Jahrbuch für Geschichte: Band 16 [Reprint 2021 ed.] 9783112530429, 9783112530412


172 81 147MB

German Pages 460 Year 1978

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Jahrbuch für Geschichte: Band 16 [Reprint 2021 ed.]
 9783112530429, 9783112530412

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

JAHRBUCH FÜR G E S C H I C H T E

A K A D E M I E DER W I S S E N S C H A F T E N DER DDR Z E N T R A L I N S T I T U T FÜR G E S C H I C H T E

J A H R B U C H FÜR G E S C H I C H T E

Redaktionskollegium: Horst Bartel, Rolf Badstübner, Lothar Berthold, Ernst Engelberg, Heinz Heitzer, Fritz Klein, Dieter Lange, Adolf Laube, Walter Nimtz, Wolfgang Rüge, Heinrich Scheel, Hans Schleier, Wolfgang Schröder Redaktion: Wolfgang Schröder (Verantwortlicher Redakteur), Hans Schleier (Stellv.); Dietrich Eichholtz, Gerhard Keiderling, Rosemarie Schumann, Bernhard Tesche

JAHRBUCH 1 6 FÜR GESCHICHTE

AKADEMIE-VERLAG

• BERLIN 1977.

Redaktionsschluß: 31. März 1976

Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Str. 3—4 © Akademie-Verlag Berlin 1977 Lizenznummer 202.100/100/77 Gesamtherstellung: V E B Druckhaus „Maxim Gorki", 74 Altenburg/DDR Bestellnummer: 753 262 9 (2130/16) • LSV 0265 Printed in G D R DDR 2 5 , - M

Inhalt

Conrad Grau

Karl

Obermann

Gustav Seeber

Robert Areskin und die Vorgeschichte der Petersburger Akademie der Wissenschaften. Wissenschaftsorganisation und Forschungsreisen in Rußland im zweiten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts

7

Zur Genesis der bürgerlichen Klasse in Deutschland von der Julirevolution 1830 bis zu Beginn der 40er Jahre des 19. Jahrhunderts

33

Preußisch-deutscher Bonapartismus und Bourgeoisie. Zu Ausgangspositionen und Problemen der BonapartismusForschung

71

Heinz Wolter

Zum Verhältnis von Außenpolitik und Bismarckschem Bonapartismus 119

Konrad Canis

Wirtschafts- und handelspolitische Aspekte der deutschen Außenpolitik zu Beginn der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts 139

N. E. Ovöarenko

Zur Dialektik des Klassenkampfes in Deutschland. Gedanken zur Leninschen Geschichtskonzeption

181

Zum Geschichtsbild der sozialistischen deutschen Literatur in den Jahren von 1929 bis 1932

211

Ulrich Heß Horst Barthel

Der schwere Anfang. Aspekte der Wirtschaftspolitik der Partei der Arbeiterklasse zur Überwindung der Kriegsfolgen auf dem Gebiet der DDR von 1945 bis 1949/50 . . 253

Hans Teller

Der kalte Krieg des BRD-Imperialismus gegen die Deutsche Demokratische Republik in den Jahren 1952/53 . . 283

Dokumentation Heinrich Scheel

Der Jakobinerklub zu Worms 1792/93

321

Gustav Seeber/ Walter Wittwer

Friedrich Hammachers Aufzeichnungen über den Bergarbeiterstreik von 1889

403

Autorenverzeichnis

459

Abkürzungen

BzG GdA HZ IML/ZPA JbfW JfG S MEW WZ ZfG ZStAM ZStAP

Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Berlin Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Berlin 1966 Historische Zeitschrift, München Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU, Moskau, Zentrales Parteiarchiv Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, Berlin Jahrbuch für Geschichte, Berlin Marx/Engels, Werke, Berlin 1956 ff. Wissenschaftliche Zeitschrift Zeitschrift f ü r Geschichtswissenschaft, Berlin Zentrales Staatsarchiv, Merseburg Zentrales Staatsarchiv, Potsdam

Die Werke Lenins werden nach der 40bändigen Ausgabe des Dietz Verlages, Berlin 1956-1965, zitiert.

Conrad Grau

Robert Areskin und die Vorgeschichte der Petersburger Akademie der Wissenschaften. Wissenschaftsorganisation und Forschungsreisen in Rußland im zweiten Jahrzehnt des 1 8 . Jahrhunderts

Die bürgerliche Historiographie hat für den geschichtlichen Prozeß des Eintritts Rußlands in die Neuzeit den Begriff „Europäisierung" geprägt und damit einseitig und unzulässig die Bedeutung West- und Mitteleuropas in der europäischen Geschichte überhöht. Die petrinische Zeit und hier besonders die kulturellen Reformen seit dem Beginn des 18. Jh., die den wissenschaftlichen Austausch zwischen Rußland und dem übrigen Europa stark förderten, werden in dieser Konzeption mit Vorliebe herangezogen, um die These von der „Europäisierung", die meist mit der Behauptung vom „West-Ost-Kulturgefälle" gepaart ist, zu stützen. Den marxistisch-leninistischen Erforschern der Geschichte Rußlands in den ersten Jahrzehnten des 18. Jh. fällt daher auch die wichtige Aufgabe zu, durch die Erschließung neuer Quellen an der Ausarbeitung des der Wahrheit entsprechenden Geschichtsbildes mitzuwirken, eine Aufgabe, die wir Historiker der DDR nicht allein unseren Kollegen in der UdSSR überlassen können, die der Zeit Peters I. unverändert große Aufmerksamkeit widmen. „Bedeutend waren auch die Errungenschaften in der Entwicklung der Wissenschaft, der Kultur und der Bildung - die Schaffung der weltlichen allgemeinbildenden Schule und spezieller Lehreinriditungen, so auf den Gebieten der Medizin, der Marine und des Militärwesens; das moderne Alphabet, die neue Jahreszählung, die Gründung der Akademie der Wissenschaften, das Erscheinen der russischen Zeitung und die Entwicklung des Druckereiwesens, die Organisation geographischer Expeditionen usw." 1 Vor allem zur Erforschung des zuletzt genannten Bereichs im Rahmen der Wissenschaftsorganisation möchte folgender Aufsatz einen Beitrag leisten. In Rußland begannen seit dem 17. Jh. Voraussetzungen für den Übergang vom 1

Rossija v period reform Petra I, Moskau 1973, S. 5. Der Sammelband enthält wesentliche neue Forschungsergebnisse sowjetischer Historiker zu Aspekten der Reformen im ersten Viertel des 18. Jh. Vgl. dazu Rez. von Hoffmann, Peter, in: ZfG, 1975, S. 1076 f. — Im vorliegenden Beitrag wird Material aus meiner unveröffentlichten Phil. Habilitationsschrift verwendet: Petrinische kulturpolitische Bestrebungen und ihr Einfluß auf die Gestaltung der deutsch-russischen wissenschaftlichen Beziehungen im ersten Drittel des 18. Jh., Berlin, Humboldt-Universität, 1966.

8

Conrad Grau

Feudalismus zum Kapitalismus zu entstehen. Dieser Prozeß schloß - wie W. I. Lenin schrieb - „die Schaffung bürgerlicher Bindungen" 2 ein. Der Regierungszeit Peters I. gebührt in der außerordentlich langwierigen und komplizierten Genesis und Entwicklung des Kapitalismus in Rußland 3 eine Schlüsselrolle, die unter den verschiedensten Aspekten zu untersuchen besonders wichtig ist. Dabei kommt es nicht vorrangig darauf an, dem oft diskutierten Problem nachzugehen, ob den petrinischen Reformen ein vorher detailliert ausgearbeitetes Programm zugrunde lag. Da die Entwicklung Rußlands wie alle Geschichte objektiven Gesetzen unterworfen ist, kann die Fragestellung nur lauten: Wurde der Übergang Rußlands vom Feudalismus zum Kapitalismus, vom Mittelalter zur Neuzeit, von der Herrschaft des Adels zu der des Bürgertums durch die kulturellen Reformen gefördert oder gehemmt? Die Antwort fällt nicht schwer, selbst wenn wir nur einige Tatsachen einander gegenüberstellen. Einerseits das Rußland des Jahrhundertendes mit seinen wenigen Schulen, mit seinem geringen Buchdruck vorwiegend theologischer Literatur, mit seiner Slawisch-griechischlateinischen Akademie in Moskau, mit seinem Patriarchen und mit seinen Kirchenfürsten, die die Ausländer am liebsten als Ketzer verbrannt hätten und denen das mit Unterstützung ihrer protestantischen und katholischen konfessionalistischen Glaubensfreunde bei Quirinus Kuhlmann 4 sogar gelungen ist; andererseits das Rußland der ausgehenden 20er Jahre des 18. Jh. mit seinem weltlichen Schulsystem, mit seinem entwickelten Buchdruck wissenschaftlicher Literatur, mit seiner Akademie der Wissenschaften in Petersburg, mit seinem Synod, in dem der führende Frühaufklärer Feofan Prokopovic den Ton angab. Der Fortschritt ist nicht zu übersehen! Als Christian Juncker 1697 in Leipzig eine chronologische Übersicht über die Geschichte Rußlands veröffentlichte, entschuldigte er deren Unvollständigkeit mit den Worten: „Vielleicht gibt es in künftigen Zeiten von Rußland ein weit mehreres zu erfahren, wenn zumal der jetzige Zar Peter Alexowiz seine Reise wird geendigt und in sein Reich wieder heimgekehret sein. Da er denn vermutlich in einem oder dem andern sein Volk wird anders unterrichten lassen und also geschickter machen, daß es wohl selbst hernach uns von sich gute Nachricht 1

3

4

Lenin, W. I., Werke, Bd. 1, S. 147. Als neueste sowjetische Gesamtdarstellung vgl. Istorija SSSR s drevnejSich vremen do naSich dnej. Pervaja serija, Bd. III, Moskau 1967. Einigkeit in der marxistisch-leninistischen Forschung besteht über die diesem Prozeß zugrunde liegenden Prinzipien, nicht aber über den zeitlichen Ablauf und über Detailfragen. Vgl. dazu vor allem Genesis und Entwicklung des Kapitalismus in Rußland. Studien und Beiträge, Berlin 1973, und Perechod ot feodalizma k kapitalizmu v Rossii. Materialy Vsesojuznoj diskussii, Moskau 1969, wo folgendes Ergebnis formuliert wurde: „Die Beratung stellt mit Befriedigung fest, daß sich eine Annäherung der Standpunkte der Forscher zu einigen Streitfragen abzeichnete, über die Zeit der Entstehung der kapitalistischen Ordnung (zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts) und im Verständnis der Voraussetzungen und ersten Keime bürgerlicher Verhältnisse in der vorhergehenden Periode. — Viele Probleme bedürfen jedoch der weiteren Forschung." (S. 386 f.) Vgl. über ihn Dietze, Walter, Quirinus Kuhlmann. Ketzer und Poet, Berlin 1963.

Areskin und die Petersburger Akademie

9

mitteilen kann." 5 Abgesehen von der subjektiven Bezogenheit, der zeitbedingten, einseitig überbetonten Stellung des Staates und des Herrschers als Erzieher eines Volkes, enthalten diese Ausführungen den außerordentlich fruchtbaren Gedanken, daß die kulturellen Reformen Rußlands von innen heraus in Angriff genommen werden mußten und nicht von außen in das Land hineingetragen werden durften. Ein knappes Vierteljahrhundert später prägte der ehemalige Resident Hannovers in Petersburg, Friedrich Christian Weber, den Begriff „Das veränderte Rußland", das zu einem Synonym für die die Zeitgenossen in Erstaunen versetzenden petrinischen Reformen wurde, die vielen Augenzeugen und Zeitgenossen als ein Wunder erschienen, das Peter vollbracht hatte. In Wirklichkeit hatte sich freilich nichts Wunderbares vollzogen, sondern Peter hatte einen objektiven Prozeß, dessen Initiator er nicht war, dank seiner starken Persönlichkeit außerordentlich gefördert. Der in sich einheitliche Prozeß der petrinischen kulturellen Reformen in Rußland ist auch auf dem Gebiet der Wissenschaft und des Bildungswesens durch seine Kontinuität und Konsequenz ausgezeichnet. Seine wichtigsten Marksteine waren: der Aufbau eines Fachschulsystems seit 1700, die Einführung der „bürgerlichen Schrift" im Jahre 1708 und die 1718 beginnende unmittelbare Vorbereitung der Akademiegründung. Er korrespondierte innenpolitisch mit dem Ausbau des absolutistischen Herrschaftssystems und außenpolitisch mit der Durchsetzung Rußlands als Großmacht. Der offene Widerstand der Volksmassen konnte vorübergehend, insbesondere durch die blutige Niederschlagung des Astrachaner Aufstands (1705-1706), des Bauernaufstands unter K. Bulavin (1707-1708) und des Baschkirenaufstands (1705-1711) zurückgedrängt werden. Die feudalabsolutistische Umgestaltung der Verwaltung, deren Notwendigkeit sich nicht zuletzt während der erwähnten scharfen inneren Klassenkämpfe gezeigt hatte, wurde mit der Gouvernementsreform von 1708 bis 1710 und der Schaffung des Senats im Jahre 1711 zu einem ersten Abschluß gebracht. Die antipetrinischen Strömungen innerhalb der herrschenden Klasse, deren wichtiger Repräsentant Peters Sohn aus erster Ehe, Aleksej, war, wurden nach dessen Flucht 1716 nach Wien und seiner Verurteilung 1718 im wesentlichen überwunden. Vollendet wurde die Verwaltungsreform 1719 mit der Einrichtung der Provinzen und seit 1718/19 mit der Arbeitsaufnahme der Kollegien, die als Fachressorts an die Stelle der den Anforderungen nicht mehr genügenden älteren Behörden, der Prikaze, traten. Mit dem Abschluß des Friedens von Nystadt 1721, über den seit 1718 verhandelt wurde, krönte Rußland seinen seit 1700 geführten Kampf um den Zugang zur Ostsee, für den der Sieg von Poltava 1709 die entscheidende Voraussetzung geschaffen hatte. Dem Zeitraum zwischen 1708/09 und 1718/19 kommt für die Entwicklung Rußlands zweifellos große Bedeutung zu; innen- und außenpolitisch sind diese Jahre durch die Konsolidierung des petrinischen absolutistischen Staates gekennzeichnet. Die Entwicklung des Absolutismus als einer politischen Herrschaftsform in 5

Curieuser Gesdiidits-Calender...

biß 1697 ..., Leipzig 1697, Vorrede.

Rußlands

oder Moßcoviens

von Anno 840 an

10

Conrad Grau

der Übergangsepoche vom Feudalismus zum Kapitalismus wurde endgültig unumkehrbar. Dabei ist besonders hervorzuheben, daß die eingeleiteten Maßnahmen auf kulturell-wissenschaftlichem Gebiet, die 1724 in die Gründung der Akademie der Wissenschaften mündeten 6 , angesichts ihres prinzipiell bürgerlichen Inhalts am weitesten über die fortbestehenden Feudalverhältnisse hinauswiesen. Wesentlichen Anteil an der Entwicklung der Wissenschaftsorganisation hatte Robert Areskin, einer der bedeutendsten kulturpolitischen Mitarbeiter Peters I. Areskin war Schotte, wurde wahrscheinlich 1677 geboren und hatte zunächst in Oxford, wo er sich den Titel eines Doktors der Medizin und der Philosophie erwarb, und in Leiden, später auch in Paris studiert. Im Jahre 1703 wurde er Mitglied der Royal Society in London, und 1704 war er als Leibarzt A. Mensikovs in russische Dienste getreten. Bereits 1706 wurde er zum Präsidenten des Aptekarskij Prikaz und später auch zum Leibarzt des Zaren berufen. Seit 1713 war er Leiter der Kunstkammer und der Bibliothek in Petersburg, zweier wichtiger „vorakademischer" Einrichtungen in Rußlands junger Hauptstadt seit 1712. Die Darstellung seines Wirkens muß sich weitgehend auf noch nicht genutzte Quellen stützen. 7 Besonders Areskins Tätigkeit vor seinem Eintritt in russische Dienste liegt fast ganz im Dunkeln. Nach Abschluß seiner Studien wirkte Areskin als Anatom in London, wo ihn einer seiner Schüler kennenlernte, „when You made Your famous dissections in this city, for which the best of our physicians think themselves much obliged to You".8 Ein anderer schickte ihm seine Dissertation mit der Bemerkung, er hätte „used Your authority and anatomical lectures". 9 Daß sich Areskin damals bereits eines wohl nicht unbedeutenden Ansehens erfreute, zeigen auch die Briefe des Edinburgher Arztes und Leidener Professors Archibald Pitcairne an ihn. Pitcairne war eines der ersten Mitglieder des 1681 gegründeten Royal College of Physicians in Edinburgh, er verteidigte die Blutkreislauflehre W. Harveys. Politisch war er ein Anhänger der Jakobiten, philosophisch stand er dem Deismus nahe.10 Pitcairne informierte seinen Londoner Freund beispielsweise über seine Untersuchungen der Aorta descendens, wobei er ausdrücklich auf die „much greater occasions" hinwies, die Areskin f ü r solche Untersuchungen in London hatte: „I am very glad for medicine's sake, that You have got that

6

7

8

9 w

Unentbehrlich nach wie vor Andreev, A. I., Osnovanie Akademii nauk v Peterburge, in: Petr Velikij. Sbornik statej, Bd. 1, Moskau 1947, S. 284—333. Zusammenfassend neuestens Komkov, G. D.ILev sin, B. V.fSemenov, L. K., Akademija nauk SSSR. Kratkij istoriieskij oöerk, Moskau 1974. Auf seine Bedeutung hat verwiesen Radovskij, M. I., Iz istorii anglo-russkich nauinych svjazej, Moskau/Leningrad 1961, S. 54—58. J. Faire an R. Areskin, London, 9. 7. 1705. Archiv Akademii nauk SSSR, Leningradskoe otdelenie (weiterhin: AAN), Fonds (weiterhin: F.) 120, opis' (weiterhin: op.) 1, Nr. 184. J. Wedderburn an R. Areskin, Leiden, 2. 2. 1703. Ebd., Nr. 28. Vgl. The Dictionary of National Biography, Bd. 15, London 1888 (Repr. 1949/50), S. 1221-1223.

Areskin und die Petersburger Akademie

11

liberty of dissections in the hospital."11 Als Mitglied der Royal Society sorgte Areskin auch dafür, daß Pitcairne die von dieser veröffentlichten „Philosophical Transactions" erhielt. Pitcairne beschäftigte sich mit physiologischen Problemen, wobei er sich auf den italienischen Arzt Lorenzo Bellini berief, über den er auch in Leiden gelesen hatte.12 Ein Gegner der Auffassungen Pitcairnes war Daniel Bernoulli, der sich bereits in seinem ersten Vortrag in der Petersburger Akademie am 4. Dezember 1725 „De secretione humorum in corpore animali contra Pitcarnium" gegen ihn wandte. Zugleich schätzte Bernoulli aber die Untersuchungen des Edinburgher Arztes, denn er riet seinem Basler Freund Leonhard Euler, als der sich auf die Übernahme der physiologischen Professur in Petersburg vorbereitete, er sollte sich mit Problemen der Physiologie auf geometrischer Grundlage in den Arbeiten von Bellini, Giovanni Alfonso Borelli, Pitcairne und anderen beschäftigen.13 Areskin war sehr wahrscheinlich der Vermittler beim Erwerb von Pitcairnes Bibliothek im Jahre 1718 für die spätere Bibliothek der Akademie der Wissenschaften. Auch ein Manuskript Pitcairnes „Collegium practicum" ist nach Rußland gelangt, auf dem Areskin notierte: „celeberrimi et doctissimi doctoris Pitcarnii Scoti Prof. Lugdun. Batav. hujus seculi decoris". Die aus dem Vorhandensein von Büchern und des Manuskripts schon von Pekarskij gezogene Schlußfolgerung, Pitcairne wäre mit Areskin nach Rußland gekommen und dort 1713 gestorben, ist nicht stichhaltig, denn es gibt keinerlei Hinweis auf eine Tätigkeit Pitcairnes in Rußland. Bei den Büchern Pitcairnes handelt es sich um Exemplare, die Areskin teils wohl von seinem Freunde erhalten hatte, die hauptsächlich aber durch Kauf erworben wurden. Insgesamt waren es 1906 Bücher (1522 Titel), deren Katalog erhalten ist.14 Das Interesse Areskins für die Bibliothek belegt eine Bitte an ihn nach „some Orders about Dr. Pitcairne's library". 15 Der eigentliche Grund für den Eintritt Areskins in russische Dienste ist nicht bekannt. Am ehesten dürften familiäre, persönliche Faktoren den Ausschlag gegeben haben. Auf die Freundschaft mit dem jakobitisch eingestellten Pitcairne wurde verwiesen. Auch Areskin war Schotte und eng mit aktiven Gegnern der herrschenden Dynastie in England und Freunden der Stuarts verwandt. Aus diesem Grunde wurde er 1717 in geheime Verbindungen zwischen 11

12 13

14



A. Pitcairne an R. Areskin, Edinburgh, 19. 7.1702, 21. 2.1703. AAN, F. 120, op. 1, Nr. 140. Vgl. A. Pitcairne an R. Areskin, 21. 2.1703. Ebd. Vgl. Pekarskij, P. P., Istorija imp. Akademii nauk v Peterburge, Bd. I, Petersburg 1870, S. 100, 250 ff. Vgl. Istoriöeskij oierk i obzor fondov rukopisnogo otdela Biblioteki Akademii nauk, Bd. I, Moskau/Leningrad 1956, S. 205, 236; Bd. II, Moskau/Leningrad 1958, S. 251. Vor allem Istorija biblioteki Akademii nauk SSSR. 1714—1964, Moskau/Leningrad 1964, S. 18 f., 25. Über Pitcairnes Bibliothek heißt es in The Dictionary, S. 1223: "His library, said to have been one of the best private collections of the period, was purchased after his death by the emperor of Russia." Ch. Areskin an R. Areskin, Edinburgh, 7. 8. 1717. AAN, F. 1, op. 3, Nr. 5, Bl. 169 f.

12

Conrad Grau

Rußland und den Stuarts eingeschaltet, um die englische Regierung im Kampf um das Dominium maris Baltici unter Druck zu setzen.16 Areskins persönliche Verbindungen nach England sind zwar offensichtlich recht spärlich gewesen, vermitteln aber teilweise doch interessante Einblicke. Ein Brief seines Bruders Charles bestätigt den gewaltigen Eindruck des Sieges bei Poltava unter der Leitung des Zaren, „whose arms are now indeed famous through all Europe". Dieser als „Carolus Areskin. Scoto-Britannus" am 2. Februar 1708 im Alter von 24 Jahren in Leiden immatrikulierte Student der Rechte wollte 1709 vom Haag nach Deutschland reisen und hoffte, dort Robert Areskin zu begegnen, wenn dieser mit dem Zaren dorthin käme.17 Im November 1710 ist dann Huyssen in Leipzig mit Charles Areskin zusammengetroffen, als dieser, aus Italien kommend, nach England zurückkehrte. 18 Durch Vermittlung und durch indirekte Briefkontakte suchten Angehörige der Familie Menzies bei R. Areskin um den Eintritt in russische Dienste nach19, wo bereits im 17. Jh. jener Paul Menzies sich befunden hatte, der 1672 als russischer Gesandter nach Wien, Venedig und Rom geschickt wurde, um die Bildung einer antitürkischen Koalition zu unterstützen. 20 Menzies gehörte wie die Familien Bruce und Gordon, die im 17. Jh. ebenfalls nach Rußland übergesiedelt waren, zu den Anhängern der Stuarts, die England aus politischen Gründen verlassen hatten. Der gleichen Gruppe kann man auch Areskin selbst zurechnen, wenn er auch einer späteren Generation angehörte. Mit Jakob Bruce, dem Nachkommen des nach Rußland ausgewanderten Schotten, stand der Schotte Areskin in freundschaftlicher Verbindung. 21 Die Briefe an Areskin werfen manches kennzeichnende Schlaglicht auf das damalige westeuropäische Rußlandbild. So betrachtete man seinen Aufenthalt in Rußland als vorübergehend, denn: „I think it [is] much better to deposite my carcass in an honest church yard than in the tombs of the Emperors of Muscovy". Wenn auch nur andeutungsweise, so drücken sich doch in solchen Formulierungen Vorbehalte aus. Daher ist man zunächst verwundert, wenn im selben Brief steht: „The Czar of Muscovy being such an encourager of the belles lettres in his country and making as we heard a collection of persons and instruments for the promoting of all arts of learning." 22 Gerade in dieser Gegenüberstellung, die in dieser Konzentration selten begegnet, zeigt sich, wie zwiespältig man im Ausland gerade am Vorabend des entscheidenden Umschwungs Rußland gegenüberstand. Eindrucksvoll offenbaren sich 16

17

18 19

21 23

Vgl. Fejgina, S. A., Alandskij kongress. Vneänaja politika Rossii v konce severnoj vojny, Moskau 1959, S. 153-181. Vgl. Ch. Areskin an R. Areskin, Haag, 17. 10. 1709. AAN, F. 120, op. 1, Nr. 3, sowie Album studiosorum, Academiae Lugduni Batavorum MDLXXV—MDCCCLXXV, Haag 1885, Sp. 802. Vgl. H. Huyssen an R. Areskin, Dresden, 15. 11. 1710. AAN, F. 120, op. 1, Nr. 66. Vgl. A. Dundas an R. Areskin, Edinburgh, 4. 5. 1709. Ebd., Nr. 75; J. Menzies an R. Areskin, Rotterdam, 25. 2. 1710. Ebd., Nr. 120. Vgl. Winter, Eduard, Rußland und das Papsttum, Bd. 2, Berlin 1961, S. 5-8. Vgl. die Briefe in AAN, F. 120, op. 1, Nr. 20. W. Willys an R. Areskin, o. O., 18. 7.1708. Ebd., Nr. 35.

Areskin und die Petersburger Akademie

13

die Schwierigkeiten des großen Umdenkungsprozesses. Vor diesem Hintergrund des persönlichen Briefwechsels wird erst so recht deutlich, welchen Schritt über konventionelle Grenzen hinaus diejenigen taten, die sich wie Areskin und viele andere bereits am Anfang des 18. Jh. der in die Zukunft weisenden russischen Reformpolitik zur Verfügung stellten. Die eigentliche Wirksamkeit Areskins für den russischen Staat begann erst einige Jahre nach seinem Eintritt in die Dienste Mensikovs. Peter I., stets auf der Suche nach guten Mitarbeitern, berief ihn zum Präsidenten des Aptekarskij Prikaz und damit zum ersten Ausländer in ein so hohes ziviles Staatsamt. Daß die Wahl auf Areskin fiel, zeugt von großem Vertrauen, erklärt sich aber vor allem aus dem Aufgabenbereich, der der genannten Behörde übertragen war. Der Aptekarskij Prikaz entstand als ein Hofamt des Zaren und wurde im 17. Jh. zu einer Staatsbehörde. Neben die ursprüngliche Aufgabe, f ü r die pharmazeutischen Voraussetzungen der medizinischen Betreuung des Zaren und seiner Familie zu sorgen, trat in immer stärkerem Maße die Verantwortung f ü r das gesamte Medizinalwesen des russischen Reiches. Das betraf in erster Linie die medizinische Betreuung der Armee. Am Ende des 17. Jh. verfügte der Aptekarskij Prikaz über einen Einnahme-Etat von 10 098 und ein Ausgabe-Budget von 8 490 Rubeln.23 Diese für die damalige Zeit beachtliche Summe unterstreicht die Bedeutung des Prikazes, wurden doch 1724 für die Akademie der Wissenschaften insgesamt 24 912 Rubel bewilligt. Im 17. Jh. waren im Aptekarskij Prikaz neben Chirurgen, Ärzten und Apothekern u. a. auch Alchimisten, Optiker und Uhrmacher beschäftigt. Hier trafen sich also diejenigen, die in Rußland mit den Wissenschaften zu tun hatten, so daß der Apothekenprikaz, wie er am Ende des 17. Jh. bestand, sogar mit einer Akademie der Wissenschaften verglichen werden konnte.24 Dem Prikaz war - mindestens zeitweise - auch eine Schule zur Ausbildung von Chirurgen angeschlossen.26 Neben den beiden genannten Aufgaben als Forschungs- und als Ausbildungszentrum oblag dem Aptekarskij Prikaz noch eine dritte: der Aufbau einer Bibliothek. Den größeren Teil ihrer Bestände bildeten medizinische Lehrbücher, die meist handschriftlich vorlagen. Auch ausländische Werke waren vorhanden. 26 Die Organisation der russischen Medizinalverwaltung ist eng mit dem Wirken Areskins verbunden. Der Aptekarskij Prikaz wurde 1714 in Kanzlei der Hauptapotheke umbenannt, und 1718 entstand unter der Leitung Areskins die Medizinalkanzlei, bei deren Aufbau auch außerrussische Erfahrungen berücksichtigt werden sollten. Areskin bat daher schon 1717 um „die Anordnung, leges und alle requisita des Berlinischen Collegii medici sobald als möglich auf der Post 23

24

Ä

26

Vgl. Bogojavlenskij, N. A., K 375-letiju so vremeni osnovanija Aptekarskogo prikaza v Rossii, in: Fel'däer i akuserka, Jg. 21, 1956, H. 2, S. 26-31. Vgl. Sokolovskij, M., Charakter i znaöenie dejatel'nosti Aptekarskogo prikaza, Petersburg 1904, S. 28. Vgl. Bogojavlenski, N. A., K 300-letiju otkrytija pervoj lekarskoj äkoly v Rossii (1654 g.), in: Fel'däer i akuäerka, Jg. 20,1955, H. 1, S. 40-45. Vgl. Ljubarskij, V., Biblioteka aptekarskogo prikaza, in: Bibliothekar', Jg. 1950, Nr. 1, S. 30 f.

14

Conrad Grau

hierher zu senden".27 Audi bei der Organisierung anderer Behörden wurden bekanntlich Erfahrungen anderer Länder umfassend genutzt. Bereits 1713 waren die Bibliothek und die Raritätensammlung aus dem Prikaz herausgelöst worden, wurden aber weiterhin als Kunstkammer und Bibliothek von dem schottischen Arzt geleitet. Areskin vereinigte damit eine Reihe von Ämtern in seiner Person und war zudem als Leibarzt Peters I. einer der wenigen Wissenschaftler, die den Zaren ständig begleiteten. Einer seiner wichtigsten Aufgabenbereiche war die Korrespondenz mit Wissenschaftlern im Ausland und deren Anwerbung für russische Dienste. Areskin organisierte die naturwissenschaftlichen Forschungsreisen in Rußland im zweiten Jahrzehnt des 18. Jh., die wichtige Voraussetzungen schufen für die Erkundung der natürlichen Reichtümer Rußlands. Zu den Förderern Areskins in Rußland gehörte sein Vorgänger als Leibarzt des Zaren, J. J. Döhnel, dem er es wohl nicht zuletzt mit verdankte, daß er so schnell eine einflußreiche Stellung gewann. Bereits 1706 wurde Areskin mitgeteilt: „Gewisse Personen arbeiten gegen Ihr. Exc. Autorität, aber mit großem Unverstand, welches H[err] D. Döhnel zu seiner Zeit Ihr. Exc. remonstrieren wird. Kann aber Ihr. Exc. versichern die wahrhafte Aufrichtigkeit des H[errn] D. Döhnel gegen Ihr. Exc. und möchte wünschen, daß jedermann ein solches Zeichen seiner Aufrichtigkeit spüren ließ."28 Johann Justin Döhnel wurde am 25. September 1661 in Gotha getauft. Seit dem Sommersemester 1681 studierte er in Königsberg, begab sich aber noch vor Abschluß seines Studiums nach Nyenschanz und dann nach Narva, also in damals noch schwedisches Gebiet. In der Handelsstadt Narva fand er besonders bei englischen Kaufleuten eine einträgliche Praxis, wodurch ihm der Abschluß seiner Studien in Leiden ermöglicht wurde, wo er am 16. November 1694 als „Thuringus" an der medizinischen Fakultät inskribiert wurde. 1695 verteidigte er seine Dissertation „De paralysi". Nach seiner Rückkehr nach Narva wurde er Militärarzt und Landphysikus für Narva und Ingermanland sowie Mitglied des medizinischen Kollegiums in Stockholm. 1704 geriet Döhnel bei der Eroberung Narvas durch die russischen Truppen in Gefangenschaft und wurde von Peter I. als Leibarzt angestellt.29 Mit dem Kreis der Rußlandinteressenten um A. H. Francke stand Döhnel schon früh in Kontakt. 30 Als Leibarzt begleitete Döhnel den Zaren auf seinen Reisen. Unter dem Gesichtspunkt der deutsch-russischen Wissenschaftsbeziehungen ist dabei besonders der Aufenthalt Peters in Deutschland im Herbst 1711 wichtig. Auf der Rückreise von einer Kur in Karlsbad nach Torgau, wo am 6. November 1711 die Hochzeit des Carevic Aleksej mit Sophie Charlotte von Wolfenbüttel stattfand, weilte Peter ein zweites Mal in Dresden, wo er bereits im September gewesen 27 28

30

J. D. Schumacher an NN, Petersburg, 6. 12. 1717. AAN, F. 1, op. 3, Nr. 2, Bl. 58 r. D. Gößling an R. Areskin, Petersburg, 22. 5. 1706. AAN, F. 120, op. 1, Nr. 48. Vgl. Seeberg-Elverfeldt, R., Ein Gothaer — Leibarzt Peters des Großen, in: Rund um den Friedenstein, Jg. 7, Nr. 10; Taufregister St. Augustin Gotha, Jg. 1661, S. 151, Nr. 70; Album studiosorum Academiae Lugduni Batavorum, Sp. 734. Vgl. Tetzner, Joachim, H. W. Ludolf und Rußland, Berlin 1955, S. 99-101, 111; Winter, Eduard, Halle als Ausgangspunkt der deutschen Rußlandkunde im 18. Jahrhundert, Berlin 1953, S. 100, 156, 31.

Areskin und die Petersburger Akademie

15

war. Am 22. Oktober 1711 besuchte Peter in Begleitung seines Leibarztes, des Grafen Bruce31 und des russischen Gesandten in Dresden, Dolgorukij, den sächsischen „Hofmathematiker" Andreas Gärtner. Von Dresden begab sich der Zar nach Torgau, wo er Ende Oktober mit Leibniz zusammentraf. Die dortigen Gespräche wirkten sich auf die Entwicklung der Forschung in Rußland außerordentlich fruchtbar aus. Leibniz hatte unter anderem vorgeschlagen, in Rußland magnetische Beobachtungen anzustellen, und der Zar hatte sich bereit erklärt „ä favoriser d'autres recherches".32 Leibniz' Bemühungen um eine deutsch-russische wissenschaftliche Zusammenarbeit, für die er sich seit Jahren intensiv einsetzte, erhielten damit eine festere Grundlage. Leibniz war vor allem bestrebt, die von ihm 1700 gegründete Berliner Sozietät der Wissenschaften zu einem solchen Mittelpunkt der Beziehungen zu machen, was jedoch nur zum Teil gelang.33 Einer der Vermittler dieser Beziehungen sollte J . J. Döhnel werden. Schon in Dresden hatte sich Peter um einen „Botanicum" gemüht, „welcher in seinem Reiche die plantas indigenas untersuchen und in einen Catalogum bringen soll". An solche Informationen knüpften sich in wissenschaftlichen Kreisen Deutschlands sofort hohe Erwartungen: „Also sehen Sie, daß wir auch ex neglecta hactenus regione in Botanicis bald ein neues Licht werden aufgehen sehen."34 Durch den plötzlichen Tod Döhnels noch 1711 fiel freilich für die Zeitgenossen zunächst ein Schatten auf diese Hoffnungen, da sie glaubten, dieses Ereignis würde „die Bestallung eines Botanici in Moscau ziemlich] hindern".35 Die Aufgaben Döhnels übernahm jedoch sofort Areskin. Bereits im Dezember 1711 bot Gottlob Schober Rußland seine Dienste an. Er kannte Döhnel aus Narva und war mit ihm in Torgau zusammengetroffen, als Peter mit Leibniz ausführlich über die Weiterführung der russischen Wissenschafts- und Kulturpolitik sprach.36 Mit Areskin stand Schober mindestens seit 31

32

33

34

35 36

Vgl. Grau, Conrad, Der petrinische Kulturpolitiker Jakob Bruce (1670—1735). Ein Beitrag zur Geschichte der deutsch-russischen Wissenschaftsbeziehungen, in: Jb. für Geschichte der sozialistischen Länder Europas, Bd. 20/2, Berlin 1976, S. 25—41. Das Material zu diesem Thema ist aufbereitet von Guerrier, W., Leibniz in seinen Beziehungen zu Rußland und Peter dem Großen. Eine geschichtliche Darstellung dieses Verhältnisses nebst den darauf bezüglichen Briefen und Denkschriften, Petersburg/Leipzig 1873, hier S. 194, Nr. 135. Vgl. auch Benz, Ernst, Leibniz und Peter der Große. Der Beitrag Leibnizens zur russischen Kultur-, Religions- und Wirtschaftspolitik seiner Zeit, Berlin 1947; Richter, L., Leibniz und sein Rußlandbild, Berlin 1947. Vgl. Grau, Conrad, „... das Werk samt der Wissenschaft auf den Nutzen richten . . . " Aus der Frühgeschichte der Berliner und der Petersburger Akademie der Wissenschaften, in: JbfW, Jg. 1975, Bd. II, S. 137-159. Chr. H. Erndtel an J. Ph. Breyne, Öreifswald, 10. 11. 1711. Landesbibliothek (weiterhin: LB) Gotha, B 786, Nr. 41. Chr. H. Erndtel an J. Ph. Breyne, Greifswald, 21.12.1711. Ebd., Nr. 42. Vgl. G. Schober an NN, Leipzig, 15. 12. 1711. Central'nyj Gosudarstvennyj Archiv Drevnich Aktov v Moskve (weiterhin: CGADA), F. 150, 1711, delo (weiterhin: d.) 5, Bl. 1 r—2.

16

Conrad Grau

dem Herbst 1711 in Verbindung. 37 Schober wirkte von 1713 bis zu seinem Tode am 3. November 1739 in Rußland, das zu seiner zweiten Heimat wurde. Gottlob Schober wurde am 3. November 1672 in Leipzig geboren. Dort studierte er Medizin und Naturwissenschaften und wandte sich dann nach Utrecht, wo er 1696 „De cholera" zum Doktor der Medizin promovierte. Danach ging er als Arzt nach Lübeck und trat später in schwedische Dienste, die ihn u. a. nach Reval führten. Er war dort Stadtarzt und gleichzeitig Assessor des Ärztekollegiums in Stockholm. Anders als Döhnel, der bereits nach seiner Gefangennahme in Narva in russische Dienste trat, ging Schober wegen der baltischen Kriegswirren nach Leipzig zurück, wo er seit 1705 als Arzt praktizierte. Seit dem 6. März 1705 war er Mitglied der „Leopoldina", der Akademie der Naturforscher, in deren Publikationen er auch veröffentlichte. Sein wichtigstes Werk „Pharmacopoea portalis oder kleine, doch wohlversehene Haus-, Feldund Reiseapotheke" gab Schober 1707 in Leipzig heraus. Mit Schober war ein erster Fachmann auf medizinischem und naturwissenschaftlichem Gebiet gewonnen worden, dessen Blick zudem durch seinen Aufenthalt im Baltikum früh' auf Rußland gelenkt worden war. Er war Mitglied einer international angesehenen Akademie und stand auch von Rußland aus noch mit Deutschland in Verbindung, wie Publikationen über seine wissenschaftlichen Untersuchungen in deutschen Zeitschriften zeigen.38 Der Aufenthalt Peters I. in Deutschland im Jahre 1711, der zu der Begegnung mit Leibniz in Torgau geführt hatte, konnte angesichts des in Rußland selbst erreichten Entwicklungsstandes zu einem Stimulator für eine neue Stufe der Förderung der wissenschaftlichen Forschung in Rußland werden. Das belegen nicht zuletzt die intensiven Bemühungen um den Züricher Arzt Johann Jakob Scheuchzer. Leibniz selbst suchte den Schweizer zu überzeugen, welche großen Vorteile für die gesamte europäische Wissenschaft aus der Annahme einer Berufung nach Rußland resultieren würden. Doch gelang der Plan nicht. Zuletzt gab Scheuchzer als Grund f ü r seine Ablehnung an, daß der Züricher Magistrat ihn nicht entließe. Entscheidend war wohl die Furcht, nicht wieder in die Schweiz zurückkehren zu können. Deshalb heißt es im letzten Brief Scheuchzers vom 12. Mai 1714 in dieser sich seit 1712 hinziehenden Angelegenheit an Leibniz: „In Russia forte non tot invenissem obstacula pro scientiarum augmento quot habeo

37

38

Vgl. den späteren Hinweis: G. Schober an R. Areskin, Moskau, 29. 12. 1714. AAN, F. 120, op. 1, Nr. 197. Vgl. Neigebaur, J. D. F., Geschichte der Kaiserlichen Leopoldino-Carolinischen Deutschen Akademie der Naturforscher während des zweiten Jahrhunderts ihres Bestandes, Jena 1860, S. 203; Büchner, A. E., Academiae Sacri Romani Imperii Leopoldino-Carolinae Naturae Curiosorum Historia, Halle 1755, S. 486; Kaiser, Wolfram/Völker, Arina, Die in Rußland wirkenden Leopoldina-Mitglieder des 18. Jahrhunderts und ihre Korrespondenz mit dem Akademiepräsidenten, in: NTM. Schriftenreihe für Geschichte der Naturwissenschaften, Technik und Medizin, Jg. 1973, Nr. 1, S. 51 f., sowie Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 32, Leipzig 1891, S. 206 f. Uber die Bedeutung der Leopoldina Stern, Leo, Zur Geschichte und wissenschaftlichen Leistung der Deutschen Akademie der Naturforscher, Berlin 1952.

Areskin und die Petersburger Akademie

17

in patria."39 Überzeugender ist freilich eine spätere Begründung der Ablehnung durch Scheuchzer: „Die Vokation von S. Czarischen Maj. betreffend, wäre nebst meinem Bruder resolviert, dorthin zu gehen, vornehmlich ex amore studii Hist[oriae] Natfurae], bin aber hinderhalten worden vornehmlich propter famiiiam, auch weilen unser löbl [icher] Magistrat mein Einkommen um ein Namhaftes vermehret. Sonsten hätte eine ungemeine Begierd gehabt, in dasigen Landen die arcana naturae aufzusuchen."40 Für Rußland wäre Scheuchzer ein großer Gewinn gewesen, denn gerade auf dem Gebiet, auf dem er in Rußland arbeiten sollte, nämlich der naturwissenschaftlich-geographischen Forschung, verfügte er über Erfahrungen. Von 1705 bis 1707 hatte er in Zürich die Zeitschrift „Seltsamer Naturgeschichten des Schweizerlandes Wöchentliche Erzählung" herausgegeben, in der er Ergebnisse seiner Alpenforschung niederlegte, wobei historische, geographische und naturwissenschaftliche Nachrichten vielfach miteinander verwoben wurden. So versprach er beispielsweise, seinen „historischen Bericht hier und da zu unterspicken mit unmittelbarer Zueignung und vernünftiger Erklärung, damit sowohl die Liebhaber der Histori als der Naturlehr verhofEentlich ihr Vergnügen finden".41 Hier wird die Methode charakterisiert, die angewendet werden konnte, wenn es ein unerforschtes Land oder Gebiet wissenschaftlich zu erschließen galt. Es wäre daher sehr erfolgversprechend gewesen, wenn es gelungen wäre, Scheuchzer für eine Expedition durch Rußland zu gewinnen. Leibniz und Areskin hatten das klar erkannt und sich darum so intensiv um den Arzt bemüht, der aus wissenschaftlichem Interesse selbst offensichtlich gern eingewilligt hätte. Ein Glied in der Entwicklungsetappe der wissenschaftlichen Forschung in Rußland, auf die die Torgauer Gespräche im Jahre 1711 und die Bemühungen um die genannten Wissenschaftler fördernd einwirkten, war die Einrichtung der Bibliothek und der Kunstkammer in Petersburg. Die Leitung beider Institutionen wurde Areskin übertragen, dessen Mitarbeiter Johann Daniel Schumacher war, der seit 1714 in russischen Diensten stand. Offiziell hatte Schumacher, der 1724 in die Kanzlei der Akademie übernommen wurde, die Funktion eines Sekretärs Areskins für die ausländische Korrespondenz. Gleichzeitig war er Bibliothekar und hatte für die Ordnung der Kunstkammer zu sorgen. Allein die Anstellung eines Mannes und die Übertragung der obengenannten Pflichten an ihn war das beste Zeichen dafür, in welcher Richtung sich der Zar die weitere Entwicklung dachte. Die wissenschaftliche Forschung sollte in Gang gebracht und ausländische Gelehrte für Rußland interessiert werden. Die eigentlichen Anfänge der Akademie der Wissenschaften, in die die Bibliothek und die Kunstkammer 1724/25 eingegliedert wurden, liegen also in den ersten Jahren nach Poltava, ein wichtiger Einschnitt war die Begegnung zwischen Peter I. und Leibniz. Zum

3U

Bodemann, E., Der Briefwechsel des G. W . Leibniz in der Königlichen öffentlichen Bibliothek zu Hannover, Hannover 1889, S. 254—256; weiterhin R. Areskin an J. J. Scheuchzer, Petersburg, Cal. maji 1713. A A N , F. 1, op. 3, Nr. 2, Bl. 5-7.

40

J. J. Scheuchzer an J. Ph. Breyne, Zürich, 7. 12. 1717. L B Gotha, B 789, Nr. 289. Zit. nach Salathe, R., Die Anfänge der historischen Fachzeitschrift in der Schweiz (1694-1813), Basel 1959, S. 20 ff.

41

2 Jahrbuch 16

18

Conrad Grau

Organisator des Ganzen e r n a n n t e der Zar seinen Leibarzt Areskin, der das Ergebnis allerdings nicht m e h r erleben sollte. Die K u n s t k a m m e r w a r die zeitgenössische F o r m eines naturwissenschaftlichen Museums. Bereits w ä h r e n d seiner ersten Auslandsreise 1697/98 h a t t e sich Peter sehr f ü r derartige Sammlungen interessiert u n d in den J a h r e n 1704 u n d 1705 erste Ukaze ü b e r die Einsendung von „Kuriositäten" erlassen. Wie andere wissenschaftsorganisatorische Maßnahmen t r a t auch die Sorge u m die K u n s t k a m m e r d a n n vorübergehend in den Hintergrund, ging es doch in der ersten P h a s e des Nordischen Krieges vor allem u m die Existenz des petrinischen Staates ü b e r haupt. Erst nach Poltava w u r d e n diese Aufgaben wieder in Angriff genommen. Ein Schritt w a r die Konzentrierung aller Sammlungen in der neuen Hauptstadt Petersburg. Darauf folgten im J a h r e 1716 der Ankauf der Naturaliensammlung des A m s t e r d a m e r Apothekers Albert Seba, des Mineralienkabinetts des Danziger Arztes Christoph Gottwald und 1717 d e r E r w e r b der anatomischen u n d botanischen P r ä p a r a t e des Amsterdamer Anatomen u n d Botanikers Friedrich Ruysch. 42 An allen diesen Schritten w a r Areskin maßgeblich beteiligt. Damit w a r eine gute Grundlage f ü r den weiteren Ausbau der K u n s t k a m m e r geschaffen, der besonders durch die Sammlung von Materialien in Rußland erfolgte. Zwischen 1717 u n d 1724 w u r d e die Ablieferung von „Kuriositäten" m e h r f a c h durch Ukaze angeordnet. Besonders die im Lande weit h e r u m k o m m e n d e n Ärzte w a r e n gehalten, F u n d e einzusenden. So heißt es in einem Brief nach K a z a n : „ . . . auch den H e r r n Dokt. [Areskin] obligieren wird, w e n n e r durch etliche Kuriositäten, so sich in selbiger Gegend finden, seine K u n s t k a m m e r ansehnlicher machen wird." 4 3 Areskin selbst war, wie viele andere Ärzte seiner Zeit, ein großer Liebhaber solcher „Kuriositäten". Die von Peter f ü r die K u n s t k a m m e r erworbenen Bestände w a r e n P r i v a t s a m m Zungen, die auf diese Weise d e r Forschung zugänglich gemacht w u r d e n . Daneben galt die Sammeltätigkeit aber auch Lehrzwecken, der Förderung des naturwissenschaftlichen Unterrichts. Eine solche K u n s t k a m m e r w a r beispielsweise die der Franckeschen Stiftungen in Halle, deren Anschauungsstücke dank der weltweiten Verbindungen aus allen Ländern zusammengetragen w e r d e n konnten. Die Bestände w u r d e n aber auch von der Berliner Akademie d e r Wissenschaften ergänzt. 44 H e u t e sind solche Sammlungen meist n u r dann erhalten, w e n n sie zur Grundlage späterer staatlicher Museen wurden. Das gilt auch f ü r die S a m m lungen Areskins, die die Petersburger K u n s t k a m m e r nach seinem Tode erwarb. Eine weitere A u f g a b e Areskins w a r die Aufsicht ü b e r die Bibliothek. Die in 42

43 44

Vgl. Stanjukovic, T. V., Kunstkamera Peterburgskoj Akademii nauk, Moskau/Leningrad 1953. Die Korrespondenz A. Sebas (AAN) ermöglicht, den Erwerb seiner Sammlungen eingehend zu verfolgen. J. D. Schumacher an NN, Petersburg, 9. 3. 1716. AAN, F. 1, op. 3, Nr. 2, Bl. 32 r. Vgl. Starz, 3., Das Naturalien- und Kunstkabinett der Franckeschen Stiftungen zu Halle (Saale), in: WZ der Martin-Luther-Universität Halle—Wittenberg. Gesellsch.u. sprachwiss. Reihe, Jg. XI, 1962, H. 2, S. 193-200. Ergänzend dazu Zentrales Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR (weiterhin: AAW) I: XV, 19, Bl. 1—21 r, mit Hinweisen auf nach Halle abgegebene Materialien.

Areskin und die Petersburger Akademie

19

Moskau vorhandenen Bücher und Bibliotheken aus dem Baltikum wurden nach Petersburg gebracht. 1714 wurde damit zum Gründungsjahr der heutigen Leningrader Akademie-Bibliothek. Die damals vorhandenen Bücher bildeten vier Gruppen, und zwar waren das erstens die Bücher der ehemaligen zarischen Bibliothek in Moskau, zweitens die des Aptekarskij Prikaz, drittens die von Peter I. in Rußland und im Ausland erworbenen und viertens Bücher aus Riga, Mitau und anderen baltischen Städten.® Bei der Aufnahme der Bücher im Baltikum wurde Areskin auch von den ihm untergebenen Chirurgen unterstützt: „Weil hier auch eine große juristische Bibliothek von vierhundert Büchern und über 30 Folianten darunter sein und hier berichtet, daß Ihro Großzar. Majestät eine große Bibliothek von der Sorte haben wollen, sollte solches sein, so bitte auch zu melden, so soll mit den ersten aller Autoren Namen und wie groß ein jedes übergesandt werden."46 Die Aufstellung der Bücher in Petersburg, zunächst im Sommerpalais Peters und dann seit 1718 im sogenannten Kikinschen Palais, zog sich längere Zeit hin. So hieß es 1716: „Die Bibliothek ist zwar aufgestellt, aber noch alles confus." Auch ein Jahr später war sie noch immer „in statu quo", es wurde aber nun „ein apartes Haus vor dieselbe und den gottorpschen Globus erbauet".47 In den Jahren 1718 und 1719 wurde die Petersburger Bibliothek dann um fast 3000 Bände vermehrt. Erworben wurden 375 Bände (363 Titel) von A . Vinius und die Bibliothek mit 2527 Bänden (2322 Titel) von Areskin. Bei letzteren handelte es sich besonders um medizinische, philosophische, historische und philologische Werke. Die für die Beurteilung der Persönlichkeit Areskins wichtige Analyse seiner Bibliothek steht noch aus, sie könnte nur in Leningrad selbst unter Heranziehung entsprechender Archivalien im Archiv der Akademie der Wissenschaften der UdSSR durchgeführt werden.48 Ein handschriftlicher Katalog der Bibliothek Areskins wird auch im Botanischen Institut der Akademie aufbewahrt.49 Ein Verdienst Areskins um die Wissenschaftsorganisation in Rußland war die Anlage des ersten botanischen Gartens, des sogenannten Apothekergartens. Zwanzig Jahre hindurch, von seiner Gründung im Jahre 1713 bis zur Einrichtung des Botanischen Gartens der Akademie der Wissenschaften durch Johann Amman, bot er die Grundlage für botanische Forschungen.60 Areskin maß dieser Einrichtung mit Recht so große Bedeutung bei, daß er selbst während seiner Vgl. Istoriceskij ocerk i obzor fondov, Bd. I, S. 9. Vor allem Istorija biblioteki, S. 12 ff., mit Detailangaben über die Erwerbungen. « J. M. Brag an R. Areskin, Reval, 18. 3. 1714. AAN, F. 120, op. 1, Nr. 15. 47 AAN, F. 1, op. 3, Nr. 2, Bl. 32, 45 r. Vgl. auch ebd., Bl. 53 r. Der „Gottorpsdie Globus" mit einem Durchmesser von 336 Zentimetern wurde 1664 gebaut und vom Herzog von Holstein 1713 Peter I. geschenkt. Vgl. Stanjukovic, T. V., S. 56. 48 Vgl. Istorija biblioteki, S. 19 f., 25. 49 Vgl. Kuljabko, E. S., M. V. Lomonosov i ucebnaja dejatel'nost' Peterburgskoj Akademii nauk, Moskau/Leningrad 1962, S. 24. 50 Vgl. Lipskij, V. I., Istorideskij oöerk Imp. S.-Peterburgskogo Botanifieskogo Sada (1713—1913), in: Imp. S.-Peterburgskij Botanideskij Sad za 200 let ego susiestvovanija (1713-1913), Teil I, Petersburg 1913, S. 1-378; Nekrasov, V. L., K istorii Botaniöeskogo Sada Akademii nauk, in: Sovetskaja botanika, Bd. XIII (1945), Nr. 2.

40

2*

20

Conrad Grau

Auslandsaufenthalte Anweisungen für die Ausgestaltung des Gartens gab. So ordnete er 1717 aus Brüssel an, am Apothekergarten keine Unkosten zu sparen, „um denselben in einen guten Stand zu bringen, ihn mit allerhand Bäumen und notwendigen Kräutern [zu] versehen, darin auch einen großen Teich machen [zu] lassen".51 Ein „plan du jardin d'Apoth." wurde Areskin 1717 zur Bestätigung vorgelegt. 52 Die finanziellen Mittel für den Garten mußten leibeigene Bauern aufbringen, denn „das Geld, was aus dem großen Dorfe einkommt, soll darzu alles gegeben werden, daß auch gute Bäume werden eingesetzt und Kräuter, welche in der Apotheke nötig sein, einen Teich, der wohl gemacht ist, es muß alles unvergleichlich sein".53 Es sollten Zitrus-, Pomeranzen-, Apfelsinen- und Apfelbäume angepflanzt werden. In einer 1718 in Frankfurt und Leipzig erschienenen Beschreibung Petersburgs, die um 1716/17 verfaßt wurde, heißt es noch, daß der Garten zwar großen Raum einnehme, aber noch keine „besonderen Merkwürdigkeiten" aufwies.54 Dem mußte schon im Interesse des Ansehens der neuen Hauptstadt abgeholfen werden. Die Möglichkeit dazu bei sich nach der Rückkehr Areskins aus dem Ausland, von wo er einen Gärtner mitgebracht hatte. Dieser beabsichtigte, innerhalb von zwei Jahren „den raresten Blumengarten und das meiste Teil eines Horti medici" zu schaffen. Entsprechende Pläne legte er noch 1717 vor.55 Sie sind auch verwirklicht worden. Die ursprüngliche Anlage dieses Gartens ist im heutigen Botanischen Garten in Leningrad noch erkennbar. Angesichts dieser Intensivierung wissenschaftlicher Bestrebungen in Rußland war es durchaus kein Zufall, daß eine westeuropäische Zeitschrift gerade 1714 von einer beabsichtigten Gründung einer Akademie in Petersburg berichtete.56 Das lag auch ganz im Zuge der nach Peters Zusammentreffen mit Leibniz verstärkt einsetzenden Kontakte zwischen Rußland und west- und mitteleuropäischen Wissenschaftlern, aus denen die deutsch-russischen Wissenschaftsbeziehungen als einer ihrer Teile nicht verabsolutierend herausgelöst werden dürfen. Gegenüber der bekannteren Aufnahme Peters I. als Mitglied in die Pariser Académie des Sciences im Jahre 1717 wird oft nicht genügend beachtet, daß A. Mensikov durch Vermittlung englischer Kaufleute, die am Handel mit RußJ. D. Schumacher an Apotheke, Petersburg, 10. 4. 1717. A A N , F. 1, op. 3, Nr. 2, Bl. 47 r. Vgl. auch die Berichte Chr. G. Bräutigams an Areskin von 1716. A A N ; F. 1, op. 3, Nr. 4, Bl. 122-123, 135-136. b'2 J. D. Schumacher an R. Areskin, Petersburg, 10. 5. 1717, 3. 6. 1717. A A N , F. 1, op. 3, Nr. 2, Bl. 49 r-51. 51

53

54

55

50

J. E. Pfeil an J. D. Schumacher, Vlissingen, 29. 3. 1717; Brüssel, 6. 4. 1717. A A N , F. 1, op. 3, Nr. 5, Bl. 26-27 r. Vgl. Luppou, S. P., Istorija stroitel'stva Peterburga v pervoj éetverti X V I I I v., Moskau/Leningrad 1957, S. 31. J. Schultz an R. Areskin, Petersburg, 20. 12. 1717. A A N , F. 1, op. 3, Nr. 5, Bl. 6 - 6 r, 8. Vgl. Pekarskij, P. P., Nauka i literatura v Rossii pri Petre Velikom, Bd. 1, Petersburg 1862, S. 45.

Areskin und die Petersburger Akademie

21

land interessiert waren, bereits am 29. Juli 1714 einstimmig als Mitglied der Royal Society in London gewählt worden ist. Wirtschaftliche und wissenschaftliche Interessen gingen bei diesem Unternehmen Hand in Hand. Es ist kaum anzunehmen, daß Peter diesen Plan nicht vorher kannte, und noch weniger wahrscheinlich ist, daß Areskin als Mitglied der Society und ehemaliger Leibarzt des Fürsten daran nicht mitgewirkt haben sollte. Kein Geringerer als Isaac Newton machte Mensikov am 25. Oktober 1714 als Präsident der Royal Society Mitteilung über die Wahl. In diesem Brief wurde an erster Stelle der Eifer des Zaren bei der Ausbreitung von Künsten und Wissenschaften in Rußland hervorgehoben. Anschließend wurde dann der Anteil Mensikovs nicht nur an den politischen Erfolgen, sondern auch an der „Verbreitung guter Bücher und der Wissenschaften" gewürdigt. 57 Peter I. selbst wurde am 22. Dezember 1717 einstimmig zum Mitglied der Pariser Akademie der Wissenschaften gewählt. Deren Präsident J. P. Bignon dankte Peter am 24. Dezember desselben Jahres für seine Bereitschaft, die Wahl anzunehmen, und kündigte ein offizielles Schreiben über die vollzogene Wahl an. Diesen Brief schrieb Fontenelle als Ständiger Sekretär am 13. Januar 1718. Darauf antwortete Peter zustimmend aber erst am 11. Februar 1721. Die Ursachen für diese Verzögerung sind bereits an Hand der Quellen dargestellt worden. Danach bestand schon nach Peters Teilnahme an der Akademiesitzung am 19. Juni 1717 die Absicht, ihn zum Mitglied zu wählen. Der unmittelbare Anlaß war eine neue Karte des Kaspischen Meeres, die 1715 von A. Bekovic-Cerkasskij gezeichnet worden war. Aus bisher nicht geklärten Gründen gab aber Peter damals nicht seine Zustimmung. Am 10. August 1717 schrieb Bignon einen Brief an Areskin, der Peter in Paris begleitet hatte, in dem er für den Besuch des Zaren in der Akademie dankte, die Übersendung von 14 Bänden der Akademieveröffentlichungen ankündigte und die Absicht mitteilte, Peter zum Akademiemitglied zu wählen. Die Akademie wollte auch weiterhin über alle neuen Entdeckungen und Erfindungen nach Petersburg berichten. Am 7. November schrieb Areskin an Bignon, der Zar stimme einer Wahl zu, so daß diese - wie erwähnt - am 22. Dezember erfolgte. Bignon war der Meinung, daß die Zustimmung Peters Areskin zu verdanken wäre, den man ebenfalls gern, in die Akademie aufgenommen hätte, aber auf die nächste Vakanz vertrösten müßte. Die Wahl Areskins in die Pariser Akademie unterstützte auch der französische Botschafter in Petersburg. Als Gründe nannte de Lavie, daß Areskin vom Zaren geschätzt werde, daß er den Franzosen nicht feindlich gesinnt wäre und daß er als Mitglied der Akademie auch nützlich sein könnte. Eine Wahl würde auch gerechtfertigt sein infolge der Gelehrsamkeit Areskins und wegen der interessanten Beobachtungen, von denen er Mitteilung machen könnte.58 Areskin wurde jedoch nicht mehr Mitglied der Académie des Sciences in Paris. 57

Vgl. den Brief Newtons bei Wavïlow, S. 1., Isaac Newton, Berlin 1951. Weiterhin The Record of the Royal Society of London for the Promotion of Natural Knowledge, 4th ed., London 1940, S. 393. ^ Vgl. Knjazeckaja, E. A., O pricinach izbranija Petra I clenom Parizskoj Akademii nauk, in: Izvestija vsesojuznogo geografideskogo obäcestva, Bd. 92 (1960), S. 154 bis

22

Conrad Grau

Obwohl die Royal Society und die Académie des Sciences die ersten ausländischen Akademien waren, die Russen zu Mitgliedern wählten, sind deren Kontakte zu Rußland vor der Gründung der Petersburger Akademie nicht so eng gewesen wie die der Sozietät in Berlin, die ihrem Rußlandinteresse schon in ihrer von Leibniz verfaßten Gründungsurkunde Ausdruck gab und bereits 1710 jin Heinrich von Huyssen zum ersten Mal einen in Rußland wirkenden Ausländer in ihre Reihen aufnahm. Im J a h r e 1714 wurde der seit 1711 in Rußland lebende Hospodar der Moldau, Dmitrij Kantemir (Dimitrie Cantemir), einer der bedeutendsten Gelehrten seiner Zeit, zum Mitglied der Berliner Akademie gewählt. 59 Die Akademien der Wissenschaften in London, Paris und Berlin sowie die „Leopoldina" haben folglich bereits seit dem zweiten Jahrzehnt des 18. Jh. Kontakte zu Rußland unterhalten. Das ausländische Interesse wirkte neben der entscheidenden Bedeutung, die die Entwicklung der Wissenschaft f ü r das neuzeitliche Rußland hatte, fördernd auf die Intensivierung der Forschungsarbeiten und auf den Entwurf neuer, weiterführender Pläne. Daß Rußland bereits völlig in die europäische Gelehrtenrepublik einbezogen war, zeigt auch eine Bitte von 1717 um ein Verzeichnis der in Rußland tätigen Naturwissenschaftler, das veröffentlicht werden sollte.® Mit Genugtuung wurde festgestellt, „que Sa Majesté se faira un plaisir de rechercher encore les trésors de la nature". 6 1 Im F r ü h j a h r 1718 konnte Areskin gewissermaßen eine Bilanz über die eingeleiteten Maßnahmen zur naturwissenschaftlichen Erforschung Rußlands ziehen. Schober war in die „Royaumes de Casan et Astracan" entsandt worden, die Vorbereitungen f ü r eine Sibirienexpedition eines weiteren Forschers „pour chercher tout ce qu'il apartient à l'histoire naturelle" waren abgeschlossen. Neue Verordnungen des Zaren hatten die Einsendung von Anschauungsstücken f ü r die Kunstkammer angeregt. Eine Expedition nach Peking war zurückgekehrt und hatte eine gute Kollektion von Kuriositäten mitgebracht. Die Heilquellen bei Olonec wurden erforscht. 62 Das alles waren wichtige wissenschaftliche Vorhaben, die zwischen 1715 und 1718 abgeschlossen oder eingeleitet worden waren. Eine genauere Behandlung der einzelnen Unternehmen zeugt von der intensiven wissenschaftsorganisatorischen und Forschungsarbeit, die in Rußland geleistet wurde. 159, und vor allem Russko-francuzskie nauënye svjazi. Publikacija A. T. Grigor'jana i A. P. JuäkeviCa pri uéastii T. N. Klado i Ju. Ch. Kopelevié, Leningrad 1968, S. 17—20. Weiterhin Sbornik Russkogo istoriëeskogo obsëestva, Bd. 34, Petersburg 1881, S. 268 f. 59 Vgl. über ihn Dimitrie Cantemir (1673—1723), Berlin 1974 ( = Sitzungsberichte der Akad. d. Wiss. d. DDR, 1974, Nr. 13). Über die Geschichte der europäischen Akademien in dieser Zeit vgl. noch Kopeleviö, Ju. Ch., Vozniknovenie nauCnych akademij. Seredina XVII — seredina XVIII v., Leningrad 1974. *» J. J. Scheuchzer an R. Areskin, Zürich, 8. 12. 1717. AAN, F. 1, op. 3, Nr. 5, Bl. 132 bis 133. 81 J. J. Scheuchzer an R. Areskin, Zürich, 11. 3. 1718. AAN, F. 1, op. 3, Nr. 6, Bl. 48. R. Areskin an J. J. Scheuchzer, Petersburg, 7. 4. 1718. AAN, F. 1, op. 3, Nr. 2, Bl. 78 bis 79.

Areskin und die Petersburger Akademie

23

Schober hatte bereits Anfang 1716 eine kürzere Forschungsreise unternommen.® 1717 sollte er feststellen, „ob mineralische Wasser, als Sauerbrunnen, warme Bäder etc. in hiesigen Großzarischen Majestät Ländern anzutreffen, Nachfrage und Untersuchung zu tun". 64 Er verließ im Herbst 1717 Moskau und reiste zunächst wolgaabwärts nach Astrachan, von wo aus er Ende November 1717 einen ersten Bericht gab. Darin informierte er über die Schwierigkeiten der Reise - Sturm und Kälte - , aber nach Angaben Einheimischer auch schon über die Fruchtbarkeit der Astrachaner Gegend, wo manches Mal zwei Ernten eingebracht würden. Morellen, Aprikosen, Pfirsiche und Feigen würden dort wachsen, die Seidengewinnung wäre weit verbreitet, und es gäbe viel Wild. „Enfin, das Land soll unvergleichlich sein."65 Die Weitergabe dieses Berichts durch Areskin an seine ausländischen Korrespondenten erweckte mit Recht großes Interesse. „J'attend avec impatience la suite de ses découvertes dans ce pays-la."68 Von Astrachan drang Schober Ende März, Anfang April 1718 mit einem Konvoi von 160 Mann67 in das nördliche Kaukasusgebiet vor und kehrte im Sommer nach Astrachan zurück. Ein von ihm besuchtes Warmbad hatte er „noch besser als das im Königreich Boheim liegende Teplitzer befunden", hinsichtlich der chemischen Zusammensetzung des Wassers gäbe es in Europa nichts Vergleichbares. Schober kündigte eine Veröffentlichung darüber in den Publikationen der „Leopoldina" an, die aber offensichtlich nicht realisiert wurde. Von Astrachan begab sich Schober zur Erforschung der Schwefelquellen in der Nähe von Samara. 68 Im November 1718 hatte Schober seine Reise abgeschlossen und sollte nun daf ü r sorgen, daß „sein Journal bald ins Russische translatiert würde, weil S. Maj. erst vorgestern nach ihme gefraget". 69 Erhalten ist ein zweisprachiges (deutsches und russisches) Exemplar des Forschungsberichtes auf 27 Blättern mit teilweise farbigen Zeichnungen. Neben diesem Exemplar, das offensichtlich Peter überreicht wurde, sind noch zwei weitere Berichte bekannt, und zwar über die warmen Quellen am Terek („Kurze Beschreibung des Asiatischen St.Peters-Bad, so im Königreich Astrakan lieget") und über die Schwefelquellen bei Samara („Kurze Beschreibung des Schwefelbrunnens, so bei Serecowa, einer Stadt, die zwischen Casan und Samara lieget"), die nur in deutscher Sprache veröffentlicht wurden. 70 83

64

86

67

69 70

Vgl. G. Schober an R. Areskin, Moskau, 11. 2. 1716. AAN, F. 1, op. 3, Nr. 4, Bl. 11 bis 12. G. Schober an R. Areskin, Moskau, 12. 8. 1717. AAN, F. 1, op. 3, Nr. 5, Bl. 137 bis 137 r. G. Schober an R. Areskin, Astrachan, 30. 11. 1717. AAN, F. 1, op. 3, Nr. 5, Bl. 36 bis 37 r. Abschriftlich auch an J. Ph. Breyne. LB Gotha, B 788, Nr. 19. J. Ph. Breyne an R. Areskin, Danzig, 17. 5. 1718. AAN, F. 1, op. 3, Nr. 5, Bl. 129 bis 130 r. Vgl. G. Schober an R. Areskin, Astrachan, 31. 3. 1718. AAN, F. 1, op. 3, Nr. 6, Bl. 12 bis 13 r. G. Schober an R. Areskin, Astrachan, 24. 6. 1718. AAN, F. 1, op. 3, Nr. 6, Bl. 61 bis 62 r. AAN, F. 1, op. 3, Nr. 2, Bl. 112. Vgl. Sammlung russischer Geschidite, Bd. 4, Petersburg 1760, S. 157—175, 541—548.

