Ius Europaeum: Beiträge zur europäischen Einigung. Hrsg. von Claus Dieter Classen / Martin Nettesheim / Wolfgang Graf Vitzthum [1 ed.] 9783428521951, 9783428121953

Seit dem Studium in den fünfziger Jahren galt dem Europarecht das besondere Interesse von Professor Dr. Dr. h. c. mult.

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German Pages 513 Year 2006

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Ius Europaeum: Beiträge zur europäischen Einigung. Hrsg. von Claus Dieter Classen / Martin Nettesheim / Wolfgang Graf Vitzthum [1 ed.]
 9783428521951, 9783428121953

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Tübinger Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht Band 75

THOMAS OPPERMANN

Ius Europaeum Beiträge zur europäischen Einigung

Herausgegeben von Claus Dieter Classen, Martin Nettesheim und Wolfgang Graf Vitzthum

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Thomas Oppermann · Ius Europaeum

Tübinger Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht Herausgegeben von Wo l f g a n g G r a f Vi t z t h u m in Gemeinschaft mit M a r t i n H e c k e l, K a r l - H e r m a n n K ä s t n e r Fe r d i n a n d K i r c h h o f, H a n s v o n M a n g o l d t M a r t i n N e t t e s h e i m, T h o m a s O p p e r m a n n G ü n t e r P ü t t n e r, B a r b a r a R e m m e r t Michael Ronellenf itsch sämtlich in Tübingen

Band 75

THOMAS OPPERMANN

Ius Europaeum Beiträge zur europäischen Einigung

Herausgegeben von Claus Dieter Classen, Martin Nettesheim und Wolfgang Graf Vitzthum

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2006 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-6061 ISBN 3-428-12195-3 978-3-428-12195-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Herr Professor Dr. Dres. h.c. Thomas Oppermann feierte am 15.2.2006 seinen 75. Geburtstag. Dieses Ereignis war Anlaß für die Herausgeber, eine Auswahl aus den heute noch wichtigen europarechtlichen Schriften des Jubilars in einer geschlossenen Sammlung zusammenzustellen. Dieser Band soll Ausdruck des Dankes sein, den die Herausgeber Thomas Oppermann für jahrzehntelange Verbundenheit bezeugen möchten. Die Herausgeber verbinden mit diesem Geschenk die besten Wünsche für ein weiterhin erfolgreiches wissenschaftliches Wirken bei bester Gesundheit. Unser Tübinger Lehrer, Kollege und Freund eröffnet in seinen Schriften einen einzigartigen Zugang zum Europarecht. Seine Beiträge sind geprägt von der Grundüberzeugung, daß europäische Integration nicht lediglich eine Option ist. In seinen grundlegenden Darstellungen des Integrationsprozesses wird dessen Unentbehrlichkeit und die damit einhergehende Verflechtung vormals unabhängiger Nationalstaaten („Der europäische Traum zur Jahrhundertwende“, S. 13 ff.), die auch in der nationalen Verfassung eher eine Stütze als eine Bremse findet („,In einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen . . .‘ – Der internationale Verfassungsauftrag nach 40 Jahren Grundgesetz“, S. 37 ff.; „Europäische Union: Erfüllung des Grundgesetzes“, S. 60 ff.), meisterhaft herausgearbeitet. Stets ist dieser Ansatz gepaart mit skeptischer Zurückhaltung gegenüber manchen konkreten Ausformungen der Integration („Zur normativen Kraft des Europarechts in einer sich erweiternden ,Groß-EU‘“, S. 77 ff.; „,Regulierungswut‘ der Europäischen Union?“, S. 88 ff.). Die richterliche Erfahrung des Jubilars als Mitglied des Staatsgerichtshofes von BadenWürttemberg ist in den Beitrag über „Die Dritte Gewalt in der Europäischen Union“ (S. 101 ff.) eingeflossen. Es ist ein besonderer methodischer Ansatz, der das Werk von Thomas Oppermann kennzeichnet. Sein Blick beschränkt sich nicht auf die rein rechtliche Seite eines Problems, sondern erfaßt stets auch die praktischen Aspekte. Insbesondere die Menschen spielen bei ihm eine Rolle, ja sie sind zentral. Politik – auch Rechtspolitik – wird in dieser Sicht von Personen gestaltet („Mit Walter Hallstein in die Zukunft der Europäischen Union“, S. 121 ff.; „Erinnerungen an das Bundeswirtschaftsministerium und seine Europa-Abteilung in den sechziger Jahren“, S. 128 ff.; „Die Deutschen in Brüssel“, S. 137 ff.; „Du Plan Schuman au Traité d’Amsterdam: La coopération franco-allemande, moteur de l’intégration européenne“, S. 154 ff.; ferner – im Kontext des Verfassungsvertrages – die Beiträge zu Giscard d’Estaing, S. 342 ff. und Erwin Teufel, S. 334 ff.). In-

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Vorwort

sofern muß die Integrationspolitik die realen Machtverhältnisse („Größere und kleinere Mitgliedstaaten in der Europäischen Union“, S. 174 ff.), aber auch die Bürger („Sinn und Grenzen einer EG-Angehörigkeit“, S. 163 ff.) im Auge behalten. Oppermanns Nachdenken über Gefüge und Wesen der europäischen Integration („Die Europäische Gemeinschaft als parastaatliche Superstruktur“, S. 187 ff.; „Wesen der Europäischen Union“, S. 200 ff.; „Juristische Fortschritte durch die europäische Integration?“, S. 217 ff.) versteht sich vor diesem Horizont. Biographische Umstände haben den „europaanthropologischen“ Wesenszug des Werkes von Thomas Oppermann begünstigt. Seine erste Befassung mit dem Europarecht erfolgte Anfang der sechziger Jahre in der Europa-Abteilung des Bundeswirtschaftsministeriums unter Ulrich Everling. Dieser Zeit ist ein schon erwähnter Beitrag gewidmet (S. 128 ff.). Von hier spannt sich der Bogen über die ihm von der Juristischen Fakultät der Universität Hamburg verliehene venia nicht nur für juristische Fächer, sondern auch für auswärtige Politik, zu dem ebenso ausgewiesenen Lehrstuhl an der Tübinger Juristenfakultät, viele nebenberufliche Ämter bis hin zur Tätigkeit als Berater des Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Erwin Teufel, in dessen Eigenschaft als Mitglied des Verfassungskonvents der Europäischen Union eingeschlossen. Die Arbeit des Konvents wird damit aus nächster Nähe in einer Kaskade von Beiträgen gewürdigt („Vom Nizza-Vertrag 2001 zum Europäischen Verfassungskonvent 2002/2003“, S. 235 ff.; „Eine Verfassung für die Europäische Union: Der Entwurf des Europäischen Konvents“, S. 255 ff.; „Europäischer Verfassungskonvent und Regierungskonferenz 2002–2004: Zur ,gemischten‘ Entstehung der Europäischen Verfassung 2004“, S. 305 ff.; „Ein Präsident für Europa?“ S. 323 ff.; „Ministerpräsident Erwin Teufel im Europäischen Verfassungskonvent“, S. 334 ff.; „Valéry Giscard d’Estaing – Vater der Europäischen Verfassung“, S. 342 ff.). Viele dieser konventsbezogenen Arbeiten räumen ebenfalls den jeweils handelnden Akteuren breiten Raum ein. Mit vorliegender Sammlung wird naturgemäß nicht das gesamte wissenschaftliche Werk von Thomas Oppermann gewürdigt. Freilich hat der Jubilar es immer wieder verstanden, seine anderweitigen Interessen auch für das Europarecht fruchtbar zu machen. Seine Neigungen zum Völkerrecht, zumal zum internationalen Wirtschaftsrecht, belegen die Untersuchungen zur Außenflanke der Union in ihrer Stellung in der WTO („Die Europäische Gemeinschaft und Union in der Welthandelsorganisation [WTO]“, S. 361 ff.), zum „Nachbarstaat“ Israel, für den er immer ein besonderes Interesse gehegt hat („Cooperation, Association, Accession: Reflections on the Legal Opinions for the European-Israeli Economic Relationship“, S. 384 ff.), vor allem aber zu den verschiedenen Beitrittsrunden („Die Assoziierung Griechenlands mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft“, S. 410 ff.; „Grundsatzfragen der Einbeziehung Griechenlands in die Institutionen der Europäischen Gemeinschaft“, S. 432 ff.; „Zur

Vorwort

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,Philosophie‘ des Eintritts der Tschechischen Republik in die Europäische Union – Anfragen an Deutschland und an die Tschechische Republik“, S. 451 ff.). Der Kulturverfassungsrechtler Thomas Oppermann hat sich etwa den „Sprachen der Union“ (S. 461 ff.) sowie der Keimzelle eines europäischen Rundfunks, nämlich ARTE (dazu „ARTE – ein Experiment europäischer Kultur“; S. 469 ff.; „Die Rundfunkfreiheit von ARTE: Eine Episode deutsch-französischer Kulturpolitik“, S. 484 ff.) gewidmet, in dessen Gremien er über Jahre hinweg in der ihm ganz eigenen förderlichen Art mitgewirkt hat. Ein Vergleich der älteren mit den jüngeren Beiträgen zeigt im übrigen die bemerkenswerte Kontinuität der Probleme, der Herangehensweise, der Entscheidungen. Dies belegt die Auseinandersetzung mit dem Beitritt Griechenlands, ebenso wie etwa die wiederholte Bezugnahme auf Walter Hallsteins Diktum „We are in politics, not in economics.“ Insgesamt dokumentiert der Band nicht nur einen zentralen Bestandteil des wissenschaftlichen Werkes von Thomas Oppermann, sondern offenbart auch eine von tiefen Kenntnissen und weitestem Wissen geprägte Sicht auf praktischmenschliche Aspekte der Entwicklung der Europäischen Integration. Die Beiträge sind so veröffentlicht, wie sie publiziert wurden, nur Zitierweisen und ähnliches wurden angeglichen. Zu Beginn jedes Beitrages ist die Originalfundstelle angegeben; die Randziffern verweisen auf die ursprünglichen Seiten, die senkrechten Striche auf den entsprechenden Seitenumbruch. Gedankt sei an dieser Stelle den unermüdlichen Helfern, die zum technischen Gelingen dieses Werkes beigetragen haben: Frau Annelie Schulz, Frau Antje Klostermann, Frau Ulrike Lembke und Herrn Hagen Bode in Greifswald sowie Frau Isolde Zeiler in Tübingen. Besonderer Dank gebührt auch den Herren Professor Dr. jur. h.c. Norbert Simon und Dr. Florian R. Simon für die Bereitschaft, den vorliegenden Band in ihrem Verlag erscheinen zu lassen, auch als ein Zeichen der Verbundenheit des renommierten Wissenschaftsverlages mit einem seiner prominentesten und engagiertesten Herausgeber, Autor und Hochschullehrer. Den verschiedenen Verlagen, in deren Verantwortung die jeweiligen Originalbeiträge erschienen sind, ist für die Erteilung der Abdruckrechte zu danken. Ein besonderer Dank gilt schließlich dem Staatsministerium von Baden-Württemberg, der Alfred-Toepfer-Stiftung F.V.S. sowie dem Universitätsbund Tübingen für eine finanzielle Unterstützung dieses Vorhabens. Greifswald und Tübingen, im Februar 2006

Claus Dieter Classen Martin Nettesheim Wolfgang Graf Vitzthum

Inhaltsverzeichnis I. Grundfragen der europäischen Integration Der europäische Traum zur Jahrhundertwende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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„In einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen . . .“ Der internationale Verfassungsauftrag nach 40 Jahren Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Europäische Union: Erfüllung des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zur normativen Kraft des Europarechts in einer sich erweiternden „Groß-EU“ . .

77

„Regulierungswut“ der Europäischen Union? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Dritte Gewalt in der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

II. Personen und Mächte Mit Walter Hallstein in die Zukunft der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . 121 Erinnerungen an das Bundeswirtschaftsministerium und seine Europa-Abteilung in den sechziger Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Die Deutschen in Brüssel. Nationale Präsenz in der EU – Ein Thema für die institutionelle Reform? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Du Plan Schuman au Traité d’Amsterdam: La coopération franco-allemande, moteur de l’intégration européenne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Sinn und Grenzen einer EG-Angehörigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Größere und kleinere Mitgliedstaaten in der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . 174

III. Wesen der europäischen Integration Die Europäische Gemeinschaft als parastaatliche Superstruktur. Skizze einer Realitätsumschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Wesen der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Juristische Fortschritte durch die europäische Integration? . . . . . . . . . . . . . . . . . 217

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Inhaltsverzeichnis IV. Die europäische Verfassung

Vom Nizza-Vertrag 2001 zum Europäischen Verfassungskonvent 2002/2003 . . . 235 Eine Verfassung für die Europäische Union. Der Entwurf des Europäischen Konvents . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Europäischer Verfassungskonvent und Regierungskonferenz 2002–2004. Zur „gemischten“ Entstehung der Europäischen Verfassung 2004 . . . . . . . . . . . . 305 Ein Präsident für Europa? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Ministerpräsident Erwin Teufel im Europäischen Verfassungskonvent . . . . . . . . 334 Valéry Giscard d’Estaing – Vater der Europäischen Verfassung . . . . . . . . . . . . . 342

V. Außenbeziehungen der Europäischen Union Die Europäische Gemeinschaft und Union in der Welthandelsorganisation (WTO) 361 Cooperation, Association, Accession: Reflections on the Legal Opinions for the European-Israeli Economic Relationship . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 Die Grenzen der Europäischen Union oder das Vierte Kopenhagener Kriterium 401 Die Assoziierung Griechenlands mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 410 Grundsatzfragen der Einbeziehung Griechenlands in die Institutionen der Europäischen Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 Zur „Philosophie“ des Eintritts der Tschechischen Republik in die Europäische Union. Anfragen an Deutschland und an die Tschechische Republik . . . . . . 451

VI. Europa und die Kultur Die Sprachen der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 ARTE – ein Experiment europäischer Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 Die Rundfunkfreiheit von ARTE. Eine Episode deutsch-französischer Kulturpolitik 484

Anhang Nachwort von Thomas Oppermann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 Curriculum Vitae: Thomas Oppermann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505 Bibliographie von Thomas Oppermann. Fortsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506 Verzeichnis der Originalfundstellen der Beiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 510

I. Grundfragen der europäischen Integration

Der europäische Traum zur Jahrhundertwende

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Tübinger Abschiedsvorlesung anläßlich der Emeritierung zum Ende des Wintersemesters 1998/1999.*

I. Einleitung Der mit der berühmten Zürcher Rede Winston Churchills vom 19. September 1946 eingeläutete europäische Einigungsprozeß ist nicht nur für Europa, sondern weit darüber hinaus einer der bedeutendsten geschichtlichen Vorgänge des zu Ende gehenden 20. Jahrhunderts. Heute ist das Bemühen der Beteiligten darauf gerichtet, die europäische Einigung in das 21. Jahrhundert hinein unumkehrbar zu machen. Erscheint es gleichwohl bereits gewiß, daß der Weg, der mit den Verträgen von Paris 1951, j Rom 1957, Maastricht 1992 und nunmehr Am- 12 sterdam 1997 eingeschlagen wurde, nach 2000 eine definitive überstaatliche Verbindung Europas besiegelt? Die Integrationsverträge gelten auf unbegrenzte Zeit (Art. Q [51] EUV). Aber ist das bereits ein „ewiger Bund“ geworden, wie ihn die deutsche Verfassung 1871 für das damalige Reich postulierte?1 II. Europäischer „Zeitbruch“ um 2000 Wahrscheinlich ist es ein datenmäßiger Zufall, daß sich nach vielen Anzeichen um die Jahrhundertwende eine Art „europäischer Zeitenbruch“ abzeichnet. Nach ähnlichen Vorgängen in den letzten Jahren in England, Frankreich, Spanien, Italien hat die Bundestagswahl des 27. September 1998 auch in Deutschland zur Ablösung jener Politikergeneration geführt, für welche die unmittelbar miterlebte Kriegs- und Nachkriegszeit im Sinne eines „nie wieder“ zur Antriebskraft des europäischen Eini- j gungsprozesses wurde2. An ihre Stelle tre- 13 ten überall Jüngere, welche die Gründe und Anfänge der europäischen Integra* In der hier abgedruckten Form 2001 erstmals im Attempto-Verlag Tübingen erschienen als vom Autor selbständig herausgegebene Schrift. 1 BVerfGE 89, 155 ff. (190) = JZ 1993, 1100 (1105) – „Maastricht“ hat die Möglichkeit der Aufhebung des EUV aus der Souveränität der Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“ behauptet. Gute Gegengründe zu dieser völkerrechtlich geprägten Sicht bei Hilf, in: Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar EU/EGV, 5. Aufl. 1997, Art. 240, S. 5/782 ff. m. w. N. 2 Kirt, Europa im Zeitenwechsel: Der Alte Kontinent und das neue Jahrtausend, 1996.

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I. Grundfragen der europäischen Integration

tion nur aus den Schulbüchern und den nicht immer gerne angehörten Erzählungen der Älteren kennengelernt haben. Diese Jüngeren sind nicht Anti-Europäer. Das Eindrucksvolle an der europäischen Idee ist und bleibt, daß sie in den verschiedenen Ländern Europas zwischen den Generationen und zwischen den maßgeblichen politischen Lagern bei allen Unterschiedlichkeiten im Näheren das große einigende Band geblieben ist, welches immer wieder gemeinsame Zielsetzungen und gemeinsame Politik ermöglicht. Dennoch muß sich die Europa-Idee von Generation zu Generation immer wieder neu legitimieren. Das vielzitierte Wort Helmut Kohls, Europa sei eine „Sache von Krieg oder Frieden“, entsprang noch ganz dem Erlebnishorizont der letzten Nachkriegsgeneration. Es würde von seinen Nachfolgern kaum in dieser Weise wiederholt werden. Die Europäische Union als Aussöhnungs- oder Friedensprojekt wird heute nicht ernsthaft in Frage gestellt. Es ist zu einer Art selbstverständlichem „Acquis communautaire“ geworden, der von der älteren Generation übernommen wurde, aber nicht mehr für sich alleine zur Erklärung 14 dafür ausreicht, weshalb die Europäer ihre nationalen j Währungen zugunsten des Euro aufgeben oder eine schwer abschätzbare Zahl neuer Mitglieder in Mittelosteuropa und am Mittelmeer in die Gemeinschaft aufnehmen sollen. Kürzlich hat Außenminister Josef Fischer in Paris vor dem Auswärtigen Ausschuß der Französischen Nationalversammlung formuliert: „Vierzig Jahre lang haben wir Europa nach der Methode Monnet voran gebracht. Nach meiner Überzeugung sind wir jetzt an einem Punkt angelangt, wo unsere Bürger genauer wissen wollen, wohin die Reise geht.“ III. Unsicherheiten über die Finalität der Europäischen Union Die Frage nach der Finalität der Europäischen Union als Staatenbund, Staatenverbund, Gemeinschaft, Union oder gar Vereinigte Staaten von Europa ist oftmals gestellt worden.3 Eine gemeinsame Antwort fehlt bis heute. Josef Jsensee hat einmal angemerkt, daß die Europäische Gemeinschaft geradezu vom 15 „Charme des Unfertigen“ lebe. Sie sei mehr Prozeß als Organi- j sation und mehr Einigung als Einheit.4 Der Blick auf den erwähnten „europäischen Zeitenbruch“ zur Jahrhundertwende bestätigt auf seine Weise diesen Eindruck der Un3 Zuletzt etwa Hommelhoff/P. Kirchhof (Hrsg.), Der Staatenverbund der Europäischen Union, 1994; Lübbe, Abschied vom Superstaat, 1994; P. Huber, Das Ziel der europäischen Integration, 1995; Tomuschat, DVBl. 1996, 1073 ff.; Böckenförde, Welchen Weg geht Europa?, 1997; Mäder, Europa ohne Volk, Deutschland ohne Staat, 1998. 4 Isensee, Europa – die politische Erfindung eines Erdteils, in: P. Kirchhof/Schäfer/ Tietmeyer/Isensee, Europa als politische Idee und als rechtliche Form, 2. Aufl. 1994, 103 ff.

Der europäische Traum zur Jahrhundertwende

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ausgegorenheit des Integrationsprozesses. Einerseits hat die Erfolgsgeschichte der europäischen Einigung mit der noch einmal nach der „Methode Jean Monnet“ – dem Konzept einer überstaatlichen europäischen Rechtsgemeinschaft – vorgenommenen Gründung der Europäischen Währungsunion 1999 einen neuen Höhepunkt erreicht. Seit dem Beginn der Montan-Union 1952 war das Ausmaß der europäischen Integration niemals größer als heute mit der beginnenden Umwandlung der Gemeinschaft in ein „Euroland“ von zunächst elf Mitgliedern.5 Gleichzeitig scheint jedoch dieses in die Hände einer jüngeren Generation übergehende Europa ziemlich führungslos ins neue Jahrhundert zu stolpern, ungeachtet der anstehenden riesigen Aufgaben der Stabilisierung der Währungsunion und der Reformen der Agenda 2000, die den Weg zur Osterweiterung im kommenden Jahrzehnt ebnen sollen. Schon der Amsterdamer Vertrag von 1997 trug alle Züge ängstlicher Halbherzigkeit.6 Trotz einiger zöger- j licher Vergemein- 16 schaftungen in der europäischen Innen- und Außenpolitik und Stärkungen der Position des Europäischen Parlamentes blieb die in Maastricht versprochene Schaffung einer wirklichen politischen Union aus, welche die Gemeinschaft gegenüber den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts als Einheit handlungsfähig gemacht hätte. Natürlich hatte das alles seine Gründe. Mit der Erfüllung des Maastrichter Auftrages hätte die Union den Übergang in bundesstaatliche Strukturen ernsthaft in die Wege geleitet. Damit waren und sind die Mitgliedstaaten ungeachtet aller Lippenbekenntnisse überfordert – Deutschland genauso wie Frankreich oder England. Die „Idee Europa“ als Vision einer gemeinsamen Zukunft, die über den Tellerrand der Wirtschafts- und Währungsunion hinausblickt, erscheint zur Jahrhundertwende undeutlicher und ungewisser als seit langem.7 Dieser prekäre Zustand läßt sich nicht einfach mit dem Einfordern eines „politischen Willens“ zur weiteren Einigung auflösen. Derartige abstrakte Forderungen sind ebenso richtig wie praktisch folgenlos. Die gewisse Erschöpfung der europapolitischen Kräfte, die zum Fehlen einer allgemein überzeugenden Strategie für den Weg der Union in das neue Jahrhundert führt, hat tiefere Ursachen. Sie lassen sich nicht einfach mit j einem selbstauferlegten „Ruck“ be- 17 seitigen. Die große Wende seit 1989 hat mit dem Ende des Ost-West-Gegensatzes eine der wesentlichen Antriebskräfte der Europäischen Union aufgehoben. Vieles scheint weniger dringlich geworden zu sein. Das Maastrichter Projekt der Währungsunion war neben den Visionen der Vollendung des Binnenmarktes und einer dritten Weltwährung noch von der strategischen Überlegung getragen, Verbleib und Engagement Deutschlands in der Europäischen Union nach der Wiedervereinigung dauerhaft zu sichern.8 Seitdem ist in den 5

Oppermann, Europarecht, 2. Aufl. 1999, Rz. 44 ff. Lecheler, JuS 1998, 392 ff.; Streinz, JURA 1998, 57 ff. 7 Weidenfeld, Europas neues Gesicht, Internationale Politik 1/1997, 1 ff. 8 Tietmeyer, Währungsunion – Ein Weg ohne Umkehr, Integration 1992, 17 ff.; Möschel, JZ 1998, 217 ff. 6

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I. Grundfragen der europäischen Integration

90er Jahren manches von der älteren europäischen Geschichte zurückgekehrt. Die Welt sich vielfältig unterscheidender Nationalstaaten hat mancherorts neuen Reiz gewonnen. Schon bei der mühseligen Ratifikation des Maastricht-Vertrages wurde darauf hingewiesen, daß eigentlich nur die Einführung des Subsidiaritätsprinzips Maastricht „gerettet“ habe.9 Eigenständiges nationales Handeln hat mit diesem Zauberwort neuartige Legitimität gewonnen. Die „Einheit und Vielfalt“ Europas gehört heute zu den viel beschworenen Leitbildern über die Zukunft der Union. Die Regionen – in Deutschland die Bundesländer – entwickeln als 18 dritte Ebene unterhalb von Gemein- j schaft und Mitgliedstaaten Selbstbewußtsein und streben nach partieller Unionsunmittelbarkeit.10 IV. Unterschiede des nationalen Europa-Bewußtseins Nach dem Wegfall der einigenden Bedrohung aus dem Osten wird allmählich sichtbar, aus wie unterschiedlichen geschichtlichen Erfahrungen sich das europäische Bewußtsein vom Zweiten Weltkrieg bis heute gespeist hat.11 Das in Niederlage und Schmach heruntergekommene Deutschland hatte es nach 1945 am leichtesten, sich zur europäischen Idee zu bekennen12. Sie bot die erste und beste Gelegenheit zur moralischen und materiellen Rehabilitation. Das Land, das unter Hitler das Zerrbild einer „neuen Ordnung“ Europas im Sinne eines 19 hegemonial be- j herrschten und ausgebeuteten Großraumes vom Atlantik bis weit nach Rußland hinein angestrebt hatte, vermochte seinen Wandel zu demokratischen Verfassungsformen und den Willen zur Rückkehr in die europäische Staatengemeinschaft am besten durch die Bereitschaft zu dokumentieren, Souveränität an supranationale Einrichtungen abzugeben. Die Weitsicht von Robert Schuman und Jean Monnet eröffnete der Bundesrepublik seit 1950 in den neuartigen überstaatlichen Einrichtungen einen grundsätzlich gleichberechtigten Status. Mit dem fortschreitenden wirtschaftlichen Wiedererstarken wurde Westdeutschland immer mehr zu einem der Motoren für den Erfolg der europäischen Gemeinschaft. Seit der Wiedervereinigung 1990 ist Deutschland der größte Mitgliedstaat der Union geworden. Er befindet sich auf einer schwierigen und noch nicht abgeschlossenen Suche nach dem ihm gemäßen Platz in der Union.13 Aus dem früheren Bekenntnis zum europäischen Bundesstaat als Ziel der Integration ist die zögerliche Hinwendung zu einem „Staatenverbund“ geworden, wie es 9

Cass, The Word that saves Maastricht, CMLR 1992, 1107 ff. Hrbek/Weyand, Das Europa der Regionen, 1994; Müller-Graff, Die europäischen Regionen in der Verfassung der Europäischen Gemeinschaft, Integration 1997, 145 ff. 11 Schauer, Nationale und europäische Identität. Die unterschiedlichen Auffassungen in Deutschland, Frankreich und Großbritannien, Aus Politik und Zeitgeschichte, B 10/1997, 3 ff. 12 Cornides, Die Anfänge des europäischen föderalistischen Gedankens in Deutschland 1945–1949, Europa-Archiv 1951, 4243 ff.; Müller-Roschach, Die deutsche Europapolitik, 1974; Gaddum, Die deutsche Europapolitik in den achtziger Jahren, 1994. 10

Der europäische Traum zur Jahrhundertwende

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das Bundesverfassungsgericht 1993 formuliert hat.14 Mit dem neuen Art. 23 GG werden j seit einigen Jahren allerlei verfassungsrechtliche Vorbedingungen 20 ausformuliert, die erfüllt sein sollen, wenn Deutschland am „vereinten Europa“ weiter mitwirken soll.15 Nach der Jahrhundertwende wird Deutschland seine Europapolitik aus einer Berliner Republik fortsetzen, von der ungeachtet aller Beteuerungen heute noch niemand zu sagen vermag, wie weit sich die Kräfte der Geographie auf formal unveränderte Verfassungsstrukturen auswirken werden.16 Das Verhältnis der französischen Politik zum europäischen Einigungsprozeß war von Anfang an weniger von der Emotion als von einem hohen Maß an Staatsklugheit bestimmt.17 Von Schuman über de Gaulle bis Mitterand blieb unvergessen, daß Frankreich nach der Niederlage von 1940 in anderer Weise als seine Alliierten an den Tisch der Sieger zurückgekehrt war. In dem historischen Entschluß, im Unterschied zu 1918 den großen deutschen Nachbarn nicht niederhalten zu wollen, sondern ihm die Perspektive einer mehr und mehr gleichen Zusammen- j arbeit über die Mitgliedschaft in den europäischen Institutionen zu 21 eröffnen, spielten langfristige Sicherheitsinteressen Frankreichs eine große Rolle. Ebenso jedoch der Urtrieb der Grande Nation, über die Mitgliedschaft in der Gemeinschaft allmählich die Geschicke Europas in wirklicher Unabhängigkeit von den Vereinigten Staaten von Amerika maßgeblich mitbestimmen zu können. Frankreich war auf die USA in zwei Weltkriegen für den Sieg und im Kalten Krieg als Schutzmacht ungerne angewiesen gewesen. Die Verbindung mit dem neu erstarkten deutschen Partner mochte hier Perspektiven eines „europäischen Europas“ eröffnen. So kam es zur engen deutsch-französischen Zusammenarbeit, die über die Jahrzehnte hinweg für entscheidende Weichenstellungen beim Aufbau der Gemeinschaft sorgte, wenngleich der deutsche Partner im Verhältnis zu den USA nicht auf allmähliche Loslösung, sondern auf eine enge transatlantische Zusammenarbeit setzte.18

13 Badura, Der Bundesstaat Deutschland im Prozeß der Europäischen Integration, 1993; Baring, Das neue Deutschland in einer neuen Welt, in: FS Helmut Wagner, 1995, 13 ff. 14 BVerfGE 89, 155 ff. = JZ 1993, 1100 – „Maastricht“; Hommelhoff/P. Kirchhof (Anm. 3). 15 Scholz, NJW 1992, 2593 ff.; Di Fabio, Der Staat 1993, 191 ff.; Classen, Europarecht (Textsammlung), 15. Aufl. 1999, Einführung, XXIV. 16 Oppermann, Von der Bonner zu einer Berliner Republik?, in: Heckel (Hrsg.), Die innere Einheit Deutschlands inmitten der europäischen Einigung, 1996, 53 ff. 17 Poidevin (Hrsg.), Histoire des débuts de la construction européenne 1948–1950, 1986. 18 Oppermann/Dubouis, Du plan Schuman au Traité d’Amsterdam: la coopération franco-allemande, moteur de l’intégration européenne, in: La coopération franco-allemande en Europe à l’aube du XXIe siècle (Colloquium Juristische Fakultäten Aix-enProvence/Tübingen), 1998, 31 ff. (in diesem Band abgedruckt S. 154 ff.).

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I. Grundfragen der europäischen Integration

Seit Deutschland über die Wiedervereinigung und den Wegfall der östlichen Bedrohung in eine neue Größenordnung hineinzuwachsen scheint, kommt es allerdings in Paris zu neuem Nachdenken über den Fortgang der Integration. 22 Schwankun- j gen sind unübersehbar zwischen weiterem Vertrauen in die normative Kraft jahrzehntelang bewährter europäischer Institutionen, des europäischen Rechtes und nunmehr des europäischen Geldes und andererseits der Sorge um die Zukunft einer sich immer weiter vergrößernden Europäischen Union mit einem selbstbewußter werdenden Deutschland in seiner Mitte. Merkwürdig unterschiedliche Ängste werden heute im deutsch-französischen Verhältnis artikuliert. Während diesseits des Rheines gelegentlich Befürchtungen laut werden, aus dem Euro könne sich eine instabile monetäre Fremdherrschaft über Deutschland entwickeln, warnen in Frankreich schrille Stimmen davor, Euroland werde zu einem zweiten Heiligen Römischen Reich deutscher Nation werden, dessen Zentren Frankfurt und Berlin seien. Aus unterschiedlichen Quellen gespeist, stehen die französischen Ungewißheiten heute gelegentlich den deutschen nicht nach.19 Am tiefsten reichen die zwiespältigen Gefühle und Einstellungen gegenüber der Europäischen Gemeinschaft in Großbritannien.20 Schon der Entschluß, sich 23 dieser merkwürdigen kon- j tinentalen Konstruktion anzuschließen, ließ trotz Churchills bahnbrechender Zürcher Rede von 1946 bekanntlich über zwei Jahrzehnte auf sich warten. Auch nach dem Beitritt 1973 ist die zurückhaltende Einstellung der Briten zur Übertragung von Hoheitsrechten an Brüssel erhalten geblieben. Letzte Beispiele waren die vorläufige Ablehnung der Teilnahme an der Währungsunion oder die verbleibenden Sonderregelungen beim Personenverkehr in Amsterdam 1997. Die Bejahung des Nationalstaates ist in einem seit dem 11. Jahrhundert unbesiegten und unbesetzten Lande ungebrochen. Das Ziel einer „European Federation“ scheint unvorstellbar. Man darf dennoch nicht übersehen, daß das Vereinigte Königreich immer für europäische Überraschungen gut gewesen ist. „Gehen Sie von der Vorstellung aus, daß wir Engländer keinerlei Phantasie haben, uns aber von Tatsachen beeindrucken lassen.“ Dieses prophetische Wort eines englischen Diplomaten aus den sechziger Jahren hat weiter Gültigkeit.21 Wenn es sich herausstellt, daß die Dinge funktionieren, möchten die zunächst skeptischen Briten regelmäßig dabei sein. Sie votierten in den 60er Jahren für den Beitritt, als der zunächst bekämpfte Gemeinsame Markt Gestalt annahm. Die Regierung Blair übernahm in Amsterdam das fünf Jahre vorher noch vehement abgelehnte Sozialprotokoll zum EG-Vertrag. Nach vielen 24 Anzeichen wird Großbritannien rasch Mitglied der j Währungsunion, wenn sich 19 Vgl. etwa Hankel/Nälling/Schachtschneider/Starbatty, Die Euro-Klage, 1998; andererseits in Frankreich z. B. Bollmann, La tentation allemande, 1998. 20 Eine selbstkritische Analyse bei Denman, Missed Chances, 1996. Der Autor war britischer Botschafter in Washington. 21 Wiedergegeben bei Hallstein, Europäische Reden, 1979, 613.

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der Euro als Erfolg erweist. Im übrigen wird einmal unterschriebenes europäisches Recht in Großbritannien getreulicher beachtet als bei manchem „europäischen Musterknaben“. Das House of Lords hat anders als das deutsche Bundesverfassungsgericht noch nie Schwierigkeiten gehabt, den Auslegungsvorrang des EuGH für das Gemeinschaftsrecht uneingeschränkt anzuerkennen.22 Bei der termingerechten Umsetzung europäischer Richtlinien in nationales Recht nimmt Großbritannien einen Spitzenplatz ein. V. Europäischer und amerikanischer Traum Der hemmende Einfluß der nationalen Sonderwege zur europäischen Integration ist unbestreitbar. Der heute öfters artikulierte Euroskeptizismus nährt sich zum guten Teil hieraus. Hinzu tritt manch tiefer Verdruß über negative Begleiterscheinungen des Einigungsprozesses. Finanzielle Betrügereien bei den Strukturfonds der Gemeinschaft in Milliardenhöhe oder die jetzt sichtbar gewordene Vetternwirtschaft innerhalb der Brüsseler Kommissionsverwaltung bringen den europäischen Gedanken j in Mißkredit.23 Hier bedarf es raschen und entschlos- 25 senen Durchgreifens, damit nicht die immer noch bestehende grundlegende Übereinstimmung über die Sinnhaftigkeit der Integration ernsthaft beschädigt wird. Denn bei allen Unterschiedlichkeiten von Land zu Land oder von Generation zu Generation ist die politische Klasse, aber auch ein Großteil der Bevölkerung in den Mitgliedstaaten immer noch für „Europa“, auch wenn sich sofort hinterher das eine oder andere „aber“ anschließt.24 In Deutschland wegen zu hoher Zahlungen an den EU-Haushalt, in Frankreich wegen einer sich abzeichnenden Minderung des Einflusses in der Gemeinschaft oder in Großbritannien überhaupt gegenüber zunehmender Supranationalität. Dennoch möchte niemand das in Jahrzehnten Erreichte ernsthaft in Frage stellen, sich die Union mitsamt den vielen durch sie auferlegten Pflichten wegdenken, um zu einer lockeren, ins Belieben gestellten Zusammenarbeit souveräner Nationalstaaten ohne Kontrollen durch Brüssel und Luxemburg zurückzukehren. Trotz aller Ernüchterungen wird der europäische Traum um die Jahrhundertwende weitergeträumt. Am stärksten von den Beitrittskandidaten. „Die Vereini- j gung Europas, deren Zeu- 26 gen wir jetzt sind, ist immer ein polnischer Traum gewesen. Von Europa habe ich seit langem geträumt, denn große politische Entwürfe müssen von Träumen begleitet sein“. So die Worte des polnischen Außenministers Geremek anläßlich 22 Derby u. Renn, Urteil vom 27. März 1980, CMLR 1980, 229 ff.; weitere Nachweise bei Lord Stuart, The acceptance of Community Law in the English legal order, 1991. 23 Altmaier/Friedmann/Schüler/Theato, Binnenkontrolle und Betrugsbekämpfung in der Europäischen Union, 1996; Dauses, EuZW 1999, 97. 24 Viel dazu in dem Sammelband Biskup (Hrsg.), Dimensionen Europas, 1998.

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seiner Auszeichnung mit dem internationalen Karlspreis der Stadt Aachen 1998.25 Sie erinnern an den „American Dream“ vom größtmöglichen Glück für alle.26 Es ist die schöne Utopie von der leuchtenden „Stadt auf dem Berge“, vom neuen Zion, der neuen Gesellschaft auf einer neuen Erde, die tausendmal scheiterte und dennoch fortlebt. Ronald Reagan gelang es mit seinem ungebrochenen Glauben an die amerikanischen Werte, in den achtziger Jahren der vom Vietnam-Krieg gedemütigten amerikanischen Nation neues Selbstbewußtsein einzuflößen. Der europäische Traum ist bisher in den Seelen der Menschen Europas nicht so fest verankert.27 Dies hat vielerlei Gründe. Politische Träume gehen aus selbstverständlich bejahten Idealen und Überzeugungen hervor. Bei den aus ei27 ner Revolution zugunsten von Unabhängigkeit, Freiheit, Gleichheit und j einem Streben nach Glück entstandenen Vereinigten Staaten von Amerika war dies von Anfang an der Fall. Für Einwanderer aus vielen Nationen war der amerikanische Traum gleichermaßen bejahte Verheißung. E pluribus unum. Die europäischen Nationen definieren sich demgegenüber bis heute wesentlich aus den Unterschieden ihrer nationalen Geschichte und Kultur. Napoleon ist für die Franzosen eine große Gestalt ihrer Geschichte geblieben, in Deutschland eher ein fremder Eroberer. Bei Bismarck werden die Dinge andersherum gesehen. Die Besinnung auf das gemeinsam Europäische, das seit dem 19. Jahrhundert vom aufkommenden Nationalismus verschüttet wurde, setzte in Europa erst wieder seit den beiden Weltkriegen ein, vor allem nach 1945. Der von der Europäischen Gemeinschaft zunächst über die Wirtschaft definierte Einigungsprozeß war gleichwohl von Anfang an umfassender und tiefer gemeint.28 Schon bei Adenauer, de Gasperi und Schuman war die Integration ein politisches Unternehmen auf dem Fundament eines sich geistig und kulturell seit Jahrhunderten nahestehenden Raumes. Europa bekennt sich von der Satzung des Europarates 1949 bis hin zu den Eingangspassagen des Maastrichter Unionsvertrages von 28 1992 zu gemeinsamen Idealen und Werten, die aus den j Überlieferungen seiner Staatsverfassungen ablesbar sind: Persönliche und politische Freiheit und Herrschaft des Rechts als Grundlage der Demokratie, wie auch die Förderung sozialen und wirtschaftlichen Fortschritts.29 Die Erfolge der Wirtschafts- und Wäh25

FAZ, 22. Mai 1998. Zu ihm Lipset, American Exceptionalism, 1996. 27 So z. B. die Grundstimmung auf dem Berliner Schriftstellerkongreß „Europa – Wunschtraum oder Alptraum?“ am 10. Dezember 1998 (u. a. André Glucksmann, Claudio Magris, Brigitte Sauzay, Peter Schneider). 28 Mosler, Die europäische Integration aus der Sicht der Gründungsphase, in: FS Everling, 1995, 911 ff.; Loth, Die Verhandlungen über die Römischen Verträge, Integration 1997, 1 ff.; Bärenbrinker/Sakubowski, Die Geschichte der europäischen Integration, Integration 1998, 103 ff. 29 Präambel Satzung Europarat vom 5. Mai 1949; Präambel Vertrag über die Europäische Union vom 7. Februar 1992. 26

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rungsunion sind nicht Selbstzweck, sondern Unterpfand für die Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas, die ebensosehr als Rechts- und Friedensunion wie als Wirtschafts- und Wohlstandsunion gemeint ist. Die Verkörperung politischer Werte in der europäischen und amerikanischen Verfassung ist nicht unähnlich. Europäischer und amerikanischer Traum stehen einander nahe. VI. Alternativenlosigkeit der überstaatlichen Rechtsgemeinschaft Diese Antriebskräfte haben Europa in fünfzig Jahren weit geführt. Wenn man die Frage stellt, was die europäische Staatenwelt ein halbes Jahrhundert nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges vom Europa der zwanziger und dreißiger Jahre grundlegend unterscheidet, springt vor allem anderen die Existenz der j 29 Europäischen Gemeinschaft in die Augen.30 In aller bisherigen Unvollkommenheit ist es der Europäischen Union als gleichzeitige Wirtschafts- und politische Friedensordnung gelungen, wirtschaftlich-sozial erträgliche Verhältnisse in den Mitgliedstaaten zu gewährleisten und durch die Herrschaft des europäischen Rechtes Frieden zu stiften. Von außen her, aus den in den neunziger Jahren mit wirtschaftlicher Not und bitteren Nationalitätenkonflikten ringenden Regionen im Osten und Südosten des Kontinents betrachtet, erscheint das Brüsseler vereinte Europa wie eine Insel der Seligen, an deren Ufer sich die noch draußen Gebliebenen lieber heute als morgen retten würden.31 Die Antworten der Väter der europäischen Einigung auf die Verirrungen der Jahre 1914–1945 sind im Kern weiterhin gültig. Das Konzept der überstaatlichen europäischen Rechtsgemeinschaft („Methode Jean Monnet“) wird zu Unrecht als nur technokratisches Machwerk abgetan, mit dem sich Brüsseler Regulierungswut, unkontrollierte Eurokratenherrschaft, Demokratiedefizite und weitere Negativa verbinden. Auch wenn solche Skepsis nicht von ungefähr kommt, hat bis heute nach einer Überfülle praktisch-politischer und wissenschaftlich-theoretischer Debatten über die Rechtsgestalt der künftigen europäi- j schen Union noch niemand eine überzeu- 30 gende Alternative zum Modell supranationaler Integration zu entwickeln vermocht32 – also zu jener neuartigen Form zwischenstaatlicher Verbindung ihrer Mitglieder, die in eigentümlicher Schwebelage weder notwendig den europäischen Bundesstaat als Endziel anvisiert noch sich mit der begrenzten Bindekraft des Völkerrechts zufrieden geben möchte. Das Konzept der Rechtsgemeinschaft setzt statt dessen auf die unmittelbare und unbedingte Befolgung vorrangigen europäischen Rechtes – gleichermaßen durch die Mitgliedstaaten und Unionsbürger. 30

Buck (Hrsg.), Europa: Ein Kontinent gewinnt Gestalt, 1992. Stern (Hrsg.), Zukunftsprobleme der EU-Erweiterung nach Osten, 1998. 32 So neuerdings wieder überzeugend Hertel, Supranationalität als Verfassungsprinzip, 1999, bes. 250 ff., m. w. N. 31

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VII. Europäische Verfassung oder Fortsetzung konkreter Integrationsschritte? Die vielfache und im einzelnen oftmals berechtigte Kritik an dem heutigen Erscheinungsbild der europäischen Einrichtungen ist bekannt: Eine Kommission, die ihrer Aufgabe, europäischen Gemeinwillen zu bilden, heute schlechter als in früheren Jahren nachkommt, ein Parlament ohne europäisches Volk, ein Rat, in dem die Entscheidungsfindung mit der wachsenden Zahl der Mitgliedstaaten immer schwieriger geworden ist, und eine europäische Gerichtsbarkeit, 31 die um den Respekt vor dem Gemein- j schaftsrecht gelegentlich bereits ringen muß.33 Nicht zuletzt wiegt die Rüge schwer, daß die Union immer noch zu keiner für den Bürger verständlichen Verfassung gefunden hat, sondern sich weiterhin als ein selbst für den Spezialisten schwer durchschaubarer Flickenteppich von Verträgen darstellt.34 Der Vergleich mit Pufendorfs Verdikt über das Heilige Römische Reich Deutscher Nation vor 1806 als „Monstro simile“ wird öfters zitiert. Mit der Einführung des Euro, der jeden Bürger tagtäglich in Berührung mit „Europa“ bringen wird, scheint die Forderung nach europäischer Verfassungsgebung wieder aufzuleben. So großartig der Gedanke erscheint, endlich mit dem großen „Wurf“ einer Verfassungsgebung Europa zu vollenden, scheinen ihm vorläufig unüberwindliche Hindernisse im Wege zu liegen. Politisch ist nicht zu übersehen, daß in Deutschland wie in anderen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft die Zahl der Euroskeptiker zugenommen hat, die eher weniger, jedenfalls nicht noch mehr Europa fordern. Diese Richtung gruppiert sich insbesondere um das Subsidiaritätsprinzip, das in Deutschland mit seinen Bundesländern, aber auch in Großbritan32 nien, als j Schutzschild vor weiteren Vergemeinschaftungen angesehen wird.35 Von dort ist es nicht mehr weit bis zur ständigen Berufung auf die Achtung der in Art. F (6) EUV angesprochenen nationalen Identität der Mitgliedstaaten und noch weitergehend zur Forderung nach der Renationalisierung bereits europäisierter Bereiche wie der Agrarpolitik.36 Ihren ideellen Überbau hat diese eurokritische Sicht in der Deutung der europäischen Union als „Staatenverbund“ im Maastricht-Urteil des BVerfG von 1993 gefunden.37 Wer will, kann zwar auf die europafreundliche Seite dieser neuen Wortprägung abstellen: Staatenverbund ist 33

Z. B. v. Arnim, ZRP 1998, 135 ff. (145 f.). Zu den langjährigen Forderungen nach einer „echten“ europäischen Verfassung statt vieler Alber, Die Entwürfe des Europäischen Parlaments für eine europäische Verfassung, 1994; Läufer, Zur künftigen Verfassung der Europäischen Union, Integration 1994, 204 ff. 35 von Borries, EuR 1994, 263 ff.; K. W. Nörr/Oppermann (Hrsg.), Subsidiarität: Idee und Wirklichkeit, 1997. Differenzierend Lecheler, Einheitsbildung und Subsidiarität, in: Nettesheim/Schiera (Hrsg.), Der integrierte Staat, 1999, 95 ff. 36 Bleckmann, JZ 1997, 265 ff.; einleuchtend gegen übersteigerte Deutungen dieser Norm jedoch Haltern, Der Staat 1998, 591 ff. 34

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mehr als der klassisch-völkerrechtliche Staatenbund. Dann wäre Staatenverbund nicht viel anderes als die Gemeinschaft mit der Union im Sinne des Monnetschen Systems. Die Deutung durch den geistigen Vater, Bundesverfassungsrichter Paul Kirchhof zielt jedoch eher auf eine gewisse Rücknahme des Supranationalen. Es wird der freiwillige und begrenzte Zusammenschluß der Mitgliedstaaten betont, die weniger Diener der j Verträge sind als ihre Herren. Das 33 Schicksal der Union bleibt letztlich ihrem souveränen Willen unterworfen. Die nationalen Gerichte „kooperieren“ mit der europäischen Gerichtsbarkeit.38 Diese in vielem weiter diskussionswürdige Fundamentaldebatte über den Grundcharakter der Integration soll hier nicht aufgenommen werden. Die gewichtige Sicht des höchsten deutschen Gerichtes macht jedenfalls deutlich, wie weit wir in der europapolitischen Wirklichkeit vom Konsens über eine europäische Verfassung im eigentlichen Sinne des Wortes entfernt sind. Solange die Mitgliedstaaten die entscheidende Instanz für die Vertragsfortentwicklung bleiben, erscheint kaum vorstellbar, daß sie die unzähligen politischen Kompromisse, die Inhalt der Verträge sind, in einem kühnen Willensakt beiseite schieben, um zu einer kurzen und für den Bürger lesbaren Europa-Verfassung zu gelangen. Hierzu bedürfte es der Einberufung einer europäischen verfassunggebenden Versammlung.39 Dies würde jedoch den europaweiten Entschluß voraussetzen, den Weg in die Bundesstaatlichkeit einzuschlagen, wofür bisher alle j 34 Voraussetzungen fehlen. Auf einem anderen Blatte steht, ob nicht wenigstens gewisse „technische“ Vereinfachungen der in Jahrzehnten überkompliziert geratenen Vertragstexte möglich erscheinen.40 Welche Wege bleiben dann zur Fortentwicklung der Union zur Jahrhundertwende? Wenn nicht alles täuscht, können auch künftig nur begrenzte, aus praktischen Bedürfnissen oder Notwendigkeiten sich ergebende Schritte zum weiteren Ausbau der Gemeinschaft führen. Die Agenda 2000, welche die für 1999 anstehenden Reformen der Agrar-, Regional- und Finanzpolitik sowie bei den Umgestaltungen der Organe als Konzept der Europäischen Kommission auf den Tisch gelegt hat, setzt verständlicherweise nicht auf einen „großen Plan“, son37 BVerfGE 89, 155 ff. = JZ 1993, 1100 – „Maastricht“; Hommelhoff/P. Kirchhof (Anm. 3). 38 P. Kirchhof, JZ 1998, 965 ff.; demgegenüber die weniger national-souveränitätsbetonende Sicht bei Everling, Zur Stellung der Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“, FS Bernhardt, 1995, 1161 ff. oder Graf Vitzthum, JZ 1998, 161 ff. 39 Bieber, Europa braucht den großen Schiffsputz – Eine Unionsversammlung wäre der richtige Verfassungsgeber, FAZ vom 3. Dezember 1994. 40 1996/97 sind von zwei Sachverständigengruppen „konsolidierte Fassungen“ der Integrationsverträge in einem einzigen Vertrag ohne inhaltliche Änderungen erarbeitet worden, hierzu v. Bogdandy/Ehlermann, Consolidation of the European Treaties, CMLRev. 1996, 1107 ff. Die 42. Erklärung zur Schlußakte des Amsterdamer Vertrages hat diese „technischen Arbeiten“ begrüßt, ihnen jedoch Rechtswirkung abgesprochen, bis es zu einer förmlichen Ratifikation dieser Texte kommt.

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dern auf die stückweise Bewältigung konkreter Probleme.41 Die Qualität der 35 Lösungen wird freilich auch künftig entscheidend davon abhän- j gen, in welchem Ausmaß sich die Mitgliedstaaten auf die bewährten Methoden der überstaatlichen Rechtsgemeinschaft zu einigen vermögen und nicht wie in Amsterdam 1997 in halbherzigen Mischkonstruktionen stecken bleiben. Es klingt wenig originell, bleibt aber nach allen Erfahrungen richtig: Da die Bereitschaft der europäischen Nationen zu einem staatlichen Zusammenschluß um die Jahrhundertwende kurz- und mittelfristig nicht gegeben erscheint, gibt es für die Bewältigung der vor der Europäischen Union liegenden Aufgaben keine erfolgversprechende Alternative zur Schritt für Schritt voranschreitenden Integrationsmethode. Anstelle des von manchen erhofften „großen Wurfes“ einer europäischen Verfassungsurkunde wird es auch nach 2000 beim geduldigen Bohren harter Bretter bleiben, das den Aufbau der Europäischen Gemeinschaft seit Jahrzehnten charakterisiert.42 VIII. Herausforderungen der Europäischen Union nach 2000 Eines scheint jedoch auch in der Phase der Unsicherheiten und Neuorientie36 rungen gewiß, in der sich die Union zur Jahrhun- j dertwende befindet. Es gibt sinnvollerweise nur den Weg nach vorne im Sinne weiterer Vertiefung der Europäischen Union, Hand in Hand mit ihrer geographischen Erweiterung. Es sei denn, die Staaten Europas wollten zu den „Verlierern des 21. Jahrhunderts gehören“, wie es vor einigen Jahren der angelsächsische Zukunftshistoriker Paul Kennedy formuliert hat.43 Es hat gewiß seine guten Gründe, daß mit der Einführung des Subsidiaritätsprinzips in den Maastrichter Unionsvertrag 1992 eine Besinnung darauf eingesetzt hat, daß die europäische Integration nicht Einbahnstraße in Richtung von immer mehr Brüsseler Zentralisierung und Regulierung sein sollte.44 Die EG darf von den Bürgern nicht als ferne Regulierungsmaschinerie empfunden werden, wenn sie als erstrebenswertes Ziel akzeptiert sein will. In den Vereinigten Staaten mit ihrer ganz anderen Entstehungsgeschichte macht sich der amerikanische Traum am Ganzen fest, an einem einzigen Land mit unbegrenzten Möglichkeiten und einer mittlerweile zu einem Heiligtum erstarkten Verfassung. Demgegenüber ist in Europa die Heimat der Menschen immer noch der eigene Mitgliedstaat, in Bundesstaaten wie Deutschland in vielem 41 Agenda 2000 – Eine stärkere und erweiterte Union = Dok. KOM (97) 2000 endg., Text auch in Bulletin EU, Beilage 5/97. Inzwischen ergänzt durch das Arbeitsprogramm der Kommission für 1999/Politische Prioritäten, ABl. 1998, C 366/1. 42 Ähnlich Rittberger, Europe at twentieth century’s end – many puzzles, few answers, Praxis International 1993, 285 ff.; Schwarze, JZ 1998, 1077 ff. 43 Kennedy, In Vorbereitung auf das 21. Jahrhundert, 1993, 328 ff. (= „Europa und die Zukunft“). 44 Seit 1993 wurden Vorschläge der Kommission verschiedentlich aus Gründen der Subsidiarität zurückgezogen, vgl. EuZW 1995, 558.

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sogar das Land, in der Sprache der Ge- j meinschaft die Region. Auch Euroland 37 wird so schnell nicht Vaterland werden, mag eine erfolgreiche Währungsunion auch wichtige Impulse zur europäischen Bewußtseinsbildung vermitteln.45 Aber auch wenn man dies alles mitbedenkt, hat der europäische Einigungsprozeß am Ende des Jahrhunderts eine Stufe der Intensität erreicht, von der aus ein Zurück nur zum Schaden des Ganzen und seiner Teile denkbar wäre. Das Zusammenwachsen Europas in die festen Strukturen der Rechtsgemeinschaft fügt sich heute in die weltweit staatenübergreifende Regionalisierung und Globalisierung ein, welche das Heraufkommen der internationalen Verkehrs- und Kommunikationsgesellschaft mit sich gebracht hat.46 Auf diese Weise liegt vor der Union, ob sie es will oder nicht, zur Jahrhundertwende ein gerütteltes Maß kurzund längerfristiger Herausforderungen. „Ein europäisches Projekt treibt das nächste an“, wie es Österreichs Außenminister Schüssel kürzlich formuliert hat. Die EU sieht sich insbesondere vor vier Mega-Aufgaben im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Die Art und Weise, wie sie sich dabei handlungsfähig erweist, wird ebenso über das j Wohlergehen der Bürger innerhalb der Union wie 38 über die Stellung Europas in der Welt des 21. Jahrhunderts entscheiden: 1. Kurzfristig wird die von der Kommission „Agenda 2000“ getaufte Politik-, Finanz- und Institutionenreform mit Blick auf die Osterweiterung das Bild bestimmen, welches die Europäische Union beim Übertritt in das Jahr 2000 abgibt. 2. Mittelfristig wird die Sicherstellung eines Erfolges des Euro wesentliche Voraussetzung dafür sein, daß sich die bisherige Erfolgsgeschichte des Einigungsprozesses fortsetzt. 3. Weniger spektakulär, aber für die Dauerhaftigkeit der Gemeinschaftskonstruktion entscheidend, sind die Fortschritte bei der Europäisierung der nationalen Rechtsordnungen zu einem Jus Commune Europaeum, welches über das Gemeinschaftsrecht im engeren Sinne hinausreicht. 4. Wird Europa sich in die Lage versetzen, im 21. Jahrhundert als gleichrangiger Partner in den Weltbeziehungen neben die Vereinigten Staaten und andere große Kraftfelder der Erde zu treten? Das wird davon abhängen, ob die innere Verbundenheit der Mitgliedstaaten der Union demnächst so weit reicht, nicht nur den großen Binnenmarkt und vereinheitlichten Währungsraum zu einer festen Größe in der Weltwirtschaft zu entwickeln, sondern darüber hinaus gesamtpolitisch einen gemeinsamen außenpolitischen Handlungswillen Europas zu schaffen. j 45 Horn, Währungsunion als Instrument der Integration, in: Festschrift Mestmäcker, 1996, 381 ff. 46 Oppermann, The International Economic Order: Regionalization versus Globalization, Law and State 58 (1998), 36 ff.

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IX. Agenda 2000 – Quadratur des Zirkels?

