws are the media forms of these communication practices. Only when these substrates are seen as such, the actual relevance of the texts they deliver can be estimated correctly and the texts themselves used as historical sources adequately. They are less well known and less well researched than the corresponding passages inserted in the statute manuscripts, which are well known by statute editions, although those in large numbers printed and periodically communicated texts are of much higher relevance for the study of social control of students. Even the “leges” prints that emerged in the 17th century and were handed out to each student at many universities (Fig. 1–3) are one of the most printed mundane texts in Germany of the early modern period.

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Abbildung 1: Rostocker Legesdruck, Exemplar 1670, Universitätsbibliothek Rostock, Kl-47 (3), ausgefertigt bei den Immatrikulationen des Lübecker Studenten Heinrich Lipstorf 1678 und 1687 (1688), siehe Anm. 45.

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Abbildung 2: Erfurter Legesdruck (siehe oben bei Anm. 26), Exemplar ca. 1700, Stadtarchiv Erfurt, 4–1/VI-1. Im 19. Jahrhundert scheint man von dem sehr selten überlieferten Erfurter Legesdruck nicht viel gehalten zu haben; dieses Exemplar wurde offensichtlich als Bucheinband verwendet. Ein unversehrtes Exemplar befindet sich in der Bibliothek des Evangelischen Ministeriums im Augustinerkloster Erfurt, Ei 13, Nr. 135.

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Abbildung 3: Jenaer Legesdruck (siehe oben bei Anm. 33), Exemplar: Universitätsarchiv Jena, A 1239, Bl. 255/256, ausgestellt am 12. 6. 1722 für Johann Rudolph von Loeben. Rektoreintrag: „In haec verba iuratus civitati Academiae Jenensis nomen dedit Joh. Rudolphus de Loeben, eques Lusitatus d. XII Junii MDCCXXII., J. J. Syrbius, h. t. Acad. Jenens. prorector, manu propria.“

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Abbildung 4: Göttinger Matrikelschein mit Eidesformel („Immatriculations-Patent“, siehe oben Anm. 47), Exemplar 1744, Universitätsarchiv Göttingen, Kurator 3059, ausgestellt am 30. September 1744 für den Studenten Christoph van Brants Holzapffel aus Amsterdam.

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Abbildung 5: Jenaer Sammlung von Senatspatenten und landesherrlichen Mandaten (siehe oben bei Anm. 53), Titelblatt des Exemplars Universitätsbibliothek Göttingen, 4 Jus Statut I, 61, Nr. 22, welches der Student Franz Christoph Ludwig Lang seiner eigenhändigen Notiz zufolge am 18. Oktober 1721 , am Tag seiner Immatrikulation, erhielt („Acc. d. 18. 8bris 1721 F. C. L. Lang“).

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Abbildung 6: Deutschsprachige Tübinger Studentengesetze (siehe oben Anm. 57), Titelblatt der Ausgabe von 1763, Exemplar: Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Wirt. R., fol. 129–134.

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Abbildung 7: Gießener Studentengesetze, Vorrede und Titelblatt der ersten Ausgabe von 1779, Exemplar: Universitätsbibliothek Gießen, A 56456/10 [39]).

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Abbildung 8: Würzburger Studentengesetze (siehe oben Anm. 62), Matrikelformular der Ausgabe von 1786, Exemplar: Erzbischöfliche Bibliothek Freiburg, ST P HB 4–3 (Aufnahme: Erzbischöfliches Archiv Freiburg), ausgestellt am 2. Januar 1786 für den Jurastudenten Friedrich Rothensee, Speyrer Hofkaplan und Vikar.

STUDENTEN IM KAMPF FÜR DIE WEIMARER REPUBLIK Vom ‚Reichskartell der Republikanischen Studenten‘ zum ‚Republikanischen Studentenbund‘ (1922–1933) Wilhelm Kreutz

Der Mord an Walther Rathenau war zwar nicht das erste politisch motivierte Attentat der Weimarer Republik, aber er markierte den Höhepunkt des seit den Tagen der Novemberrevolution von militanten Antidemokraten geführten „Feldzugs“ gegen die vermeintlichen „Novemberverbrecher“ und „Erfüllungspolitiker“.1 Der Heidelberger Statistiker Emil Julius Gumbel, bald selbst Opfer spektakulärer Prozesse,2 zählte zwischen November 1918 und 1920, dem Jahr des Kapp-Lüttwitz-Putsches, mehr als dreihundert Mordanschläge von rechts, denen – um nur die prominentesten Opfer zu nennen – im Januar 1919 Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, die Sprecher der gerade erst gegründeten KPD, im Februar 1919 Kurt Eisner, der Vorsitzende der bayerischen Räterepublik, sowie im November 1919 Hugo Haase, der sozialistische Pazifist und Vorsitzende der USPD, zum Opfer fielen. Mit Billigung nicht allein des konservativen und gemäßigten Bürgertums geriet zunächst die bolschewistische Linke ins Fadenkreuz soldatisch-nationalistischer Freikorps, doch ab 1921 richtete sich der politische Terror von rechts auch gegen die Repräsentanten der Weimarer Koalitionsparteien. Am 26. August 1921 ermordeten zwei Mitglieder der ,Organisation Consul‘, des Freikorps ,Oberland‘ und des ,Germanenordens‘ im Schwarzwald den badischen Zentrumspolitiker Matthias Erzberger, der in Compiègne den Waffenstillstandsvertrag unterzeichnet hatte.3 Am 4. Juni 1922 überlebte Philipp Scheidemann, der am 9. November 1918 die Republik ausgerufen und ihr als erster Ministerpräsident gedient hatte, in Kassel ein Blausäure-Attentat nur knapp.4 Und am 24. Juni 1

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Zu Walther Rathenau vgl. u. a. Hans Wilderotter (Hg.), Walther Rathenau 1867–1922. Die Extreme berühren sich, Berlin 1993; Martin Sabrow, Die verdrängte Verschwörung. Der RathenauMord und die deutsche Gegenrevolution, Frankfurt am Main 1999; Lothar Gall, Walther Rathenau. Portrait einer Epoche, München 2009; Shulamit Volkov, Walther Rathenau. Ein jüdisches Leben in Deutschland, München 2012. Vgl. Emil Julius Gumbel, Vier Jahre politischer Mord. Reprint mit einem Vorwort von Hans Thill, Heidelberg 1980; Ders., Verschwörer. Zur Geschichte und Soziologie der deutschen nationalistischen Geheimbünde 1918–1924. Mit einem Vorwort zur Neuausgabe von Karin Buselmeier, Frankfurt am Main 1984; Christian Jansen, Emil Julius Gumbel. Portrait eines Zivilisten, Heidelberg 1991. Zu Matthias Erzberger vgl. zuletzt Wolfgang Michalka im Auftrag des Bundesarchivs (Hg.), Matthias Erzberger: Reichsminister in Deutschlands schwerster Zeit, Potsdam 2002; Reiner Haehling von Lanzenauer, Der Mord an Matthias Erzberger, Karlsruhe 2008; Christopher Dowe, Matthias Erzberger. Ein Leben für die Demokratie, Stuttgart 2011. Zu Philipp Scheidemann vgl. Christian Gellinek, Philipp Scheidemann. Gedächtnis und Erinnerung, Münster/New York/München/Berlin 2006; Walter Mühlhausen, „Das große Ganze im

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1922 erlag Walther Rathenau in Berlin den Schüssen von zwei weiteren Attentätern, die der geheimen ,Organisation Consul‘ des ehemaligen Marineoffiziers Hermann Ehrhardt angehörten.5 Wütenden Protesten gegen Karl Helfferich, den pfälzischen Abgeordneten der Deutschnationalen Volkspartei, der seit langem gegen den „jüdischen Erfüllungspolitiker“ Rathenau gehetzt hatte,6 und erregten Tumulten in der Nationalversammlung folgte am nächsten Tag die Notverordnung Friedrich Eberts ‚zum Schutze der Republik‘. Am 21. Juli verabschiedete der Reichstag das ‚Republikschutzgesetz‘ sowie ein ‚Gesetz über Straffreiheit für politische Straftaten‘, die sogenannte ‚Rathenau-Amnestie‘, die vor allem die nach dem Aufstand der Kommunisten in Mitteldeutschland gegen sie verhängten drastischen Strafen reduzieren sollte.7 Aber dies blieben nicht die einzigen direkten Reaktionen auf den RathenauMord, der die Republik erschütterte. Er mobilisierte auch die demokratisch gesinnten Studenten, die sich trotz oder gerade wegen ihrer „geradezu trostlose[n] Minderheitsposition“ in den Studentenausschüssen deutscher Universitäten nun zusammenzuschließen begannen,8 zumal der aggressive Nationalismus und die antisemitischen wie antirepublikanischen Ressentiments von Professoren und Studenten nach dem Attentat erneut offen hervortraten. So untersagte – um nur zwei Beispiele herauszugreifen – der Rektor der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität eine Trauerkundgebung für Rathenau, um Drohungen „aufrührerischer Studenten“ die Spitze zu nehmen, die angekündigt hatten, „die Trauerversammlung zu sprengen“.9 Und in Heidelberg lehnte der spätere Initiator einer „arischen Physik“, Philipp Lenard, nicht nur die Trauerbeflaggung seines Instituts ab, sondern hielt trotz des in Baden angeordneten Feiertags demonstrativ sein Seminar ab. Die Proteste von Heidelberger Arbeitern und Studenten, allen voran der sozialistische Student und spätere Widerstandskämpfer Carlo Mierendorff,10 endeten damit, dass die Polizei – um eine weitere Eskalation zu verhindern – Lenard in Schutzhaft nahm. Kurze Zeit später verurteilte ein ordentliches Gericht Mierendorff wegen Haus- und Landfriedens-

Auge behalten“. Philipp Scheidemann. Oberbürgermeister von Kassel (1920–1925), Marburg 2011; Bernd Braun, Die Weimarer Reichskanzler. Zwölf Lebensläufe in Bildern, Düsseldorf 2011. 5 Vgl. Gabriele Krüger, Die Brigade Ehrhardt, Hamburg 1971; Matthias Sprenger, Landsknechte auf dem Weg ins Dritte Reich? Zur Genese des Wandels des Freikorps-Mythos, Paderborn 2008. 6 Vgl. Harry Graf Kessler, Das Tagebuch. Siebter Band: 1919–1923, hg. von Angela Reinthal, Stuttgart 2007, S. 524 f. 7 Vgl. Gotthard Jasper, Der Schutz der Republik. Studien zur staatlichen Sicherung der Demokratie in der Weimarer Republik 1922–1930, Tübingen 1963. 8 Franz Walter, Sozialistische Akademiker- und Intellektuellenorganisationen in der Weimarer Republik, Bonn 1990, S. 69. 9 Kessler, Das Tagebuch (Anm. 6), S. 529 f. 10 Zu Carlo Mierendorff vgl. Richard Albrecht, Der militante Sozialdemokrat. Carlo Mierendorff 1897 bis 1943, Berlin 1987; Ullrich Amlung, Gudrun Richter und Helge Thied, „. . . von jetzt an geht es nur noch aufwärts, entweder an die Macht oder an den Galgen“: Carlo Mierendorff (1897–1943) Schriftsteller, Politiker und Widerstandskämpfer, Marburg 1997; Peter Steinbach, Widerstand gegen den Nationalsozialismus – eine „sozialistische Aktion“? Zum 100. Geburtstag Carlo Mierendorffs (1897–1943), Bonn 1997.

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bruchs zu vier Monaten Gefängnis, wohingegen das von der Universität gegen ihn eingeleitete Disziplinarverfahren mit einem Freispruch endete.11 Doch Proteste regten sich nicht nur an den Universitäten Berlin und Heidelberg, wo sich die demokratischen Studenten zu organisieren begannen. „Der RathenauMord, die offen geäußerte Sympathie, die viele Studenten für die Attentäter hegten, rüttelten die demokratischen Hochschulorganisationen endgültig auf und führten sie erstmals zusammen. An nahezu allen Universitäten bildeten sich [wie in Berlin und Heidelberg] sogenannte ‚republikanische Blocks‘“, u. a. in Jena, München, Freiburg, Bonn oder Aachen. „Um deren Kampfkraft zu vereinheitlichen und zu verstärken, lud der Jenaer ‚Block republikanischer Studenten‘ am 7. Juli 1922 zu einer Reichskonferenz ein, an der sich Studentenorganisationen aus 18 Hochschulen beteiligten“,12 und die mit der Gründung des ‚Reichskartells der Deutschen Republikanischen Studentenschaft‘ endete. George Wolfgang Felix Hallgarten,13 der sich damals noch Wolfgang Hallgarten nannte und wie seine Heidelberger Studienfreunde Carlo Mierendorff und Theodor Haubach14 dem Sozialistischen Studentenbund angehörte, hat in seiner Autobiographie die Genese des seit Ende 1921 virulenten Plans zur Gründung einer „Reichsorganisation der republikanischen Studenten“, der die Studentenverbände der Sozialdemokraten, der Demokraten sowie des Zentrums und die freie Studentenschaft angehören sollten, aus seiner Sicht dargestellt.15 In München, wohin er mit Beginn des Sommersemesters 1922 zurückgekehrt war, nahm sein Plan mit der Gründung des ‚Studentendiensts des Republikanischen Reichsdiensts‘, „einer Unterabteilung des Republikanischen Reichsbunds“, konkrete Formen an, zumal er über den Frankfurter Reichstagsabgeordneten der MSPD, Dr. Max Quarck,16 aber auch den liberalen Verleger und Chefredakteur des ‚Berliner Tageblatts‘, Theodor Wolff,17 in Berlin zahlreiche Kontakte zu politisch Verantwortlichen, allen voran dem damaligen sozialdemokratischen Reichsinnenminister Adolf Köster, knüpfen konnte.18 Der Boden war demnach bereitet, um fünf Wochen nach dem Rathenau-Mord schnell handeln zu können. Vom 31. Juli bis zum 1. August 1922 tagten auf Einladung der Jenaer Gruppe die Sprecher verschiedener

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Vgl. Christian Peters und Arno Weckbecker, Auf dem Weg zur Macht. Zur Geschichte der NS-Bewegung in Heidelberg 1920–1934. Dokumente und Analysen. Mit einem Vorwort von Prof. Dr. Hartmut Soell, Heidelberg 1983, S. 63–72. Walter, Intellektuellenorganisationen (Anm. 8), S. 70. Zu George W. F. Hallgarten vgl. neben der zitierten Autobiographie Joachim Radkau, George W. F. Hallgarten, in: Deutsche Historiker, Band 6, hg. von Hans-Ulrich Wehler, Göttingen 1980, S. 103–118. Zu Theodor Haubach vgl. Peter Zimmermann, Theodor Haubach (1896–1945). Eine politische Biographie, München 2004. George W. F. Hallgarten, Als die Schatten fielen. Erinnerungen vom Jahrhundertbeginn zur Jahrtausendwende, Berlin 1969, S. 112. Zu Dr. Ernst Max Quarck vgl. Kai Gniffke, Genosse Dr. Quarck. Max Quarck – Publizist, Politiker und Patriot im Kaiserreich, Frankfurt am Main 1999. Zu Theodor Wolff vgl. zuletzt Bernd Sösemann, Theodor Wolff. Journalist, Weltbürger, Demokrat, Berlin/Teetz 2004; als erw. Aufl.: Ders., Theodor Wolff. Ein Leben mit der Zeitung, Stuttgart 2012. Hallgarten, Schatten (Anm. 15), S. 114.

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republikanischer Studentenverbände, „im ganzen etwa sechzig Leute, darunter auch die Leiter des pazifistischen Studentenbunds, [. . .] und beschlossen die Gründung einer Organisation, die den Studentendienst ablösen und die Bewegung verbreitern sollte: sie erhielt den Namen Kartell Republikanischer Studenten Deutschlands und Österreichs.“19 Maßgeblichen Einfluss auf das Zustandekommen der Konferenz hatten jedoch auch Harry Graf Kessler20 und der Bankier, Politiker der USPD und Mitglied zahlreicher Aufsichtsräte, Hugo Simon,21 die gemeinsam mit einer Bürgschaft in Höhe von 50 000 Mark die Finanzierung der Tagung in Jena übernahmen.22 Zugleich schrieb Graf Kessler einen Zirkularbrief „in Sachen des republikanischen Studentenkartells [. . .] an eine Anzahl Grossindustrieller“,23 die auf durchaus fruchtbaren Boden fiel, da fast alle Mitglieder des ‚Komitee[s] der Grossindustrie für Studentenhilfe‘ äußerst unzufrieden „über die politische Verwendung der Gelder durch Hugenberg“24 waren.25 „Besonders Deutsch26 u[nd] Duisberg27 hätten sehr energisch die allgemeine Unzufriedenheit [. . .] zum Ausdruck gebracht“, unterrichtete das Vorstandsmitglied des Reichsverbands der Deutschen Industrie, Hans Kraemer,28 Graf Harry Kessler und „ermunterte [ihn] energisch fortzufahren.“29 Auf diese Weise politisch und finanziell unterstützt, tagten die 50 bis 60 Teilnehmer deutscher Hochschulen – selbst aus Königsberg und aus dem österreichischen Wien waren Delegierte angereist – im Gasthaus ‚Sonne‘ am Markt. Im Namen der Jenaer Studenten begrüßte der Vorsitzende der demokratischen Studentengruppe, Arvid Harnack,30 der spätere Wirtschaftswissenschaftler und Widerstandskämpfer der sogenannten Roten Kapelle,31 die Delegationen. „Die demokratischen Studenten führte der untersetzte und fette, mit Berliner Humor begabte, brillentragende Hans

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Ebd., S. 115. Zu Harry Graf Kessler vgl. zuletzt Laird McLeod Easton, Der rote Graf. Harry Graf Kessler und seine Zeit, Stuttgart 2005; Friedrich Rothe, Harry Graf Kessler, Berlin 2008. Zu Hugo Simon vgl. Frithjof Trapp, Die Autobiographie des Bankiers und Politikers Hugo Simon. Politische Reflexion im Medium des deutschen Realismus, in: Exil 6 (1986), H. 2, S. 30–38. Kessler, Tagebuch (Anm. 6), S. 536 f. Ebd., S. 537. Zu Alfred Hugenberg vgl. zuletzt Klaus Wernecke und Peter Heller, Der vergessene Führer. Pressemacht und Nationalsozialismus, Hamburg 1982. Kessler, Tagebuch (Anm. 6), S. 538. Felix Deutsch (1858–1928), seit 1915 Vorstandsvorsitzender der AEG. Carl Duisberg (1861–1935), Chemiker, seit 1912 Generaldirektor und Vorstandvorsitzender der Farbenfabriken vorm. Friedrich Bayer & Co, 1925–1935 Vorstandsvorsitzender der I. G.Farbenindustrie AG. Hans Kraemer (*1870), Gründer der Rotophot-Gesellschaft für graphische Industrie; 1919–1933 Präsidiumsmitglied des Reichsverbands der Deutschen Industrie. Kessler, Tagebuch (Anm. 6), S. 538. Zu Arvid Harnack vgl. zuletzt u. a. Stefan Roloff, Die Rote Kapelle, Berlin 2002. Jürgen John, Zum Wirken kommunistischer Studenten in Jena 1922/23. Die kommunistische Studentengruppe an der Universität Jena und das Kartell der Deutschen Republikanischen Studentenschaft, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 31 (1983), S. 605–625, hier: S. 609.

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Helmuth Preuss,32 Sohn des Rechtsanwalts Hugo Preuss, des Vaters der Weimarer Verfassung“, aus Berlin;33 an der Spitze der Zentrumsstudenten stand Hermann Kopf34 aus Freiburg, der dort unmittelbar nach dem Rathenau-Mord zusammen mit seinem späteren Schwager und Vertreter des Windthorstbundes, Johannes Schauff,35 einen ‚Republikanischen Studentenbund‘ gegründet hatte.36 An der Spitze der sozialistischen Studenten stand „Otto Stammer,37 untersetzt, schlank und blond, mit Brille auf ziemlich spitzer Nase, wohl Sohn eines Gastwirts aus Leipzig und Student an der dortigen Universität . . .“.38 Die Gruppe der Pazifisten führte der (Kunst-)Historiker Wolfgang Medding an, der als „radikal, aber nicht allzu selbstsicher galt“.39 Wichtige Referate hielten zudem der Vorsitzende der Berliner Sozialistischen Studentengruppe Ernst Nölting40 sowie „der linke Sozialdemokrat Ludwig Kantorowicz“.41 Überschattet wurde das Treffen von Anfang an von der Frage, ob kommunistische Studenten dem geplanten Kartell angehören sollten oder nicht. Vehement setzten sich die Sprecher der Kommunisten für einen Beitritt ein: zum einen der später als Parteitheoretiker hervorgetretene Jenaer Jurist und Privatdozent, Karl Korsch,42 der im Mai zusammen mit dem ungarischen Philosophen und Literaturwissenschaftler Georg Lukács43 und dem später als Spion Stalins Furore machenden Richard Sorge44 eine „Sommerakademie“ im Thüringer Wald abgehalten hatte, zum anderen der Führer der Kommunistischen Jugend Berlins, Hermann Jacobs.45 Aber trotz der

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Hans Helmuth Preuß, geboren 19. 12. 1901 in Berlin; nach dem Studium Rechtsanwalt in Berlin; ab 1933 Ergänzungsstudium in Paris, anschließend Emigration nach Frankreich; Einbürgerung 1939; Rechtsanwalt in Paris; gestorben am 14. 12. 1983 in Paris. Hallgarten, Schatten (Anm. 15), S. 115. Zu Hermann Kopf vgl. Ursula Kopf-Wendling und Helmut Bender, Hermann Kopf. Rückblicke. Zum 90. Geburtstag, Neustadt an der Aisch 1991. Zu Johannes Schauff vgl. Dieter Marc Schneider, Johannes Schauff (1902–1990). Migration und „Stabilitas“ im Zeitalter der Totalitarismen, München 2001. Ebd., S. 35. Johannes Schauff leitete später auch die Gruppen des Kartells in Berlin und Leipzig. Zu Otto Stammer vgl. Politologie und Soziologie. Otto Stammer zum 65. Geburtstag, hg. von Jürgen Fijalkowski, Wiesbaden 1965. Hallgarten, Schatten (Anm. 15), S. 115. Ebd., S. 115. Ernst Nölting (1901–1967), der jüngere Bruder des sozialdemokratischen Politikers Erik Nölting, studierte in Berlin, war danach bis 1933 Leiter der Fachschule für Wirtschaft und Verwaltung in Berlin; nach dem Dritten Reich gehörte er dem Hannoverschen Landtag an und war 1946 vorübergehend Mitglied der von Hinrich Wilhelm Köpf geführten Landesregierung. John, Studenten (Anm. 31), S. 610. Zu Karl Korsch vgl. Michael Buckmiller, Marxismus als Realität. Zur Rekonstruktion der theoretischen und politischen Entwicklung von Karl Korsch, in: Jahrbuch Arbeiterbewegung. Band 1: Über Karl Korsch, hg. von Claudio Pozzoli, Frankfurt am Main 1973, S. 15–85; Artikel ‚Korsch, Karl‘, in: Hermann Weber und Andreas Herbst, Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945, Berlin 2 2008, S. 483 f. Zu Georg Lukács vgl. Rüdiger Dannemann, Georg Lukács zur Einführung, Hamburg 1997. Zu Richard Sorge vgl. vor allem Robert Whymant, Richard Sorge. Der Mann mit den drei Gesichtern, Hamburg 1999. Zu Hermann Jacobs vgl. den Artikel ‚Jacobs, Hermann‘, in: Deutsche Kommunisten (Anm. 42), S. 406 f.

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Fürsprache von Harry Graf Kessler und des sozialdemokratischen Staatsministers Carl Eduard Freiherr von Brandenstein (SPD) stritten sie vergeblich. Die Mehrheit der „demokratischen“ Delegierten weigerte sich, die kommunistischen Studentenorganisationen in das Kartell aufzunehmen oder örtliche Kartellverträge zuzulassen.46 In der Schlusserklärung der Konferenz der Deutschen Republikanischen Studentenschaft hieß es: Der Versuch, die von einzelnen Studentenblocks erwartete gemeinsame Arbeit mit gleichstrebenden Gruppen zu einer vertraglichen Bindung mit den kommunistischen Studenten zu erweitern, wurde durch die Weigerung der Kommunisten zum Scheitern gebracht, sich zu den von dem Reichskartell zur tatkräftigen und wirksamen Bekämpfung der Reaktion beschlossenen Maßnahmen zu bekennen.47

Julius Epstein protestierte im Namen der Jenaer Kommunisten vergeblich,48 und Harry Graf Kessler kommentierte die Zurückweisung des Antrags bitter: Nur die etwas hinterhältigen taktischen Manöver angehender Fraktionspolitiker gegen die Kommunisten (Hellmuth Preuss ist schon der richtige Fraktions Taktiker) misfielen [sic] mir.49

Demgegenüber hob Graf Kessler die gute Rede des Berliner Delegierten Ernst Nölting hervor, wohingegen Hallgarten auf seine Münchner Mitstreiterinnen, die jüdische Jurastudentin Anna Selo50 und Else Reventlow,51 die Schwiegertochter der bekannten Schriftstellerin Franziska von Reventlow, sowie seinen Kommilitonen Hilger von Scherpenberg52 verwies. Die programmatischen Richtlinien, die der in Freiburg bereits als außerplanmäßiger Professor lehrende Jurist Dr. Hermann Kantorowicz entworfen hatte, unterstrichen, dass das Kartell „in gewisser Hinsicht eine verspätete Renaissance demokratisch-nationaler Burschenschaftstradition und 1848er Denkens, synthetisiert zudem mit sozialdemokratischen Prinzipien“, verkörperte.53 Ihr Ziel war der Schutz der Republik und der Kampf gegen das nicht nur an den Universitäten grassierende antidemokratische, chauvinistische und revanchistische Gedankengut der Republikfeinde:

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John, Studenten (Anm. 31), S. 610. Ebd., S. 618. Ebd., S. 619. Kessler, Tagebuch (Anm. 6), S. 540. Anna Selo(-Stewart), geboren 29. Dezember 1896 in Sonneberg, nach 1933 Emigration ins Vereinigte Königreich, gestorben 13. Januar 1969 Bristol/Großbritannien. 51 Charlotte Pauline Else (zu) Reventlow, geborene Reimann, geboren am 3. Februar 1897 in Elbing, Studium in München, seit 1921 verheiratet mit Rolf (von) Reventlow, aktive Sozialistin und Frauenrechtlerin, 1933 Emigration in die Schweiz, Scheidung, nach 1945 Rückkehr nach München, Arbeit als Journalistin und Herausgeberin der Werke ihrer (vormaligen) Schwiegermutter. 52 Albert-Hilger von Scherpenberg, geboren am 4. Oktober 1899 in München, gestorben am 12. September 1969 in Hohenpeißenberg (Schwiegersohn des ehemaligen Reichsministers und Reichsbankpräsidenten Hjalmar Schacht) war deutscher Diplomat; im Dritten Reich als Mitglied des Widerstandes im Solf-Kreis zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt; nach dem Krieg im Bundeswirtschaftsministerium, als Staatssekretär im Auswärtigen Amt (1958–1961) und als deutscher Botschafter beim Vatikan (1961–1964) tätig. 53 Walter, Intellektuellenorganisationen (Anm. 8), S. 70

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Wir bekennen uns zur Republik als der einzigen Staatsform, die den inneren Frieden gewährleisten kann und damit die Voraussetzungen für künftiges Gedeihen des deutschen Vaterlandes und Volkes gibt. Wir bekennen uns zur Republik zugleich aus der Erkenntnis heraus, daß sie die einzige und sichere Gewähr für die Erhaltung der deutschen Einheit, daß sie weiter die Voraussetzung für die Verwirklichung des großdeutschen Gedankens darstellt, den zuerst die 48er Demokraten in seiner vollen Größe und Erhabenheit ausgesprochen und den heute wiederum nur wir Republikaner verwirklichen können. Und uns bewegt beim Bekennen zur Republik ferner der Gedanke an die Völkergemeinschaft, die Ablehnung der Völkerverhetzung, in einem: der Menschheitsgedanke.54

So war es nur konsequent, wenn die in Jena Versammelten die Auflösung aller antirepublikanischen Studentenvereinigungen und die Relegation aller Studenten, die gegen das Republikschutzgesetz verstießen, ebenso verlangten wie die „strengste Maßregelung derjenigen Dozenten, die ihr Lehramt zu anti-republikanischer Propaganda oder Parteiorganisation oder ihrer Duldung mißbrauchen.“55 Dass sie sich klar vom Antisemitismus der völkischen Gruppierungen distanzierten und jüdische Studenten als gleichberechtigte Staatsbürger akzeptierten, liegt auf der Hand, denn das Kartell verstand sich als „Antwort auf die Wandlung der völkischen Bewegung zur Kampforganisation.“56 Doch im Gegensatz zu dieser fehlte dem Kartell der Zuspruch der deutschen Studierenden. Es gelang ihm nicht, zu einem ernsthaften Konkurrenten der deutsch-nationalen, völkischen oder nationalistischen Verbände und schlagenden Verbindungen aufzusteigen. Darüber können alle Bemühungen zum Aufbau einer schlagkräftigen Organisation am Ende der turbulenten Tagung nicht hinwegtäuschen. Satzungsgemäß wählten die Anwesenden einen Siebener-Ausschuss,57 dem unter anderem die genannten Studentenvertreter Hans Helmuth Preuß (Reichsbund deutscher demokratischer Studenten), Hermann Kopf (Katholische Studenten), Otto Stammer und Wolfgang Hallgarten (Sozialistische Studentenschaft Deutschlands und Österreichs) sowie der Gründer des Bonner Republikanischen Studentenkartells, der sozialdemokratische Student der Rechtswissenschaft und Volkswirtschaft, Walter Kolb,58 angehörten. Sitz der Zentrale und des Sekretariats war München, wo man sich in der Wohnung des verstorbenen Justizrats Max Bernstein, in der Briennerstraße, einrichtete, sodass Hallgarten, wie er es selbst formulierte, „bis zur nächsten Tagung im Jahre 1923“, die an Ostern in Frankfurt am Main stattfand, „praktisch Vorsitzender – aber wir hatten kaum einen solchen Titel – [war]“,59 dann aber als Ehrenmitglied aus der aktiven Studentenbewegung ausschied. In der Münchner Gruppe arbeitete 1922/23 ebenfalls der Student der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, der spätere Journalist und Autor, Konrad Heiden.60 Erster Sekretär des Kartells wurde jedoch auf 54 55 56 57 58 59 60

Zitiert nach Jürgen Schwarz, Studenten in der Weimarer Republik. Die deutsche Studentenschaft in der Zeit von 1918 bis 1923 und ihre Stellung zur Politik, Berlin 1971, S. 388 f. Ebd., S. 389. Ebd. John, Studenten (Anm. 31), S. 618. Zu Walter Kolb, dem Frankfurter Nachkriegsoberbürgermeister vgl. Helli Knoll, Walter Kolb – ein großer Oberbürgermeister, Frankfurt 1956. Hallgarten, Schatten (Anm. 15), S. 116 f. , Schneider, Schauff (Anm. 35), S. 35 f. Konrad Heiden (Pseudonym: Klaus Bredow), geboren am 7. August 1901 in München, gestorben am 18. Juni 1966 in New York; ab 1920 Studium der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften in

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Vorschlag der Münchner Delegierten der Kunsthistoriker Wilhelm Koeberlin,61 dessen Arbeit Wolfgang Hallgarten posthum scharf kritisierte: Ihm sei es weniger um die politisch-programmatische Profilierung des Kartells gegangen als vielmehr um das Akquirieren von namhaften Spendengeldern, was die Mitgliedsverbände mit Wohlwollen gesehen hätten.62 Auch die Aussage Franz Walters, dass die „Münchner Zentralstelle [. . .] sich mit Aktivitäten sehr zurück“ gehalten habe und „der Öffentlichkeit nach 1923 kaum mehr bekannt“ gewesen sei, muss revidiert werden. Denn von Juni 1925 bis August 1926 gab die Münchner Zentrale die zunächst monatlich erscheinende ‚Republikanische Hochschul-Zeitung‘ heraus.63 Ebenso wenig kann die Rede davon sein, dass das Kartell seine Arbeit bereits 1923 mehr oder weniger eingestellt habe. So fand am 10. Mai 1925 eine Sitzung der Kartellleitung in Leipzig statt, auf der zum einen die Mitglieder des Siebener-Ausschusses bestätigt oder neu gewählt wurden: Anstelle von Dr. Otto Stammer vertrat nun Dr. Otto Friedländer64 den Verband der sozialistischen Studenten, der Jurastudent Hellmuth Jäger und Walter Leidicke repräsentierten den Reichsbund demokratischer Studenten, Hanns Schauff nach wie vor die Arbeitsgemeinschaft republikanischer Zentrumsstudenten sowie Walter Kolb, Max Lichtwitz, der jüdische Jurastudent und spätere Syndikus der jüdischen Gemeinde Berlins, sowie Paul Rosenberg die Republikanischen Studentenbünde und Arbeitsgemeinschaften; Dr. Wolfgang Hallgarten gehörte dem Vorstand weiterhin als außerordentliches Mitglied an.65 Für das Wintersemester 1924/25 vermeldete die Redaktion Aktivitäten zahlreicher Ortsgruppen an den Universitäten von Berlin, Bonn, Breslau, Erlangen, Frankfurt, Freiburg, Graz, Halle, Hamburg, Heidelberg, Jena, Kiel, Köln, Königsberg, Leipzig, München, Münster, Tübingen, Wien und Würzburg, an den Technischen Hochschulen von Aachen, Darmstadt, Karlsruhe und Stuttgart sowie an den Handelshochschulen von Mannheim und Nürnberg.66 Im Zentrum der weiteren Berichterstattung der ‚Republikanische[n] Hochschul-Zeitung‘ des Jahres 1925 standen Nachrichten der 1924 noch vor dem Beitritt der Weimarer

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München; 1922 Vorsitzender der dortigen Gruppe des Republikanischen Studentenkartells und der Republikanischen Studentenunion; als Student und Journalist (Münchner Korrespondent der Frankfurter Zeitung und der Vossischen Zeitung) beobachtete er die politische Szene Münchens und den Aufstieg Hitlers und der Nationalsozialisten aus nächster Nähe; Exil in Frankreich und in den USA; vgl. Art. Konrad Heiden, in: Lexikon deutsch-jüdischer Autoren, Band 10, München 2002, S. 297–304. Wilhelm Koeberlin (geboren 19. Oktober 1893) in Erlangen; Kunsthistoriker und Kunsthändler. Hallgarten, Schatten (Anm. 15), S. 121–125: Nummer 1 erschien im Juni 1925 in München noch unter dem Titel ‚Nachrichten des Kartells republikanischer Studenten Deutschlands und Deutsch=Oesterreichs‘, ab Nummer 2 unter dem Titel ‚Republikanische Hochschul-Zeitung‘. 1922 erschienen 6 Nummern, 1923 die Nummern 1/2, 3, 4/5 und 6/8. Für den Inhalt verantwortlich zeichnete W. Koeberlin. Otto Friedländer, geboren am 5. Mai 1897 in Berlin; er war Dr. rer. pol., Wirtschaftsjournalist und Mitglied der SPD sowie des Sozialistischen und Republikanischen Studentenverbandes Deutschlands, dessen Vorsitzender er 1924 bis 1929 war. Von 1926–1932 war er ferner Vorsitzender und Sekretär der Sozialistischen Studenteninternationalen und Obmann der deutschen Liga für den Völkerbund. Im März 1933 emigrierte er in die Tschechoslowakei, 1938 nach Norwegen und 1940 nach Schweden, wo er am 3. Februar 1954 verstarb; vgl. . Nachrichten des Kartells (Anm. 63), Heft 1 (1925), S. 4. Siehe Ebd., 4–6.

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Republik zum Völkerbund gegründeten ‚Zentralstelle für studentische Völkerbundsarbeit in Deutschland‘, die Mitglied der ‚Fédération Universitaire Internationale pour la Société des Nations‘ (FUI) war, deren Exekutivkomitee Hermann Kopf angehörte. Die FUI organisierte Tagungen mit Repräsentanten des Völkerbunds in verschiedenen Städten Europas. So nahmen an einer solchen Zusammenkunft im Herbst 1924 der Mitbegründer der deutschen Zentralstelle Johannes Schauff,67 aber auch Hilger von Scherpenberg, Hans Helmuth Preuß, Anna Selo, Otto Stammer und nicht zuletzt Wolfgang Hallgarten teil.68 Die Hefte des Jahrgangs 1926 widmeten sich vor allem der Frage des Anschlusses Deutsch-Österreichs sowie den Auseinandersetzungen um das neue preußische Studentenrecht sowie dem Studententag desselben Jahres. Zu den Autoren der zahlreichen Artikel zählten neben den bereits mehrfach genannten Repräsentanten des Reichskartells vor allem Politiker der Weimarer Parteien und republikanisch gesinnte Professoren. Erleichtert wurde die Zusammenarbeit dadurch, dass die Mitglieder des Studentenkartells der ersten Stunde ihr Studium beendeten und anderen Organisationen beitraten oder diese sogar organisierten. Damit stellten sie die Arbeit des Studentenkartells lokal oder regional zwar auf eine breitere Basis, aber das Studentenkartell verlor nach und nach viele seiner engagiertesten Mitstreiter. So organisierte der Initiator des ‚Republikanischen Studentenkartells‘ in Heidelberg, der Philosophiestudent und spätere Widerstandskämpfer Theodor Haubach, ab 1924 die republikanische Schutztruppe des ‚Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold,‘69 gab die Bundeszeitung ‚Reichsbanner‘ heraus, beteiligte sich an den Tagungen des reformsozialistischen ‚Hofgeismarer Kreises‘ und arbeitete mit Carlo Mierendorff, Adolf Reichwein, Hendrik de Man und Emil Lederer im Redaktionsbeirat der ‚Neuen Blätter für den Sozialismus‘ mit.70 Seinen vielfältigen Aktivitäten stand nicht nur der bereits mehrfach erwähnte Carlo Mierendorff, wie Haubach Gründungsmitglied des Heidelberger ‚Republikanischen Kartells‘ und später des ‚Kreisauer Kreises‘, kaum nach, sondern auch der Aktionsradius des sozialdemokratischen Juristen Walter Kolb, der nach 1924 zu einem führenden Funktionär des ‚Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold‘ avancierte.71 Auch das Engagement ihrer katholischen Mitstreiter aus Freiburg blieb nicht auf die eigene Universität beschränkt. Johannes Schauff zum Beispiel pflegte enge

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Schneider, Schauff (Anm. 35), S. 36. Hallgarten, Schatten (Anm. 15), S. 130. Zum Reichsbanner vgl. zuletzt Karl Rohe, Das Reichsbanner Schwarz Rot Gold. Ein Beitrag zur Geschichte und Struktur der politischen Kampfverbände zur Zeit der Weimarer Republik, Düsseldorf 1966; Carsten Voigt, Kampfbünde der Arbeiterbewegung. Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold und der Rote Frontkämpferbund in Sachsen 1924–1933, Köln/Weimar/Wien 2009; Benjamin Ziemann, Die Zukunft der Republik? Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold 1924–1933, Bonn 2011. 70 Vgl. Norbert Giovannini, Zwischen Republik und Faschismus. Heidelberger Studentinnen und Studenten 1918–1945, Weinheim 1990, S. 74 f. 71 Vgl. Wolfgang Freiligrath, Walter Kolb und das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold im Jahre 1925 (Dokumente aus dem Nachlass Wolfgang Freiligraths [1847–1936]), hg. von Hartmut Gürtler u. a., Gondershausen 2002; Wolfgang Freiligrath, Walter Kolb und das Reichsbanner SchwarzRot-Gold im Jahre 1926 (Dokumente aus dem Nachlass Wolfgang Freiligraths [1847–1936]), hg. von Hartmut Gürtler u. a., Gondershausen 2005.

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Verbindungen zum ‚Hofgeismarer Kreis‘ und zur internationalen Friedensbewegung, Hermann Kopf zur FUI.72 All dies unterstreicht, dass von einem Einstellen der Arbeit des ‚Republikanischen Studentenkartells‘ vor seinem definitiven Ende 1927 keine Rede sein kann, ja, dass auch ein Rückgang der Aktivitäten vor Ende 1926 nur lokal begrenzt zu beobachten ist. Vielmehr scheint der neue „Schub republikanisch-studentischer Kooperation auch auf der nationalen Ebene“73 , die Franz Walter erst wieder in den Jahren 1927/28 festmachte, nicht primär ein Ergebnis der Stagnation der locker verbundenen Verbände des Studentenkartells, sondern vielmehr das Resultat des entschiedenen Vorgehens des preußischen Kultusministers Carl Heinrich Becker gegen die im Juli 1919 konstituierte ‚Deutsche Studentenschaft‘ (DSt) gewesen zu sein. Denn in den anfangs meist unpolitischen Allgemeinen Studentenausschüssen gewannen spätestens seit 1923 völkische – ebenso antisemitische wie fremdenfeindliche – Korporationen die Oberhand und dominierten die Minderheit der Republikaner. Deshalb legte „Becker [. . .] den Entwurf für ein neues Studentenrecht vor, dessen Grundlage das Staatsbürgerprinzip war und das rassistisch begründete Ausgrenzungen unmöglich machte; jeder Student deutscher Staatszugehörigkeit sollte das aktive und passive Wahlrecht ausüben dürfen, für eine Koalition mit den österreichischen ‚Deutschariern‘ hingegen bot der Beckersche Entwurf keinen Raum mehr“.74 Aber da der Minister, der seinen Entwurf an den preußischen Hochschulen ohne Not zur Abstimmung stellte, nach einer dramatischen Niederlage – 77 % votierten gegen ihn – den Allgemeinen Studentenausschüssen und der ‚Deutschen Studentenschaft‘ die staatliche Anerkennung entzog, musste er es hinnehmen, dass die rechtsgerichteten Studenten Mitte Dezember 1927 in eigener Regie ‚Freie Studentenschaften‘ gründeten „und mit dem Anspruch auf Gesamtvertretung der Studentenschaft auftraten“.75 Die republikanischen Studenten indes beantworteten dieses Vorpreschen der national-völkischen Gruppierungen auf der Tagung des ‚republikanischen Studentenkartells‘ am 11. Dezember 1927 in Heidelberg, der letzten des Kartells, zum einen ebenfalls mit der Bildung Freier Studentenschaften. Wenige Wochen später, am 4. und 5. Februar 1928, konstituierten sie in Berlin den vom ‚Verband der Sozialistischen Studentengruppen‘, vom ‚Demokratischen Studentenverband‘, von den linken Flügeln der ‚DVP-Gruppen‘ und des ‚Zentrumsstudentenverbands‘ sowie weiteren freiheitlichen Korporationen und kleineren jüdischen wie pazifistischen Organisationen getragenen ‚Deutschen Studentenverband‘ (DStV).76 Zum anderen gründeten die in Heidelberg versammelten Studenten als Nachfolgeorganisation des ‚Studentenkartells‘ den ‚Deutschen Republikanischen Studentenbund‘ (DRSB), der die eher lockere Vereinigung der Mitgliederverbände des ‚Kartells‘ durch einen festen ‚Bund‘ ersetzen sollte. Gründer und erster Vorsitzender des ‚Republikanischen

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Schneider, Schauff (Anm. 35), S. 36. Walter, Intellektuellenorganisationen (Anm. 8), S. 71. Ebd., S. 73. Ebd., S. 74. Ebd.