24

Conrad Grau

Das wichtigste Werk über diese Reise war Schobers ausführlicher Bericht, dessen Titel bereits die vielfältigen Ergebnisse widerspiegelt: „Memorabilia r u s sico-asiatica seu observationes physicae, medicae, geographicae, politicae, oeconomicae in itinere in Russia ad m a r e Caspicum, jussu Monarcha sui facto collectae, inquisitiones item in q u a r u m d a m a q u a r u m mineralium n a t u r a m nec non variorum populorum linguae n o n d u m cognitae nec descriptae". 7 1 Dieser und auch die kürzeren Berichte Schobers vermitteln einen Eindruck davon, in welcher F o r m an eine geographisch-naturwissenschaftliche Erschließung der noch u n b e k a n n t e n Weiten Rußlands herangegangen wurde. Bevor spezielle Forschungsaufträge erteilt werden konnten, m u ß t e versucht werden, einen allgemeinen Überblick zu gewinnen, wozu Schober nicht unwesentlich beigetragen hat. Während dieser ersten Reisen, denen weitere folgten, legte Schober den G r u n d f ü r sein „Herbarium vivum" mit fast 12 000 Stücken, und zwar „meistenteils in natura", w ä h r e n d die nicht zugänglichen „aus den bewährtesten Autoribus dazu gezeichnet und illuminieret" wurden. Bei den „Plantae officinales" h a t t e er entsprechend seinen medizinisch-pharmazeutischen Interessen „auch deren virtutes in mortis currandis und darzu dienliche Rezepte dabei angegeben". Dieses so beschriebene „Compendium botanicum" bot ein Erbe 1746 der Berliner Akademie d e r Wissenschaften zum Kauf an. 72 Ein weiteres von Areskin organisiertes Unternehmen w a r nach eingehender Vorbereitung die Reise Lorenz Langes u n d des Chirurgen Dr. Thomas Garwin nach Peking im J a h r e 1715.73 Dabei w u r d e zumindest auch erwogen, die Chinabeziehungen der Moskauer Jesuitenmission auszunutzen, obwohl m a n sich bew u ß t war, daß Peter I. die Verbindungen zwischen den Jesuiten in Moskau u n d in Peking „nicht gern sieht". 74 Sie bargen f ü r Rußland immer die Gefahr, im antirussischen Interesse der katholischen Kirche eingesetzt zu werden. G e r a d e die Ereignisse im Zusammenhang m i t der Flucht Aleksejs haben gezeigt, daß äußerste Zurückhaltung hier angebracht war. Schon w ä h r e n d ihrer Reise berichteten Lange und Garwin verschiedentlich über naturwissenschaftliche Ergebnisse, so ü b e r das Auffinden eines Mammuts. Sie teilten aber auch mit, daß Sibirien keineswegs so wild war, w i e m a n in Europa glaubte. 75 A m 23. Dezember 1717 t r a f e n sie wieder in Moskau ein. Ihre For71

72 73

74

75

Vgl. Istoriceskij ocerfc i obzor fondov, Bd. I, S. 89, 407; Bd. II, S. 226-228, sowie Sammlung russischer Geschichte, Bd. 7, Petersburg 1762, S. 1—154. G. F. v. Sand an Friedrich II., Berlin, 12. 8. 1746. AAW I: XV, 19, Bl. 103-103 r. Der Apotheker J. H. Nagel informierte Areskin mehrfach darüber. Vgl. AAN, F. 1, op. 3, Nr. 3, Bl. 18-18 r, 30-31 r, 33-33 r, 37-38. Vgl. auch R. Areskin an J. Ph. Breyne, Petersburg, 11. 4. 1718. LB Gotha, B 785, Nr. 42 (Konzept vom 7. 4. 1718. AAN, F. 1, op. 3, Nr. 2, Bl. 79). J. H. Nagel an R. Areskin, Moskau, 15. 4. 1715. AAN, F. 1, op. 3, Nr. 3, Bl. 83 bis 84. Vgl. L. Lange an J. D. Schumacher, Enisejsk, 15. 5. 1716; Irkutsk, 5. 8. 1716. AAN, F. 1, op. 3, Nr. 4, Bl. 211-212 r, 224-225 r; L. Lange an R. Areskin, Irkutsk, 5. 8. 1716. Ebd., Bl. 223—223 r. Lange war auch später in diplomatischer Mission in China. Vgl. Sladkovskij, M. I., Istorija torgovo-ekonomiceskich otnoSenij narodov Rossii s Kitaem (do 1917 g.), Moskau 1974, S. 119 ff.

Areskin und die Petersburger Akademie

25

schungen h a t t e n besonders den Naturwissenschaften u n d den A l t e r t ü m e r n gegolten, u n d der Erfolg w a r sehr groß. 76 Die Reise von Lange und Garwin erbrachte auch Informationen ü b e r die Auseinandersetzungen, die die Jesuiten in China damals beschäftigten u n d die sie in einen Gegensatz zur „Propaganda fide" in Rom gebracht hatten. 7 7 In der Form ging es bei diesem sogenannten „Ritenstreit" u m die Frage, wie weit christianisierte Chinesen ihrem alten Brauchtum weiter a n h ä n g e n d u r f t e n , w a s natürlich Rückwirkungen auf die Erfolge der Mission hatte. Den H i n t e r g r u n d bildete das Ringen u m Einfluß zwischen dem Vatikan u n d den katholischen europäischen Staaten, die im Interesse ihrer Handelsbeziehungen in Glaubensfragen nachgiebiger w a r e n als der Vatikan, besonders seit Beginn des 18. Jh., „wo so viele abendländische Seemächte u m Chinas Gunst warben". 7 8 Diese Auseinandersetzung w u r d e in eine Reihe gestellt mit der „Geschichte des Byzantinismus, des Gallikanismus, des Josefinismus oder Febronianismus" 7 9 , also vorwiegend mit Strömungen, die im Bereich der katholischen Kirche ideologischer Ausdruck der Übergangsepoche vom Feudalismus zum Kapitalismus w a r e n . F ü r Rußland w a r die Rolle der katholischen Kirche in China durchaus kein theoretisches, sondern ein zutiefst politisches Problem. Im F r ü h j a h r 1717 w a r e n die chinesischen Behörden gegen die Katholiken vorgegangen. Der päpstliche Visitator f ü r China und J a p a n , Kilian Stumpf SJ, den Lange als „Chef de l'astronomie ä Pequin" 8 0 bezeichnet hatte, w a n d t e sich d a r a u f h i n a m 25. J u n i 1717 an Peter I. mit der Bitte, einen Bericht über die Vorgänge in China auf dem Landwege durch Rußland an den Heiligen Stuhl leiten zu dürfen, „da alleine Rom ein Mittel verschaffen kann, w a n n der Sachen w a h r e Beschaffenheit daselbsten wird bekannt sein". Da zu jener Zeit aber keine Schiffsverbindung bestand, w a r f ü r Stumpf n u r der Weg über Rußland gangbar. Er appellierte an den „Religionseifer" Peters und verwies auf dessen Verdienste im Kampf „wider Türken, T a r t a r n u n d andere Ungläubige". 8 1 Abschriften dieses Briefes oder Informationen über die Vorgänge w u r d e n von Areskin nach Danzig, Zürich u n d Paris weitergeleitet, w a s einerseits ohne zarische Erlaubnis nicht möglich gewesen wäre, andererseits aber offensichtlich beabsichtigte Folgen haben mußte. Die Aktivität Areskins auf scheinbar rein kirchenpolitischem Gebiet wird n u r verständlich vor dem H i n t e r g r u n d der Auseinandersetzungen, die seit 1717 u m eine Union der katholischen mit der orthodoxen Kirche Rußlands g e f ü h r t wurden. 1717 hatten die Theologen der Sorbonne, die dem Jansenismus nahestanden, Peter einen auf eine Kirchenunion zielenden 76 77

78 79 80 81

Vgl. R. Areskin an J. Ph. Breyne, Petersburg, 11. 4. 1718. A. a. O. Vgl. dazu Jann, A., Die katholischen Missionen in Indien, China und Japan. Ihre Organisation und das portugiesische Patronat vom 15. bis ins 18. Jahrhundert, Paderborn 1915, S. 451 ff., 467, 485 f., 506 ff. Ebd., S. 448. Ebd., S. XIII. L. Lange an R. Areskin, Peking, 14. 4. 1717. AAN, F. 1, op. 3, Nr. 5, Bl. 155-158 r. Zitiert nach der Abschrift. LB Gotha, B 788, Nr. 349. Vgl. auch J. D. Schumacher an Clermont, Petersburg, 7. 4. 1718. AAN, F. 1, op. 3, Nr. 2, Bl. 76—78; R. Areskin an J. J. Scheuchzer, Petersburg, 7. 4. 1718. AAN, F. 1, op. 3, Nr. 2, Bl. 78-79.

26

Conrad Grau

Vorschlag übermittelt. Davon versprachen sie sich einen Vorteil f ü r ihre eigenen Auseinandersetzungen mit dem Vatikan über die antijansenistische Bulle „Unigenitus" von 1713. Die Gewinnung der russischen Kirche wäre ein sichtbarer Erfolg der Jansenisten gewesen und hätte ihre Stellung nicht unwesentlich gestärkt. Von russisch-orthodoxer und von protestantischer Seite (J. F. Buddeus in Jena) wurde entschieden gegen den Plan Stellung genommen. Die Ablehnung von russischer Seite war am stärksten bei den Anhängern der Aufklärung. Ihr Wortführer war der Erzbischof Feofan Prokopovic. Die der petrinischen Aufklärung zurückhaltend oder ablehnend gegenüberstehenden Kreise, deren Wortführer der Verweser des Patriarchenstuhls in Moskau, Stefan Javorskij, war, wollten wenigstens Verhandlungen mit den Katholiken aufnehmen. 82 Die Aktion Areskins, die die Schwierigkeiten innerhalb der katholischen Kirche und damit deren Schwäche sichtbar machen sollte, muß darüber hinaus auch in noch größeren Zusammenhängen gesehen werden. Als Ende 1716 der Thronfolger Aleksej aus Rußland geflohen war, hatte er sich unter den Schutz der führenden katholischen Macht Österreich gestellt. Nach langen Unterhandlungen konnte er zur Rückkehr veranlaßt werden. Im Januar 1718 war er wieder in Rußland. Der Prozeß gegen ihn belastete nicht nur die antipetrinischen Kräfte in Rußland selbst, sondern auch die kaiserliche Regierung und die Moskauer Jesuitenmission. Folgerichtig wurden die Jesuiten im Frühjahr 1719 aus Moskau ausgewiesen.® Die Überwindung der antipetrinischen Opposition war deshalb von so großer Bedeutung, weil durch sie auch das Reformwerk auf geistig-kulturellem Gebiet gefährdet werden konnte. Das dritte Unternehmen neben den Reisen Schobers sowie Langes und Garwins, das unter der Leitung Areskins stand, war die Erforschung der Heilquellen bei Dlonec. Areskin selbst wollte dort nach seiner Rückkehr mit dem Zaren aus Westeuropa Experimente anstellen. Die Balneologie war damals bereits ein wichtiger Zweig der medizinischen Wissenschaft. Die Reisen derjenigen, die es sich leisten konnten, in die Heilbäder Europas zu fahren, sind ein beredtes Zeugnis dafür. Ein Buch unter dem Titel „Bibliotheca Hydrographica cum Lexico Hydrologio oder vollständiges Verzeichnis aller bekannten Schriften, welche von denen Heil-, Gesund- und Sauerbrunnen, warmen und wilden Bädern, mineralischund metallischen Wassern, sowohl in als außerhalb Teuschland handeln", das 1729 erschien, konnte 471 Titel über 337 Bäder verzeichnen. 84 So wird verständlich, warum auch in Rußland Heilbäder so intensiv erforscht wurden. Bereits um die Jahreswende 1717/18 weilte L. Blumentrost in Olonec und bereitete ein Gutachten über die Wirksamkeit der Wasser vor, die er auf chemischem Wege („crez chimij") untersuchte. Unter ärztlicher Aufsicht mußten zudem abkommandierte Personen zehn Tage lang Wasser trinken, um dessen medizinische Wirkungen zu ermitteln. Nach der Abreise Blumentrosts wurden die Unter82

83 M

Vgl. zu den Hintergründen dieser Auseinandersetzungen Winter, Eduard, Rußland und das Papsttum, a. a. O., S. 37—39. Zum Jansenismus Heussi, Karl, Kompendium der Kirchengeschichte, 11., verb. Aufl., Berlin 1958, S. 376 f., 428 f. Vgl. eingehend Winter, S. 39 f. Vgl. Fränkische Acta erudita et curiosa, Sammlung 16, Nürnberg 1729, S. 304—306.

Areskin und die Petersburger Akademie

27

suchungen noch bis März 1718 fortgesetzt.85 Diese Kontrolle der Mineralquellen diente auch dazu, Aufenthalte russischer Staatsmänner vorzubereiten. Bruce wollte beispielsweise im Frühjahr 1718 zur Kur nach Olonec reisen.86 Ein Höhepunkt der Wissenschaftsorganisation in Rußland im zweiten Jahrzehnt des 18. Jh. war zweifellos die von Areskin vorbereitete Sibirienexpedition. Wegen der großen Bedeutung dieses Unternehmens für die Geschichte der Forschungsreisen in Rußland, für die deutsch-russischen wissenschaftlichen Beziehungen und für die Vorgeschichte der Petersburger Akademie der Wissenschaften muß seine Vorbereitung ausführlicher behandelt werden, wozu neue Quellen die Voraussetzung schaffen. Am 9. April 1718 traf der Mann in Petersburg ein, der mit Recht als der erste wissenschaftliche Erforscher Sibiriens angesehen wird: Daniel Gottlieb Messerschmidt. Er wurde am 16. September 1685 in Danzig geboren und studierte Medizin in Jena und Halle, wo er 1713 unter dem Präsidium von Friedrich Hoffmann „de ratione praeside universae medicinae" zum Doktor der Medizin promovierte, nachdem er sich neben medizinischen auch ausgezeichnete naturwissenschaftliche und pharmazeutische Kenntnisse angeeignet hatte, die ihm während seiner achtjährigen Sibirienreise zustatten kommen sollten.87 In Danzig, das zu Polen gehörte, lebten nicht nur Polen zusammen mit Deutschen, sondern am Gymnasium, das Messerschmidt besuchte, wurde auch die polnische Sprache gelehrt.88 Messerschmidt dürfte also der Zugang zu den slawischen Sprachen nicht völlig gefehlt haben, wenngleich keine Beweise dafür vorliegen, daß er die polnische oder die russische Sprache aktiv beherrscht hat. Die Gewinnung Messerschmidts, der in seiner Heimatstadt kein Auskommen fand, für Rußland war vor allem das Verdienst Areskins und des Danziger Patriziers und Arztes Johann Philipp Breyne. Areskins beabsichtigte Reise mit Peter I. nach Westeuropa wurde bereits im Februar 1716 signalisiert. „Ich habe mir die Freiheit genommen", schrieb der Rigaer Arzt N. Martini, „dem H. Dokt. Areskin, einem Engländer von Geburt, der mit Ihro Großzarischen Majestät nach Danzig gegangen, meinen Herrn und geneigten Freund bestens zu rekommandieren, weil er ein Mann von großen Meriten und Ihro Großzarischen Majestät Ober-Leib-Medicus ist, dem dieselbe den konsiderablen Handel von dero großen Apotheke anvertrauet. Er ist sehr kurios und hat eine ungemeine Notice von der Mathesi, Physica experimentan, Anatomia und andern partibus medi85

87

Vgl. G. W. Hennin an Peter I., Olonecer Eisenwerke, 5. 1. 1718; Mednye Zavody, Januar 1718; Petrovskie Zavody, 26. 1. u. 4. 3. 1718. CGADA, F. 9, 2 otdelenie (weiterhin: otd.), kniga (weiterhin: kn.) 35, Bl. 665-666, 674, 680—680 r, 670. Vgl. J. Bruce an R. Areskin, Petersburg, 3. 3. 1718. AAN, F. 1, op. 3, Nr. 6, Bl. 124 bis 125. Vgl. die Einleitung von Eduard Winter und N. A. Figurovski zu: Messerschmidt, D. G., Forschungsreise durch Sibirien 1720-1727, Teil 1, Berlin 1962, S. 1 - 2 0 ; Winter, Eduard)Jarosch, Günter/Uschmann, Georg, D. G. Messerschmidt als Erforscher Sibiriens. Zur Herausgabe seiner Tagebuchaufzeichnungen, in: Forschungen und Fortschritte, Jg. 37,1963, S. 234-237. Vgl. das Verzeichnis der Professoren bei Prätorii, E., . . . Danziger Lehrergedächtnis . . . , Danzig/Leipzig 1760.

28

Conrad Grau

cinae." Breyne sollte sich nicht die Gelegenheit entgehen lassen, unbedingt die Bekanntschaft Areskins zu machen.89 Ein Briefwechsel zwischen Breyne und Areskin liegt nur aus den Jahren 1717 und 1718 vor 90 , da beide vorher und auch zwischenzeitlich persönliche Kontakte unterhielten. Jedoch geben einige undatierte Schreiben Messerschmidts und Georg Remus', der durch Vermittlung Breynes ebenfalls in russische Dienste trat, aus den Jahren 1716 und 171791 einige ergänzende Aufschlüsse. Noch in Danzig erfüllte Messerschmidt A u f t r ä g e der russischen Regierung, worüber er an Breyne schrieb: „Ubersende auch zugleich das projet de vegetatione e t c . . . Es ist meines Bedunkens nicht unmöglich, dergleichen effectum zu produzieren, obgleich das Processus mir nicht bekannt sein kann. Ob aber Petersburg ope huius arificiosae vegetationis in der Förstung und Holzung zu verbessern sein werde, zweifele gar sehr propter frigidium forem tenellis arbusculis et virgultis infensissimum, w i e auch der Autor solches selbst gesteht. Doch wird es nicht gar sonder Nutzen sein." Hier ging es also um Planungen für die Umgestaltung der Natur im Bereich der russischen Hauptstadt. In einem anderen Brief Messerschmidts an Breyne wurde über „einige Risse" berichtet: „Urteilen Euer Edlen, daß selbige etwas zu Insinuierung meiner Person beitragen können, so könnte nachgehends ein oder anderes davon dem Herrn Hof rat Ascre [!] o f f e r i e r e n . . . " Hier dürfte Areskin gemeint gewesen sein. Darauf deutet auch ein Brief von 1716 hin, in dem Remus um die Unterzeichnung seines eigenen Anstellungsvertrages bat, „ehe daß H. Doktor Messerschmidt seinen Riß übergeben hätte". 92 Areskin hatte sich von Danzig aus mit Peter I. nach Westeuropa begeben, so daß weiterreichende Entscheidungen w i e die über Messerschmidt zunächst zurückgestellt werden mußten. Dennoch schrieb bereits A n f a n g November 1716 Messerschmidt an Areskin. Mehrfach berichtete Remus über seine Bemühungen für Messerschmidt. Breyne übersandte Areskin einen Bericht über Forschungsergebnisse Messerschmidts, der sich auf ständigen Exkursionen in die Umgebung von Danzig weiterbildete. 93 A l s Areskin im Herbst 1717 auf der Rückreise nach Rußland noch einmal kurz in Danzig war94, wurde offensichtlich auch endgültig über Messerschmidt entschieden. Breyne übersandte danach an Areskin ein Schreiben von Messerschmidt, über das dieser in einem undatierten Brief zuvor an Breyne geschrieben hatte: „Übrigens, weil Sie vermeinet, die Abschrift meines Briefes an Ihr. sa 80

91

92 93

94

N. Martini an J. Ph. Breyne, Riga, 9. 2. 1716. LB Gotha, B 789, Nr. 243. Die Briefe Areskins befinden sich LB Gotha, B 785, Nr. 41—42, die Konzepte der Briefe Breynes ebd., B 857 b unpag., die Ausfertigungen AAN. D. G. Messerschmidt an J. Ph. Breyne, 15. 6. 1717, sowie neun undatierte Briefe. LB Gotha, B 787, Nr. 206, 210—218; G. Remus an J. Ph. Breyne, 1716, o. D. Ebd., Nr. 288—289 (drei Briefe, zwei mit derselben Nummer). LB Gotha, B 787, Nr. 289. Vgl. D. G. Messerschmidt an R. Areskin, Danzig, VII Idus Nov. 1716. A A N , F. 1, op. 3, Nr. 4, Bl. 39-40; G. Remus an J. Ph. Breyne, Güstrow, 31. 12. 1716, 26. 1. 1717. LB Gotha, B 767, Nr. 291, 292; J. Ph. Breyne an R. Areskin, Danzig, 15. 10. 1717. Ebd. und A A N , F. 1, op. 3, Nr. 5, Bl. 179-180. Vgl. J. Ph. Breyne an R. Areskin, 15. 10. 1717. A. a. O.

Areskin und die Petersburger Akademie

29

Exzell. Herrn Geheimbten Rat Areskin zu sehen, h a b e selbige hie beilegen wollen, nebest freundlicher Bitte, selbigen bei müßigen S t u n d e n durchzulesen u n d wo etwas zu meiner Avantage übersehen oder auch vielleicht in expression u m zu frei geschrieben wäre, solches nach Gefallen nochmals a n Ihr. Exzell. zu schreiben, wie Sie mir letztens erwähnet, u n d Sie kein Bedenken tragen, meine f o r t u n e noch das letzte Mal zu rekommendieren." Hier w i r d deutlich, wie stark der Anteil Breynes an dem Eintritt Messerschmidts in russische Dienste war. In seinem hier in Rede stehenden Schreiben an Areskin bat Messerschmidt, „ut in indagenda praecipue r e r u m naturalium historia t u m etiam in musaeis S u a e Csareae Majestatis adornandis custidiendisque operam omnem atque fidem conferrem". Im Winter wollte er im Museum arbeiten u n d den Sommer auf Reisen verbringen, u m die dortigen Regionen zu erforschen. Anschließend ä u ß e r t e er sich ü b e r die Stellung, die er in Rußland einzunehmen gedachte: „Quum vero per munii istius leges Praefecti Musaeorum (Bibliothecam enim curae alius cuiusdam viri j a m j a m cessisse subaudio) ornamenta et legitimos honores in m e deferre d e c r e v e r i s . . . " Als Gehalt verlangte Messerschmidt 500 Rubel im J a h r e und entsprechende zusätzliche Vergütungen f ü r die Ausgaben, die er auf Reisen durch Rußland machen müßte. Außerdem erbat er die Überweisung von Geld f ü r die Hinreise nach Rußland. 9 5 Dieses Reisegeld in Höhe von h u n d e r t Talern u n d die Mitteilung über seine Anstellung ab 1. J a n u a r 1718 erhielt Messerschmidt u m die J a h r e s w e n d e 1717/18. Seine Abreise erfolgte Ende J a n u a r , A n f a n g F e b r u a r 171896, wobei B r e y n e die Gelegenheit nutzte, „to recommand him again as m y dear f r i e n d to Your care and most wished affection". 97 Martini, der Messer schmidt auf dessen Reise in Riga persönlich kennengelernt hatte, schlug Areskin vor, Messerschmidt nicht n u r in Rußland forschen zu lassen, sondern ihn auch nach China u n d Persien zu schicken, „um allerhand collectiones zu machen, denn gewiß, so weit sich meine Cognition in diesem studio [naturali] erstrecket, so h a b e w a h r h a f t i g nicht viele gefunden, die eine solche notice hierin gehabt haben". 9 8 Das große Interesse an naturwissenschaftlichen Informationen aus Osteuropa und Asien und der Erfolg, d e r Rußland durch die Gewinnung Messerschmidts gelungen war, w e r d e n hier gleichzeitig deutlich. Messerschmidt h a t die in ihn gesetzten Erwartungen nicht enttäuscht, wie die Forschungsergebnisse seiner Sibirienreise von 1720 bis 1727 ausweisen, die unmittelbar in die Arbeit der Akademie der Wissenschaften in Petersburg einflössen u n d die der Wissenschaft durch die Zusammenarbeit zwischen Forschern der DDR u n d der UdSSR erst 95

96

,J7 98

D. G. Messerschmidt an R. Areskin, Danzig, Prid. Id. Oct. 1717. AAN, F. 1, op. 3, Nr. 5, Bl. 10-11. R. Areskin an J. Ph. Breyne, Petersburg, 13. 12. 1717. LB Gotha, B 785, Nr. 41; J. Ph. Breyne an R. Areskin, Danzig, 15. 1. 1718. Ebd., B 857 b unpag. (Konzept); D. G. Messerschmidt an R. Areskin, Danzig, III Idus Jan. 1718. AAN, F. 1, op. 3, Nr. 6, Bl. 46-47. J. Ph. Breyne an R. Areskin, Danzig, vor dem 8. 2. 1718. LB Gotha, B 857 b unpag. (Konzept). N. Martini an R. Areskin, Riga, 7. 4. 1718. AAN, F. 1, op. 3, Nr. 6, Bl. 33-34.

30

Conrad Grau

jetzt ganz erschlossen werden. Areskin selbst, der einen hohen Anteil an der Anwerbung Messerschmidts hatte, erlebte allerdings die Verwirklichung der Erforschung Sibiriens nicht mehr. Nachrichten über Areskins Ende vermitteln Briefe G. W. Hennins aus Olonec, wo Areskin seine letzten Lebenswochen verbrachte. Die Quellen, an deren Erforschung er selbst nicht unbeteiligt gewesen war, sollten ihm jetzt dienen. In den von Hennin geleiteten Eisen- und Kupferwerken wurden zudem auch wissenschaftliche Instrumente für Areskin angefertigt.99 Seit November 1718 litt Areskin an Schwindelanfällen, und am 30. November 1718 ist er in den PeterWerken bei Olonec gestorben. Seine Leiche wurde seinem Wunsche entsprechend nach Petersburg überführt, wo er auf der Apotheker-Insel beerdigt werden wollte.100 Am 1. Januar 1719 wurde er jedoch im Alexander-Nevskij-Kloster in Petersburg beigesetzt. Der französische Gesandte rechnete es sich zur Ehre an, neben russischen Würdenträgern zu dieser Beerdigung eingeladen worden zu sein, wie er seiner Regierung am selben Tage mitteilte.101 In den 14 Jahren seines Dienstes in Rußland hat sich Robert Areskin im Rahmen der Reformpolitik als kulturpolitischer Mitarbeiter Peters I. um die Wissenschaftsorganisation und die naturwissenschaftlichen Forschungsreisen große Verdienste erworben. Das gilt insbesondere für seine letzten Lebensjahre, in denen er den Verbindungen zu ausländischen Wissenschaftlern seine meiste Aufmerksamkeit widmete. Im Zusammenhang mit der Intensivierung der wissenschaftlichen Forschung in Rußland nach dem Siege bei Poltava über die Schweden im Jahre 1709 und nach der endgültigen Überwindung der von türkischer Seite drohenden Gefahr durch den Pruthfrieden 1711 und den Vertrag von Adrianopel 1713 wuchs auch der Einfluß Areskins. Entsprechend der Vereinbarung zwischen Peter I. und Leibniz in Torgau im Herbst 1711 übernahm Areskin von Döhnel die Aufgabe, ausländische Wissenschaftler für Rußland zu interessieren. Die erhalten gebliebenen Dokumente zeigen Areskin als einen vielseitigen gebildeten Mann, der diesen Verpflichtungen durchaus gewachsen war. Sein am weitesten in die Zukunft wirkendes Verdienst war zweifellos die Gewinnung Messerschmidts.102 Mitten in den Vorbereitungen zu dessen allseitig geplanter Expedition nach Sibirien ist Areskin gestorben. Jedoch waren in Rußland genügend Kräfte vorhanden, die das Begonnene fortführten. Die Brüder Johann Deodat und Laurentius Blumentrost übernahmen das Erbe des schottischen Arztes auf den Gebieten der Wissenschaft, denen sich Areskin gewidmet hatte. Mit dem Namen von Laurentius Blumentrost ist die im Januar 1724 endVgl. G. W. Hennin an R. Areskin, 15. 7. 1714. AAN, F. 120, op. 1, Nr. 47. Vgl. G. W. Hennin an Peter I., Petrovskie Zavody, 25. 11. 1718, 30. 11. 1718, 3. 12. 1718. CGADA, F. 9, 2 otd., kn. 35, Bl. 6 7 6 a - 6 7 7 r , 649-649 r, 667-667 r ; G. W. Hennin an A. V. Makarov, Petrovskie Zavody, 25. 11. 1718, 16. 12. 1718. Ebd., Bl. 651-653, 650-650 r. im vgl. Sbornik Russkogo istoriceskogo obscestva, Bd. 40, Petersburg 1884, S. 3. 102 Vgl. Posselt, Doris, Daniel Gottlieb Messerschmidt (1685—1735). Wegbereiter für die Erforschung Sibiriens, in: WZ der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Math.Naturw. Reihe, 25. Jg., 1976, H. 2, S. 213-229. 1UU

Areskin und die Petersburger Akademie

31

gültig beschlossene Gründung der Akademie der Wissenschaften in Petersburg verbunden. Die Darstellung einiger Aspekte der Wissenschaftsorganisation und der naturwissenschaftlichen Forschungsreisen in Rußland im zweiten Jahrzehnt des 18. Jh. als Teil der petrinischen kulturellen Reformen dürfte gezeigt haben, wie eingehend die Akademiegründung vorbereitet wurde und wie weitgehend zur Vorgeschichte der Akademie auch die Arbeit Areskins gehört. Sein früher Tod ist neben der Quellenlage ein Grund dafür, daß seinem Wirken bisher nicht genügend Aufmerksamkeit entgegengebracht worden ist. Seine Leistungen wurden zu wenig als Bestandteil der russischen Kulturpolitik in der Zeit Peters I. gesehen, die das Werden der bürgerlichen Wissenschaft in Rußland unter den Bedingungen des Absolutismus in der Übergangsepoche vom Feudalismus zum Kapitalismus wesentlich stimuliert hat.

Karl Obermann

Zur Genesis der bürgerlichen Klasse in Deutschland von der Julirevolution 1830 bis zu Beginn der 40er Jahre des 19. Jahrhunderts

Als der amerikanische Diplomat Alexander H. Everett, Geschäftsträger der Vereinigten Staaten a m Niederländischen Hofe, nach einer Studienreise durch Deutschland u n d andere Staaten Europas seine Eindrücke u n t e r dem Titel „Europa oder Übersicht der Lage der Europäischen Hauptmächte im J a h r e 1821" veröffentlichte, stellte er fest, daß die Willkürherrschaft der F ü r s t e n doch nicht die fortschreitende bürgerliche Entwicklung a u f h a l t e n könne, u n d zwar auf G r u n d „derselben allgemeinen Ursachen . . . , welche die französische Revolution hervorgebracht haben". Es sei außer Zweifel, „daß die Revolution allmählig u n d nach u n d nach durch die Veränderungen, welche in dem Zustande der Gesellschaft vorgegangen sind, u n d die eine W i r k u n g des Fortschreitens d e r I n d u strie, des Wohlstandes und der Wissenschaft oder m i t einem Worte, der Zivilisation waren, hervorgebracht ist. In dieser V e r ä n d e r u n g des Zustandes d e r Gesellschaft besteht die w a h r e Revolution . . ," 1 1830 und in den nachfolgenden J a h r e n der industriellen Revolution zeigte sich deutlich, wie das i m m e r schnellere „Fortschreiten d e r Industrie" sich auf die Veränderungen der Gesellschaft auswirkte, d. h. w i e sie die Bewußtseinsentwicklung in allen Bevölkerungsklassen, u. a. im B ü r g e r t u m bestimmte. Auf dem Wege vom Wiener Kongreß 1815 bis zur Revolution von 1848 w a r die Julirevolution von 1830 in Frankreich m i t ihren A u s w i r k u n g e n in Belgien, Deutschland, Italien u n d Polen das entscheidende Ereignis, das die von Everett angedeutete Entwicklung beschleunigte. „Immer ist die Revolution von 1830 der P u n k t , aus dem das Übel seine Stärke zog, die es h e u t e zeigt u n d die n u r zunehmen k a n n . " So klagte der österreichische Staatskanzler Metternich, angesichts der zunehmenden Stärke der revolutionären Bewegung, im Schreiben vom 31. J a n u a r 1847 an den Botschafter in Paris, Graf Anton v. Apponyi. 2 Mit der Julirevolution 1830, in der eine Fraktion der französischen Bourgeoisie siegte, setzte überall der Aufschwung der bürgerlichen liberalen Bewegung ein. Friedrich Engels h a t am 12. April 1842 in seinem Artikel „Nord- u n d s ü d d e u t 1

2

Everett, Alexander H., Europa oder Übersicht der Lage der Europäischen Hauptmächte im Jahre 1821, Bamberg 1823, Erster Teil, S. 6 f. Staatliches Zentralarchiv (Stätni üstfedni archiv) SUA, Prag, Fonds Plasy, Acta Clementina, C 5, Extrait III, 31. 1. 1847.

3 Jahrbuch 16

34

Karl Obermann

scher Liberalismus" in der „Rheinischen Zeitung" dargelegt, daß „mit dem Jahr 1830 der politische Sinn in ganz Europa zu erwachen begann und nun auch in Deutschland der Liberalismus Gestalt annahm".3

Der Stand des industriellen Entwicklungsprozesses Deutschland befand sich beim Ausbruch der Julirevolution in der Vorbereitungsperiode der industriellen Revolution. Der in Gang gekommene industrielle Entwicklungsprozeß wurde jedoch erheblich durch die staatliche Zersplitterung Deutschlands und die noch vorherrschenden feudalbürokratischen Verhältnisse gehemmt.4 Dennoch waren in den 20er Jahren die „Voraussetzungen für den Durchbruch zum industriellen Kapitalismus" geschaffen worden.5 Das zeigte sich besonders in Preußen. Das Gewerbesteueraufkommen war in den 20er Jahren von Jahr zu Jahr gestiegen, und zwar in den Jahren 1824 bis 1828 um 282 862 Taler auf 1 935 413V2 Taler. Die Zahl der Handeltreibenden, d. h. der Kaufleute, aus deren Reihen die industriellen Unternehmer, die Aktionäre der Eisenbahnen u. a. Unternehmen kamen, stieg von 67 724 im Jahre 1819 auf 82 020 im Jahre 1825, und bis Ende der 20er Jahre erfolgte eine weitere bedeutende Steigerung.6 Der Stand der industriellen Entwicklung läßt sich am besten an der Zahl der jn Betrieb befindlichen Dampfmaschinen ablesen. Das „Verzeichnis der im preußischen Staat vorhandenen Dampfmaschinen 1830", das auf Grund einer Umfrage des preußischen Innenministers bei den Regierungspräsidenten vom 19. April 1830 zusammengestellt würde, nennt 245 Dampfmaschinen mit insgesamt 4485 PS. Davon entfielen auf die Schiffahrt 815 PS, auf Bergbau und Hüttenwesen 2382V2 PS und auf die übrigen Fabriken, darunter vor allem Spinnereien, Webereien, Papierfabriken, Zeitungsdruckereien und Maschinenbauanstalten 1287V2 PS. Die Mehrzahl der Dampfmaschinen arbeiteten im Rheinland, und zwar stand der Regierungsbezirk Aachen mit 61 Dampfmaschinen und zusammen 1109 PS an erster Stelle. Davon entfielen 766 PS auf Bergbau und Hüttenwesen und 343 PS auf Spinnereien und Tuchfabriken. Vor allem benutzten die belgischen Grubenbesitzer wie Charles Cockerill die Dampfmaschine zur Kohlenförderung und zum Wasserpumpen. An zweiter Stelle stand 1830 der Regierungsbezirk Düsseldorf mit 37 Dampfmaschinen und insgesamt 3

4

5

6

Engels, Friedrich, Nord- und süddeutscher Liberalismus, in: MEW, Ergänzungsband, Zweiter Teil, Berlin 1967, S. 246 f. Vgl. Motteck, Hans, Wirtschaftsgeschichte Deutschlands. Ein Grundriß, Bd. 2, Berlin 1964, S. 76. Vgl. Motteck/Blumberg, HorstJWutzmer, Heinz/Becker, Walter, Studien zur Geschichte der Industriellen Revolution in Deutschland, Berlin 1960, S. 26. Ferber, C. W., Beiträge zur Kenntnis des gewerblichen und commerciellen Zustandes der preußischen Monarchie, Aus amtlichen Quellen, Berlin 1829, S. 226 Tabelle, S. 236 f.

Zur Genesis der bürgerlichen Klasse

35

743 PS, davon entfielen 502 PS auf Bergbau und Hüttenwesen und 241 PS auf die Woll- und Baumwollspinnereien und Tuchfabriken. Von den 12 Dampfmaschinen mit insgesamt 689V2 PS im Regierungsbezirk Köln entfielen 640 PS auf die Rheinschiffahrt. Die 5 Dampfmaschinen mit insgesamt 41 PS im Regierungsbezirk Trier wurden in den Saargruben zur Kohlenförderung und Wasserhaltung verwendet. Im westfälischen Regierungsbezirk Arnsberg gab es in den Kreisen Dortmund, Hagen und Hamm erst 15 Dampfmaschinen und zusammen 161 PS, davon 103 PS in Gruben und Eisenwerkstätten und 58 PS in Spinnereien und Mühlen. Von den 5 Dampfmaschinen mit insgesamt 36 PS im Regierungsbezirk Münster liefen 4 mit insgesamt 26 PS in Bergwerken und Hüttenbetrieben und eine in einer Kunstbleiche. Unter den drei schlesischen Regierungsbezirken Breslau, Liegnitz und Oppeln mit insgesamt 40 Dampfmaschinen und zusammen 918 PS stand der Regierungsbezirk Oppeln mit 28 Dampfmaschinen und 772 PS in den Gruben und Hütten an erster Stelle. Dazu heißt es im Begleitschreiben des Regierungspräsidenten an den Innenminister v. Schuckmann vom 6. Juli 1830, daß von den 28 Dampfmaschinen „nur die erste in England, die übrigen aber alle hier neu gebaut worden sind". Außerdem wird darauf hingewiesen, daß von der Eisengießerei bei Gleiwitz in den Jahren 1814 bis 1828 noch 14 Dampfmaschinen für andere Provinzen und für das Ausland hergestellt wurden, und zwar 7 für Niederschlesien, eine für den Potsdamer Regierungsbezirk, 2 für Krakau und 4 für Polen. Im Bericht des Regierungspräsidenten von Breslau vom 23. Mai 1830, der nur 8 Dampfmaschinen mit zusammen 104 PS angeben konnte, wird die geringe Zahl damit begründet, daß größere Maschinenspinnereien, Papier- und andere Mühlen, Maschinenfabriken und Bierbrauereien am Wasser liegen und daher „die Wasserkraft gegen die Anwendungsart des Dampfes wegen des verhältnismäßig teuern Brennmaterials mit größerem Vorteil benutzen können und es an Maschinenarbeitern für Dampfapparate in der Provinz noch fehlt". Im Regierungsbezirk Liegnitz liefen 4 Dampfmaschinen mit zusammen 42 PS, davon lief eine 16-PS-Maschine in einem Eisenhüttenwerk, die übrigen in 2 Baumwollspinnereien, u. a. bei Cockerill & Comp. Der sehr rührigen belgischen Industriellenfamilie Cockerill war die Einrichtung von Fabriken mit Dampfmaschinen auch in anderen preußischen Regierungsbezirken zu verdanken. Von den 3 Dampfmaschinen mit zusammen 31 PS im Regierungsbezirk Frankfurt/Oder liefen zwei mit zusammen 28 PS in den Maschinenspinnereien der Gebrüder Cockerill. Der Bezirk Merseburg konnte nur 11 Dampfmaschinen mit zusammen 153 PS und der Bezirk Magdeburg nur 9 Dampfmaschinen mit zusammen 80 PS nachweisen, und zwar in Wollspinnereien, Müllereien, ölfabriken, Salzbergwerken, Kupfergruben und Eisenhüttenwerken. Es folgte der Regierungsbezirk Potsdam mit 6 Dampfmaschinen und 41 PS in Wollgarnspinnereien, ölfabriken und einer Schokoladenfabrik. Berlin selbst konnte jedoch 25 Dampfmaschinen mit zusammen 2264/2 PS melden, alle in gewerblichen Unternehmungen, und zwar 9 in Textilunternehmungen, 2 in Papierfabriken, 5 in Maschinenfabriken und 2 in Zeitungsdruckereien. In den östlichen Regierungsbezirken Marienwerder, Gumbinnen, Posen und Bromberg gab es gar keine Dampfmaschinen. Die Regierungsbezirke Stettin, Stralsund und Danzig konnten nur je zwei Dampfboote melden. Im Regierungsbezirk Königs3*

36

Karl Obermann

berg wurde eine Papiermühle und eine Getreidemühle mit je einer Dampfmaschine betrieben, zusammen 20 PS. Auch im westfälischen Regierungsbezirk Minden lief 1830 noch keine Dampfmaschine. 7 Dieses Bild von der Verteilung der Dampfmaschinen in Preußen kurz vor Beginn der industriellen Revolution gewährt einen Einblick in die unterschiedliche Wirtschafts- und Sozialstruktur der verschiedenen Regierungsbezirke und Provinzen. Als der Direktor des statistischen Büros in Berlin, C. F. W. Dieterici, 1846 die Entwicklung des Volkswohlstandes in Preußen von 1805 an untersuchte, lag ihm das Ergebnis dieser Dampfmaschinen-Umfrage nicht vor. Er stellte fest: „Dampfmaschinen waren 1805 im Preußischen Staat wohl noch sehr wenige oder gar keine in Fabriken. 1837 (von 1831 fehlen die Nachrichten, sie sind erst von 1837 an gesammelt) waren deren vorhanden: 421 mit 7507 Pferdekraft." 8 Diese Steigerung von etwa 70% gegenüber 1830 verdeutlicht den industriellen Aufschwung, der zu Beginn der 30er Jahre, beim Ubergang zur industriellen Revolution einsetzte. In den drei Jahren von 1837 bis 1840 stieg die Zahl der Dampfmaschinen in Preußen um fast 50 %, und die PS-Leistungen nahmen sogar um 63 % zu. Von den 634 Dampfmaschinen mit zusammen rund 12 000 PS liefen 28 % in Bergbaubetrieben, 27 % in Textilbetrieben und erst 15 % in Maschinenbauanstalten. 9 Der Rückstand gegenüber England war allerdings erheblich. In einem Vortrag über „die wirtschaftlichen Krisen und die Sozialreform" in einer Nürnberger Arbeiterversammlung im Jahre 1886 machte Bruno Schoenlank dazu folgende Angaben: „In England, dem Vaterlande der Dampfmaschine, gab es im Jahre 1810 bereits 5000 Dampfmaschinen, 1860 aber 70 000 mit 1 800 000 Pferdestärkeii, Lokomotiven und Schiffsmaschinen nicht mitgerechnet. In Preußen gab es 1837: 423 Dampfmaschinen mit 9639 Pferdestärken; 1861: 8699 Dampfmaschinen mit 365 631 Pferdestärken. In Sachsen gab es 1856: 708, 1870 bereits 3500 Dampfmaschinen." 10 Dieterici wies den industriellen Aufschwung in der Vorbereitungsperiode mangels Angaben über Zahl der Dampfmaschinen in Fabriken an Hand der ständig 7 8

9

10

ZStAM, Rep. 120 A, Abt. V, Fach V, Nr. 12, fol. 2-78. Dieterici, Carl Friedrich Wilhelm, Der Volkswohlstand im Preußischen Staate. In Vergleichungen aus den Jahren vor 1806 und von 1828 bis 1832, sowie aus der neuesten Zeit, Berlin 1846, S. 180 f. Vgl. Blumberg, Horst, Die Entwicklung des Kapitalismus in Deutschland von 1789 bis 1840, Wiss. Beiträge für den Geschichtslehrer, Nr. 6, Berlin 1970, S. 13. Die Zahlen von Blumberg ermittelt nach Angaben bei Abraham, K., Der Strukturwandel im Handwerk in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und seine Bedeutung für die Berufserziehung, in: Berufserziehung im Handwerk, H. 9, Köln 1955, S. 100. Schoenlank, Bruno, Die wirtschaftlichen Krisen und die Sozialreform. Nach einem Vortrag (gehalten in einer Nürnberger Arbeiterversammlung), Nürnberg 1886, S. 3. Schoenlank nannte keine Quelle für seine Angaben. Es ist möglich, daß die Angaben von Dieterici 1837 sich nur auf Dampfmaschinen in Fabriken beziehen, während die von Schoenlank genannte Zahl andere Dampfmaschinen mit einschließt.

Zur Genesis der bürgerlichen Klasse

37

wachsenden Zahl der Ziegeleien, Kalkbrennereien, Glashütten, Teeröfen und Mühlenwerke nach. Er nannte folgende für die „gestiegene Industrie" charakteristische Zahlen11: Industrien

1816

1831

Ziegeleien Kalkbrennereien Glashütten Teeröfen Sägemühlen Papiermühlen Zahl der Mühlen Zahl der Bütten

2 407 1208 78 669 2146 301 426

3 249 1 392 96 771 2 319 417 650

Außerdem stieg der Gesamtertrag der Bergwerke in Preußen von 1805 bis 1831 von 2 272 453 Taler auf 8 219 576 Taler, d. h. von 1 : 3,68. Weit über eine Million Taler entfielen allerdings 1831 auf die Bergwerke im Rheinland und in Westfalen.12 „Gestiegene Industrie" aber bedeutete verbesserte ökonomische und soziale Stellung der Unternehmer bzw. Fabrikbesitzer und damit beschleunigter Fortgang des Formierungsprozesses der bürgerlichen Klasse. Das Tempo des Wachstums der Industrie und des Handels war nicht in allen Provinzen und in allen deutschen Staaten das gleiche - und diese Tatsache beeinflußte maßgeblich das Tempo, in dem sich der Formierungsprozeß der bürgerlichen Klasse vollzog. So betrug die Zahl der Neugründungen von Betrieben mit mehr als 10 Arbeitern im Königreich Sachsen in den Jahren 1811-1820 nur 63, in den Jahren 1821 bis 1830 bereits 111. Sie stieg in den Jahren 1831-1840 auf 238.13 Statistische Angaben über die industrielle Entwicklung in den verschiedenen deutschen Staaten vor 1830 sind äußerst selten. So ist z. B. aus den für das Großherzogtum Baden vorliegenden Angaben folgende Fabrikentwicklung zu entnehmen: Vor 1836 gab es in Baden 152 Fabriken, die zusammen 7643 Arbeiter beschäftigten und Waren im Werte von 8 071 084 fl. (Gulden) produzierten. Darunter befanden sich 32 Baumwollfabriken, 22 Eisenfabriken, 3 Maschinenfabriken, 15 Tabakfabriken, 7 Wollefabriken und 18 Papierfabriken. Nach dem Anschluß von Baden an den deutschen Zollverein, nach 1836 bis etwa 1849 stieg die Zahl der Fabriken auf 183. Sie beschäftigten 9462 Arbeiter, die Waren im Werte von 10 729 630 fl. (Gulden) produzierten. Vor allem war die Zahl der Baumwollfabriken auf 112 gestiegen, die der Eisenfabriken auf 30, der Maschinenfabriken auf 9, der Tabakfabriken auf 24, der Wollefabriken auf 13 und die der Papierfabriken auf 28.14 11

12 13

14

Dieterici, C. F. W., Der Volkswohlstand, S. 188. Hier heißt es: „Bei den eigentlichen Fabriken fehlt uns die Nachricht von der Anzahl der 1816 und 1831 im Preußischen Staate vorhandenen Dampfmaschinen. Sie würde ein Hauptmoment abgeben für die gestiegene Industrie." Ebenda, S. 157. Vgl. Juckenburg, K., Das Aufkommen der Großindustrie in Leipzig, phil. Diss., Leipzig 1912, S. 145. Jahrbuch für Volkswirtschaft und Statistik, hrsg. von Otto Hübner, 5. Jg., Leipzig

38

Karl Obermann

Zwischen Fabrikenentwicklung, industriellem Aufschwung und dem Entwicklungs- und sozialökonomischen Differenzierungsprozeß der Bevölkerung bestehen enge Beziehungen. Zwar war die Zunahme der Fabriken noch nicht erheblich, aber sie wirkte sich doch mehr und mehr auf die Umwandlung der ökonomischen und sozialen Struktur aus und förderte den Formierungsprozeß der Klassen. Das ökonomische Fundament für eine bürgerliche Umwälzung in Deutschland war jedoch gegen Ende der 20er Jahre noch schwach. Der Heidelberger Geschichtsprofessor Karl Hagen weist darauf hin, daß die Einbeziehung einiger deutscher Nachbarstaaten in das preußische Zollsystem im Jahre 1828 die „Übelstände" nicht beseitigte, die den Aufschwung der Industrie hemmten, und mithin der Haß „gegen die Mauteinrichtungen, welche die Unvernunft der herrschenden Zustände am augenscheinlichsten erkennen ließen", mehr und mehr zunahm. Weiter schreibt Hagen: „Es gärte in der Nation gewaltig. Unzufriedenheit fast überall: wenn sie sich auch nicht zu äußern wagte, doch wie unterirdisches Feuer in den Gemütern glimmend: der Liberalismus, obschon äußerlich besiegt, dennoch in gewaltigem Fortschreiten begriffen, einen Teil der Literatur beherrschend: dazu eine tatkräftige Jugend, welche entschlossen war, selbst die Hand anzulegen, um dem Vaterlande bessere Zustände zu bereiten."15

Auswirkungen der Zum „süddeutschen

Julirevolution Liberalismus"

Auf der Grundlage der fortschreitenden sozialökonomischen Formierung der bürgerlichen Klasse zeigte sich auch eine stärkere politisch-ideologische Konstituierung bzw. Konsolidierung dieser Klasse, die vor allem durch die neuere Literatur, durch Börne und Heine positiv beeinflußt wurde.16 Durch die Julirevolution erhielt der politisch-ideologische Konsolidierungsprozeß in der bürgerlichen Klasse neue und starke Impulse. Die liberale bürgerliche Bewegung erhielt zum ersten Mal in Deutschland eine Massenbasis. Der Historiker und Zeitgenosse Hagen schreibt: „Die Nachricht von der Julirevolution . . . wurde überall vom Volke mit der größten Begeisterung aufgenommen. Sie zündete fast allenthalben wie ein elektrischer Funken. Denn sofort begann eine große Regsamkeit der Geister, und diese Nation, welche noch kurz vorher in Teilnahmslosigkeit an den öffentlichen Zuständen versunken zu sein schien, war wie plötzlich zu neuem Leben erwacht und gesonnen, die Politik nun ebenfalls in die Hand zu nehmen."17

15 16 17

1857, S. 81. Vgl. für Baden auch Fischer, Wolfram, Der Staat und die Anfänge der Industrialisierung in Baden, Berlin 1962; für Bayern Zorn, Wolf gang, Die wirtschaftliche Struktur Bayerns im Vormärz (1815—1848), in: Oberbayr. Archiv, München, 93, 1971, S. 190 f. Hagen, Karl, Geschichte der neuesten Zeit vom Sturze Napoleon's bis auf unsere Tage, Bd. 2, Braunschweig 1851, S. 110, 127. Ebenda, S. 120 f. Ebenda, S. 127.

Zur Genesis der bürgerlichen Klasse

39

Das Vorwort einer 1831 in Leipzig veröffentlichten anonymen Schrift ü b e r „Die politischen S t ü r m e Europas" beginnt mit der Feststellung: „Die unruhigen A u f tritte des J a h r e s 1830 w ä h r e n d der zweiten H ä l f t e desselben sind so zahlreich, so weit verbreitet, vielleicht in so innigem V e r b ä n d e u n t e r einander gewesen, daß sie in ihrer A r t einen merkwürdigen Abschnitt der Geschichte desselben machen werden." Die Ereignisse in Deutschland w e r d e n d a n n mit den Worten eingeleitet: „Der August w a r noch nicht ganz vorüber, als die Pariser Revolution auch in Deutschland eine Nachahmung fand, wie sich hier Tausende nicht h ä t ten t r ä u m e n lassen." 18 Die Julirevolution in Paris bildete f ü r die bürgerlich-liberale Opposition in Deutschland den entscheidenden Anstoß zu einer stärkeren Aktivität. Der H a n d lungsstand Leipzigs, d. h. die K a u f l e u t e dieser Stadt, erklärten im September 1830 in einer Petition, die auf die zahlreichen Übel u n d Gebrechen a u f m e r k s a m machte, im abschließenden Satz zuversichtlich: „Veraltete F o r m e n w e r d e n dem jetzigen S t a n d p u n k t der Ausbildung und dem D r a n g e der Verhältnisse weichen." 19 In Sachsen, in den hessischen Staaten, in Braunschweig u n d in Hannover n a h m die Massenbewegung revolutionären Charakter an. Im L a u f e der K ä m p f e gegen das alte feudalabsolutistische Fürstenregime gelang es dem liberalen Besitzbürgertum, gemäßigte konstitutionelle Reformen durchzusetzen bzw. Konzessionen zu seinen Gunsten zu erlangen. 20 Die bürgerliche Klasse b e f a n d sich 1830 in Deutschland erst in den Anfängen der Formierung, und auf G r u n d d e r bestehenden politischen und ökonomischen Zersplitterung u n d d e r damit zusammenhängenden unterschiedlichen sozialökonomischen Entwicklung in den verschiedenen Ländern u n d Provinzen w a r sie noch außerordentlich zersplittert; vor allem in politischer Hinsicht zeigte sie sich nicht fähig, einheitlich u n d entschlossen aufzutreten. Die langsamen strukturellen Wandlungen innerhalb der bürgerlichen Klasse, d. h. die Veränderungen in den Besitzverhältnissen, h a t t e n spezielle Gliederungen u n d Schichtungen zur Folge u n d f ü h r t e n zur stärkeren Ausprägung sozialer Gegensätze zwischen Groß- und Kleinbürgertum, zwischen Bürgertum u n d der sich formierenden Arbeiterklasse. Aber die Ereignisse, die von der Julirevolution u n d ihren politisch-ideologischen Anregungen beeinflußt wurden, wirkten sich unbedingt auf die Bewußtseinsentwicklung der b ü r g e r lichen Klasse aus u n d beschleunigten seit 1830 den Prozeß der politisch-ideologischen Formierung dieser Klasse, wobei sich zugleich die Fortschritte u n d ihre Grenzen zeigten. In der Entwicklung der bürgerlichen politischen Ideologie, des Liberalismus in Deutschland, zeichnet sich zunächst die Tendenz ab, fortschrittliche bürgerliche Ideen aus der Zeit der französischen Revolution aufzunehmen, sie ihren eigenen 18

Die politischen Stürme Europa's oder flüchtige Skizze der vorzüglichsten Unruhen, welche während des Jahres 1830 in Europa stattfanden, Leipzig 1831, Vorwort und S. 46. 19 Die sächsische Revolution oder Dresden und Leipzig in den Jahren 1830 und 1831. Hrsg. von D. Stolle, Leipzig 1835, S. 149-163. Anlage A. 'M Vgl. Obermann, Karl, Deutschland von 1815 bis 1849, Lehrbuch der deutschen Geschichte (Beiträge) 6, 4. überarb. Aufl., Berlin 1976, S. 70 f.

40

Karl Obermann

.Theorien und Forderungen zugrunde zu legen, abstrakte Programme aufzustellen, was durch die zurückgebliebenen kleinstaatlichen Verhältnisse in Süddeutschland bedingt war.21 Engels sagt von dem nach 1830 in der breiten Oppositionsbewegung zunächst bestimmenden süddeutschen Liberalismus, daß sein Inhalt „sehr ins Allgemeine" ging, zwar „einen allgemeinen Zweck, die gesetzliche Freiheit" hatte, aber „ihre Kraft an eine momentane Aufregung, an die Rückwirkung eines bloß äußerlichen Ereignisses, der Julirevolution, geknüpft war, und als diese nachließ, mußte auch sie entschlummern".22 Vor allem war das offene Auftreten für Pressefreiheit von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die Verbreitung liberaler Anschauungen und stärkte außerordentlich das bürgerliche Selbstbewußtsein. In seinem Antrag auf Gewährung der „vollkommenen und ganzen Preßfreiheit" vom 25. November 1830 an die Bundesversammlung in Frankfurt a. M., der auch als Flugschrift verbreitet wurde, erklärte der Professor für Staatsrecht, C. Th. Welcker, Freiburg, die „vollkommene Wahrheits- und Mitteilungsfreiheit" müsse „für den allgemeinsten und dringendsten aller vaterländischen Wünsche" betrachtet werden, „von dessen baldmöglichster Erfüllung vor allem das Heil unserer Zukunft, die glückliche Entwicklung der neueren Zeit- und Kulturverhältnisse abhängig ist".23 Der Ruf nach Pressefreiheit kennzeichnet das Emanzipationsstreben der bürgerlichen Klasse, ihren fortschreitenden politischen Formierungsprozeß. In dieser Bewegung für eine freie Presse zeigt sich offen ein bürgerliches Selbst- bzw. Klassenbewußtsein, das darauf bedacht ist, sich durchzusetzen, die bürgerlichen Interessen zu allgemeinen nationalen Interessen zu erheben. Johann Georg August Wirth, Herausgeber der oppositionellen Zeitung „Deutsche Tribüne", erst in München, später in Homburg in der Rheinpfalz, rief am 15. Oktober 1831 zur Unterstützung der oppositionellen Presse auf. Hier heißt es: „Den Widerstand der Aristokraten zu überwinden, ist die Aufgabe unseres Zeitalters. Das Mittel dazu ist die Presse. . . . Die periodische Presse wird unüberwindlich, wenn sie, der treue Widerhall der Gesinnung der Nation, im Volke auch eine feste Stütze findet. Es ist dann nicht der einzelne, welcher wider die Feinde der Nation den Kampf führt, sondern die öffentliche Meinung des Volkes, die sich aus allen Teilen des Landes in den Journalen fortwährend kundgibt.. .',24 21 22

23

24

Vgl. Marx, KarlJEngels, Friedrich, Die deutsche Ideologie, in: MEW, Bd. 3, S. 179. Engels, Friedrich, Nord- und süddeutscher Liberalismus, in: MEW, Ergänzungsband, Schriften bis 1844, 2. T., S. 247; vgl. auch Hildebrandt, Gunther, Programm und Bewegung des süddeutschen Liberalismus nach 1830, in: JfG, Bd. 9, 1973, S. 7 ff. Welcker, C. Th., Die vollkommene und ganze Preßfreiheit nach ihrer sittlichen, rechtlichen und politischen Notwendigkeit und ihrer Übereinstimmung mit deutschem Fürstenwort und nach ihrer völligen Zeitgemäßheit dargestellt in ehrerbietigster Petition an die Hohe Deutsche Bundesversammlung, Freiburg 1830, in: Obermann, Karl, Einheit und Freiheit. Die deutsche Geschichte von 1815 bis 1849 in zeitgenössischen Dokumenten, Berlin 1950, S. 105—107. Deutsche Tribüne, Nr. 105, 15. 10. 1831, in Obermann, Karl, Einheit und Freiheit, S. 108.

Zur Genesis der bürgerlichen Klasse

41

Die Unruhen in verschiedenen deutschen Staaten, die die Fürsten genötigt hatten, einigen Konzessionen zuzustimmen und gemäßigte Verfassungen zu gewähren, das entschiedene Auftreten und Aufbegehren der sich formierenden bürgerlichen Klasse beunruhigten die feudale Reaktion; sie sah sich bereits durch die liberale Bewegung in ihrer Herrschaft bedroht. Der österreichische Staatskanzler Metternich, eines der führenden Häupter der Reaktion in Europa, erwog, den Bundestag einzusetzen, um Maßnahmen zur Unterdrückung der bürgerlichen Bewegung zu ergreifen. Am 15. November 1831 schrieb Metternich an seinen Botschafter Graf Anton v. Apponyi in Paris: „In diesem Augenblicke sind es die Angelegenheiten Deutschlands, die uns sehr beschäftigen. Dieses Land befindet sich in einer erstaunlichen Unordnung. Die Fürsten haben, indem sie den Ratschlägen des Liberalismus stets Folge geben und Souveränität mit Demokratie machen zu wollen scheinen, ihre Macht auf Null reduziert. Glücklicherweise besteht der Bund und werden wir ihn ehestens in Bewegung setzen. Es wird nicht leicht sein, die Schlacht zu gewinnen, aber sie muß es, denn sonst ist Deutschland verloren." 25 Da die industrielle Entwicklung langsam aber ständig voranschritt, konnte auch der Formierungs- und Emanzipationsprozeß der bürgerlichen Klasse zwar erschwert, aber nicht mehr aufgehalten werden. In der von Wirth am 3. Februar 1832 in der „Deutschen Tribüne" veröffentlichten programmatischen Erklärung „Deutschlands Pflichten" des am 29. Januar 1832 in Zweibrücken auf einem Fest zu Ehren des Advokaten und oppositionellen bayerischen Landtagsabgeordneten Friedrich Schüler gegründeten „Preß- oder Vaterlandsvereins" wurde die Auffassung vertreten: „Das Mittel zur Wiedervereinigung Deutschlands im Geiste ist aber einzig und allein die freie P r e s s e . . . Es kommt jetzt nur darauf an, die Presse, wo sie frei ist, gegen die faktische Gewalt der Könige zu schützen und dann zum Gemeingut der deutschen Nation zu erheben." 26 Bei der Propaganda für den Preßverein, die am 6. Februar mit dem Versand von 50 000 Sonderdrucken dieses Aufrufs an zahlreiche Adressen, namentlich von Kaufleuten, in ganz Deutschland begann, gingen Wirth und seine liberalen Freunde von der Vorstellung aus: „Schließt sich jeder Deutsche, dem die heilige Sache am Herzen liegt, diesem Vereine an, so ist zur Wiedergeburt Deutschlands und der .Organisation Europas im demokratischen Sinne, auf gesetzmäßigem Wege der Grundstein gelegt." Der Aufruf entsprach der politischen Überzeugung des fortschrittlichen, oppositionellen liberalen Bürgertums, das in dem Glauben lebte, es genüge, seine Meinung und Grundsätze zu verbreiten bzw. eine Organisation zur Unterstützung der freisinnigen Presse zu schaffen, um auf friedlichem Wege ein einiges demokratisches Deutschland herzustellen. So fand der Aufruf ein starkes Echo; auf Grund der zahlreichen Beitrittserklärungen von Studenten, Kaufleuten, Gewerbetreibenden aus einer Anzahl Städte verschiedener deut-

26

SUA, Prag, Fonds Plasy, Acta Clementina, C 5, Extrait XXIII, 15. 11. 1831; vgl. Obermann, Karl, Unveröiientl. Materialien zur Diplomatie Metternichs 1821—1848, in: Mitteilungen des österreichischen Staatsarchivs, Bd. 19, Wien 1966, S. 225 f. ZStAM, Rep. 89, C XII, Nr. 40, vol. 1; vgl. Schneider, G. H., Der Preß- oder Vaterlandsverein 1832/33, Berlin 1897, S. 24 f.; vollständiger Text in Obermann, Karl, Einheit und Freiheit, S. 109-113.

42

Karl Obermann

scher Staaten erhielten die bürgerlichen Bestrebungen immerhin eine wichtige organisatorische Grundlage. Trotz Verbote und Verfolgungen in Bayern, Preußen und anderen deutschen Staaten breitete sich die Bewegung aus. In Wörrstadt und Bingen versandten Kaufleute die Schriften des Vereins an ihre Kunden. Im Großherzogtum Baden beteiligten sich viele Zeitschriften an der Mitgliederwerbung. Eine Gruppe Heidelberger Studenten, die zu den ersten Mitgliedern des Vereins gehörten, hatte Beziehungen zu ihren Kommilitonen an preußischen Universitäten, namentlich in Berlin und Halle aufgenommen. Bei der Verbreitung der beiden Zeitungen des Preßvereins spielte der Buchhandel in Preußen und Sachsen eine wichtige Rolle. Teilweise drangen die Schriften über den Leipziger Buchhandel in Preußen ein. Das provisorische Komitee des Preßvereins hatte ebenfalls sämtliche Buchhändler in Preußen mit Material beliefert. Wie der preußische Innenminister am 11. April 1832 dem König berichtete, hatten auf Grund einer Anweisung des Innenministeriums Buchhändler „in Halle, in Königsberg, in Minden, in Köln usw." die Sendungen abgeliefert, doch war es den Behörden keineswegs gelungen, alle Sendungen sicherzustellen. Der Bericht des Innenministers vom 11. April 1832 enthält eine ganze Reihe wichtiger Angaben über die umfangreiche Tätigkeit der Preßvereins-Mitglieder. Ein besonderes Augenmerk richtete er auf die dem Verein angehörenden Heidelberger Studenten. So heißt es im Bericht: „In Bonn sind auch wirklich Einladungen zu dem Verein durch einen von Heidelberg kommenden Studenten verteilt worden, weswegen die nötigen Untersuchungen von mir eingeleitet sind, und da mir zugleich gemeldet wurde, daß mit einer bedeutenden Anzahl solcher Einladungen ein Student von Bonn sofort weiter nach Göttingen hingezogen sei, so habe ich hiervon nicht n u r das Ministerium f ü r auswärtige Angelegenheiten zur Benachrichtigung des Königlich Hannoverschen Ministeriums und anderer deutscher Regierungen, sondern auch die Universitätsbehörden hier und in Halle unterrichtet." Der Minister versicherte dem König, daß er bestrebt sei, möglichst alle Mitglieder des Vereins von Preußen fernzuhalten. Im Bericht heißt es weiter: „Im Süden und Westen Deutschlands nimmt der Verein sehr zu; über 120 Studenten zu Tübingen sind demselben beigetreten; in Rheinhessen, Bayern, Württemberg usw. zählt derselbe viele Teilnehmer. Zwar haben alle diese Regierungen besondere gesetzliche Maßregeln dagegen getroffen. Die Ausführung scheint aber dem Zweck nicht zu entsprechen; denn nach einer in der deutschen Tribüne abgedruckten Bekanntmachung des Vereins de dato Zweibrücken den 15. vorigen Monats standen demselben schon damals 9 bis 10 000 Gulden jährlich zur Disposition und man ging damit um, ein definitives Zentralkomitee zu konstituieren. Bei der hohen und immer wachsenden Wichtigkeit dieses Vereins werde ich demselben fortdauernd die höchste Aufmerksamkeit widmen und namentlich jede Spur seiner etwaige^ Verbreitung in Eurer Königlichen Majestät Staaten auf das Sorgfältigste verfolgen." 2 ' Die Sorgen der preußischen Regierung wegen der Ausbreitung des Preß- und Vaterlandsvereins wurden noch vermehrt durch ein Schreiben des Hannoverschen Staats- und Kabinettsministers, Bremer, an den preußischen Gesandten, ZStAM, Rep. 89, CXII, Nr. 36, fol. 2/3.