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Mit der Agenda 2000 soll insbesondere die Finanzierung der europäischen Union für die Jahre 2000–2006 auf neue Grundlagen gestellt werden.47 Dies ist untrennbar mit erheblichen Umgestaltungen der beiden kostspieligsten Titel des Unionshaushaltes verknüpft, Landwirtschaft und Regionalpolitik. Sie verschlingen derzeit ungefähr 80% des 85-Milliarden-Euro-Haushaltes der Union. Gleichzeitig bleibt jedoch zu bedenken, daß die Osterweiterung der EU auch bei Knauserigkeit der Gemeinschaft nicht zum Nulltarif zu haben sein wird.48 Es kommt hinzu, daß Deutschland seine über die Jahre immer mehr gewachsene Nettozahlerrolle in Höhe von ungefähr 22 Milliarden DM aus sehr verständlichen Gründen zumindest in der Tendenz verändert sehen möchte.49 Es wird der erste europäische Härtetest für die neue Bundesregierung sein, diese wie eine Quadratur des Zirkels auseinanderstrebenden Konzepte und Forderun40 gen in einen von den europäischen Partnern akzeptierten Kom- j promiß zu bringen. Dieser Teil der Agenda 2000 ist gleichzeitig in einem grundsätzlichen Sinn der Test darüber, inwieweit die Staaten der Gemeinschaft mit Blick auf das europäische Ganze weiterhin fähig sind, wirtschaftliche und finanzielle Eigeninteressen bis zu einem bestimmten Grade zurückzustellen. Das gilt für die Bereitschaft bisher landwirtschaftlich und regional begünstigter Länder des Westens und Südens der Gemeinschaft, eine gerechtere Verteilung und wohl auch Senkung der aus Brüssel fließenden Mittel hinzunehmen. Ebenso muß jedoch in Staaten wie Deutschland oder Großbritannien anerkannt bleiben, daß die heutigen Einzahlungen der Mitgliedstaaten in den europäischen Haushalt unbeschadet begrenzter Korrekturen im großen und ganzen ihrer wirtschaftlichen Leistungskraft entsprechen.50 Das eigentliche Problem der Finanzreform liegt in einem gerechteren Ausgleich bei den Rückflüssen aus dem Gemeinschaftshaushalt. In diesem Zusammenhang muß gleichwohl akzeptiert bleiben, daß das Finanzsystem der Union auf dem Prinzip eines vorbundesstaatlichen Finanzausgleichs zwischen unterschiedlich leistungskräftigen und bedürftigen Staaten der 41 Gemeinschaft beruht.51 Je mehr man sich einer Egalisie- j rung zwischen Einund Auszahlungen nähert („I want my money back“), führt sich das System ad absurdum. Solche finanzpolitischen Einsichten sind freilich nur zu erwarten, 47

Agenda 2000 (Anm. 41), Bulletin EU, Beilage 5/97, 567 ff. Schätzungen der Kommission beliefen sich 1997 auf finanzielle Lasten der EG in Höhe von ca. 150 Mia. DM aus der Osterweiterung bis 2006. Vgl. auch Randzio/ Plath/Friedmann, Unternehmen Osteuropa. Eine Herausforderung für die EG, 1994. 49 Stark, Die künftige Finanzierung des EU-Haushaltes und der Beitrag der Bundesrepublik Deutschland, Integration 1996, 159 ff. 50 Ratsbeschluß 94/728 vom 31. Oktober 1994 über das System der Eigenmittel der Europäischen Gemeinschaften, ABl. 1994, L 293/9; Henke, Die Finanzierung der Europäischen Union, Wirtschaftsdienst 1997, 45 ff. 51 Häde, Finanzausgleich, 1996; Walthers, Europäischer Finanzausgleich, 1996. 48

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wenn sich der Sinn der Mitgliedschaft in der Gemeinschaft für ihre Glieder nicht in einem Rechenexempel erschöpft, sondern gemeinsame Aufgaben und Interessen gesehen werden, für die finanzielle Opfer sinnvoll erscheinen. Auf eine noch strengere Probe wird das Europabewußtsein der Mitgliedstaaten demnächst bei der unausweichlichen Umgestaltung der Gemeinschaftsorgane vor dem Vollzug der Osterweiterung gestellt werden. Mit dem fragwürdigen Beschluß von Amsterdam 1997, die Institutionenreform bis zur Aufnahme des 21. Mitgliedstaates aufzuschieben, hat sich die Gemeinschaft eine letzte Galgenfrist erkauft.52 Jenseits einer bestimmten Größenordnung, die bei 21 Mitgliedern spätestens erreicht ist, kann die Union ihre Organe nicht mehr wie bisher durch einfache arithmetische Fortschreibungen anpassen, wenn sie handlungsfähig bleiben will. Ein europäisches Parlament mit 700 Abgeordneten mag gerade noch denkbar sein.53 Auf mehr als 1000 kann es nach einem Beitritt Polens, der Tschechischen Republik, Ungarns u. a. nicht mehr anwachsen. Muß dann nicht aber j Deutschland auf einen Teil seiner gerade mühsam erreichten 42 99 Straßburger Abgeordneten wieder verzichten? Die angestrebte Bürgernähe der Union muß desto mehr leiden, je größer eine in die Hunderttausende reichende anonyme Wählerschaft anwächst, die der einzelne Abgeordnete des Europäischen Parlaments repräsentieren soll. Ebenso erscheint eine Europäische Kommission mit über 30 Mitgliedern als Exekutiv-Organ nicht mehr handlungsfähig. Sind dann aber kleinere Mitgliedstaaten wie z. B. Finnland, Österreich oder Portugal eines Tages bereit, in diesem Brüsseler Zentralorgan einer „Groß-Gemeinschaft“ über längere Zeiträume nicht mehr vertreten zu sein? Ähnliche Fragen kann man im Hinblick auf die Zusammensetzung und für die Stimmenwägung bei Mehrheitsentscheidungen des letztentscheidenden Ministerrats stellen. Diese Probleme sind in vorbereitenden Papieren oder auf wissenschaftlichen Tagungen seit längerem erkannt und behandelt worden. Auf dem „Reißbrett“ gibt es verschiedene plausible Lösungsvorschläge zur notwendigen Verkleinerung und inneren Umgestaltung der Organe.54 Sie setzen freilich sämtlich bei den Betroffenen „europäischen Geist“ voraus, d.h. die Fähigkeit, daß man sich künftig in den Mitglied- j staaten vor- 43 stellen kann, im Umfang der eigenen Repräsentanz und Einflußmöglichkeiten heruntergestuft zu werden, ja sogar in wichtigen Organen längere Zeit nicht mehr durch Angehörige der eigenen Nationalität vertreten zu sein. Portugal müßte beispielsweise darauf vertrauen können, daß das spanische Kommissionsmitglied sich seiner Interessen hinreichend annimmt, um ein noch harmloses 52 1. Amsterdamer Protokoll zum EUV/EGV/EGKSV/EAGV über die Organe im Hinblick auf die Erweiterung der Union. 53 So die Festlegung in Art. 189 EGV (Amsterdamer Fassung). 54 Wilming, Institutionelle Konsequenzen einer Erweiterung der Europäischen Union, 1995; Bieber, Institutionelle Voraussetzungen der Osterweiterung der Europäischen Union (Gutachten), 1996.

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Beispiel zu wählen. Für das Europäische Parlament stellt sich die viel erörterte und in Deutschland meist verneinte Frage, ob sich in Straßburg ein europäischer Gemeinwille auch ohne homogenes europäisches Volk zu bilden vermag.55 Sind Entscheidungen beispielsweise in Steuerfragen vorstellbar, die von den Regierungen und der Bevölkerung von Kopenhagen bis Palermo oder von Brest bis Brest-Litowsk verstanden und akzeptiert werden? Jüngste Erfahrungen in diesem Zusammenhang bei dem Anfang 1999 gescheiterten, weithin nach Nationalitätsgrenzen verlaufenen Mißtrauensvotum des Europäischen Parlamentes gegen die Kommission Santer vermögen nicht hoffnungsfroh zu stimmen. Wie auch immer: Man muß der Tatsache ins Auge sehen, daß eine um Mittel- und Osteuropa erweiterte Gemeinschaft eine neuartige Europäisierung der Willensbildung in den Brüsseler und Straßburger Organen voraussetzt. Erstmalig ist dieses 44 Experiment bei j der Zusammensetzung des Direktoriums der Europäischen Zentralbank in die Tat umgesetzt worden.56 X. Langfristige Stabilisierung des Euro? Die europäische Währungsunion ist seit dem 1. Januar 1999 in Kraft, auch wenn es in der technischen Abwicklung noch einige Jahre dauern wird, bis dies der letzte Bürger von Euroland beim Blick in seinen Geldbeutel bemerkt. Die vielen Stimmen politischer und wirtschaftswissenschaftlicher Skepsis, die den Weg in die Währungsunion in den neunziger Jahren insbesondere in Deutschland begleitet hatten, sind seit dem auf leisen Sohlen erfolgten Start der Europawährung erst einmal verstummt.57 Dennoch ist dieses wichtigste europäische Projekt seit dem Abschluß der Römischen Verträge 1957 ein Gang ins Ungewisse geblieben. Wird der Euro im kommenden Jahrzehnt neben dem Dollar zum sicheren Hafen, in den internationale Kapitalströme vertrauensvoll gelenkt werden? Währungs- und wirtschaftspolitische Analyse hat seit langem betont und schlüssig nachgewiesen, daß die Stabilität des Euro nur dann als längerfri45 stig gesi- j chert gelten kann, wenn es gelingt, die noch weithin nationalen, in der Vergangenheit oftmals zentrifugalen Haushalts-, Sozial- und Wirtschaftspolitiken in den Mitgliedstaaten mit der Frankfurter Geldpolitik in Gleichklang zu halten.58 Der politische Wille hierzu hat in dem vor allem von Deutschland erkämpften Stabilitäts- und Wachstumspakt 1997 gemeinschaftsrechtlichen Ausdruck gefunden.59 Aber wird die Stringenz und normative Kraft dieser beiden 55 Suski, Das Europäische Parlament – Volksvertretung ohne Volk und Macht?, 1996, m. w. N. 56 Oppermann, Europarecht, 2. Aufl. 1999, Rz. 416 ff. 57 Vorher etwa Caesar/Scharrer (Hrsg.), Maastricht: Königsweg oder Irrweg zur Wirtschafts- und Währungsunion?, 1995. 58 Tietmeyer, Die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion. Eine deutsche Sicht, 1992.

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europäischen Verordnungen ausreichen, in ihrer Anwendung alte, unterschiedliche Gewöhnungen und Gewohnheiten eines früher oft unterschiedlichen Wirtschafts- und Sozialgebarens in den einzelnen Mitgliedstaaten im Interesse europäischer Preisstabilität hinreichend zu bändigen? Auch die Beantwortung dieser für die Geschicke von Euroland zentralen Frage entscheidet sich letztlich daran, ob die verantwortlichen Regierungen der Mitgliedstaaten im Verein mit der Europäischen Zentralbank und der Europäischen Kommission gewillt und fähig sein werden, die dem Vertrage zugrundeliegende wirtschafts- und währungspolitische Stabilitätsphilosophie sich gemeinsam zu eigen zu machen und vor allem zu Hause durchzusetzen. Im günstigsten Falle entwickeln sich aus den hier zu j 46 erwartenden Spannungslagen Zwänge zu weiteren Vergemeinschaftungen der verschiedenen wirtschaftspolitischen Politikfelder.60 Damit wären freilich tiefe Eingriffe in das Wirtschafts- und Sozialleben der Staaten verbunden. So oder so: Auch der Erfolg des Euro und der damit erfolgte Übertritt der Union in eine neue bürgernähere Stufe ihrer Entwicklung bleibt letztlich von der weiteren Stärkung übergreifenden europäischen Verantwortungsbewußtseins abhängig. XI. Europäische Rechtskultur als Fundament der Union Seit geraumer Zeit hat innerhalb der Gemeinschaft mit der Annäherung ihrer Rechtsordnungen eine Entwicklung eingesetzt, die, wenn nicht alles täuscht, sich auch nach der Jahrhundertwende fortsetzen wird. Grundlage der Europäischen Union ist vor allem anderen eine unbedingt und unmittelbar geltende Rechtsordnung. Die Gemeinschaft ist Rechtsgemeinschaft, nicht mehr und nicht weniger.61 Mit der Bejahung und Durchsetzung des eigentlichen Europarechts steht und fällt immer noch alles. Die Union verfügt trotz einiger ihr jüngst verliehener j finanzieller Sanktionsmittel über keinen wirklichen Büttel, mit dem 47 sie sich notfalls gegen widerstrebende Mitgliedstaaten durchsetzen könnte.62 Ihre ultima ratio ist der Spruch des Gerichtshofes. Seine Weisheit soll den Respekt vor dem Gemeinschaftsrecht garantieren. Das funktioniert bisher einigermaßen, zumal das Interessengeflecht zwischen den Mitgliedstaaten mittlerweile so dicht geworden ist, daß jeder weiß, daß er sich durch Rechtsungehorsam, der rasch Nachahmung finden könnte, selbst schädigen würde.63

59 Verordnungen 1466 und 1467/97 vom 7. Juli 1997, ABl. 1997, L 209/1, 6; Hahn, Der Stabilitätspakt für die Europäische Währungsunion, 1997. 60 Issing, Von der D-Mark zum Euro, 1998; Kloten, Der Euro: Folgen für Deutschland und Europa, 1998. 61 Zuleeg, NJW 1994, 545 ff. 62 Zu den seit 1992 geschaffenen „punitiven Sanktionen“ gegen rechtsungehorsame Mitgliedstaaten in Gestalt von Pauschalbeträgen oder Zwangsgeldern nach Art. 171 Abs. 2 (228 Abs. 2) EGV Mecking, EuR 1995, 141 ff.; Heitzer, Punitive Sanktionen im europäischen Gemeinschaftsrecht, 1997.

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I. Grundfragen der europäischen Integration

Neben dem Geltungsanspruch des europäischen Gemeinschaftsrechtes im engeren Sinne ist mittlerweile der Beginn einer wichtigen zweiten Stufe europäischer Rechtsentwicklung auszumachen. Seit den fünfziger Jahren hatte das sekundäre Europarecht zunächst die Fundamente der Rechtsgemeinschaft in Ausformung der Vorgaben der europäischen Vertragsverfassung gelegt. Der Gemeinsame Zolltarif, die Agrarmarktordnungen, Freizügigkeitsregeln, ein euro48 päisches Wettbewerbsregime j und vieles andere mehr zeugen hiervon. Dieser Prozeß dauert an. Die vielbeklagte Brüsseler „Regulierungswut“ hat allerdings in den neunziger Jahren seit Einführung des Subsidiaritätsprinzips etwas nachgelassen.64 Diese Ausbildung des Gemeinschaftsrechtes im engeren Sinne wird nunmehr seit etlichen Jahren durch eine andere Form europäisch inspirierter nationaler Rechtsetzung ergänzt und vertieft. Der Präsident des Gerichtshofes, Rodriguez Iglesias, hat sie in seinem Festvortrag auf dem Bremer Juristentag 1998 als „Europäisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnung“ eindrucksvoll umschrieben.65 Sie wird zwar ihrerseits im EG-Vertrag an ungefähr 20 Stellen als Rechtsangleichung zur Förderung des Binnenmarktes angeschoben, vor allem durch europäische Richtlinien.66 Dieser Prozeß hat sich jedoch im Laufe der Zeit immer stärker von seinen gemeinschaftsrechtlichen Ursprüngen verselbständigt. „Europäisierung der Rechtsordnung“ ist mehr und mehr zu einer Su49 che nach den gemeinsamen europäischen j Wurzeln des in den Mitgliedstaaten geltenden Rechtes geworden. In wichtigen Fällen wurden auf diese Weise bereits empfindliche Lücken im Rechtssystem der Gemeinschaft geschlossen. Bekannt ist vor allem die seit den sechziger Jahren erfolgte richterrechtliche Findung von Gemeinschaftsgrundrechten durch den Gerichtshof aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten.67 In den neunziger Jahren hat der Luxemburger Hof in ähnlicher Kühnheit die Haftung der Mitgliedstaaten bei Verstößen gegen Gemeinschaftsrecht in Gestalt einer ungeschriebenen europäischen Ergänzung der nationalen Staatshaftungssysteme begründet.68 Hierüber weit hinaus hat sich die Rechtsangleichung jedoch inzwischen in ver63 Zum halbwegs befriedigenden Stand der Respektierung des Gemeinschaftsrechtes durch die Mitgliedstaaten vgI. den 14. Jahresbericht der Kommission über die Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts, ABl. 1997, C 332/72. 64 Oben Anm. 44. 65 Iglesias, NJW 1999, 1 ff. Ein wichtiges Beispiel ist die europäische Prozeßrechtsvereinheitlichung über das Brüsseler Gerichtsstands- und Vollstreckungsabkommen (EuGVÜ), hierzu Heß, JZ 1998, 1021 ff. 66 Rengeling (Hrsg.), Europäisierung des Rechts, 1996; Kreuzer/Scheuing/Sieber, Die Europäisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen in der Europäischen Union, 1997. 67 EuGHE 1969, 425, Rs. 29/69 „Stauder-Ulm“, st. Rspr.; Everling, Der Beitrag des Europäischen Gerichtshofes zur europäischen Grundrechtsgemeinschaft, 1995; Kokott, AöR 1996, 599 ff.

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schiedenen Formen als der umfassendste Aspekt der Gemeinschaftsaktion überhaupt erwiesen. Dabei ist seit den siebziger Jahren an die Stelle ehrgeizig perfektionierender Harmonisierungen oftmals die Technik der gegenseitigen Anerkennung der sich nahestehenden Rechtsordnungen getreten. Mit dem „Prinzip des gegenseitigen Vertrauens“ im Sinne der „Cassis de Dijon“-Rechtsprechung und ihrer Fortentwicklung wird zu- j nächst das für den Binnenmarkt Notwen- 50 dige in Gestalt gegenseitiger Öffnung der Märkte getan.69 Es bleibt auf diese Weise Zeit für spätere wirkliche Rechtsharmonisierung, wenn sie sich denn als nützlich erweist. Über die ursprünglichen binnenmarktrelevanten Schwerpunkte hinaus gibt es heute bereits kaum einen größeren Bereich des privaten, öffentlichen und inzwischen auch des Strafrechts, der nicht in den Sog des Europäisierungsprozesses geraten wäre.70 Neben die unmittelbar durch die Gemeinschaft angestoßenen Maßnahmen sind völkerrechtliche Angleichungsverträge getreten.71 Trotz manch fortbestehender Schwierigkeiten wie bei der seit Jahrzehnten stockenden Schaffung einer europäischen Aktiengesellschaft ist bei den Bemühungen um die Europäisierung immer neuerer Rechtsbereiche seit den achtziger und neunziger Jahren geradezu eine Art Aufbruchstimmung festzustellen. Stück für Stück werden die Konturen eines europäischen Rechtsraumes sichtbar. Bei der Suche nach dem gemeinen europäischen Recht kann nicht selten auf historische Ähnlichkeiten zurückgegriffen werden. Der j Gerichtshof stößt etwa bei 51 der Suche nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Gemeinschaftsrechts immer wieder auf Tatbestände, bei denen die verschiedenen nationalen Rechte seit langem zu sehr ähnlichen Lösungen der aufgeworfenen Fragen gekommen sind. Wahrscheinlich sind diese gemeinsamen Tiefenstrukturen europäischer Rechtskultur ein besonders wichtiges Anzeichen dafür, daß die Errichtung der überstaatlichen Rechtsgemeinschaft kein seelenloses technokratisches Konstrukt darstellt, sondern an Traditionen anknüpfen kann, deren Wurzeln bis in die Zeiten Bolognas und des römischen corpus iuris zurückreichen.72 Für eine Europäische Union, die sich ausdrücklich vorgenommen hat, auf unbestimmte Zeit in die Zukunft hinein zu bestehen, bedeuten solche Fundamente vergleichbarer Rechtsüberzeugung das beste Unterpfand dafür, daß die Gemeinschaft trotz sich immer wiederholender Schwierigkeiten und Krisen auf sicherem Grund ruht. j 68 EuGHE 1991, I-5403 ff. = JZ 1992, 305 (dazu Hailbronner, 284), verb. Rs. C-6 u. 9/90 „Francovich“, st. Rspr.; Ossenbühl, DVBl. 1992, 993 ff.; Bröhmer, JuS 1997, 117 ff. 69 EuGHE 1974, 837 ff., Rs. 8/74 „Dassonville“; 1979, 649 ff., Rs. 120/78 „Cassis de Dijon“; 1993, I-6097 ff. = JZ 1994, 358, verb. Rs. C-267 u. 268/91 „Keck“, st. Rspr.; Dreher, JZ 1999, 105 ff. 70 Gesamtüberblick bei Oppermann, Europarecht, 2. Aufl. 1999, Rz. 1234 ff. 71 Sie reichen inzwischen weit über die in Art. 220 (293) EGV benannten Bereiche hinaus; Götz, JZ 1994, 265 ff. 72 Zimmermann, JZ 1992, 8 ff.; Häberle, Europäische Rechtskultur, 1997; Stolleis, Europa – Seine historischen Wurzeln und seine künftige Verfassung, 1997.

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I. Grundfragen der europäischen Integration

XII. Europa in der Welt: Wirtschaftlicher Riese und politischer Zwerg?

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Zu den großen Fragen, mit denen das alte Jahrhundert die Europäische Union entläßt, gehört diejenige nach ihrer künftigen Rolle in der weltweiten Gemeinschaft der Staaten und internationalen Organisationen. Hier führt Europa seit Jahren eine eigentümliche Zwischenexistenz. Das Wort über die alte Bundesrepublik, sie sei ein wirtschaftlicher Riese und ein politischer Zwerg gewesen, läßt sich heute ohne weiteres auf die Position übertragen, welche die Europäische Union in der Weltpolitik einnimmt. Seit Jahren hat die Gemeinschaft ihren Status in der Außenwirtschaftspolitik in beeindruckender Weise ausgebaut. Die EG bildet zusammen mit den USA und Japan die sogenannte „Triade der Weltwirtschaft“, innerhalb deren sich weit über die Hälfte des Welthandels abspielt und welche die bestimmende Kraft in den Weltwirtschaftbeziehungen darstellt. Nicht zufällig ist die Außenhandelspolitik derjenige Teil der EG-Außengewalt, der gemäß Art. 110 ff. (131 ff.) EGV nach der supranationalen Methode integriert und handlungsfähig gemacht worden ist.73 In der Genfer Welthandelsorganisation WTO verkehrt die Gemeinschaft seit Jahren auf gleichem Fuße mit 53 den j Vereinigten Staaten.74 Das Brüsseler Kommissionsmitglied für die Außenwirtschaft und die Präsidialmacht des Rates sind hier die Gesprächspartner Amerikas geworden. Die Minister der Mitgliedstaaten mußten lernen, mehr oder weniger dekorativ im zweiten Gliede zu stehen. Es wird spannend zu beobachten sein, wie weit sich die Vergemeinschaftung der auswärtigen Befugnisse Europas nunmehr mit dem Euro in den Weltwährungsbeziehungen fortsetzt. Anders als in der Handelspolitik hat Art. 109 (111) EGV die gemeinsame Währungs-Außenkompetenz schwächer ausgestaltet und mitgliedstaatlichem Handeln Spielraum belassen.75 Die Finanzminister und Notenbankpräsidenten zeigen bisher entsprechend wenig Neigung, Europäischer Zentralbank, Ratspräsidialmacht und Kommission das Feld der Außenrepräsentation der Gemeinschaft gegenüber Drittstaaten und internationalen Finanzinstitutionen zu überlassen. Wird die gemeinsame Währung gleichwohl so sehr einigend nach innen wirken, daß Euroland demnächst auch nach außen gegenüber Dollar und Yen gemeinsam aufzutreten vermag? Vieles spricht dafür, daß der Aufbau internationalen Vertrauens in den Euro eine kraftvolle und einige Außenvertretung der Gemeinschaft in der internationalen Währungspolitik voraussetzt. Dann würde j 54 allerdings das Ungleichgewicht zwischen den Außenbefugnissen Europas in der Wirtschafts- und Währungsunion einerseits und auf dem Felde der klassischen Außen- und Sicherheitspolitik andererseits noch krasser zutage treten als heute. 73

Krenzler, Recht und Politik der Außenwirtschaftsbeziehungen der EG, 1994. Oppermann, RIW 1995, 919 ff. (= in diesem Band S. 361 ff.). 75 Collignon/Mundschenk, Die internationale Bedeutung der Währungsunion, Integration 1998, 77 ff. 74

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Seit Anfang der neunziger Jahre begnügen sich die auf ihre vermeintliche Außensouveränität fixierten EU-Staaten im ehemaligen Jugoslawien bei der Friedenswahrung mit der Rolle besserer Satelliten der Vereinigten Staaten. Infolge ihrer immer wieder auftretenden Uneinigkeit in wichtigen Fragen läuft ohne das Engagement der USA bei der Bewältigung der verschiedenen Konflikte von Kroatien über Bosnien bis heute im Kosovo praktisch nichts. Der intergouvernementalen Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) im Sinne des Maastrichter Unionsvertrages fehlt auch nach den Reformen von Amsterdam das Instrumentarium, welches die Union zur geschlossenen außenpolitischen Willensbildung befähigen würde.76 Die Gründe für dieses Zögern der EU-Mitgliedstaaten vor einer vollen Übertragung der auswärtigen Gewalt in die Hände der Gemeinschaft sind leicht zu erraten. Nicht von ungefähr rechnet die Fähigkeit zum Schutz nach außen zu den elementaren Aufgaben des Staates. Würde auch noch die Militär- und womöglich Polizeigewalt ähnlich wie die Rechtsetzungs- und j Justizgewalt in den 55 Angelegenheiten des Binnenmarktes und neuerdings die Währungshoheit den Gemeinschaftsorganen zufallen, wäre der entscheidende Schritt über den Rubikon in den europäischen Bundesstaat getan, mit anderen Worten, der Übergang der Souveränität von den Mitgliedstaaten auf die Union. Für einen solchen Entschluß fehlen jedoch weiterhin wichtige tatsächliche Voraussetzungen und vor allem der politische Wille in den Mitgliedstaaten. In der klassischen Außenund Sicherheitspolitik wird immer noch nicht der europäische Traum geträumt, sondern mancherorts Erinnerungen an eine große Vergangenheit angehangen. Dies gilt besonders für Staaten wie England oder Frankreich, die gestützt auf die atomare Ausrüstung ihrer Streitkräfte und auf besondere Statussymbole wie die ständige Mitgliedschaft im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen auf die Insignien einer ehemaligen Weltmachtstellung nicht verzichten mögen, auch wenn sich die Gewichte nach 1945 wesentlich verschoben haben. Muß das so bleiben? Oder ist im 21. Jahrhundert allmählich der Konsens über eine gemeinsame Außenpolitik denkbar, die Europa in allen Bereichen mit einer Stimme sprechen ließe? Wie es die Integration der Handels- und Außenwirtschaftspolitik gezeigt hat, führt auch in den Außenbeziehungen kein Weg um die Einführung wirklich überstaatlicher Strukturen herum, wenn ein Europa entstehen soll, das in der Weltpolitik denjeni- j gen Einfluß nimmt, der seinen 56 vereinten inneren Kräften entspricht. Sollte es der EG als nächstes gelingen, die gegenwärtigen Eifersüchteleien und Zwistigkeiten um eine gemeinsame Außenvertretung der Währungsunion gegenüber Drittstaaten und internationalen Finanzinstitutionen im Sinne einer integrierten Lösung zu überwinden, wäre ein weiterer wichtiger Schritt sowohl zur Schaffung einer allgemeinen Außenkompetenz der Union als auch für den Erfolg des Euro getan. 76

Semrau, Die Gemeinsame Außenpolitik der Europäischen Union, 1998.

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I. Grundfragen der europäischen Integration

XIII. Unter den Gewinnern oder Verlierern des 21. Jahrhunderts? Alles in allem ist heute noch schwierig zu deuten, wie sich der eingangs bemerkte „Zeitenbruch“ der Jahrhundertwende auf den Fortgang des europäischen Einigungsprozesses auswirken wird. Welche Priorität mißt die Generation der 50jährigen, in deren Hände die Geschicke der Europäischen Union jüngst übergegangen sind, die Aznars, Blairs, Jospins, Schröders und andere, dem Fortgang der europäischen Integration bei? Träumen sie den europäischen Traum weiter? An politisch schwerwiegenden Gründen, die Union über ihre wirtschaftlich weit vorangetriebene Seite hinaus politisch zu vollenden, mangelt es nicht. Ebenso57 wenig freilich an großen Problemen. Als erstes ist j die Herkulesaufgabe anzupacken, die weitere Vertiefung der Gemeinschaft mit der anstehenden großen Erweiterung ihres Mitgliederkreises so zu verbinden, daß die künftige gesamteuropäische Union arbeitsfähig bleibt. Bei diesen verschiedenen Herausforderungen wird es wie schon in der Vergangenheit entscheidend auf die Erhaltung der Bindungskraft eines allseits bejahten und befolgten europäischen Rechtes ankommen, wenn eine Gemeinschaft von 20 bis 30 Mitgliedern sich nicht übermorgen in eine lockere Handelszone verwandeln soll, in der jedes Mitglied sein eigenes Süppchen kocht. Nachdem der europäische „Superstaat“ aus der ernsthaften politischen Diskussion verschwunden ist, bleibt nur die Fortsetzung und Erneuerung der Integration in den bewährten Formen, auf denen die Gemeinschaft seit Jahrzehnten aufgebaut hat, verbunden mit dem gelegentlichen Ausmisten des einen oder anderen Augiasstalles. Dabei dürfen die weiteren Fortschritte des Einigungsprozesses sich nicht auf Wirtschaft und Politik beschränken. Für die Dauerhaftigkeit einer staatsähnlichen Verbindung der europäischen Völker ist mindestens ebenso die Vermittlung der Erkenntnis entscheidend, daß Europa trotz aller ethnischen und sprachlichen Vielfalt eine reale Ganzheit dar58 stellt.77 Sie gründet sich j auf ein Jahrtausende altes geschichtliches und kulturelles Erbe, in das gemeinsame antike, christliche und humanistische Traditionen eingeflossen sind. Diese „Suche nach der Seele Europas“, nach den gemeinsamen kulturellen Fundamenten der Gemeinschaft kann freilich nur in sehr begrenztem Rahmen Sache der politisch-juristischen Aktion in Gestalt von „EG-Kulturkompetenzen“ sein. Gefordert sind hier in erster Linie die spontanen Kräfte der Zivilgesellschaft.78 An der Schwelle des 21. Jahrhunderts mag man beginnen zu spekulieren, welches Attribut dem anbrechenden Säkulum eines fernen Tages zugeteilt wer77 Oppermann, ARTE – ein Experiment in europäischer Kultur, in: GS Grabitz, 1995, 483 ff. (in diesem Band abgedruckt S. 469 ff.); Böckenförde, Welchen Weg geht Europa?, 1997, bes. 46 ff. 78 Lang/Mandelson, Europa – ein Körper ohne Seele?, Internationale Politik 5/ 1998, 41 ff.; P. Kirchhof, Gesucht wird die europäische Seele, FAZ, 5. Januar 1999.

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den könnte. Das 19. Jahrhundert wird oft das europäische genannt. Die Ideen aus dieser kleinen Landzunge am Rande des asiatischen Kontinents gingen um die ganze Welt. Gleichzeitig unterwarf sich Europa große Teile Afrikas und Asiens. Das alles ist mittlerweile Vergangenheit. Das 20. Jahrhundert ist in seinem Verlauf mehr und mehr das amerikanische geworden. Der American Way of Life und ebenso die militärische und wirtschaftliche Stärke der einzigen seit den neunziger Jahren verbliebenen Supermacht prägen heute die in- j ternatio- 59 nale Staatengemeinschaft. 79 Futurologen haben gelegentlich das 21. Jahrhundert bereits als das asiatisch-pazifische ausgerufen. Jüngst sind allerdings Schatten auf diese Voraussage gefallen. Wo bleibt Europa? Es hat viele seiner Kräfte in zwei großen selbstzerfleischenden Kriegen verbraucht. Es ist zurückgefallen. Aber „warum sollte dieser große Herd der Zivilisation, der Stärke, der Vernunft und des Fortschritts unter seiner eigenen Asche verlöschen?“ So hat der französische Staatspräsident de Gaulle in den sechziger Jahren gefragt.80 Das steht nirgends geschrieben. Der Einigungsprozeß eines halben Jahrhunderts hat mit der Schaffung der Europäischen Gemeinschaft und Union bereits weit geführt. Er hat die Kräfte sichtbar werden lassen, die im alten Kontinent immer noch schlummern. Werden sie sich im neuen Jahrhundert so weit bündeln und entfalten, daß Europa die neuartigen Formen friedlichen Zusammenlebens vollendet und der Welt vorzuleben vermag, so, wie sie einige weitblickende Politiker mit Hilfe juristischen und wirtschaftlichen Sachverstandes seit den fünfziger Jahren entwickelt haben? j Unmöglich erscheint dies nicht. Die verantwortlichen jüngeren Generationen 60 müssen sich jedoch der Einsicht stellen, daß nur starke und integrierte Lösungen den Zusammenhalt schaffen können, mit dem Europa dauerhaft zu einer florierenden Vereinigung seiner Staaten findet und eine seiner Bedeutung entsprechende verantwortungsvolle globale Rolle zu übernehmen vermag. Der englische Historiker Arnold Toynbee hat den Gang der Weltgeschichte vor längerer Zeit in einer bis heute beachteten These durch die Wirkungskräfte zwischen Herausforderung und Antwort („Challenge and response“) zu erklären versucht.81 Einige der offenkundigsten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts an die Europäische Union wurden hier benannt. Sie zu bestehen erfordert in Brüssel und in den Hauptstädten der Mitgliedstaaten vermehrt die Einsicht und Fähigkeit, daß es hierzu gemeinsamer Antworten bedarf. j

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Brzezinski, Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft, 1997. Pressekonferenz vom 5. September 1960, zitiert nach Oppermann, Europarecht, 2. Aufl. 1999, Rz 26; heute Pflüger, Europa muß Weltmacht werden, Internationale Politik 1/1999, 53 ff. 81 Toynbee, Der Gang der Weltgeschichte, 2. Aufl. 1949. 80

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I. Grundfragen der europäischen Integration

Nachbemerkung Anfang 2001 Der Übergang ins neue Jahrhundert 1999–2001 gestaltete sich für die Europäische Union dramatisch. Der vorzeitige Rücktritt der Santer-Kommission Anfang 1999 unter dem Eindruck von Mismanagement und Korruption ließ trotz des geglückten Überganges auf Romano Prodi eines der wichtigsten EU-Organe nicht unbeschädigt. Die deutsche Ratspräsidentschaft hatte in der ersten Jahreshälfte 1999 zwei große Herausforderungen zu bestehen. Mit der Verabschiedung der Agenda 2000 in Berlin gelang eine provisorische Regelung der EU-Finanzen bis 2006, allerdings ohne wirkliche Perspektive für die Osterweiterung. Gleichzeitig bewiesen die der NATO angehörenden EU-Staaten im Kosovokrieg sicherheitspolitische Solidarität innerhalb der Allianz. An ihrer Sekundantenrolle neben der Führungsmacht USA ließ sich jedoch einmal mehr die Schwäche der intergouvernementalen „Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik“ der Union ablesen.

Seit 2000 wird der europäische Einigungsprozeß immer stärker von einer „Verfassungsdebatte“ geprägt, in die bereits führende Politiker eingreifen. Rückt 62 die Zeit näher, zu welcher j der Wirrwarr der EU-Vertragstexte durch eine dem Unionsbürger verständliche Verfassungsurkunde abgelöst wird? Die Ausarbeitung der – noch unverbindlichen – europäischen Grundrechtscharta durch einen Konvent unter der kundigen Leitung von Roman Herzog war ein erster hoffnungsvoller Schritt in diese Richtung. Andererseits deckte die beinahe gescheiterte Nizza-Konferenz Ende 2000 die tiefen Differenzen unter den Mitgliedstaaten über den weiteren Weg des Einigungsprozesses schonungslos auf. Zwar wurden in den qualvollen institutionellen Kompromissen des Nizza-Vertrages erstmals die Konturen einer künftigen Union mit 27 Mitgliedern nach der Osterweiterung sichtbar. Alle Sachfragen verschob die „Erklärung über die Zukunft der Union“ jedoch ein weiteres Mal in einen bis 2004 reichenden „Post-NizzaProzeß“. Nach den Eindrücken auf der Regierungskonferenz an der Côte d’Azur erscheint es unwahrscheinlich, daß die Mitgliedstaaten in den nächsten Jahren ihre „Herrschaft über die Verträge“ zugunsten einer überstaatlichen Konstituante aufgeben, der die Vorbereitung einer wirklichen EU-Verfassung anvertraut würde. Die „Methode Monnet“ zugunsten konkreter Einzelschritte vorwärts – als nächstes zur Stabilisierung der Währungsunion und gleichzeitiger Osterweiterung – dürfte alles andere als ausgedient haben. Und wo bleiben die Visionen? Ist der europäische Traum ausgeträumt? Ger63 hard Schröder spricht seit Nizza lieber von der j „Baustelle Europa“. Auch mit diesem Bild läßt sich leben, solange in der jetzigen Generation der Baumeister die Überzeugung lebendig bleibt, ein Werk der Vollendung näher zu bringen, ohne welches Europa der ihm gebührende Platz in der Welt des 21. Jahrhunderts verwehrt bleiben müßte.

„In einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen . . .“ Der internationale Verfassungsauftrag nach 40 Jahren Grundgesetz Darstellung der Erfüllung des europäisch-internationalen Verfassungsauftrages in der Präambel des Grundgesetzes durch die Europa-, Ost- und Weltpolitik der „Bonner Republik“ 1949–1989. Vortrag im Rahmen einer Ringvorlesung der Tübinger Juristischen Fakultät anlässlich des 40jährigen Jubiläums des Grundgesetzes.*

Der Ablauf unserer Ringvorlesung „40 Jahre Bundesrepublik Deutschland – 40 Jahre Rechtsentwicklung“ sieht vor, daß am Anfang einige grundlegende Aspekte des „Verfassungsumfeldes“ angesprochen werden, in die unser Grundgesetz und die auf ihm beruhende Rechtsentwicklung der letzten vier Jahrzehnte eingebettet sind. Auf diese Weise hat Martin Heckel vor vierzehn Tagen das Verhältnis der Bundesrepublik zu den großen Kirchen eindrucksvoll vor Augen geführt. Hier soll es um den Blick nach außen gehen. In welcher Weise ist unser Staatswesen seit 1949 seinem internationalen Auftrag gerecht geworden, der Wegweisung, die ihm die Bonner Verfassungsväter für die Wiedereingliederung in die Staaten- und Völkergemeinschaft nach dem verbrecherischen Nationalismus der Hitler-Jahre und der totalen Niederlage und Kapitulation 1945 mitgaben? I. Der internationale Verfassungsauftrag in der Präambel des Grundgesetzes „Von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“ – so hat sich das Deutsche Volk gemäß der Präambel des Grundgesetzes 1949 seine neue Ordnung gegeben. Sie war nach damaligem Verständnis für eine Übergangszeit gedacht gewesen. Das Ziel dieses schönen und würdigen Satzes ist eindeutig: „In einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“. Es umreißt den internationalen Verfassungsauftrag des Grundgesetzes im engeren Sinne. Er steht in unlösbarem Zusammenhang mit dem anderen großen Thema der Präambel, der Wahrung und Wiedergewinnung der * Erstmals erschienen in: Knut Wolfgang Nörr (Hrsg.), 40 Jahre Bundesrepublik Deutschland. 40 Jahre Rechtsentwicklung, Mohr Siebeck, Tübingen 1990, 29–50.

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Einheit Gesamtdeutschlands in Freiheit. „Deutschland im Wartestand“ behandelt Hans von Mangoldt in unserem Zusammenhang. Hierauf darf im wesentlichen verwiesen werden. „In einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“ – diese Aufforderung liest sich nach 40 Jahren ebenso frisch wie in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Beide hier angesprochenen Aufgaben, die Einigung Europas und die weltweite friedliche Zusammenarbeit sind unvollendet geblieben und stellen wohl in gewissem Sinne eine Daueraufgabe dar. Sie geben auch 1989 die prinzipielle Ausrichtung der bundesdeutschen Außenpolitik gültig an, nicht zuletzt in ihren verbindlich gemeinten völkerrechtlichen Ausdrucksformen. Die Präambel darf – übrigens nicht nur an der uns hier interessierenden 30 Stelle – j als eine glücklich gelungene Formulierung im Stile bester deutscher Verfassungstradition bezeichnet werden. Sucht man nach den Vätern des internationalen Verfassungsauftrages, stößt man auf den Allgemeinen Redaktionsausschuß des Parlamentarischen Rates, der den später am 8. Mai 1949 endgültig angenommenen Text im wesentlichen schon am 13. Dezember 1948 vorgeschlagen hatte, in wohltätiger Zusammenfassung geschwätziger Formulierungen verschiedener Mitglieder des Parlamentarischen Rates. Der Allgemeine Redaktionsausschuß, das waren die Mitglieder Heinrich von Brentano (CDU), Thomas Dehler (FDP) und August Zinn (SPD), alle später bedeutende Bundes- und Landespolitiker und zugleich maßgebliche Vertreter der drei großen politischen Familien, auf deren Grundkonsens unsere Verfassung 1949 entstand und bis heute wesentlich beruht. 1. Das Europagebot

Was war der Inhalt des Aufrufes der Präambel an die ab September 1949 einsetzende deutsche Politik? Welche Rolle sollte die Bundesrepublik Deutschland in der Sicht ihrer Gestalter im internationalen Leben spielen? Zum einen soll die außenpolitische Kraft der Bundesrepublik der Schaffung eines „vereinten Europas“ dienen. Welchen Europas? Diese Frage beschäftigt die Staaten und Völker unseres Kontinentes in den letzten Jahren verfassungspolitisch immer mehr, seit Michael Gorbatschow Mitte der achtziger Jahre seine Vision vom „Gemeinsamen europäischen Haus“ der sich auf den Westen beschränkenden „Europäischen Gemeinschaft“ gegenübergestellt hat. Die EG hat sich ihrerseits in ihrer letzten Verfassungsrevision von 1987, der Einheitlichen Europäischen Akte, erneut zur „Europäischen Union“ als dem Ziel der neunziger Jahre bekannt, „westlich“ und endgültig gemeint. In der Bundesrepublik hat sich dessen ungeachtet die verfassungsrechtliche Diskussion verstärkt, in welchem Verhältnis Wiedervereinigungsgebot und Bekenntnis zum vereinten Europa in der Präambel des Grundgesetzes stehen. Die Besinnung darauf, von welchem Europa das Grundgesetz spricht, gibt eine wesentliche Antwort auf diese Frage. Ganz

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offensichtlich ist, daß mit dem Europa der 1949 geschaffenen Präambel nicht eine Begrenzung auf die Europäische Gemeinschaft („EG-Europa“) gemeint gewesen sein kann. Deren erste Anfänge datieren bekanntlich ein Jahr später – 1950 – mit der historischen Aufforderung Robert Schumans zur Bildung der Montanunion. Ferner springt in die Augen, daß die unmittelbare Gleichsetzung der beiden Ziele „Wahrung der nationalen und staatlichen Einheit“ und Eintreten für ein vereintes Europa im ersten Satz der Präambel von vornherein ausschließen, daß diese Europavision an der Elbe endet. Andererseits läßt sich zeitgeschichtlich schwer bestreiten, daß der Parlamentarische Rat bei seinem Appell zugunsten Europas 1948/49 unter dem starken Eindruck der damaligen „Europabewegung“ gestanden hat, jener Bewegung, die mit der berühmten Zürcher Rede Winston Churchills 1946 zugunsten der „Vereinigten Staaten von j Eu- 31 ropa“ anhob und sich angesichts Eisernem Vorhang, Prager Staatsstreich und Berliner Blockade 1948 rasch auf Westeuropa orientieren mußte. In den gleichen Jahren 1948/49, in denen das Grundgesetz entstand, kam es auf westeuropäischer Ebene in Gestalt des großen Haager Europa-Kongresses 1948 und mit der Gründung des Europarats in Straßburg zu ersten wichtigen Ergebnissen. Der Europarat ist nahezu zeitgleich mit dem Grundgesetz entstanden, nämlich genau drei Tage vor dessen Verabschiedung am 8. Mai 1949! Gewiß kann man nicht sagen, das Grundgesetz lege die deutsche Politik mit der „Europaklausel“ der Präambel auf die spezifischen Formen des europäischen Einigungsprozesses fest, wie sie sich seit den fünfziger Jahren unter kräftiger Mitwirkung der Bundesrepublik entwickelt haben. Jedoch gehört der Weg, der von der bundesdeutschen Politik seit dem Beitritt zum Europarat 1951 und der Mitgründung der Europäischen Gemeinschaften 1953 und 1958 eingeschlagen wurde, also die fortschreitende sektorale Teilintegration zunächst Westeuropas, zweifellos zu einer der denkbaren Optionen im Sinne der Präambel. Dies gilt um so mehr, je weniger eine solche Europapolitik sich geographisch abschließend versteht, sondern sich offen hält für zusätzliche Annäherungen im Rahmen eines größeren Europas, welches seine mittleren und östlichen Teile eines Tages einschließen könnte. Gerade wenn man die Präambel als echten Verfassungsauftrag begreift, also im Sinne des Bundesverfassungsgerichts nicht nur als politische Deklamation, sondern ihr normativen Gehalt zuschreibt, legt sich wie beim Wiedervereinigungsgebot ein breiter Raum politischen Ermessens der Bundesorgane darüber nahe, welche Art von Europapolitik sie jeweils für richtig halten – sofern nur die Einigung des alten Kontinents hierdurch gefördert wird.

2. Das Friedensgebot

In gleichem Sinne wird die deutsche Außenpolitik in der Präambel darauf festgelegt, „dem Frieden der Welt zu dienen“. Zweierlei sticht an diesem noch weiter reichenden Aufruf nach 40 Jahren ins Auge. Vor allem die ganz selbst-

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verständliche Überzeugung der deutschen Verfassungsgeber, die 1949 unter Besatzungsgewalt auf den Trümmern eines zerstörten und geteilten Deutschen Reiches arbeiteten, von einer künftigen weltpolitischen Rolle des neu zu verfassenden Gemeinwesens. Gewiß, sie sollte in Absage an die Gewaltpolitik des Hitlerstaates friedlich sein. Das ist die zweite wesentliche Aussage. Was aber in der Rückschau vor allem anderen beeindruckt, ist der ungebrochene Glaube jener hart geprüften Politikergeneration um Konrad Adenauer, Theodor Heuss und Carlo Schmid, die damals in Bonn in der Pädagogischen Akademie und unter den Giraffen des Museums König zusammensaß, an eine gewandelte Wiedergeburt der Kräfte des eigenen Volkes. In ihrer Sicht schloß dies Aufgaben weltpolitischer Zusammenarbeit mit ein, mit denen der neue deutsche Staat international überzeugend seine Abkehr von den Methoden und Taten der Vergangenheit dartun sollte. Der Wiedererrichtung des Rechtsstaates im Inneren entsprach 32 das j Bekenntnis nach außen zur Wahrung des Weltfriedens mit den Mitteln des Völkerrechts. II. Weitere Konkretisierungen des internationalen Verfassungsauftrages im Grundgesetz Dieser Kern des internationalen Verfassungsauftrages wird noch deutlicher, wenn man die Präambel verläßt und jene operativen Artikel des Grundgesetzes ins Auge faßt, die dem Auftrag Konturenschärfe verleihen. Das sind vor allem die Artikel 24, 25 und 26. Bis zu einem gewissen Grade gehört auch der erst durch die Wehrverfassung von 1956 ins Grundgesetz eingefügte Art. 87a in diesen Zusammenhang. 1. Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes

Jeder Kenner des Grundgesetzes weiß um die ganz besondere Bedeutung, die vor allem Art. 24 Abs. 1 GG (zusammen mit Art. 25) für unser Verständnis vom Völkerrecht als dem wichtigsten Instrument einer dauerhaft gemeinten internationalen Zusammenarbeit zukommt. Der Verfassungswille des Art. 24, die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen durch einfaches Bundesgesetz zuzulassen, und die bei jeder Auslegung des Art. 25 GG unbestreitbare Grundentscheidung zugunsten einer unmittelbaren und vollständigen Geltung allgemeiner Völkerrechtsregeln im deutschen Rechtsraum umreißen jene seit Klaus Vogel 1964 viel berufene „Völkerrechtsfreundlichkeit“ des Grundgesetzes. Dies gilt im Sinne mindestens einer verfassungsrechtlichen Auslegungsleitlinie. Dieses Prinzip ist vor allem die Instrumentalisierung der in der Präambel getroffenen Richtungsentscheidung. Es ist darauf zurückzukommen, in welchem Ausmaß Art. 24 Abs. 1 GG als europäischer „Integrationshebel“ (Hans Peter Ipsen) für die Beiträge der Bundesrepublik zum westeuropäischen Einigungswerk eingesetzt worden ist.

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2. Legitimität militärischer Selbstverteidigung

Ähnlich ist noch von der „UNO-und NATO-Klausel“ des Art. 24 Abs. 2 GG zu sprechen, die mit dem Ziel der Friedenswahrung die Einordnung der Bundesrepublik in Systeme gegenseitiger kollektiver Sicherheit nahelegt. In diesem Zusammenhang – aber vor dem Hintergrund der Präambel durchaus erweiterungsfähig – spricht Art. 24 Abs. 2 überzeugend von der Zielvorstellung einer „friedlichen und dauerhaften Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt“. Sie legitimiert die hierfür notwendigen Souveränitätsbeschränkungen der Bundesrepublik. Von der Verfassung selbst wird in Art. 26 GG als unmittelbare Verpflichtung das mit Strafe zu bewehrende Verbot des Angriffskrieges festgesetzt. Es ist der normative Ausdruck der Friedensbereitschaft unseres j Staates, 33 wie sie von der Präambel statuiert ist. Als Ergänzung und nicht einmal scheinbarer Widerspruch zu Art. 26 legte Art. 87a Abs. 1 GG sodann 1956 fest, daß der Bund Streitkräfte zur Verteidigung aufstellt. Entstanden unter dem in der Zeit des Kalten Krieges sehr deutlichen Gefühl des militärischen Bedrohtseins durch die Sowjetunion, bedeutet die verfassungsrechtliche Entscheidung für eine wirksame militärische Landesverteidigung im Zusammenhang mit dem Beitritt der Bundesrepublik zur NATO und Westeuropäischen Union nichts anderes als eine konkrete Einlösung der in Art. 24 Abs. 2 ausgesprochenen Bereitschaft, sich an internationalen Systemen gegenseitiger kollektiver Sicherheit im Interesse der Friedenssicherung zu beteiligen. Art. 87a GG ist so eine Norm des Realismus, welche die Legitimität der militärischen Selbstverteidigung verfassungsrechtlich genauso voraussetzt, wie dies auf universaler völkerrechtlicher Ebene in Art. 51 der Satzung der Vereinten Nationen das dort als naturgegeben („inhärent“) bezeichnete Recht der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung im Verhältnis zum Gewaltverbot des Art. 2 Ziff. 4 der Satzung tut. 3. Bekenntnis zum international offenen Gemeinwesen

Sucht man den internationalen Verfassungsauftrag des Grundgesetzes zusammenzufassen, bleibt dreierlei festzuhalten: a) Der starke Glaube an die friedensstiftende, normative Kraft des Rechts, hier des Völkerrechts, auch in den auswärtigen Beziehungen der Staaten. Diese Überzeugung entspricht nach außen der entschlossenen Betonung der Rechtsstaatlichkeit im Inneren durch das Grundgesetz, in Gestalt der unmittelbaren Geltung der Verfassung einschließlich der Grundrechte, im Ausbau der Gerichtsbarkeiten und Rechtswege bis hin zur Verfassungsgerichtsbarkeit. So legt Art. 24 Abs. 3 GG ein analoges Bekenntnis zur obligatorischen internationalen Schiedsgerichtsbarkeit ab. Darüber hinaus lassen Normen wie Art. 25 GG den Willen erkennen, die innerstaatliche Durchsetzung des Völkerrechts so weit als möglich zu fördern.

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I. Grundfragen der europäischen Integration

b) Das Grundgesetz begnügt sich nicht damit, nur ein formales Bekenntnis zum Völkerrecht als Instrument dauerhaft gemeinter internationaler Politik auszusprechen. In bewußter Abwendung von der jüngsten Vergangenheit, man könnte sogar sagen, in einem gewissen Mißtrauen gegenüber der Beständigkeit künftiger bundesdeutscher Außenpolitik, werden mit dem Bekenntnis zum vereinten Europa sowie zu einer an der Wahrung des Friedens orientierten kollektiven Sicherheitspolitik grundsätzliche materiale Ziele proklamiert, in deren Rahmen sich die Politik halten soll. Das Grundgesetz enthält mit anderen Worten eine Verfassungsentscheidung zugunsten aktiver Zusammenarbeit mit anderen Staaten und Internationalen Organisationen. In dieser besonderen Funktion als Mittel der internationalen Kooperation und Friedenssicherung wird das Völkerrecht gesehen. j 34 c) Ganz besonders Art. 24 Abs. 1 GG mit seinen Möglichkeiten leicht gemachter Souveränitätseinschränkungen zeigt, daß das Grundgesetz den Weg der internationalen Zusammenarbeit bis an die Grenzen der Selbstentäußerung zugunsten übergeordneter Zwecke gehen will. Mit der Möglichkeit der Übertragung von Hoheitsrechten auf Staatengemeinschaften in breitem Stil prägt die Verfassung das Wesen der Bundesrepublik. Es wendet sich vom traditionellen Bild des „geschlossenen“, politisch und völkerrechtlich vor allem auf sich selbst gestellten Staates ab. Das Grundgesetz spricht sich seit 1949 für die definitiv gemeinte „Öffnung“ unseres Gemeinwesens zugunsten übergreifender Einheiten aus, bis hin zur Unterwerfung unter den Rechtsetzungswillen eines überstaatlichen Hoheitsträgers, der neuartigen öffentlichen Gewalt einer supranationalen Gemeinschaft. Spätestens mit der „stillen Revolution des europäischen Binnenmarktes“ (Jacques Delors), der sich bis 1993 über ungefähr 300 verbindliche Rechtsakte aus Brüssel in den meisten Bereichen der Staatlichkeit verwirklichen soll, ist die ganze Tragweite des „Integrationshebels“ des Art. 24 Abs. 1 GG für eine Umformung unserer Staatlichkeit sichtbar geworden. Mittlerweile wird bereits erörtert, ob wenigstens die so genannten „Unantastbarkeiten“ des Art. 79 Abs. 3 GG zugunsten der Bundesstaatlichkeit der fortlaufenden Übertragung deutscher Staatlichkeit auf die Europäische Gemeinschaft letzte Grenzen setzen, nicht zuletzt im Hinblick auf das Gebot der Wahrung des Föderalismus und der nationalen Einheit. III. Verwirklichung des internationalen Verfassungsauftrages im Dreischritt deutscher Außenpolitik seit 1949 Soviel zu den verfassungsmäßigen Anforderungen, welche die Väter des Grundgesetzes 1949 an die neu beginnende deutsche Außenpolitik stellten. Sie haben es in beeindruckender Vorausschau verstanden, dieser Politik einen Kompaß zur Verfügung zu stellen, der ihr bis heute sinnvoll den Weg gewiesen hat.