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Studentenbundes‘ war Walter Kolb, der bereits seit Jahren „zu den hartnäckigen und unverdrossenen Vorkämpfern für ein Zusammenwirken aller republikanischen Kräfte, besonders der Jugend, gleich welcher Partei, Religion und Weltanschauung sie auch im einzelnen anhingen“,77 gehörte und entscheidend dazu beitrug, dass die Universität Bonn zu den wenigen republikanischen Hochburgen unter den deutschen Universitäten zählte.78 Freilich stieß die Initiative Kolbs beim ‚Verband sozialistischer Studenten‘, dessen Vorstand er ebenfalls angehört hatte, auf große Vorbehalte, sodass die Heidelberger Versammlung beschloss, die „Mitgliedschaft im DRSB nur an solchen Orten zu dulden, in denen noch keine Gruppen der sozialistischen Studentenschaft existierten“.79 Dieser Beschluss war jedoch nicht durchzuhalten und musste, da viele sozialdemokratische Studenten ihn ignorierten, auf der Berliner Reichskonferenz im Dezember 1930 aufgehoben werden.80 Die universitären Zentren der republikanischen Studenten blieben weitgehend konstant, aber vor Ort übernahm eine neue Studentengeneration die politische Arbeit. Auf Walter Kolb folgte der „später von dem grausamen Gauleiter Julius Streicher aus der Stadt Nürnberg verwiesene junge Rechtsanwalt Philipp Speicher, der aus der katholischen Jugendbewegung kam“,81 ihm wiederum der sozialdemokratische Student der Elektrotechnik Leo Brandt, der schon als Schüler dem Reichsbanner ‚Schwarz-Rot-Gold‘ beigetreten war und bereits in seinem ersten Semester an der Technischen Hochschule Aachen dort die Ortsgruppe des ‚Republikanischen Studentenbundes‘ gegründet hatte.82 Letzter Vorsitzender war der zum Kreis um Carlo Mierendorff zählende sozialistische Student Dr. Curt Bley, der nach dem Krieg der Hamburger SPD angehörte und von 1947 bis 1954 stellvertretender Chefredakteur der in Hamburg erscheinenden Zeitung ‚Die Welt‘ war. Das Berliner Büro des Studentenbunds befand sich in den Räumen des ‚Deutschen Republikanischen Reichsbunds‘, zu dessen Vorsitzendem, dem Vorstandsmitglied des Reichsbanners, Zentrumsmann und damaligen Ministerialdirektor Carl Spiecker, Brandt ebenso gute Kontakte pflegte wie zu dem sozialdemokratischen Reichstagspräsidenten Paul Löbe. Als enge Vertraute gewann er unter den Mitgliedern des ‚Republikanischen Studentenbunds‘, allen voran Kolb und Speicher, aber auch den Regierungsrat im preußischen Handelsministerium, das (Vorstands-)Mitglied der DDP und ab 1931 der SPD, Hans Muhle83 , sowie die Sozialdemokraten Erwin Simon und Werner

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Ebd., S. 71. Ebd. Ebd. Ebd., S. 71 f. Leo Brandt, Forschen und Gestalten. Reden und Aufsätze. 1930–1962, Köln und Opladen 1962, S. 654. Zu Leo Brandts Biographie, vor allem zu seiner Bedeutung als Wissenschafts- und Wirtschaftsförderer des Landes Nordrhein-Westfalen, vgl. Bernhard Mittermaier und BerndA. Rusinek, Leo Brandt (1908–1971) Ingenieur – Wissenschaftsförderer – Visionär. Zum 100. Geburtstag des nordrhein-westfälischen Forschungspolitikers und Gründers des Forschungszentrums Jülich, Jülich 2008. 82 Brandt, Forschen (Anm. 81), S. 653 f. 83 Hans Muhle (1899–1979), nach seiner Promotion Regierungsrat in Berlin; Mitglied des Leuchtenbergkreises, Mitbegründer des Sozialrepublikanischen Kreises der DDP, 1929/30 im DDPParteivorstand, 1931 Wechsel zur SPD; nach Entlassung (1933) und vorübergehender Haft

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Jacobi.84 Der Jurastudent Jacobi85 ist 1927 letzter Vorsitzender der Heidelberger Gruppe des ‚Republikanischen Studentenkartells‘ gewesen und hatte dort Ende desselben Jahres die neue Gruppe des ‚Republikanischen Studentenbundes‘ mitbegründet, dessen Vorstand er später auch angehörte.86 An der Handelshochschule Mannheim bestand in den letzten Jahren der Weimarer Republik unter der Führung von Helmut Wolfgang Faißt, Kurt Hirche und Fritz Corterier87 eine ‚Vereinigung republikanischer Studierender‘, der größtenteils sozialistische Studenten angehörten.88 Besonders hervorzuheben ist die Organisation eines ‚Deutsch-Französischen Studententreffens‘ vom 16. bis 21. September 1930,89 wenige Wochen nachdem die französischen Soldaten die linksrheinische Besatzungszone verlassen hatten. Immerhin fünf französische Studentenorganisationen hatten ihre Vertreter zu dem Treffen ebenso entsandt wie Studentenverbände der Weimarer Parteien sowie der DVP und des Jungdeutschen Ordens, das Corterier mit einer „Botschaft über die Vereinigten Staaten Europas“90 programmatisch abschloss. Seit Sommersemester 1927 kam es auch an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster zur Neugründung des vorübergehend 1924/25 aktiven ‚Republikanischen Studentenbunds‘, in dem sich mehrheitlich katholische Studenten des Windthorstbundes, die auch das Reichsbanner ‚Schwarz-Rot-Gold‘ unterstützten, organisierten.91 Hervorzuheben sind der Jurastudent Helmut Bertram92 und sein Kommilitone Carl Freitag. Demgegenüber

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(1936) Emigration in die USA, wo er als George M. Merten in exilpolitischen Kreisen sowie für den amerikanischen wie britischen Geheimdienst tätig war. Vgl. Brandt, Forschen (Anm. 81), S. 654. Werner Jacobi (1907–1970), Studium der Rechts- und Staatswissenschaften in Freiburg, Berlin, Heidelberg und Bonn, seit 1923 Mitglied der SPD, 1933 aus dem Staatsdienst entlassen, 1937–1945 Gestapo- und KZ-Haft, nach dem Krieg u. a. Oberbürgermeister der Stadt Iserlohn, Mitglied des Zonenbeirats und des Bundestags (1949–1970). Universitätsarchiv Heidelberg B-8410/57. Dem Heidelberger Vorstand von 1927 gehörten außerdem die Studenten der Philosophischen Fakultät Georg Böse und Erich Zimmermann (1929 in Heidelberg mit einer Arbeit über das Thema „Der deutsche Reformverein“ promoviert) an sowie die Studenten der Staatswissenschaftlichen Fakultät Werner Pritschow und Heinrich Liepmann (Promotion 1931 bei Alfred Weber; vgl. seinen Beitrag Erinnerungen an Karl Jaspers aus den Jahren 1925–1936, in: Erinnerungen an Karl Jaspers, hg. von Karl Piper und Hans Saur, München 1974, S. 47–52). Fritz Louis Wilhelm Corterier (1906–1991), 1927–1933 Studium der Wirtschaftswissenschaften in Mannheim; 1928 Mitglied des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes und der Vereinigung Republikanischer Studierender, 1929 Eintritt in die SPD; nach dem Krieg in der SPD Karlsruhe aktiv, 1953–1969 MdB; 1967–1970 Mitglied des Europaparlaments. Reinhard Bollmus, Handelshochschule und Nationalsozialismus. Das Ende der Handelshochschule Mannheim und die Vorgeschichte der Errichtung einer Staats- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät an der Universität Heidelberg 1933/34, Meisenheim am Glan 1973, S. 34–50. Ebd., S. 39. Ebd.; Wilhelm Kreutz, Professoren und Studenten der Mannheimer Handelshochschule und die „Rheinlandbesetzung“ (1923–1930), in: Jahrbuch der Hambach Gesellschaft 20 (2013), S. 129–141. Rainer Pöppinghege, Absage an die Republik. Das politische Verhalten der Studentenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster 1918–1935, Münster 1994, S. 135. Helmut Bertram (1819–1981), Jurastudium in Münster und München, seit 1925 Mitglied der Zentrumspartei, 1936 Assessorexamen; nach 1945 Rechtsanwalt und Notar in Soest; von 1949 bis 1953 MdB.

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hielt die Gießener ‚Republikanische Studentengruppe‘ ihre Gründungsversammlung im Januar 1929 ab.93 Ihr gehörten zunächst zwölf Mitglieder an, die im Februar 1929 immerhin vier von 25 Sitzen des Allgemeinen Studentenausschusses gewinnen konnten, jedoch ihre Arbeit Ende 1930 einstellten, da inzwischen die republikanischen, demokratischen, sozialistischen und katholischen Studenten eine ‚Republikanische Arbeitsgemeinschaft‘ gegründet hatten, die jedoch nicht verhindern konnte, dass der ‚Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund‘ bei den AStA-Wahlen des Jahres 1931 – nach Erlangen und Greifswald – nun auch in Gießen die absolute Mehrheit von Stimmen und Sitzen errang.94 Zu den bekannten Mitgliedern der Gießener Vereinigungen gehörte der aus Darmstadt stammende Dr. jur. Arvid Harnack, der bereits 1922 bei der Gründung des ‚Republikanischen Studentenkartells‘ in Jena hervorgetreten war und in Gießen – nachdem er sein Jurastudium bereits Jahre zuvor abgeschlossen hatte – als stud. rer. pol. der Philosophischen Fakultät angehörte und vor allem die Vorlesungen seines zweiten Doktorvaters, des Nationalökonomen Friedrich Lenz, besuchte.95 In München benannte sich die Ortsgruppe des ‚Republikanischen Studentenkartells‘ nicht um, sondern gehörte unter dem „alten“ Namen auch dem ‚Republikanischen Studentenbund‘ an.96 Dem Vorstand des Jahres 1928/29 gehörten an: der Student der Staatswissenschaften Friedrich Johann Fischer, der Student der Philosophischen Fakultät Adolf Rubinstein97 sowie die Juristen Richard Kitzinger98 und Hugo Woesch.99 Angesichts der zahlreichen personellen Verbindungen überrascht die enge Zusammenarbeit des ‚Republikanischen Studentenbundes‘ mit dem ‚Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold‘100 ebenso wenig wie die mit der 1926 nach langen Vorbereitungen endlich aus der Taufe gehobenen ‚Vereinigung freiheitlicher Akademiker (Der Bund)‘.101 Einer der Höhepunkte der Zusammenarbeit war das am 19. Mai 1929 gemeinsam veranstaltete ‚Wartburgfest der Republikaner‘. Auf der Kundgebung, die erneut ein Zeichen gegen die weit verbreitete Republikfeindlichkeit von Studenten und Professoren setzen sollte, sprach der ehemalige 93

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Andreas Anderhub, Die Gießener Studenten in der Schlussphase der Weimarer Republik oder wie Mildred und Arvid Harnack zu Gegnern des Nationalsozialismus wurden, in: Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins N. F. 65 (1980), S. 87–113, hier: S. 93 f. Ebd., S. 100 f. Ebd., S. 95 f. Vgl. den Artikel „Von den Hochschulen“, in: Bayerische Israelitische Gemeindezeitung (15. Juni 1930), H. 12, S. 192. Nach seinem Weggang aus München promovierte Rubinstein in Basel zum Dr. phil. mit der Arbeit „Die Deutsch-Freisinnige Partei bis zu ihrem Auseinanderbruch (1884–1893)“, die 1935 in Berlin im Druck erschien. Richard Kitzinger konnte seine wirtschaftswissenschaftliche Dissertation 1933 noch in München abschließen und veröffentlichen, bevor er nach Südafrika emigrierte; 1938 entzog man ihm die Doktorwürde; Vgl. Stefanie Harrecker, Degradierte Doktoren. Die Aberkennung der Doktorwürde an der Ludwig-Maximilians-Universität München während der Zeit des Nationalsozialismus, München 2007, S. 79 f. Hugo Woesch promovierte Mitte der 1930er Jahre über das Thema „Der Erbverzicht im Bürgerlichen Gesetzbuch“. Albert Gebhardt, Das Reichsbanner und der Deutsche Republikanische Studentenbund, in: Unser Weg – Unser Ziel!, hg. vom Deutschen republikanischen Studentenbund, Berlin 1930. Herbert Döring, Der Weimarer Kreis. Studien zum politischen Bewusstsein verfassungstreuer Hochschullehrer in der Weimarer Republik, Meisenheim am Glan 1975, S. 78–82.

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Gewerkschaftsfunktionär, Polizeipräsident von Berlin und nunmehrige preußische Innenminister, Albert Grzesinski, der sich entschieden dagegen verwahrte, dass die reaktionären, antirepublikanischen Korporationen die Tradition des Wartburgfestes für sich beanspruchten: Ein Wartburgfest soll heute von Republikanern gefeiert werden! Und wer hätte mehr innere Berechtigung, größeren geschichtlichen Anspruch darauf, [. . .] als deutsche republikanische Studenten, die sich mit Recht als Träger der Tradition bezeichnen können, die auf den historischen Wartburgfesten der deutschen Studentenschaft im vorigen Jahrhundert geschaffen worden ist? [. . .] Und sowohl das Wartburgfest 1817 wie das Wartburgfest im Jahre 1848 [. . .] stand selbstverständlich unter den Farben Schwarz-Rot-Gold, die damals die Freiheitssehnsucht und die Sehnsucht nach einem einigen deutschen Vaterland verkörperten wie auch heute noch nach dem Einheitsstaate.102

Bitter geißelte er den Verrat, den die Studenten an ihrem „große(n) Erbe“ geübt hätten: Der größte Teil der heutigen akademischen Jugend sieht allein sein Heil in der Vergangenheit, sein Heil in REAKTION, HAKENKREUZ und LUDENDORFF. [. . .] Darin liegt eine ungeheure Gefahr, daß diese Studenten, die Demokratie und Republik ablehnen, doch erstreben Beamte des republikanischen Staates zu werden. [. . .] Auch deshalb ist es für mich als Preußischen Minister des Innern [. . .] besonders erfreulich, hier in Eisenach die republikanischen Studenten begrüßen zu können. [. . .] Und ihre Aufgabe ist es, [. . .] dafür zu sorgen, daß die Zahl der Republikaner in dem fachlich vorgebildeten Nachwuchs größer und größer wird, so groß, daß der Staat es in nicht allzu ferner Zeit nicht mehr nötig hat, als seine Beamten und Vertreter Menschen anzustellen, sie sich mit der demokratischen und sozialen Grundeinstellung unseres heutigen Volksstaats nicht im Einklang befinden.103

Doch dies sollte ein unerfüllter Wunsch bleiben. Die Initiativen des ‚Republikanischen Studentenbundes‘ sollten trotz aller Anstrengungen der Verantwortlichen ebenso erfolglos bleiben wie die des ‚Deutschen Studentenverbands‘, dem bis 1930 die sozialistischen Studenten Heinz Ollendorf, Kurt Berlowitz, Heinrich Kaun vorstanden,104 und dessen Vorstand unter anderem der Katholik Felix Raddatz vom ‚Verband der Zentrumsstudenten‘ oder vom Demokratischen Studentenverband die Studenten Joachim Jösten und Walter Grünfeld angehörten,105 in dessen autobiographischen „Rückblicke[n]“ der Abwehrkampf der republikanisch gesinnten Studenten ebenso prägnante wie bedrückende Kontur gewinnt. Dass dieses Eintreten für die erste deutsche Republik bis heute weitgehend unbekannt geblieben und kaum gewürdigt worden ist, überrascht und beschämt zugleich. Denn wie viele der damaligen Akteure Widerstand gegen den Nationalsozialismus leisteten und nicht zuletzt den demokratischen Neubeginn nach 1945 tatkräftig unterstützten, haben die vorstehenden Ausführungen belegt. Was hindert die deutschen Hochschulen daran, an diese demokratischen Vorkämpfer zu erinnern?

102 Rede des Preußischen Ministers des Innern Albert Grzesinski vor den republikanischen Studenten, 19. Mai 1929, in: Unser Weg (Anm. 100), S. 22–26, hier: S. 22 f. 103 Ebd., S. 35 f. 104 Walter, Intellektuellenorganisationen (Anm. 8), S. 74 f. 105 Walter Grünfeld, Rückblicke, hg. von The Echo Library, Teddington/Middlesex 2006.

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ABSTRACT After Walter Rathenau had been killed by two members of the right-wing secret ‘Organisation Consul’ on 24th June 1922, the democratic students of different German universities decided to confront the great majority of antidemocratic, anti-Semitic, and fencing fraternities. From 31st July to 1st August about sixty social-democratic, liberal, and Christian-democratic students of eighteen German universities assembled in Leipzig and founded the ‘Reichskartell der republikanischen Studenten’ (Cartel of Republican Students), which was promoted by Harry Graf Kessler and soon financially supported by important industrialists. From June 1925 to August 1926 the headquarters of the new organization in Munich published the ‘Republikanische Hochschul-Zeitung’ (Republican University-Newspaper). But after the Prussian Minister of Culture, Heinrich Becker, vainly tried to take the ground from under the antidemocratic, anti-Semitic, or “völkische” student organizations in 1927 and the Cartel seemed to be running out of steam, the democratic students reorganized in 1928. They founded the ‘Deutschen Republikanischen Studentenbund’ (German Republican Student Association), which in the following years worked closely together with the ‘Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold’ (Black-Red-Golden Banner of the Realm). Under their active members a lot of later opponents and insurgents of the Third Reich are to be found as well as many members of the future democratic parties of the young Federal Republic of Germany — but all attempts to save the first German republic failed.

„. . . DEN HELDENTOD FÜR KAISER UND REICH ERLITTEN.“ Deutsche Studenten im Ersten Weltkrieg Philip Rosin

Die Rolle der deutschen Universitäten im Ersten Weltkrieg hat in der geschichtswissenschaftlichen Forschung lange Zeit kaum Beachtung gefunden. Selbst in renommierten neueren Veröffentlichungen wie etwa der von Walter Rüegg herausgegebenen vierbändigen ‚Geschichte der Universität in Europa‘ beschränkt sich die Darstellung im dritten Band auf einen kurzen, als ‚Epilog‘ betitelten Abschnitt zu beiden Weltkriegen. In der Überblicksdarstellung ‚Geschichte der europäischen Universität‘ von Wolfgang Weber sind die Ereignisse der Jahre 1914 bis 1918 ebenfalls kaum berücksichtigt.1 Erst nach und nach gerät die Geschichte der Universitäten im Ersten Weltkrieg und ihrer wichtigsten Akteure, der Studenten, in den Blickpunkt der Forschung. Für die deutsche Geschichtsschreibung wegweisend war die im Jahr 2000 erschienene Dissertation von Andrea Wettmann, gefolgt von einem von Trude Maurer herausgegebenen Sammelband zur europäischen Dimension des Themas sowie einem Sammelband von Marc Zirlewagen zur Studentenschaft im Krieg.2 Der Erste Weltkrieg spielt eine wichtige Rolle für die Geschichte der deutschen Universitäten, denn er beeinflusste maßgeblich deren weitere Entwicklung in der Weimarer Republik und in der NS-Zeit. Insbesondere prägte der Krieg die Mentalitäten und politischen Überzeugungen der Universitätsangehörigen.3 Im Folgenden soll auf der Grundlage jüngerer Forschungsergebnisse ein Überblick über die wichtigsten Auswirkungen des Ersten Weltkrieges auf die deutsche Studentenschaft in den Jahren 1914 bis 1918 gegeben werden. Behandelt werden die Reaktionen auf den Kriegsausbruch, die Situation der Studenten als Soldaten an der Front, die Lage der an den Universitäten verbliebenen Studenten und die Fürsorgemaßnahmen für studentische Kriegsteilnehmer. Abschließend wird kurz auf die Situation von studentischen Minderheiten im Krieg eingegangen. In dieser Untersuchung soll der Versuch

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Notker Hammerstein, Epilog. Universität und Kriege im 20. Jahrhundert, in: Geschichte der Universität in Europa, hg. von Walter Rüegg, Bd. 3: Vom 19. Jahrhundert zum Zweiten Weltkrieg (1800–1945), München 2004, S. 515–545; Wolfgang E. J. Weber, Geschichte der europäischen Universität, Stuttgart 2002. Andrea Wettmann, Heimatfront Universität. Preußische Hochschulpolitik und die Universität Marburg im Ersten Weltkrieg (Abhandlungen zum Studenten- und Hochschulwesen 9), Köln 2000; Trude Maurer (Hg.), Kollegen – Kommilitonen – Kämpfer. Europäische Universitäten im Ersten Weltkrieg (Pallas Athene 18), Stuttgart 2006; Marc Zirlewagen (Hg.), „Wir siegen oder fallen“. Deutsche Studenten im Ersten Weltkrieg (Abhandlungen zum Studenten- und Hochschulwesen 17), Köln 2008. Peter Moraw, Kleine Geschichte der Universität Gießen 1607–1982, Gießen 1982, S. 193.

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unternommen werden, die studentischen Verhaltens- und Denkweisen intensiver zu historisieren, sprich: sie stärker aus der damaligen Zeit heraus zu betrachten und zu verstehen. Gerade die Studenten waren in doppelter Hinsicht in hierarchische Strukturen eingebunden, die ihre individuellen Handlungsmöglichkeiten einschränkten; zum einen durch die häufige Anbindung an eine studentische Korporation, zum anderen durch den prägenden Einfluss der Professoren als ihre Lehrer und Autoritätspersonen.

STUDENTEN IM KAISERREICH Die Institution der Universität ist eine „Schöpfung des europäischen Mittelalters“,4 die ihre Entstehung und Ausformung in der „vorklassische(n) Zeit“5 vom 14. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts erhielt. Trotz der zunehmenden Dominanz nationalistischer Denkmuster im „langen“ 19. Jahrhundert war die internationale akademische Zusammenarbeit bis dato jedoch niemals so intensiv wie gerade in den Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs.6 Gleichwohl veränderte sich der Charakter der deutschen Universitäten im Verlauf des 19. Jahrhunderts. Der stetige Ausbau des Wissenschaftsbetriebs – die Frequenzentwicklung und die Ausdifferenzierung der Fächer – bewirkte eine steigende politische und finanzielle Abhängigkeit der Wissenschaft, „die Universitäten waren damit so staatsnah wie niemals zuvor“.7 Trotz des unpolitischen Selbstverständnisses vieler Professoren wurde Wissenschaft im Kaiserreich nicht „l’art pour l’art“ betrieben, sondern sie sollte einen Beitrag zum nationalen Prestige und später zur „Weltgeltung deutscher Wissenschaft“8 leisten. Die Professoren waren im öffentlichen Diskurs vermeintliche Garanten für Objektivität – und zwar auch dann, wenn sie „ethisch motivierte wissenschaftliche Begründungen für politisch-gesellschaftliche Wertentscheidungen“9 abgaben. Ihre oftmals nationalistische Haltung galt als unpolitisch, weil sie keine Positionierung für eine Partei oder Weltanschauung zu beinhalten

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Walter Rüegg, Vorwort, in: Geschichte der Universität in Europa, hg. von Dems., Bd. 1: Mittelalter, München 1993, S. 13–20, hier: S. 13. Peter Moraw, Aspekte und Dimensionen älterer deutscher Universitätsgeschichte, in: Ders., Gesammelte Beiträge zur deutschen und europäischen Universitätsgeschichte. Strukturen – Personen – Entwicklungen, Leiden/Boston 2008, S. 3–54, hier: S. 12. Gabriele Metzler, Deutschland in den internationalen Wissenschaftsbeziehungen, 1900–1930, in: Gebrochene Wissenschaftskulturen. Universität und Politik im 20. Jahrhundert, hg. von Michael Grüttner u. a., Göttingen 2010, S. 55–82, hier: S. 57. Hartmut Boockmann, Wissen und Widerstand. Geschichte der deutschen Universität, Berlin 1999, S. 194. Der Topos selbst wurde allerdings nicht zeitgenössisch, sondern erst ex post gebraucht und in nostalgischer oder propagandistischer Absicht verwandt; vgl. Sylvia Paletschek, Was heißt „Weltgeltung deutscher Wissenschaft?“ Modernisierungsleistungen und -defizite der Universitäten im Kaiserreich, in: Gebrochene Wissenschaftskulturen (Anm. 6), S. 29–54. Rüdiger vom Bruch, Professoren im Deutschen Kaiserreich, in: Gelehrtenpolitik, Sozialwissenschaften und akademische Diskurse in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Björn Hofmeister und Hans Christoph Liess, Stuttgart 2006, S. 11–25, hier: S. 22.

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schien. Der Nationalismus, so Dieter Langewiesche, besaß im akademischen Diskurs die Funktion einer „Überparteilichkeitsideologie“.10 Die Studentenschaft hatte im Kaiserreich eine hervorgehobene gesellschaftliche Stellung inne und wurde als der intellektuelle Adel der deutschen Nation betrachtet.11 Eine besondere innerstudentische Ausbildung des Verhältnisses zwischen Student und Nation bildete seit Beginn des 19. Jahrhunderts das akademische Korporationswesen. Mit den Forderungen nach Freiheit und Einheit im Vormärz ursprünglich das jugendliche Sinnbild der Auseinandersetzung zwischen den Kräften der Restauration mit denen der Revolution, „stand die Studentenschaft im Kaiserreich fest und treu hinter dem neuen Staat“.12 An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert war fast jeder zweite deutsche Student korporiert.13 In der wilhelminischen Zeit wurden die elitären, mehrheitlich aus adeligen Mitgliedern bestehenden Corps zum Idealbild jener Epoche.14 Mit ihrer Exklusivität bildeten sie geradezu ein Abbild der bestehenden hierarchischen Gesellschaftsordnung. Kaiser Wilhelm II., der während seines Studiums der Jahre 1877 bis 1879 selbst bei der Borussia Bonn aktiv gewesen war15 , stellte in seinen Reden diese angebliche Vorbild- und Vorrangstellung der ehemaligen Corpsstudenten gerne heraus, so etwa im Mai 1891 auf dem Kommers der Bonner Corps: Es ist meine feste Überzeugung, daß jeder junge Mann, der in ein Corps eintritt [. . .] seine wahre Richtung fürs Leben erhält. Denn es ist die beste Erziehung, die ein junger Mann für sein späteres Leben bekommt.16

Eine zentrale Rolle im Rahmen dieser Erziehung spielte bei den Burschenschaften und bei den Corps die Mensur, also die formalisierte Art des studentischen Fechtens, wohingegen Mitgliedern katholischer Verbindungen diese Form des Duells seit einer entsprechenden Anweisung Papst Leos XIII. im Jahr 1891 untersagt war.17 Die grundlegende Unterscheidung zwischen nichtschlagenden und schlagenden Verbindungen verdeutlicht, welche zentrale Rolle der Mensur im Korporationswesen zukam. Da die Satisfaktionsfähigkeit, also die gesellschaftliche Gleichrangigkeit, Grundvoraussetzung für die Aufforderung zum Duell und für die Annahme der Fechtpartie war, etablierte das Mensurwesen die Studentenschaft als eigenen gesellschaftlichen Stand und trug wesentlich zum „Eliteanspruch der Korporationen“18 10

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Dieter Langewiesche, Die „Humboldtsche Universität“ als nationaler Mythos. Zum Selbstbild der deutschen Universitäten in ihren Rektoratsreden im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, in: Historische Zeitschrift 290 (2010), S. 53–91, hier: S. 57. Lisa Fetheringill Zwicker, Dueling Students. Conflict, Masculinity, and Politics in German Universities, 1890–1914, Ann Arbor 2011, S. 16. Konrad H. Jarausch, Deutsche Studenten 1800–1970, Frankfurt/Main 1984, S. 59. Ebd., S. 69. Vgl. Martin Biastoch, Die Corps im Kaiserreich – Idealbild einer Epoche, in: „Wir wollen Männer, wir wollen Taten!“ Deutsche Corpsstudenten 1848 bis heute, hg. von Rolf-Joachim Baum, Berlin 1998, S. 111–132. John C. G. Röhl, Wilhelm II., Bd. 1: Die Jugend des Kaisers 1859–1888, München 1993, S. 299–305. Der Kaiser auf dem Commers der Bonner Corps am 6. Mai 1891, Bonn 1891, S. 12. Jarausch, Studenten (Anm. 12), S. 63. Silke Möller, Zwischen Wissenschaft und „Burschenherrlichkeit“. Studentische Sozialisation im Deutschen Kaiserreich 1871–1914, Stuttgart 2001, S. 168.

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bei. Es setzte sich immer stärker die sogenannte „Bestimmungsmensur“ durch, bei der es ohne persönlichen Anlass für Ehrenhändel zwischen den Kontrahenten um die turnierähnliche Auseinandersetzung zwischen Angehörigen unterschiedlicher Verbindungen ging. Auf diese Weise „entwickelte sich das studentische Duell [. . .] zu einem Markenzeichen akademischer Kultur“.19 Wie sehr die Mensur gesellschaftlich akzeptiert war, obwohl sie bei Strafe nicht öffentlich ausgetragen werden durfte, verdeutlicht ein weiterer Auszug aus der besagten Ansprache Wilhelms II.: Unsere Mensuren werden im Publikum vielfach nicht verstanden. [. . .] Wir, die wir Corpsstudenten gewesen sind, wie ich, wir wissen das besser. Wie im Mittelalter durch die Turniere der Mut und die Kraft des Mannes gestählt wurden, so wird auch durch den Geist und das Leben in den Corps der Grad von Festigkeit erworben, der später im großen Leben nötig ist.20

Wie schon der romantisierende Hinweis des Kaisers auf das mittelalterliche Rittertum andeutet, verliefen die Übergänge vom studentischen zum militärischen Bereich fließend. Noch deutlicher wurde auf dem erwähnten Festkommers diesbezüglich ein Alter Herr, der in seiner Begrüßungsansprache darauf verwies, daß der junge Mann, der für seine und seines Corps Ehre ohne zu zucken dem Gegner mit blanker Waffe gegenübergestanden hat, auch später bis zum letzten Blutstropfen dem Vaterlande die Treue halten wird, wenn es gilt, die Ehre des Reichs und seines Kaisers zu verteidigen.21 Der Kampf für die Ehre der Verbindung fand somit seine logische gedankliche Fortsetzung im Kampf für Kaiser und Reich. Beim Kriegsausbruch im August 1914 war in korporierten Studentenkreisen entsprechend von der „größte[n] Mensur unseres Lebens“22 die Rede und es gab die Vorstellung vom Krieg „als eine Art Duell im Großen.“23

MYTHOS „AUGUSTERLEBNIS“ Die angeblich vorherrschende Jubelstimmung in allen Teilen der deutschen Bevölkerung beim Kriegsausbruch 1914, die mit dem Begriff „Augusterlebnis“ umschrieben wird, ist von der jüngeren Forschung als „Klischeebild von der allgemeinen Kriegsbegeisterung“24 teilweise widerlegt oder differenzierter bewertet worden.25 So handelt es sich beim „Augusterlebnis“ nicht um einen Forschungsbegriff, sondern um einen zeitgenössischen Topos, der im Rahmen der sogenannten „Ideen von 1914“ vor allem propagandistische Bedeutung besaß. Darüber hinaus gab es beispielsweise

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Ute Frevert, Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft, München 1995, S. 182. Der Kaiser auf dem Commers (Anm. 16), S. 12 f. Ebd., S. 9. Zit. nach Ute Wiedenhoff, „. . . daß wir auch diese größte Mensur unseres Lebens in Ehren bestehen werden“. Kontinuitäten korporierter Mentalität im ersten Weltkrieg, in: Kriegserfahrungen. Studien zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte des Ersten Weltkriegs, hg. von Gerhard Hirschfeld u. a., Essen 1997, S. 189–207, hier: S. 189. 23 Frevert, Ehrenmänner (Anm. 19), S. 296. 24 Volker Ullrich, Die Legende vom Augusterlebnis, in: Die Zeit (29. Juli 1994), S. 12. 25 Sonja Levsen, Elite, Männlichkeit und Krieg. Tübinger und Cambridger Studenten 1900– 1929 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 170), Göttingen 2006, S. 172–174.

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deutliche Erlebnisunterschiede in den Städten und auf dem Land sowie im Vergleich zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft.26 Neben Szenen des Jubels finden sich in den Quellen auch Hinweise auf ernste Gesichter und Tränen, Menschenschlangen vor Lebensmittelläden und Banken sowie Fluchtbewegungen der Bevölkerung in Ostpreußen.27 Auch mit Blick auf die Haltung der Studentenschaft zum Kriegsausbruch ist eine Differenzierung notwendig. Wie die Forschung bisher hervorhebt, herrschte angeblich „eine einheitliche Kriegsbegeisterung“28 bei den Studenten als logische Konsequenz einer „Kriegsbesessenheit großer Teile des männlichen Bildungsbürgertums in den Jahren vor 1914.“29 Vor dem Hintergrund neuer Forschungsansätze vermag das bisher gezeichnete Bild des begeisterten, kriegslüsternen Studenten jedoch in dieser Form nicht mehr zu überzeugen. Wie Thomas Weber jüngst betont hat, lassen sich die studentischen Denkmuster vor dem Ersten Weltkrieg in den heutigen Kategorien „national versus international“ oder „liberal versus illiberal“ nicht angemessen erfassen. Stattdessen spricht er mit Blick auf die Studentenschaft in Heidelberg und Oxford exemplarisch von „kosmopolitischen Nationalisten“.30 Damit liegt Weber auf einer Linie mit neueren Forschungen zur Kaiserreichsgeschichte, die den angeblichen Gegensatz von „national“ und „global“ ebenfalls kritisch hinterfragen.31 Mit seinem komparativen Ansatz, bei dem er auf viele Gemeinsamkeiten im Denken und Handeln deutscher und britischer Studenten hinzuweisen vermag, setzt Weber einen Kontrapunkt zu der klassischen These vom Illiberalismus speziell der deutschen Studentenschaft.32 Dieser speziellen Variante der Sonderwegsthese hält Weber in Anlehnung an Thomas Nipperdey entgegen, dass die Studenten in Oxford und Heidelberg auf die Herausforderungen der europäischen Moderne in einer erstaunlich ähnlichen Weise reagierten. Zwar gab es kulturelle Verschiedenheiten zwischen beiden Gruppen, doch diese unterschieden sich eher der Form als dem Inhalt nach.33

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Vgl. Jeffrey Verhey, Augusterlebnis, in: Enzyklopädie Erster Weltkrieg. Aktualisierte und erweiterte Studienausgabe, hg. von Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich und Irina Renz, Paderborn 2009, S. 357–360. Wolfgang Kruse, Kriegsbegeisterung? Zur Massenstimmung bei Kriegsbeginn, in: Eine Welt von Feinden. Der Große Krieg 1914–1918, hg. von Dems., Frankfurt/Main 1997, S. 159–166, hier: S. 163 f.; vgl. auch Thomas Raithel, Das „Wunder“ der inneren Einheit. Studien zur deutschen und französischen Öffentlichkeit bei Beginn des Ersten Weltkrieges (Pariser Historische Studien 45), Bonn 1996. Jarausch, Studenten (Anm. 12), S. 107. Frevert, Ehrenmänner (Anm. 19), S. 296. Thomas Weber, Our Friend „The Enemy“. Elite Education in Britain and Germany before World War I, Stanford 2008, S. 2; vgl. auch Dens., „Cosmopolitan Nationalists“. German Students in Britain – British Students in Germany, in: Wilhelmine Germany and Edwardian Britain. Essays on Cultural Affinity, hg. von Dominik Geppert und Robert Gerwarth, Oxford 2008, S. 249–269. Vgl. Sebastian Conrad, Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich, München 2006; Cornelius Torp, Die Herausforderung der Globalisierung. Wirtschaft und Politik in Deutschland 1860–1914, Göttingen 2005. Vgl. Konrad H. Jarausch, Students, society and politics in imperial Germany. The rise of academic illiberalism, Princeton 1982. Weber, Friend (Anm. 30), S. 231.

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Hinsichtlich der studentischen Haltung zu Kriegserwartung und Kriegsausbruch ist zunächst daran zu erinnern, dass die jungen Männer keine realistische Vorstellung vom modernen Kampfgeschehen besaßen. Für sie „war der Krieg etwas Ruhmreiches, Ritterliches, etwas Heldenhaftes“.34 Gerade in der Studentenschaft sehr präsent war die siegreiche Auseinandersetzung der Jahre 1870/71.35 Von den Professoren wurde dieses Ereignis bei offiziellen Anlässen immer wieder hervorgehoben. Die Reichsgründung 1871 „bildete den Fixpunkt im nationalen Selbstverständnis der deutschen Universität“ – sogar über das Ende des Kaiserreichs hinaus.36 Im Kontext der Vorkriegszeit noch bedeutsamer war allerdings die Erinnerung an das Jahr 1813, also an die Befreiungskriege und insbesondere an die Völkerschlacht bei Leipzig, deren Jubiläum 1913 – ebenso wie das 25jährige Thronjubiläum Wilhelms II. – im gesamten Reich gefeiert wurde. Auch an einigen deutschen Universitäten fanden aus diesen Anlässen akademische Festveranstaltungen statt, wobei „die Kriegserwartung dieser Zeit auch an den Universitäten weit verbreitet“ war.37 Mit teilweise martialischen Formulierungen wurde in einigen Ansprachen nicht nur die ruhmreiche Vergangenheit beschworen, sondern auch geistige Mobilisierung für einen möglichen zukünftigen Krieg betrieben. So äußerte zum Beispiel bei der Festveranstaltung an der Universität Bonn am 28. Februar 1913 der Historiker Friedrich von Bezold die Überzeugung, dass, wenn unser Volk aufs neue das Los trifft, für Deutschland alles einzusetzen, da werden neben den Großtaten von 1870 auch die Helden von Leipzig und Waterloo wieder ihr gutes Recht verlangen und als die ersten Vorkämpfer und Opfer der gleichen Sache uns in die Erinnerung treten.38 Und bei der Feier der Universität Berlin stellte der Historiker Dietrich Schäfer in Anwesenheit Wilhelms II. die Möglichkeit heraus, dass Deutschland in Zukunft noch einmal einen Daseinskampf zu bestehen hätte. Es wird die deutschen Hochschulen finden, wo die Preußen 1813 waren.39 Am Schluss seiner Rede wandte sich Schäfer direkt an den Kaiser, um ihm die Opferbereitschaft der deutschen Studentenschaft zu versichern: Sollte Gott wollen, daß Eure Majestät an der Spitze des deutschen Heeres ins Feld ziehen müßten, [. . .] so würde auch die akademische Jugend von heute mit [Theodor] Körner beten: „Zum Leben, zum Sterben segne mich! Vater, ich preise Dich“.40

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Jeffrey Verhey, Der „Geist von 1914“ und die Erfindung der Volksgemeinschaft, Hamburg 2000, S. 375. Vgl. Frank Becker, Bilder von Krieg und Nation. Die Einigungskriege in der bürgerlichen Öffentlichkeit Deutschlands 1864–1913, München 2001. Langewiesche, Rektoratsreden (Anm. 10), S. 56. Trude Maurer, Engagement, Distanz und Selbstbehauptung. Die Feier der patriotischen Jubiläen 1913 an den deutschen Universitäten, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 14 (2011), S. 149–164, hier: S. 160. Friedrich von Bezold, Der Geist von 1813. Festrede gehalten im Auftrag der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität bei der Feier der Erhebung von 1813 am 28. Februar 1913, Bonn 1913, S. 14. Dietrich Schäfer, Festrede, in: Feier der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin am 9. Februar 1913 in Gegenwart Seiner Majestät des Kaisers und Königs und Ihrer Majestät der Kaiserin und Königin zur Erinnerung an die Erhebung der deutschen Nation im Jahre 1813, Berlin 1913, S. 5–29, hier: S. 28. Ebd., S. 29.

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Allerdings gab es von studentischer Seite bedächtigere Stimmen, die die Friedenswahrung – und nicht die Kriegserwartung – in das Zentrum des Doppeljubiläums stellten. So hieß es in den Akademischen Monatsblättern, dem Organ des Verbandes der katholischen Studentenvereine, die zu Beginn der Amtszeit Wilhelms II. mancherorts geäußerten Befürchtungen hinsichtlich eines baldigen Feldzugs des jungen Kaisers seien unbegründet gewesen: Außer den beiden Strafexpeditionen gegen die Boxer in China im Jahre 1900 und gegen die Hereros in Deutsch-Südwestafrika in den Jahren 1904–1906 sind unter der Regierung Wilhelms II. Landheer und Flotte nie zu kriegerischen Unternehmungen ausgezogen, und es ist der Klugheit und Umsicht des Kaisers und seiner Ratgeber gelungen, das Ansehen des Deutschen Reiches zu erhalten und den Frieden zu wahren, ohne Schwertstreich und Blutvergießen.41

Das Doppeljubiläum des Jahres 1913 verdeutlicht insgesamt, wie groß die Erwartungshaltung von Professoren und Öffentlichkeit damals gegenüber den jungen Männern gewesen ist, sich im Falle des Falls ebenfalls im Kampf zu beweisen. Insofern ist Trude Maurer darin zuzustimmen, dass der große gesellschaftliche Druck, der bei Kriegsausbruch auf den Studenten lastete, als Handlungsmotiv stärker in den Mittelpunkt der Forschung gerückt werden sollte.42 In neueren Studien zu einzelnen Universitäten werden gesellschaftlicher Druck und persönliches Pflichtgefühl43 oder moralischer Druck auf die Studenten, sich als Kriegsfreiwillige zu melden,44 ebenfalls erwähnt, ohne diesen Aspekt jedoch näher zu untersuchen. Mit Blick auf die britischen Kriegsfreiwilligen – nicht nur Studenten – spricht Niall Ferguson von fünf verschiedenen Motiven: erfolgreiche Rekrutierungstechniken (Propaganda), weiblicher Druck, Gruppendruck unter Gleichaltrigen, ökonomische Motive und impulsives Handeln.45 Mit Blick auf die jungen deutschen Kriegsfreiwilligen im August 1914 wäre noch eine Kategorie ‚Pression von älteren Autoritäten‘ wie Lehrern und Professoren hinzuzufügen. Der Druck gegenüber den Studenten zeigt sich in den Ansprachen von Professoren wie etwa in der des Rektors der Universität Bonn, Aloys Schulte, am 3. August 1914 unter dem Eindruck des Kriegsausbruchs: Jedes Kind, das die Mutter geboren, gehört nicht ihr allein, es gehört dem Vaterlande – alle anderen Gefühle müssen da schweigen! Mögen unsere Studenten so tapfer wie siegreich sein und dann, so Gott will, zu den Studien als im Leben erprobte gestählte Männer heimkehren! Gott schütze sie!46

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K. H., Dem Kaiser, in: Akademische Monatsblätter 25 (Mai 1913), Nr. 8, S. 138. Vortrag von Trude Maurer (Göttingen) zum Thema „Universitätsgeschichte als Gesellschaftsgeschichte – Deutsche Universitäten im Ersten Weltkrieg“ im Rahmen der Tagung „Neuere Forschungen zur Universitätsgeschichte“ am 4./5. Oktober 2012 an der Universität Bonn; vgl. auch Trude Maurer, Exclusiveness and Integration. Professors and Students in German Society during World War I, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 10 (2007), S. 211–221. Wettmann, Heimatfront (Anm. 2), S. 208. Ulrich von Hehl, In den Umbrüchen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte der Universität Leipzig, Bd. 3: Das zwanzigste Jahrhundert 1909–2009, hg. von Dems u. a., Leipzig 2010, S. 17–332, hier: S. 48. Niall Ferguson, Der falsche Krieg. Der Erste Weltkrieg und das 20. Jahrhundert, Stuttgart 1999, S. 239–242. Chronik der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn für das Rechnungsjahr 1914. Herausgegeben vom zeitigen Rektor Ernst Landsberg, Bonn 1915, S. 3.