Zur Genesis der bürgerlichen Klasse

43

Graf v. Maltzan, vom 18. April mit der Mitteilung, daß Postangestellte den Versand der patriotischen Schriften des Vereins fördern und decken.28 Der Regierungspräsident in Merseburg, v. Rochow, bezeichnete noch im Juli 1832 das „Bibliographische Institut" in Hildburghausen und die „Heinrich Frankesche Buchhandlung" in Leipzig mit ihrer Filiale in Naumburg als diejenigen Unternehmen, die den Vertrieb der patriotischen Blätter von Wirth und Siebenpfeiffer in Preußen und den sächsischen Staaten durch zahlreiche Boten organisierten.29 Der Preß- oder Vaterlandsverein muß als eine bemerkenswerte Erscheinung im politischen Entwicklungsprozeß der bürgerlichen Klasse in Deutschland zu Beginn der 30er Jahre, also nach der Julirevolution in Frankreich und nach den Unruhen in verschiedenen deutschen Klein- und Mittelstaaten betrachtet werden. Zweifellos hatte diese vom Preßverein ausgelöste Bewegung breite Kreise des kleinen und mittleren Bürgertums in den Klein- und Mittelstaaten Südund Südwestdeutschlands erfaßt und ermutigt, und der Aktivität der Buchhändler und der Studenten war es zu verdanken, daß sie auch bürgerliche Kreise in Preußen und Sachsen beeinflußte. Die Vorgänge in dieser Bewegung, die begeisterte Stimmung, die sich namentlich auf den zahlreichen Solidaritätskundgebungen zum Empfang der polnischen Flüchtlinge wie auch auf dem Hambacher Fest, diesem ersten großen deutschen Nationalfest im Mai 1832, äußerte, waren charakteristisch für die Bewußtseinsentwicklung, die innerhalb der Emanzipationsbestrebungen der bürgerlichen Klasse in Deutschland vor sich ging. Die weitere Ausprägung einer bürgerlichen Ideologie, die von dem Gedanken beseelt war, allein durch die Kraft ihrer Ideen, ihrer gerechten bürgerlichen Ansprüche zu siegen, förderte den Aufschwung der antifeudalen bürgerlichen Bewegung. So vertrat „Der Volksfreund, ein Blatt für Bürger in Stadt und Land", eines der süddeutschen Organe, die den Preßverein unterstützten, den Standpunkt, daß das Verbot des Preßvereins, der von Tag zu Tag mächtiger wurde, dem Bundestag und den Regierungen wenig nütze, denn „auch ohne Preßverein wird, und muß die öffentliche Meinung in Deutschland im Kampf um die Wiedereroberung ihres Schildes: Preßfreiheit den Sieg erringen", weil die „Edlen" im Volke überall einen unsichtbaren „allgewaltigen Bund" bilden, der schließlich „die Dekrete des Absolutismus" zerreißen würde.30

Anfänge des „norddeutschen

Liberalismus"

Diese Auffassung von der Kraft der bürgerlichen Ideen im Kampf gegen absolutistische fürstliche Willkürherrschaft kennzeichnet die bürgerlich-liberale Oppositionsbewegung, die sich im wesentlichen auf die Masse des kleinen und mittleren Bürgertums stützte. Sie bildete eine notwendige Übergangserscheinung 28

30

Vgl. ebenda, Rep. 77, Tit. 509, Nr. 1, vol. 1, fol. 71. Vgl. ebenda, Tit. 506, Nr. 3, vol. 1. Der Volksfreund, ein Blatt für Bürger in Stadt und Land, Nr. 3, 26. 5. 1832.

44

Karl Obermann

im Prozeß der politisch-ideologischen Formierung der bürgerlichen Klasse in der Vorbereitungsperiode der industriellen Revolution in Deutschland, als im umfassenden sozial-ökonomischen Differenzierungsprozeß des „dritten Standes", d. h. des gewerblichen und handeltreibenden Bürgertums, bzw. im Umwandlungsprozeß der Eigentums- und Einkommensverhältnisse sich diese Klasse noch keineswegs eine feste sozialökonomische Grundlage gesichert hatte. Die politisch-ideologischen Auseinandersetzungen innerhalb des Preßvereins, während des Hambacher Festes und während der Vorbereitung des Frankfurter Wachensturmes vom 3. April 1833 zeigten deutlich die Grenzen diesér Bewegung des j,süddeutschen Liberalismus" mit ihren Theorien und Proklamationen. J e stärker mit der industriellen Entwicklung Anfang der 30er Jahre die sozialökonomische Position des Großbürgertums, der angehenden Bourgeoisie, wurde, desto mehr verschaffte sich eine politische Konzeption Geltung, die sich nicht auf die Proklamation von Ideen, sondern auf reale, den Bedingungen entsprechende Forderungen konzentrierte bzw. bestrebt war, von den erlangten sozialökonomischen Positionen aus auch politische Forderungen durchzusetzen. Hier zeigten sich die Anfänge des „norddeutschen Liberalismus", der in seiner politischen Ideologie von den materiellen und politischen Interessen der industriellen Bourgeoisie ausging und von dem Engels sagte, daß er „eine Bestimmtheit in seinen Forderungen, ein festes Verhältnis von Mittel und Zweck" habe und „seine Gesinnung als ein notwendiges Produkt der nationalen Bestrebungen und darum selbst als national erscheint". 31 Das schrieb Engels im Jahre 1842, als sich dieser Liberalismus in seiner ganzen Kraft zeigte. 10 Jahre vorher, am Vorabend der industriellen Revolution, zeigten sich bei den Vertretern des Besitzbürgertums, der aufsteigenden Bourgeoisie, die ersten Anzeichen einer Hinneigung zur neuen deutschen Literatur und zur neueren deutschen Philosophie, zu Börne, Hegel und seinen Nachfolgern, aber zugleich eine Distanzierung von radikalen demokratischen Bestrebungen im Kleinbürgertum und namentlich in der sich formierenden Arbeiterklasse. Das unterschiedliche Verhalten der verschiedenen Kreise des Bürgertums fand in den Berichten preußischer Beamten und Agenten besondere Beachtung. In dem Promemoria, das der preußische Landrat v. Sparre aus Wetzlar nach einer Erkundigungsreise durch die beiden hessischen Staaten schrieb und das am 27. April 1832 über den Oberpräsidenten der Rheinprovinz an den preußischen Innenminister geleitet wurde, werden die zahlreichen aktiven Mitglieder der Preßvereine und der Polen-Komitees als „Ultraliberale" bezeichnet. Es wird zugegeben, daß vor allem bei den Polenfeiern sich auch „achtbare" Bürger vom Mitleid mitreißen ließen und „nicht zurückstehen konnten und durften", um den Flüchtlingen zu helfen. Doch sei bei diesem Teil der Bürger „eine wahre und treue Ergebenheit, Anhänglichkeit und Liebe für Fürst und Vaterland" festzustellen.32 General-Major v. Boyen, der im April 1832 in preußischem Auftrag in die Pfalz reiste, berichtete ebenfalls von einem „wohlhabenderen Teil der Bevölkerung", der „nichts von Umkehr der Dinge wissen will, und versteht ai 32

MEW, Ergänzungsband, 2. T., S. 248. ZStAM, Rep. 77, Tit. 509, Nr. 7, vol. 1, fol. 111-116.

Zur Genesis der bürgerlichen Klasse

45

es die Obrigkeit, kräftig aufzutreten und sich dieser Leute, ohne sie zu kompromittieren oder der Gefahr auszusetzen, zu bedienen, so wird Ruhe und Ordnung in jenen Provinzen bald herzustellen sein".33 Im sozialökonomischen wie auch im politisch-ideologischen Konsolidierungsprozeß der bürgerliciien Klasse spielte die angehende rheinische Bourgeoisie eine bedeutende Rolle. Wie bereits nachgewiesen, befand sich in den rheinischen Regierungsbezirken Aachen, Düsseldorf und Köln der Schwerpunkt der industriellen Entwicklung, so daß sich hier der Kern der „entscheidenden Fraktion der deutschen Bourgeoisie" formieren konnte.34 Namhafte Vertreter der angehenden rheinischen Bourgeoisie der Fabrikanten, Großkaufleute und Bankiers wie Camphausen und Hansemann verhielten sich gegenüber den Ereignissen nach der Julirevolution keineswegs politisch uninteressiert, im Gegenteil, sie waren von Anfang der 30er Jahre an bestrebt, ihren auf Grund zunehmender sozialökonomischer Bedeutung erlangten Einfluß in der Gesellschaft auch politisch zur Geltung zu bringen. Der Aachener Großkaufmann und Gründer der Aachener Feuerversicherungsgesellschaft David Hansemann sah sich durch die revolutionären Ereignisse in Belgien und die Arbeiterunruhen in Aachen veranlaßt, dem preußischen König am 31. Dezember 1830 eine Denkschrift „Über Preußens Lage und Politik am Ende des Jahres 1830" zu übersenden. Er verfolgte mit der Denkschrift den Zweck, dem König nahezulegen, politische Reformen vorzunehmen, um einem konstitutionellen Preußen eine führende Rolle in Deutschland zu sichern. Die Regierung solle sich nicht nur auf einen Beamtenapparat stützen, sondern auf „die Nation". Dabei vertrat Hansemann den Grundsatz, daß deren Kraft „vorzüglich in dem Vermögen, der Fähigkeit und der Erfahrung der Staatsbürger" bestehe. Es komme also nicht auf eine nach der Kopfzahl bestimmte Majorität des Volkes an, sondern auf diejenigen, die „durch größere Bildung mehr Einsicht und durch Vermögen größeres Interesse für das Bestehen einer festen, kräftigen und guten Staatsregierung" haben. „Die Erbteile der Feudalzeit" völlig zu beseitigen, dagegen „die Ausdehnung des Handels und der Industrie" und die seit der Aufklärung entstandene „öffentliche Meinung", d. h. „Vermögen und Kenntnisse" als „neue Kraft des Staates" anzuerkennen, also den Staat mit den Bedürfnissen und Interessen der sich formierenden Bourgeoisie in Einklang zu bringen, darin sahen nicht nur Hansemann, sondern auch andere Vertreter der rheinischen Bourgeoisie bereits in den 30er Jahren den eigentlichen „Kampf der Zeit".35 33

M

Ebenda, Nr. 1, vol. 1, fol. 62/63. MEW, Bd. 4, S. 52; vgl. auch MEW, Bd. 7, S. 116. Hansen, Joseph, Rheinische Briefe und Akten zur Geschichte der politischen Bewegung 1830-1850, Bd. 1 (1830 bis 1845) (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde XXXVI), Essen 1919, S. 11 f.; ferner Bergengrün, Alexander, David Hansemann, Berlin 1901, S. 105—116. — Die Denkschrift über „Preußens Lage und Politik am Ende des Jahres 1830" ließ Hansemann 1845 in Heidelberg als Manuskript für die Mitglieder des 8. rheinischen Provinziallandtages drucken. Er sandte am 14. 2. 1845 zwei Exemplare an Johann Jacoby. Jacoby hatte Hansemann am 5. 2. 1845 seine Denkschrift „Preußen im Jahre 1845" zwecks Vorlage auf dem rheinischen Landtag übersandt mit einem kurzen Schrei-

46

Karl Obermann

Im Briefwechsel zwischen Ludolf Camphausen mit seinem jüngeren Bruder Otto aus den 30er und 40er Jahren sind zahlreiche Bemerkungen enthalten, die wertvolle Aufschlüsse über die politischen Ansichten und Bestrebungen der angehenden rheinischen Bourgeoisie geben. Ludolf Camphausen betrieb in Köln mit seinem Bruder August eine Ölmühle, der später noch eine Getreidegroßhandlung und ein Bankhaus angeschlossen wurden. Schon 1832 zählte das Unternehmen der Gebrüder Camphausen „zu den angesehensten Großhandelshäusern der Stadt".36 Die briefliche politische Unterhaltung zwischen Ludolf und Otto Camphausen beginnt gewissermaßen 1831 mit der Stellungnahme zu einer wichtigen Programmschrift des „süddeutschen Liberalismus". 1831 war in Stuttgart der bis dahin als Richter tätige Paul Pfizer mit dem Buch „Briefwechsel zweier Deutschen" zum ersten Mal als politischer Schriftsteller hervorgetreten. Dieses Buch verschaffte sich Anerkennung als eines der ersten grundlegenden Werke des Liberalismus zur geistigen Situation in Deutschland und zur Frage der Nation. Der Verfasser bezeichnete es als dringende Aufgabe, „den unausgeglichenen Gegensatz des Theoretischen und Praktischen, von dessen glücklicher Auflösung das künftige Schicksal von Deutschland abzuhängen scheint, mit möglichster Bestimmtheit auszusprechen". Es sei erforderlich, daß sich die Deutschen „durch Tat und Leben wieder zur Nation erheben". „Bodenlose Armseligkeit ihrer staatsbürgerlichen Verhältnisse, der absoluten Nichtigkeit und Spießbürgerlichkeit alles öffentlichen Treibens" sei „lediglich Folge ihrer Zerrissenheit". Im preußischen Staat sah der Verfasser den „Kern" einer „neuen Gestaltung" Deutschlands. Im übrigen sollte die Preßfreiheit „in Deutschland vorzugsweise heimisch sein". Um „den Übergang zum Besseren einzuleiten", schlug Pfizer zum Schluß vor, „daß Deutschlands Fürsten sich um eine Stufe tiefer und ihren Untertanen wieder näher stellen, indem sie unter einer gemeinschaftlichen Bundesfahne zum Wiederaufbau des gemeinsamen Vaterlands sich brüderlich die Hand reichen".37 Dazu meinte Ludolf Camphausen in einem Brief an seinen Bruder Otto am 12. November 1831: „Dem Briefwechsel zweier Deutschen geht's wie den meisten politischen Oppositionen, gut, so lange man das Bestehende tadelt, - gewöhnlich oder einfältig oder noch schlimmer, wenn man das Bessere angeben will, das Ersatz leisten soll. Pfizer scheint nicht unbedeutende Dichter-Anlage zu haben." Er stimmte also der Kritik am Bestehenden zu, aber lehnte die ideologischen Ausführungen und Vorschläge im Hinblick auf Besserung ab. Aber im selben Brief teilte er mit, daß er mit den neuen Pressegesetzvorschlägen des Abgeordneten und Kölner Großkaufmanns Heinrich Merkens übereinstimme. Aufben, in dem es heißt: „Sie haben zu einer Zeit, da das preußische Vaterland noch in tiefem politischen Schlummer lag, die Mißbräuche unserer absoluten Regierung mit männlichem Freimute bekämpft." Johann Jacoby Briefwechsel 1816—1849, Hrsg. und erl. von Edmund Silberner, Veröffentlichungen des Instituts für Sozialgeschichte Braunschweig, Hannover 1974, S. 268 und 275 f. 38 Krüger, Alfred, Das Kölner Bankiergewerbe vom Ende des 18. Jahrhunderts bis 1875, Essen 1925, S. 76. 37 Pfizer, Paul Achatius, Briefwechsel zweier Deutschen, Stuttgart/Tübingen (J. G. Cotta'sche Buchhandlung) 1831, Vorwort, S. III, 163, 174, 196, 266 und 288.

Zur Genesis der bürgerlichen Klasse

47

hebung der Zensur galt auch liberalen Fabrikanten und Kaufleuten als eines der „immer unabweisbarer hervortretenden Bedürfnisse".38 Mit großem Interesse las Ludolf Camphausen die Schriften von Börne und Heine. Am 26. Dezember 1831 schrieb Ludolf Camphausen seinem Bruder: „Manche politischen Extravaganzen Börnes, Heines und anderer gewinnen übrigens seit den letzten Wochen leider mehr Grund, als die Gemäßigten gedacht haben."39 Die Bemerkung deutet darauf hin, daß Ludolf Camphausen den politischen Schriften der beiden Dichter große Beachtung schenkte; allerdings klingt auch durch, daß er sich ihren radikalen, demokratischen Auffassungen gegenüber kritisch verhielt. Im Brief vom 13. März 1832 heißt es über Börne: „Augenblicklich lese ich die früheren Schriften von Börne; die Körner liegen darin unter vieler Spreu; ein Aufsatz im 3. Bande ,Monographie der Postschnecke' ist mit großem Witz geschrieben. Der Vulkan brummt, der in Paris zum Ausbruch kam .. .' Denkschrift Bismarcks, Ende März 1858, in: Bismarck, GW, Bd. 2, S. 317. 30 Tagebuch Ludwig v. Gerlach, 28. 3. 1864, in: Von der Revolution zum Norddeutschen Bund, Bd. 1, S. 453. 31 Bismarck, GW, Bd. 15, S. 184 f. 32 Ebenda, S. 295. 33 Albert v. Haza-Radlitz an Ludwig v. Gerlach, 2. 6. 1866, in: Von der Revolution zum Norddeutschen Bund, Bd. 2, S. 1303. 34 Gustav LeCoq an Ludwig v. Gerlach, 20. 8. 1866, in: Ebenda, S. 1335. Wahlaufruf der konservativen Fraktion des Abgeordnetenhauses v. 20. 12. 1866, in: Parisius, Politische Parteien, S. 85; vgl. auch Wahlaufruf der Freikonservativen, 27. 10. 1867, in: Ebenda, S. 114. 36 Zitiert nach Booms, Hans, Die Deutschkonservative Partei. Preußischer Charakter, Reichsauffassung, Nationalbegriff, Düsseldorf 1954, S. 17. Vgl. auch Ritter, Gerhard, Die preußischen Konservativen und Bismarcks deutsche Politik 1858 bis 1876, Heidelberg 1913.

126

Heinz Wolter

Der großpreußisch-militaristische Charakter der deutschen Politik Bismarcks w a r nicht zu übersehen. Wenn die nationalliberale Bourgeoisie dennoch diesen K u r s billigte, konstitutionelle Vorbehalte zurücktreten ließ und sich beschied, „neben dem Adel eine ehrenvolle Stelle zu behaupten" 3 7 , leitete sich dies w e sentlich aus der preußischen Wirtschaftspolitik her, die den materiellen Interessen der Bourgeoisie entgegenkam. Der K u r s freihändlerischer Handelsverträge und T a r i f r e f o r m e n im Zollverein f a n d gerade auf dem Höhepunkt der Konfliktszeit die volle Zustimmung der oppositionellen Landtagsmehrheit. In handelspolitischen Fragen w a r der überwiegende Teil der Bourgeoisie grundsätzlich preußisch-gouvernemental orientiert. So ergab sich die scheinbar paradoxe Situation, daß „in derselben Zeit, wo der Kriegsminister u n d der P r e m i e r mit Zischen empfangen werden, wo Prozesse u n d Duelle zwischen Ministern und P a r l a m e n t s f ü h r e r n die Verbissenheit des Hasses veranschaulichen . . . die Gesetzesvorlagen, welche der Referent des Handelsministeriums in Tarifpolitik, Delbrück, u n d sein Amtsgenosse Philipsborn vom Ministerium des Äußern, einbringen, vom Abgeordnetenhause mit überwältigender Mehrheit, oft einstimmig angenommen" werden. 3 8 Die bereits vor 1862 inaugurierte freihändlerische Wirtschaftspolitik Preußens w u r d e von Bismarck energisch als Instrument zur Durchsetzung einer hegemonialen preußisch-deutschen Machtpolitik genutzt. Zunächst ein Mittel, österreichische Vorherrschaftspläne im Rahmen einer protektionistischen mitteleuropäischen Zollunion abzuwehren und die deutschen Süd- u n d Mittelstaaten unter preußisches Diktat zu bringen, diente der mit dem Abschluß des preußisch-französischen Handelsvertrages von 1862 u n d der folgerichtigen Tarif r e f o r m e n von 1865, 1868, 1870 u n d 1873 konsequent ausgebaute Freihandelskurs vor allem dazu, sozialökonomisch wie politisch eine Interessengemeinschaft zwischen den junkerlich-agrarischen Führungsschichten des preußischen Staates u n d entscheidenden G r u p p e n der deutschen Handels-, Finanz- und Industriebourgeoisie zu begründen. Mit A u s n a h m e der nicht voll zufriedengestellten preußischen Schweru n d süddeutschen Textilindustrie t r a f e n sich alle kapitalistischen Interessengruppen mit der exportorientierten preußischen Landwirtschaft auf freihändlerischem Boden und etablierten so das Bündnis des politischen Liberalismus mit dem preußischen Regierungslager. 3 9 ökonomische Faktoren in den Dienst seiner Politik zu stellen, hinderte Bismarck allerdings nicht daran, sich grundsätzlich gegen „eine Vermischung beider Materien, ein Hinüberziehen von handelspolitischen und industriellen Interessen auf das politische Gebiet u n d umgekehrt" 4 0 auszusprechen. Natürlich ist Helmut 37 38

39

40

Baumgarten, Hermann, Der deutsche Liberalismus. Eine Selbstkritik (1866), zitiert nach Im Widerstreit um die Reichsgründung, S. 381. Lötz, Walter, Die Ideen der deutschen Handelspolitik von 1860 bis 1891, Leipzig 1892, S. 30. Vgl. Böhme, Helmut, Deutschlands Weg zur Großmacht. Studien zum Verhältnis von Wirtschaft und Staat während der Reichsgründungszeit 1848—1881, Köln/ (West-) Berlin 1966; Bondi, Gerhard, Deutschlands Außenhandel 1815-1870, Berlin 1958. Bismarck an Werther, 9. 4. 1863, in: Bismarck, GW, Bd. 4, S. 93.

Außenpolitik und Bismarckscher Bonapartismus

127

Böhme zuzustimmen, wenn er Bismarck-Äußerungen über die Trennung von ökonomisch-handelspolitischer und politisch-diplomatischer Sphäre zunächst in den Bereich des Taktischen verweist.41 So spricht aus dem Erlaß Bismarcks vom 4. Juli 1864, die mögliche österreichische Verstimmung über einen preußischen Handelsvertragsabschluß mit Italien betreffend, deutlich der taktische Zweck, Wien hinzuhalten und auszumanövrieren: „Doch bin ich auch jetzt noch der Ansicht, daß die große Bedeutung der dabei in Frage kommenden materiellen Interessen nicht durch diese politischen Rücksichten beeinträchtigt werden darf; und ich nehme an, daß unsere politischen guten Beziehungen zu Österreich in diesem Augenblick fest genug sind, um selbst durch einen solchen Schritt, von dem wir natürlich jede politische Bedeutung fern zu halten suchen würden, nicht getrübt zu werden."42 Selbstverständlich war sich Bismarck der großen Bedeutung der handelspolitischen Materie für die innere und äußere Politik PreußenDeutschlands bewußt. Trotzdem sollte man aber in dem immer wieder beanspruchten Auseinanderhalten von handelspolitischer und politisch-diplomatischer Ebene in Bismarcks Argumentation etwas mehr als von vornherein „bloße Taktik" sehen. Damit wird keineswegs einer Verabsolutierung des Politischen als autonomer gesellschaftlicher Sphäre das Wort geredet, wohl aber zunächst einmal davon ausgegangen, daß Bismarcks empirischem Pragmatismus, bei allem praktischem „Geschäftsverstand"43 und vorausschauendem Kalkül, kein theoretisch-wissenschaftliches Verständnis des Zusammenhangs von Ökonomie und Politik unterstellt werden kann. Zum anderen aber soll durchaus eingeräumt werden, daß Bismarcks Betonung einer deutlichen Trennung von handelspolitischer und diplomatischer Sphäre in bestimmten Anwendungsbereichen über vordergründige taktisch-manipulative Zwecke hinaus einen durchaus politisch-substantiellen Rang gewinnt. Dies gilt vor allem, wenn auf der sozialökonomischen und politischen Ebene Fragen der inneren gesellschaftlichen Dynamik betroffen waren. Als 1864 bei den Gesprächen über eine Verlängerung des preußisch-österreichischen Handelsvertrages gewisse Meinungsverschiedenheiten zwischen Bismarck und Delbrück, dem vom bürgerlichen Vertrauen getragenen Beauftragten des Handelsministeriums, auftraten, konstatierte Bismarck in einem Brief an Kriegsminister Roon, „daß Delbrück bei aller technischen Nützlichkeit doch nebst anderen Geheimräten einer politischen Farbe angehört, die es gern sieht, wenn das jetzige Ministerium Schwierigkeiten findet, und wo keine sind, sucht man welche zu schaffen".44 Thile, dem Unterstaatssekretär im Ministerium für auswärtige Angelegenheiten, gegenüber sprach Bismarck von „bewußtem geheimrätlichen Liberalismus, der unserer auswärtigen Politik absichtlich Schwierigkeiten bereiten" will.45 Vor dem Hintergrund dieser junkerlich-konservativen Vorbehalte betonte Bismarck: „Keinesfalls aber lasse ich mir gefallen, daß die Herren in Finanz und Handel 41 42 43 44 45

Vgl. Böhme, Deutschlands Weg zur Großmacht, S. 3. Bismarck an Thile, 4. 7. 1864, in: Bismarck, GW, Bd. 4, S. 484. Engels, Friedrich, Die Rolle der Gewalt, in: MEW, Bd. 21, S. 427. Bismarck an Roon, 16. 10. 1864, in: Bismarck, GW, Bd. 14/11, S. 684. Bismarck an Thile, 16. 10. 1864, in: Ebenda.

128

Heinz Wolter

das Heft der auswärtigen Politik in die Hand nehmen." 4 6 Bei aller Übereinstimm u n g von ökonomischer Interessenwahrung der Bourgeoisie u n d offensiver sowie expansiver preußisch-deutscher Machtpolitik vor 1871 ist eine derartige Argumentation Ausdruck einer ungebrochenen sozialökonomischen u n d politischen Verankerung Bismarcks in einer junkerlich-konservativen Sozialstrategie der traditionellen gesellschaftlichen Führungsschichten Preußens. Dieser Umstand sollte auch f ü r die Festlegung u n d A u s f ü h r u n g der außenpolitischen Konzeption nach der Reichsgründung bedeutsam werden. Nicht n u r die europäischen Großmächte u n d kleineren Nachbarstaaten des neuen Reiches bewegte die Frage, ob der 1864, 1866 u n d 1870/71 siegreiche p r e u ßisch-deutsche Militärstaat den einmal beschrittenen Weg der aggressiven Machterweiterung k ü n f t i g fortsetzen wolle. 47 Auch die sozialen u n d politischen Träger des Klassenkompromisses in Preußen-Deutschland selbst m u ß t e n sich die Frage nach der k ü n f t i g e n Stellung des neugegründeten Deutschen Reiches im Kreis der europäischen Mächte vorlegen: Ob eine Fortsetzung u n d weitere Eskalation der bisherigen offensiven und expansiven Politik nach außen notwendig, möglich, sinnvoll sei oder ob mit der 1871 vollzogenen Machtverschiebung nicht das Optimum des Erreichbaren bzw. Wünschbaren eingebracht worden sei. Mit der Entscheidung des österreichisch-preußischen Dualismus u n d der territorialen „Arrondierung" Preußens durch die Annexionen von 1866 sowie der 1870/71 gegen die bisherige französische Hegemonie durchgesetzten Vorherrschaftsstellung Preußen-Deutschlands auf dem europäischen Kontinent w a r der gewissermaßen staatsräsonistisch vorgegebene Weg preußisch-deutscher Machtkonzentration an einer entscheidenden Schwelle angelangt. Auf die von außen gesetzten objektiven Schranken der weiteren Bismarckschen Politik hat pointiert K a r l M a r x hingewiesen: „Bismarck h a t t e die Staatsweisheit leicht in der österreichischen u n d französischen Affäre; gegen Österreich h a t t e er den Schutz Bonapartes u n d die Italiener, u n d gegen Frankreich h a t t e er ganz Europa. Außerdem w a r das Ziel, das er anstrebte, von den Verhältnissen gestellt u n d vorbereitet. Jetzt, wo die Verhältnisse verwickelt, ist's mit der Genialität zu Ende." 48 Die Problematik der außenpolitischen Orientierung nach 1871 ergab sich aber vor allem auch von innen her aus den Spannungen der Gesellschaftsstruktur, aus einer unentschiedenen Gleichgewichtssituation im Lager der h e r r schenden Klassen, nämlich zwischen dem ökonomisch überholten, politisch aber ausschlaggebenden J u n k e r t u m u n d der mit wachsenden ökonomischen K r ä f t e n politisches Eigengewicht aufbringenden, die J u n k e r allmählich v e r d r ä n g e n d e n Bourgeoisie. Der von Max Weber in der Situation von 1895 in F r a g e gestellte gesellschaftliche Konsens, wonach die Einigung Deutschlands einen „Jugendstreich" bedeutete, „den die Nation auf ihre alten Tage beging und seiner Kostspieligkeit halber besser unterlassen hätte, w e n n sie der Abschluß u n d nicht der

46 47 48

Ebenda. Vgl. Windeier, Martin, Bismarcks Bündnispolitik und das europäische Gleichgewicht, Stuttgart 1964, S. 6. Marx an Wilhelm Liebknecht, 11. 2. 1878, in: MEW, Bd. 34, S. 323 f.

Außenpolitik und Bismarckscher Bonapartismus

129

Ausgangspunkt einer deutschen Weltmachtpolitik sein sollte"49, betraf schon die Klassenverhältnisse von 1871. Die gesellschaftlichen Exponenten von junkerlich-preußischem Militarismus und deutschem Kapitalismus stimmten in dem Wunsch nach preußisch-deutscher Weltgeltung überein. In den Formulierungen bestand kaum ein Unterschied, wenn der nationalliberale Friedrich Kapp seit 1866 auf die „Gründung einer deutschen Groß- und Weltmacht" rechnete und hoffte, daß „Deutschland wieder eine weltgebietende Macht werden" könne50, und andererseits der preußischkonservative Moritz v. Blanckenburg 1870 die „gründliche Herstellung des Übergewichts deutscher Nation" erwartete und sich für ein „anständiges Deutschland" aussprach, „das Frieden für die Welt gebietet". 61 In der Frage freilich, welcher Gebrauch von dieser Macht zu machen sei, standen sich in der unmittelbaren Reichsgründungsphase Junkertum und Bourgeoisie noch bis zu einem gewissen Grade gegenseitig im Wege. Wohl hatte die unter der bonapartistischen Diktatur Bismarcks angebahnte Interessengemeinschaft zwischen beiden Fraktionen der herrschenden Klassen bürgerliche Nationalstaatsbildung und preußische Großmachtpolitik miteinander verschmolzen, über den Abschluß der Revolution von oben hinaus aber war die strategische Übereinstimmung kaum abgesteckt. Schließlich gab es auch innerhalb der beiden sozialen Flügel des Regierungslagers 1871 kaum schon ein hinreichendes Selbstverständnis der neuen Situation, vom schwächsten Glied des europäischen Staatensystems in eine führende Rolle aufgerückt zu sein. Die Bourgeoisie, als „brüllender Löwe des deutschen Patriotismus" 52 die europäische Bühne betretend, warf sich überwiegend auf die ideologische Begründung, partiell auch die ökonomische Verwertung, der Annexion Elsaß-Lothringens, was im allgemeinen als territorialer Siegespreis und nationale Gloriole zunächst genug „Gewinn nach außen" 53 zu versprechen schien. Unmittelbar erwarteten die einzelnen bourgeoisen Interessengrupen durch verstärkte auswär49

50

51

52

53

Weber, Max, Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik (Akademische An^ trittsrede 1895), in: Derselbe, Gesammelte politische Schriften, hrsg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1958, S. 23. Friedrich Kapp an Ludwig Feuerbach, 10. 8. 1866 und 29. 12. 1866, in: Friedrich Kapp. Vom radikalen Frühsozialisten des Vormärz zum liberalen Parteipolitiker des Bismarckreichs. Briefe 1843—1884, hrsg. und eingel. von Hans-Ulrich Wehler, Frankfurt (M.) 1969, S. 85, 89. Blanckenburg an Roon, 28. 7. 1870 und 6./7. 8. 1870, in: Denkwürdigkeiten aus dem Leben des Generalfeldmarschalls Kriegsministers Grafen von Roon, Bd. 3, Berlin 1905, S. 169, 183. Marx, Karl, Zweite Adresse des Generalrats über den Deutsch-Französischen Krieg, in: MEW, Bd. 17, S. 272. Friedrich Kapp an H. v. Holst, 12. 9. 1870, in: Kapp, Briefe, S. 96. — Zur Annexion Elsaß-Lothringens vgl. Wolter, Heinz, Das lothringische Erzgebiet als Kriegsziel der deutschen Großbourgeoisie im deutsch-französischen Krieg 1870/71. Materialien über die sozialökonomischen Hintergründe der Annexion Elsaß-Lothringens, in: ZfG, 1971, H. 1, S. 34ff. Vgl. auch allgemein: Seeber, Gustav, Die Bourgeoisie und das Reich. Zur politischen Konzeption der Bourgeoisie in den 70er Jahren, in: Die großpreußisch-militaristische Reichsgründung, Bd. 2, S. 127 ff.

9 Jahrbuch 16

130

Heinz Wolter

tige Machtentfaltung erweiterte Positionen in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen auf dem kapitalistischen Weltmarkt, wobei 1871 offenblieb, ob dies künftig mit den diversen Mitteln ökonomischer Expansion gesichert, durch Ausbau des politischen Einflußbereiches indirekt unterstützt oder durch direkte Erweiterung des politisch-militärischen Herrschaftsbereichs massiv vorangetrieben werden sollte. Größere bourgeoise Hoffnungen in Richtung einer kraftvollen „Weltpolitik" - sofern man im Siegesrausch und Milliardensegen von 1871 nicht der Illusion anhing, ohnehin schon alles erreicht zu haben - wurden allerdings zu Beginn der 70er Jahre noch vom Junkertum blockiert. In einem den traditionellen friderizianischen Rahmen großpreußischer Machterweiterung übersteigenden Kurs argwöhnten die preußischen Führungsschichten ein Verlassen des agrarisch-konservativen Bodens und eine entscheidende Gewichtsverlagerung zugunsten der Bourgeoisie. Von seinem Standpunkt aus entschied Bismarck 1871: „Man muß sich bei solchen Sachen fragen, was man braucht, nicht, was man kriegen kann."54 Mit Bedacht handelten die preußischen Repräsentanten nach der Devise: „Unsere Macht findet dort ihre Begrenzung, wo unser Junkermaterial zur Besetzung der Offiziersstellen aufhört."55 Im übrigen war das Interesse des Junkertums an der auswärtigen Politik ohnehin gering. Was Bismarck im Blick auf seine Vergangenheit einmal feststellte, galt für die Mehrzahl seiner Standesgenossen noch immer: „Zwischen den pommernschen Kartoffelfeldern, die bis 48 Gegenstand meiner Aufmerksamkeit waren, lernt man eben nicht europäische Politik richtig zu beurteilen."56 Obwohl selbst keineswegs mehr feudal-patriarchalisch wirtschaftend, benutzte das Junkertum auch als agrarkapitalistische Klasse alle ihm in den Kommandohöhen der staatlichen Exekutive verbliebene Macht, um sozialökonomisch wie politisch den Industriekapitalismus in überschaubarem Rahmen halten zu können. Zwar blieb der vom altkonser,vativ-christlichen Legitimitätsdenken der Gerlach-Gruppe getragene Verzicht auf Großmachtpolitik auch nach 1871 in einer politisch wirkungslosen Außenseiterposition; die Mehrzahl der Konservativen wurde vom nationalen Aufschwung durchaus gefaßt. Doch auch in der einflußreichen, politisch maßgebenden Kerntruppe des preußischen Junkertums griff mit der Reichsgründung ein allgemeines Unbehagen über einen womöglich zu weitgehenden bourgeois-nationalliberalen Zuschnitt der Reichspolitik um sich. Vornehmlich kreisten solche Bedenken um den inneren, verfassungsmäßigen Ausbau des Reiches, und die konservativen Parteivertreter hielten es darum für „unbedingt nötig, daß durch diese Neuformation die preußische Zentralgewalt stramm und straff fundiert wird quo-ad Heer, Zoll, Handel, Diplomatie".57 Im konservativen Weltbild stellte aber das reaktionäre militaristische und anti54 55 58 57

Tischgespräch in Versailles, 4. 2. 1871, in: Bismarck, GW, Bd. 7, S. 502. Denkwürdigkeiten des Botschafters General v. Schweinitz, Bd. 1, Berlin 1927, S. 259. Bismarck an Rudolf v. Auerswald, 3. 8. 1860, in: Bismarck, GW, Bd. 14/1, S. 558. Blanckenburg an Roon, 22. 8. 1870, in: Roon, Denkwürdigkeiten, Bd. 3, S. 199. — Vgl. allgemein: Schröder, Wolfgang, Junkertum und preußisch-deutsches Reich. Zur politischen Konzeption des Junkertums und zu ihrer Widerspiegelung in der KreuzZeitung 1871—1873, in: Die großpreußisch-militaristische Reichsgründung, Bd. 2, S. 170 ff.

Außenpolitik und Bismarckscher Bonapartismus

131

liberale innere Fundament des preußisch-deutschen Staates zugleich den „Schwerpunkt unserer europäischen Stellung" 58 dar. Es entsprach deshalb engagierter junkerlicher Interessenwahrung, in der Politik des Deutschen Reiches nach innen wie nach außen die Entwicklungsmöglichkeiten der Bourgeoisie in Grenzen zu halten. Bismarcks Wort von der „Saturiertheit" Deutschlands, sein im Kissinger Diktat 1877 entworfenes Programm defensiv sichernder auswärtiger Politik - „nicht das irgend eines Ländererwerbs, sondern das einer politischen Gesamtsituation, in welcher alle Mächte außer Frankreich unser bedürfen, und von Koalitionen gegen uns durch ihre Beziehungen zueinander nach Möglichkeit abgehalten werden" 59 - war deshalb mehr als nur Reflex des internationalen Kräfteverhältnisses und durchaus tiefer begründet als etwa in einem bloß taktisch motivierten Bedürfnis nach innerer und äußerer Konsolidierung. Es war eine strategische Orientierung, die dem Entwicklungsstand des Klassenkompromisses zwischen Bourgeoisie und Junkertum zu Beginn der 70er Jahre angepaßt war. In der Vorstellungswelt Bismarcks standen nach 1871 Bewahrung und Festigung des status quo nach außen wie nach innen in einem unlöslichen Zusammenhang. Die Stabilisierung der traditionellen Vorrangstellung der sozial und politisch konservativen Kräfte bildete dabei den entscheidenden Richtpunkt.60 Bei der Anlage des außenpolitischen Kurses nach der Reichsgründung, der wie vor 1871 eine wichtige Integrationsklammer für die bonapartistische Diktatur bilden sollte, zugleich aber auf einer neuen Stufe der gesellschaftlichen Spannungslage zwischen Junkertum und Bourgeoisie Rechnung tragen mußte, glaubte sich Bismarck durch die Konzipierung einer diplomatischen Kabinettspolitik helfen zu können, die, indem sie die Außenpolitik vordergründig auf die Ebene von Aktion und Reaktion im europäischen Staatehsystem anlegte, scheinbar von allen sozialen und politischen Bindungen an Klassenstruktur und Innenpolitik abgehoben war. Der demonstrativ hervorgehobene Akzent der internationalen monarchistischen Solidarität gegenüber allen Erscheinungsformen der sozialen und politischen Revolution sollte nicht allein die Kabinette der Dreikaisermächte beeindrucken, sondern auch die zwischen Junkertum und Bourgeoisie noch kontroversen Fragen verdrängen durch die Notwendigkeit gemeinsamer Abwehr der revolutionären „sozialen Gefahr". 61 Wie sehr es unter solchen Voraussetzungen Bismarck darauf ankam, den gesell58 Programm des konservativen Preußischen Volksvereins, September 1861, in: Parisius, Politische Parteien, S. 42. 59

w 61



Diktat Bismarcks, 15. 6. 1877, in: Die Große Politik der Europäischen Kabinette 1871—1914. Sammlung der Diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes, Berlin 1922, Bd. 2, S. 154. Vgl. allgemein: Engelberg, Ernst, Deutschland von 1871 bis 1897, Berlin 1965. Vgl. Wolter, Heinz, Die Anfänge des Dreikaiserverhältnisses. Reichsgründung, P a riser Kommune und die internationale Mächtekonstellation 1870—1873, in: Die großpreußisch-militaristische Reichsgründung, Bd. 2, S. 235 ff.; Schröder, Wolf gang/ Seeber, Gustav/Wittwer, Walter/Wolter, Heinz, Die Pariser Kommune und die herrschenden Klassen in Deutschland, in: ZfG, 1971, H. 3, S. 309ff.; Stürmer, Michael, Staatsstreichgedanken im Bismarckreich, in: HZ, Bd. 209, H. 3, S. 566ff.

132

Heinz Wolter

schaftlichen Einsatz der Außenpolitik vorwiegend u n d betont u n t e r nicht-ökonomischen Gesichtspunkten zu vollziehen, w i r d nicht zuletzt dadurch u n t e r strichen, daß in der Behördenorganisation des Auswärtigen Amtes u n d im diplomatischen Dienst konsequent an der herkömmlichen Ressorttrennung in politische und handelspolitische Angelegenheiten festgehalten w u r d e : „Ein Zusammenhang bestand weder sachlich, noch persönlich oder räumlich zwischen diesen Abteilungen." 6 2 Noch Mitte der 80er J a h r e berichtete ein mit der Bearbeitung der außereuropäischen Handelspolitik betrauter B e a m t e r : „Damals w a r die Scheidung zwischen der politischen und den übrigen Abteilungen noch eine so gründliche, daß zwischen den Räten der ersteren (der politischen - H. W.) u n d den anderen so gut wie gar keine B e r ü h r u n g bestand, ja, daß sich die Mitglieder k a u m kannten. Aus dieser Abschließung u n d dem Umstand, daß die politischen Räte ihre Arbeit nach den unmittelbaren Weisungen des großen Staatsmannes besorgten, entstand eine Sonderung, die w i r dii m i n o r u m gentium als selbstverständlich anzusehen uns gewöhnt hatten, zumal die Auffassung herrschte, daß deren strenge Zurückhaltung durch i h r e geheimnisvolle Tätigkeit gerechtfertigt war. Der Verkehr d e r nichtpolitischen Abteilungen mit dem Kanzler w a r selten und vollzog sich in abgekürzten Formen. Lag m a l eine wichtigere Sache vor, die den Direktoren der Mitteilung an die oberste Stelle würdig erschien, so erfolgte sie in einer schriftlichen Vorlage, die mit dem Schlußsatz zu enden pflegte: soll wie vorstehend v e r f a h r e n w e r d e n ? worauf ein einfaches J a oder Nein des Kanzlers erfolgte. Von der geschichtlich gewordenen Wirksamkeit des großen Mannes e r f u h r e n wir u n t e r e Abteilungen solchergestalt herzlich wenig." 63 Eine solche kunstvolle Konstruktion-eines nahezu abstrakten außenpolitischen Systems konnte allerdings n u r funktionieren, solange es d a f ü r eine t r a g f ä h i g e gesellschaftliche Basis gab. Ungeachtet der gewollten Distanz zur unmittelbaren materiellen Interessenebene, m u ß t e die außenpolitische Konzeption u n d Aktivität natürlich das soziale und politische K r ä f t e v e r h ä l t n i s der herrschenden Klassen berücksichtigen u n d bis zu einem gewissen G r a d e auch u m einen Interessenausgleich b e m ü h t sein. So gesehen standen die sozialökonomischen Voraussetzungen f ü r die Bismarcksche Außenpolitik zu Beginn der 70er J a h r e durchaus günstig. Der ökonomische Aufschwung der Hochkonjunkturperiode der 50er u n d 60er J a h r e d a u e r t e zunächst an, wobei industrielles Wachstum u n d günstige Lage der Landwirtschaft zusammentrafen. Das Freihandelssystem, b e w ä h r t e s I n s t r u m e n t preußisch-deutscher Interessen- und Vorherrschaftspolitik, g e w ä h r leistete zunächst auch nach 1871 durch Befriedigung ihrer außenwirtschaftlichen E r w a r t u n g e n ein Zusammengehen von J u n k e r t u m , Handelsbourgeoisie u n d exportorientierten Industriellen u n d entsprach z u d e m Bismarcks Wunsch nach einem „flüssigen Aggregatzustand" der auswärtigen Beziehungen. Im April 1872 hielt es Bismarck noch f ü r ein „gemeinschaftliches Interesse aller europäischen 62

63

Mohl, Otmar v., Fünfzig Jahre Reichsdienst. Lebenserinnerungen, Leipzig 1921, S. 145. — Vgl. allgemein: Morsey, Rudolf, Die oberste Reichsverwaltung unter Bismarck 1867-1890, Münster (Westf.) 1957, S. 110 ff. Raschdau, Ludwig, Unter Bismarck und Caprivi. Erinnerungen eines deutseihen Diplomaten aus den Jahren 1885-1894, Berlin 1939, S. 9.

Außenpolitik und Bismarckscher Bonapartismus

133

Staaten", durch das Festhalten an dem „System von Handelsverträgen, welche mit gegenseitigen Tarifermäßigungen die gegenseitige Zusicherung der meistbegünstigten Nation verbanden, den handelspolitischen Beziehungen der europäischen Staaten eine neue und gesunde Grundlage zu geben, dem Verkehr der Völker neue Bahnen zu eröffnen und ihrem friedlichen Wettkampfe erweiterten Spielraum zu sichern".64 Im Gefolge der Wirtschaftskrise von 1873 und der sich anschließenden langanhaltenden Depressionsphase zeichnete sich allerdings als Ansatz und Ausgangspunkt für einen Umbruch im sozialen und politischen Gefüge des Bismarckschen Bonapartismus auf dem Boden einer Abkehr vom ökonomischen und politischen Liberalismus ein handelspolitischer Wandel ab. Von der bisherigen Priorität der freihändlerischen Agrar- und Handelsinteressen vollzog sich eine Schwerpunktverlagerung zugunsten einer Symbiose zwischen der verstärkten Zollschutz fordernden Schwerindustrie und den auf Agrarprotektionismus umschaltenden preußischen Junkern.65 Dabei ist es für die im Grunde unveränderte junkerlichagrarische Verankerung Bismarcks bezeichnend, daß er in der Vorbereitungsphase auf die neue Zoll- und Außenhandelspolitik zunächst weniger dem organisierten Druck der schwerindustriellen Interessenverbände nachzugeben scheint, als vielmehr den Eindruck aufrechtzuerhalten sucht, als handle es sich bei den neuen wirtschaftspolitischen Tendenzen um Vergeltungsmaßnahmen gegen die protektionistische Tarifpolitik der deutschen Außenhandelspartner.66 Als am 13. Oktober 1875 in einem Promemoria Buchers „gegenüber den Staaten welche ihre Tarife zum Nachteil der deutschen Ausfuhr erhöhen" erstmalig „Repressalien" erwogen werden, heißt es sogar: „Die von der Volkswirtschaft dagegen zu erhebenden Bedenken würden von den politischen Gründen überwogen."67 Auf seiner bekannten Linie des Auseinanderhaltens wirtschaftlicher und politischer Faktoren der auswärtigen Beziehungen reagierte Bismarck wieder, als am 5. Dezember 1876 Eugen Richter im Reichstag interpellierte, was die Regierung angesichts der erhöhten russischen Zollbarrieren zum Schutze der deutschen Industrie zu tun gedenke. Bismarck ließ es nicht bei einem Bedauern über die russische Zollpolitik bewenden, sondern faßte ausdrücklich als handelspolitische 64

65

66

67

Bismarck an Schweinitz, 26. 4. 1872, in: Poschinger, Heinrich v., Fürst Bismarck als Volkswirt, Bd. 1, Berlin 1889, S. 66. — Zur Handelspolitik nach 1871 vgl. neben Böhme, Deutschlands Weg zur Großmacht, Zimmermann, Alfred, Die Handelspolitik des Deutschen Reiches vom Frankfurter Frieden bis zur Gegenwart, Berlin 1901, und Gerloff, Wilhelm, Die Finanz- und Zollpolitik des Deutschen Reiches, Jena 1913. Vgl. dazu Seeber, Gustav, Preußisch-deutscher Bonapartismus und Bourgeoisie, im vorliegenden Band; Mottek, Hans/Becker, Walter/Schröter, Alfred, Wirtschaftsgeschichte Deutschlands. Ein Grundriß, Bd. 3: 1871—1945, Berlin 1975, S. 109. Vgl. Hardach, Karl Willy, Die Bedeutung wirtschaftlicher Faktoren bèi der Wiedereinführung der Eisen- und Getreidezölle in Deutschland 1879, (West-)Berlin 1967, S. 53 ff. Promemoria Buchers, 13. 10. 1875, in: Poschinger, Heinrich v., Aktenstücke zur Wirtschaftspolitik des Fürsten Bismarck, Bd. 1, Berlin 1890, S. 203.

134

Heinz Wolter

Gegenmaßnahme Kampfzölle auf russisches Getreide u n d Holz ins Auge. Nachdrücklich sprach sich der Kanzler aber gleichzeitig f ü r Erhaltung der u n g e t r ü b ten politischen Beziehungen zu Petersburg aus u n d betonte, daß „das Politische von dem Wirtschaftlichen ganz getrennt zu halten ist und ihm ganz f e r n liegt". 68 Zweifelsohne spielten dabei taktische Gesichtspunkte eine große Rolle; neben der verwickelten internationalen Konstellation der Orientkrise w a r der U m stand zu berücksichtigen, daß es dem F ü h r e r der oppositionellen Fortschrittspartei in erster Linie d a r u m ging, der Regierung Schwierigkeiten zu bereiten. Dennoch d ü r f t e es weiterhin Bismarcks grundsätzliche Überzeugung gewesen sein: „Die politischen Verhältnisse balancieren sich in sich; die B e k ä m p f u n g der wirtschaftlichen k a n n m a n n u r auf wirtschaftlichem Gebiet suchen. a69 Den gleichen Maßstab legte Bismarck a n die Entwicklung des Verhältnisses zu Österreich-Ungarn an, als ihn w ä h r e n d der nicht ganz reibungslosen Handelsvertragsverhandlungen zwischen 1877 u n d 1879 stets das übergeordnete Interesse an einem politischen Bündnispartner bewegte. So wies er a m 2. August 1877 den deutschen Botschafter in Wien an, dem dortigen Kabinett „die Versicherung zu geben, daß unsere politische Freundschaft von dem Ergebnis unserer Zollverhandlungen nicht b e r ü h r t werden wird, so lange ich Einfluß auf unsere Politik habe". 70 Andererseits w u r d e nach Abschluß des Zweibundes - und erfolgtem Ubergang zum Schutzzollsystem - f ü r die immer noch schwebenden Verhandlungen über den Handelsverkehr am 19. Dezember 1879 die Instruktion erteilt: „Unsere politischen Beziehungen zu Österreich bringen es nicht mit sich, daß wir die Freundschaft, die uns verbindet, durch Konzessionen auf Kosten unserer Produzenten erkaufen." 7 1 Die 1879 auf einem gewandelten sozialökonomischen und innenpolitischen Boden vollzogene wirtschafts- und handelspolitische Neuorientierung konnte allerdings nicht spurlos an der D u r c h f ü h r b a r k e i t der bisherigen außenpolitischen Konzeption vorübergehen. Zunächst einmal gewannen ökonomische Faktoren einen höheren Stellenwert in d e r Beachtung durch den auswärtigen Dienst: „Fragen der Wirtschaftspolitik, des Handels- u n d Zollwesens w u r d e n damals f ü r die Diplomatie sozusagen erst s a l o n f ä h i g . . . Man verlangte n u n auch von den Gesandten und Konsuln hierüber eine regere und gründlichere Berichterstattung als dies bisher üblich war." 7 2 Von der Geschäftswelt u n d deren Interessenvertretern w a r schon lange eine größere Aktivität zur Förderung der ökonomischen Expansion gewünscht worden. So w a r im September 1878 Bismarck ein Vorschlag zugegangen, den deutschen Botschaften, Gesandtschaften u n d Generalkonsulaten qualifizierte Vertreter beizugeben, „mit der Aufgabe 68 69 70 71

72

Reichstagsrede Bismarcks, 5. 12. 1876, in: Bismarck, GW, Bd. 11, S. 469. Ebenda, S. 475. Erlaß an Stolberg, 2. 8. 1877, in: Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Bonn (im folgenden: PA Bonn), IAA1 Nr. 63, Bd. 14, Bl. 37. Instruktion Bismarcks v. 19. 12. 1879, in: Poschinger, Aktenstücke zur Wirtschaftspolitik, Bd. 1, S. 320. Vgl. auch das Schreiben Herbert Bismarcks an Staatssekretär Bülow vom 2. 6. 1879, in: PA Bonn, IAAb Nr. 103, Bd. 3. Im Dienste Bismarcks. Persönliche Erinnerungen von Arthur v. Brauer, bearb. und hrsg. von Helmuth Rogge, Berlin 1936, S. 50.

Außenpolitik und Bismarckscher Bonapartismus

135

aus allen mit der deutschen Arbeit konkurrierenden Ländern die dortigen t a t sächlichen Verhältnisse u n d Zustände in Handel, Industrie u n d V e r k e h r z u r Kenntnis der Reichsregierung zu bringen, u m so eine richtigere Beurteilung der Wertigkeit unserer eigenen industriellen, kommerziellen etc. Leistungen zu denen des Auslandes herbeizuführen". 7 3 Die Einstellung spezieller sachverständiger Interessenvertreter der Industrie in den Reichsdienst w u r d e zwar - wie schon 1876 ein ähnlicher Vorschlag des Handelsministeriums 7 4 - im Reichskanzleramt u n d Auswärtigem A m t abgelehnt, allerdings ohne weiteres zugebilligt, daß die bereits im Ausland tätigen Beamten, insbesondere die Berufskonsuln, m e h r u n d besser „ f ü r die einheimischen gewerblichen Interessen nützliche Informationen" übermitteln sollten. 75 So w u r d e n im J a n u a r 1879 alle deutschen Auslandsvertretungen angehalten, intensiver u n d detaillierter über die wirtschaftlichen Verhältnisse u n d den Stand des deutschen Außenhandels in den jeweiligen L ä n d e r n zu berichten, „um d e r deutschen Industrie u n d den Behörden Genauigkeit zu geben". 76 Auf Ersuchen des Vereins Deutscher Eisen- u n d Stahlindustrieller h a t ten die diplomatischen Vertretungen seit November 1881 sogar Nachricht zu geben, w e n n sich Gelegenheit zu besonderen Geschäften bot. 77 Bei allem Eingehen auf industrielle Wünsche galt freilich Bismarcks spezielles Interesse nach wie vor der Absatzlage der preußischen Landwirtschaft. 7 8 Von der junkerlichagrarischen Interessenebene pflegte Bismarck zu entscheiden, ob „Kampfzölle gegen diejenigen Länder" vorzubereiten seien, „welche unseren Export durch besonders hohe Belastung desselben einschränken". 7 9 Was Bismarck 1879 mit der E i n f ü h r u n g des Schutzzollsystems beabsichtigte eine neue P h a s e im Bündnis der reaktionärsten Teile d e r Großbourgeoisie zustande zu bringen und auf diese Weise von der Innenpolitik h e r die G r u n d lage der bonapartistischen Diktatur zu festigen - , m u ß t e allerdings ü b e r seine außenwirtschaftlichen Konsequenzen nicht allein bald e r n e u t e Widersprüche zwischen den Fraktionen der Bourgeoisie u n d des J u n k e r t u m s ü b e r die Prioritäten der Handelspolitik aufreißen, sondern angesichts der Durchschlagskraft außenwirtschaftlicher Interessenkonflikte im internationalen R a h m e n ü b e r h a u p t mit Bismarcks kunstvollem diplomatischem Gebäude allseitiger internationaler Rückendeckung kollidieren. Mit der E i n f ü h r u n g des Schutzzollsystems, das infolge der überall ausgelösten Gegenmaßnahmen unbehinderte zwischenstaatliche Handelsbeziehungen weit73

Carl Schräder an Bismarck, 5. 9. 1878, in: ZStAP, Auswärtiges Amt, 7560, Bl. 11. ' Handelsministerium an Bismarck, 15. 4. 1876, in: Ebenda, Bl. 2. 75 Handelsministerium an Bismarck, 29. 10. 1878, in: Ebenda, Bl. 18. 76 Vgl. Böhme, Deutschlands Weg zur Großmacht, S. 534; Wehler, Bismarck und der Imperialismus, S. 231. 57 Erlaß Hatzfeldts an die deutschen Missionen, 1. 11. 1881, in: ZStAP, Auswärtiges Amt, Nr. 8155, Bl. 9; Promemoria, 30. 6. 1883, in: Ebenda, Bl. 21. 78 Vgl. Erlaß Bismarcks an Gesandte bei den deutschen Einzelstaaten, 4. 3. 1879, in: PA Bonn, IAAb Nr. 103, Bd. 1; Wilhelm Bismarck an Staatssekretär Bülow, 1. 2. 1879, in: Poschinger, Aktenstücke zur Wirtschaftspolitik, Bd. 1, S. 303. 79 Erlaß an Unterstaatssekretär Scholz, 9. 1. 1880, in: Ebenda, S. 322. Vgl. auch Erlaß vom 23. 1. 1880, in: Ebenda, S. 324. 7/

136

Heinz Wolter

gehend unterband, w a r faktisch ein latenter wirtschaftlicher Kriegszustand e r klärt, der allen Bemühungen u m einen diplomatisch-politischen Ausgleich entgegenwirkte. Seit der ersten H ä l f t e der 80er J a h r e w a r insbesondere zwischen der industriellen Bourgeoisie Deutschlands u n d Rußlands ein Kampf u m die Erschließung bzw. Abschirmung des russischen Marktes vom deutschen I n d u striewarenexport entbrannt, w ä h r e n d gleichzeitig die preußischen J u n k e r u n d russischen Gutsbesitzer ein ähnliches Ringen u m den Getreideabsatz in Deutschland führten. 8 0 In dem Maße, wie der Expansionsdrang des deutschen Industriekapitalismus über die nationalstaatlichen Grenzen hinauswirkte, w u r d e die deutsche Bourgeoisie ein ernst zu nehmender Rivale im internationalen Außenhandel. Zugleich aber ergab sich aus den besonderen Existenzbedingungen des preußisch-deutschen Bonapartismus, daß jede außenwirtschaftliche Aktivität der deutschen industriellen Bourgeoisie nicht viel weniger als von den ausländischen K o n k u r r e n t e n durch den sozialen Kontrahenten im eigenen Lande gebremst wurde. Verstärkte Exportförderung w a r langfristig nicht mit einer projunkerlichen Agrarzollpolitik vereinbar, weil damit kein Spielraum z u r E r w i r k u n g ausländischer Zollzugeständnisse m e h r z u r Verfügung stand. Dazu k a m noch, daß Bismarcks betont „saturierte" Politik des Bewahrenwollens Ende d e r 80er J a h r e nicht länger auf die an dynamischer Expansion, vor allem in Südosteuropa, orientierten sozialökonomischen Interesse^ bestimmter G r u p p e n u n d Schichten der Bourgeoisie zugeschnitten war. 8 1 Bismarcks auf die Maximen der alten Kabinettsdiplomatie gegründete außenpolitische Konzeption, die ausdrücklich davon ausging, „daß die wirtschaftlichen u n d politischen Beziehungen großer Staaten an sich miteinander nichts zu t u n haben" 82 , h a t t e somit nicht n u r den Kontakt zu den Realitäten der zwischenstaatlichen Beziehungen in der Epoche der vollen Entfaltung des Kapitalismus der freien Konkurrenz verloren, sondern gewährleistete im Verlauf der 80er J a h r e in wesentlichen Erwartungsbereichen immer weniger eine hinreichende Befriedigung der auswärtigen Interessen als entscheidender Träger des j u n k e r lich-bourgeoisen Klassenkompromisses. Es k a n n jetzt an dieser Stelle nicht weiterverfolgt werden, w a s hieran unter Bismarcks Nachfolgern v e r ä n d e r t wurde, wie nach 1890 eine an den Bedürfnissen der Außenwirtschaftspolitik orientierte Außenpolitik angelegt wurde, wobei unter Caprivi zeitweilig die industriellen Interessen dominierten, bis schließlich mit dem Übergang zum Imperialismus im Zuge von Sammlungs-, Flotten- und Weltmachtpolitik wiederum eine neue Phase des junkerlich-bourgeoisen Klassenbündnisses nach innen und außen die Richtung der deutschen Politik vorgab. 80

81 82

Vgl. Kumpf-Korfes, Sigrid, Bismarcks „Draht nach Rußland". Zum Problem der sozial-ökonomischen Hintergründe der russisch-deutschen Entfremdung im Zeitraum von 1878 bis 1891, Berlin 1968; Mai, Joachim, Das deutsche Kapital in Rußland 1850-1894, Berlin 1970. Vgl. Bismarcks Sturz. Zur Rolle der Klassen in der letzten Phase der bonapartistischen Diktatur 1884/85 bis 1890, Berlin 1977. Aufzeichnung Herbert Bismarcks, 22. 7. 1888, in: Die Große Politik der Europäischen Kabinette, Bd. 6, S. 324.

Außenpolitik und Bismarcksdier Bonapartismus

137

Es soll abschließend als Zusammenfassung nur konstatiert werden, daß der Stellenwert der Außenpolitik im System des Bismarckschen Bonapartismus umfassender als im vereinfachenden Sinne einer bloß manipulierenden und dabei hervorragend funktionierenden Ablenkungsstrategie gesehen werden muß. In dem Maße, wie die Außenpolitik in die inneren sozialen und politischen Auseinandersetzungen der herrschenden Klassen eingriff, verlor die einstige Domäne Bismarcks immer mehr ihren Wert als bonapartistisches Blendwerk und trug die Außenpolitik ihrerseits wesentlich dazu bei, die Grundlagen des bonapartistischen Herrschaftssystems zu erschüttern.

Konrad Canis

Wirtschafts- und handelspolitische Aspekte der deutschen Außenpolitik zu Beginn der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts

I. Das Grundkonzept der Bismarckschen Außenpolitik nach 1871 w a r orientiert an dem Gegensatz zu Frankreich, der determiniert w u r d e gesellschaftspolitisch vor allem durch die Wirkung der Pariser K o m m u n e u n d außenpolitisch durch die Annexion Elsaß-Lothringens. Es zielte auf den A u f b a u eines Bündnisses der monarchisch-konservativen Staaten Deutschland, Rußland und Österreich-Ung a r n als Gegengewicht gegen revolutionäre u n d außenpolitische Bedrohungen. 1 Dieses Konzept sollte - insofern w a r e n die gesellschaftspolitischen Aspekte sowohl grundsätzlicher als auch taktischer N a t u r - die prinzipiell f ü r alle europäischen Großmächte nachteilige Wirkung der durch die vorrangig mit außenpolitisch-militärischen Mitteln vollzogene Reichsgründung h e r v o r g e r u f e n e n Veränderung des Kräfteverhältnisses der Mächte in Europa möglichst ausgleichen oder wenigstens gering halten - ein von vornherein sehr schwieriges Vorhaben, das höchstens Erfolgsaussichten besaß, w e n n der leitende Gesichtspunkt d e r Außenpolitik die Friedenssicherung mit allen Konsequenzen war, u n d das h ä t t e den Verzicht auf jede nach außen aggressive Handlung u n d Vorstellung in allen Bereichen der staatlichen Politik bedeutet. F ü r eine solche Richtung d e r Politik fehlte aber von A n f a n g an unter den herrschenden Klassen des neuen Reiches eine tragfähige Basis, und es gab sie ebensowenig in Rußland, England, Frankreich u n d Österreich-Ungarn. $ o zeigten sich bereits 1875/76 die begrenzten Anwendungsmöglichkeiten des 1873 abgeschlossenen Dreikaiserabkommens, als die zaristische Regierung nicht bereit war, jede antifranzösische Aktion Bismarcks zu billigen, u n d als die orientalischen Wirren den russisch-österreichischen Gegensatz verschärften. Der Kanzler orientierte sich nach 1876 nicht mehr ausschließlich auf das Dreikaiserabkommen, f a ß t e jedoch auch keine grundsätzliche Neuorientierung ins Auge, sondern b a u t e sich zusätzlich einige Aushilfslösungen auf, durch die er, über eine A r t freier Vermittlerposition, vor allem die Beziehungen zwischen den Dreikaisermächten zu regulieren versuchte. Ihm schwebte ein Bild vor „ n i c h t . . . 1

Engelberg, Ernst, Deutschland 1871-1897, Berlin 1965, S. 88ff.; Wolter, Heinz, Die Anfänge des Dreikaiserverhältnisses. Reichsgründung, Pariser Kommune und die internationale Mächtekonstellation 1870—1873, in: Die großpreußisch-militaristische Reichsgründung 1871. Voraussetzungen und Folgen, Bd. 2, hrsg. von H. Bartel und E. Engelberg, Berlin 1971, S. 235 ff.

140

Konrad Canis

irgend eines Ländererwerbs, sondern das einer politischen Gesamtsituation, in welcher alle Mächte außer Frankreich unser bedürfen, u n d von Koalitionen gegen u n s durch ihre Beziehungen zueinander nach Möglichkeit abgehalten werden". 2 Von den gegebenen außenpolitischen Gegensätzen zwischen den Großmächten ausgehend, versuchte Bismarck, diese als Gewichte u n d Gegengewichte auszubalancieren,indem er gegeneinander gerichtete Tendenzen u n d Interessen insoweit entweder freizulegen oder zu aktivieren oder weitgehend auszugleichen bestrebt war, daß die Gegensätze der Großmächte zu Deutschland neutralisiert, dem Reich jede Option erspart, aber die Voraussetzungen f ü r seine Vermittlertätigkeit ständig offengehalten wurden, was eine Rivalität zwischen den P a r t n e r n des Reiches voraussetzte. Diese Konstellation sollte die Isolation Frankreichs gewährleisten - eine Absicht, die Bismarck zusätzlich durch die F ö r d e r u n g der Widersprüche der P a r t n e r , vor allem Englands, später auch Italiens, zu F r a n k reich zu forcieren bestrebt war. Der Nachteil dieses Planes bestand - u n d das galt f ü r die außenpolitische Konzeption Bismarcks generell - in der p r i m ä r diplomatischen Sicht, die die Dyn a m i k der sich in den Staaten vollziehenden ökonomischen u n d innenpolitischen Entwicklung und i h r e außenpolitischen Konsequenzen weitgehend außer acht ließ. Diese Tendenz w a r es vor allem, die den Kanzler zwang, bereits 1879 seine Richtung zu modifizieren: e r versuchte, mit festen Sicherungen zunächst das deutsch-österreichische Verhältnis besonders zu stabilisieren, u m von dieser neuen Basis aus das Dreikaiserverhältnis wiederzubeleben u n d dadurch von einer weitgehend gesicherten Konstante aus die im Kissinger Diktat formulierte Vermittlerposition zu behaupten. Die Wiederbelebung der Dreikaiserpolitik gelang A n f a n g der 80er J a h r e , weil die verschiedenen zaristischen Expansionsrichtungen Rußland in Gegensatz zu England, Österreich-Ungarn und Frankreich bringen m u ß t e n und es der Petersburger Regierung geraten erscheinen ließen, die Bundesgenossenschaft Deutschlands zu suchen, die zoll- u n d handelspolitischen Gegensätze zum BismarckStaat deshalb zunächst in den Hintergrund zu drängen u n d sogar die Einbezieh u n g Österreichs in das Bündnis zu dulden. Zugleich ergab sich in den deutschfranzösischen Beziehungen eine gewisse Entspannung, die aus kolonialpolitischen Gegensätzen Frankreichs zu Italien und England resultierte, die von Bismarck diplomatisch zusätzlich kultiviert w u r d e n . So b e f a n d sich 1881 das Deutsche Reich außenpolitisch in einer Situation, die der von Bismarck im Kissinger Diktat vorgezeichneten Konstellation der Mächte prinzipiell entsprach, w e n n diese - hat m a n die Entwicklungstendenzen der langfristig wirkenden w i r t schaftlichen Gegensätze und die taktischen Aspekte beispielsweise d e r zaristischen außenpolitischen Position im Auge - auch n u r temporären C h a r a k t e r besitzen konnte. 2

Die Große Politik der Europäischen Kabinette 1871—1914. Sammlung der diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes, hrsg. von J. Lepsius, A. Mendelssohn-Bartholdy, F. Thimme, Berlin 1922 ff. (im folgenden: GP), Bd. 2, S. 153 f. („Kissinger Diktat" 15. 6. 1877).