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Ich möchte nun die wesentlichen Stationen in der bisherigen Verwirklichung des internationalen Verfassungsauftrages verfolgen, vor allem, soweit er völkerrechtlichen Niederschlag gefunden hat und Bestandteil unserer Rechtsentwicklung in den vergangenen vier Jahrzehnten geworden ist. Die deutsche geschichtliche Lage in der Stunde Null des Jahres 1945 und der unmittelbar auftretende Ost-West-Gegensatz in Europa, welche ab 1948 zur Teilung Deutschlands führten, haben es mit sich gebracht, daß man den Wiedereintritt des westlichen Deutschlands in der Rechtsgestalt der Bundesrepublik in das europäische und internationale Leben seit 1949 ohne Gewalt in drei große Phasen gliedern kann. Zunächst stand die unmittelbar nach der Gründung der Republik anhebende Zeit entschlossener Westpolitik im Vordergrund. Ihre wichtigsten vertraglichen Grundlagen ragten mit dem Ausbau der Europäischen Gemeinschaft und j dem 35 durch den Beitritt zur Atlantischen Allianz bedingten Aufbau der Bundeswehr weit in die sechziger Jahre hinein. Personell verkörpert sich diese Phase im langjährigen ersten Kanzler der Bundesrepublik, Konrad Adenauer. Schon seit den frühen sechziger Jahren sich ankündigend, vollzog sich mit der Regierungsänderung der neuen sozialliberalen Koalition im Oktober 1969 eine plötzliche Erweiterung des außenpolitischen Handlungsfeldes der Bundesrepublik in Gestalt einer neuartigen Ostpolitik unter der Aegide des Kanzlers Willy Brandt. In wenigen gedrängten Jahren suchte sie über ein Netz bilateraler Gewaltverzichts- und Grenzverträge mit den Staaten Mittel- und Osteuropas das nachzuholen, was aus ihrer Sicht in zu langem Zögern vorher versäumt worden war. Vielleicht mag man sodann im Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zu den Vereinten Nationen im Jahre 1973 den Übergang von West- und Ostpolitik zum vollen Eintritt unseres Staates in eine multilaterale Weltpolitik erblicken, sozusagen das Datum der internationalen Volljährigkeit der Bundesrepublik, in der wir seither leben. Der gelegentlich in leichtem Scherz als „Weltökonom“ bezeichnete Bundeskanzler Helmut Schmidt mag für diese endgültige Stufe unserer internationalen Politik ähnlich repräsentativ stehen wie seine beiden erwähnten Vorgänger. Ein wenig muß er sich freilich diesen zeitgeschichtlichen Platz mit einem langjährigen Außenminister teilen, in dessen legendärer globaler Reisetätigkeit sich die heutige weltpolitische Rolle der Bundesrepublik augenfällig widerspiegelt. Erlauben Sie mir also, die wesentlichen Etappen der Einbindung der Bundesrepublik in ein immer dichteres und engeres Netz völkerrechtlicher Verträge, die in mancherlei Hinsicht Bestandteil unserer verfassungsmäßigen Gesamtordnung geworden sind, vor den Hintergrund dieser drei großen Phasen der West-, Ostund Weltpolitik zu stellen. Dabei versteht es sich, daß es sich dabei um eine sehr relative Einteilung handelt. Wichtige Westpolitik wie beispielsweise der Aufbau eines Europäischen Währungssystems ab 1978 ist auch in den siebziger Jahren ebenso betrieben worden, wie umgekehrt der Eintritt der Bundesrepublik

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I. Grundfragen der europäischen Integration

in die wichtigsten Sonderorganisationen der Vereinten Nationen bereits in den fünfziger Jahren erfolgte. Dennoch vermittelt die Besinnung auf diesen „Dreischritt“ der deutschen Außenpolitik seit 1949 insgesamt den richtigen Eindruck eines tastenden Voranschreitens und Ausgreifens des 1945 besiegten und niedergeschlagenen Staates gemäß der Gunst der Stunde. In dieser pragmatischen Weise sicherte sich die Bundesrepublik allmählich eine völkerrechtlich fundierte Position zuerst in Westeuropa und gegenüber den Vereinigten Staaten, anschließend im Verhältnis zu unseren lange Zeit antagonistischen östlichen Nachbarn, bis schließlich so viel Selbstverständnis und Selbstsicherheit wiedergefunden war, sich in das komplizierte Spiel der universalen Konferenz- und Vertragsdiplomatie voll einzuschalten. j 36

IV. Westpolitik Fragt man zunächst, wie der internationale Verfassungsauftrag des Grundgesetzes in den Anfängen der fünfziger Jahre verstanden und ausgefüllt wurde, darf nicht vergessen werden, daß bis zum Inkrafttreten des Deutschlandvertrages 1955 die Ausübung der Auswärtigen Gewalt – wie alle bundesdeutsche Staatsgewalt – sich noch unter der Oberhoheit der Alliierten vollzog. Diese wesentliche Einschränkung trat nur deshalb weder damals noch heute sonderlich ins öffentliche Bewußtsein, weil der Kurs entschlossener Westintegration und Bejahung der Atlantischen Allianz ebenso dem Geist der Präambel und der Art. 24 ff. GG gemäß war, wie er den Wünschen der Westalliierten entsprach. Es ergab sich eine ähnliche Situation wie 1948/49 bei der Schaffung des Grundgesetzes, das trotz leicht korrigierenden Eingriffes der Besatzungsmächte in allen wesentlichen Entscheidungen ein Werk echter deutscher Verfassungsgebung war. 1. Konstitutioneller Charakter der westlichen Integrationspolitik

In dieser ersten Phase der Westpolitik ist es vor allem die Mitwirkung an drei großen, als Gesetzgebungsverträge („Law-making Treaties“) dauerhaft gemeinten Vertragswerken gewesen, die nicht nur die außenpolitisch/europäische Lage der Bundesrepublik maßgeblich prägte, sondern kraft völkerrechtlicher Grundentscheidungen zugleich die verfassungsmäßige Struktur unseres Staates in Verschränkung mit dem Grundgesetz bis auf den heutigen Tag bestimmt. Man kann von dieser ersten Phase bundesdeutscher Außenpolitik sagen, daß sie stärker „konstitutionell“ im Sinne von verfassungsprägend gewesen ist als alles Nachfolgende. Daher gehe ich auf die Westpolitik etwas ausführlicher ein als auf die folgenden Etappen. Es geht um den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zum Europarat 1951 und damit in engem Zusammenhang um die Beteiligung an der Europäischen Menschenrechtskonvention seit 1953, ferner um die Mit-

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gründung der Europäischen Gemeinschaften für Kohle und Stahl 1950 ff. sowie für Wirtschaft und friedliche Nutzung der Kernenergie ab 1955 und schließlich um den ebenfalls 1955 wirksam gewordenen Beitritt der Bundesrepublik zur Atlantischen Allianz. 2. Europapolitik als deutsche Verfassungspolitik

Die Beteiligung der Bundesrepublik am Europarat seit Anfang der fünfziger Jahre und dann vor allem die wesentliche Mitgestaltung der Europäischen Gemeinschaft wenige Jahre später haben durch fühlbare Souveränitätsübertragungen gemäß Art. 24 Abs. 1 auf diese inter- und supranationalen Einrichtungen die bundesdeutsche Gesamtverfassung in erheblichem Ausmaß beeinflußt. Im Bereich der Grund- und Menschenrechte findet über die Individualbeschwerde des Art. 25 EMRK zur Straßburger Menschenrechtskommission, über die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte und die j 37 analoge Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts inzwischen eine jahrzehntelange, wechselseitige Befruchtung europäischer und deutscher Rechtsprechung und Rechtsentwicklung zu den Grund- und Menschenrechten statt. Dieser Dialog ist in seiner Intensität und in den dogmatischen Ergebnissen zu einem Bestandteil deutscher Verfassungsentwicklung geworden. Noch mehr mit Händen zu greifen ist nach nahezu vier Jahrzehnten der Einfluß des EG-Rechts auf das deutsche Verfassungs- und Rechtsleben. Bei allen politischen Aufs und Abs der Gemeinschaftsgeschichte seit den sechziger Jahren hat sich das primäre und sekundäre Recht der Europäischen Gemeinschaft, also die Verträge selbst und die Brüsseler Verordnungen und Richtlinien mittels des unbedingten, inzwischen vom Bundesverfassungsgericht weithin anerkannten Vorranges des Gemeinschaftsrechts als eine Art „Zweitverfassung“ quer durch die vom Grundgesetz geregelten Sachbereiche geschoben. In den von der Europäischen Gemeinschaft beanspruchten Regelungsfeldern tritt das deutsche Recht jeder Rangstufe zurück. Auf diese Weise erweist sich das Europarecht mittlerweile mehr und mehr als eine Ergänzung des innerstaatlichen deutschen Rechts und hat sich von seinen völkerrechtlichen Ursprüngen weithin gelöst. Spätestens seit der letzten EG-Verfassungsreform 1987 in Gestalt der Einheitlichen Europäischen Akte dürfte auch dem letzten Zweifler klar geworden sein, daß die „Reise nach Europa“ – in welchem Tempo letztlich auch immer – wesentlich weiter geht, als viele ursprünglich geglaubt hatten. Art. 1 EEA hat mittlerweile rechtsverbindlich festgelegt, daß sich die Gemeinschaft mit dem Ziel einer alle relevanten Staatsaufgaben einschließlich der Sicherheitspolitik umfassenden Europäischen Union voll und ganz der Gesamtpolitik und nicht nur der Wirtschaft verschrieben hat. Ähnliches hatte bereits in den sechziger Jahren der erste Kommissionspräsident Walter Hallstein prophezeit, als er gegen viele Widerstände den europäischen Zug auf die Geleise setzte: „We are in politics, not

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I. Grundfragen der europäischen Integration

only in economics!“ Nachdem mittlerweile im „Europa der Bürger“ der achtziger Jahre bereits französische Studenten in der Bundesrepublik ihr BAföG einzufordern versuchen und Vertreter des deutschen Beamtenbundes argwöhnen, die Europäische Gemeinschaft werde eines Tages trotz Art. 33 Abs. 5 GG das deutsche Berufsbeamtentum durch die Europafreizügigkeit aushöhlen, spricht sich die Erkenntnis herum, daß es mit der Europäisierung der allermeisten verfassungsrelevanten Lebensverhältnisse Ernst wird. 3. Europäisierungen der grundgesetzlichen Ordnung

Was sind nun die wesentlichsten Punkte, in denen sich die jahrzehntelange Beeinflussung unserer Verfassung durch das Europarecht zusammenfassen läßt? Die fortschreitende Vergemeinschaftung unserer Verfassungs- und Rechtsordnung gehört zu den wichtigsten Entwicklungen seit den Tagen des Parlamentarischen Rates. In manchen Bereichen setzt sie erst seit Mitte der achtziger Jahre j 38 mit dem Entschluß zu dem großen Unternehmen voll ein, das mit „Europäischer Binnenmarkt 1992“ nur unzureichend, weil ökonomisch verkürzt, umschrieben wird. Vielleicht kann man drei mehr rechtsförmliche, andererseits gewisse inhaltliche Merkmale dieses Europäisierungsprozesses umschreiben. Erstens die Einsicht in die Relativität einer ganzen Reihe von Entscheidungen unserer deutschen Rechtsordnung, die durch vorrangige europäische Rechtsakte teilweise einschneidenden Änderungen unterzogen wurden. Das beginnt bei banalen Beispielen, etwa auf der Ebene des öffentlichen Landwirtschaftsrechts, wo die alte deutsche Weinklassifizierung seit einem guten Jahrzehnt einem „Europa-System“ gewichen ist, das sich wesentlich an französischen Vorbildern orientiert. Insgesamt ist dieser Europäisierungsprozeß ein faszinierender Vorgang des Gebens und Nehmens zwischen den nationalen Rechtsordnungen Westeuropas. Dabei pflegt sich neben mancherlei Zufälligkeiten doch bis zu einem gewissen Grade die höhere Rationalität und Überzeugungskraft des einen oder anderen nationalen Modells jeweils durchzusetzen. Sofern nicht überhaupt nur eine Seite die gebende ist, wie etwa im Falle des europäischen Wettbewerbsrechts der Art. 85 ff. EWG-Vertrag, wo außer dem deutschen System des 1958 zeitgleich mit dem EWG-Vertrag in Kraft getretenen Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen in anderen Mitgliedstaaten kaum Ansätze vorhanden waren, auf denen eine EG-Wettbewerbspolitik hätte aufbauen können. Dieser Angleichungs- und Abschleifungsprozeß, dem die deutsche wie andere nationale Rechtsordnungen ausgesetzt sind, macht vor Verfassungsprinzipien ersten Ranges nicht halt. Das ist der zweite rechtsförmliche Punkt. Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts gilt bekanntlich auf allen Ebenen. Nicht nur das Bundesverfassungsgericht, sondern neuerdings sogar die neugeschaffene Europakammer des Bundesrates, stark bayerisch geprägte Zitadelle streng föderaler Grundgesetzauslegung, muß das zur Kenntnis nehmen. Auch eine Verordnung

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oder Richtlinie der Gemeinschaft kann nötigenfalls – dieser Konflikt sollte sicherlich nicht leichtfertig gesucht werden – einen Artikel des Grundgesetzes ähnlich verdrängen wie über Art. 31 GG ein Bundesgesetz oder sogar eine Bundes-Rechtsverordnung eine Norm der Landesverfassung bricht. Im Falle der Grundrechte des Grundgesetzes hat sich das Bundesverfassungsgericht mittlerweile auf einem langen Wege von „Solange I“ bis „Solange II“ dem Vorranganspruch des Gemeinschaftsrechts nicht mehr verschlossen. Man mag bezweifeln, daß die Hüter des deutschen Föderalismus überzeugen, wenn sie glauben, beispielsweise die bildungs- oder medienrechtlichen Konsequenzen eines „Europas der Bürger“, also etwa EG-Fremdsprachenprogramme oder ein „Fernsehen ohne Grenzen“ vor nationalen Gerichten mit dem Hinweis auf die Ewigkeitsgarantie unserer Bundesstaatlichkeit in Art. 79 Abs. 3 GG abwenden zu können. Gewiß soll man solche Auffassungen, welche die eigene Verfassung ernst nehmen, verstehen und grundgesetzliche Entscheidungen nicht leichtfertig beiseite schieben. Andererseits sollte überall die Einsicht in den durch Europa j gebotenen natio- 39 nalen Verfassungswandel wachsen. Was die Bundesrepublik im großen mit den Gemeinschaftsverträgen in ihrer 1987 ergänzten Gestalt gewollt und unterschrieben hat, muß nunmehr in dem qualvollen Prozeß europäischer und deutscher Verfassungsauslegung in die kleine Münze konkreter Sachentscheidungen umgesetzt werden. Dabei darf aus deutscher Sicht nicht unbemerkt bleiben, daß das alte, im Zusammenhang mit Art. 24 Abs. 1 und 79 Abs. 3 GG gerne verwendete Argument mangelnder struktureller Homogenität der europäischen und deutschen Verfassungsordnung, genauer gesagt das Demokratiedefizit der Europäischen Gemeinschaft, erheblich an Überzeugungskraft verloren hat. Seitdem die Position des Europäischen Parlamentes durch Direktwahlen und Kompetenzerweiterung in der Einheitlichen Europäischen Akte aufgewertet wurde und ein sehenswerter Grundrechts- und Rechtsstaatsstandard auf Gemeinschaftsebene über die ständige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes gewährleistet ist, werden die deutsche und die europäische Ebene zunehmend homogener, sodaß Europäisierungen in neuralgischen Bereichen nicht mehr ohne weiteres an rechtsstaatlich-demokratischen Bedenken scheitern müssen. Damit ist zugleich die dritte rechtsförmliche Beobachtung zum Europäisierungsprozeß unserer Verfassungs- und Rechtsordnung angesprochen. Neben vielen anderen erweist sich die Europäische Gemeinschaft dadurch als ein staatsnahes und nicht so sehr völkerrechtlich bestimmtes Gebilde, daß die rechtsprechende Gewalt in der Gemeinschaft einen hervorragenden Platz einnimmt. Der frühere deutsche Richter am EuGH Ulrich Everling bezeichnete den Europäischen Gerichtshof sogar gerne als die einzige voll funktionsfähige Gemeinschaftseinrichtung. Erst die Rechtsprechung aus Luxemburg, die inzwischen trotz oftmals lakonischer Kürze in ihrem jährlichen Umfang die „Produktion“ des Bundesverfassungsgerichts oder auch des Bundesgerichtshofes hinter sich gelassen hat, verschaffte den Regelungen des sekundären Gemeinschaftsrechts

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I. Grundfragen der europäischen Integration

wirklichen Einlaß in die nationalen Rechtsordnungen. In diesem Zusammenhang verdient – trotz vereinzelter Sündenfalle – die grundsätzliche Bereitschaft deutscher Behörden und Gerichte, die europäische Rechtsprechung positiv aufzunehmen, lobende Hervorhebung. Sicher spielte dabei die Tatsache eine wesentliche Rolle, daß im „Rechtswegestaat des Grundgesetzes“ (Fritz Werner) alle Akteure auf breiter Front gewohnt sind, richterliche Entscheidungen als das letzte Wort zur Klärung von Streitfragen anzusehen und sich entsprechend einzurichten. Das geht bis zur regelmäßig – bisher noch mit Ausnahme des Bundesverfassungsgerichts – vorhandenen Bereitschaft auch oberster Bundesgerichte, durch Inanspruchnahme der Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofes gemäß Art. 177 EWG-Vertrag die Letztkompetenz des Luxemburger Hofes zur verbindlichen Auslegung des Europarechts von vornherein vorauszusetzen. Wie auch immer: die jährlichen 200–300 Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes bedeuten in ihrer intensiven Beeinflussung des deutschen Rechts ebenso viele Mosaiksteine, mit denen die Europäisierung unserer Rechtsordnung ständig voranschreitet. j 40

4. Deutsch-europäische Parallelentwicklungen

In welche inhaltliche Richtung verläuft die Vergemeinschaftung unserer Verfassungs- und Rechtsordnung? Dazu noch einige kurze Bemerkungen. Im großen und ganzen läßt sich sagen, daß der Kurs der europäischen Integration, wie er aus den grundlegenden Entscheidungen des primären und sekundären Gemeinschaftsrechts seit den sechziger Jahren ablesbar ist, mit dem Hauptstrom der bundesdeutschen Verfassungs- und Rechtspolitik in jenen Jahren parallel gelaufen ist. Was den allgemeinen rechtsstaatlichen Standard im weitesten Sinne, also einschließlich der Grundrechtsentwicklung anbelangt, habe ich das bereits angedeutet. Insoweit kann man sagen, daß die anfangs kritische Haltung des Bundesverfassungsgerichts („Solange I“) in den siebziger Jahren zur rechtsstaatlichen Homogenität der europäischen mit der deutschen Verfassungsordnung auch ihre guten Seiten hatte. Sie forderte Brüssel und Luxemburg zum ständigen Nachweis entsprechender Gewährleistungen auf Gemeinschaftsebene heraus. Überhaupt läßt sich feststellen, daß die großen dogmatischen Leistungen der letzten Jahrzehnte im deutschen Verwaltungs- und Verfassungsrecht, zu denen das Grundgesetz Rechtstheorie und Rechtspraxis antrieb, bis zu einem gewissen Grade auf europäischer Ebene rezipiert wurden. Während bei der Entstehung der Gemeinschaftsverträge in den fünfziger Jahren der Einfluß der französischen Verwaltungsrechtstradition auf die EG-Rechtsetzung und auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes sehr stark war, sind im Laufe der Zeit Einflüsse aus anderen Rechtsordnungen wirksam geworden – nicht zuletzt von deutscher Seite. Jochen Frowein hat in diesem Zusammenhang beispielsweise einmal vom „Siegeszug des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Eu-

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roparecht“ gesprochen. Ähnliches ließe sich zur Dogmatik des allgemeinen und besonderen Gleichheitssatzes sagen. Aus ihr sind in der kühnen Verbindung von Art. 7, 128 und 235 EWG-Vertrag in den letzten Jahren richterrechtliche Schubkräfte hervorgegangen, die dem Gedanken des „Europas der Bürger“ über den rein wirtschaftlichen Anwendungsbereich der Verträge hinaus weit in die Kulturordnung hinein Geltung verschaffen. Auch in dem, was man trotz allen begrifflichen Streites gerne mit dem Begriff der Wirtschaftsverfassung umschreibt, ergeben sich Gemeinsamkeiten zwischen der grundgesetzlichen Primär- und der europäischen Sekundärverfassung. Wenn man in der wirtschaftlichen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG, in der Koalitionsfreiheit des Art. 9, in der Berufsfreiheit des Art. 12 und in der Eigentumsgarantie des Art. 14 GG Eckdaten einer freiheitsgeneigten Wirtschaftsverfassung des GG sieht – sicherlich mit dem Sozialstaatsprinzip verschränkt –, so fügt sich die europäische Wirtschaftsverfassung – ihrerseits rudimentär – in ein solches Bild ein. Vor allem das Marktprinzip im Sinne der grundlegenden Liberalisierungspflichten im Waren-, Personen-, Dienstleistungsund Kapitalverkehr gemäß dem EWG-Vertrag gehört in diesen Zusammenhang. Der Blick auf die konkrete wirtschaftsrechtliche Ausgestaltung der j wirtschafts- 41 verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen in Bundesgesetzgebung einerseits, europäischen Verordnungen und Richtlinien andererseits, verstärkt den Eindruck der Parallelität. Man denke nur an wichtige Bereiche der EG-Rechtsangleichung im Vermarktungsbereich oder an ähnliche Zielsetzungen im deutschen GWB und im europäischen Wettbewerbsrecht. Das schließt gelegentliche schmerzhafte Auseinandersetzungen und Anpassungsprozesse nicht aus. So muß etwa ein so deutscher Wirtschaftszweig wie die Bierherstellung feststellen, daß nach nichtmittelalterlichen, ausländischen Normen gebrautes Bier nicht schlechthin als gesundheitsschädlich angesehen werden muß. Oder es bereiten hier und dort das ordnungspolitische und ordnungsrechtliche Umdenken auf die Größenordnungen des europäischen Binnenmarktes Schwierigkeiten, sei es im Konflikt zwischen europäischer und deutscher Fusionskontrolle oder bei Neuüberlegungen zu grenzüberschreitend wettbewerbsfähigen Größenordnungen öffentlicher Rundfunkanstalten in der Bundesrepublik. Wer sich in die Einzelheiten vertieft, mag hier und an anderen Beispielen gegenläufige Tendenzen zu der herausgestellten deutsch/europäischen Parallelentwicklung in Rechts- und Verfassungspolitik entdecken. Ich bleibe gleichwohl bei meiner Grundthese, daß der „Dienst am Vereinten Europa“ – um auf die Präambel zurückzukommen – nach der Erfahrung von vier Jahrzehnten Rechtsentwicklung insgesamt keine nennenswerte Deformierung des Grundgesetzes und der deutschen Rechtsordnung mit sich gebracht hat. Die Europäisierungszwänge bewirkten im Gegenteil meistens eine glückliche Bestätigung und organische Fortentwicklung wesentlicher deutscher Verfassungsentscheidungen durch ihre Übertragung auf die EG-Ebene.

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I. Grundfragen der europäischen Integration 5. Verteidigungspolitik als Friedenspolitik

Schließlich ist noch auf das zweite große Vertragswerk aufmerksam zu machen, welches seit der Westpolitik der fünfziger Jahre über drei Jahrzehnte auf seine Weise die Verfassungsentwicklung unseres Staates beeinflußt hat. Rückblickend erweisen sich die beiden Monate April und Mai 1949 für die Bundesrepublik Deutschland in dreifacher Weise von schicksalhafter Bedeutung. Nicht nur unser Staatswesen verfaßte sich im Grundgesetz am 8. bzw. am 23. Mai neu. Zwei Jahre später erhielt die Bundesrepublik über die Aufnahme in den am 5. Mai 1949 gegründeten Europarat die frühe Chance gleichberechtigter Mitwirkung am westeuropäischen Einigungsprozeß. Wenige Wochen zuvor, am 4. April 1949, schlossen sich angesichts der Bedrohung durch Stalins Sowjetunion die Vereinigten Staaten und ihre traditionellen westeuropäischen Kriegsalliierten militärisch und sicherheitspolitisch im Nordatlantikpakt zusammen. Nach einer verschlungenen Vorgeschichte, die 1954 das Scheitern einer europäischen Verteidigungskonzeption in Gestalt der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft einschloß, wurde die Bundesrepublik Deutschland 1955 Mitglied dieses Bündnisses. Bundeskanzler Helmut Kohl hat die Mitgliedschaft in der j 42 Atlantischen Allianz gelegentlich als „Staatsraison“ unserer Republik bezeichnet. Eine solch fundamentale Wortwahl mag etwas überhöht erscheinen. Gleichwohl berührt sie Richtiges. Nicht so tiefgehend und zugleich breit wie im Falle der Option für die Europäische Gemeinschaft, aber doch weit über die Beteiligung an einem beliebigen völkerrechtlichen Vertrage hinaus hat die Mitgliedschaft in der Allianz die verfassungsmäßigen Grundlagen unseres Staates mitgeprägt. Als erstes gilt dies schon in einem förmlichen Sinne. Nur durch die gleichzeitige Einbindung in das übernationale Militärbündnis des Westens wurde 1956 die Ergänzung des Grundgesetzes um die Wehrverfassung politisch möglich. So vollendete sich das Grundgesetz zur Vollverfassung im klassischen Sinne. Anders ausgedrückt: erst der Aufbau von vertraglich nach Zahl und Waffenqualität begrenzten Streitkräften verwandelte die Bundesrepublik Deutschland aus einem Spielball fremder Interessen in einen Faktor der europäisch-internationalen Ordnung, der in aller machtmäßigen Begrenztheit seinen eigenen Part im Konzert der Mächte zu spielen vermag. Mochte die mit dem NATOBeitritt über den Deutschlandvertrag wiedererlangte Souveränität in wichtigen Fragen wie Berlin und Deutschland als Ganzes auch eingeschränkt geblieben sein, war der Unterschied zum Status quo ante doch unübersehbar. Ein Land ohne volle Souveränität, aber nicht, wie Helmut Rumpf es gerne formulierte, ein „Land ohne Souveränität“, das ist die Bundesrepublik Deutschland seither. Ein verfassungspolitisch wichtiger zusätzlicher Aspekt der deutschen Einbettung in die westliche Allianz lag darin, daß die verfassungsmäßige Bändigung der Militärgewalt nach unglücklichen Sonderlösungen in der deutschen Vergangenheit nunmehr ganz selbstverständlich an die Standards der großen parlamen-

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tarischen Demokratien anknüpfte. Eindeutige Begrenzung auf den Verteidigungszweck und zivile Kontrolle der Streitkräfte waren die Leitgedanken, die der verfassungsändernde Gesetzgeber Mitte der fünfziger Jahre vor allem in Art. 65 a und 87 a der neuen Wehrverfassung zugrundelegte. Entsprach die Mitgliedschaft im nordatlantischen Bündnis auf diese Weise dem internationalen Verfassungsauftrag des Jahres 1949? Wer sich das Vertragswerk, die Organisation und tatsächliche Entwicklung der NATO vergegenwärtigt, kann der Atlantischen Allianz den Charakter als Verteidigungsbündnis regionaler kollektiver Sicherheit im Sinne des Art. 24 Abs. 2 GG nicht absprechen, mit anderen Worten: jene friedenssichernde Funktion der Allianz, die in den 40 Jahren seit 1949, gleichzeitig die Jahre der Geschichte der Bundesrepublik, längst ihre Bewährungsprobe bestanden hat. Ebenso wichtig wie die Erfüllung des ureigensten Sicherheitsauftrages der Allianz ist jedoch für die politisch-rechtliche Entwicklung unserer Republik die Tatsache gewesen, daß der Nordatlantikpakt nach seinem Buchstaben und in der politischen Praxis mehr sein will als ein Verteidigungsbündnis. Daran möchte wohl das Wort von der „Staatsraison“ ebenso erinnern wie gelegentliche Bezeichnungen des Bündnisses als Atlantische Gemeinschaft oder Wertege- j 43 meinschaft. In der Tat: für die Bundesrepublik Deutschland bedeutete der durch den Kalten Krieg ermöglichte frühzeitige Beitritt zur Allianz weit über das Militärische hinaus die Teilhabe an einer Staatengruppe, welche sich aufgrund geschichtlicher Erfahrungen zu einer gemeinsamen, allgemein politischen „Philosophie“ bekennt. Der Glaube an Sinn und Wert demokratischer Staatsformen und an eine geschichtlich gewachsene, dauerhafte amerikanisch-europäische Zusammengehörigkeit gehört ebenso dazu wie die grundsätzliche Überzeugung, daß auch im Zeitalter des Versuches der Kriegsüberwindung durch Rüstungskontrolle und andere völkerrechtliche Anstrengungen für die Wahrnehmung des Friedens ein gewisses Maß eigener militärischer Stärke unverzichtbar bleibt. Letzteres verbunden mit der unbedingten Beschränkung solcher Macht auf Verteidigungszwecke und der Offenheit des Bündnisses zum spannungs-vermindernden Dialog mit der potentiellen Gegenseite. Das große „Philosophie-Papier“ der Allianz, der viel zitierte Harmel-Bericht von 1967, legt von beidem Zeugnis ab. Staatsraison oder nicht: Wer unvoreingenommen auf die inzwischen bald 35 Jahre NATO-Mitgliedschaft der Bundesrepublik Deutschland zurückblickt, wird nicht unähnlich wie im Falle ihrer Einbindung in das europäische Einigungswerk feststellen, daß die Westpolitik unseres Staates in den fünfziger Jahren und anschließend bis heute Buchstaben und Geist des internationalen Verfassungsauftrages folgte, wie ihn der Parlamentarische Rat 1949 formuliert hatte.

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I. Grundfragen der europäischen Integration

V. Ostpolitik Kann man dasselbe auch von jener Vertragspolitik des Ausgleichs mit den mittel- und osteuropäischen Nachbarstaaten der Bundesrepublik Deutschland sagen, die nach dem Bonner Regierungswechsel 1969 über die inzwischen schon Zeitgeschichte gewordene Regierungserklärung vom 28.10.1969 eingeleitet wurde, in der erstmals offiziell von „zwei Staaten in Deutschland“ die Rede war? Aus der Rückschau von heute besteht wenig Zweifel, daß jenes Jahr nicht nur für die Beurteilung des schwierigen Komplexes, den man die „Rechtslage Deutschlands“ zu nennen pflegt, eine einschneidende Zäsur bedeutete, sondern ebenso für die internationale Politik der Bundesrepublik. Dieser außenpolitische Einschnitt löste unseren Staat durch den Abschied von lange als unverzichtbar empfundenen Doktrinen und Tabus aus Erstarrungen und vergrößerte seinen internationalen Handlungsspielraum beträchtlich. Voll verständlich ist er nur vor dem Hintergrund des allgemeinen gesellschaftlichen Bewußtseins- und Wertewandels, für den nicht nur an den deutschen Hochschulen und auch keineswegs auf Deutschland beschränkt die Jahreszahl „1968“ steht. Das damalige Ende der Nachkriegszeit teilt 1989 die Geschichte der Bundesrepublik in zwei zeitgeschichtlich sehr unterschiedliche Hälften. j 44

1. Ostpolitik als Friedenspolitik

Für den internationalen Verfassungsauftrag des Grundgesetzes bedeuteten die Leitlinien der neuen „Ostpolitik“ der sozialliberalen Koalition kein sonderliches Problem – im Gegenteil! Die Zielsetzung der Brandtschen Politik war europäisch in einem die bisherige Westpolitik – die fortgesetzt wurde – ergänzenden, gesamteuropäischen Sinne. Daß sie Friedenspolitik sein wollte, wurde bereits vor der Verleihung des Friedensnobelpreises an ihren ersten Exponenten nirgendwo ernsthaft in Frage gestellt – die Gegnerschaft zu ihr gründete eher darin, daß sie zu einseitig nur Friedenspolitik sei und andere Verfassungspositionen vernachlässige, mit denen sich dann das Bundesverfassungsgericht 1973 in seinem Urteil zum Grundlagenvertrag mit der DDR zu beschäftigen hatte. 2. Ostpolitik als Verfassungspolitik?

Hier interessiert vor allem die Frage, ob die eigentlichen Ostverträge, also von Moskau und Warschau 1970, von Prag 1973 (den Grundlagenvertrag 1972 und das Berlin-Abkommen 1971 lasse ich mit Blick auf den Vortrag Herrn von Mangoldts beiseite) ähnlich wie die Westverträge der fünfziger Jahre die Verfassungsordnung des Grundgesetzes bleibend mitgeprägt haben. Sind sie Bestandteil jener „Gesamtverfassung“ unseres Staates geworden, zu der wie die prägende Gesetzgebung im Inneren in einem materiellen Sinne auch die dauerhaften internationalen Optionen gehören. So gefragt, kann die Antwort nur zö-

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gerlich ausfallen, ohne daß der erstrangige politische Stellenwert der Ostverträge damit übersehen werden soll. Oftmals ist in der politischen Diskussion zwar von diesen Verträgen als von einer Ergänzung der Westverträge der fünfziger Jahre gesprochen worden. Das ist jedoch nur in einem sehr allgemeinen Sinne zutreffend. Rechtlich waren die Ostverträge nichts anderes als bilaterale Abmachungen im Sinne des klassischen Völkerrechts, in denen zwischen den Parteien konkrete Fragen, vor allem der geltenden Staatsgrenzen, geregelt und andererseits bestimmte Prinzipien aus der Charta der Vereinten Nationen, insbesondere das Gewaltverbot, als Leitlinien der beiderseitigen Beziehungen bekräftigt wurden. Der Wunsch nach besserer künftiger Zusammenarbeit wird zwar zum Ausdruck gebracht. Es fehlt aber jeder institutionelle Ansatz etwa im Sinne von Art. 24 Abs. 1 GG, der die Verträge zu einer Vorstufe definitiv gemeinter gesamteuropäischer Kooperation gemacht hätte. Das war aus der Situation des ersten Brückenschlages nach Osten 1969 und angesichts der damals tiefgehenden Unterschiede der politischen Systeme in Ost und West nicht anders zu erwarten. Vorformen ständiger intersystemarer Kooperation in Gesamteuropa enthält erst die Schlußakte von Helsinki 1975, die den flexiblen KSZEVerhandlungsprozeß auslöste, an dem sich die Bundesrepublik Deutschland seither beteiligt. Er stellt die umfassendste Form eines gesamteuropäischen Dialoges dar, allerdings zugleich mit allen Schwächen eines solchen breitgefächerten, endlosen Gespräches. j Verfassungsrelevanz im Sinne des Grundgesetzes wie im 45 Falle der Einwirkungen der Tätigkeit der Europäischen Gemeinschaft oder des Europarates auf die deutsche Rechtsordnung wird man der deutschen Mitwirkung in der KSZE nicht zusprechen können, zumal die Schlußakte von 1975, die Basis dieser Verhandlungsmaschinerie, nach herrschender Auffassung nicht als völkerrechtlicher Vertrag, sondern bestenfalls als „Soft Law“ qualifiziert wird. 3. Ostpolitik als Selbstfindung der Bundesrepublik Deutschland

Ein Stück der Gesamtverfassung unseres Staates sind die Ostverträge demnach nicht geworden. In einem tiefergehenden Verständnis wird man ihren Abschluß durch die Bundesrepublik Deutschland gleichwohl als bedeutsamen Akt in der Entwicklung unseres verfassungspolitischen Grundverständnisses begreifen müssen. Golo Mann hat verschiedentlich von der schwierigen, aber unvermeidlichen Suche der Bundesrepublik nach ihrer Selbstidentität gesprochen. Ihr steht vieles im Wege, angefangen von dem 1949 sehr verständlich postulierten provisorischen oder transitorischen Charakter des Grundgesetzes, dann vor allem das wie in Weimar 1919 so in Bonn 40 Jahre später ausgesprochene und bis heute durchgehaltene Bekenntnis der Bundesrepublik Deutschland zur Identität mit dem früheren Deutschen Reich in seinen guten und bösen Tagen. Dennoch war es wohl ein die Verfassung konsolidierender Vorgang, daß sich die Bundesrepublik nach zwei Jahrzehnten am Ende der Nachkriegszeit dazu ver-

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I. Grundfragen der europäischen Integration

stand, die Wirklichkeit der durch das Deutsche Reich 1945 mitverursachten europäischen Nachkriegsordnung anzuerkennen. Sie schrieb in Moskau, Warschau und Prag „als Bundesrepublik Deutschland“ sowohl die innerdeutsche wie die Oder-Neiße-Grenze völkerrechtlich als unverletzlich fest (letztere „für alle Zukunft“) und bezeichnete in Prag das Münchner Abkommen als nichtig. Begleitende Dokumente wie der Brief zur deutschen Einheit, Entschließungen des Deutschen Bundestages und ausführliche Judikatur des Bundesverfassungsgerichts haben gleichzeitig dafür gesorgt, daß die Unterschiede zwischen dem Deutschlandbild des Grundgesetzes von 1949 und den 20 Jahre später entstandenen Ostverträgen für den deutschen Hausgebrauch als tragbar angesehen wurden und das für die Zukunft weiter verhandlungsfähig blieb, was die Präambel des Grundlagenvertrages zwischen den beiden deutschen Staaten 1972 etwas verschämt die „nationale Frage“ nannte. Zu diesen offiziellen Deutungen gehörte freilich auch, daß sich die Fortexistenz des Deutschen Reiches in Gestalt der Bundesrepublik nunmehr stärker als früher geglaubt auf den Raum zwischen Rhein und Elbe beschränkte. Immerhin wurde nach zwei weiteren Jahrzehnten 1987 der Chef jener von Kurt Georg Kiesinger noch 1966 als „Phänomen“ bezeichneten Deutschen Demokratischen Republik von einem seiner Nachfolger als Bundeskanzler in Bonn vor dem Kanzleramt mit dem klingenden Spiel der beiderseitigen Nationalhymnen empfangen. Hier und bei anderen Gelegenheiten symbolisierte sich augenfällig, daß 46 j der außenpolitische Umbruch der Ostverträge nach 1969 trotz aller Kargheit der Texte kraft der Rolle, welche die Bundesrepublik Deutschland hierbei übernahm, als Teil einer bedeutsamen Verfassungskonsolidierung begriffen werden mußte. Die Bundesrepublik hat seit Anfang der siebziger Jahre für eine unbestimmte Zeit zu sich selbst gefunden und ihr Verhältnis zu den östlichen Nachbarn dementsprechend eingerichtet. Alle nachfolgenden Bundesregierungen sind auf diesem Wege fortgeschritten. Ob er, wie es wohl Golo Mann meinte, in eine Verfestigung der deutschen Zweistaatlichkeit führt, in ein Ende aller Illusionen? Wieviel Offenheit birgt die nationale Frage, von der die Präambel des Grundlagenvertrages spricht, tatsächlich noch in sich? Das sind Fragen an die Geschichte und an uns selbst, aber nicht Sache der Prophetie1.

1 Der Vortrag wurde im Mai 1989 gehalten; seitdem ist die deutsche Frage durch die dramatische Wende in der DDR im Herbst 1989 wieder in den Mittelpunkt europäischen und deutschen Interesses gerückt worden. Die obigen Aussagen spiegeln wider, wie überraschend der jähe Zusammenbruch des scheinbar so stabilen volksdemokratischen Systems in der DDR für alle Beobachter im Westen kam. So mag es nicht ohne Interesse sein, solche Aussagen unverändert festzuhalten.

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VI. Weltpolitik Eine unmittelbare Folge der Selbstfindung und Selbstanerkennung der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren zwischen 1969 und 1972 war die Gewinnung der Fähigkeit, voll in die Weltpolitik einzutreten. Vor allem die wie auch immer näher zu interpretierende Anerkennung der Deutschen Demokratischen Republik und der damit einhergehende Verzicht auf die selbstgewählte Fessel der Hallstein-Doktrin ermöglichte nunmehr die Entwicklung von Beziehungen mit allen Staaten der Welt kraft eigener Zielsetzungen. 1. Die Zäsur des deutschen UN-Beitritts 1973

Der Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zu den Vereinten Nationen 1973 war das sichtbarste Zeichen für diesen Abschluß des Eintrittes in eine mittlerweile auf über 150 Staaten angewachsene Völkergemeinschaft. Im Grunde zum ersten Male seit 1914, von wenigen, bald überschatteten Jahren der Endphase der Weimarer Republik abgesehen, ergab sich für unser Land die Möglichkeit einer prinzipiell gleichberechtigten Mitwirkung in den globalen internationalen Beziehungen. Der Auftrag der Präambel, dem Frieden „der Welt“ zu dienen, erhielt damit seine ganze Dimension. Dies galt vor allem, wenn man ihn im Sinne einer erweiterten Friedensvorstellung nicht auf reine Kriegsverhütung begrenzt ansah, sondern gemäß Art. 1 Ziff. 2 Charta der Vereinten Nationen auch „andere geeignete Maßnahmen zur Festigung des Weltfriedens“ einbezog, politischer, wirtschaftlich/sozialer oder kultureller Art. Inwieweit hat die Bundesrepublik mit den Anfängen ihrer Weltpolitik in den j 47 letzen anderthalb Jahrzehnten den internationalen Verfassungsauftrag auf dieser dritten, anspruchsvollsten Ebene bereits eingelöst? Das sei die abschließende Frage, wobei auch hier vor allem die Antwort mit den Mitteln des Völkerrechts interessiert. 2. Breite und Tiefe deutscher Weltpolitik

Nehmen wir das Fazit vorweg: wenn man das weltweite völkerrechtliche Engagement der Bundesrepublik Deutschland in bilateraler und multilateraler Hinsicht in den letzten Jahrzehnten zusammenfassend zu charakterisieren versucht, beeindruckt seine Breite ebenso wie die Tiefe. Nicht erst nach 1973, sondern sofort zu Beginn der fünfziger Jahre – neben der Westpolitik – hat sich unser Staatswesen der Aufgabe gestellt, in einer bald mit der Dekolonisierung der sechziger Jahre zunehmend ungleichen und gegenseitig abhängigen Weltordnung denjenigen Part zu übernehmen, der ihm als entwickelter Industriestaat wie von selbst zufiel. Doch wäre es falsch, in der kraft des „Wirtschaftswunders“ der fünfziger Jahre rasch gewonnenen materiellen Handlungsfähigkeit der

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I. Grundfragen der europäischen Integration

Bundesrepublik Deutschland den einzigen Grund für die entschlossene internationale Kooperationsbereitschaft unseres Staates zu erblicken. Der Wille zum „Dienst am Frieden“ im Sinne der Präambel speiste sich gerade in den frühen Jahren der Bundesrepublik wesentlich aus dem Bestreben, für die düstere, gerade erst überwundene Vergangenheit des Dritten Reiches einstehen zu wollen und über konkrete Akte des guten Willens die internationale Gleichberechtigung nicht nur formal zu erringen. Eine der ersten internationalen Taten der jungen Bundesrepublik war 1953 der auf komplizierten Wegen zuletzt in Luxemburg ausgehandelte Vertrag mit dem Staate Israel. Hier übernahm unser Staat, wesentlich in Anerkennung einer moralisch-geschichtlichen Schuld, die grundsätzliche Verpflichtung zur Wiedergutmachung des nationalsozialistischen Unrechts, die anschießend über Jahrzehnte eingelöst wurde. Rein völkerrechtsförmlich gesehen hätte die Frage der Haftung der Bundesrepublik Deutschland gegenüber dem Staate Israel, der erst 1948 entstanden war, mit guten Gründen verneint werden können. Ein anderes Beispiel bildete das Londoner Schuldenabkommen aus demselben Jahre 1953, in dem Hermann Josef Abs die finanzielle Nagelprobe auf die Identität der Bundesrepublik Deutschland mit dem Deutschen Reich vollzog und die internationale Kreditwürdigkeit unseres Landes wiederherstellte. Gewiß spielten bei der Entscheidung der Bundesrepublik, die Schulden des Deutschen Reiches grundsätzlich zu honorieren, wirtschaftliche Motive kräftig mit. Jedoch beruhte die Grundeinstellung, mit der die Bundesrepublik in diese weitreichenden Verhandlungen eintrat, zugleich auf darüber hinausgehenden, politischen und geschichtlichen Erwägungen. Vielleicht war in jener Aufbruchstimmung der fünfziger Jahre, deren Gesamtcharakter heute gelegentlich mit „Restauration“ sehr einseitig umschrieben wird, sogar eine Rückbesinnung auf weltbür- j 48 gerliche Eigenschaften spürbar, welche die Deutschen von Johann Wolfgang Goethe bis Thomas Mann neben provinziellem Mief und engstirnigem Nationalismus in besseren Tagen immer wieder ausgezeichnet hat. Völkerrechtsgeschichtlich sei in diesem Zusammenhang nicht vergessen, daß das Deutsche Reich schon zu Beginn dieses Jahrhunderts zu den wesentlichen Förderern der großen Haager Friedenskonferenzen zählte, wo die Grundlagen unseres humanitären Kriegsvölkerrechts gelegt wurden. Auch in der Aera Stresemann beteiligte sich das Deutsche Reich aktiv an weltweit gemeinter Kriegsverhütung und gehörte zu den ersten Signataren des kriegsächtenden BriandKellogg-Paktes von 1928. Die Liste der weiteren Beitritte zu oder Mitgestaltungen an völkerrechtlichen Instrumenten und Organisationen seitens der Bundesrepublik seit den fünfziger Jahren liest sich beeindruckend. Ich erwähne nur den damals bereits möglichen Eintritt in wichtige Sonderorganisationen der Vereinten Nationen – Internationaler Währungsfonds, Weltbank, UNESCO, Weltgesundheitsorganisation, Welt-

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ernährungsorganisation –, die seither immer wichtiger gewordene handelspolitische Beteiligung im GATT bis etwa zur Mitwirkung in OEEC und OECD, wo sich die Bundesrepublik Deutschland bei der Umgründung 1960 in der multilateral abgestimmten Gewährung von Entwicklungshilfe engagierte. Völkerrechtlich bahnbrechend wirkte Deutschland aufgrund seiner negativen Erfahrungen nach zwei Weltkriegen bei der internationalen Entwicklung eines Typus bilateraler eigentumsschützender Investitionsabkommen, von denen es seit 1959 zu Abschlüssen mit nicht weniger als 65 Staaten kam. Leitidee dieses weltwirtschaftlichen Ausgreifens war eine mit dem Namen Ludwig Erhard verbundene Außenwirtschaftsphilosophie, die im globalen Freihandel den größtmöglichen Nutzen für alle Partner sah. Sie wurde von einer immer stärker in weltweiten Kategorien denkenden Unternehmerschaft entschlossen aufgegriffen. In einer internationaler Globalsteuerung etwas zugeneigteren Form ist die Bundesrepublik seit den Tagen Helmut Schmidts dieser weltwirtschaftlichen Linie treu geblieben. Insgesamt hat sie sich in ihrer globalen Vertragspolitik als ein besonders aktives Mitglied der internationalen Staatengemeinschaft erwiesen. 3. Teilhabe am weltweiten Kodifikationsprozeß

Von noch größerer verfassungsmäßig relevanter Aussagekraft ist auf der weltpolitischen Ebene die Teilhabe der Bundesrepublik an großen völkerrechtlichen Kodifikationen, die gemäß Art. 13 Abs. 1a UN-Charta durch Aktivitäten der Generalversammlung die fortschreitende Entwicklung des Völkerrechts im Sinne einer Art internationaler Gesetzgebung begünstigen. Von den Forderungen des Grundgesetzes her gesehen, kann man insoweit nicht nur von einer allgemeinen Erfüllung des Auftrages der Präambel sprechen, sondern öfters von einer deutschen Beteiligung, die sich wie selbstverständlich der Möglichkeiten j 49 im operativen Teil des Grundgesetzes, also besonders der Art. 24 ff., bedient. Hierher rechnet vor allem die Ratifikation der beiden UN-Menschenrechtspakte von 1966 und einiger Folgeregelungen. Damit wurde dem Bekenntnis in Art. 1 Abs. 2 zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten Rechnung getragen, als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt, wie es dort so schön heißt. In den gleichen Zusammenhang der Stärkung internationaler Rechtsstaatlichkeit gehört die prinzipielle Anerkennung der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofes durch die Bundesrepublik Deutschland schon vor und besonders nach ihrem Beitritt zu den Vereinten Nationen. Mit der vielgestaltigen Beteiligung am Friedenssicherungssystem der Vereinten Nationen seit 1973 sucht Deutschland dem verfassungsrechtlichen Verbot des Angriffskrieges in Art. 26 GG auf internationaler Ebene Achtung zu verschaffen. Es bleibt zu hoffen, daß in diesem Zusammenhang bald das engherzig und keineswegs zwingend aus Art. 87a Abs. 2 GG in Vernachlässigung der

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I. Grundfragen der europäischen Integration

UNO-Klausel des Art. 24 Abs. 2 herausgelesene angebliche Verbot einer weltweiten Beteiligung der Bundeswehr an UN-Friedenstruppen revidiert wird. Die Ängstlichkeit solcher Argumentationen steht in merkwürdigem Gegensatz zum sonstigen globalen Engagement der Bundesrepublik Deutschland in Sicherheitsfragen, beispielsweise bei der Beteiligung an einer größeren Zahl multilateraler Rüstungskontrollvereinbarungen seit dem Teststop-Abkommen von 1963. Die Liste solcher, die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes eindrucksvoll unterstreichender Beteiligungen an globalen Kodifikationen ließe sich leicht fortsetzen. Gewisse Grenzen solcher Kooperationsbereitschaft wurden allerdings bei der Bundesrepublik wie bei anderen westlichen Industriestaaten seit den siebziger Jahren sichtbar. Damals legte die in den Vereinten Nationen mittlerweile entstandene „automatische Mehrheit“ der Dritten Welt ihre großen Entwürfe für das vor, was man nach einer Wortprägung von Wolfgang Graf Vitzthum die „sektoralen Weltordnungen“ nennt, also Modelle einer Neuen Weltwirtschaftsordnung, einer Informationsordnung usf. Ihr planwirtschaftlicher Ansatz läuft meist gerade jenen politisch/wirtschaftlichen Erfahrungen und Philosophien zuwider, welche die alten Staaten Europas und Amerikas als Grundlage ihres relativen Wohlergehens ansehen. Seitdem steht der Konflikt um erfolgversprechende Konzepte weltweiter Ordnungspolitik auf der Agenda globaler Verhandlungen, insbesondere zwischen den nördlichen Industriestaaten und der Dritten Welt. Solange solche Pläne lediglich die Gestalt nicht verbindlicher Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen annahmen, wie im Fall der plakativ „Charta der ökonomischen Rechte und Pflichten der Völker“ genannten Empfehlung der UN-Generalversammlung von 1974, fiel die Abwehr solcher Übersteigerungen noch verhältnismäßig leicht. Mit der aus ähnlichen ordnungs50 politischen Gründen erfolgten Nichtunterzeichnung des Seerechts- j übereinkommens der Vereinten Nationen von 1982 hat sich die Bundesrepublik zusammen mit den USA und Großbritannien allerdings zum ersten Male einem großen internationalen Gesetzgebungsvertrag verweigert. Wie weit das ein Ausnahmefall bleiben wird oder Vorbote eines häufigeren Dissenses gemäß den Fronten im Nord-Süd-Dialog ist, kann man heute noch nicht zuverlässig abschätzen. VII. Erfüllung und Fortdauer des internationalen Verfassungsauftrages Zusammenfassend läßt sich heute – nach 40 Jahren Grundgesetz und internationaler Rechtsstaatsentwicklung – sagen, daß das Gesamtbild einer gelungenen Einbindung der Bundesrepublik Deutschland in die weltweite internationale Rechtsentwicklung der letzten Jahrzehnte der beherrschende Eindruck ist. Was

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schon für den europäischen Rahmen im Zusammenhang mit der West- und Ostpolitik unserer Republik seit 1949 festzuhalten war, gilt auch global, im System der Vereinten Nationen oder anderswo: der von den Vätern des Parlamentarischen Rates 1949 in der Stunde Null und der Not verkündete Entschluß, unseren diskreditierten Staat in die Gemeinschaft der friedliebenden Nationen zurückzuführen und sich durch eigene Taten dort einen respektierten Platz zu erringen, ist von allen Verantwortlichen in vier Jahrzehnten bekräftigt und weithin verwirklicht worden. Durch die Kämpfe der fünfziger Jahre um die Westintegration und später um die Ostverträge zog sich wie ein durchgehaltener Ton der Wille, über die deutsche Perspektive hinaus europäisch und weltweit mitzudenken und sich am Aufbau einer langsam stabiler werdenden Weltordnung mit den Mitteln des Rechts zu beteiligen. Solche Haltung entsprach der Melodie der Präambel des Grundgesetzes, der von 1949 bis 1989 alle bisher relevanten politischen Kräfte dieser Republik – jeweils auf ihre Weise – gefolgt sind. Niemand kam in dieser Zeit auf den Gedanken, auch nur ein Komma am internationalen Verfassungsauftrag des Grundgesetzes ändern zu wollen. Man kann dies als Kompliment für die visionäre Kraft der Väter des Grundgesetzes begreifen. Gewiß soll man die normative Kraft der Verfassung in der Wirkung nach außen nicht überschätzen. Als ungefähre Wegweisung und Zielsetzung erfüllt ein Verfassungsauftrag jedoch auch hier eine sinnstiftende Funktion. Er bindet nicht nur die der Verfassung unterworfenen nationalen Gewalten, sondern dient ebenso als Signal für den internationalen Partner, der auf diese Weise besser weiß, mit wem er sich einläßt. Angesichts des permanenten Prozesses internationaler Vertragspolitik und Kodifikationsbemühungen bleibt die Erfüllung des internationalen Verfassungsauftrages des Grundgesetzes auch nach 40 Jahren eine Aufgabe, die der deutschen Außenpolitik auf eine nicht absehbare Zeit weiterhin obliegt.

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Europäische Union: Erfüllung des Grundgesetzes zusammen mit Claus Dieter Classen Begründung der These, daß die Väter des Grundgesetzes entgegen späteren Auffassungen die Möglichkeit der Überantwortung deutscher Staatlichkeit an eine übernationale Föderation ins Auge faßten.*

I. Vorbemerkung Wie in anderen EG-Mitgliedstaaten (vor allem Dänemark, Frankreich und Großbritannien) hat die Ratifikation des Europäischen Unionsvertrages von Maastricht seit 1992 auch in Deutschland unvermutet zu einer sehr grundsätzlichen verfassungspolitischen und verfassungsrechtlichen Debatte geführt. Hierdurch kam es zunächst zur Einfügung eines neuen „Europa-Artikels 23“ in das Grundgesetz, der bessere Rechtsgrundlagen für die Annahme des MaastrichtVertrages durch Bundestag und Bundesrat schaffen sollte1. Auch nachdem die gesetzgebenden Körperschaften im Dezember 1992 mit überwältigenden Mehrheiten das Vertragswerk gebilligt hatten (543 von 568 abgegebenen Stimmen im Bundestag, Zustimmung sämtlicher Bundesländer im Bundesrat), blieb der Versuch nicht aus, in Karlsruhe revidieren zu wollen, was in Bonn anerkannt wurde: Einige Privatpersonen, u. a. ein ehemaliger deutscher Bediensteter der EG-Kommission, Manfred Brunner, und vier deutsche Abgeordnete der GRÜNEN im Europäischen Parlament begehrten vom Bundesverfassungsgericht die Feststellung der Verfassungswidrigkeit des deutschen Zustimmungsgesetzes zu Maastricht wegen Verstoßes gegen ihre Grundrechte2. Begleitet von allerlei Stimmen aus der deutschen Publizistik und Staatsrechtslehre wurden binnen weniger Monate plötzlich Zweifel an der Eignung unseres Grundgesetzes geäußert, den Weg der europäischen Einigung im Sinne von Maastricht und darüber hinaus zu ermöglichen, wie sie in den vier Jahrzehnten des Integrationsprozesses

* Erstmals erschienen in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 28/1993, 11–20. 1 Vgl. Gesetz vom 21.12.1992, BGBl. I 2086; Rupert Scholz, Grundgesetz und Europäische Einigung, NJW 1992, 2593 ff.; Claus Dieter Classen, Maastricht und die Verfassung: Kritische Bemerkungen zum neuen „Europa-Artikel“ 23 GG, ZRP 26 (1993), 57 ff.; Udo Di Fabio, Der neue Artikel 23 des Grundgesetzes, Der Staat 32 (1993), 191 ff. 2 Zu der sehr zweifelhaften verfassungsprozessualen Zulässigkeit solcher „PopularVerfassungsbeschwerden“ wird hier nicht Stellung genommen.

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1950–1990 in dieser Form nie vernehmlich gewesen waren3. Sollte ausgerechnet die große Wende in Europa seit 1989, die zur Aufhebung der Teilung des Kontinents und damit auch zur deutschen Einheit führte, dem Nationalstaat neuen juristischen Charme verliehen haben? Überraschend scheint zunächst einmal, daß die sonst so europatreue Bundesrepublik dank ihrer Querelles juridiques allemandes noch hinter Dänen und Briten zum Schlußlicht unter den EG-Staaten im Ratifikationsprozeß zu werden droht. Um der Legendenbildung von einem Maastrichter Staatsstreich gegen die deutsche Verfassungsordnung vorzubeugen, ist es notwendig, sich die im Unionsvertrag tatsächlich getroffenen Entscheidungen noch einmal vor Augen zu führen und ihrem Verhältnis zum Grundgesetz, insbesondere zu den gerade erst 1990 und 1992 erneuerten europarelevanten Inhalten, nachzugehen. II. Zum europäischen Verfassungsauftrag der Grundgesetz-Präambel „. . . als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“ – mit diesem 1949 in allgemeinem Parteienkonsens formulierten und 1990 in der Stunde der deutschen Einheit bestätigten Bekenntnis umschreibt die Präambel des Grundgesetzes das Staatsziel der deutschen Mitwirkung an der europäischen Integration4. In Erfüllung dieses Verfassungsauftrages beteiligte sich die Bundesrepublik Deutschland seit über vier Jahrzehnten an der Gründung der Europäischen Gemeinschaft, von der Errichtung der Montanunion 1951 über die Entwicklung des Gemeinsamen Marktes und nunmehrigen Binnen- j marktes seit 1958 bzw. 1985 bis zur Gründung einer – auch politisch 12 gemeinten – Europäischen Union durch die Einheitliche Europäische Akte 1986 und den Maastricht-Vertrag 1992. Deutschland nutzte damit die Chance, nach der selbstverschuldeten Katastrophe des Zweiten Weltkrieges in Partnerschaft mit den europäischen Nachbarn übernational eine freiheitliche Friedensordnung – zunächst in Westeuropa – zu schaffen und in ihr gleichzeitig den wirtschaftlichen Wohlstand kräftig zu mehren. Dieser enge Zusammenhang zwischen deutscher und europäischer Verfassungslage wurde bei der Wiederherstellung der nationalen Einheit Deutschlands 1989/90 schlagartig deutlich. Ohne das über lange Jahre erworbene Vertrauen 3 Vgl. Dietrich Murswiek, Maastricht und der Pouvoir Constituant, Der Staat 32 (1993), 163 ff.; Hans Heinrich Rupp, Muß das Volk über den Vertrag von Maastricht entscheiden?, NJW 1993, 35 ff.; Karl Albrecht Schachtschneider, Verfallserscheinung der Demokratie, in: EG-Magazin (1993) 1–2, 40 ff. 4 Vgl. Thomas Oppermann, „In einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“. Der internationale Verfassungsauftrag nach 40 Jahren Grundgesetz, in: Knut Nörr (Hrsg.), 40 Jahre Bundesrepublik Deutschland – 40 Jahre Rechtsentwicklung, Tübingen 1990, 29 ff. (in diesem Band abgedruckt S. 37 ff.).

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I. Grundfragen der europäischen Integration

der EG-Partner in die europäische Verlässlichkeit Deutschlands wäre die rasche Wiedervereinigung kaum möglich gewesen. Zu Recht hat die deutsche Politik damals keinen Zweifel daran gelassen, daß nationale Einheit und europäische Einigung für sie untrennbar miteinander verbunden sind.5 Die vom Grundgesetz so geforderte Mitwirkung am Prozeß der europäischen Einigung hat ihren Ausdruck zuletzt in der Regierungskonferenz von Maastricht im Dezember 1991 gefunden, die maßgeblich von Deutschland und Frankreich inspiriert wurde. Mit den anderen EG-Staaten einigte man sich auf wichtige Integrationsfortschritte im Bereich von Wirtschaft und Währung und auf gewisse Fortentwicklungen im Bereich der Politischen Union, die in dem am 7. Februar 1992 unterzeichneten „Vertrag über die Europäische Union“ (EUV) niedergelegt wurden6. Viel zu wortreich und unübersichtlich konzipiert, ist der EUV in einem formalen Sinne alles andere als ein Meisterstück europäischer Verfassungsgebung7. Gleichwohl darf man nicht vergessen, daß Maastricht das Signal für den politischen Willen der zwölf Mitgliedstaaten war, mit der europäischen Einigung auch und gerade nach der Wende von 1989/90 fortzufahren, in sichtbarem Kontrast zu dem gleichzeitigen Zerfall der Sowjetunion in die GUS. III. Der Unionsvertrag: Behutsame Fortentwicklung des Status quo Was sind nun die wesentlichen Entscheidungen von Maastricht? Bei nur flüchtiger Betrachtung erscheinen die Änderungen der Gemeinschaftskonstruktion durch den EUV als weitreichend8. Bei näherem Hinsehen erweisen sich die Maastricht-Zusätze – läßt man die Währungsunion einmal beiseite – jedoch als eine behutsame Fortentwicklung der bisherigen Integrationsansätze9. Mit der Umgründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zur Europäischen Gemeinschaft (EG) und der Schaffung der Europäischen Union als Dach über dem wirtschaftlichen und politischen Bereich wird einerseits die bisherige Vormachtstellung der wirtschaftlichen Seite verbal aufgegeben. Doch wie schon 5 Vgl. Günther van Well, Zur Europa-Politik eines vereinigten Deutschlands, Europa-Archiv 45 (1990), 293 ff. 6 Vgl. Christoph Vedder (Hrsg.), Das neue Europarecht, München 1992; Kommentierung bei Rudolf Geiger, EG-Vertrag, 1993. 7 Zur Kritik Pierre Pescatore, Die „neue europäische Architektur“: Maastricht und danach, Solothurn 1992 (unveröffentlichtes Manuskript). 8 Vgl. Anm. 3 und Hans Schauer, Europa der Vernunft, München 1993, – Dokumentation der verschiedenen „Anti-Maastricht-Manifeste“ bei Rudolf Hrbek, Kontroversen und Manifeste zum Vertrag von Maastricht, Integration 15 (l992), 225 ff. 9 Vgl. Marc Beise, Viel Aufregung um wenig, in: EG-Magazin (1993) 1–2, 46 ff.; Hermann Josef Blanke, Der Unionsvertrag von Maastricht – Ein Schritt auf dem Weg zu einem europäischen Bundesstaat?, DÖV 1993, 12 ff.; Thomas Oppermann/Claus Dieter Classen, Die EG vor der Europäischen Union, NJW 1993, 5 ff.