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Und der neue Rektor der Universität Leipzig, Albert Köster, resümierte in seiner Antrittsrede am 31. Oktober 1914 die Ereignisse des August 1914 folgendermaßen: Unter den anderthalb Millionen Freiwilliger waren viele von der Schulbank hergekommen; Kindergesichter sahen uns unter den Militärmützen entgegen. Aber betrachteten wir gleich am ersten Tage die gefestigte Haltung dieser jungen Körper, so schienen sie Männer zu sein. [. . .] Und hier, bei dieser ruhigen Pflichterfüllung, wo die militärische Erziehung noch nicht hatte wirken können, hier hat wohl die deutsche Schule und die deutsche Universität ihre Macht am eindrucksvollsten kundgetan.47

Als Beleg von studentischer Seite können die von dem Germanisten Philipp Witkop seit 1916 in mehreren verschiedenen Auflagen veröffentlichten ‚Kriegsbriefe gefallener Studenten‘ angeführt werden.48 Mit ihrer patriotischen Ausrichtung und deutschnationalen Rezeption in der Weimarer- und NS-Zeit sind sie als Quelle zwar umstritten,49 aufgrund ihrer Authentizität und Subjektivität bilden sie jedoch „ein wichtiges Dokument der politischen Mentalitätsgeschichte Deutschlands“.50 Die nationalistische Zielsetzung der Briefedition erweist sich insofern als „hilfreich“, als sie entgegen der ursprünglichen Intention von Autor und Rezipienten neue Aufschlüsse hinsichtlich der These vom gesellschaftlichen Druck auf die Studenten zu geben vermag – und sie als Quelle im Sinne Jacob Burckhardts gleichsam „neu“ gelesen werden können: Die Quellen aber [. . .] sind unerschöpflich, so dass jeder die tausendmal ausgebeuteten Bücher wieder lesen muss, weil sie jedem Leser und jedem Jahrhundert ein besonderes Antlitz weisen und auch jeder Altersstufe des Einzelnen.51

Äußerungen über das Gefühl der Pflichterfüllung stehen dabei nicht notwendig im Widerspruch zu Bekundungen naiver Begeisterung, vielmehr findet sich beides häufig nebeneinander. So berichtet der Jurastudent Walter Limmer (gest. 24. 9. 1914) am 3. August 1914 aus Leipzig, er habe nun endlich seinen Einberufungsbescheid erhalten. Zuvor traf ich eine junge bekannte Dame; ich schämte mich fast, mich in Zivilkleidern vor ihr sehen zu lassen.52 Im Brief vom 7. August war die erste Begeisterung unter dem Eindruck der britischen Kriegserklärung gewichen und auch die Möglichkeit des eigenen Todes wurde thematisiert. Limmer erklärte, er würde trotzdem versuchen, auf den Feind „draufzugehen wie ‚Blücher‘“, also kühn und wagemutig anzugreifen, denn: „Das ist jetzt einfach unser aller Pflicht.“53 47

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Albert Köster, Der Krieg und die Universität (31. Oktober 1914), in: Die Leipziger Rektoratsreden 1871–1933, hg. von Franz Häuser, Bd. 2: Die Jahre 1906–1933, Berlin 2009, S. 1081–1092, hier: S. 1090 f. Vgl. Philipp Witkop, Kriegsbriefe gefallener Studenten, München 1933. Veit Didczuneit, Jens Ebert und Thomas Jander, Einleitung, in: Schreiben im Krieg – Schreiben vom Krieg. Feldpost im Zeitalter der Weltkriege, hg. von Dens., Essen 2011, S. 13–15, hier: S. 13. Manfred Hettling und Michael Jeismann, Der Weltkrieg als Epos. Philipp Witkops „Kriegsbriefe gefallener Studenten“, in: „Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch . . .“. Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs, hg. von Gerhard Hirschfeld und Gerd Krumeich, Essen 1993, S. 175–198, hier: S. 176. Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen [ED 1905], Wiesbaden 2009, S. 29. Witkop, Kriegsbriefe (Anm. 48), S. 7. Ebd., S. 8.

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Benno Ziegler (gest. 8. 10. 1914), Student der Medizin in Freiburg, blickt in einem Feldpostbrief an seinen kranken Vater vom 14. September 1914 fast entschuldigend auf den Moment des Abschieds von zu Hause zurück und erinnert sich, wie Du segnend Deine Hand auf mein Haupt legtest – an Deinem Bette war’s, am Morgen, als ich fort zu müssen glaubte – und Gottes Gnade für mich erbatest.54 Demgegenüber findet sich in einem Brief von Paul Brüdern (gest. 3. Oktober 1914), Student der Medizin in Kiel, eine typische Analogie zum akademischen Duell. Er schrieb, er habe im Schnellfeuer des Feindes gelegen, hierzu brauche es straffe Selbstdisziplin, da festzustehen auf Mensur ohne Wimperzucken.55 Das Gefühl der gesellschaftlichen Pression dominiert als Motiv in den Briefen von Franz Blumenfeld, Jurastudent in Freiburg, an seine Mutter. So heißt es im Schreiben vom 1. August 1914: Du mußt nicht glauben, daß ich Dir dieses in einer Anwandlung von Kriegsbegeisterung schreibe. Im Gegenteil, ich bin ganz ruhig und kann die Begeisterung, mit der manche Leute hier in den Krieg wollen, absolut nicht mitmachen. [. . .] Aber wenn es losgeht, dann verstehst Du auch, daß ich nicht irgendwo daheim bleiben will? Ich weiß, daß Du eine liebe, verständige, gute Mama bist, und auch nicht willst, daß Deine Söhne in einer großen Gefahr feige sind und vorsichtig hinten bleiben.56

In einem weiteren Brief auf dem Weg an die Front kommt Blumenfeld später noch einmal auf die Motivation seines Handelns zurück: Warum ich mich als Kriegsfreiwilliger gemeldet habe? Natürlich nicht aus allgemeiner Begeisterung für den Krieg. [. . .] Aber jetzt, wo er einmal erklärt ist, finde ich es einfach selbstverständlich, daß man sich soweit als Glied des Volksganzen fühlt, um sein Schicksal möglichst eng mit dem des Ganzen zu verbinden.57

Blumenfeld fiel am 18. Dezember 1914 an der Westfront. Neben Gefühlen naiver Begeisterung und vereinzelter Abenteuerlust lastete zugleich ein großer Druck auf den Studenten, sich „freiwillig“ zum Kriegsdienst zu melden.

DIE STUDENTEN „IM FELDE“ Bevor sie in den Kampf zogen, war es einigen (Not-)Abiturienten offensichtlich ein Anliegen, sich noch als Student an einer Universität einzuschreiben, auch wenn sie in der aktuellen Situation gar nicht vorhatten, ein Studium zu beginnen. So berichtet Ernst Jünger im Aufsatz ‚Kriegsausbruch 1914‘ von der erleichterten Prüfung im Rahmen des Notabiturs, bei der es weniger schwierig [war], sie zu bestehen, als durchzufallen, obwohl dies einem Unglücksraben unter uns wirklich gelang. Nachdem ich mich noch in die Matrikel der Heidelberger Universität hatte einschreiben lassen, war ich alle Sorgen los.58 Das Detail der Einschreibung wird 54 55 56 57 58

Ebd., S. 10. Ebd., S. 11. Ebd., S. 19. Ebd., S. 21. Ernst Jünger, Kriegsausbruch 1914, in: Ders., Sämtliche Werke. Erste Abteilung/Tagebücher, Bd. 1: Der Erste Weltkrieg, Stuttgart 1978, S. 539–545, hier: S. 543; vgl. auch Helmut Kiesel, Ernst Jünger. Die Biographie, München 2009.

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ganz nebenbei erwähnt. Über die Motive erfährt man nichts Näheres. Wie auch das Notabitur scheint der Eintritt in die Universität im Angesicht des nahenden Kampfes bedeutungslos und eher eine Pflichtübung gewesen zu sein – trotzdem wird der Schritt in das Studentendasein zumindest offiziell vollzogen. Anders als in Preußen war die sogenannte „Immatrikulation in absentia“ in anderen Bundesstaaten möglich. Viele Abiturienten strebten den Status des Studenten an, weil die Zugehörigkeit zu einer Universität nicht nur das soziale Prestige des einzelnen erhöhte, sondern auch für die Beförderung in einen höheren militärischen Rang ausschlaggebend sein konnte.59 Nach einer meist nur rudimentären waffentechnischen Grundausbildung – einige Studenten verfügten durch ihren parallel zum Studium absolvierten Wehrdienst als „Einjährige“ jedoch über militärische Vorkenntnisse60 – erwartete die jungen Soldaten an der Front die erste reale Feindberührung im Kampfgeschehen, die sogenannte „Feuertaufe“. Die neue, ungewohnte Erfahrung des „Im-Feuer-Stehens“, verbunden mit großer Anspannung, wird von den Studenten im Felde zumeist als prägendes Ereignis beschrieben, denn hierbei riskierte der studentische Soldat sein eigenes Leben zum ersten Mal. Nichts, was er bisher erlebt hatte, war damit vergleichbar.61 Nach überstandener Feuertaufe, so berichtet ein Tübinger Corpsstudent, waren wir alle glücklich, hatten wir doch nun selbst einmal im Feuer gestanden und das Schießen nicht bloß immer gehört und immer bloß die Verwundeten gesehen.62 Es scheint eine gewisse Erleichterung für die jungen Soldaten gewesen zu sein, real erfahren zu haben, was auf sie im Kampf zukam, und diese erste Bewährungsprobe trotz ihrer Unerfahrenheit überstanden zu haben. In diesem Sinne schreibt der Hallenser Chemiestudent Hermann Reinhold am 21. August 1914 aus den Vogesen: Heute habe ich die Feuertaufe erhalten! Obwohl ich immer in erster Linie war, bin ich wohlbehalten davon gekommen.63 Bei der Feuertaufe zeigt sich besonders deutlich der gedankliche Bezug zur Mensur als Mut- und Bewährungsprobe, die es tapfer zu bestehen galt.64 Die Art von Krieg, die die Studenten vorfanden, war jedoch nicht der Kampf, den sie erwartet hatten. In den mechanisierten Abwehrschlachten des Ersten Weltkriegs mit andauerndem Artilleriefeuer entschied häufig der bloße Zufall über Leben und Tod, ohne dass die jungen Soldaten wirklich etwas ausrichten oder gar den Gang einer Schlacht beeinflussen konnten. Der Gießener Student Alfred Buchalski (gest. 10. 11. 1914) schreibt dazu, es sei die ganze Kampfesweise [. . .], die abstößt. Kämpfen wollen und sich nicht wehren können.65 Der moderne Stellungs59 60

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Wettmann, Heimatfront (Anm. 2), S. 131. Trude Maurer, Universitas militans. Von der Militarisierung der deutschen Universität im späten Kaiserreich zur Rechtfertigung des Militarismus im Ersten Weltkrieg, in: Kollegen – Kommilitonen – Kämpfer (Anm. 2), S. 57–74, hier: S. 59 f. Frank Klauss, Der „enttäuschende“ Krieg. Die Studenten an der Front, in: „Wir siegen oder fallen“ (Anm. 2), S. 25–44, hier: S. 26. Zit. nach Wiedenhoff, Kontinuitäten (Anm. 22), S. 195. Marc Zirlewagen (Hg.), „Der Krieg ist doch etwas Scheußliches“. Die Kriegsbriefe des Studenten Hermann Reinhold (1893–1940) von der Westfront 1914–1918 (Deutsche Akademische Schriften 13), Bad Frankenhausen 2009, S. 25. Wiedenhoff, Kontinuitäten (Anm. 22), S. 194. Witkop, Kriegsbriefe (Anm. 48), S. 15.

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krieg in den Schützengräben bot den Studenten nur wenig Möglichkeit, sich – wie von manchem erhofft – durch eine heldenhafte Tat auszeichnen zu können. Vielmehr galt es, stunden- oder sogar tagelang im Schützengraben zu verharren und dem feindlichen Beschuss nahezu hilflos ausgesetzt zu sein. Die Studenten an der Front mussten die Erfahrung machen, dass sie Objekt und nicht Subjekt des Kampfgeschehens waren, und die Wahrscheinlichkeit der eigenen Verwundung und des Sterbens weitaus höher war, als manche von ihnen vermutet hatten. Der Berliner Student Martin Drescher (gest. 3. 11. 1914) beschreibt dieses Empfinden in Anlehnung an Goethe als die Doktorfrage, ob wir morgen noch leben werden.66 Da die eigenen Handlungsmöglichkeiten begrenzt waren, fügten sich die Soldaten in ihr mögliches Schicksal, denn, so der Marburger Student Karl Aldag (gest. 15. 1. 1915), „man gibt sich dem Verhängnis frei hin, wen es treffen soll, den trifft es doch“.67 Die grausame Realität des Kriegsgeschehens führte bei vielen Studenten bald zu Desillusionierung und Enttäuschung.68 Schnell wurde deutlich, dass es sich nicht um einen kurzen Feldzug handeln würde. Der Erste Weltkrieg besaß anderer Ausmaße als die bisherigen europäischen Waffengänge.69 Mit Fortdauer des Kampfes zeigte sich auch ein generationeller Unterschied zwischen den älteren Soldaten einerseits und den Abiturienten und Studenten andererseits. Während Erstere sich schon eine Existenz aufgebaut hatten und meist über ein festes Umfeld mit Frau, Kindern und Beruf verfügten, war das bei Letzteren noch nicht der Fall. Ihre Bezugspersonen waren die Eltern, Geschwister und Kommilitonen. Sie konnten nach Kriegsende nicht in ihr gewohntes Leben zurückkehren,70 vielmehr wurde der Erste Weltkrieg selbst zum prägenden Erlebnis der „Generation of 1914“.71 Hierzu trug auch die lange Dauer des Krieges bei. Für die Soldaten, die überlebten, wurde das mehrjährige Kampfgeschehen zum Alltag und ließ sie abstumpfen. So berichtet der schon erwähnte Chemiestudent Hermann Reinhold im Feldpostbrief vom 16. März 1917, er habe nun die „Kriegstrottulose“ und „vertrottele immer mehr. Ich bin sogar schon nicht mehr im Stande, ein Buch zu lesen“.72 Auch wenn viele Studenten in ihren Feldpostbriefen die Solidarität und Kameradschaft unter den Soldaten hervorheben, blieben sie als Gruppe doch weitgehend unter sich. Zum Teil waren die Studenten hierfür selbst verantwortlich, weil sie sich in ihrem elitären Standesdenken bewusst oder unbewusst von den anderen Soldaten

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Ebd., S. 13. Ebd., S. 27. Klauss, Krieg (Anm. 61), S. 31–33. Heinrich August Winkler, Geschichte des Westens. Die Zeit der Weltkriege 1914–1945, München 2011, S. 15. 70 In seinem fiktiven, aber realitätsnahen Roman „Im Westen nichts Neues“ hat Erich Maria Remarque diesen Aspekt aus der Sicht der jungen Soldaten folgendermaßen beschrieben: „Wir waren noch nicht eingewurzelt. Der Krieg hat uns weggeschwemmt. Für die anderen, die älteren, ist er eine Unterbrechung, sie können über ihn hinausdenken. Wie aber sind von ihm ergriffen worden und wissen nicht, wie das enden soll.“ Hier zitiert nach: Erich Maria Remarque, Im Westen nichts Neues. Ein Roman und sechs Erzählungen, Köln 2005, S. 25. 71 Vgl. Robert Wohl, The Generation of 1914, Cambridge 1979. 72 Zirlewagen, Kriegsbriefe (Anm. 63), S. 85.

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abgrenzten.73 In einem Artikel der ‚Akademischen Monatsblätter‘ wurde etwa die Ansicht vertreten, im Krieg sei es die Pflicht der gebildeten Stände [. . .], der Masse des Volkes ein leuchtendes Beispiel zu sein in dem, was begeisterte Vaterlandsliebe und hingebende Opferfreudigkeit vermögen. [. . .] Da wollen vor allem wir Akademiker nicht zurückstehen, sondern allen voranschreiten, wenn Opfer von uns gefordert werden.74 Von solchen elitären Denkweisen abgesehen ist es aber auch nicht verwunderlich, dass sich die Studenten aufgrund ihrer gemeinsamen Interessen und Erfahrungen an der Front als Gruppe wieder zusammenfanden. Besonders groß war der Zusammenhalt der Verbindungsstudenten, vor allem unter Bundesbrüdern. Im Krieg kam dem Korporationsgedanken und dem Lebensbundprinzip besondere Bedeutung zu. Das Ideal der Korporationsmitglieder bestand nämlich nicht in einer Front- oder Schützengrabengemeinschaft, „sondern [sie] erhielten ihre Verbindungsgemeinschaft aufrecht“.75 Viele lokale Korporationen brachten Kriegszeitungen heraus, mit denen der Kontakt zwischen Front und Heimat aufrechterhalten werden sollte.76 Auf diese Weise erhielten die studentischen Soldaten Informationen über das Verbindungsleben zu Hause. Gleichzeitig diente die Kriegszeitung auch als Nachrichtenbörse, indem man Feldpostbriefe publizierte und über Auszeichnungen, Verwundungen und den Tod einzelner Mitglieder informiert wurde. In der ersten Ausgabe der ‚Kriegszeitung‘ des Corps Saxonia Bonn vom Juli 1915 wurde ausgeführt, der Zweck der Zeitung bestehe darin, mit ihrem besonderen und ganz internen Nachrichtendienst die Corpsbrüder in der Front, in der Etappe und in der Heimat zusammen[zu]führen, das gemeinsame Band treuer Gesinnung und lieber Erinnerung fester [zu] schlingen in den schweren Zeiten ernsten Erlebens und steter Gefahr.77 Zum Symbol für den Kriegseinsatz der Studenten wurde die Schlacht von Langemarck vom 10. November 1914. Sie war Bestandteil der deutschen Ypern-Offensive im Herbst 1914, mit der nach dem Scheitern an der Marne nun in Flandern der Durchbruch zur französischen Atlantikküste erreicht werden sollte.78 Anders als lange Zeit behauptet, handelte es sich bei den Angreifern nicht um reine oder überwiegende Studentenregimenter. Allerdings gehörten ihnen viele Kriegsfreiwillige des August 1914 an, sodass der Anteil an Schülern und Studenten vergleichsweise hoch war. Sie sahen sich kampferfahrenen Einheiten des britischen Expeditionskorps (BEF) gegenüber, die den deutschen Kriegsfreiwilligen starke Verluste zufügten.79 Die Schlacht besaß strategisch keine hohe Bedeutung; die deutsche Jugend wurde in Langemarck sinnlos verheizt, sodass vom „Kindermord bei Ypern“80 gesprochen wird. Gleichwohl wurde „Langemarck“ von der deutschen Propaganda zeitgenössisch überhöht und

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Klauss, Krieg (Anm. 61), S. 37 f. Wiedel, Weltkrieg und Kartellverband, in: Akademische Monatsblätter 27 (Januar 1915), Nr. 4, S. 60. Wiedenhoff, Kontinuitäten (Anm. 22), S. 192. Maurer, Exclusiveness (Anm. 42), S. 216. Universitätsarchiv Bonn, Depositum Saxonia Bonn, Nr. 87, Kriegszeitungen 1914–1918. Roger Chickering, Das Deutsche Reich und der Erste Weltkrieg, München 2 2005, S. 41. Bernd Hüppauf, Langemarck-Mythos, in: Enzyklopädie Erster Weltkrieg (Anm. 26), S. 671 f., hier: S. 672. John Keegan, Der Erste Weltkrieg. Eine europäische Tragödie, Reinbek 3 2004, S. 194.

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später zu einem Mythos stilisiert. Das begann bereits mit dem bekannten Heeresbericht der Obersten Heeresleitung vom 11. November 1911, wonach angeblich junge Regimenter unter dem Gesange ‚Deutschland, Deutschland über alles‘ gegen die erste Linie der feindlichen Stellungen vor[rückten]81 und sie einnahmen. In der Weimarer Republik setzte sich der Kult um „Langemarck“ mit regelmäßigen Feiern, Propagandapostkarten und der Errichtung von Erinnerungsstätten fort.82 Ab 1933 wurde der entstandene Mythos als Symbol deutscher Opferbereitschaft von den Nationalsozialisten für ihre Zwecke missbraucht. Für viele ehemalige Studenten stellte die Schlacht von Langemarck „das vereinigende Generationserlebnis“83 der Kriegsteilnehmer dar. Auf dem Soldatenfriedhof des Ortes liegen 25 000 Gefallene in einem Massengrab beerdigt, weitere sind in Einzel- oder Gruppengräbern bestattet. Nach Umbettungen von anderen Friedhöfen ruhen in Langemarck heute die Gebeine von insgesamt 44 304 gefallenen deutschen Soldaten.84 Kurz nach Kriegsbeginn befanden sich im Herbst 1914 bereits 50 Prozent der eingeschriebenen Studenten an der Front, im Sommer 1918 waren es schließlich mehr als zwei Drittel.85 Der Blutzoll unter den studentischen Soldaten war hoch. In den Jahren 1914 bis 1918 gab es rund 16 000 Gefallene zu beklagen.86 Sie starben, wie es euphemistisch in der Chronik der Universität Bonn des Jahres 1916 heißt, „den Heldentod für Kaiser und Reich“.87 Jeder vierte deutsche Student kehrte nicht wieder aus dem Krieg zurück.88

„HEIMATFRONT UNIVERSITÄT“ Aufgrund ihrer inneren Autonomie sind Universitäten – trotz ihres öffentlichen Charakters – zu einem gewissen Grad von äußeren Einflüssen und Ereignissen abgeschirmt. In den Jahren 1914 bis 1918 allerdings waren die deutschen Hochschulen wesentlich von externen Faktoren abhängig und fanden nicht die sicheren, geregelten Rahmenbedingungen vor, um ihre Aufgaben in Forschung und Lehre in angemessener Weise erfüllen zu können.89 Insofern stellte der Kriegsausbruch 1914 die deutschen Universitäten vor große Herausforderungen. Gegen den zwischenzeitlichen Widerstand der Obersten Heeresleitung gelang es, den Universitätsbetrieb

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Zit. nach Hüppauf, Langemarck-Mythos (Anm. 79), S. 672. Gerd Krumeich, Langemarck, in: Deutsche Erinnerungsorte, hg. von Etienne François und Hagen Schulze, Bd. 3, München 2009, S. 292–309, hier: S. 306–309. Hüppauf, Langemarck-Mythos (Anm. 79), S. 672. Für nähere Informationen vgl. (24. 04. 2013). Konrad H. Jarausch, German Students in the First World War, in: Central European History 17 (1984), S. 310–329, hier: S. 318. Thomas Weber, Studenten, in: Enzyklopädie Erster Weltkrieg (Anm. 26), S. 910–912, hier: S. 911. Chronik der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn für das Rechnungsjahr 1916. Herausgegeben vom zeitigen Rektor Hugo Ribbert, Bonn 1917, S. 7. Weber, Studenten (Anm. 86), S. 911. Maurer, Exclusiveness (Anm. 42), S. 212.

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für die gesamte Dauer des Krieges aufrechtzuerhalten.90 Die Hochschulen und ihre Angehörigen verstanden sich als Teil der Kriegsgesellschaft, wie der Germanist Albert Köster in der bereits erwähnten Rektoratsrede an der Universität Leipzig vom Oktober 1914 hervorhob: Denn auf das Tiefste ist auch die Universität von dem allgemeinen Schicksal des Vaterlandes, von dem Kriege mit betroffen. Jedes Bangen, jede Sorge, jede Erwartung und Hoffnung, jeden Dank und Jubel erlebt sie als ihre eigenste Angelegenheit mit.91

Besonders schwierig war es zunächst für die Universitäten, die Zahl ihrer aktiven Studenten zu bestimmen und den künftigen Lehrbetrieb zu organisieren. Im Wintersemester 1914/15 waren beispielsweise an der Universität Marburg offiziell 2078 Studierende eingeschrieben, davon nahmen real aber nur 629 Hörer an den Vorlesungen und Seminaren teil, darunter 151 Studentinnen.92 An der in Nähe zum Kriegsgeschehen gelegenen Universität Königsberg wurden im August 1914 das Haupt- und die meisten Institutsgebäude von der Militärverwaltung beschlagnahmt, so dass im Wintersemester 1914/15 80 Prozent der Lehrveranstaltungen ausfielen.93 Der Krieg wirkte sich auch auf das Verhältnis zwischen den älteren Professoren und ihren Studenten aus. Das bisherige hierarchische Lehrer-Schüler-Verhältnis war der damaligen Situation aus zwei Gründen nicht mehr angemessen.94 Erstens lag die Verantwortung sowohl für die persönliche Sicherheit der Professoren als auch der des Landes insgesamt nun de facto in den Händen der Studenten. Daraus resultierte zweitens, dass im Krieg das körperliche Wirken der studentischen Soldaten eine höhere Bedeutung besaß als die wissenschaftliche Tätigkeit der Professoren.95 Die Konsequenzen zeigen sich etwa in einem Aufsatz des Bonner Germanisten Berthold Litzmann, der Teil einer als ‚Ostergruss‘ betitelten Publikation der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität an ihre Kriegsteilnehmer 1916 war: Liebe Kommilitonen! Wenn auch ich aus der Stille des Arbeitszimmers ein Wort an Euch richte, so stocke ich schon bei der Anrede, bei dem Wort, das in Friedenszeiten [. . .] das treffendste und erschöpfendste schien für das Verhältnis des akademischen Lehrers zu seinen Schülern.96

Das martialische Auftreten vieler Professoren erklärt sich teilweise vielleicht auch mit dem Rechtfertigungsdruck jener, die zuhause in Sicherheit saßen, während andere ihr Leben einsetzten.97 Davon abgesehen hatte der Kriegseinsatz der Studenten für die Lehrenden auch praktische finanzielle Auswirkungen. Manche Ordinarien 90 91 92 93 94

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Andrea Wettmann, Ruhmvoll verödet? Deutsche Universitäten im Ersten Weltkrieg, in: Kollegen – Kommilitonen – Kämpfer (Anm. 2), S. 29–38, hier: S. 30 f. Köster, Krieg (Anm. 47), S. 1081. Wettmann, Heimatfront (Anm. 2), S. 225. Christian Tilitzki, Die Albertus-Universität Königsberg. Ihre Geschichte von der Reichsgründung bis zum Untergang der Provinz Ostpreußen, Bd. 1: 1871–1918, Berlin 2012, S. 440. Der Wehrpflicht unterlagen im Deutschen Reich alle wehrfähigen Männer vom 20. bis zum 45. Lebensjahr sowie seit Mitte August 1914 alle Mitglieder des Landsturms; vgl. Wettmann, Heimatfront (Anm. 2), S. 116. Maurer, Exclusiveness (Anm. 42), S. 214. Berthold Litzmann, Kriegserlebnis, in: Ostergruss der Rheinischen Friedrich-WilhelmsUniversität zu Bonn an ihre Angehörigen im Felde, Bonn 1916, S. 62–66, hier: S. 62. Maurer, Universitas (Anm. 60), S. 71.

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hatten je nach Ausgestaltung ihres Vertrages wegen geringerer Einnahmen aus den Kollegiengeldern starke Einnahmeverluste zu verkraften, viele Extraordinarien und Privatdozenten gerieten aufgrund von Mittelkürzungen für die Universitäten sogar in Existenznöte.98 Die Zusammensetzung der Studentenschaft in den Hörsälen und Seminaren in den Jahren 1914 bis 1918 war sehr heterogen und unterschied sich deutlich von der Vorkriegszeit. Die Bandbreite reichte von noch nicht eingezogenen oder kriegsuntauglichen jungen Männern über vom Waffendienst befreite katholische Priesteramtskandidaten und eine steigende Zahl von Studentinnen bis hin zu kriegsinvaliden Studenten und Soldaten auf Heimaturlaub.99 Hinzu kam die Gruppe der ausländischen Studierenden, die in Angehörige befreundeter, neutraler und verfeindeter Staaten unterteilt wurden.100 Die untauglich gemusterten oder noch nicht eingezogenen Studenten beteiligten sich beispielsweise durch die Hilfe beim Ernteeinsatz an den Hilfsmaßnahmen der Heimatfront. Auf Betreiben der Obersten Heeresleitung wurde Ende 1916 mit dem sogenannten ‚Vaterländischen Hilfsdienst‘ eine Zivildienstpflicht für alle männlichen Staatsbürger vom 17. bis zum 60. Lebensjahr erlassen. Zu diesem Zeitpunkt gab es an den Universitäten jedoch kaum noch einsatzfähiges Personal.101 Die Dozenten waren meist unabkömmlich, und der Großteil der einsatzfähigen Studenten befand sich an der Front. Die jeweiligen Rektoren, bei denen sich die verpflichteten Studenten zu melden hatten, bemühten sich um einen Einsatz ihrer Schüler am selben Ort, so dass sich der Hilfsdienst mit dem Studium vereinbaren ließ.102 Die Universitätsleitungen hatten ein großes Interesse daran, die nicht eingezogenen Studenten zu halten, um den Lehrbetrieb – und damit die Öffnung ihrer Einrichtung – sicherzustellen. Der Krieg ließ keinen Bereich des Universitätslebens völlig unberührt. Das zeigt auch ein Blick auf die Prüfungspraxis. Insbesondere für Medizinstudenten, die sich in der Endphase ihres Studiums befanden, wurden mittels sogenannter „Kriegsprüfungen“103 die Abschlussexamina inhaltlich erleichtert und zeitlich verkürzt. Allerdings kehrte man bereits 1915 wieder zur alten Praxis zurück. Neben Befürchtungen vor einer Abnahme der fachlichen Standards lag der Hauptgrund darin, dass mittlerweile eine ausreichende Zahl von Militärärzten vorhanden war.104 Sinn der Maßnahme war also nicht eine Hilfe für die Studenten, sondern deren schnelle Verfügbarkeit für den Militärsanitätsdienst gewesen. Mit zunehmender Kriegsdauer wurde auch die partielle Anrechenbarkeit des Kriegsdienstes auf die Studienzeit diskutiert. Aufgrund der Kompetenzen der Einzelstaaten auf diesem Feld und entsprechend den unterschiedlichen Prüfungsordnungen waren Erleichterungen aber nur in solchen

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Wettmann, Heimatfront (Anm. 2), S. 119–122. Charles E. McClelland, Öffentlicher Raum und politische Kultur, in: Geschichte der Universität Unter den Linden, Bd. 1: Gründung und Blütezeit der Universität zu Berlin 1810–1918, hg. von Dems. und Heinz-Elmar Tenorth, Berlin 2013, S. 567–636, hier: S. 629 f. Daniela Siebe, „Germania docet“. Ausländische Studierende, auswärtige Kulturpolitik und deutsche Universitäten 1870 bis 1933 (Historische Studien 495), Husum 2009, S. 298. McClelland, Kultur (Anm. 99), S. 628. Wettmann, Heimatfront (Anm. 2), S. 146 f. McClelland, Kultur (Anm. 99), S. 630. Wettmann, Universität (Anm. 90), S. 141.

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Fächern möglich, in denen es reichsweit einheitliche Prüfungen wie bei Medizinern und Juristen gab.105 Hieraus resultierte ebenso wie bei der Einrichtung von Kriegsteilnehmerkursen für verwundete oder beurlaubte Studenten zur Wiederholung und Weiterbildung sowie auch bei der Durchführung von Sonderkursen für im Felde stehende Studenten der medizinischen und naturwissenschaftlichen Fachrichtungen das Problem der Ungleichbehandlung von Studenten bei Prüfungen und der Anrechnung von Studienzeiten. Die Wiederholungs- und Sonderkurse wurden – anders als zunächst intendiert – nicht obligatorisch eingeführt,106 weil sich das Problem der Ungleichbehandlung nicht beheben ließ und die Kurse ohne die Möglichkeit der Anrechenbarkeit für die Studenten unattraktiv waren. In der zweiten Kriegshälfte machte sich die Rohstoffknappheit an den Universitäten immer stärker bemerkbar. Die Universitäten Freiburg107 und Bonn108 mussten im Wintersemester 1916/17 wegen Kohlenmangels kurzzeitig geschlossen werden. Von direkten Kriegseinwirkungen waren die deutschen Universitäten hingegen kaum betroffen. Eine zwischenzeitliche Bedrohungslage ergab sich für die Universität Königsberg, als die russische Armee 1914 in Ostpreußen einmarschierte, „am 24. August Insterburg besetzte und auf Königsberg vorfühlte“.109 Mit den deutschen Siegen in den Schlachten von Tannenberg und an den Masurischen Seen konnte die Gefahr abgewendet werden.110 Eine andere Art der Bedrohung ergab sich im Südwesten Deutschlands. Die Studenten der Universität Freiburg mussten zwar keine Eroberung fürchten, dennoch wurde die Stadt für sie zu einem „gefährlichen Lebensort“.111 Als eine der ersten Universitätsstädte sah Freiburg sich mit dem neuen Phänomen des Luftangriffs als Mittel der Kriegsführung konfrontiert. Während französische Flieger in der Anfangsphase des Krieges zunächst nur über der Stadt kreisten und bei den Einwohnern für Erstaunen und Verunsicherung sorgten, kam es zwischen Dezember 1914 und Oktober 1918 zu 25 Luftangriffen britischer und französischer Flugzeuge, die 31 Tote und 100 Verletzte forderten.112 Bei einem dieser Angriffe wurde am 14. April 1917 auch das Anatomische Institut getroffen und schwer beschädigt. Die Universität Bonn verlegte in den Jahren 1917/18 die Vorlesungen im Hauptgebäude ins Erdgeschoss und untersagte Lehrveranstaltungen nach 19 Uhr.113

105 Die Einführung der entsprechenden Regelung gelang auch erst im Jahr 1917; vgl. ebd., S. 133. 106 Wettmann, Heimatfront (Anm. 2), S. 138. 107 Roger Chickering, Die Universität im Krieg 1914–1918, in: 550 Jahre Albert-LudwigsUniversität Freiburg, Bd. 3: Von der badischen Landesuniversität zur Hochschule des 21. Jahrhunderts, hg. von Bernd Martin, Freiburg 2007, S. 152–165, hier: S. 155 f. 108 Universitätsarchiv Bonn, Rekt 105, A 50.16, Verschiedenes, Schreiben an den Minister der geistlichen und Unterrichtsangelegenheiten über die Wiederaufnahme der Vorlesungen, 20. Februar 1917. 109 Tilitzki, Königsberg (Anm. 93), S. 407. 110 Andreas Kossert, Ostpreussen. Geschichte und Mythos, München 2008, S. 198 f. 111 Chickering, Universität (Anm. 107), S. 153. 112 Ders., Freiburg im Ersten Weltkrieg. Totaler Krieg und städtischer Alltag 1914–1918, Paderborn 2009, S. 97. 113 Chronik der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn für das Rechnungsjahr 1917. Herausgegeben vom zeitigen Rektor Friedrich Marx, Bonn 1918, S. 6.

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AKADEMISCHE KRIEGSFÜRSORGE Vielfältig gestalteten sich die Aktivitäten im Rahmen der akademischen Kriegsfürsorge für die Studenten und Dozenten im Kriegsdienst, allerdings sind sie bislang kaum erforscht. In den Jahren 1916 bis 1918 entstanden in Frontnähe sogenannte Kriegs- oder Etappenhochschulen. Die bekannteste war die „Etappenhochschule Conflans“ bei Metz. Die Kriegshochschulen stellten in den Worten des beteiligten Dozenten Paul Ssymank den Versuch dar, die deutsche Wissenschaft in den Bereich des Feldheeres selbst zu verpflanzen und sie so weiteren Kreisen von draußenstehenden Studenten und Akademikern zugänglich zu machen.114 Als Lehrende fungierten entweder Dozenten im Kriegseinsatz oder eingeladene Professoren aus der Heimat. Das universitäre Modell konnte jedoch nicht wirklich in die Etappe übertragen werden. Elitäres Bildungsverständnis und egalitäres Soldatenideal ließen sich an der Front schlecht miteinander in Einklang bringen. Um Konflikte zu vermeiden, stand der Besuch der Kriegsuniversitäten häufig auch nichtstudentischen Soldaten offen, sodass sie eher den Charakter von Volkshochschulkursen besaßen.115 Die Etappenhochschulen fanden weite Verbreitung und erstreckten sich bis nach Brüssel, Warschau und Bukarest. Der ‚Akademische Hilfsbund‘ (AHB) wurde im April 1915 in Berlin auf Betreiben der Dachorganisation ‚Deutsche Burschenschaft‘ gegründet. Ihm gehörten neben Einzelmitgliedern und Förderern als institutionelle Mitglieder alle deutschen Universitäten sowie die Dachverbände der studentischen Korporationen einschließlich der katholischen, weiblichen und jüdischen Verbindungen an.116 Der Erste Weltkrieg führte in der korporierten Studentenschaft „als Gegenstück zum Burgfrieden“117 zu einer Phase der Einigkeit, die jedoch nicht lange anhielt. Die Ziele des AHB bestanden in der Hilfe für kriegsbeschädigte Studenten und Wissenschaftler durch Unterstützung bei medizinischer Rehabilitation (Kuren), durch finanzielle Darlehen sowie Hilfe bei der Berufsberatung und Stellensuche. Daneben wirkte der AHB auch als Interessenvertretung gegenüber Politik und Behörden. Bei der praktischen Hilfe besaßen die einzelnen Ortsgruppen anscheinend ein hohes Maß an Selbstständigkeit. Die Leipziger Sektion etwa weitete ihre Hilfsleistungen im Jahr 1917 autonom auch auf die Witwen und Angehörigen gefallener Akademiker aus.118 Die Initiative zur Gründung des ‚Deutschen Studentendienstes von 1914‘ ging von der überkonfessionellen ‚Deutschen Christlichen Studentenvereinigung‘ (DCSV) aus. Ende 1914 begann der DCSV mit dem Versand von Publikationen, durch die die Solidarität mit den Studenten an der Front demonstriert werden sollte. Mit fortgesetzter Dauer des Krieges erreichten die Aktivitäten des Studentendienstes immer 114 Friedrich Schulze und Paul Ssymank, Das Deutsche Studententum. Von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart, München 4 1932 (ND Schernfeld 1991), S. 456. 115 Wettmann, Heimatfront (Anm. 2), S. 155. 116 Ebd., S. 190 f. 117 Jarausch, Studenten (Anm. 12), S. 112. 118 Ulrike Gätke-Heckmann, Die Universität Leipzig im Ersten Weltkrieg, in: Sachsens Landesuniversität in Monarchie, Republik und Diktatur. Beiträge zur Geschichte der Universität Leipzig vom Kaiserreich bis zur Auflösung des Landes Sachsen 1952, hg. von Ulrich von Hehl, Leipzig 2005, S. 145–168, hier: S. 164.

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größere Ausmaße. Es wurden „fahrbare Kriegsbüchereien“119 eingerichtet, die die Soldaten in Frontnähe mit Lesestoff versorgten, nach internationalen Absprachen konnten später auch Studenten in russischer und britischer Kriegsgefangenschaft mit Geschenken aus der Heimat bedacht werden, und in Verbindung mit anderen Fürsorgediensten wurden Soldatenheime eingerichtet, in denen sich die von den vorderen Linien zurückgenommenen Kämpfer erholen konnten. Auf diese Weise entwickelte sich die Initiative im Verlauf des Krieges zu einem „Großunternehmen“120 mit mehreren hundert Angestellten. Für an der Westfront in Kriegsgefangenschaft geratene Studenten setzte sich insbesondere die Universität Leipzig ein. Sie richtete 1915 eine ehrenamtlich organisierte ‚Sammelstelle von Büchern für Kriegsgefangene in Frankreich‘ ein, in der sowohl gebrauchte Bücher als auch Spenden für Neuexemplare zusammengetragen wurden.121 Dabei bestand enger Kontakt zu der ‚Bücherzentrale für Deutsche Kriegsgefangene‘, die in der neutralen Schweiz den Versand koordinierte, und die bei der deutschen Gesandtschaft in Bern angesiedelt war. Geleitet wurde sie von dem zu diesem Zweck beurlaubten Leipziger Zoologieprofessor Richard Woltereck.122 Seit 1906 war es völkerrechtlich möglich, verwundete Soldaten der Gegenpartei zwecks Internierung bis zum Ende eines Konflikts an ein neutrales Land zu übergeben. Von dieser Regelung wurde während des Ersten Weltkrieges reger Gebrauch gemacht, sodass auch deutsche Studenten in Kriegsgefangenschaft zur Internierung an die Schweiz übergeben wurden. Die Schweizer Behörden ermöglichten diesen Studenten den Besuch von Lehrveranstaltungen der Universitäten Basel, Bern und Zürich.123 Neben den nationalen Hilfsmaßnahmen für die studentischen Soldaten gab es auch viele regionale Maßnahmen an einzelnen Hochschulen. Die Lebensmittelknappheit führte etwa an der Universität Bonn in Kooperation mit der Stadtverwaltung zur Einrichtung einer Kriegsküche im Hauptgebäude.124 Das Fortbestehen sozialer Schranken zeigte sich indes an der räumlichen Trennung der Speisesäle für die Studenten und die übrige Bevölkerung.