Wirtschafts- und handelspolitische Aspekte

141

Mitte der 80er Jahre brach die außenpolitische Krise offen hervor. Die grundlegender! Gefahren für die Substanz der Bismarckschen Außenpolitik ergaben sich daraus, daß der Zusammenbruch des Dreikaiserbündnisses zusammenfiel mit einer Verschärfung des deutsch-französischen Gegensatzes. Diese Doppelkrise in den Ost- und Westbeziehungen des Reiches bedeutete, daß sowohl die Zielsetzungen als auch die Mittel und Wege der Bismarckschen Außenpolitik fragwürdig geworden waren. Übereinstimmend wird in den Arbeiten der Geschichtswissenschaft der DDR zu diesem Gegenstand bei der Analyse der Ursachen der Krise die Bedeutung des wirtschafts- und handelspolitischen Gegensatzes zwischen Deutschland und Rußland hervorgehoben.3 Es spricht aber vieles dafür, daß die Krisenerscheinungen insgesamt, gerade auch im deutsch-französischen Spannungsfeld, in starkem Maße von Vorgängen im wirtschafts- und handelspolitischen Bereich mitbestimmt waren.4 Besonders nach Ausbruch der neuen Wirtschaftskrise 1882/83 entwickelten sich im handelspolitischen Bereich bemerkenswerte Differenzen zwischen Deutschland und Rußland, Deutschland und Frankreich, Deutschland und England, selbst zwischen dem Reich und Österreich-Ungarn. Die deutsch-österreichischen Pifferenzen blieben angesichts der politischen Allianz und des relativ geringen Eigengewichts letztlich ohne gravierende politische Wirkung. Auch die handelspolitischen Gegensätze zwischen Deutschland und England besaßen in diesen Jahren nur geringe politische Effizienz. Aber zweifellos wurde in dieser Phase eine Entwicklung eingeleitet, die später - in der Epoche des Imperialismus - zu dem ausgereiften deutsch-englischen Gegensatz führte, der die Beziehungen zwischen den imperialistischen Großmächten maßgeblich bestimmte. Im folgenden soll nun untersucht werden, wie sich vor dem Ausbruch der Wirtschaftskrise 1882/83 die Anfänge dieser Entwicklung im handelspolitischen Bereich vollzogen - in einer Phase, in der das außenpolitische System Bismarcks in jeder Beziehung stabil schien. Betrachtet man die Richtung der deutschen Wirtschafts- und Handelspolitik in diesen Jahren, fallen zwei entscheidende Aspekte ins Gewicht. Der eine Aspekt ist genereller Natur und betrifft nicht nur Deutschland, weil er mit dem inzwischen erreichten Entwicklungsstand der kapitalistischen Wirtschaft zusammenhing. Die in ihrer Tiefe und Spezifik die herrschenden Klassen überraschende, 1873 ausgebrochene Wirtschaftskrise und die ihr folgende Depression zwangen die führenden Exponenten beider Klassen innerhalb und außerhalb der Regierung zu Überlegungen und Maßnahmen, um sich auf diese Entwicklung einzustellen. Der andere Aspekt ergab sich aus der innenpolitischen Entwicklung. Die Veränderungen in dem Kräfteverhältnis der Klassen und Schichten als Resultat 3

4

Vgl. vor allem Kumpf-Korfes, Sigrid, Bismarcks „Draht nach Rußland", Berlin 1968; Mai, Joachim, Das deutsche Kapital in Rußland 1850—1894, Berlin 1970. Canis, Konrad, Bismarck und Waldersee. Die außenpolitische Krise der bonapartistischen Diktatur und die Position des Generalstabes, Dissertation B, Rostock 1975, S. 78 ff.

142

Konrad Canis

der Entwicklung des Kapitalismus in Wirtschaft und Gesellschaft stellten Ende der 70er J a h r e die Formel des Klassenkompromisses von 1866/71 partiell in jFrage. Auf der Suche nach Auswegen griff Bismarck die Schutzzoll- u n d Exportförderungswünsche wirtschaftlich f ü h r e n d e r großbürgerlicher K r ä f t e auf u n d koppelte sie mit den Schutzzollplänen des J u n k e r t u m s . Damit trug er im ökonomischen Bereich der veränderten Klassenlage einigermaßen Rechnung, indem er auf die ökonomischen Interessen der großbürgerlichen Klassenkräfte einging, die die gegebenen Machtverhältnisse a m ehesten befürworteten. Die Verbesser u n g der wirtschaftlichen Möglichkeiten der herrschenden Klassenkräfte und das repressive Vorgehen gegen die rasch wachsende Arbeiterbewegung w a r e n die beiden Seiten von Bismarcks Politik zur Stabilisierung der bonapartistischen Diktatur. 5 II. Die Weltwirtschaftskrise von 1873 w a r vor allem dadurch hervorgerufen worden, daß die Erweiterung des Absatzmarktes mit der raschen Steigerung der Industrieproduktion nicht Schritt halten konnte. In dieser Erscheinung offenb a r t e es sich, daß der Kapitalismus der freien Konkurrenz die Grenzen seiner Entwicklungsmöglichkeiten erreicht hatte. Diese Überproduktion f ü h r t e zu einer Verlangsamung des Entwicklungstempos der Produktion, vor allem aber zu einem Sinken ihres Wertes, also zu Preisverfall u n d Gewinnschmälerung der Unternehmen. So sank die Menge der Industrieproduktion von 1873 bis 1874 u m 5%, w ä h r e n d ihr Wert u m 15% fiel.6 Die Krise ging in eine schwere u n d lange anhaltende Phase der Depression über, der ein schwacher und k u r z e r A u f schwung 1879-1882 folgte, bis 1882/83 eine neue Wirtschaftskrise ausbrach. Die Produktion stieg, w e n n auch langsam, in den meisten Zweigen nach 1873 bald wieder an, aber Überproduktion, Absatzstockung, Preisverfall u n d allgemeine geschäftliche F l a u t e blieben symptomatisch f ü r die wirtschaftliche Situation. Die Zuwachsrate der Weltindustrieproduktion fiel von 4,6 % durchschnittlicher Jahreszuwachsrate 1848-1873 auf 3 , 1 % in den J a h r e n 1873-1896; in Deutschland gingen f ü r die gleichen Zeiträume die Zuwachsraten von 4-5 % auf 2 , 6 - 3 % zurück. 7 Die deutschen Großhandelspreise (Index: 1913 = 100) sanken von 120 (1873) auf 81 (1879) und 72 (1886). Besonders von der Krise betroffen w a r die deutsche Schwerindustrie, vor allem die Eisenerzeugung. Ihre P r o d u k t e flössen bisher hauptsächlich in den Eisenbahnbau. Hier aber trat, nachdem das deutsche Eisenbahnsystem 1870-1875 u m 50 % ausgedehnt worden war, eine Sättigung ein. Die gesamte Eisenproduktion in Deutschland sank von 2,2 Mill. t im J a h r e 1873 auf 1,8 Mill. t 1876. Der Eisen5

6 7

Engelberg, Ernst, Revolutionäre Politik und Rote Feldpost. 1878—1890, Berlin 1959, S. lff.; Seeber, Gustav, Preußisch-deutscher Bonapartismus und Bourgeoisie, im vorliegenden Band. Engelberg, Deutschland 1871—1897, S. 54f.; Kuczynski, Jürgen, Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, Bd. 12, Berlin 1961, S. 28. Die folgenden Angaben bei Wehler, Hans-Ulrich, Bismarck und der Imperialismus, Köln/(West-)Berlin 1969, S. 44 ff.

Wirtschafts- und handelspolitische Aspekte

143

verbrauch fiel von 1873 bis 1879 um 50 %. Am Ende der kurzen Aufschwungsphase im Jahre 1882 hatte der Eisenverbrauch erst die Höhe von 1874 erreicht, blieb aber noch um 3 0 % hinter dem Verbrauch von 1873 zurück. Viel einschneidender war aber in der Eisenbranche der Preisverfall. Während nach dem oben verwendeten Index die Preise der Industriestoffe insgesamt von 1873 bis 1879 von 136 auf 77 fielen, sanken sie bei Eisen von 181 auf 76, bei Steinkohle von 116 auf 49; bei Textilwaren übrigens von 108 auf 83 und bei der Landwirtschaft von 95 auf 77. Der Wert der deutschen Eisenerzförderung und Roheisenproduktion sank in diesem Zeitraum von 43,4 auf 26,7 bzw. von 248,6 auf 112,3 Millionen Mark. Zunehmende Mechanisierung und Rationalisierung der Produktion, die Senkung der Herstellungskosten, die Zunahme der Konkurrenz und die Erleichterung der Marktversorgung führten zu einer weiteren Erhöhung des Produktionsvolumens und dadurch zu einer permanenten Uberproduktion auch in den folgenden Jahren. Dabei hatte der Umfang der Investitionen nach 1873 sogar abgenommen, denn relativ geringe Dividenden und sinkende Aktienkurse ließen Banken und Unternehmer vor neuen Anlagen zurückscheuen. Zugleich beschleunigte die Depression den Prozeß der Konzentration der Produktion und des Kapitals. Vor allem im Bergbau, in der Schwerindustrie und im Bankwesen kam es zur Bildung von Großunternehmen. Durch forcierten Export versuchte die deutsche Industrie der Überproduktion und den binnenwirtschaftlichen Absatzschwierigkeiten Herr zu werden. Der Exportvolumenindex des deutschen Außenhandels (1913 = 100) betrug 1873 17,7 und stieg bis 1878 auf 26, l8, hatte sich also gerade in den Jahren der ersten Depression um die Hälfte erhöht. Auch hier fällt wieder der große Anteil der Schwerindustrie auf. 1872 bis 1878 nahm die Ausfuhr von Roheisen von 151000 t auf 419 000 t zu, der Export von Schienen stieg von 70 700 t auf 207 000 t, von Maschinen von 37 300 auf 72 300. Allein in den Jahren 1876-1878 stieg der Eisenund Stahlwarenexport von 807 000 auf 1,3 Mill. t. Gleichzeitig gingen die deutschen Importe aus diesen Warengruppen zurück: Roheisen sank 1873-1878 von 690 000 auf 330 000 t. Der Anteil des Imports aus England am deutschen Eisenverbrauch ging von 1873 bis 1880 von 24,4 % auf 8,7 % zurück. Von 1873 bis 1896 stieg die Wachstumsrate der gesamten deutschen industriellen Ausfuhr fast doppelt so schnell wie die der Industrieproduktion, und diese wiederum nahm rascher zu als der Import. Der Anteil der Investitionsgüter und Fertigwaren am Gesamtexport erhöhte sich beträchtlich.9 Der Exportvorstoß der deutseihen Eisenindustrie verlief vor allem auf Kosten der englischen und belgischen Konkurrenz. Während seit 1873 der Export der englischen Eisenindustrie rückläufig war, entwickelte sich der deutsche besonders nach Rußland, Holland, Asien und Südamerika. Aber auch auf dem deutschen Markt war in den Jahren der Depression die Position der deutschen Eisenindustrie besser als in den Jahren 1871-1873. Von einer Überschwemmung des deutschen Marktes mit ausländischem Eisen konnte also keine Rede sein. Das zeigte 8

9

Hoffmann, W. G., u. a., Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Heidelberg 1965, Tab. 129. Die Angaben bei Wehler, Bismarck und der Imperialismus, S. 72 ff.

144

Konrad

Canis

sich auch in der Produktionssphäre. Zwar war von 1873 bis 1876 die Roheisenproduktion - wie wir gesehen hatten - zurückgegangen. Aber 1879 hatte sie fast wieder die Höhe von 1873 erreicht.10 Im Ruhrgebiet begann der Anstieg schon nach 1874 und übertraf bereits 1877 das Produktionsvolumen des Krisenjahres. Die Produktion von Stahl, der das Eisen als Grundstoff immer mehr verdrängte, hatte sich in Deutschland von 1871 bis 1879 sogar verdoppelt. Aber diese Entwicklung führte immer von neuem zur Überproduktion, zumal die deutsche Nachfrage an Produkten aus Eisen 1873 bis 1879 um 4 8 % fiel11, so daß der Produktionssteigerung eine weiter zunehmende Exportorientierung entsprach. Die Eröffnung neuer Absatzwege erschien den führenden Industriekapitalisten an Rhein und Ruhr wie in Oberschlesien als der einzig mögliche Ausweg aus der Sackgasse der Überproduktion. 12 Man muß dabei beachten, daß die Bourgeoisie die tieferen Ursachen der Krise nicht zu erkennen und wirkungsvolle Gegenmaßnahmen nicht einzuleiten vermochte. Dadurch begleiteten Unsicherheit, Hektik und Nervosität alle Stabilisierungsversuche und potenzierten sich, je länger die Depression anhielt. Diese Tendenz traf vor allem auf die Vorstellung zu, daß die Konkurrenz des Auslandes für die Absatz- und Preiskrise verantwortlich sei. So besaß die zunehmende Ausfuhrorientierung von vornherein eine diese Konkurrenz des Auslandes provozierende aggressive Note und führte zu einer Zuspitzung des internationalen wirtschaftlichen Konkurrenzkampfes, zumal die Forcierung des Exports von den ebenfalls von Krise und Depression betroffenen anderen kapitalistischen Großmächten mit den gleichen Motiven betrieben wurde. Geht man davon aus, daß sich der Unternehmer durchsetzen konnte, der die Ware am billigsten verkaufte, bedeutete das, daß die allgemeine Tendenz des Preisverfalls bewußt in Kauf genommen und sogar gefördert werden mußte von denen, die sich auf dem Weltmarkt behaupten bzw. ihre Position verbessern wollten. Wilhelm v. Kardorff, später führender Kopf der deutschen Schutzzollpolitik, betonte 1875, daß ein solches Vorgehen nur durchzusetzen sei, wenn zuvor der deutsche Binnenmarkt monopolisiert werde, so daß hohe Preise im Inland das notwendige Korrelat zu den Schleuderpreisen beim Export bildeten.13 Der deutsche Verbraucher sollte also eine überzogene, Extraprofit sichernde Exportfähigkeit des kapitalistischen Unternehmers finanzieren. Die deutsche Baumwollindustrie, die den Druck der englischen Konkurrenz besonders spürte, votierte bereits offen für eine ; wirtschaftspolitische Wendung zum Schutzzoll. Kardorff und die Eisen- und Stahlindustriellen gingen vorsichtiger, aber noch wirksamer vor. Ihren ersten Erfolg konnten die Schutzzöllner auf dem „Volkswirtschaftlichen Kongreß" im September 1875 verbuchen, wenn auch mehr als ein Abstimmungssieg noch nicht heraussprang. 14 10

11 12 13 14

Hardach, Karl W., Die Bedeutung wirtschaftlicher Faktoren bei der Wiedereinführung der Eisen- und Getreidezölle in Deutschland 1879, (West-)Berlin 1967, S. 40 f. Ebenda, S. 45. Wehler, Bismarck und der Imperialismus, S. 139 ff. Kardorff, Wilhelm v., Gegen den Strom, Berlin 1875, S. 30 ff. Engelberg, Deutschland 1871-1897, S. 59.

Wirtschafts- und handelspolitische Aspekte

145

Diese von Überproduktion, Exportförderung und Schutzzolltendenzen geprägte Zuspitzung des Konkurrenzkampfes auf dem Weltmarkt wirkte sich auf die internationalen Beziehungen, vor allem auf das Verhältnis zwischen den Großmächten, aus. Allerdings wäre es falsch, ein lineares Abhängigkeitsverhältnis vorauszusetzen, zumal die politischen Faktoren, die die Beziehungen zwischen den Großmächten beeinflußten, den ökonomischen Gegensatz hinsichtlich seines politischen Effekts zurückdrängen oder zeitweilig neutralisieren konnten, wenn ihre Stoßrichtungen unterschiedlich waren. Andererseits „politisierten" die deutschen Schutzzöllner selbst die wirtschaftlichen Gegensätze, indem sie ihre spezifischen Profitinteressen zu Forderungen nach dem „Schutz der nationalen Arbeit" gegen die „Überschwemmung und Aussaugung" des deutschen Marktes durch die ausländische Konkurrenz drapierten. Zur Abrundung des Bildes sei ein Blick auf die wirtschaftliche Lage der für die auswärtigen Beziehungen des Deutschen Reiches besonders wichtigen europäischen Großmächte geworfen. In England, das von der Krise besonders hart betroffen war, fielen die jährlichen Wachstumsraten von 3 - 4 % vor 1873 auf unter 2 %• Der britische Warenexport, der von 1860 bis 1870 um 46 % angestiegen war, ging von 1872 bis 1875 um 2 5 % zurück15; am häufigsten mußte der englische Export der amerikanischen und deutschen Konkurrenz weichen. Vor allem die Ausfuhr nach Deutschland selbst nahm rapide ab. Die Ausfuhr schottischen Roheisens nach Deutschland betrug 1876 88 471 t gegen nur 69 470 t ein Jahr später, während die schottische Erzindustrie ihren Export nach Frankreich, Italien und den USA im selben Jahr steigern konnte. 16 Schon vor der Einführung des Schutzzolles gelang es also der deutschen Eisenindustrie, einen erfolgreichen Kampf gegen die englische Konkurrenz auf dem deutschen Markt zu führen. Besonders nachhaltig machte sich in der englischen Industrie der Preisverfall bemerkbar. Zwischen 1873 und 1878 fielen die Industriepreise um durchschnittlich 40 %, bei Baumwolle auf etwa 60 %, Wolle etwa 65 %, Kohle knapp über 50 % und Eisen auf ca. 55 % des Wertes von 1873.17 In Österreich-Ungarn nahm im Bergbau die Kohlenförderung zu, die Eisenerzförderung ab: 1879 betrug die Steigerung bei Kohlen 15-20 % des Volumens von 1874. Die Eisenerzförderung sank von 18,2 Mill. Ztr. 1874 auf 10,8 Mill. Ztr. im Jahre 1877 und stieg bis 1879 wieder auf 12,6 Mill. Ztr. an. Obwohl der gesamte Bergbau 1877-79 eine Produktionssteigerung verzeichnete, fiel sein Wert weiter ab: er betrug 1874 46,3 Mill. Gulden, 1877 40,7 und 1879 40,3. Ähnlich war die Lage bei Roheisen: 1874 wurden 6,6 Mill. Ztr. produziert, 1877 5,2 und 1879 5,7 Mill. Ztr. Aber der Wert der gesamten Hüttenproduktion sank in diesen Jahren von 28,8 auf zunächst 22,4, dann weiter auf 20,9 Mill. Gulden ab.18 Auch die österreichisch-ungarische Produktion orientierte sich mehr und mehr auf den Export: die verbesserten Produktionsmöglichkeiten im Jahre 1879 wurden nicht zuletzt auf die zunehmende Ausfuhr in die Donau- und Levanteländer 15

Vgl. die Angaben bei Wehler, Bismarck und der Imperialismus, S. 47 f. Preußisches Handelsarchiv, Berlin, Jg. 1878, 2. Teil, S. 54. 17 Ebenda, S. 441. is Deutsches Handelsarchiv, Berlin, Jg. 1880, 2. Teil, S. 273 ff. 16

10

J a h r b u c h 16

146

Konrad Canis

zurückgeführt, eine Entwicklungstendenz, die in den folgenden Jahren den Gegensatz zum russischen Zarismus zusätzlich verschärfte. Der Verlauf der Wirtschaftskrise und der nachfolgenden Depression in Rußland mußte für die deutsche Industrie besonders wichtig sein, betrug doch Mitte der 70er Jahre der Anteil Rußlands am deutschen Gesamtexport 24 %. 1 9 Es handelte sich dabei in erster Linie um Produkte der Eisenindustrie, der Rüstungsindustrie, des Maschinen- und Apparatebaus, der Textil- und Chemieindustrie sowie elektrotechnischer Zweige. Krupp, Siemens, Henckel und L. Löwe waren die wichtigsten Unternehmen für den Export nach Rußland. Die Krise führte auch in Rußland zu Produktions- und Absatzstockungen. Zugleich sank der Wert des Getreideexports. Dadurch fiel der Rubelkurs. Als die Kriegsvorbereitungen gegen die Türkei den Staatshaushalt zusätzlich belasteten, stand Rußland 1877 vor dem Staatsbankrott. Als erste Reaktion erfolgte im selben Jahre die staatliche Anordnung, daß alle Zölle nicht mehr in Papier-, sondern in Goldrubel zu zahlen seien. Das kam einer Zollerhöhung um 50 % gleich und sollte die Hauptimportländer Rußlands, Deutschland und England, besonders wirksam treffen - eine erfolgreiche Maßregel, wie die zahlreichen Proteste deutscher Industrie- und Handelsunternehmer zeigten. Die Hauptinitiatoren der russischen Zollpolitik waren die Großbourgeois des zentralrussischen Industriegebietes, vor allem der Moskauer Textilindustrie. Sie setzten hauptsächlich russisches Kapital ein, orientierten sich auf die eigenen Rohstoffbasen und waren vom Staat bisher wenig unterstützt worden. Hier lagen wichtige sozialökonomische Wurzeln des russischen Nationalismus und Chauvinismus, deren Wortführer vor allem gegen die wirtschaftliche Konkurrenz Deutschlands auf dem russischen Markt propagandistisch zu Felde zogen. Höhere Zölle wurden verlangt, zumal die Steigerung von 1877 den deutschen Export nur wenig abzustoppen vermochte: nur bei Textilien, Stahl und Eisenbahnmaterial war ein spürbares Absinken zu verzeichnen. Dagegen hatte der Roheisenimport aus Deutschland sogar stark zugenommen. Seit Mitte der 70er Jahre mehrten sich in Deutschland die Symptome einer Agrarkrise. Schlechte eigene Ernten und zunehmende Importe aus Rußland und seit Ende der 70er Jahre aus den USA führten dazu, daß die deutschen Getreideproduzenten den traditionell sicheren englischen Markt verloren und 1876 erstmals der Exportüberschuß des Weizens entfiel. Die Roggeneinfuhr stieg von 0,5 Mill. t 1872 auf 1,33 Mill. t 1879. Davon entfielen 5 0 % auf russischen Roggen. Die Gesamtindexziffer des Getreidepreises zeigt, daß er zunächst nur langsam sank: 1870 104, 1875 108 und 1880 100 (1913 = 100). 20 Da aber in Deutschland schlechte Ernten und nachlassende Preise zusammenfielen, nahm das durchschnittliche jährliche Arbeitseinkommen der Landwirtschaft von 1876 an ab, von 475 Mark auf 431 Mark im Jahre 1878 und schließlich auf 402 Mark 1879. 21 Hier liegen die Ursachen für die Zunahme der protektionistischen Stimmung unter 19 20 21

Vgl. für das folgende Kumpf-Korfes, Bismarcks „Draht nach Rußland", S. 6 ff. Hardach, Die Bedeutung wirtschaftlicher Faktoren, S. 80 ff. Wehler, Bismarck und der Imperialismus, S. 89.

Wirtschafts- und handelspolitische Aspekte

147

den preußischen Junkern und deutschen Groß- und Mittelbauern nach 1875, wenn sie auch in den einzelnen Regionen des Reiches zunächst von unterschiedlicher Intensität und Verbreitung blieb. JMach dem Einbruch des billigen amerikanischen Weizens in die europäischen Agrarmärkte sank der deutsche Getreidepreis rapide. Seine Indexziffer betrug 1884 nur noch S4.22 Von 1879 bis 1885 fielen die Getreidepreise um ca. 20%. Das war die Situation, in der sich die Schutzzollinteressenten in Industrie und Landwirtschaft zu formieren begannen. Die Eisen- und Stahlindustrie verfügte bereits über einen eigenen Verband und spielte außerdem im Verein zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen in> Rheinland und Westfalen (Langnamverein) die führende Rolle, als 1876 auf Kardorffs Initiative der Centraiverband Deutscher Industrieller gegründet wurde als Organisation der Schutzzollinteressenten aus der Industrie des gesamten Reichsgebietes. Auch im Centraiverband gab die rheinisch-westfälische Eisenindustrie den Ton an. Ihre Wortführer verbanden sich mit den Schutzzollinteressenten der Baumwoll- und Wollindustrie sowie der Leder-, Papier- und Porzellanproduktion.23 Als Hauptforderung verlangten sie zunächst die Beibehaltung des noch bestehenden geringen Eisenzolls, der 1877 entfallen sollte. Aber noch im Gründungsjahr traten die rheinisch-westfälische und die schlesische Gruppe der Eisen- und Stahlindustriellen für die Wiedereinführung eines Roheisenzolls ein. Louis Baare, der Chef des Großunternehmens Bochumer Verein, betonte, daß ausländisches Roheisen nicht mehr unentbehrlich für die deutsche Eisen- und Stahlindustrie sei. Ludwig Löwe, Schwager von Baare und selbst Stahl- und Rüstungsproduzent, versuchte inzwischen gemeinsam mit Kardorff und dem Saarindustriellen Carl Ferdinand Stumm, im Reichstag Stimmung für eine wirtschaftspolitische Neuorientierung zu machen. Im selben Jahre hatte sich eine größere Gruppe von Großagrariern mit der Vereinigung der Steuer- und Wirtschaftsreformer ebenfalls eine Organisation zur Durchsetzung ihrer Schutzzollwünsche geschaffen. Zu einem Zusammengehen mit den industriellen Schutzzollgruppen kam es noch nicht. Sachlich lag eine solche Kooperation ohnehin nicht nahe: landwirtschaftliche Zölle mußten die Lebenshaltungskosten erhöhen und konnten zu neuen Lohnforderungen der Industriearbeiter führen; Industriezölle würden eine Verteuerung der landwirtschaftlichen Maschinen nach sich ziehen. Es mußten also übergreifende politische und taktische Motive den Ausschlag geben, wenn ein Zusammenspiel zustande kommen sollte. Der Centraiverband hatte bei der Gründung sein Ziel mit der verschwommenen Formel „Wahrung der industriellen und wirtschaftlichen Interessen des Landes und die Beförderung der nationalen Arbeit" umschrieben. Dieses Vorgehen war ein Versuch, innere Probleme über einö Aktivität nach außen zu lösen. Die 22 23

10»

Hardach, Die Bedeutung wirtschaftlicher Faktoren, S. 84. Lambi, Ivo N., Die Organisation der industriellen Schutzzollinteressenten, in: Moderne deutsche Wirtschaftsgeschichte, hrsg. von K. E. Born, Köln/ (West-) Berlin 1966, S. 296 ff.; derselbe, Die Schutzzollinteressen der deutschen Eisen- und Stahlindustrie 1873—1879, in: Probleme der Reichsgründungszeit 1848—1879, hrsg. von H. Böhme, (West-)Berlin/Köln 1968, S. 318 ff.

148

Konrad

Canis

Sicherung der Profitinteressen erhielt den Anspruch eines nationalen Anliegens. Zwangsläufig mußte diese Tendenz, besonders aber die entsprechenden praktischen Schritte der Wirtschaftspolitik, wirtschafts- und handelspolitische Gegensätze zu den anderen kapitalistischen Großmächten Europas hervorrufen. Das zeigen schon die Argumente, die in der seit Mitte 1876 verstärkten Schutzzollagitation auftauchten: Ende Mai begründeten süddeutsche, rheinische, sächsische Textilfabrikanten und rheinische Eisenindustrielle in einer Petition an den Bundesrat ihre Forderung nach einem autonomen Zolltarif mit zwei angeblichen Notwendigkeiten: dem Schutz gegen die englische Konkurrenz und der Offensive auf dem russischen Markt. Die Führer des Langnamvereins und der nordwestlichen Gruppe des Eisen- und Stahlverbandes sahen im Aufbau eines autonomen Handelsvertragssystems auf der Basis des Schutzzolls den einzigen Weg „zur Wahrung der Größe und Machtstellung unseres teuren Vaterlandes", bei weiterbestehendem Freihandel dagegen die „Auslieferung der deutschen Industrie an England". Auch seine politische Macht würde Deutschland nur durch den Aufbau eines Schutzzollsystems sichern und entfalten können 24 - ganz bewußt spielten die Exponenten der Zollpolitik diese Version in den Vordergrund. Durch sie erhielten aber nicht n u r die protektionistischen Kreise vor allem in Rußland und England Argumente f ü r eine handelspolitische Gegenaktion geliefert, sondern eine solche Agitation konnte in der Konsequenz auch die politischen Gegensätze zu diesen Staaten zuspitzen. Im deutsch-russischen Verhältnis hat diese Entwicklung die politischen Beziehungen der herrschenden Klassen beider Staaten bereits unmittelbar nach 1876 beeinflußt. Zugleich brachte diese Entwicklung eine wichtige innenpolitische Reaktion hervor. Das Aufkommen der Schutzzollbewegung und der Niedergang des ökonomischen Liberalismus waren nicht nur Ausdruck einer allgemeinen wirtschaftsund handelspolitischen, sondern auch einer sozialpolitischen Unsicherheit. Klagen über Preise, Handelsstockung und ausländische Konkurrenz gingen einher mit Antidemokratismus und Revolutionsfurcht. Die Hoffnung der auf ein neues Zolltarifsystem festgelegten Teile der Bourgeoisie konzentrierte sich nicht n u r hinsichtlich der Realisierung der Zollpolitik, sondern auch bezüglich des Vorgehens gegen die sich stärkende Arbeiterbewegung immer eindeutiger auf ein energisches Einschreiten der Staatsmacht. Charakteristisch f ü r diese Tendenz ist eine Rede Kardorffs im preußischen Abgeordnetenhaus im März 1876: er trat f ü r eine Erhöhung der indirekten Steuern zur Stärkung der Reichsfinanzkraft ein, die dem parlamentarischen Zugriff weitgehend entzogen bleiben sollte. Er bedauerte, daß es im Reich kein Anti-Streik-Gesetz gab, und schließlich hielt er es f ü r falsch zu sagen, Deutschland besäße zuviel Militär. 25 Diese Entwicklung drückt die zunehmende Differenzierung innerhalb der Bourgeoisie aus: ein bedeutender Teil der' Großindustrie schwenkte politisch nach rechts, während mittlere Unternehmer der Verarbeitungsindustrie sowie f ü h rende K r ä f t e des Handels- und Bankkapitals politisch mehr auf die Ebene der 24

25

Böhme, Helmut, Deutschlands Weg zur Großmacht, Köln/(West-)Berlin S. 421 f., 424 ff. Kardorff, Siegfried v., Wilhelm v. Kardorfl, Berlin 1936, S. 125.

1966,

Wirtschafts- und handelspolitische Aspekte

149

Fortschrittspartei und der linken Gruppe der Nationalliberalen Partei gerieten, die seit 1877 in zunehmender Opposition zur bonapartistischen Diktatur Bismarcks standen. Zwar erreichte diese Opposition niemals die Grundsätzlichkeit der antibonapartistischen Politik der Arbeiterbewegung. Aber zumindest ein zeitweiliges Zusammengehen beider Bewegungen schien nicht gänzlich außer Frage zu stehen. Von dieser Seite her stellte sich für Bismarck das Gesamtproblem. Er hatte schon vor 1877 erste Versuche unternommen, der zaghaft zunehmenden liberalen Opposition über eine gegen ihre parlamentarischen Ansprüche gerichtete Reorganisation der Reichsfinanzen und Reichsbehörden die Spitze abzubrechen und eine allgemeine Rechtsentwicklung der bonapartistischen Diktatur einzuleiten. Diese Versuche waren ebenso gescheitert wie die ersten Pläne eines Verbotsgesetzes gegen die Arbeiterbewegung. Symptomatisch für die Tendenz der weiteren Entwicklung war indes, daß der von Bismarck 1875 verfolgte Plan der Verstaatlichung der Eisenbahnen, der ebenfalls auf zunehmende finanzielle Unabhängigkeit der Regierung gegenüber dem Parlament zielte und deshalb am Widerstand der Liberalen scheiterte, nicht nur vom Deutschen Handelstag und vom Landwirtschaftsrat, sondern auch vom Verein Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller gutgeheißen wurde. 26 Überhaupt konnte Bismarck konstatieren, daß die schutzzöllnerischen Schwerindustriellen den politisch-reaktionären Zielen seiner Hauptprojekte: einem Verbotsgesetz gegen die Arbeiterbewegung, der Steuerreform, die die Einführung neuer indirekter Steuern vorsah, der Eisenbahnverstaatlichung und der Reorganisation der Reichsbehörden vorbehaltlos zustimmten. 27 Diese Übereinstimmung in den politischen Hauptfragen veranlaßte Bismarck schließlich, auf die Schutzzollpläne der industriellen und agrarischen Klassenkräfte einzugehen und sie mit seinen Steuerplänen zu kombinieren. Auf dieser politischen Ebene liegen, verbunden mit taktischen Aspekten, auch die Gründe, die überhaupt ein gemeinsames Vorgehen der großbürgerlich-industriellen und junkerlich-agrarischen Schutzzöllner ermöglichten: die gleichen politisch reaktionären Ziele, die vor allem auf die Unterdrückung der Arbeiterbewegung, aber auch auf die Ausschaltung aller Tendenzen zur weiteren P a r lamentarisierung gerichtet waren, die Überzeugung von der Notwendigkeit der Staatsintervention im wirtschafts- und handelspolitischen Bereich und die E r kenntnis, nur im gemeinsamen Vorgehen überhaupt zum Ziele gelangen zu können. F ü r Bismarck bedeutete diese neu zustande gekommene Gemeinsamkeit viel mehr: in einer Zeit zunehmender Opposition gegen die bonapartistische Diktatur von der äußersten Linken - der Sozialdemokratie - bis zu den linken Liberalen bot sich jetzt die Möglichkeit, die Diktatur von der sozialökonomischen Basis her zu stabilisieren, weil zur Zeit in den wirtschaftlichen und politischen Hauptfragen eine weitgehende Übereinstimmung zwischen Kanzler, Junkertum und führenden Kräften der Großbourgeoisie gegeben war. Bei diesen Stabilisierungsversuchen stand das Sozialistengesetz an erster Stelle, verbunden damit war das Streben nach der Zoll- und Steuerreform, und im

27

Böhme, Deutschlands Weg zur Großmacht, S. 381 f. Ebenda, S. 385.

150

Konrad Canis

Hintergrund stand als ultima ratio der Staatsstreich. Es war in Bismarcks Sinne nur konsequent, wenn er der Oppositionsbewegung zuerst und vor allem die revolutionäre Spitze abzubrechen trachtete, während die Steuer- und Zollgesetze die „notwendige Ergänzung der Repressivmaßnahmen" gegen die Sozialdemokratie darstellten, wie der Kanzler selbst hervorgehoben hatte. Nur wenn man diesen Gesamtzusammenhang im Auge hat, wird klar, was Bismarck meinte, wenn er am 1. Januar 1878 als seinen Standpunkt publizieren ließ, daß „alle Zoll- und Steuerfragen in erster Linie nach den Bedürfnissen und Interessen des Staates zu regeln sind, der über allen [steht] . . . Derartige Dinge sollen fortan nur nach der Maßgabe des realen Staatsinteresses, im Hinblick auf die Gesamtheit der staatlichen Aufgaben und ihrer Erfordernisse gehandhabt werden."28 Die machtpolitischen Möglichkeiten der Zollpolitik - die ökonomischen nur indirekt - gaben also den Ausschlag, daß Bismarck den Übergang zum Schutzzoll einleitete. Auf der Basis des allgemeinen Klassenkompromisses entstand 1878/79 ein direktes Bündnis zwischen einem Teil der Großbourgeoisie und den Junkern - ermöglicht sowohl durch die tiefgehende Konfrontation zwischen schutzzöllnerischen und freihändlerischen Gruppen der Bourgeoisie als auch durch das Festhalten der freihändlerischen Gruppen an der Politik des allgemeinen Klassenkompromisses. 29 Temporär führte das Klassenkompromiß von 1878/79 zu einer relativen Stabilisierung der Herrschaft Bismarcks. Zum ersten Male trug nun ein unmittelbar ökonomischer Faktor das Übereinkommen zwischen Junkertum und führenden Kräften der Großbourgeoisie. Die stärkere ökonomische Fundierung des Klassenkompromisses und die durch sie ermöglichte Stabilisierung der Rechtskräfte stärkte in Bismarck zugleich die Hoffnung, weitergehende politische Konzessionen an die Bourgeoisie ersparen und die politische Priorität des Junkertums ungeschmälert behaupten zu können. Zu einer „Modernisierung" des Bonapartismus in Richtung auf die volle bürgerliche Staatsordnung von seiner junkerlichen Klassenposition her offensichtlich unfähig, konzentrierte sich Bismarck auf die Zementierung des 1866-1871 eingespielten politischen Kräfteverhältnisses zwischen den sozialen Hauptträgern der Diktatur bis hin zu Versuchen reaktionärer Formveränderung. Weil sich gerade durch die unterschiedliche gesellschaftspolitische Richtung der verschiedenen Elemente der Bismarckschen Politik der Gegensatz zwischen den objektiven gesellschaftlichen Erfordernissen und den Möglichkeiten der bonapartistischen Diktatur weiter vertiefte und weil die Klassenbasis der Diktatur zwar zeitweiligjstabiler, aber auch schmaler geworden war, brachen die Krisenerscheinungen der Herrschaft Bismarcks bereits Anfang der 80er Jahre erneut hervor. Wenn man nun bedenkt, daß die Herrschaft Bismarcks durch die Formel des Bündnisses von 1878/79 stärker an eine Politik gebunden war, die die spezifischen ökonomischen Interessen seiner Träger wahrte, gewannen Erfolg oder Mißerfolg der Wirtschaftspolitik steigende Bedeutung als Mittel der Krisenbe28

Zitiert nach ebenda, S. 548; Politische Korrespondenz, Berlin, 1. 1. 1878. Seeber, Preußisch-deutscher Bonapartismus.

Wirtschafts- und handelspolitische Aspekte

151

wältigung. 30 Man darf jedoch nicht außer acht lassen, daß die Zölle beider Klassen sich in ihrem ökonomischen Effekt gegeneinander richteten. Von Anfang der 80er Jahre an trat dieses trennende Element immer stärker in den Vordergrund, als die Junker angesichts der zunehmenden ausländischen Konkurrenz auf dem deutschen Markt immer höhere Getreidezölle verlangten und erhielten, dadurch aber zur Erhöhung der Industriezölle anderer Staaten beitrugen. Außerdem darf nicht übersehen werden, daß nicht die Industriezölle den kurzzeitigen Aufschwung nach 1879 verursachten, obwohl ihre Protagonisten das in diesen J a h ren immer wieder behaupteten. Der Zoll diente vielmehr zur Realisierung eines Extraprofits mit der Absicht erhöhter Exportmöglichkeiten, provozierte aber zugleich Gegenzölle anderer Staaten. Deshalb bestimmte in der Folge die Relation zwischen den Möglichkeiten des eigenen Zolls und den Zwängen fremder Zölle, ob eine Zollpolitik überhaupt noch als erfolgversprechend angesehen wurde. F ü r die deutsche Industrie entwickelte sich die Relation jedenfalls so, daß in den 80er Jahren die Befürworter einer wenigstens zeitweiligen bzw. teilweisen Rückkehr zum Freihandel zunahmen. Der Versuch, innere Konflikte nach außen abzulenken - eine politische Taktik, die Bismarck in den 60er Jahren unter anderen Vorzeichen erfolgreich angewandt hatte - , führte also innenpolitisch nur vorübergehend und partiell zum Erfolg, und es bestand die Gefahr nachteiliger Wirkung auf die Beziehungen des Reiches zu den anderen Großmächten. Wie problematisch unter diesem Gesichtspunkt die Zollpolitik war, wird deutlich, wenn man bedenkt, daß einerseits die Außenpolitik wegen der komplizierten internationalen Position des Reiches besondere Bedeutung im System der bonapartistischen Diktatur besaß, andererseits Bismarcks Autorität in der Außenpolitik eine wichtige Manipulierungsfunktion für seine Herrschaft darstellte, so daß der permanente außenpolitische Erfolg zu den innenpolitischen Stabilisierungselementen gehörte. 31 Aber Bismarck hatte sich schon nicht gescheut, die Möglichkeit außenpolitischer Verwicklungen in Kauf zu nehmen, als es darum ging, die innenpolitischen Voraussetzungen für eine Annahme der Zollgesetze zu schaffen. Gegen die für den 1. Januar 1877 festgelegte russische Zollerhöhung gab er mehrere scharfe Stellungnahmen ab. Er spielte mit dem Gedanken von Retorsionsmaßnahmen und sprach im Dezember im Reichstag offen von Kampfzöllen gegen Rußland. Den Gedanken an eine daraus folgende Verschlechterung der politischen Beziehungen schob er mit der für seine Grundposition charakteristischen Bemerkung beiseite, wirtschaftliche Probleme allein auf wirtschaftspolitischem Gebiet klären zu können. Eine Rückwirkung auf die außenpolitischen Verhältnisse befürchtete er nicht, weil auch diese sich nach seiner Auffassung in sich selbst ausbalancierten 32 - eine Einschätzung, die sich spätestens in den 80er Jahren bei den weitgehenden außenpolitischen Konsequenzen der beiderseitigen Zollerhöhungen als verfehlt erwies. 30 31

32

Ebenda. Wolter, Heinz, Alternative zu Bismarck. Die deutsche Sozialdemokratie und die Außenpolitik des preußisch-deutschen Reiches 1878 bis 1890, Berlin 1970, S. 23. Fürst Bismarck als Volkswirth, dargestellt von Ritter v. Poschinger, Bd. 1, Berlin 1889, S. 112 ff.

152

Konrad Canis

Als „Vergeltung" gegen die ausländische Zollpolitik votierte Bismarck im April 1877 für die Vermeidung jeder Tarifbindung beim Abschluß neuer Handelsverträge, um die Möglichkeit der Einführung eines neuen Zolltarifs offenzuhalten. Im Mai 1877 brach er deshalb die Handelsvertragsverhandlungen mit ÖsterreichUngarn ab. Die Folge war, daß sich Österreich-Ungarn im Juni 1878 einen autonomen Tarif mit geringen Industriezöllen gab, die aber, weil sie in Goldwährung zu zahlen waren, einer allgemeinen Zollerhöhung von 15 bis 25 % entsprachen. Im Herbst 1878 ließ Bismarck im Bundesrat die Zolltarifreform als preußischen Gesetzesantrag einbringen. Er sah relativ gemäßigte Tarife auf zahlreiche Produkte der Eisen- und Stahlindustrie, wichtige Warengruppen der Textilbranche und auf Agrarprodukte, vor allem auf Getreide, vor. Um die meisten noch widerstrebenden Bundesstaaten für die Annahme zu gewinnen, führte der Kanzler folgende Argumente ins Feld: die deutsche Wirtschaft benötige den Schutz des nationalen Marktes gegen die ausländische, vor allem die englische Konkurrenz ebenso wie Erleichterungen für den Export ihrer Erzeugnisse. 33 Agrarier und Industrielle gaben Bismarck sofort propagandistische Schützenhilfe. Der Eisen- und Stahlverband begrüßte das Programm als den Beginn „der nationalen Handelspolitik". 34 Man darf nicht übersehen, daß der Gesetzentwurf die Einführung des Zolltarifs mit einer Finanzreform kombinierte, die die Verminderung der direkten und die Vermehrung der indirekten Steuern vorsah. Die Realisierung dieses Steuerprogramms besaß für Bismarck mindestens die gleiche Bedeutung wie die Zollpolitik. Schließlich hatten die Vorschläge der liberalen Kritiker der Bismarckschen Politik nach größerem politischem Einfluß der Bourgeoisie in der Absicht kulminiert, das Mitspracherecht des Parlaments in der Finanzpolitik zu erhöhen, vor allem durch die Einsetzung eines dem Parlament verantwortlichen Reichsfinanzministers und die Einführung der von der jährlichen Zustimmung des Parlaments abhängigen direkten Reichssteuern. Bismarcks Programm der Vermehrung der indirekten Steuern sollte nicht nur diesen Ansprüchen einen Riegel vorschieben, sondern über die Sicherung einer weitgehenden finanzpolitischen Unabhängigkeit der Regierung vom Parlament die politische Kompetenz des Reichstages überhaupt reduzieren, war also ein ganz entscheidendes Element des politischen Rechtskurses des Kanzlers. Sein Eingehen auf die Zollpläne ist nicht zu begreifen ohne den Umstand, daß die Befürworter der Zollpolitik in bezug auf die Steuerpolitik seinen Kurs unterstützten. Als das Steuerreformprogramm bei den Regierungen einiger Einzelstaaten im Bundesrat und die Agrarzölle bei führenden Industriellenverbänden und selbst bei landwirtschaftlichen Organisationen auf Widerstand stießen, zeigte sich deutlich, daß die übergreifenden politischen Ziele die Priorität in Bismarcks Programm besaßen. Mit dem konzentrierten Einsatz politisch-staatlicher und propagandistischer Mittel reagierte Bismarck umgehend und entschlossen auf diese Lage. Er setzte die industriellen Schutzzollvertreter unter Druck, indem er ihnen 33 34

Ebenda, S. 168 II.; Aktenstücke zur Wirtschaftspolitik von H. v. Poschinger, Bd. 1, Berlin 1890, S. 287 fi. Böhme, Deutschlands Weg zur Großmacht, S. 525.

des Fürsten Bismarck, hrsg.

Wirtschafts- und handelspolitische Aspekte

153

mitteilen ließ, daß er in der schutzzöllnerischen Strömung nur solange „mitschwimme", wie auch der Landwirtschaft „Schutz gewährt" werde. Bei Widerstand gegen sein gesamtes Zoll- und Steuerprogramm beabsichtige er, den Reichstag aufzulösen bzw. widerspenstige Minister durch andere zu ersetzen. Auch auf eine Trennung der Zollpläne von der Steuerreform ließ er sich nicht ein, nur die Tabakmonopolpläne stellte er vorerst zurück. In der Eisenbahnfrage ging er sogar in die Offensive und bereitete von Anfang Februar 1879 an einen Gesetzentwurf über die einheitliche Regelung des Gütertarifwesens vor.35 Schließlich gelang es Bismarck auch, die junkerlich-agrarischen Interessengruppen stärker in die Schutzzollfront einzureihen, indem er die wirtschaftlichen und politischen Aspekte der allgemeinen Zollpolitik stärker in die Debatte warf. 38 Die vehemente Schutzzollagitation in Deutschland mußte - zumal bei ihrer Motivation - die Beziehungen Deutschlands zu den europäischen Großmächten zumindest belasten. Ende Januar hatte Bismarck dem österreichischen Botschafter Emmerich Szechenyi erklärt, daß er durch Zölle die deutsche Landwirtschaft gegen die russische, amerikanische und österreichische Konkurrenz zu schützen gedenke. Allerdings betonte er im gleichen Atemzuge die Notwendigkeit des politischen Zusammengehens der drei Kai^rreiche. 37 Die zunehmend antideutsche Stimmung innerhalb der herrschenden Klasse Rußlands bewies jedoch, daß die deutsche Zollpolitik sich außenpolitisch schon nachteilig auswirkte, bevor sie überhaupt in Kraft getreten war. 38 Auch die englische Presse hatte auf Bismarcks Industriezollpläne unfreundlich reagiert. 39 Aber die antienglische Spitze dieser Zölle wurde von den deutschen Eisenindustriellen nicht nur in Kauf genommen, sondern sogar bewußt hochgespielt, um die Zölle im Bundesrat durchzusetzen. In dem Bericht der EisenEnquete-Kommission an den Bundesrat vom Januar 1879 hieß es, daß das Ausland auf dem deutschen Markt den Preis bestimme, zumal England seine Überproduktion billig nach Deutschland schleudere, seit der US-amerikanische Markt durch Zölle dem englischen Absatz verschlossen war. 40 Zur gleichen Zeit ließ Bismarck auf Veranlassung führender Industriekapitalisten die diplomatischen Vertreter des Reiches im Ausland instruieren, sich fortlaufend über neue Ab35

3(5

37

38

39 40

Bismarck und die preußisch-deutsche Politik 1871—1890, hrsg. von M. Stürmer, München 1970, S. 137; Aktenstücke zur Wirtschaftspolitik des Fürsten Bismarck, S. 299 ff.; Fürst Bismarck als Volkswirth, S. 184 ff.; Böhme, Deutschlands Weg zur Großmacht, S. 532 ff. Vgl. Hardach, Die Bedeutung wirtschaftlicher Faktoren, S. 136 ff.; Fürst Bismarck als Volkswirth, S. 180 ff. BA Koblenz, Rep. 100 Nachlaß Chlodwig v. Hohenlohe-Schillingsfürst X, B, H, Nr. 22: Briefe Friedrich v. Holsteins 1874—1895, unpag.: Holstein an Hohenlohe 10. 2. 1879. Bismarck, Otto v., Die gesammelten Werke (im folgenden: GW), 2. Aufl., Bd. 8, Berlin 1926, S. 294 f. Derselbe, GW, 3. Aufl., Bd. 60, Berlin 1935, S. 130. ZStAP, Reichskanzlei, Nr. 2140: Akten betr. Eisenzölle und Eisenindustrie, Bd. 1 (1878-1888), Bl. 35 ff.

154

Konrad Canis

Satzgelegenheiten f ü r deutsche Waren zu orientieren und Vorschläge zu u n t e r breiten, wie der Konkurrenz vor allem Englands und der USA erfolgreich begegnet werden konnte. 4 1 Die antienglische Spitze w a r u m so wichtiger f ü r Bismarck, als dieses Argument in der rechten sowie der mittleren G r u p p e der Nationalliberalen die Zahl der B e f ü r w o r t e r des Industriezolls zunehmen ließ. 42 Als im April 1879 Zolltarif, S t e u e r r e f o r m u n d Frachttarif plane den Bundesrat passiert hatten, ließ Bismarck, u m die Gegner dieser Politik im Reichstag u n t e r Druck zu setzen, in der „Norddeutschen Allgemeinen" wiederum das „nationale" Anliegen seiner Pläne strapazieren - diesmal in einer Form, die als offene Provokation des Auslandes zu werten ist. Denn es hieß: nachdem „wir" Deutschland „in gewaltigem K a m p f " „vom Ausland zurückgewonnen" haben, w e r d e n „wir" jetzt auch wirtschaftlich „nicht länger der F r e m d h e r r s c h a f t preisgegeben bleiben". Der von Bismarck im letzten Augenblick noch durchgesetzte Kampfzollp a r a g r a p h w u r d e als besonders exportfördernd gelobt. 43

III. Die J a h r e von der A n n a h m e des deutschen Zollgesetzes bis zum Spätsommer 1882 sind gekennzeichnet von einer Unterbrechung der wirtschaftlichen Depression durch eine verhaltene Aufschwungphase. Sie w u r d e hervorgerufen durch einen forcierten Ausbau des nordamerikanischen Eisenbahnnetzes, dessen Eisenund Stahlschienenbedarf auch die Produktion der deutschen Schwerindustrie belebte, wobei der erhöhte Bedarf u n d die E i n f ü h r u n g neuer V e r f a h r e n - das Bessemer-, das Siemens-Martin- u n d schließlich das Thomas-Gilchrist-Verfahren - etwa zusammenfielen, n e u e Produktions- u n d Absatzbereiche eröffneten sowie die Produktionskapazität erhöhten. Der amerikanische Eisenbahnbau erwies sich aber bald als ein n u r kurzzeitiges und beschränktes A u f n a h m e f e l d , so daß neue Absatzstockungen folgten. Die neuen Technologien, die den P r o d u k tionsprozeß modernisierten u n d verbilligten sowie den Ausstoß steigerten, w i r k ten n u n gleichsam fallierend auf die Preise. Die Gewinne der Modernisierung f ü r die Unternehmer blieben also hinter den E r w a r t u n g e n zurück. G e r a d e der Übergang zu der haltbareren Stahlschiene f ü h r t e ja in der Konsequenz zu einem Rückgang der Schienennachfrage. Die Flaute dieser Aufschwungphase erhellt aus den Ziffern der Produktionsu n d Preisentwicklung. Der Index der Gesamtproduktion von Industrie u n d H a n d w e r k in Deutschland (1913 = 100) betrug 1879 27,2, 1880 26,1, 1881 27,2 und 1882 27,1 und erreichte damit nicht einmal die Durchschnittszahl der J a h r e 41

42

43

ZStAP, Auswärtiges Amt, Nr. 7462: Acta betr. amtliche und fachmännische Wahrnehmungen über den deutschen Handel im Auslande, Bd. 1 (1874—1879), Bl. 89, 105, 107, 113 ff., 122 f. Deutscher Liberalismus im. Zeitalter Bismarcks. Eine politische Briefsammlung, Bd. 2, hrsg. von P. Wentzke, Bonn/Leipzig 1926, S. 232. Europäischer Geschichtskalender, hrsg. von H. Schultheß, 20. Jg., 1879, Nördlingen 1880, S. 120 f.

Wirtschafts- und handelspolitische Aspekte

155

1874 bis 1878, die bei 27,4 lag.44 Der Index der Weltindustriewarenpreise (1870 = 100) zeigt einen Abfall bis 1879 (Indexzahl 81), danach ein Ansteigen (1880 = 94). Aber wegen der Überschätzung der Absatzmöglichkeiten standen sie in den folgenden Jahren wieder niedriger (1881: 90, 1882: 92), erreichten 1882 also n u r den Stand von 1877.45 Hinter den relativ gleichbleibenden Produktionszahlen verbirgt sich aber eine sehr differenzierte Entwicklung der einzelnen Zweige der Volkswirtschaft: gegenüber der zumeist stagnierenden Konsumgüterproduktion waren die Zuwachsraten der Montanindustrie in dieser Phase ungewöhnlich hoch: F ü r die J a h r e 1873, 1879 und 1882 betrug (in Mill. t) die Förderung von Steinkohle 36,4, 42,0 und 52,1; von Braunkohle 9,8, 11,4 und 13,3 sowie von Eisenerz 6,2, 5,9 und 8,3. Die Erzeugung von Roheisen hielt in diesen Jahren bei 2,2, 2,2 und 3,4 sowie von Stahl 0,3, 0,48 und 0,84. Die Zahl der vorhandenen Hochöfen ging im gleichen Zeitraum von 475 auf 291 und 316 zurück, von denen jeweils 379, 210 und 261 in Betrieb standen. 46 Zunehmende Mechanisierung und technologische Modernisierung f ü h r t e n also vor allem in der Montanindustrie zu einer Steigerung der Produktivität und des Produktionsvolumens, zugleich aber zu einem wachsenden Widerspruch zwischen der steigenden Produktion und ihren Absatzmöglichkeiten. Beide Tendenzen förderten den Trend zum Großbetrieb wie zur zunehmenden Konzentration der Produktion und des Kapitals, weil n u r auf dieser Ebene die Möglichkeiten umfangreicher Investitionen zur Steigerung der Produktivität und besonderer Sicherungsmaßnahmen zur Stabilisierung des Binnenmarktabsatzes und zur Förderung des Exports gegeben waren. Die Schutzzölle, die gerade f ü r den Montanbereich gravierend waren, wirkten zur gleichen Zeit in der gleichen Richtung, und es überrascht nicht, daß das Großkapital an Rhein und Ruhr in erster Linie den Übergang zum Schutzzoll f ü r den Aufschwung ihrer Produktion verantwortlich machte. Zugleich verstärkte sich ihr Drängen nach Exportförderung, um den Absatz der vermehrten Produktion zu sichern. Der preußische Handelsminister Karl v. Hofmann hatte schon Mitte Oktober 1879 diesen Zusammenhang betont und den Übergang zum Schutzzollsystem mit Maßnahmen zur Exportförderung gekoppelt wissen wollen. Die mit der Zollpolitik gegebenen neuen Möglichkeiten der Exportoffensive galt es nach Hofmann um so mehr zu nutzen, weil das deutsche Ausfuhrgeschäft in letzter Zeit n u r unbedeutend angestiegen war und selbst auf f r ü h e r sicheren Märkten Einbußen erlitt, verursacht durch die allgemeine Überproduktion, die den Konkurrenzkampf verschärft hatte. Da jetzt durch Zoll und Dumping der inländischen Verbraucher die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Industrie auf dem Weltmarkt gestiegen war, sollten diplomatische und handelspolitische Instanzen mobilisiert werden, um dem deutschen Export neue Märkte zu öffnen. 47 44 45 46 47

Vgl. die Angaben bei Wehler, Bismarck und der Imperialismus, S. 67. Ebenda, S. 44. Ebenda, S. 70. ZStAP, Auswärtiges Amt, Nr. 7463: Acta betr. amtliche und fachmännische Wahrnehmungen über den deutschen Handel im Auslande, Bd. 2 (1879—1880), Bl. 56 ff.: Karl v. Hofmann an Bismarck 11. 10. 1879.

156

Konrad Canis

Tatsächlich betrachtete der Staat die Förderung des Exports immer stärker als wichtige eigene Aufgabe. Im Auswärtigen Amt kam es über eine stärkere Koordinierung der politischen und der handelspolitischen Abteilungen zu einer forcierten und regelmäßigen wirtschafts- und handelspolitischen Berichterstattung der diplomatischen Vertreter im Ausland, deren Ergebnisse der Industrie zur Nutzung überlassen wurden. Bismarck hatte schon vor 1879 mehrmals auf die Notwendigkeit vermehrter Absatzmöglichkeiten f ü r die deutsche Industrie hingewiesen. Nachdem das Zollgesetz unter Dach und Fach war, gewannen die Maßnahmen zur Exportförderung f ü r ihn erstrangige Bedeutung, zumal sich 1880 ein beachtlicher Rückgang des Gesamtexports des Reiches ankündigte, der sich nicht n u r aus den verbesserten inländischen Absatzmöglichkeiten der deutschen Industrie ergab. Im September 1880 übernahm der Kanzler selbst das preußische Handelsministerium. Er verfolgte mit der Exportförderung nicht nur rein handelspolitische Ziele. Wie die Zollpolitik der Versuch war, die ökonomischen und politischen Folgen der Krise und der Depression zu nutzen, um die Krise der Diktatur durch eine besondere ökonomische Stützung der reaktionären K r ä f t e von Großbourgeoisie und J u n k e r t u m sowie ihre machtpolitische Koppelung abzufangen, sollte die Exportförderung den ökonomischen Interessen der gleichen Klassenkräfte im gleichen Sinne entsprechen, vor allem mit dem Ziel, wie Bismarck selbst formulierte, die „Symptome der sozialistischen Bedrohung der Gesellschaft" auszuschalten. 48 Ein zweiter Aspekt ergibt sich aus der Spezifik der Klassenkompromißformel von 1878/79. Wir hatten hervorgehoben, daß sich Agrar- und Industriezölle sachlich eigentlich ausschlössen. Die latente Mißbilligung der Agrarzölle durch die Großindustrie wurde nach 1879 in dem Maße relevant, wie die Großindustrie den Übergang anderer europäischer Großmächte, vor allem Rußlands und Österreich-Ungarns, zu erhöhten Zolltarifen als Folge der deutschen Agrarzölle interpretierte, zumal als Bismarck in den 80er Jahren mehrfach die landwirtschaftlichen Zolltarife erhöhte. Die ökonomisch unproduktiven und sozialpolitisch überlebten Besitzverhältnisse auf dem Lande sollten dadurch gegen den Druck des billigen ausländischen Getreides abgeschirmt und künstlich erhalten werden, um den machtpolitischen Führungsanspruch des Junkertums zu statuieren. Bismarcks Motivation f ü r die Erhöhung der Agrarzölle - sie werde das Ausland zu Zollsenkungen zwingen - überzeugte nicht mehr, denn die Entwicklung verlief sichtbar in entgegengesetzter Richtung. Die Zollinteressen der Großbourgeoisie und des Junkertums entwickelten sich also zunehmend auseinander und gefährdeten die Basis der Zolleinigung von 1879 wie der bonapartistischen Diktatur überhaupt, weil die steigenden Agrarzölle zur Erschwernis des industriellen Exports in die Schutzzolländer führten, von denen Rußland und Österreich-Ungarn zu den traditionellen deutschen Absatzgebieten zählten. Bei dieser Lage besaß die von Bismarck mit staatlichen Mitteln forcierte Exportförderung, deren Richtung ja in erster Linie in Gebiete, die von der deutschen Zollpolitik unbeeindruckt blieben, verlief, systemerhal48

Wehler, Bismarck und der Imperialismus, S. 188 f.

Wirtschafts- und handelspolitische Aspekte

157

tende Funktion, weil die negative Wirkung der den Industriewarenexport in wichtige europäische Länder hemmenden deutschen Agrarzölle durch die Erschließung neuer Absatzmärkte ausgeglichen werden sollte. In der gleichen Richtung liegen auch wichtige ökonomisch-politische Motive für Bismarcks Kolonialpolitik in späteren Jahren. Die zollpolitischen Gegensätze zwischen Großbourgeoisie und Junkertum konnte Bismarck mit diesen Mitteln nur zum Teil ausgleichen, und die machtpolitischen Differenzen zwischen Junkertum und Bourgeoisie ließen sich auch auf diese Weise nicht umgehen. In diesem Zusammenhang erhebt sich die Frage, wie die Industriebourgeoisie in den ersten Jahren nach 1879 zur Wirtschafts- und Handelspolitik Bismarcks stand und welche eigenen Vorstellungen sie entwickelte und realisierte. In einer Adresse des Centraiverbandes Deutscher Industrieller an Bismarck hieß es Ende Februar 1880, daß die „ins Leben gerufene Reform unseres Zolltarifs auf vaterländischer Grundlage schon jetzt die wohltätigen Wirkungen hervortreten läßt". Schon in diesen Worten offenbart sich ein ziemlich unrealistischer Optimismus, der sich auf die wirtschaftlichen Möglichkeiten der Binnenmarktabsicherung und des amerikanischen Eisenbahnbooms bezog und zu der Illusion hochstilisiert wurde, daß nun eine „lange Periode der Wohlfahrt und des wirtschaftlichen Gedeihens" bevorstehe.49 Mit seinem Dank für die Adresse verband Bismarck den sicher politisch gemeinten Wunsch, daß die Zollgesetze zum Vorbild für das gesamte wirtschaftliche Leben werden. 50 Gewiß lagen die Gewinne der Eisen- und Stahlindustrieunternehmen 1879/80 höher als 1878/7951, aber die hochgesteckten Erwartungen von Anfang 1880 erfüllten sich keineswegs. In handelspolitischen Berichten aus den schwerindustriellen Zentren Rheinland-Westfalens und Oberschlesiens52, die im Juli 1880 veröffentlicht wurden, wurde vielmehr offen zugestanden, daß sich die Hoffnungen vom Winter 1879/80 als verfehlt erwiesen und die zum Teil überstürzten Produktionssteigerungen die schwierige Preis- und Absatzlage nicht aufgehoben hatten. Die Produktion war rasch erhöht worden, als angesichts der amerikanischen Nachfrage die Preise steil anstiegen. Bald stockte aber der Absatz und konnte erst nach einem späteren Absinken der Preise ein wenig in Fluß geraten, während die Produktion in einigen Montanbereichen wieder eingeschränkt werden mußte. Jedoch fehlte nach wie vor jede Kontinuität und Sicherheit in der Preisentwicklung: im Sommer stiegen im Siegener Raum die Roheisenpreise an, im September kam es zu einer neuen Flaute, und erst Ende Oktober schien sich eine gewisse Preisstabilisierung abzuzeichnen.53 Zwar hatten sich diese Preise 49

50

51

52 53

ZStAP, Reichskanzlei, Nr. 2101: Akten betr. den deutschen Zolltarif, Bd. 2 (1879 bis 1881), Bl. 133: Centraiverband Deutscher Industrieller an Bismarck 29. 2. 1880. Ebenda, Bl. 151: Bismarck an den Centraiverband Deutscher Industrieller 17. 5. 1880. Ebenda, Nr. 2140: Akten betr. Eisenzölle und Eisenindustrie, Bd. 1 (1878—1888), Bl. 48 f.: Bericht des Verbandes deutscher Eisen- und Stahlindustrieller 20. 3. 1881. Deutsches Handelsarchiv, Jg. 1880, Berlin 1880, 2. Teil, S. 56 fl., 88. Ebenda, S. 496.

158

Konrad Canis

auf einem ziemlich niedrigen Niveau eingepegelt, aber immerhin kam es jetzt zu einem regen Verkauf und in dessen Gefolge auch zu einer wenn auch geringfügigen Preiserhöhung. Im Januar 1881 meldeten die schwerindustriellen Regionen 54 übereinstimmend eine bessere Absatzlage und ein wenig bessere Jahresdurchschnittspreise als 1879, konstatierten aber auch das gleiche Preisniveau von Ende 1880 und Ende 1879 sowie das Ausbleiben lukrativer Eisenbahnbestellungen. Als Erfolg der Zollpolitik bewertete die Schwerindustrie die Zurückdrängung der englischen Konkurrenz auf dem deutschen Markt, vor allem auf dem Roheisensektor. Andererseits verhinderten nach ihrer Darstellung die russischen Industriezölle nun die deutsche Ausfuhr in das Zarenreich nahezu völlig. Die Produktion und die gesamte Lage der Großbetriebe wurde jedenfalls als seit Einführung der Zollgesetze erheblich gebessert beurteilt, nur in Oberschlesien sei wegen der Absatzschwierigkeiten in die Zolländer Rußland und ÖsterreichUngarn noch eine gewisse Stagnation zu beobachten. Die positive Haltung zu den deutschen Zöllen wurde noch durch die Behauptung unterstrichen, daß die Preis- und Absatzschwankungen 1879/80 ohne die Schutzzölle noch größer gewesen wären. Bismarck konnte also zufrieden sein, weil die politisch reaktionären Kräfte der Großbourgeoisie, die Unternehmer der montanen Großindustrie, gestärkt aus dem ersten Schutzzolljahr hervorgingen. Das war besonders wichtig angesichts der zunehmenden Opposition der linksliberalen Bourgeoisie gegen die bonapartistische Diktatur. Heinrich Rickert hatte sich im August 1880 in einer Programmrede zum bevorstehenden Austritt des linken Flügels aus der Nationalliberalen Partei gegen die „reaktionäre Rückwärtsrevision" der Gesetze gewandt. Auch im Programm der Sezessionisten, das wenige Tage später veröffentlicht wurde, war vom „Widerstand gegen die rückschrittliche Bewegung" die Rede.55 Dieser Widerstand richtete sich, wenn auch nicht konsequent, gegen den Kern der Bismarckschen Politik, deren sozialökonomische Basis die junkerlich-großbürgerliche Zollfraktion bildete. 1881 verstärkte sich die politische Differenzierung der Bourgeoisie weiter. Ende Mai bezeichnete es eine Landesversammlung der Nationalliberalen Partei in Berlin als „nächste und wichtigste Aufgabe", das „Geschaffene ungeschmälert zu erhalten", gerade angesichts der „veränderten Richtung" der Reichspolitik, die auf eine Reduzierung der verfassungsmäßigen Rechte des Parlaments sowie und das ist für unseren Zusammenhang besonders wichtig - auf eine Rückkehr zu „abgestorbenen Formen" des wirtschaftlichen Lebens abziele. 56 Diese Position korrespondierte mit der Auffassung zahlreicher Handels- und Gewerbekammern, daß die Zollgesetze den „Rückfall in ein veraltetes Absperrungssystem" darstellten. 57 54 55

56 57

Ebenda, Jg. 1881, Berlin 1881, 1. Teil, S. 108 f., 147, 152 ££., 163 f. Europäischer Geschichtskalender, 21. Jg., 1880, hrsg. von H. Schultheß, Nördlingen 1881, S. 211 ff. Ebenda, 22. Jg., 1881, hrsg. von H. Schultheß, Nördlingen 1882, S. 201 ff. Ebenda, S. 255.

Wirtschafts- und handelspolitische Aspekte

159

Die Kräfte der Bourgeoisie, die den Protest gegen die Zollpolitik mit dem Vorbehalt gegen die reaktionäre Rechtsentwicklung der bonapartistischen Diktatur verbanden, rekrutierten sich ökonomisch vor allem aus Bereichen der exportorientierten Fertigwarenindustrie. Einige Handelskammern, wie Stuttgart und Dresden, hoben im Juli 1880 hervor, daß die Zölle sich in den Baumwollbranchen anfangs positiv ausgewirkt hätten.68 Für die Zeit ab Frühjahr 1880 charakterisierten aber die nahezu übereinstimmenden Klagen über niedrige Preise die Lage. Nur die Produzenten des Gebietes um Aachen und Krefeld konstatierten gute Produktions-, Absatz- und Gewinnresultate. 59 Im Januar 1881 bot sich das gleiche Bild: die gedrückte Stimmung überwog, vereinzelte Meldungen über Produktions- und Absatzsteigerungen fielen nur wenig ins Gewicht. Die Gewinne blieben insgesamt hinter den Erwartungen zurück. Nur aus den Baumwollspinnereien kamen positive Urteile über die Wirkung des Zolls, obwohl die englische Konkurrenz auch hier weiterhin sehr stark spürbar war. Die weitere Ausdehnung der Ausfuhr, die von den Handelskammern als Voraussetzung für die angestrebte Profitsteigerung gesehen wurde, sahen sie jedoch gefährdet durch die Zölle der USA, Rußlands, Frankreichs und Österreich-Ungarns.60 Diese Tendenz gewann in den folgenden Monaten an Bedeutung. Charakteristisch ist in diesem Zusammenhang eine Resolution der Handels- und Gewerbekammer Nürnberg, die im Mai für die Abschaffung der Zölle votierte, weil die deutschen Zölle Zollerhöhungen des Auslands provozierten, die den deutschen Export stark behinderten. So lege die jetzige französische Tariferhöhung den Export der mittelfränkischen Industrie nach Frankreich nahezu lahm und bedrohe ihre Existenz überhaupt.61 Dieser Vorgang gewann grundlegende Bedeutung für die Vertiefung der Krise der bonapartistischen Diktatur vor allem unter einem weiteren Aspekt. Die Großagrarier hatten schon 1880 Getreidezollerhöhungen gefordert62, weil der überseeische Weizen erst nach der Annahme des Zollgesetzes den deutschen Markt überschwemmt hatte und von Anfang 1880 an eine Panikstimmung unter den getreideproduzierenden Junkern auslöste, die zu agrarischen Hilferufen an Bismarck und die preußischen Ministerien führte. Der Kanzler ging auf diese Forderungen 1881 teilweise ein und beantragte eine Erhöhung des Mehlzolls, die vom Bundesrat und Ende Mai vom Reichstag genehmigt wurde. Gerade diese agrarischen Zollerhöhungen waren es aber, die besonderen Anstoß bei der Nürnberger Handelskammer und überhaupt bei der exportorientierten Fertigwarenindustrie erregten.63 Der Widerspruch zwischen diesen bourgeoisen Schichten und dem Junkertum wurde noch verschärft, als Mitte September die Agrarier ihr Wahlprogramm veröffentlichten, in dem die Erhöhung der Korn- und Viehzölle neben Flachs58 59 60 61 62

63

Deutsches Handelsarchiv, Jg. 1880, Berlin 1880, 2. Teil, S. 295, 230. Ebenda, S. 59 ff., 83 ff., 120 ff., 496. Ebenda, Jg. 1881, Berlin 1881, 1. Teil, S. 110 ff., 136 ff., 144 ff., 182 ff., 224 ff., 246. Europäischer Geschichtskalender, 22. Jg., 1881, S. 206 f. Rathmann, Lothar, Bismarck und der Übergang Deutschlands zur Schutzzollpolitik (1873/75-1879), in: ZfG, 1956, S. 946. Europäischer Geschichtskalender, 22. Jg., 1881, S. 207.