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bisher die EG aus Gründen sachlicher Notwendigkeiten nicht strikt auf rein wirtschaftliche Fragen beschränkt blieb, wird andererseits auch in Zukunft der Schwerpunkt der eigentlichen Integration im ökonomischen Bereich liegen. Zwar wird eine Unionsbürgerschaft geschaffen, die an die nationale Staatsangehörigkeit anknüpft10, aber sachlich hat sie mit dieser fast gar nichts gemein. Die Unionsbürgerschaft wird vielmehr über die Staatsangehörigkeit in den EGStaaten vermittelt und garantiert nur bestimmte europäische Rechtspositionen (insbesondere Freizügigkeit und kommunales Wahlrecht), die zudem überwiegend schon im bisherigen Gemeinschaftsrecht verankert waren. Das Europäische Parlament verzeichnet – durch die Mitwirkung bei der Bestellung der EG-Kommission und stärkere Gesetzgebungsrechte – einen nicht unerheblichen Machtzuwachs, obwohl j es weiterhin weniger Kompetenzen be- 13 sitzt als die meisten der nationalen Parlamente in der EG11. Stärker als bisher werden Außen- und Innenpolitik in die EG-Integration einbezogen12. Jedoch enthalten die einschlägigen Bestimmungen gegenüber dem Status quo wenig Neues: Die Außenpolitik hatte schon durch die Abstimmung in der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) seit 1970 ihren rein nationalen Charakter verloren, die klassische Innenpolitik durch die Abkommen von Schengen seit den achtziger Jahren. Entscheidend bleibt, daß weiterhin die Mitgliedstaaten die maßgeblichen Träger der Politik sowohl in Wirtschaft als auch allgemeiner Politik bleiben. Von einem Maastricht-Sprung auch nur in die Nähe eines Europäischen Bundesstaates kann nur reden, wer den EUV nicht wirklich gelesen hat13. Der einzige Bereich, in dem tatsächlich ein substantieller Fortschritt in Richtung staatsähnlicher Strukturen geplant wird, ist die Währungsunion. Doch wird auch hier an Vorstellungen angeknüpft, an denen seit über zwanzig Jahren gearbeitet wurde (Werner-Plan 1970/71, Europäisches Währungssystem [EWS] 1978). Im übrigen ist der Maastrichter Weg zur Währungsunion – trotz scheinbarer „Automatik“ – bei näherem Hinsehen mit so vielen Vorbedingungen versehen, daß die Verwirklichung gerade dieses Vorhabens von zusätzlichen politischen Grundentscheidungen abhängig bleibt.14

10 Vgl. Hans Georg Fischer, Die Unionsbürgerschaft, Saarbrücken 1992; Rudolf Streinz, Europarecht, Heidelberg 1992, S. 17 f. 11 Vgl. Reinhard Boest, Ein langer Weg zur Demokratie in Europa, EuR 27 (1992), 182 ff. 12 Vgl. Elfriede Regelsberger, Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik nach Maastricht, Integration 15 (1992), 83 ff.; Klaus Peter Nanz, Zusammenarbeit in der Innen- und Justizpolitik, Integration 15 (1992), 126 ff. 13 Vgl. H. J. Blanke (Anm. 9). 14 Vgl. Hans Tietmeyer, Probleme einer europäischen Währungsunion und Notenbank, in: Josef Isensee (Hrsg.), Europa als politische Idee und als rechtliche Form, Berlin 1993, 35 ff.

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I. Grundfragen der europäischen Integration

IV. Zu den Maßstäben der Grundgesetzkonformität des Unionsvertrages In verfassungsrechtlicher Hinsicht wirft der Maastrichter Unionsvertrag für Deutschland Probleme in zweierlei Hinsicht auf. Zum einen verlangt die weitere Rücknahme deutscher staatlicher Souveränität zugunsten einer supranationalen, also nichtdeutschen, Hoheitsgewalt eine ausdrückliche verfassungsrechtliche Ermächtigung. Dies ergibt sich aus der mit der europäischen Öffnung verbundenen Einwirkung auf die deutsche Verfassungsordnung, die grundsätzlich die Ausübung von Hoheitsgewalt abschließend legitimiert, regelt und begrenzt.15 Hier war bisher der Integrationshebel des Art. 24 Abs. 1 GG einschlägig; Maastricht wurde dagegen Ende 1992 bereits auf der Grundlage des im nächsten Abschnitt zu erläuternden neuen „Europa-Artikels 23“ ratifiziert. Zum anderen müssen die Einzelbestimmungen des EUV inhaltlich mit dem Grundgesetz vereinbar sein. Zwar geht das allein von den Gemeinschaftsorganen geschaffene sekundäre Gemeinschaftsrecht (EG-Verordnungen, Richtlinien etc.) nicht auf deutsche Hoheitsgewalt zurück und ist prinzipiell nicht am Grundgesetz zu messen16. Aber Änderungen des primären Gemeinschaftsrechts, also vor allem der Gründungsverträge, welche die „Verfassung“ der Gemeinschaft darstellen, müssen von den Mitgliedstaaten gemäß den jeweiligen nationalen Vorschriften ratifiziert werden (Art. R EUV). Die EG besitzt bisher keine eigenständige verfassungsgebende Gewalt, keine Kompetenz-Kompetenz17. Ihre Zuständigkeiten leitet sie von den Mitgliedstaaten ab. Die Verträge dürfen daher nur dann ratifiziert werden, wenn sie mit nationalem Verfassungsrecht vereinbar sind – unabhängig davon, daß nach erfolgter Ratifikation diese Frage nach außen keine Rolle mehr spielt. In diesem Rahmen sind beispielsweise auch die Ende 1992 vorgenommenen Ergänzungen des Art. 28 GG (kommunales Wahlrecht für EG-Ausländer) und des Art. 88 GG (Europäische Zentralbank) zu sehen, auf die hier nicht weiter eingegangen wird. V. Der neue „Europa-Artikel“ 23 1. Ein „Europabehinderungsartikel“?

Angesichts des Umfangs, den die europäische Integration vor und mit Maastricht insgesamt angenommen hatte, wurde im Zuge der Beratungen in Bundes15 Vgl. Paul Kirchhof, Der deutsche Staat im Prozeß der europäischen Integration, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, Heidelberg 1992, S. 855 ff. 16 Vgl. BVerfGE 73, 339 ff. („Solange II“). 17 Vgl. Thomas Oppermann, Europarecht, München 1991, S. 152 ff.; Hugo J. Hahn, Der Vertrag von Maastricht als völkerrechtliche Übereinkunft und Verfassung, BadenBaden, 121 ff.

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tag und Bundesrat über die Ratifizierung j schnell Einigkeit darüber erzielt, daß 14 diese nicht mehr auf der Grundlage des bisher einschlägigen Art. 24 Abs. l GG erfolgen sollte. Die Frage, ob dieser Artikel nicht zur Ratifikation des Unionsvertrages als Grundlage ausgereicht hätte, ist daher müßig geworden18. Vielmehr entschloß man sich, einen neuen Europa-Artikel an die Stelle des mit der deutschen Einheit weggefallenen Beitrittsartikels 23 zu setzen, um auch auf diese Weise den bereits angesprochenen Zusammenhang von nationaler Einheit und europäischer Einigung zu unterstreichen19. In diesem Sinne verabschiedeten Bundestag und Bundesrat Ende 1992 – jeweils mit der verfassungsändernden Zwei-Drittel-Mehrheit – sowohl diese Ergänzung des Grundgesetzes als auch das Zustimmungsgesetz zum Unionsvertrag. Da eine völkerrechtliche Bindung der Bundesrepublik Deutschland frühestens mit der Abgabe der Ratifizierungserklärung des Bundespräsidenten gemäß Art. 59 Abs. 1 GG eintreten kann, zu diesem Zeitpunkt aber die Verfassungsänderungen bereits in Kraft getreten sind, bestehen gegen ein solches Verfahren keine Bedenken. Auch beim deutsch-deutschen Einigungsvertrag hatte man 1990 gleichzeitig die verfassungsrechtliche Ermächtigungsgrundlage verabschiedet und diese ausgenutzt20. Art. 23 GG greift in seinem Abs. 1 zunächst das Staatsziel der Präambel („Verwirklichung eines vereinten Europas“) – unter Rückgriff auf die Bezeichnung „Europäische Union“ – auf, die auf europäischer Ebene seit der Einheitlichen Europäischen Akte zum sibyllinischen Schlüsselbegriff für die Finalität der europäischen Einigung geworden ist21. Zugleich aber wird die Mitwirkung der Bundesrepublik Deutschland an diesem Prozeß mit Art. 23 ausdrücklich davon abhängig gemacht, daß diese Union demokratisch, rechtsstaatlich, sozial und föderativ orientiert ist und daß sie sich zum Subsidiaritätsprinzip und zu einem ähnlichen Grundrechtsschutz wie in Deutschland bekennt. Ob dieser Weg, Maßstäbe des Grundgesetzes explizit an Europa anzulegen, verfassungs- und europapolitisch besonders glücklich ist, erscheint zweifelhaft. Kein anderer der EGStaaten, unter denen sich ältere Demokratien als die deutsche befinden, hat bisher in dieser merkwürdigen Mischung aus Besserwissen und Ängstlichkeit postuliert, daß an seinem eigenen Verfassungswesen Europa genesen müsse. Die grundlegende Verfassungshomogenität zwischen der EG und ihren Mitgliedstaaten verstand sich bisher von selbst22. Es wird nunmehr einer dem Geiste der Präambel entsprechenden europaoffenen Auslegung des Art. 23 Abs. 1 GG be18 Bejahend Th. Oppermann/C. D. Classen (Anm. 9); vgl. Jürgen Schwarze, Das Staatsrecht in Europa, JZ 1993, 585 ff. 19 Vgl. R. Scholz (Anm. 1). 20 Ausdrücklich gebilligt durch BVerfGE 82, 316 ff. 21 Zum – bewußt flexibel gehaltenen – Begriffsbild der Europäischen Union siehe Th. Oppermann (Anm. 17), S. 301 ff. 22 Vgl. Jochen A. Frowein, The European Community and the Requirement of a Republican Form of Government, Michigan Law Review 1984, 1311 ff.

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dürfen, der die Hürden des Art. 79 Abs. 2 und 3 GG frühzeitig ins Spiel bringen möchte, damit in der Praxis Art. 23 nicht zu einem die deutsche Integrationspolitik lähmenden „Europabehinderungsartikel“ entartet. 2. Maastricht und die Kriterien des Art. 23 Abs. 1 GG

Bislang steht glücklicherweise nur die verfassungsrechtliche Frage im Raum, ob der Maastrichter Vertrag den in Art. 23 Abs. 1 GG vorgesehenen Strukturelementen entspricht. Dabei sind drei Vorbemerkungen angebracht: – Entstehungsgeschichtlich ist darauf hinzuweisen, daß Art. 23 Abs. 1 GG mit dem Zweck konzipiert worden ist, die Ratifizierung von Maastricht zu erleichtern23. Schon dies spricht grundsätzlich dafür, daß der Vertrag mit der für ihn geschaffenen verfassungsrechtlichen Ermächtigung vereinbar sein sollte. – Art. 23 GG spricht – wie Art. 79 Abs. 3 GG – nur von Grundprinzipien, nicht aber – mit Ausnahme des Grundrechtsschutzes – deren jeweilige konkrete Ausformung im Grundgesetz an. – Die angesprochenen Prinzipien sind ihrer verfassungsgeschichtlichen Herkunft nach auf einen Staat zugeschnitten. Auf eine supranationale Gemeinschaft wie die EG, die im Gegensatz zu Staaten nur eine abgeleitete Legitimation besitzt, lassen sie sich nur in Grenzen übertragen. Von den in Art. 23 Abs. 1 GG angesprochenen Grundsätzen sollen hier der Grundrechtsschutz und das Sozialstaatsprinzip ausgeklammert werden. Daß der Grundrechtsschutz der Gemeinschaft, wie er seit den sechziger Jahren vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Anlehnung an die Straßburger Menschenrechtskonvention (EMRK) entwickelt worden ist, demjenigen des Grundgesetzes im wesentlichen vergleichbar ist, sollte spätestens nach der jüngeren Recht15 sprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht mehr j fraglich sein24. Art. F EUV enthält nunmehr ein ausdrückliches Bekenntnis der Union zur Achtung der Grundrechte auf der Grundlage der EMRK und der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten. Daß die EG sozialstaatliche Grundsätze in hinreichendem Maße beachtet, ist bislang nicht ernsthaft in Zweifel gezogen worden. a) Demokratische Legitimation Seit Jahrzehnten wird immer wieder kritisch angefragt, ob die Gemeinschaft in hinreichendem Ausmaße demokratisch legitimiert sei25. Zweifel werden vor 23 24

Vgl. R. Scholz (Anm. 1). Vgl. Anm. 16; Hans-Werner Rengeling, Grundrechtsschutz in der EG, 1993.

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allem deshalb angemeldet, weil das Europäische Parlament in seinen Kompetenzen den nationalen Parlamenten nicht vergleichbar sei. Auch in der Fassung des EUV fehle dem Parlament weiterhin das Gesetzgebungsinitiativrecht und die abschließende Sanktionsgewalt. Das maßgebliche Entscheidungsorgan der EG ist auch nach Maastricht der Ministerrat. Jedoch hat der Europäische Gerichtshof bereits vor über zehn Jahren das Demokratieprinzip als allgemeinen Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts bezeichnet und die Kompetenzen des Europäischen Parlaments – beispielsweise gegenüber dem EuGH – entsprechend extensiv ausgelegt26. Maastricht ist nunmehr seinerseits ein wichtiger Schritt im Demokratisierungsprozeß der EG. Insbesondere können seit dem EUV in wichtigen Bereichen des Gemeinschaftsrechts keine Rechtsakte mehr gegen den Willen des Parlaments ergehen. Die Entwicklung in Richtung auf eine Zwei-Kammer-Balance zwischen Rat und Parlament ist unübersehbar27. Andererseits bleibt auch längerfristig eine mechanische Übertragung der staatlichen Demokratiegrundsätze auf die Gemeinschaftsebene durchaus fragwürdig. Wenn nicht vieles täuscht, mangelt es der EG an der entscheidenden Voraussetzung für eine Volksherrschaft, nämlich am homogenen europäischen Staatsvolk. Mit Recht begreift Art. 137 des Vertrages über die Europäische Gemeinschaft (EGV) weiterhin das Europäische Parlament als die Vertretung „der Völker der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten“. An diesem Grundfaktum, das für sich allein eine künftige europäische Staatlichkeit sehr unwahrscheinlich macht, wird sich nichts ändern. Ein Schmelztiegel Europa ist – trotz aller Migrationen – nicht in Sicht und auch kaum erstrebenswert. Diese Einsichten stehen zwar bestimmten Übertragungen demokratischer Prinzipien auf die EG nicht prinzipiell entgegen. Je stärker die Gemeinschaftsgewalt durch neue Zuständigkeiten wird, desto mehr bedarf sie – als eine Union von Demokratien – selbst der Legitimation durch demokratische Verfahren. Das bedeutet aber nicht notwendig eine Kopie des Parlamentarismus der Mitgliedstaaten, der jeweils auf ein Staatsvolk abstellt, sondern die Entwicklung gemeinschaftsspezifischer Demokratiestrukturen. Von der Kritik wird vielfach übersehen, daß auch andere Organe der EG – insbesondere der Rat – eine demokratische Legitimation aufweisen. Da alle Mitgliedstaaten der EG demokratische Strukturen aufweisen, sind auch die Vertreter im Ministerrat von den jeweiligen nationalen Staatsvölkern demokratisch legitimiert und werden von den nationalen Parlamenten kontrolliert. Die Bedeutung dieser Legitimationskette ist 25 Vgl. etwa Meinhard Hilf, Die rechtliche Bedeutung des Verfassungsprinzips der parlamentarischen Demokratie für den europäischen Integrationsprozeß, EuR 19 (1984), 9 ff.; Peter M. Huber, Die Rolle des Demokratieprinzips im europäischen Integrationsprozeß, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis 3 (1992), 349 ff. 26 Vgl. EuGHE 1986, 1239 ff., Rs. 294/83 „Les Verts“. 27 Vgl. Klaus Pöble, Parlament in der EG – Formen der praktischen Beteiligung, Integration 15 (1992), 72 ff.

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in einer Zusatzerklärung zum Maastrichter Vertrag (Nr. 13) noch einmal ausdrücklich unterstrichen worden. In Deutschland hat man sie durch die Stärkung des Einflusses des Deutschen Bundestages und auch des seinerseits föderal-demokratisch legitimierten Bundesrates auf die Haltung des deutschen Vertreters im Ministerrat der EG aufgegriffen (Art. 23 Abs. 2–4 GG neue Fassung [n. F.]). Der EG-Ministerrat besitzt eine indirekt demokratische Legitimation, die etwa mit derjenigen des deutschen Bundesrates vergleichbar ist. Seine im Vergleich zu diesem stärkere Stellung macht den bereits erwähnten, prinzipiellen Unterschied zwischen einem Bundesstaat wie Deutschland und der gemeinschaftlich strukturierten Europäischen Union deutlich: Die EG und die Union – selbst kein Staat – beziehen ihre primäre Legitimation von den Mitgliedstaaten, während im Bundesstaat das homogene Staatsvolk über die Wahl eines „Vollparlamentes“ eine gemeinsame Demokratie begründet. Eine wichtige Stärkung des demokratisch-parlamentarischen Elements in der EG bringt Maastricht schließlich mit der Regelung des neuen Art. 158 Abs. 2 EGV, wonach künftige EG-Kommissionen einschließlich ihrer Präsidenten nicht – wie bisher – allein durch die Regierungen der Mitgliedstaaten ernannt wer16 den, sondern sich vor ihrer Ernennung einem Vertrauensvotum des j Europäischen Parlaments stellen müssen. Mittels dieser weitgehenden Verankerung des parlamentarischen Prinzips dürfte nunmehr auch das Mißtrauensvotum des Parlaments gegenüber der EG-Kommission nach Art. 144 EGV zu einer wirksamen Waffe in der Hand des Parlaments werden. Insgesamt bedeutet der Unionsvertrag einen wichtigen Schritt zur weiteren Demokratisierung der Gemeinschaft und ist daher demokratischen Grundsätzen auch im Sinne von Art. 23 Abs. 1 GG verpflichtet. b) Rechtsstaatlichkeit Das deutsche Rechtsstaatsprinzip, das auf Gemeinschaftsebene vor allem in der britischen Rule of Law eine Entsprechung findet, weist eine ganze Reihe von Aspekten auf28. Als zentrale Elemente können die Bindung der öffentlichen Gewalt an das Recht einschließlich einer gerichtlichen Kontrolle sowie die Gewaltenteilung betrachtet werden. Die Frage nach der Rechtsbindung erweist sich bei der EG als unproblematisch. Die ganze Konstruktion der EG als Rechtsgemeinschaft geht von der Rule of Law aus, wobei der Gerichtshof in einem ausschließlichen Sinne „die Wahrung der Rechte sichert“ (Art. 164, 219 EGV). In diesem Sinne hat der EuGH nicht nur ein Recht auf effektiven Rechtsschutz postuliert, sondern befindet in Arbeitsteilung mit den mitgliedstaatlichen Gerichten über die Auslegung und Gültigkeit der Gemeinschafts28 Vgl. Eberhard Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 1987, S. 987 ff.

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rechtsakte und deren Verhältnis zum nationalen Recht (Art. 177 Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft [EWGV]). Ein rechtsstaatlicher Mangel des Unionsvertrages liegt darin, daß der eigentliche Unionsvertrag (Art. A–S des EUV) größtenteils von der Zuständigkeit des Gerichtshofes ausgenommen worden ist (Art. L EUV)29. Auf das Ganze gesehen, wird man dem Gemeinschaftssystem jedoch einen bemerkenswert hohen Standard der Rechtsbindung und des Rechtsschutzes nicht absprechen können. Das gilt mit Blick auf Art. 23 Abs. l GG auch im Vergleich mit den Standards der deutschen Rechtsstaatlichkeit. Fehl geht gelegentliche Kritik an den spezifisch europäischen Formen der Gewaltenteilung. Hier wird insbesondere gerügt, daß Ministerrat und Kommission als exekutivisch strukturierte Organe ein zu starkes Gewicht besäßen30. Dem ist entgegenzuhalten, daß die EG auf ihre Weise ein ausgefeiltes System von Checks and Balances besitzt, selbst wenn es anders ausgestaltet ist, als man es üblicherweise aus nationalen Rechtsordnungen kennt. Diese Unterschiede erklären sich wiederum aus der nichtstaatlichen, nur gemeinschaftlichen Gesamtstruktur der EG. Während das Parlament begrenzt, aber in zunehmendem Maße an der Legislativgewalt Anteil hat, nimmt die Kommission – unabhängig vom Ministerrat – an der Legislativ- und Exekutivfunktion teil. Der Rat ist in häufigem Wechsel mit Vertretern ganz unterschiedlicher politischer Richtungen aus den Mitgliedstaaten besetzt, die zudem divergente nationale Interessen vertreten. Er ist ganz anders strukturiert als eine nationale Regierung, die regelmäßig von einem einheitlichen politischen Gestaltungswillen getragen wird. In dieser Differenziertheit erfüllt der Rat seinerseits sowohl entscheidende Gesetzgebungsaufgaben als auch – vor allem in Gestalt des Europäischen Rates – die Regierungsfunktion. Nur die dritte Gewalt ist in der EG mit EuGH und Gericht erster Instanz institutionell und funktional ähnlich wie in den Mitgliedstaaten strukturiert. In einer Gesamtschau wird so eine eigengeprägte Form von Checks and Balances auf der EG-Ebene sichtbar, die auf ihre Weise den Grundsinn der Gewaltenhemmung ebenso erfüllt wie die klassisch-nationalen Spielarten. So steht auch unter diesem Aspekt die rechtsstaatliche Struktur der EG auf einem Niveau, das demjenigen ihrer Mitgliedstaaten entspricht. c) Bundesstaatlichkeit Art. 23 GG möchte die EG ferner auf eine Verpflichtung zu föderativen Grundsätzen festlegen. Die Formulierung ist leider sehr mißverständlich. Gemeint ist damit weder die Beziehung der EG zu den Mitgliedstaaten – denn die 29 Vgl. Andreas Middeke/Peter Szcekalla, Änderungen im europäischen Rechtssystem, JZ 1993, 284 ff. 30 Vgl. K. A. Schachtschneider (Anm. 3).

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EG ist von einer bundesstaatlichen Struktur weit entfernt – noch eine Verpflichtung aller Mitgliedstaaten auf interne föderale Strukturen. Vielmehr soll die verunglückte Formulierung sicherstellen, daß auf nationaler Ebene bestehende föderale Strukturen durch die europäische Integration nicht in Mitleidenschaft gezogen werden31. Gerade in Deutschland ist diese Besorgnis ein Dauerthema verfassungsrechtlicher Diskussionen um die Gefahren der europäischen Integration für die Staatlichkeit und Zuständigkeiten der deutschen Bundesländer32. j 17

Nun bringt Maastricht sicherlich einen Kompetenzzuwachs der EG auch in Bereichen, die in Deutschland schwerpunktmäßig den Ländern zugeordnet sind. Zu nennen sind vor allem die neuen Art. 126–128 EGV (Bildung und Kultur). Doch während der EuGH aus dem bisherigen Berufsbildungsartikel 128 EWGV in sehr anzweifelbarem judicial activism eine weitreichende Gestaltungskompetenz der EG abgeleitet hatte, wird die Gemeinschaft durch Maastricht im wesentlichen auf Förder- und Koordinierungsmaßnahmen beschränkt. Die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Inhalte der Bildungspolitik wurde ausdrücklich garantiert. Somit enthält der EUV eher eine klare Abgrenzung und Konsolidierung des Verhältnisses EG – deutsche Bundesländer im Bildungsbereich, mit eindeutiger Schwerpunktsetzung zugunsten der nationalen und regionalen Zuständigkeiten. Schon so kann von einer ernsthaften Antastung der Länderkompetenzen nicht die Rede sein33. Etwaige „Einbußen“ auf diesem Terrain werden mehr als ausgeglichen durch die bemerkenswerten Gewinne, welche die deutschen Länder – wie andere europäische Regionen – auf institutioneller Ebene verbuchen. Hinzuweisen ist auf den neu geschaffenen Ausschuß der Regionen (Art. 198a ff. EGV). Vor allem aber ermöglicht Art. 146 EGV n. F. den Ländern, die Bundesrepublik Deutschland im Ministerrat in Politikfeldern direkt zu vertreten, in denen sie innerstaatlich zuständig sind. Art. 23 Abs. 6 GG schafft die verfassungsrechtliche Grundlage hierfür. Diese Neuerung ist zwar nicht unproblematisch, weil zum einen durch die mit dieser Regelung verbundenen Komplikationen die Handlungsfähigkeit der deutschen Europapolitik in Brüssel geschwächt werden kann und zum anderen die Möglichkeit verfassungsmäßiger demokratischer Kontrolle des deutschen Vertreters im Ministerrat erschwert wird. Mangelnden Respekt vor föderativen Grundsätzen im Sinne des Art. 23 Abs. 1 GG wird man aber dem Unionsvertrag nicht vorwerfen können. In der deutschen Diskussion ist eher die Gefahr eines Abgleitens in einen Staatenbund durch die starke Aufwertung des

31

Vgl. R. Scholz (Anm. 1). Vgl. etwa bei Hans Peter Ipsen, Deutschland in den Europäischen Gemeinschaften, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 1992, S. 781 ff. 33 Vgl. Thomas Oppermann, Die deutsche Länderkulturhoheit und EG-Aktivitäten in Bildung, Forschung und technologischer Entwicklung, in: Bernhard Vogel/Günther H. Oettinger (Hrsg.), Föderalismus in der Bewährung, 1992, 73 ff. 32

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Bundesrates nach Art. 23 Abs. 3–6 GG im Gefolge von Maastricht beschworen worden34. d) Subsidiaritätsprinzip Schließlich fordert Art. 23 Abs. l GG eine Verpflichtung der Europäischen Union auf den Grundsatz der Subsidiarität. Der deutsche Verfassungsgeber erwartet damit in der Gemeinschaft die Gewährleistung eines Strukturprinzips, welche das Grundgesetz nach ganz herrschender Auffassung für die deutsche bundesstaatliche Ordnung nicht aufstellt35. Während die bisher angesprochenen Elemente des Art. 23 Abs. 1 GG, von der Demokratie bis zum Föderalismus, zu dem in Art. 79 Abs. 3 in Verbindung mit (i. V. m.) Art. 20 Abs. 1 GG verankerten Kern der deutschen Staatlichkeit gehören, enthält Art. 23 Abs. 1 GG mit dem Subsidiaritätspostulat eine Forderung, die im innerstaatlichen Bereich keine Entsprechung findet und den Spielraum deutscher Europapolitik ohne Not einengt. Zum Glück handelt es sich dabei, was Maastricht anbelangt, um einen Streit um des Kaisers Bart. Nach einer früheren Verankerung im EG-Umweltschutz hat sich die Gemeinschaft in Maastricht nach Art. B EUV letzter Absatz i. V. m. Art. 3b EGV – nicht zuletzt auf deutsche Initiative hin – grundlegend verpflichtet, die Ziele der Union nur „unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips“ zu verwirklichen. Das bedeutet, daß die Gemeinschaft nur tätig wird, wenn die Maßnahmen auf mitgliedstaatlicher Ebene nicht ausreichend erreicht werden können36. Der Schutz gegen vermeintliche Brüsseler Regulierungswut ist demgemäß deutlich vorgegeben. Art. 23 Abs. l GG entstand zeitlich später als der EUV und wollte mit seinem Subsidiaritätsverlangen ganz offensichtlich die entsprechenden Regeln auf EG-Ebene für Deutschland verfassungsrechtlich festschreiben. Wie man es auch bewertet, es ist jedenfalls bei der Subsidiarität eine geradezu maßgeschneiderte Übereinstimmung zwischen Maastricht und dem Grundgesetz festzustellen. Alles in allem ergibt sich nach Prüfung der verschiedenen Kriterien des Art. 23 Abs. 1 GG die – angesichts der Entstehungsgeschichte dieser Norm – wenig überraschende Feststellung, daß die Europäische Union zumindest in ihrer durch den Maastrichter Unionsvertrag begründeten Anfangsform mit Blick auf Art. 23 Abs. 1 GG und die Präambel als weiterer Schritt bei der Erfüllung des europäischen Verfassungsauftrages des Grundgesetzes begriffen werden kann. j 34 Einiges dazu bei Thomas Oppermann, Das Bund-Länder-Verhältnis im Europäischen Einigungsprozeß, Carstens-Gedenkveranstaltung der Deutschen Gesellschaft für auswärtige Politik, Bonn 1992, 7 ff. 35 Vgl. Theodor Maunz/Reinhold Zippelius, Deutsches Staatsrecht, 1988, 63 f. 36 Vgl. Gerhard Konow, Zum Subsidiaritätsprinzip des Vertrags von Maastricht, DÖV 1993, 405 ff.

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VI. Die „Ewigkeitsgarantie“ des Art. 79 Abs. 3 GG – Hürde für Maastricht? Die bisherigen Überlegungen sollten gezeigt haben, daß das Grundgesetz, zumindest nach seinen verschiedenen Änderungen und Ergänzungen in den Jahren 1990 bis 1992 (Bestätigung des europäischen Verfassungsauftrages in der Präambel 1990, Europa-Artikel 23 und Ergänzungen der Art. 28 und 88 Ende 1992), auf die Ratifizierung des Maastrichter Unionsvertrages geradezu eingerichtet erscheint. In einer überraschenden Weise hat jedoch eine gewisse maastrichtskeptische Stimmung, die in Deutschland wie anderwärts den Ratifikationsprozeß 1992 begleitete, in ihrer verfassungsrechtlichen Ausprägung zu neuartigen Stellungnahmen geführt: Maastricht wird als eine Art Anschlag auf den Kern deutscher Verfassungsstaatlichkeit angesehen, der über die sogenannte „Ewigkeitsgarantie“ des Art. 79 Abs. 3 GG einer Änderung durch Bundestag und Bundesrat entzogen worden ist. Diese Behauptungen, die maßgeblich die vor dem Bundesverfassungsgericht Ende 1992 erhobenen Verfassungsbeschwerden tragen, gipfeln in der Vorstellung, die in Art. 20 i. V. m. 79 Abs. 3 GG enthaltene Unantastbarkeitserklärung der Eigenstaatlichkeit Deutschlands mache ab einem bestimmten Punkt – der mit Maastricht als bereits überschritten angesehen wird – den weiteren Weg in eine überstaatliche Europäische Union unzulässig, beziehungsweise verlange hierfür die Ausübung der verfassungsgebenden Gewalt des deutschen Volkes in Gestalt einer Volksabstimmung37. Überraschend erscheinen diese verfassungsrechtlichen Skrupel zu später Stunde insofern, als der europäische Bundesstaat als Finalität des Einigungsprozesses seit den fünfziger Jahren, in Deutschland wie in anderen EG-Staaten, zu den immer wieder erklärten Zielen einer bestimmten europäischen Denkschule (beginnend mit Adenauer, de Gasperi, Monnet, Schuman, Spaak) gehört hat. Über Jahrzehnte hinweg hat bei aller politischen Umstrittenheit dieser Zielsetzung niemand ernsthaft den europäischen Föderalisten vorgeworfen, sie würden verfassungswidrige Pläne verfolgen. Das galt auch und gerade für Deutschland, wo Walter Hallstein 1969 seinen „Unvollendeten Bundesstaat“ schrieb und Klaus Stern im großen Lehrbuch des Staatsrechtes der Bundesrepublik Deutschland noch 1977 festhielt, daß bereits der heute so engherzig betrachtete Art. 24 Abs. l GG i. V. m. der Präambel den Weg zum europäischen Bundesstaat öffne38. Gegenüber dieser Sicht erhob sich zu keiner Zeit auch nur annähernd vergleichbarer Widerspruch wie plötzlich seit 1992 gegen die so deutlich begrenzten Integrationsschritte des Unionsvertrages. 37 38

385.

Vgl. D. Murswiek, H. H. Rupp, K. A. Schachtschneider (jeweils Anm. 3). Vgl. Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 1977,

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Nähere Betrachtung sollte denn auch heute nahelegen, Art. 79 Abs. 3 GG nicht allzu rasch zu einer Bremse des europäischen Einigungsprozesses und Rücknahme des Bekenntnisses zum Vereinten Europa in Präambel und Art. 23 GG umzudeuten. Nachdem in der europapolitischen Realität spätestens seit der Erweiterung der Gemeinschaft auf zwölf und wahrscheinlich demnächst weitere Mitgliedstaaten die Vision des Europäischen Bundesstaates mehr als unwahrscheinlich geworden ist, besteht weniger Anlaß denn je, künftige deutsche Europapolitik in das Prokrustesbett eingehender verfassungsrechtlicher Vorgaben einzubinden. In besonderem Maße gilt dies im Hinblick auf die mühsam erreichten Kompromisse von Maastricht, in denen sich nicht föderaler Ehrgeiz, sondern lediglich der derzeit erreichbare Minimalkonsens über die Gestalt der Europäischen Union widerspiegelt. Die These von einer gravierenden Verletzung deutscher Staatlichkeit durch Maastricht übersteigert zum einen in unzulässiger Weise das Ausmaß des mit Maastricht vorgenommenen Integrationsschrittes und ist schon deshalb nicht haltbar. Zum anderen ergeben sich aber auch in einem grundsätzlichen Sinne gewichtige Zweifel gegenüber der Auffassung, daß Art. 79 Abs. 3 GG eine Art „Verbot“ der Beteiligung Deutschlands an einer künftigen europäischen (Bundes-)Staatlichkeit auf dem Wege parlamentarischer Ratifikation enthalte. 1. Maastrichter Union – Schritt in den Europäischen Bundesstaat?

Das Maastrichter Vertragswerk ist leider rasch zusammengezimmert worden und befriedigt rechtstechnisch wenig. Es ist unübersichtlich und erschließt sich selbst Fachleuten nur mit Mühe. Gleichwohl hält die Behauptung, mit Maastricht sei der „Point of no return“ in einem Europäischen Bundesstaat überschritten worden, der Prüfung nicht stand. Die in Maastricht förmlich gegründete j Europäische Union (Art. A EUV) ist weit davon entfernt, ein (Bundes-) 19 Staat zu sein. Ein Staat verlangt bekanntlich drei Elemente: Staatsvolk, Staatsgebiet, Staatsgewalt. Über alle drei Elemente verfügte die EG weder vor noch nach Maastricht39. Wie bereits angesprochen, gibt es kein homogenes europäisches Staatsvolk. Es ist auch nicht ersichtlich, daß sich daran auf absehbare Zeit etwas ändern könnte40. Die neu geschaffene Unionsbürgerschaft bedeutet kaum mehr als eine europäische Ergänzung der weiterhin nationalen Staatsangehörigkeiten. Eine Zusatzerklärung (Erklärung 2 zur Schlußakte) stellt noch einmal die ausdrückliche nationale Zuständigkeit zur staatsangehörigkeitsrechtlichen Regelung klar. Die EG 39 Vgl. zum folgenden auch Peter M. Huber, Maastricht ein Staatsstreich?, 1993, 36 ff. 40 Das betont besonders Josef Isensee, Europa – die politische Erfindung eines Erdteils, in: ders. (Hrsg.) (Anm. 14), 133.

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besitzt ferner kein eigenes Staatsgebiet im Sinne der vollständigen Territorialhoheit, sondern nach Art. 227 EWGV lediglich einen räumlichen Geltungsbereich des Vertrages, innerhalb dessen punktuelle Gemeinschaftsgewalt ausgeübt wird41. Daß schließlich die EG auch nach Maastricht über keine souveräne Staatsgewalt verfügt, sondern nur die ihr von den Mitgliedstaaten übertragenen Einzelkompetenzen wahrnimmt, hat gerade der Unionsvertrag mit der Bekräftigung des Prinzips der Einzelermächtigung in Art. E EVU noch einmal hervorgehoben. Die vorrangige Stellung des Ministerrates, der die abgeleitete Legitimation der EG institutionell zum Ausdruck bringt, bezeugt dies unübersehbar auf ihre Weise42. Der Umstand allein, daß die Gemeinschaft einen gewissen Kompetenzzuwachs in Maastricht verzeichnet, ändert an dieser Bewertung nichts. Bezeichnenderweise bemühen sich die Protagonisten eines vermeintlichen Eintritts in eine europäische Bundesstaatlichkeit durch Maastricht kaum um eine nähere Prüfung der klassischen Staatskriterien. 2. Deutsche Beteiligung an europäischer Staatlichkeit nur durch Volksabstimmung?

Da auch durch die Maastricht-Verträge noch kein europäischer Bundesstaat geschaffen wurde, kann es schon unter dem Gesichtspunkt der Tatbestandsmäßigkeit keine Bedenken aus Art. 79 Abs. 3 GG gegen die Zustimmung zum Unionsvertrag durch Bundestag und Bundesrat geben. Hinter die neuartigen Thesen von einem vermeintlichen Verbot des Grundgesetzes, auf dem parlamentarischen Wege den Rubikon europäischer Staatlichkeit zu überschreiten43, müssen aber auch grundsätzlich gewichtige Fragezeichen gesetzt werden. Bis vor kurzem hatte über Jahrzehnte hinweg kaum jemand eine derartige Sperrwirkung des Art. 79 Abs. 3 GG postuliert. Umgekehrt gab es Stimmen, die bereits Art. 24 Abs. l GG a. F. als für eine europäische Staatsbegründung tauglich ansahen44. Hier mochten allerdings Zweifel erlaubt sein. Art. 24 GG erwähnt allein „zwischenstaatliche Einrichtungen“, also Organisationen, die nur über eine abgeleitete, nicht über eine eigenständige Hoheitsgewalt verfügen. Für die Frage, ob die Ermächtigung zur Mitwirkung an der Gründung eines europäischen Bundesstaates – durch Verfassungsänderung im Sinne des Art. 79 Abs. 3 GG – geschaffen werden könnte, ergab sich hieraus noch nichts. Für die Bedeutung der „Ewigkeitsgarantie“ dürfte vielmehr wesentlich sein, daß Art 79 Abs. 3 GG bestimmte Strukturprinzipien für die deutsche Staatlichkeit garantiert. Dazu mag auch Staatlichkeit in einem schwer präzise meßbaren Ausmaß gehören.45 So41

Th. Oppermann (Anm. 17), 77 ff. Vgl. Th. Oppermann/C. D. Classen (Anm. 9). 43 Vgl. Matthias Herdegen, Die Belastbarkeit des Verfassungsgefüges auf dem Wege zur Europäischen Union, EuGRZ 1992, 559 ff. 44 Vgl. Anm. 38. 42

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lange diese Prinzipien gewahrt bleiben, ist jedoch kaum zu sehen, weshalb Art. 79 Abs. 3 den verfassungsgebenden Gewalten Schritte in ein vereintes Europa untersagen sollte, welches das Grundgesetz an anderer prominenter Stelle (Präambel, nunmehr auch Art. 23 Abs. 1 GG) ausdrücklich einfordert. Wenn die Präambel Deutschland als Glied in einem vereinten Europa sieht, soll mit einer so spezifischen Formulierung die Perspektive, einen europäischen Bundesstaat auf den regulären verfassungsmäßigen Prozeduren anzustreben, wohl kaum ausgeschlossen werden. Zudem zeigt auch Art. 28 GG, daß die in Art. 79 Abs. 3 GG angesprochenen Strukturprinzipien für die Verfassungen von Gliedstaaten sinnvoll sein können, die sich gerade in Deutschland gerne ihrer fortbestehenden Staatlichkeit berühmen. Als Besonderheit ergäbe sich nur, daß man es dann mit einem dreistufigen Bundesstaat (Europa – Bund – Länder) zu tun hätte. Interessanterweise enthalten auch einige deutsche Landesverfassungen Bestimmungen, die Art. 79 Abs. 3 GG vergleichbar sind, ohne daß dies je zum Anlaß genommen worden wäre, eine Beteiligung der betreffenden Länder an der Bundesrepublik Deutschland – unter Berufung auf die Landesverfassung – rechtlich anzuzwei- j feln46. Letztlich liegt es im Wesen der durch das Grundgesetz kon- 20 stituierten repräsentativen Demokratie, daß die gesetzgebenden Organe mit der Mehrheit von je zwei Dritteln auch grundlegende Änderungen der Verfassungsordnung beschließen können. Die äußersten Grenzen der „Ewigkeitsgarantie“ sollen den innersten Kern der deutschen Verfassungsordnung schützen, nicht aber politischen Anstrengungen im Wege stehen, Ziele wie die Einigung Europas anzustreben, zu denen sich das Grundgesetz ausdrücklich bekennt. Wahrscheinlich ist auch der seit 1992 plötzlich ausgebrochene Streit um Art. 79 Abs. 3 GG als Europaschranke einer um des Kaisers Bart, weil die tatsächlichen Zielsetzungen der europäischen Einigung längst in eine andere Richtung als diejenige eines Bundesstaates gehen. Umso weniger dürfte Anlaß bestehen, künftiger deutscher Europapolitik durch abstrakte Rechtssätze ihre Spielräume vorzeitig zu beschneiden. VII. Schlußbemerkung Insgesamt stellt der Vertrag von Maastricht eine konsequente Fortentwicklung des bereits in den fünfziger Jahren gewählten Integrationsansatzes dar. Treffender als Art. 23 Abs. 1 GG n. F. mit seinem Versuch, staatsrechtliche Strukturen auf die Europäische Union zu übertragen, charakterisiert wohl der erste der neuen Europa-Artikel der französischen Verfassung (Art. 88-1) die Union und die Gemeinschaft als Einheiten, von Staaten konstituiert, die sich freiwillig ent45 Ob dies ein so weitgehendes „Entstaatlichungsverbot“ nahelegt, wie es P. Kirchhof (Anm. 15) entwickelt, ist eine andere Frage. 46 Vgl. etwa Art. 75 bayerische oder Art. 129 rheinland-pfälzische Verfassung.

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schlossen haben, nach Maßgabe der entsprechenden Verträge einige ihrer Hoheitsrechte gemeinsam auszuüben. Die Offenheit des Grundgesetzes für zwischenstaatliche Souveränitätsbeschränkungen legt ihrerseits nahe, nationale und Gemeinschaftskompetenzen nicht antagonistisch zu sehen, sondern komplementär47. Die Mitwirkung am Prozeß der europäischen Integration ist nach der Einheit Deutschlands mehr denn je Ausübung deutscher Souveränität aus ureigenster Einsicht. Grundlage ist die Überzeugung, daß sich in der heutigen Welt zahlreiche Aufgaben nur noch gemeinsam bewältigen lassen. Letztlich ist wohl gerade aus solchen Gründen die Attraktivität der EG auf benachbarte beitrittswillige Staaten ungebrochen. Sozialethisches Fundament des Einigungsprozesses waren und sind jedoch gemeinsame verfassungspolitische Überzeugungen der Mitgliedstaaten, die sich den Idealen von Freiheit und Demokratie in rechtsund sozialstaatlicher Bindung, der Friedenswahrung und auch der Gewährleistung wirtschaftlicher Wohlfahrt verpflichtet fühlen48. Auch künftige Integrationsschritte erscheinen nur auf der Grundlage eines solchen Konsenses denkbar und fruchtbar. Verfassungsrechtlich war das Ziel einer wertgebundenen europäischen Einigung seit 1949 in der Präambel des Grundgesetzes verankert. Der neue Art. 23 GG greift es noch einmal auf, knüpft die Realisierung allerdings an eine Reihe von Vorbedingungen. Das damit verfolgte Ziel der Bewahrung bewährter nationaler Verfassungsstrukturen ist legitim. Ob allerdings eine derartig komplizierte Regelung wie Art. 23 GG n. F. für die Fortsetzung des Einigungsprozesses in Europa einen nützlichen Beitrag leistet, bleibt abzuwarten. Das politische und verfassungsrechtliche Schicksal des Maastrichter Unionsvertrages in Deutschland wird hierfür der erste gewichtige Test sein. Ungeachtet aller Unvollkommenheiten und Risiken ist Maastricht die Antwort der EG – wieder einmal von Deutschland und Frankreich inspiriert – auf die gesamteuropäische Wendesituation seit 1989. Die Botschaft lautet vor allem anderen: Es soll weitergehen mit der Europäischen Integration. Es bleibt zu hoffen, daß die berufenen Interpreten des Grundgesetzes sie vernehmen. Ende 1992 hat sich der verfassungsändernde Gesetzgeber ein weiteres Mal für die „Verwirklichung eines vereinten Europas“ ausgesprochen. Wie anders als durch die Beteiligung an der 1991 in Maastricht beschlossenen Europäischen Union ließe sich dieser bis 1949 zurückreichende Auftrag des Grundgesetzes in einem praktischen Sinne erfüllen?

47 So aber Karl Doehring, Staat und Verfassung in einem zusammenwachsenden Europa, in: ZRP 26 (1993), 98 ff.; vgl. J. Schwarze (Anm. 18). 48 Näher zu dieser – besonders auf Jean Monnet zurückgehenden – „Philosophie“ der Europäischen Integration: Th. Oppermann (Anm. 17), 10 ff.

Zur normativen Kraft des Europarechts in einer sich erweiternden „Groß-EU“ Der Bonner Vortrag anläßlich des 80. Geburtstages von Ulrich Everling widmet sich in Anlehnung an den Topos der „normativen Kraft“ des Rechts (Konrad Hesse) der drohenden Gefahr einer fatalen „Überdehnung“ und Schwächung des Europarechts in einer künftigen Mega-Union von Schottland bis Anatolien.1

Seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts hat die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft und Union ungeachtet gelegentlicher krisenhafter Zuspitzungen immer wieder nach oben gezeigt.2 Der Gründung der Montanunion 1951 ff. folgte unmittelbar das Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft 1954. Die Krise wurde durch die „Relance Européenne“ in Messina 1955 überwunden, aus der in Rom 1957 EWG und EURATOM entstanden. Es folgte die legendäre Aufbruchphase 1958–1965, die sich mit dem Namen Walter Hallsteins verbindet. Charles de Gaulle legte die Gemeinschaft 1965 für ein gutes halbes Jahr lahm. Die siebziger und achtziger Jahre waren durch institutionelle Reformen (Europäischer Rat, Direktwahl des Parlaments), die Schaffung des Europäischen Währungssystems und eine Verdoppelung der Sechsergemeinschaft auf zwölf Mitglieder gekennzeichnet, aber auch durch eine zeitweilige „Eurosklerose“. Der von Jacques Delors angestoßene Binnenmarktprozeß setzte den Einigungszug seit 1985 wieder auf die Geleise. Mit den Verträgen von Maastricht 1992 und Amsterdam 1997 und der „EFTA-Erweiterung“ 1995 auf fünfzehn Mitglieder wurde die Europäische Union als Antwort auf die Herausforderung der europäischen „Wende“ 1989–1991 mit der Perspektive der 1999 vollendeten Währungsunion geschaffen. Als Letztes schienen Nizza-Konferenz 2001, die Osterweiterung 2003 und die Unterzeichnung des EU-Verfassungsvertrages 2004 eine „GroßEU“ von 25 und morgen über dreißig Mitgliedstaaten handlungsfähig zu erhalten. Musikalisch gesprochen blieb in Europa lange Zeit der Dur-Ton vorherrschend. Das „Nein“ der Verfassungsreferenden in Frankreich und in den Niederlanden im Frühjahr 2005 hat nicht nur das Inkrafttreten der EU-Verfassung unwahr1 Überarbeiteter Beitrag zum Bonner Symposion vom 11.6.2005 aus Anlaß des 80. Geburtstages von Prof. Dr. Dr. h.c. Ulrich Everling, ehem. Richter am Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, Luxemburg. – Der Vortragsstil wurde im wesentlichen beibehalten. – Erstmalig erschienen in: JZ 2005, 1017–1021. 2 Näher zum folgenden Oppermann, Europarecht, 3. Aufl. 2005, S. 1 ff.

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scheinlich gemacht. Es hat in einem tieferen Sinne schlagartig verdeutlicht, daß die offizielle Europapolitik des 21. Jahrhunderts zuletzt am Willen der Völker und Bürger innerhalb der EU vorbei betrieben wurde. In der Europäischen Union wird heute Moll gespielt. Für die „Verfassungskrise“ 2005 gibt es eine Reihe von Gründen. Ein Aspekt erscheint besonders besorgniserregend, weil er die Gemeinschaft und Union ins Mark treffen müßte. Das ist die drohende Abnahme der Akzeptanz und Geltungskraft des europäischen Rechts. Ich hoffe, daß die folgenden Beobachtungen und Überlegungen zu pessimistisch sind. Aber man kann die Augen nicht mehr verschließen. I. Die normative Kraft der Rechtsgemeinschaft Die Europäische Union und Gemeinschaft ist Rechtsgemeinschaft. Nur Rechtsgemeinschaft. Der Staatenverbund EU hat gleichzeitig überstaatlichen und nichtstaatlichen Charakter.3 Einerseits genießt das EU-Recht Vorrang vor dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten. Andererseits fehlen der Union zur Durchsetzung dieses Rechts im wesentlichen die justiziellen, polizeilichen und militärischen Zwangsmittel eines Staates. Daran haben bestimmte Zwangsgelder und Geldbußen im administrativen und justiziellen Bereich – schrecklicherweise sogar ein Europäischer Haftbefehl! –, die Polizeikooperation des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts oder die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU nichts Entscheidendes geändert. Die EU würde 1018 auch in der Gestalt des Eu- j ropäischen Verfassungsentwurfes von 2004 Rechtsgemeinschaft bleiben, wenn diese Verfassung je das Licht der Welt erblickt. Der Rechtsbefolgungswille der Mitgliedstaaten und ihrer Bürger bleibt für die Existenz der Union unentbehrlich. Ein solcher Gehorsam gegenüber den Rechtsakten von Rat, Parlament und Kommission oder vor den Urteilen der europäischen Gerichtsbarkeit versteht sich nicht von selbst. Es gibt keine Automatik der Rechtsbefolgung. Der jüngst verstorbene Konrad Hesse hat in seinem Lehrbuch des Verfassungsrechts Generationen deutscher Juristen aufgezeigt, daß eine Verfassung zu ihrer tatsächlichen Geltung normativer Kraft bedarf.4 Das meint in Hesses Worten „ihre Fähigkeit, in der Wirklichkeit geschichtlichen Lebens bestimmend und regulierend zu wirken.“ Was der große Freiburger Staatsrechtslehrer mit Blick auf das deutsche Grundgesetz ausgeführt hat, liest sich mit gleicher Gültigkeit für das europäi3 Statt vieler: P. Kirchhof, Die rechtliche Struktur der EU als Staatenverbund, in: v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, 893 ff. 4 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, S. 16 ff.

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sche Gemeinschaftsrecht. In Europa bedarf nicht nur die Vertragsverfassung des primären Rechts normativer Kraft, sondern ebenso die Verordnungen und Richtlinien der Sekundärebene, weil sie ihrerseits in gewissen Grenzen Vorrang vor dem nationalen Recht jeder Rangstufe beanspruchen. Wer denkt nicht unwillkürlich an das europäische Recht, wenn er bei Hesse liest, daß der Verfassung der „unerläßliche Keim ihrer Lebenskraft“ fehlt, falls sie den „geistigen, sozialen, politischen oder ökonomischen Entwicklungsstand ihrer Zeit ignoriert“? Der „Wille zur Verfassung“ und zu ihrem Recht ist Grundlage ihrer tatsächlichen Geltung. In Europa genauso wie in Deutschland. Wie steht es unter diesen Voraussetzungen heutzutage um die normative Kraft des europäischen Rechts? Man soll nicht dramatisieren. Im großen und ganzen haben die Mitgliedstaaten und nationalen Instanzen dem Gemeinschaftsrecht bisher hinreichenden Respekt gezollt. Gewiß, es gab Ausrutscher und vielleicht auch unterschiedliche nationale Attitüden. Nach einem bei uns beliebten Bonmot haben die Franzosen das Europarecht konzipiert, die Deutschen führen es aus und die Italiener machen, was sie wollen. In Wahrheit gebührt uns Deutschen längst nicht mehr die Rolle des „Musterknaben“. Wir sind beispielsweise in der Statistik der nationalen Umsetzung von EG-Richtlinien auf einen der hinteren Plätze gerutscht. Das Bundesverfassungsgericht lehnt es anders als oberste englische oder italienische Gerichte in souveränem Stolz bis heute ab, in Luxemburg um eine Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofes nachzusuchen. Entscheidungen wie „Solange I“ oder „Maastricht“ waren mehr von der Suche nach der Wahrung nationaler Reservatbereiche gegenüber der Gemeinschaftsgewalt geprägt als von Vertrauen in die Weisheit des Europarechts.5 Auch Frankreich hat gelegentlich einmal einem Luxemburger Urteil die Gefolgschaft versagt. Das alles sind jedoch bisher Einzelfälle geblieben. Die Jahresberichte der Kommission über den Respekt vor dem Gemeinschaftsrecht geben trotz der dortigen Aufzählung der Fehlsamkeiten bis heute keinen Anlaß zu grundsätzlicher Besorgnis. Der deutsche Verfassungsgeber hat vor einigen Jahren im Sinne des Urteils „Tanja Kreil“ die europäische Antidiskriminierungsrichtlinie 76/207 durch Änderung des Art. 12a GG vollzogen, um deutschen Frauen endlich den Dienst mit der Waffe in der Bundeswehr zu ermöglichen.6 Es kann dahingestellt bleiben, ob dieser Respekt in jedem Falle der hohen Würde des Jus Europaeum gezollt wird. Wahrscheinlicher sind rationale Erwä5 BVerfGE 37, 271 ff. „Solange I“; BVerfGE 89, 155 ff. „Maastricht“ – Demgegenüber jedoch BVerfGE 73, 387 ff. „Solange II“ und BVerfGE 102, 147 ff. „Bananenmarkt“. 6 Richtlinie 76/207, ABl. 1976, L 39/40; EuGHE 2000, I-69 ff., Rs C-285/98 „Tanja Kreil“; Neufassung Art. 12 Abs. 4 S. 2 GG durch Gesetz v. 19.12.2000, BGBl. I 1755.

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gungen. Das vielseitige Interessengeflecht zwischen den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft hat inzwischen ein solches Ausmaß erreicht, daß die nationalen Instanzen bei offenem Rechtsbruch ähnliche Mißachtung der europäischen Verpflichtungen in anderen Staaten befürchten müssen. Letztlich würden alle Opfer eines sich schneeballartig ausbreitenden Schadens. Aus welchen Gründen auch immer: bisher kann von einer hinreichenden normativen Kraft des Rechtes der Gemeinschaft und Union ausgegangen werden. II. Was hält große Reiche zusammen? Aber kann man darauf vertrauen, daß das in alle Ewigkeit so bleibt? Damit stellt sich die Frage nach dem gründenden Grund des Europarechts. „Was hält große Reiche zusammen?“ Das war vor wenigen Wochen der Titel einer Rede von Altbundespräsident Roman Herzog im Essener Museum Folkwang.7 Was hält große Reiche zusammen? Also auch die Europäische Union. Sie wird gelegentlich frei nach Samuel Pufendorf wie das Heilige Römische Reich deutscher Nation bereits kritisch als „Irregulare corpus, monstro simile“ bezeichnet. Was vermag die nötige Loyalität der Bürger gegenüber dem fernen Brüssel zu erzeugen? Läßt man eine diffuse freundliche „Europabejahung“ beiseite, die es zum Glück immer noch gibt, wird man auf den Gehorsam zurückgeführt, den die Mitgliedstaaten, Unternehmen und Bürger dem europäischen Recht zollen. Im Sinne von Konrad Hesse darf man die Bereitschaft zur Rechtsbefolgung aber nur solange erwarten, wie das Europarecht normative Kraft entfaltet, weil es hinreichend im Einklang mit dem Entwicklungsstand unserer Zeit steht. Entscheidend ist, daß die Normen dieses Rechts so viel nachvollziehbare Vernunft und Gerechtigkeit in sich bergen, daß die Rechtsunterworfenen in den Mitgliedstaaten auch ohne unmittelbaren Zwang bereit sind, diese Normen zu akzeptieren und ihnen Folge zu leisten. III. „Grenzenlose Erweiterung“ als Herausforderung des Europarechts Damit bin ich bei meiner hauptsächlichen These: Seit der großen Erweiterung der Europäischen Union von 15 auf 25 Mitgliedstaaten im Jahre 2004, aber vor allem vor der Perspektive einer „grenzenlosen“ Union mit demnächst 30 und mehr Mitgliedern von Schottland bis zur türkisch-irakischen Grenze und von Brest nicht nur bis Brest-Litowsk, sondern bis vor die Tore Moskaus – vor dieser Perspektive steht das Europarecht in Gefahr, die normative Kraft als beson7

FAZ 22.4.2005, S. 39.

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dere, vorrangige Rechtsordnung innerstaatlicher Natur zu verlieren.8 Die Akzeptanz Brüssels durch die Rechtsunterworfenen würde brüchig. Die Institutionen der Union wiesen eine solche Vielgestaltigkeit auf, daß ihre Entscheidungen von j 500 oder 600 Millionen Unionsbürgern als Fremdbestimmung empfunden 1019 würden, die keine unmittelbare Loyalität erzeugt. Wenn man es positiv ausdrükken will: das Europarecht einer solchen Mammut-Union könnte sich im Zuge fortschreitender Erweiterung mehr und mehr in eine Art regionales Völkerrecht verwandeln. Die EU würde zu einem zweiten Straßburger Europarat. Um nicht mißverstanden zu werden: dies ist kein Plädoyer für oder gegen Erweiterungen der Union. Es geht um eine objektive Analyse. Die Osterweiterung der EU 2004 war ein Akt geschichtlicher Notwendigkeit nach dem Zusammenbruch des europäischen Kommunismus 1989. Freilich bedürfte es wohl eines oder zweier Jahrzehnte, um die zehn neuen Mitglieder voll zu integrieren. Diese Zeit möchten sich viele der heute Regierenden nicht nehmen. Die Erweiterung scheint eine rauschhafte Schnelligkeit anzunehmen. Es werden manche wohlgemeinten Gründe für eine rasche Einbeziehung des Balkans und Anatoliens in die EU vorgetragen, vielleicht auch weiterer osteuropäischer Staaten. Joschka Fischer nennt das in seinem neuen Buch die „Erneuerung des Westens“ nach dem 11. September 2001.9 Das mag man alles wollen. Es ist nur so, wie man im Englischen gerne sagt, daß man den Kuchen nicht zugleich essen und ihn behalten kann. Das Konzept Jean Monnets und Robert Schumans eines intensiven, durch sein Recht zusammengehaltenen Staatenverbundes setzt eine innere Homogenität der Europäischen Union voraus, die sich nicht beliebig ausdehnen läßt. Schon die Dinosaurier sind an ihrer schieren Größe gestorben. Wenn die augenblickliche Verfassungskrise der EU zu neuer Besinnung führt, hätte sie ihre gute Seite. IV. Schwindende Legitimationsfähigkeit überdehnter Institutionen Ich kehre zur näheren Begründung meiner These zurück, daß eine fortschreitende Erweiterung der Union ab einem bestimmten Punkt die normative Kraft des Europarechts als vorrangige Rechtsordnung staatsnaher Art in Frage stellt. Ein Blick auf die wesentlichen Institutionen der EU scheint diesen Befund zu erhärten. Wie begründet sich der Loyalitätsanspruch der Unionsorgane gegenüber den Unionsbürgern?