STUDENTISCHE MINDERHEITEN IM KRIEG Die deutschen Universitäten waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei Studierenden aus dem Ausland beliebt. Der Anteil der ausländischen Studenten lag zwischen 1900 und 1914 bei sieben bis neun Prozent der Gesamtstudierenden.125 Im Jahr 1914 waren reichsweit etwa 7 500 Ausländer immatrikuliert.126 Nach Kriegsausbruch 119 120 121 122 123 124

Schulze und Ssymank, Studententum (Anm. 114), S. 463. Wettmann, Heimatfront (Anm. 2), S. 166. Gätke-Heckmann, Leipzig (Anm. 118), S. 165. Von Hehl, In den Umbrüchen (Anm. 44), S. 54. Wettmann, Heimatfront (Anm. 2), S. 183–185. Stadtarchiv Bonn, SN 13 (Kriegssammlung), Nr. 111: Kriegsküchen, Geschäftsbericht für die Zeit vom 26. Mai 1916 bis 31. Dezember 1917, 31. Januar 1918, S. 8. 125 Daniela Siebe, „Nattern am Boden der Alma Mater“. Ausländische Studierende an deutschen Universitäten 1914–1918, in: Kollegen – Kommilitonen – Kämpfer (Anm. 2), S. 39–53, hier: S. 43. 126 Weber, Studenten (Anm. 86), S. 911.

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erfolgte, wie erwähnt, eine Einteilung in drei Kategorien: Verbündete, Neutrale, Gegner. Letztere wurden als sogenannte „feindliche Ausländer“ zwangsexmatrikuliert, betroffen hiervon waren vor allem Russen, Franzosen und Briten. Allerdings wurde die Umsetzung je nach Interessenlage flexibel gehandhabt.127 So konnten Studenten aus den Kolonialgebieten des Empire, insbesondere Indien, ihr Studium häufig fortsetzen, weil auf diese Weise die Differenzen zur britischen Kolonialmacht verstärkt werden sollten, und deutschstämmige Russen aus dem Baltikum wurden meist ebenso geduldet wie amerikanische und chinesische Staatsangehörige, die erst im Verlauf des Krieges zu „feindlichen Ausländern“ wurden. Insgesamt waren die Ausländer an den deutschen Universitäten ebenso sichtbar wie vor dem Krieg, nur die Zusammensetzung ihrer Gruppe hatte sich grundlegend gewandelt und entlang der Frontverläufe gestaffelt.128 Das Klima gegenüber ausländischen Studenten war in der deutschen Bevölkerung jedoch skeptisch bis feindselig, weil ihnen Sympathie mit dem Kriegsgegner oder gar Spionage unterstellt wurde. Einen schweren Stand in Universität und Gesellschaft hatten auch die deutschen Studentinnen. Zwar war das Frauenstudium seit seiner Einführung in ElsaßLothringen und in Mecklenburg-Schwerin im Jahr 1909 im gesamten Reich etabliert,129 doch bildeten weibliche Studierende eine kleine Minderheit. Von vielen Professoren und männlichen Kommilitonen wurden sie nur geduldet, mancher befürchtete gar den „Untergang der Wissenschaft“.130 Der rechtlichen Gleichstellung stand Geringschätzung in der Praxis gegenüber. Während des Ersten Weltkrieges stieg die Zahl der Studentinnen von etwa 4 000 auf knapp 7 000, doch setzte sich damit nur die ansteigende Entwicklung der Vorkriegszeit fort. In Relation zu den an den Universitäten verbliebenen männlichen Studenten nahm der Anteil der Frauen hingegen beträchtlich zu.131 Da sich eine immer größere Anzahl ihrer Kommilitonen im Felde befand, waren Frauen in Vorlesungen und Seminaren vielerorts mit einem Anteil von einem Drittel oder sogar der Hälfte vertreten. Bei einigen männlichen Studenten und Professoren führte diese Entwicklung zu Unmut. Beispielsweise monierte ein Tübinger Burschenschafter in einer Verbandszeitung die „Entwicklung der Universität zur Mädchenschule“132 . Für die Rektoren gewannen die Studentinnen aber an Bedeutung, konnte ihre Unterrichtung doch als Argument dienen, um Forderungen nach einer kriegsbedingten Schließung der Universitäten entgegenzutreten. Entsprechend wurde in der Chronik der Universität Bonn für das Jahr

127 Siebe, Germania (Anm. 100), S. 364 f. 128 Ebd., S. 305. 129 Ilse Costas, Von der Gasthörerin zur voll immatrikulierten Studentin. Die Zulassung von Frauen in den deutschen Bundesstaaten 1900–1909, in: Der Weg an die Universität. Höhere Frauenstudien vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert, hg. von Trude Maurer, Göttingen 2010, S. 191–210, hier: S. 209. 130 Schulze und Ssymank, Studententum (Anm. 114), S. 403. 131 Trude Maurer, „Studierende Damen“. Kommilitoninnen oder Konkurrentinnen?, in: „Wir siegen oder fallen“ (Anm. 2), S. 75–92, hier: S. 80; vgl. auch dies., Der Krieg als Chance? Frauen im Streben nach Gleichberechtigung an deutschen Universitäten 1914–1918, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 6 (2003), S. 107–138. 132 Zit. nach Levsen, Elite (Anm. 25), S. 179.

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1915 darauf verwiesen, der Universitätsbetrieb sei ohne Einschränkungen fortgeführt worden, freilich mit stark gemindertem Bestand an Studenten. In manchen Vorlesungen überwogen die Studentinnen bei weitem und trugen so ihr Teil dazu bei, dass der akademische Unterricht allzeitig aufrechterhalten werden konnte.133 Die Studentinnen wurden in erster Linie als „Lückenbüßer“134 verstanden, während die Männer Kriegsdienst leisteten. Dabei beteiligten sich viele Frauen bei der Erntehilfe, in der Verwundetenpflege oder später im Rahmen des Vaterländischen Hilfsdienstes an den Aktivitäten der Heimatfront. Trotzdem brach im Verlauf des Krieges die alte Diskussion über den Sinn des Frauenstudiums wieder auf, wobei neue Vorwürfe wie die Bevorzugung von Frauen im Studium durch die kriegsbedingte Abwesenheit der männlichen Studenten135 oder einer angeblichen „Überschwemmung“ der Universität durch Studentinnen erhoben wurden. Der Erste Weltkrieg wurde so „zu einem weiteren Argument gegen das Frauenstudium“.136 Nach Kriegsende waren sowohl die Professoren als auch die männlichen Studenten bemüht, den Status quo ante wiederherzustellen. Der politischen Modernisierung mit der Einführung des Frauenwahlrechts im Jahr 1919 stand im Ergebnis eine Stagnation oder sogar ein Rückschritt bei der akademischen Gleichstellung gegenüber. Einen Rückschritt bedeutete der Erste Weltkrieg ebenfalls für die Situation der jüdischen Bevölkerung, denn er bewirkte „eine Radikalisierung des Antisemitismus“137 in Deutschland. Insbesondere die Rolle der jüdischen Studenten im Ersten Weltkrieg bildet ein Desiderat der Forschung. Generell war die Situation der Juden im Kaiserreich ambivalent. Der rechtlichen Gleichstellung und guten beruflichen Perspektiven in der Privatwirtschaft standen antisemitische Tendenzen in der Gesellschaft sowie – mit einigen Ausnahmen – die faktische Ausgrenzung aus Beamtentum und Wissenschaft gegenüber.138 Gerade an den Universitäten breitete sich seit der Jahrhundertwende in Teilen der Studentenschaft ein radikaler Antisemitismus aus.139 Im Jahr 1916 kam es im deutschen Militär zur sogenannten „Judenzählung“, mit der vor dem Hintergrund des ausbleibenden militärischen Sieges die völkischen Kreise besänftigt werden sollten. Für die Juden in Deutschland bedeutete dieser stigmatisierende Vorgang eine „tiefe Zäsur“.140

133 Chronik der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn für das Rechnungsjahr 1915. Herausgegeben vom zeitigen Rektor Richard Anschütz, Bonn 1916, S. 1. 134 Maurer, „Studierende Damen“ (Anm. 131), 82. 135 Wettmann, Heimatfront (Anm. 2), S. 383. 136 Maurer, „Studierende Damen“ (Anm. 131), S. 91. 137 Ulrich Sieg, Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg. Kriegserfahrungen, weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe, Berlin 2001, S. 324. 138 Vgl. Thomas Brechenmacher, Jüdisches Leben im Kaiserreich, in: Das Deutsche Kaiserreich 1890–1914, hg. von Bernd Heidenreich und Sönke Neitzel, Paderborn 2011, S. 125–141. 139 Vgl. Norbert Kampe, Studenten und „Judenfrage“ im Deutschen Kaiserreich. Die Entstehung einer akademischen Trägerschicht des Antisemitismus (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 76), Göttingen 1988. 140 Ulrich Sieg, Judenzählung, in: Enzyklopädie Erster Weltkrieg (Anm. 26), S. 599 f., hier: S. 600; vgl. Jacob Rosenthal, „Die Ehre des jüdischen Soldaten“. Die Judenzählung im Ersten Weltkrieg und ihre Folgen, Frankfurt/Main 2007.

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RESÜMEE Das Selbstverständnis der Studenten, die 1914 für Kaiser und Reich in den Krieg zogen, erfuhr durch das Fronterlebnis, die verdrängte militärische Niederlage und die sich zeitgleich vollziehenden politischen Umwälzungen eine fundamentale Wandlung. Als prägende Elemente blieben neben der Gewalterfahrung an sich das Kameradschaftsgefühl und die Suche nach neuen politischen Idealen, deren Bezugspunkt jedoch häufig nicht das neue demokratische Staatswesen war. Insofern stellt der Erste Weltkrieg in der deutschen Studentengeschichte eine „entscheidende Übergangsphase“141 zwischen der „Burschenherrlichkeit“ des langen 19. Jahrhunderts und der totalitären Versuchung der Studentenschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dar. Ein ähnliches Ergebnis lässt sich für die Universitäten insgesamt konstatieren. Im Kaiserreich symbolisierte die Wissenschaft zusammen mit Adel und Militär die gesellschaftliche Elite und verfügte über enge Kontakte zu den regierenden Fürstenhäusern. Als aber im November 1918 der Krieg mit einer militärischen Niederlage endete und das monarchische Herrschaftssystem gestürzt wurde, musste dies die deutschen Universitäten erschüttern. Denn sie hatten ihr Selbstbild an die Nation und an ihre Landesdynastien geknüpft.142

ABSTRACT This study argues for a more differentiated look on the role of German students during the First World War. As current research has shown, the so called “Augusterlebnis” was at least in part a “myth” constructed by German propaganda. The role of German students, who have always been described as pro-war, needs to be scrutinized. Not every young student was enthusiastic for war. However, as the coming elite of the German Empire, the students were expected to respond when their fatherland called them to fulfil their duty. Families, fellow students, and student corps exerted pressure on them as well as their academic teachers who misused their power and influence in society to manipulate the students. On the battlefield, the young men experienced violence, cruelty and brutality of modern warfare. Reality showed to be quite different from the romanticized idea of war as a noble knightly duel. The establishment of effective war welfare institutions for academics could not compensate for this disillusionment. At the same time, the number of female students at the universities rose. Only a few years ago, attending the university was a privilege of men. Now the rectors used the presence of female students as an argument against political demands to close universities in wartime.

141 Jarausch, Studenten (Anm. 12), S. 113. 142 Langewiesche, Rektoratsreden (Anm. 10), S. 89.

STUDIENJAHRE DREIER „HOCHBEGABTER“ Die Stipendiaten der Studienstiftung Ulrike Meinhof, Horst Mahler und Gudrun Ensslin Alexander Gallus

1. EINLEITUNG Gudrun Ensslins Anwalt zeigte sich Anfang 1969 enttäuscht über die, wie er meinte, unzureichende Berücksichtigung der Studienstiftungsunterlagen seiner Mandantin im Frankfurter Kaufhausbrandprozess. Das Gericht hatte die Akten angefordert, aber dem Verteidiger zufolge diese nicht genügend genutzt, um ein genaueres Persönlichkeitsbild Ensslins zu gewinnen.1 Enger verbunden als mit ihr war Ernst Heinitz mit der Studienstiftung des deutschen Volkes. Schon seit längerem unterstützte der Jura-Professor und Senatspräsident a. D. am Berliner Kammergericht die Stiftung ehrenamtlich als Vertrauensdozent. Gudrun Ensslin gehörte zu seiner Berliner Stipendiatengruppe, so dass Heinitz sie schon weit vor dem Kaufhausbrandprozess kennen und schätzen gelernt hatte. Insbesondere im Verfahren um die endgültige Aufnahme in die Stiftung, über die anhand von Studienleistungen und gutachtlichen Stellungnahmen in der Regel am Ende der ersten zwei Förderjahre entschieden wird, hat er sich für Gudrun Ensslin stark gemacht; und zwar nachdrücklich, weil er von ihr – ungeachtet fachlich keineswegs überzeugender Leistungen – den Eindruck einer überaus förderungswürdigen, besonders begabten Persönlichkeit gewonnen hatte.2 Außer in dem Frankfurter Gerichtsverfahren3 verließen die Akten nicht die Registratur bzw. das Archiv des Bad Godesberger Begabtenförderungswerks. Die Studienstiftungsunterlagen Ensslins standen der Forschung bislang nicht zur Verfügung. Gleiches gilt für die Akten Ulrike Meinhofs und Horst Mahlers, denn auch

1

2 3

Ernst Heinitz in einem Brief an die Referentin der Studienstiftung Uta Zuppke vom 9. Januar 1969, in: Archiv der Studienstiftung des deutschen Volkes, Bonn (alle weiteren genannten ungedruckten Quellen finden sich dort). Ich danke dem Vorstand der Studienstiftung und ihrem ehemaligen Generalsekretär Dr. Gerhard Teufel, die mir erstmals die Einsicht in die bislang unter Verschluss gehaltenen Stipendiaten-Akten gewährten. Eine kommentierte Edition der Materialien erscheint 2016 im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht. Die hier gemachten Ausführungen haben Eingang in die dortige Einführung gefunden. Siehe dazu im Detail weiter unten den Abschnitt zu Gudrun Ensslin. Vgl. das Urteil des Landgerichtes Frankfurt („Brandstifterurteil“) vom 31. Oktober 1968, in: Die Baader-Meinhof-Gruppe, zusammengestellt von Reinhard Rauball, Berlin/New York 1972, S. 167–210. Darin, ebd., S. 169, findet sich auch ein Hinweis auf die Studienstiftungsakten.

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sie wurden einst in die renommierteste deutsche Hochbegabten-Förderung aufgenommen. Bezogen auf die Leitfiguren der späteren Ersten Generation der Roten Armee Fraktion lag die Quote damit bei 75 Prozent (verglichen mit einer Förderquote deutlich unter einem Prozent bezogen auf die Gesamtstudierendenschaft). Einzig Andreas Baader schaffte es unter den vier frühen RAF-Protagonisten nicht in die Gruppe der Stipendiaten, allein schon weil ihm als Schulabbrecher dafür die Voraussetzung fehlte. Vereinzelt, in fragmentarischer Form fanden Dokumente aus den Akten Eingang in Studien über Meinhof und Ensslin. Horst Mahlers Studienjahre sind indes eine terra incognita; selbst Bruchstücke der Stiftungsunterlagen gelangten nicht an die (wissenschaftliche) Öffentlichkeit. Bettina Röhl hat dagegen auf Grundlage der privaten Parallelüberlieferung aus Semesterberichten ihrer Mutter Ulrike Meinhof und Briefen mit der Studienstiftung zitieren können.4 Im Falle Ensslins profitierte Gerd Koenen vom Nachlass des Schriftstellers Bernward Vesper im Deutschen Literaturarchiv Marbach.5 Vesper war selbst Stipendiat der Studienstiftung und eine Zeit lang mit Gudrun Ensslin verlobt. Aus dieser letztlich tragischen Beziehung ging auch der gemeinsame Sohn Felix Ensslin hervor. Michael Kapellen, der bislang die Tübinger Studienjahre Ensslins und Vespers am genauesten rekonstruiert hat, konnte allerdings nicht auf die Stiftungsakten zurückgreifen: Leider standen mir auch die Materialien der Studienstiftung des Deutschen Volkes nicht zur Verfügung, die wahrscheinlich noch viele wichtige Informationen über Details zum Studium Vespers und Ensslins enthalten, die aber vermutlich schon allein von ihrem zu erwartenden Umfang her ohnehin eine eigenständige Publikation wert sein dürften.6

In der Tat dokumentieren die Materialien der Studienstiftung die Studienjahre und -wege der drei führenden RAF-Mitbegründer ausführlich und teilweise auch eingehend. Ulrike Meinhof, die in Marburg, Wuppertal (Pädagogische Akademie), Münster und Hamburg Pädagogik und Psychologie (zeitweilig zusätzlich Deutsch, Geschichte und Kunstgeschichte) studierte, wurde zwischen 1955 und 1960 von der Studienstiftung des deutschen Volkes gefördert. Ihr letzter direkter Kontakt mit der Studienstiftung fand 1968 statt. Horst Mahler, Jura-Student an der FU Berlin, war von 1955 bis 1959 Stipendiat. Ein letzter direkter Kontakt datiert ebenfalls auf das Jahr 1968. Gudrun Ensslin, die – unterbrochen durch die Ausbildung zur Volksschullehrerin an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd – in Tübingen und Berlin Germanistik, Anglistik und Philosophie studierte, gelangte 1964 in den Kreis der Studienstiftler und blieb darin bis 1968. Ihre Unterlagen reichen aber bis 1960 zurück, da ihr erst im dritten Anlauf die Aufnahme (nach Zurückstellung und Ablehnung) gelang. Im Jahr 1967 trat sie letztmalig schriftlich in direkten Kontakt mit der Studienstiftung. Aufgrund des langen Vorlaufs sind Ensslins Akten am umfangreichsten, zählen knapp 260 Blatt, gefolgt von Meinhof mit fast 200 Seiten. 4 5 6

Bettina Röhl, So macht Kommunismus Spaß! Ulrike Meinhof, Klaus Rainer Röhl und die Akte KONKRET, Hamburg 2006, insbesondere S. 184–188. Gerd Koenen, Vesper, Ensslin, Baader. Urszenen des deutschen Terrorismus, Frankfurt a. M. 3 2009, bspw. S. 75, 114 o. 133 f. Michael Kapellen, Doppelt leben. Bernward Vesper und Gudrun Ensslin. Die Tübinger Jahre, Tübingen 2005, S. 15.

Studienjahre dreier „Hochbegabter“

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Mahlers Akte ist die mit Abstand schmalste und umfasst gerade mal 100 Blatt. Die Akten sind parallel strukturiert: Auf einen Personalbogen samt Foto folgen Angaben zur Stipendienberechnung. Aufnahme- und Auswahlprozess werden jeweils durch handschriftliche Lebensläufe, Vorschlagsgutachten (der Schule bzw. im späteren Fall Ensslins eines Hochschullehrers) sowie Einschätzungen zweier Gutachter auf Grundlage dieser Unterlagen und eines Gesprächs mit dem Kandidaten abgebildet. Eindrücke und Ergebnisse des Studiums sowie sonstige Erfahrungen lassen sich den regelmäßigen Semesterberichten der Stipendiaten entnehmen. Die Entscheidung der endgültigen Aufnahme stützte die Studienstiftung auf die nachgewiesenen Studienleistungen sowie Gutachten von Fach- sowie der Vertrauensdozenten. Sie finden sich ebenso in den Akten wie die weitere Korrespondenz der Stipendiaten mit der Studienstiftung. Wie gelangte man in den 1950er und 1960er Jahren in die Studienstiftung? Eine Selbstbewerbung war damals (und noch bis ins Jahr 2010 hinein) ausgeschlossen. Es bedurfte eines Schul- oder Hochschulvorschlags, um das Auswahlverfahren in Gang zu setzen. Die Kandidatinnen und Kandidaten reichten daraufhin einen ausgefüllten Bewerberbogen, Zeugnisse und einen ausführlichen Lebenslauf ein. Zwei persönliche Gespräche mit einem sogenannten Vorprüfer und einem Auswahlausschussmitglied – beide ehrenamtlich für die Stiftung tätig – endeten mit je einer gutachtlichen Empfehlung. Auf dieser Grundlage und nach der Gegenlektüre der Akte gab zudem ein hauptamtlicher Mitarbeiter der Geschäftsstelle eine Empfehlung ab. Im Streitfall entschied der Auswahlausschuss per Mehrheitsbeschluss. In der Begabung, der Leistung und der Persönlichkeit erkannte die Studienstiftung die drei entscheidenden Auswahlgesichtspunkte. Soziale Bedürftigkeit sollte dagegen – anders als im Falle der Honnef-Förderung und dem späteren Bafög – keine Rolle spielen. Ein Merkblatt der Studienstiftung von 1954 dokumentierte entsprechend, es sei die wissenschaftliche und künstlerische Ausbildung derjenigen Studenten und Studentinnen zu unterstützen, deren Gesamtpersönlichkeit hervorragende Leistungen im Dienste des Volksganzen erwarten lässt.7 Im Wissen um den weiteren Gang der Geschichte mutet es paradox an, dass Mahler, Meinhof und Ensslin in diesen Zirkel der bundesdeutschen Eliteförderung gelangt sind. Dieser Aufsatz setzt sich indes nicht zum Ziel, Anhaltspunkte für Täterprofile aus den Akten herauszulesen oder gar die Studienstiftung nachträglich zur Verantwortung zu ziehen. Der Frage, wie aus jungen Menschen Terroristen werden, die das Interesse psychologischer und kriminalistischer Diagnostik8 sowie der soziologischen Lebensverlaufforschung treffen dürfte,9 wird hier nicht weiter

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Wiedergegeben bei Rolf-Ulrich Kunze, Die Studienstiftung des deutschen Volkes seit 1925. Zur Geschichte der Hochbegabtenförderung in Deutschland, Berlin 2001, S. 289. Bezogen auf den islamistischen Terrorismus siehe exemplarisch Ingrid Glomp, Was macht junge Männer zu Terroristen?, in: Psychologie heute 38 (2011), Heft 8, S. 30–35. Vgl. etwa Gerhard Schmidtchen, Terroristische Karrieren. Soziologische Analysen anhand von Fahndungsunterlagen und Prozeßakten, in: Lebenslaufanalysen, hg. von Herbert Jäger, Gerhard Schmidtchen und Lieselotte Süllwold, Opladen 1981, S. 13–77; Uwe Backes, Bundesrepublik Deutschland: „Wir wollten alles und gleichzeitig nichts“, in: Beruf: Terrorist. Lebensläufe im Untergrund, hg. von Peter Waldmann, München 1993, S. 143–179.

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nachgegangen. Der Aufsatz verfolgt vielmehr die Absicht, der Überfrachtung der Biografien Meinhofs, Mahlers und Ensslins mit den Kenntnissen über ihre spätere RAF-Täterschaft zu entgehen. In den Blick sollen die Studienjahre dreier junger Menschen geraten, die zur Studienelite der Bundesrepublik zählten, von denen in überdurchschnittlicher Weise Leistung, Verantwortung und Initiative in der Gesellschaft, in der sie lebten, gleichsam erwartet wurde. Gewiss, diese Erwartungen – konfrontiert mit den Gewalttaten des Linksterrorismus der 1970er Jahre – sind schwer enttäuscht worden. Es gilt aber zeitlich einen großen Schritt zurückzutreten und die Erwartungshaltung zunächst nur im Licht der Erfahrung während der Studienjahre zu taxieren. Die Studienstiftungsakten, die darin enthaltenen Selbstzeugnisse und Beurteilungen eröffnen uns einen genaueren Blick auf die Biografien und Persönlichkeiten Meinhofs, Mahlers und Ensslins. Und das ist schon viel, zumal über ihre frühen Jahre vergleichsweise wenig Quellenmaterial existiert, die Sekundärliteratur häufig selbstreferentiell erscheint und nicht selten auf Hörensagen und kolportierten Geschichten beruht. Der Aufsatz will zunächst den Auswahlprozess, der zur Aufnahme in die Studienstiftung führte, rekonstruieren,10 bevor ein erster Streifzug durch die Selbsteinschätzungen der Semesterberichte, aber auch aus Stellungnahmen rund um die endgültige Aufnahme und die Dauer des Förderzeitraumes ein genaueres Bild der Studenten Meinhof, Mahler und Ensslin erbringen soll.11

2. ULRIKE MEINHOF Ende November 1954 setzt Ulrike Meinhofs (1934–1976) Aufnahmeverfahren für die Studienstiftung durch einen Schulvorschlag des Philippinums in Weilburg/Lahn ein, wo sie im Frühjahr 1955 ihr Abitur ablegen wird. Zwei schulische Gutachten begründen den Vorschlag. Meinhofs Klassenleiter schildert die schweren Ausgangsbedingungen der Schülerin, bedingt durch Orts- und Schulwechsel sowie den frühen Tod ihrer Eltern. So will er Wissenslücken und die durchschnittlichen Leistungen Meinhofs in naturwissenschaftlichen Fächern plausibel machen. In Deutsch und Neuen Sprachen sei sie dagegen überragend begabt. Hinzu komme ein Blick für das Künstlerische. Zudem spiele sie Geige und habe sich als wesentliche Stütze des Schulorchesters erwiesen. Persönlichkeit und Charakter lobt der Lehrer allgemein: Seine Schülerin besitze ein zuverlässiges Gedächtnis und eine gute Konzentrationsfähigkeit. Sie sei insgesamt ein klarer und sachlicher Mensch und fühle eine tiefe Verantwortung für die geistige und moralische Ausrichtung ihrer Mitschüler, die sie

10

Dazu auch Alexander Gallus, Ein Anfang, der das Ende nicht erwarten ließ. Die Studienstiftler Meinhof, Mahler, Ensslin, Vesper und die Eliteförderung der frühen Bundesrepublik – eine Aktenlektüre, in: Jahrbuch Extremismus & Demokratie 24 (2012), S. 12–29. 11 Die biografische Literatur zu den dreien ist mittlerweile umfangreich. Ich verweise daher nur auf die weiterführenden Handbuch-Beiträge: Jürgen Seifert, Ulrike Meinhof, in: Die RAF und der linke Terrorismus, hg. von Wolfgang Kraushaar, Bd. 1, Hamburg 2006, S. 350–371; Martin Jander, Horst Mahler, in: Ebd., S. 372–397; Susanne Bressan und Martin Jander, Gudrun Ensslin, in: Ebd., S. 398–429.

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[a]n geistiger und menschlicher Reife weit überrage. Bei alldem sei sie menschlich, unkompliziert, offen, ehrlich und schlicht geblieben.12 Unterstützung findet diese Einschätzung durch ein zweites Schulgutachten. Dessen Autor hat Meinhof für die Dauer von zwei Jahren in Deutsch und Französisch unterrichtet und von ihr den Eindruck eines eigenartige[n], aber besonders wertvolle[n] Mensch[en] gewonnen. In historischen und literaturwissenschaftlichen Fächern zeichne sie ein regelrechter Forscherdrang aus, der sie hervorragend geeignet für eine akademische Qualifikation erscheinen lasse. Sie werde fraglos wissenschaftlich Vorzügliches leisten. Darüber hinaus ist der Pädagoge voll des Lobes für den menschlichen Rang dieser Vollwaisen und empfiehlt sie daher der Studienstiftung uneingeschränkt für ein Stipendium.13 Das positive Urteil der Vorschlagsgutachten bestätigt auch der Vorprüfer nach einem Gespräch mit Ulrike Meinhof im Februar 1955: Der persönliche Eindruck und das Ergebnis der Unterhaltung stehen im Niveau weit über dem was das Abiturzeugnis erwarten lässt. Klar im Denken, schnelle logische Ordnung komplizierter Gedankengänge, gute Disposition an sich ungeordneter Komplexe des Unterhaltungsthemas.

Nicht nur ihre geistigen Fähigkeiten, sondern auch Persönlichkeit und Charakter scheinen dem Gutachter zufolge Meinhof für eine Aufnahme in die Studienstiftung zu prädestinieren: In sich geschlossene, harmonisch gewachsene, kluge und offenbar menschlich sehr schätzenswerte Persönlichkeit. Kluge, ruhig bescheidene, aber feste Entschiedenheit in ihrem Urteil. Vertritt eigene Meinung taktvoll und bestimmt.14

Dem Resultat der Vorprüfung stimmt das Auswahlausschussmitglied, eine ehemalige Oberstudiendirektorin und Staatssekretärin im Bildungsministerium von RheinlandPfalz, die zum Zeitpunkt des Gesprächs mit Ulrike Meinhof für die CDU im dortigen Landtag sitzt, mit großem Nachdruck zu. Leistungsfähigkeit, Charakter und die Fächerwahl der Kandidatin ergeben auch in diesem Fall ein rundes Bild. Regelrecht überschwänglich heißt es: Ich habe bei dieser Unterhaltung fast vergessen, dass ich eine Abiturientin vor mir hatte, so reif und bedacht war das Urteil, so besonnen das Abwägen der verschiedenen Gesichtspunkte. Dabei ist sie in keiner Weise altklug, aber klug, sicher weit über dem Durchschnitt begabt, selbständig und klar. Ich empfehle Fräulein Meinhof vorbehaltlos für die Studienstiftung.15

Abgesehen von den lediglich „ausreichenden“ Noten des Reifezeugnisses in Chemie und Latein (und „befriedigenden“ in Erdkunde, Französisch, Mathematik, Physik, Biologie und Leibesübungen)16 passt alles zusammen und zielen die Voten in eine Richtung, so dass Ulrike Meinhof Anfang April 1955 die Stipendienzusage erhält.

12 13 14 15 16

Gutachten des Klassenleiters, Weilburg, 30. November 1954. Schulgutachten vom 25. November 1954. Gutachten nach Vorprüfung zur Aufnahme in die Studienstiftung, Februar 1955. Gutachten des Auswahlausschussmitglieds, o. Datum [Frühjahr 1955] (Hervorhebungen im Original). Beglaubigte Abschrift des Zeugnisses der Reife für Ulrike Marie Meinhof, Gymnasium Philippinum Weilburg, 1. März 1955.

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Unter diesen Voraussetzungen kann sie ihr Studium in Marburg sorgenfrei aufnehmen. In ihrem ersten Semesterbericht hält sie als wichtigste Erfahrung fest, dass sie gerne studiere und sie die verglichen mit der Schule viel reichere[n] Möglichkeiten [. . .] zu fruchtbarem Lernen genieße. Angesichts der Offenheit universitärer Lehre und Wissensaneignung nimmt Meinhof ihr erstes Semester eher als „Grundsuche“, denn als „Grundfassen“ wahr. Es beschäftigt sie dabei nicht zuletzt das Verhältnis von Pädagogik und Psychologie.17 Die Beziehungen der beiden Fächer zueinander greift sie auch in den folgenden Semestern immer wieder auf, während sie zwischenzeitlich Geschichte statt des Nebenfachs Germanistik und später Kunstgeschichte wählt. Im dritten Semester stuft sie zudem Psychologie vom zweiten Haupt- zum Nebenfach zurück, weil sie zu diesem Wissensgebiet keine echte innere Beziehung habe aufbauen können. Um ihre Skepsis gegenüber diesem Fach näher darzulegen, beruft sie sich auf Max Schelers Wissensbegriff und unterscheidet Leistungs-, Bildungs- und Erlösungswissen voneinander.18 Vor diesem Vordergrund sei ihr deutlich geworden, daß die Psychologie, solange sie naturwissenschaftlich arbeitet [. . .] nicht mehr als „Leistungswissen“ sein kann, das der Frage nach dem Menschen entbehrt, obwohl der Mensch Gegenstand dieser Wissenschaft ist. Für Meinhof wohnt der Psychologie eine hermetische Wissensdimension inne, ohne zu einem tiefergründigen Verstehen vorzudringen. Dies sei Wissen um des Wissens willen. Sie nennt das Sommersemester 1956 ihr bisher schönstes Semester, auch weil sie solche Grundfragen für sich klären konnte und in einem umfassenden Sinn studierte und nicht bloß arbeitete: D. h., daß man in dem, was man tut, einen Weg sieht zur Klärung der Dinge, die einem selber wesentlich sind und sich so gewissermaßen mit seiner Arbeit identifizieren kann; daß man – ohne anmaßend zu sein – sagen darf, man habe nicht nur sehr viel gelernt, sondern auch manches begriffen.

Dazu zählt auch die Beschäftigung mit Martin Buber und seinem Werk. Sie interessiert insbesondere die durch ihn aufgeworfene und weiterhin untersuchenswerte Frage, ob der Mensch auf sein Selbstsein als Einzelner oder auf den dialogischen Bezug hin zu sehen und schließlich zu erziehen ist.19 Am Ende des Semesters steht die endgültige Aufnahme an. Ihr Vertrauensdozent, ein evangelischer Theologe und Kirchenhistoriker, empfiehlt diese aufs dringendste, habe Meinhof sich doch mit großem Ernst und einem ungewöhnlichen Verständnis in ihr Studium eingearbeitet. Während er lobend erwähnt, dass sie von einer betont religiösen christlichen Einstellung geprägt sei, die ihr zu einer großen inneren Freiheit verhelfe,20 erkennt die Fachgutachterin darin eine gewisse Gefahr, neige Meinhof doch dazu, Probleme theologisch zu radikalisieren. Ungeachtet dieser Beobachtung stimmt die Pädagogik-Professorin aber eindeutig für die weitere Förderung, weil die Kandidatin genuin wissenschaftlich denke, methodisch exakt arbeite und ohne

17 18 19 20

Ulrike Meinhof, Semesterbericht (SS 1955, 1. Fachsemester), Eingangstempel: 1. Oktober 1955. Sie bezieht sich konkret auf Max Scheler, Bildung und Wissen, Frankfurt a. M. 3 1947. Ulrike Meinhof, Semesterbericht, SS 1956, 19. August 1956. Stellungnahme des Vertrauensdozenten, 6. Juli 1956.

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Zweifel zu den besten Studentinnen zähle.21 Die endgültige Aufnahme ist bei diesen Voten reine Formsache.22 Im Wintersemester 1956/57 beschäftigt Ulrike Meinhof sich intensiv mit Friedrich Wilhelm Foersters Reformpädagogik und erwägt in jener Zeit, über ihn eine Dissertation zu verfassen. Außerdem findet die „Sowjet-Pädagogik“ ihr Interesse, auch um die Dinge, wie sie schreibt, die in der SBZ geschehen, besser zu verstehen, zu durchschauen und uns in gewissem Sinne zu rüsten für das Gespräch, das in dem Augenblick der Wiedervereinigung zur Notwendigkeit wird. Auch teilt sie der Studienstiftung ihren Entschluss mit, für ein Semester an die Pädagogische Akademie Wuppertal zu wechseln, an der ihr Vormund Renate Riemeck als Professorin wirkt.23 Das Sommersemester 1957 in Wuppertal verläuft, wie Meinhof berichtet, sehr fruchtbar, auch weil dort stärker als an der Universität die in der Pädagogik so wichtige Verbindung zwischen Theorie und Praxis gelinge. Gefallen findet sie auch an der in der Akademie praktizierten Gruppenarbeit, die für soziale Kontakte sorge. An der Universität dagegen sei die Not des Alleinseins, bei Studentinnen stärker als bei Studenten, doch recht ausgeprägt.24 Das Wintersemester 1957/58 ist Meinhofs sechstes Studiensemester und ihr erstes an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Hier hört sie viel Philosophie und setzt ihre Beschäftigung mit Martin Bubers Menschenbild und seinen Erziehungsidealen fort. Gerne würde sie darüber promovieren, wenn nicht, wie sie erfährt, schon eine entsprechende Dissertation in Münster in Arbeit wäre.25 Im Bericht über das folgende Semester kündigt sich eine doppelte Schwerpunktverlagerung an: Zum einen schreibt Meinhof, dass sie im Verlauf der Ferien mit einer Doktorarbeit über den Philosophen und Pädagogen Eberhard Grisebach begonnen habe; zum anderen hebt sie ihr politisches Engagement im Studentischen Arbeitskreis für ein kernwaffenfreies Deutschland hervor. Mit großer Verve begründet sie die Notwendigkeit dieser politischen Aktionen aus der Sorge um die innere Festigkeit unserer Demokratie heraus. Sie diagnostiziert sogar ein mehr oder weniger latentes Vorhandensein totalitärer Strebungen in der Bundesrepublik. Sie beschließt ihren Semesterbericht mit den Worten: Die Ablehnung der westdeutschen Rüstungspolitik und die Sorge um die innere Festigkeit unserer formal intakten Demokratie schienen mir den Einsatz an die Zeit und Kraft wert, die ich in diesem Semester durch meine Tätigkeit im studentischen Arbeitskreis für ein kernwaffenfreies Deutschland von meinem Studium abzweigte.26

Das Folgesemester wird ebenfalls von diesen politischen Fragen dominiert. In ihrem Bericht über das Wintersemester 1958/59 steht auch die Pädagogik ganz unter einem politischen Vorbehalt:

21 22 23 24 25 26

Fachgutachten, Professorin am Pädagogischen Seminar, Marburg, 4. Juli 1956. Personalisierter (Form-)Brief des Referenten Dr. Ohl an Ulrike Meinhof vom 8. Oktober 1956. Ulrike Meinhof, Semesterbericht (WS 1956/57), Eingangsstempel: 13. Mai 1957. Dies., Semesterbericht (SS 1957), Eingangsstempel: 1. November 1957. Dies., Semesterbericht (WS 1957/58), Eingangsstempel: 2. April 1958. Dies., Semesterbericht (SS 1958), Eingangsstempel: 28. August 1958.

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Alexander Gallus Pädagogisches Denken aber ist [. . .] immer zugleich politisches Denken, denn die Option für den Einzelnen kann die Sorge um das Ganze nicht ausschließen und die Frage nach der Gegenwart des Einzelnen oder der Gruppe enthält immer schon die Frage nach seiner (ihrer) Zukunft, wenn der Mensch – der etwaigen Geborgenheit von Elternhaus und Schule entwachsen – den gesellschaftlichen Mächten in erhöhtem Maße ausgeliefert ist. So genügt es [. . .] nicht, die Gesellschaft nur als eine Form organisierten menschlichen Zusammenlebens in ihrer Erscheinung zu beschreiben oder ihre anthropologischen Grundlagen zu erforschen. Vielmehr bedarf es der Frage nach den Prinzipien, die sie in ihrer heutigen Gestalt konstituieren und bestimmen, wie: Arbeitsteilung, Privateigentum, Freier Wettbewerb u. s. w. Auch bedarf es einer Analyse der Herrschaftsformen und Machtsphären innerhalb der „Gesellschaft“ – besser: „Bürgerlichen Gesellschaft“ – will man den Gegensatz von Gesellschaft und Gemeinschaft wirklich bestimmen und ihm begegnen können.27

Die nächsten beiden Studienberichte über das Sommersemester 1959 und das Wintersemester 1959/60, für das sie an die Universität Hamburg wechselt, fallen kurz aus, wohl auch deswegen, weil sie darin auf politische Stellungnahmen verzichtet und vor allem die Arbeit an ihrer Dissertation – mittlerweile über Erhard Weigel, einen Pädagogen aus dem 17. Jahrhundert – herausstreicht. Sie äußert die Absicht, das Promotionsprojekt noch im Jahr 1960 abschließen zu wollen, zumal sie während der Semesterferien ganz von der redaktionellen Tätigkeit bei der Studentenzeitung ‚konkret‘ entlastet sei.28 Ulrike Meinhofs publizistisches und politisches Engagement ruft Spannungen im Verhältnis zur Studienstiftung hervor. Grundsätzlich begrüßte oder forderte die Stiftung sogar außeruniversitäres Engagement, nur durfte dies nicht zu Lasten der Studienfortschritte gehen. Im Laufe des Jahres 1959 wachsen insbesondere beim für Meinhof zuständigen Referenten Hartmut Rahn, dem späteren Generalsekretär der Studienstiftung, Zweifel daran, ob sie ihr Studium – und das hieß ihr Promotionsvorhaben – zielgerichtet verfolgt oder stattdessen ihre Kraft und Energie ganz auf den außerparlamentarischen Protest gegen Atombewaffnung und vor allem auf die journalistische Tätigkeit für die Zeitschrift ‚konkret‘ richte. Meinhofs Antrag auf Verlängerung der Förderung bis Ende 1960 zur Fertigstellung ihrer Dissertation29 bereitet Rahn einiges Kopfzerbrechen. Angesichts des nicht näher begründeten Universitätswechsels und der zeitintensiven Mitarbeit an der Studentenzeitung zu Lasten der Dissertation hält er eine weitere Förderung für nicht angebracht. Erst nach Aufgabe Ihrer Arbeit in der Redaktion, teilt er Meinhof mit, einer ausführlichen Stellungnahme des Doktorvaters und einem Gespräch mit dem für sie zuständigen Vertrauensdozenten lasse sich darüber nochmals nachdenken.30 Das Gespräch mit Letztgenanntem, zugleich Rektor der Universität Hamburg und Strafrechts-Professor, verläuft allerdings zu Meinhofs Gunsten. Denn er halte die Zeitung ‚konkret‘ bei aller Kritik an ihr für eine geistig rege Angelegenheit und er schätze deren provozierende Art, die der konformistischen Haltung eines großen 27 28

Dies., Semesterbericht (WS 1958/59), Eingangsstempel: 6. April 1959. Dies., Semesterbericht (WS 1959/60), Eingangsstempel: 8. April 1960; dies., Semesterbericht (SS 1959), Eingangsstempel: 31. Juli 1959. 29 Brief Ulrike Meinhof samt Antrag auf Verlängerung der Förderung an Hartmut Rahn vom 15. Dezember 1959. 30 Brief des Referenten Hartmut Rahn an Ulrike Meinhof vom 9. Januar 1960.