160

Konrad Canis

und Wollzöllen sowie zusätzlichen steuerlichen Erleichterungen im Mittelpunkt der Zukunftswünsche stand.64 Zur gleichen Zeit erschien eine Publikation von Jahresberichten der Handels- und Gewerbekammern für das Jahr 1880, in dem die Klagen über die durch die deutsche Zollpolitik hervorgerufene Gefährdung der Exportindustrie dominierten und in aller Offenheit betont wurde, daß die Zölle nicht, wie Bismarck behauptet hatte, vom Ausland, sondern vom deutschen Verbraucher getragen werden mußten.® Bismarck stand in dieser Auseinandersetzung eindeutig auf der Position des Junkertums, zumal für ihn der Kampf gegen die politischen Ansprüche der Linksliberalen und gegen ihre Anti-Zollagitation zwei Seiten derselben Sache waren. Er war nicht nur sofort auf die Erhöhung des Mehlzolls wegen der steigenden Einfuhr des Mehls und seiner sinkenden Ausfuhr eingegangen®6, sondern ließ den Chef der Reichskanzlei, Christoph v. Tiedemann, in der NAZ mehrere Artikel gegen die „fortschrittlich-freihändlerische Presse" und zur Verteidigung der Agrarzölle schreiben.67 Herbert v. Bismarck hatte im Auftrage seines Vaters Tiedemann angewiesen 68 , in diesen Artikeln jeden Zusammenhang zwischen Agrarzöllen und erhöhten Brotpreisen zu leugnen und die Notlage der Landwirtschaft in grellen Farben zu malen. Für diese Notlage machte Bismarck die hohen Grundsteuern verantwortlich und hob die Absicht ihrer Reduzierung bei der Rechtfertigung der Zollpolitik ebenfalls auf den Schild. Daß Bismarck aber stets die politischen Aspekte dieser Erscheinungen im Auge hatte, zeigt sich deutlich in Herbert Bismarcks Argumentation gegenüber Tiedemann: die Linksliberalen wünschten sich „hungernde Landwirte", „um Unzufriedene zu schaffen", und sie redeten einer Wirtschaftsgesetzgebung das Wort, die die Regierung zwingen sollte, das Parlament um Geldbewilligungen anzugehen und ihm dafür „Regierungs- und Kronrechte" zu „verkaufen". Wenn man bedenkt, daß diese von Bismarck im Sommer 1880 inszenierte Pressekampagne das Ziel verfolgte, die politischen Auswirkungen der durch die Agrarzölle hervorgerufenen Brotpreiserhöhungen im Hinblick auf die bevorstehende Reichstagswahl zu durchkreuzen, wird deutlich, daß die extrem reaktionären, spezifisch junkerlichen Aspekte seiner Gesamtpolitik den Kanzler vor immer neue politische Schwierigkeiten stellten. Die aufwendige publizistische Verteidigung dieser Politik verschärfte die Widersprüche zu den Kräften der Opposition noch weiter. Auch von dieser Seite her war die Niederlage Bismarcks in der Reichstagswahl von 1881 keineswegs überraschend. Die sich an den Zollgesetzen entzündenden Gegensätze zwischen Bourgeoisie und Junkertum sowie innerhalb der die Zollgesetze tragenden Schichten dieser Klassen erreichten eine größere Dimension zunächst nicht, denn spätestens seit 64 65 06 67 48

Ebenda, S. 249 f. Ebenda, S. 254 ff. ZStAP, Reichskanzlei, Nr. 2115: Akten betr. Landwirtschaftszölle, Bd. 1 (1879 bis 1884), Bl. 72 ff.: Adolf v. Scholz an Bismarck 11. 4. 1881, 25. 4. 1881. Norddeutsche Allgemeine Zeitung, Berlin, Nr. 315 v. 10. 7. 1881, Nr. 322 v. 14. 7. 1881. ZStAP, Reichskanzlei, Nr. 2115: Akten betr. Landwirtschaftszölle, Bd. 1 (1879 bis 1884), Bl. 92 ff., 98 f£.: Herbert v. Bismarck an Christoph v. Tiedemann 12. 7. 1881, 15. 7. 1881.

Wirtschafts- und handelspolitische Aspekte

161

dem 3. Quartal 1881 erfaßte der relative wirtschaftliche Aufschwung alle wichtigen Industriezweige. Zur Steigerung der Produktion trat ein zunehmender Absatz im In- und Ausland, und bei den Preisen war immerhin eine wenn auch schwache Aufwärtstendenz spürbar. Optimistisch schrieb der Centraiverband Anfang Dezember in einer Resolution dem Zolltarif einen „wohltätigen Einfluß" auf die „gesamte vaterländische Erwerbstätigkeit" zu. In allen Zweigen der Schwerindustrie, den Textilbranchen, der chemischen Industrie sowie der Papier- und Glasproduktion konstatierte er eine erhöhte Tätigkeit und eine verbesserte Geschäftslage.89 Als Ende Dezember 1881 ein ungünstiger Geschäftsbericht der Leipziger Handelskammer für 1880 publiziert wurde, konterte die NAZ mit einer ausführlichen Analyse der wirtschafts- und handelspolitischen Situation für das Jahr 1881, dessen günstige Resultate einzig auf die Zoll- und Steuerreform von 1879 zurückgeführt wurden. Und das bismarckhörige Blatt nutzte den sich aus der allgemeinen wirtschaftlichen Lage ergebenden Aufwind für des Kanzlers Zollpolitik sogleich, um die Forderung nach erhöhten Getreidezöllen nun in aller Offenheit zu verkünden.70 Die wirtschaftspolitischen Berichte im Deutschen Handelsarchiv vom Januar 1882 sind durchgehend von Optimismus getragen. Die Zustimmung zu den Zollgesetzen kam jetzt aus allen Zweigen. Die zunehmende in- und ausländische Nachfrage wurde ebenso positiv vermerkt wie die kontinuierliche, wenn auch nicht rasch aufwärtsgehende Steigerung der Preise.71 Die traditionelle Klage der oberschlesischen Schwerindustrie über die Versperrung des russischen Marktes fiel diesmal nur wenig ins Gewicht.72 Alle Voraussagen für die wirtschaftliche Entwicklung im Jahre 1882 lauteten jedenfalls günstig. Produktionssteigerung und allgemeine Schutzzolltendenzen gingen - wie schon erwähnt - einher mit zunehmender Exportorientierung und den Wünschen nach Sondermaßnahmen zu seiner Förderung, denn der Umfang der Ausfuhr war hinter den Erwartungen spürbar zurückgeblieben. Der Exportvolumenindex betrug für 1879 noch 24,9, für 1880 nur 22,4, 1881 23,0 und 1882 23,9 (1913 = 100)73. Die Ausfuhrmenge aus dem deutschen Zollgebiet betrug 1880 164, 1881 166,7 und 1882 172,1 Mill. t. Ihr Wert belief sich in diesen Jahren auf 3,0, 3,1 und 3,3 Milld. Mark.74 Charakteristisch für die zunehmende Exportorientierung der Großindustrie ist ein Schreiben der westfälischen Gutehoffnungshütte A G an den Düsseldorfer Regierungspräsidenten vom 27. Mai 188175: Durch die Einführung neuer Fabri® Ebenda, N r . 2102: Akten betr. den deutschen Zolltarif, Bd. 3 (1881-1884), Bl. 5: Resolution des Centraiverbandes Deutscher Industrieller 7. 12. 1881. 70

Europäischer Geschichtskalender,

71

Deutsches Handelsarchiv,

72

Ebenda, S. 862.

73

Vgl. die A n g a b e n bei Wehler,

74

Auswärtiger

Handel

22. Jg., 1881, S. 315 f£.

Jg. 1882, Berlin 1882, 1. Teil, S. 40 ff., 70 ff., 108 ff., 166 f. Bismarck und der Imperialismus, S. 71.

des deutschen

Zollgebietes

(1880—1896), hrsg. v o m Reichsamt

des Innern, Berlin 1898, X X I V , S. 11, 15. 75

Z S t A P , Auswärtiges Amt, N r . 7469: Acta betr. amtliche und fachmännische W a h r nehmungen über den deutschen Handel im Auslande, Bd. 8 (1881), Bl. 34: G u t e hoffnungshütte A G an Reg.-Präs. Düsseldorf 27. 5. 1881.

11 Jahrbuch 16

162

Konrad Canis

kationsprozesse sei das Produktionsvolumen rasch gestiegen. Die A u f n a h m e fähigkeit des inneren Marktes k ö n n e trotz der Zölle nicht m e h r Schritt halten, so daß die F i r m a „von Tag zu Tag m e h r dazu gezwungen wird, den Absatz ihrer Produkte auf dem allgemeinen Weltmarkt zu suchen". F ü r die diplomatisch-konsularische Unterstützung, u m die das Unternehmen die Regierungsbehörden nachsuchte, w u r d e bezeichnenderweise Südamerika besonders hervorgehoben. Bismarck ließ deshalb ü b e r den Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt, Clemens Busch, den Konsul in Guatemala, Bergen, der zugleich eine A r t Experte f ü r deutschen Export nach Lateinamerika geworden war, auffordern, Informationen und Hinweise auf deutsche Exportmöglichkeiten zu sammeln u n d zu erkunden, weil es ein „sehr erwünschter Erfolg sei", wenn „der deutschen Industrie in einem ihrer wichtigsten und konkurrenzfähigsten Zweige neue Absatzgebiete" eröffnet würden. 7 6 Die deutschen Konsuln in Süd- u n d Mittelamerika erhielten sogar den Auftrag, direkte Beziehungen zwischen der deutschen Industrie und den Importländern selbst zu vermitteln und besonderen Wert auf große Lieferungen aus Branchen des Eisenbahnbaus, des Maschinenbaus, des Schiffbaus und des Armeebedarfs zu legen. 77 Schon 1879 gewann - wie wir erwähnten - diese Richtung in der deutschen Handels- und Außenpolitik Konturen. Im Herbst h a t t e Bergen als eine Art Pilotstudie eine Analyse über deutsche Exportmöglichkeiten in Guatemala erarbeitet. 7 8 Außenamts-Staatssekretär Ernst v. Bülow ü b e r s a n d t e die A n a lyse an H o f m a n n mit der Empfehlung, sie der deutschen Industrie zur Ausw e r t u n g zu übergeben. Zugleich beauftragte er die kaiserlichen Missionen mit der Erarbeitung ebensolcher Erhebungen, die ihm angesichts der neuen Zollpolitik besonders notwendig schienen. 79 Auch Bismarck selbst wies die diplomatischen Vertreter des Reiches im Ausland an, an der Klärung der „Ursachen der Handelsmißerfolge" mitzuwirken. 8 0 Bereits seit A n f a n g 1880 nahmen die diplomatischen Berichte zu, die die Möglichkeiten verstärkten deutschen Exports in Südamerika, Australien u n d im F e r nen Osten erörterten und Vorschläge zu seiner Förderung unterbreiteten. 8 1 Aber das Industriekapital w a n d t e sich auch direkt an deutsche Diplomaten mit der Aufforderung, sie zu unterstützen, ihre Waren auf die jeweiligen M ä r k t e zu bringen. 82 Die Zahl der Handelsniederlassungen und Exporthäuser n a h m zu. 76 77

78

79 80 81 82

Ebenda, Bl. 44: Clemens Busch an Bergen 25. 6. 1881. Ebenda, Nr. 8155: Akten betr. die dem deutschen Handel und der deutschen Industrie bei der Vergebung von Lieferungen im Ausland diesseits zuteilwerdende Förderung, Bd. 1 (1881—1887), Bl. 7 f.: Bismarck an die deutschen Diplomaten in Süd- und Mittelamerika 25. 6. 1881. Ebenda, Nr. 7463: Acta betr. amtliche und fachmännische Wahrnehmungen über den deutschen Handel im Auslande, Bd. 2 (1879-1880), Bl. 62ff.: Bergen an Ernst v. Bülow 8. 9. 1879. Ebenda, Bl. 124 f.: Ernst v. Bülow an Karl v. Hofmann 27. 1. 1880. Ebenda, Bl. 207: Bismarck an die deutschen Gesandten 13. 7. 1880. Ebenda, Bl. 130 ff., 151 ff.; ebenda, Nr. 7464: Acta betr. amtliche und fachmännische Wahrnehmungen über den deutschen Handel im Auslande, Bd. 3 (1880), Bl. 2 ff. Ebenda, Nr. 7463: Acta betr. amtliche und fachmännische Wahrnehmungen über

Wirtschafts- und handelspolitische Aspekte

163

Der Verpackung und Aufmachung der Waren wurde mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Für Lateinamerika erschien sogar eine deutsche Zeitung in spanischer Sprache mit Offerten für Waren, für deren Absatz ihre Herstellerfirmen sich in Lateinamerika besondere Chancen errechneten. Aber die Klagen der deutschen Industrie über den nur schleppenden Handel mit den Fernostländern verstummten nicht.® Der deutsche Botschafter in Peking hob in einer Denkschrift im Januar 1881 hervor, daß es der deutschen Industrie bisher nicht gelungen sei, in Ostasien entsprechend ihren Möglichkeiten Absatz zu finden. Er verlangte über die bisherigen Förderungsmaßregeln hinaus eine aktivere Exportförderungspolitik des Staates, weil „nur von einem ganz energischen Eingreifen des Staates ein dauerhafter und fruchtbringender Aufschwung der Beziehungen zwischen Deutschland und China erwartet werden kann".8/1 Drei Monate später kündigte sich Bismarcks Einschwenken auf die Linie forcierter Exportförderungspolitik an. In einer Denkschrift für den Reichstag begründete er mit der staatlichen Exportbegünstigung in anderen Ländern, besonders in Frankreich, seinen Zweifel, daß sich der deutsche Ausfuhrhandel unbehindert fortentwickeln werde. 85 In einer weiteren Denkschrift, die Bismarck Ende Mai 1881 dem Reichstag zuleitete, erweiterte der Kanzler die Maßregeln zur Hebung des deutschen Ausfuhrhandels nach Ostasien, Australien und Ozeanien um die Vorschläge des Pekinger Botschafters: die Einrichtung weiterer Auslandsbanken und Dampferverbindungen. 86 Einen Monat später erfolgte - wie bereits erwähnt - die Aufforderung an Bergen, eine Analyse der Exportmöglichkeiten in Südamerika zu erarbeiten, und ihr schloß sich der Auftrag an die deutschen Diplomaten an, direkte Beziehungen zwischen deutschen Firmen und südamerikanischen Importunternehmen zu vermitteln. Schon der zeitliche Zusammenfall von forcierter staatlicher Exportförderung und zunehmender Kritik der freihändlerisch-linksliberalen Klassenkräfte an der Zollpolitik und der bonapartistischen Diktatur überhaupt legt nahe, daß die Exportpolitik eine Reaktion auf die Opposition war, zumal diese sich nicht zuletzt an den eingeschränkten Exportmöglichkeiten entzündet hatte. Bismarck hielt an dieser Politik auch fest, als angesichts des zunehmenden Wirtschaftsaufschwungs die wirtschaftspolitische Opposition nachließ.87 Aber die Förderungsmaßnahmen begünstigten besonders die Industriezweige, die sich bisher nicht an der Kritik der Zollpolitik beteiligt hatten und die überhaupt die großbürgerliche Hauptstütze der Bismarck-Diktatur darstellten: die schwerindustriellen Unternehmen. Als Ende 1881 der Eisen- und Stahlverband das Auswärtige Amt ersuchte, die Konsuln anzuweisen, den vom Ausland ausgeschriebenen Submissionen mehr

83 84

85 86 87

Ii«

den deutschen Handel im Auslande, Bd. 2 (1879-1880), Bl. 152: Bericht des deutschen Konsuls in Neuseeland 5. 2. 1880. Deutsches Handelsarchiv, Jg. 1881, Berlin 1881, 1. Tl., S. 184. ZStAP, Auswärtiges Amt, Nr. 7468: Acta betr. amtliche und fachmännische Wahrnehmungen über den deutschen Handel im Auslande, Bd. 7 (1881), Bl. 174 f£.: Max August v. Brandt an AA 13. 1. 1881. Europäischer Geschichtskalender, 22. Jg., 1881, S. 146. Ebenda, S. 204. Wehler, Bismarck und der Imperialismus, S. 186.

164

Konrad

Canis

Aufmerksamkeit zu schenken, geschah dies umgehend und mit der Hervorhebung der schwerindustriellen Waren, an deren Lieferung der deutschen Industrie angesichts des allgemeinen Aufschwungs der Produktion vor allem gelegen war.88 Der Ruf nach verstärktem Export und aktiverer staatlicher Exportförderung wurde auf dem Deutschen Handelstag im Dezember erneuert und fand wiederum die Zustimmung der Reichsbehörden.89 Anfang 1882 nahm die staatliche Exportförderung eine neue Dimension an: waren bisher die Konsuln hauptsächlich auf exportpolitische Einzelaktionen orientiert, sollten ihre Erkundungen nun auf die' systematische Erschließung und Beherrschung ganzer fremder Märkte durch die deutsche Industrie zielen90, wie es ansatzweise in Südamerika bereits eingeleitet worden war. Der direkte Kontakt zwischen den großen Industriebetrieben und den Reichsbehörden vertiefte sich weiter91, und führende Unternehmen gingen dazu über, sich direkt mit den diplomatischen Vertretern des Reiches in den Ländern zu arrangieren, auf die sie ihre Exportinteressen konzentrierten.92 Eine zunehmende Welle der Exportideologie und Exportagitation begleitete die industrielle Exportoffensive und die forcierte staatliche Außenhandelspolitik. Dabei ging die Zielstellung sehr bald über die Sicherung von Absatzmöglichkeiten hinaus. Die notwendigen sicheren Absatzgebiete seien am ehesten durch den Erwerb von Kolonien zu gewährleisten, hieß es in einer Petition eines Greifswalder Professors vom April 1882. Solche Stellungnahmen waren nach 1881 auf der Tagesordnung.93 In diesem Jahre schrieb der Kolonialschriftsteller Wilhelm Hübbe-Schleiden, daß nur eine „Erweiterung unseres nationalen Wirtschaftsgebietes" durch Kolonialerwerb imstande sei, die „alles verschlingende Revolution" abzuwenden.94 Das Problem der Exportförderung geriet also im ideologischen und agitatorischen Bereich immer stärker in den Gesamtzusammenhang äußerer Expansion und innerer Reaktion hinein, und zwar grundsätzlicher, als dies schon bei Bismarck angelegt war, für den die Exportförderung ein spezifisches Mittel zur Konsolidierung des 1878/79 variierten Klassenkompromisses und seiner sozialökonomischen Grundlagen war. Für den Kreis großbürgerlicher Ideologen und 88

88

90

91

92

93 94

ZStAP, Auswärtiges Amt, Nr. 8155: Akten betr. die dem deutschen Handel und der deutschen Industrie bei der Vergebung von Lieferungen im Ausland diesseits zuteilwerdenden Förderungen, Bd. 1 (1881—1887), Bl. 9, 21: Promemoria und Erlaß Paul Hatzfelds 1. 11. 1881. Ebenda, Nr. 7470: Acta betr. amtliche und fachmännische Wahrnehmungen über den deutschen Handel im Auslande, Bd. 10 (1881—1882), Bl. 85 ff.; Norddeutsche Allgemeine Zeitung, Berlin, Nr. 575 v. 9. 12. 1881, Nr. 578 v. 11. 12. 1881. ZStAP, Auswärtiges Amt, Nr. 7473: Acta betr. amtliche und fachmännische Wahrnehmungen über den deutschen Handel im Auslande, Bd. 13 (1882), Bl. 3 ff.: Karl Heinrich v. Boetticher an Bismarck 4. 4. 1882. Ebenda, Bl. 13 ff.: K. H. v. Boetticher an Centraiverband Deutscher Industrieller 29. 1. 1882, CDI an Boetticher 9. 2. 1882. Ebenda, Nr. 7472: Acta betr. amtliche und fachmännische Wahrnehmungen über den deutschen Handel im Auslande, Bd. 12 (1882), Bl. 210 f. Wehler, Bismarck und der Imperialismus, S. 139 f£. Ebenda, S. 144.

Wirtschafts- und handelspolitische Aspekte

165

Propagandisten, die die Exportförderung bis zur aktiven Kolonialpolitik getrieben wissen wollten, war die Exportförderung ein Ansatzpunkt für die innere Stabilität und die äußere Ausdehnung der Macht des deutschen Kapitalismus überhaupt. Diese Entwicklungstendenz wirkte sich zunächst stabilisierend auf die bonapartistische Diktatur aus. Später aber hemmte die Bismarck-Herrschaft eine solche Politik, die eine derart umfassende ökonomische und politische Offensive nach außen voraussetzte, wie sie der Kanzler mit seiner gesellschaftspolitischen Defensivstrategie nicht im Auge hatte. Gewiß war auch für ihn ein Zusammenhang zwischen Wirtschaftsdepression und sozialistischer „Gefahr" gegeben. Aber die staatlichen Maßregeln, mit denen er beiden Tendenzen begegnete, unterschieden sich im Umfang und in der Zielstellung erheblich von den Vorschlägen der Kolonialagitatoren. Diese Kräfte gaben sich vor allem nach 1880 mehrere Organisationen. Der bereits 1878 gegründete „Zentralverein für Handelsgeographie und Förderung deutscher Interessen im Ausland" veranstaltete 1880 einen Kongreß, der vom Rufe nach Vermehrung des Exports, der Eroberung ausländischer Märkte und kolonialpolitischen Initiativen beherrscht wurde. Dominierten in diesem Verein trotz der Mitgliedschaft führender großbürgerlicher Industrieller und Bankiers wie Adolf v. Hansemann und Werner v. Siemens noch die Interessen der exportorientierten kleinen und mittleren Fertigwarenindustrie, so entstaiid der 1881 gegründete „Westdeutsche Verein für Kolonisation und Export" eindeutig auf Initiative der rheinisch-westfälischen Großbourgeoisie. Exportförderung und Kolonialpolitik als wichtigste Ziele seiner Tätigkeit motivierte die Organisation vor allem mit dem Hinweis, daß England durch sein riesiges Kolonialreich über einen so ausgedehnten Wirtschaftsraum verfüge, daß im Innern für eine starke sozialistische Partei gar keine Entfaltungsmöglichkeiten bestünden.95 In der großbürgerlichen Publizistik zeigten sich Symptome eines schrankenlosen expansiven Nationalismus, die zum Grundanliegen der Bismarckschen Außenpolitik im Widerspruch standen. Das „Berliner Tageblatt" verlangte am 18. Mai 1882 Exportvermehrung „im nationalen Sinne", die „Germanisierung" der Balkanländer und betonte, daß zur „Zivilisierung" afrikanischer „Naturvölker" „kein Volk mehr berufen [sei] als Deutschland".96 Trotz aller Sondermaßnahmen blieb der Umfang des direkten deutschen Exports in die außereuropäischen Länder - abgesehen von den USA - im Vergleich zur Ausfuhr in die europäischen Staaten nach wie vor gering. In den Handelskammerberichten aus den Jahren 1880 bis 1882 spielten bei der Erörterung der Export- und Produktionsmöglichkeiten die Ausfuhrchancen nach den Vereinigten Staaten und in die europäischen Länder die entscheidende Rolle. Nur vereinzelt tauchten Kommentare über den sonstigen Überseeabsatz auf. Übereinstimmend konstatierten diese Meldungen einerseits die vermehrte Aufnahmefähigkeit dieser Märkte, andererseits beklagten sie die nur schleppende Steigerung des deutschen Exports in diese Räume.97 In Wirklichkeit war aber die 95 98 97

Ebenda, S. 158 ff. Berliner Tageblatt, Berlin, 18. 5. 1882. Deutsches Handelsarchiv, Jg. 1881, Berlin 1881, 1. Tl., S. 184, 224, 246; Jg. 1882, Berlin 1882, 2. Tl., S. 345.

166

Konrad Canis

Steigerungsrate ziemlich hoch, n u r der Gesamtumfang blieb hinter den E r w a r tungen u n d Möglichkeiten des deutschen Kapitalismus zurück. Allerdings zeigen sich unterschiedliche Tendenzen f ü r die einzelnen Regionen: w ä h r e n d f ü r China und J a p a n nach den konsularischen Berichten der deutsche Export, verglichen mit der Marktaufnahmefähigkeit, n u r schleppend anstieg, betonten die deutschen Diplomaten in Lateinamerika und Australien die günstige Entwicklung des deutschen Absatzes. 98 Der Wert des direkten deutschen Exports nach China stieg von 7 Mill. Mark 1880 auf 9,2 1881 und fiel auf 8,5 Mill. 1882 ab. F ü r J a p a n betrugen die Werte f ü r dieselben J a h r e 2,7, 1,5 und 2,0; f ü r ganz Asien 21,9, 24,3 u n d 22,7. Dagegen lauteten die Zahlen f ü r Argentinien 3,0, 6,0 und 7,3; f ü r Brasilien 9,7, 10,5, 12,2; f ü r Chile 2,4, 4,3, 5,5; f ü r die USA 184,195,7,193,9 u n d f ü r ganz Amerika 217,6, 230,9, 233,6. F ü r Australien w a r die Steigerung ebenfalls beachtlich (1,8, 3,1, 6,8), w ä h r e n d f ü r A f r i k a die A u s f u h r q u o t e n nahezu konstant blieben (5,4, 5,7, 5,1). Um die Gesamtrelation zu verdeutlichen, seien die Zahlen f ü r Europa eingeführt: 2729,96, 2830,2, 3011,7. Der gesamte direkte überseeische Export des Deutschen Reiches erreichte 1882 - ohne die A u s f u h r nach den USA - k n a p p die Höhe des deutschen Absatzes nach Italien." Die Dimension der beachtlichen Zuwachsraten wird hauptsächlich durch die Tatsache bestimmt, daß zur gleichen Zeit der Anteil der traditionellen Exportländer England und Frankreich am Wert des Imports der meisten Überseeländer absank. Am südamerikanischen Gesamtimport f ü r 1881 betrugen die Anteile Deutschlands, Englands, Frankreichs u n d der USA 27 Mill. Mark, 17,4 Mill. P f d . Sterling, 264 Mill. frc. u n d 26,5 Mill. Dollar; f ü r 1883 dagegen 37 Mill. Mark, 18,5 Mill. P f d . Sterling, 257 Mill. frc. u n d 30,5 Mill. Dollar. Die A u s f u h r Deutschlands, Englands und Frankreichs nach den USA erbrachte 1880 52 : 211 : 69 Mill. Dollar, 1881 53 : 174,5 : 70 MU1. Dollar u n d 1882 56 : 196 : 89 Mill. Dollar. Auch der Export Englands nach China und J a p a n fiel von 1881 (6,2 und 3,2 Mill. Mark) bis 1885 (5,5 und 2,3 Mill. Mark) sichtbar ab, w ä h r e n d der französische in denselben J a h r e n etwa konstant blieb (3,4 u n d 3,5 auf 3,9 u n d 3,1 Mill. Mark). 100 Diese Zahlen verdeutlichen, daß sich die handelspolitische Konkurrenz vor allem zwischen Deutschland u n d England auf dem Weltmarkt verschärfte u n d der deutsche Export der Ausdehnung des englischen in einigen überseeischen Regionen einen Riegel vorschob. Noch einschneidender verlief diese Entwicklung auf dem europäischen Markt, wo der deutsche Export auf Kosten des englischen gerade in den industrieschwachen Ländern Südwest- u n d Südosteuropas sowie

98 99

100

Ebenda, S. 2 f., 36, 140 f., 168, 345, 435. Auswärtiger Handel des deutschen Zollgebiets, XXIV, S. 15, 17. Die Zahlenangaben dieser statistischen Übersicht umfassen nur das deutsche Zollgebiet, klammern also den Handel über Hamburg und Bremen aus. Ferner muß beachtet werden, daß in den Angaben über den Handel nur der direkte Handel Deutschlands mit dem betreffenden Land erfaßt ist. Die Zahlenangaben sind also hauptsächlich von den Relationen her interessant. Sie können sicher eigentlich nur Tendenzen anzeigen. ZStAP, Auswärtiges Amt, Nr. 8079: Akten betr. den Handel und die Industrie Deutschlands, Bd. 3 (1889), Bl. 13 ff.

Wirtschafts- und handelspolitische Aspekte

167

Skandinaviens beträchtliche Gewinne erzielte. 101 Die englischen Absatzverluste zugunsten Deutschlands auf den internationalen M ä r k t e n w i r k t e n in der gleichen Richtung wie die durch die deutsche Zollpolitik ermöglichte Erschwernis englischen Exports wichtiger Branchen nach Deutschland: sie f ö r d e r t e n Erscheinungen der Produktions- u n d Absatzstockung der englischen Industrie u n d w a r e n mitverantwortlich f ü r den n u r schleppenden Aufschwung nach 1879/80. Der englische Export nach Deutschland stieg in den J a h r e n 1880 bis 1882 bedeutend langsamer als der deutsche nach England: von England nach Deutschland w u r d e in diesen drei J a h r e n ausgeführt f ü r 354,8 Mill. Mark, 365 Mill. M a r k u n d 387 Mill. Mark, w ä h r e n d in u m g e k e h r t e r Richtung f ü r 436,2 Mill. Mark, 455,6 Mill. Mark und 520,9 Mill. Mark gehandelt wurde. 102 F ü r den zunehmenden U n t e r schied in der Leistungsfähigkeit der Industrie beider Staaten spricht die T a t sache, daß der Anteil von Rohstoffen und Halbfabrikaten in der englischen Ausf u h r nach Deutschland ständig zunahm, w ä h r e n d im deutschen Export nach England Fertigwaren dominierten. Noch 1880 schien d e r Eisenindustrie des Clevelanddistrikts, die 1878 10% ihrer Roheisenproduktion auf deutschen Märkten abgesetzt hatte, der deutsche Eisenzoll keine Beeinträchtigung des Exports zu bringen. Aber ein J a h r später konstatierte sie, daß der Zoll den britischen Roheisenexport, vielmehr noch den Stahlexport und die Eisenwarenausfuhr stark behinderte. Bei der schottischen Eisenindustrie setzte die Exportverminderung nach Deutschland bereits 1880 ein. Vor allem aber m e h r t e n sich die Klagen ü b e r die stärker w e r d e n d e deutsche Konkurrenz auf dem Weltmarkt u n d in Großbritannien selbst. 108 Noch zahlreicher w a r e n die Klagen der englischen Textilindustrie ü b e r die d e u t schen Zölle. Der Export von Baumwollwaren nach Deutschland n a h m v o n 53,5 Mill. Yards 1879 auf 42,2 Mill. Yards 1881 ab, u n d die W o l l w a r e n a u s f u h r von Yorkshire nach Deutschland, die sich 1879 noch auf 23% der G e s a m t a u s f u h r belief, h ö r t e bis 1881 fast völlig auf. N u r die G a r n a u s f u h r n a h m auch nach 1880 weiter zu, weil der Bedarf der deutschen Baumwollwarenproduktion rascher anstieg als die deutsche Garnproduktion. 1 0 4 Auch f ü r die englischen Textilbranchen machte sich die Konkurrenz der deutschen Textilindustrie auf dem Weltm a r k t i m m e r nachteiliger spürbar, nicht zuletzt sogar in den britischen Kolonien: nach K a n a d a erhöhte sich die direkte E i n f u h r aus Deutschland 1880 u m

101 102 110

104

Ebenda, Bl. 11 ff. Auswärtiger Handel des deutschen Zollgebietes, XXIV, S. 7, 15. Deutsches Handelsarchiv, Jg. 1881, Berlin 1881, 1. Tl., S. 87 ff.; Jg. 1882, Berlin 1882, 2. Tl., S. 495 ff.; Jg. 1884, Berlin 1884, 2. Tl., S. 90 ff.; vgl. die von mir betreute Diplomarbeit von Mewes, KJJörend, H.-J., Handelspolitische Aspekte des deutschfranzösischen und deutsch-englischen Verhältnisses in den Jahren 1878—1890, Rostock 1973, MS, S. 86 ff. Deutsches Handelsarchiv, Jg. 1881, Berlin 1881, 1. Tl., S. 219; Jg. 1880, Berlin 1880, 2. Tl., S. 129; Jg. 1882, Berlin 1882, 2. Tl., S. 166 ff., 495 ff.; Jg. 1883, Berlin 1883, 2. Tl., S. 238 ff.; Jg. 1884, Berlin 1884, 2. Tl., S. 90 ff.; ZStAP, Auswärtiges Amt, Nr. 9102: Akten betr. die periodischen Konsularberichte aus England über die Lage der Baumwoll- und Eisenindustrie, Bd. 1 (1879—1881), Bl. 22 ff.

168

Konrad

Canis

60% gegenüber 1879, und diese Zunahme umfaßte hauptsächlich Eisen-, Stahlund Wollwaren. Der Anteil Englands am Welthandel fiel von 22,1% 1880 auf 19,1% 1881-1885, während der Anteil Deutschlands in diesen Jahren von 10,3 auf 10,4% anstieg. 106 Das Bestreben der englischen Industrie, vor den Auswirkungen der europäischen Zollgesetze auf neue überseeische Märkte auszuweichen, hatte nicht in dem Umfang positive Resultate erreicht, wie das erhofft worden war, obwohl sich die britische Regierung diesem Anliegen nach 1880 verstärkt angenommen hatte. Denn staatliche Exportförderung und Markterschließung waren nach 1879 von den freihändlerischen Kräften der britischen Großbourgeoisie als Alternative zu den auch in England auftretenden Schutzzollwünschen aufgebaut worden. Die Befürworter des Schutzzolls konnten sich allerdings schon deshalb nicht durchsetzen, weil die Mehrheit der englischen Großbourgeoisie wegen der umfangreichen ausländischen Investitionen am Freihandelsprinzip festhielt. Diese Investitionen nahmen vom Ende der 70er J a h r e an rasch zu: sie stiegen von 25 Mill. Pfd. Sterling auf 100 im Jahre 1890.106 Sie waren zweifellos ein Ausgleich für den zurückgehenden englischen Anteil am Welthandel. Die englische Regierung hatte Anfang 1879 einen diplomatischen Vorstoß gestartet mit dem Ziel, die geplanten deutschen Zölle wenn nicht zu verhindern, so doch im englischen Sinne zu modifizieren. Die Gespräche des deutschen Botschafters Georg Münster im britischen Handelsministerium, die sich hauptsächlich um die Eisenzölle drehten, wurden aber so leger geführt, daß sie Bismarck ohne Bedenken ignorieren konnte. Als der englische Botschafter Odo Russell im Mai 1879 gegenüber dem Kanzler von den deutschen Zöllen schwerwiegende Nachteile für den englischen Handel befürchtete und einen Meinungsaustausch mit seiner Regierung anregte, lehnte Bismarck strikt ab.107 Als Ausgleich spielte er die Erhaltung der Meistbegünstigungsklausel im handelsvertraglichen Verhältnis mit England in den Vordergrund. 108 Politische Spannungen zwischen Deutschland und England erwuchsen zunächst weder aus den Folgen der Zollgesetze noch aus der zunehmenden Handelskonkurrenz auf dem Weltmarkt. Aber die Handelsrivalität spiegelte sich zunehmend in der öffentlichen Meinung wider: gerade in den deutschen Regierungsblättern nahmen die Vorwürfe an die englische Adresse wegen Behinderung des deutschen Überseehandels an Zahl und an Schärfe zu.109 Man darf indes nicht außer acht lassen, daß die koloniale Expansion, verbunden mit dem Kapitalexport, die Richtung der britischen Außenpolitik entscheidend bestimmte. Dadurch über105 wehler, Bismarck und der Imperialismus, S. 75. 1UB Mommsen, Wolfgang J., Nationale und ökonomische Faktoren im britischen Imperialismus vor 1914, in: HZ, Bd. 206, 1968, S. 627 II. 107 ZStAP, Auswärtiges Amt, Nr. 9061: Acta betr. die Handels- und Schiffahrtsverhältnisse mit England, Bd. 36 (1879), Bl. 92, 96, 102, 134 11., 146 f. 108 ZStAP, Reichsamt des Innern, Nr. 3659: Acta betr. den Handels- und Schiff ahrtsvertrag mit England, Bd. 3 (1878-82), Bl. 63 it.: Karl v. Hofmann an Bismarck Nov. 1879. 109 ZStAP, Auswärtiges Amt, Nr. 9066: Acta betr. die Handels- und Schiffahrtsverhältnisse mit England, Bd. 41 (1881-1882), Bl. 64.

Wirtschafts- und handelspolitische Aspekte

169

wogen weiterhin die englisch-französischen und englisch-russischen Gegensätze die deutsch-englischen, weil die kolonialexpansiven Interessen Großbritanniens mit den gleichgerichteten französischen in Nordafrika und den russischen im Nahen und Mittleren Osten kollidierten, während Deutschland eine aktive Kolonialpolitik noch nicht verfolgte. Nach dem englischen war es der französische Außenhandel, gegen den sich die deutsche Exportoffensive richtete, vor allem in Lateinamerika, im Nahen und Fernen Osten und nicht zuletzt in Europa selbst.110 Die Grundtendenz offenbart sich in einer Äußerung des deutschen Ministerresidenten in Peru, der im Herbst 1880 beklagte, daß das Reich gewöhnlich bei seinen Exportmaßnahmen bereits auf festbegründete englische und französische Positionen in den Aufnahmeländern stieß.111 Frankreich war bestrebt, wie England Kapital- und Warenexport zu kombinieren. Diese Tendenz wurde vor allem im Nahen Osten relevant, denn auf dem Balkan und in der Türkei hatte sich Frankreich mit bedeutenden Kapitalanlagen ebenso etabliert112, wie es den Export von Kriegsmaterial, anderen Eisen- und Stahlwaren, vor allem aber von Textilprodukten in diese Gebiete förderte.113 Die finanzkapitalistischen Träger dieser wirtschaftspolitischen Nahostexpansion verfügten seit 1877 über den dominierenden Einfluß in der französischen Regierung, wodurch sich die ökonomischen Differenzen mit Rußland im Nahen Osten auch außenpolitisch niederschlugen und zu einer gewissen Annäherung an Deutschland führten, die sich noch festigte, als zu Beginn der 80er Jahre die gleichen sozialökonomischen Kräfte der französischen Großbourgeoisie ihre kolonialexpansiven Ambitionen in Nordafrika forcierten, die zu Friktionen mit England und Italien führten. Dadurch wurde eine andere Entwicklungstendenz weniger transparent, die sich aus der Zollpolitik ergab und die direkten deutsch-französischen Handelsbeziehungen betraf. 1880/81 hoben mehrere deutsche Handelskammern hervor, daß die Konkurrenz der französischen Textilindustrie in Deutschland geschlagen und der Export von Textilwaren nach Frankreich gestiegen sei.114 Die Wirkung der deutschen Zölle war ein wichtiger Grund dafür, daß Frankreich im Mai 1881 seine Industriezölle um 20% erhöhte. Dadurch wurde der Export mancher deutscher Waren nach Frankreich erschwert, zum Teil fast ausgeschlossen. Das betraf Branntweine, einige Textilien, verschiedene Eisen- und Stahlwaren sowie Farben.115 In England116 wie in Deutschland117 mehrten sich nun die 110

111

112 113 114

115

116 117

Ebenda, Nr. 8079: Akten betr. den Handel und die Industrie Deutschlands, Bd. 3 (1889), Bl. 10 fi. Ebenda, Nr. 7464: Acta betr. amtliche und fachmännische Wahrnehmungen über den deutschen Handel im Auslande, Bd. 3 (1880), Bl. 140 ff. Kumpf-Korfes, Bismarcks „Draht nach Rußland", S. 34. Deutsches Handelsarchiv, Jg. 1883, Berlin 1883, 2. Tl., S. 184 ff. Ebenda, Jg. 1880, Berlin 1880, 2. Tl., S. 59; Jg. 1881, Berlin 1881, 1. Tl., S. 150, 155; vgl. auch Mewes/Jörend, Handelspolitische Aspekte, S. 53 ff. ZStAP, Reichskanzlei, Nr. 2101: Akten betr. den deutschen Zolltarif, Bd. 2 (1879 bis 1881), Bl. 185 ff.: Memorandum über den französischen Generaltarif vom 7. 5. 1881. Europäischer Geschichtskalender, 22. Jg., 1881, S. 433. Ebenda, S. 206 f.; Deutsches Handelsarchiv, Jg. 1881, Berlin 1881, 1. Tl., S. 228.

170

Konrad Canis

Klagen über diese Entwicklung. Dennoch blieb die rasch zunehmende Tendenz des deutschen Exports nach Frankreich erhalten: die Werte betrugen 1880 bis 1882 295,6 Mill. Mark, 334,2 Mill. Mark und 355,2 Mill. Mark. Der französische Export nach Deutschland stieg in diesen Jahren nur unbedeutend an: 246,1 Mill. Mark, 256,1 Mill. Mark und 255,7 Mill. Mark.118 Anders verlief die Entwicklung des deutsch-russischen Handels von 1880 bis 1882. Einer erheblichen Zunahme des Imports aus Rußland (Werte: 331,4; 335,3; 388,8 Mill. Mark) stand eine spürbare Abnahme des deutschen Exports in das Zarenreich gegenüber (231,8; 200,6; 203,0 Mill. Mark).119 Hatte der Anteil Rußlands am deutschen Export Mitte der 70er Jahre noch 24% betragen, hielt er 1880 bei 8% und 1882 nur noch bei 6%. Der deutsche Absatz in sein traditionelles Ausfuhrland war also außerordentlich erschwert worden. Diese Tatsache führte zu permanenten handelspolitischen Differenzen zwischen beiden Staaten, die sich auf deutscher Seite in verstärkten Forderungen nach Kampfzöllen gegen Rußland Bahn brachen, während die russischen Proteste gegen die die russische Getreideausfuhr erschwerenden deutschen Agrarzölle zunehmend schärfer wurden.120 Die Anfang 1880 von Bismarck ins Auge gefaßten Kampfzölle sollten aber gerade den russischen Agrarexport noch stärker belasten, so daß mit einer weiteren Zuspitzung der handelspolitischen Gegensätze zu rechnen war. Von 1880 auf 1881 betrafen die Exportrückgänge vor allem die Erzeugnisse der BaumwollWarenproduktion und der Eisen- und Stahlindustrie. Nur der Rohleisenexport blieb konstant.121 Klagen über zunehmende Exporterschwernis waren deshalb vor allem aus dem rheinisch-westfälischen und dem oberschlesischen Industriegebiet sowie aus einer Reihe mitteldeutscher und süddeutscher Textilbranchen zu vernehmen.122 Die russischen Industriezölle hatten ökonomisch vor allem zwei Funktionen: sie sollten durch die Zurückdrängung der ausländischen Konkurrenz den Aufbau der eigenen Industrie forcieren, und die Zolleinnahmen stellten nach den Einnahmen aus dem Agrarexport zusätzliche Investitionsmittel für diesen Aufbau dar. Das bereitwillige Eingehen der zaristischen Regierung auf die Zollwünsche verdeutlicht den zunehmenden politischen Einfluß der Moskauer Industriebourgeoisie - der gleichen Kräfte übrigens, denen an einer stärkeren wirtschaftlichen Expansion auf dem Balkan gelegen war.123 Anfang 1880 erwarteten die deutschen Diplomaten in Rußland neue Zollerhöhungen, die eine Erhöhung des Tarifs um etwa 20-25% bedeutet hätten.124 Die 118 11S 120

m yn

123 m

Auswärtiger Handel des deutschen Zollgebiets, XXIV, S. 7, 15. Ebenda, V, S. 7, 15. Aktenstücke zur Wirtschaftspolitik des Fürsten Bismarck, Bd. 1, S. 316, 322; Böhme, Deutschlands Weg zur Großmacht, S. 588 f. Auswärtiger Handel des deutschen Zollgebiets, V, S. 10 f. Deutsches Handelsarchiv, Jg. 1880, Berlin 1880, 2. Tl., S. 122; Jg. 1881, Berlin 1881, 1. Tl., S. 108, 163 f., 190, 228, 246; Jg. 1882, Berlin 1882, 1. Tl., S. 109, 862. Kumpf-Korfes, Bismarcks „Draht nach Rußland", S. 31 ff. ZStAP, Reichsamt des Innern, Nr. 4922: Acta betr. die Beziehungen des Deutschen Reiches zu Rußland. Steuer- und Zollsachen, Bd. 9 (1878-1881), Bl. 61.

Wirtschafts- und handelspolitische Aspekte

171

deutsche Eisen- und Stahlindustrie reagierte mit publizistischen Protesten und Bittgesuchen an die Reichsregierung, in denen sie die angeblichen Folgen der russischen Zollerhöhungen geflissentlich weit übertrieb.125 Aber weniger wegen der deutschen Proteste als vielmehr durch das Eingreifen der deutschfreundlichen reaktionären Hofkreise und Großgrundbesitzer, die überdies agrarische Retorsionszölle Deutschlands befürchteten, legte eine Zollkonferenz Mitte Mai 1880 nur eine Zollerhöhung für bestimmte Maschinen fest, während die Tarife für Roheisen, Eisenwaren, Schienen und Bleche erhalten blieben, trotz der Proteste des russischen Bergbaus, der eine Erhöhung des Roheisenzolls verlangte.126 Erst Ende 1880 konnten die russischen Großindustriellen eine neue Zeitungskampagne für eine allgemeine Zollerhöhung arrangieren, und diesmal setzten sie für den 1. Januar 1881 eine allgemeine Erhöhung der Einfuhrtarife um 10% durch.127 Aus einer internen Denkschrift der Berliner Kaufmannschaft vom Februar 1881 wird deutlich, daß die deutsche Industrie damit rechnete, daß diese Zollerhöhung nur vorübergehend eine Verminderung des deutschen Exports zur Folge hätte, weil die russische Eisenindustrie den eigenen Markt nur partiell versorgen konnte. Bei Woll- und Baumwollwaren betrug der Zoll schon bisher 40-60% des Wertes, so daß die neue Heraufsetzung des Tarifs kaum noch ins Gewicht fiel.128 Tatsächlich war nach dem starken Abfall des Exports von Produkten der Eisen- und Stahlindustrie 1881 im folgenden Jahre eine fast allgemeine Zunahme festzustellen, die allerdings nicht die Ausfuhr von Eisenbahnschienen, Eisenbahnmaterial und Schmiedeeisen betraf, die weiter sank.129 Dagegen stieg die Ausfuhr von Roheisen von 1880 = 118 093 dz nach einem nur geringfügigen Absinken 1881 = 108 100 im folgenden Jahr ungewöhnlich stark an (194 203).130 Die deutsche Schwerindustrie hatte nach 1880 begonnen, die hohen Zölle auf Fertigwaren zu umgehen, indem sie in Russisch-Polen Stahlwerke und andere Verarbeitungsbetriebe errichtete, die mit deutschem Roheisen arbeiteten, das nur mit einem geringen Eingangszoll belegt war. Uberhaupt stellten die Errichtung von Filialen und der steigende Kapitalexport für die deutsche Großbourgeoisie eine Form des Ersatzes für den stark beschränkten Industriewarenexport nach Rußland dar.131 Neben der Eisen- und Stahlindustrie vor allem Oberschlesiens gründeten die Siemenswerke ein Tochterunternehmen der Elektroindustrie, während die deutsche Chemieindustrie Ebenda, Bl. 72; 90 f., 99 ff.: Hans Lothar v. Schweinitz an das Auswärtige Amt 10. 5. 1880, Eingabe des Eisen- und Stahlverbandes. l a i Ebenda, Bl. 104: Notiz über die russische Zollkonferenz; Bl. 106: Hans Lothar v. Schweinitz an das A A 27. 5. 1880. >'•" Ebenda, Bl. 131, 145: Hans Lothar v. Schweinitz an das A A 11. 12. 1880, 30. 12. 1880. 128 Ebenda, Bl. 179 ff.: Berliner Kaufmannschaft an das preußische Handelsministerium 19. 2. 1881. 129 Auswärtiger Handel des deutschen Zollgebietes, V, S. 14 f. 130 Ebenda. 131 Vgl. für das folgende Mai, Das deutsche Kapital in Rußland, S. 229 ff., 262 ff., 300 ff. 125

172

Konrad

Canis

über Filialen der B A S F und der Farbwerke Höchst in Rußland stark engagiert war. Deutsches Kapital floß vor allem in den russischen Eisenbahnbau: 1881 bis 1886 gaben neue russische Eisenbahngesellschaften für 548 Mill. Mark Obligationen aus, die überwiegend von deutschen Kapitalisten aufgenommen wurden. Auch die sieben staatlichen Eisenbahnanleihen dieser Jahre trug hauptsächlich das deutsche Kapital. Nach 1880 erhöhte sich der Anteil des deutschen Kapitals in den russischen Banken: 1880 floß deutsches Kapital in mehrere Warschauer Banken ; 1881 übernahmen die Deutsche Bank und der Wiener Bankverein neue Aktien der Russischen Bank für auswärtigen Handel von 5 Mill. -Rubel, was einem Anteil von 25 % des Grundkapitals der russischen Bank entsprach. 1887 waren 2 Milliarden Reichsmark in Rußland angelegt. Den größten Zuwachs hatten die J a h r e von 1881 bis 1886 gebracht. Träger dieses Kapitalexports nach Rußland waren hauptsächlich die Discontogesellschaft, Gerson Bleichröder und die Berliner Handelsgesellschaft. Auf sie konnte Bismarck zählen, wenn er Schritte der Annäherung an Rußland unternahm. Bei der Großbourgeoisie der Schwer- und Textilindustrie dagegen hatte sich 1881 trotz relativ optimistischer Erwartungen am Jahresbeginn die Stimmung gegen die russische Zollpolitik so zugespitzt, daß sie, wie Bismarck auch, Retorsionsmaßnahmen in Form von Kampfzöllen gegen Rußland befürwortete. 132 Anfang 1882 erwog Bismarck eine Erhöhung des Getreidezolls auf alle über den Seeweg eingehenden Lieferungen, um Rußland und die USA zu treffen. 133 Diese Lage belastete zwar die politischen Beziehungen zwischen den beiden Kaiserreichen. Die wirtschaftspolitischen Differenzen zwischen Deutschland und Rußland besaßen aber noch kein solches Gewicht, daß sie die Kräfte und Faktoren aufhoben, die die Dreikaiserpolitik trugen. Die labile Basis dieser Politik ermöglichte es andererseits nicht, daß aus ihr das Bestreben erwuchs, die Ursachen der handelspolitischen Gegensätze auszuschalten. So wirkten diese Gegensätze als permanenter Unsicherheitsfaktor in den Beziehungen weiter und konnten bei Zunahme ihres Eigengewichts und bei einer veränderten außenpolitischen Konstellation gravierende politische Bedeutung gewinnen. Tendenzen des Ausgleichs zeigten sich in den deutsch-östereichischen Handelsbeziehungen, wobei natürlich berücksichtigt werden muß, daß die handelspolitischen Gegensätze zwischen diesen beiden Staaten nicht die Tiefe der deutschrussischen erreichten. So nahm im Gegensatz zum Export nach Rußland die deutsche Ausfuhr nach Österreich-Ungarn 1880-1882 zu (Werte: 304; 333,7; 349,8 Mill. Mark). Allerdings stieg die Einfuhr aus der Doppelmonarchie schneller und war höher als der Export (Werte: 414,3; 444,4; 513,9 Mill. Mark).13'* Beschwerden der deutschen Industrie über den österreichisch-ungarischen Tarif waren indes ebenso an der Tagesordnung wie die Klagen über den russischen Zoll, und gegen die deutschen Getreidezölle protestierten die österreichischungarischen Großagrarier ebenso wie die russischen. Aber bezüglich österreich132

133

134

ZStAP, Reichskanzlei, Nr. 410: Akten betr. Handelsverträge, Bd. 1 (1879-1885), Bl. 29 f.: Bericht des Centraiverbands Deutscher Industrieller 1881. Ebenda, Nr. 2115: Akten betr. Landwirtschaftszölle, Bd. 1 (1879-1884), Bl. 140: Aufzeichnung Herbert v. Bismarcks 22. 4. 1882. Auswärtiger Handel des deutschen Zollgebiets, XXIV, S. 7, 15.

Wirtschafts- und handelspolitische Aspekte

173

Ungarns war bei Bismarck nicht von Kampfzöllen die Rede, und dies nicht nur wegen des geringeren Umfangs der zollpolitischen Gegensätze. Schon bei Abschluß des Zweibundvertrages waren vor allem in Süddeutschland Stimmen laut geworden, die von der Möglichkeit einer Zollunion zwischen beiden Partnern sprachen.135 So weit ging Bismarck nicht. Er hielt es für verfehlt, den deutschen Tarif so kurze Zeit nach seinem Inkrafttreten zugunsten Österreichs herabzusetzen, und sicherte nur den Verzicht auf Kampfzölle zu, ohne aber auszuschließen, daß die Erhöhung der österreichischen Industriezölle mit höheren deutschen Agrartarifen beantwortet werde.136 Mit dem Argument, daß er gute Beziehungen zu der Habsburgermonarchie „nicht auf Kosten unserer Produktion erkaufen" werde137, lehnte er alle von Österreich-Ungarn geforderten Reduktionen des deutschen Tarifs ab. Deshalb kam es Ende Dezember 1879 nur zu einer provisorischen Entscheidung der Handelsvertragsverhandlungen: der bisher gültige Meistbegünstigungsvertrag wurde bis 30. Juni 1880 verlängert. Als Ende Februar 1880 die Neuaufnahme der Verhandlungen bevorstand, war die deutsche Regierung lediglich bereit, die deutschen Tarifsätze gegenüber der Doppelmonarchie auf der bisherigen Höhe zu belassen, allerdings unter der Voraussetzung, daß Österreich das gleiche garantierte. Aber dieser Vorschlag stieß sowohl bei den österreichischen als auch bei den ungarischen Interessenten auf Ablehnung: diese verlangten zuvor die Reduzierung der deutschen Zölle auf - vor allem agrarische - Rohprodukte, jene wollten sich die Möglichkeit einer Erhöhung der österreichischen Industriezölle nicht verbauen.138 In dieser Position werden zugleich die unterschiedlichen Interessen der deutschösterreichischen Industrie und der ungarischen Magnaten in der Zollpolitik deutlich, die nun oftmals die gesamtstaatliche Handelspolitik lahmlegten und innenpolitische Krisen hervorriefen: Die ungarischen Magnaten waren an möglichst niedrigen ausländischen Agrarzöllen interessiert, um ihre landwirtschaftlichen Produkte günstig absetzen zu können. Sie wollten deshalb die Erhöhung der österreichischen Industriezölle verhindern, denn sie fürchteten agrarische Retorsionsmaßnahmen der Industrieländer. Aber für die deutsch-österreichische Industrie waren Industriezölle die einzige Alternative, um sich der ausländischen Konkurrenz erwehren zu können. Diese Differenzen und die Nichtbereitschaft Deutschlands zu einem Zollverein mit Österreich-Ungarn führten dazu, daß im Frühjahr 1880 der Handelsvertrag wiederum nur verlängert wurde, nun bis zum 30. Juni 1881. Bei der Ablehnung der österreichischen Wünsche nach deutschen Tarifreduktionen mußte Bismarck auch im Auge behalten, daß nicht nur die deutschen Agrarier die generelle Beibehaltung der landwirtschaftlichen Tarife verlangten, sondern wichtige Zweige der Textilindustrie, vor allem die Leinenproduktion, für die neuen Tarife nicht zuletzt wegen der österreichischen Konkurrenz eintraten. Die schlesische Leinenindustrie hatte sich schon im Oktober 1879 wegen 135 136 137 133

Europäischer Geschichtskalender, Aktenstücke zur Wirtschaftspolitik Ebenda, S. 320. Europäischer Geschichtskalender,

20. Jg., 1879, S. 251 f. des Fürsten Bismarck, 21. Jg., 1880, S. 80 f.

Bd. 1, S. 315 ff.

174

Konrad Canis

der österreichischen Rohleineneinfuhr erfreut über die deutschen Zölle geäußert und nachdrücklich die Hoffnung nach Aufrechterhaltung des Zollschutzes bei Abschluß eines neuen Handelsvertrages ausgesprochen. In die gleiche Richtung gingen bis Anfang 1880 zahlreiche Petitionen der Leinenindustrie an die Regierung.139 Noch Mitte 1880 beklagten die schlesischen Leinenfabrikanten, daß ihre Gewinne wegen der böhmischen Konkurrenz trotz der Zölle gering geblieben seien.140 Zur gleichen Zeit votierte der Stahlverband für einen besonders niedrigen Zwischenzolltarif mit Österreich-Ungarn, weil seine Branchen den österreichischen Eingangszoll mißbilligten. Die Befürworter des Zollschutzes gegen ÖsterreichUngarn dominierten jedoch Ende Oktober 1880 auf dem Kongreß deutscher Volkswirte. Er hielt eine Zolleinigung mit der Doppelmonarchie für unzulässig, wollte den Handelsvertrag auf einen Meistbegünstigungsvertrag reduzieren und nur die Zollfreiheit des Veredelungsverkehrs wiederherstellen lassen141, weil er den deutschen Firmen große Gewinne gebracht hatte und durch die österreichischen Eingangszölle inzwischen fast zum Erliegen gekommen war.142 Anfang 1881 bezeichneten die Handelskammern die Lage der deutschen Leinenindustrie noch immer als depressiv, hoben aber nun hervor, daß sie durch die Zölle gegenüber der österreichischen Konkurrenz etwas gestärkt worden sei.143 Der Export von Textilwaren nach Österreich blieb wegen der österreichischen Eingangszölle im allgemeinen unbefriedigend, während die Eisen- und Stahlindustrie, ausgenommen die oberschlesische Produktion, mit der Ausfuhr nach Österreich-Ungarn jetzt zufrieden war. Die österreichischen Eisenzölle blieben also weitgehend wirkungslos. 144 Bei dieser Lage überrascht es nicht, daß es auch bei den Handelsvertragsverhandlungen im Frühjahr 1881 zu keiner Zolleinigung kam. Ende Mai wurde ein Meistbegünstigungsvertrag abgeschlossen, der sowohl bei den deutschen als auch bei den österreichisch-ungarischen Schutzzöllnern auf Zustimmung stieß, bei den deutschen nicht zuletzt deshalb, weil die geplante und von den deutschen Agrariern gewünschte Erhöhung des Mehlzolls, die sich auch gegen den Export aus Österreich-Ungarn richtete, nun gesichert war.145 Als im Herbst 1881 die Meldung nach Deutschland drang, daß große österreichische Eisenwerke, vor allem die neugegründete Alpine Montan-Gesellschaft, die Wiener Regierung zu einer Erhöhung der Eisenzölle veranlassen wollten, rief dies den scharfen Protest der deutschen Eisen- und Stahlindustrie hervor. Ihre Organisationen wandten sich an den Kanzler, und besonders die oberschlesischen 139

140 141 142

143 144 145

ZStAP, Reichsamt des Innern, Nr. 4523: Acta betr. die auf die Erneuerung des deutsch—österreichischen Handels- und Zollvertrages bezüglichen Petitionen pp., Bd. 4 (1879-80), Bl. 2: Otto Stolberg an Bismarck 19. 10. 1879; Bl. 35 ff.: Petitionen. Deutsches Handelsarchiv, Jg. 1880, Berlin 1880, 2. Tl., S. 83. Europäischer Geschichtskalender, 21. Jg., 1880, S. 230. ZStAP, Reichsamt des Innern, Nr. 4523: Acta betr. die auf die Erneuerung des deutsch-österreichischen Handels- und Zollvertrages bezüglichen Petitionen pp., Bd. 4 (1879-80), Bl. 224: HK Plauen an das Reichsamt des Innern 6. 3. 1880. Deutsches Handelsarchiv, Jg. 1881, Berlin 1881, 1. Tl., S. 122, 146, 150. Ebenda, S. 150, 160, 164, 184, 205. Europäischer Geschichtskalender, 22. Jg., 1881, S. 190 f.

Wirtschafts- und handelspolitische Aspekte

175

Vertreter erwarteten von ihm einen Einspruch in Wien.146 Aber die deutsche Regierung dachte weder an Kampfzölle und Retorsionsmaßnahmen, noch war sie überhaupt zu einer Demarche in Wien bereit. Sie verwies darauf, daß Österreich-Ungarn die Meistbegünstigung einhalte, und spielte die Bedeutung der Zollerhöhung herunter.147 Nun waren, verglichen mit den russischen, die österreichischen Zollerhöhungen für die deutsche Industrie gewiß von geringerer negativer Wirkung. Entscheidend für Bismarcks Haltung waren jedoch die politischen Beziehungen zwischen den Zweibundstaaten: schon Anfang 1881 hatte er betont, daß die politische „Freundschaft" zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn auch auf das wirtschaftliche Gebiet übertragen werden müsse.148 Dies bedeutete auch jetzt keineswegs die Zustimmung zu einer Zolleinigung in Form einer Zollunion, sondern war auf die Akzeptierung der beiderseitigen Grundinteressen begrenzt, auch wenn sie miteinander im Widerspruch standen. Als Bismarck im Frühjahr 1882 die höhere Bezollung des seewärts importierten amerikanischen und russischen Getreides erwog und der Leiter des Reichsschatzamtes, Adolf Scholz, ihn auf die Begünstigung der Einfuhr aus Österreich-Ungarn als Konsequenz aufmerksam machte, befürwortete der Kanzler eine solche „nähere Handelsgemeinschaft" mit der Doppelmonarchie, wenn Konzessionen nicht ohne Gegenleistungen blieben.149 Hat man die handelspolitischen Vorgänge in ihrer Gesamtheit im Auge, wird deutlich, daß die Entwicklungstendenzen des Kapitalismus in dieser Phase gesetzmäßig die ökonomische Konkurrenz zwischen den herrschenden Klassen der Großmächte förderten. Besonders die sich durch die Wirtschaftskrise und Depression verstärkende Exportoffensive eröffnete den Gegensätzen Deutschlands zu allen europäischen Großmächten neue Aspekte und gab vor allem im Zusammenhang mit der Zollpolitik und ihren inneren und äußeren Antriebsmomenten diesen Gegensätzen schließlich eine neue Dimension. Die inneren Probleme des bonapartistischen Systems, vor allem die Stabilisierungsversuche mit ihren nach außen gerichteten Ausgleichs- und Umgehungsmanövern, trugen nicht unerheblich zum Scheitern der Bismarckschen Außenpolitik Ende der 80er Jahre bei. Für die Jahre 1879 bis 1882 speziell fällt auf, daß die handelspolitischen Gegensätze zu England sich in eine Dimension zu entwickeln begannen, die für die Zukunft erhebliche politische Konsequenzen erwarten ließ. Noch waren die deutsch-englischen Wirtschaftsgegensätze nicht von gravierender politischer Relevanz, weil in diesen Jahren grundlegende politische Gegensätze zwischen beiden Staaten nicht bestanden. Andererseits besaßen die ökonomischen Gegensätze noch kein so großes Gewicht, daß durch sie grundlegende politische Gegen146

147

148 149

ZStAP, Reichsamt des Innern, Nr. 4565: Acta betr. Zoll- und Steuersachen Österreichs, Bd. 6 (1881-1882), Bl. 72 ff., 91 ff., 159 f. Ebenda, Bl. 230 f.; Nr. 4593: Acta betr. Beschwerden in Zoll- und Steuersachen mit Österreich, Bd. 4 (1881-86), Bl. 16. Fürst Bismarck als Volkswirth, Bd. 2, Berlin 1890, S. 25. ZStAP, Reichskanzlei, Nr. 2115: Akten betr. Landwirtschaftszölle, Bd. 1 (1879 bis 1884), Bl. 140 ff.

176

Konrad Canis

sätze zwischen England und Deutschland hervorgerufen wurden. Bis in die 90er Jahre handelte es sich um politisch potentielle Gegensätze, die in außenpolitischen Spannungssituationen auf die deutsch-englischen Widersprüche verschärfend wirksam werden konnten. Angesichts der politischen Spannungen zwischen Frankreich und Deutschland besaßen die beiderseitigen wirtschaftspolitischen Gegensätze zwar größere politische Durchschlagskraft als die deutsch-englischen, gewannen aber erst nach Ausbruch der Wirtschaftskrise 1882/83 entscheidend an Gewicht. Diese Entwicklung befand sich also erst in den Anfängen und wurde überdies durch die kolonialpolitische Aktivität Frankreichs und seine ökonomische Offensive im Nahen Osten in ihrer Deutschland betreffenden politischen Relevanz teilweise neutralisiert. Von aktueller politischer Bedeutung waren die wirtschaftspolitischen Differenzen mit Rußland. Die Hauptangriffsrichtung der russischen Außenpolitik zielte allerdings in diesen Jahren nicht gegen Deutschland. Die politisch-diplomatischen Verständigungsbestrebungen, die zeitweilig auch von der innenpolitischen Krise des Zarismus genährt wurden, blieben vorläufig tragfähig. Die vom Umfang her wesentlich geringeren, aber prinzipiell in gleicher Richtung verlaufenden Widersprüche mit Österreich-Ungarn wurden von Bismarck, der von der grundsätzlichen Akzeptierung der ökonomischen Interessen der herrschenden Klassen beider Staaten ausging, nicht ausgeschlossen, aber aus außenpolitischen Gründen in ihrer Wirkung möglichst eingegrenzt. IV. Wie eingangs schon hervorgehoben, waren die außenpolitischen Operationen Bismarcks nach 1879 von dem Ziel bestimmt, nach dem Abschluß des Zweibundvertrages zu einer Wiederannäherung mit Rußland zu gelangen, eine Tendenz, die nicht zuletzt von den Kräften der Großbourgeoisie unterstützt wurde, die das Finanzgeschäft mit dem Zarenreich trugen.150 Wenn Rußland auf diese Politik einging, hatte das mehrere Ursachen. Einmal spürte die zaristische Regierung - wie schon erwähnt - die Gefahr der außenpolitischen Isolation. Mit dieser Furcht im Zusammenhang stand der Umstand, daß die unterschiedlichen außenpolitischen Konzepte, die innerhalb der herrschenden Klassen Rußlands erörtert und verfochten wurden und die die Hauptexpansionsrichtung entweder auf den Balkan oder auf die Meerengen oder auf Mittelasien - die einen mit militärischen, die anderen mit primär diplomatisch-wirtschaftlichen Mitteln - gerichtet wissen wollten, in jedem Falle sich mehr oder weniger offen auf die Bundesgenossenschaft oder die wohlwollende Neutralität Deutschlands angewiesen sahen151, weil alle diese Expansionsobjekte Rußland in Kollision mit England, 150

151

BA Koblenz, Rep. 100 Nachlaß Chlodwig v. Hohenlohe-Schillingsfürst, X, B, B, Nr. 19: Briefe Bleichröders 1874—1890, unpag.: Gerson Bleichröder an Chlodwig Hohenlohe 4. 10. 1879. Kumpf-Korfes, Bismarcks „Draht nach Rußland", S. 21 ff.