8 Oppermann, Die Grenzen der EU oder das Vierte Kopenhagener Kriterium, FS Zuleeg, 2005, 72 ff., in diesem Band abgedruckt S. 401 ff. 9 J. Fischer, Die Rückkehr der Geschichte, 2005, 151 ff.

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I. Grundfragen der europäischen Integration 1. Europäische Kommission

Die Europäische Kommission bereitet mit ihrem Vorschlagsmonopol das Recht der EU vor, vor allem die Verordnungen und Richtlinien. Die Kommission soll kraft ihrer Sachkunde in einer rationalen und politischen Vorausschau das gemeinsame europäische Interesse definieren. Das Europarecht wird kraft seiner „Richtigkeit“ akzeptiert. Hans Peter Ipsen hat diese Rolle der Kommission in seinem Klassiker des Europarechts von 1972 besonders hervorgehoben.10 Die Kommission hat unter großen Präsidenten wie Walter Hallstein oder Jacques Delors die europäische Einigung tatsächlich mit zukunftweisenden Vorschlägen hervorragend gefördert. Dabei ist zu bedenken, daß das Kommissionskollegium anfänglich aus den sechs Gründerstaaten kam, die sich politisch und wirtschaftlich nahestanden. Unter Delors waren es zwölf, bis 2004 dann fünfzehn Mitgliedstaaten, welche die Kommission beschickten. Es gibt organisationssoziologische Untersuchungen, die behaupten, daß ein Entscheidungsgremium nicht mehr optimal arbeitet, wenn es mehr als ungefähr ein Dutzend Mitglieder umfaßt. Der Nizza-Vertrag hält eine Kommission bis zu 27 Mitgliedern für denkbar. Heute sind es 25, ein Kommissar aus jedem EU-Staat. Die im Laufe der Zeit immer stärker gewordene Unterrepräsentation der größeren Mitgliedstaaten innerhalb der Kommission hat auf diese Weise einen Höhepunkt erreicht.11 Die „Großen“ stehen Vorschlägen der Kommission kritischer gegenüber, wenn sie zu begrenzt auf ihre Entstehung Einfluß nehmen konnten. In der Regierungskonferenz 2003/2004 ist der Versuch von Giscard d’Estaing im Verfassungskonvent gescheitert, mittels gleichberechtigter Rotation eine arbeitsfähige Größe der Kommission (15 Mitglieder) auf Dauer herzustellen.12 Das Souveränitätsverlangen der kleineren Mitgliedstaaten hat sich für das kommende Jahrzehnt durchgesetzt. Die Befürchtung liegt nahe, daß es der heutigen Mammut-Kommission sehr viel schwerer als früher fallen muß, in ihren Vorschlägen rational überzeugende und gleichzeitig im breiten Spektrum von Kommissaren aus 25 Mitgliedstaaten akzeptierte Lösungen anzubieten. Die Gefahr von Kompromissen auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner wird größer. Die Kommission vermag ihre vertragliche Rolle möglicherweise nicht mehr auszufüllen. Das erste Jahr der Barroso-Kommission hat diese Sorge nicht zerstreut.

10

H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, 485 ff. Oppermann, Größere und kleinere Mitgliedstaaten in der EU, FS Schmitt Glaeser, 2003, 559 ff., in diesem Band abgedruckt S. 174 ff. 12 Art. I-25 Abs. 3 Verfassungsentwurf Konvent v. 10.7.2003; vgl. demgegenüber Art. I-26 Verfassungsvertrag v. 29.10.2004. 11

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2. Europäisches Parlament

Der Blick auf Straßburg stimmt nicht hoffnungsvoller. Ideell gesprochen, soll das Parlament die Geltungskraft des von ihm mitgeschaffenen Rechtes dadurch stärken, daß es ihm die Weihe des demokratischen Volkswillens verleiht. Aber die Frage drängt sich auf: trägt jede Stärkung der Rechte des Europäischen Parlaments bei gleichzeitiger Zunahme seiner nationalen Zusammensetzung wirklich zur Minderung des „demokratischen Defizits“ der Union bei? Es gibt keine europäische Nation.13 Das Parlament vereinigt Vertreter der Völker der Mitgliedstaaten. Es bedarf eines nahezu religiösen Glaubens an den Multikulturalismus anzunehmen, daß das Straßburger Parlament mit zunehmender Zahl der Mitgliedstaaten ein immer überzeugenderes Spiegelbild der Meinungen und Gefühle innerhalb der europäischen Bevölkerung darstellt. Die Straßburger Versammlung wird im Gegenteil für die Bürger der einzelnen Mitgliedstaaten immer entfernter und undurchsichtiger, je größer die Zahl der Nationalitäten ist, die sich dort treffen. Man darf zwar als große Leistung der Parlamentarier vermerken, daß es bisher gelungen ist, die wesentlichen „politischen Familien“ über die nationale Herkunft hinaus in den Parteienbünden des Parlaments zusammenzufassen. Unter einer liberalen oder sozialistischen Fraktion vermag der Bürger sich etwas vorzustellen. Das entscheidende und bei Erweiterungen wachsende Problem für eine loyalitätsstiftende Repräsentativität des Europäischen Parlaments liegt jedoch in seiner Zusammensetzung gemäß dem Prinzip der „degressiven Proportionalität“.14 Es begünstigt um der souveränen Gleichheit aller j Mitgliedstaaten willen bei 1020 jeder Erweiterung immer stärker die kleineren Mitgliedstaaten. Gegenwärtig verfügt Deutschland über 99 Abgeordnete, während ihm proportional ca. 130 zustünden. Nach einem Beitritt Rumäniens und Bulgariens wird sich die Zahl deutscher Abgeordneter weiter vermindern. Ähnlich steht es bei England, Frankreich und Italien. Andererseits verschafft ein sogenannter „Mindestsockel“ von 5–6 Mandaten z. B. Irland 15 Sitze statt 6. Luxemburg entsendet 6 und Malta 5 Abgeordnete nach Straßburg. Bei voller Proportionalität wären beide Staaten nicht im Parlament vertreten. Auch für diesen Kompromiß zwischen Proportionalität und Staatengleichheit gibt es gute Gründe. Er entspricht dem Charakter der Union als Staatenverbund im Sinne eines Zwitters zwischen Bundesstaat und Konföderation. Die degressive Proportionalität mindert jedoch unvermeidlich die demokratische Legitimität der parlamentarischen Mitwirkung an der europäischen Gesetz13 14

Statt vieler: Augustin, Das Volk der EU, 2000. Art. 190 EGV.

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gebung. Die europäischen Unionsbürger fühlen sich anders als beim Washingtoner Repräsentantenhaus oder indischen Unterhaus nicht als Angehörige einer einzigen homogenen Nation. Sie sehen sich in Straßburg in erster Linie durch ihre heimischen Abgeordneten repräsentiert. Bei 15 und vielleicht auch bei 25 Mitgliedstaaten mag sich die unvollkommene Proportionalität für die Akzeptanz des europäischen Rechts gerade noch in erträglichen Grenzen halten. Man stelle sich jedoch ein noch einmal erweitertes Europäisches Parlament des Jahres 2010 oder 2015 vor! Unter dessen 700–800 Abgeordneten aus über 30 Mitgliedstaaten würden sich ungefähr 50 Deutsche, 70 Türken, 40 Franzosen, 35 Rumänen, 3 Luxemburger u.s.w befinden. Wird der deutsche, französische oder italienische Bürger die von einem solchen Parlament aufgrund von kompromißhaften Vorschlägen aus einer diffusen Groß-Kommission verabschiedeten Gesetze als demokratisch legitimiert empfinden? Würde er innerlich bereit sein, diesen Gesetzen Folge zu leisten? 3. Rat

Vermag der Rat als faktisch ultimative Rechtsetzungsinstanz diese Mängel der Legitimationskraft bei Kommission und Parlament auszugleichen? Leider ist auch hier Skepsis angebracht. Das politische Zentrum der Unionsgewalt liegt seit längeren beim Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs und über ihn beim Ministerrat.15 Es wird darauf hingewiesen, daß die Präsidenten, Kanzler und Minister der Mitgliedstaaten, wenn sie im Rat beschließen, durch das Vertrauen ihrer heimischen Parlamente über demokratische Legitimation verfügen. Das ist juristisch richtig. Aber begreift der Bürger die gesetzgebenden Beschlüsse des Rates als ihn demokratisch überzeugende Akte? In der Vergangenheit mag das bei wichtigen Entscheidungen des Europäischen Rates früher oder später gelungen sein, wie bei der Einführung der Direktwahlen zum Parlament 1976 und vielleicht auch allmählich bei den Entscheidungen zugunsten der Währungsunion seit 1990. Die Masse der täglich im EU-Amtsblatt erscheinenden Rechtsetzung läßt sich dem Bürger jedoch nicht mit Verweis auf die demokratische Rückbindung der Minister nahebringen. Ferner stellt sich auch auf der Ratsebene die Erweiterungsfrage. Der Rat der 25 Mitgliedstaaten hat erst seit einem guten Jahr die Arbeit aufgenommen. An ein künftiges Gremium von 30 oder mehr Mitgliedern mag man noch nicht denken. Die Finanzplanung 2007–2013 wird der erste große Test werden, ob der Rat noch zu sinnvoller Einstimmigkeit in der Lage ist. Die überkomplizierte Regelung der Mehrheitsentscheidungen gemäß dem Nizza-Vertrag hat ihre Praktikabilitätsprobe vor sich. Hier wird sich die Frage stellen, wie eine überstimmte Gruppe von Mitgliedstaaten bei wichtigen Entscheidungen mit ihrer 15

Glaesner, Der Europäische Rat, EuR 1994, 22 ff.

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Niederlage umgeht. Nebenbei bemerkt: Es würde sich bei den Mehrheitsentscheidungen durch ein Inkrafttreten des Verfassungsentwurfes trotz mancher Propaganda nicht viel ändern. Hinzu kommt, daß europäische Rechtsetzung heute weniger als früher auf die persönliche Integrationskraft europäischer Staatsmänner bauen kann, die über die Grenzen hinweg bekannt sind. Die Zahl der „großen Europäer“ ist unter den Politikern in Rat und Kommission klein geworden.16 Im ersten Augenblick fallen einem unter den Aktiven außer Claude Juncker nicht viele Namen ein. Sicherlich ist auch heutzutage niemand „gegen Europa“. Aber konsequent europäische Entscheidungen unter übergreifenden Zielsetzungen fallen schwerer als früher. Das ist wahrscheinlich die Folge des Generationenwechsels. Die Errungenschaften der Integration von Freizügigkeit und Binnenmarkt bis zu einem stabilen EURO werden von den Jüngeren als selbstverständlich vorausgesetzt. Im übrigen zeigt man gerne auf die Schattenseiten der Integration und lastet alle möglichen heimischen Probleme Brüssel an. 4. Europäische Gerichtsbarkeit

Wie weit kann die europäische Gerichtsbarkeit der Geltung des europäischen Rechts in der großen Union des 21. Jahrhunderts aufhelfen? Gerichtshof und Gericht werden in einer Gemeinschaft von 25 und mehr Mitgliedern mit schwächerer Akzeptanz des gesetzten Rechtes zusätzliche Arbeit erhalten. Die Zahl der Unzufriedenen vergrößert sich mit der Zahl der Mitgliedstaaten. Nach den Erfahrungen mit dem Straßburger Menschenrechtsgerichtshof besteht Hoffnung, daß der juristische Korpsgeist in Luxemburg auch bei einer größeren und national stärker aufgefächerten Richterzahl die europäische Gerichtsbarkeit intakt hält. Laut Ulrich Everling war der Gerichtshof bisher die „am besten funktionierende Gemeinschaftsinstanz“.17 Genug Arbeit wird für die 60 und mehr Luxemburger Richter und Generalanwälte vorhanden sein. Das europaweite Vertrauen in den Gerichtshof ist eines der kostbarsten Güter im Zusammenspiel der Gemeinschaftsinstitutionen. Zweifelhaft bleibt dennoch, ob die punktuelle Weisheit der künftigen Urteile ausreichen kann, die Schwächen des allgemeinen Rechtsetzungsprozesses auszugleichen. V. Wohin geht der Weg der Europäischen Union? Man soll sich vor Schwarzmalerei hüten. Das kann auch für die geäußerten Sorgen um die normative Kraft des künftigen Europarechts gelten. 16

Jansen/Mahncke (Hrsg.), Persönlichkeiten der Europäischen Integration, 1981. Everling/Müller-Graff/Schwarze (Hrsg.), Die Zukunft der Europäischen Gerichtsbarkeit nach Nizza, 2003. 17

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I. Grundfragen der europäischen Integration

Das Beispiel der Europäischen Menschenrechtskonvention und ihrer Verwirk1021 lichung durch die jahrzehntelange Ar- j beit der Menschenrechtskommission und nunmehr alleine durch den reformierten Straßburger Gerichtshof beweist, daß sich der Schutz von Grund- und Menschenrechten unter 46 Mitgliedstaaten übernational gewährleisten läßt. Das hängt natürlich mit dem regionalen und universalen Charakter der Menschenrechte zusammen. Wer ist schon gegen Grundrechte? Der Gerichtshof hat sie bekanntlich mit einem seiner glücklichsten Einfälle unter die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten eingereiht.18 Die EMRK und hoffentlich bald auch die EU-GrundrechteCharta sind solche Teile des Jus Publicum Europaeum, welche dem Bürger in ganz Europa einsichtig sind und deren Beachtung er einfordert. Die Frage bleibt, inwieweit sich künftig andere Bereiche des Unionsrechts in ähnlicher Weise „grenzenlos“ europäisieren lassen, wenn die nationalen Grundüberzeugungen stärker auseinandergehen. Die gegenwärtige Auseinandersetzung um die Dienstleistungsrichtlinie zeigt, daß früher selbstverständliche Durchsetzungen von Grundfreiheiten neuen Ängsten und Widerständen begegnen, wenn sich der Kreis der Unionsbürger vergrößert. Das Schicksal des Stabilitätspaktes beweist auf seine Weise, wie fragil die normative Kraft von Gemeinschaftsrecht werden kann, wenn hinter dem verbal bejahten Ziel der Preisstabilität unterschiedliche wirtschaftliche Gewohnheiten auf nationaler Ebene wach geblieben sind.19 Bis zu schlüssigen Gegenargumenten scheint vieles darauf hinzudeuten, daß die Europäische Union rechtzeitig ihre geographischen Grenzen definieren muß, wenn sie weiterhin feste Rechtsgemeinschaft im Sinne der Gründungsphilosophie bleiben will. Im Zuge der Osterweiterung gingen sowohl der problematische Nizza-Vertrag als auch der Verfassungsvertrag von 2004 von der Fortentwicklung des supranationalen Staatenverbundes bisheriger Prägung unter 25 Mitgliedstaaten aus. Im Widerspruch hierzu wurden jedoch gleichzeitig weitere Beitrittsversprechen unter Mißachtung des vierten Kopenhagener Beitrittskriteriums von 1993 gemacht, wonach Beitritte ihre Grenzen an der „Fähigkeit der Union finden müssen, neue Mitglieder aufzunehmen und zugleich die Stoßkraft der Europäischen Integration zu erhalten“.20 Man kann sagen, daß die Bürger in Frankreich und in den Niederlanden beim Verfassungsreferendum diese von ihren Regierungen aufgestellten Beitrittsvoraussetzungen sorgfältiger gelesen haben als diese selbst. Die Neinsager haben zwar infolge mangelnder Unterrichtung beziehungsweise Desinformation fälschlicherweise den Verfassungsentwurf 18 Seit EuGHE 1969, 419 ff., Rs 29/69 „Stauder/Ulm“ st. Rspr., näher Rengeling/ Szczekalla, Grundrechte in der EU, 2004, 2 ff. 19 J. Stark, Zur „Reform“ des Stabilitäts- und Wachstumspakts, Orientierungen 104 (2005), 64 ff. 20 Text nach Bulletin der Bundesregierung 1993, 629 ff.

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zum Sündenbock gemacht. Es waren jedoch 82% der Verfassungsgegner in Frankreich der Überzeugung, die europäische Einigung durch ihr Votum nicht zu schwächen. Für eine große Zahl war der Türkei-Beitritt ein wesentlicher Grund für das „Nein“. Sollte die Union unter dem Eindruck des Volkszorns auf die Überdehnung ihrer Größe verzichten, ließe sich die Rechtsgemeinschaft vermutlich erhalten. VI. Die EU auf dem Wege zum zweiten Europarat? Sind dies alles vielleicht nur Befürchtungen einer älteren Generation? Mumien, welche die Zeichen einer neuen Zeit nicht mehr verstehen? Thomas Mann, dessen 130. Geburtstags und 50. Todestages wir in diesem Jahre gedenken, schrieb einmal den schönen Zweizeiler: „Lebe frisch in neuen Dingen und vergiß den toten Kram!“ Brauchen wir die alten Ideen der supranationalen Integration von Jean Monnet, Walter Hallstein und Paul-Henri Spaak heutzutage überhaupt noch? Haben die Engländer mit der Vision einer „gehobenen Freihandelszone“ mit wenigen festen Regeln vielleicht doch recht, ohne Regulierungswut von 30.000 Eurokraten in Brüssel? Eine „Family of Nations“, wie es Margaret Thatcher in Brügge 1988 einmal formuliert hat, in der die Staaten in vielen Fällen ihre eigenen Wege gehen können?21 Die EU – morgen ein zweiter Europarat? Persönlich vermag ich es nicht zu glauben. Ich halte die vor einem Halbjahrhundert begonnene Einigung eines homogenen Europas durch ein von seinen Bürgern akzeptiertes Jus Commune trotz aller Probleme für eine bleibende Errungenschaft.22 Sie sollte auch im 21. Jahrhundert contre vent et marées, wie die Franzosen sagen, als Unterpfand für eine gute Zukunft des Kontinents bewahrt und weiterentwickelt werden. Über den weiteren Weg der Europäischen Union werden jedoch jüngere Generationen entscheiden. Wie sagte Karl Valentin? „Prognosen sind immer schwierig, besonders, wenn sie in die Zukunft gerichtet sind“.

21 Etwas „europafreundlicher“ Tony Blair am 23.6.2005 im Europäischen Parlament: „Das politische und das wirtschaftliche Europa leben nicht in getrennten Räumen“. 22 Oppermann, Der europäische Traum zur Jahrhundertwende, JZ 1999, 317 ff., in diesem Band in erweiterter Form abgedruckt S. 13 ff.

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„Regulierungswut“ der Europäischen Union? Die Tübinger Fakultät pflegt ihre langjährigen Beziehungen zu Ostasien u. a. durch rechtsvergleichende Symposien mit japanischen und koreanischen Kollegen. Beitrag aus der Veranstaltung in Yokohama 2000, der kritisch der Frage nachgeht, inwieweit der oftmalige Vorwurf Brüsseler „Regulierungswut“ berechtigt ist.1

I. Einführende Bemerkungen Die Frage um das rechte Maß an Regulierung mit Blick auf eine freiheitlich verfasste Staats- und Gesellschaftsordnung in Deutschland verlangt heute notwendig die Einbeziehung der europäischen Dimension. Ein großer Teil der in Deutschland relevanten gesetzgeberischen Maßnahmen wird seit längeren Jahren durch Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaft (EG)2 unmittelbar bestimmt oder mittelbar beeinflusst. Dies gilt in besonderem Maße für den wirtschaftlichen Bereich im weitesten Sinne. Der frühere Präsident der Europäischen Kommission Jacques Delors sagte bereits Ende der achtziger Jahre, daß ungefähr 80% der Wirtschaftsgesetzgebung in Europa ihren Ursprung in Brüssel hätten. Der Hinweis auf die Bedeutung der EG/EU für Regulierungen in Deutschland wird gerne mit der Kritik verbunden, daß Brüssel zur Überregulierung neige und mit der kaum noch überschaubaren Zahl seiner Verordnungen und Richtlinien die private Initiative ersticke. Auf der Jubiläumstagung 1998 der Mont-Pèlerin-Gesellschaft, „Leuchtturm“ neoliberalen Wirtschaftsdenkens, wurde die erdrückende Zunahme europäischer Regulierung beklagt3. Sie habe das ursprüngliche Ziel aus den Augen verloren, die Handelsschranken zwischen den Mitgliedstaaten zu beseitigen, und sei zum Selbstzweck geworden. Die Brüsseler „Eurokraten“ hätten ein natürliches Interesse entwickelt, immer mehr Aufgaben an sich zu ziehen. Diese Äußerungen sind ein Beispiel solcher Kritik an Brüsseler „Regulierungswut“ für viele. 1 Erstmalig erschienen in: Kitagawa u. a. (Hrsg.), Regulierung – Deregulierung – Liberalisierung, Symposion Toin-Universität Yokohama, Mohr Siebeck, Tübingen 2001, 337–350. 2 Die Bezeichnungen Europäische Gemeinschaft (EG) und Europäische Union (EU) werden jeweils sinnentsprechend verwendet, ohne auf die komplizierten, aber in diesem Zusammenhang nicht näher erklärungsbedürftigen Unterscheidungen einzugehen. 3 Horn, Eine Mahnwache für freie Märkte und freie Menschen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9.9.1998, S. 18.

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Tatsächlich bietet die EG-Rechtsetzung auf den ersten Blick oftmals Anlaß zu solcher Schelte. Kürzlich legte die Kommission den Vorschlag für eine Richtlinie zur Angleichung der Mindestanforderungen vor, die erfüllt sein müssen, damit ein Lebensmittel europaweit als „Honig“ bezeichnet werden darf. Vorausgegangen waren ähnliche Regelungen, die den wahren Charakter von Schokolade, Marmelade und Fruchtsäften juristisch minutiös definierten. Vor einigen Jahren wurde oftmals eine Verordnung als Musterbeispiel unnützen Bürokratenfleißes gegeißelt, mit welcher der zulässi- j ge Geräuschpegel von Ra- 338 senmähern für die gesamte Gemeinschaft festgelegt wurde. Betrachtet man die Gründe für solche auf den ersten Blick merkwürdig erscheinende europäische Gesetzgebung näher, stellen sich Zweifel ein, ob der pauschale Vorwurf der „Regulierungswut“ an die Adresse der EU gerechtfertigt ist. Am Beispiel des Rasenmähers ließ sich rasch aufzeigen, daß unterschiedliche technische Standards in den Mitgliedstaaten, wie beispielsweise für die Lautstärke des Motors, den Export dieses Produktes im gesamten Binnenmarkt ernsthaft behindern konnten. Die Regulierungstätigkeit der EG erweist sich als anschauliches Beispiel dafür, daß Regulierung beziehungsweise Deregulierung nicht als absolute Werte begriffen werden dürfen. Es muß vielmehr auf die Legitimität der Zielsetzung beim Erlaß rechtlicher Regelungen abgestellt werden. Es muß also differenziert werden. Allgemeine Schlagworte wie „Markt statt Staat“ oder ähnlich werden dem komplexen Thema nicht gerecht4. Überlegungen darüber, inwieweit die regulierende Tätigkeit der Europäischen Union sinnvoll ist und wo sie in „Regulierungswut“ ausartet, sind auch für dritte Länder wie Japan von Interesse. Zwar ist Japan nicht Mitglied einer integrierten Gemeinschaft wie die EG/EU. Jedoch hat der allgemeine Prozeß der Globalisierung, dem auch Japan ausgesetzt ist, eine starke Tendenz zur weltweiten Deregulierung. Ganz besonders im internationalen Finanzsektor, aber über das Wirken der Welthandelsorganisation (WTO) ähnlich im Handelsbereich, gibt es machtvolle Kräfte, die auf die globale Öffnung der Wirtschaft im weitesten Sinne für einen möglichst ungehinderten Wettbewerb zielen. Mittel dazu sind die Abschaffung der Handelsregulationen, die Konvertibilität des Geldes verbunden mit freien Wechselkursen und manches andere mehr. Gleichzeitig werden jedoch ebenso weltweit Gegenkräfte wach, welche die Frage nach Sinn und Grenzen globaler Mobilität stellen. Auch Deregulierung kann zum nicht mehr hinterfragten Dogma entarten. Die WTO-Konferenz in Seattle scheiterte Ende 1999 vordergründig an mangelnder Vorbereitung und lärmendem Protest bestimmter Nichtregierungsorganisationen. Möglicherweise schloß dieses Scheitern jedoch zugleich die Chance ein, sich in einer besser geplanten WTORunde vertieft mit der Einbeziehung „regulierender“ Gesichtspunkte wie Ar4 Butterwegge/Kutscha/Berghahn (Hrsg.), Herrschaft des Marktes – Abschied vom Staat?, 1999; Yercin/Stanislaw, Staat oder Markt?, 1999.

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beits-, Gesundheits- und Umweltnormen in die Gestaltung des freien Welthandels auseinanderzusetzen. Sie waren im Aufbruch zur Weltmarktwirtschaft in den neunziger Jahren zu sehr in den Hintergrund getreten. Edward Luttwak hat mit einem einleuchtenden Vergleich kürzlich darauf aufmerksam gemacht, daß 339 auch kulturelle Werte einem unbeschränkten Freihandelsprinzip j entgegenstehen können.5 Eine Beseitigung der Ausfuhrsubventionen für Getreide im Rahmen der EG-Agrarpolitik könnte nicht nur den Weizenfarmern in Australien, den USA und anderwärts faire Wettbewerbsbedingungen in der Konkurrenz mit der EU verschaffen. Sie würde gleichzeitig der chemieverseuchten Überproduktion von Getreide in verschiedenen Teilen Europas Einhalt gebieten und damit weitere Umweltschäden verhindern. Dagegen würde eine unkontrollierte Öffnung des stark geschützten japanischen Reismarktes die traditionelle bäuerliche Lebensweise Japans und damit den wohl noch „japanischsten“ Teil der Kultur des Landes in Mitleidenschaft ziehen. Ist freier Agrarhandel ein solches kulturelles Opfer wert? Das Beispiel zeigt seinerseits auf, daß Regulierung ebenso wie deregulierende Liberalisierung im jeweiligen konkreten Fall der Rechtfertigung aus übergeordneten Gesichtspunkten bedürfen. So mag eine Betrachtung scheinbarer und wirklicher „Regulierungswut“ in der EG/EU auch von Japan aus gesehen von Interesse sein. II. Die Europäische Gemeinschaft – eine Veranstaltung der Regulierung und Harmonisierung Es ist verfehlt, der Europäischen Gemeinschaft ihre regulierende Tätigkeit grundsätzlich zum Vorwurf zu machen. Die EG ist als Rechtsgemeinschaft mit dem Ziel gegründet worden, durch Setzung supranationalen Rechts zunächst die Wirtschaft ihrer Mitgliedstaaten und darüber hinaus bis zu einem gewissen Grade weitere Aspekte ihres politischen und gesellschaftlichen Lebens zu einer übergeordneten Einheit zusammenzuschließen. Die EG ist „nur“ Rechtsgemeinschaft und kein souveräner Staat.6 Mangels anderer Handlungsmöglichkeiten ist ihr aufgegeben, ihre Ziele durch Nutzung des rechtlichen Instrumentariums zu verfolgen, welches der Vertrag der Gemeinschaft zur Verfügung stellt. Das bedeutet insbesondere europäische Gesetzgebung durch den Erlaß von unmittelbar wirksamen und in der gesamten Gemeinschaft gleichmäßig geltenden Verordnungen und Richtlinien (Art. 249 EGV). Dieses Instrumentarium steht der EG nicht für eine Regulierung als Selbstzweck zur Verfügung. Die schiere europaweite Vereinheitlichung reicht zur Legitimierung europäischer Rechtsetzung nicht aus. Vielmehr dient die Setzung von EG-Normen im wesentlichen zwei 5

Luttwak, Deregulierung als neues Dogma, 2000. Nicolaysen, Europa als Rechtsgemeinschaft, in: Weidenfeld (Hrsg.), Europa-Handbuch, 1999, 862 ff.; Oppermann, Europarecht, 2. Aufl. 1999, 333 ff.; Graf Vitzthum (Hrsg.), Europäischer Föderalismus, 2000. 6

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grundlegenden Zwecken, auf die im folgenden näher einzugehen sein wird. Zum einen soll durch die Beseitigung entgegenstehenden nationalen j Rechtes 340 ein europäischer Binnenmarkt als ein Raum ohne Binnengrenzen entstehen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gewährleistet ist (Art. 14 EGV). Die Regulierung dient mit anderen Worten der Liberalisierung. Im Zusammenhang hiermit erwächst der Gemeinschaft die Aufgabe, durch rechtliche Regelungen den freien Binnenmarkt nach außen gegenüber dritten Staaten abzugrenzen. Da die Abschaffung der unmittelbar den Freiverkehr hemmenden nationalen Regelungen in vielen Fällen nicht ausreicht, um einen effektiv funktionierenden Binnenmarkt zu schaffen, stellt der EG-Vertrag sein rechtliches Instrumentarium auch für das Ziel zur Verfügung, die indirekten Hindernisse aus dem Wege zu räumen, die sich aus den vielfältig unterschiedlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten für einen Raum ohne Binnengrenzen ergeben. Die Perfektionierung der Liberalisierung bedarf der Harmonisierung des nationalen Rechts, soweit dieses dem Funktionieren des Binnenmarktes im Wege steht. Die europäische Rechtsangleichung ist die zweite große Aufgabe der Gemeinschaft (Art. 94 EGV). Nachdem die innere Liberalisierung der Gemeinschaft seit einer Reihe von Jahren im wesentlichen vollzogen worden ist, steht die Rechtsangleichung im Vordergrund der Gemeinschaftsaktion. In dem besonderen Bereich der Wettbewerbssicherung gehen Regulierung, Deregulierung und Liberalisierung eine spezifische Verbindung ein (Art. 81 ff. EGV). In dieser Mischung wird ihr instrumentaler Charakter im Dienste des übergeordneten Zieles der Wahrung eines ungehinderten Wettbewerbes im Interesse von Wohlstandsmehrung besonders deutlich. Schließlich setzt der Vertrag mit den drei grundlegenden Prinzipien der begrenzten Einzelzuständigkeit, der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit (Art. 5 EGV) der gesetzgeberischen Aktion der EG Grenzen, die ungehemmte Regulierungen ausschließen. – Die Gemeinschaft darf nur im Rahmen der vertraglich zugewiesenen Befugnisse und Ziele tätig sein (Art. 5 Abs. 1 EGV).7 Auch wenn dieses Prinzip der begrenzten Einzelzuständigkeit unter Berücksichtigung der sich aus Art. 308 EGV ergebenden ergänzenden Rechtsetzungsbefugnisse nicht allzu eng verstanden werden darf, sind einem offenkundigen Übergreifen der EG ultra vires in ihr verschlossene Sachbereiche Grenzen gesetzt. In den neunziger Jahren hat vor allem das deutsche Bundesverfassungsgericht deutliche Zeichen gesetzt, daß die Mitgliedstaaten von der Gemeinschaft erwarten, daß diese die Begrenzungen ihrer Rechtsetzungsgewalt ernst nimmt.8 – Weiterhin setzt das mit dem Maastrichter Unionsvertrag von 1992 in den EG7 Kraußer, Das Prinzip der begrenzten Ermächtigung als Strukturprinzip des EWGVertrages, 1991. 8 BVerfGE 89, 155 ff. – „Maastricht“.

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Vertrag aufgenommene Subsidiaritätsprinzip des Art. 5 Abs. 2 EGV der Aus341 übung von j Gemeinschaftsbefugnissen dann Grenzen, wenn diese mit nationalen Befugnissen konkurrieren.9 Nur wenn die Mitgliedstaaten die in Frage stehenden Maßnahmen auf nationaler Ebene nicht ausreichend durchzuführen vermögen und die Ziele „besser“ auf Gemeinschaftsebene zu verwirklichen sind, darf die EG regulierend tätig werden. Ungeachtet aller Schwierigkeiten, welche die Anwendung der unbestimmten Rechtsbegriffe des Art. 5 Abs. 2 EGV in der Praxis mit sich bringt, hat die Einführung des Subsidiaritätsprinzips in den neunziger Jahren zu einer merklichen Verringerung der legislatorischen Vorschläge der Europäischen Kommission an den Rat geführt. Die Mitgliedstaaten haben minutiöse „Prüfungsraster“ im Sinne des Subsidiaritätsprinzips entwikkelt, die sie an die Vorschläge der Kommission anlegen, bevor es zur abschließenden Beratung im Rat kommt. Die Kommission bemüht sich ihrerseits durch die frühzeitige Vorlage von mehrjährigen „Gesetzgebungsprogrammen“ um Konsens mit dem Rat, um den Anschein übermäßiger Regulierungsabsichten zu vermeiden. Insgesamt hat sich das Subsidiaritätsprinzip als ein wirksames Instrument zur Vermeidung entbehrlicher EG-Rechtsetzung erwiesen. – Schließlich begrenzt das Verhältnismäßigkeitsprinzip (Art. 5 Abs. 3 EGV) die Gemeinschaftsaktion auf einer dritten Stufe.10 Auch wenn die Gemeinschaft zuständig ist und das Subsidiaritätsprinzip ihrem Tätigwerden nicht entgegensteht, muß sie sich bei der Ausgestaltung ihrer Rechtssetzungsbefugnisse auf das zur Erreichung der Vertragsziele erforderliche Maß beschränken. Nicht nur das „Ob“, sondern auch das „Wie“ ihres Tätigwerdens ist rechtsstaatlich begrenzt. In der näheren Ausgestaltung des Übermaßverbotes stellt das Verhältnismäßigkeitsprinzip eine klassische Antithese zur „Regulierungswut“ dar. Der Europäische Gerichtshof hat die Proportionalität bereits vor ihrer vertraglichen Verankerung 1992 in vielen Fällen als allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts zur Anwendung gebracht. III. Errichtung des Binnenmarktes: Liberalisierung durch Regulierung Der europäische Binnenmarkt im Sinne von Art. 14 EGV wurde seit dem Ende der fünfziger Jahre fortschreitend mittels einer großen juristischen Aktion hergestellt, in der sich wiederum Regulierung und Deregulierung verbanden. 342 Der freie Warenverkehr einschließlich landwirtschaftlicher Wa- j ren (Art. 23 ff., 9 Lecheler, Das Subsidiaritätsprinzip, 1993; Bieber, Subsidiarität im Sinne des Vertrages über die Europäische Union, in: Nörr/Oppermann (Hrsg.), Subsidiarität. Idee und Wirklichkeit, 1997, 165 ff.; Zuleeg, Das Subsidiaritätsprinzip im Europarecht, Festschrift Schockweiler, 1999, 635 ff. 10 Ellis (Hrsg.), The Principle of Proportionality in the Laws of Europe, 1999; Pache, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung der Europäischen Gemeinschaften, NVwZ 1999, 1033 ff.

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32 ff. EGV), der freie Verkehr unselbständiger und selbständiger Personen (Art. 39 ff., 43 ff. EGV) sowie der freie Kapital- und Zahlungsverkehr (Art. 56 ff. EGV) wurden als Grundfreiheiten des Gemeinsamen Marktes durch die Beseitigung aller unmittelbaren Beschränkungen des Freiverkehrs in Gestalt der Setzung übergeordneten EG-Rechts verwirklicht.11 Dieser Prozeß ist inzwischen im wesentlichen abgeschlossen. Es gibt lediglich bestimmte Bereiche, wie beispielsweise bei der Durchsetzung des bereits im Vertrage enthaltenen, unmittelbar wirksamen Verbotes von Maßnahmen mit gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen (Art. 28 EGV) durch die Aufsicht von Kommission und Gerichtshof, wo die Wahrung des Binnenmarktes aufgrund der unübersehbaren Gestaltungsmöglichkeiten nationalen Rechtes niemals ganz abgeschlossen sein wird. Insgesamt wird die Freiheit des Binnenmarktes durch die Regulierungskraft des europäischen Rechtes garantiert. Von einer „Wut“ im Sinne überflüssiger Rechtsetzung kann in diesem Zusammenhang nicht gesprochen werden. Die Rechtsetzung verwirklicht die grundlegende Zielsetzung des Vertrages. Die Gestaltungsmöglichkeiten sekundärer europäischer Gesetzgebung und auch der Vertragsschließungsgewalt der Gemeinschaft gegenüber dritten Staaten sind bei der Gestaltung des Außenregimes des Binnenmarktes unentbehrlich.12 Dies gilt für den Aufbau des Gemeinsamen Zolltarifes (Art. 26, 131 EGV) ebenso wie für die verschiedenen Arten ein- und mehrseitiger handelspolitischer Maßnahmen, wie insbesondere die Kontingentierungspolitik sowie bei Schutzmaßnahmen im Fall von Dumping und Subventionen oder bei handelspolitischen Abkommen mit Drittstaaten (Art. 131 ff. EGV). Die Legitimation der europäischen Regulierungen kann in diesen Fällen nicht in der Liberalisierung liegen, da der grundsätzliche Sinn des Außenregimes in der Gewährleistung eines berechtigten Schutzes der Wirtschaftssubjekte der Gemeinschaft liegt. Diese Zielsetzung stellt ihrerseits ein hinreichendes Motiv für die Gemeinschaft dar, mit ihrem Instrumentarium regelnd tätig zu werden. Man kann in solchen Zusammenhängen nur dann von einer übermäßigen Regulierung sprechen, wenn der Schutzzweck entgegen dem liberalen Grundansatz in Art. 131 EGV protektionistisch übersteigert wird („Festung Europa“). Dies stellt indessen kein Argument gegen die Inanspruchnahme der Regulierungskompetenz j der Gemein- 343 schaft als solche dar, sondern lediglich gegen die Art und Weise ihrer Ausübung.

11 Oliver, Free Movement of Goods in the European Community, 3. Aufl. 1996; Servais, Ein europäischer Finanzraum, 3. Aufl. 1995; Hailbronner (Hrsg.), 30 Jahre Freizügigkeit in Europa, 1998; Monar, Die Entwicklung des „Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“, Integration 2000, 18 ff. 12 Krenzler, Recht und Politik der Außenwirtschaftsbeziehungen der Europäischen Gemeinschaft, 1994; Göttler, Die Europäische Union und der Welthandel, Integration 1999, 146 ff.

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Insgesamt richtet sich die Kritik an der Brüsseler „Regulierungswut“ kaum jemals gegen die legislatorische Tätigkeit der EG im Zusammenhang mit der Errichtung und Bewahrung eines freien und nach außen angemessen geschützten Binnenmarktes. IV. Vervollkommnung des Binnenmarktes: Liberalisierung durch Rechtsangleichung Mit der Errichtung und allmählichen Vollendung des europäischen Binnenmarktes seit dem Ende der fünfziger Jahre ist die EG-Rechtsangleichung mehr und mehr in den Vordergrund der Gemeinschaftsaktion gerückt.13 Man kann hierbei verschiedene Stufen unterscheiden. 1. Notwendige Rechtsangleichung

Bestimmte Maßnahmen der Harmonisierung der nationalen Rechtsvorschriften im Sinne von Art. 94 f. EGV oder aufgrund von Spezialvorschriften erwiesen sich in unmittelbarem Zusammenhang mit der Herstellung der Grundfreiheiten des Gemeinsamen Marktes als notwendig, um die innere Liberalisierung nicht nur formal, sondern auch tatsächlich zu verwirklichen.14 Auch nach Abschaffung der Binnenzölle und Kontingentierungen wäre der freie Warenverkehr mit Automobilen oder anderen technisch anspruchvollen Waren ohne eine Angleichung oder zumindest gegenseitige Anerkennung der technischen und Sicherheitsstandards empfindlich gestört geblieben. In der Landwirtschaft setzte der freie Binnenmarkt für agrarische Produkte angesichts der Gegebenheiten des nationalen Agrarrechts die Einigung über gemeinsame europäische Preise und in vielen Fällen über die Beschaffenheit der landwirtschaftlichen Produkte voraus. Die freie Niederlassung eines italienischen Friseurs in Deutschland wäre auch bei Wegfall der unmittelbaren Beschränkungen unmöglich, wenn man von ihm wie von seinem deutschen Kollegen die vorherige Ablegung der Meisterprüfung nach der deutschen Handwerksordnung verlangen würde. Noch viel schwieriger hätte sich die grenzüberschreitende Tätigkeit von Rechtsanwälten 344 innerhalb der Gemeinschaft gestaltet. Ohne einen allmählichen j Wegfall der Steuergrenzen innerhalb der Gemeinschaft durch Harmonisierung der nationalen Steuersysteme und Steuersätze bleibt der Binnenmarkt in einem wichtigen Punkt unvollendet.15 In solchen und in zahlreichen vergleichbaren Fällen sah bereits der Vertrag rechtsangleichende Maßnahmen vor, die vor oder gleichzei13 Großfeld/Bilda, Europäische Rechtsangleichung, ZfRV 1992, 421 ff. Zum heutigen Stand Streinz, Europarecht, 5. Aufl. 2001, 385 ff. 14 Müller-Graff, Die Rechtsangleichung zur Verwirklichung des Binnenmarktes, EuR 1989, 107 ff.; Gundel, Die Neuordnung der Rechtsangleichung durch den Vertrag von Amsterdam, JuS 1999, 1171 ff.

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tig mit der Liberalisierung erfolgen sollten. Man kann hier von notwendiger Rechtsangleichung sprechen, ohne welche die Herstellung der Grundfreiheiten auf dem Papier stünde. 2. Gegenseitige Anerkennung versus Vollharmonisierung

Allerdings stellte sich nach einiger Zeit heraus, daß allzu ehrgeizige Zielsetzungen bei der Harmonisierung der unterschiedlichen nationalen Rechtsordnungen die Liberalisierung in vielen Fällen auf unbestimmte Zeit verschieben würden. Ein perfektes Zusammenwachsen der unterschiedlichen Rechtssysteme war keineswegs immer notwendig, um die grundlegenden Ziele des Binnenmarktes zu erreichen. Hier hätte in der Tat die Gefahr von „Überregulierungen“ bestanden. Es war das Verdienst des Europäischen Gerichtshofes Ende der siebziger Jahre, mit der Leitentscheidung „Cassis de Dijon“ die gegenseitige Anerkennung unterschiedlicher, aber gleichwertiger nationaler Regelungen als eine Alternative zur „Vollharmonisierung“ der mitgliedstaatlichen Regelungen eröffnet zu haben.16 Für die Bedürfnisse eines freien Binnenmarktes erweisen sich zueinander geöffnete, aber weiterhin national regulierte Märkte in vielen Fällen als ausreichend. Angesichts der meist vergleichbaren Standards zwischen den regional nahe verwandten Mitgliedstaaten fand das „Prinzip gegenseitigen Vertrauens“ rasche Verbreitung sowohl bei der Herstellung des freien Warenverkehrs wie auch beim freien Personenverkehr. Bei der Personenfreizügigkeit legten die beiden „Gleichwertigkeitsrichtlinien“ 89/48 und 92/51 in den Jahren 1989 und 1992 die Gleichwertigkeit mindestens dreijähriger Hochschulausbildungen und die gegenseitige Anerkennung beruflicher Befähigungsnachweise fest.17 Der „Durchbruch“ mit der Rechtsprechung „Cassis de Dijon“ bedeutete nicht nur eine wesentliche Erleichterung zugunsten einer realen Garantie der Grundfreiheiten. Er war rechtspolitisch zugleich eine Absage an übermäßige und langwierige Rechtsetzungen, welche die Vollharmonisierung der nationalen Systeme mit sich gebracht hätte – wenn sie je erreich- j bar gewesen wäre. Auch 345 von wirtschaftswissenschaftlicher Seite wird der dort gerne so genannte „Wettbewerb der Systeme“ wegen seiner Anreizfunktionen der europaweiten Vereinheitlichung als überlegen angesehen. Die Kommission beschränkt bei ihrer „neuen Strategie“ der Rechtsangleichung inzwischen die Harmonisierung auf allgemeine Fragen, die einer Produktkategorie gemeinsam sind, und bevorzugt sonst regelmäßig die gegenseitige Anerkennung. 15 Beveridge/Riley, EC Taxation Law, 1999; Kuntze, Die Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft auf dem Gebiet des Steuerrechts, 1999. 16 EuGHE 1979, 649, Rs. 120/78 „Cassis de Dijon“ – Diese Rechtsprechung wurde weiterentwickelt, vgl. Becker, Von „Dassonville“ über „Cassis“ zu „Keck“, EuR 1994, 162 ff.; Roth, Freier Warenverkehr nach „Keck“, FS Großfeld, 1999, 929 ff. 17 Weber, Die Anerkennung beruflicher Hochschuldiplome im Recht der Europäischen Gemeinschaft, WissR 1997, 20 ff.

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I. Grundfragen der europäischen Integration 3. Weitere Rechtsangleichung („Europäisierung“)

Ursprünglich wollte Art. 94 EGV die Rechtsangleichung auf solche nationalen Rechts- und Verwaltungsvorschriften beschränken, die sich unmittelbar auf die Errichtung oder das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes auswirken. In dieser „dienenden“ Funktion der Rechtsangleichung lag zugleich eine Absage an weitergehende Harmonisierungen. Mit dem allgemeinen Fortschreiten der Integration wurde das Unmittelbarkeitserfordernis jedoch seit den achtziger und neunziger Jahren allmählich mehr oder weniger fallengelassen. Dies hing mit dem politisch immer stärker artikulierten Ziel zusammen, die Europäische Gemeinschaft und Union solle sich über den ökonomischen Sektor hinaus zu einer Politischen Union erweitern. So verstanden, ergaben sich für die rechtsangleichende Aktion der Gemeinschaft neue Tätigkeitsfelder. Die Harmonisierung nationaler Rechtsvorschriften konnte in einer nicht auf das Wirtschaftliche beschränkten Union grundsätzlich überall für das Zusammenwachsen Europas förderlich sein. Rechtlich war dies unproblematisch, wenn man die Harmonisierungsmaßnahmen nicht nur auf Art. 94 ff. EGV beschränkte, sondern in großzügiger Auslegung des Art. 308 EGV und sonstiger spezieller Rechtsgrundlagen eine Art ergänzende Rechtsangleichung betrieb, deren Ziel die „Europäisierung“ auch solcher Bereiche war, die mit der Integration im engeren Sinne nur locker zusammenhingen.18 Nötigenfalls wurde die Rechtsform eines gesonderten völkerrechtlichen Vertrages „neben der EG“ gewählt. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sei in diesem Zusammenhang auf folgende Projekte ergänzender Rechtsangleichung hingewiesen, die sich teilweise noch in der Durchführung befinden: – Im Gesellschaftsrecht wurde mit der VO 2137/85 im Jahre 1985 zur Erleichterung des grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehrs die „Europäische Wirtschaftliche Interessenvereinigung“ (EWIV) als erste europäische Unternehmensform geschaffen. Dagegen sind die seit den siebziger Jahren j laufenden 346 Bemühungen um die Schaffung einer „Europäischen Aktiengesellschaft“ (Societas Europea) immer noch nicht vom Erfolg gekrönt.19 – Bemerkenswerte Europäisierungen wurden beim geistigen Eigentum erreicht. Seit 1977 besteht aufgrund eines über die EG hinausreichenden völkerrechtlichen Vertrages von 1973 die Möglichkeit, ein „Europäisches Patent“ zu ertei18 Rengeling (Hrsg.), Europäisierung des Rechts, 1996; Rabe, Die Europäisierung der Rechtsordnung, NJW 1997, 2631 ff. 19 Müller-Guggenberger/Schotthöfer, Die Europäische Wirtschaftliche Interessenvereinigung in Europa, 1995; Jaeger, Die Europäische Aktiengesellschaft europäischen oder nationalen Rechts, 1994. – Auf der Regierungskonferenz in Nizza Ende 2000 wurde eine politische Einigung erzielt, das Statut der „Societas Europea“ 2001 gemeinschaftsrechtlich festzulegen, vgl. SE – Die Europäische Aktiengesellschaft, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.12.2000, S. 18.

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len (Europäisches Patentamt München). Ihm folgte 1994 auf gemeinschaftsrechtlicher Grundlage (VO 40/94) die in der ganzen EG gleichmäßig geltende „Gemeinschaftsmarke“, die vom Europäischen Markenamt in Alicante/ Spanien verwaltet wird.20 – Im europäischen Privat- und Prozeßrecht ist das bereits 1968 geschaffene „Europäische Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommen“ (EuGVÜ) von großer Bedeutung für den freien Urteilsverkehr in der Gemeinschaft. Daneben sind verschiedene langfristig angelegte Projekte in Bearbeitung (Europäische Zivilprozessordnung, Europäisches Konkursabkommen u. a.m.).21 – Ein Schwerpunkt der gemeinschaftsrechtlichen Harmonisierung liegt mittlerweile im EG-Umweltschutz.22 In einer kaum noch überschaubaren Fülle wurden Verordnungen, Richtlinien und sonstige Rechtsakte zum allgemeinen Umweltschutz (z. B. Einführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung, von Umweltzeichen oder eines Öko-Audits) erlassen. Ebenso erfolgten zahlreiche Regelungen zum medienspezifischen Umweltschutz (z. B. gemeinsame Qualitätsnormen für Gewässer oder die Luft, Lärmschutz- und Abfallregelungen oder zur Zulassung und Begrenzung von Gentechnologie). – Von zunehmender Bedeutung ist ferner die rechtsangleichende Gemeinschaftsaktion im Verbraucher- und Gesundheitsschutz geworden (Angleichungen des Lebensmittelrechts, Harmonisierung der nationalen Werbungsregelungen, darunter die umstrittene Beschränkung der Tabakwerbung).23 j – Noch in den Anfängen stehen Bemühungen um Rechtsangleichung im Öffent- 347 lichen Recht (u. a. bei der Einführung des Kommunalwahlrechts für alle Unionsbürger) und im Strafrecht (sanktionierende Bekämpfung von Wirtschaftsbetrug).24

20 v. Mühlendahl/Ohlgart/Bomhard, Die Gemeinschaftsmarke, 1998; Prime, EC Intellectual Property Law, 1999; Dybdal, Europäisches Patentrecht, 2000. 21 Schlosser, Kommentar zum Europäischen Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommen, 1996; Coester-Waltjen, Europäisierung des Privatrechts, Jura 1998, 398 ff.; Timme, Zu Chancen und Grenzen einer europäischen Ordnung des Zivilrechts, ZRP 2000, 301 ff. 22 Epiney, Umweltrecht in der Europäischen Union, 1997; Collier (Hrsg.), Deregulation in the European Union, Environmental Perspectives, 1998. 23 Howells/Wilhelmsson, EC Consumer Law, 1997; Schwanenflügel, Gesundheit in Europa, EuR 1998, 210 ff. Bei der Tabakwerbung hat der EuGH in seinem Urteil vom 5.10.2000, Rs. C-376/98, die Richtlinie 98/49/EG v. 6.7.1998 für nichtig erklärt, da die EG für ein Totalverbot solcher Werbung keine Kompetenz besitze. Hier wurden der EU Grenzen ihrer Rechtsetzungsgewalt gesetzt. 24 Altmaier/Friedmann/Schuller/Theato, Finanzkontrolle und Betrugsbekämpfung in der Europäischen Union, 1996; Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Hrsg.), Strukturen des europäischen Verwaltungsrechts, 1999; Jung, Konturen und Perspektiven des europäischen Strafrechts, JuS 2000, 417 ff.; zum Ausländerkommunalwahlrecht Oppermann (Anm. 6), S. 655 f.

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Wenn man diese hier nur in begrenzter Auswahl wiedergegebenen zahlreichen Felder der „Europäisierung“ nationalen Rechtes überblickt, die meist nur indirekt mit den Kernzielen der Integration zusammenhängen, mag sich tatsächlich hier und da die Frage nach der Brüsseler „Regulierungswut“ aufdrängen. Das Aufgreifen dieser oder jener Thematik oder die Vernachlässigung einer anderen folgt nicht einem wohlüberlegten „Meisterplan“ fortschreitender Europäisierung, sondern hängt von mancherlei Zufälligkeiten ab. So mag sich hier und da weniger Bedeutsames in den Vordergrund drängen, während für den Binnenmarkt wichtige Projekte (z. B. die Europäische Aktiengesellschaft) seit Jahrzehnten stagnieren. Gleichwohl darf man die meisten Unternehmungen der ergänzenden Rechtsangleichung mittlerweile nicht mehr mit dem Verdikt der Überregulierung abtun. Die langsame Harmonisierung der nationalen Rechtsgrundlagen in den verschiedenen Bereichen der Integrationsverträge zu einem Europäischen Rechtsraum läuft mit der in Maastricht 1992 erfolgten Gründung einer Europäischen Union parallel, die sich über das Ökonomische hinaus zu einem umfassenden „Europa der Bürger“ entwickeln möchte. Das mag eine „unendliche Geschichte“ sein, wie die entsprechenden jahrzehntelangen Anstrengungen in Bundesstaaten wie den USA oder in Deutschland erkennen lassen. Regulierungswut ist das jedoch nicht. Vielmehr liefert die allmähliche Begründung eines Jus Commune Europaeum den Kitt für eine langfristige Stabilität der Gemeinschaftskonstruktion.25 V. Wettbewerbssicherung durch europäische Regulierungen Das europäische Wettbewerbsrecht (Art. 81 ff., 87 ff. EGV) steht in besonderer Weise im Schnittpunkt zwischen Regulierung, Deregulierung und Liberalisierung. Mit seinen Regulierungen für Unternehmen, insbesondere mit der Kartell-Verordnung Nr. 17 von 1962 und der Fusionskontrollverordnung 4064/89 348 von 1989 greift die Gemeinschaft in die private Ver- j tragsfreiheit ein. Hier handelt es sich um eine klassische „Regulierung um der Liberalisierung willen“.26 Die wirtschaftliche Erfahrung hat gezeigt, daß ein sich selbst überlassener Wettbewerb den Keim der Selbstzerstörung durch die Bildung privater Vermachtungen in Gestalt von Kartellen und übermäßigen Konzentrationen in sich trägt. Die Erhaltung eines fairen Wettbewerbs ist daher eine genuin staatliche und mit Blick auf den zwischenstaatlichen Handel inzwischen auch europäische Aufgabe. Sie wird mittels des Erlasses von Rechtsnormen wie bei der grundsätzlichen Untersagung von Kartellen (mit bestimmten Ausnahmen) oder in Ge25

Grundmann, Jus Commune und Jus Communitatis, FS Fikentscher, 1998, 671 ff. Amato, Antitrust in Europe, EuZöR 1998, 1067 ff.; Lang, Competition Law and Regulation Law from an EC Perspective, Fordham International Law Journal 23 (2000), 116 ff.; Schaub, Die Zukunft des europäischen Kartellrechts, 2000. Insgesamt Herdegen, Europarecht, 3. Aufl. 2001, 275 ff. 26

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stalt der Einrichtung öffentlicher Kontrolle bei Großfusionen auf Gemeinschaftsebene wahrgenommen. Das grundsätzliche Ziel, welches die Regulierung legitimiert, ist die Erhaltung einer „offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“, die Art. 4 EGV als eine Grundentscheidung des Vertrages definiert. Die Regeln des europäischen Wettbewerbsrechts entfalten gleichzeitig Wirkungen im öffentlich/staatlichen Bereich. Gemäß Art. 86 EGV ist der Sektor öffentlicher Unternehmen in die Wettbewerbsordnung des Vertrages grundsätzlich einbezogen. Zwar wird hier ermöglicht, der besonderen Lage solcher Unternehmen Rechnung zu tragen, die aus Gründen des Allgemeinwohls öffentliche Leistungen der Daseinsvorsorge erbringen müssen. Dennoch hat die Regelung des Art. 86 in der Gemeinschaftspraxis zunehmende Liberalisierungskraft entfaltet. Die Europäische Kommission hat es mit wirtschaftspolitischer Unterstützung aus den Mitgliedstaaten als ihre Aufgabe angesehen, mittels einer möglichst sauberen Trennung zwischen den – gemeinschaftsrechtlich gerechtfertigten – genuin hoheitlichen Aufgaben und Befugnissen öffentlicher Unternehmen und ihrer zu liberalisierenden unternehmerischen Betätigung möglichst viel europaweiten Wettbewerb auf diesen bisher staatlich geschützten und regulierten Märkten zu initiieren. Wichtigstes Beispiel ist in diesem Zusammenhang bisher die weitgehende Liberalisierung des Telekommunikationsbereiches in den EUMitgliedstaaten während der neunziger Jahre durch eine intensive Setzung sekundären EG-Rechtes.27 Wie im Privatsektor dient die europäische Regulierung dem legitimen Ziel der Entfaltung und Sicherung freien Wettbewerbes im Interesse wirtschaftlicher Freiheit und Wohlstandsmehrung zum Nutzen der Verbraucher. Die so gerechtfertigte „Liberalisierung durch Regulierung“ j vollzieht sich 349 zugleich als Deregulierung, indem das „Unterholz“ wettbewerbshindernden nationalen Rechtes beseitigt wird. Insgesamt erweist sich die Wettbewerbssicherung auf europäischer Ebene mittels Setzung von Recht als besonders einleuchtendes Beispiel für die notwendige Ambivalenz bei der Bewertung von Regulierungsprozessen. „Regulierungswut“ hat noch niemand der wettbewerbssichernden Aktion der Gemeinschaft vorgeworfen. Vielmehr hat die EG-Wettbewerbspolitik mit ihren legislatorischen Anstrengungen übermäßige private und auch öffentliche Wirtschaftsmacht im Interesse des Florierens der europäischen Wirtschaft gebändigt. Sie hat damit der grundlegenden Zielsetzung der Gemeinschaft gedient, offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb zu gewährleisten.

27 Europäische Kommission, Der Wettbewerb im Telekommunikationsbereich, 1997; Koenig, Regulierungsoptionen für die Neuen Medien, Beiheft 12/1998 zu Multimedia und Recht; Schwarze, Medienfreiheit und Medienvielfalt im Europäischen Gemeinschaftsrecht, ZUM 2000, 779 ff.