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Teils unserer Studentenschaft nur gut tut. Ulrike Meinhof eine radikale Trennung von der ihr sehr lieb gewordenen Mitarbeit in der Zeitschrift „Konkret“ zuzumuten, hält er für zu hart. Schließlich werde sie zu dieser Tätigkeit von einer politischsittlichen Verpflichtung angetrieben, die auch vom politischen Engagement ihrer Ziehmutter Riemeck in der Anti-Atombewegung beeinflusst werde. Angesichts dieser Einschätzung schlägt er eine Verlängerung des Stipendiums bis Ende März 1960 vor, die nur nochmals auszudehnen sei, wenn Meinhof bis dahin ihre Dissertation merklich vorangetrieben haben sollte und ihr Doktorvater der Studienstiftung darüber gutachtlich berichten könne. Diese Vorgaben einzuhalten, gelingt Meinhof jedoch nicht, wie sie der Stiftung unaufgefordert mitteilt. Gleichzeitig dankt sie ihr sehr herzlich und sehr ehrlich für die jahrelange Unterstützung.31

3. HORST MAHLER Mit einem knappen Gutachten schlägt der Leiter der Wissenschaftlichen Oberschule in Aufbauform in Berlin-Wilmersdorf Horst Mahler (geb. 1936) der Studienstiftung für ein Stipendium vor. Die Leistungen aus dem Vorzeugnis lassen den Oberstudiendirektor ein Abitur „mit Auszeichnung“ erwarten (was so auch eintreten wird32 ). Ungeachtet schwieriger familiärer und wirtschaftlicher Verhältnisse sei Horst Mahler ein vielseitig begabter, besonders interessierter, fleißiger, zielstrebiger junger Mann, der auf einer breiten Wissensgrundlage einen Blick für das Wesentliche besitze. Darüber hinaus habe er sich für die Klassengemeinschaft eingesetzt und aktiv im Schülerparlament mitgewirkt. Trotz der finanziell angespannten Lage seiner Familie sei er eine gepflegte Erscheinung und gebe sich höflich und beherrscht.33 Der Vorprüfer hebt das korrekte und auffällig ernsthafte Auftreten Mahlers hervor. Er wertet diese Kühle als Folge schwerer Jugenderlebnisse, der Flucht aus Oberschlesien und des schwierigen Neubeginns in der Sowjetischen Besatzungszone vor dem Wechsel nach West-Berlin, vor allem aber des Selbstmords des depressiven Vaters, der die insgesamt vier Kinder mit in den Tod hatte nehmen wollen.34 Auch in seinem Lebenslauf berichtet Mahler von diesem einschneidenden Erlebnis und rechnet es nur dem Zufall und der Geistesgegenwart seines älteren Bruders zu, dass er und seine Geschwister überlebten.35 Während dieses Ereignis wie ein Schatten auf Mahlers Gemüt liege, blühe er regelrecht auf, sobald es um politische Dinge gehe. Dies würdigt der Vorprüfer positiv, weil der Kandidat zwar Jura studieren wolle, aber im Kern eine Karriere als Berufspolitiker anstrebe. Dabei tendiert er damals eindeutig nach links und berichtet von der ebenso sorgfältigen wie faszinierten Lektüre von Karl Marx’ ‚Kritik der politischen Ökonomie‘ (1859). Dadurch sei 31 32

Brief Ulrike Meinhofs an den Referenten Dr. Dieter Sauberzweig vom 4. April 1960. Zeugnis der Reife Horst Werner Dieter Mahlers, Wissenschaftliche Oberschule in Aufbauform Berlin-Wilmersdorf vom 4. März 1955 (beglaubigte Abschrift). 33 Gutachten des Oberstudiendirektors der Wissenschaftlichen Oberschule in Aufbauform, BerlinWilmersdorf, o. Datum [1954/55]. 34 Gutachten des Vorprüfers vom 19. Januar 1955. 35 Handschriftlicher Lebenslauf Horst Mahlers, Berlin-Schöneberg, 25. November 1954.

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er zum Marx-Anhänger geworden und sehe in der weiteren Auseinandersetzung mit ihm seine wichtigste Aufgabe. Zur Entspannung von der Marx-Lektüre, gibt er an, sich mathematischen Problemen zu widmen. In der Summe spricht sich der Gutachter für eine Aufnahme Mahlers in die Studienstiftung aus.36 Dem pflichtet auch das Auswahlausschussmitglied, eine Philosophin, bei, obgleich sie Mahler als einen Risikofall bezeichnet. Die Gutachterin begründet ihre leichten Zweifel mit der Spannung zwischen den Berufszielen Rechtsanwalt und Politiker. Auch sie hält aber regelrecht erleichtert fest, wie sehr Horst Mahler auflebe, wenn es um politisch-weltanschauliche Fragen geht, um Tagespolitik und um die Fragen künftiger Weltgestaltung. Denn zu Beginn des Gesprächs ist ihr ein wenig mulmig zumute, weil Mahler sie mit fast finsterer Reserve gemustert habe. Auch aufgrund der sehr starken Fixierung des Kandidaten auf die östlichen Ideologien empfiehlt sie der Studienstiftung, Mahler einen Studienort außerhalb Berlins [. . .] zur Auflage [zu] machen.37 Horst Mahler wird auf dieser Grundlage mit Beginn des Sommersemesters 1955 in die Studienstiftung aufgenommen und – entgegen der gutachtlichen Empfehlung – vom ersten bis zum letzten Semester Jura an der Freien Universität Berlin studieren. In gleichsam Marx’scher Diktion schreibt Mahler in seinem ersten Semesterbericht, dass er sich mehr als bislang dem staatlichen Überbau gewidmet habe, so Fragen nach Rechtssicherheit und Willkür oder nach der Abgrenzung zwischen demokratischem und Rechtsstaat. Außerdem befasste sich seine Studienstiftler-Gruppe mit Problemen des Wohlfahrtsstaates und Argumenten für und wider die These, dass der so ausgerichtete moderne Staat fast zwangsläufig zum totalen Staat mutieren müsse.38 In seinem zweiten Studiensemester bemüht sich Mahler weiter – diesmal mit Hilfe der Lektüre von Marx’ ‚Das Kapital‘ (Bd. 1: 1867; Bde. 2 u. 3: 1885/1894) –, in der weltanschaulichen Auseinandersetzung, das unterstreicht er nachdrücklich, seinen eigenen Standpunkt zu finden und seine Überzeugung von anerzogenen Vorurteilen zu säubern. Er verleiht dabei wiederholt seinem Drang Ausdruck, herauszufinden, was die Grundlagen der Gesellschaft seien und wie sie vorangetrieben werde: Ist diese Entwicklung die Emanation der sich entwickelnden Produktivkräfte, ist sie die Verwirklichung einer vorgegebenen Idee? Mahler bedauert sichtlich, noch nicht viel weiter gelangt zu sein als an den Punkt, Fragen aufzuwerfen statt Antworten zu formulieren. So sehr ihn das Studium schule, fühle er sich doch zugleich durch die damit verbundenen Anforderungen gehindert, seinen Gedanken nachzujagen und Befriedigung in den großen Problemen der Zeit zu suchen. Er übt Grundsatzkritik an der wirtschaftlichen und sozialen Situation der meisten Studierenden, die gezwungen seien, ein Maximum des Stoffes in einem Minimum an Zeit zu verarbeiten. Im bloßen Lernen für den späteren Broterwerb erkennt er eine Gefahr für die Freiheit des Studiums, wodurch in seinen Augen ein Verlust der geistigen Freiheit überhaupt drohte.

36 37 38

Gutachten des Vorprüfers vom 19. Januar 1955. Gutachten des Auswahlausschussmitglieds, 10. Februar 1955. Horst Mahler, Semesterbericht SS 1955, Berlin, 31. Juli 1955.

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Da wo Zeit und Kraft fehlten, um Problemkonstellationen kritisch zu durchdringen, malt er am Horizont das Schreckbild einer geistige[n] Sklaverei von Vorurteilen.39 Das folgende Semester ist für Mahler neben der Erlernung technischer Dinge – es ist wohl das Jurastudium an sich gemeint – damit ausgefüllt, eine Orientierung im Meinungsstreit anzustreben. Nicht Funktionsmechanismen einzelner Paragraphen und Rechtsnormen finden sein Interesse, sondern vielmehr die grundlegende Suche nach einer Rechtfertigung des Rechts in den übergeordneten Bezirken der Ethik oder Weltanschauung. In Abgrenzung zu jeglichem Rechtspositivismus verweist Mahler in den vorjuristischen Bereich politischer und philosophischer Kernfragen nach der Ausgestaltung gemeinschaftlicher Ordnung.40 Nach dem Sommersemester 1956 prüft die Studienstiftung, ob Horst Mahler für die endgültige Aufnahme geeignet sei. Gutachtliche Stellungnahmen liefern der Vertrauensdozent, ein Professor für Osteuropäische Geschichte, sowie zwei JuraProfessoren. Der Strafrechtsvertreter unter ihnen notiert, dass ihm Mahler aus einer Anfänger-Übung und als studentische Hilfskraft bekannt sei. Er habe recht Ordentliches geleistet und seine Einlassungen seien meist genau, seine Arbeiten lägen über dem Durchschnitt. Der Gutachter erachtet Mahler für das Richteramt als gut geeignet und bemerkt, dass der Kandidat zu starker theoretischer Handhabung des Rechts neige. Gleichwohl schreibt der Jura-Professor: Nach den bisherigen Leistungen hätte ich ihn nicht für die Studienstiftung vorgeschlagen [. . .], ergänzt jedoch die Prognose, Mahler werde sich in der Zukunft noch gut nach der wissenschaftlichen Seite hin entwickeln.41 Weniger gemischt fällt das Urteil des Professors für Bürgerliches Recht aus. Ihm zufolge gehört Mahler zu der kleinen Gruppe der Studenten, die nicht nur Eifer, sondern vor allem ein ganz erhebliches Verständnis zeigen. Der Kandidat habe teilweise Ausgezeichnetes geleistet und sei der Studienstiftung weiterhin zu empfehlen, denn der Gutachter ist davon überzeugt, dass er sich auch in Zukunft mit besonders guten Leistungen bewähren wird.42 Der Vertrauensdozent betrachtet die endgültige Aufnahme als voll gerechtfertigt. Mit großer Lebendigkeit engagiere Mahler sich in der Studienstiftlergruppe. Insgesamt wirke er sicher, gründlich, energisch. Ausdrücklich lobt der Gutachter, wie sehr der Kandidat bestrebt sei, juristische mit politischen und ethischen Fragen zu verknüpfen.43 Anfang Oktober 1956 teilt die Studienstiftung Mahler die erfolgreiche endgültige Aufnahme mit.44 Mittlerweile hat das Wintersemester 1956/57 begonnen: Wenngleich nicht so grundsätzlich wie im Sommer und auf geringerem Abstraktionsniveau steht auch im Wintersemester 1956/57 das Politische bei Mahler im Vordergrund, während die eigentliche Jurisprudenz etwas in den Hintergrund gerate, wie er im Semesterbericht

39 40 41 42 43 44

Ders., Semesterbericht WS 1955/56, Berlin, 12. März 1956. Ders., Semesterbericht für das SS 1956, Berlin, 15. Juli 1956. Stellungnahme des Fachdozenten, Professor für Strafrecht an der FU Berlin, 10. Juli 1956. Gutachten des Fachdozenten, Professor für Bürgerliches Recht an der FU Berlin, 12. Juli 1956. Stellungnahme des Vertrauensdozenten, Professor für Osteuropäische Geschichte an der FU Berlin, 1. August 1956. Personalisierter (Form-)Brief des Geschäftsführers der Studienstiftung Dr. Heinz Haerten an Horst Mahler vom 8. Oktober 1956.

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freimütig bekennt. Bei Bundesverfassungsrichter Martin Drath besucht er ein Seminar zum damals gerade aktuellen KPD-Verbotsprozess und beschäftigt sich in diesem Rahmen intensiv mit der marxistisch-leninistischen Staats- und Rechtstheorie. Wie schon früher verhehlt Mahler seine Sympathien für den Marxismus-Leninismus nicht. Die Beispiele Chinas und Jugoslawiens belegten seines Erachtens, dass Sozialismus und Kommunismus auch unabhängig von Moskau Entfaltungsmöglichkeiten besäßen. Angesichts solcher Dritte-Weg-Tendenzen hält er außerdem die These, dass die SBZ, einmal von Moskau losgelöst, sich schnell den westlichen Verhältnissen assimilieren werde, [für] mindestens zweifelhaft, wenn nicht gar illusionär. Darüber hinaus habe er sich in dem vergangenen Semester mit der Frage einer möglichen deutschen Wiedervereinigung beschäftigt und speziell mit den Auswirkungen der – wie es abwertend heißt – weltweiten wirtschaftlichen und damit auch politischen Verstrickungen der Bundesrepublik.45 In einem höchst knapp gefassten Bericht über das folgende Sommersemester räumt Mahler nochmals ein, sich bisher sehr stark mit nicht-juristischen Dingen befasst zu haben. Dem habe er nun Abhilfe zu leisten begonnen.46 Nähere Ausführungen scheinen ihm die Jura-Studien im engeren Sinne aber nicht wert zu sein. Damit gibt sich die Studienstiftung jedoch nicht zufrieden und fordert von Mahler einen ausführlichen Bericht,47 den dieser dann rasch nachliefert. Darin führt er aus, dass er sich intensiv mit verfassungsrechtlichen Fragen des Streikrechts auseinandergesetzt habe ebenso wie mit der Marxismus-Diskussion in Polen. Insgesamt bedauert er aber gleich zu Beginn des Rapports die kraft- und zeitraubende Tätigkeit des Repetierens bisherigen Lernstoffes, so dass wenig blieb für eine Beschäftigung mit der östlichen Ideologie, der er sich in den vorherigen Semestern intensiv gewidmet hatte.48 Von seiner Beschäftigung mit marxistisch-leninistischen Theorien lässt Mahler auch im Wintersemester 1957/58 nicht ab. Er stellt sich dieses Mal vor die Aufgabe, deren scheinbare[n] Vollkommenheit und logische[n] Geschlossenheit in Frage zu stellen und die Hypothese vom demokratischen Kapitalismus als Alternative zum Sozialismus zunächst unkritisch zu akzeptieren. Statt von vornherein Kritik zu üben, wolle er zu einem umfassenden Verständnis der westlichen Gesellschaftsordnungen gelangen. Er gibt indes zu, wie schwer ihm das Einleben in den Gegenstand falle. Das Studium von Fachliteratur zum politischen System der USA solle ihm dabei helfen. Das Beispiel der Vereinigten Staaten scheint für seinen Versuchsaufbau, wie er meint, auch insofern sinnvoll gewählt zu sein, da sie eine kontinuierliche, wirtschaftliche Entwicklung zurückgelegt haben, die nicht wie in Europa durch totale Zusammenbrüche gestört wurde und die ebenso wenig von einer feudalistischen Tradition belastet wie von einer linksrevolutionären Bewegung im Inneren bedroht ist. Mahler belässt es bei dieser Schilderung, ohne Schlussfolgerungen zu ziehen oder bereits Antworten zu formulieren. Des Weiteren berichtet er vom Besuch verschiedener Vorlesungen und Seminare, die vom Bank- und Börsenrecht über das 45 46 47 48

Ders., Semesterbericht für das WS 1956/57, Berlin, 10. März 1957. Ders., Semesterbericht für das SS 1957, Berlin, 13. September 1957. Brief des Referenten Dr. Simon an Horst Mahler vom 4. Oktober 1957. Horst Mahler, Semesterbericht für das SS 1957, Berlin, 10. Oktober 1957.

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Völkerrecht bis zum Strafrecht und einer Übung zum Bürgerlichen Gesetzbuch reichen. Erneut treffen aber nicht einzelne Gesetzestexte sein vertieftes Interesse, sondern hinter ihnen stehende Normen und Wertentscheidungen oder sogar anthropologische Strukturen. Wichtig sind für Mahler hier, wie er festhält, die Schriften des Philosophischen Anthropologen Arnold Gehlen und auch von dessen akademischem Schüler Helmut Schelsky. Zudem half Schelskys ‚Soziologie der Sexualität‘ Mahler bei der Auseinandersetzung mit der Frage nach der Verfassungsmäßigkeit des § 175 StGB, weil ihm die Studie Anhaltspunkte dafür lieferte, wie überhaupt soziale Beziehungen normiert würden.49 Das Sommersemester 1958 ist von Examensnähe und der Durcharbeitung eines Repetitoriums gekennzeichnet, wie Mahler wenig begeistert in seinem Semesterbericht notiert. Zudem befasst er sich mit dem Wohnraumbewirtschaftungsrecht, nicht um Detailfragen, sondern um daran – wie stets – Grundsatzprobleme der Wirksamkeit von Rechtsschutz im Verwaltungsrecht zu erörtern. Schließlich organisiert er mit Kommilitonen und einem Jesuitenpater einen Diskussionskreis, der sich anhand der Lenin’schen Schrift ‚Materialismus und Empiriokrititzismus‘ (1908) dem Spannungsverhältnis von geistigen und materiellen Antriebskräften in Geschichte und Gesellschaft auseinandersetzt. Im Folgesemester, kündigt Mahler an, wolle der Zirkel sich intensiv Problemen des Katholizismus zuwenden. Abschließend konstatiert er, die Prüfung zum kleinen Latinum mit „befriedigendem“ Erfolg absolviert zu haben.50 Der Bericht über das Wintersemester 1958/59 fällt vergleichsweise knapp aus, sei es doch durch relative Eintönigkeit und Ereignislosigkeit gekennzeichnet gewesen. So stand es ganz im Zeichen der intensiven Vorbereitung auf die erste juristische Staatsprüfung, deren Klausuren Mahler zwischen dem 9. und 13. März schreibt. Auch in diesem letzten Semesterbericht rekurriert er nochmals auf Karl Marx und unterstreicht, wie sehr der erste Band des ‚Kapitals‘ auch das Verständnis für die rechtlichen Probleme des Arbeitsverhältnisses auf ein breiteres Fundament stelle. Mit dem Abschluss der Staatsexamensprüfungen, informiert Mahler die Studienstiftung, rechnet er im Juni 1959.51 Am 24. Juni 1959 besteht er die erste juristische Staatsprüfung mit voll befriedigendem Ergebnis. Dies teilt er der Stiftung verbunden mit der Bitte mit, ihn noch bis in den Herbst hinein zur Vorbereitung der Dissertation zu fördern. Ab Oktober 1959 werde er dann, sofern seine Bewerbung erfolgreich sei, am Kammergericht Berlin in den Vorbereitungsdienst eintreten, schließlich strebe er die Befähigung zum Richteramt an. Die Studienstiftung verlängert die Förderung bis zum Beginn der Referendarszeit, so dass Mahler erst nach dem 30. September 1959 aus der Studienstiftung ausscheidet.52 Wichtig für die positive Entscheidung ist die 49

Ders., Semesterbericht für das WS 1957/58, Berlin, 10. März 1958; zum Hintergrund: Patrick Wöhrle, Metamorphosen des Mängelwesens. Zu Werk und Wirkung Arnold Gehlens, Frankfurt a. M. 2010; Helmut Schelsky, Soziologie der Sexualität. Über die Beziehungen zwischen Geschlecht, Moral und Gesellschaft, Hamburg 1955; vgl. auch Alexander Gallus (Hg.), Helmut Schelsky – der politische Anti-Soziologe. Eine Neurezeption, Göttingen 2013. 50 Horst Mahler, Semesterbericht, SS 1958, Berlin, 19. August 1958. 51 Ders., Semesterbericht für das WS 1958–59, Berlin, 14. März 1959. 52 Vgl. Briefe Simons an Horst Mahler vom 16. Juni 1959, 14. Juli 1959 sowie 16. September 1959.

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Tatsache, dass Ernst Heinitz sich ohne die geringsten Bedenken für Horst Mahler einsetzt und sich bereit erklärt, ihn als Doktoranden zu betreuen.53

4. GUDRUN ENSSLIN Bis Gudrun Ensslin (1940–1977) Professor Heinitz als ihren Berliner Vertrauensdozenten kennenlernt, vergehen noch einige Jahre, denn erstens ist die Kandidatin einige Jahre jünger als Meinhof und Mahler, zweitens benötigt sie drei Anläufe bis zur Aufnahme in die Studienstiftung. Das erste Mal wird sie im Jahr 1960 von ihrer Schule, dem Stuttgarter Mädchen-Gymnasium Königin-Katharina-Stift vorgeschlagen. Die Schulleiterin fügt neben der eigenen Begründung noch vier Stellungnahmen von Fachlehrern über Ensslin bei. Dieses gutachtliche Aufgebot hielt die Schule wohl auch deswegen für notwendig, weil das Abiturzeugnis die Kandidatin nicht als potentielle Stipendiatin der Studienstiftung ausweist. Das Notenspektrum ist weit gestreut, reicht von „sehr guten“ Leistungen in Musik bis zu „ausreichenden“ in Physik. Hinzu kommen siebenmal „gut“ und fünfmal „befriedigend“.54 Ihre Lehrer loben Ensslins Fähigkeit zu selbstständigem und klarem Denken, vor allem aber ihren Charakter: Sie sei bescheiden, kameradschaftlich, selbstlos und besitze ein ausgeglichenes, offenes wie fröhliches Wesen. Von ihr könne man Verantwortungsbewusstsein und wenn nötig Mut im Urteilen und Handeln erwarten, hält ihre Geschichts- und Gemeinschaftskunde-Lehrerin fest.55 Gudrun wusste genau, was sie wollte, ergänzt die Schulleiterin, und ließ sich durch nichts davon abbringen, außer durch solche Argumente, die sie wirklich überzeugten.56 Es folgt das Gespräch mit dem Vorprüfer, einem Literaturhistoriker, der ihr Verantwortungsbewusstsein, Einfühlungsvermögen und innerhalb ihrer Erlebniswelt klare Vorstellungen und ein sicheres Urteil bescheinigt. Stärken erkennt er bei Ensslin im gefühlsmäßigen Bereich und lobt ihr instinktives Reaktionsvermögen. Unsicher ist er sich dagegen in der Beurteilung ihrer intellektuellen Fähigkeiten und schlägt den Fall daher zur Besprechung vor.57 Das Auswahlausschussmitglied, ein Stuttgarter Oberstudiendirektor, erhebt ähnliche Zweifel: Nicht ganz klar bin ich mir über die Fähigkeit der Bewerberin, logisch zu disponieren, philosophisch zu denken, systematisch zu kombinieren [. . .]. Auch teilt er nicht die mehrfach in den Schulgutachten herausgestrichene Auffassung über den Charakterzug einer ausgeprägten Bescheidenheit Ensslins. Sie übt in dem Gespräch mit ihm an Schule und Universität mit einer rücksichtslosen Offenheit und Unerbittlichkeit in der Sache derart Kritik, dass mögliche Konflikte mit Autoritäten recht wahrscheinlich sein 53 54 55 56 57

Brief Simons an Ernst Heinitz vom 4. Juni 1959. Reifezeugnis Gudrun Ensslins, Königin-Katharina-Stift Stuttgart, Gymnasium für Mädchen vom 3. März 1960 (beglaubigte Abschrift). Gutachten der Geschichts- und Gemeinschaftskunde-Lehrerin, Studienrätin am KöniginKatharina-Stift, Stuttgart, 28. Juni 1960. Gutachten der Deutschlehrerin und Schulleiterin, Oberstudiendirektorin am Königin-KatharinaStift, Stuttgart, 1. Juli 1960. Gutachten des Vorprüfers, o. Datum [27. Dezember 1960].

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dürften. Der Gutachter votiert für eine Zurückstellung des Falls und bittet einen Tübinger Germanistik-Professor um eine zusätzliche Einschätzung über Gudrun Ensslin.58 Der Fachdozent kennt die Kandidatin aus seinen Veranstaltungen und durch ein intensives persönliches Gespräch. In der Summe wird sein Gutachten von einem positiven Duktus durchzogen, doch erneuert es zugleich die bereits von den anderen beiden Gutachtern geäußerten Bedenken: Ensslin werde von einer allzu stark gefühlsgebundenen Subjektivität angetrieben und habe Nachholbedarf im Bereich der spezifisch wissenschaftlichen Methoden.59 Der Auswahlausschuss folgt auf dieser Grundlage der Empfehlung, eine Entscheidung zurückzustellen und Ensslin nach einem Jahr erneut zu prüfen. Im Jahr 1962 läuft die zweite Aufnahmerunde für sie an. Die Studienstiftung forderte in der Zwischenzeit Stellungsnahmen des Auswahlausschussmitglieds aus dem vorherigen Verfahren sowie des Tübinger Germanistik-Professors an. Ersterer votiert nun eindeutig positiv und spricht von einer zweifellos intellektuell hochbegabten, selbständigen und ungewöhnlich engagierten jungen Studentin.60 Dagegen konstatiert der zweite Gutachter zwar merklich positive Fortschritte, empfiehlt aber die Entscheidung noch um ein weiteres Semester aufzuschieben. Ungeachtet ihrer überdurchschnittlichen Begabung und Leistung könne er sie gegenwärtig nicht zur höchsten „Spitzengruppe“ der Studenten mit wirklich „hervorragenden“ Studienleistungen rechnen. Auch hegt er Zweifel daran, wie gefestigt Ensslins Persönlichkeit sei, vermittle sie ihm doch einen vielfach noch tastenden und in mancher Hinsicht sogar etwas zur Sprunghaftigkeit neigenden Eindruck.61 Eine weitere Stellungnahme eines Dozenten für amerikanische Gegenwartsliteratur setzt ebenfalls ein Fragezeichen hinter Ensslins fachliche Exzellenz, fehle ihr doch ein ausgeprägtes Gefühl für Problematik wie auch geistige Intensität, gerade in literarischen Dingen.62 Die inzwischen schon recht umfangreiche Akte wandert zum Vorprüfer, ein Chefarzt am Stuttgarter Robert-Bosch-Krankenhaus, der – wie schon frühere Einschätzungen – die Begabung der Bewerberin eher in der Lebendigkeit ihrer Interessen, dem Einfallsreichtum ihres Geistes, dem lebendigen Gefühl für das Schöne und Wertvolle als einem eigentlichen wissenschaftlichen Denkvermögen erkennt. Wolle die Stiftung nur künftige Forscherfiguren fördern, so müsse sie Ensslin ablehnen. Unterstütze sie hingegen auch solche künftigen Akademiker, die sich anderweitig um die Allgemeinheit verdient machten, so plädiere er eindeutig für die Aufnahme, zumal er Ensslin charakterlich als sehr hoch einschätzt.63 Das Auswahlausschussmitglied, ein 58 59 60 61

62 63

Gutachten über Fräulein Ensslin, Auswahlausschussmitglied, Oberstudiendirektor des EberhardLudwig-Gymnasiums, Stuttgart, 7. Januar 1961. Gutachten, Professor am Deutschen Seminar der Universität Tübingen, 31. Januar 1961. Gutachten des Oberstudiendirektors des Eberhard-Ludwig-Gymnasiums, Stuttgart, 21. Januar 1962. Gutachten über die Aufnahme von stud. phil. Frl. Gudrun Ensslin in die Studienstiftung des deutschen Volkes, Professor am Deutschen Seminar der Universität Tübingen, 2. August 1961 (Hervorhebung im Original). Mit den in Anführungszeichen gesetzten Begriffen nimmt der Gutachter wörtlich auf das Anforderungsschreiben der Studienstiftung Bezug. Gutachten, Tübingen, 28. Juli 1961. Gutachten des Vorprüfers, Chefarzt der II. inneren Abteilung, Robert-Bosch-Krankenhaus, Stuttgart, 29. Januar 1962.

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Stuttgarter Arzt, würdigt Ensslins Studienleistungen vor allem im Lichte familiärer Belastungen und ihres Einsatzes für den schwer erkrankten Bruder (Depression), die pflegebedürftige Großmutter und den elterlichen Haushalt mit fünf Geschwistern. Unter diesen widrigen Umständen seien ihre universitären Leistungen als fachliche Bewährung zu werten.64 Trotz dieser letzten beiden Ja-Voten spricht sich der Auswahlausschuss mit zwölf Stimmen und einer Enthaltung gegen die Aufnahme Ensslins aus.65 Ein Grund findet sich nicht ausdrücklich verzeichnet, doch dürften weiterhin Zweifel an ihren Studienleistungen bestanden haben. Ein wenig Pech kommt hinzu, denn ein fachliches Gutachten zu einer mit „sehr gut“ bewerteten Proseminar-Arbeit Ensslins über Novalis geht am Lehrstuhl des Tübinger Germanistik-Professors, der sich schon wiederholt zu ihr geäußert hat, zeitweilig verloren. Er setzt sich um die Jahreswende 1963/64 für eine Wiederaufnahme des Verfahrens ein, zumal er schon seit längerem wahrnehmen konnte, dass sich Ensslin geistig und charakterlich fortentwickelt habe und einen weitaus profilierteren und ausgereifteren Eindruck als früher vermittle. Sie wirke sympathisch und wertvoll durch die phrasenlose Echtheit und das echte Verantwortungsgefühl sowohl ihres eigenen Wesens wie ihres wissenschaftlichen Studiums. Angesichts dieses positiven Wandlungsprozesses unterstützt er anders als in den vorherigen Beurteilungen nun eine Förderung Ensslins durch die Studienstiftung eindeutig.66 So neu ins Rennen gebracht, gelangen die Unterlagen zur Vorprüferin, einer in Tübingen ansässigen Psychologin. Nach dem Gespräch mit Ensslin hält sie kritisch deren auffallend stilisierte ästhetische Prägung fest, wodurch die dann im Gespräch deutlich hervortretende Lebendigkeit und Vielseitigkeit ihres Wesens, und die Klugheit ihrer Auffassungen verdeckt würden. Die Kandidatin sei ein außergewöhnliches Mädchen mit guter Substanz, Originalität und Schwung. Gleichwohl stimmt die Vorprüferin einer Aufnahme nicht vorbehaltlos zu, erkennt sie doch in manch extravaganten Vorstellungen und Plänen Ensslins ein gewisses Risiko. Sie bezieht sich dabei auf Ensslins auch finanziell gewagtes Engagement für den gemeinsam mit Bernward Vesper begründeten Verlag ‚studio neue literatur‘, der vorrangig, wie sie Ensslin zitiert, Zeitkritik von der Literatur ausgehend üben wolle. Am Ende des Gutachtens stehen daher ein Ja mit Vorbehalt und die Empfehlung, weitere Kontrollen und Beratungen einzubauen.67 Das Auswahlausschussmitglied, ein Tübinger Altphilologe, empfiehlt, den Fall nochmals zu besprechen, aber das Risiko der Aufnahme diesmal einzugehen, weil er Ensslins weitere Entwicklung optimistisch einschätze. Auch ihm macht die stilisierte hypermoderne Erscheinung der Kandidatin zu schaffen, doch gewinnt er während des Gesprächs den Eindruck einer natürlichen und sympathischen Persönlichkeit. Für mittlerweile erwiesen betrachtet er die Tatsache, dass Ensslins Intelligenz und fachliche Begabung [. . .] klar über den 64 65

Gutachten, Stuttgart, 20. Februar 1962. Einzelprotokoll des Auswahlausschusses der Studienstiftung des deutschen Volkes mit der Entscheidung „Ablehnung“, o. Datum [März 1962]. 66 Schreiben an den Referenten der Studienstiftung H. G. Hillgruber vom 31. Januar 1964 mit Abschrift des Gutachtens über die Aufnahme von stud. phil. Frl. Gudrun Ensslin in die Studienstiftung des deutschen Volkes vom 17. April 1962. 67 Gutachten der Vorprüferin, Tübingen, 27. Februar 1964.

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Durchschnitt ragen.68 Der Ausschuss bespricht den Fall erneut und gelangt mit neun Ja-Stimmen bei einer Enthaltung zu einem Aufnahmebeschluss.69 Die Förderung beginnt mit dem Sommersemester 1964. Auch nach der Aufnahme erweist sich Ensslin als ein schwieriger Fall für die Stiftung, denn gleich ihre ersten Semesterberichte bleibt sie säumig und liefert diese erst nach mehrfacher Mahnung für den Zeitraum von drei Semestern im August 1965 nach. Darin berichtet sie vom Umzug nach Berlin und schwierigen Wohnverhältnissen in den ersten Monaten. Sie bekennt offenherzig, nur unregelmäßig zur Universität gegangen zu sein. Ihr Rapport ist von literarisch anmutenden Impressionen durchzogen – ein Beispiel: Ich lief durch Kreuzbergs, Moabits, Schönebergs Straßen; sah Elend und Euphorie, grenzenlose Gleichgültigkeit und fanatischen Einsatz, Verzweiflung und Hoffnung – Millionen sahen es vor mir, und doch waren es meine Augen, hinter denen sich die Bilder sammelten, war es meine Stirn, die oft müde wurde.

Angeregt mag sie zu dieser Art der Darstellung auch von der Bekanntschaft und Diskussionsrunden in Berlin mit Schriftstellern wie Uwe Johnson, Günter Grass oder Peter Härtling worden sein. Im Mittelpunkt des Semesterberichts steht aber der Dichter Hans Henny Jahnn, über dessen umfangreiche Romantrilogie ‚Fluss ohne Ufer‘ (1949–1961) Ensslin zu promovieren beabsichtigt.70 Jahnn ist Ensslin durch seinen öffentlichen Protest gegen Wieder- und später Atombewaffnung auch politisch sympathisch. So gehört er 1963/64 auch – noch posthum – zu den Autoren des von Ensslin und Vesper in der Reihe ‚studio bibliothek‘ herausgebrachten Bandes ‚Gegen den Tod – Stimmen deutscher Schriftsteller gegen die Atombombe‘.71 Im geistigen Kampf aber mit Jahnns umfangreichem Werk ‚Fluss ohne Ufer‘ sei sie in den zurückliegenden drei Semestern oft voller Niedergeschlagenheit gewesen, auch weil es große Abwehrkräfte gegen die Instrumente der Philologie besitzt, über die ich bislang, nach sechs fleißigen Anfangssemestern voller Akribie in Tübingen, nach zwei unwilligen Semestern an der Päd.[agogischen] Hochschule [Schwäbisch Gmünd], und nach drei Semestern des freiwilligen und unfreiwilligen Schweifens und Suchens in Berlin, verfüge. Mittlerweile sei sie ob der vielfältigen neuen Impressionen ein wenig erschöpft, beschließt sie ihre emotional-assoziativen Ausführungen, um einen optimistischen Ausblick anzuschließen: [D]er Weg durch die Stadt hat zu mir selbst geführt, denke ich, zur endlich disziplinierten Arbeit.72 In der zweiten Jahreshälfte 1965 steht das Verfahren zur endgültigen Aufnahme an. Der gutachtende Fachdozent, ein Professor für amerikanische Literatur am JohnF.-Kennedy Institut der FU Berlin, attestiert Ensslin nur oberflächliche Kenntnisse auf dem Gebiet der amerikanischen Literatur. Sie werde sich dem Studium dieses 68 69 70 71

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Gutachten des Auswahlausschussmitglieds, Professor für Klassische Philologie und Vergleichende Literaturwissenschaft, Tübingen, 29. Februar 1964. Einzelprotokoll des Auswahlausschusses der Studienstiftung des deutschen Volkes mit der Entscheidung „Aufnahme“, o. Datum [März 1964]. Gudrun Ensslin, Bericht über drei Semester in Berlin, Mai 1964–August 1965, 20. August 1965. Gegen den Tod. Stimmen deutscher Schriftsteller gegen die Atombombe, Stuttgart-Cannstadt 1964; siehe zu Ensslins Engagement für diesen Band auch ihren handschriftlichen Lebenslauf vom 15. Dezember 1963. Gudrun Ensslin, Bericht über drei Semester in Berlin, Mai 1964–August 1965, 20. August 1965.

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Faches noch ernsthaft widmen müssen. Überhaupt könne er verglichen mit anderen Studenten keine hervorragende Befähigung in ihrem Fall feststellen. Irritiert zeigt er sich zudem über Kleidung und Benehmen: Beides lasse eine gewisse Leichtfertigkeit erkennen.73 Ensslins Vertrauensdozent gibt zu bedenken, dass man sie leicht falsch beurteilen könne. Vom allgemeinen menschlichen Standpunkt aus plädiert er für eine Aufnahme, in fachlicher Hinsicht müsse er sich eines Urteils enthalten. Er legt der Studienstiftung nahe, die Entscheidung über die endgültige Aufnahme aufzuschieben.74 Der Aufnahmeausschuss stimmt im Herbst des Jahres diesem Begehren zu und stellt die Entscheidung für zwei Semester zurück. Ensslin werden insbesondere ungewöhnliche familiäre Belastungen zugute gehalten. Schließlich könne man, wie einer Protokollnotiz des für Ensslin zuständigen Referenten zu entnehmen ist, das zeige der Semesterbericht, ihre Persönlichkeit nicht nur mit den Maßstäben messen, die am üblichen Germanistikstudium orientiert sind, man müsse auch solche Kriterien heranziehen, die bei der Auswahl von „Künstlern“ maßgeblich sind.75 Ensslin bleibt also vorerst in der Förderung. Im Wintersemester 1965/65 widmet sie sich neben der Philosophiegeschichte und literaturwissenschaftlicher Methodik weiter ihrem Promotionsthema zu dem Schriftsteller Jahnn. Über eine Beschäftigung mit Grundannahmen der Kritischen Theorie erhofft sie sich, ihr eigenes Thema besser in den Griff zu bekommen. Sie erwähnt in diesem Kontext insbesondere die Lektüre von Herbert Marcuses ‚Kultur und Gesellschaft I und II‘ (1965) sowie ‚Triebstruktur und Gesellschaft‘ (1965). Zentral für ein besseres Verständnis Jahnns sei auch ein neues Buch des Hamburger Germanisten Hans Wolffheim.76 Im Bericht über das Sommersemester 1966 betont sie erneut, wie sie durch die Lektüre des Wolffheim’schen Essay-Bandes Sicherheit im Umgang mit Jahnns Werk gewonnen habe. Überhaupt verlaufen die Sommermonate, wie sie gleich zu Beginn betont, gleichmäßig und – endlich – arbeitsam. Auch habe sie an der FU einen Germanistik-Professor als Betreuer gefunden, der wenigstens zwischenzeitlich (bei der zweiten der insgesamt drei Unterredungen, die ich mit ihm hatte) dem Dissertationsthema zugestimmt habe. Am Ende des Semesters habe er dann plötzlich und vehement davon abgeraten, weil Jahnn ein Psychopath gewesen sei und bereits ein anderer Doktorand an diesem Thema fast zugrunde gehe. Ensslin hofft aber weiterhin – auch durch die Teilnahme am Oberseminar im Wintersemester – auf Unterstützung für ihr Thema. Das Jahnn’sche Werk fasziniert sie, weil es, wie sie schreibt, einen neuen, modernen „Aufbruchsmythos“ schaffe, dessen revolutionäre Moral gegen das idealisierende und verfälschende Menschenbild unserer Gesellschaft steht.77 73 74 75 76

77

Stellungnahme des Fachdozenten, Professor für amerikanische Literatur und Direktor der Abteilung für Literatur am John-F.-Kennedy-Institut der FU Berlin, 10. August 1965. Stellungnahme des Vertrauensdozenten Ernst Heinitz, Berlin, 31. August 1965. Protokollnotiz des Referenten Peter Menck zur Zurückstellung der Entscheidung über die endgültige Aufnahme Gudrun Ensslins, 21. Dezember 1965. Gudrun Ensslin, Bericht über das Wintersemester 1965/66, Eingangsstempel: Mai 1966 [Tag unleserlich]; siehe auch Hans Wolffheim, Hans Henny Jahnn. Der Tragiker der Schöpfung, Frankfurt a. M. 1966. Dies., Semesterbericht Sommer 1966, Eingangsstempel: 30. September 1966.

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Nach dem Semester steht das aufgeschobene Verfahren zur endgültigen Aufnahme an. Als Fachdozent fungiert nun naturgemäß der (voraussichtliche) Betreuer der Doktorarbeit. Der gibt an, Ensslin aus eigenen Seminaren gar nicht zu kennen, weshalb er auch nicht beurteilen könne, ob sie zur Promotion befähigt sei. Vorgelegt habe sie ihm lediglich zwei Referate von 1961/62 aus Tübingen, die freilich Begabung, einen klaren methodischen Aufbau und sichere Gedankenführung zeigen. Vom Dissertationsthema Jahnn habe er ihr dringend abgeraten – aus sachlichen und psychologischen Gründen, die sie auch einsah.78 Voller Anerkennung und Lob ist hingegen erneut die Stellungnahme von Vertrauensdozent Heinitz, der Ensslin als wirklich begabte Persönlichkeit charakterisiert, die nach mancherlei Irrwegen angestrengt arbeitet, um etwas zu erreichen. Ergänzend verweist er auf weitere Erläuterungen zum Fall Ensslin, die er in einem Schreiben an den für sie zuständigen Referenten Peter Menck gemacht hat.79 Darin legt er das schwierige Verhältnis Ensslins zu ihrem (potentiellen) Doktorvater dar, das sie nicht zu verantworten habe. Schon wiederholt sei sie im Aufnahmeverfahren von Pech verfolgt worden. Hinzu komme die schwierige familiäre Situation, über die Ensslin Heinitz wiederholt berichtet habe. Resigniert hält er fest: Mir ist klar, dass sie nun abgelehnt werden wird; gegen meine Stimme; ich werde für endgültige Aufnahme stimmen, da ich keine Zweifel mehr habe, und nehme in Kauf, dass einige Kollegen mich nicht verstehen werden.80

Doch entgegen dieser Annahme und auch angesichts der verständnisvollen Vertrautheit des Referenten Peter Menck mit Ensslins Fall beschließt der Ausschuss die endgültige Aufnahme und setzt eine weitere Förderung bis Ende 1968 fest.81 Ensslin bleibt auch nach der überraschenden Entscheidung ein Sorgenkind der Stiftung und liefert ihre Semesterberichte regelmäßig zu spät ab. Sie ignoriert entsprechende Mahnungen sogar so lange, bis die Studienstiftung die Zahlung der Stipendienraten aussetzt. Mit reichlicher Verspätung reicht sie ihren letzten Bericht – gebündelt über Sommer- und Wintersemester 1966/67 – im Dezember 1967 ein. Sie teilt der Stiftung mit, einen neuen Doktorvater gefunden und ihr Thema nun sinnvoll eingehegt zu haben. Sie stellt in Aussicht, ihre Dissertation im Laufe des Jahres 1968 zu beenden. Doch nennt sie gleich zwei Gründe, die ihre Arbeitsleistung einschränkten: Am 13. Mai wurde mein Sohn Felix geboren; ein wenig zu früh, also sehr klein und zart. Jetzt, nach sieben Monaten, ist er ein Riese, dick und stark, größer als Gleichaltrige und schwerer. Außer von Felix waren die Monate seit Juni völlig von den politischen Ereignissen an der Universität und in Westberlin beansprucht. Ich habe aktiv an zahlreichen Aktionen, deren Vorbereitung und Auswertung teilgenommen und bin der Meinung, ich sollte das auch weiterhin tun.82 78 79 80 81 82

Stellungnahme des Fachdozenten, Professor für Literaturwissenschaft an der FU Berlin, 14. Juli 1966. Stellungnahme des Vertrauensdozenten Ernst Heinitz, 22. August 1966. Brief Ernst Heinitz’ an den Referenten Peter Menck vom 30. Juli 1966. Personalisierter (Form-)Brief des Referenten Peter Menck an Gudrun Ensslin vom 15. Oktober 1966. Gudrun Ensslin, Semesterbericht WS 1966/67 und SS 1967, Dezember 1967, Eingangsstempel: 17. Dezember 1967.