Wirtschafts- und handelspolitische Aspekte

177

Österreich-Ungarn und Frankreich bringen mußten. Diese Interessenlage drängte die handelspolitischen Gegensätze zwischen Rußland und Deutschland in ihrer politischen Effektivität zeitweilig in den Hintergrund, erst recht, als die russischen Annäherungsversuche an Frankreich im Sande verlaufen waren, andererseits die französisch-deutschen Beziehungen einen hohen Grad relativer Entspannung erreicht hatten, weil Bismarck die französischen Ausdehnungsversuche im Mittelmeerraum unterstützte. 152 Zugleich begrüßte der Kanzler die kolonialpolitischen Aktivitäten Italiens und verzichtete in Ägypten, wo England und Frankreich eine Ausweitung ihres Einflusses anstrebten, auf jedes eigene Engagement. Mit dieser Position förderte er eine Entwicklung, die es Rußland unmöglich machen sollte, ein Zusammengehen mit England, Frankreich oder Italien gegen Deutschland überhaupt ins Auge zu fassen. 153 Andererseits spielte der Kanzler die österreichisch-italienischen Gegensätze hoch, um die Habsburgermonarchie zu einer gewissen prorussischen Wendung zu zwingen. Gleichzeitig ließ er russischen Diplomaten gegenüber durchblicken, daß er keine Einwände gegen eine russische Inbesitznahme der Meerengen geltend mache, schloß allerdings unmißverständlich die direkte militärische Unterstützung Deutschlands bei einem solchen Vorgehen aus. Der Kanzler hielt also an seiner traditionellen Marschroute fest, die russischen .Expansionsinteressen in der Richtung zu fördern, die das Zarenreich mit anderen Großmächten in Gegensätze verstricken konnte und dadurch Petersburg in die A r m e Deutschlands treiben sollte. Schwierig gestaltete sich der Versuch einer russisch-österreichischen Annäherung. Vor allem kreuzten sich die russischen und österreichisch-ungarischen Vormachtbestrebungen auf dem Balkan. Von Bismarck gefördert wurden die wirtschaftlichen und politischen Expansionsversuche Österreich-Ungarns in Rumänien und Serbien, nicht zuletzt wegen der eigenen Interessen des deutschen Kapitals. Bismarck hatte 1879/80 Gerson Bleichröder beim Abschluß einer Eisenbahnkonvention mit Rumänien unterstützt und schließlich mit Hilfe der Wiener Regierung durchgesetzt, daß 100 Mill. Mark deutsches Kapital in den rumänischen Eisenbahnbau flössen.154 Der deutsche Export nach Serbien nahm 1880 rasch zu, sogar auf Kosten Österreichs 155 , das allerdings 1884 über einen Handelsvertrag die Abhängigkeit Serbiens von der Habsburgermonarchie erhöhte. 156 Aber Österreich versuchte auch in Bulgarien zunehmend Einfluß zu gewinnen. Bismarcks Ausgleichsvorschlag, den Balkan in Interessensphären aufzuteilen und den westlichen Balkan der Doppelmonarchie und Bulgarien dem Zarenreich 152 153

154

155

156

Vgl. Engelberg, Deutschland 1871-1897, S. 208. Windelband, Wolfgang, Bismarck und die europäischen Großmächte 1879—1885, 2. Aufl., Essen 1942, S. 121. BA Koblenz, Rep. 100 Nachlaß Chlodwig v. Hohenlohe-Schillingsfürst X, B, B, Nr. 19: Briefe Bleichröders 1874—1890, unpag.: Gerson Bleichröder an Chlodwig Hohenlohe 23. 7. 1879, 26. 12. 1879, 28. 1. 1880. ZStAP, Auswärtiges Amt, Nr. 7466: Acta betr. amtliche und fachmännische Wahrnehmungen über den deutschen Handel im Auslande, Bd. 5 (1880—1881), Bl. 127 ff.: K. L. Graf v. Bray an das AA 24. 1. 1881. Kumpf-Korfes, Bismarcks „Draht nach Rußland", S. 41.

12 J a h r b u c h 16

178

Konrad Canis

zuzusprechen, stand also von vornherein auf tönernen Füßen, denn Rußland überließ Serbien ebensowenig der Wiener Regierung, wie diese Bulgarien dem Zarismus. Obwohl eine russisch-österreichische Verständigung auf dem Balkan keineswegs erreicht war, schwenkte die russische Außenpolitik noch im Februar 1880 auf eine Reaktivierung der Dreikaiserpolitik ein, vor allem wegen der schweren inneren Krise des Zarismus, die eine außenpolitische Atempause dringend erforderte.157 Diese inneren Gefahren bewirkten auch, daß die russische Regierung Bismarcks Gedanken der monarchischen Solidarität bereitwilliger aufnahm, denn die innenpolitischen Gefahren drängten die russisch-österreichische Balkanrivalität und die Idee einer Offensive in der Meerengenfrage mehr und mehr in den Hintergrund.158 Als der zaristische Botschafter in Berlin, P. A. Saburow, im März 1880 die Zustimmung des Zaren zu einer Wiederbelebung der Dreikaiserpolitik meldete159, ging der Kanzler noch bereitwilliger darauf ein, weil er sich nach dem Wahlsieg der Liberalen in England auf ein Abflauen der guten Beziehungen Deutschlands und Österreich-Ungarns zu England wie auf eine relative Entspannung der russisch-englischen Gegensätze vorbereiten mußte. Andererseits bedrohte die russisch-englische Annäherung die französischen Orientinteressen100, so daß die französische Regierung die Unterstützung ihrer nordafrikanischen Kolonialpolitik durch Deutschland dankbar entgegennahm und Bismarck absichtsvoll diese Unterstützung noch forcierte.161 Noch wichtiger war aber, daß die Wiener Regierung angesichts der Abkühlung der englisch-österreichischen Beziehung größere Bereitwilligkeit zu einer Verständigung mit Rußland zeigte. Im November 1880 kam Saburow Wien noch einen Schritt entgegen: er erklärte, daß die österreichischen Handelsverträge und Eisenbahnprojekte in den Balkanstaaten die russischen Interessen nicht tangierten. Nach Saburows Besuch in Friedrichsruh bewirkten dann die Furcht vor einem isolierten deutsch-russischen Abkommen einerseits und die Genugtuung über das russische Entgegenkommen andererseits ein Einlenken der österreichischen Regierung auf die Dreikaiserpolitik.162 Anfang Mai 1881 gaben Kaiser Franz Joseph und seine Regierung endgültig den Widerstand gegen den Vertragsentwurf auf.163 Am 18. Juni wurde das Abkommen in Berlin unterzeichnet. Österreich und Rußland respektierten ihre gegenseitigen Balkaninteressen, und alle drei Mächte bekannten sich zum Prinzip der Schließung der Meerengen. Die Signatarstaaten sicherten sich gegenseitig Engelberg, Deutschland 1871-1897, S. 208. Kumpf-Korfes, Bismarcks „Draht nach Rußland", S. 35 ff. iM Fester> Richard, Saburow und die russischen Staatsakten über die deutsch-russischen Beziehungen von 1879—1890, in: Die Grenzboten, Berlin, 80. Jg., 1921, 2. Vierteljahr, S. 61. 160 Bismarck, GW, 2. Aufl., Bd. 8, Berlin 1926, S. 361. 161 GP, Bd. 3, S. 396 ff. 1K! Windelband, Bismarck und die europäischen Großmächte, S. 195 ff., 223 ff. 163 GP, Bd. 3, S. 167 f. 157 158

Wirtschafts- und handelspolitische Aspekte

179

wohlwollende Neutralität beim Angriff einer vierten Macht auf einen der Vertragspartner zu. Deutschland gewann also die russische Neutralität im Falle eines französischen Angriffs. Die Vorteile lagen aber vor allem auf russischer Seite: Das Zarenreich wand sich aus der außenpolitischen Isolation heraus, sicherte sich die deutsche und österreichische Neutralität für eine Auseinandersetzung mit England, und eine Inbesitznahme der Meerengen durch Großbritannien war jetzt nahezu ausgeschlossen.164 In einem geheimen Zusatzprotokoll akzeptierte Rußland die eventuelle Annexion Bosniens und der Herzegowina durch Österreich-Ungarn, das seinerseits sich einer späteren großbulgarischen Union nicht zu widersetzen verpflichtete, wenn diese Vereinigung ohne russische Förderung zustande kam.165 Diese Bestimmungen schränkten die russischen Ausdehnungsmöglichkeiten auf dem Balkan zweifellos ein und trugen zu einer Schwerpunktverlagerung der russischen Hauptexpansionsrichtung vom Nahen Osten nach Mittelasien bei.166 Darin lag der Vorteil Österreichs: Rußland war zu einer gewissen Zurückhaltung auf dem Balkan gezwungen, so daß der österreichisch-russische Gegensatz entlastet und die Gefahr eines Krieges zwischen beiden Mächten so lange ausgeschaltet war, wie sich Rußland mit dieser Defensivposition abfand. Bismarck hatte also seine wichtigsten Ziele erreicht. Aber wenn der Kanzler nun auch bei jeder Gelegenheit die Einigkeit der drei Kaiserreiche hervorhob und jedes politische Engagement Deutschlands auf dem Balkan vermied - die deutsch-russischen Gegensätze, vor allem aber die russisch-österreichischen, waren zwar zurückgedrängt, bestanden jedoch weiter. Das zeigte sich darin, daß die russischen Truppen an der Westgrenze eher noch verstärkt wurden, und trat besonders auffällig in Erscheinung, als ein großer Teil der russischen Presse auf das deutsch-russische Kaisertreffen in Danzig im Herbst 1881 mit scharfer Kritik reagierte.167 Gegenüber den westeuropäischen Großmächten konnte Bismarck den durch das Dreikaiserabkommen ermöglichten größeren politischen Handlungsspielraum nutzen. Schon im Mai 1881 hatte der Kanzler auf eine französisch-italienisch-englische Entzweiung über den von ihm indirekt unterstützten französischen Vorstoß in Tunis gehofft, um Frankreich noch, stärker von der Rheingrenze abzulenken.168 Der französischen Regierung unter Ministerpräsident Jules Ferry war Bismarcks Beihilfe sehr willkommen, bewirkte sie doch maßgeblich das schließliche Einverständnis der Türkei mit der Okkupation und neutralisierte den italienischen Widerstand wenigstens zum Teil.169 Bismarck ermunterte die französische Regierung danach regelrecht zu neuen kolonialpolitischen Vorstößen, sicherte deut164

165 166 167 168 1KJ

12*

Engelberg, Deutschland 1871—1897, S. 209 f.; Mai, Das deutsche Kapital in Rußland, S. 195 ff. Windelband, Bismarck und die europäischen Großmächte, S. 275. Kumpf-Korfes, Bismarcks „Draht nach Rußland", S. 38. Windelband, Bismarck und die europäischen Großmächte, S. 303. Busch, Moritz, Tagebuchblätter, Bd. 3, Leipzig 1899, S. 38. GP, Bd. 3, S. 400; Ballhausen, Robert Lucius Frh. v., Bismarck-Erinnerungen, Stuttgart/Berlin 1921, S. 207.

180

Konrad Canis

sehe Unterstützung zu und bagatellisierte den wahrscheinlichen Widerstand Englands. 170 Es ist nicht anzunehmen, daß die politischen Tricks Bismarcks bei Ferry verfingen. Aber der Ministerpräsident stand in seiner Kolonialpolitik unter Erfolgszwang, weil er sich n u r auf diese Weise gegen die wachsende innenpolitische Opposition der Gambettisten behaupten zu können glaubte. 171 Bismarcks Hoffnung erfüllte sich, denn bald n a h m e n die kolonialpolitischen Differenzen Frankreichs mit England wieder zu, die sich hauptsächlich an der wiederaufbrechenden ägyptischen Krise entzündeten. 1 7 2 Trotz mancher Krisenerscheinungen w a r also das außenpolitische System Bismarcks zu dieser Zeit intakt. Denn dieses System b e r u h t e ja nicht auf echter Entspannung, auf der Ausschaltung der Gegensätze u n d ihrer Ursachen, sondern auf der Kontrollierbarkeit, der Handhabbarkeit der Spannungen zwischen den Großmächten. So bedeutete das Vorhandensein eines deutsch-russischen Gegensatzes nicht a priori das Scheitern des außenpolitischen Konzepts Bismarcks, denn noch konnten diese Differenzen, ü b e r diplomatische Manöver entschärft, keine entscheidende Veränderung der Konstellation der Großmächte hervorrufen. Selbst die konstanten deutsch-französischen Gegensätze vermochte Bismarck in ihrer die außenpolitische Lage des Reiches prägenden Funktion in der ersten H ä l f t e der 80er J a h r e einzuschränken. Stärker als die deutsch-französischen u n d die deutsch-russischen Gegensätze bestimmten in dieser P h a s e die englisch-französischen, die russisch-österreichischen und die russisch-englischen Widersprüche die Beziehungen zwischen den Regierungen der Großmächte. Es darf jedoch nicht übersehen werden, daß durch die gesetzmäßig zunehmende ökonomische Konkurrenz zwischen den herrschenden Klassen der Großmächte nach 1882/83 verschärft durch die Folgen der neuen Wirtschaftskrise - sowie durch die Konsequenzen der Handels- u n d Zollpolitik Bismarcks die deutschfranzösischen und die deutsch-russischen Gegensätze in ihrer Substanz erheblich zunahmen, also Potenzen anreicherten, die im Gefolge innen- u n d außenpolitischer Veränderungen diese Gegensätze seit 1885 in einer das außenpolitische Konzept Bismarcks untergrabenden Weise hervortreten ließen. 170 171

172

GP, Bd. 3, S. 401. BA Koblenz, Nachlaß Bernhard v. Bülow, Nr. 21: Diplomatische Berichte Bülows 1877-1897, Bl. 45: Bericht aus Paris 21. 10. 1881. Engelberg, Deutschland 1871-1897, S. 211.

N. E. Ovcarenko

Zur Dialektik des Klassenkampfes in Deutschland. Gedanken zur Leninschen Geschichtskonzeption

Im gedanklich-theoretischen und wissenschaftlichen Erbe W. I. Lenins nehmen Fragen des Geschichtsprozesses breiten Raum ein und ermöglichen es, die Leninsche Konzeption von der allgemeinen Geschichte in der neuen und neuesten Zeit mit all ihrer Vielfalt, ihrem Reichtum, ihrer Einheit und ihrer Entwicklung darzulegen. 1 Bei der systematischen Analyse der bedeutendsten Ereignisse der allgemeinen Geschichte wählte Lenin vor allem Deutschland aus dem Kreis der europäischen Länder aus. Lenin beschäftigte sich drei Jahrzehnte mit der Geschichte Deutschlands und hinterließ eine Fülle von Gedanken, Ideen und theoretischen Verallgemeinerungen, die immer von neuem zu systematischem Studium und gründlicher Auswertung auffordern. Es sind vor allem folgende Probleme in den Aussagen W. I. Lenins zur Geschichte Deutschlands in der Neuzeit hervorzuheben: die Geschichte der Revolution von 1848, die Gründung des Deutschen Reiches und den folgenden Kampf der Klassen und Parteien; die Eigenart und Spezifik der historischen Entwicklung Deutschlands in ihren verschiedenen Etappen im Rahmen der allgemeinen Geschichte; die Genesis und Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland und die historischen Voraussetzungen für ihre Umwandlung in die sozialistische; die Ökonomie, die Politik und die Ideologie des deutschen Imperialismus und die Entwicklung des geistigen Lebens und des gesellschaftlich-philosophischen Denkens in der deutschen Gesellschaft. Die besondere Aufmerksamkeit Lenins erregten zwei Komplexe der deutschen Geschichte: erstens die Erforschung der Anschauungen, der Politik und revolutionären Tätigkeit von Marx und Engels im Zusammenhang mit den historischen Ereignissen in Deutschland; zweitens die Analyse eines so komplizierten und widerspruchsvollen Komplexes von Ereignissen, Prozessen, Ideen und politischen Vorgängen, 1

Vgl. dazu vor allem Galkin, I. S., Nekotorye problemy novoj istorii v trudach V. I. Lenina, in: Novaja i novej§aja istorija, 1961, H. 4; derselbe, Problemy novoj istorii v trudach V. I. Lenina, in: Istoriografija novogo vremeni stran Evropy i Ameriki, Moskva 1967; derselbe, V. I. Lenin o problemach novoj i novejsej istorii, in: Istoriografija novoj i novejäej istorii stran Evropy i Ameriki, Moskva 1968. Vgl. Klassenkampf, Tradition, Sozialismus. Von den Anfängen der Geschichte des deutschen Volkes bis zur Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der Deutschen Demokratischen Republik, Grundriß, Berlin 1974.

182

N. E. Ovcarenko

wie er mit der Geschichte der deutschen sozialistischen und Arbeiterbewegung verbunden ist.2 Von nicht geringerer Wichtigkeit wie die Ergebnisse der Leninschen Analysen erscheint Lenins Methode, die es ihm gestattete, zu umfassenden Schlüssen und Wertungen zu gelangen. Selbst ein bei weitem nicht erschöpfender, unvollständiger Überblick über die wissenschaftlichen Interessen Lenins auf dem Gebiet der deutschen Geschichte zeigt, daß es unmöglich ist, im Rahmen eines Aufsatzes auch nur die Wege des wissenschaftlichen Herangehens an einen so weiten Problemkreis zu skizzieren. Es macht sich daher erforderlich, den Gegenstand der Untersuchung und ihren Inhalt im vorliegenden Aufsatz streng zu begrenzen. Das methodologische Schlüsselproblem der Geschichte Deutschlands in der Neuzeit bildet unseres Erachtens die Erforschung der Bewegungsformen des historischen Prozesses in Deutschland, dessen Ausarbeitung Lenin viel Aufmerksamkeit widmete. Den konkreten Inhalt dieser Bewegungsformen während der Neuzeit bilden der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus, die Wege der Herausbildung, die historische Entwicklung und die Festigung der bürgerlichen Gesellschaft, aber auch die Klärung der objektiven Voraussetzungen für ihre gesetzmäßige Ablösung durch die sozialistische Gesellschaft. Lenin verfolgte die Entwicklung der Bewegungsformen des historischen Prozesses - die Genesis und Entwicklungsformen des Kapitalismus in Deutschland - innerhalb eines großen historischen Zeitraumes: von der bürgerlich-demokratischen Revolution 1848/49 bis zur Novemberrevolution 1918. Das Resultat der Erforschung dieses Problems faßte Lenin, gestützt auf Analysen von Marx und Engels, in einer der wichtigsten Gesetzmäßigkeiten des Verlaufs des Geschichtsprozesses in der bürgerlichen Epoche zusammen, der Klassifizierung der Entstehung der bürgerlichen Ordnung als Ergebnis der Revolution „von oben", auf dem spezifischen „preußischen" Weg. Es versteht sich, daß die Revolution „von oben" die Revolution „von unten" nicht nur nicht ausschloß, sondern daß diese trotz der Niederlage von 1848 keine geringe Rolle bei der Vorbereitung der bürgerlichen Gesellschaft gespielt hat, vor allem auf dem Gebiet der ökonomischen Entwicklung. Lenin enthüllte die komplizierte Dialektik dieser Form des Entstehens einer bürgerlichen Gesellschaft und verweist auf jene Tendenzen, die unausweichlich zu ihrer Beseitigung führen werden. Daher kommt der Ausarbeitung der Leninschen Konzeption von der Entstehung und Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland eine Schlüsselrolle für das Verständnis anderer wichtiger Geschichtsprozesse dieses Landes zu. Einige Fragen der Methode und Theorie W. I. Lenin beschäftigte sich mit der Geschichte Deutschlands nicht allein aus Interesse an „geeigneten Beispielen", die auf die russischen Verhältnisse ange2

Schmidt, Walter, Lenin über die deutsche Arbeiterbewegung bis 1871, in: BzG, Sonderheft, 1970, S. 32 ff.; Seeber, Gustav, Lenin über die deutsche Arbeiterbewegung von 1871 bis zur Jahrhundertwende, in: Ebenda, 1970, H. 2, S. 191 ff.

Zur Dialektik des Klassenkampfes

183

wendet werden könnten, wie es mit besonderem Eifer alle „Reformer" Rußlands, von den „legalen Marxisten" und „Ökonomisten" bis zu den Kadetten ,und Menschewiki, unternahmen3, die die Anwendung der historischen Lehren (mit der mechanischen Übernahme unvereinbarer Aufgaben in unterschiedlichen Epochen verwechselten. Lenins Interesse an Deutschland wurde durch die objektive Situation und die wachsende Rolle dieses Landes in der europäischen Staatenwelt und in den internationalen Beziehungen hervorgerufen, die es seit der Gründung des Zweiten Reiches im Jahre 1871 zu spielen begonnen hatte. Deutschland war ein Land schärfster sozialer Gegensätze mit einer starken Arbeiterbewegung. Widersprüchliches bestand nebeneinander und verflocht sich miteinander, die überlebte monarchistische Ordnung und eine „Liberalisierung" der gesellschaftlichen Beziehungen auf bürgerlicher Grundlage, die politische Macht „der Testamentsvollstrecker der bürgerlichen Revolution" - der preußischen Junker - und die ökonomische Macht der deutschen Monopole und Banken. In kaum einem halben Jahrhundert durchlief es den Weg der bürgerlichen ökonomischen Entwicklung, für den z. B. England nicht weniger als zwei Jahrhunderte benötigt hatte. Lenin verwies wiederholt auf die schnellere ökonomische Entwicklung Deutschlands als den entscheidenden Faktor der gesamten historischen Entwicklung dieses Landes. „Nach 1871", schrieb er im Jahre 1915, „erstarkte Deutschland etwa drei- bis viermal so rasch wie England und Frankreich."4 Nicht weniger wichtig war auch ein zweiter Umstand, der Lenin veranlaßte, die Dialektik der historischen Entwicklung Deutschlands aufzudecken: das Verhältnis zur historischen Erfahrung und ihre Rolle bei der Begründung der revolutionären Aufgaben des Proletariats unter neuen historischen Bedingungen. Es ging um das Problem, daß die erste russische Revolution von 1905 bis 1907 wesentliche Fragen der Umwandlung der Gesellschaft auf einer neuen ökonomischen und sozialen Basis auf die Tagesordnung gesetzt hatte, obwohl sie ihren äußeren Anzeichen nach jenen Schichten in der Arbeiterbewegung, deren Interessen die Menschewiki vertraten, als eine Revolution des alten, gewöhnlichen bürgerlich-demokratischen Typus galt, die angeblich stärker den Interessen des liberalen Bourgeois als des Proletariers und seines Verbündeten, des Bauern, diente. Diese Leute waren es, die sowohl in den Tagen der Revolution als auch in den Jahren der Reaktion den Gedanken und die Politik der „,deutschen Gleise' (d. h. der Wiederholung des Entwicklungsweges Deutschlands nach 1848 bei uns)" verstärkt erörterten und eifrig propagierten.5 Die russische Revolution 1905 bis 1907 und die historischen Bedingungen ihres Verlaufs bildeten nun aber keineswegs einen einfachen Aufguß der bürgerlichdemokratischen Revolution von 1848. Ihre herausragende historische Bedeutung bestand darin, daß sie die Ära des Kampfes der russischen und zugleich der internationalen Arbeiterklasse um die Macht eröffnete und damit die marxistische Konzeption der sozialen Revolution und ihre zentrale Frage - die Macht:i 4 5

Lenin, W. 1., Werke, Bd. 17, S. 219 ff. Ebenda, Bd. 21, S. 344. Ebenda, Bd. 16, S. 79.

184

N. E. Ovcarenko

f r a g e - mit neuem Inhalt erfüllte. Eine der wichtigsten Wirkungen dieser Revolution auf die fortschrittlichsten Vertreter des europäischen Proletariats ist darin zu sehen, daß diese in der russischen Revolution einen völlig neuen Revolutionstyp sahen, der die f r ü h e r e n bürgerlichen Revolutionen nicht kopierte und dadurch Inhalt, Ziele und Aufgaben in sich barg, die von allgemeiner Bedeutung f ü r den demokratischen u n d sozialistischen Kampf der Proletarier in der ganzen Welt waren. 6 Der K e r n der Auseinandersetzung zwischen Lenin u n d den Bolschewiki auf der einen u n d den Menschewiki u n d Liberalen auf der anderen Seite lag folglich in der K l ä r u n g der Frage, worin in Wahrheit die Bedeutung der „deutschen E r f a h rungen" im oben angegebenen Sinne zu suchen war, wo sich ihr Platz im historischen Prozeß finden ließ. Natürlich w ä r e es eine unzulässige Vereinfachung, w ü r d e übersehen werden, daß bei aller Unterschiedlichkeit der Bedingungen u n d der Zeit hinsichtlich des objektiven Inhalts der revolutionären Aufgaben in der Epoche des Imperialismus, besonders w a s die Arbeiterbewegung in den beiden Ländern - Deutschland und Rußland - betrifft, viel Gemeinsames existierte. Das allerdings lag ganz u n d g a r nicht im Sinne der Menschewiki u n d ihrer ideologischen Verbündeten, die den Unterschied des objektiven Inhalts d e r Epochen nicht berücksichtigten und mechanisch überholte Wertungen, Thesen u n d Aufgaben auf die neuen historischen Bedingungen übertrugen. 7 Die Antwort auf diese Frage ergab sich erstens aus der historischen W e r t u n g d e r Lehren der deutschen Revolution im Lichte der E r f a h r u n g e n aus der gesamten folgenden Entwicklung der Weltgeschichte; zweitens im Prozeß der Erarbeitung einer theoretischen Konzeption jener Wege, die zur Entstehung der b ü r g e r lichen Gesellschaft in Deutschland f ü h r t e n u n d ihre Entwicklung bestimmten, eine Entwicklung, die durch die erste allgemeine Krise des kapitalistischen Systems abgeschlossen wurde, von dpr die imperialistische Monarchie in Deutschland nicht n u r a m R a n d e e r f a ß t wurde. Das Neue bestand darin, daß Lenin das „Vakuum" zwischen den einzelnen historischen Epochen beseitigte, die Gesetzmäßigkeiten des Übergangs von einer historischen Entwicklungsstufe zur nächsten e r f a ß t e und auf die Verbindungsglieder hinwies. Um einen modernen Begriff zu gebrauchen, löste Lenin eines der schwierigsten methodologischen u n d theoretischen Probleme der Geschichte als Wissenschaft - das Problem der Nahtstellen zwischen den verschiedenen Epochen. Entsprechend der Marxschen Methode übersah Lenin im gesetzmäßigen Unterschied der Epochen keineswegs die Einheit des historischen Prozesses, ungeachtet ihrer scheinbaren u n d tatsächlichen Gegensätzlichkeiten und Unterschiede. M a r x und Engels h a t t e n die wissenschaftlichen Grundlagen der Geschichte B

7

Vgl. Laschitza, Annelies, Zum Platz der Revolution von 1848/49 in den Stellungnahmen führender Vertreter der deutschen Sozialdemokratie zur Revolution in Rußland 1905 bis 1907, in: BzG, 1973, H. 2, S. 238 ff.; Wittwer, Walter, Die Revolution von 1848/49 in der sozialdemokratischen Presse während der Revolution in Rußland 1905-1907, in: JfG, Bd. 8, 1973, S. 185 ff.; Die Auswirkungen der ersten russischen Revolution von 1905—1907 auf Deutschland. Archivalische Forschungen zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Berlin 1956. Lenin, W. I., Werke, Bd. 21, S. 123 ff.

Zur Dialektik des Klassenkampfes

185

Deutschlands gelegt. Ihre Schüler und Nachfolger in der deutschen Arbeiterbewegung - August Bebel, Wilhelm Liebknecht, Franz Mehring u. a. - waren die ersten marxistischen Historiker ihres Landes. Lenin setzte sich kritisch mit den idealistischen Vorstellungen vom historischen Prozeß in Deutschland auseinander und hob das Unvermögen der Gegner des Marxismus hervor, den Prozeß im ganzen zu erfassen und die objektive Realität adäquat wiederzugeben. In hervorragender Weise erkannte er die Notwendigkeit, eine allgemeine Entwicklungstheorie auszuarbeiten, deren Schlüssel allein die Marxsehe Methode sein konnte. Auf Grund der Erfahrungen aus der innerparteilichen Entwicklung der SDAPR in den Jahren der ersten russischen Revolution zog er unter Auswertung des Kampfes gegen die Feinde der marxistischen Theorie und Politik die wichtige methodologische Schlußfolgerung, „daß jeder, der an spezielle Fragen herangeht, ohne vorher die allgemeinen gelöst zu haben, unweigerlich auf Schritt und Tritt, ohne sich dessen bewußt zu sein, über diese allgemeinen Fragen ,stolpern' wird. Und wenn man in jedem einzelnen Falle blindlings über sie stolpert, so heißt das, seine Politik zu den schlimmsten Schwankungen und zur Prinzipienlosigkeit verurteilen." 8 Die erste russische Revolution von 1905 bis 1907 war gleich der nachfolgenden historischen Entwicklung hinsichtlich des Wechselverhältnisses der Klassen und Parteien ein Kampf „um die Wahl des Weges für den Kampf". 9 In dieser historisch außerordentlich bedeutsamen Fragestellung brachte Lenin die objektive Dialektik der möglichen Wege bei der Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft zum Ausdruck. Diesem Problem ging er in seinem Artikel „Gegen den Boykott" nach, als erkennbar wurde, daß die Revolution ihren Höhepunkt überschritten hatte und eine „Atempause der Revolution" eingetreten war. 10 Wir betrachten es nicht als unsere Aufgabe, den Kampf zwischen den Kräften der Revolution und Konterrevolution in den Jahren 1905 bis 1907 darzustellen. Lenin hat darauf eine erschöpfende Antwort gegeben. 11 Uns interessiert vielmehr die methodologische Basis für die Erforschung der möglichen Wege, wie sie vom objektiven Gang der Geschichte gegeben waren. W. I. Lenin verfolgte zwei allgemeine Entwicklungswege, die in die bürgerliche Epoche führten: den „geraden" und den „Zickzackweg".12 Ob und inwieweit sie zur Realität wurden, gehört schon zur Frage der konkreten Verhältnisse der kämpfenden Kräfte; zudem unterlagen sie außerdem noch einer Reihe anderer objektiver und subjektiver Prozesse. Kurz gesagt, führt die Entwicklung bis zur Revolution, so kann die Möglichkeit dieses oder jenes Weges oder gar ihrer Verbindung im Verlaufe der Revolution nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Im Zusammenhang mit der historischen Notwendigkeit des Sturzes des Zarismus standen diese zwei Wege vor den revolutionären Kräften Rußlands. Der erste Weg bedeutete den „unmittelbare[n] Sturz oder jedenfalls die Schwächung und 8 9 10 11 12

Ebenda, Ebenda, Ebenda, Ebenda, Ebenda,

Bd. 12, S. 492. Bd. 13, S. 6. S. 23. S. 20 ff. S. 8.

186

N. E. Ovcarenko

Entkräftung der alten Macht, die unmittelbare Schaffung neuer Machtorgane durch das Volk - all dies ist zweifellos der geradeste, der für das Volk vorteilhafteste Weg, der aber auch den größten Kraftaufwand verlangt". 13 Seinem Wesen nach bildete dieser Weg die radikalste, schnellste und dabei relativ schmerzloseste Umwälzung der Gesellschaft auf bürgerlicher Grundlage. Die Geschichte schafft jedoch nicht immer solche günstigen Bedingungen, die den direkten Ubergang ermöglichen. Es ist denkbar, daß die Periode entschlossener historischer Kämpfe für die revolutionäre Klasse ungünstig abschließt und durch die Epoche der Konterrevolution ersetzt wird; es ist aber auch möglich, daß zu jenem Zeitpunkt, da Möglichkeiten für den direkten Weg auftauchen, die Kräfte der Revolution schwach sind und deshalb die Entwicklung im Zickzackkurs vorangeht. „Jede Zickzackwendung der Geschichte ist ein Kompromiß zwischen dem Alten, das nicht mehr stark genug ist, um das Neue ganz negieren zu können, und dem Neuen, das noch nicht stark genug ist, um das Alte ganz zu stürzen."14 Lenin wandte sich der Geschichte der bürgerlichen Revolutionen zu und konkretisierte diese zwei Wege der Herausbildung und Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft. Im Jahre 1905 schrieb er: „Denkbar sind zwei Typen der bürgerlichen Entwicklung oder des revolutionären Heraustretens aus dem feudalen Ancien régime: 1. durch Zugeständnisse von oben, Einschränkungen, Verminderungen, Abbau, 2. durch eine Umgestaltung von unten, durch die entschiedene Gestaltung der neuen Ordnung .. .'i15 Außerdem zeigte Lenin für Rußland die möglichen Formen der bürgerlichen Ordnung und ihrer Institutionen, die aus diesen zwei Typen der bürgerlichen Revolution hervorgehen (wobei hinzuzufügen ist, nicht nur für Rußland. In diesen oder jenen Formen handelt es sich um Erscheinungen von allgemeiner Bedeutung) : „Konstitution

Semstwos

Revolution

Freiheit

mit parlamentarischen Formen verbrämter Absolutismus Republik". 16

Anschließend verallgemeinerte er erneut diese beiden Typen, die als generelle Gesetzmäßigkeiten der Bewegungsform des historischen Prozesses der bürgerlichen sozialökonomischen Formation auftreten: das ist einmal die Evolution des preußischen Typs, zum andern die Evolution des amerikanischen Typs. Dem ersten Typus entspricht die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft, wie sie als Ergebnis der Revolution „von oben" auftritt und ihren klassischen Ausdruck in der Entstehung des junkerlich-bourgeoisen, halbabsolutistischen, konstitutionellen Zweiten Reiches in Deutschland 1871 fand. Die Revolution „von oben" ist eine nicht weniger komplizierte und von zahlreichen sich überlagernden Faktoren belastete historische Erscheinung als die Revolution „von unten", d. h. die offene revolutionäre Überwindung der alten feudalen Machtformen und 13 14 15 16

Ebenda. Ebenda, S. 9. Derselbe, Polnoe sobranie socinenij, Bd. 10, S. 366. Ebenda.

Zur Dialektik des Klassenkampfes

187

ihrer Institutionen. Nachdem Lenin diese zwei möglichen, die objektive Entwicklung der Formen des historischen Prozesses ausdrückenden Typen der Revolution zur methodologischen Grundlage für die Erforschung der Genesis der bürgerlichen Gesellschaft herausgearbeitet hatte, enthüllte er die komplizierte Dialektik des Wirkens dieser zwei sozialökonomischen Mechanismen der Umwandlung der Feudalgesellschaft in die kapitalistische. Aus der Vielfalt von Fragen der komplizierten Dialektik jedes einzelnen der beiden Typen können wir nur drei wesentliche methodologische Momente hervorheben : Erstens die unbedingte Forderung bei der Untersuchung jeder sozialen Frage, „sie in einen bestimmten historischen Rahmen zu stellen und ferner, wenn es sich um ein Land handelt, . . . die konkreten Besonderheiten zu berücksichtigen, die dieses Land innerhalb ein und derselben historischen Epoche von anderen Ländern unterscheiden". 17 Zweitens die Überwindung der unhistorischen Fetischisierung des einen oder des anderen Revolutionstypus, der angeblich für das gegebene Land absolut gültig bleibt, ohne zu berücksichtigen, daß sich Charakter und Inhalt der Epoche gewandelt haben und folglich auch die Aufgaben, die sozialen Triebkräfte und die Formen zur Lösung des gesellschaftlichen Konflikts, den die Revolution des preußischen Typus „von oben" weder beseitigen noch endgültig lösen konnte. Lenin verwarf ein solch oberflächliches Vorgehen wie die Übertragung der alten Aufgaben auf neue Bedingungen. Selbst ein Sieg der Revolution „von oben" schaltet für die weitere Entwicklung keineswegs die Möglichkeit bzw. sogar die Notwendigkeit der Revolution „von unten" aus. Die Geschichte kennt nicht wenige Beispiele für die Ablösung des einen Typus durch den anderen, wenn es sich um die Entwicklung ganzer historischer Epochen handelt, wie sie andererseits auch solche Fälle kennt, daß die radikalste Revolution „von unten" auf bestimmten Etappen ihrer Entwicklung auch zu Maßnahmen des Typus „von oben" ihre Zuflucht nehmen kann. Die Revolution 1789 bis 1794 in Frankreich bildet ein dafür charakteristisches Beispiel, eine Revolution, die sich in aufsteigender Linie entwickelte und der Reihe nach die konservativen, gemäßigten und anderen Fraktionen der bürgerlichen Klasse von der revolutionären Macht entfernte. Diese Kombination aber beseitigt nicht den bestimmenden Charakter einer dieser beiden Typen in der konkreten historischen Epoche. 18 Zugleich müssen die Arbeiterklasse und ihre Avantgarde, die marxistische Partei, unter 17 18

Derselbe, Werke, Bd. 20, S. 403. August Bebel hatte in seiner Reichstagsrede am 17. 2. 1888 den Versuch unternommen, die Typen der bürgerlichen Revolution zu klassifizieren. Dabei machte er folgende Unterscheidungen: a) Revolutionen von oben (der österreichisch-preußische Krieg 1866, die Vereinigung Italiens); b) Revolutionen von unten (die bürgerlichen Revolutionen in Frankreich 1789—1794, 1830 und die europäischen Revolutionen 1848/49); c) Revolutionen jenes Typs, in dem „beide Faktoren von oben und von unten zusammenwirken, sich vereinen und Reformen nach sich ziehen, wobei die Revolution auf diese Weise ihren Ausdruck in der Reform findet" (Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstags. VIII. Legislaturperiode, 2. Session, Berlin 1888, S. 958 f.).

188

N. E. Ovcarenko

dem Blickpunkt der Perspektiven der revolutionären Entwicklung auf den Kampf a n zwei Fronten - sowohl „unten" als auch „oben" - vorbereitet sein, auf den Wechsel der Typen d e r Entwicklung, da die Klassengegner des Proletariats sich bemühen, der Revolution den ungünstigen, auf Umwegen verlaufenden Entwicklungsweg aufzuzwingen; sie nicht durch die grundlegende Umgestaltung von unten, sondern durch ihre teilweise Liberalisierung, durch „Zugeständnisse von oben", abzuschließen. Drittens darf die Formierung der bürgerlichen Gesellschaft, deren wichtigstes Kriterium die politische Herrschaft, die D i k t a t u r der ökonomisch herrschenden Fraktion der Bourgeoisie, bildet, nicht als gewissermaßen einmaliger Akt, als einfache Folge der bürgerlichen Revolution angesehen werden, die nach der bekannten These angeblich n u r „die Produktionsverhältnisse mit den schon formierten. P r o d u k t i v k r ä f t e n in Übereinstimmung bringt". Eine derartige m e chanistische Wertung der bürgerlichen wie auch jeder anderen sozialen Revolution als eines einfachen Aktes der politischen Umwälzung läßt die w a h r e Dialektik der Revolution als eines historischen Prozesses unberücksichtigt, der manchmal eine ganze historische Epoche u m f a ß t , aber auch eine Reihe von Epochen, solange die Bourgeoisie die reale politische Macht nicht erreicht hat. 19 Lenin begriff die Revolution immer als einen Umwandlungsprozeß, nicht als einmaligen Akt, als einen langwierigen u n d widerspruchsvollen Prozeß, mit a u f - u n d absteigenden Linien, mit Siegen u n d Niederlagen usw. In Frankreich z. B. f a n d e n vier bürgerliche Revolutionen (1789 bis 1794, 1830, 1848, 1870) u n d eine Reihe konterrevolutionärer Restaurationsbewegungen statt. Erst durch diesen jahrzehntelangen Kampf f o r m i e r t e sich der Uberbau der bürgerlichen Gesellschaft; zugleich änderte sich aber auch dessen Basis. Das gleiche läßt sich auch von der englischen bürgerlichen Revolution im 17. Jh. sagen. In anderen historischen Formen, auf anderen Wegen verlief die Bildung der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland, Italien, Österreich u n d anderen Ländern. Nicht allein ein anderer Revolutionstyp, sondern auch ein wesentlicher Unterschied der historischen Bedingungen drückten den Formen der entstehenden b ü r g e r lichen Staaten, den Vertretungskörperschaften, der Entwicklungsstufe der bürgerlichen Demokratie, dem Ausmaß der Erhaltung der Überreste des F e u dalismus und Absolutismus usw. ihren Stempel auf. Das Wesen des Prozesses allerdings blieb das gleiche, insofern es von den allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der Entstehung u n d Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft bestimmt w u r d e . Daher k a n n das Problem der historischen Grenzen der bürgerlichen Revolutionen und der Hegemonie der Bourgeoisie nicht mit dem Machtantritt dieser oder jener Fraktion der Bourgeoisie gleichgesetzt werden (wobei die historischen E r f a h r u n g e n lehren, daß die Macht nicht „allgemein" der Bourgeoisie gehört, sondern einer bestimmten Fraktion dieser Klasse. Gerade das beweisen die Analysen der europäischen bürgerlichen Revolutionen, die wir von Marx, Engels und Lenin besitzen. Damit soll keineswegs die große Bedeutung d e r siegreichen bürgerlichen Revolution f ü r den historischen Fortschritt negiert 19

Vgl. Epstein, A. D., Istorija Germanii ot pozdnego srednevekovja do revoljucii 1848g., Moskva 1961, S. 403 f.

Zur Dialektik des Klassenkampfes

189

werden, insofern sie in einzelnen Etappen durch den Kampf der revolutionären Massen über den Rahmen rein klassenmäßiger Interessen der Bourgeoisie hinausgeht.) Was die Veränderung an Eigentumsformen in der bürgerlichen Revolution und der auf dem Boden dieser Revolution erwachsenden politischen Macht betrifft, so besteht das Wesentliche darin, daß sich lediglich die Form des Eigentums und die ihr entsprechenden ökonomischen Verhältnisse ändern, das Prinzip des Privateigentums aber als Grundlage der staatlichen und politischen Ordnung erhalten bleibt. Bei weitem nicht immer beschreitet die bürgerliche Revolution den radikalen Weg der Expropriation des feudalen Eigentums. Die Große Französische Revolution war in dieser Hinsicht eher eine Ausnahme als die allgemeine Regel. Das Eigentum der Gutsbesitzer hielt sich nicht selten noch lange Zeit, wenn auch in begrenzter und eingeschränkter Form, in kapitalistisch reformierter Weise. Das trifft übrigens nicht nur auf jene Länder zu, in denen sich der Kapitalismus in der Landwirtschaft auf dem preußischen Wege entwickelte. Eine derartige Entwicklungstendenz erzeugt eine der spezifischen Besonderheiten in der Herausbildung der politischen Macht in der bürgerlichen Gesellschaft, die bis heute in einer Reihe entwickelter kapitalistischer Länder Westeuropas und Amerikas zu bemerken sind. Es ist die unausweichliche Aufteilung der Macht zwischen der herrschenden Bourgeoisie und den großen, kapitalistisch wirtschaftenden Landeigentümern. Im Jahre 1892 machte Engels zum ersten Mal auf diese historische Tendenz aufmerksam: „Es scheint ein Gesetz der historischen Entwicklung, daß die Bourgeoisie in keinem europäischen Land die politische Macht - wenigstens nicht für längere Zeit - in derselben ausschließlichen Weise erobern kann, wie die Feudalaristokratie sie während des Mittelalters sich bewahrte. Selbst in Frankreich, wo der Feudalismus so vollständig ausgerottet wurde, hat die Bourgeoisie, als Gesamtklasse, die Herrschaft nur während kurzer Zeiträume besessen. . . . Eine langjährige Herrschaft der Bourgeoisie war bis jetzt nur möglich in Ländern wie Amerika, wo der Feudalismus nie bestand und die Gesellschaft von vornherein von bürgerlicher Grundlage ausging." 20 Wir begegnen diesem politisch-sozialen Kompromiß unter neuen historischen Bedingungen auch in der ersten russischen Revolution und in der folgenden Entwicklungsperiode, worauf Lenin ständig aufmerksam machte.

Das dialektische Wechselverhältnis zwischen Basis und und sein Einfluß auf den Verlauf des Klassenkampfes im Formierungsprozeß der bürgerlichen Gesellschaft

Überbau

Die Große Französische bürgerliche Revolution von 1789 bis 1794 setzte den Ubergang der westeuropäischen Gesellschaft vom Feudalismus zum Kapitalismus endgültig durch. Die konterrevolutionäre Koalition der europäischen 20

MEW, Bd. 22, S. 307.

190

N. E. Ovcarenko

Monarchen erlitt 1792 im Kampf mit dem revolutionären Frankreich eine Niederlage. Andererseits spielten der Einfall des napoleonischen Frankreich in die deutschen Staaten und die folgende Aufteilung Preußens, obwohl eigennützigen Zielen der französischen Bourgeoisie folgend, dennoch eine positive Rolle als historisches Ferment, das die kapitalistische Entwicklung Deutschlands beschleunigte. Im Unterschied zu Frankreich vollzog sich der historische Umwandlungsprozeß vom Feudalismus zum Kapitalismus in Deutschland während des 19. Jh. auf „preußischem Wege" und durch die Revolution „von oben". Das heißt natürlich nicht, daß bei der Herausbildung und Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland keinerlei historische Alternative zur Revolution „von oben" existierte. Im Gegenteil, selbst die „Revolution von oben" war vor allem der Ausdruck des Kampfes zwischen den Kräften der Demokratie, auf deren äußerstem linkem Flügel die Arbeiterklasse stand, und den Kräften der Konterrevolution, mit der die liberale Bourgeoise schließlich einen Klassenkompromiß schloß. Außerdem war der Formierungsprozeß der bürgerlichen Gesellschaft nicht einspurig, wie die Revolution „von unten" 1848/49 beweist. Lenin nannte jene historischen Erscheinungen, innerhalb deren Entwicklungsgang sich die bürgerliche Gesellschaft in Deutschland formierte, den preußischen Entwicklungsweg des Kapitalismus in der Landwirtschaft, die bürgerlich-demokratische Revolution 1848/49 und die Revolution „von oben" in den 60er und Anfang der 70er Jahre. Diese widerspruchsvolle Einheit ökonomischer, gesellschaftlicher, politischer und anderer Faktoren reflektierte sowohl Gegensätze zwischen Feudalismus und Kapitalismus als auch gleichzeitig Formen ihrer Lösung. Der preußische Entwicklungsweg des Kapitalismus in der Landwirtschaft war eine der wichtigsten Voraussetzungen für jdie Bildung der kapitalistischen Basis. Die Revolution von 1848/49 beschleunigte, trotz ihrer Niederlage, diese Entwicklung außerordentlich. Die Serie der Revolutionen „von oben" in den 60er Jahren und zu Beginn der 70er Jahre führte zum Abschluß der Bildung des bürgerlichen staatlichen Überbaus usw. Alles das waren Bewegungsformen des historischen Prozesses, die ein und dieselbe Tendenz der Herausbildung und Entwicklung der kapitalistischen sozialökonomischen Formation in Deutschland widerspiegelten. Der preußische Zickzackweg der Herausbildung der ökonomischen Basis und der sich anschließenden Formierung des staatlich-politischen Überbaus der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland waren Formen des Klassenkampfes, die schließlich durch das Klassenkompromiß zwischen der historisch absteigenden Klasse, dem Junkertum, und der objektiv aufsteigenden Klasse, der Bourgeoisie, gelöst wurden. Derartige Kompromisse, so charakterisierte Lenin ihren historischen Platz, würden weniger von den Menschen gemacht werden als von der „geschichtlichen Entwicklung"21. Das bedeutet keineswegs, daß die Menschen und vor allem die revolutionären Klassen und Parteien diese objektiven Bedingungen nicht in ihrem Interesse ausnützen könnten, bedeutet nicht, daß sie lediglich blinde Werkzeuge der Kompromisse bleiben müssen. Im Gegenteil, betrachten wir die großen historischen Kompromisse, die einer Wendung im 21

Lenin, W. I., Werke, Bd. 31, S. 52.

Zur Dialektik des Klassenkampfes

191

Lauf der geschichtlichen Entwicklung gleichzusetzen sind und als deren Beispiel auch der preußische Weg gelten kann, so birgt die historische Dialektik der gleichen Epoche zugleich die Formierung der Revolution „von unten" in sich. Alles wird letzten Endes durch das Verhältnis der politischen Klassenkräfte im gegebenen historischen Augenblick entschieden. Gerade darin besteht nach Lenin für die Arbeiterklasse und ihre marxistische Partei die „Wahl des Weges für den Kampf". Die ökonomische Basis - genauer gesagt: die Wege ihrer Formierung - der bürgerlichen Umwälzungen in Deutschland unterschied sich wesentlich von der englischen oder französischen: wenn in England die Entwicklung des Kapitalismus zunächst in der Landwirtschaft begann, ihn um einen blutigen Preis revolutionierte, dadurch die Quelle der Akkumulation des Kapitals bildete und eine Armee von Lohnarbeitern schuf, wenn in Frankreich die Revolution Ende des 18. Jh. radikal mit dem feudalen Grundbesitz Schluß machte, die ökonomischen Verhältnisse von ihrer feudal-absolutistischen Hülle befreite und dies alles zusammengenommen günstige Bedingungen für die verstärkte Differenzierung der Klassen und die Zunahme des Klassenkampfes schuf, für seine Umwandlung in den politischen Kampf22 und die entschiedene Demokratisierung der politischen Ordnung, so festigten sich in Deutschland die feudalen Verhältnisse bis zum 19. Jh., dank der zweiten Leibeigenschaft der Bauern und des Bestehens der absolutistischen Macht in 'den zahlreichen deutschen Territorialstaaten. Der letztere Umstand hemmte, betrachtet man die Formierung der ökonomischen Basis der kapitalistischen Verhältnisse und der sozialen Kräfte der bürgerlichen Revolution, die soziale Differenzierung der Gesellschaft und machte für die werktätigen Massen den Prozeß der bürgerlichen Entwicklung äußerst kostspielig und verlangsamte sein historisches Tempo. Zu den wichtigsten Voraussetzungen für den preußischen Weg der Formierung der bürgerlichen Gesellschaft, wie sie sich in den ersten Jahrzehnten des 19. Jh. zu Beginn der kapitalistischen Umwandlung der Landwirtschaft herausbildeten, gehörten ferner: erstens die Erhaltung der ökonomischen und politischen Zerrissenheit Deutschlands, die der Bildung eines nationalen Marktes, der Entwicklung einer gesamtnationalen Volkswirtschaft entgegenstand. Andererseits aber waren diese - zunächst nur als Postulat bestehenden - Elemente die materielle Grundlage für die Einheit der revolutionär-demokratischen Klassen und Schichten. Als Folge dieser Prozesse fehlte ein einheitlicher Nationalstaat als „Voraussetzung der kapitalistischen Entwicklung"23. Zweitens die Erhaltung der Schlüsselpositionen im Überbau (im Staat, in der 22

Ein wesentliches Moment in der historischen Entwicklung des Klassenkampfes enthüllte Lenin bei der Betrachtung der Ereignisse der französischen Revolution von 1789—1794. „Ende des 18. Jahrhunderts zeigte uns der Klassenkampf, wie er zu einem politischen Kampf wird, wie er wirklich ,gesamtnationale' Formen annimmt. Seitdem hat sich der Entwicklungsstand sowohl des Kapitalismus als auch des Proletariats gewaltig verändert. Die ,Schablonen' des Alten werden niemanden daran hindern können, beispielsweise die neuen Formen des Kampfes zu studieren" (ebenda, Bd. 19, S. 108).

23

Ebenda, Bd. 21, S. 149; vgl. ferner ebenda, Bd. 20, S. 398.

192

N. E.

Ovcarenko

Armee und Diplomatie, in Funktionen des ideologischen Lebens, der Formung des gesellschaftlichen Bewußtseins usw.), aber auch im ökonomisch-sozialen Bereich in den Händen der junkerlichen Elite. Drittens die Erhaltung des Absolutismus als eines scheinbar über den Klassen stehenden Organs, mit ausgeprägten militärischen Zügen, was den Absolutismus insbesondere in Verbindung mit der Zerrissenheit des Landes in eine starke politische Waffe des feudaljunkerlichen Staates verwandelte. Auf Grund einer Reihe objektiver Faktoren behielt der alte Überbau eine relative Stabilität und Festigkeit sogar in der Periode stürmischer Veränderung der Basis in kapitalistischer Richtung. Dabei paßte er sich natürlich in bestimmtem Maße an die veränderten Bedingungen an. Viertens die ökonomische und politische Schwäche der deutschen Bourgeoisie. Die Bourgeoisie und die Bauernschaft waren nicht durch die historische Schule des gemeinsamen Klassenkampfes und der Zusammenarbeit gegen den Feudalismus gegangen. Die deutsche liberale Bourgeoisie wurde nicht zur Vertreterin der bäuerlichen ökonomischen Interessen und auch nicht zur gesamtnationalen Führerin der demokratischen Bewegung und Revolution. In Deutschland entstand die kapitalistische Produktionsweise bedeutend später als in England und Frankreich. 24 Lenin bezeichnete die Epoche von 1789 bis 1871 als die „Epoche des Aufstiegs und des vollen Sieges der Bourgeoisie" 25 , charakteristisch f ü r die ganze westeuropäische Gesellschaft, darunter auch f ü r Deutschland. Zugleich haben wir die konkreten Besonderheiten zu berücksichtigen, die Deutschland von England und Frankreich unterschieden, d. h. von Ländern, in denen die Revolutionen schon stattgefunden hatten „innerhalb ein und derselben historischen Epoche" 26 . Zahlreiche Untersuchungen führten Lenin zu folgender verallgemeinernden Schlußfolgerung über die zwei Typen der bürgerlichen Agrarentwicklung: „Die Uberreste der Fronwirtschaft können sowohl durch Umgestaltung der Gutswirtschaften als auch durch Liquidierung der grundherrlichen Latifundien, d. h. auf dem Wege der Reform oder auf dem Wege der Revolution, beseitigt werden. Die bürgerliche Entwicklung kann in der Weise vor sich gehen, daß an ihrer Spitze die großen Gutsbesitzerwirtschaften stehen, die allmählich immer mehr bürgerlich werden und allmählich die fronherrlichen Ausbeutungsmethoden durch bürgerliche ersetzen; sie kann auch in der Weise vor sich gehen, daß an ihrer Spitze die kleinen Bauernwirtschaften stehen, die auf revolutionärem Wege aus dem sozialen Organismus den ,Auswuchs' der fronherrlichen Latifundien entfernen und sich dann, ohne sie, frei in den Bahnen des kapitalistischen Farmertums entwickeln. Ich würde diese zwei Wege objektiv möglicher bürgerlicher Entwicklung als den preußischen und den amerikanischen Weg bezeichnen. Im ersten Falle wächst die fronherrliche Gutsbesitzerwirtschaft langsam in eine bürgerliche, in eine Junkerwirtschaft hinüber, wobei die Bauern unter Herausbildung einer kleinen Minder24 25 26

MEW, Bd. 23, S. 21. Lenin, W. I., Werke, Bd. 21, S. 135; vgl. ferner ebenda, Bd. 20, S. 404, 409. Ebenda, Bd. 20, S. 403.

Zur Dialektik des Klassenkampfes

193

heit von Großbauern zu Jahrzehnten qualvollster Expropriation und Knechtschaft verurteilt werden. . . . Hauptinhalt der Revolution im ersten Falle ist das Hinüberwachsen der Fronherrschaft in Schuldknechtschaft und kapitalistische Ausbeutung auf dem Grund und Boden der Feudalherren, der Gutsherren, der Junker."27 Dieser theoretische Extrakt Lenins enthält überaus reichhaltiges Material zur Erforschung des konkreten historischen Prozesses in Deutschland. Zwei Momente seien noch hervorgehoben: Lenin wandte sich erstens entschieden gegen die liberal-opportunistische Wertung der „preußischen" Erfahrungen als einer Art Entwicklung ohne Klassenkampf, gegen die menschewistischen Utopien, als sei eine „bürgerliche Umwälzung möglich ohne Revolution" 28 . Der Zickzackweg der historischen Entwicklung war das Resultat des Klassenkampfes auf der Grundlage des gegebenen Verhältnisses der Klassenkräfte. 29 Zweitens ist es unzulässig, den Begriff des preußischen Weges auf die Entwicklung des Kapitalismus in der Landwirtschaft, auf ihre Umwandlung auf bürgerlicher Grundlage einzuengen. Dieser Weg ist untrennbar mit der Festigung des kapitalistischen Charakters der gesamten Volkswirtschaft verbunden, die ohne die Berücksichtigung der sozialpolitischen Seite der Entwicklung der gesellschaftlichen Beziehungen undenkbar war. Zweifellos war die Kapitalisierung der Agrarverhältnisse die entscheidende Bedingung für die bürgerlichen Umwandlungen, beseitigte sie doch Hindernisse für die Entwicklung der kapitalistischen Industrie usw. Lenin beschränkte den preußischen Entwicklungstyp keineswegs nur auf die Umwandlung der Landwirtschaft auf kapitalistischer Grundlage. Vielmehr faßte er ihn auf als einen von zwei möglichen Wegen des revolutionären Heraustretens aus den feudalen Verhältnissen und der Formierung der bürgerlichen Gesellschaft. 30 Es ist unerläßlich, die Revolution des preußischen Typus in der Einheit ihrer ökonomischen, sozialen und politischen Faktoren zu sehen. Die Tatsache, daß in Deutschland die ökonomische Zentralisierung der politischen vorausging, die Umwandlung der feudalen Agrarverhältnisse in bürgerliche auf dem Wege von Reformen vor sich ging und die preußische Monarchie dadurch die ökonomischen Interessen der deutschen liberalen Bourgeoisie befriedigte, neutralisierte in nicht geringem Maße die revolutionäre Haltung der Bourgeoisie in den Zeiten scharfer revolutionärer Zusammenstöße und historischer Wendungen. Den zentralen Punkt der Leninschen Untersuchung des preußischen Typus der bürgerlichen Umwälzungen bildete die Revolution 1848-1849. 31 Die Ersetzung der 27 28 29

30 31

Ebenda, Bd. 13, S. 235 f. Ebenda, Bd. 17, S. 222. Lenin bemerkte dazu: „Bismarck konnte Reformen nur deshalb erfolgreich durchführen, weil er über den Rahmen des Reformertums hinausging: er vollzog bekanntlich eine Reihe von ,Revolutionen von oben'" (ebenda, Bd. 18, S. 529). Vgl. ebenda, Bd. 8, S. 564; ferner Bd. 13, S. 252. Vgl. Revoljucii 1848—1849gg. Hrsg. von F. V. Potemkin und A. I. Molok, 2 Bde., Moskva 1952; Kan, S. B., Nemeckaja istoriografija revoljucii 1848—1849gg. v Germanii, Moskva 1962; Obermann, Karl, Deutschland von 1815 bis 1849, 2. unv. Aufl., Berlin 1963; Die bürgerlich-demokratische Revolution von 1848/49 in

13 J a h r b u c h 16

194

N. E. Ovcarenko

Ära der Reformen „von oben" durch die Epoche der Revolution „von unten" ist eine gesetzmäßige Erscheinung bei der Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft dieses Typus. Ein anderes Problem ist es, daß die Niederlage der Revolution von 1848/49 die Leitung der nachfolgenden Veränderungen in die Hände der gutsbesitzerlich-junkerlichen Konterrevolution gab. Diese Veränderungen wurden in den 60er Jahren vorrangig auf dem Wege der Revolution „von oben" abgeschlossen. In den ersten vier Jahrzehnten des 19. Jh., die der Revolution von 1848 vorangingen, fanden tiefgreifende sozialökonomische Umwandlungen in Deutschland statt. Die entscheidende Folge dieser Veränderungen bestand darin, daß sich bis zur Revolution 1848, und das nicht nur in Deutschland, das Verhältnis der sozialen Triebkräfte der bürgerlichen Revolution verändert hatte. Der ehemalige „dritte" Stand aus der Zeit der französischen Revolution, am Ende des 18. Jh. die Haupttriebkraft im Kampf gegen den Feudalismus, befand sich zur Zeit der Revolution von 1848 im Zustand der Auflösung. Die soziale Differenzierung der deutschen Gesellschaft war schon so weit fortgeschritten, daß die Avantgarde des deutschen Proletariats bereits in dieser Revolution als selbständige politische Kraft auftrat und danach strebte, die Entwicklung der Revolution über den begrenzten Rahmen ihrer liberal-bourgeoisen Vorstellungen hinauszuführen. Die kleinbürgerliche Demokratie, ohnehin viel zu heterogen in dem gespaltenen Land, war in ihrer Bedeutung als selbständiger Faktor in der Revolution bereits reduziert. Sie spaltete sich zwischen dem selbständig gewordenen „vierten" Stand, dem Proletariat, und den gemäßigten Liberalen, wobei letztere infolge der skizzierten Entwicklung den „Pöbel" mehr zu fürchten begannen als die preußische Monarchie und die Junker. Das Ideal der Camphausen, Hansemann, Mevissen u. a. war nicht mehr die siegreiche Revolution, sondern der Kompromiß mit den Inhabern der Macht, nicht die bürgerliche Republik, sondern die auf gemäßigt-konstitutioneller Grundlage reformierte Monarchie.32 Diesen Wechsel der historischen Rollen, vor allem die Schwäche und Feigheit der liberalen Bourgeoisie, nutzten die Dynastien und das Junkertum aus, um die Kontrolle über die Entwicklung des revolutionären Prozesses in der Hand zu behalten. Lenin studierte aufmerksam die Ansichten und Wertungen von Marx und Engels über die Revolution. In diesem Zusammenhang stellte er die Frage: „Warum Mißlingen 1848?", und führte als Antwort die Worte von Marx und Engels an: „Die Revolution von 1848 scheiterte, . . . weil die Bürger die Ruhe mit der Knechtschaft der bloßen Aussicht des Kampfes mit der Freiheit vorzogen."33 In seinen Ausführungen über die Geschichte und die Ergebnisse der bürgerlichen Revolution in Deutschland stellte Lenin die revolutionäre Tätigkeit von Marx und Engels, deren Taktik des proletarischen Klassenkampfes während der ReDeutschland. Studien zu ihrer Geschichte und Wirkung, 2 Bde. = JfG, Bd. 7 und 8, 1973; Illustrierte Geschickte der Revolution von 1848J49 in Deutschland, Berlin 1973. 32 Vgl. Lenin, W. I., Bd. 15, S. 386 f. 33 Derselbe, Konspekt zum „Briefwechsel zwischen Karl Marx und Friedrich Engels 1844 bis 1883", Berlin 1963, S. 405.

Zur Dialektik des Klassenkampfes

195

volution, den Kampf der Klassen und die Grenzen dar bürgerlichen Revolution selbst in den Vordergrund seiner Untersuchung. Es würde den Umfang des vorliegenden Aufsatzes sprengen, wenn der Erforschung der Geschichte der Revolution, ihrer Triebkräfte, der Dialektik des Kampfes der Klassen und Parteien und vieler anderer Seiten der Revolution durch Lenin nachgegangen werden sollte. Wir beschränken uns daher auf einige theoretisch-methodologische Probleme, die das Resultat der Leninschen Verallgemeinerung der Lehren der Revolution von 1848 in Deutschland darstellen. W. I. Lenin untersuchte zunächst die historische Dialektik der bürgerlichen Revolution generell, die durch die Veränderung ihrer ökonomischen Basis und der neuen sozialen Gliederung ihrer revolutionären Triebkräfte bewirkt wurde. Schon Marx hatte unmittelbar nach den europäischen Revolutionen von 1848/49 zwei Linien in der bürgerlichen Revolution festgestellt: die „aufsteigende" in der französischen Revolution 1789 und die „absteigende" in den Revolutionen des Jahres 1848.34 Lenin führte diesen Gedanken weiter, wenn er von der Revolution des Typus 1789 und des Typus 184835 oder des „französischen" bzw. „deutschen" Weges sprach.36 Diese beiden Wege der bürgerlichen Revolution sind mit den zwei Wegen der Entwicklung des Kapitalismus in der Landwirtschaft, dem preußischen und amerikanischen, keinesfalls gleichzusetzen. Im vorliegenden Falle handelt es sich vielmehr um die Formen der Umwandlung des alten, feudalen Überbaus in den neuen, bourgeoisen, deren rationellster Weg die Revolution „von unten" darstellt. Insgesamt gesehen muß hervorgehoben werden, daß Lenin zum ersten Mal in der Geschichte des marxistischen Denkens das außerordentlich wichtige Problem der bürgerlichen Revolution vom neuen Typus, des Typus der Revolution von 1905-190^, aufwarf und theoretisch begründete - das Problem der Vereinigung der Revolution „von oben" und „von unten" unter den Bedingungen der entwickelten Volksrevolution. Er schrieb, „daß die Zeit der Revolution eine Zeit des Handelns, der Aktion sowohl von oben als auch von unten ist".37 Dabei hat die revolutionäre Taktik „von oben" freilich nichts gemein mit ihrem früheren Inhalt, als die Revolution „von oben" im Interesse der abtretenden Klasse, d. h. der Gutsbesitzer, durchgeführt worden war. Nunmehr wird die Taktik „von oben", deren Grundlage im objektiven Wechselverhältnis der Triebkräfte einer Revolution zu suchen ist, in der das Proletariat zum Hegemon berufen ist, von der marxistischen Partei aufgegriffen und im Klasseninteresse der Arbeiterklasse und der gesamten revolutionären Demokratie angewendet. Die Taktik „von unten" und „von oben" ist nicht nur gegen die Überreste des Feudalismus gerichtet, sondern auch gegen das Versöhnlertum der liberalen Bourgeoisie. In diesen Veränderungen des Charakters der bürgerlich-demokratischen Revolutionen in den unterschiedlichen historischen Epochen spiegelte sich 34 35 36 37

13«

MEW, Bd. 8, S. 135. Lenin, W. I., Werke, Bd. 8, S. 248 ff. Ebenda, Bd. 9, S. 237. Ebenda, S. 85.

196

N. E. Ovcarenko

vor allem die v e r ä n d e r t e historische Rolle der liberalen Bourgeoisie u n d der Arbeiterklasse wider. Das Proletariat wird zur f ü h r e n d e n K r a f t der Revolution, w ä h r e n d der Liberalismus auf die Seite der Reaktion, der Konterrevolution, übergeht. Bei der Festlegung des historischen Rahmens jeder dieser beiden Typen enthüllte Lenin zunächst ihre innere Dialektik: die Frage nach der Stellung der Bourgeoisie w ä h r e n d der beiden Revolutionen gegenüber den B a u e r n als ihrem Verbündeten. Der Verrat der deutschen Bourgeoisie a n den Interessen der Bauern im J a h r e 1848 bedeutete die Niederlage der Revolution. Lenin zog aus dieser historischen Tatsache folgende wichtige Schlußfolgerungen: „1. Die nichtvollendete deutsche Revolution unterscheidet sich von der vollendeten französischen dadurch, daß die Bourgeoisie nicht n u r den Demokratismus im allgemeinen, sondern auch die Bauernschaft im besonderen v e r r a t e n hat. 2. Die Grundlage f ü r die völlige Verwirklichung der demokratischen Umwälzung bildet die Herstellung einer freien Bauernklasse. 3. Die Herstellung einer solchen Klasse bedeutet die Beseitigung der Feudallasten u n d die Vernichtung des Feudalismus, aber noch keineswegs eine sozialistische Umwälzung. 4. Die Bauern sind die n a t ü r l i c h s t e n ' Bundesgenossen der Bourgeoisie, nämlich der demokratischen Bürgerschaft, die ohne sie der Reaktion gegenüber .machtlos' ist." 38 Weiterhin enthüllte Lenin den Hauptunterschied zwischen diesen beiden Revolutionstypen. Die bürgerlich-demokratische Umwälzung von 1789 in Frankreich w u r d e bis zu Ende g e f ü h r t , die Umwälzung von 1848 in Deutschland nicht. „Im ersten Falle ging die Umwälzung bis zur Republik u n d zur vollen Freiheit, im zweiten machte sie halt, ohne die Monarchie u n d die Reaktion gebrochen zu haben. Im zweiten Falle vollzog sich die Umwälzung hauptsächlich u n t e r der F ü h r u n g der liberalen Bourgeoisie, die in ihrem Schlepptau die nicht genügend gefestigte Arbeiterklasse f ü h r t e , im ersten Falle w u r d e sie, w e n n auch n u r zu einem bestimmten Teil, von der aktiv-revolutionären Volksmasse, den Arbeitern und Bauern durchgeführt, die, wenn auch n u r zeitweise, die solide u n d gemäßigte Bourgeoisie beiseite geschoben hatten. Im zweiten Falle k a m es rasch zur .Beruhigung' des Landes, d. h. zur Unterdrückung des revolutionären Volkes u n d zum Sieg des .Urjadniks und des Wachtmeisters', im ersten Falle k a m es f ü r eine gewisse Zeitspanne zur Herrschaft des revolutionären Volkes, das den Widerstand der ,Urjadniks u n d Wachtmeister' gebrochen hatte." 3 9 Diese objektiven historischen Unterschiede drückten der folgenden langen Entwicklungsperiode d e r bürgerlichen Veränderungen in Deutschland, die sich sowohl der Form als auch dem Wesen nach unterschieden, ihren Stempel auf. F e r n e r analysierte Lenin in Übereinstimmung mit den Ansichten von M a r x u n d den historischen Lehren drei H a u p t k r ä f t e der Revolutionen des 19. Jh. und drei Grundstadien ihrer Entwicklung. 40 Danach treten der alten Ordnung, der Selbstherrschaft u n d der Leibeigenschaft entgegen: „1. die liberale Großbourgeoisie; 2. das radikale Kleinbürgertum; 3. das Proletariat". U n d Lenin f u h r f o r t : „Die 38 39 40

Ebenda, S. 126. Ebenda, S. 236 f. Vgl. ebenda, Bd. 8, S. 463.