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VI. Schlußbemerkung Die Prüfung einiger wesentlicher Aspekte der Rechtsetzung der Europäischen Gemeinschaft hat gezeigt, daß der gerne erhobene Vorwurf zumeist nicht gerechtfertigt ist, daß die EG/EU zu Überregulierungen neige. Zumindest dann nicht, wenn die grundlegenden Zielsetzungen der Gemeinschaftsverträge anerkannt werden, deren Verwirklichung die regulierende Tätigkeit der Gemeinschaft in aller Regel dient. Dabei soll nicht verkannt werden, daß die Bürokratie der EG wie jede Bürokratie auf der Welt gelegentlich zur gesetzgeberischen Hypertrophie neigt. Auch wenn es dem Freiverkehr mit Lebensmitteln und gesundheitlicher Vorsorge dienen mag, kann man bezweifeln, daß es minutiöser europäischer Definitionen für Honig, Schokolade, Marmelade und Fruchtsäfte bedarf, um den Gemeinsamen Markt für Lebensmittel zu installieren und aufrechtzuerhalten. Die Grenzziehung zwischen der legitimen Setzung von Rahmenbedingungen für das Funktionieren des Binnenmarktes und einer übermäßigen Einmischung in das freie Marktgeschehen ist prekär. Auch die Europäische Kommission und andere Gemeinschaftsinstanzen sind nicht vor der Versuchung unnötiger Besserwisserei gefeit. „Mehr Marktrecht und weniger Einzelgesetze“ war eine einleuchtende Formel, die vor einigen Jahren auf einem integrationspolitischen Kongreß geprägt wurde.28 Aber auch mit solchen Einschränkungen sollte die nähere Untersuchung der angeblichen „Regulierungswut“ Brüssels geklärt haben, daß die umfängliche Rechtsetzung der Gemeinschaft in der Mehrzahl der Fälle berechtigt und not350 wendig ist, um allgemein akzeptierte Zielsetzungen des j wirtschaftlichen und politischen Einigungsprozesses zu verwirklichen. Ebenso wie auf nationaler Ebene die Gesetzgebungsgewalt des Staates auch für eine freiheitliche Gesellschaft unverzichtbar bleibt, muß die Rechtsgemeinschaft EG/EU von ihren regulierenden Befugnissen Gebrauch machen, wenn sie die Grundfreiheiten des Binnenmarktes durchsetzen und darüber hinaus mittels weitergehender Europäisierungen der nationalen Rechtsordnungen die Basis für eine stabile Europäische Union legen soll. Das scheinbare Paradox, daß die Freiheit der schützenden Sicherheit des Rechtes bedarf, ist eine allgemein anerkannte rechtstheoretische Erkenntnis. Das Anschauungsmaterial, welches die Aktion der Europäischen Gemeinschaft hierfür bietet, sollte daher auch jenseits Europas auf Interesse stoßen.29

28 Hopt (Hrsg.), Europäische Integration als Herausforderung des Rechts: Mehr Marktrecht und weniger Einzelgesetze, 1991. 29 Böttcher, Andere Werte und Handlungsrahmen in Ostasien, Aus Politik und Zeitgeschichte, B 48/1998, 47 ff.

Die Dritte Gewalt in der Europäischen Union Versuch einer Würdigung der Rolle der europäischen Gerichtsbarkeit für das Gelingen der Integration.*

Die Zeit zwischen dem Inkrafttreten des Vertrages über die Europäische Union (EUV – „Maastrichter Vertrag“) am 1.11.1993 und der Anberaumung der nächsten Regierungskonferenz zur Revision dieses Vertragswerks im Jahre 1996 gemäß Art. N Abs. 2 EUV ermöglicht Besinnung auf notwendige und wünschenswerte Verbesserungen der im Dezember 1991 in den Niederlanden hastig beschlossenen und 1992/93 nach vielfältigen politischen und verfassungsrechtlichen Auseinandersetzungen vollzogenen Gründung der Europäischen Union1. Wie es mit der europäischen Gerichtsbarkeit weitergehen soll, ist in dieser Reformdebatte bislang eher ein Randthema. Sehr zu Unrecht! Für die EU mit der Europäischen Gemeinschaft (EG) als ihrem Kern ist die nach Art. 164 EGV dem Europäischen Gerichtshof (EuGH), dem ihm beigeordneten (Europäischen) Gericht erster Instanz (EuG) und – in weiterem Sinne – allen nationalen Gerichten anvertraute Wahrung des europäischen Rechts das Fundament ihrer Existenz. Als Rechtsgemeinschaft ohne europäische Armee, Polizei oder auch nur Gerichtsvollzieher bedarf die EU der Befolgungsbereitschaft ihrer Mitgliedstaaten und der Unionsbürger aus Einsicht und Überzeugung im Hinblick auf die Normen des Gemeinschaftsrechts, so wie sie in Brüssel gesetzt und in Luxemburg verbindlich ausgelegt werden. Die Übertragung rechtsprechender Gewalt von den Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft macht zusammen mit der entsprechenden Überantwortung von Gesetzgebungsbefugnis die partielle Supranationalität der EG aus2. Verbesserungen im Rechtsschutzsystem stehen seit Maastricht stärker denn je auf einer nach Sachproblemen aufgestellten imaginären Tagesordnung europäischer Verfassungsreform; jedenfalls für diejenigen, denen gleichermaßen an wirksamem Rechtsschutz des Unionsbürgers gegenüber der angereicherten Ge* Erstmals erschienen in: DVBl. 1994, 901–908. 1 Vertrag über die Europäische Union vom 7.2.1992, BGBl. II S. 1253. In Deutschland kulminierte die politische und rechtliche Auseinandersetzung um das Maastrichter Vertragswerk in dem mit dem Urteil vom 12.10.1993 abgeschlossenen Verfahren vor dem BVerfG, Text u. a. NJW 1993, 3047 ff. Hierzu statt vieler Götz, Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, JZ 1993, 1081 ff; Streinz (gleicher Titel), EuZW 1994, 329 ff. 2 Oppermann, Zur Eigenart der Europäischen Union, in: Hommelhoff/Kirchhof (Hrsg.), Der Staatenverbund der Europäischen Union, 1994, 87 ff.

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meinschaftsgewalt gelegen ist wie an einer sinnvollen, ausgewogenen Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen der europäischen und der nationalen Ebene. Die Verhandlungen des Münsteraner Deutschen Juristentages 1994 erfolgen somit zu einem günstigen und wichtigen Zeitpunkt. Man darf darauf hoffen, daß sich der hier versammelte Sachverstand in deutsche Reformvorschläge für „Maastricht II“ 1996 umsetzt. Unter Rechtsschutzgesichtspunkten ist Hauptkritikpunkt am Unionsvertrag von 1992 vor allen denkbaren Einzelanregungen zur Stärkung europäischer Gerichtsbarkeit, daß über Art. L EUV der Unionsvertrag weithin von gerichtlicher Kontrolle ausgenommen worden ist. Zwar ist verständlich, daß die zunächst mehr intergouvernemental organisierten Bereiche der Gemeinsamen Außenund Sicherheitspolitik (GASP) und der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres nicht in gleichem Maße justizieller Aufsicht zugänglich sind wie die drei „klassischen“ EG-Verträge3. Daraus folgt aber nicht die Maastrichter Entscheidung, insoweit auf Rechtsschutz größtenteils zu verzichten. Zumal dieser Verzicht nicht nur die GASP und die Zusammenarbeit Inneres/Justiz betrifft, sondern ebenso die in Art. A–F niedergelegten Leitprinzipien der Union. Mit den Grundsätzen der Subsidiarität, Kohärenz, Einzelermächtigung und auch mit der im Karlsruher Maastricht-Verfahren stark bemühten Mittelausstattung der Union (Art. F Abs. 3 EUV) sind zentrale Rechtsbegriffe angesprochen, deren Justitiabilität sehr wünschenswert wäre. Vor allem jedoch geht von der rechtsschutzlosen Union – in Kontrast zu der vom Gerichtshof kontrollierten EG – mit Blick auf die Zukunft eine fragwürdige Signalwirkung aus. Zu begrüßen ist daher der Verfassungsentwurf des Europäischen Parlamentes vom 10.2.1994, der in Art. 36 die künftige Unionsverfassung in ihrer Gänze ebenso wie alle sonstigen Rechtsakte der Union richterlicher Aufsicht unterwerfen möchte4. j I. Zu den Aufgaben der Europäischen Gerichtsbarkeit

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1. Die EG als Rechtsgemeinschaft

Seit den Tagen Walter Hallsteins hat sich das Vorstellungsbild von der EG als „Rechtsgemeinschaft“ eingebürgert5. Es hat ebenso positiven wie eingrenzenden Klang. Das Großartige liegt in der Bezugnahme auf eine gemeinschaftsweite „Rule of Law“ im Sinne des friedenserhaltenden Verzichtes auf andere 3

Schmidhuber, Europa nach Maastricht, 1994. Text u. a. in BR-Drucks. 182/84 vom 3.3.1994; zur Entwicklung Alber, Die Entwürfe des Europäischen Parlaments für eine europäische Verfassung, 1994; Hilf, in: Hilf/Stein/Schweitzer/Schindler, Europäische Union: Gefahr oder Chance für den Föderalismus in Deutschland, Österreich und der Schweiz, VVDStRL 53 (1994), 19 ff. 5 Hallstein, Europäische Reden, 1979 (passim); Zuleeg, Die Europäische Gemeinschaft als Rechtsgemeinschaft, NJW 1994, 545 ff. 4

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einseitige Machtmittel. Art. 219 EGV ist insoweit Zentralnorm. Die selbstverständliche, spezifisch gemeinschaftsrechtliche Geltung der EG-Rechtsakte, gleichmäßig in allen Mitgliedstaaten, gehört hierzu ebenso wie der seit den sechziger Jahren vom Gerichtshof entwickelte und inzwischen trotz gelegentlicher Rückfälle allseits akzeptierte Anwendungsvorrang des Europarechts vor dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten6. Angesichts des allmählich immer weiter fortschreitenden Aufbaues der Gemeinschaftsordnung kam der Jurisdiktion des Gerichtshofes in den vergangenen vier Jahrzehnten über die klassischen Aufgaben jeder Rechtsprechung hinaus, Frieden und Gerechtigkeit zu stiften, nicht selten die Funktion rechtsfortbildender Begleitung des Einigungsprozesses im Geiste der Vertragsziele zu7. Zusammenhalt und Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft waren und sind dem Gerichtshof gemeinsam mit Kommission und Rat ebenso anvertraut wie die Wahrung des Rechts im traditionellen Sinne. Daß der EuGH sich hierbei auf einer schwierigen Gratwanderung zwischen gebotener Rechtsfortbildung und problematischem „Gouvernement des Juges“ befindet, ist oftmals bemerkt und beschrieben worden8. Die EG ist aber auch „nur“ Rechtsgemeinschaft. Union und Gemeinschaft weisen auch nach Maastricht nicht entfernt Staatsqualität auf9. Das Gewaltmonopol im eigentlichen Sinne, der „Staat pur“ sozusagen, liegt nach wie vor bei den Mitgliedstaaten. Sie haben den Rechtsakten der Gemeinschaft Folge zu leisten, die ihnen ebenso wie den Unionsbürgern Rechte verleiht, aber auch Pflichten auferlegt. Im Konfliktfall sorgt der Gerichtshof für die verbindliche und gemeinschaftsweit einheitliche Auslegung des Gemeinschaftsrechts. Soweit eine Durchsetzung seines Spruches mittels Sanktions- und letztlich Vollstreckungsgewalt erforderlich wird, enden jedoch weithin die Befugnisse des Gerichtshofes und der Gemeinschaft, gegenüber den Mitgliedstaaten und letztlich auch gegenüber den Privaten (Art. 171, 192 EGV)10. Die Wirksamkeit der europäischen Rechtsordnung beruht auf der Vertragstreue ihrer Mitglieder, welche aus Einsicht und dem gemeinsamen Interesse am Funktionieren der Gemeinschaft die jeweils notwendigen Erfüllungs- oder Zwangsmaßnahmen zu treffen haben. Die Verträge suchen der EG durch mancherlei Mechanismen wenigstens ein gewisses Maß an Sanktionsgewalt zu verleihen. So hat der EUV die Stellung des 6 Die Entwicklung der Vorrangthese in Rechtsprechung und Theorie bei Oppermann, Europarecht, 1991, S. 195 ff., oder Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil, Die Europäische Union, 4. Aufl. 1993, S. 94 ff. 7 Everling, Richterrecht in der Europäischen Gemeinschaft, 1988. 8 Schon Colin, Le Gouvernement des juges dans les Communautés Européennes, 1966; später etwa Rasmussen, Between Self-Restraint and Activism – A Judicial Policy for the European Court, ELR 1988, 28 ff. 9 Oppermann/Classen, Die EG vor der Europäischen Union, NJW 1993, 5 ff. m. w. N.; dies., Europäische Union: Erfüllung des Grundgesetzes, Aus Politik und Zeitgeschichte, B 28/1993, 16 f. (in diesem Band auf S. 60 ff. abgedruckt). 10 Etwa Bleckmann, Europarecht, 5. Aufl. 1990, 278 f.

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Gerichtshofes bei der Durchsetzung von Urteilen gegenüber Mitgliedstaaten durch die Befugnis zu stärken gesucht, auf Anrufung der Kommission gegen den säumigen Mitgliedstaat die Zahlung eines Pauschalbetrags oder Zwangsgeldes verhängen zu können (Art. 171 Abs. 2 EGV). Über die Beitreibung schweigt der Vertrag jedoch. Schon länger bekannt ist die Praxis der „Mehrfachklage“, wobei der aus dem ersten Urteil säumige Mitgliedstaat aufgrund der zweiten Klage wegen Nichtbefolgung des ersten Urteils erneut verurteilt wird11. Ebenso ist die zunehmende Bereitschaft der nationalen Gerichte, durch Einholung verbindlicher Vorabentscheidungen gemäß Art. 177 EGV und deren Berücksichtigung ihre mitgliedstaatliche Gerichtsgewalt in den Dienst des Gemeinschaftsrechts zu stellen, zu einem besonders wichtigen Faktor bei der Durchsetzung europäischen Rechts geworden12. Auf diese Weise wird der Rechtsgemeinschaft EG von und in den Mitgliedstaaten in der europäischen Praxis im großen und ganzen der notwendige Respekt gezollt, sei es manchmal auch nur aus der Nützlichkeitserwägung heraus, daß offene Vertragsbrüchigkeit eines Mitgliedstaates an anderer Stelle auf ihn zurückschlagen und die Gemeinschaft insgesamt in Frage stellen müßte13. 2. Verfassungsgerichtliche und Rechtsschutzfunktionen des Europäischen Gerichtshofes und des Gerichts 1. Instanz

Unter den komplexen Zuständigkeiten des EuGH, die seit 1988 durch die Errichtung des Gerichts 1. Instanz (EuG) modifiziert wurden, lassen sich zwei grundlegend verschiedene Aufgabenfelder unterscheiden14. a) Zum einen ist der Europäische Gerichtshof das Verfassungsgericht der Gemeinschaft. Damit ist die Auslegung und Sorge um die Einhaltung der grundlegenden und vorrangigen Bestimmungen der Gemeinschaftsordnung angesprochen, wie sie im primären Recht der Verträge niedergelegt sind. Dem Gerichtshof ist mit der „Wahrung des Rechts“ i. S. von Art. 164 EGV als vornehmste Aufgabe anvertraut, daß diese „Verfassungsordnung“ der EG allseits respektiert wird. Dies ist Voraussetzung dafür, daß die Gemeinschaft ihre Aufgaben und Ziele i. S. der Art. 2 ff. EGV zu erfüllen vermag. Auch insoweit bleibt bedauerlich und revisionsbedürftig, daß die Kontrolle der Verschränkung dieses Aufgabenkatalogs der Gemeinschaft mit dem übergreifenden der Union in Art. B EUV dem EuGH bis auf weiteres verschlossen bleibt. 11 Everling, Die Stellung der Judikative im Verfassungssystem der Europäischen Gemeinschaft, Ztschr. für Schweiz. Recht 1993, 337 ff. 12 Zum Vorabentscheidungsverfahren neuerdings Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, 2. Aufl. 1994, 242 ff. 13 Zuleeg (Anm. 5). 14 Überblick bei Brandt, Der Europäische Gerichtshof und das Europäische Gericht erster Instanz, JuS 1994, 300 ff.

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Für Verfassungsrechtsprechung in diesem Sinne steht dem Gerichtshof eine breite Palette von Zuständigkeiten zur Verfügung15. Der zentralen Aufgabe der Abgrenzung der Kompetenzen der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten dienen primär die Vertragsverletzungsklagen der Kom- j mission und eines Mitglied- 903 staates nach Art. 169, 170 EGV. Kompetenzfragen können aber auch im Wege von Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 177 EGV über die Auslegung des Vertrages oder von Handlungen der EG-Organe aufgeworfen werden. Ebenso kann dies über die Nichtigkeits- und Untätigkeitsklagen der Art. 173, 175 EGV geschehen, wenn Organe der Gemeinschaft untereinander oder mit einem Mitgliedstaat über die Rechtmäßigkeit des Handelns von Gemeinschaftsorganen streiten. Hierbei hat die Maastrichter Reform in gesetzgeberischer Bestätigung früherer Rechtsprechung des EuGH nunmehr – begrüßenswert – die Handlungen des Europäischen Parlaments voll einbezogen, ebenso wie diejenigen einer künftigen Europäischen Zentralbank16. Schließlich können aber auch über ein Gutachten des Gerichtshofes nach Art. 228 Abs. 6 EGV zur Vereinbarkeit eines völkerrechtlichen EG-Abkommens mit dem Vertrag Fragen des Umfanges der Gemeinschaftszuständigkeit geklärt werden. Soweit Kompetenzstreitigkeiten sich innergemeinschaftlich zwischen verschiedenen Organen der EG abspielen, hat der Gerichtshof in einer langjährigen Rechtsprechung sich insbesondere um die „Wahrung des institutionellen Gleichgewichts“ zwischen diesen Organen bemüht. Diesem Prinzip kommt angesichts der spezifischen Funktionengliederung des Vertrages auf europäischer Ebene eine ähnlich fundamentale Bedeutung zu wie der Wahrung der Gewaltenteilung in den Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten17. In mancherlei Weise mit den Kompetenzfragen verschränkt, aber doch eine besondere verfassungsgerichtliche Aufgabe ist die Normenkontrolle im Sinne der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit sekundären Gemeinschaftsrechts anhand der Verträge18. Sie kann sowohl als „konkrete Normenkontrolle“ über Ersuchen nationaler Gerichte um Vorabentscheidung nach Art. 177 EGV erfolgen, als auch innerhalb von Nichtigkeitsklagen gemäß Art. 173 sowie im Wege der inzidenten Normenkontrolle nach Art. 184 EGV. Letztlich verschränken sich beim Grundrechtsschutz innerhalb der Gemeinschaftsrechtsordnung Aspekte von Verfassungsrechtsprechung und individuellem 15 Iglesias, Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften als Verfassungsgericht, 1992. 16 EuGHE 1986, 1339 ff. – Rs. 294/83 „Les Verts“. Zum letzten Aspekt Koenig, Institutionelle Überlegungen zum Aufgabenzuwachs beim Europäischen Gerichtshof in der Währungsunion, EuZW 1993, 661 ff. 17 Seit EuGHE 1958, 9 ff. – Rs. 9/56 „Meroni“ st. Rspr. Näher Iglesias (Anm. 15), 11 ff. 18 Oppermann (Anm. 6), S. 230 ff.; Schwarze, Grundzüge und neuere Entwicklung des Rechtsschutzes im Recht der Europäischen Gemeinschaft, NJW 1992, 1065 ff.

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Rechtsschutz. Ihm hat der Gerichtshof seit dem Ende der sechziger Jahre in rechtsfortbildender Heranziehung der Rechtsgedanken des Art. 215 Abs. 2 EGV ständige und von der nationalen Gerichtsbarkeit zunehmend akzeptierte Aufmerksamkeit geschenkt19. Indem die europäischen Grundrechte als Ausprägung allgemeiner Rechtsgrundsätze begriffen wurden, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind, wurde sogar ihr Charakter als Bestandteil der objektiven Verfassungsordnung der EG im Vergleich zur subjektivrechtlichen Komponente besonders betont. b) Der Gerichtshof ist aber nicht nur Verfassungsgericht. Als „Supreme Court“ obliegt ihm gleichermaßen die Gewährleistung individuellen Rechtsschutzes, in der doppelten Ausprägung eines Verwaltungs- und eines Zivilgerichts. Hierbei steht ihm seit 1988 das Gericht 1. Instanz (EuG) zur Seite20. In der Art eines Verwaltungsgerichts judiziert der Gerichtshof vor allem bei der Anfechtung von Einzelentscheidungen der Gemeinschaft durch Private nach Art. 173 Abs. 2 EGV. Spezielle Ausprägungen dieser Anfechtungsklagen finden sich vor allem in den Zuständigkeiten des EuGH in Wettbewerbssachen nach Art. 87 Abs. 2 d EGV i.V. mit der EG-Kartellverordnung Nr. 1721. In erster Instanz ist insoweit heute das EuG nach Art. 3 des Errichtungsbeschlusses vom 24.10.1988 (ABl. L 319/1) zuständig geworden. Gleiches gilt für die weitere verwaltungsgerichtliche Zuständigkeit des Gerichtshofs für Streitsachen zwischen der Gemeinschaft und ihren Bediensteten gemäß Art. 179 EGV, die bis 1988/89 den Gerichtshof arbeitsmäßig stark belastete22. Aus ähnlichen Gründen wäre wünschenswert, wenn die EG-Verfassungsreform 1996 von der ebenfalls in Art. 3 Abs. 3 des Errichtungsbeschlusses vom 24.10.1988 und inzwischen in Art. 168a EGV vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch machen würde, auch die Anfechtungsklagen Privater gegen handelspolitische Schutzmaßnahmen der EG im Falle von Dumping oder Subvention zunächst dem EuG zuzuweisen. Die Arbeitsbelastung des Gerichtshofs ist mittlerweile so, daß jede Gelegenheit genutzt werden sollte, ihn zugunsten der Ausübung der verfassungsgerichtlichen Funktionen zu entlasten23. – Dagegen hat die Zuständigkeit für Streitigkeiten aus einer Schiedsklausel in öffentlich-rechtlichen Verträgen der Gemeinschaft nach Art. 181 EGV bisher keine sonderliche Bedeutung gewonnen.

19 Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, 1993; Schermers, The Protection of Human Rights in the European Community, 1994. 20 Jung, Funktion, Arbeitsweise und Zukunft des Gerichts 1. Instanz der Europäischen Gemeinschaften, 1992; Brandt (Anm. 14). 21 Oppermann (Anm. 6), S. 360 f. 22 Jung (Anm. 20); Niemeyer, Erweiterte Zuständigkeiten für das Gericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften, EuZW 1993, 529 ff. 23 Zahlen u. a. bei Schwarze (Anm. 18).

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Auf der Grenze zwischen verwaltungs- und zivilgerichtlicher Funktion mag man die Zuständigkeit des Gerichtshofs nach Art. 178 i.V. mit Art. 215 Abs. 2 EGV für Amtshaftungsklagen Privater gegen die Gemeinschaft sehen. Sie hat bereits zu einer umfangreichen Judikatur des EuGH geführt24. Mit der bekannten Francovich-Entscheidung hat der Gerichtshof kürzlich eine kühne Verzahnung zwischen dieser Gemeinschafts- und der mitgliedstaatlichen Haftung dergestalt herzustellen gesucht, daß Unionsbürger, die in einer bestimmten Situation durch eine unvollkommene oder verspätete Umsetzung von EG-Richtlinien seitens eines Mitgliedstaates geschädigt worden sind, einen Schadensersatzanspruch gegen diesen haben25. Eine solche richterrechtliche Verpflichtung der nationalen Gesetzgeber, ihr jeweiliges Staatshaftungsrecht gemäß den Bedürfnissen der gemeinschaftsrechtlichen Rule of Law zu ergänzen, hat mancherlei Bedenken hervorgerufen26. Unter dem Gesichtspunkt der Effektuierung der Gemeinschaftsrechtsordnung erscheint freilich der „Francovich-Appell“ ein sehr ernsthaft zu prüfender Weg. Die Verlei- j hung von Rechten an den Unionsbür- 904 ger, bei deren Verfolgung gleichermaßen seinem Eigeninteresse wie der Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts insgesamt gedient ist, erscheint in der praktischen Anwendung erfolgversprechender, als auf europäische oder nationale Instanzen zu vertrauen, deren Verkehr von vielfältiger gegenseitiger Rücksichtnahme geprägt ist27. Zivilrechtlich kann der Gerichtshof ferner aufgrund von Schiedsklauseln über Ansprüche aus privatrechtlichen Verträgen der Gemeinschaft angerufen werden (Art. 181 EGV). An dieser Stelle kann nur darauf hingewiesen werden, daß der Schwerpunkt der Tätigkeit des Gerichtshofes als zwischenstaatliches Gericht im Bereiche des Internationalen Privat- und Prozeßrechts mittlerweile in den Zuständigkeiten liegt, die ihm im Zusammenhang mit dem aufgrund Art. 220, Unterabsatz 4 EGV abgeschlossenen Europäischen Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommen in Zivil- und Handelssachen (EuGVÜ) vom 27.9.1968, ABl. 1972, L 299/32 und dazu ergangenen Folgeregelungen zugewachsen sind28. Ob die „Supreme-Court-Lösung“, einem primär als Verfassungsgericht ausgestalteten Spruchkörper wie dem EuGH derartige andersartige Zuständigkeiten anzuvertrauen, eine Dauerlösung bleiben kann, mag fraglich erscheinen, vor allem, falls

24 Überblick bei Oppermann (Anm. 6), S. 71 ff., oder Schweitzer/Hummer, Europarecht, 4. Aufl. 1993, 140 ff. 25 EuGHE 1991, 5357 ff. – Rs. C-6 und 9/90 „Francovich“; Ossenbühl, Der gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsanspruch, DVBl. 1992, 993 ff.; v. Danwitz, Zur Entwicklung der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung, JZ 1994, 335 ff. 26 Ossenbühl (Anm. 25); Hailbronner, Staatshaftung bei säumiger Umsetzung von EG-Richtlinien, JZ 1992, 284 ff. 27 Etwa Schockweiler, Die Haftung der Mitgliedstaaten bei vertragswidrigem Verhalten, 1993, bes. 24 ff. 28 Coester-Waltjen, JURA 1989, 611 ff.

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die Tätigkeit aufgrund des EuGVÜ und seines Folgerechts sich weiter ausweiten sollte. Insgesamt spiegelt sich auf diese Weise in den weitgefächerten Zuständigkeiten der europäischen Gerichtsbarkeit konsequent die Breite der Übertragung rechtsetzender Gewalt von den Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft wider. Gerade aus der deutschen, inzwischen durch die rechtsstaatlichen Anforderungen des Art. 23 GG an die Europäische Union geprägten Sicht macht erst die jurisdiktionelle Kontrolldichte auf EG-Ebene den Aufbau einer supranationalen Legislativgemeinschaft erträglich. Freilich beseitigt europäische Verfassungsrechtsprechung und EG-Rechtsschutz nicht nur rechtsstaatliche Befürchtungen, sondern schafft zugleich in dem neu entstandenen Spannungsverhältnis zwischen den Ansprüchen der europäischen und nationalen Judikative eigene Probleme. Dem ist im folgenden nachzugehen. II. Europäische versus nationale Verfassungsrechtsprechung 1. „Verfassungscharakter“ der europäischen Verträge?

Der im vorangehenden erst einmal unterstellte Verfassungscharakter der EUVerträge, insbesondere des EGV, ist in der deutschen Ratifikationsdebatte 1992/ 93 um Maastricht nicht unbestritten geblieben. Insbesondere im Zusammenhang mit der in Frage gestellten demokratischen Legitimation der vertragsergänzenden Regierungskonferenzen als europäische verfassungsgebende Gewalt wurde gelegentlich auf den völkerrechtlich-vertraglichen Charakter des primären Gemeinschaftsrechts verwiesen und der eigentliche Verfassungsrang einer staatlichen, vom Volkswillen kreierten Grundnorm vorbehalten29. Gleichwohl braucht man den Verfassungsbegriff nicht in dieser Weise zu verengen. So hat das Bundesverfassungsgericht schon in einem bekannten Beschluß aus dem Jahre 1967 von der damaligen EWG als einer „Gemeinschaft eigener Art“ gesprochen, die selbst kein Staat und auch kein Bundesstaat sei, wobei ihr Vertrag „gewissermaßen die Verfassung dieser Gemeinschaft darstelle“30. Plausibel wird damit angedeutet, daß mit der Gemeinschaft eine von ihren Mitgliedstaaten gelöste und verselbständigte Rechtspersönlichkeit geschaffen worden ist, der die Erledigung bestimmter öffentlicher Aufgaben – vornehmlich wirtschaftlicher Art – anvertraut und die hierfür mit den geeigneten 29 Etwa E. Klein, Diskussionsbeitrag, in: Hommelhoff/Kirchhof (Anm. 2), S. 103 ff. Ähnlich auch die Sicht bei P. Kirchhof, Der deutsche Staat im Prozeß der europäischen Integration, HdBStR VII (1992), 855 ff. 30 BVerfGE 22, 296, in enger Anlehnung an EuGHE 1964, 1251 ff. – Rs. 6/64 „Costa-ENEL“. In seinem Maastricht-Urteil von 1993 (oben Anm. 1) hat das BVerfG die Formel von 1967 nicht zurückgenommen.

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Befugnissen ausgestattet worden ist. Dieser „Staatenverbund“, wie das Bundesverfassungsgericht im Maastricht-Urteil vom 12.10.1993 die EU eigenständig zwischen Bundesstaat und Staatenbund plaziert, bedarf als öffentliches Gemeinwesen – ähnlich wie ein Staat – einer Reihe von Grundregeln und Grundprinzipien, die in den Gründungsverträgen niedergelegt beziehungsweise über die Judikatur des Gerichtshofs fortentwickelt worden sind. Der Vorrang des primären vor dem sekundären Europarecht verleiht ihnen innerhalb der Gemeinschaftsrechtsordnung eine vergleichbare Rangposition, wie sie dem Verfassungs- gegenüber dem Gesetzesrecht auf nationaler Ebene zukommt. Zur Ähnlichkeit zwischen nationaler und Gemeinschaftsordnung gehört auch, daß die Grundregeln der EG-Verträge nicht nur eine organisatorische Grundstruktur schaffen. Mit heute im EUV ausdrücklich niedergelegten Grundsätzen zugunsten von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Solidarität, Subsidiarität oder zugunsten des institutionellen Gleichgewichts zwischen den EG-Organen werden materielle Prinzipien angesprochen, für die sich inzwischen in der Gemeinschaftspraxis ganz selbstverständlich die Vorstellung eingebürgert hat, dies seien die Verfassungsgrundsätze der Gemeinschaft und Union31. Entsprechend begreift der Gerichtshof die Verträge als „grundlegende Verfassungsurkunde“ der Gemeinschaft und seine Aufsicht hierüber als Verfassungsrechtsprechung32. An dieser Stelle wird ein weiteres Mal sichtbar, wie widersinnig es ist, daß Art. L EUV dem Gerichtshof ausgerechnet die Rechtskontrolle über die zentralen Verfassungsprinzipien versagt, die in Art. A–F EUV und auch in seiner Präambel niedergelegt sind. 2. Zur Reichweite der europäischen Verfassungsrechtsprechung

Die europäische Einigung charakterisiert sich als ein auf unbestimmte Zeit voranschreitender Prozeß. Zur „Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas“ (Art. A EUV) werden Zeitpläne, Stufen u. ä. aufgestellt, in deren Rahmen die Vergemeinschaftung bestimmter Lebensbereiche vorangetrieben wird33. Je fortgeschrittener dieser Prozeß ist, desto empfindlicher werden auf nationaler Ebene die jeweils neuen Integrationsbemühungen verspürt, greifen sie doch zunehmend in Bereiche ein, j die bislang – ganz natürlich – als 905 mitgliedstaatliche Arkana angesehen wurden. Die durch den Maastrichter Stu31 Pescatore, Die Gemeinschaftsverträge als Verfassungsrecht, FS Kutscher, 1981, S. 319 ff.; Zuleeg, Die Verfassung der Europäischen Gemeinschaft in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, BB 1994, 581 ff. m. w. N. 32 EuGHE 1991, I-6079 ff. – Gutachten 1/91 „EWR“. 33 Bekannt wurde zuletzt besonders das Weißbuch der Kommission an den Rat zur Vollendung des Binnenmarktes, 1985 („Delors-Plan“). Den Charakter der EG-Verträge als „Planverfassung“ hat besonders H. P. Ipsen entwickelt, etwa in: Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, passim.

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fenplan ausgelöste politische Debatte über den Sinn einer Europäischen Währungsunion ist hiefür ebenso ein prominentes Beispiel wie die zunehmende und vielkritisierte Befassung der Gemeinschaft mit dem kulturellen Bereich im umfassenden Sinne von Bildungs-, Forschungs- und Medienpolitik34. In diesen Zusammenhängen erweist sich immer wieder die Frage nach dem Umfang der Gemeinschaftskompetenzen als zentral, d. h. ihrer Befugnis, in bislang noch unter nationaler Verantwortung stehende Bereiche regulierend einwirken zu dürfen. Da Union und Gemeinschaft nur nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (jetzt Art. E EUV) handlungsfähig sind, ist die eher restriktive oder extensive Auslegung der vertraglich vorgesehenen Zuständigkeiten der Gemeinschaft der nervus rerum, an dem sich Tempo und Umfang des weiteren Einigungsprozesses entscheiden35. Es geht dabei um Interpretationsfragen vor allem der Gemeinschaftsverfassung im Sinne der Verträge. Während insofern zunächst die Einschätzung des „Gemeinschaftsgesetzgebers“ maßgeblich ist, also von Kommission, Parlament und letztlich des Rates, bleibt im Konfliktfalle das letzte Wort bei der Verfassungsgerichtsbarkeit. Aber welcher? Die vertragliche Gemeinschaftsverfassung ist nach Art. 164 EUV fraglos dem Europäischen Gerichtshof anvertraut. Ein extensives verfassungsgerichtliches Verständnis der EG-Befugnisse durch den EuGH geht daher notwendig zu Lasten nationaler Verfassungsbefugnisse, deren Hege in den meisten Mitgliedstaaten der EU heute nationalen Verfassungsgerichten obliegt, in Deutschland dem Bundesverfassungsgericht. Auf diese Weise geht der europäische Einigungsprozeß einher mit einer fortlaufenden Konkurrenz nicht nur zwischen Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten im allgemeinen, sondern in letzter Instanz zwischen den beiderseitigen Gerichtsbarkeiten. Der EuGH hat dabei lange die Rolle der dritten Gewalt in Union und Gemeinschaft im Sinne eines entschiedenen „Judicial activism“ geprägt36. 3. Europäischer Gerichtshof: Förderer der Integration oder ehrlicher Makler zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten?

Es ist des öfteren beschrieben und meist kritisch bewertet worden, wie der Gerichtshof in einer Folge von grundlegenden Entscheidungen sich seit den sechziger Jahren – in der Formulierung eines früheren EuGH-Präsidenten – als „Kämpfer für die Integration“ engagiert und den Aufbau der Gemeinschaftsrechtsordnung entscheidend mit gefördert hat37. In „Van Gend & Loos“ schuf 34 Etwa Tietmeyer, Währungsunion – ein Weg ohne Umkehr, Integration 1992, 17 ff.; Oppermann, Die deutsche Länderkulturhoheit und EG-Aktivitäten in Bildung, Forschung und technologischer Entwicklung, in: Vogel/Oettinger (Hrsg.), Föderalismus in der Bewährung, 1992, 73 ff. 35 Oppermann (Anm. 6), S. 168 ff.; Everling (Anm. 11). 36 Vgl. oben Anm. 8.

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er die Doktrin der unmittelbaren Anwendbarkeit bestimmter Normen des primären Gemeinschaftsrechts, denen man solche Qualitäten auf den ersten Blick nicht angesehen hatte. Er verbreiterte damit zugleich wesentlich den individuellen Rechtsschutz38. „Costa-ENEL“ formulierte kurz darauf die geschlossene Vision der Gemeinschaftsordnung als einer eigenständigen Rechtsschicht zwischen Völkerrecht und nationalem Recht. Daraus wurde gleichzeitig der unbedingte Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem mitgliedstaatlichen Recht – einschließlich der nationalen Verfassungen – abgeleitet und in einer anschließenden ständigen Rechtsprechung hartnäckig verteidigt und ausgebaut.39 Mit „Stauder-Ulm“ hob Ende der sechziger Jahre die Kette der „Findung“ ungeschriebener Gemeinschaftsgrundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze der gemeineuropäischen Rechtsordnung an40. Im auswärtigen Bereich etablierte wenig später „AETR“ in entschlossener Rechtsfortbildung eine umfassende Vertragsschließungskompetenz der Gemeinschaft41. Jüngeren Datums ist die Bereitschaft des EuGH hervorzuheben, in „Gravier“ und einigen Folgeentscheidungen dynamische Ausweitungsmöglichkeiten der Gemeinschaftsaktion trotz des Prinzips der begrenzten Einzelzuständigkeit im Geiste von übergreifenden Vertragszielen zuzulassen42. Mit der bereits erwähnten „Francovich-Entscheidung“ ergänzt und krönt der EuGH seine frühere Anerkennung der Drittwirkung von EG-Richtlinien mit der Zuerkennung eines Schadensersatzanspruches gegen Mitgliedstaaten, die bei der Umsetzung der Richtlinien säumig geblieben sind43. Die Kritik an solcher Rechtsprechung in dubio pro Communitate im Sinne der Vorwürfe eines „Judicial activism“ oder „Gouvernement des Juges“ ist von Anfang an laut geworden44. Sie entzündete sich bei jeder derartigen „Cause célèbre“ aufs neue und gipfelte in dem Zornesausbruch von Michel Debré („La Cour de Justice doit être détruite!“). Die Gerechtigkeit gebietet allerdings zu vermerken, daß diese anfangs für revolutionär erachtete Judikatur des Gerichtshofs jeweils nach einer gewissen Zeit allseits akzeptiert, nicht selten gepriesen wurde – man denke nur an die Grundrechtsrechtsprechung oder an die Auswärtige Gewalt der Gemeinschaft. Es ist den Richtern in Luxemburg zu bescheinigen, daß sie zumindest in der ursprünglichen Aufbauphase der Gemeinschaft 37 Etwa Bleckmann, Teleologie und dynamische Auslegung des Europäischen Gemeinschaftsrechts, EuR 1979, 239 ff.; T. Stein, Richterrecht wie anderswo auch?, FS Jurist. Fakultät Heidelberg 1986, 619 ff. 38 EuGHE 1963, 3 ff. – Rs. 26/62. 39 EuGHE 1964, 1251 ff. – Rs. 6/64. 40 EuGHE 1969, 419 ff. – Rs. 29/69. 41 EuGHE 1971, 263 ff. – Rs. 22/70. 42 EuGHE 1985, 594 ff. – Rs. 293/83. 43 EuGHE 1991, 5357 ff. – verb. Rs. C-6 und 9/90. 44 Dokumentiert etwa bei Schwarze (Anm. 18).

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die Zeichen der Zeit, soweit sie in den Verträgen angelegt waren, richtig erkannt haben und der Gemeinschaft wesentlich zu hinreichenden Gestaltungsmöglichkeiten verhalfen, aber auch den Rechtsschutz der Unionsbürger in gleichem Zusammenhang sorgfältig beachteten. Seit der gesicherten Etablierung der Gemeinschaft – und ganz besonders in der Maastricht-Ratifikationsdebatte 1992/93 – mehren sich allerdings die Stimmen, welche die Rolle des Gerichtshofs als bewußter Förderer der Integration für mehr oder weniger erfüllt ansehen und ihm als neue Grundlinie diejenige eines ehrlichen Maklers zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten anempfehlen45. Nachdem der „Acquis communautaire“ in Gestalt weiter Bereiche gesetzten Gemeinschaftsrechts gesichert erscheint und angesichts vielfältigen Mißtrauens gegenüber Brüsseler Überregulierungen und Zentralismus könnte die 906 verfassungspolitische Vision des EuGH in einer zweiten j Phase seiner Rechtsprechungstätigkeit eher darin liegen, ein gesundes Gleichgewicht zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten herzustellen. Möglicherweise geben die in EUV und EGV an verschiedenen Stellen verankerten Prinzipien der Bürgernähe und Subsidiarität dem EuGH genug normativen Anlaß, eine auf mittlere Sicht ausgeglichene Zuständigkeitsstruktur der Union zwischen den Gemeinschaftsinstitutionen und denjenigen der Mitgliedstaaten, einschließlich ihrer regionalen Untergliederungen zu entwickeln46. Er würde damit wahrscheinlich zur Akzeptanz eines sich angemessen vereinigenden Europas unter den neuartigen Bedingungen der „großen Wende 1989/91“ mehr beitragen als über weitere starre Begünstigung maximaler Gemeinschaftskompetenzen. Es gibt durchaus Anzeichen dafür, daß das Verständnis für einen solchen Wandel in der Rolle des Luxemburger Gerichtshofs im Wachsen begriffen ist47. 4. Bundesverfassungsgericht und Europäischer Gerichtshof: Kooperation oder Obliegenheiten?

Während bei der europäischen Gerichtsbarkeit eine allmähliche Besinnung auf klassisch-ausgleichende Funktionen dem erreichten Integrationsstand entsprechen dürfte, scheint sich bei nationalen Gerichten wie dem deutschen Bun45 Everling, Zur föderalen Struktur der Europäischen Gemeinschaft, FS Doehring, 1989, 179 ff.; Hilf, Die Europäische Union und die Eigenstaatlichkeit ihrer Mitgliedstaaten, in: Hommelhoff/Kirchhof (Anm. 2), 75 ff. 46 Bieber, Das Subsidiaritätsprinzip im europäischen Gemeinschaftsrecht, in: Evers (Hrsg.), Chancen des Föderalismus in Deutschland und Europa, 1994, 161 ff.; Jarass, EG-Kompetenzen und das Prinzip der Subsidiarität nach Schaffung der Europäischen Union, EuGRZ 1994, 209 ff. 47 Vgl. etwa Zuleeg, Ein Gericht jenseits von Gesetz und Recht? Zur Rolle des Europäischen Gerichtshofs, FAZ vom 17.3.1994, S. 13; vgl. auch bei Steinberger, Anmerkungen zum Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in: Hommelhoff/ Kirchhof (Anm. 2), 25 ff.

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desverfassungsgericht die Neigung zu Lockerungsübungen im Verhältnis zur rechtsprechenden Gemeinschaftsgewalt zu verstärken. Die Verzahnung mitgliedstaatlicher und europäischer Gerichtsbarkeit über die Vorlagepflichten des Art. 177 EGV war seit Gründung der Gemeinschaften eine endlose Geschichte des „Trial and Error“48. Während nationale Instanzgerichte von der Möglichkeit der Vorlage nach Art. 177 Abs. 2 EGV gar nicht so selten Gebrauch machen, ist die Liste der Verletzer der Vorlagepflicht für höchste Gerichte gemäß Art. 177 Abs. 3 EGV seit jeher lang. Sie reichte zeitweilig vom französischen Conseil d’État bis zum deutschen Bundesfinanzhof. Ein allmählicher Gewöhnungsprozeß an diese europäischen justiziellen Obliegenheiten ist allerdings unverkennbar49. Auch das deutsche Bundesverfassungsgericht, das bisher noch nicht Anlaß sah, Art. 177 Abs. 3 EGV in einem eigenen Verfahren für einschlägig anzusehen, hatte mit der Anerkennung des EuGH als gesetzlichem Richter i. S. von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens einen wichtigen Schritt der Annäherung der beiden Gerichtssysteme vollzogen50. Umso schwieriger ist neuerdings das Jurisdiktionsverhältnis zwischen BVerfG und EuGH aus Karlsruher Sicht nachzuvollziehen, wie es im Maastricht-Urteil vom 12.10.1993 (insbesondere Leitsätze 6–7) zum Ausdruck kommt51. Das Bundesverfassungsgericht möchte eine bestimmte Inanspruchnahme der Vertragsabrundungskompetenz des Art. 235 EGV durch die Gemeinschaft, nämlich wenn sie die Grenze zu der den Mitgliedstaaten vorbehaltenen Vertragsänderung überschreitet, seiner eigenen Kontrolle unterwerfen und verneint die Bindungswirkung solcher, aus seiner Sicht „exzessiver“ Gemeinschaftsnormen für Deutschland. Ferner nimmt das Gericht in einer sibyllinischen Formel ein „Kooperationsverhältnis“ zum Europäischen Gerichtshof beim Grundrechtsschutz „in“ Deutschland an, welcher aus Karlsruher Sicht auch deutsche Rechtsprechung über die Anwendung von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht in Deutschland umfaßt. In beiden Fällen ist die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts kaum anders als i. S. einer „souveränen“, d. h. nicht vorlagepflichtigen Auslegungskompetenz über europäisches Recht zu begreifen, einmal über das richtige Verständnis des Art. 235 EGV, zum anderen über die Wirkungen, die sekundäres Gemeinschaftsrecht im Falle von Grundrechtsberührungen entfaltet. Die be48 Everling, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, 1986. 49 Übersicht – bis 1991 – bei Oppermann (Anm. 6), S. 197 ff.; rechtspolitisch wichtig: Lenz, Einschränkung des Vorlagerechts nach Art. 177 EWGV auf letztinstanzliche Gerichte?, NJW 1993, 2664 ff. 50 BVerfGE 73, 339 ff. – „Solange II“. 51 Oben Anm. 1. Kritisch – im Sinne des Folgenden – auch Frowein, Das Maastricht-Urteil und die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, ZaöRVR 1994, 1 ff.; Tietje, Europäischer Grundrechtsschutz nach dem Maastricht-Urteil, „Solange III“?, JuS 1994, 197 ff.

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I. Grundfragen der europäischen Integration

rühmte Frage des „Quis iudicabit?“ wird unter Beiseitelassen des Art. 177 Abs. 3 EGV i. S. der Eigenzuständigkeit beantwortet. Die sachliche Problematik liegt in der Germanozentriertheit dieser Sicht, die im tatsächlichen Anwendungsfall zu einer unterschiedlichen „Fleckenteppichgeltung“ des Europarechts in den einzelnen Mitgliedstaaten führen müßte, die mit seiner „allgemeinen“ Geltung (Art. 189 EGV) – Herzstück der Gemeinschaftsrechtsordnung – unvereinbar wäre. Es bleibt zu hoffen, daß sich hier Mißverständlichkeiten eingeschlichen haben, die vor einem etwaigen „Ernstfall“ noch ausräumbar sind. Zentralpunkt muß dabei die Erkenntnis sein, daß die Auslegung des europäischen Rechtes gemäß Art. 164, 177 EGV der europäischen Judikative überantwortet ist. Nur so kann gleiches Recht von Brest bis Frankfurt a. d. Oder oder von Kopenhagen bis Palermo gelten. Die Vorlagepflicht ist das unentbehrliche Instrument, um die einheitliche Rechtsgeltung zu gewährleisten. Bei jeder sinngemäßen Auslegung des Art. 177 Abs. 3 EGV unter diesen für das Gemeinschaftsrecht konstitutiven Gesichtspunkten ist auch das deutsche Bundesverfassungsgericht – wie die Verfassungsgerichte anderer Mitgliedstaaten – letztinstanzliches und damit vorlagepflichtiges Gericht. Ein Dispens vom Auslegungsvorrang des Gerichtshofs bezüglich des Gemeinschaftsrechts mit Blick auf eine mitgliedstaatliche justizielle (Rest-)Souveränität wäre wohl nur in dem Extremfall denkbar, daß der Europäische Gerichtshof beispielsweise bei der Interpretation des Art. 235 EGV die Grenzen der Gemeinschaftsgewalt so evident verkennen würde, daß es keinem nationalen Gericht zumutbar wäre, sich gegenüber solchem Fehlverhalten blind zu stellen. Auch Skeptiker der oben geschilderten langjährigen gemeinschaftsfreundlichen Rechtsprechung des Gerichtshofs müssen einräumen, daß dort zu derart gravierenden Vorwürfen nirgends Anlaß geboten wurde. Nicht nur hat der EuGH seine Entscheidungen lege artis rechtlich nachvollziehbar begründet. Vielmehr befand er sich, wenn er in dubio pro Communitate befand, regelmäßig im Einklang nicht nur mit den evolutiven 907 Zielvorstellungen der Verträge, sondern ebenso mit dem jeweils ein- j schlägigen „soft law“ der regierungsamtlichen Entschließungen, Erklärungen usf.52. So kann man insgesamt das Verhältnis der dritten Gewalt in Europa und in den Mitgliedstaaten, wie hier am prominenten Beispiel des Bundesverfassungsgerichts versinnbildlicht, in die Grundbeziehung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten einordnen. Wie gesetzgebende und ausführende Gewalt schulden sich auch nationale und europäische Judikative im präföderal-bündischen Beziehungsgeflecht der EU jene gegenseitige Rücksichtnahme, die auch im Europarecht bereits mit dem Begriff der Gemeinschaftstreue belegt wird53. Das schließt viel Gleichberechtigung und Kooperation zwischen deutscher und EG52

Ein Beispiel für viele ist insofern das „Gravier“-Urteil des EuGH, oben Anm.

42. 53 Due, Der Grundsatz der Gemeinschaftstreue in der Europäischen Gemeinschaft nach der neueren Rechtsprechung des Gerichtshofs, 1992.

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Gerichtsbarkeit ein, an neuralgischen Punkten wie Art. 177 EGV aber ebenso die Anerkennung von unabdingbaren Obliegenheiten der räumlich begrenzteren gegenüber der umfassenden Rechtsprechungsgewalt. III. Entwicklungsperspektiven des individuellen europäischen Rechtsschutzes 1. Zur notwendigen Zweigliedrigkeit europäischer Gerichtsbarkeit

Zum Wesen der teilweise staatsähnlichen Europäischen Gemeinschaft gehört, daß in ihr – anders als im internationalen Bereich – dem einzelnen Unionsbürger umfänglicher direkter und indirekter Rechtsschutz gegen die Akte der Gemeinschaftsgewalt sowie gegen solche Maßnahmen der öffentlichen Gewalt der Mitgliedstaaten gewährt wird, bei denen Verstöße gegen Gemeinschaftsrecht in Frage stehen54. Das stellt Gemeinschafts-Verwaltungsrechtsschutz im weitesten Sinne dar, einschließlich des dienstrechtlichen Schutzes der EG-Beamten gegenüber ihrem Dienstherrn. In diesem Bereich ist künftig die eigentliche Aufgabe des 1988 errichteten Gerichts der 1. Instanz zu erblicken. Es bleibt zu hoffen, daß der Rat – in Ausnutzung des Art. 168a EGV – das EuG über die Zuständigkeiten im Wettbewerbs-, Beihilfen- und Dienstrecht hinaus möglichst allgemein als großes Verwaltungsgericht der Gemeinschaft für alle Arten von Nichtigkeitsklagen Privater i. S. von Art. 173 Abs. 2 EGV einsetzt. Auf die Dauer würde sich damit die Zuständigkeit des EuGH in diesem Bereich auf eine – möglicherweise durch Zulassungsverfahren noch einzuschränkende – Revisionskontrolle der Entscheidungen des EuG beschränken55. Durch eine solche konsequente Zweigliedrigkeit der Gemeinschaftsgerichtsbarkeit ließe sich die dringend erforderliche, durch die Erstreform von 1988 noch nicht erreichte Entlastung des EuGH zugunsten seiner Aufgaben als Verfassungsgericht von EG und – hoffentlich bald auch – EU bewerkstelligen. 2. Das Gericht erster Instanz als Europäisches Verwaltungsgericht – Konsequenzen

Im Zusammenhang eines umfassenden Ausbaues des EuG zum Europäischen Verwaltungsgericht sollte auch Art. 168a Abs. 1 letzter Satz nicht tabu sein, der bisher Vorabentscheidungen nach Art. 177 EGV dem EuGH vorbehält. Die Zuständigkeit des EuG wäre wenigstens für Fragen des sekundären Gemeinschaftsrechts konsequent, vielleicht aus Gründen der Prozeßökonomie noch weiterge-

54 v. Danwitz, Die Garantie effektiven Rechtsschutzes im Recht der Europäischen Gemeinschaft, NJW 1993, 1108 ff. 55 Jung (Anm. 20); Niemeyer (Anm. 22).

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hend, falls sich auch bei der Vorabentscheidung eine Art von begrenzter Revision zum EuGH einrichten ließe. Der gegenwärtige Zustand, bei dem der nationale verwaltungsgerichtliche Rechtsschutz, soweit in ihn Fragen des europäischen Rechtes hineinspielen, über Art. 177 EGV beim Gerichtshof monopolisiert wird, ist unter dem übergreifenden Gesichtspunkt nicht überzeugend, auf die Dauer den EuGH zum Verfassungsgericht der Union und das EuG zu ihrem Verwaltungsgericht zu machen. Auch die Tatsache, daß es bisher der Gerichtshof war, der über die Entwicklung allgemeiner Rechtsgrundsätze zum Schutz der Menschen- und Freiheitsrechte den Gemeinschaftsgrundrechtsschutz des einzelnen Unionsbürgers entwickelte, steht der skizzierten Zweigliedrigkeit künftiger europäischer Gerichtsbarkeit nicht im Wege. Zum einen liegen über die EuGH-Rechtsprechung eines Vierteljahrhunderts und vor dem Hintergrund der jetzt durch Art. 5 Abs. 2 EUV ausdrücklich in das Unionssystem einbezogenen Straßburger Europäischen Menschenrechtskonvention vom 4.11.1950 bereits so viele Aspekte des Grundrechtsschutzes der Gemeinschaft in höchstrichterlicher Rechtsprechung fest, daß bei einem Übergang der Zuständigkeiten an das EuG kaum Befürchtungen um die europäische Rechtseinheit zu bestehen brauchen56. Zum anderen wäre in Fragen der Menschenrechte und Grundfreiheiten, wo sich individueller Rechtsschutz und objektive Verfassungsordnung vermählen, die Rechtskontrolle durch den EuGH spätestens in zweiter Instanz unabdingbar. Empfehlenswert dürfte schließlich sein, bei der außervertraglichen Haftung der Gemeinschaft über die jetzigen Grenzen des Art. 3 Abs. 2 des Errichtungsbeschlusses vom 24.10.1988 hinaus die Amtshaftungsklagen in Änderung des Art. 178 EGV – mit Revisionsmöglichkeit zum EuGH – ganz dem EuG zu überlassen. Auch dieser Schritt entspräche konsequenter Zweigliedrigkeit und wäre angesichts der dogmatisch ausgereiften Rechtsprechung des EuGH zu Art. 215 Abs. 2 EGV ohne Probleme für den erreichten Stand europäischer Rechtseinheit vollziehbar57. Wie schon erwähnt, wäre daneben die Befolgung des „Francovich-Appells“ des Gerichtshofs durch die Staatshaftungsgesetzgeber in den Mitgliedstaaten sehr wünschenswert. Das würde die EG-weite Einführung eines vergleichbaren Schadensersatztatbestandes für bestimmte Fälle der Nichtumsetzung von EG-Richtlinien durch den nationalen Gesetzgeber bedeuten. Auf diesem Wege könnten gleichermaßen der individuelle Rechtsschutz wie die rechtzeitige Durchführung der Richtlinien in den Mitgliedstaaten verbessert werden. Dabei könnte die gemeinschaftsweite Einführung des „Francovich-Standards“ als Aufgabe europäischer Rechtsangleichung begriffen werden, wahrscheinlich nach Art. 100a EGV. Eine fristgerechte Umsetzung von Richtlinien liegt im Interesse des Funktionierens des Binnenmarktes58. 56 57

Dazu u. a. Zuleeg (Anm. 31). Ähnlich v. Danwitz (Anm. 25), m. w. N.

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IV. Schlußbemerkung Ob die nach Art. N Abs. 2 EUV für 1996 anzuberaumende Regierungskonferenz zur Revision der Verträge („Maas- j tricht II“) wesentliche Aspekte einer 908 Justizreform der Union auf ihre Fahnen schreiben wird, ist höchst ungewiß. Das Mandat des Art. N Abs. 2 ist bereits eng formuliert. Bei der Fülle der zwangsläufigen Probleme, die 1996 zu behandeln sein werden (Weiterentwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion, Finanzausgleich, institutionelle Konsequenzen der „EFTA-Erweiterung“ 1994 der Union mit gleichzeitigem Vorausblick auf die Heranführung mittel- und osteuropäischer Staaten an die Gemeinschaft u. a. m.) wird die Neigung groß sein, alles nicht Unabdingbare weiter vor sich herzuschieben. Gleichwohl sollte alles mögliche unternommen werden, einsichtigen Politikern klarzumachen, daß die Probleme „verfassungsmäßiger“ Stabilität und des persönlichen Rechtsschutzes der Unionsbürger mehr als manches Vordergründige zu den Essentialia einer auch künftig diesen Namen verdienenden Union und Gemeinschaft gehören. Was die Europäische Gemeinschaft in mehr als vier Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte vor den Erosionen der Zeit bewahrt hat, vor dem oftmals perhorreszierten Absinken in eine bloße Handelszone oder in die Lockerheit einer internationalen Organisation wie viele andere, war entscheidend ihr Charakter als Rechtsgemeinschaft im vollen Sinne des Wortes59. Die stets latente Besorgnis der Mitgliedstaaten, im Falle vertragsbrüchigen Verhaltens von der Kommission oder von ihren eigenen Bürgern und Richtern vor das weithin sichtbare Forum der europäischen Gerichtsbarkeit gebracht zu werden, hat trotz aller noch bestehenden Unvollkommenheiten dieser Einrichtungen wesentlich dazu beigetragen, die Mitgliedstaaten einigermaßen auf dem Pfade einer Tugend zu halten, bei der neben den nationalen Egoismen das europäische Gemeininteresse nicht außer Sicht gerät. Das Gefühl, beim Hinwegsetzen über die verbindlichen Regeln der Gemeinschaft sich allenfalls kurzfristig begrenzten Vorteil verschaffen zu können, dafür aber eine kunstvolle Balance zu beschädigen, die ihrerseits eigenen Interessen in einem höheren und tieferen Sinne dient, ist vielleicht der beste Kitt der europäischen Konstruktion. So sollte ernsthaft versucht werden, durch überzeugende Vorschläge, wie sie vom Münsteraner Juristentag 1994 zu erhoffen sind, diese kostbare Rechtsgemeinschaft weiter zu effektuieren und zu stabilisieren. Nicht zuletzt Deutschland verdankt ihr seit 1950 viel. Max Kohnstamm, enger Mitarbeiter des Gemeinschaftsgründers Jean Monnet in den fünfziger Jahren und – 1976 – erster Rektor der Europa-Universität Florenz, hat kürzlich an Immanuel Kants Mahnung in „Zum ewigen Frieden“ erinnert: Friede und Sicher58

Vgl. Geiger, EG-Vertrag, Kommentar, 1993, Art. 100a Rdnr. 3. Oppermann, Der Maastrichter Unionsvertrag – rechtspolitische Wertung, in: Hrbek (Hrsg.), Der Vertrag von Maastricht in der wissenschaftlichen Kontroverse, 1993, 103 ff. 59

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I. Grundfragen der europäischen Integration

heit müssen immer wieder neu gestiftet werden. Sie können nur in einem gesetzlichen Zustand fortbestehen60. Das gilt für die Europäische Gemeinschaft nicht anders als für ihre staatlichen Glieder.

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Kohnstamm, Rankes oder Kants Europa?, FAZ vom 3.6.1994, S. 13.