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Die weitere Geschichte ist bekannt und endet – vorerst – mit der Verurteilung im Kaufhausbrandprozess. Da Ensslin keine weiteren Semesterberichte abliefert, stellt die Studienstiftung die Stipendienzahlung ab Juli 1968 ein. Nun erfährt das Förderwerk auch von der Festnahme der Stipendiatin. Die zuletzt für Ensslin zuständige Referentin Uta Zuppke beantragt Ende Juli 1968 eine Sprecherlaubnis bei der Frankfurter Staatsanwaltschaft83 und besucht Ensslin in der Frauen-Haftanstalt Frankfurt-Preungesheim. Die Inhaftierte, für die Ernst Heinitz später noch – ohne Erfolg – ein Gnadengesuch einreicht,84 ist während des gesamten Jahres 1968 weiter Stipendiatin und scheidet erst am 31. Dezember aus der Studienstiftung aus.85

5. SCHLUSS Widerstehen wir für einen Moment dem Verlangen nach Sensation und Skandal nicht, dann mögen wir im elitären Charakter der Studienstiftung einen Vorboten für den Avantgarde-Anspruch der RAF erkennen. Oder suchen wir nach Versatzstücken in den Akten der Stipendiaten, um daraus die späteren Terroristen in nuce herauszupräparieren: Bei Meinhof können wir dann den Halbsatz der einen Gutachterin herausgreifen, dass sie dazu neige, Dinge theologisch zu radikalisieren; bei Ensslin auf die Einschätzung eines weiteren Gutachters rekurrieren, sie werde in Konflikt mit Autoritäten gelangen. Im Falle Mahlers bleiben solche Punktbohrungen ohne Erfolg, es sei denn, die finstere Reserve, welche die Vorprüferin anfangs in seiner Gegenwart gespürt haben will, ist als dunkle Vorahnung zu werten. Alle drei Akten lassen indes Tendenzen einer linken Politisierung, vereinzelt auch Radikalisierung erkennen, ohne aber in irgendeiner Weise auf eine gesellschaftlich-politische Entkopplung und den Abweg in den Terrorismus hinzudeuten. Eher schon weisen die Unterlagen uns auf Entwicklungsmöglichkeiten und alternative Lebenswege hin – darauf, wie es letztlich nicht gekommen ist. Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof schlossen beide ihr Universitätsstudium, das – wie damals durchaus üblich – mit der Direktpromotion enden sollte, nicht ab. Die am Beginn der Förderung formulierten Erwartungen erfüllten sich nicht. Bei einem Kernkriterium der Studienstiftung, nämlich der (Studien-)Leistung, enttäuschten beide Stipendiatinnen am Ende. Einzig im Falle Horst Mahlers deckten sich in dieser Hinsicht Erwartung und Erfahrung, schließlich absolvierte er das erste juristische Staatsexamen mit voll befriedigendem Ergebnis. Man mag darüber sinnieren, ob der akademische Misserfolg insbesondere Ensslin belastet haben könnte. Sie haderte schon in den Semesterberichten am stärksten mit den selbst oder an sie gestellten Ansprüchen, denen sie letztlich nicht gerecht wurde. Wiederholt äußerten insbesondere die mit ihren Studienleistungen befassten Gutachter Zweifel an ihrer fachlichen Exzellenz und herausgehobenen Begabung.

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Antrag der Referentin Uta Zuppke beim Oberstaatsanwalt beim Landgericht Frankfurt a. M. vom 30. Juli 1968, der ihr mit Schreiben vom 5. August 1968 die Sprecherlaubnis erteilt. 84 Brief Ernst Heinitz’ an den Referenten Dr. Hartmut Rahn vom 24. November 1968. 85 So verzeichnet bei den formalen Angaben auf dem Aktendeckel.

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Die positiven Einschätzungen ihres Charakters und ihrer Persönlichkeit führten hingegen wiederholt zu der – angesichts der Aktenlage nicht immer leicht nachvollziehbaren – Entscheidung einer (Weiter-)Förderung. Grundsätzlich begrüßte die Studienstiftung das – mehr oder weniger offen zum Ausdruck gebrachte – politische und publizistische Engagement der drei Stipendiaten.86 Im Falle Mahlers war die Skepsis zunächst am größten, ob rechtswissenschaftliches Studium und politische Aktivität einander hemmen oder befruchten würden. Doch letztlich überzeugte er die mit ihm befassten Gutachter und Referenten durch seine Studienresultate ebenso wie durch seine Ausführungen zu ethischen und politischen Fundamenten des Rechts. Im Falle Ensslins bestanden vereinzelt Zweifel, ob ihre Verlagsmitbegründung nicht ein großes finanzielles Risiko darstellte. Als Hindernis für eigentliche Studienfortschritte wurde dies von der Stiftung aber nicht gewertet – anders als bei Meinhof. In den Augen des für sie zuständigen Referenten kollidierte ihre redaktionelle Tätigkeit für ‚konkret‘ zunehmend mit der Arbeit an ihrem Dissertationsvorhaben. Gleichwohl blieb Meinhof in der Förderung, weil der zuständige Vertrauensdozent ihr noch eine Art Gnadenfrist einräumen wollte, auch weil er die Tätigkeit für das in seinen Augen nonkonformistische Studentenblatt im Grunde guthieß. Das traf sich in gewisser Weise mit Meinhofs eigener Einschätzung, die sie der Studienstiftung anlässlich einer Befragung zur Situation berufstätiger Frauen später einmal, im Frühjahr 1966, mitteilte. Im Anschreiben an die zuständige Referentin vermutete sie, sie werde wohl als schwarzes Schaf in der Kartei der Studienstiftung geführt, um gleich dagegen anzuschreiben: Bin ich doch – ganz gewiss im Gegensatz zu Ihnen – der Ansicht, dass die Förderung, die mir durch die Studienstiftung zuteil wurde, keine Fehlinvestition war, keine Fehleinschätzung meiner Person, will sagen, dass – obwohl ich keinen Studienabschluss ordentlicher Art gemacht habe – meine heutige Tätigkeit [als Publizistin] die damalige Förderung meines Studiums rechtfertigt [. . .].87

Indizien für eine Misserfolgsbelastung, wie man sie bei Ensslin vermuten mag, sind in dem Statement jedenfalls nicht zu erkennen. Mit entsprechendem Selbstbewusstsein antwortete auch Horst Mahler der Studienstiftung, als er im November 1967 um einen Rückblick auf seine Studienzeit für eine Ehemaligen-Broschüre gebeten wurde.88 Einigermaßen schroff ließ er die Stiftung wissen, dass im Leben nichts unwichtiger sei als die Noten in akademischen oder anderen Examen, die meistens doch nicht aussagen, ob sich ein Kandidat in seiner beruflichen oder sozialen Position bewährt.89 Dies war eine Haltung, die ohne Studienabschluss gebliebene Stipendiatinnen wie Meinhof und Ensslin gleichsam entlastete. Als Anwalt der beiden Studentinnen jedenfalls hätte er es nicht besser formulieren können. 86

Es kann nicht weiter verwundern, dass insbesondere Meinhof ihre Mitgliedschaft in der nach 1956 illegalen KPD und die Finanzierung und Anleitung der Zeitschrift „konkret“ durch die SED verschwieg. Vgl. Röhl, So macht Kommunismus Spaß! (Anm. 4); Alexander Gallus, Zeitschriftenporträt: „konkret“, in: Jahrbuch Extremismus & Demokratie 13 (2001), S. 227–249. 87 Brief Ulrike Marie Röhls, geb. Meinhof, an die Referentin Marianne v. Lieres vom 2. April 1966. 88 Personalisierter (Rund-)Brief der Referentin Ingrid Czolbe an Horst Mahler vom 9. November 1967. 89 Brief Horst Mahlers an Ingrid Czolbe vom 18. Januar 1968.

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ABSTRACT Ulrike Meinhof, Horst Mahler, Gudrun Ensslin, and Andreas Baader were the names of the first RAF generation’s protagonists. Except for the early school leaver Baader, the three others had many years earlier been supported by the to date major organization for the promotion of young talents in the Federal Republic: the German National Academic Foundation (Studienstiftung des deutschen Volkes). The files of the scholarship holders provide hitherto largely unknown material concerning the early biographies of Meinhof, Mahler and Ensslin, particularly regarding their academic advancement. How did they shape their studies, and who were their academic teachers? Which were the subjects and problems they dealt with? Which were the authors they read? These are some of the questions answered by this article. Accordingly, specific implications refer to the “spirit of the time” from a student perspective during the 1950s and the 1960s as well as, marginally, to the processes of politicization and radicalization. Finally, the promotion of elites in the early Federal Republic gets into the article’s focus: Who was considered as “highly gifted” by the German National Scholarship Foundation? How was the selection process executed? Which personality profiles were favored? How did the foundation handle non-conformist thinkers?

PROTEST IN DER PROVINZ Die Konstituierung einer linksalternativen Studentenkultur an der Universität Münster in den 1970er-Jahren Kathrin Baas 2. Juni 1967 – 10 Jahre später – Studentenbewegung heute1 – Diesen Titel trug eine Veranstaltung, für welche der Allgemeinen Studierendenausschuss der Universität Münster zusammen mit anderen linksradikalen Hochschulgruppen im Juni 1977 – nur wenige Wochen nach der Veröffentlichung des so genannten Buback-Nachrufs in einer Zeitung des Göttinger AStA2 – warb. Der 2. Juni 1967 wurde dabei anhand eines Fotos symbolisiert, auf dem eine Reihe aufmarschierender Polizisten in SS-Ästhetik mit Schutzhelmen und Ledermänteln zu sehen ist. Von protestierenden Studenten ist hier nichts zu sehen, da sie offensichtlich von der Polizei in Schach gehalten werden. Das Foto, welches die Studentenbewegung von 1977 zeigen sollte, bot eine gänzlich andere Situation: Statt der Polizei sind es nun die Angehörigen der linksalternativen Szene, welche die Straße beherrschen und die geschlossen – Arm in Arm eingehakt – für ihr Anliegen auftreten. Damit suggerierten die Veranstaltungsorganisatoren die Kontinuität und Stärkung des studentischen Protestmilieus in den siebziger Jahren. Zudem sahen sie sich als Nachfolger der bereits zum Mythos avancierten 68er-Generation und legitimierten damit ihre eigenen Aktionen. Die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen waren im Sommer 1977 tatsächlich andere als in den sechziger Jahren, die vom wirtschaftlichen Aufschwung der Nachkriegszeit geprägt waren.3 Die Studenten der siebziger Jahre hingegen sahen sich einem „langfristigen Wandel sozio-ökonomischer Strukturen“4 gegenüber, der sie in erster Linie durch die Transformation der Arbeitswelt im Zuge des Bedeutungszuwachses des Dienstleistungssektors und das Ende des Wirtschaftswachstums

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Universitätsarchiv Münster, Bestand 202, Nr. 859, Münsteraner Nachrichten 12 (16. 06. 1977), unpaginiert. Siehe dazu im Einzelnen Stefan Spiller, Der Sympathisant als Staatsfeind. Die MescaleroAffäre, in: Die RAF und der linke Terrorismus, hg. von Wolfgang Kraushaar, Hamburg 2006, S. 1227–1259. Siehe zu den sechziger Jahren Axel Schildt, Detlef Siegfried und Karl Christian Lammers (Hg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in beiden deutschen Gesellschaften (Hamburger Beiträge zur Sozial-und Zeitgeschichte 37), Hamburg 2000.; siehe zu den siebziger Jahren als Zeit „nach dem Boom“ Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 3 2012. Konrad H. Jarausch, Verkannter Strukturwandel. Die siebziger Jahre als Vorgeschichte der Probleme der Gegenwart, in: Das Ende der Zuversicht? Die Strukturkrise der 1970er Jahre als zeithistorische Zäsur, hg. von Konrad Jarausch, Göttingen 2008, S. 9–28, hier: S. 9.

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seit der Ölkrise 1973 betraf. Dementsprechend werden die siebziger Jahre in der aktuellen zeithistorischen Forschung mittlerweile als eigenständiges Jahrzehnt behandelt, dessen Charakteristika jedoch noch ausgehandelt werden müssen: Ob es sich um ein „rotes Jahrzehnt“5 , in dem die Formierung alternativer Lebenswelten im linken politischen Spektrum im Vordergrund stand oder ob es sich um ein „schwarzes Jahrzehnt“6 aufgrund der Neuformierung der christdemokratischen Partei7 bis hin zum Aufstieg rechtsextremer Gruppierungen handelte, wird zur Zeit kontrovers diskutiert. Konrad Hugo Jarausch weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass man die siebziger Jahre als eine Art „Übergangsepoche [. . .] deren Selbstbild zwischen Krisengefühl und Aufbruchstimmung schwankt“8 bezeichnet könne. Im Folgenden steht die Frage im Mittelpunkt, auf welche Weise und mit welchen Inhalten sich eine linksalternative Subkultur unter der Studentenschaft einer Stadt formierte, die sich einerseits durch ihre Hochschultradition – einer zur Masseninstitutionen aufstrebenden Universität – und andererseits durch ihre tiefe katholische Prägung definierte.9 Dazu wird zunächst die Entwicklung dieser Subkultur in der Form verschiedener Phasen nachgezeichnet. Im Anschluss daran illustriert das Beispiel des Diskurses über das allgemeinpolitische Mandat der Studentenschaft, mit welchen Medien und Themen sich die Studenten von der universitären und städtischen Öffentlichkeit abzugrenzen suchten. Schließlich geht es um die Ausweitung ihrer Handlungsspielräume auf den außeruniversitären Raum und deren Bedeutung für die Ausprägung einer subkulturellen studentischen Gemeinschaft. Aktuelle Untersuchungen betonen, dass es sich bei den Studentenorganisationen der siebziger Jahre um Akteure mit eigenen politischen Vorstellungswelten handelte.10 Diese seien nicht kongruent mit den „68ern“, sondern hätten sich vielmehr als Folgebewegung konstituiert, die sich in ihrem Selbstverständnis – auch in Korrelation mit der Entwicklung der Neuen Sozialen Bewegungen zum politischen und gesellschaftlichen Akteur – erst durch die Einübung von „sozialen und kulturellen Praktiken“11 als eigenständiger Partizipant in der westdeutschen gesellschaftlichen

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Siehe dazu Gerd Koenen, Das rote Jahrzehnt. Unsere kleinen Kulturrevolution 1967–1977, Köln 2001. 6 Massimiliano Livi, Daniel Schmidt und Michael Sturm (Hg.), Die 1970er Jahre als schwarzes Jahrzehnt. Politisierung und Mobilisierung zwischen christlicher Demokratie und extremer Rechter, Frankfurt am Main 2010. 7 Siehe Frank Bösch, Die Krise als Chance: Die Neuformierung der Christdemokraten in den siebziger Jahren, in: Jarausch, Ende der Zuversicht (Anm. 4), S. 296–307. 8 Jarausch, Strukturwandel (Anm. 4), S. 10. 9 Es handelt sich hier um die Ergebnisse einer Magisterarbeit, die im Oktober 2008 an der Universität Münster eingereicht wurde und mit den Ergebnissen der aktuellen Forschung zu den siebziger Jahren ergänzt wurde. 10 Siehe dazu etwa für Italien Massimiliano Livi, Die Stämme der Sehnsucht: Individualisierung und politische Krise im Italien 1970er Jahre, in: Jenseits der Moderne? Die Siebziger Jahre als Gegenstand der deutschen und der italienischen Geschichtswissenschaft, hg. von Thomas Großbölting, Massimiliano Livi und Carlo Spagnolo (Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient 27), Berlin 2014, S. 215–248. 11 Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2075), Berlin 2014, S. 18.

Protest in der Provinz

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Öffentlichkeit herausgestellt hatte, wie Sven Reichardt jüngst betont hat.12 Die Schwierigkeit der Trennschärfe, die sich dennoch ergibt, liegt darin begründet, dass der Begriff der „68er“ oder „1968“ mittlerweile als Chiffre oder symbolischer Code für einen vielschichtigen „längerfristige[n] historische[n] Transformationsprozess“13 und gleichzeitig für eine eher personenzentrierte Darstellung und Rezeption steht.14 In Westdeutschland galten vor allem Berlin und Frankfurt als Hochburgen der Studentenproteste, was oftmals durch ihren Metropolcharakter und den Status als beliebter Aufenthaltsort für einflussreiche Linksintellektuelle dieser Zeit erklärt wird. Doch auch in den mittleren und kleinen Städten der Bundesrepublik formierte sich eine eigene Szene aus einem Zirkel linksradikaler Hochschulgruppen. Studenten stellten eine zentrale Trägerschicht des linksalternativen Milieus dar, was dazu führte, dass sich auch innerhalb kleinerer Universitätsstädte eine „links geprägte jugendliche Subkultur“15 bildete, die ihre Identität aus der Abgrenzung – des „Anders sein[s]“16 – bezog. Die zentrale These lautet im Folgenden, dass sich diese Subkultur durch die Schaffung von sozialen Räumen, in denen eine performative Selbstinszenierung stattfand, sowie durch bewusst geführte Diskurse von der universitären Öffentlichkeit abgrenzte und sich gewissermaßen selbst erfand.17 In diesem Zusammenhang wird die Auffassung von Dieter Rucht, das linksalternative Milieu18

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Ebd., S. 10–14 sowie S. 18 f. Martin Klimke und Joachim Scharloth, Maos Rote Garden? 1968 zwischen kulturrevolutionärem Anspruch und subversiver Praxis – Eine Einleitung, in: 1968. Handbuch zur Kultur- und Mediengeschichte der Studentenbewegung, hg. von Martin Klimke und Joachim Scharloth, Stuttgart 2007, S. 1–10. Detlev Claussen, Chiffre 68, in: Revolution und Mythos, hg. von Dietrich Harth und Jan Assmann, Frankfurt am Main 1992, S. 219–230. Detlef Siegfried, „Einstürzende Neubauten“. Wohngemeinschaften, Jugendzentren und private Präferenzen kommunistischer „Kader“ als Form jugendlicher Subkultur, in: Archiv für Sozialgeschichte 22 (2004), S. 39–65. Detlef Siegfried, Ästhetik des Andersseins: Subkulturen zwischen Hedonismus und Militanz 1965–1970, in: Terrorismus in der Bundesrepublik. Medien, Staat und Subkulturen in den 1970er Jahren, hg. von Klaus Weinhauer, Jörg Requate und Heinz Gerhard Haupt, Frankfurt am Main 2006, S. 76–98. Vgl. Jakob Tanner, „The Times They are A-Changin.“ Zur subkulturellen Dynamik der 68er Bewegungen, in: 1968. Vom Ereignis zum Mythos, hg. von Ingrid Gilcher-Holtey, Frankfurt am Main 2008, S. 275–296; Dieter Rucht hat zudem überzeugend dargelegt, dass sich das linksalternative Milieu der siebziger Jahre selbst als „Sub- oder Gegenkultur“ begriff. Siehe Dieter Rucht, Linksalternatives Milieu und Neue Soziale Bewegungen in der Bundesrepublik: Selbstverständnis und gesellschaftlicher Kontext, in: Linksalternative Milieus und Neue Soziale Bewegungen in den siebziger Jahren, hg. von Cordia Baumann, Sebastian Gehrig und Nicolas Büchse (Akademiekonferenzen 5), Heidelberg 2011, S. 35–60, hier: S. 54. Sven Reichardt betont in seiner aktuellen Untersuchung, dass es beim Begriff des linksalternativen Milieus weniger um konkrete politische Programme und ideologische Vorstellungen geht, sondern vielmehr der Fokus der Analyse auf „dauerhaftere soziale Einbindungen und politkulturelle Regeln sozialer Interaktion“ liegt. Siehe Reichardt, Authentizität (Anm. 11), S. 15. Diese Definition soll in der folgenden Untersuchung zugrunde gelegt werde. Obwohl Reichardt das linksalternative Milieu als eigenständige Gruppierung neben den K-Gruppen, den terroristischen Organisationen um die Bewegung 2. Juni und die RAF sowie den gewerkschaftsnahen und sozialdemokratisch orientierten Hochschulgruppen definiert, so räumt er jedoch auch ein, dass

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als einen „historisch spezifische[n] soziokulturelle[n] Erfahrungs- und Interaktionsraum“19 aufzufassen, „der erst durch seine Abgrenzung von einer typisierten und stilisierten Mehrheitskultur konstituiert und konturiert wird“,20 geteilt.

ENTWICKLUNG EINER LINKSALTERNATIVEN STUDENTENKULTUR AN DER UNIVERSITÄT MÜNSTER VON 1965 BIS 1981 I. Gründungen studentischer Klubs und erste Proteste (1965–1968) Münster war seit jeher als vom katholischen Milieu geprägte Stadt in der westfälischen Provinz bekannt. In den sechziger Jahren begann sich vor allem das linke Milieu der Studentenschaft von der katholischen Mentalität der Stadt zu lösen.21 Dies geschah zeitgleich mit der Entwicklung der Universität Münster zur Massenuniversität mit dem markanten Anstieg der Studentenzahlen.22 Die Studenten sahen sich neben den erhofften Universitätsreformen auch mit den immer schwieriger werdenden Studienbedingungen konfrontiert. Als Reaktion darauf bildeten sich ab 1965 kleine studentische Gruppierungen und Klubs, die offiziell vom Rektorat anerkannt und vom Senat zugelassen werden mussten. Darunter befand sich der ‚Sozialistische Deutsche Studentenbund‘ (SDS), der jedoch nur eine geringe Mitgliederzahl vorweisen konnte und scheinbar nur eine geringe Ausstrahlungskraft besaß. Hinzu kam, dass die Ortsgruppe in Münster immer wieder Kritik an der bundesdeutschen Führung des Studentenverbands übte, was zu ihrem Ausschluss aus dem Bundesverband führte.23 Dies hing auch damit zusammen, dass die Protagonisten des 1958 gegründeten ‚Studentischen Arbeitskreises für ein kernwaffenfreies Deutschland‘24 um die junge Studentin Ulrike Meinhof im SDS in Münster vertreten waren, die

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diese Gruppierungen sich oftmals in ihrer personellen Zusammensetzung überschnitten und daher eine exakte Unterscheidung eher idealtypisch bleiben muss. Dieser Einschätzung wird im Folgenden Rechnung getragen, da diese verschiedenen Typen in Münster zusammen agierten und ein gemeinsames Selbstbild entwickelten, das sich in Frontstellung zum Rektorat und den rechtskonservativen Hochschulgruppen sah. Vgl. Reichardt, Authentizität (Anm. 11), S. 10–14. Rucht, Linksalternatives Milieu (Anm. 17), S. 38. Ebd., S. 38. Siehe dazu im Einzelnen auch Dietmar Klenke, Schwarz–Münster–Paderborn. Ein antikatholisches Klischeebild, Münster/New York 2008. Siehe dazu auch die instruktive Analyse von Christoph Weischer, Studierende an der Universität Münster 1920 bis 1960, in: Die Universität Münster im Nationalsozialismus. Kontinuitäten und Brüche zwischen 1920 und 1960, hg. von Hans-Ulrich Thamer, Daniel Droste und Sabine Happ (Schriftenreihe des Universitätsarchivs 5,1), Münster 2012, S. 163–192. Vgl. Boris Spix, Abschied vom Elfenbeinturm? Politisches Verhalten Studierender 1957–1967. Berlin und Nordrhein-Westfalen im Vergleich, Essen 2008, S. 140 f. Siehe dazu die Druckschriften des Studentischen Arbeitskreises für ein kernwaffenfreies Deutschland in der allgemeinen Druckschriftensammlung des Universitätsarchivs Münster, Bestand 202, Nr. 1324 und 1325; Ulrike Meinhof, Brief an die Studentenschaft: Wir Studenten und die atomare Aufrüstung der Bundeswehr, hg. von Studentischen Arbeitskreis für ein kernwaffenfreies Deutschland, Münster 1958.

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einen intensiven Kontakt zur Redaktion der ‚Konkret‘ in Hamburg pflegte, die häufig Kritik am Vorgehen des SDS übte. Wie an vielen anderen westdeutschen Universitäten war in Münster die ‚Humanistische Studentenunion‘ vertreten, die in erster Linie die Wahrung von Menschenrechten forderte. Weiterhin bezog sie eine deutlich antiklerikale Haltung und sprach sich gegen die geplante Notstandsgesetzgebung der Großen Koalition aus.25 Eine weitere Gruppierung nannte sich ‚Wissenschaftspolitischer Klub‘ und setzte sich aus Studenten, Assistenten und Dozenten des Soziologischen Instituts zusammen. In Anlehnung an die Idee der „Kritischen Universität“ der Außerparlamentarischen Opposition wollten sie die Strukturen an der Hochschule nicht durch den Protest von außen, sondern durch Reformen von Innen heraus verändern.26 Bis zum Sommersemester 1967 bildete der ‚Ring Christlich Demokratischer Studenten‘ (RCDS) zusammen mit Vertretern der münsterischen Burschenschaften den ‚Allgemeinen Studierendenausschuss‘ (AStA) der Universität Münster. Diese Koalition wurde bei der Wahl zum Studentenparlament im Jahre 1968 auf eine harte Probe gestellt. Im Vorfeld schlossen sich der SDS, der ‚Sozialdemokratische Hochschulbund‘ (SHB) und die Humanistische Studentenunion zur ‚Demokratischen Linken‘ zusammen. Auf der anderen Seite bildeten der RCDS, Vertreter der katholischen Studentengemeinde und einige Angehörige katholischer Verbindungen die ‚Gruppe 68‘ – eine für die bis heute eingeübte Verknüpfung des Begriffes 68 mit politisch links ausgerichteten Protagonisten ungewöhnliche Bezeichnung. Schließlich gewann das Bündnis der ‚Demokratischen Linken‘ die Mehrheit im Parlament und bildete daraufhin – allerdings nur für eine kurze Zeit – den Allgemeinen Studierendenausschuss.27 Dieser Stimmungsumschwung deutete sich bereits vor der Wahl an. So nahmen zahlreiche Studenten an einem Trauerschweigemarsch für Benno Ohnesorg am 7. Juni 1967 teil.28 Zudem nutzten die Studentenvertreter die Möglichkeiten der Flugblätter und Zeitungen, indem sie eine Sonderausgabe der Zeitschrift ‚Semesterspiegel‘ nicht nur innerhalb des universitären Raums, sondern auch auf den Straßen in der münsterischen Innenstadt verteilten.29 Altgediente Rituale an der Universität wurden immer häufiger durch „Go-ins“30 gestört. So versuchten Studenten am

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Vgl. Spix, Abschied (Anm. 23), S. 155 f. Siehe dazu im Einzelnen Werner Fuchs, Expressive und instrumentale Aktion. Formen und Wirksamkeit studentischer Politik, Düsseldorf 1971 (Wissenschaftstheorie – Wissenschaftspolitik – Wissenschaftsplanung 22), S. 21 f. Ebd. Im Folgenden werden nur wenige Beispiele genannt. Für die Ereignisgeschichte der Studentenproteste in Münster von 1967–1969 siehe im Einzelnen Verena Muhtaroglu, Studentenproteste der 60er Jahre. Fallbeispiel Münster (unveröff. Staatsexamensarbeit Münster 2007). Siehe zur Studentenbewegung der sechziger Jahre in Münster aus der Perspektive eines Zeitzeugen Bruno Finke, Münsters SDS – Vom Aufbegehren zum Widerstand, in: 200 Jahre zwischen Dom und Schloß. Ein Lesebuch zu Vergangenheit und Gegenwart der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, hg. von Lothar Kurz, Münster 1980, S. 127–138. Vgl. Fuchs, Aktion (Anm. 26), S. 22 f. Siehe dazu ausführlich Martin Klimke, Sit-in, Teach-in, Go-in: Zur transnationalen Zirkulation kultureller Praktiken in den 1960er Jahren, in: Klimke/Scharloth (Anm. 13), 1968, S. 119–136.

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17. November 1967 die feierliche Rektoratsübergabe zu unterbrechen. Derartige Feiern fanden in einem repräsentativen Rahmen statt und genossen damit einen hohen symbolischen Wert – so fand die Übergabe von 1967 im münsterischen Stadttheater statt. Den Studenten des SDS und SHB wurde der Eintritt jedoch verwehrt. Dies beantworteten die Protestierenden mit lautstarken Unmutsbekundungen.31 Die Ausbildung von performativen Aktionsformen hing eng mit der Ritualkritik der linksgerichteten Hochschulgruppen zusammen, da sich zu solchen Anlässen „die bürgerliche Gesellschaft ihrer Ordnung und Werte versicherte“32 . Als Instrumente der symbolischen Kommunikation wurden sie somit in dieser Phase der Studentenbewegung zu wichtigen Medien des Protests, die eine „bewusste Handlungskategorie“33 zur Erzeugung von Öffentlichkeit darstellten und dadurch zu regelrechten „Kommunikationsereigniss[e]“34 wurden.

II. Radikalisierung und Dynamisierung (1969–1971) Die Proteste der linksradikalen Hochschulgruppen und die Reaktionen des Rektorats entwickelten eine dynamisierende Wechselwirkung, die eine Radikalisierung der Vorgänge bewirkte. Begünstigt wurde dieser Prozess auch von einem erneuten Umschwung im AStA, der nun wieder vom RCDS geführt wurde. Die Ausweitung der Proteste hatte in einigen Fällen die Schließung von einzelnen Instituten zur Folge.35 So kam es im Mai 1969 zu einer turbulenten Auseinandersetzung im Germanistischen Institut. Auslöser war der Konflikt zwischen einem Professor und seinen Studenten. In einem Aushang der Direktoren des Instituts hieß es, die Studenten wollten gewaltsam in das Büro des Professors gelangen. Daher würde man über die Schließung des Instituts nachdenken.36 Die Studenten bestritten jedoch diese Darstellung und betonten, dass sie sich lediglich vor das Büro des Professors gesetzt hätten, um dort zu diskutieren. Schließlich hätten die Assistenten ihnen den Zutritt zum Büro verwehrt, obwohl ihr Seminarleiter sie zu einer Diskussion über 31 32

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Siehe Artikel „Ausgesperrt“, in: Semesterspiegel 14 (1967), S. 5. Joachim Scharloth, Ritualkritik und Rituale des Protests. Die Entdeckung des Performativen in der Studentenbewegung der 1960er Jahre, in: Klimke/Scharloth, 1968 (Anm. 13), S. 75–87, hier: S. 75. Ebd., S. 77. Ebd., S. 86. Im Folgenden werden einschlägige Beispiele genannt. Für einen Gesamtüberblick siehe Muhtaroglu (Anm. 28). Universitätsarchiv Münster, Bestand 202, Nr. 994, Aushang im Germanistischen Seminar vom 9. 05. 1969: „KRACH IM GERMANISTISCHEN SEMINAR!!! [. . .] Am donnerstag [sic], den 8. Mai 1969, hat sich eine Gruppe teilweiser seminarfremder Personen, mit Herrn Damann (Fachschaftsvertreter) an der Spitze gewaltsam versucht, in das Dienstzimmer von Herrn Prof. Schützeichel einzudringen. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß damit der Tatbestand der Nötigung und des Hausfriedensbruchs gegeben ist, abgesehen von der beträchtlichen Störung des Institutsbetriebs und der Arbeit der Studenten. Wir sehen uns gezwungen, uns mit aller Entschiedenheit gegen derartige Aktionen zu wenden und machen darauf aufmerksam, daß gegebenfalls das Germanistische Seminar geschlossen werden muß. [. . .] Für die Direktoren des Germanistischen Instituts: gez. Dittrich, Hofmann, Martens, Rasch, Schützeichel“.

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die aktuelle Hochschulgesetzgebung eingeladen hätte. Die Reaktion der Direktoren sei demnach gänzlich übertrieben.37 Etwa zwei Wochen später kam es tatsächlich zur Schließung des Germanistischen Instituts, da sich die Spannungen zwischen Studenten und Professoren zugespitzt hatten. Zahlreiche performativ inszenierte Proteste durch die Studenten waren die Folge.38 Den Höhepunkt des Aufruhrs erlebte die Universität Münster bis dato im Juni 1969, als Studentenvertreter eine Sitzung der Philosophischen Fakultät, in der ein neuer Dekan gewählt werden sollte, durch das Bespritzen der Fenster mit einem Feuerwehrschlauch zu stören versuchten. Diese Aktion führte zu einem Polizeieinsatz, der in der studentischen wie städtischen Öffentlichkeit diskutiert und heftig kritisiert wurde.39 Die Ereignisse in der Philosophischen Fakultät blieben nicht wirkungslos, sondern weiteten sich vielmehr auf andere Fakultäten sowie auf die Pädagogische Hochschule in Münster aus. 40 In den Jahren 1969 bis 1971 waren es in erster Linie die Fachschaften, welche die Proteste an der Hochschule organisierten. Zugleich deutete sich auch das Bedürfnis nach neuen Organisationen in Form der Basisgruppen an. In diesem Zusammenhang wurde nun in der studentischen Presse über die Rolle von Öffentlichkeit als Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele diskutiert.41 Mit der bundesweiten Auflösung des SDS ging die Gründung von neuen linksalternativen Hochschulgruppen einher, was die nächste Phase der Studentenproteste in Münster kennzeichnete.

III. Festigung und Stabilisierung (1971–1975) Die Phase von 1971 bis 1975 wurde durch eine Flugblattoffensive linksradikaler Studenten eingeläutet. Deren Vertreter rund um den Marxistischen Studentenbund Spartakus (MSB) und den Sozialistischen Studentenbund (SHB), der sich von der ihm zugeschriebenen Rolle als zahme Betriebsgruppe der SPD42 abgrenzen wollte, bildeten nun den Allgemeinen Studierendenausschuss. Die erste Auseinandersetzung der sich nun vertiefenden Blockbildung innerhalb der Hochschulgruppen begann im Vorfeld der Wahlen zum Studierendenparlament 1971 mit dem Streit um eine neue Satzung der verfassten Studentenschaft. Beide politischen Lager hatten dazu jeweils einen eigenen Entwurf konzipiert.43 Der Vorschlag der politisch linksorientierten Koalition gewann schließlich knapp. Im Satzungskonvent der Universität stellten die Vertreter des linken studentischen Milieus eher eine Minderheit dar.44 Aus diesem 37

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Ebd., Antwort der Fachschaft Germanistik vom 9. 05. 1969: „Erklärung zur Drohung der Ordinarien des Germanistischen Instituts vom 9. Mai 1969. [. . .] Von Gewalt kann keine Rede sein. Die anschließende Diskussion [. . .] auf dem Flur läßt sich ebenfalls kaum als Nötigung und Hausfriedensbruch bezeichnen.“ Siehe dazu im Einzelnen Muhtaroglu, Studentenproteste (Anm. 28), S. 44–46. Ebd. Siehe dazu im Einzelnen ebd., S. 50–52. Siehe den Artikel Öffentlichkeit als Anfang einer Reform, in: Semesterspiegel 108 (1969), S. 5. Semesterspiegel 13 (1966), Nr. 88, S. 10, zit. n. Spix, Abschied (Anm. 23), S. 146. Siehe ebd., S. 174 f. Siehe dazu im Einzelnen ebd., S. 175 f.

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Grund veröffentlichten sie 7 Thesen für eine demokratische Universitätsverfassung45 , die mit Hilfe einer Unterschriftenaktion auch außerhalb der Hochschule publik gemacht werden sollten.46 Nach der erfolgreichen Urabstimmung kam es im Zuge der Debatte im Frühjahr 1973 zu einer Demonstration mit über 6 000 Beteiligten.47

IV. Eskalation und Fragmentierung (1976–1981) Die Phase der Studentenproteste in Münster von 1976 bis 1979 zeichnet sich durch zwei Aspekte aus. Erstens weiteten sich die Proteste gegen die Handlungen des Rektorats in Bezug auf die Wahrnehmung des politischen Mandats durch den AStA aus. Zweitens kam es zu einer Fragmentierung der linksgerichteten Hochschulgruppen. Parallel dazu entwickelten sich die Neuen Sozialen Bewegungen wie die Ökologieund Friedensbewegung. Weiterhin weiteten sich die Proteste gegen die Bildungspolitik des Landes aus – das Hochschulrahmengesetz von 1976 stand permanent in der Kritik des AStA. Außerdem bezog dieser oftmals Stellung zu innenpolitischen Themen wie dem Radikalenerlass von 1973.48 Damit verstießen die linksgerichteten Studentenvertreter gegen das Verbot des politischen Mandats, sodass gegen viele von ihnen Strafanzeige erstattet wurde. Aufgrund dessen protestierten im Dezember 1976 etwa 4 000 Studenten gegen die Vorgehensweise des Rektors und des RCDS.49 Ihren Höhepunkt erreichte diese Auseinandersetzung im Sommersemester 1977, als der AStA zusammen mit den Fachschaften eine weitreichende Streikaktion plante. Vorbild war wiederum die ‚Kritische Universität‘ der Außerparlamentarischen Opposition: so sollten innerhalb der Demokratischen Gegenhochschule50 in Münster an verschiedenen Fachbereichen alternative Seminare stattfinden. Diese Ereignisse lösten eine gewisse Dynamik der Protestaktionen aus, die jedoch nicht dazu beitrug, dass die bisherige Konstellation im AStA gefestigt werden konnte. Im Sommersemester 1977 kam es schließlich zu einem Umschwung, der einen Wandel innerhalb der Hochschulgruppen an der Universität Münster einläutete. An der Spitze der Studentenvertretung standen nun die Jungsozialisten und der liberale Hochschulverband, welche erklärten, auf die Wahrnehmung des politischen Mandats zu verzichten.51 Hinzu kam, dass andere Themen Aufmerksamkeit erfuhren, als die genuin ideologischen und utopisch aufgeladenen der linken Hochschulgruppen. So erfreuten sich alternative Bewegungen einer immer größeren Beliebtheit.52 45 46 47 48 49

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Ebd. Ebd., S. 176. Zahlen nach ebd., S. 177. Siehe dazu auch Eckhard Hömberg und Eberhard Löschke, Bevormundung statt Aufklärung. Berufsverbote an der WWU, in: Kurz, 200 Jahre zwischen Dom und Schloss (Anm. 28), S. 227–239. Horst Hübner und Martin Wilke, Aufstieg, Krise und Perspektiven linker Studentenpolitik der siebziger Jahre, in: Kurz, 200 Jahre zwischen Dom und Schloss (Anm. 28), S. 173–194, hier: S. 185. Siehe zu diesem Konzept im Einzelnen Klaus Naumann, Von der Kritischen zur Gegenuniversität, in: 2. Juni und Studentenbewegung heute, hg. von Frank Deppe, Dortmund 1977, S. 89–112. Siehe dazu Hübner/Wilke, Aufstieg (Anm. 49), S. 189 f. Dazu zählt vor allem der „Arbeitskreis Umwelt“, siehe Universitätsarchiv Münster, Bestand 202, Nr. 192, einzelne Druckschriften des Arbeitskreises von 1978 bis 2006. Die private Ar-

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VERBOTENE DISKURSE UND HAUSBESETZUNGEN ALS MITTEL DER ABGRENZUNG I. Solidarität mit Chile: Streitthema und Instrument der Selbstvergewisserung An der Universität Münster kam es seit den frühen siebziger Jahren immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen dem Rektorat und den linksalternativen Studenten über die Frage, ob der verfassten Studentenschaft ein allgemeinpolitisches Mandat zugesprochen werden sollte. Faktisch war es den Studentenvertretern untersagt, sich zu tagespolitischen Themen, die nicht in direktem Zusammenhang mit der Universität standen, zu äußern. Der Konflikt entwickelte eine besondere Dynamik, wenn außenpolitische Themen angesprochen wurden. Dies zeigten die Reaktionen des Rektorats und einiger Mitglieder des RCDS auf die Aktionen des AStA und des ‚Initiativkreises Solidarität mit Chile‘, der dem Verein lateinamerikanischer Studierender vernetzt war.53 Die Studentenvertreter bekundeten in zahlreichen Flugblättern ihre Solidarität mit Opfern der Militärdiktatur in Chile. Nach dem dortigen Putsch 1973 veröffentlichte der Studierendenausschuss drei Flugblätter, in denen er sich gegen die Zustände in Chile aussprach. Daraufhin wandten sich drei Mitglieder des RCDS an den damaligen Rektor Werner Knopp, der schließlich darum bat, in Zukunft kein Geld mehr für derartige Publikationen auszugeben.54 Kurz darauf betonte Knopp erneut, „daß Stellungnahmen ohne konkreten Bezug zur Hochschule unzulässig sind“.55 Für die linksalternativen Studenten hingegen lag die Bedeutung des politischen Mandats weniger in der juristischen als vielmehr in seiner politischen Dimension. Demnach sei eine „Aufsplitterung von Allgemeinpolitik und Hochschulpolitik“56 nicht zu akzeptieren. Das Recht, sich zu bundes- oder weltpolitischen Ereignissen zu äußern, war fest im Selbstverständnis der linksalternativen Studenten verankert. So trage man mit der Ausübung des allgemeinpolitischen Mandats zur Demokratisierung und Modernisierung der Hochschullandschaft sowie der wissenschaftspolitischen Gestaltung der gesamten Bundesrepublik bei.57 Seit Mitte der siebziger Jahre spitzte sich der Konflikt zu. Als der AStA eine Publikation zum zweiten Jahrestag des Militärputsches in Chile veröffentlichte, bat Rektor Wolfgang Hoffmann die Universitätskasse, keine weiteren Beträge herauszugeben und zog Strafgelder bei einer erneuten allgemeinpolitischen Äußerung in Erwägung.58 Dazu kam es schließlich am 22. Januar 1976, weil der AStA zu einem

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chivsammlung des Arbeitskreises befindet sich seit 2011 im Archiv für alternatives Schriftum (afas) in Duisburg. Die Katholische Studentengemeinde (KSG) war ebenfalls Mitglied im Initiativkreis Solidarität mit Chile. Siehe zum Engagement der KSG in Münster in Bezug auf die Chile-Solidarität Barbara Rupflin, Kirche in Bewegung. Die Chile-Solidarität der Katholischen Studentengemeinde in Münster, in: Baumann/ Gehrig/ Büchse (Anm. 17), Linksalternative Milieus, S. 191–209. Hübner/Wilke, Aufstieg (Anm 49), S. 182. Ebd. Ebd., S. 183. Ebd. Ebd.