Zur Dialektik des Klassenkampfes

197

erste k ä m p f t lediglich f ü r die konstitutionelle Monarchie, das zweite f ü r die demokratische Republik, das dritte f ü r die sozialistische Umwälzung. Die Verwechslung des kleinbürgerlichen Kampfes f ü r die vollständige demokratische Umwälzung mit dem proletarischen Kampf f ü r die sozialistische Revolution droht dem Sozialisten mit politischem Bankrott." 41 Die historische Entwicklung erreichte in der Mitte des 19. Jh. in Deutschland wie auch in einer Reihe anderer Länder Westeuropas einen Stand, bei dem die zur Macht strebende liberale Bourgeoisie den Bürgerkrieg mit dem Proletariat und dessen Sieg mehr zu fürchten begann als die eigene Niederlage im Kampf gegen den Feudalismus. Neben allen übrigen historischen Bedingungen der Revolution von 1848 in Deutschland und der der deutschen liberalen Bourgeoisie eigenen klassenmäßigen, politischen Physiognomie trugen die objektiven Umstände die Möglichkeit des Kompromisses mit der feudalen Monarchie in sich. Eine Rechtfertigung ihres Handelns kann daraus allerdings nicht abgeleitet werden, da die Geschichte ihr auch eine andere Möglichkeit offenließ, die Möglichkeit der entschlossenen Befreiung auf revolutionär-demokratischem Wege, auf dem „französischen" Wege mit Hilfe des revolutionären Volkes. Bei der Verallgemeinerung dieser beiden Wege der Revolution, besonders in Verbindung mit der Rolle der Volksmassen, erhellte Lenin eine neue Seite der beiden Bewegungsformen: „Möglich ist eine bürgerliche ohne einen einzigen vollen Sieg des Proletariats, die Folge wäre die allmähliche Umwandlung der alten Monarchie in eine bürgerliche und bürgerlich-imperialistische Monarchie (Beispiel: Deutschland). Möglich ist eine bürgerliche Revolution mit vielen selbständigen Aktionen des Proletariats, die sowohl zu vollen Siegen als auch zu schweren Niederlagen, aber im Ergebnis zur bürgerlichen Republik f ü h r e n (Beispiel: Frankreich)." 42 Das Schicksal des politischen Überbaus, die entsprechende Form des bürgerlichen Staates - von mehr oder weniger demokratischem Charakter - hing schon seit den europäischen Revolutionen in der Mitte des 19. Jh. in -entscheidendem Maße von der K r a f t des Proletariats und der revolutionären kleinbürgerlichen Demokratie ab. Diese sich in den Revolutionen von 1848/49 abzeichnende neue Tendenz in der Veränderung des Verhältnisses der Triebk r ä f t e erlangte im Laufe der Zeit eine ständig zunehmende Bedeutung. Wo aber ist die Revolution von 1848 auf dem „preußischen" Wege der Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland einzuordnen? Bedeutete die Niederlage der Revolution und die Offensive der politischen Reaktion, daß die Entwicklung des Kapitalismus und folglich auch der Formierungsprozeß der bürgerlichen Gesellschaft, wenn schon nicht um Jahrzehnte zurückgeworfen, so doch zumindest aufgehalten wurde? Die Antwort kann nur in einem klaren „Nein" bestehen. Die Spezifik des kompromißhaften Ausgangs der Revolution von 1848 bestand gerade darin, daß die objektiven Kräfte, die den historischen Prozeß vorantrieben, stärker waren als der Wille und die Wunschvorstellungen der Monarchen und der Gutsbesitzerklasse, so mächtig sie auch im gegebenen Moment erschienen sein mögen. Lenin entdeckte diesen neuen Umschwung in 41 42

Ebenda, Bd. 9, S. 76 f.; vgl. ferner ebenda, Bd. 8, S. 463 f. Ebenda, Bd. 15, S. 401.

198

N. E. Ovöarenko

der Formierung der bürgerlichen Gesellschaft, als „sogar Regierungen, die über die Revolution gesiegt hatten, dennoch gezwungen waren, die historischen Aufgaben dieser besiegten Revolution zu verwirklichen".43 Es war gerade die wachsende ökonomische Macht der deutschen Bourgeoisie wie auch die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise nach der Revolution 1848/49, die von der feudal-bürokratischen Monarchie schon nicht mehr aufgehalten werden konnte. Die Monarchie, die es verstanden hatte, sich die Kontrolle über die politische Entwicklung zu sichern, war gezwungen, die ökonomischen Erfordernisse der industriellen Entwicklung des Landes, deren Vertreterin die Bourgeoisie war, immer stärker zu berücksichtigen. Dies zwang sie zum Kompromiß und ließ sie die ausgestreckte Hand der liberalen Finanz- und Industriebourgeoisie ergreifen. Ein Ergebnis der gescheiterten Revolution von 1848 in Deutschland bestand, wird ihr Platz im Formierungsprozeß der bürgerlichen Gesellschaft untersucht, darin, daß „die Monarchie zweifellos ,einen weiteren Schritt nach vorn auf dem Wege zur Umwandlung in eine bürgerliche Monarchie'" tat.44 Ein Wandel dieser Art bedeutet jedoch, daß die Bourgeoisie nach dieser Revolution „konterrevolutionär wurde".45 Nach der Niederlage der Revolution von 1848 und mit dem konterrevolutionären bonapartistischen Putsch vom 2. Dezember 1851 war in Frankreich „die Periode der Revolutionen von unten... einstweilen geschlossen; es folgte eine Periode der Revolutionen von oben"46, schrieb Engels fast ein halbes Jahrhundert nach dem europäischen revolutionären Sturm des Jahres 1848. Diese Periode der Revolutionen „von oben" war vor allem eine Form heftigen Klassenkampfes, dessen soziale Basis und dessen Triebkräfte sich analog zur gesellschaftlichen Gesamtentwicklung, aber auch zur Entwicklung der Revolution „von oben" veränderten. Diese Evolution des Verhältnisses der Klassenkräfte ist ein besonders wichtiges objektives Moment für das Verständnis nicht nur „der Schritte" (d. h. der Entwicklungsetappen) der Revolution „von oben". Zum Inhalt dieser Periode schrieb W. I. Lenin, daß die Jahre 1848-1871 „in Deutschland die Epoche des revolutionären und konterrevolutionären Kampfes der zwei Wege zur Vereinigung ( = Lösung des nationalen Problems der bürgerlichen Entwicklung Deutschlands), des Weges über die großdeutsche Republik und des Weges über die preußische Monarchie waren. Erst 1871 hatte der zweite Weg endgültig ... gesiegt."47 Die Revolution „von oben" erfüllte - ohne das Uberlebte zu vernichten - die alte feudal-bürokratische Monarchie mit neuem bürgerlichem Inhalt. „Die dreißig Jahre nach der bürgerlich-demokratischen Revolution in Deutschland haben die objektiv notwendigen Aufgaben dieser Revolution in vollem Umfang gelöst. Durch das Bestehen des konstitutionellen Parlaments seit Beginn der sechziger Jahre, durch die dynastischen Kriege, die zum Zusammenschluß des größten 43 44 45 46

47

Ebenda, Bd. 9, S. 29. Ebenda, Bd. 15, S. 399. Ebenda. MEW, Bd. 22, S. 516.

Lenin, W. I., Werke, Bd. 16, S. 114 f.

Zur Dialektik des Klassenkampfes

199

Teils der deutschen Länder geführt haben, durch die Schaffung des Reiches mit Hilfe des allgemeinen Wahlrechts hat sie sich historisch überlebt."48 Ohne näher auf diese Problematik eingehen zu können, haben wir die Tatsache hervorzuheben, daß - ungeachtet ihrer noch relativen Schwäche - die Arbeiterklasse auf den gesamten Prozeß der „Revolution von oben" einwirkte. Das Proletariat konnte zwar „die Agrarier und die Bourgeoisie nicht daran hindern", schrieb Lenin, „die Umgestaltung entgegen den Interessen der Arbeiter durchzuführen, in einer Form, die für die Arbeiter am unvorteilhaftesten ist"49; aber gerade in diesen politischen Kämpfen formierte sich die deutsche Arbeiterbewegung zur revolutionären, auf den Marxismus orientierten Eisenacher Partei. Lenin hob die Bedeutung der konsequent-antibonapartistischen Haltung vor allem Bebels und Liebknechts für den Parteibildungsprozeß ausdrücklich hervor und verwies dabei auf die Wirkung der Arbeiterklasse hinsichtlich der Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse in Preußen-Deutschland: „Deutschland hat Freiheiten erhalten, trotz Bismarck, trotz der preußischen Liberalen, nur dank dem nachdrücklichen und hartnäckigen Streben der Arbeiterklasse (teilweise, aber zu sehr geringem Teil, auch der kleinbürgerlichen Demokratie) nach vollständiger Demokratisierung."60 Die Krise der 60er Jahre hielt sich jedoch im Rahmen einer Verfassungskrise und gestaltete sich nicht zur revolutionären Krise.51 Der Übergang der liberalen Bourgeoisie auf die Seite des preußischen Absolutismus erleichterte die Lage der Monarchie, milderte die Krise der „Herrschenden" und schwächte die revolutionäre Offensive der „Beherrschten". Dieses Gewicht der politischen Haltung der Bourgeoisie ergab sich vor allem daraus, daß es sich um die Lösung der Aufgaben einer bürgerlich-demokratischen, nicht einer sozialistischen Revolution handelte. Die Revolution „von oben" bewirkte die allmähliche Umwandlung der preußischen feudal-bürokratischen Monarchie in eine bürgerliche Monarchie, die Uberwindung der territorial-politischen und ökonomischen Zersplitterung und die Schaffung eines einheitlichen Nationalstaates.52

Einige Aspekte der sozialen Entwicklung der Gesellschaft und der Klassen in der Periode des Ubergangs zum Imperialismus Im Unterschied etwa zu Frankreich, einer bürgerlichen Republik, oder zu England, einer bürgerlichen parlamentarischen Monarchie, ließ die auf „preußischem Wege" entstandene bürgerliche Gesellschaft in Deutschland mit der Monarchie, 48 49 50

51 52

Ebenda, Bd. 15, S. 7. Ebenda, Bd. 17, S. 222. Ebenda, Bd. 19, S. 245. Zur Geschichte dieses Kampfes der Arbeiterklasse vgl. ebenda, Bd. 17, S. 223 ff. Ebenda, S. 223. Vgl. Die großpreußisch-militaristische Reichsgründung. Voraussetzungen und Folgen. Hrsg. von Horst Bartel und Ernst Engelberg, 2 Bde., Berlin 1971.

200

N. E. Ovcarenko

in der sich die reale staatliche Macht konzentrierte, und dem gutsherrlichen Grundbesitz wichtige Elemente der alten historischen Basis 53 bestehen. Im Unterschied zur radikalen Vernichtung des feudalen Grundbesitzes „vermittels eines radikalen Umbruchs der gegebenen historischen Verhältnisse" 5 4 m ü n dete der „preußische Weg" nicht in einer bürgerlichen Republik. Vielmehr ging die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland langwierig im R a h m e n der alten Monarchie vonstatten, die allmählich modernisiert u n d wichtigen kapitalistischen Erfordernissen angepaßt wurde. W. I. Lenin lenkte die A u f merksamkeit darauf, daß es „historische Bedingungen geben [kann] . . . , wo die Monarchie e m s t h a f t e demokratische Reformen, von der A r t beispielsweise des allgemeinen Wahlrechts, durchaus mit ihrem eigenen Dasein vereinbaren konnte. Die Monarchie ist ü b e r h a u p t keine auf eine Form festgelegte und u n a b ä n d e r liche, sondern eine sehr elastische Institution, fähig, sich verschiedenen klassenbedingten Herrschaftsverhältnissen anzupassen." 5 5 Diese Anpassungsfähigkeit, die die preußische Monarchie dem aus der Entwicklung der Revolution „von oben" resultierenden neuen Verhältnis der ökonomischen und klassenmäßigen K r ä f t e gegenüber bewies, dokumentierte sich in der bonapartistischen Diktatur Bismarcks. 56 Ihrer historischen Stellung nach w a r die bonapartistische Diktatur Bismarcks bürgerlich. Das neuentstandene Reich, schrieb Engels, „ist eine Monarchie mit halbfeudalen Formen, die aber in letzter Reihe bestimmt w i r d durch die ökonomischen Interessen der Bourgeoisie". 67 Lenin hob in diesem Zusammenhang hervor, daß Napoleon III. und Bismarck es vermochten, „die Gelüste der 53 54 55

56

57

Vgl. Lenin, W. I., Werke, Bd. 16, S. 79. Ebenda, S. 80. Ebenda, Bd. 17, S. 271. Erwähnt sei, daß Engels 1892 N. F. Danielson folgendes schrieb: „Alle Regierungen, seien sie noch so unabhängig, sind en dernier lieu nur die Vollstrecker der ökonomischen Notwendigkeit der nationalen Lage. Sie mögen diese Aufgabe in verschiedener Weise — gut, schlecht oder leidlich — besorgen; sie mögen die ökonomische Entwicklung und ihre politischen und juristischen Konsequenzen beschleunigen oder hemmen, aber schließlich müssen sie ihr doch folgen" (MEW, Bd. 38, S. 365). A. D. fipstejn bringt in seiner interessanten Untersuchung über die Errichtung der bonapartistischen Monarchie m Preußen und später in ganz Deutschland ihr Entstehen unmittelbar mit der Niederlage der Revolution von 1848 in Zusammenhang (vgl. fipstejn, Istorija Germanii, S. 575 f.). Jedoch waren in den 50er Jahren die Bedingungen für eine bonapartistische Herrschaft in Deutschland noch nicht herangereift. Die Durchsetzung des preußisch-deutschen Bonapartismus scheint uns stärker mit den Kriegen von 1866 und 1870/71 in Zusammenhang zu bringen zu sein, darf aber keinesfalls allein auf die „Revolution von oben" beschränkt werden. Vielmehr sind die — unterschiedlich gewichtigen — „Schritte" der „Revolution von oben" bei der Umwandlung der feudalen in eine bürgerliche Monarchie zu berücksichtigen. In diesem Zusammenhang besitzt die Auffassung Lenins über den Charakter von Reformen, die entweder unter den Bedingungen des Vordringens der Konterrevolution oder in der Situation eines revolutionären Aufschwungs durchgeführt werden, große methodologische Bedeutung (vgl. Lenin, W. I., Werke, Bd. 6, S. 509 f.). MEW, Bd. 22, S. 252.

Zur Dialektik des Klassenkampfes

201

Großbourgeoisie eine Zeitlang zu befriedigen". Gleichzeitig zogen sie durch i h r e Reformen „die Schlinge u m den Hals der werktätigen Massen auf lange J a h r e hinaus" fest. 68 Hinzuzufügen ist, daß das J u n k e r t u m , das sich die politische Macht erhalten hatte, seine Wirtschaft auf kapitalistischer Grundlage umwandelte. Vom ökonomischen S t a n d p u n k t h e r gesehen, w a r das J u n k e r t u m nicht m e h r die f e u dale Klasse, die die Gutsbesitzer ursprünglich gewesen waren, obwohl besonders auf sozialem Gebiet beträchtliche Überreste des feudal-gutsbesitzerlichen Absolutismus erhalten blieben, die als zusätzliche Ursachen sozialer Konflikte w i r k ten, n u n m e h r jedoch auf der neuen, d e r bürgerlichen Grundlage. Der Bonapartismus ist als eine spezifische F o r m der „Herrschaft, die aus der konterrevolutionären Haltung der Bourgeoisie angesichts demokratischer U m wandlungen u n d der demokratischen Revolution erwächst", eine konkret-historische Erscheinung, die sich sowohl durch nationale Besonderheiten als auch durch unterschiedliche historische Voraussetzungen u n d durch spezifische Eigenarten in der Gruppierung u n d im Verhältnis der politischen u n d klassenmäßigen K r ä f t e unterscheidet. Er weist außerdem verschiedene Variationen hinsichtlich seiner Folgen f ü r die bürgerliche Entwicklung auf, zumal der Bonapartismus in den verschiedenen Ländern in unterschiedlichen historischen Epochen u n d u n t e r andersartigen historischen Bedingungen entstand. Auf diese Tatsache machte Lenin aufmerksam, indem er die allgemeinen Züge des Bonapartismus hervorhob, zugleich aber allen Versuchen einer mechanistischen Gleichsetzung - z. B. der Bismarckherrschaft der 60er bis 80er J a h r e des 19. J h . in Deutschland u n d der Stolypinschen Ära nach der Revolution von 1905 in Rußland - entgegentrat. Ähnliches trifft auch auf den französischen Bonapartismus eines Napoleon I. Ende des 18., A n f a n g des 19. Jh. und den eines Napoleon III. in der Mitte des 19. Jh. zu. „Wenn sich in Frankreich bürgerliche Monarchie u n d bonapartistisches Kaiserreich k l a r u n d scharf voneinander unterschieden, so gab in Deutschland bereits Bismarck Musterbeispiele f ü r die Vereinigung des einen u n d des anderen Typs, bei klarem Überwiegen der Züge, die M a r x als Militärdespotismus bezeichnete - schon ganz abgesehen vom Bonapartismus." 6 9 In diesem Zusammenhang haben wir - abgesehen von anderen Faktoren, wie bei der F o r t existenz u n d Vorherrschaft des J u n k e r t u m s oder der Aufrechterhaltung der Monarchie - vor allem auf den bürokratischen Staatsapparat u n d die festgefügte Militärmaschinerie zu verweisen, die, einstmals Machtmittel des preußischen Absolutismus, n u n m e h r in entsprechender V e r ä n d e r u n g zu Hauptstützen der bonapartistischen Diktatur, generell zu Machtinstrumenten der junkerlich-bourgeoisen Monarchie w u r d e n . Vor allem der Militarismus, der den durch die Kriege von 1864, 1866 u n d 1870/71 geprägten Abschnitt der „Revolution von oben" entscheidend bestimmt hatte, gewann in der folgenden Zeit in allen Bereichen der inneren Entwicklung u n d der Außenpolitik Deutschlands weiter a n Bedeutung. Eine Besonderheit des in Deutschland entstandenen Zweiten Reiches als der preußischen A b a r t des Bonapartismus ist auch d a r i n zu sehen, daß es weder 58 69

Lenin, W. I., Werke, Bd. 13, S. 137. Ebenda, Bd. 18, S. 335.

202

N. E. Ovöarenko

einen einheitlichen bürgerlich-republikanischen Staat noch einen föderativen Bund gleichberechtigter deutscher Staaten darstellte. Ungeachtet der formal föderativen Struktur des Reiches hatte sich die preußische Monarchie de facto das übrige Deutschland angegliedert, die Vereinigung in ihrem Interesse vollzogen und sich das Übergewicht im geeinten Deutschland gesichert. Diese Tatsache behinderte auf der einen Seite eine echte bürgerliche Demokratisierung der gesellschaftlich-politischen Verhältnisse im Lande, trug aber andererseits den Keim künftiger sozialer Konflikte in sich. Die sozialökonomischen Resultate der „Revolution von oben" bestanden vor allem darin, daß günstige Bedingungen für die Entwicklung des Industriekapitalismus geschaffen wurden. Der deutsche Kapitalismus erreichte im letzten Drittel des 19. Jh. ein bis dahin unbekanntes Entwicklungstempo. W. I. Lenin konstatierte, daß ein neuer Räuber aufgetaucht war. Im Jahre „1871 enstand eine neue kapitalistische Großmacht, die sich unermeßlich schneller entwickelte als England. Das ist eine grundlegende Tatsache. Sie werden kein einziges Buch über die Geschichte der Ökonomie finden, das diese unbestreitbare Tatsache, die schnellere Entwicklung Deutschlands, nicht zugeben würde." 60 Auf dieser Basis glichen sich die Gegensätze zwischen dem Junkertum und der Großbourgeoisie aus, ohne allerdings völlig zu verschwinden; vor allem verlagerte sich der Schwerpunkt der Klassengegensätze auf den Kampf zwischen der Arbeiterklasse und der Bourgeoisie, wodurch die Gruppierung und das Verhältnis der Haupttriebkräfte der bürgerlichen Entwicklung und des weiteren sozialen Fortschritts in Deutschland verändert wurden. In dieser Zeit „wurde die Frage der allgemeindemokratischen Revolution in Deutschland zu Grabe getragen",61 Die deutsche Arbeiterklasse, die die durch die „Revolution von oben" geschaffenen Tatsachen akzeptierte, ohne sie zu billigen, wuchs im Kampf gegen die herrschenden Klassen und den junkerlich-bourgeoisen Staat im letzten Drittel des 19. Jh. schnell zum realen Machtfaktor, zur entscheidenden sozialen Kraft des gesellschaftlichen Fortschritts. Engels hob schon 1881 hervor, daß der Schwerpunkt der Bewegung sich „aus den sächsischen halbländlichen Distrikten in die industriellen großen Städte" verlagert habe, daß „die ihrer ökonomischen Lage nach revolutionäre K l a s s e . . . der Kern der Bewegung geworden" sei und sich „die Bewegung gleichmäßig über den ganzen industriellen Teil von Deutschland verbreitet" habe. Sie sei „aus einer auf ein paar lokale Zentren beschränkte, eine nationale erst jetzt geworden. Und das erschreckt den Bürger am meisten."62 i 60 Ebenda, Bd. 24, S. 402. ßl Ebenda, Bd. 16, S. 115. Diese These Lenins sei besonders hervorgehoben. Es geht nicht an, mechanisch den Inhalt dieser alten, schon (im bürgerlichen Sinne) gelösten allgemein-demokratischen Aufgaben auf die Epoche des Imperialismus zu übertragen. Unter den neuen Verhältnissen handelt es sich darum, wie der Kampf für Demokratie in ihrer neuen, proletarischen Auffassung mit dem Kampf gegen den Imperialismus, d. h. für den Sozialismus, verbunden werden kann — eine historische Fragestellung, deren Herausbildung im letzten Drittel des 19. Jh. noch näher zu untersuchen ist. 62 MEW, Bd. 35, S. 237 f.

Zur Dialektik des Klassenkampfes

203

Nicht selten werden bei der Wertung der nachfolgenden historischen Entwicklung Deutschlands allein die ökonomischen Prozesse u n d die konkreten F a k t e n des Klassenkampfes beleuchtet. Indessen wirkten Änderungen in der sozialökonomischen Grundlage auch auf die Bewegungsform der bürgerlichen Gesellschaft zurück, die - in der Form des Klassenkompromisses zwischen Bourgeoisie u n d J u n k e r t u m - sich zunächst u n t e r bonapartistischen Vorzeichen darbot. Die Schwierigkeit f ü r das Verständnis dieser Evolution der Bewegungsformen des bürgerlichen Staates und der Gesellschaft bestand darin, daß sie in einer sehr widerspruchsvollen u n d komplizierten, gleichzeitig aber einer langen „friedlichen" Periode „härtester kapitalistischer Sklaverei u n d raschesten kapitalistischen Fortschritts im letzten Drittel des 19. u n d am A n f a n g des 20. J a h r h u n derts" stattfand.® Eine Reihe von Prozessen der gesellschaftlichen Entwicklung befand sich gewissermaßen erst im Embryonalzustand, alte u n d neue Tendenzen überlagerten sich nicht selten so stark, daß sie nicht immer auf den ersten Blick zu unterscheiden waren, alte Formen füllten sich mit neuem Inhalt, wobei sich im gesellschaftlichen Bewußtsein breiter Volksmassen der ä u ß e r e Schein des Alten erhielt. Diese vielfältigen Überlagerungen w a r e n besonders kennzeichnend f ü r jene Entwicklungsperiode, die in die Geschichte des bürgerlichen Europa u n d der USA als Ubergang vom monopolistischen Kapitalismus zu seinem imperialistischen Stadium einging. Vom S t a n d p u n k t der Veränderungen in der Entwicklung der Bewegungsformen der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland in dieser Übergangsperiode sind zwei Hauptperioden zu unterscheiden. Sie umfassen die Zeit von 1871 bis 1890 u n d die J a h r e von 1890 bis 1897/98. Im folgenden soll von allen konkreten sozialökonomischen und gesellschaftlich-politischen F a k t o r e n u n d Kräften, die diese Veränderungen bedingten, abstrahiert w e r d e n u n d allein den Ursachen und dem Wesen der Bewegungsveränderung dieser Formen nachgegangen werden. Die bonapartistische Diktatur Bismarcks existierte in Deutschland r u n d ein Vierteljahrhundert. W ä h r e n d dieser Zeit entstanden die ökonomischen Voraussetzungen f ü r den Übergang vom Kapitalismus der f r e i e n K o n k u r r e n z zur Herrschaft der Monopole, zum Teil direkt - insbesondere durch die Schutzzollpolitik - durch die bonapartistische D i k t a t u r gefördert. Diesem Prozeß der Monopolisierung der kapitalistischen Industrie u n d Banken entsprach jedoch die Entwicklung der Landwirtschaft, speziell der J u n k e r w i r t s c h a f t e n , nicht, die einer neuen technischen und technologischen Basis der W i r t s c h a f t s f ü h r u n g b e d u r f t e n . Diese Disproportion in der Entwicklung der beiden Hauptwirtschaftszweige wirkte auf die Zerstörung des „Gleichgewichts" der sozialen Klassen. Der Bonapartismus Bismarcks entsprach schon nicht m e h r dem tatsächlichen Entwicklungsstand und auch nicht m e h r den Interessen der J u n k e r u n d Großindustriellen. Seit Mitte der 80er J a h r e geriet er in den Bannkreis der Krise, die im März 1890 mit dem Zusammenbruch der Diktatur Bismarcks endete. Die entscheidende Rolle spielte dabei die sozialistische Arbeiterbewegung.

63

Lenin, W. I., Werke, Bd. 21, S. 28.

204

N. E. Ovcarenko

Es begann nunmehr eine neue Periode. Der Sturz Bismarcks war mehr als der Wechsel von Personen, es handelte sich um die Entwicklung des Systems der Bismarckschen bonapartistischen Diktatur zum Regime des „persönlichen Regiments", das schon die folgende Entwicklungsform der bürgerlichen Gesellschaft in der Epoche des Imperialismus bildete. In diesem knappen Jahrzehnt, als sich der unmittelbare Übergang Deutschlands in das imperialistische Stadium vollzog, entwickelte sich auch das spezifische Regime des „persönlichen Regiments" als Ausdruck der Diktatur des Monopolkapitals und des Junkertums. In diesem Wechsel der Bewegungsformen des historischen Prozesses, der in Deutschland wie auch in anderen Ländern ohne revolutionäre Erschütterungen vor sich ging, sind eine Reihe interessanter Erscheinungen und Tendenzen der „friedlichen" Epoche zu beobachten. Da ist vor allem die Frage nach der Evolution des staatlichen Überbaus der bürgerlichen Gesellschaft. Der Prozeß dieser Evolution ist mit einer langwährenden Krise der „Herrschenden" verbunden. Er begann bereits in den letzten Jahren des Bismarckschen Bonapartismus und verschärfte sich in außerordentlichem Maße während des Übergangs zum „persönlichen Regiment". Die junkerliche Fronde dauerte viele Jahre, bis der Apparat des „persönlichen Regiments" eine Form fand, in der die Krise der „Herrschenden" ihren Ausweg fand: die wilhelminische „Sammlungspolitik" des kapitalistischen Junkertums und der Finanz-Industrie-Oligarchie. Der folgende Schritt auf dem Wege zur Realisierung dieser Politik war der „Zolltarif" von 1902/04. Die „Sammlungspolitik", die die Gegensätze im Lager der herrschenden Klassen nicht beseitigte, zielte auf eine einheitliche Kampffront gegen die Hauptgefahr - die Arbeiterbewegung. Sie zählt zu den wichtigsten Schritten der imperialistischen Evolution des junkerlich-bourgeoisen monarchistischen Staates in Deutschland. Seinen Ausdruck fand dies in den 90er Jahren in der Annahme einer ganzen Reihe von Gesetzgebungsakten, die den veränderten ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnissen ein bürgerliches juridisches Fundament verliehen. Die Krise der „Herrschenden" Ende der 80er Jahre und während der 90er Jahre besaß eine ihr eigene Spezifik. Sie wuchs nicht in eine gesamtnationale revolutionäre Krise hinüber (wenn sie auch eine Reihe von Zügen einer politisch-sozialen Krise annahm), obwohl die Arbeiterbewegung in dieser Periode einen der Höhepunkte ihrer Entwicklung erreichte. Die „Herrschenden" suchten die Krise mit Hilfe eines „Staatsstreichs" zu überwinden, d. h. durch die gewaltsame A b schaffung des allgemeinen Wahlrechts, die antikonstitutionelle Unterdrückung der bürgerlich-demokratischen Freiheiten und die Einführung einer Reihe von Ausnahmegesetzen, die gegen die sozialistische und Arbeiterbewegung gerichtet waren, wobei die militärische Niederwerfung der Arbeiterklasse einkalkuliert war. Alle diese Pläne zerschellten in erster Linie an der Kraft der Arbeiterklasse. Wenn man, was freilich problematisch ist, den anvisierten Staatsstreich als eine - die reaktionärste - Abart der „Revolution von oben" ansehen wollte, dann war dies gewissermaßen die blanke Konterrevolution. Der Staatsstreich war direkt auf den Schutz der vordergründigen ökonomischen und politischen Interessen des Großkapitals und des Junkertums gerichtet. Für Engels und Lenin, die sich wiederholt mit der Möglichkeit eines Staatsstrei-

Zur Dialektik des Klassenkampfes

205

ches beschäftigten, w a r dabei auch wesentlich, daß die innere politisch-soziale Krise zu Beginn der 90er J a h r e mit einer Krise in den internationalen Beziehungen zusammenfiel, die die G e f a h r eines Krieges zwischen Deutschland auf der einen u n d Frankreich und Rußland auf der anderen Seite mit immensen Risiken f ü r den Bestand der bestehenden Herrschaftssysteme heraufbeschwor. Ohne hierauf näher eingehen zu können, h a b e n w i r festzuhalten, daß eine „Revolution von oben" nicht m e h r als Mittel zur Lösung des sozial-ökonomischen Grundwiderspruchs dienen konnte. Die ökonomischen und sozialen K r ä f t e w a r e n so weit entwickelt, daß eine neue Basis f ü r den Kampf u m die Überwindung der junkerlich-bourgeoisen Monarchie entstanden w a r : der Kampf der Arbeiterklasse f ü r Demokratie u n d Sozialismus. Zwangsläufig w a r der historische Prozeß dieser Übergangsperiode von einer Krise der bürgerlichen Verhältnisse begleitet, die sich in den einzelnen L ä n d e r n in unterschiedlichen Formen und mit unterschiedlichem Inhalt ä u ß e r t e u n d zur Herausbildung des imperialistischen Staates f ü h r t e , der sich durch eine Reihe wesentlicher Züge u n d Funktionen von der bonapartistischen D i k t a t u r Bismarcks unterschied. Die in diesen veränderten F o r m e n des Verlaufs des historischen Prozesses enthaltenen Möglichkeiten eröffneten der Arbeiterklasse die Perspektive, ü b e r den R a h m e n rein bürgerlicher Umwälzungen hinauszugehen. Nicht ohne G r u n d sprach Engels in der ersten H ä l f t e der 90er J a h r e wiederholt von einer zweiten Auflage des französischen J a h r e s 1793 in Deutschland; dieses Mal jedoch w e r d e die Arbeiterklasse und nicht eine revolutionierte jakobinische Demokratie die F ü h r u n g in den Händen halten. Ein 1893 k o n n t e d a h e r keine schematische Wiederholung des jakobinischen J a h r e s 1793 sein. 64 Die kapitalistische Gesellschaft in Deutschland entwickelte sich - als Kind der Revolution „von oben" - Ende des 19. u n d A n f a n g des 20. J h . mit u n g e w ö h n licher Geschwindigkeit. Diese Entwicklung betraf vor allem i h r e ökonomische u n d klassenmäßige Grundlage. In Deutschland eroberten sich f r ü h e r als in anderen Ländern Westeuropas die Monopole als neue F o r m des kapitalistischen Eigentums u n d der gesellschaftlichen Produktion eine entscheidende Position in der Ökonomik u n d Politik. Der Kapitalismus v e r ä n d e r t e in einem Vierteljahrh u n d e r t die soziale Physiognomie d e r deutschen Gesellschaft von G r u n d auf. Die Arbeiterklasse w u r d e nicht n u r auf G r u n d ihres spezifischen Gewichts in der gesellschaftlichen Produktion, sondern auch ihrem Platz im Klassenkampf nach zur f ü h r e n d e n K r a f t des sozialen Fortschritts. Andererseits w a r diese Entwicklung, wie Lenin feststellte, vom Ausbau der „parlamentarischen Macht" begleitet - „bis zu einem gewissen Grade" sogar in Deutschland - , vom „Kampf u m die Macht zwischen den verschiedenen b ü r g e r lichen und kleinbürgerlichen Parteien", „von d e r Vervollkommnung u n d Festigung der .Exekutivgewalt', ihres Beamten- u n d Militärapparats", u n d zwar „bei u n v e r ä n d e r t e r Grundlage der bürgerlichen Ordnung" 6 5 . Es begann die Epoche des Monopolkapitals, jener Konzentration des Kapitals u n d der Macht, 64 65

Vgl. ebenda, Bd. 12, S. 100. Ebenda, Bd. 25, S. 422.

206

N. E. Ovcarenko

die in Deutschland nach einer Charakteristik Lenins die Form des „junkerlichbourgeoisen Imperialismus" annahm.66 Die neue Evolution der bürgerlichen Gesellschaft bestand in der Veränderung der Sozialstruktur und - bis zu einem gewissen Grade - der Macht. Obwohl wie zuvor die Führung des Landes in den Händen des preußischen Königs und des Adels lag, wobei der Adel auch jetzt noch in beträchtlichem Maße seine Positionen im höheren Verwaltungs- und Militärapparat sichern konnte, nahm der Staat im ganzen gesehen imperialistischen Charakter an. A n die erste Stelle rückten die Interessen des deutschen Monopolkapitals. W. I. Lenin zeichnete das Bild von der Entwicklung der gesellschaftlichen Entwicklungsformen des historischen Prozesses in Deutschland auf der Grundlage einer Analyse der unterschiedlichsten Seiten des Lebens der deutschen Gesellschaft in der Epoche des Imperialismus - von ihrer ökonomischen Basis bis zu den verschiedenartigen Formen der Weltanschauung, der sozialen Gegensätze, des zwischen den Parteien geführten Kampfes usw. Die deutsche Sozialdemokratie, schrieb Lenin 1908, hat „nur ein junkerlich-bürgerliches Deutschland vor sich; bis zum Sozialismus kann es kein anderes Deutschland geben. . . . Deutschland hat sich endgültig zu einem junkerlich-bürgerlichen Land entwickelt, alle Bewegungen auf dem Boden der bürgerlichen Ordnung haben sich dort unwiderruflich überlebt."67 Die Triebkräfte, die in Deutschland den Verlauf und die Formen des historischen Prozesses prägten, hatten wesentliche Veränderungen erfahren. Ungeachtet der zwischen Junkertum und Großbourgeoisie erhalten gebliebenen Gegensätze bildeten beide ein einheitliches politisch-ökonomisches Lager im Kampf gegen das sozialistische Proletariat. Noch im Jahre 1893 gelangte Engels zu dem Schluß, daß in Deutschland „die bürgerlichen Parteien so fertig [sind], daß wir unmittelbar von der Monarchie zur sozialen Republik übergehen müßten".68 68

67

Ebenda, Bd. 27, S. 332. Allgemein bekannt ist die These Lenins von der unterschiedlichen Entwicklung des Imperialismus in den größten kapitalistischen Ländern vor dem ersten Weltkrieg. Diese Unterschiedlichkeit ist jedoch nicht so sehr das Resultat irgendwelcher „nationaler" Faktoren als vielmehr die Folge von Unterschieden zwischen den historischen Bedingungen der einzelnen Staaten. Lenin schrieb: „Wir erkennen — und das mit vollem Recht — den Vorrang des ökonomischen Faktors an, wenn man ihn aber ä la P. Kijewski auslegen wollte, würde man den Marxismus in eine Karikatur verwandeln. Sogar die Truste, sogar die Banken im modernen Imperialismus, die bei entwickeltem Kapitalismus gleicherweise unvermeidlich sind, sind in ihrer konkreten Gestalt in den verschiedenen Ländern nicht gleich. Noch weniger gleich sind, trotz ihrer Wesensgleichheit, die politischen Formen in den fortgeschrittenen imperialistischen Ländern — Amerika, England, Frankreich, Deutschland" (ebenda, Bd. 23, S. 64). Der Vielfalt der Formen des Imperialismus, die an seinem Wesen nichts ändern, liegt die einheitliche ökonomische und klassenmäßig-politische Basis zugrunde. Ebenda, Bd. 13, S. 344, 433. M E W , Bd. 39, S. 90. Engels meinte u. E. im vorliegenden Falle nicht eine sozialistische Republik, sondern eine soziale demokratische Republik als Übergangsform von der junkerlich-bourgeoisen Monarchie zur sozialistischen Gesellschaft unter den spezifischen Bedingungen Deutschlands jener Periode. Dieser Gedanke

Zur Dialektik des Klassenkampfes

207

Diese Tendenz der historischen Entwicklung verstärkt sich zwei Jahrzehnte später um ein vielfaches. Lenin zog daraus den Schluß, daß „der Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie... in ganz Europa auf der Tagesordnung" steht.60 Daraus folgte aber auch eine Veränderung der Formen des Klassenkampfes. Das Ende der „friedlichen" Epoche bedeutete den Übergang von den sogenannten friedlichen Kampfformen zu revolutionären. Es war kein Zufall, daß Lenin das neue Stadium des Kapitalismus als Epoche des Imperialismus, der Kriege und proletarischen Revolutionen charakterisierte. Erst in der Einheit dieser drei Merkmale läßt sich das Wesen der neuen Epoche richtig begreifen. Auf Deutschland traf dies in noch höherem Maße zu als auf irgendein anderes Land Westeuropas. Die entscheidende sozialökonomische Grundlage der künftigen sozialen Umwälzung in Deutschland und die aus ihr erwachsende Form des Verlaufs des historischen Prozesses70 mußten selbstverständlich die durch die großkapitalistische Entwicklung gegebenen Bedingungen sein und keineswegs der „kleinbürgerliche Kapitalismus" oder die agrarischen Verhältnisse.71 Die sozialistische Revolution bildete allerdings ungeachtet des außerordentlich hohen Niveaus der materiellen Voraussetzungen für die sozialistische Umwälzung und ungeachtet der Existenz eines kampfentschlossenen und revolutionären Proletariats, dem aber eine einheitliche marxistische Avantgarde fehlte, angesichts des Kräfteverhältnisses der Klassen und der Situation in der Arbeiterklasse nicht direkt und unmittelbar die erste Etappe der aus der allgemeinen Krise des Imperialismus erwachsenden gesellschaftlichen Umwälzung. Die Erklärung dafür findet sich zumindest in zwei Ursachen: in der Notwendigkeit des Sturzes der Monarchie als eine rein demokratische, aber schon nicht mehr im früheren bürgerlichen Sinne zu begreifende Aufgabe; in der Notwendigkeit, die Mehrheit der Arbeiterklasse und der anderen werktätigen Schichten für die proletarische Revolution zu gewinnen. Diese demokratische Umwälzung hätte jedoch unter günstigen Bedingungen nur vor kurzer Dauer sein und somit den Prolog, ihrem Wesen nach sogar einen Bestandteil der herannahenden sozialistischen Revolution bilden können. Bei einem anderen Kräfteverhältnis der wichtigsten Klassen, vor allem aber bei einer anderen Situation der Arbeiterklasse (beim Vorhandensein der Einheit in

69 70

71

von Engels entwickelte seine und Marx' Theorie von der permanenten Revolution weiter und stellte eine Etappe auf dem Wege zur Leninschen Theorie vom Hinüberwachsen der bürgerlich-demokratischen Umwälzung in die sozialistische Revolution dar. Vgl. Ovcarenko, N. E., Fridrich Bngel's i mirovoe kommunisticeskoe i rabocee dvizenie, in: Novaja i novejsaja istorija, Jg. 1970, H. 6, S. 6 ff.; derselbe, Teoreticeskoe nasledie F. Engel' sa i sovremennyj mir, in: Vestnik Moskovskogo Universiteta, Set. Istorija, 1960, H. 6, S. 12 ff. Lenin, W. I., Werke, Bd. 9, S. 303. Vgl. die außerordentlich interessante Erörterung dieser Frage ebenda, Bd. 32, S. 346 f. Lenin schrieb, daß „der Bauer als Eigentümer... im Westen schon seine Rolle in der demokratischen Bewegung ausgespielt [hat] und... seine im Vergleich zum Proletariat privilegierte Stellung [verteidigt]" (ebenda, Bd. 6, S. 123).

208

N. E. Ovcarenko

einer revolutionären proletarischen P a r t e i u n d bei Isolierung d e r opportunistischen F ü h r u n g ) h ä t t e diese demokratische A u f g a b e von der proletarischen Revolution mit gelöst w e r d e n können. I h r e o b j e k t i v e Möglichkeit w a r keineswegs aus der Entwicklung des historischen Prozesses ausgeschlossen. Der notwendige Nachvollzug j e n e r A u f g a b e n der bürgerlich-demokratischen Revolution, deren Lösung durch die „Revolution von oben" v e r h i n d e r t w o r d e n w a r , komplizierte das Verhältnis von demokratischem u n d sozialistischem K a m p f . Die Notwendigkeit einer demokratischen Ü b e r g a n g s e t a p p e in d e r z u k ü n f t i g e n sozialistischen Revolution in Deutschland ergab sich aus den spezifischen Wegen, die zur b ü r gerlichen Gesellschaft g e f ü h r t u n d eine Reihe ungelöster bürgerlich-demokratischer A u f g a b e n hinterlassen hatten, so vor allem die A u f g a b e d e r Beseitigung d e r Monarchie u n d d e r Schaffung einer einheitlichen demokratischen deutschen Republik. Der K e r n des Problems lag a b e r darin, daß im 20. J h . die Sache der D e m o k r a t i e schon nicht m e h r vorangetrieben w e r d e n konnte, o h n e gegen die imperialistische Bourgeoisie zu k ä m p f e n u n d o h n e gleichzeitig den Sozialismus anzustreben. Ein echter Fortschritt der D e m o k r a t i e w a r allein mit d e m K a m p f der Arbeiterklasse f ü r den Sozialismus v e r b u n d e n . A m Vorabend, besonders a b e r w ä h r e n d des ersten imperialistischen Weltkrieges entwickelte Lenin in zahlreichen W e r k e n die L e h r e von d e r proletarischen D e m o k r a t i e als Bedingung f ü r die Verwirklichung des Sozialismus. Er legte dar, daß sie schon im Kampf der Arbeiterklasse f ü r demokratische V e r ä n d e r u n g e n u n t e r den Bedingungen des Kapitalismus entstehe. „Die A r b e i t e r d e m o k r a t i e " , schrieb Lenin ü b e r die A u f g a b e n dieses K a m p f e s , „unterscheidet sich in i h r e n politischen F o r d e r u n g e n nicht grundsätzlich, sondern n u r g r a d u e l l von der bürgerlichen Demokratie." 7 2 Die Monarchie b e w i r k t e einen u n a b w e n d b a r e n sozialen Konflikt, d a sie - n u n m e h r als H e r r s c h a f t s f o r m des Imperialismus - der Entwicklung der bürgerlichen D e m o k r a t i e entgegenstand. Das Wesen dieses Gegensatzes charakterisierte Lenin 1916 m i t d e m Hinweis auf den Widerspruch „zwischen Imperialismus u n d Demokratie", „zwischen der Ökonomie des neuesten Kapitalismus (nämlich des monopolistischen Kapitalismus) u n d der politischen D e m o k r a t i e schlechthin": „Es ist die F r a g e nach d e r Beziehung der Ökonomik z u r Politik; nach der Bezieh u n g d e r ökonomischen Verhältnisse u n d des ökonomischen Inhalts des I m p e r i a lismus zu einer der politischen Formen." 7 3 Die demokratische Republik stellte f ü r das Proletariat keinen Selbstzweck dar, sondern lediglich ein Mittel f ü r den Ü b e r g a n g zur zweiten, sozialistischen E t a p p e der Revolution. Lenins Theorie v o m Hinüberwachsen d e r demokratischen Revolution in die sozialistische ist von allgemeingültiger Bedeutung. W. I. Lenin a r b e i t e t e das politische P r o g r a m m des K a m p f e s f ü r D e m o k r a t i e u n d Sozialismus aus, legte seine theoretische Basis d a r u n d enthüllte die objektive G r u n d l a g e f ü r die Einheit dieser beiden Etappen i m allgemeinen Klassenkampf des P r o l e t a r i a t s u m den Sozialismus. Bei d e r Betrachtung des historischen Aspekts der Demokratie, der Tendenz i h r e r Entwicklung u n t e r den Bedingungen sich w a n d e l n d e r gesellschaftlicher Voraussetzungen k a m Lenin zu einer Schlußfolgerung von 72 73

Ebenda, Bd. 5, S. 350. Ebenda, Bd. 23, S. 37.

Zur Dialektik des Klassenkampfes

209

außerordentlich großer Bedeutung: „Der Sieg d e r Demokratie [bedeutet] im heutigen Europa die politische Herrschaft des Proletariats." 7 4 Die im vorliegenden behandelten Probleme konnten selbstverständlich n u r einige Aspekte des theoretischen Reichtums der Leninschen Konzeption über die Entstehung, die Entwicklung und den Niedergang der bürgerlichen Gesellschaft in Deuschland andeuten. Es ist dies ein wichtiges Forschungsgebiet, zumal die konkreten Lehren der historischen Entwicklung Deutschlands Probleme erfassen, die allgemeine Gesetzmäßigkeiten der Bewegungsformen der bürgerlichen Gesellschaft, ihrer Triebkräfte, i h r e r Gegensätze u n d ihres Antipoden, d e r revolutionären Arbeiterklasse, charakterisieren. 75

Ebenda, Bd. 15, S. 45.

14 Jahrbuch 16

Ulrich Heß

Zum Geschichtsbild der sozialistischen deutschen Literatur in den Jahren von 1 9 2 9 bis 1 9 3 2

Die Jahre von 1929 bis 1932 nehmen in der Entwicklung der sozialistischen deutschen Literatur einen bedeutenden Platz ein. Mit dem Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller entstand im Herbst 1928 die Organisation, in der sich die Schriftsteller die politische, ideologische und künstlerisch-ästhetische Orientierung erarbeiteten. Es wuchs die Wirksamkeit der revolutionären Schriftsteller unter der Arbeiterklasse. Die Gründung des Bundes der sozialistischen Schriftsteller ordnete sich ein in die ideologische Offensive, die die KPD mit dem Essener Parteitag 1927 eingeleitet hatte. Unter den vielfältigen Problemen, die die deutsche sozialistische Literatur in dieser Zeit aufgriff, bildeten historische Themen einen wesentlichen Schwerpunkt, insbesondere die Auseinandersetzung mit der unmittelbaren Vergangenheit. Unter dem Eindruck der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution und der Massenkämpfe in Deutschland wurde die politisch-ideologische Auseinandersetzung mit dem ersten Weltkrieg, die Durchleuchtung der Novemberrevolution und der revolutionären Nachkriegskrise künstlerisch in der sozialistischen Literatur gestaltet. Die folgende Untersuchung1 konzentriert sich auf den Anteil der sozialistischen deutschen Literatur an der Entwicklung und Verbreitung eines marxistischleninistischen Geschichtsbildes. Die Arbeit ordnet sich mit dieser Fragestellung jein in Forschungen zur Entstehung der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft in den Jahren 1917-1932.2 Diese Aufgabenstellung ermöglicht es, auf die literaturhistorische und ästhetische Wertung der Werke der sozialistischen Literatur zu verzichten. 1

2

14*

Vorliegender Artikel ist hervorgegangen aus der Dissertation Zur Entwicklung des Geschichtsbildes in der sozialistischen Literatur in den Jahren der Weimarer Republik, Phil. Diss., Leipzig 1975. Berthold, Werner, Marxistisches Geschichtsbild — Volksfront und antifaschistischdemokratische Revolution. Zur Vorgeschichte der Geschichtswissenschaft der DDR und zur Konzeption der Geschichte des deutschen Volkes, Berlin 1970; Kinner, Klaus, Zur Entwicklung des marxistisch-leninistischen Geschichtsbildes in der KPD in den Jahren der Weimarer Republik (Unter besonderer Berücksichtigung der Zeit von der Gründung der KPD bis zur Bildung des leninistischen Zentralkomitees unter Führung Ernst Thälmanns), Phil. Diss., Leipzig 1973.

212

Ulrich Heß

Der Kampf der deutschen Linken gegen den ersten Weltkrieg und die Novemberrevolution deutschen sozialistischen Literatur (1929—1932)

imperialistischen in Werken der

Der Kampf der deutschen Linken gegen den ersten Weltkrieg und die Novemberrevolution wurde in den Jahren von 1929 bis 1932 zu einem der wesentlichsten Bestandteile des durch die sozialistische Literatur entwickelten Geschichtsbildes. Das beweist nicht nur die Zahl diesbezüglicher Veröffentlichungen3, sondern vor allem die gewachsene Qualität bei der Gestaltung dieser Ereignisse, die sich in den verschiedenen Romanen, Erzählungen, Dramen und Gedichten widerspiegelte. Stärker als vor 1929 wurde der bewußte Kampf der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung gegen Imperialismus, Militarismus und Krieg aufgegriffen. Deutlicher wird auch das Anliegen sichtbar, Erfahrungen für den Kampf gegen den drohenden Krieg zu vermitteln. Der VI. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale hatte bereits im Sommer 1928 das Ende der relativen Stabilisierung signalisiert. Er verwies darauf, daß die Verschärfung der Widersprüche zwischen Imperialismus und Sozialismus und zwischen den imperialistischen Staaten „unvermeidlich zu einer neuen Phase von Kriegen zwischen den imperialistischen Staaten, von Kriegen gegen die Sowjetunion, nationalen Befreiungskriegen gegen den Imperialismus, Interventionen des Imperialismus, gigantischen Klassenkämpfen"4 führen müsse. Unter diesen Bedingungen rückte der Widerstand gegen die imperialistische Kriegsvorbereitung und damit der Kampf um die Verteidigung der Sowjetunion in den Vordergrund der Arbeit der kommunistischen Parteien. Man muß, hatte Lenin schon 1922 die sowjetische Delegation zur Haager Konferenz gemahnt, „den Leuten die reale Situation erläutern: wie groß das Geheimnis ist, in dem der Krieg geboren wird... Man muß den Menschen immer wieder und wieder ganz konkret erklären, wie die Dinge im letzten Krieg lagen und warum es gar nicht anders sein konnte."5 3

4

5

Vgl. dazu die Veröffentlichungen der Leipziger Arbeitsgruppe der Akademie der Künste der DDR zur Geschichte der sozialistischen deutschen Literatur, die seit 1970 in der Reihe Beiträge zur Geschichte der deutschen sozialistischen Literatur im 20. Jahrhundert erschienen sind: Albrecht, Friedrich, Deutsche Schriftsteller in der Entscheidung. Wege zur Arbeiterklasse 1918—1933, Berlin/Weimar 1970; Kandier, Klaus, Drama und Klassenkampf. Beziehungen zwischen Epochenproblematik und dramatischem Konflikt in der sozialistischen Dramatik der Weimarer Republik, Berlin/Weimar 1970; Klein, Alfred, Im Auftrag ihrer Klasse. Weg und Leistung der deutschen Arbeiterschriftsteller 1918—1933, Berlin/Weimar 1972; Hiebel, Irmfried, F. C. Weiskopf — Schriftsteller und Kritiker. Zur Entwicklung seiner literarischen Anschauungen, Berlin/Weimar 1973, sowie der Sammelband Literatur der Arbeiterklasse. Aufsätze über die Herausbildung der sozialistischen deutschen Literatur (1918-1933), Berlin/Weimar 1971. Sechster 'Weltkongreß der Kommunistischen Internationale, Moskau, 17. Juli bis 1. September 1928. Protokoll, Bd. 4, Hamburg/Berlin 1929, S. 14. Lenin, W. I., Werke, Bd. 33, S. 433; vgl. auch Anton, L., Die erste Kriegserzählung

Geschichtsbild der sozialistischen Literatur

213

Noch waren die Leiden des ersten Weltkrieges nicht verblaßt. Die daraus erwachsende Antikriegsstimmung beschränkte sich jedoch hauptsächlich auf die Ablehnung des Krieges. Gerade die sozialistische Literatur konnte darüber hinausführen und zeigen, „daß der Krieg, der eine besonders barbarische Art der Unterdrückung menschlichen Lebens ist, zum Kapitalismus gehört, ,wie der Schatten zum Licht'".6 Diesen Zusammenhang hob Johannes R. Becher hervor, als er auf der II. Internationalen Konferenz proletarischer und revolutionärer Schriftsteller 1930 über die „Kriegsgefahr und die Aufgaben der revolutionären Schriftsteller" sprach.7 Die Darstellung des Krieges und der Revolution - meist auf Grund eigener Erlebnisse - ermöglichte es den sozialistischen Schriftstellern, „der Zeit, der Allgemeinheit die Zunge"8 zu lösen. So lag es für die Arbeiterschriftsteller und für viele aus dem Bürgertum kommende revolutionäre Literaten nahe, die Ereignisse der Jahre 1914 bis 1918/19 zu gestalten. In welchem Maße die einzelnen Schriftsteller in ihren Werken dem Kampf der Arbeiterklasse wichtige Impulse verleihen konnten, hing wesentlich davon ab, inwieweit sie die Klassenkampfbedingungen sowohl der Kriegs- und Nachkriegszeit als auch der Periode der Weltwirtschaftskrise richtig einschätzten, sich Grundsätze der marxistisch-leninistischen Theorie und die strategisch-taktische Orientierung der KPD zu eigen machten. So ist zu verstehen, daß nicht nur Schriftsteller wie Karl Grünberg oder Johannes R. Becher, die als Mitglieder und Funktionäre der Partei und des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller wesentlich zur Entwicklung der sozialistischen Literatur insgesamt beitrugen, Werke schufen, die den Anforderungen des aktuellen Kampfes entsprachen oder nahekamen. Auch Schriftsteller wie Theodor Plievier, der nur zeitweise mit der revolutionären Arbeiterbewegung verbunden war, oder wie Adam Scharrer, der sich in einem komplizierten weltanschaulichen und politischen Entwicklungsprozeß den Positionen der KPD näherte, konnten einige dieser Forderungen erfüllen. „Für unsere Schriftsteller, die in die nicht allzuweit entfernte Vergangenheit der Arbeiterbewegung zurückgreifen, liefert der geschichtliche Verlauf die Handlung (oft zusammen mit der Komposition), die Partei den Überblick der Zusammenhänge."9 Die Geschichfspropaganda der Partei, die gerade in den Jahren der Weltwirtschaftskrise eine höhere Qualität erreichte, hatte sich besonders um die Entlarvung der Hintergründe des Krieges und um die Darstellung des Kampfes der deutschen Linken verdient gemacht. Das traf besonders auf die 1929 erschienene „Illustrierte Geschichte der deutschen Revolution"10 zu. In hoher Auflage herausgegeben, erreichte sie eine große Wirksamkeit.

6 7

8 a 10

einer deutschen Arbeiterin. Anmerkungen zu Emma P. Dornbergers „Frauen führen Krieg", in: Die Linkskurve, 1932, Nr. 8, S. 31. Anton, Die erste Kriegserzählung, S. 31. Vgl. Becher, Johannes R., Die Kriegsgefahr und die Aufgaben der revolutionärer Schriftsteller, in: Zur Tradition der sozialistischen Literatur in Deutschland. Eine Auswahl von Dokumenten. 2., erw. Aufl., Berlin/Weimar 1967, S. 221—260. Mann, Thomas, Gesammelte Werke, Bd. 12, Berlin/Weimar 1965, S. 362. Gabor, Andor, Schlacht vor Kohle, in: Die Linkskurve, 1932, Nr. 5, S. 31. Illustrierte Geschichte der deutschen Revolution, Berlin 1929.

214

Ulrich Heß

Im Internationalen Arbeiterverlag erschien 1929 „Der Krieg. Das erste Volksbuch vom großen Krieg" 11 , die erste größere Veröffentlichung der sozialistischen Schriftsteller ü b e r die Zeit des ersten Weltkrieges. Das von K u r t Kläber herausgegebene Buch versuchte ein Gesamtbild des ersten Weltkrieges zu geben. Auszüge aus Reden und Schriften Lenins, Luxemburgs u n d Liebknechts, aus Werken von Barbusse, Bella Illes, K a r l G r ü n b e r g und anderen beleuchteten die U r sachen des Krieges u n d den bewußten Kampf der revolutionären Arbeiterbewegung gegen den Völkermord. Abschnitte aus Werken Remarques, aber auch Ernst J ü n g e r s stellten das G r a u e n des Krieges dar. Eine Einleitung von J o h a n nes R. Becher u m r i ß die Zielstellung des Buches u n d zugleich die Aufgaben der zu schaffenden sozialistischen Antikriegsliteratur: „In die A r b e i t e r j u g e n d . . . müssen wir das Wissen u m den Krieg hineintragen. Das Klassenbewußtsein der jungen Arbeiter und Arbeiterinnen wird daran wachsen." Becher stellt an das zu schreibende „gewaltige Epos des Weltkrieges" hohe Anforderungen 1 2 : Der Krieg müsse historisch betrachtet werden, oder, wie es in einer Rezension zu diesem Buch formuliert w u r d e : „Nur eine Betrachtungsweise, die M a r x gelehrt hat, bringt uns v o r w ä r t s : die Erkenntnis von der Klassenbedingtheit aller geschichtlichen Vorgänge, ihre V e r a n k e r u n g im ökonomischen F u n d a m e n t der Gesellschaft, die Erkenntnis, daß alle bisherige Geschichte die Geschichte von Klassenkämpfen ist. N u r aus dieser Perspektive ergründen sie die Wahrheit, u n d nicht aus dem Froschtümpel der Metaphysik." 1 3 Die Literatur müsse d a r stellen, daß Politik in Friedenszeiten u n d Politik in Kriegszeiten u n t e r den Bedingungen des Kapitalismus auf das engste zusammenhängen. „Wer den Krieg vergessen will, in dem u n d durch den hindurch bereitet sich der neue Krieg vor." 14 Ein revolutionäres Kriegsbuch d ü r f e den Krieg nicht n u r beschreiben u n d betrachten, es müsse den Weg zeigen, ihn f ü r alle Zeit zu begraben. Daß die bisher erschienene Literatur diese A n f o r d e r u n g e n noch nicht oder n u r teilweise erfüllte, zeigte Becher in einem kurzen Überblick. Nach wie vor sei Barbusses „Das Feuer" eines der besten W e r k e über den Krieg. Weder Renn, von dem noch mehr zu e r w a r t e n sei, noch R e m a r q u e seien in der Lage gewesen, das Bild des Krieges völlig richtig zu zeichnen. Als bestes Werk über den Krieg hob Becher den sowjetischen Film „Das Ende von St. Petersburg" 1 5 hervor. Auch hier zeige sich, „allein die Arbeiterklasse k a n n die ganze Wahrheit e r t r a gen, u n d sie aussprechen, diese ganze große Wahrheit, die f ü r die bürgerliche Klasse tödlich ist". 16 Bei der Wertung der bürgerlichen Kriegsliteratur unterschätzte Becher jedoch die Gefährlichkeit Ernst Jüngers, wenn er davon sprach, daß bei J ü n g e r „im Kampf zwischen Wirklichkeit und Gesinnung die Wirklichkeit" siege und daß 11

Der Krieg. Das erste Volksbuch vom großen Krieg. Hrsg. von Kurt Kläber, Berlin/ Wien/Zürich 1929. 12 Ebenda, S. 10. 13 Herenius, Herbert, „Der Krieg", in: Die Linkskurve, 1929, Nr. 1, S. 32. 14 Der Krieg, S. 6. 15 Vgl. Der sowjetische Revolutionsfilm: Zwanziger und dreißiger Jahre. Eine Dokumentation, Berlin 1967, S. 300 f. 16 Der Krieg, S. 9.

Geschichtsbild der sozialistischen Literatur

215

der Nationalismus „schemenhaft und aufgeklebt"17 wirke. Neben den Memoiren kaiserlicher Offiziere und den in unübersehbarer Zahl erscheinenden Landserheften waren aber die Veröffentlichungen Ernst Jüngers wesentlicher Bestandteil der ideologischen Wiederaufrüstung, die Ende der 20er Jahre verstärkt wurde. Seine Werke waren besonders gefährlich, weil er das Grauen des Krieges im Unterschied zu anderen bürgerlich-nationalistischen Kriegsdarstellungen zwar keineswegs leugnete, aber diese realistischen Elemente seiner Konzeption der Vorbereitung eines neuen Krieges unterordnete. Bereits im Jahre 1920 erschien der Prototyp der den Krieg verherrlichenden Literatur, Jüngers Buch „In Stahlgewittern"18, das bis zum zweiten Weltkrieg Neuauflage um Neuauflage erfuhr. In diesem wie in den nachfolgenden Werken - unter anderen erschienen 1922 „Der Kampf als inneres Erlebnis"19, 1925 „Das Wäldchen 125"30, „Feuer und Blut"21, 1930 „Krieg und Krieger"22, 1931 „Das Antlitz des Weltkrieges"23 entwickelte Jünger eine Auffassung vom Krieg, die der psychologischen und moralischen Vorbereitung eines neuen Krieges diente. Er suggerierte den Krieg als „prächtigen Traum"24, als Erlösung aus dem grauen Alltag. Der Krieg sei kein sachlich zu erforschender Gegenstand, sondern eine Erlebnisqualität. Er sei das Grundgesetz menschlichen Daseins, die große Probe, vor der der Mensch sein Menschsein zu beweisen habe. Welch großen Anteil Ernst Jünger an der ideologischen Kriegsvorbereitung hatte, zeigten seine Auffassungen über die Ursachen der Niederlage Deutschlands im ersten Weltkrieg: „Deutschland aber mußte den Krieg verlieren, auch wenn es die Marneschlacht und den Unterseebootkrieg gewonnen hätte, weil es bei aller Verantwortung, mit der es die partielle Mobilmachung vorbereitet hatte, große Gebiete seiner Kraft der totalen Mobilmachung entzog . . V o r allem aber habe das Volk keine totale, keine „deutsche" Ideologie besessen, die der totalen Mobilmachung angepaßt gewesen wäre.26 Speziell propagierte Jünger das Gemeinschaftserlebnis, das Gefühl, daß Soldaten und Offiziere „über alle Ungleichheiten des Besitzes und der Stellung hinweg... einer Rasse angehören, daß sie ein Fleisch und ein Blut sind und daß es dasselbe Bewußtsein ist, mit dem sie der Außenwelt gegenüber stehen"27, und brachte damit besonders prägnant einen Grundzug aller bürgerlichen Kriegsliteratur zum Ausdruck. Während Autoren wie Remarque, von der Vring und vor allem Ludwig Renn 17 18

19 20 21 22 23 24 25 26 27

Ebenda, S. 8. Jünger, Ernst, In Stahlgewittern, Berlin 1920. Diese Passagen über Ernst Jünger basieren auf der Veröffentlichung von Kaiser, Helmut, Mythos, Rausch und Reaktion. Der Weg Gottfried Benns und Ernst Jüngers, Berlin 1962, bes. S. 22—57 und 97-120. Jünger, Ernst, Der Kampf als inneres Erlebnis, Berlin 1922. Derselbe, Das Wäldchen 125, Berlin 1925. Derselbe, Feuer und Blut, Berlin 1925. Derselbe, Krieg und Krieger, Berlin 1930. Derselbe, Das Antlitz des Weltkrieges, Berlin 1931. Kaiser, Mythos, Rausch und Reaktion, S. 24. Jünger, Ernst, Die totale Mobilmachung, Berlin 1931, S. 10. Ebenda, S. 12. Jünger, Das Wäldchen 125, S. 134.

216

Virich Heß

(vor seinem Übergang auf die Positionen der Arbeiterklasse) die Gemeinschaft mit den Arbeitern und Bauern im Soldatenrock als wichtigstes Kriegserlebnis würdigten, das Renn dazu veranlaßte, sich in das Kollektiv der kämpfenden Arbeiterklasse einzuordnen 28 , hob Jünger die Gemeinschaft mit den „Technikern des Krieges", den „modernen Landsknechten", den Arbeitermördern aus den Freikorps hervor. In allen grundsätzlichen Fragen sind die Positionen Jüngers identisch mit den Auffassungen der reaktionärsten imperialistischen Geschichtsschreibung. 29 Besonders in der „Dolchstoß"-Legende trat noch ein weiteres Charakteristikum der bürgerlichen Sicht des ersten Weltkrieges hinzu: der Antikriegskampf der Arbeiterklasse wurde als nationaler Verrat verketzert. Unter der Losung des „Dolchstoßes in den Rücken des unbesiegten Heeres" sollte die Schuld an der Niederlage des imperialistischen Deutschland als angeblicher nationaler Verrat den bewußtesten Verfechtern der Interessen der deutschen Nation angelastet werden. 30 Die sozialistische Literatur trug dazu bei, diese Auffassungen zurückzuweisen und den Stolz der Arbeiterklasse auf den revolutionären Kampf im Krieg zu wecken. Das schloß bei der Mehrzahl der Werke auch die Erkenntnis ein, daß gerade durch den Kampf gegen den Krieg die Arbeiterklasse ihr Verantwortungsbewußtsein gegenüber der Nation wahrgenommen hatte. Hohe Anforderungen an die ideologische Arbeit der KPD und an die revolutionären Schriftsteller erwuchsen aus der Notwendigkeit, sich mit der bürgerlichen Kriegsliteratur auseinanderzusetzen, die großen Einfluß auf die werktätige Bevölkerung hatte. Gegenüber der nationalistischen, den Krieg verherrlichenden Kriegsliteratur mußte die historische Wahrheit über den ersten Weltkrieg propagiert werden. Vor allem galt es, die Funktion dieser Literatur als wesentlichen Bestandteil der ideologischen Wiederaufrüstung zu entlarven. Ein anderes Verhältnis mußte die Partei zur bürgerlichen pazifistischen Antikriegsliteratur finden. Deren Ablehnung des Krieges konnte ihre konsequentesten Vertreter zu wertvollen Bündnispartnern werden lassen. Das bedingte jedoch auch Kritik an weltanschaulichen und politischen Positionen dieser Schriftsteller. Die kritische Haltung gegenüber der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Antikriegsliteratur wurde allerdings oft auf Grund sektiererischer Tendenzen verabsolutiert. So zählte K. A. Wittfogel 31 Arnold Zweigs „Streit um den Sergeanten Grischa"32 21 29

30 31

32

Vgl. Renn, Ludwig, Uber die Voraussetzungen zu meinem Buch „Krieg", in: Die Linkskurve, 1929, Nr. 2, S. 7. Vgl. Berthold, Werner, „... großhungern und gehorchen", Berlin 1960, S. 33—43; Petzold, Joachim, Die Dolchstoßlegende, eine Geschichtsfälschung im Dienst des deutschen Imperialismus und Militarismus, Berlin 1963. Vgl. Petzold, Die Dolchstoßlegende, bes. S. 47—77. Zur weiteren politischen Entwicklung Wittfogels, dessen Artikel über das klassische Kulturerbe (Schiller) und über das Schaffen Franz Mehrings ähnlich sektiererische Züge trugen, vgl. Lewin, Günther, Von der „asiatischen Produktionsweise" zur „hydraulic society". Der Werdegang eines Renegaten, in: JbfW, 1967, T. IV, S. 205-258. Zweig, Arnold, Der Streit um den Sergeanten Grischa, Potsdam 1927.