II. Personen und Mächte

Mit Walter Hallstein in die Zukunft der Europäischen Union

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Würdigung des ersten Kommissionspräsidenten aufgrund persönlicher Begegnungen in Brüssel 1960–1967 und Stuttgart 1975–1982.*

Es ist eine dankenswerte Initiative von Ihnen, Herr Minister, daß das Staatsministerium in Stuttgart heute des 100. Geburtstages von Walter Hallstein gedenkt! Hallstein war langjähriger Stuttgarter, schon während seiner aktiven Zeit in Brüssel, und er ist 1982 hier gestorben. Sie haben mit Recht soeben daran erinnert, Herr Minister! Das hing mit Hallsteins langjähriger Freundschaft zur Familie des früheren Chefs des Robert-Bosch-Krankenhauses, Professor Hans Ritter, zusammen, die bis in die gemeinsame Rostocker Zeit in den dreißiger Jahren zurückreichte. Zu meiner Freude sehe ich das Ehepaar Lennart Ritter aus Brüssel in unserem Kreise! Ich habe diese kleine Ansprache gerne übernommen, weil mich mit Hallstein persönliche Erinnerungen verbinden. Das erste Mal waren es in den sechziger Jahren indirekte Begegnungen. Als junger Beamter in der Europa-Abteilung des Bonner Wirtschaftsministeriums zu Zeiten Ludwig Erhards – des alten Widersachers Hallsteins – sah ich den ersten Präsidenten der EWG-Kommission gelegentlich aus der Ferne in den Sitzungen des Brüsseler Ministerrates. Das war die große Zeit der Kommission, als Hallstein mit seinen Kollegen die Gemeinschaft auf die Erfolgsspur brachte. In den Sitzungen war seine intellektuelle Überlegenheit oft spürbar, sie brachte ihm nicht nur Freunde ein. j In Stuttgart folgte seit Mitte der siebziger Jahre die unmittelbare Begegnung. 42 Michael Kilian ging damals von meinem Tübinger Lehrstuhl als Privatsekretär zu Hallstein. Er hat hierüber eben eindrucksvoll berichtet. Regelmäßige Gespräche mit dem unermüdlich publizierenden Stuttgarter „Ruheständler“ folgten, als Hallstein mir die Herausgabe seiner „Europäischen Reden“ anvertraute, die 1979 bei der Deutschen Verlagsanstalt erschienen sind. Das wurde nur möglich mit der Hilfe von Joachim Kohler, inzwischen wohlbestallter Ministerialdirigent. Ich freue mich, ihn heute vor mir zu sehen! Bei der Arbeit an den Reden des Brüsseler Kommissionspräsidenten wurde mir deutlich, daß Hallsteins europäische Visionen, die er damals in politische Taten * Erstmals erschienen in: Christoph E. Palmer (Hrsg.), Die politischen Kräfte in unserem Werk drängen weiter. Gedenkveranstaltung für Walter Hallstein am 17. November 2001 in Stuttgart, 2002, 41–52.

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II. Personen und Mächte

umsetzen konnte, alles andere als überholt sind. Damit bin ich beim Thema „Mit Walter Hallstein in die Zukunft der Europäischen Union“. Es ist kein Zufall, daß zu seinem 100. Geburtstag in diesen Tagen in Deutschland drei Gedenkveranstaltungen unabhängig voneinander abgehalten werden. Vergangenen Dienstag am 13. November fand in Berlin die erste Geburtstagsfeier statt, auf der Wolfgang Schäuble und Professor Ingolf Pernice sprachen. Letzterer hat vor einigen Jahren an der Berliner Humboldt-Universität ein Walter-Hallstein-Institut für Europäisches Verfassungsrecht gegründet. Ich selbst komme gerade aus Frankfurt a. M., wo an der Universität, der Wirkungsstätte des ersten Nachkriegsrektors Hallstein, ein großes internationales Kolloquium über den Beitrag Walter Hallsteins zur Zukunft Europas stattgefunden hat. Wer die heutige „Neue Zürcher Zeitung“ aufschlägt, findet dort eine lange Geburtstagsadresse aus der Feder von Willy Zeller, der 1960 bis 1968 zeitgleich mit dem Kommissionspräsidenten NZZ-Korrespondent in Brüssel war. Hallstein hier, Hallstein dort, in diesen Tagen! Das kann kein Zufall sein. Was hat Walter Hallstein uns heute zu sagen? j 43

I. Erinnerungen an den Europäer Walter Hallstein: Ein Konzept und eine Persönlichkeit Walter Hallstein ist auch an seinem 100. Geburtstag nicht zu einem „Denkmal“ geworden, das ausschließlich zum Rückblick Anlass gibt. Zwei Jahrzehnte nach seinem Tode wird sichtbar, daß es ein Vermächtnis des ersten Kommissionspräsidenten gibt, an das es sich zu erinnern lohnt, wenn man an den Fortgang des europäischen Einigungsprozesses zu Beginn des neuen Jahrhunderts denkt. Dieses Vermächtnis ergibt sich ebenso aus dem Erfolg des europapolitischen Wirkens Hallsteins in Brüssel 1958 bis 1967 wie aus seiner eigenen Reflexion hierüber. Sie spiegelt sich vor allem in den Reden während der Amtszeit als Kommissionspräsident und im Anschluß in seinem großen Buch „Der unvollendete Bundesstaat“ (1969), das seit 1974 unter dem geänderten Titel „Die Europäische Gemeinschaft“ fortgeführt wurde. Hallstein war kein Volkstribun. Auch in seinem politischen Handeln blieb etwas von der Herkunft als juristischer Professor spürbar, für den vor der Tat die überlegte Analyse steht, aber auch die Hingabe an Ziele, die etwas mit Recht und Gerechtigkeit zu tun haben. Das Wichtigste am Vermächtnis Hallsteins für uns Heutige ist die Besinnung auf ein Konzept und eine Methode, die seit den fünfziger Jahren zum Erfolg der europäischen Integration entscheidend beigetragen hat, aber inzwischen seit den Konferenzen von Amsterdam 1997 und Nizza 2000 mehr und mehr beiseite gelegt zu werden droht. Daneben steht der große Europäer Hallstein als Persönlichkeit der Gemeinschaftsgeschichte. Dies regt zu der Frage an, wie viel die europäische Einigung dem Wirken herausragender Politiker verdankt. Am 100. Geburtstage Walter Hallsteins erscheint es sinnvoll, über beides zu sprechen. j

Mit Walter Hallstein in die Zukunft der Europäischen Union

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II. Die Europäische Union heute: Schokoladenseite und Schattenseite

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Wo stehen wir heute in der Europäischen Union? Zum einen immer noch inmitten einer unglaublichen Erfolgsgeschichte, die Walter Hallstein in seiner aktiven Zeit nicht vorhersehen konnte. Die Errichtung der drei Integrationsgemeinschaften Montanunion, EWG und Euratom in den fünfziger Jahren hat sich seit Maastricht 1992 in ihrer Zusammenführung unter das Dach der EU konsolidiert und um die beiden intergouvernementalen „Pfeiler“ der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und der Polizeilich-Justitiellen Zusammenarbeit (PJZ) ergänzt. Als bisher letztes Werk der klassischen Integration vollendet sich in diesen Wochen die Währungsunion mit der Ausgabe des neuen Bargeldes. Aus den sechs Gründerstaaten von 1952 und 1958 sind bisher 15 geworden. Mit zwölf weiteren Anwärtern werden seit 1998 Verhandlungen geführt, die in den nächsten Jahren zur großen Erweiterung der EU nach Osten und Süden führen sollen. Gleichzeitig befinden wir uns im „Post-Nizza-Prozeß“, der nach mancherlei Vorstellungen bis 2004 zur Verabschiedung einer „europäischen Verfassung“ führen soll. Das wäre sozusagen die Schokoladenseite der EU. Man kann ebenso gut eine Negativbilanz aufmachen. Mit wachsendem zeitlichen Abstand zum Beginn der europäischen Integration in den fünfziger Jahren machen sich die nationalstaatlichen Reflexe in den Mitgliedstaaten wieder stärker bemerkbar. Die beiden letzten Regierungskonferenzen von Amsterdam 1997 und Nizza 2000 blieben Stückwerk. Nizza wäre beinahe gescheitert und führt nunmehr zu einer Struktur der Union, deren Kompliziertheit selbst Fachleute nicht mehr zu überschauen vermögen. In den Institutionen der Gemeinschaft knirscht es ver- j nehmlich. Anfang 45 1999 mußte zum ersten Mal eine Europäische Kommission (unter Jacques Santer) aufgrund von Korruptions- und Unfähigkeitsvorwürfen vorzeitig zurücktreten. Die Nachfolgekommission Prodi, mit vielen Vorschußlorbeeren bedacht, steht heute in Gefahr, von den Mitgliedstaaten marginalisiert zu werden. Aber auch der Europäische Rat und der Ministerrat vermitteln oftmals eher das Bild eines balkanischen Basars als dasjenige einer Stätte, wo übernationaler europäischer Gemeinwillen kreiert wird. Nach dem 11. September 2001 treten Tony Blair, Jacques Chirac und Gerhard Schröder in einen peinlichen Wettlauf ein, sich als bester Verbündeter der USA darzustellen, während die Union in Gestalt des belgischen Ratspräsidenten in der Versenkung verschwindet. Die Aufzählung solcher europäischer Defizite läßt sich nach innen fortsetzen. Etwa durch den Hinweis auf die Unfähigkeit der EU, eine europäische Einwanderungs- und Asylpolitik durchzusetzen. Befragt man den Unionsbürger auf der Straße nach „Brüssel“, wird er vor allem die „Regulierungswut“ Europas beklagen, die dazu geführt hat, daß die Bananen und vieles andere teurer geworden sind.

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III. Wohin geht die europäische Reise? Das Lob über die Entwicklung der Gemeinschaft in fünf Jahrzehnten ist ebenso berechtigt wie der Hinweis auf mancherlei Schattenseiten. Wesentlich ist vor allem, daß die Union mit allen Stärken und Schwächen von allen relevanten politischen Kräften in den Mitgliedstaaten als dauerhafte Organisationsform Europas angenommen worden ist. Jeder ist irgendwie unzufrieden mit Brüssel, aber niemand möchte einen vollständigen Rückfall in die Nationalstaaterei vor dem Zweiten Weltkrieg. Die fortbestehende Attraktivität der EU spiegelt sich in 46 den zahlreichen Beitrittswünschen, die aus der 15er- j Gemeinschaft eine solche mit mindestens 27 Mitgliedstaaten machen sollen. Der bevorstehende Übergang in eine solche „Groß-EU“ erzwingt erneut das Nachdenken über die zukünftige Gestalt der Gemeinschaft. In den Diskussionen um die künftige „europäische Verfassung“ im PostNizza-Prozeß bis 2004 wird ein weiteres Mal die berühmte Finalitätsfrage gestellt. Was soll aus der EU letztendlich werden? Hier scheiden sich immer noch die Geister. Die Visionen sind jedoch bei näherer Betrachtung bescheidener geworden. Der Europäische Bundesstaat, die Vereinigten Staaten Europas oder, wie manchmal formuliert wird, der europäische „Superstaat“ ist mit Blick auf eine EU von 27 Mitgliedstaaten aus der ernsthaften politischen Diskussion verschwunden. Im Grunde war er bereits seit längerer Zeit eher Chimäre als reale Option. Es war mehr als Wortspielerei, daß der überzeugte europäische Föderalist der fünfziger und sechziger Jahre Walter Hallstein sein Buch von 1969 über den „unvollendeten Bundesstaat“ ab 1974 in „Die Europäische Gemeinschaft“ umtaufte. Seither haben wir mancherlei weitere Definitionsversuche erlebt. Die „Gemeinschaft“ ist seit Maastricht Bestandteil einer „Union“ geworden. Ungefähr gleichzeitig hat unser Bundesverfassungsgericht davon gesprochen, daß es sich um einen „Staatenverbund“ handele. Das Wort hat sich im deutschen Sprachraum eingebürgert, ist aber kaum in andere Sprachen übersetzbar. IV. Hallsteins Vermächtnis: Die „Gemeinschaftsmethode“ Das Entscheidende an diesen Formulierungsversuchen ist die Erkenntnis, daß es sich bei EG und EU um ein neuartiges Phänomen im zwischenstaatlichen Leben handelt, welches mit einer eigenen Bezeichnung belegt werden muß. Der 47 Jurist ist oft vor- j schnell an der Hand, etwas Neues ohne viel Nachdenken als „sui generis“ zu benennen. Hier ist es wirklich so. Die EU ist kein Bundesstaat und kann sich offensichtlich nicht zu einem solchen entwickeln. Hier und da weist sie Ähnlichkeiten mit einem Staatswesen auf, wie jetzt mit der gemeinsamen Währung. Aber die sogenannten „High Politics“, Militär, Polizei, Verwaltungs- und Gerichtshoheit, sind weiterhin in nationalen Händen verblieben und

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werden lediglich zwischenstaatlich koordiniert. Es gibt kein homogenes europäisches Staatsvolk. Die Gemeinschaft zeichnet andererseits aus, nicht eine internationale Organisation im herkömmlichen völkerrechtlichen Sinne oder einen konföderalen Staatenbund darzustellen, sondern eine „immer engere Union der Völker Europas“, wie es jetzt Art. 1 des EU-Vertrages in Anlehnung an die amerikanische Verfassung formuliert. Woran läßt sich diese Besonderheit der EU erkennen? Hier kommen wir auf das Wirken Walter Hallsteins und anderer Gründungsväter der Gemeinschaft zurück. In der Rückschau der Jahrzehnte darf man die Erfindung der sogenannten „Gemeinschaftsmethode“, neuerdings ab und zu auch „Methode Monnet“ genannt, nach der die EU bis heute im wesentlichen strukturiert geblieben ist, ohne Übertreibung als eine der Sternstunden der europäischen Nachkriegsgeschichte bezeichnen. Die Kommission hat vor wenigen Monaten in ihrem Weißbuch „Regieren in Europa“ („European Governance“) die fortdauernde Bedeutung der Gemeinschaftsmethode mit Recht hervorgehoben. Es ist eine interessante Aufgabe für die Historiker, herauszufinden, welchem der Gründungsväter welcher Anteil am Konzept einer übernationalen Gemeinschaft zuzuschreiben ist, die sich bei der Errichtung der EGKS 1952, aber dann vor allem in den Römischen Verträgen 1958 durch ein besonderes j Zusammen- 48 spiel ihrer Institutionen, eine Gewaltenteilung eigener Art sowie durch die Kraft ihres supranationalen Rechtes auszeichnet. Das Europarecht bindet die Mitgliedstaaten ähnlich wie eine nationale Verfassung vorrangig und unmittelbar. Jean Monnet gebührt eine prominente Benennung in diesem Zusammenhang, wenngleich mehr in der Rolle des Inspirators als des eigentlichen Konstrukteurs. Schon bei den Verhandlungen zum Schuman-Plan war neben anderen Walter Hallstein an der Gestaltung der ersten Integrationsgemeinschaft an vorderer Stelle beteiligt. Noch höher darf man sein Gewicht neben demjenigen von Paul Henri Spaak in den Verhandlungen von Messina und Val Duchesse zwischen 1955 und 1958 einschätzen, als die Gemeinschaftsmethode unter Vermeidung gewisser supranationaler Übertreibungen der Montanunion im EWG-Vertrag ihre klassische Gestalt erhielt. Die Römischen Verträge sind zu einem erheblichen Teil das Werk Walter Hallsteins. Anschließend hat Hallstein im Jahrzehnt seiner Kommissionspräsidentschaft 1958 bis 1967 mit dem raschen Aufbau des Gemeinsamen Marktes vor Augen geführt, wie erfolgreich mit der Gemeinschaftsmethode in der politischen Praxis gearbeitet werden kann, wenn die Kommission imstande ist, die ihr zugedachte Rolle des ehrlichen Maklers und „Motors“ der Gemeinschaft mit Leben zu erfüllen. So könnte man ebenso gut von der „Methode Hallstein“ wie von der „Methode Monnet“ sprechen. Gegen Ende der Brüsseler Amtszeit wurde Hallstein öfters als „Monsieur Europe“ angesprochen. Mit den Etiketten, die man

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ihm angeklebt oder nicht angeklebt hat, war Hallstein jedoch kein Glück beschieden. Noch heute wird sein Name als erstes mit der Hallstein-Doktrin der Nichtanerkennung der DDR in den fünfziger und sechziger Jahren verbunden, 49 obwohl ihr eigentlicher Erfinder der Völkerrechtler j Wilhelm Grewe war und Hallstein die nach ihm benannte Doktrin selbst nur als vorübergehendes Kampfinstrument einer bestimmten Epoche verstanden hat. Bei der Konzeption der Europäischen Gemeinschaft durch einige weitsichtige Politiker, Juristen und Wirtschaftswissenschaftler in den fünfziger Jahren, die bis heute von bleibender Bedeutung geblieben ist, empfiehlt es sich, einfach von der „Gemeinschaftsmethode“ zu sprechen. V. „Das wirklich Neue ist manchmal das ganz Alte“ Worin liegt die gar nicht zu überschätzende Bedeutsamkeit der Gemeinschaftsmethode? Innerhalb des Zusammenspiels der europäischen Institutionen wahrscheinlich vor allem im Initiativrecht der Kommission in der EG-Gesetzgebung. Mit der Kommission wurde eine unabhängige Instanz geschaffen, der anders als den Sekretariaten Internationaler Organisationen die eigenständige Bildung europäischen Gemeinwillens anvertraut ist. Dies bedeutete und bedeutet eine hochpolitische Aufgabe, die nur im ständigen Wechselspiel mit dem Rat und inzwischen Europäischen Rat als den primären Trägern der Gemeinschaftshoheit erfolgreich ausgeübt werden kann. Ebenso ist das Europäische Parlament mit seiner seit den Direktwahlen ab 1979 gewachsenen Bedeutung ein immer wichtigerer Mitspieler im Gesetzgebungsprozeß geworden. Das auf diese Weise geschaffene, unmittelbar geltende und notfalls vom Gerichtshof durchzusetzende Europarecht ist der eigentliche Kitt der Union, der die staatlichen Zwangsattribute vorenthalten bleiben. Bis heute erscheint das Vorschlagsmonopol des in seiner Größe handlungsfähigen und von qualifizierten Diensten unterstützten Kommissionsgremiums für den Fortgang dieses Ge50 meinschaftsprozesses uner- j setzlich. Der zügige Aufbau des Gemeinsamen Marktes in Gestalt von Zollunion, Freizügigkeit, Wettbewerbspolitik und Agrarpolitik im ersten Jahrzehnt der EWG nach 1958 und ebenso die Verwirklichung des vertieften Binnenmarktes 1985 bis 1992 wäre ohne die entschlossene Führung der Kommission unter ihren beiden herausragenden Präsidenten Hallstein und Delors ebenso undenkbar gewesen, wie etwa die heutige Bedeutung der EG als ein Teil der weltwirtschaftlichen Triade zusammen mit den USA und Japan innerhalb der WTO auf der Grundlage der vergemeinschafteten EU-Außenwirtschaftspolitik. Auch die Rolle der Europäischen Zentralbank als Hüter der Währungsunion und des europäisierten Geldes wurde in Maastricht gemäß den Grundgedanken der Gemeinschaftsmethode angelegt. Es genügt, einen Seitenblick auf die prekäre und schwache Position der EU in ihrem sogenannten zweiten und dritten „Pfeiler“ intergouvernemental-völker-

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rechtlicher Art zu werfen (Stichworte: die EU in den Vereinten Nationen, auf dem Balkan und nach dem 11. September 2001), um zu erkennen, welch fundamentale Bedeutung der Gemeinschaftsmethode für die Etablierung der Union als selbständig handlungsfähigem Akteur nach innen und außen zukommt. Der gute Fortbestand und die weitere Entwicklung der EU anlässlich der großen Ost- und Süderweiterung und bei der Suche nach einer europäischen Verfassung wird entscheidend davon abhängig sein, ob sich die heutige Generation der Europapolitiker des Vermächtnisses bewußt bleibt, welches ihr die Gründungsväter und unter ihnen nicht an geringster Stelle Walter Hallstein hinterlassen haben. Wie schon Theodor Fontane einmal sagte: „Das wirklich Neue ist manchmal das ganz Alte.“ Für die Gemeinschaftsmethode dürfte dieser Satz gültig sein. j VI. Die Bedeutung der Persönlichkeit im europäischen Einigungsprozeß

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Als Letztes sind ein paar Worte zur Rolle von Persönlichkeiten wie Walter Hallstein für die Zukunft der EU angebracht. Auch für die noch junge Entwicklung der Gemeinschaft scheint sich die Erfahrung zu bewahrheiten, daß zwar nicht Männer allein Geschichte machen, aber daß bedeutende Persönlichkeiten für den Erfolg des Integrationsprozesses unentbehrlich sind. Ohne Europäer keine europäische Einigung. Man kann sich durchaus vorstellen, daß die EWG 1958 einen weniger erfolgreichen Start gehabt hätte, wenn eine nicht derart weitblickende und durchsetzungsfähige Persönlichkeit wie Walter Hallstein an die Spitze der Kommission getreten wäre. Die nachfolgenden Jahre belegen mit ihren Höhen und Tiefen des Gemeinschaftsprozesses, wie wichtig eine gute Besetzung der Kommissionspräsidentschaft für die Zukunft der Union gewesen ist und weiterhin ist. Den langen und erfolgreichen Amtsperioden von Walter Hallstein und Jacques Delors lassen sich Tiefpunkte gegenüberstellen. Eine schwache Kommission bedeutet eine schwache Gemeinschaft. Das gilt nicht nur für die Leitung der Kommission, sonder mindestens genau so für das Vorhandensein großer „Europäer“ unter den Staatsmännern der Mitgliedstaaten. Ohne Konrad Adenauer, Alcide de Gasperi und Robert Schuman hätte es keine europäische Integration gegeben. Zur Zeit de Gaulles hat der Einigungsprozess andere Wege genommen als später bei Helmut Schmidt, Valéry Giscard d’Estaing, Helmut Kohl und François Mitterand. Heute war nur von Walter Hallstein zu sprechen. Sein 100. Geburtstag gibt Anlaß zu der Beobachtung, daß die Europäische Einigung ebensoviel dem heißen Herzen wie dem kühlen Verstande der für sie j besonders Verantwortlichen 52 verdankt. Ihnen, Herr Minister Dr. Palmer und allen den heutigen Tag Vorbereitenden ist zu danken, daß wir uns der fortdauernden Bedeutung Walter Hallsteins wieder bewußt werden konnten.

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Erinnerungen an das Bundeswirtschaftsministerium und seine Europa-Abteilung in den sechziger Jahren Rückblick auf die unter dem großen Europa-Juristen Ulrich Everling miterlebte legendäre „Aufbruchszeit“ der EWG in den sechziger Jahren.*

I. Begegnung mit Ulrich Everling Der Beginn meiner Bekanntschaft mit Ulrich Everling, dem diese Zeilen in freundschaftlichem Rückblick gewidmet sind, läßt sich genau datieren. Am 1. September 1960 morgens stellte ich mich zum Dienstantritt als junger Regierungsassessor im Bonner Wirtschaftsministerium meinem unmittelbaren Vorgesetzten vor, dem Leiter des Referats „Recht der Europäischen Gemeinschaften, Niederlassungsrecht, Vertretung der Bundesrepublik Deutschland vor dem Europäischen Gerichtshof“ (E 2) in der gerade 1958 gegründeten Europa-Abteilung des Ministeriums. In letzter Minute hatte sich mein Wunsch erfüllt, hier im Bereich der europäischen Integration praktisch tätig sein zu können. Wie für viele junge Leute der fünfziger Jahre war die europäische Idee in Freiburger Studenten und Hamburger Assistententagen Teil meiner Lebensphilosophie geworden. Eindrücke der Westpolitik Konrad Adenauers, hinter der man die langfristige Konzeption spürte, sowie der Marktwirtschaft Ludwig Erhards wurden prägend. Persönliche Begegnungen während des Studiums – Walter Hallstein in Frankfurt a. M. und vor allem die Montagsseminare von Wilhelm Grewe in Freiburg i. Br. traten hinzu, ebenso das Engagement im europäischen Studentenverband ISSF. Von juristischen Anstrengungen im Europarecht, ohne die heute keine Ausbildungsordnung auszukommen glaubt, blieb man in jenen glücklichen Pionierzeiten verschont. Um dem künftigen Chef nicht allzu unwissend gegenüberzutreten, las ich am Abend des 31. August 1960 schnell den Text des EWG-Vertrages im „Sartorius II“ durch, zum ersten Male. Tempi passati! Im ockerfarbenen kargen Flachbau inmitten der Duisdorfer Gallwitzkaserne – wohl noch bis zum Jahrhundertende Sitz des Bundeswirtschaftsministeriums – empfing mich in einem winzigen Eckzimmer der gerade 35jährige Oberregierungsrat und Referatsleiter Ulrich Everling, zu Beginn einer steilen Karriere. * Erstmals erschienen in: Ole Due u. a. (Hrsg.), Festschrift Ulrich Everling, Nomos, Baden-Baden 1995, Band I, 23–31.

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Sie sollte ihn binnen 10 Jahren als Ministerialdirektor an die Spitze der Abteilung führen und ein weiteres Jahrzehnt später als deutschen Richter des EuGH nach Luxemburg. Eine Laufbahn im deutschen öffentlichen Dienst klassischen Musters, unter Ministern dreier politischer Parteien, wie sie inzwischen in den Zeiten der Politisierung und Ämterpatronage selten geworden ist. Für mich wurden es sieben Jahre beinahe täglicher Begegnung mit dem Berliner schlesischer Familienherkunft, unterbrochen von der halbjährigen „Kinderlandverschickung“ an die Pariser NATO-Vertretung und durch die Vorbereitung der j Habilitation in Hamburg. Für die letztgenannte „Eskapade“ war 24 Everling als Vorgesetzter der Idealfall. Aus dem eigenen tiefen Wissenschaftsinteresse heraus, dem er schon vor seinem dritten Berufsleben als Professor in Münster und Bonn in „Nebenstunden“ ein reiches Oeuvre abrang, legte er dem Mitarbeiter bei dessen akademischen Zielen nie einen Stein in den Weg und ertrug schließlich ohne Murren 1967 meinen plötzlichen Wechsel an die Tübinger Juristenfakultät. Mehr noch: mit seiner hohen Begabung, hinter den tausend juristischen Alltagsgeschäften zwischen Bonn und Brüssel den Blick auf die grundsätzlichen Probleme des Gemeinschaftsrechts zu richten, übte Everling immer wieder geheime Anziehungskraft auf theoretisch interessierte Köpfe aus. Er förderte ihre Entwicklung ohne viele Worte durch den Standard, den er selber setzte. Mittlerweile sind eine ganze Reihe juristischer Praktiker-Professoren in der einen oder anderen Weise aus dem Everlingschen Referat und der Europa-Abteilung hervorgegangen, Dieter Eckert, Martin Seidel oder Gerhard Rambow, der heute einer der Nachfolger Everlings als Abteilungsleiter geworden ist. In Dankbarkeit rechne ich mich selbst dieser Crew zu. II. Ludwig Erhard und seine Europa-Abteilung Die Gründung der Europa-Abteilung („Abteilung E“) des Bundeswirtschaftsministeriums war eine Folge des großen Wahlsieges der CDU/CSU 1957. Er brachte den Unionsparteien für eine Legislaturperiode die absolute Mehrheit im Bundestag. Der Vater des Wirtschaftswunders Ludwig Erhard, Minister seit 1949 und nach verbreiteter Auffassung 1957 ebenso sehr der eigentliche Wahlsieger wie Konrad Adenauer, stand damals im Zenit seines Ansehens. Zu den immer wieder aufbrechenden Gegensätzen zwischen dem Wirtschaftsminister und seinem Kanzler gehörte die global-freihändlerische Ausrichtung der Erhardschen Außenwirtschaftsdoktrin. Seine Präferenz für OEEC, GATT, Weltwährungsfonds und andere gesamteuropäische oder weltweite Unternehmungen mußte mit dem primär politischen Denken Adenauers und Hallsteins kollidieren. Für diese hatte sich wirtschaftliche Organisation weitergehenden außenpolitischen Zielen unterzuordnen. Vom ersten Bundeskanzler und seinem vornehmsten außenpolitischen Gehilfen wurde das festgefügte „Kleineuropa“ der sechs Gründerstaaten von EGKS, EWG und EURATOM als Nukleus der künftigen

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europäischen Föderation positiv begriffen. Erhard und seine ordoliberalen Mitstreiter in der Gallwitzkaserne – vor allem Alfred Müller-Armack – witterten hier schädlichen Dirigismus im Innern und Protektionismus an der Außenfront. Nachdem der Wirtschaftsminister sich 1955/58 in die Gründung des Gemeinsamen Marktes des „Sechsereuropas“ hatte schicken müssen, forderte Erhard bei der Regierungsbildung 1957 erfolgreich eine Schlüsselrolle seines Hauses bei der Vorbereitung der deutschen Positionen in der europäischen Wirtschaftspolitik. Dem Bundeswirtschaftsminister und nicht einem schon damals geforderten besonderen Europaministerium, aber auch nicht dem Auswärtigen Amt (das 25 sich ei- j nige politische Prärogativen sicherte) wurde die Aufgabe der Koordinierung der deutschen Europapolitik übertragen. Als Infrastruktur gründete man im Ministerium die Abteilung E, als achte neben den damals vorhandenen sechs Fachabteilungen I–VI und der Zentralabteilung Z. In gewissem Sinne war die Europa-Abteilung in ihrer ressortübergreifenden Aufgabenstellung ein Fremdkörper im Hause, eine Art verhindertes Europaministerium. Dennoch integrierte sie sich rasch. Dazu trug bei, daß die kleine Abteilung (zwei Unterabteilungen E und EA) mit insgesamt nur neun Referaten E 1–E 3 und EA 1–EA 6) zum guten Teil personell aus dem Hause besetzt wurde, allerdings mit einer auswärtigen „Blutzufuhr“ aus dem 1957 gerade aufgelösten „Blücher-Ministerium“, dem ersten deutschen Entwicklungshilferessort. 1961 sollte es unter Walter Scheel neu entstehen, als die FDP wieder in die Bundesregierung eintrat. Einige der E-Referate waren „Doppelbänderreferate“, d.h. weitgehend personenidentisch mit anderen Fachreferaten im Hause. Das galt vor allem für die allgemeine Wirtschafts- und die Wettbewerbspolitik, die beiden Gralsburgen der sozialen Marktwirtschaft. Ihnen sollte keine „E-Konkurrenz“ erwachsen, in der eines Tages unter schädlichem europäischem Einfluß fehlsames Gedankengut gepflegt werden könnte. In der Sache hat sich diese Entscheidung sehr bewährt. Das Gewicht der jungen Abteilung wurde im Hause und unter den Ressorts entscheidend dadurch bestimmt, daß sie in den ersten fünf Jahren von Alfred Müller-Armack auf einer für ihn neugeschaffenen Staatssekretärsstelle geleitet wurde. Zwei beamtete Staatssekretäre in einem Ministerium – das war Ende der fünfziger Jahre noch administrativer Luxus und nur durch die besondere Europa-Aufgabe gerechtfertigt. In den heutigen Zeiten, in denen es für notwendig erachtet wird, daß Heerscharen von parlamentarischen und beamteten Staatssekretären die Bundesminister bei ihren Aufgaben unterstützen, ist das kaum nachvollziehbar. Müller-Armacks Stellung im Hause war singulär und manchmal etwas prekär. Ludger Westrick, bisher alleiniger Staatssekretär und als geschickter und machtbewußter Administrator für Ludwig Erhard unentbehrlich, hatte dafür gesorgt, daß die sieben bisherigen Abteilungen ihm unterstellt blieben. Müller-Armack verblieb auf diese Weise nur die Abteilung E, mit einer etwas vagen Befugnis, sich auch anderer Stellen im Hause für Europa-Zwecke bedienen zu dürfen. Diese schmale Position hatte allerdings den Vorteil – und

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ließ sich so rechtfertigen –, daß Müller-Armark sich auf diese Weise auf die europäische Aufgabe konzentrieren konnte, vor allem auf die Vertretung der Bundesrepublik im Brüsseler Ministerrat. Nebenbei war er auch noch Ordinarius an der Kölner wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät. Überhaupt beruhte Müller-Armacks Autorität in Bonn, die der Europa-Abteilung neben derjenigen des Ministers zugute kam, auf seiner wissenschaftlichen Reputation als erster Repräsentant der Idee der sozialen Marktwirtschaft nach Euckens frühem Tode. So ergab sich der „ideologische“ Schulterschluß mit Ludwig Erhard, dem Müller-Armack in der menschlichen Übereinstimmung verwandter Temperamente zeitlebens verbunden blieb. Langjähriger erster Leiter der Europa-Abteilung als Ministerialdirektor unter j 26 Müller-Armack wurde Ulrich Meyer-Cording. Seinerseits Professor für Bürgerliches und Wirtschaftsrecht in Köln und zuletzt bei den Verhandlungen über den Gemeinsamen Markt einer der maßgeblichen deutschen Unterhändler aus dem Straußschen Atomministerium für EURATOM, war er eine vorzügliche Ergänzung für seinen Staatssekretär. Als Jurist hohen Grades brachte er die notwendige Ergänzung für die Brüsseler Verhandlungen mit, die angesichts des Charakters der EWG als Vertragsgemeinschaft jedes Mal notwendig in rechtliche Ergebnisse ausmündeten. Mit seinen Neigungen zum Wettbewerbsrecht stand Meyer-Cording dem ordoliberalen Credo zumindest nahe. So ergab sich für Abteilung E in den ersten Jahren mit Erhard, Müller-Armack und MeyerCording eine bemerkenswerte professorale Dreierspitze inhaltlicher und menschlicher Geschlossenheit. Intrigenspiele und Winkelzüge, wie sie sonst im Bonner Getriebe gang und gäbe waren, gab es zwischen und unter diesen drei noblen und kompetenten Persönlichkeiten nicht. Natürlich hatte so viel wissenschaftliche Redlichkeit und menschlicher Anstand auch ihre Kehrseite. An dem Verlauf von Erhards späterer Kanzlerschaft ließ sich ablesen, welcher Schuß Härte und Rücksichtslosigkeit diesem Dreigestirn im Brüsseler Interessenpoker gelegentlich fehlte. So suchte Müller-Armark nach dem ersten Veto De GaulIes gegen den britischen EWG-Beitritt Anfang 1963 in hektischen Ressortbesprechungen immer noch zu erkunden, mit welchen Konzessionen man die Franzosen vielleicht doch noch umstimmen könne, als Adenauer und Auswärtiges Amt längst erkannt hatten, daß der Entschluß des französischen Präsidenten vorläufig unumstößlich war, weil er auf gesamtpolitischen Erwägungen beruhte, die mit Wirtschaft nichts mehr zu tun hatten. Trotz solcher Abstriche denkt man Jahrzehnte später gerne an den Charme der Aufbruchzeiten des Bundeswirtschaftsministeriums und der europäischen Integration zurück. Gestützt auf die Erfolge der ersten „Wirtschaftswunderjahre“ und mit einer Spitze, deren wirtschaftspolitische Überzeugungen für jeden begreifbar waren, wandte sich die Bundesrepublik dem Aufbau des Gemeinsamen Marktes zu. Daß es sich dabei um keine lupenreine Erfolgsgeschichte des

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marktwirtschaftlichen Gedankens handeln konnte, mußte jedem klar sein, der sich des Gesamtparallelprogramms der Kräfte bewußt war, die in den Brüsseler Verhandlungen aufeinander trafen. Auch die deutschen Landwirtschafts- oder Verkehrsminister, die damals aus Bonn anreisten, konnten nicht auf einem ordoliberalen Ticket gebucht werden. Und dennoch: der gemeinsame europäische Markt und nunmehrige Binnenmarkt sähe heute anders aus, wenn nicht die deutsche Seite unter wesentlicher geistiger Federführung Ludwig Erhards und seines Hauses in den Verhandlungen der fünfziger Jahre von Messina bis Val Duchesse und später in den Brüsseler „Marathons“ der EWG kräftige Spurenelemente innerer Wirtschaftsfreiheit und freihändlerischer Gesinnung nach außen beigemischt hätte. Zunächst als deutsche „Marotte“ belächelt, hat sich neoliberale Wettbewerbspolitik von Bonn über die Brüsseler Kommission mittlerweile zu einer „European antitrust experience“ (Wolfgang Fikentscher) erweitert, die den Vergleich mit der amerikanischen Antitrustpolitik nicht mehr zu scheuen braucht. Ähnlich ist der „Freihandelsartikel“ 110 des EWG-Vertrages, 27 den sich Erhard gerne als Verhandlungserfolg zurech- j nen ließ, zwar öfters wegen mangelnder normativer Kraft verspottet worden. Dennoch kann man feststellen, daß er alles in allem über die Jahrzehnte zum Ausdruck einer EWGAußenwirtschaftsphilosophie geworden ist, unter deren Inspiration die Gemeinschaft im GATT von der Dillon- bis zur Uruguayrunde nicht weniger als die USA zur treibenden Kraft globaler Handelsliberalisierung geworden ist. Schließlich gehört das Veto des großen Charles de Gaulle von 1963 gegen den britischen Beitritt längst der Gemeinschaftsgeschichte an, während Deutschland gemeinsam mit anderen im Geiste weltmarktwirtschaftlicher Außenhandelstheorie inzwischen zum erfolgreichen Mitstreiter in drei EG-Beitrittsrunden geworden ist.

III. Die Europa-Abteilung beim Aufbau des Gemeinsamen Marktes Solche großen Visionen und Entwicklungen waren über das mühselige europäische Tagesgeschäft umzusetzen. Hier lag die Aufgabe von Abteilung E. Bevor wichtige Entscheidungen im Bundeskabinett oder in Staatssekretärzirkeln (z. B. der „drei Musketiere“ des Auswärtigen Amtes und des Wirtschafts- und Landwirtschaftsministeriums) behandelt werden konnten, bedurfte es der Vorbereitung auf Beamtenebene. Konkret waren alle paar Wochen die Sitzungen des allgemeinen EWG-Ministerrates vorzubereiten. In ihm kam Anfang der sechziger Jahre Müller-Armack neben dem Vertreter des Auswärtigen Amtes eine wichtige Rolle zu, da Erhard das ihm im Grunde unsympathische „Brüssel“ gerne mied. Dazu trug die beiderseitige Abneigung zwischen dem Wirtschaftsminister und dem erfolgreichen und machtbewußten EWG-Kommissionspräsidenten Walter Hallstein bei. Sich mehr und mehr als „Monsieur Europe“ füh-

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lend und des Rückhaltes bei Adenauer gewiß, ließ Hallstein den jovialen Wirtschaftsminister gelegentlich eine gewisse intellektuelle Überlegenheit spüren. „So will ich es dem Herrn Minister gerne noch einmal erklären“, sagte er im Brüsseler Hotel „Metropole“ bei einer der üblichen Vorbesprechungen mit süffisantem Augenaufschlag zur Decke hin, als sich Erhard wieder einmal im juristischen Gestrüpp eines – ziemlich läppischen – Kommissionsvorschlages verfangen hatte. Die besondere Schärfe des großen wirtschaftspolitischen Duells zwischen den beiden bedeutenden Politikern über Planifikation und Marktfreiheit 1962 vor dem Europäischen Parlament erklärte sich nicht zuletzt aus solchen Antagonismen zweier grundverschiedener Temperamente. In Müller-Armacks Ressortbesprechungen ging es für damalige Bonner Verhältnisse menschlich und freundlich zu. Sie dauerten meist lange, weil der Staatssekretär im Stile eines Universitätsseminares alle ausreden ließ. Die Schlußfolgerungen, zu denen Müller-Armack letztlich für sich gelangte und die als „deutsche Auffassung“ gleichzeitig für viele Ressortvertreter wichtig waren, die anschließend in den Brüsseler Arbeitsgruppen agieren sollten, blieben oft verschwommen. Manchen Teilnehmern war das nicht unlieb, denn sie bewahrten sich auf diese Weise eine Verhandlungsmarge im EWG-Kreise. Selbst offenem Widerspruch mochte Müller-Armack j in seiner gütigen Art nicht immer 28 entgegentreten. Als ein kesser Ministerialrat aus dem Finanzministerium (der auch sonst auffiel, weil er mitgebrachte Frühstücksbrote in offener Sitzung verzehrte) einmal sagte, er werde die eben festgehaltene gemeinsame Auffassung der Ressorts in Brüssel nicht vertreten, weil sie falsch sei, steckte Müller-Armack dies einfach weg. Angesichts unbestrittener Sachkompetenz konnte er sich das leisten. Dank Kompromißbereitschaft und ausgeglichenem Naturell war Müller-Armack auch in Brüssel im Kreise der Ratskollegen beliebt. Man ließ ihn gerne unangenehme Dinge erledigen. Als der Rat 1961 das Europäische Parlament bei der Verabschiedung des Assoziierungsabkommens mit Griechenland durch eine engherzige Auslegung des Art. 238 EWGV brüskiert hatte, mußte Müller-Armack als „Sündenbock“ in Straßburg die Prügel einstecken. Er tat es so entwaffnend geschickt, daß am Ende alle zufrieden waren. Zu den angenehmsten Erinnerungen an das Wirtschaftsministerium gehört die unkomplizierte und beiderseits befruchtende tägliche Zusammenarbeit zwischen Juristen und Wirtschaftswissenschaftlern. Was Erhard und Westrick, Müller-Armack und Meyer-Cording an der Spitze problemlos praktizierten, setzte sich im ganzen Hause fort. Zahlenmäßig teilten sich Juristen und Volkswirte ungefähr hälftig auf, mit einigen versprengten Ingenieuren und anderen Berufsgruppen dazwischen. Das Angenehme begann im äußeren Umgang miteinander. Während im Bundesfinanzministerium der sechziger Jahre der junge Regierungsrat seinen unmittelbaren beinahe gleichaltrigen Nachbarn nicht selten noch mit „Herr Oberregierungsrat“ anredete, begnügte man sich in der Gallwitzkaserne, bis ungefähr zum Abteilungsleiter hin, mit Namen und akademischem Titel.

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Daraus sprach nicht selten gegenseitiger Respekt in der Sache. Was heute an den Universitäten allzu oft und gerne mit dem gespreizten Wort Interdisziplinarität belegt wird, funktionierte in der Bonner Praxis ohne sonderliche Umstände. Grundlage war die Bereitschaft beider Seiten zum Mitdenken in den Kategorien der anderen. Das bedeutete für den Juristen die Aneignung einer Reihe von Grundannahmen der Nationalökonomie, mittels gelegentlicher „Nebenlektüre“, aber ebenso durch „learning by doing“ anhand der täglichen Besprechungen über gesetzgeberische oder sonstige Vorhaben. Eine heilsame Herausforderung war für den Juristen ferner, in der eigenen „Fachsprache“ so formulieren zu müssen, daß er dem volkswirtschaftlichen Partner ohne Umstände verständlich wurde. Der Ökonom hatte seinerseits hinzuzulernen, daß gute Jurisprudenz sich nicht im normativen Dekret erschöpft, sondern dem bewußt gesteuerten Einfließen von Wertungen und Zielsetzungen – hier besonders wirtschaftspolitischer Art – zugänglich ist. In Abteilung E kam der Umgang mit der neuartigen Herausforderung des europäischen Gemeinschaftsrechts hinzu, in dem sich neben den gewohnten deutschen Vorstellungsbildern andere Einflüsse, vor allem französischer Herkunft, mischten. Ulrich Everling erwies sich in diesem ständigen juristisch-ökonomischen Dialog rasch als besonders verständiger und gefragter Mittler. Sein schneller Aufstieg im Ministerium erklärte sich neben der stupenden Schaffenskraft nicht zuletzt daraus, daß er der wirtschaftlich orientierten Spitze des Hauses den zutreffenden Eindruck vermittelte, ihre wirtschaftspoliti29 schen Anliegen würden im Rechtsreferat verstanden j und zwecks nötiger Außenwirkung zwischen den Ressorts und gegenüber Brüssel in überzeugende juristische Form gebracht. Dabei erwarb sich Everling in der ständigen Auseinandersetzung mit den Bonner „Verfassungsressorts“ Justiz und Inneres besondere Verdienste. Um den dortigen vorzüglichen Juristen wie Ernst Kern und vor allem Erich Bülow Paroli bieten zu können – im Innenressort „mauerte“ Hans Peter v. Meibom besonders gerne und hartnäckig – mußte man nicht nur professionell auf vergleichbarem Standard sein, sondern darüber hinaus über die integrationspolitisch überzeugenden Argumente verfügen. Oftmals war es eine schwierige und langwierige Gratwanderung auf den verschiedensten ministeriellen Ebenen, bis die stolzen Verfassungshüter widerwillig mit dem Bemerken Raum gaben, die Lösung sei vielleicht rechtlich gerade noch vertretbar, für die politischen Folgen müsse das Wirtschaftsministerium und das meist noch „bedenkenlosere“ Auswärtige Amt einstehen. Für das Vertrauenskapital, das Ulrich Everling trotz oder wegen solcher Auseinandersetzungen im Kreise der Ministerien für Abteilung E und sich selbst sammelte, war kennzeichnend, daß die mit dem Aufbau des Gemeinsamen Marktes immer wichtiger werdende Funktion der Vertretung der Bundesrepublik gegenüber dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg bald seinem Referat übertragen wurde. Bis auf den heutigen Tag hat sich die Konstruktion bewährt, diese meist mit ökonomischen Fragen befrachteten Prozesse bei dem Wirtschaftsressort zusammenzufassen. Später ist

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Martin Seidel über lange Jahre in Everlings Fußstapfen getreten und hat diese ebenso diplomatische wie juristische Aufgabe auf hohem Niveau wahrgenommen. Für Everling selbst wurde die oftmalige Prozeßvertretung für die Bundesregierung in Luxemburg das Sprungbrett für sein späteres Richteramt beim Europäischen Gerichtshof 1980–1988. Bonn stellte das eine Parkett für die Europa-Abteilung dar, Brüssel das andere. Der besondere Reiz der Tätigkeit in Abteilung E lag darin, daß man sich schon als junger Hilfsreferent in zahllosen EWG-Sitzungen selbständig mit den Vertretern der anderen Mitgliedstaaten sowie der EWG-Kommission oder des Ratssekretariates auseinanderzusetzen hatte und dabei seinen Mann stehen mußte. Seit den sechziger Jahren hat sich dieses Brüsseler Gremienwesen vervielfacht. Aber schon in den Anfangszeiten der EWG war für die meisten E-Beamten die wöchentliche Fahrt nach Brüssel die Regel. Der Duft der großen europäischen Welt verzog sich dabei rasch in den immer gleichen Sitzungsräumen und Hotelzimmern und im Kreise der vertrauten Gesichter. Gleichwohl sind für die damals Jüngeren jene sechziger Jahre, vor allem ihre erste Hälfte bis zur großen EWG-Krise 1965/66 in der Erinnerung eine faszinierende Aufbruchzeit geblieben. Durch die Leistungen der mittlerweile legendären Hallstein-Kommission initiiert, wurden in den beiden vierjährigen Übergangsphasen des Art. 8 EWGV 1958–66 mit Zollunion, Agrarpolitik, Personenfreiheiten, Kartellverordnung und Anfängen der Handels- und Assoziierungspolitik, um nur einiges zu nennen, Fundamente gelegt, auf denen die Gemeinschaft – bei allem Wandel im äußeren Bilde – heute noch ruht. Bei allem Feilschen auf dem Brüsseler Basar wehte aus den Ratssitzungen mit Hallstein und Mansholt, Spaak und Colombo, Müller-Armack und Car- j stens, auf seine Weise auch 30 Couve de Murville und manch anderen „Europäern“ soviel „Gemeinschaftsgeist“ in die unteren Ränge der Ständigen Vertreter und Arbeitsgruppen hinüber, daß das Gefühl vorherrschend war, an einem großen gemeinsamen Werk beteiligt zu sein. „Je ne veux pas être moins européen que Monsieur de Chambrun“, sagte Everling nur halb ironisch zu seinem französischen Gegenüber bei der Verabschiedung des Allgemeinen Niederlassungsprogramms Ende 1961, als er ein kleines Entgegenkommen des zähen Feilschers aus Paris mit einem eigenen versöhnlichen Vorschlag honorierte. Die „Politik des leeren Stuhls“ beendete am 1. Juli 1965 abrupt diese Phase. Der französische Staatspräsident blockierte für ein gutes halbes Jahr die Gemeinschaft, nachdem ihm die Hallstein-Kommission zu eigenwillig zu werden drohte und nach dem Wortlaut der Verträge die Mehrheitsentscheidung im Rat zum 1. Januar 1966 in wichtigen Fragen einzuführen war. Sein souveränes Veto gegen den britischen Beitritt im Januar 1963 hatte bereits einen Vorgeschmack darauf gegeben, was aus gaullistischer Sicht unter dem „Europa der Vaterländer“ zu verstehen war. Welche Bedeutung damals auch in Deutschland den Worten beigemessen wurde, die von De Gaulles Lippen träufelten, zeigte sich

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auch in Abteilung E in Bonn-Duisdorf. Im September 1965 saßen wir großenteils zur Dienstzeit vor einem Radioapparat zusammen, um die Pariser Pressekonferenz zu verfolgen, auf welcher der General seine Vision des künftigen „Europe de Patries“ verkündete. („Es ist eine Schimäre zu glauben, man könnte etwas Wirksames schaffen, was außerhalb oder über dem Staat stehen würde . . .“). Mancher Zuhörer hatte das Gefühl, daß eine neue Seite des europäischen Einigungswerkes aufgeschlagen wurde, in Gestalt der Absage an den „unvollendeten Bundesstaat“ Hallsteins und mit Blick auf das, was bald etwas rätselhaft die „Europäische Union“ genannt werden sollte. Im Bonner ministeriellen Mikrokosmos schlug sich diese „Wende“ auf ihre Weise nieder. Zur Zeit der EWG-Krise von 1965 war Konrad Adenauer bereits abgetreten und Ludwig Erhard als sein Nachfolger scheinbar auf dem Höhepunkt der Macht. Ein gutes Jahr später hatte sich bewahrheitet, daß ein erfolgreicher ökonomischer Visionär kein geeigneter Staatslenker zu sein braucht. Schon mit der Kanzlerschaft Erhards kam ein Riß in die deutsche Europapolitik. Mit ihm als „Brüssel-Skeptiker“, der anders als Adenauer den atlantischen Neigungen Gerhard Schröders freien Lauf ließ und einem mit dem Bann aus Paris belegten Hallstein waren entscheidende Voraussetzungen für eine kraftvolle deutsche Integrationspolitik entfallen. Im Wirtschaftsministerium folgte der Mittelständler Kurt Schmücker für drei Jahre dem Vater des Wirtschaftswunders. An die Stelle des enttäuscht ausscheidenden Müller-Armack trat der begnadete Taktiker Fritz Neef. Wenig später wechselte Meyer-Cording zur Europäischen Investitionsbank. An die Stelle der europäischen Blütenträume der frühen sechziger Jahre war unübersehbar der Alltag getreten, bis hinein in die Europa-Abteilung des Wirtschaftsministeriums. Auch das sollte sich wieder ändern, als mit der Großen Koalition Ende 1966 der überzeugte Europäer Kurt Georg Kiesinger die deutsch-französischen Beziehungen mit neuem Leben er31 füllte und Ludwig Erhard mit Karl Schiller einen j kongenialen Nachfolger fand. Als auch noch De Gaulle durch Pompidou abgelöst wurde, brachte die Haager Konferenz Ende 1969 neues Leben in die europäische Einigung. In Bonn rückte Ulrich Everling, bereits seit drei Jahren Unterabteilungsleiter in der Europa-Abteilung, 1970 als Ministerialdirektor an deren Spitze und zeichnete auf der obersten Beamtenebene für ein Jahrzehnt erneuerten Integrationsschwunges mitverantwortlich für die maßgeblichen Entscheidungen der deutschen Europapolitik. Auch wenn das Bundeswirtschaftsministerium und seine Abteilung E aus mancherlei Gründen nicht wieder in die zentrale Position deutscher Europapolitik einrückte, die sie in den sechziger Jahren unter Ludwig Erhard und Alfred Müller-Armack innehatte, hat sich bis heute die Entscheidung von 1958 bewährt, durch die Zuweisung wesentlicher Europazuständigkeiten an das Wirtschaftsministerium den Binnencharakter des europäischen Einigungsprozesses mehr als seine „auswärtige“ Seite zu betonen.

Die Deutschen in Brüssel

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Nationale Präsenz in der EU – Ein Thema für die institutionelle Reform? Berliner Vortrag, der den oft beklagten – scheinbaren und wirklichen – Versäumnissen deutscher Personalpolitik in Brüssel nachgeht und auf mögliche Abhilfen hinweist.* j

Ein Vortrag im Walter-Hallstein-Institut für Europäisches Verfassungsrecht er- 44 innert an den großen Europäer und bedeutenden ersten Präsidenten der EWGKommission 1958–1967. Hallstein ist bis heute die herausragende Persönlichkeit unter den „Deutschen in Brüssel“ geblieben. Zu den vielen Aspekten seines erfolgreichen Wirkens im Dienste der Europäischen Gemeinschaft gehört nicht zuletzt der Aufbau des europäischen öffentlichen Dienstes, wie er vor allem im Beamtenstatut von 1968 Gestalt annahm.1 Dieser Aufbau erschöpfte sich für Hallstein nicht im Organisatorischen. Er erkannte sofort, daß eine überstaatliche europäische Bürokratie eines eigenen „Ethos“ bedürfe. Wie es Art. 11 des Beamtenstatuts formuliert, darf sich der Europabeamte ausschließlich von den Interessen der Gemeinschaft leiten lassen. Auch wenn die Brüsseler Realität nicht selten anders aussieht, muß sich die EU-Verwaltung jederzeit an ihrem „europäischen Geist“ messen lassen.2 I. Zur Legitimität nationaler Präsenz im europäischen öffentlichen Dienst Als besonders intensive Staatenverbindung mit weitgesteckten Zielen und mit umfänglicher Rechtsetzungsgewalt ausgestattet, bedarf die EG/EU eines in Größe und fachlicher Qualität angemessen ausgestatteten Personals. Ein begrenzter Arbeitsstab im Stile der Sekretariate internationaler Organisationen wäre für die Erfüllung der Aufgaben der EU nicht ausreichend. Seit den fünf-

* Erstmals erschienen in: Walter-Hallstein-Institut für Europäisches Verfassungsrecht (Hrsg.), Die Reform der europäischen Institutionen, 2002, 43–58. 1 Statut der Beamten der Europäischen Gemeinschaften v. 29.2.1968 = VO 259/68, ABl. L 56/1 f. mit Änderungen; Rogalla, Dienstrecht der Europäischen Gemeinschaften, 2. Aufl. 1992; Oppermann, Europarecht, 2. Aufl. 1999, S. 291 ff. 2 Hallstein, Zum Ethos des Europabeamten (1963), in: Europäische Reden (Hrsg. Oppermann), 1979, 441 ff.

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ziger und sechziger Jahren kam es daher zum raschen Ausbau eines öffentlichen Dienstes der Gemeinschaft. In der heutigen EU von 15 Mitgliedstaaten sind ungefähr 30.000 Stellen ausgewiesen, davon zwei Drittel bei der Kommission als eigentlicher Verwaltungszentrale. Es ist allzu billig, in diesem Zusammenhang die beliebte Schelte über den Brüsseler „eurokratischen Wasserkopf“ anzustimmen.3 Die EU mit 370 Millionen Unionsbürgern verfügt über einen öffentlichen Dienst, der in seiner Größenordnung dem Personal bei den deutschen obersten Bundesbehörden ungefähr vergleichbar und kleiner als manche Verwaltung einer Großstadt in den Mitgliedstaaten ist. Dabei ist mitzubedenken, daß die Gemeinschaft wegen der grundsätzlichen Gleichrangigkeit der 12 Gemeinschaftssprachen einen Dolmetscher- und Übersetzungsdienst mit ungefähr 3000 Stellen unterhalten muß. Es kommt nicht von ungefähr, daß in Brüssel der größte transnationale öffentliche Dienst entstanden ist. Mit der zu erwartenden Osterweiterung der EU dürften seine Aufgaben weiter zunehmen. Eine besondere Herausforderung für die Strukturierung des europäischen öffentlichen Dienstes liegt in seiner „richtigen“ Zusammensetzung aus Angehörigen der Mitgliedstaaten. Es handelt sich ebenso um ein fachliches wie um ein 45 politisches Problem. j Die Befugnisse der Gemeinschaft reichen oftmals, z. B. in der Landwirtschaft oder bei der Wettbewerbspolitik, tief in den innerstaatlichen Bereich hinein. – Dies setzt in Brüssel genaue Kenntnisse und Erfahrungen über die mitgliedstaatlichen Verhältnisse voraus. Sie sind ohne einen hinreichend national diversifizierten europäischen Dienst nicht zu erlangen. Neben solchen Sachgründen ist das nationale Prestige nicht zu übersehen, auf der einflußreichen europäischen Ebene mit „eigenen Leuten“ hinreichend vertreten zu sein, um geeignete Ansprechpartner für Anliegen zu haben usf. Dies gilt für Deutschland ebenso wie für andere Mitgliedstaaten. In der rauen Wirklichkeit der Gemeinschaftspolitiken trat die ursprünglich verklärte Sicht des Europabeamten bald zurück. Jean Monnet sah ihn Anfang der fünfziger Jahre noch als einen vom europäischen Geist beseelten „neuen Menschenschlag“, bei dem die nationale Herkunft eine ganz untergeordnete Rolle spielen sollte.4 Die Bundesrepublik als Teil eines besiegten und geteilten Staates und international oftmals „Latecomer“ hatte sich nach 1945 stärker als andere einem solchen Leitbild angenähert und ging in ihren Ansprüchen auf personelle Präsenzen in Europa wie auch auf internationaler Ebene zunächst behutsam vor. Das hat Auswirkungen bis heute.5 3 v. Senger und Etterlin, Das Europa der Eurokraten, Aus Politik und Zeitgeschichte, B 42/1992, 15 ff.; Abeles, Reise ins Innere der Eurokratie, Label France 7/ 2000, 10 ff. 4 Monnet, Erinnerungen eines Europäers, 1980, 477. 5 In der UN-Verwaltung arbeiten 4% Deutsche bei einem Finanzierungsanteil der Bundesrepublik von 9%. Ähnliche Zahlen z. B. für die UNESCO (3,5/13%) oder für die WTO (3,8/10,8%).