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Volkslauf gegen die faschistische Diktatur in Chile59 aufgerufen hatte. Im Juni 1977 eskalierte die Auseinandersetzung über das allgemeinpolitische Mandat, als das Verwaltungsgericht den AStA zu einem Strafgeld von 6 000 DM verurteilte.60 Das Thema war nicht nur aus politischen Gründen wichtig für die linken Studentenvertreter, sondern besaß auch eine symbolische Bedeutung, die zur Herausbildung einer kollektiven Identität des Milieus beitragen sollte. In Bezug auf den Chile-Konflikt bedeutete dies, dass die oftmals betonte Solidarität mit den AllendeAnhängern nicht nur den Zusammenhalt unter den münsterischen Studenten festigen, sondern auch eine internationale Studentenbewegung in Gang bringen sollte. Besonders wichtig war dabei die Vernetzung mit Vereinen ausländischer Studierender, die ebenfalls die Ansicht vertraten, dass die Zustände in der Dritten Welt die Auswirkungen des kapitalistischen Systems in der westlichen Welt widerspiegeln würden.61 Aus diesem Grund rief der AStA in unzähligen Flugblättern immer wieder zu einer Pflicht der internationalen Solidarität62 auf. Diese publizistische Tätigkeit konnte weniger ihre Wirkung nach Außen als nach Innen entfalten, da sie die Ausprägung von Selbst- und Fremdbildern förderte.63 Die Erzeugung von Öffentlichkeit sollte eine Verknüpfung zwischen den Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt und der „eigenen gesellschaftspolitischen Praxis“64 bewirken. Auf diese Weise bildete sich schließlich eine internationale Studentenbewegung65 – eine regelrechte „Front gegen die kapitalistische Herrschaft der Ersten Welt“66 – in den Köpfen der Akteure des linksalternativen Milieus aus. Hinzu kam, dass das Thema der Chile-Solidarität von Konflikten innerhalb der oft in sich zersplitterten linken Hochschulgruppierungen ablenkte und von daher eine Gemeinschaft stiftende Wirkung entfaltete. Durch die gemeinsamen Solidaritätsbekundungen als Teil einer internationalen Solidaritätsbewegung traten die ideologischen und tagespolitischen Differenzen zwischen den Gruppen in den Hintergrund und man konnte auf eine Art hochschulgruppenübergreifende Identität, die auf der Politik der Einheit aller linken und demokratischen Kräfte67 beruhte,

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Ebd., S. 184. Ebd. Universitätsarchiv Münster, Bestand 202, Nr. 1223, Lateinamerikazeitung, hg. von Lateinamerikanischer Studentenverein, Sommersemester 1977, S. 2. Ebd., Nr. 907, ASTA-INFO 85 (21. 05. 1976). Vgl. Spix, Abschied (Anm. 20), S. 317. Ebd.; Siehe dazu auch Thomas Etzemüller, Imaginäre Feldschlachten? „1968“ in Schweden und Westdeutschland, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, OnlineAusgabe, 2,2 (2005) (01. 09. 2014). Siehe zu den Formen und Funktionen der Beziehung der Studentenbewegung der sechziger Jahre zu Lateinamerika exemplarisch Dorothee Weitbrecht, Aufbruch in die Dritte Welt. Der Internationalismus der Studentenbewegung von 1968 in der Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 2012. Etzemüller, Feldschlachten (Anm. 64). Universitätsarchiv Münster, Bestand 202, Nr. 1186, Flugschrift „chile aktuell. DER LINKE ASTA MUß [sic] BLEIBEN!!“, hg. von Initiativkreis Solidarität mit Chile, 16. 05. 1977.

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zurückgreifen.68 Neben zahlreichen Flugblättern und Schriften versuchten die linken studentischen Vertreter im Rahmen von weiteren öffentlichen Veranstaltungen auf die Situation in Chile aufmerksam zu machen. Hierzu zählten vor allem Podiumsdiskussionen, zu denen beteiligte Chilenen eingeladen wurden und so über die Lage unter der Militärdiktatur berichten konnten.69 Bei einer weiteren Solidaritätsveranstaltung zu 5 Jahren Faschismus in Chile70 sollte über die Geschichte der Arbeiterbewegung in Chile informiert und über die dortige Lage diskutiert werden. Das Thema des Chile-Konflikts wurde von den linksalternativen Studentenvertretern bewusst in den Diskurs über das politische Mandat eingebunden. Dabei wurde konstatiert, dass das Recht auf die Ausübung des politischen Mandats notwendig sei, um die Menschenrechtsverletzungen in Chile verhindern zu können. Der ‚Initiativkreis Solidarität mit Chile‘ wurde dabei in eine wichtige Position gerückt. So hätte er die dortigen Unterdrückten mit einer moralische[n] und materielle[n] Hilfe71 unterstützt. Weiterhin würde sich der AStA, der eng mit dem Initiativkreis zusammenarbeitete72 , um chilenische Studenten in Münster kümmern, sodass allein aufgrund dieses Engagements das Recht der Studentenvertreter auf ein allgemeinpolitisches Mandat begründet sei.73 Aufgrund dieser Argumentation wurde dem Diskurs über das politische Mandat eine starke moralische Komponente verliehen, welche dessen Gegner in ein schlechtes Licht rücken sollte. Dies zählte zur Strategie der Studenten – Sven Reichardt umschreibt dies mit dem Begriff der „moralischen Betroffenheitslogik“.74 Insbesondere der RCDS wurde in den Flugschriften für die Menschenrechtsverletzungen in Chile verantwortlich gemacht, da er sich bewusst gegen eine internationale Solidaritätsbewegung ausgesprochen hätte.75 Der konkrete Hintergrund für diese Behauptung lag darin, dass der RCDS in den siebziger Jahren immer wieder versuchte, sich an der Auseinandersetzung um das politische Mandat in erster Linie durch juristische Mittel zu beteiligen. Vor allem die Mitgliedschaft des AStA im ‚Initiativkreis Solidarität mit Chile‘ wurde kritisiert und ein Strafgeld

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In einem Artikel aus der Lateinamerikazeitung heißt es: „Der Initiativkreis „Solidarität mit Chile“ in Münster ist Bestandteil dieser internationalen Solidarität“. Siehe Universitätsarchiv Münster, Bestand 202, Nr. 1223, Lateinamerikazeitung, hg. Lateinamerikanischer Studentenverein, Sommersemester 1977, Artikel „IK Solidarität mit Chile“, S. 8 f. Zu dieser These vgl. Etzemüller, Feldschlachten (Anm. 64). Zu diesen Veranstaltungen kamen Persönlichkeiten wie etwa Clodomiro Almeyda, der Generalsekretär der sozialistischen Partei Chile und Außenminister während der Regierung Allende, siehe Universitätsarchiv Münster, Bestand 202, Nr. 1187, Flyer „CHILE: VOM PROTEST ZUM GENERALSTREIK”, hg. von Initiativkreis Solidarität mit Chile, o. D. Ebd., Flugblatt „CHILE: 5 JAHRE FASCHISMUS“, hg. von Initiativkreis Solidarität mit Chile, 1978. Ebd., Flugschrift, „chile aktuell. DER LINKE ASTA MUß [sic] BLEIBEN!!“, hg. von Initiativkreis Solidarität mit Chile, 16. 05. 1977. Ebd., Nr. 906, ASTA-INFO 153 (16. 6. 1975) „RCDS und Rau gegen unsere Interessen”, hg. von AStA Universität Münster. Ebd. Reichardt, Authentizität (Anm. 11), S. 30. Universitätsarchiv Münster, Bestand 202, Nr. 906, ASTA-INFO 153 (16. 6. 1975) „RCDS und Rau gegen unsere Interessen”, hg. von AStA Universität Münster.

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von 5 000 DM gefordert.76 Letztlich stellte der RCDS das Feindbild schlechthin für die Angehörigen des linken studentischen Milieus dar. Die symbolische Funktion des Themas „Chile“ kann in Bezug auf die Fremdbilder noch ausgeweitet werden. Denn nicht nur der münsterische RCDS, sondern die Bundesregierung insgesamt wurde für die Menschenrechtsverletzungen in Lateinamerika für mitschuldig erklärt. Demnach würde auch die Bundesregierung im Strudel des kapitalistischen Systems keine Rücksicht auf die chilenische Bevölkerung – insbesondere deren Arbeiterschaft – nehmen und die Menschenrechtsverletzungen dort tolerieren.77 Diese Vorstellungen begünstigten das Selbstverständnis der linksalternativen Studenten von einer starken Gruppenidentität und Mentalität, die in eine internationale Solidaritätsbewegung mit Chile eingebunden war.78 Zugleich untermauerte diese Bewegung im Streit um das politische Mandat der verfassten Studentenschaft, wer auf der moralischen richtigen Seite stand. Damit hatten die Vertreter des linksalternativen studentischen Milieus ein wirksames Thema gefunden, mit dem sie ihr Recht auf ein politisches Mandat geltend machen konnten.

II. Abgrenzung als Chance: die Hausbesetzung in der Frauenstraße 24 Die kulturhistorische Forschung geht seit dem Spatial Turn davon aus, dass sich ein sozialer Raum erst durch eine ausgeprägte Kommunikation konstituieren kann. Auf diese Weise werde „soziale Kommunikation“79 möglich, die aus einem Netzwerk von „Zeichen und Zeichensysteme[n]“80 bestehe und ein Ort „kommunikativer Praktiken“81 sei. Dieses Modell ist für die folgenden Überlegungen von ausschlaggebender Bedeutung – schließlich geht es um die Konstituierung einer studentischen Subkultur durch die Herstellung neuer sozialer Räume und die Kreation neuer diskursiver und performativer Praktiken, welche durch die habituellen Voraussetzungen ihrer Protagonisten geprägt sind. Seit den frühen siebziger Jahren etablierte sich in Münster eine Hausbesetzerszene, die sich mit den Hochschulgruppen aus dem linken Milieu verbanden und teilweise aus ihnen hervorging.82 Ein Beispiel dafür ist die Besetzung des Hauses in der Frauenstraße 24, deren Protagonisten der linksalternativen studentischen Szene entstammten. Auch in Münster setze sich seit den siebziger Jahren der raumplanerische Trend durch, alte Gebäude abzureißen und durch moderne und profitable Bauten zu ersetzen. Vor dem Hintergrund der steigenden Studierendenzahlen und der

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Ebd. Ebd. Vgl. Rupflin, Kirche in Bewegung (Anm. 53), S. 200–202. Vgl. Riccardo Bavaj, Was bringt der ‚spatial turn‘ der Regionalgeschichte. Ein Beitrag zur Methodendiskussion, in: Westfälische Forschungen 56 (2006), S. 457–484, hier: S. 474. 80 Ebd., S. 468. 81 Ebd., S. 474. 82 Eine detaillierte Analyse über die soziale Herkunft der Hausbesetzer findet sich bei Reichardt, Authentizität (Anm. 11), S. 534–537.

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damit verbundenen Suche nach bezahlbarem Wohnraum fühlten sich zahlreiche Studenten dazu angehalten, dagegen zu protestieren.83 Im Hinblick auf den drohenden Abriss des Hauses lautete die Agenda, „radikale Politik und alternativen Lebensstil [zu] verbinden“.84 Das Haus in der Frauenstraße 24 bot dafür ein authentisches Anschauungsobjekt, das die Studenten zu einem „Politikum“85 werden ließen. Zu Beginn der siebziger Jahre wurde das Haus von einem Makler aufgekauft, für das er 1973 eine Abbruchgenehmigung erhielt. Aus diesem Grund besetzten im Herbst desselben Jahres einige wohnungssuchende Bürger das Haus – unter ihnen zum großen Teil Studenten – und demonstrierten gegen den geplanten Abriss. Zudem wurde mit der grundlegenden Renovierung des Gebäudes begonnen. Während der Besetzung gewannen die neuen Bewohner der Frauenstraße 24 zahlreiche Sympathisanten aus den Reihen der linksliberalen Parteien, der ‚Deutschen Kommunistischen Partei‘ sowie von den evangelischen und katholischen Studentengemeinden und den münsterischen Bürgern selbst. Zum Wintersemester 1974/75 richtete der AStA der Universität als Hauptmieter seine Wohnungsvermittlung ein und erklärte die Hausbesetzer zu Untermietern.86 Zwei Jahre später wurde das Haus jedoch zwangsversteigert und bekam mit der Firma eines Maklers einen Besitzer, der das Haus wiederum abreißen wollte. Dies konnte allerdings verhindert werden, was die Hausbesetzer auf einen anhaltenden Druck der Öffentlichkeit87 zurückführten. Gegen Ende des Jahres 1977 gründeten sie den Verein zur Erhaltung der Frauenstraße 2488 . Neben dem Ankauf und der Renovierung wollte man die oberen Stockwerke günstig vermieten und im Erdgeschoss einen Treffpunkt für die Angehörigen der linksalternativen Subkultur und interessierte Bürger einrichten. Im März 1978 kam es jedoch zu einem Rückschlag für die Besetzer, als ein Finanzmakler aus Dortmund das Haus bei einer Zwangsversteigerung erwarb und per Gerichtsbeschluss erreichte, dass der AStA den Status des Hauptmieters verlor und das Gebäude räumen musste. Der Abbruch des Hauses konnte jedoch durch ein Urteil vom Verwaltungsgericht Münster, das sich auf den Denkmalschutz berief, verhindert werden. Damit blieb eine gewaltsame Eskalation des Konflikts aus, wie sie in Städten wie Frankfurt und Berlin nach dem Scheitern der friedlichen Aktionen vorkam.89 Im März 1982 wurde das Gebäude in der Frauenstraße 24 an die Landesentwicklungsgesellschaft verkauft. Wieder zogen Studenten in das Haus ein, während die ehemaligen Hausbesetzer im Erdgeschoss eine Kneipe eröffneten.90 83 84 85 86

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Sven Reichardt spricht in diesem Zusammenhang von einer Radikalisierung der Wohnungssuchenden. Siehe Reichardt, Authentizität (Anm. 11), S. 499. Detlef Siegfried, Time is on my side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen 2006, S. 734. Reichard, Authentizität (Anm. 11), S. 501. Universitätsarchiv Münster, Bestand 202, Nr. 1173, Druckschrift „Abbruchgenehmigung jetzt zurücknehmen“ der „Hausgemeinschaft“ und des „Kulturzentrums Frauenstr. 24“, hg. von Hausgemeinschaft Frauenstraße 24, o. D. Ebd. Ebd. Vgl. Reichardt, Authentizität (Anm. 11), S. 533. Vgl. (10. 04. 2016).

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Das Haus in der Frauenstraße fungierte als Symbol für die Abgrenzung einer linksalternativen Subkultur, was der Blick auf die Selbst- und Fremdbilder verdeutlicht: die Hausbesetzer sahen sich als Kämpfer, die sich für Erhalt der kulturellen Vielfalt und für die wohnungslosen Studenten einsetzten, während der politische Gegner in Form einer „Negativfolie“91 dauerhaft anwesend zu sein schien. Der RCDS wurde gleichsam als Symbol für die Erhaltung der schlechten Zustände an der Universität wie die mangelhaften Mitspracherechte der Studenten und die Wohnungsnot genommen. Er würde lediglich soziales Verhalten vortäuschen: Heute sozialer Touch, morgen Abbruchbagger!92 Daher bezogen die Hausbewohner eindeutig Stellung: Unsere Wahlaussage: Keine CDU-Günstlinge ins SP!93 Die Grenze zwischen inner- und außeruniversitärem Raum verschwand, indem die Bedeutung des sozialen Raums außerhalb der akademischen Mauern für die Studenten zunahm. Der sowohl konkret materielle als auch soziale Raum in der Frauenstraße 24 wurde durch ähnliche habituelle Voraussetzungen wie eine gemeinsame Sprache, die politische Agenda der Hausbesetzung und einen alternativen Lebensstil konstituiert. Dadurch, dass man sich eigenen Raum schuf, konnte man gleichzeitig sich selbst und sein Anliegen öffentlichkeitswirksam nach außen hin mit dem Ziel inszenieren, Sympathisanten oder zumindest Aufmerksamkeit zu gewinnen. So veranstaltete die Hausgemeinschaft öffentliche Aktionen wie die Heißen Freitage94 oder die Das Haus muß bleiben-Fete[n]95 , bei denen die Hausbesetzer zu verdeutlichen beabsichtigten, dass es sich bei dem Haus in der Frauenstraße 24 um einen Ort handelte, der bereits Teil der städtischen Kultur Münsters sei und daher nicht abgerissen werden dürfe. Die Bewohner der Frauenstraße 24 stießen auf eine breite Zustimmung bei den Münsteranern. Auch die ‚Katholische Studentengemeinde‘ (KSG) engagierte sich für den Erhalt des Hauses und trat in öffentlichen Veranstaltungen kritisch gegenüber dem Vorgehen der Stadt Münster auf. In ihrem Selbstverständnis gehörten kirchliches und politisches Engagement zusammen, was nicht zuletzt durch den Einfluss der Befreiungstheologie zu erklären war.96 Dafür wurde die KSG wiederholt von Seiten der Amtskirche im Bistum Münster kritisiert und ihre scheinbar politisch linke Ausrichtung angemahnt.97 In der Tat existierten in den siebziger Jahren thematische Schnittmengen zwischen katholischem und linksalternativem Milieu in Münster, die nicht nur den Bereich der Chile-Solidaritätsbewegung, sondern auch den Kampf für den Erhalt des Hauses in der Frauenstraße 24 betrafen. So erklärte der Studentenpfarrer Heinz-Georg Surmund in einer Diskussionsveranstaltung über

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Ebd., S. 56. Universitätsarchiv Münster, Bestand 202, Nr. 1173, Flugblatt „UNSERE WAHLAUSSAGE: Keine CDU-Günstlinge ins SP!“ der „Hausgemeinschaft“ und des „Kulturzentrums Frauenstr. 24“, hg. von Hausgemeinschaft Frauenstraße 24, Januar 1981. Ebd. Ebd. Universitätsarchiv Münster, Bestand 202, Nr. 1173, Flugschrift „Frauenstr. 24 Info“, hg. von Hausgemeinschaft Frauenstraße 24, o. D. [1977]. Siehe dazu im Einzelnen für Münster Rupflin, Kirche in Bewegung (Anm. 53), S. 197–199. Vgl. ebd., S. 206–209.

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die Wohnungsnot in Münster seine Solidarität gegenüber den Hausbesetzern und der Umsetzung ihrer Ziele. Zudem führte er den Erfolg der linksalternativen Studenten darauf zurück, dass diese auf viele Unterstützer zählen könnten: Es ist für mich nicht verwunderlich, daß die Hausbesetzung in der [. . .] Frauenstraße 24 eine derartige Resonanz über die unmittelbar Betroffenen hinaus finde[t]. Ein Großteil der Studenten erlebt Münster zunächst und ziemlich massiv als eine Stadt, die ihnen ganz und gar nicht gastfreundlich begegnet; bevor man Einlaß findet, muß man zuerst die Hürde einer deprimierend schwierigen Zimmersuche überwinden. Und die bedrückenden Realitäten der studentischen Wohnungsnot werden sich nicht verringern, wenn sie von den Verantwortlichen der Stadt entweder ignoriert oder bagatellisiert werden [. . .] Angesichts der Probleme der studentischen Wohnungssituation ist es verständlich, daß die Empörung über das Verhalten der Stadt [. . .] auch auf viele Studenten übergreift, die [sic] politische Einstellung der Hauptbetroffenen [. . .] nicht teilen.98

Die Wohnungsnot würde nicht nur die Studenten aus dem linksalternativen Milieu, sondern Jugendliche aller Couleur betreffen, so der Studentenpfarrer. Es schien jedoch ein Idealbild eines wünschenswerten Mieters bei den Münsteranern vorzuherrschen, das nicht mit der Realität zu vereinbaren gewesen sei. Dies hatte die Katholische Studentengemeinde bei einer Art Experiment herausgefunden: Aus einem Gespräch darüber, welcher Studententyp die besten Chancen hat, ein Zimmer zu bekommen, entwickelte sich der Vorschlag, in einer fiktiven Zeitungsannonce einige der anzeigenüblichen Vorzüge zusammenzustellen, mit denen Studenten das Interesse und Wohlgefallen ihrer zukünftigen Mieter auf sich zu lenken versuchen. Es kam der folgende Anzeigentext zustande, der dann auch in der Zeitung unter der Rubrik „Mietgesuche“ erschien: Gut erzogener ordentlicher und hilfsbereiter katholischer Studienanfänger mit ruhigem und zurückhaltendem Wesen, Nichtraucher und Wochenendfahrer, sucht ab sofort Zimmer in ruhiger Lage. Garantiert sparsamer Strom- und Wasserverbrauch. Wir hatten gedacht, daß man dieser Anzeige meilenweit die Karikatur ansieht. Aber diese Annahme erwies sich als Täuschung. Es kamen interessierte Nachfragen von Vermietern, die dieses Prachtexemplar eines mustergültigen Studenten gern bei sich beherbergt hätten. Wir standen nun vor dem Problem, keinen Studenten auftreiben zu können, der diesem Idealbild entsprach.99

Aufgrund der Vernetzung von linksalternativen und katholischen Studenten muss in Bezug auf die Frage nach der Konstituierung eines linksalternativen studentischen Milieus konstatiert werden, dass die räumliche Abgrenzung einerseits die Möglichkeit einer eigenen Stilbildung bot. Durch die Abgrenzung vom universitären Raum ergab sich andererseits die Öffnung nach außen. So erschlossen sich neue Möglichkeiten der Kommunikation, die im akademischen Raum in dieser Form nicht gegeben waren. Somit hatte die „Universität als Ort der Diskussion und Auseinandersetzung [. . .] gegen Mitte der siebziger Jahre die Bedeutung verloren,

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Universitätsarchiv Münster, Bestand 202, Nr. 1173, Druckschrift „Abbruchgenehmigung jetzt zurücknehmen“ der „Hausgemeinschaft“ und des „Kulturzentrums Frauenstr. 24“, hg. von Hausgemeinschaft Frauenstraße 24, o. D., [Anfang 1980], Wortbeitrag von Heinz-Georg Surmund, Studentenpfarrer der Katholischen Studentengemeinde in Münster bei der Podiumsdiskussion zur studentischen Wohnungssituation am 24. 04. 1980 im H 1, Gedächtnisprotokoll. Ebd.

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welche sie 1968 zweifellos noch hatte.“100 Dabei spielte die Kommunikation in „Vergemeinschaftungsorten“101 wie der Frauenstraße 24 eine zentrale Rolle.102

FAZIT Die Studenten, die im Juni 1977 zur Diskussionsveranstaltung über die Studentenbewegung heute aufgerufen hatten, waren mit anderen hochschul- und gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen konfrontiert als ihre Vorgänger von 1967. Im Zuge der innenpolitischen Strukturkrise der siebziger Jahre waren Probleme im studentischen Alltag sichtbar geworden wie in erster Linie die Wohnungsnot – hervorgerufen durch die Entwicklung der Universität Münster zur Masseninstitution – und die steigende Arbeitslosigkeit, die keine rosige Zukunft mehr in einem Land des ökonomischen Aufschwungs versprach.103 Zudem verschärfte sich das Spannungsverhältnis zwischen den linksorientierten Studentengruppierungen und dem Rektorat. Dazu beigetragen hatten sicherlich die Erfahrungen mit den Studentenprotesten von 1968/69 sowie die Bedrohung der inneren Sicherheit in Westdeutschland, was die Verabschiedung des so genannten Radikalenerlasses, der auch unter dem Stichwort der „Berufsverbote“ bekannt wurde, veranlasste.104 Das Beispiel der Universitätsstadt Münster hat gezeigt, dass es in den siebziger Jahren keine vereinzelten Protestaktionen durch spontane performative Aktionen mehr gab. Vielmehr kann man von einem wesentlich höheren Organisationsgrad der linksorientierten Studenten sprechen. Nach dem Wegfall des SDS aus der bundesdeutschen Hochschullandschaft betrieb eine Reihe von linksradikalen Studenten eine klassische Organisationsbildung, die in den späten siebziger Jahren in die Gründung von linksalternativen Vereinen mündete. Dabei verlor der inneruniversitäre Raum an Bedeutung, da sich die Vertreter der linksradikalen Hochschulgruppen mit den Angehörigen der münsterischen Hausbesetzer verbündeten und für den Erhalt der Frauenstraße 24 eintraten. Dadurch konstituierte sich ein sozialer Raum, in dem man neue Formen der politischen Kommunikation einüben konnte, die in erster Linie durch ihre Performativität auffielen und gleichsam als „Software des Milieus“105 fungierten. Die Folge davon war letztlich, dass das linksalternative studentische Milieu von der akademischen und städtischen Öffentlichkeit als selbstständiger Akteur im gesellschaftlichen Diskurs wahrgenommen wurde. 100 101 102 103

Reichardt, Authentizität (Anm. 11), S. 443. Ebd., S. 572–624. Ebd., S. 444. Siehe dazu im Einzelnen Thomas Raithel, Andreas Rödder und Andreas Wirsching (Hg.), Auf dem Weg in eine neue Moderne? Die Bundesrepublik Deutschland in den siebziger und achtziger Jahren, München 2009 (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Sondernummer); Konrad H. Jarausch, Verkannter Strukturwandel. Die siebziger Jahre als Vorgeschichte der Probleme der Gegenwart, in: Jarausch, Ende der Zuversicht, 2009 (Anm. 4), S. 9–28. 104 Siehe zur Geschichte der inneren Sicherheit im 20. Jahrhundert Dominik Rigoll, Staatsschutz in Westdeutschland. Von der Entnazifizierung zur Extremistenabwehr (Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts 13), Göttingen 2013. 105 Rucht, Linksalternatives Milieu (Anm. 17), S. 40.

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Die Studenten grenzten sich zudem durch Diskurse ab, die sie bewusst führten, was am Beispiel der Chile-Solidarität beziehungsweise dem Diskurs über das allgemeinpolitische Mandat der verfassten Studentenschaft aufgezeigt wurde. Dies lenkte von Streitigkeiten innerhalb der in sich oft zerstrittenen und zersplitterten linksradikalen Gruppierungen ab. Einend wirkte auch die Abgrenzung durch die Erzeugung stereotyper Fremd- und Selbstbilder wie der imaginäre Kampf gegen die Militärdiktatur in Chile sowie deren Unterstützer. Der Rektor der Universität und der Ring Christlich Demokratischer Studenten stellten zusammen mit den Maklern und Spekulanten aus dem Immobilienmarkt den moralischen Gegner, den Kapitalismus schlechthin, dar, gegen den die Hausbesetzer zusammen agierten. So hat die Betrachtung der Proteste in Münster in den siebziger Jahren ergeben, dass es eine Mobilisierung eines Teils der Studentenschaft gab, die dem linken politischen Spektrum zuzuordnen ist. An dieser Stelle wäre es sinnvoll, die andere Seite – jene der christlich-konservativen Studenten im Hinblick auf ihr Mobilisierungspotential zu untersuchen. Gewiss kann man hinsichtlich der siebziger Jahre nicht nur von einem „roten Jahrzehnt“ sprechen. Neue Untersuchungen weisen zurecht darauf hin, „dass man das ‚Ende der Bürgerlichkeit‘ bei der Erforschung der siebziger Jahre hinterfragen sollte.“106 Die hohe Anzahl an Plakaten und Flugblättern, die der RCDS seit den siebziger Jahren in Münster veröffentlichte, deutet darauf hin, dass diese These auf die Universität Münster zuzutreffen scheint.107 Insgesamt sollte man daher von einer Wechselwirkung zwischen linksalternativen und konservativen Hochschulgruppen sprechen, die sich aus einer Reaktion auf die strukturellen Probleme der Hochschullandschaft und die gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen in Westdeutschland ergab. Weiterhin sollte der Aspekt der Vernetzung von verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren nicht vernachlässigt werden. Unter den Studenten in Münster war eine Annäherung zwischen linksalternativem und katholischem Milieu zu erkennen, die sich zum einen aus der Politisierung der katholischen Studentenschaft seit den siebziger Jahren und zum anderen aus den thematischen Schnittmengen wie der Chile-Solidarität und Wohnungsnot ergab. Diese Vernetzung fand größtenteils im außeruniversitären Raum statt, der vielfältige Möglichkeiten der Kommunikation und Artikulation bot. Die Katholische Studentengemeinde und die Studenten der linksalternativen Szene agierten in der Praxis nicht nur für und unter sich, sondern zeichneten sich vielmehr durch die Öffnung nach außen und den Primat des Inhaltlichen aus. Der Grund dafür lag nicht nur in der ähnlichen politischen Ausrichtung, sondern auch in der Strategie der linksalternativen Studenten, in Protestsituationen eher auf klassische Mittel der Organisationsbildung als auf Gewalt und spontanen Aufruhr zu setzen.

106 Bösch, Krise (Anm. 7), S. 307. 107 Die Druckschriften befinden sich im Universitätsarchiv Münster, Bestand 202, Nr. 1263–1285.

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ABSTRACT The westphalian city Münster is well known for its catholic tradition and its inhabitants, who belong to a bourgeois social environment. The article deals with this widespread condition and focuses on the question if there might be other milieus in the city that arose from left-wing students movement in the 1960s. The main thesis is that in the late 1970s it existed a strong left-wing student subculture that distinguished itself from the bourgeios and catholic public sphere in Münster. The paper demonstrates how this could succeed in practice while explaining what aspects like space, performance action and discourse meant for the creation of a left-wing student subculture. This development was related to the social and economic changes in the 1970s that also affected the universities. Increasing numbers of students who came to the westphalian city caused a serious housing shortage that led to left-wing students building a strong squatting fraternity. Furthermore, the military dictatorship in Chile made the german students start a widespread leaflet campaign that annoyed the university’s management because the General Students’ Committee (AStA) was not allowed to comment on issues that dealed with world politics. These conflicts show the possibilities of a left-wing student subculture to exist in a german city like Münster in the 1970s.

DISKUSSIONEN „ENDE DER VERNUNFT“? Eine Replik auf Angelika Schaser und Falko Schnicke, Der lange Marsch in die Institution. Zur Etablierung der Frauen- und Geschlechtergeschichte an westdeutschen Universitäten (1970–1990)* Gisela Bock

Die beiden Autoren greifen ein wichtiges Thema auf: den Einzug der Historiographie über Frauen und Geschlechterbeziehungen – der „Frauen- und Geschlechtergeschichte“ – in westdeutsche Universitäten und deren Öffnung für die FGG (so das Kürzel in dem Aufsatz) sowie deren zumindest partielle Verankerung im akademischen System („Etablierung“, „Institutionalisierung“). Es handelt sich um ein Thema der Zeitgeschichte, das nicht nur die Geschichtswissenschaft, sondern auch andere Geistes- und Sozialwissenschaften betrifft.1 Verdienstvoll ist es, dass das Jahrbuch das Thema als Bestandteil der Universitätsgeschichte aufgreift (Frauen an den Universitäten wurden hier schon mehrfach behandelt) und dass die beiden Autoren auch auf wenig bekannte Aspekte des Themas eingehen, etwa die Lehrtätigkeit; allerdings war diese im Untersuchungszeitraum keineswegs nur eine Art „Hintertür“ (S. 93), sondern das Hauptportal für den Einzug der FGG in die Universitäten. Gerade auch deshalb müssen einige Probleme thematisiert und Irrtümer ausgeräumt werden. Eine Hauptquelle sind zehn Interviews mit „Protagonistinnen“ aus mehreren Universitäten, allerdings im Wesentlichen nur mit den sieben von ihnen, die eine ordentliche Professur in Deutschland innehatten und bis 2012 pensioniert wurden (S. 82, 84 Anm. 24). Von diesen heißt es, unter dem Titel „Engagement der interviewten Protagonistinnen“, dass sie „meist erst nach dem Erreichen ihrer Professuren frauen- und geschlechtergeschichtliche Lehre angeboten“ hätten (S. 99, Hervorhebung von mir) und dass von ihnen eine „Gruppe“ nur „selten“ auf diesem Gebiet gelehrt hätte (die andere „hingegen häufig“). Als fast einzige dieser „Gruppe“ werde ich genannt, und es wird dafür sogar ein Grund angegeben: Als solcher „gilt“ den Autoren, dass ich die FGG „offenkundig nicht [. . .] als karrierefördernd auf dem Weg zur Universitätsprofessur“ wahrgenommen hätte (S. 98 f.). Diese Behauptung ist frei erfunden, unwahr und irreführend. Denn ebenso wenig wie ich die Historische

* 1

Erschienen 2015 in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 16 (2013), S. 80–110. Vgl. Kirsten Heinsohn und Claudia Kemper, Geschlechtergeschichte, in: Docupedia – Zeitgeschichte. Begriffe, Methoden und Debatten der zeithistorischen Forschung, 4. 12. 2012, (17. 06. 2015). In dem vorliegenden Aufsatz stehen „Frauen- und Geschlechtergeschichte“ bzw. „FGG“ sowohl für „Geschichte“ als auch „Geschichtsschreibung“ bzw. Historische Frauen- und Geschlechterforschung.

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Frauenforschung als Karriereschiene praktiziert habe, habe ich sie um einer Karriere willen vermieden; vielmehr bin ich um ihretwillen Risiken eingegangen – was in der Karrierepsychologie, die in diesem Aufsatz dominiert, keinen Platz hat. Zweitens habe ich nichts dergleichen im Interview gesagt, und geradezu das Gegenteil ist bekannt.2 Drittens wurde ich erst 1989 auf eine unbefristete Professur berufen, also am Ende des Untersuchungszeitraums 1970–1990, habe aber zuvor nicht etwa „selten“, sondern längst und umfassend frauen- und geschlechtergeschichtlich gelehrt und habe solche Lehre mitbegründet. Das wird verborgen, indem die Autoren willkürlich mit Zahlen und Quellen operieren; ohne irgendeine Ergänzung heißt es: „Gisela Bock unterrichtete im Untersuchungszeitraum drei Veranstaltungen der Kategorie 1.“3 Doch diese Zahl ist gänzlich falsch: Tatsächlich habe ich innerhalb des Untersuchungszeitraums (und beginnend in 1975) rund zwölfmal so oft, nämlich in 37 Lehrveranstaltungen, über FGG unterrichtet. Es waren 25 an drei der „westdeutschen Universitäten“, welche die Autoren gerade in Sachen Lehre besonders studiert zu haben behaupten (S. 93: FU Berlin, TU Berlin, Universität Bielefeld); und insgesamt 29 vor dem Antritt meiner tenure-Professur 1989 (hier einschließlich einer weiteren westdeutschen Universität, zweier Universitäten im Ausland und des Europäischen Hochschulinstituts). Da der Aufsatz die Lehrtätigkeit der meisten Interviewten ausführlich bespricht und quantifizierend vergleicht, ist zu vermerken, dass dies die höchste einzelne Anzahl der hier angeführten Lehrveranstaltungen ist; unter ihnen waren auch elf methodischtheoretische (kein Wunder, dass sie im Aufsatz dann als „insgesamt selten“ gelten, S. 99 f.). Gegen diese Irrtümer muss ich umso entschiedener Einspruch erheben, als der Aufsatz zu Unrecht den Eindruck erweckt, ich selbst hätte derartige Auskünfte gegeben. Doch die Interviewfragen von 2012 bezogen sich ausschließlich auf „Forschung und Karriere“.4 Wie konnte eine so abwegige Behauptung aufkommen? In erster Linie müssen die Autoren sie für so wahrscheinlich gehalten haben, dass sie ihnen auch als richtig „galt“ (S. 99). Zweitens bemühen sie im zweiten Teil des Aufsatzes („Lehre: Anfänge, Akteure und Schwerpunkte“) als einzige wesentliche Quelle, insgesamt also als die zweite Hauptquelle des Aufsatzes, sogenannte Kommentierte Vorlesungsverzeichnisse (KVV). Willkür herrscht auch hier. Denn bekanntlich müssen zur wissenschaftlichen Beantwortung von Fragen dafür geeignete Quellen benutzt werden; wird also nach meiner Lehrtätigkeit gefragt („selten“ oder „häufig“?), so geht es nicht an, dafür die KVV von Institutionen heranzuziehen, an denen ich nicht unterrichtet habe. Die Argumentation alterniert willkürlich zwischen der Etablierung an „westdeutschen Universitäten“ und an fünf „Historischen Seminaren“; letztere gab es aber an den untersuchten Universitäten nur in den alten wie Hamburg,

2 3 4

Vgl. Ulla Bock, Pionierarbeit. Die ersten Professorinnen für Frauen- und Geschlechterforschung an deutschsprachigen Hochschulen 1984–2014, Frankfurt a. M. 2015, S. 74–76. Seite 99. Diese „Kategorie“ gilt für LV, „deren primärer Fokus darauf lag, Frauen und Männer in ihrer Geschlechtlichkeit zu historisieren“ (S. 95). Zu den weiteren „Kategorien“ s. u. S. 269. Die Transkription wurde mir trotz Drängens erst 2015, nach der Veröffentlichung des Aufsatzes, zugänglich gemacht: eine Verletzung der Regeln bei der Oral History.

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während modernere wie die FU Berlin, TU Berlin und Bielefeld das Fach in Instituten, Fachbereichen und Fakultäten organisierten. Unberücksichtigt bleibt die Fachstruktur, bei der zum Beispiel an der FU Berlin die Geschichtswissenschaft nicht nur am Friedrich-Meinecke-Institut (FMI) beziehungsweise Fachbereich Geschichtswissenschaften angesiedelt war, sondern auch anderswo, vor allem am FB Wirtschaftswissenschaft (für die Wirtschaftsgeschichte mit Wolfram Fischer) oder am FB Politikwissenschaft („Historische Grundlagen der Politik“ mit Peter Steinbach) sowie an den damals vier Zentralinstituten (an zweien von ihnen hatte ich meine konsekutiven „Mittelbau“-Stellen, davon die erste bei Hans Ulrich Wehler). Da zudem in den KVV des FMI auch deutlich auf diese sonstigen Lehrangebote und deren gegenseitige Anerkennung verwiesen wurde (die Studierenden registrierten das sorgfältig), ist es irreführend, wenn die Autoren jene Institute unberücksichtigt lassen, zumal wenn sie für die – selbst gestellten – Fragen aufschlussreich wären. Willkür ist es ebenfalls, wenn je nach Laune FGG-Lehrveranstaltungen aus diesen hier marginalisierten Bereichen dann eben doch einbezogen werden: etwa die von Rolf Engelsing im FB Wirtschaftswissenschaft (nicht an einem „Historischen Seminar“ der FU), die 1971 angeblich den Beginn der „Etablierung“ von „FGG“ an der FU Berlin markiere und den „frühesten Beginn“ an allen „Historischen Seminaren“.5 Zwar wird meine Lehrtätigkeit am FB Politikwissenschaft verschwiegen, aber wo es gerade passt, wird sie dennoch herangezogen, allerdings nur anonym, denn ansonsten hätte man ja die konstruierten Zahlen korrigieren müssen (so im Fall meines zweisemestrigen Seminars über „Vergleichende Sozialgeschichte der Prostitution“ in den Jahren 1979 und 1980: S. 103 f.).6 Dass ich „im Untersuchungszeitraum“ bloß drei LV in Sachen FGG angeboten hätte, wird also wider besseres Wissen behauptet. Mit mancherlei problematischen Sätzen werden diese Analysen eingerahmt. Ein besonders irreführender Fall ist: „Die Übersicht [über die FGG-Lehrveranstaltungen von vier! der Interviewpartnerinnen] zeigt, dass die interviewten Protagonistinnen ihre frauen- und geschlechtergeschichtliche Lehre aus ihren jeweiligen Arbeitsgebieten und Lehraufgaben heraus entwickelten.“ Damit stelle diese Art von Lehre lediglich „Weiterentwicklungen aus original nicht-frauen- und geschlechtergeschichtlichen Forschungsschwerpunkten dar“ (S. 100). Das ist entweder eine Banalität – allem Neuen geht Altes voran – oder aber Unsinn; auf mich als immerhin einem Viertel der hier herangezogenen „Protagonistinnen“ trifft die Aussage nicht zu (auch nicht auf mehrere andere). Allenfalls trifft sie auf diejenigen zu, die sich erst vergleichsweise spät für die entstehende FGG interessiert hatten (erst recht für die akademische wie außerakademische Frauenbewegung der 1970er und 80er Jahre) und dementsprechend die Konflikte der Frühzeit nicht durchstehen mussten. Offenbar soll die 5 6

Schaser und Schnicke, S. 94. Vgl. dazu auch unten, Anm. 22. Bekannt war den Autoren, dass diese Lehrtätigkeit, die aus meiner Stelle am Zentralinstitut für Sozialwissenschaftliche Forschung resultierte, von Ernst Nolte als Geschäftsführendem Direktor des FMI (wo ich promoviert worden war und wo sie deshalb eigentlich hätte stattfinden sollen) abgelehnt worden war. Sie wurde dann wechselnd, manchmal auch gleichzeitig in den KVV der FB Geschichtswissenschaften, Politikwissenschaft und Sozialwissenschaften aufgeführt (und natürlich auch in den offiziellen Vorlesungsverzeichnissen, die von den Autoren nicht herangezogen werden). Für die Universität Bielefeld wird zwar der studentischen Studiengruppen gedacht (S. 102), aber nicht meiner angekündigten Lehrveranstaltungen.

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Argumentation dazu dienen, das Aufkommen und die „Etablierung“ (leider wird dieser Begriff nirgends definiert) des neuen Wissensfelds, dessen Originalität als einst vielzitierter „Perspektivwechsel“ und dessen Bruch mit – und Kritik an – der bisherigen Geschichtswissenschaft in Forschung und Lehre herunterzuspielen.7 Diese Argumentation steht in krassem Widerspruch zu den einstigen Entwicklungen, die hier vermeintlich thematisiert werden. Revisionsbedürftig sind auch andere Passagen. So wird einer meiner Aufsätze (erschienen 1982) zitiert als „Frauenforschung. Das Ende der Vernunft“ (S. 89); tatsächlich hieß er „Frauenforschung – das Ende der Vernunft in der Geschichte?“ (Hegel scheint unbekannt zu sein.) Der Konflikt, in dem er entstand, „entwickelte“ sich nicht etwa „auf dem Bielefelder Historikerinnentreffen“, sondern ergab sich aus dessen letzter Sitzung und ohne dass mehr als eine Handvoll der Anwesenden überhaupt etwas merkte. Eine wichtige Quelle zu dem anschließenden Konflikt, der „Offene Brief der Berliner Historikerinnen-Gruppe“, ist, wie es sich für einen offenen gehört, längst publiziert, und der Konflikt war also keineswegs bloß „zum Teil öffentlich“; eine Archivangabe genügt also nicht.8 – Oder auch: An der TU Berlin konnte man keineswegs erst „zwischen 1984 und 1993“ eine frauenund geschlechtergeschichtliche Habilitationsschrift „einreichen“ (S. 85), sondern hat es auch früher gekonnt; im Fall der meinigen, betreut von Reinhard Rürup, war das 1983. – Geschlecht als Kategorie historischer Analyse wurde keineswegs „erst Mitte bis Ende der 1980er Jahre [. . .] etabliert“ oder gar erst nach 1990 „wirklich durchgesetzt“ (S. 84, 105); vielmehr war es ein (in derartigen Jahreszahlen nicht zu erkennender) allmählicher und internationaler Prozess, in dem – bis heute und umstrittenerweise – die Frauengeschichte weitgehend durch „Geschlechtergeschichte“ erweitert oder gar ersetzt wurde. „Etabliert“ wurde Geschlecht als soziale und historische Kategorie in Deutschland schon ab 1981 – jedenfalls unter Dutzenden akademischer Historikerinnen und Vertreterinnen anderer Fächer –, als das Konzept auf dem Bielefelder Treffen (von mir) vorgetragen und 1983 in dem von Karin Hausen herausgegebenen Band Frauen suchen ihre Geschichte ausgeführt wurde. Der Text zirkulierte schnell, und die briefliche Reaktion Jürgen Kockas vom Juli 1983 mag als Zeugnis dafür gelten: Das Konzept „Geschlechtergeschichte“ und den „Übergang von der Frauengeschichte zur Geschlechtergeschichte“ fand er „besonders einleuchtend“, zumal letztere „keineswegs auf Frauen beschränkt“ 7

8

Die Autoren meinen mehrfach, dass die Historische Familienforschung, die in Deutschland in den 1970er Jahren aufkam (anderswo schon früher), gleichsam identisch mit der FGG oder der Königsweg zu dieser gewesen sei. Dies trifft nicht zu, und gerade im Untersuchungszeitraum gab es viele Stimmen, welche die grundsätzliche Divergenz zwischen den beiden Fragestellungen demonstrierten; vgl. etwa Louise Tilly, Women’s History and Family History: Fruitful Collaboration or Missed Connection? in: Journal of Family History 12/1–3 (1987), S. 303–315; Historische Familienforschung und Demographie = Themenheft von Geschichte und Gesellschaft 1/2–3 (1975). Im Vorfeld des Internationalen Historikertags von 1980 (Bukarest) kritisierten Historikerinnen die Versuche, die Frauen- auf Familiengeschichte zu reduzieren. Solche Fragen werden in dem Aufsatz nicht diskutiert, weil er auf die Dimension der FGG-Forschung gänzlich verzichtet. Seite 88 mit Anm. 41. Vgl. Offener Brief der Berliner Historikerinnen-Gruppe an den Rektor der Universität Bielefeld, in: Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis 5 (1981) = Dokumentation des 3. Historikerinnentreffens in Bielefeld, April 81, S. 124–128.