Geschichtsbild der sozialistischen Literatur

217

und Remarques „Im Westen nichts Neues"33 ebenso zur Aufrüstungsliteratur"y' wie Jüngers „In Stahlgewittern". Er räumte zwar ein, daß Zweig und Remarque sich gegen den Krieg wandten. Aber: „Die Wirkung ihrer Bücher ist: Wiedergewöhnung an die Tatsache imperialistischer Kriege, Weglügung der sozialen Hintergründe, Krieg als Schicksal. Das aber heißt Bahnbereitung für neue Kriegsabenteuer."35 Damit verkannte Wittfogel jedoch die Anklage des Militarismus in beiden Werken und forderte von ihnen gerade das, was sie auf Grund ihrer politischen Position noch nicht oder nicht ausreichend zu leisten vermochten. Eine wesentlich sachlichere Rezension des Buches von Remarque „Im Westen nichts Neues" in der Internationalen Pressekorrespondenz betonte hingegen: „Es ist falsch, von einem Autor wie Remarque gewollte revolutionäre Tendenzen oder einen Aufruf zum Klassenkampf zu erwarten. Sein Wert und seine Wirkung besteht gerade darin, daß er die Sackgasse der bürgerlichen Gesellschaft, ihre Hilflosigkeit und ihr tiefes Versagen, soweit sie ehrlich ,bessern' will, aufzeigt und beweist."36 Es ist jedoch nicht zu verkennen, daß es zu Beginn der 30er Jahre Grenzen für die Gewinnung der kleinbürgerlichen und der sogenannten linksbürgerlichen Schriftsteller gab - Grenzen, die nicht zuletzt aus der Stellung dieser Künstler zu den politischen Grundfragen resultierten. So trug zum Beispiel die Weigerung E. M. Remarques, sich zur Frage der Verteidigung der Sowjetunion zu äußern, zur überspitzten Einschätzung seiner Werke durch die KPD-Presse wesentlich bei. Im Jahre 1930 erschienen gleichzeitig mehrere Publikationen sozialistischer Schriftsteller, die Probleme des Krieges, des Antikriegskampfes und der Novemberrevolution gestalteten. Darin zeigte sich nicht nur das wachsende Interesse der Schriftsteller und der Leser an diesen Problemen. Es bestätigte sich dadurch auch die Aktualität des Kampfes gegen die imperialistische Kriegsgefahr - eine Aufgabe, die vom Weddinger Parteitag 1929 bekräftigt worden war. Die wichtigste dieser Veröffentlichungen ist Adam Scharrers Buch „Vaterlandslose Gesellen".37 Erkenntnisse, die er im ersten Weltkrieg gewann, hatten den Schriftsteller in den Spartakusbund geführt. Überreste individualistischer und anarchistischer Anschauungen - die sich auch vereinzelt in seinen Romanen reflektierten - ließen ihn allerdings später Mitglied der linkssektiererischen KAPD werden. „Zwischen Feierabend und Morgengrauen mag dieses Buch eines Arbeiters in langen Nächten schwerer und mühsamer Arbeit entstanden 33 34

35 38

37

Remarque, Erich Maria, Im Westen nichts Neues, Berlin 1929. Wittfogel, Karl August, Romane über den imperialistischen Krieg, in: Die Rote Fahne (im folgenden: RF), 26. 7.1930. Ebenda. Mersus, Erich Maria Remarque: „Im Westen nichts Neues", in: Inprekorr, 1929, Nr. 37, S. 899. Scharrer, Adam, Vaterlandslose Gesellen. Das erste Kriegsbuch eines Arbeiters, Wien/Berlin 1930.

218

Virich Heß

sein. Keine verwirrenden Sprachexperimente. Aber in seiner einfachen, kristallenen Gedankenklarheit zur wirksamsten eindringlichen Form gestaltet." 38 Die Entwicklung Hans Betzolds vom spontanen Protest bis zum b e w u ß t e n Kampf gegen den imperialistischen Krieg im J a n u a r s t r e i k der Berliner Metallarbeiter widerspiegelte die Entwicklung der deutschen Arbeiterklasse. In die Persönlichkeit Bietzolds ließ Scharrer eigene Erlebnisse einfließen, bereichert durch seine im S p a r t a k u s b u n d gewonnenen Erkenntnisse. So konnte er von den Zufälligkeiten seiner persönlichen Entwicklung abstrahieren u n d typische Episoden aus dem Antikriegskampf der deutschen Linken darstellen. Damit gelang es ihm, einen revolutionären, eng mit seiner Klasse verbundenen Arbeiter zu gestalten. Hans Betzold, Metallarbeiter, revolutionärer Sozialdemokrat, e r k a n n t e als Soldat den Zusammenhang zwischen Imperialismus und Krieg: „Ich sehe, daß der Kapitalismus diese verbrecherische Politik (der Expansion) auf die Spitze treiben mußte, weil ihn seine Gier nach Profit ü b e r den gesamten Erdball jagt u n d jetzt der Kampf der Räuber untereinander e n t b r a n n t ist. Ich sehe, daß Sarajewo n u r der Anlaß, nicht die Ursache war." 39 Im Unterschied zur Entlarvung der Rolle der rechten S P D - F ü h r e r im Weltkrieg, die ein wesentliches Anliegen seines Buches bildet, gelang es Scharrer jedoch nicht, das Interesse der Monopolbourgeoisie u n d des Militärs am Krieg literarisch zu gestalten. Scharrer hielt diese H i n t e r g r ü n d e keineswegs f ü r unwesentlich, aber es w a r f ü r einen aus der Arbeiterklasse kommenden Schriftsteller schwer, die Vertreter der herrschenden Klasse literarisch zu gestalten. Das wirkte sich auch auf die Gestaltung der Ursachen der opportunistischen Entwicklung der Sozialdemokratie u n d der Gewerkschaften aus. Wie in der Mehrzahl der Werke der sozialistischen Schriftsteller jener J a h r e ist in „Vaterlandslose Gesellen" der Zusammenhang zwischen Imperialismus u n d Opportunismus n u r wenig berücksichtigt. Diese grundlegenden theoretischen Probleme lagen aber durchaus im Blickpunkt sozialistischer Schriftsteller. In dem Gedicht „Arbeiterführer" 4 0 rechnete Becher nicht n u r mit der Preisgabe der Arbeiterinteressen durch die rechten S P D - u n d G e w e r k s c h a f t s f ü h r e r ab, er zeigte auch, daß die Bourgeoisie bewußt die sozialdemokratischen A r b e i t e r f ü h r e r beeinflußte. A d a m Scharrer hob besonders hervor, daß die Opportunisten - er spricht allerdings von der deutschen Sozialdemokratie schlechthin - Verrat a m internationalistischen Gedanken u n d am Sozialismus geübt haben. Der Internationale h a b e die deutsche Sozialdemokratie den Krieg angesagt. „Man braucht ja, w e n n m a n in der Partei (der S P D - U. H.) etwas w e r d e n will, kein Sozialist zu sein. Die Hauptsache ist, m a n schreit recht laut davon." 4 1 Die F ü h r e r der P a r t e i hätten keine Revolution gewollt, weil diese f ü r die „Kleinbürger in der P a r t e i " g e f ä h r 38

Neukrantz, Klaus, „Vaterlandslose Gesellen", in: Die Linkskurve, 1930, Nr. 2, S. 29. 39 Scharrer, Vaterlandslose Gesellen, S. 71. /j0 Becher, Johannes R., Arbeiterführer, in: Ein Mensch unserer Zeit, Rudolstadt 1929, S. 96-98. 'A Scharrer, Vaterlandslose Gesellen, S. 49.

Geschichtsbild der sozialistischen Literatur

219

lieh sei. Die Partei würde ja beim Kampf gegen den Krieg verboten, ihre Führer würden verhaftet worden sein. Es reichte jedoch nicht aus, der SPD-Führung Feigheit vorzuwerfen. Ihre Entlarvung war nur dann völlig zutreffend und politisch wirksam, wenn ihr Ubergang auf die Positionen der Bourgeoisie dargestellt wurde. Scharrer maß den psychologischen Ursachen für das Versagen der Sozialdemokratie eine zu große Bedeutung bei. Er überwand noch nicht völlig die Auffassung, daß 1914 die Massen versagt hätten. Hier ist wahrscheinlich auch eine der Wurzeln der linkssektiererischen Position Scharrers - noch Ende der 20er Jahre war er Mitglied der KAPD - zu suchen. Nicht weniger notwendig als die Auseinandersetzung mit den Auffassungen der Ebert und Scheidemann war die Kritik an den Positionen der „Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft", der späteren USPD. Treffend wird im Roman die Demagogie der Zentristen charakterisiert: Nach Zurückschlagung der zaristischen Truppen in Ostpreußen stimmten sie gleichfalls gegen die Kriegskredite und schwangen sich zum Verteidiger der Einheit der Arbeiterklasse auf. Dagegen polemisierte ein Vertreter der Spartakusgruppe: „Ihr steht - . . . - nicht auf dem Boden des internationalen Klassenkampfes, sondern macht eure Taktik abhängig vom Kriegsglück der deutschen Regierung. Eure Stellung zum Krieg ist keine proletarisch-revolutionäre, sondern eine bürgerlich-pazifistische. Unsere Meinung aber ist, daß der kapitalistische Frieden nur auf dem Boden des Proletariats möglich ist, genauso, wie der imperialistische Krieg. Der proletarische Friede ist aber nur möglich durch die Revolution! Torkelt das Proletariat in den Frieden hinein, wie es in den Krieg hineintorkelte, bezahlt es die Zeche dieses Friedens vielleicht mit noch gewaltigeren Opfern an Gut und Blut. Es ist der große Irrtum des Pazifismus, daß er den untrennbaren Zusammenhang vom Krieg und Kapitalismus nicht sehen will."42 Scharrer zeigte in seinem Buch in erster Linie den bewußten Kampf der besten Vertreter der deutschen Arbeiterklasse gegen den Krieg von den Augusttagen 1914 bis zum 9. November 1918. Das zeichnete sein Buch vor allen anderen Antikriegsbüchern aus, die in jenen Jahren erschienen. Obwohl Scharrer während des Krieges noch nicht in der Spartakusgruppe kämpfte, beschrieb er ausführlich das Bemühen, die revolutionären Arbeiter nach dem 4. August wieder zu sammeln, und er verschwieg nicht, daß sie dennoch isoliert blieben von ihren Klassenbrüdern, die Opfer der nationalistischen Ideologie geworden waren. Es gelang Betzold, in dem Tischler Daimler und dem Landproletarier Döhring, der vorher nie etwas mit den „Vaterlandslosen Gesellen" zu tun haben wollte, echte Kameraden zu finden. Scharrer deutete damit an, daß die revolutionären Arbeiter ihre Isolierung durchbrechen konnten, weil sie weitsichtig die Interessen der gesamten Klasse vertraten. Er zeigte aber auch, daß diese Interessenübereinstimmung nicht im Selbstlauf wirksam werden konnte. Der weitere Aufschwung des Antikriegskampfes vom Auftreten Liebknechts im Frühjahr 1916 bis zu den Streiks im Januar 1918 wird im Buch sichtbar. Die Angst der USPD-Führer vor der Verantwortung für den offenen Kampf gegen 42

Ebenda, S. 265 f.

220

Ulrich Heß

den imperialistischen Staat führt jedoch zum Abflauen „der ersten großen politischen Kraftprobe". Scharrer ordnete den Januarstreik in die internationale Entwicklung der Revolution ein, indem er einen Genossen der Spartakusgruppe zur Lage in Rußland und in Österreich-Ungarn sprechen läßt. Gegenüber diesem plastischen Bild der Antikriegsbewegung, das Scharrer in Ubereinstimmung mit der historischen Wahrheit zeichnet, tritt die Darstellung der Novemberrevolution zurück. Zwar wird auch hier die organisierende Rolle der Spartakusgruppe und die Arbeit der revolutionären Obleute deutlich, aber die gestalterische Kraft ist wesentlich geringer als bei der Darstellung des Januarstreiks. Scharrer ließ - überhöhend - sein Buch mit den Worten enden: „Die Millionen Massen der Arbeiter haben auch die letzten Widerstände niedergerungen. Alles ist in unseren H ä n d e n . . . Auf dem Schloß weht die rote Fahne."43 Am Abend des 9. November war jedoch keineswegs die Arbeitermacht errichtet.44 Scharrers linksradikale Auffassungen wurden auch in seiner Position zur Reorganisation der Arbeiterklasse nach dem Zusammenbruch der Sozialdemokratie deutlich. „Die Tatsache, daß nicht nur die Partei, sondern auch die Gewerkschaften fast ausnahmslos und mit fliegenden Fahnen in das Lager des Imperialismus überliefen oder in pazifistischer Resignation stecken blieben, hebt die Frage von Führer und Masse in ein neues Licht. Wir haben die Pflicht, aus den Erfahrungen zu lernen, zu begreifen, daß neuer Inhalt der proletarischen Aktion auch andere organisatorische Formen bedingt. Wo eine Welt zusammenbricht, gilt es der Armee der proletarischen Klasse, die mühsam ihre versprengten Kräfte sammelt, mit Rat und Tat beizustehen, ihren Aktionen Inhalt und Form zu geben, wie dies die konkreten Verhältnisse bedingen. Die alten Formen der Arbeiterbewegung sind von Hebeln des Klassenkampfes zu Fesseln geworden. Welche anderen Formen der Kampf sich schaffen wird, wird die Zukunft erweisen."45 Damit erkannte aber Scharrer nicht, daß die Spartakusgruppe, deren Kampf im Krieg er so eindrucksvoll gestaltet, die Keimform der neuen proletarischen Klassenorganisation Deutschlands, der Kommunistischen Partei war. Zudem lehnte er fälschlicherweise die Gewerkschaften als angeblich überholte Form der Klassenorganisation ab. Scharrers Roman vermittelte trotz dieser Mängel ein im wesentlichen treffendes Bild des Kampfes der deutschen Linken gegen den imperialistischen ersten Weltkrieg. Hervorzuheben ist die Auseinandersetzung mit dem bürgerlichen Nationalismus und Chauvinismus. Scharrer wies die „vaterländische Gesinnung" zurück, die der Deckmantel dafür sei, daß das „Blut der Vaterlandsverteidiger aller Länder... eingefangen [werden kann] in klingender Münze von den Patrioten aller Länder".46 Allerdings ist die im Zitat enthaltene negative Wertung des Wortes Patriot kein Zufall. An anderer Stelle wird noch klarer zu erkennen 43 44

45 46

Ebenda, S. 382 f. Vgl. dazu Liebknecht, Karl, Das, was ist, in: Gesammelte Reden und Schriften, Bd. 9, Berlin 1971, S. 604-607. Scharrer, Vaterlandslose Gesellen, S. 266 f. Ebenda, S. 116.

Geschichtsbild der sozialistischen Literatur

221

sein, daß Scharrer dem wahrhaften Patriotismus, der mit dem Internationalismus stets eine Einheit bildet, keine Bedeutung mehr beimaß, weil er meinte, die Nation sei durch die Weltrevolution überholt. Hier wie in der Frage der Organisation der Arbeiterklasse zeigten sich Scharrers linksradikale Auffassungen besonders deutlich. Die Verlogenheit der Unzahl von Memoiren, die von „Generälen, Königen, Kapitalgewaltigen, Staatsmännern oder Abenteurern" 47 verfaßt wurde, veranlaßte Ludwig Turek, seine „Lebensschilderung eines deutschen Proletariers" niederzuschreiben. Er wollte dazu beitragen, die Duldsamkeit der Proletarier zu durchbrechen, indem er seine Erfahrungen im Kampf gegen die Reaktion darlegte. Tureks Bericht ist jedoch im Vergleich zu Scharrers Buch weniger ergiebig hinsichtlich des Bildes von Weltkrieg und Revolution, weil sich in ihm ein individueller und keineswegs für die Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit typischer Entwicklungsweg widerspiegelt. Das trifft vor allem auf den ersten Weltkrieg zu, dessen Fortgang sich Turek, nach seinen Erlebnissen an der Westfront, durch Desertion entzog. Wie Scharrer beschrieb auch er die Isolierung der revolutionären Kräfte nach Ausbruch des Krieges. „Überall werde ich als unreif, als phantastisch oder einfach für verrückt erklärt. Wer von der Revolution spricht, ist ein Mensch ohne Verstand." 48 Über die Arbeiterjugendbewegung erhielt Turek Kontakt zu revolutionären Kräften in der Sozialdemokratie, die dann später die USPD bildeten. Breiten Raum nehmen in Tureks Erinnerungen die Novemberrevolution und die revolutionäre Nachkriegskrise ein. Die Revolution befreite Turek aus der Festungshaft in Spandau. Er sah die Halbheiten der Revolution, ohne jedoch deren Ursachen zu erkennen. „Mitten in der Revolution, wenige Monate nach dem Sturz der Monarchie konnte das (der Mord an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg - U. H.) passieren? Kaum ein Proletarier nahm davon besondere Notiz."49 Die Isolierung der revolutionären Kräfte von der Mehrheit der Arbeiterklasse und die nur lockeren Verbindungen Tureks zur Spartakusgruppe förderten seine subjektivistischen Vorstellungen von den Kampfbedingungen und Kampfmetoden der proletarischen Revolutionäre. Ohne kritische Distanz beschreibt er, wie er mit einigen anderen beschließt, ein Attentat auf die Nationalversammlung zu verüben. Da aber das Lichtsignal für den Anschlag nicht gegeben wurde, mißlang das Unternehmen, und Turek fragt in seinen Erinnerungen: „Wo stände die Revolution heute, wenn damals das Licht ausgedreht worden wäre?" 50 Diese und andere Beispiele zeigen, daß Turek in diesen Jahren eine subjektivistische, anarchistische Geschichtsauffassung hatte. Die entschlossene Tat weniger und nicht die einheitliche Aktion aller antiimperialistischen Kräfte treibe die revolutionäre Entwicklung voran. Sein Wille, mit allen Mitteln gegen den Klassenfeind zu kämpfen, konnte zwar als Mahnung für passive Teile der 47

48 49 50

Turek, Ludwig, Ein Prolet erzählt. Lebensbild eines deutschen Arbeiters, Berlin 1930, S. 10. Ebenda, S. 65. Ebenda, S. 209. Ebenda, S. 212.

222

Ulrich Heß

Arbeiterklasse wirken. Seine Vorstellungen vom Klassenkampf entsprachen jedoch nicht den komplizierten Bedingungen des Kampfes gegen faschistische Gefahr, Weltwirtschaftskrise und drohenden Krieg. Bei der Auseinandersetzung mit dem ersten Weltkrieg zogen vor allem die Aufstände der Kieler Matrosen der kaiserlichen Marine im Sommer 1917 und im Herbst 1918 sowie der Matrosenaufstand von Cattaro das Interesse der sozialistischen Schriftsteller auf sich. In kurzer Zeit entstanden mit Friedrich Wolfs „Matrosen von Cattaro"51, Theodor Plieviers „Des Kaisers Kulis, Roman der deutschen Kriegsflotte"52, der in der Inszenierung von Erwin Piscator auch aufgeführt wurde, und mit Ernst Tollers „Feuer aus den Kesseln"53 drei wichtige Werke, die Probleme der Revolution in Deutschland und Österreich-Ungarn aufgriffen. Alle drei Gestaltungsversuche stellten sich zum Ziel, mit Hilfe der Geschichte Fragen der Gegenwart zu beantworten. Dabei ging es nicht in erster Linie darum, den Kampfesmut des Proletariats durch die Besinnung auf heroische Kämpfe zu stärken, sondern Lehren für den Kampf unter den Bedingungen des aufkommenden Faschismus zu vermitteln, indem die Ursachen vergangener Niederlagen dargestellt wurden. In diesen Werken zeigt sich gleichzeitig die Wirksamkeit der sowjetischen Kunst: Die Aufführung des Films „Panzerkreuzer Potemkin" im Jahre 1926 regte nicht nur die literarische Gestaltung dieses Themas durch Slang54 und Hans Lorbeer55 an, sondern ließ die sozialistischen Schriftsteller auch in der Vergangenheit des eigenen Volkes nach ähnlichen Episoden suchen. Theodor Plievier, selbst ein „Kuli" auf dem Hilfskreuzer „Wolf", zeichnete in „Des Kaisers Kulis" ein eindrucksvolles Bild der Geschichte der kaiserlichen Flotte in den Kriegsjahren. Plievier gehörte nicht der KPD an und trennte sich auch während der Weimarer Republik nicht von seinen anarchistischen, von Nietzsche, Stirner und Landauer geprägten Auffassungen.56 Sein Haß gegen den Militarismus ließ ihn jedoch zu einem populären Schriftsteller der deutschen Arbeiterklasse vor 1933 werden. Diese Tatsache und das Bestreben des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller, seine politisch-weltanschauliche Entwicklung zu fördern, rechtfertigen es, das in seinen Werken entwickelte Geschichtsbild hier zu behandeln. Ausführlich schilderte Plievier, wie die Matrosen nach anfänglicher Kriegsbegeisterung immer kritischer der Flottenführung gegenüberstehen, weil diese unfähig sei, wirksam gegen die britische Flotte vorzugehen.57 In dieser Situation kam es zur Seeschlacht im Skagerrak. Sie führte nicht zur 51 52

53 54 55 56

57

Wolf, Friedrich, Die Matrosen von Cattaro, Berlin 1930. Plievier, Theodor, Des Kaisers Kulis. Roman der deutschen Kriegsflotte, Berlin 1930. Toller, Ernst, Feuer aus den Kesseln, Berlin 1930. Slang, Panzerkreuzer Potemkin, Berlin 1926. Lorbeer, Hans, Panzerkreuzer Potemkin, Düsseldorf 1929. Zur politischen Entwicklung Plieviers vgl. Lexikon sozialistischer deutscher Literatur. Von den Anfängen bis 1945. Monographisch-biographische Darstellungen, Leipzig 1964, S. 402-404. Plievier, Des Kaisers Kulis, S. 207,128 f.

Geschichtsbild der sozialistischen Literatur

223

Entscheidung zwischen der englischen und deutschen Flotte. 58 Immer deutlicher erkannten die Matrosen, daß sie auch bei einem Sieg Deutschlands nichts zu gewinnen hatten. „Wenn Deutschland gewonnen hat? Mein Seesack ist nicht größer geworden! Mehr Heuer kriege ich auch nicht. Ich suche ein Schiff und fahre, und alles ist wie vorher!" 59 Inzwischen reifte die Krise in der Marine heran, die Offiziere verschlechterten die Behandlung der Matrosen, die Verpflegung der Mannschaft wurde - im Unterschied zu der der Offiziere - immer mangelhafter. Nach der Verhaftung von elf Heizern der „Prinzregent" demonstrierten die Matrosen unter der Führung von Köbis nicht nur für deren Freilassung, sondern forderten die Herstellung des Friedens. Die eigentlichen Kriegsinteressenten, erklärte Köbis in einer Rede, seien die Offiziere und Kriegslieferanten. „Köbis redet weiter, vom Staat und Militarismus und von der Vernunft, die endlich durchbrechen muß. Auf der ,Prinzregent' in seinem Seesack hat er Max Stirner und Friedrich Nietzsche liegen, und er redet ein schweres gläubiges Pathos . . ,"60 Mit dieser Berufung auf Stirner und Nietzsche gab Plievier vor allem einen Einblick in seinen eigenen weltanschaulichen und politischen Standort. Bereits in den ersten Jahren nach der Revolution hatte er im „Verlag der Zwölf" die Werke anarchistischer Theoretiker veröffentlicht. Eine Beeinflussung Köbis' durch Stirner ist nicht nachweisbar. Plieviers und auch Ernst Tollers ähnliche Äußerungen beruhen wahrscheinlich auf der Aussage Beckers' vor dem Untersuchungsausschuß der Verfassunggebenden Nationalversammlung und des Reichstages. Beckers, einer der Führer des Matrosenaufstandes, der im Prozeß mitangeklagt und zum Tode verurteilt worden war, dann aber begnadigt wurde, sagte aus, daß er „auf Grund der Lektüre des Buches von Max Stirner, ,Der Einzige und sein Eigentum' zu anarchistischen Auffassungen gekommen" sei.61 Wenn Köbis so stark von Stirner und Nietzsche beeinflußt worden war, wie dies von Plievier und auch Toller behauptet wird, so äußerte sich in dieser Beeinflussung ein Mißverstehen der antikapitalistischen Kritik von rechts, die zu Nietzsches Einfluß auf kleinbürgerliche Schichten und die Intelligenz im 20. Jh. führte. Plievier war nicht in der Lage, ein objektives Bild der Ursachen, des Verlaufs und der Lehren des Matrosenaufstandes zu geben. Sein wesentlich von Anarchismus beeinflußter weltanschaulich-politischer Standort minderte die Substanz seines Werkes. Das galt besonders für die Rolle der organisierten Vorhut der Arbeiterklasse, die Plievier nicht erkannte. 62 Ursache des Matrosenaufstandes 68 59 60 61

Ebenda, S. 266; vgl. Deutschland im ersten Weltkrieg, Bd. 2, Berlin 1970, S. 334. Plievier, Des Kaisers Kulis, S. 296. Ebenda, S. 252. Vgl. Das Werk des Untersuchungsausschusses der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung und des Deutschen Reichstages 1919—1928. 4. Reihe. Die Ursachen des deutschen Zusammenbruchs im Jahre 1918, 2. Abt. Der innere Zusammenbruch. Bd. 9/2, Berlin 1928, S. 257. Vgl. hingegen Illustrierte Geschichte der deutschen Revolution, S. 157—160, wo vor allem die Organisiertheit des Matrosenaufstandes hervorgehoben wird. — Der ehemalige Sekretär Plieviers Harry Wilde (Schulze) berichtet in seiner Biographie

224

Ulrich Heß

w a r f ü r ihn nicht die Verschärfung des Klassenantagonismus im Krieg, sondern die Mißachtung der Offiziere gegenüber den Matrosen. Einzig Köbis u n d einige wenige andere f ü h r e n d e K r ä f t e des Matrosenaufstandes (vergleiche die zitierte Rede Köbis' auf der Matrosenversammlung in Rüstersiel) wollten nicht n u r bessere Verpflegung u n d m e h r Urlaub, sondern die Beendigung des Krieges. Eine Verbindung zu politischen Parteien existierte f ü r Plievier „ n u r in den Köpfen der Richter und den Angaben der Spione".® Die völlig unkritische Ü b e r n a h m e der Ergebnisse der Verhöre u n d Gerichtsverhandlungen sowie des Untersuchungsausschusses des Reichstages, der vor allem der F r a g e nachgegangen war, inwieweit der Matrosenaufstand eine spontane Revolte w a r bzw. inwieweit er von den Parteien, von außen also, initiiert wurde, v e r s t ä r k t e Plieviers Schwierigkeiten, den historischen Tatsachen zu entsprechen. Nachweislich h a t t e n die Matrosen Verbindung z u r U S P D - F ü h r u n g (Dittmann, Haase, Zietz), u n d sie arbeiteten eng mit den örtlichen Vertretern dieser Partei zusammen. K o n t a k t bestand auch zur S p a r t a k u s g r u p p e u n d zu den Bremer Linksradikalen. Vor allem aber w a r schon - im Gegensatz zu Plieviers Darstellung - seit 1915/16 u n d besonders nach der Februarrevolution in Rußland eine revolutionäre Matrosenorganisation mit einer Flottenzentrale entstanden. Diese Matrosenorganisation sollte nach A u f f a s s u n g Reichpietsdis „der erste Schritt zur Bildung von Matrosenräten nach russischem Muster" sein. Plieviers anarchistisch beeinflußte historisch-politische Konzeption ließ aus den revolutionären Matrosen Anhänger des individuellen Terrors u n d der spontanen Revolte werden. 6 4 Gerade in den kritisierten P u n k t e n ging die Inszenierung durch Piscator, die im Spätsommer 1930 a u f g e f ü h r t wurde, wesentlich über Plieviers Konzeption hinaus. Das belegt eine Rezension von Alexander Abusch. Durch D o k u m e n t a r streifen machte Piscator auch bei dieser A u f f ü h r u n g den historischen Hinterg r u n d sichtbar: „Außenhandelsziffern, Rüstungsziffern jagen über die Leinw a n d : Zeugnisse der wachsenden imperialistischen Kriegsgefahr. Dann der Krieg. Die Losungen des Baseler Sozialistenkongresses, Lenins K a m p f r u f zur U m w a n d l u n g des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg, geben den geschichtlichen Sinn der s t u m p f e n Gärung, die in die offene Revolte umschlagen muß." 6 5 Weiterhin zeigte Piscator auch das Bemühen u m eine Zusammenarbeit mit der USPD, deren F ü h r e r aber nicht den Mut aufbrachten, sich an die Spitze der Matrosenbewegung zu stellen. Einer von Neukrantz geübten Kritik w u r d e die dramaturgische Bearbeitung gleichfalls gerecht: Piscator bezog die Novemberrevolution, insbesondere den Verrat d e r SPD-Führung, in die Darstellung ein.

63 64 65

„Theodor Plievier. Nullpunkt der Freiheit", München/Wien/Basel 1965, darüber, daß Plievier sich in den letzten Jahren vor 1933 mehr und mehr an die SAP angenähert habe (vgl. S. 248 und 255). Plievier, Des Kaisers Kulis, S. 356. Ebenda, S. 266-270. Abusch, Alexander, Der ruhmvolle Vorbote der kommenden deutschen Sowjetrevolution, in: RF, 2. 9. 1930.

Geschichtsbild der sozialistischen Literatur

225

Ernst Toller wandte sich in diesen Jahren wieder verstärkt der Arbeiterbewegung zu. Das widerspiegelt sich auch in seinem Versuch, den Aufstand der Matrosen von 1917 in einem Drama lebendig werden zu lassen. „Feuer aus den Kesseln" - in den Jahren von 1928 bis 1930 entstanden - gehört zu den besten Werken des Autors. Besonders hervorzuheben ist, daß Toller seine Helden den Alleinvertretungsanspruch der Alldeutschen auf Begriffe wie Nation und Vaterland zurückweisen läßt. Köbis erklärt bei seiner großen Rede vor Gericht: „Ihr (die Richter, die Leitung der Marine, aber auch die Parteien des Reichstages U. H.) habt kein Recht für Deutschland zu sprechen. Deutschland - das sind wirl ... Deutschland wird unsere Stimme hören, nicht ihre!" 66 Ein weiterer Vorzug des Dramas ist die Charakterisierung der SPD in der Person Scheidemanns, als eine Partei, die die Interessen der Matrosen nicht zu vertreten gewillt ist und die auch im Kriegsjähr 1917 noch nicht bereit ist, die von den Matrosen längst durchschaute Mär vom AngrifE Rußlands auf die Demokratie in Deutschland aufzugeben. So wenden sich die Matrosen der USPD zu, deren pazifistisches Wortgeklingel sie erst zu durchschauen vermögen, als es für den Aufstand der Matrosen zu spät ist. Das stellte Toller vor allem am Entwicklungsgang von Albin Köbis dar, der am Schluß erkennt, daß die Matrosen sich auf die versagenden politischen Parteien (SPD und USPD) verlassen haben und zuwenig ihrer eigenen Kraft vertrauten. Die Haltung der Spartakusgruppe, die den Aufstand begrüßte und die Feigheit der USPD-Führer anprangerte, fand ebenso wie bei Plievier keine Würdigung. In seiner Vorbemerkung zu seinem Drama proklamierte Toller: „Künstlerische Wahrheit muß sich mit der historischen decken, braucht ihr aber nicht in jeder Einzelheit zu gleichen."67 Wie Plievier sah jedoch auch Toller in der ungerechten Behandlung der Matrosen die Ursache der Erhebung. Auch seine Anklage wird nicht zur Anklage gegen das gesamte militaristische und imperialistische System, denn bei Toller werden die Matrosen „eigentlich nur durch die Reaktionen der Offiziere in die Rolle von Meuterern gedrängt, weil sie sich gegen einzelne Auswüchse des herrschenden Systems verteidigt haben". 68 Zwar läßt Toller einige Führer der Matrosen über die Forderungen nach besserem Essen und mehr Urlaub hinausgehen. Reichpietsch fordert im Drama z. B. anfänglich aus christlichem Gewissen die Unterstützung der Opposition, der USPD: „Es gibt nur eine Partei im Reichstag, die nach Gottes Wort handelt: Du sollst nicht töten. Das ist die Opposition."69 Auch Köbis fordert in seiner Rede in Rüstersiel den Abschluß eines Friedens ohne Annexionen und Kontributionen. Dennoch bleibt Toller hinter den tatsächlichen Forderungen der Matrosen zurück. Reichpietsch, der sich immer mehr von seiner christlichen Herkunft löste und zum bewußten Revolutionär wurde, rang sich zum Beispiel zu der Auffassung durch, 66

ü7 68

Toller, Feuer aus den Kesseln, S. 81; vgl. dazu die Aussage Beckers vor dem Untersuchungsausschuß des Reichstages, nach der Köbis in seiner Rede im Rüstersiel gesagt haben soll: „Wir sind die wahren Patrioten. Nieder mit dem Krieg. Wir wollen nicht mehr weiter Krieg führen" (Das Werk des Untersuchungsausschusses, S. 277). Toller, Feuer aus den Kesseln, S. 7. Kandier, Drama und Klassenkampf, S. 294. 69 Toller, Feuer aus den Kesseln, S. 51.

15 J a h r b u c h 16

226

Ulrich Heß

daß die Matrosen bei einem Scheitern der Stockholmer Beratung einen Flottenstreik nach russischem Vorbild durchführen müßten. 70 Plieviers und Tollers Verdienst bestand vor allem darin, mit der Darstellung des Matrosenaufstandes von 1917 einen wesentlichen Höhepunkt der antimilitaristischen Traditionen der deutschen Arbeiterklasse gestaltet zu haben. Damit wurde ein historisches Ereignis lebendig, das zwar in der geschichtswissenschaftlichen und geschichtspropagandistischen Arbeit der KPD beachtet wurde, aber nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen konnte. Die Berufung auf diese revolutionären Traditionen schloß jedoch die Notwendigkeit ein, die Ursachen des Aufstandes und seines Scheiterns zu erkennen und zu gestalten. Beiden Autoren gelang das nur mit Einschränkung. Was Klaus Kändler zur Anlage von „Feuer aus den Kesseln" sagt, gilt im wesentlichen auch für Plievier: „Recht gegen Macht heißt die Konstellation des Stückes: Die Matrosen suchen ihr Recht auf menschenwürdige Behandlung, ihre Menschenwürde wiederherzustellen und stoßen dabei mit der herrschenden Macht zusammen. Toller will ihre menschliche Substanz gestalten, ohne ihre soziale Lage zu berücksichtigen... Köbis und Reichpietsch fallen bei ihm als Märtyrer einer abstrakten Rechtsidee." 71 Die objektiven Ursachen, die Zuspitzung des Klassenkampfes durch den imperialistischen Krieg, treten hinter dieser moralischen Kritik an den Auswüchsen des imperialistischen Systems zurück. Der Verlust an historischem Wahrheitsgehalt, zurückzuführen auf die politisch-weltanschauliche Konzeption der Autoren, bedingte damit auch einen Verlust an politischer Wirksamkeit. Auf Anregung des nach Deutschland emigrierten ungarischen Schriftstellers Andor Gabor schrieb Karl Grünberg in den Jahren 1929 und 1930 ein Antikriegsbuch, das unter dem Titel „Fortsetzung f o l g t . . . " in verschiedenen Zeitschriften der KPD angekündigt wurde, aber vor 1933 nicht mehr veröffentlicht wurde. Obwohl das Buch erst 1960 unter dem Titel „Gloria Victoria"72 erschien, ist es doch für unsere Darstellung von Interesse. Auch in ihm zeigt sich, welchen Entwicklungsstand die sozialistische Literatur über historische Ereignisse in jenen Jahren erreicht hatte. Der hauptsächliche Vorzug des Buches besteht darin, daß Grünberg durch die Erlebnisse des in russische Kriegsgefangenschaft geratenen Hermann Seidler wesentliche Ereignisse der russischen Geschichte der Jahre 1916 und 1917 in seine Darstellung einbezog. 73 Das gilt in erster Linie für die Februarrevolution und deren Auswirkungen auf die Stimmung der russischen Soldaten und Bauern, und besonders für die Oktoberrevolution, die Seidler aus dem Militärgefängnis befreite. In diesen Teilen des Buches ging Grünberg weit über seine eigenen Erlebnisse hinaus. Sicherlich haben die großen sowjetischen Revolutionsromane 70 71 72

73

Vgl. Deutschland im ersten Weltkrieg, Bd. 2, S. 704. Kändler, Drama und Klassenkampf, S. 293. Nach dem Vorwort von Walter Pollatschek und nach Informationen von Dora Grünberg, der Frau des Schriftstellers, ist das 1960 erschienene Buch „Gloria Victoria" identisch mit „Fortsetzung folgt..." Vgl. Grünberg, Karl, Gloria Victoria, Berlin 1960. Ebenda, S. 190-210.

Geschichtsbild der sozialistischen Literatur

227

und das Studium der Geschichte der Bolschewiki in der KPD anregend gewirkt.74 Zudem konnte er bei der Gestaltung der Bolschewiki und der Stimmung an der Front seine eigenen Erfahrungen von der Ostfront einfließen lassen. Noch Jahre später hat Grünberg eine Verbrüderung mit russischen Soldaten als unvergeßlichen Eindruck gewürdigt. Bedeutsam an Grünbergs Buch ist weiterhin, daß er zeigt, wie in Deutschland das Interesse am russischen Beispiel wäehst, je länger der Krieg dauert und je kriegsmüder die Bevölkerung wird. Die Methode des historischen Vergleichs zwischen dem Land, das mit der Oktoberrevolution allen Ländern den Ausweg aus Imperialismus und Krieg zeigte, und der Entwicklung des Klassenkampfes in Deutschland gibt Grünberg die Möglichkeit, tiefer in die Ursachen der Niederlage der deutschen Arbeiterklasse im Jahre 1918/19 einzudringen. So wird das Fehlen einer revolutionären Partei gerade dadurch deutlich, daß ihre Existenz in Rußland als Vorbedingung des Sieges gezeigt wird. Da aber Grünberg den Kampf der Spartakusanhänger schwächer als z. B. Scharrer herausarbeitet, kann er diese komparativen Möglichkeiten nicht voll ausschöpfen. Das ist besonders bemerkenswert, weil Grünberg selbst in den Jahren des Krieges am organisierten Antikriegskampf teilgenommen hat, während Scharrer zu dieser Zeit noch abseits stand. Grünberg arbeitete beispielsweise während des Januarstreiks 1918 illegal als Propagandist der Spartakusgruppe.75 Vorrangig den Problemen der Novemberrevolution wandte sich Theodor Plievier in seinem zweiten vor 1933 erschienenen Buch „Der Kaiser ging, die Generäle blieben" zu, wobei er besonderes Gewicht auf die Ursachen der Niederlage der Revolution legte. Für dieses Buch, wie auch schon für „Des Kaisers Kulis", verwandte der Autor eine Vielzahl der unterschiedlichsten Quellen: bürgerliche und sozialdemokratische Memoirenliteratur, zeitgenössische Zeitungen, das Protokoll des Ebert-Prozesses; er führte Interviews mit 92 Teilnehmern an den Kämpfen der Revolution, ungeachtet auf welcher Seite der Barrikade sie standen. Die „Illustrierte Geschichte der deutschen Revolution" ist gleichfalls als Literaturgrundlage angegeben. Die Anwendung historischer Methoden, vor allem die Verwendung von Quellen, versetzte Plievier in die Lage, sowohl die Situation im konterrevolutionären Lager (vor allem die Frage des Thronverzichts der Hohenzollern) als auch das langsame Heranreifen und den Ausbruch der Revolution darzustellen. In der Gestaltung der Politik der herrschenden Klasse und ihrer Sachwalter liegt ein Fortschritt gegenüber den vorherigen Veröffentlichungen über den Krieg. So läßt der Autor den Reichskanzler Max von Baden im Fieberwahn einiges von den Ursachen des Krieges aussprechen: die imperialistische Kolonialpolitik, wie sie in ihrer ausgeprägten Form bei der Niederschlagung des Hereroaufstandes zutage trat, die deutschen Flottenaufrüstungen und die Ausbreitung Deutschlands über die ganze Welt, vor allem aber die Internationalität der Rüstungsindustrie, die die Krupp, Thyssen und Stinnes am Tod der 74

75

15»

Vgl. Kinner, Zur Entwicklung des marxistisch-leninistischen Geschichtsbildes, bes. S. 409-485. Vgl. Lexikon sozialistischer deutscher Literatur, S. 202

228

Ulrich Heß

deutschen Soldaten ebenso verdienen ließ wie am Tod der französischen oder britischen. „Die deutschen Douaumontsstürmer hängen im Magdeburger Stacheldraht, deutsche Flandernsoldaten werden zerfetzt von englischen Granaten mit Kruppzündern!... Ist leider nicht abzustellen - dafür liefert uns die Entente Kautschuk, Kupfer, Nickel."7® Diese Teile des Buches, die auf den Enthüllungen Karl Liebknechts über die internationale Verflechtung des Rüstungskapitals beruhen 77 , trugen dazu bei, den Antimilitarismus unter den Arbeitern zu festigen und zu vertiefen. Es scheint, daß Plievier in seinem zweiten Buch die Kritik der „Linkskurve" 78 an „Des Kaisers Kulis" beherzigt hat: Es gibt nicht nur ein Kapitel über die Rolle Noskes im November 1918 in Kiel, die Auseinandersetzung mit den rechten Führern der Sozialdemokratie ist ein Grundzug des gesamten Buches. Deutlich wird die Funktion der SPD: „Die Arbeiterorganisationen haben versagt und sich sogar in ihr Gegenteil verkehrt. Die Gewerkschaften haben den Arbeitern das Streikrecht genommen. Und die in der sozialdemokratischen Partei konzentrierte Macht hat dieselben Massen, die sie zu ihrer Befreiung geschaffen haben, hilflos der Ausbeutung und dem Schützengraben ausgeliefert." 79 Plievier zeigte auch, daß der Antibolschewismus den Kitt für die Koalition der Militärs, der bürgerlichen Parteien und der Sozialdemokratie zur Verhinderung der Revolution abgab, und wie dieser Antibolschewismus die Kampfkraft der Arbeiter lähmte. 80 Treffend wird geschildert, wie die sozialdemokratischen Führer geschickt die Losung der Einigkeit des Proletariats in die Waagschale werfen, um die revolutionären Kräfte zu isolieren und den eigenen Einfluß zu sichern. Auch die Zusammenarbeit zwischen Ebert und Groener findet ihren Niederschlag in der Darstellung. Die Gestaltung der revolutionären Kräfte, der Spartakusgruppe und der revolutionären Obleute Berlins machte jedoch deutlich, daß sich Plievier noch immer nicht vom „proletarisch-revoltierenden Standpunkt", wie sich die „Linkskurve" ausdrückte, getrennt hatte. Der Entwicklung der Spartakusgruppe bzw. des Spartakusbundes wurde er nicht gerecht, auch wenn er Karl Liebknecht, Wilhelm Pieck und Hermann Duntier in einer Beratung der revolutionären Obleute auftreten und deren Programm f ü r die Revolution kritisieren ließ. Überhaupt stehen bei Plievier die revolutionären Obleute im Vordergrund. Er charakterisierte sie nicht ohne Sympathie als illegale Organisation, die als einzige die Vertreter der verschiedensten sozialistischen Strömungen, die die Beseitigung des militärischen Systems zum Ziel haben, in sich vereint. In seiner Darstellung ist es die Organisation der revolutionären Obleute, die die Revolution zum Siege führt. Auch anarchistische Elemente haben in ihr Platz gefunden. So läßt er einen 76 77

78

79 80

Plievier, Theodor, Der Kaiser ging, die Generäle blieben, Berlin 1932, S. 54. Vgl. Liebknecht, Karl, Die Internationale des Rüstungskapitals, in: Gesammelte Reden und Schriften, Bd. 6, Berlin 1964, S. 290. Vgl. A. G., Drei Berichtigungen, die berichtigt werden, in: Die Linkskurve, 1930, Nr. 2, S. 20. Plievier, Der Kaiser ging, S. 85. Allerdings hat Plievier diese von ihm selbst formulierte Erkenntnis in seiner weiteren Entwicklung nicht beherzigt. Nach 1947 publizierte er in den Westzonen bzw. in der BRD antikommunistische Schmähschriften.

Geschichtsbild der sozialistischen Literatur

229

ihrer Vertreter äußern, „daß der blinde Glaube an das Gelingen wichtiger sei als lange ausgeklügelte Vorbereitungen".81 Plieviers Beharren auf unmarxistischen Positionen offenbart sich besonders deutlich, wenn er dem Führer der Berliner Elektroarbeiter Sült die Worte in den Mund legt: „Die wirtschaftliche Macht ist der Hebel. Wenn wir den benutzen, bleiben die Eisenbahnzüge auf den Strecken liegen, dann bekommt das Militär keine Munition mehr. Der Generalstreik drei Tage durchgehalten, und der ökonomische Kreislauf stockt, alle Generäle, Minister, Bonzen werden weich. Der Generalstreik acht Tage durchgehalten, und der ganze Überbau bricht zusammen, die politischen Herren stürzen. Dann haben wir die Macht, dann können wir die Produktion bestimmen und umstellen auf die tatsächlichen Bedürfnisse der Gesellschaft."82 Hier reflektiert sich Plieviers mechanische Auffassung vom Klassenkampf. Wie bereits in „Des Kaisers Kulis" liegen auch in diesem Buch die Hauptmängel im fehlenden Verständnis Plieviers für grundlegende Anforderungen an den bewußten und organisierten Kampf der Arbeiterklasse um die Beseitigung des Imperialismus und Militarismus. Zwar ging Plievier insofern über sein erstes Buch hinaus, als er die objektiven Ursachen des Klassenkampfes und auch die Ursachen der Revolution stärker berücksichtigte. Durch die scharfe Abrechnung mit der verräterischen Politik Friedrich Eberts ist eine wichtige Voraussetzung für die historisch richtige Darstellung der Niederlage der Revolution erfüllt. Da der Autor aber die revolutionäre Partei der Arbeiterklasse nicht für notwendig hält, kann er eine der wichtigsten Lehren aus der Niederlage der "revolutionären Arbeiterbewegung nicht nutzbar machen. Im Gegenteil, sein Beharren auf längst von der Geschichte widerlegten Positionen - Überbewertung der Spontaneität und Überhöhung der revolutionären Obleute, in der sich Plieviers Streben nach Einheit der Arbeiterklasse um jeden Preis widerspiegelt - konnte zur Desorientierung der Leser führen. Johannes R. Becher hatte 1930 auf dem Charkower Schriftstellerkongreß erklärt: „Wir haben bis heute die gesamte bürgerliche Literatur, einschließlich der Kriegsliteratur, beinahe einzig und allein vom Standpunkt der Spitzenleistungen, des Standardwerkes aus betrachtet. Wir verstanden unter bürgerlicher Literatur zum Beispiel in Deutschland beinahe ausschließlich solche repräsentative Erscheinungen wie Thomas und Heinrich Mann, Döblin, Wassermann usw. Aber das ist doch nur ein Teil der bürgerlichen Literatur und nicht die eigentliche bürgerliche Massenliteratur."83 Dieser bürgerlichen Massenliteratur mußte eine proletarische Massenliteratur entgegengesetzt werden; Massenliteratur nicht nur der Auflagenhöhe und dem Preis, sondern auch dem Inhalt nach. Neben der Jugendliteratur mußte vor allem eine Literatur für die werktätigen Frauen geschaffen werden. Emma P. Dornberger, eine Arbeiterin aus Köln, schuf mit ihrer Erzählung 81 83 83

Plievier, Der Kaiser ging, S. 90. Ebenda, S. 86. Becher, Die Kriegsgefahr und die Aufgaben der revolutionären S. 229.

Schriftsteller,

230

Ulrich Heß

„Frauen f ü h r e n Krieg" 84 ein Beispiel f ü r die proletarische Antikriegsliteratur f ü r Frauen. Sie s t a m m t e selbst aus einer a r m e n Proletarierfamilie. Frühzeitig w u r d e sie Mitglied der ArbeiterJugendbewegung. W ä h r e n d des Krieges schloß sie der Vorstand der SPD aus der Partei wegen oppositionellen A u f t r e t e n s aus. Über die USPD f a n d die Autorin im J a h r e 1918/19 den Weg zur KPD. „Die erste Kriegserzählung einer deutschen Arbeiterin" erschien 1932 als Fortsetzungsroman in der „Roten Fahne" und 1934 in der Sowjetunion, wahrscheinlich leicht überarbeitet. 8 5 E m m a P. Dornberger gestaltete ausschließlich i h r e eigenen Erlebnisse w ä h r e n d des Krieges und der Revolution. Ihr Buch h a t so als Erlebnisbericht den Charakter einer historischen Quelle. Eines ihrer wichtigsten Anliegen w a r es, den F r a u e n zu verdeutlichen, daß sie bei ihrer Arbeit in den Munitionsfabriken selbst die Waffen herstellen, mit denen anderer F r a u e n Männer, Brüder, Söhne getötet werden. Sie versuchte auch den Z u s a m m e n h a n g zwischen Imperialismus u n d Krieg zu verdeutlichen. Eindrucksvoll schildert sie aus der eigenen Kenntnis, w i e die Leitung der sozialdemokratischen ArbeiterJ u g e n d - G r u p p e versucht, u m jeden Preis die Teilnahme d e r Jugendlichen am politischen Kampf zu verhindern. Die vorrangige Orientierung auf Bildungsund Kunstdiskussion zu einer Zeit, da es galt, die gesamte A r b e i t e r j u g e n d f ü r den Kampf gegen den Krieg zu gewinnen, die langsame Lösung d e r J u g e n d lichen vom Einfluß der SPD sind ebenso überzeugend gestaltet wie die Entlarvung des rechten Sozialdemokraten Sollmann 86 , der sich zum Apostel der „Einheit der Arbeiterklasse" aufschwingt. Deutlich wird auch bei Dornberger, welche Rolle der Antibolschewismus der S P D - F ü h r u n g spielt: „Vielleicht m u ß das, was in diesem Riesenreich (Rußl a n d - U. H.) vor sich ging, verheimlicht werden, m u ß t e verleumdet werden, d a m i t es die anderen nicht zu gleichen Taten hochriß?" 87 Die Heldin des Buches hat begriffen, daß m a n von der russischen Revolution lernen muß, w e n n m a n den Krieg beenden will. Gerade das aber will die SPD, die sich zum Verteidiger der Demokratie aufschwingt und dadurch die alte Ordnung rettet, verhindern. Die Aufzeichnungen E m m a P. Dornbergers teilen die Schwäche anderer Werke der Antikriegsliteratur: Sowohl im Vorwort von Frida Rubiner als auch in der Rezension in der „Linkskurve" findet sich die berechtigte Kritik, daß das Wirken der revolutionären Kräfte, ihr allmähliches Wachstum und i h r e Rolle in d e r Revolution zu schwach sichtbar werden. Auch Dornberger gelingt die Gestaltung der Rolle der SPD in der Revolution wesentlich besser als die Gestalt u n g der revolutionären Arbeiter. Die Darstellung schließt mit der G r ü n d u n g der „Sozialistischen Republik", der Zeitung des revolutionären rheinischen Proletariats. Mit dieser t r a t e n die bewußtesten Arbeiter zugleich dem nationalen Verrat d e r Schwerindustriellen 84 85 88 87

Dornberger, Emma P., Frauen führen Krieg, Moskau 1934. Vgl. ebenda, Vorwort von Frida Rubiner. Zum politischen Standort Sollmanns vgl. Geschichte der deutschen gung, Biographisches Lexikon, Berlin 1970, S. 436. Dornberger, Frauen führen Krieg, S. 140.

Arbeiterbewe-

Geschichtsbild der sozialistischen Literatur

231

entgegen, die auf die „Rheinische Republik" setzten. „Die ,Rheinische Zeitung' (Organ der SPD, das sich auf die Traditionen der „Neuen Rheinischen Zeitung" berief - U. H.), die siebzig Jahre vorher kühner Wegweiser der jungen deutschen Arbeiterbewegung war, von Karl Marx selbst redigiert, von Friedrich Engels unterstützt, unbeirrbarer Kämpfer im ersten deutschen Märzsturm diese ,Rheinische Zeitung' hatte mit ihrer Vorgängerin nur den Namen gemein. Sie war in den letzten Jahren Schänder und Schmäher des Marxismus geworden, Bannerträger, der zum Feinde überging. Und nun hieß es, ein neues Organ zu schaffen, eine Zeitung mit anderem Namen, die jedoch das Werk von Karl Marx fortführte. An ihrer Wiege loderten die Flammen der russischen Revolution." 88 Mit der Orientierung auf die Kommunistische Partei, die Bewahrerin der revolutionären Tradition des rheinischen Proletariats zeigte Emma P. D o m berger nicht nur den konsequenten Abschluß ihres eigenen Entwicklungsweges. Ihre Erzählung konnte dazu beitragen, auch anderen diesen Weg zu öffnen. Gemeinsam mit der geschichtswissenschaftlichen und geschichtspropagandistischen Arbeit der KPD haben die Werke der sozialistischen Schriftsteller in den Jahren von 1929 bis 1932 Wesentliches geleistet, um ein der historischen Wahrheit entsprechendes Bild der J a h r e von 1914 bis 1918/19 zu verbreiten. In der Auseinandersetzung mit der nationalistischen Geschichtspropaganda wiesen sie nach, daß Kapitalismus und Krieg zusammenhängen und daß der Krieg somit nichts Schicksalhaftes ist, dem Ausbeuter und Ausgebeutete gleichermaßen ausgeliefert sind. Scharrer, Grünberg, Toller und Plievier entlarvten den Widerspruch zwischen dem „Patriotismus" der Monopolbourgeoisie und ihrer Zusammenarbeit mit den Monopolen anderer Länder, die gerade in den Jahren des Krieges immense Profite brachte. Sie zeigten, daß der Feind im eigenen Land stand, daß die für die Arbeiterklasse wichtige Front nicht irgendwo in Frankreich, Italien oder Rußland lag, sondern im eigenen Lande selbst, als Trennungslinie zwischen den stärker denn je ausgebeuteten Arbeitern, Bauern und Soldaten und den imperialistischen und militaristischen Kräften. Allerdings führte nur Ernst Toller ausdrücklich den Nachweis, daß die Revolutionäre gerade durch ihren Antikriegskampf die besten Vorkämpfer der deutschen Nation waren. Während die KPD seit 1930 verstärkt die Verantwortung der Arbeiterklasse für die Nation betonte, erkannte vor allem Adam Scharrer infolge seiner linkssektiererischen Ablehnung des Patriotismus nicht die Bedeutung des Kampfes gegen den Krieg für die Erhaltung der Nation. Der abstrakte Internationalismus schränkte die Wirksamkeit der Auseinandersetzung mit der Dolchstoßlegende ein. In allen untersuchten Werken über den ersten Weltkrieg und die Novemberrevolution setzen sich die sozialistischen Schriftsteller mit dem Verrat der rechten SPD- und Gewerkschaftsführer und mit der schwankenden Haltung der USPD auseinander. Nur durch diese Auseinandersetzung, die auch von der KPD-Presse gefordert wurde, war es möglich, den komplizierten Sammlungsprozeß der revolutionären deutschen Arbei88

Ebenda, S. 208. Vgl. dazu auch Meyer, Gertrud, Die Gründung unserer Zeitung „Die Sozialistische Republik", in: BzG, 1976, H. 1, S. 87—91.

232

Ulrich Heß

terbewegung und die Ursachen ihrer Niederlagen vom Sommer 1917 bis zum Januar 1919 historisch treffend darzustellen. Nicht zu unterschätzen ist auch die für die Jahre von 1929 bis 1932 aktuelle Bedeutung der Kritik am Übergang der opportunistischen Arbeiterführer auf die Positionen der Bourgeoisie. Die in der KPD nach 1928/29 zutage tretende sektiererische Haltung zu den deutschen Linken um Luxemburg und Liebknecht fand in der sozialistischen Literatur keinen Niederschlag. Im Gegenteil, indem Scharrer und Dornberger den Antikriegskampf der Spartakusgruppe würdigten, wirkten sie bewußt oder unbewußt solchen Auffassungen entgegen. Auch die schwächere Darstellung des Kampfes der deutschen Linken in Grünbergs Roman „Fortsetzung f o l g t . . . " ist - nach Anlage des gesamten Werkes zu urteilen - nicht auf solche sektiererische Haltungen zurückzuführen. Ein schwieriges Problem für alle Schriftsteller, die die Zeit des Antikriegskampfes und die Revolution gestalteten, war Darstellung der Ursachen der Niederlage in den Jahren 1918/19. Der Verrat der SPD und Gewerkschaftsführer genügte nicht zur Erklärung; vielmehr hatten die Schriftsteller auch zu fragen, inwieweit die revolutionäre Arbeiterbewegung selbst die an sie gestellten Anforderungen zu erfüllen vermochte. Schriftsteller wie Ernst Toller und Theodor Plievier konnten diese Aufgabe nicht lösen; sie erkannten die Ursachen und Bedingungen des Klassenkampfes nicht oder nicht ausreichend, und sie akzeptierten deshalb auch die Notwendigkeit einer revolutionären Partei nicht. Aber auch Adam Scharrer ließ diese Frage offen, obgleich er die Entwicklung der Spartakusgruppe während des Krieges ausführlich darstellte. Es unterstreicht die Bedeutung, die die Geschichte der Bolschewiki besaß, daß Karl Grünberg durch den Vergleich zwischen der deutschen und der russischen Arbeiterbewegung die Möglichkeit erhielt, das Fehlen einer marxistisch-leninistischen Partei als eine der wesentlichsten Ursachen der Niederlage herauszuarbeiten. Allerdings warf die literarische Gestaltung der revolutionären Arbeiterbewegung in den Jahren des ersten Weltkrieges komplizierte Probleme auf. Der Kampf der bewußten Vorhut der Arbeiterklasse während des Krieges und der Revolution war schwerer darzustellen als z. B. in der revolutionären Nachkriegskrise, in der die führende Rolle der KPD offensichtlich wurde. In dieser Hinsicht ist auch die Einschätzung berechtigt, daß die Novemberrevolution in der sozialistischen Literatur eine wesentlich geringere Rolle als in historischen Untersuchungen der KPD spielte.89 Allerdings nahm die Novemberrevolution größeren Raum in den Veröffentlichungen ein, die die revolutionären Traditionen bewahren halfen. Neben den Materialien für die Luxemburg-Liebknecht-Lenin-Feiern ist hier vor allem die Lyrik Weinerts zu nennen. Alle Werke der sozialistischen Literatur, die sich mit dem ersten Weltkrieg 89

Die K P D erarbeitete nicht nur die „Illustrierte Geschichte der deutschen Revolution", auch ihre historischen Untersuchungen der großen Revolutionen von 1789 bis 1917 beziehen sich häuiig auf die Novemberrevolution (vgl. Kinner, Zur Entwicklung des marxistisch-leninistischen Geschichtsbildes, bes. S. 543—610).

Geschichtsbild der sozialistischen Literatur

233

beschäftigen, schließen mit der Novemberrevolution ab; hierin liegt ein weiterer grundlegender Unterschied zur bürgerlichen Kriegsliteratur, die den Krieg auch in dieser Hinsicht isoliert betrachtet. Die Kraft der literarischen Gestaltung läßt aber bei der Darstellung der revolutionären Kräfte ausnahmslos nach. Die Kompliziertheit dieses historischen Ereignisses, die Tatsache, daß ein Komplex von Ursachen zur Niederlage der Revolution führte, und der oft noch nicht ausreichende politisch-weltanschauliche Reifegrad einer ganzen Reihe von Schriftstellern erschwerten eine politisch treffende und literarisch wirksame Gestaltung. Zu berücksichtigen ist darüber hinaus, daß auch in der sich unter wesentlich günstigeren Bedingungen entwickelnden sowjetischen Literatur nicht sofort die Rolle der Partei gestaltet werden konnte.90 Romane wie Serafimowitschs „Eiserner Strom" und Furmanows „Tschapajew" repräsentierten eine neue Entwicklungsstufe der sowjetischen Literatur und wirkten als Vorbild für die sozialistischen deutschen Schriftsteller.

Die Kämpfe der deutschen Arbeiterbewegung in der Zeit der revolutionären Nachkriegskrise in Werken der sozialistischen Literatur aus den Jähren 1929 bis 1932 Im Vorwort zu Karl Grünbergs Roman „Brennende Ruhr" schrieb Johannes R. Becher: „Man muß sich immer wieder wundern, wie wenig die großen Ereignisse der jüngsten deutschen Geschichte auf die Dichtung gewirkt haben. Das Epos dieser Zeit ist noch nicht geschrieben, . . . In welchem Werk erleben wir unsere Geschichte?"91 Diese 1928 erhobene Kritik hatte wenige Zeit später schon ihre Berechtigung verloren. Neben dem Weltkrieg und der Novemberrevolution waren es vor allem die Ereignisse der Jahre 1919 bis 1923, die die Schriftsteller anzogen. Mittelpunkt der Darstellung ist in fast allen Fällen die Abwehr des Kapp-Putsches durch die Aktionen der geeinten Arbeiterklasse. Das ist kein Zufall, widerspiegelten doch die Monate März und April 1920 wesentliche Probleme der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung in den Jahren der Weimarer Republik. In der Literatur über die revolutionäre Nachkriegskrise bestimmen Erinnerungen der Autoren weitgehend das Bild. Eine gewisse Ausnahme macht nur Karl Grünbergs Roman „Brennende Ruhr". Die Vielzahl der Romane und Erzählungen über die revolutionären Ereignisse der Jahre 1919 bis 1923 wäre undenkbar ohne das Vorbild der sowjetischen Revolutionsliteratur und -filme.92 Andor Gabor schrieb 1927: „Die Revolution (in Deutschland - U. H.), an der Hunderttausende von Proletariern teilnahmen, durchlief in Deutschland von 1918 bis 1923 die verschiedensten Phasen. Zehn80 al

92

Vgl. Russische sowjetische Literatur im Überblick, Leipzig 1970, S. 43—54. Grimberg, Karl, Brennende Ruhr. Roman aus dem Kapp-Putsch. Mit einem Vorwort von Johannes R. Becher, Rudolstadt 1929, S. 5. Vgl. Klein, Im Auftrag ihrer Klasse, bes. S. 217-219.

234

Virich Heß

t a u s e n d e junge Revolutionäre durchlebten die Anstrengungen u n d die G e f a h ren des proletarischen Aufstandes u n d des blutigen Bürgerkrieges. Wo aber ist die entsprechende Literatur? Sie existiert nicht. Der Berliner Arbeiter, der die russische Belletristik liest, ist ü b e r die Bauernbewegung in Sibirien w ä h r e n d des Bürgerkrieges bedeutend besser unterrichtet als ü b e r die Ereignisse in München, S t u t t g a r t u n d Halle." 93 Und K a r l G r ü n b e r g bekennt sich in der Erinnerung an seine schriftstellerischen A n f ä n g e ausdrücklich zur Vorbildwirk u n g d e r sowjetischen Literatur: „Heißhungrig h a t t e n w i r darauf gewartet, daß dieser große, weltgeschichtliche Vorgang (die Oktoberrevolution - U. H.) sich auch in der Literatur verdichtete. Mit klopfenden Pulsen lasen w i r n u n Fadejews ,Die Neunzehn', Serafimowitschs ,Der eiserne Strom' u n d Gladkows ,Zement'. Endlose Diskussionen w u r d e n d a r ü b e r geführt, und i m m e r wieder tauchte die F r a g e a u f : ,Wann wird es auch einmal bei u n s eine Literatur geben, die die Massen aufrüttelt?'" 9 4 Diese F r a g e half G r ü n b e r g selbst mit zu beantworten, indem er mit „Brennende R u h r " als einer der ersten proletarisch-revolutionären Schriftsteller (vorher w a r zu ähnlicher Problematik n u r K u r t Kläbers „Barrikaden a n der R u h r " im J a h r e 1925 erschienen) die Ereignisse der Nachkriegsj ä h r e gestaltete. A u f schlußreich ist die Entstehungsgeschichte des, Buches. Grünberg h a t t e nicht an den A b w e h r k ä m p f e n gegen Kapp und Lüttwitz im Ruhrgebiet teilgenommen, er k o n n t e aber seine E r f a h r u n g e n als F ü h r e r eines illegalen Bataillons in Berlin verwenden. Nachdem e r Robert Schweicheis Roman „Um die Freiheit" gelesen hatte, erwachte in ihm der Wunsch, auf ähnliche Art u n d Weise die revolutionären K ä m p f e der deutschen Arbeiterklasse in den J a h r e n von 1918 bis 1920 zu gestalten. E r las Friedrich Engels' „Deutschen Bauernkrieg", w e r tete die Tagespresse dieser J a h r e als historische Quelle aus. 95 Den letzten A n stoß f ü r die Niederschrift des Buches a b e r gab das antikommunistische Machw e r k über die R u h r k ä m p f e „Lava" von H e r m a n n Hagener (d. i. H e r m a n n F r e yhaus). 96 Tenor des Buches ist die These von den Kommunisten u n d Revolutionären als „landfremden Elementen", die nichts mit dem deutschen Volk gemein haben. Die F ü h r e r der Revolutionäre sind f ü r ihn folgerichtig „Russen", die ein riesiges Vermögen erwerben, weil sie im „ A u f t r a g e Moskaus" arbeiten. Hagener mangelte es am geringsten Verständnis f ü r die Motive der R u h r k u m pel, wegen der sie sich gegen ihre Unterdrücker erheben. Die „russischen" F ü h r e r des Aufstandes weckten in ihnen - so Hagener - die niedrigsten Instinkte u n d Triebe; die Arbeiter w ü r d e n n u r d a n n kämpfen, w e n n sie plün5)3

Gabor, Andor, Über den Einfluß der Sowjetliteratur in Deutschland, Übersetzung abgedruckt in: Zur Tradition der sozialistischen Literatur in Deutschland, S. 69 f. 94 Grünberg, Karl, Wie ich zu „Tausend Zungen" kam, in: Hammer und Feder, Berlin 1955, S. 125 f. 85 Klein, Im Auftrag ihrer Klasse, S. 318. Beschluß der Bergarbeiter-Konferenz vom 24.5. die Lage nicht ändern werde. Hammachers beabsichtigtes Telegramm stand im Widerspruch zu den Absichten der Unternehmer und der Regierungsbeamten im Streikbezirk und wurde deshalb zurückgehalten. Die preußische Regierung entschied am 25.5. in einer Beratung, die Verhängung des Belagerungszustandes abzulehnen. (Vgl. Bericht des Generalkommandos der Armee an Wilhelm II. vom 25. 5. 1889, in: ZStAM, Rep. 77, Tit. 2523, Nr. 1, Bd. 4, Bl. 20—22, und Protokoll der Sitzung des Staatsministeriums vom 25. 5.1889, Abschrift, in: Ebenda, Bl. 88-91.) Spiritus rector der Entscheidung, v. Hagemeister abzuschieben, war nicht Wilhelm II., sondern Bismarck, der in der Kronratssitzung am 27. 5.1889 die Fähigkeiten des Oberpräsidenten in Frage stellte, indem er geschickt suggerierte, solche Ausnahmeregelungen wie der Belagerungszustand „würden ohne Not Seine Maje-

Friedrich Hammadiers Aufzeichnungen

457

stät und die Staatsregierung mit dem Odium belasten, die Arbeiter an der Erzielung besserer Resultate gehindert zu haben", und meinte, der Oberpräsident stehe vielleicht zu stark unter dem Einfluß der Unternehmer. Gerade Bismarck wußte aus persönlichen Interventionen, daß die Zechenherren im Gegenteil mit dem Oberpräsidenten haderten, weil er sich für ihre Interessen zu wenig eingesetzt habe. Wilhelm II. beauftragte den Innenminister, v. Hagemeister zum Entlassungsgesuch zu veranlassen; einen Tag später, am 28. 5., wurde sein Entlassungsgesuch genehmigt. (Vgl. Protokoll der Kronratssitzung vom 27.5.1889, in: ZStAM, Rep. 90 a B III 2 c, Nr. 3, Bd. IV, Bl. 179-186.) m Randbemerkung Hammachers: Haben wir keinen Oberpräsidenten in Westfalen?, fragte der Kaiser. Lucanus machte von Hagemeister vertraulich darauf aufmerksam, daß er doch berichten solle. [Lucanus, Hermann v. (1831—1908), war Chef des Zivilkabinetts Wilhelms II.]