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sei; „Geschlechtergeschichte“ solle nun an die Stelle von „Frauengeschichte“ treten.9 Solchen intellektuellen Kontroversen, die für eine „Etablierung“ zentral waren, spielen in dem vorliegenden Aufsatz keine Rolle. Die Irrtümer betreffen nicht nur mein persönliches Engagement, sondern verweisen auch auf konzeptionelle und Quellenprobleme des Aufsatzes.10 1. Die Aussagen einiger weniger aus dem ohnehin kleinen Sample von Interviewten werden oft unzutreffend verallgemeinert („synthetisiert“: S. 82) und allenfalls mit einem „meist“ (oder dem Gegenteil) relativiert – so etwa bei dem Statement, dass „in diesen Interviews nur selten der eigene Beitrag für die Einführung der Frauen- und Geschlechterforschung in die Geschichtswissenschaft umrissen wurde“; die Rede ist geradezu von einer „Nichtnennung der Frauen- und Geschlechtergeschichte“ bei den Interviewten sowie von „ihre[r] deutliche[n] Zurückhaltung, sich als Frauen- und Geschlechterhistorikerin zu bezeichnen“ (S. 92, 109). Das Statement trifft gewiss nicht auf mich zu. Wo aber die Interviewten ihren eigenen Beitrag selbst als gering einschätzen, sich geradezu distanzieren und Lehrveranstaltungen in Sachen FGG tatsächlich erst nach ihrem professoralen Amtsantritt anboten, wo sie also (gemessen am Untersuchungszeitraum) late-comers waren, wurden sie für die Titelfrage vielleicht unpassend ausgewählt, nicht zuletzt aufgrund des Kriteriums der Pensionierung vor 2012: also mit dem Schwerpunkt auf Kolleginnen, die ihre Professur längere Zeit vor der Entfaltung der FGG antraten (ab 1966 im Fall der sieben tenureProfessorinnen). Das Sample ist somit zwar interessant für akademische Berufswege von Frauen, aber weniger aussagekräftig für die Titelfrage. Das lässt sich auch daran ablesen, dass an den zu Recht hervorgehobenen „Netzwerken“ (S. 87–91) bis in die frühen 1980er Jahre kaum eine der Interviewten teilhatte, etwa an der Berliner „Sommeruniversität für Frauen“ von 1976 nur eine einzige.

Bzw. „Historische Geschlechterforschung“ an die Stelle von „Historischer Frauenforschung“. Brief in meinem Archiv. Vgl. Gisela Bock, Historische Frauenforschung: Fragestellungen und Perspektiven, in: Karin Hausen (Hg.), Frauen suchen ihre Geschichte: Historische Studien zum 19. und 20. Jahrhundert, München 1983, S. 22–61, bes. S. 33–50. Jürgen Kocka war sich klar darüber, dass ich „wahrscheinlich diese Formulierung [Übergang] für nicht ganz zutreffend“ halte. So ist es; stattdessen benutze ich die Formulierung „Frauengeschichte ist Geschlechtergeschichte par excellence.“ Vgl. Gisela Bock, „Multiple Stories“: Perspektivenwandel in der Frauen- und Geschlechtergeschichte, in: dies., Geschlechtergeschichten der Neuzeit: Ideen, Politik, Praxis, Göttingen 2014, S. 7–20, bes. S. 10 f.; Karen Offen, History of Women, in: Bonnie G. Smith (Hg.), The Oxford Encyclopedia of Women in World History, 4 Bde., New York 2008, Bd. 2, S. 463–471, hier S. 463. 10 Und nicht alle Angaben sind zuverlässig. So wurde die Zeitschrift ‚Feministische Studien‘ schon 1982 gegründet (nicht erst zehn Jahre später); die Reihe im Schwann Verlag ‚Frauen in der Geschichte‘ (nicht: Frauengeschichte) erschien nicht erst seit 1987, sondern schon seit 1979 (S. 91). Die Bemühungen der Autoren nachzuweisen, dass männliche Studenten systematisch aus „Frauenseminaren“ ausgeschlossen worden seien, stehen auf schwachen Füßen und stützen sich auf irreführende Verweise (z. B. Anm. 92) und montierte „Zitate“ (Anm. 95: in der Quelle geht es um „Männer und Kinder“). „Gender-Professuren“, die angeblich seit etwa 1990 im Fach Geschichte geschaffen worden seien (S. 107), ist eine anachronistische Begriffsprägung, die auch sachlich problematisch ist. 9

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Gisela Bock

2. Die hauptsächlichen Akteurinnen des „langen Marschs in die Institution“ waren Angehörige des „Mittelbaus“, Lehrbeauftragte und Inhaberinnen von Projektstellen, und zwar in der Forschung ebenso wie in der Lehre. So gut wie alle von ihnen bleiben hier ungenannt, auch für die fünf genauer untersuchten Universitäten und selbst dann, wenn sie später Professorinnen wurden, aber in 2012 eben noch nicht pensioniert waren. Man denke für Bielefeld an Gunilla Budde, Ute Daniel, Ute Frevert und Claudia Huerkamp, die sich mit ihren letzten Lebenskräften noch habilitierte und für die dortige „Etablierung“ der neuen Perspektive sehr wichtig war; für die FU Berlin an Carola Sachse11 und für die TU Berlin an über ein halbes Dutzend wichtiger Historikerinnen,12 für Tübingen an Ute Planert und Sylvia Paletschek. Dass ihrer Verdienste um die „Etablierung“ in eben jenem Zeitraum – in der Form einer zunehmenden Zahl einschlägiger Dissertationen, Habilitationen, Lehrveranstaltungen und von Netzwerkbildung – hier auf lediglich einer Druckseite gedacht wird (als „Gruppe der temporär Lehrenden“), ist bedauerlich und irreführend. 3. Stattdessen wartet der Aufsatz in Sachen Lehre mit einer Überraschung auf, die er auf drei Druckseiten zu beweisen sucht. Nicht „nur“ die außeruniversitäre Frauenbewegung mit ihrer kritischen Formulierung von Fragen, die bald auch die Forschung bewegen sollten; nicht „nur“ die von Frauen getragene kritische Frauengeschichtsbewegung seien entscheidende Faktoren gewesen, sondern zumindest ebenso die „Bedeutung männlicher Lehrender“: „erstaunlich viele“ sollen sich als Akteure der Etablierung betätigt haben (S. 96), indem sie im Untersuchungszeitraum „FGG“ unterrichteten, auch dann schon, als jene beiden Bewegungen noch kaum oder nicht existierten. Männer „dominierten“ anfangs geradezu „die frauenund geschlechtergeschichtliche Lehre“, und diese sei als männlich-dominierte im Jahr 1971 entstanden: „Führend war dabei die FU Berlin.“ Das ergebe sich aus den KVV, und so werden jetzt allein schon für die FU Berlin 26 Männer namentlich genannt, die seit 1971 Lehrveranstaltungen zu „FGG“ angeboten hätten und somit als deren tatsächliche Protagonisten bis zur Mitte der 1980er Jahre gelten, darunter etwa die Professoren Arnulf Baring und Ernst Nolte; es überrascht kaum, dass deren entsprechende LV ebenso wenig genannt werden wie diejenigen der Übrigen. Ähnliches gelte, mit zwei Dutzend Namensnennungen, auch für die weiteren vier genauer untersuchten und im Übrigen „an allen Universitäten“ (S. 96). Abschließend (S. 108) wird, darüber noch hinausgehend, ebenso schwungvoll wie abwegig dargelegt (durchweg ohne Belege): Männliche Historiker seien mit ihrem „FGG“-Engagement die Akteure der ersten Stunde gewesen, anschließend hätten sich die Historikerinnen mit Verweis auf die Dringlichkeit von „Frauenförderung“ und „Frauenseminaren“ in den Vordergrund gedrängt. Deshalb hätten die Männer das 11

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Erfreulicherweise wird Herrad-Ulrike Bussemer (†) genannt, die „an der FU Berlin wirkte“ (S. 101), außerdem Angelika Mette; aber weder ist hier von Doris Kaufmann noch von Karola Just oder von mir die Rede. Karin Hausens „Mittelbau“-Zeit an der FU wird unter den Professorinnen behandelt. Für die TU wird Barbara Duden en passant genannt, Ursula Nienhaus bloß in der Liste der Interviewten. Unerlässlich ist für die TU, betreffend die Zeit 1970–1990, der Hinweis auf Ursula Baumann, Christiane Eifert, Doris Kaufmann, Susanne Rouette (†), Regina Schulte.

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Feld „wieder verlassen“ müssen, um einer „Selbstmarginalisierung“ zu entgehen – und auf diese Weise sei „die historische Frauen- und Geschlechtergeschichte“ (sic) „feminisiert worden“, was en passant auch noch als spezifisch deutsch ausgegeben wird. Diese „Feminisierung der Frauen- und Geschlechtergeschichte“ – dass also weibliche Historiker sie, die von männlichen geschaffen worden sei, in die Hand nahmen – sei auch „von Anfang an“ ein Hauptgrund für ihre „Diskriminierung“ gewesen und zwar weitaus mehr als die „Opposition im Kollegium“, die „in ihrer damaligen Schärfe heute nicht mehr zu erkennen“ sei und auch „nicht überbewertet werden“ dürfe.13 Argumentation und Beweisführung können nicht überzeugen. Ungeachtet historiographischer Gepflogenheiten werden die – allein zugrundegelegten – KVV nicht genannt, schon gar nicht zitiert und sind somit nicht nachprüfbar.14 Es gibt fast keine Angaben zum jeweiligen Semester und erst recht kaum eine zu den „FGG“-Titeln und -Themen. Stattdessen wird die „FGG“ in „Kategorien“ eingeteilt: Als Nr. 2 figurieren LV „ohne primär frauen- und geschlechtergeschichtliche Ausrichtung“, bei denen aber im Kommentar „nicht selten“ etwas irgendwie Einschlägiges als „Randaspekt“ vorkommt; Nr. 3 sind solche LV, „die für Frauen- und Geschlechtergeschichte affin gewesen wären, eine solche Ausrichtung aber nicht erkennen ließen.“15 Aufgrund dieser vermeintlich „sinnvollen“ und „präzisen Definition“ (S. 95) lässt sich allerdings deutlich erkennen, was auch meine Unterlagen und Erinnerungen bestätigen: Die Kategorie Nr. 1 kommt bei männlichen FU-Historikern so gut wie nicht vor; sie lehrten in den angedeuteten Jahren über die Geschichte von Frauen und Geschlechterbeziehungen praktisch nicht (S. 98: „nur wenige“ solche LV, „selten mehr als zwei“ pro Dozent) und schon gar nicht in dem anspruchsvollen Sinn, der sich hinter dem Kürzel „FGG“ verbirgt; sie blieben somit weit hinter den rund sechs hier engagierten „Mittelbau“-Historikerinnen zurück. Ohne verbale Kaschierung heißt das: Bei so gut wie sämtlichen für die FU genannten männlichen Dozenten gab es keine LV zur FGG, bloß zuweilen ein einsames Wort wie „Familie“ im Kommentar.16 Man kann aber nicht solche einsamen Worte in irgendwelchen KVV für „FGG“

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Seite 109, 98. Die „Feminisierung“ sei auch der Grund dafür, dass es in Deutschland „lediglich vier“ Professuren für FGG gebe. Dabei werden Professuren ausgegrenzt, die im – für die Geschichtswissenschaft selbstverständlichen – Rahmen von Epochen oder Teildisziplinen wie Sozial- oder Kulturgeschichte heute vielfach FGG praktizieren, etwa in Dresden, Freiburg i. Br. und mehrere an der FU Berlin. 14 Laut Anm. 61 deshalb, weil die KVV „mit ihren langen, mehrfach wechselnden Titeln die Anmerkungen überfrachten würden.“ Im althergebrachten Proseminar wäre das nicht durchgegangen. 15 Seite 95 (meine Hervorhebung). Zur „Kategorie“ Nr. 1 vgl. oben, Anm. 3. 16 Vgl. dazu auch oben, Anm. 7. Das klassische Frühneuzeitthema „Hexen“ wurde gelegentlich angeboten, ohne dass das notwendig ein Ausdruck der aufkommenden FGG war. Entscheidend sind Fragestellung, Perspektive und Kontext. Das gilt auch für die Historische Demographie (von Schaser und Schnicke ebenfalls als FGG mitgezählt); vgl. dazu jedoch, gerade für den Untersuchungszeitraum: Thomas Sokoll, Historische Demographie und historische Sozialwissenschaft, in: Archiv für Sozialgeschichte 32 (1992), S. 405–425; Anne-Lise Head-König, Demographic History and its Perception of Women from the 17th to the 19th Century, in: Karen Offen u. a. (Hg.) Writing Women’s History: International Perspectives, Bloomington IN 1991, S. 25–44.

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Gisela Bock

erklären – es sei denn um den Preis eines Anachronismus und einer völlig unzureichenden Vorstellung von Frauen- und Geschlechtergeschichte. Was im Übrigen konkret und tatsächlich gelehrt wurde, bleibt – wie sollte es bei den KVV auch anders sein – ohnehin im Dunkeln, zumal keine einzige LV wirklich untersucht wird (aufgrund besserer Quellen) und kaum einer der Genannten einschlägige Publikationen vorlegte. Zur „Etablierung“ der FGG auf dem Weg der Lehre trugen sie nicht bei. Allerdings haben Historiker in der Tat immer schon gern über Frauen doziert (etwa Heinrich Sybel, als er sich gegen ihr Wahlrecht aussprach) und auch gern über „Männlichkeit“ (Heinrich von Treitschke: „Obrigkeit ist männlich“). Einige der genannten Dozenten mögen auch frei nach Pierre-Joseph Proudhon gelehrt haben, der 1857 einer Feministin entgegenhielt: „Nein, Madame, Sie wissen nichts über Ihr Geschlecht.“ Nicht nur an der FU Berlin konnte das heißen: „Ich habe eine Frau und Töchter und weiß also besser über Frauen Bescheid als Sie“, und es gab unter den hier genannten Männern sowohl misogyne als auch andere. Um ihre „Motive“ und „Intentionen“ (S. 97 f.) haben sich die Autoren nicht bemüht, nur Frauen wurden interviewt. So habe ich meinen Kollegen Wolfgang Wippermann gefragt; den Autoren gilt er (auf S. 96 und 106) als erster FU-Akteur einer „Geschichte von Männlichkeit(en)“ und „Männerrollen“ und zwar aufgrund einer 1985 angekündigten LV über „Minderheiten im Dritten Reich“, in deren Kommentar das einsame Wort „Homosexuelle“ vorkommt; die Fragestellung hatte allerdings rein gar nichts mit männerbezogener Geschlechtergeschichte zu tun. Wippermann meinte ironisch, er habe von dieser seiner Bedeutung noch nichts gewusst, und hielt die Zuschreibung für „Unsinn“.17 Indessen lässt sich zeitgemäßes Interesse, gleichermaßen für Frauen wie für Männer als Geschlechtswesen, als Motiv an der einzigen wirklichen geschlechtergeschichtlichen LV eines Historikers am FMI erkennen, und sie fand am Ende des Untersuchungszeitraums statt; warum nur wird sie hier verschwiegen? Der neuberufene Jürgen Kocka (das FMI hatte sich inzwischen für die Sozialgeschichte geöffnet) lehrte über „Die Kategorie ‚Geschlecht‘ in der Sozialgeschichte“, fürchtete sich offenbar nicht vor einer Gefahr der „Selbstmarginalisierung“, ergriff „die großen Chancen für neue Sichtweisen und Erkenntniszuwächse“ und machte aus seiner LV eine Sektion auf dem Historikertag sowie ein Heft von Geschichte und Gesellschaft.18 Die Autoren des Aufsatzes spielen also den männlichen Beitrag zur damaligen FGG-Lehre ungerechtfertigt hoch, während tatsächlich die von ihnen genannten Dozenten Frauen und ihre Geschichte kaum oder keineswegs thematisiert haben, weder als geschichtswürdige Objekte noch als Subjekte, weder als Individuen noch als Geschlecht. Dem entspricht, umgekehrt, das Bemühen der Autoren, unter dem Titel „Lehrinhalte“ den weiblichen Beitrag zur FGG-Lehre – um diesen geht es hier – herunterzuspielen, indem er im „postmodernen“ Jargon getadelt wird.19 Für diejenige Generation, in der es – international – darum ging, Frauen überhaupt erst 17 18

Mailkorrespondenz im Juli 2015. Vgl. das KVV des Fachbereichs Geschichtswissenschaften der FUB für das WS 1989/90, S. 41; Jürgen Kocka, Brief von 1983 (Anm. 9); ders. (Hg.), Klasse und Geschlecht, Themenheft von Geschichte und Gesellschaft 18/2 (1992). 19 Seite 105 f. Als „postmodern“ wird problematischerweise auch die FGG insgesamt bezeichnet: S. 85.

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historisch sichtbar zu machen, sie als geschichtswürdig zu konstituieren und somit eine Geschichte der Geschlechter und ihrer Beziehungen zu begründen, wird hier behauptet, dass „im gesamten Untersuchungszeitraum“ die Begriffe „Frau“, „Frauen“ und ihre Komposita unzulässig benutzt worden seien (während sie, so klagen die Autoren, doch „ohne viel Aufwand auch zu variieren gewesen wären“): als angeblich „homogenisierende Konzeption“ ohne „Binnendifferenzen unter Frauen“, angeblich ohne Hinweise auf „männliche Akteure“, angeblich „kompensatorisch“ und „kontributorisch“. Zudem hätten die damaligen Dozentinnen den Begriff „Geschlecht“ unzulänglich verstanden (Proudhon lässt grüßen). Das alles ist ebenso verständnislos wie falsch.20 Dass im Anschluss daran die „Geschichte von Männlichkeit“ als Gipfel der FGG präsentiert wird, verwundert kaum mehr.21 Der Beitrag männlicher Akteure zur Etablierung der FGG in Deutschland muss indessen ganz anders gesehen und beurteilt werden. Die (geschlechtergeschichtlich) seriösen Fälle unter ihnen müssen als absolute Ausnahmen gelten (etwa der 1986 verstorbene Sozialhistoriker Rolf Engelsing, der aber trotzdem nicht als der „früheste Beginn“ der FGG und erst recht nicht von deren „Etablierung“ gelten kann, oder Werner Affeldt fürs Frühmittelalter).22 Die wirklichen und wirksamen männlichen Akteure waren solche Historiker, die zur „Etablierung der FGG“ bewusst nicht primär dadurch beizutragen suchten, dass sie sich selbst die Kenntnis dieses neuen Wissensfeldes anmaßten, ohne darüber geforscht zu haben, sondern dadurch, dass sie ernsthaft arbeitende Historikerinnen förderten und ihnen Freiräume schufen. Dazu gehören die hier ungenannt bleibenden Kollegen Dieter Langewiesche und Reinhard Rürup; letzterer setzte sich für die Gründung des Zentrums für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung an der TU Berlin und dessen Leitung durch Karin Hausen ein (1996). Dazu gehören auch, ungeachtet mancher alter Bielefelder Polemik, Hans Ulrich Wehler und Jürgen Kocka, an deren Bielefelder Fakultät am Ende des Untersuchungszeitraums eine Professur für Geschlechtergeschichte geschaffen wurde (1989), ebenso wie an der FU Berlin (1991), wo Kocka inzwischen wirkte. In der Tat kooperierten manche männlichen Historiker bei der Etablierung von Frauen- und Geschlechtergeschichte, aber nicht breitenwirksam und nachhaltig in der Lehre, sondern durch ihr positives Verhalten in vielfältigen Gremien und ihre Förderung der innovativen Lehre und Forschung von Historikerinnen. 20

Und es gibt keine Belege. Gelegentliche Einschübe wie „Soweit das aus den Kommentaren zu erschließen ist“ (S. 105) demonstrieren, wie unzureichend die KVV als Quelle sind bzw. ausgewertet wurden. 21 In diesem Kontext wird unterstellt (S. 106), dass dort, wo es um Frauengeschichte ging, nicht auch um „Männlichkeit“ gegangen sei. Das Gegenteil ist der Fall, und nicht nur bei Themen wie Familie (Familienoberhaupt) und Prostitution (Freier). Bei der hier erwähnten Thematisierung von Männern – Männerorden oder Familienväter – handelte es sich nicht um historiographische Innovation, sondern um Tradition. 22 1971 kündigte Engelsing seine beiden LV über „Die Stellung der Frau und die Frauenemanzipation im 19. Jahrhundert“ an, gefolgt vom 20. Jahrhundert; nie wieder kam er auf solche Themen zurück. Werner Affeldt war damals der einzige männliche FU-Historiker, der zur FGG auch organisierte und publizierte: vgl. ders. (Hg.), Frauen in Spätantike und Frühmittelalter [. . .]: Beiträge zu einer internationalen Tagung am Fachbereich Geschichtswissenschaften der Freien Universität Berlin, 18. bis 21. Februar 1987, Sigmaringen 1990. – Zum Folgenden vgl. U. Bock, Pionierarbeit (Anm. 2), S. 104 f., 111 f.

ZUR HISTORISIERUNG DER FRAUEN- UND GESCHLECHTERGESCHICHTE Eine Erwiderung auf Gisela Bock Angelika Schaser und Falko Schnicke Zur kritischen Diskussion1 unseres Aufsatzes „Der lange Marsch in die Institution“2 nehmen wir kurz Stellung. Selbstverständlich bedauern wir Fehler wie den verkürzten Aufsatztitel und danken für deren Korrektur. Darüber hinaus sind es vor allem drei Bereiche, in denen offensichtlich Klärungsbedarf besteht: erstens die Quellen, auf denen unsere Beobachtungen beruhen, zweitens die Bewertung von Gisela Bocks Rolle in der Frauen- und Geschlechtergeschichte und drittens die Bedeutung männlicher Lehrender. (1) Unser Aufsatz zielt nicht darauf, die Etablierung der Frauen- und Geschlechtergeschichte an deutschen Universitäten bis 1990 umfassend und abschließend zu behandeln. Es geht um den Versuch, das Feld mit „ersten Ergebnissen“ und Schneisen „ansatzweise“ zu erkunden.3 Zugrunde gelegt wurden dabei Recherchen zu den Karrierewegen von zehn interviewten Historikerinnen, die auf dem Feld der Frauen- und Geschlechtergeschichte ausgewiesen und 2012 bereits pensioniert waren. Sie zählen zu den Pionierinnen auf diesem Gebiet. Die Interviews waren von der Frage geleitet, welchen Stellenwert die Historikerinnen der Frauen- und Geschlechtergeschichte im Rückblick auf die eigenen Arbeitsgebiete einräumten. Sie wurden als narrative Interviews geführt, die den Interviewten die Möglichkeiten boten, sich zu einem Themenfeld zu äußern, ohne dass Antworten durch die Fragen bereits impliziert werden. Dabei bleibt es ein interessanter Befund, dass die Interviewten fast alle auf die Breite ihrer Arbeiten verwiesen und die Frauen- und Geschlechtergeschichte zumeist als einen Bereich ihrer Expertise unter mehreren darstellten. Einige Interviewte gingen auch auf die Lehre ein, andere nicht. Wie explizit erwähnt, wurden die Interviews für den Aufsatz nicht im Hinblick auf den Einzelfall ausgewertet.4 Die wenigen Aussagen dazu beziehen sich immer auf die Gruppe der Interviewten und die Eckpunkte ihrer wissenschaftlichen Karrieren. 1

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Gisela Bock, „Ende der Vernunft“? Eine Replik auf Angelika Schaser und Falko Schnicke, Der lange Marsch in die Institution. Zur Etablierung der Frauen- und Geschlechtergeschichte an westdeutschen Universitäten (1970–1990); s. in diesem Band S. 263–271. Angelika Schaser und Falko Schnicke, Der lange Marsch in die Institution. Zur Etablierung der Frauen- und Geschlechtergeschichte an westdeutschen Universitäten (1970–1990), in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 16 (2013) [2015], S. 79–110. Ebd., S. 109. Vgl. ebd., S. 82.

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Angelika Schaser und Falko Schnicke

Weiter haben wir die Kommentierten Vorlesungsverzeichnisse (KVV) von fünf Historischen Seminaren5 ausgewertet, da die Lehre eine „zentrale Rolle“6 für die Einführung der Frauen- und Geschlechtergeschichte an westdeutschen Universitäten spielte. Vorlesungsverzeichnisse sind in der wissenschaftshistorischen Forschung als aussagekräftige Quelle erprobt. Ihr Potenzial wird dabei eindeutig bewertet: Sie gelten als „kultur-, universitäts- und wissenschaftsgeschichtliche Quelle ersten Ranges“,7 als „eine der bedeutsamsten Quellengattungen für die wissenschaftsund disziplingeschichtliche Forschung“.8 Wenn Vorlesungsverzeichnisse fehlen, wird das als „gravierendes Problem“ für die Forschung beschrieben.9 Die von uns herangezogenen KVV sind ergiebig, weil sie aktueller und ausführlicher als die unkommentierten allgemeinen Personal- und Vorlesungsverzeichnisse sind und teilweise hand- oder maschinenschriftliche Ergänzungen enthalten, die in zu einem früheren Zeitpunkt im Semester erstellten Personal- und Vorlesungsverzeichnissen fehlen (müssen). Die KVV wurden zum Teil von den Fachschaften, zum Teil von den geschäftsführenden Direktoren der Historischen Seminare herausgegeben (wie etwa am Friedrich Meinecke-Institut der FU Berlin) und stellen Arbeitsdokumente zur Orientierung von Studierenden dar, die um Vollständigkeit bemüht waren. Zudem wurden die KVV in der Regel in den Historischen Seminaren gesammelt, so dass das institutionelle Wissen über die erwähnten Ergänzungen in sie eingehen konnte – alle diese Punkte haben nicht nur die Gesprächspartner/innen in den konsultierten Universitätsarchiven bestätigt, sondern auch von uns durchgeführte Abgleiche der KVV mit einzelnen Personal- und Vorlesungsverzeichnissen. Gleichwohl haben wir die Grenzen und Leerstellen dieser (nicht lückenlos überlieferten) Quellen ausdrücklich benannt.10 Im Text ist zudem dargelegt, welche Historischen Seminare aus welchen Gründen ausgewertet wurden.11 Die Auswahl erhebt nicht den Anspruch, umfassend und repräsentativ die Implementierung der Frauen- und Geschlechtergeschichte in der Lehre abzudecken. Sie ermöglicht aber die Erschließung wichtiger curricularer Trends und daran anschließende Thesen, die in weiteren Untersuchungen geprüft

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Diese Bezeichnung gibt nicht die Eigenbenennungen aller Institute für Geschichtswissenschaft wieder, sondern dient uns in der Studie als zusammenfassender Oberbegriff. 6 Schaser/Schnicke, Der lange Marsch, S. 93. 7 Jan Schröder, Vorlesungsverzeichnisse als rechtshistorische Quelle, in: Michael Stolleis (Hg.), Die Bedeutung der Wörter. Studien zur europäischen Rechtsgeschichte. Festschrift für Sten Gagnér zum 70. Geburtstag, München 1991, S. 383–401, hier: S. 386. 8 Markus Huttner, Vorlesungsverzeichnisse als historische Quelle. Zu Entstehungsgeschichte, Überlieferungslage und Aussagewert Leipziger Lektionskataloge vom 17. bis zum 19. Jahrhundert, in: Ulrich von Hehl (Hg.), Sachsens Landesuniversität in Monarchie, Republik und Diktatur. Beiträge zur Geschichte der Universität Leipzig vom Kaiserreich bis zur Auflösung des Landes Sachsens 1952, Leipzig 2005, S. 51–71, hier: S. 70. 9 Matthias Middell, Historischer Unterricht in Deutschland – Expansionskrisen und universitäre Reformen im diachronen Vergleich: Kaiserreich, DDR und aktuelle Reformdebatte in der Bundesrepublik, in: Gabriele Lingelbach (Hg.), Vorlesung, Seminar, Repetitorium. Universitäre geschichtswissenschaftliche Lehre im historischen Vergleich, München 2006, S. 155–192, hier S. 157. 10 Vgl. Schaser/Schnicke, Der lange Marsch, S. 94 u. S. 97, Anm. 68. 11 Vgl. ebd., S. 93.

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bzw. differenziert werden können. Unsere Ergebnisse stehen damit auf einer nachvollziehbaren Basis.12 Die Auswertung weiterer KVV sowie ergänzender Quellen ist nötig, konnte für diese erste Studie, in der wir Impulse für zukünftige Forschungen geben und dafür schlaglichtartig Potenziale identifizieren wollten, allerdings nicht geleistet werden. (2) Gisela Bock hat in vielfältiger Weise zur Etablierung der Frauen- und Geschlechtergeschichte beigetragen, mit wichtigen, national wie international breit rezipierten theoretischen wie empirischen Publikationen ebenso wie durch ihre Lehre. Mit Rücksicht auf das beschriebene Quellenkorpus konnten jedoch unsere Angaben zu den interviewten Personen nicht vollständig sein – dies trifft auch auf die von Gisela Bock abgehaltenen Lehrveranstaltungen zu, da diese zum Teil nicht an den Historischen Seminaren unseres Samples stattfanden. Insofern sind wir der Autorin für ihre ergänzenden Informationen dankbar. Ihr Hinweis, dass (in Berlin) mehr Lehrveranstaltungen zur Frauen- und Geschlechtergeschichte durchgeführt wurden und ein großer Teil des Angebots nicht am Friedrich Meinecke-Institut, sondern unter anderem am Otto Suhr-Institut erbracht wurde, unterstreicht, wie wenig offen sich Historische Seminare anfangs gegenüber der Frauen- und Geschlechtergeschichte zeigten.13 Dass bestimmte Lehrveranstaltungen nicht überall angeboten werden konnten, ist den Vorlesungsverzeichnissen nicht zu entnehmen. Sofern sie nicht in den Gremienprotokollen oder ähnlichen Dokumenten überliefert sind, können derartige Informationen nur die Akteurinnen selbst liefern. Die Kritik von Gisela Bock unterstreicht daher auch, wie wichtig und wünschenswert es für die Historisierung der Frauen- und Geschlechtergeschichte ist, dass die Beteiligten ihr Wissen publizieren und zugänglich machen. In diesem Sinne haben wir bei der Vorstellung unseres Aufsatzes in Berlin im Mai 2015 wiederholt für die Erhaltung und Bereitstellung der Erinnerungen und privaten Archive der Protagonistinnen und anderer Beteiligten geworben.14 (3) Was hingegen aus den vorliegenden Materialien sichtbar wird, ist neben der großen Bedeutung weiblicher Lehrender,15 dass auch Männer das Thema in der Lehre aufgriffen. Hier ergänzen die KVV die vorliegenden Forschungen zur Frauen- und Geschlechtergeschichte, denn darin sind diese bislang nicht erwähnt. Die Erkenntnis, dass Männer an frauen- und geschlechtergeschichtlicher Lehre beteiligt waren, stellt die Leistungen von Frauen keineswegs in Frage. Wir haben unterstrichen, dass für die Anfänge der frauen- und geschlechtergeschichtlichen Lehre „die Beteiligung von jüngeren, nicht etablierten Wissenschaftlerinnen und Studentinnen“ kennzeichnend war.16 In diesem zentralen Ergebnis unserer Untersuchung treffen wir uns mit den 12

13 14 15 16

Lediglich aus Platzgründen wurden die Angaben aus den KVV nur über Kurzbelege im Text zitiert. Durch die Nennung von Universität und Semester sind die Angaben am Material überprüfbar. Dazu auch Schaser/Schnicke, Der lange Marsch, S. 103 f. u. S. 107. Vgl. (30. 04. 2016). Vgl. dazu Schaser/Schnicke, Der lange Marsch, S. 84, S. 90 u. S. 99–105. Ebd., S. 107.

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Angelika Schaser und Falko Schnicke

Ausführungen von Gisela Bock, die diesen Umstand ebenfalls stark betont. Unser Fazit bezüglich der männlichen Lehrenden, die wir laut Gisela Bock zu sehr in den Vordergrund gestellt hätten, sei hier noch einmal wiederholt: Sie „unterrichteten [. . .] in der Regel nur wenige frauen- und geschlechtergeschichtliche Veranstaltungen, selten mehr als zwei [. . .], waren weder in den frauen- und geschlechtergeschichtlichen Arbeitszusammenhängen und Netzwerken aktiv und traten nur selten mit einschlägigen Publikationen hervor.“17 Festzustellen, dass auch männliche Lehrende Themen der Frauen- und Geschlechtergeschichte angeboten haben, bedeutet darüber hinaus nicht, dass sie progressive oder innovative Lehre abgehalten hätten. Das wird auch an keiner Stelle des Aufsatzes behauptet, denn die KVV sind – wie wir ausgeführt haben – keine Quelle, aus der Seminarinhalte umfassend erschlossen werden könnten.18 Vielmehr ist, wie wir für künftige Untersuchungen angeregt haben,19 der Beitrag männlicher Lehrender erst noch näher zu bestimmen. Auch wir sind der Auffassung, dass die Entwicklung der Frauen- und Geschlechtergeschichte ein wichtiges Thema ist.20 Wenn es gelänge, zu ihrer vertieften Historisierung und zur Erörterung bislang wenig beleuchteter Fragen beizutragen und eine Erweiterung des Quellenkorpus zu erreichen, wäre ein wesentlicher Schritt getan.

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Ebd., S. 98. Vgl. ebd., S. 94. Vgl. ebd., S. 110. Vgl. Bock, „Ende der Vernunft“?, S. 263.

ANHANG AUTORENVERZEICHNIS

Prof. Dr. OLIVER AUGE Historisches Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Abteilung für Regionalgeschichte mit Schwerpunkt zur Geschichte Schleswig-Holsteins in Mittelalter und Früher Neuzeit Leibnizstraße 8, 24118 Kiel [email protected]

Dr. BENJAMIN MÜSEGADES Institut für Fränkisch-Pfälzische Geschichte und Landeskunde Universität Heidelberg Grabengasse 3–5 69117 Heidelberg [email protected]

Dr. KATHRIN BAAS Landesarchiv NRW Abteilung Westfalen Bohlweg 2 48147 Münster [email protected]

Dr. BORIS NOGUÈS Maître de conférences en histoire moderne Ecole normale supérieure de Lyon UMR 5190 5 parvis René Descartes, 69007 Lyon (France) [email protected]

Prof. Dr. GISELA BOCK Emerita an der Freien Universität Berlin, Friedrich-Meinecke-Institut Niebuhrstr. 69 10629 Berlin [email protected]

Dr. ULRICH RASCHE Akademie der Wissenschaften zu Göttingen c/o Österreichisches Staatsarchiv Abteilung Haus-, Hof- und Staatsarchiv Minoritenplatz 1, 1010 Wien (Österreich) [email protected]

Prof. Dr. MARIAN FÜSSEL Georg-August-Universität Göttingen Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte Kulturwissenschaftliches Zentrum Heinrich-Düker Weg 14 37073 Göttingen [email protected] Prof. Dr. ALEXANDER GALLUS TU Chemnitz Lehrstuhl Politische Theorie und Ideengeschichte Thüringer Weg 9 09126 Chemnitz [email protected] Apl. Prof. Dr. WILHELM KREUTZ Seminar für Neuere und Neueste Geschichte Historisches Institut Universität Mannheim, Schloss 68131 Mannheim [email protected]

Dr. PHILIP ROSIN Institut für Geschichtswissenschaft Abteilung für Geschichte der Neuzeit Konviktstraße 11 53113 Bonn [email protected] Prof. Dr. ANGELIKA SCHASER Universität Hamburg Historisches Seminar Von-Melle-Park 6 20146 Hamburg [email protected] FREDERIEKE MARIA SCHNACK, M. A. Historisches Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Abteilung für Regionalgeschichte mit Schwerpunkt zur Geschichte Schleswig-Holsteins in Mittelalter und Früher Neuzeit Leibnizstraße 8, 24118 Kiel [email protected]

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Autorenverzeichnis

Dr. FALKO SCHNICKE Research Fellow in Modern History German Historical Institute London 17 Bloomsbury Square WC1A 2 NJ London (United Kindgom) [email protected]

Prof. Dr. JACQUES VERGER professeur émérite à l’université de Paris-Sorbonne membre de l’Institut 34 rue Gambetta 92260 Fontenay aux Roses (France) [email protected]

Dr. MAXIMILIAN SCHUH Universität Heidelberg Historisches Seminar Grabengasse 3–5 69117 Heidelberg [email protected]

Prof. Dr. WOLFGANG ERIC WAGNER Westfälische Wilhelms-Universität Münster Historisches Seminar Domplatz 20–22 48143 Münster [email protected]

Jürgen Elvert (Hg.)

Geschichte jenseits der Universität Netzwerke und Organisationen in der frühen Bundesrepublik

HistoriscHe mitteilungen – beiHeft 94 Der Herausgeber Jürgen Elvert lehrt Geschichte an der Universität zu Köln. Seine Forschungsschwerpunk­ te liegen u.a. im Bereich der Geschichte der europäischen Integration sowie der Geis­ tes­ und Kulturgeschichte. Die Europäische Kommission verlieh ihm 2013 den Ehrentitel eines Jean-Monnet-Professors für Europäische Geschichte. Er ist erster Vorsitzender der Ranke­Gesellschaft, Vereinigung für Geschichte im öffentlichen Leben e.V.

Neben den Universitäten als den traditionellen Forschungsstätten entwickelte sich im Bereich der Geschichtswissenschaften nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein breites Spektrum an Insti­ tutionen und Einrichtungen, das hier unter dem Sammelbegriff „außeruniversitär“ zusammengefasst wird. Teilweise wurden alte Institutionen zu neuem Leben erweckt, daneben entstanden aber auch neue Forschungseinrichtungen wie beispielsweise das Münchener Institut für Zeitgeschichte. In diesem Band wird anhand einiger ausgewählter Beispiele die große Anzahl von außeruniversitären Organisationen in den Blick genommen, die nach 1945 neu gegründet bzw. zu neuem Leben erweckt wurden, denn die Rolle geschichtswissenschaft­ licher Institutionen und die mit ihnen verbundenen Akteure beim Aufbau der bundesdeutschen Wissenschaftslandschaft ist bislang vergleichsweise wenig erforscht. Dabei kam diesen Einrichtun­ gen eine entscheidende Bedeutung bei der Neuausrichtung der Geschichtswissenschaften insgesamt, bei der Aufarbeitung der NS­Vergangenheit, aber auch bei der Aussöhnung und Völker­ verständigung zu. mit beiträgen von Morten Reitmayer, Winfried Schulze, Udo Wengst, Rolf Große, Matthias Berg, Olaf Blaschke, Matthias Krämer, Jürgen Elvert, Hans­Christof Kraus, Ulrich Baumgärtner, Steffen Sammler, Axel Schildt, Hans Günter Hockerts, Christoph Nonn, Helmut Neuhaus

2016 276 Seiten mit 8 Abbildungen. € 52,– 978-3-515-11350-2 kart. 978-3-515-11352-6 e-book

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Die Edition präsentiert erstmals die Stipendiatsakten der späteren Begründer der RAF: Meinhof, Mahler und Ensslin Alexander Gallus (Hg.)

Meinhof, Mahler, Ensslin Die Akten der Studienstiftung des deutschen Volkes Mit einem Vorwort des Präsidenten der Studienstiftung des deutschen Volkes Reinhard Zimmermann. 2016. Ca. 288 Seiten mit ca. 20 Abb., gebunden ca. € 60,– D ISBN 978-3-525-30039-8 Erscheint im September 2016 Auch als eBook erhältlich

Eine einzigartige Dokumentation: die erstmals publizierten Akten der späteren RAF-Terroristen Ulrike Meinhof, Horst Mahler und Gudrun Ensslin aus ihrer Zeit als Stipendiaten der Studienstiftung des deutschen Volkes. Ulrike Meinhof, Horst Mahler und Gudrun Ensslin waren Mitbegründer der RAF: ihr Linksterrorismus prägte die 1970er Jahre, ihre Biografien bewegen bis heute. Es gibt eine Vielzahl von Charakterbildern dieser drei Menschen. Nur undeutlich sind aber die biografischen Ursprünge erkennbar. Sie alle gehörten dem exklusiven Stipendiatenkreis der Studienstiftung des deutschen Volkes an. Die Förderakten der drei befanden sich bislang unter Verschluss. Nun führt diese Dokumentation erstmals vor Augen, in welch beunruhigender und verstörender Weise auch Hochbegabung, Anerkennung und Förderung in Terrorismus und Gewalttätigkeit münden können.

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In dieser Ausgabe des Jahrbuchs stellen zwei Aufsatzbeiträge die Entwicklung der aktuellen französischen Universitätshisto­ riographie dar und stecken die derzeitigen Fragehorizonte zur Geschichte der mittelal­ terlichen und frühneuzeitlichen Universität ab. Im Rahmen des Themenschwerpunkts „Studentenkulturen“ behandeln zehn wei­ tere Beiträge das Alltagsleben und die Kom­ munikationsformen in der Studentenschaft vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert:

Karrierestrategien und Begabtenförderung werden ebenso thematisiert wie soziale Dif­ ferenzierung, Disziplinarprobleme, Gewalt­ eskalationen, Kriegsdienst und politische Selbstorganisation. Die exemplarischen Fallstudien markieren den gegenwärtigen Kenntnisstand zu einem neu zu vermessen­ den Forschungsfeld. In der neu eingerichte­ ten Rubrik „Diskussionen“ finden Diskurse und Kontroversen zu brisanten Fragen der universitätshistorischen Forschung Raum.

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag

ISBN 978-3-515-11459-2

9 783515 114592

ISSN 1435–1358