Die Deutschen in Brüssel

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Inzwischen kann man beim europäischen öffentlichen Dienst längst von einer gewissen „Renationalisierung“ in dem Sinne sprechen, daß die Neigung der Mitgliedstaaten (zusammen mit ihren wirtschaftlichen Lobbies) erheblich zugenommen hat, über personelle Verbindungen Einfluß auf die immer wichtiger gewordenen Entscheidungen der europäischen Rechtsetzung zu nehmen.6 Dies gilt besonders für die größeren Mitgliedstaaten einschließlich Deutschlands. Hierfür gibt es einen objektiven Grund. Mit der Fortschreibung der Mehrheitsverhältnisse, besonders im letztlich entscheidenden Rat, anläßlich der Erweiterung der Gemeinschaft von 6 auf bisher 15 Mitgliedstaaten haben die kleineren EU-Staaten an Einfluß gewonnen. Dem suchen die „Großen“ durch Einwirkungen auf die europäische Personalpolitik entgegenzusteuern.7 Deutschland blieb hierbei im Vergleich vor allem zu Frankreich, Großbritannien und Spanien zurückhaltender. Während bei den Spitzenpositionen der EU-Dienste (Generaldirektoren) im allgemeinen auf eine einigermaßen ausgewogene Verteilung zwischen den Mitgliedstaaten geachtet wird, hat die Bundesrepublik bei den unteren und mittleren Rängen der A-Ka- j tegorie (höherer Dienst) bisher kaum auf 46 die Erfüllung einer angemessenen deutschen Quote einzuwirken versucht. Erst in den letzten Jahren scheint in Bonn bzw. Berlin die Einsicht zu wachsen, daß es sich hier um ein europapolitisch wichtiges Thema handelt. Einen wesentlichen Beitrag lieferte in diesem Zusammenhang eine ausführliche sozialwissenschaftliche Studie, in welcher der Status Quo der „Deutschen in Brüssel“ erstmals genau analysiert und mit möglichen Reformvorschlägen begleitet wurde.8 1. Zur Rechtsgestalt des europäischen öffentlichen Dienstes

Seit dem Fusionsvertrag von 1967 (Art. 24, inzwischen Art. 283 EGV) gilt das im Beamtenstatut von 1968 verwirklichte Prinzip der einheitlichen Verwaltung der drei Gemeinschaften (EG, EGKS, EAG).9 Zwar gibt es je nach Organ 6 Diekmann, Die Vertretung spezifischer Interessen in der EU, in: Weidenfeld (Hrsg.), Deutsche Europapolitik, 1998, 209 ff. 7 Über den Nizza-Vertrag 2000/2001 versuchen die größeren Mitgliedstaaten, ihr Gewicht im Rat zu Lasten der „Kleinen“ wieder zu verstärken. So sollen in einer künftigen 27-er EG nach der Osterweiterung die dann „sechs Großen“ (Deutschland, England, Frankreich, Italien, Polen und Spanien) über 170 von 345 Stimmen im Rat verfügen. Da die qualifizierte Mehrheit auf 258 Stimmen festgelegt werden soll, ergäbe sich ein „Veto-Recht“ der größeren Mitgliedstaaten. Es würde durch das „demographische Netz“ ergänzt, wonach ein Ratsmitglied verlangen kann, daß diese qualifizierte Mehrheit mindestens 62% der EU-Bevölkerung einschließt. Vgl. „Erklärung über die Erweiterung der EU“, Ziff. 2. – Zur Kritik Brok, Der Vertrag von Nizza: Wird die EU handlungsunfähig?, FAZ v. 13.1.2001, 11. – Man darf bezweifeln, daß diese Neuregelung, falls sie in Kraft tritt, die Mitgliedstaaten zur Mäßigung in ihren personalpolitischen Ambitionen veranlaßt. 8 Neuss/Hilz, Deutsche personelle Präsenz in der EU-Kommission, 1999. – Die Studie wurde u. a. in den Medien sehr beachtet. Auch dieser Beitrag ist ihr verpflichtet. 9 Näher Oppermann (Anm. 1), S. 294 ff.

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noch unterschiedliche Anstellungsbehörden. Der Status der Europabediensteten ist jedoch grundsätzlich einheitlich bestimmt, unabhängig davon, ob der einzelne in den Diensten der Kommission, des Generalsekretariats des Rates, des Gerichtshofs usf. steht. Unter den Leitprinzipien, die den Status des Europabeamten prägen, sind hier besonders hervorzuheben: – Die Schaffung von Dauerplanstellen, in Verbindung mit einem Auswahlverfahren (Concours), dem Laufbahnprinzip und einem Beförderungssystem. Dies beinhaltet die Ablehnung der Rotation zwischen nationalem und europäischem öffentlichen Dienst. – Befähigung, Leistung und Integrität als Einstellungskriterien. – Unparteilichkeit der Amtsführung und Loyalität zu den Europäischen Gemeinschaften. – Prinzip der geographischen Ausgewogenheit bei der Einstellung (Art. 27 Beamtenstatut). 2. „Geographische Ausgewogenheit“

Mit der Anerkennung der geographischen Ausgewogenheit im Beamtenstatut als eines der Strukturelemente des europäischen öffentlichen Dienstes ist der Nationalitätenproporz innerhalb der EU-Verwaltung grundsätzlich legitimiert. Allerdings hat der Gerichtshof entschieden, daß die geographische Ausgewogenheit keinen generellen Vorrang gegenüber anderen Leitprinzipien des Beamtenstatuts beanspruchen darf.10 Insbesondere dürfen nicht bestimmte Dienstposten regelmäßig den Angehörigen eines bestimmten Mitgliedstaates vorbehalten bleiben. Ähnlich wie bei Art. 36 GG, wonach in Deutschland bei den obersten Bundesbehörden Beamte aus allen Bundesländern „in angemessenem Verhältnis zu verwenden“ sind, bezieht sich Art. 27 Beamtenstatut auf die Gesamtzahl der 47 europäischen Dienstposten. In diesem Rahmen soll die nationale Her- j kunft angemessen berücksichtigt werden.11 Die sachgerechte Auswahl des oder der Parameter für die „Angemessenheit“ ist in einer multinationalen Gemeinschaft wie der EU jedoch schwierig. Es könnten insbesondere in Frage kommen: – Die Bevölkerungszahl eines Mitgliedstaates. – Das Bruttosozialprodukt eines Mitgliedstaates. – Das Gewicht des Haushaltsbeitrages eines Mitgliedstaates. – Eine Anknüpfung an die Verteilung der Sitze im Europäischen Parlament zwischen den Mitgliedstaaten. 10

EuGHE 1975, 1247, Rs 81–88/74. Zum flexiblen Verständnis der „Angemessenheit“ bei Art. 36 GG Gubelt, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetzkommentar, Band 2, 3. Aufl. 1995, Art. 36, Rn. 7. 11

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In der Gemeinschaftspraxis gibt es keine feste Einigung auf eines dieser Kriterien. Die Verwirklichung der geographischen Ausgewogenheit nach festen Regeln gestaltet sich auch durch die Erweiterungen der Gemeinschaft schwierig, wenn jeweils Angehörige beitretender Staaten in die Brüsseler Bürokratie aufgenommen werden sollen, ohne daß entsprechend neue Stellen geschaffen werden. In der ursprünglichen Sechsergemeinschaft der fünfziger Jahre gab es eine informelle Absprache, wonach je 25% der Stellen auf Deutschland, Frankreich, Italien und die Beneluxländer entfallen sollten. Dieses Prinzip ließ sich nach den verschiedenen Erweiterungsrunden nicht mehr durchhalten und veränderte sich vor allem zu Lasten der „großen Drei“. In diesem Zusammenhang ging der deutsche Anteil an A-Beamtenstellen in der Kommission seit den siebziger Jahren stärker als bei den anderen großen Mitgliedstaaten zurück.12 So verringerte sich die deutsche Quote bis 1998 von 19% auf knapp 13%, während sie z. B. im Falle Frankreichs mit 15% konstant blieb. Soweit man überhaupt von einem bewußten Festhalten an einem Parameter für die „Angemessenheit“ seit den siebziger Jahren sprechen kann, scheint dies am ehesten die Sitzverteilung im Europäischen Parlament gewesen zu sein.13 Auch unter diesem Parameter bleibt Deutschland bei der Sitzverteilung im Parlament in der 15er-EU (knapp 16%) leicht unterrepräsentiert, während z. B. Belgien (knapp 4% Parlamentssitze, aber über 10% A-Beamte in der Kommission) erheblich überrepräsentiert erscheint.14 Insgesamt kann man kaum von mehr als einem gewissen „Bemühen“ der EU-Personalverwaltung um die angemessene geographische Verteilung sprechen, wobei die Maßstäbe mehrfach gewechselt haben. Das Prinzip der geographischen Ausgewogenheit steht bei Einzelentscheidungen häufig in einem Spannungsverhältnis zu anderen der oben genannten Leitprinzipien für j die Gestaltung des europäischen öffentlichen Dienstes, insbeson- 48 dere zum Leistungsprinzip, aber auch zum Gedanken der regelmäßigen Beförderung. Auch wenn es nie „lupenrein“ zu verwirklichen sein wird, darf es aus verschiedenen legitimen Gründen nicht aus den Augen verloren werden. Es wurde bereits erwähnt, daß die Fülle der in den innerstaatlichen Bereich eingreifenden Gemeinschaftsaktivitäten nach einem entsprechend diversifizierten 12

Einzelheiten, auch zum folgenden, bei Neuss/Hilz (Anm. 8), 37 ff. Wie beliebig die Maßstäbe für die „geographische Ausgewogenheit“ wechseln, zeigt eine jüngere Äußerung des in der Prodi-Kommission seit 1999 für die Verwaltungsreform zuständigen Kommissionsmitgliedes Kinnock, wonach der Nationalitätenproporz bereits gewahrt sei, wenn ein Angehöriger aus jedem EU-Land auf einem der rund 50 Spitzenposten (Generaldirektor oder Kabinettschef) in der Kommission vertreten sei. Zu diesen neuen Reformprinzipien unten bei 5. a). 14 Bei der künftigen Zusammensetzung des Europäischen Parlamentes gemäß dem Vertrag von Nizza (Erweiterungserklärung, Ziff. 1.) in einer 27er-EU fiele der deutsche Anteil an Parlamentssitzen auf gut 13%, der belgische auf unter 3%. Gleichzeitig wird sich wiederum das Problem der Integration von Personal aus den mittelosteuropäischen Beitrittsstaaten in die Kommissionsverwaltung in erheblichem Umfang stellen. 13

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EU-Personal verlangt, das über Kenntnisse der tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse in den einzelnen Mitgliedstaaten verfügt. Da das EU-Recht unterhalb der obersten Ebene im wesentlichen durch die nationalen Behörden ausgeführt werden muß, müssen die Rechtsakte der Gemeinschaft in einer für die Mitgliedstaaten verständlichen und passenden Weise aufbereitet werden.15 Das europäische Recht gewinnt in den Mitgliedstaaten am besten Akzeptanz, wenn es bei der Vorbereitung in den Händen qualifizierter Angehöriger aus möglichst vielen Mitgliedstaaten liegt. II. Nationale Präsenz auf der politischen („Regierungs-“)Ebene der EU Bei Überlegungen zur Zusammensetzung des europäischen Personals werden meistens die Dienste der Kommission als Paradigma herangezogen. Will man ein Gesamtbild der nationalen Präsenz auf Gemeinschaftsebene gewinnen, muß jedoch auch die meist in den Verträgen geregelte oberste politische Ebene einbezogen werden. Dabei stellt sich heraus, daß der Nationalitätenproporz für die Organe und vergleichbare oberste Einrichtungen der EU nach durchaus unterschiedlichen Kriterien festgelegt worden ist. Im Rat gilt zunächst einmal das Souveränitätsprinzip. Im Rat hat je ein Vertreter jedes Mitgliedstaates Sitz und Stimme (Art. 203 EGV). Die Staatengleichheit kommt bei der in wichtigen Bereichen geltenden Einstimmigkeitsregel voll zum Tragen. Bei Beschlüssen mit qualifizierter Mehrheit (Art. 205 EGV) wird die Beschlußfassung durch eine – sehr relative – Mitberücksichtigung der Bevölkerungszahlen modifiziert. Hier stehen auf diese Weise 4–5 „Große“ (Deutschland, England, Frankreich, Italien und Spanien) den unter sich weiter abgestuften kleineren Mitgliedstaaten gegenüber. Im Ergebnis sind bei der qualifizierten Mehrheit bisher die kleineren Mitgliedstaaten begünstigt, wenn man die demographische Proportionalität in die Betrachtung einbezieht.16 Formal ist die Zusammensetzung der Kommission im Vertrag „europäisch“ ausgestaltet. Festgelegt ist bisher lediglich die Gesamtzahl der Mitglieder (20) und eine Mindest- und Höchstzahl für Angehörige eines bestimmten Mitgliedstaates (maximal 2 Mitglieder). Faktisch entsenden die 5 „großen“ EU-Staaten je 2 Kommissionsmitglieder und die 10 übrigen je ein Mitglied. Vor dem Hintergrund der Bevölkerungszahlen oder der Wirtschafts- und Finanzkraft bedeutet

15 Zum Vollzug des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten Oppermann (Anm. 1), S. 236 ff. 16 Zur mit dem Nizza-Vertrag beabsichtigten Verbesserung des Gewichtes der dann 6 „Großen“ in einer 27er-EU oben Anm. 7. – Bekanntlich ist die Einstimmigkeitsregel in Nizza nur in einigen weniger bedeutenden Fällen zugunsten der qualifizierten Mehrheit eingeschränkt worden. – Vgl. insgesamt Pini, Der Ministerrat der EU, 1996.

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dies eine bevorzugte Berücksichtigung der „Kleinen“. Gerechtfertigt wird dies mit Blick auf die Staatengleichheit und mit der j Überlegung, daß alle Mitglie- 49 der angemessenen Anteil an der Bildung des Gemeinschaftswillens vor allem bei der Rechtsetzung über das Vorschlagsmonopol der Kommission haben sollen.17 Im Europäischen Parlament lassen sich gegenwärtig nicht unähnlich der Gewichtung bei qualifizierten Ratsbeschlüssen 4–5 „große“ und weiterhin abgestufte „kleinere“ Sitzzahlkontingente für die einzelnen Mitgliedstaaten erkennen (Art. 190 EGV). Maßgebliches Kriterium, das allerdings nur sehr verhaltene Berücksichtigung findet, ist die Bevölkerungszahl. Auf diese Weise verfügt Deutschland über 99 Abgeordnete, vor England, Frankreich und Italien mit je 87. Aus ähnlichen Gesichtspunkten haben z. B. die Niederlande 31 Abgeordnete, Griechenland und Portugal je 25. Insgesamt wirken sich Souveränität und Staatengleichheit immer noch erheblich zugunsten der kleineren Mitgliedstaaten aus. Luxemburg stellt 6 Abgeordnete, während es bei demographischer Proportionalität leer ausginge.18 In der europäischen Gerichtsbarkeit bestehen sowohl der Gerichtshof als auch das Gericht erster Instanz derzeit aus 15 Richtern. Obwohl die Zuordnung in Art. 221 ff. EGV nicht zwingend vorgeschrieben ist, benennt faktisch jeder Mitgliedstaat einen Richter. Man kann diese Regelung als perfekte Anerkennung der Gleichheit der Mitgliedstaaten deuten, aber auch als Vertrauen in die europäische Unparteilichkeit der Richter, wie sie für die dritte Gewalt selbstverständlich sein sollte. Jedenfalls ist in der europäischen Gerichtsbarkeit wie in keinem anderen Organ der EG ein zahlenmäßiges Übergewicht der Richter aus den kleineren Mitgliedstaaten festzustellen. Daran ändert auch die Benennung der Generalanwälte nichts Entscheidendes, bei denen nach der Praxis die größeren EU-Staaten unter den Generalanwälten ständig vertreten sind, während für die übrigen Mitgliedstaaten ein rotierendes System gilt.19 17 Der Vertrag von Nizza stärkt die künftige Position der kleineren Mitgliedstaaten in der Kommission weiterhin, in einem gewissen Ausgleich zur Regelung beim Rat. Ab 2005 soll zunächst jeder Mitgliedstaat nur über einen Kommissar verfügen. In der späteren 27er-EU soll ein Rotationsverfahren eingeführt werden, wobei die Zahl der Kommissionsmitglieder geringer als diejenige der Mitgliedstaaten sein muß, Art. 4 des Protokolls über die Erweiterung der EU. – Insgesamt Nass, Eine Institution im Wandel: Die Europäische Kommission, Festschrift Mestmäcker, 1996, 411 ff. 18 In Nizza ist die Zusammensetzung des künftigen Parlamentes einer 27er-EU nach ähnlichen Grundsätzen fortgeschrieben worden. Deutschland behält anläßlich der Vergrößerung des EP von 626 auf 732 Abgeordnete 99 Sitze, während für England, Frankreich und Italien je 72 vorgesehen sind. Die niederländische Zahl vermindert sich auf 25, diejenige von Griechenland und Portugal auf 22. Im einzelnen ergeben sich mancherlei „demographische Ungereimtheiten“. Malta als nunmehr kleinster Mitgliedstaat soll über 5 Mandate verfügen, vgl. Erweiterungserklärung, Ziff. 1. – Insgesamt Bieber, Struktur und Befugnisse des EP, Hdb. Europäische Integration, 2. Aufl. 1996, 148 ff.

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Bei der Europäischen Zentralbank mit ihrer bisher auf 12 beschränkten Mitgliederzahl („Euroland“) hat eine besonders intensive „Europäisierung“ zu Lasten nationalen Einflusses stattgefunden. Im EZB-Rat, der die grundsätzliche Politik der Bank bestimmt, sind die 11 (seit 2001: 12) Präsidenten der nationa50 len Zentralbanken vertreten, j sowie die 6 Mitglieder des Direktoriums, dem für die laufende Tätigkeit der Bank hohe Bedeutung zukommt (Art. 112 EGV). Das Direktorium ist bei der Erstbesetzung 1998 aus 4 Vertretern der „großen“ Euroland-Staaten (Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien) und mit zwei der kleineren (Niederlande, Finnland) besetzt worden. Die Vergemeinschaftung der Währungssouveränität führt dazu, daß große Mitgliedstaaten wie Deutschland sich anstelle der bisherigen Alleinbestimmung über ihre Geldpolitik mit einem Stimmanteil von einem Sechstel im Direktorium und mit 2 Stimmen, d.h. einem Neuntel, im EZB-Rat begnügen. Beide Organe stimmen grundsätzlich mit einfacher Mehrheit ab. Auch bei der EZB schneiden die kleineren Mitgliedstaaten beim Nationalitätenproporz besser ab als größere. Die Niederlande stellen den ersten Präsidenten der EZB.20 Bei den sonstigen EG-Nebenorganen (Europäische Investitionsbank, Wirtschafts- und Sozialausschuss und Ausschuß der Regionen) ergibt sich für den Nationalitätenproporz ein ähnliches Bild. Bei der Europäischen Investitionsbank (EIB) ist allerdings der Einfluß der 5 größeren Mitglieder (Deutschland, England, Frankreich, Italien und Spanien), welche die Bank kapitalmäßig in erster Linie tragen, größer als bei der EZB. Wirtschafts- und Sozialausschuß (WSA) und Ausschuß der Regionen (AdR) lehnen sich als „Nebenparlamente“ in der nationalen Sitzverteilung bis zu einem gewissen Grade an die Regelung des Europäischen Parlamentes an, ohne jedoch die dortigen genaueren Differenzierungen nach der demographischen Größe nachzuvollziehen. Auch bei WSA und AdR ergibt sich ein überproportionales Gewicht der Mitglieder aus kleineren EU-Staaten. Angesichts des „doppelten Proporzes“ in WSA und AdR nach den organisierten beziehungsweise regional/lokalen Interessen sowie der begrenzten Befugnisse beider Gremien relativiert sich hier der Nationalitätenproporz. 21 Im Ergebnis zeichnet sich die Organisationsstruktur der EG/EU auf der politischen Leitungsebene im weiteren Sinne durch eine regelmäßige Besserstellung der kleineren Mitgliedstaaten aus. Der Einfluß, der den größeren EU-Staaten bei 19 Der Nizza-Vertrag (Art. 220 ff. EGV neu) ändert nichts Grundsätzliches an der Art der Zusammensetzung der beiden europäischen Gerichte. Es wird nunmehr ausdrücklich festgelegt, daß der Gerichtshof aus je einem Richter aus jedem Mitgliedstaat besteht. – Insgesamt Sieber, Die Auswahl der Richter am Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, 1997. 20 Weber, Das Europäische System der Zentralbanken, WM 1998, 146 ff. 21 Der Vertrag von Nizza schreibt bei WSA und AdR das bisherige System fort. – Insgesamt Oppermann (Anm. 1), S. 156 ff., 167 ff.

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voller Anwendung objektiver Faktoren wie Bevölkerungszahl, Bruttosozialprodukt, Haushaltsbeitrag u. ä. für die „Angemessenheit“ nationaler Repräsentation zustehen würde, tritt zumindest in einem juristischen Sinne zurück. Das völkerrechtliche Prinzip der souveränen Staatengleichheit spielt in einem „Staatenverbund“ wie der Gemeinschaft eine stärkere Rolle, als man auf den ersten Blick vermutet. Für einen Mitgliedstaat wie Deutschland, der seit der Wiedervereinigung 1990 nach allen Parametern eine Spitzenstellung unter den Mitgliedstaaten einnimmt, bedeutet dies ein bemerkenswertes Einverständnis mit einem „niedrigen Profil“. Die Unterrepräsentation Deutschlands ist in der EZB am ausgeprägtesten. Am ehesten wird dem spezifischen Gewicht der Bundesrepublik bei der Sitzverteilung im Europäischen Parlament Rechnung getragen. Es ist nicht überraschend, daß die j größeren Mitgliedstaaten im Vertrage von Nizza mit Blick auf 51 eine künftige 27er-EU eine gewisse Verbesserung ihres institutionellen Gewichtes im Rat durchsetzten.22 III. Zur Besetzung der Spitzenämter in der Europäischen Union Besondere Fragen ergeben sich aus der Natur der Sache bei der Abfolge der Nationalitäten in der Besetzung der Spitzenämter innerhalb der EU (Präsidentschaft des Rates, der Kommission, des Europäischen Parlamentes, des Gerichtshofes, der Europäischen Zentralbank usf.). Hier handelt es sich zum einen um mehrjährig zu besetzende Einzelämter, sodaß bereits bei 15 Mitgliedstaaten und nach künftigen Erweiterungen noch mehr ein sich ständig wiederholender „Durchgang“ durch alle Mitgliedstaaten ausgeschlossen erscheint. Die Ausnahme bei der Ratspräsidentschaft (halbjährlicher Wechsel von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat) ist vertraglich vorgeschrieben (Art. 203 EGV) und wird viel kritisiert. Zum anderen konzentriert sich auf diese politisch herausgehobenen Spitzenämter das europapolitische Interesse der Mitgliedstaaten und auch der europäischen Öffentlichkeit. Der tatsächliche Fortschritt des europäischen Einigungsprozesses ist in manchen Fällen, insbesondere bei der Auswahl der Kommissionspräsidenten, von der qualifizierten Besetzung solcher Spitzenämter abhängig gewesen. Mit aller gebotenen Zurückhaltung wird man sagen dürfen, daß Deutschland nach seinem eindrucksvollen Beginn mit Hallstein 1958 als erstem deutschen Kommissionspräsidenten bei der Besetzung der europäischen politischen Führungsetagen keine besondere Figur gemacht hat. Über die Gründe ist schwer zu spekulieren. Neben der oftmals fehlenden Bereitschaft von deutschen Spitzenpolitikern, sich auf das schwierige Brüsseler Parkett zu begeben, dürfte ein Krebsübel in der bei allen deutschen Parteien vorherrschenden Neigung liegen, die Besetzung der europäischen Spitzenämter als erstes 22

Oben Anm. 7.

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durch die nationale partei- und koalitionspolitische Brille und nicht nach der internationalen „Vorzeigbarkeit“ der Kandidaten zu sehen.23 Als ein beklagenswertes Beispiel wird öfters der häufige Wechsel im Amt des deutschen Richters am Europäischen Gerichtshof seit den achtziger Jahren angeführt, das seit dieser Zeit in die nationale partei- und koalitionspolitische Verfügungsmasse der hohen europäischen Ämter einbezogen worden ist. IV. Geographische Ausgewogenheit auf der europäischen „Arbeitsebene“ Zur Beurteilung der nationalen Präsenzen innerhalb der „Arbeitsebene“ der A-Beamten des europäischen öffentlichen Dienstes bieten sich vor allem die Dienststellen der Europäischen Kommission als bei weitem größter Verwaltungseinheit der EG/EU an. Die Verhältnisse liegen anderwärts (Sekretariat Eu52 ropäisches Parlament, Generalsekre- j tariat Rat, Verwaltung Gerichtshof, sowie die Sekretariate der sonstigen Einrichtungen) nicht grundlegend anders. Wenn man einen Überblick über die Verwirklichung der „geographischen Ausgewogenheit“ im Sinne von Art. 27 Beamtenstatut innerhalb der Kommissionsverwaltung zu gewinnen sucht, ergibt sich grundsätzlich die bereits erwähnte Feststellung, daß sich dieses Prinzip seit langem nur begrenzt verwirklichen ließ. Angesichts des notwendigen Ausgleiches mit anderen Leitgrundsätzen des europäischen Beamtenrechts, wie das Leistungsprinzip und neuerdings immer stärker das Gebot der Gleichbehandlung der Geschlechter, ferner unter Berücksichtigung der notwendigen Integration von Angehörigen der Beitrittsstaaten mußten und müssen immer wieder praktische Kompromisse geschlossen werden. Die Feststellung des Gerichtshofes, daß die geographische Ausgewogenheit keinen generellen Vorrang vor den anderen Prinzipien beanspruchen kann, ist unausweichlich.24 Auf der anderen Seite darf Art. 27 Beamtenstatut in diesem „Prinzipienstreit“ nicht gänzlich vernachlässigt werden, sondern bedarf der steten Mitberücksichtigung. Bei der Frage, welcher Stellenwert dem Nationalitätenproporz beigemessen wird und wie er in praxi gehandhabt wird, spielt die Qualität der europäischen Personalpolitik der Mitgliedstaaten eine wichtige Rolle. In diesem Zusammenhang schneidet Deutschland seit längerem ungünstig ab. 23 Ein langjähriger Kenner der Brüsseler Verhältnisse, Hartmut Johannes, konstatiert seit einiger Zeit dieselbe Kurzsichtigkeit deutscherseits bei den Kandidaturen für Generaldirektoren: „Für Franzosen Karrierestufe, für Deutsche Abstellgleis“, FAZ v. 4.1.2001. Er sieht ähnliche parteipolitische Engführungen nur noch bei Belgien, Griechenland und Italien, während vor allem Frankreich und Großbritannien wesentlich mehr auf persönliche Qualitäten setzen, nicht zuletzt aus ihren langjährigen kolonialen Erfahrungen. Vgl. auch Neuss, Europa mit der linken Hand? Die deutschen Personalentscheidungen für die Kommission der EG, 1988. 24 Oben Anm. 10.

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1. Die „deutsche Delle“

Ungefähr seit den sechziger Jahren läßt sich innerhalb der Kommissionsverwaltung eine allmähliche Verschlechterung der geographischen Ausgewogenheit zu Lasten der Bundesrepublik feststellen. Das deutsche Defizit hat insbesondere seit den achtziger Jahren quantitativ und mit Blick auf die Lage bei den höheren Dienstposten auch qualitativ zugenommen. Es kann bisher noch nicht als dramatisch bezeichnet werden. Jedoch dürfte sich die Lage in der Zukunft infolge der sog. „deutschen Delle“ bei den unteren Rängen der A-Stellen weiter verschlechtern, falls nicht auf deutscher Seite durch eine europäische Personalpolitik mit langem Atem gegengesteuert wird. Einige Zahlen mögen die Situation erläutern, wobei sich zum Vergleich insbesondere die Werte für Frankreich und England anbieten.25 Bei einem Gesamtvergleich unter Anlegung aller sinnvollen Parameter ergab sich Ende der neunziger Jahre eine ungünstigere Position Deutschlands vor allem im Vergleich zu Frankreich, aber bis zu einem gewissen Grade auch zum Vereinigten Königreich, wenn man dessen Position als „spätes“ Mitglied ab 1973 mitbedenkt: – Deutschland: 22% EU-Bevölkerung; 28% EU-BSP; ca. 28% Haushaltsanteil; ca. 16% Sitze EP – ca. 13% A-Beamte Kommission. j – Frankreich: 16% EU-Bevölkerung; 18% EU-BSP; 18% Haushaltsanteil; 14% 53 Sitze EP – ca. 15% A-Beamte Kommission. – England: 16% EU-Bevölkerung; 13% EU-BSP; 11% Haushaltsanteil; 14% Sitze EP – ca. 11% A-Beamte Kommission.26 In den oberen Rängen der „halbpolitischen“ Generaldirektoren (A 1) läßt sich infolge der geringen Zahl dieser Stellen und wegen der hier besonders wichtigen persönlichen Kompetenz ein „gerechter“ Nationalitätenproporz kaum sinnvoll ermitteln. Bei den ebenfalls wichtigen Direktorenpositionen (A 2) war Deutschland 1998 hinter Frankreich und Großbritannien zurückgefallen. Für eine angemessene deutsche Präsenz innerhalb der Kommissionsverwaltung erscheint mittelfristig besonders bedenklich, daß sich der deutsche Anteil an den A-Stellen immer weiter verschlechtert, je „tiefer“ die Positionen sind (A 3 – A 8).27 Auf der Ebene der Referats- und Abteilungsleiter (A 4 – A 5) be25 Zu den Zahlen näher Neuss/Hilz (Anm. 8), inbes. S. 37 ff. Dort auch Behandlung vielfältiger weiterer Aspekte der Brüsseler Personalrekrutierung, auf die hier nicht eingegangen werden kann. 26 Auch anderwärts gibt es Ungereimtheiten des Nationalitätenproporzes. So ist z. B. die Zahl der belgischen A-Beamten in der Kommission mit 11% sehr hoch (infolge des Sitzortes Brüssel?), während für Spanien nur 9% und für die Niederlande 5% berechnet werden. 27 Die Zahlen im einzelnen bei Neuss/Hilz (Anm. 8).

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finden sich nicht nur erheblich weniger Deutsche als Franzosen in Kommissionsdiensten, sondern auch die Engländer und sogar die Belgier sind hier stärker repräsentiert. Bezeichnend für die „deutsche Delle“ ist insbesondere die im Vergleich zu Frankreich, aber auch z. B. zu Italien geringere Zahl an Deutschen, die seit einiger Zeit über das normale Einstellungsverfahren (Concours) in die Eingangsstellen A 8 und A 7 einrücken. Da im europäischen Dienstrecht vor allem bis zur Stufe A 4 die interne Beförderung die Regel ist, muß sich die „deutsche Delle“ im Laufe der Zeit nach „oben“ weiterverschieben und wird sich verstärken, solange nicht eine größere Zahl von Deutschen den regulären Einstieg in die Kommissionsverwaltung findet. Es wäre verfehlt, sich mit der Vorstellung zu beruhigen, legitimer deutscher Einfluß in Brüssel sei bereits gesichert, wenn der Nationalitätenproporz auf den oberen Ebenen (Kommissionsmitglieder und Generaldirektoren) hinreichend hergestellt werde. Die Europäische Gemeinschaft ist im wesentlichen Rechtsgemeinschaft, d.h. sie betreibt eine umfängliche Rechtsetzung und Entscheidungspraxis in hochkomplexen Sachgebieten wie Rechtsangleichung, Landwirtschaft, Wettbewerb oder Umweltpolitik. Dabei werden wichtige „Weichen“ immer wieder bereits auf der Expertenebene der mittleren und unteren Ränge gestellt. In solchen Zusammenhängen spielen auch ohne „böse Absichten“ nationales Rechtsdenken, Verwaltungstraditionen und überhaupt Auffassungen eine wichtige Rolle und gehen in die Kommissionsvorschläge ein. Revisionen auf der politischen Ebene des Parlamentes oder des Rates sind erfahrungsgemäß nur begrenzt bei besonders brisanten politischen Fragen möglich. Die geographische Ausgewogenheit ist daher für alle Ränge der Kommissionshierarchie bedeutsam. 2. Zu den Gründen für das deutsche Defizit

Bei der Frage nach den Gründen für den im Sinne der Ausgewogenheit zu geringen deutschen Personalanteil innerhalb der Kommissionsverwaltung führt kein Weg an der Feststellung vorbei, daß die wesentlichen Ursachen in Deutschland selbst zu suchen sind, nicht zuletzt im Fehlen einer durchdachten 54 und verstetigten Personalpolitik mit j Blick auf Brüssel. Es wäre unrichtig, nach irgendwelchen „antideutschen“ Planungen u. ä. zu suchen. In der Natur der Sache liegt freilich, daß bei Mitgliedstaaten, die es verstehen, ihre personalpolitischen Interessen gezielt zu verfolgen, gewisse Erfolge nicht ausbleiben28. 28 In diesem Zusammenhang werden öfters vor allem England und Frankreich, aber auch Spanien genannt. Sowohl in Paris als auch in London bestehen zentrale europapolitische Koordinierungsstellen, die sich auch personalpolitischen Fragen widmen. Im Falle Frankreichs bewirkt in informellem Sinne Manches die Verbundenheit der Absolventen der „Grandes Écoles“, insbesondere der „École Nationale d’Administration“ (ENA). In Großbritannien ist zur Unterstützung britischer Bewerber bei den Brüsseler Einstellungswettbewerben von Regierungsseite die „Fast Stream“-Initiative entwickelt worden. Sie fördert Kandidaturen für das Auswahlverfahren und bietet Hilfen bei der

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Es gibt verschiedene Gründe für das „hausgemachte“ deutsche Defizit bei der Präsenz in der „Bürokratie“. Nicht alle lassen sich mit konkreten Maßnahmen beheben oder verringern. Ein objektiver Negativfaktor liegt in der im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten geringeren Zahl junger Deutscher, die bereit sind, sich dem für deutsche Personalrekrutierung ungewohnten Concourssystem zu stellen.29 In diesem Zusammenhang ist ferner mitzubedenken, daß die Gehälter im deutschen öffentlichen Dienst z. T. erheblich höher liegen als in manchen anderen Mitgliedstaaten und daß die durch den Föderalismus der Bundesrepublik besonders aufgeblähte öffentliche Verwaltung immer noch bessere Bewerbungsmöglichkeiten bietet als anderwärts. Solche Faktoren dürften in Deutschland nicht selten einer Neigung entgegenwirken, sich in das frankophone Brüssel und in eine europäische Verwaltung zu begeben, in der trotz formaler Gleichberechtigung der deutschen Sprache ganz vorwiegend auf Französisch oder Englisch gearbeitet wird.30 Diese verschiedenen objektiven Faktoren gelten nicht nur für Bewerber beim Auswahlverfahren in Erstpositionen (A 8), sondern ähnlich für deutsche Beamte gehobener Kategorie, die für den ab der Stufe A 4 grundsätzlich möglichen (wenngleich in Brüssel ungern gesehenen) externen Seiteneinstieg in Frage kommen. Für diesen Personenkreis sind weitere Karriereüberlegungen bedeutsam, die mit der Haltung deutscher Ministerien und sonstiger Behörden zu einer Entsendung qualifizierter Kräfte nach Brüssel zusammenhängen. Dies gehört zu denjenigen Gründen für das deutsche Defizit, die durch Reformmaßnahmen aus Berlin beeinflußbar wären. V. Reformen beim Nationalitätenproporz? Es ist deutlich geworden, daß Verbesserungen in der Handhabung der geographischen Ausgewogenheit im Sinne von Art. 27 Beamtenstatut angesichts der Komplexität der Materie sehr viel schwieriger zu praktizieren sind, als es vordergründige Kritik am Brüsseler Status Quo gelegentlich einfordert. Das gilt besonders für die europäische j Ebene. Dagegen erscheinen einige Verbesserungen 55 bei der deutschen Personalpolitik gegenüber Brüssel möglich, wenn ihr mittel-

Vorbereitung auf den Concours. Die Ergebnisse können sich regelmäßig sehen lassen. Vgl. einiges bei Spence, Staff and Personal Policy in the Commission, in: Edwards/ Spence (ed.), The European Commission, 1994, 62 ff.; bei Neuss/Hilz (Anm. 8), S. 71 oder bei Johannes (Anm. 23). 29 Beim Auswahlverfahren 1993/94 standen z. B. 2368 deutsche Bewerber 5172 Franzosen, 4706 Spaniern, 4663 Belgiern und 3768 Engländern gegenüber. Die deutsche Erfolgsquote ist regelmäßig günstig, was Rückschlüsse auf die Qualität der – meist juristischen und wirtschaftswissenschaftlichen – Ausbildung zuläßt. Hierzu, auch zum folgenden Neuss/Hilz (Anm. 8) passim. 30 Hierzu näher Oppermann, Reform der EU-Sprachenregelung?, NJW 2001, 2663 ff.

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und längerfristiger Stellenwert innerhalb der deutschen Europapolitik höher eingeschätzt würde als bisher. 1. Eine „neue europäische Verwaltungskultur“

Auf der Ebene der Gemeinschaft dürften einer präzisen Handhabung der geographischen Ausgewogenheit nach festen Parametern und Grundsätzen schwer überwindbare Schwierigkeiten entgegenstehen, die bereits angesprochen wurden. Der Kranz der Leitprinzipien, die gemäß dem Beamtenstatut die Zusammensetzung des öffentlichen Dienstes der EG/EU regeln und jeweils im konkreten Fall zum Ausgleich zu bringen sind, ist wohlbegründet und bedarf keiner grundlegenden Änderungen. Die geographische Ausgewogenheit ist darunter nur ein – wichtiger – Teil. Abgesehen von den Änderungen des Nizza-Vertrages an der Spitze von Rat, Kommission und Parlament mit Blick auf die Osterweiterung sind Verbesserungen bei den europäischen Verwaltungsstrukturen durch Änderungen der Rechtsgrundlagen im Primär- oder Sekundärrecht kaum sinnvoll. Die geographische Ausgewogenheit innerhalb der EU-Bürokratie ist kein Thema für weitere institutionelle Reformen im „Post-Nizza-Prozeß“. Angesichts der Defizienzien innerhalb der Kommissionsverwaltung, die 1999 zum vorzeitigen Ende der Santer-Kommission führten, haben sein Nachfolger Prodi und das für die Verwaltung zuständige Kommissionsmitglied Kinnock auf der verwaltungspraktischen Ebene Reformen eingeleitet, die unter dem Stichwort „neue Verwaltungskultur“ der Kommission stehen.31 Die Grundsätze dieser Reformmaßnahmen nehmen eine eher kritische Haltung zu einer genaueren Beachtung des Nationalitätenproporzes ein. Vor allem soll das Leistungsprinzip durchweg der geographischen Ausgewogenheit vorgeordnet werden („Leistung vor Paß“). In diesem Rahmen wurde bereits eine weitreichende Neuorganisation der Generaldirektionen betrieben. Dabei ging es u. a. bei den Spitzenpositionen um den Wegfall der sog. „nationalen Erbhöfe“, wonach z. B. die Generaldirektion Landwirtschaft stets von einem Franzosen, die Handelspolitik von einem Deutschen geleitet worden war. Ferner sollen Kommissionsmitglied und der zuständige Generaldirektor nicht mehr derselben Nationalität angehören dürfen.32 Diese und ähnliche Prinzipien entsprachen der sehr eingegrenzten Vorstellung der geographischen Ausgewogenheit innerhalb der Prodi-Kommission, wonach Art. 27 Beamtenstatut Genüge getan sei, wenn jeder Mitgliedstaat mindestens auf einer der rund 50 Spitzenpositionen der Kommissionsverwaltung (General31 Grundlage ist der „Bericht der Weisen“ von 1999, der an die Grundsätze der OECD für Managementethik im öffentlichen Dienst anknüpft. 32 Dies führte beispielsweise dazu, daß der deutsche Generaldirektor von der Pas die Zuständigkeit für die Osterweiterung abgeben und zur Kultur wechseln mußte, nachdem die Erweiterung dem deutschen Kommissionsmitglied Verheugen anvertraut worden war.

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direktor oder Kabinettschef) vertreten ist.33 Im übrigen werde dem Leistungsprinzip der Vorrang gegeben. Ein solches abstrakt überlegenswertes Konzept setzt allerdings voraus, daß für die Leistungsbewertung zuverlässige nationalitätsneutrale Kriterien bestehen und angewendet werden. Ansonsten besteht j die 56 Gefahr eines noch freieren Ermessens der Kommission bei der Ernennungspraxis als bisher, womit nach allen Erfahrungen politischer und parteipolitischer Einflußnahme ein weites Feld eröffnet würde. Dabei wären Mitgliedstaaten, die schon seit längerem eine effiziente Politik der Besetzung Brüsseler Spitzenposten mit qualifizierten Landsleuten betreiben – wozu Deutschland bisher nicht gehört – ein weiteres Mal im Vorteil. 2. Aufwertung der deutschen Personalpolitik gegenüber Brüssel?

Aus deutscher Sicht erscheint daher angesichts der neuen Brüsseler „Verwaltungskultur“ der Aufbau einer kontinuierlich angelegten Personalpolitik gegenüber der EU-Verwaltung dringlicher denn je. Dabei geht es nicht um Machtoder Prestigefragen, sondern um die dauerhafte Sicherung eines legitimen Maßes von Einfluß auf die Rechtsetzung und Entscheidungspraxis der EU, von der Deutschland als mittlerweile größter Mitgliedstaat entsprechend betroffen ist. Die fortgesetzte Akzeptanz des europäischen Einigungswerkes und seines weiteren Ausbaues ist in einem weiteren Sinne auch davon abhängig, daß die EG/EU in der deutschen Öffentlichkeit nicht als eine ferne und fremde „Eurokratie“ empfunden wird, sondern daß die deutsche Gesellschaft sich mit der Brüsseler Europapolitik zu identifizieren vermag, weil sie ihre eigenen Interessen und Vorstellungen hinreichend darin wieder findet. Um das zu bewerkstelligen, bedarf es genügend Deutscher in Brüssel. Grundlegendes Ziel einer solchen Personalpolitik müsste sein, zunächst der seit den achtziger Jahren eingetretenen negativen Entwicklung Einhalt zu gebieten und auf eine allmähliche Verringerung des bereits bestehenden deutschen Defizits vor allem in der Kommissionsverwaltung hinzuarbeiten. Dabei bedarf die Wahrung eines angemessenen deutschen Anteils bei den Spitzenpositionen (A 1 und A 2) ebenso der Aufmerksamkeit wie die Gewinnung einer hinreichenden Zahl Erfolg versprechender Kandidaturen junger Bewerber für das Brüsseler Auswahlverfahren. Zu einer strategisch ausgerichteten Personalpolitik gehört im einzelnen ein ganzes Bündel abgestimmter Maßnahmen.34 Ihr Erfolg setzt vor allem anderen einen Sinneswandel in Berlin dergestalt voraus, daß eine angemessene Präsenz qualifizierter deutscher Bediensteter in der EU-Verwaltung als ein erstrangiges Desiderat deutscher Europapolitik angesehen wird. Es hätte sich in einer Reihe 33 34

Oben Anm. 13. Eingehende Überlegungen und Vorschläge bei Neuss/Hilz (Anm. 8), S. 73 ff.

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von „Vorfeldmaßnahmen“ zu konkretisieren. Mit Blick auf die normale Einstellungspraxis in Brüssel finge das mit einer gezielten europawissenschaftlichen und praktischen Förderung qualifizierten Nachwuchses in Bund und Ländern an. Sie müßte sowohl Bewerbungen zum EG-Concours als auch die laufenden EU-bezogenen Tätigkeiten in der deutschen Bundes- und Landesverwaltung ins Auge fassen.35 Nach vielen Eindrücken sind ferner beim wichtigen externen Seiteneinstieg in Brüsseler Positionen ab der Position A 4 in Deutschland j 57 mancherlei personalpolitische Verbesserungen denkbar. Dies gilt u. a. für die Bereitschaft, qualifizierte Bedienstete nach Brüssel gehen zu lassen, während der dortigen Zeit Regelbeförderungen zu ermöglichen und auch in geeigneten Fällen Rückkehrmöglichkeiten in die deutsche Bürokratie zu eröffnen.36 Organisatorisch setzt der Aufbau einer langfristig konzipierten deutschen Personalpolitik nach französischem und britischem Vorbild die Schaffung einer zentralen Koordinierungsstelle für europäische (und möglicherweise gleichzeitig internationale) Personalpolitik innerhalb der Bundesregierung voraus. Sie müßte hinreichend personell ausgestattet und gleichzeitig in ihrer Spitze hochrangig plaziert sein, um erforderlichenfalls den raschen Dialog mit der politischen Ebene zu sichern.37 35 Dabei kann auf mancherlei bereits vorhandene Ansätze sowohl in der deutschen Hochschulausbildung als auch in der verwaltungsinternen Weiterbildung aufgebaut werden. Innerhalb einzelner Bundesländer wurden bereits vor längerer Zeit Gesamtkonzepte erarbeitet, deren regelmäßige Fortschreibung angesagt wäre, vgl. z. B. „Baden-Württemberg im Europäischen Binnenmarkt – Analysen und Empfehlungen“ (Hrsg. Beraterkreis für EG-Fragen der baden-württembergischen Landesregierung), 1990. 36 Manche dieser Maßnahmen können mit Prinzipien des europäischen Dienstrechtes wie der grundsätzlichen Ablehnung der europäisch/nationalen Rotation kollidieren. Eine einfallsreiche Praxis hat jedoch auch in anderen Mitgliedstaaten Wege zeitweiliger Abordnung von Spitzenkräften nach Brüssel gefunden. Ein prominentes deutsches Beispiel war Ernst Albrecht, der aus den Diensten der Kommission den Weg an die Spitze der niedersächsischen Landespolitik fand. 37 Seit Mitte der neunziger Jahre hat es erste Ansätze sowohl im Auswärtigen Amt als auch im Bundeskanzleramt zur Schaffung einer kohärenten europäisch/internationalen Personalpolitik der Bundesrepublik gegeben (Betreuungskonzept des AA für deutsche EU-Bedienstete, Gesprächskreis für internationale Personalpolitik im BKA, inzwischen die sog. „Steinmeier-Runde“). Ähnliche Bemühungen gibt es z. T. auf Länderebene über die Arbeit ihrer Länderbüros in Brüssel. Insgesamt handelt es sich aber bisher um punktuelle Bemühungen, vor allem bei „politischen“ Einzelfällen zugunsten der Besetzung von Spitzenpositionen. Es fehlt die ständige Verwaltungsinfrastruktur und feste Zuordnung einer solchen Koordinierungsstelle, um eine strategische Personalpolitik breiten Stiles zu ermöglichen. Sachgemäß wäre die Zuordnung zum Bundeskanzleramt, da Europapolitik längst keine reine Außenpolitik mehr ist, sondern die meisten Ressorts betrifft. Im BKA könnte am ehesten Fachegoismen im Interesse qualifizierter deutscher Präsenz in Brüssel entgegengetreten werden. Die deutsche Ständige Vertretung in Brüssel bei der EU müsste in mancherlei Zusammenhängen eng mit der Koordinierungsstelle zusammenarbeiten. Zum Ganzen auch Weidenfeld (Hrsg.), Deutsche Europapolitik: Optionen wirksamer Interessenvertretung, 1998.

Die Deutschen in Brüssel

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VI. Personalpolitik und Europapolitik Bei aller Bedeutung der hier behandelten und befürworteten Begründung einer kontinuierlichen und zielbewußten deutschen Personalpolitik mit Blick auf legitime Einbringung von Vorstellungen der Bundesrepublik in die Brüsseler Bürokratie darf nie vergessen werden, daß sie immer nur ein Hilfsmittel im Rahmen einer kraftvollen Europapolitik von deutscher Seite sein kann und nicht ein „Ersatz“ für diese. Die erfolgreichen deutschen Beiträge zur europäischen Einigung bisher unter Adenauer, Schmidt und Kohl beruhten auf inhaltlichen Zielsetzungen, die in überzeugende Konzepte gegossen wurden.38 Überlegte Personalpolitik kann jedoch bei der praktischen Umsetzung der Sachpolitik wichtige Dienste leisten. Dies gilt inzwischen besonders im Rahmen der EU, in der gemäß der erreichten Kompetenzverteilung viele Initiativen nicht mehr direkt in den nationalen Hauptstädten verwirklicht werden können, sondern ab einem bestimmten Zeitpunkt von den europäischen Organen aufgegriffen werden müssen. Dabei spielt die Kommission wegen ihres Vorschlagsmonopols bei der europäischen Rechtsetzung (Art. j 250 EGV) eine zentrale Rolle. In diesem 58 Zusammenhang bedarf es in der Kommissionsverwaltung Ansprechpartner, die fähig sind, nationale oder auch europäische Anliegen richtig einzuschätzen und sie gegebenenfalls auf den Weg zu bringen. Der europäische öffentliche Dienst hat seit seinen Anfängen unter Monnet in Luxemburg und Hallstein in Brüssel zahlreiche hoch qualifizierte Europabeamte in seinen Reihen gekannt, die maßgeblich zu den großen Erfolgen der Integration seit den fünfziger Jahren beigetragen haben.39 Unter ihnen befanden sich vom Generaldirektor bis zu anderen Rängen eine große Zahl deutscher „Europäer“, die wie etwa von Donat, Ehlermann, Ernst, Krenzler oder Thiesing (um nur einige inzwischen Ausgeschiedene zu nennen) keinen Vergleich mit den Kollegen aus den anderen Mitgliedstaaten zu scheuen brauchten. Das hindert nicht, das inzwischen quantitativ festzustellende „deutsche Defizit“ innerhalb der EU-Verwaltung in der absehbaren weiteren Entwicklung für bedrohlich zu halten und darüber nachzudenken, wie ihm im Interesse der Akzeptanz der europäischen Einigung in Deutschland begegnet werden könnte. Wer den weiteren Erfolg der Europäischen Union im neuen Jahrhundert fördern möchte, muß daran interessiert sein, daß sich der nun einmal größte Mitgliedstaat in Brüssel angemessen repräsentiert sieht, so daß seine Beiträge zur Fortentwicklung der Gemeinschaft für die deutsche Bevölkerung sichtbar und verständlich bleiben. Dies sicherzustellen, gehört nicht zu den geringsten Aufgaben, die heute der Berliner Europapolitik gestellt sind. 38 Bärenbrinker/Sakubowski, Die Geschichte der europäischen Integration, Integration 1998, 103 ff. 39 Heyen (Hrsg.), Die Anfänge der Verwaltung der Europäischen Gemeinschaft, 1992.

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Du Plan Schuman au Traité d’Amsterdam: La coopération franco-allemande, moteur de l’intégration européenne* Beitrag zu einem Colloquium mit der Tübinger Schwesterfakultät Aix-en-Provence, der den deutsch-französischen Impulsen für die europäische Einigung 1950–1998 nachgeht.

Monsieur le Président, Monsieur le Doyen, Herr Gesandter, Herr Generalkonsul, Chers Collègues, Mesdames et Messieurs, Avant d’aborder le thème qui nous occupe aujourd’hui, permettez-moi en introduction à ce colloque célébrant 40 ans de jumelage entre nos deux universités, et plus particulièrement entre nos deux facultés, d’exprimer quelques sentiments personnels. I. Aix – Tübingen: Coopération franco-allemande «en miniature» 154,154 D’une certaine façon, ce jumelage fait partie intégrante du thème que mon très cher ami Louis Dubouis et moi-même sommes convenus de traiter ici, à savoir un demi-siècle de coopération franco-allemande et d’intégration européenne à l’aube du nouveau millénaire. Cette grande entente franco-allemande, véritable miracle de l’histoire européenne de l’après-guerre, n’est pas seulement à porter au crédit des grands hommes, Konrad Adenauer et Robert Schuman hier, Jacques Chirac, Lionel Jospin et Helmut Kohl aujourd’hui. j 32

Bien plus, la promotion d’une coopération durable nécessite une solide organisation capable de reçevoir un écho favorable au sein des peuples de nos deux pays. L’adhésion pleine et entière de ces derniers, ainsi que l’engagement des différents milieux professionnels et notamment universitaires, sont les clefs de la réussite d’une telle entreprise. Quarante années de jumelage entre nos deux universités ont, d’une certaine façon, contribué à la bonne entente générale de nos deux pays. Il faut dès lors s’interroger sur les raisons d’un tel succès. * L’auteur remercie M. Sylvain Beltrame d’Aix-en-Provence, qui l’a très aimablement assisté dans l’élaboration du texte français. – Erstmals erschienen in: La Coopération Franco-Allemande en Europe à l’Aube du XXIè Siècle – Colloque du 40è Anniversaire du Jumelage des Facultés de Droit Aix-en-Provence – Tübingen, Presses Universitaires d’Aix Marseille 1998, 31–39.

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Comment expliquer que depuis quatre décennies, des échanges réguliers d’étudiants et de collègues, sans oublier les épouses, soient venus animer les relations entre nos deux villes? Cette question, je me la suis bien souvent posée depuis 1969, date à laquelle en réponse à votre aimable invitation, je me suis rendu pour la première fois à Aix, en compagnie de Monsieur le recteur Otto Bachof qui, à notre grande joie, a accepté d’être de nouveau des nôtres aujourd’hui. Certains facteurs objectifs ont, sans aucun doute, facilité la réussite de notre étroit jumelage. Certes, Aix et Tübingen sont des villes assez complémentaires, dans la mesure où elles sont toutes deux de taille moyenne, mais néanmoins de grands pôles universitaires, situées chacune a proximité d’une autre grande ville: Marseille et Stuttgart. Un tel choix n’est pas fortuit: tant par l’esprit d’ouverture qui les unit que par la qualité de leurs activités grâce à laquelle elles ont pu s’imposer dans la compétition universitaire de leur pays respectif, nos deux villes se ressemblent et se complètent. Mais il y a plus: il me faut saluer les personnes qui, par leurs efforts constants, ont dès ses débuts initié et soutenu ce jumelage. Permettez-moi de reprendre ici ce que disait Ernest Renan à propos des nations: un jumelage comme le nôtre est un «plébiscite de tous les jours». Sans l’engagement de ces hommes et de ces femmes, une coopération comme la nôtre ne saurait pas durer. Bien entendu, je pense avant tout a nos étudiants! Chaque année, de nombreux étudiants de Tübingen viennent a Aix et sont admirablement bien accueillis et intégrés au sein de la Faculté, grâce a l’aide précieuse de Monsieur le Professeur Jacques Bourrinet et de son équipe. Parallèlement des étudiants aixois, certes moins nombreux, – la Schwäbische Alb n’a pas le charme du midi de la France –, se rendent a Tübingen et sont là-bas placés sous les soins attentifs de mon collègue Hans von Mangoldt. Ces échanges constituent l’un des piliers de notre jumelage et représentent surtout la promesse de son avenir. De plus, notre jumelage dépasse le cadre d’un simple échange entre étudiants: l’engagement et la participation de nos collègues d’Aix et de Tübingen lui ont permis d’être ce qu’il est devenu: une remarquable j œuvre commune, comme en témoigne le colloque qui nous ras- 33 semble aujourd’hui. Mais laissez-moi vous raconter ma première impression des relations entre nos deux facultés: ce fut a l’occasion de la visite à Tübingen de Monsieur le recteur Fabre au cours de l’année agitée de 1968 lorsqu’il défendit brillamment la Constitution de la Cinquième République devant un public d’étudiants allemands critiques vis-à-vis du Général de Gaulle. J’ai alors compris l’importance de ce jumelage et la nécessité d’y participer.

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Il n’est pas dans mon intention de citer la longue liste de noms de ceux qui out enrichi et consolidé notre jumelage depuis toutes ces années, des fondateurs Pierre Kayser et Otto Bachof à leurs successeurs actuels Maurice Flory et Wolfgang Graf Vitzthum. Laissez-moi simplement vous dire, chers collègues aixois d’aujourd’hui et d’hier, que c’est avec beaucoup d’émotion et un sentiment de profonde reconnaissance que je me trouve, une nouvelle fois, dans cet amphithéâtre pour vous présenter ces quelques observations sur le couple franco-allemand qui est le moteur de l’intégration européenne. Monsieur le Professeur Louis Dubouis et moi-même avons convenu d’aborder, de manière assez informelle, les deux aspects, allemand et français d’un même phénomène extraordinaire: l’entente entre nos deux pays. Longtemps ennemis, ceux-ci ont influencé de façon décisive le processus de l’inté-gration européenne depuis les Traités de Paris et de Rome jusqu’aux Traités plus récents de Maastricht et d’Amsterdam. Ainsi permettez-moi, Mesdames et Messieurs, de vous exposer les trois principaux aspects de ce thème: 1. L’entente franco-allemande après-guerre a été le fruit d’un consensus heureux et incessant entre des hommes d’État qui ont su trouver appui au sein de leur opinion publique. 2. Malgré des situations objectivement divergentes, l’Allemagne et la France ont toujours considéré le modèle de l’intégration européenne comme le ferment de leur avenir commun. Inversement, les relations particulières entre nos deux pays se sont développées dans l’intérêt de la construction européenne. 3. La réunification de l’Allemagne et la perspective d’une grande Europe, depuis la chute du communisme en Europe de l’Est au début des années 1990, représentent aujourd’hui un nouveau défi pour la coopération franco-allemande au sein de la Communauté européenne. C’est pourquoi le rôle de nos pays en tant que «moteur du développement futur de l’Union européenne» demeure plus nécessaire que jamais. j 34

II. Les «grands couples» franco-allemands 1950–1997 L’histoire est-elle le produit de facteurs objectifs ou est-elle l’œuvre de grands hommes? Le débat n’est pas clos. Probablement s’agit-il d’un mélange des deux. Le souvenir du rapprochement franco-allemand à ses débuts, dans les années 40 et 50, nous incite a mettre l’accent sur le facteur humain. Ce n’est pas un hasard si le processus de l’intégration européenne naquit de la Déclaration Schuman du 9 mai 1950 et fut accepté «de tout cœur» par Kon-

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rad Adenauer. Ces deux hommes savaient, par leur histoire personnelle, qu’il était dans l’intérêt commun de nos pays de ne pas oublier un passé douloureux. Mais surtout, tous deux étaient persuadés de la nécessité de construire un avenir meilleur. Robert Schuman, né en Lorraine, avait longtemps vécu dans l’Empire Allemand de Bismarck avant de devenir homme politique français. Konrad Adenauer, rhénan, sceptique face à l’hégémonie prussienne, fut sous la République de Weimar parfois soupçonné de nourrir des sentiments séparatistes et parfois trop francophiles. Sans oublier Alcide de Gasperi qui, par ses origines du Nord-Est de l’Italie, a vécu l’antagonisme austro-italien du début du siècle. Ces trois hommes savaient que l’histoire est pleine d’enseignements. Comme souvent depuis, la France a été à l’origine de l’intégration européenne. L’impulsion décisive fut donnée par Robert Schuman, aidé de Jean Monnet et Pierre Uri. Leur proposition de créer une Haute Autorité supranationale pour le Charbon et l’Acier fut la première étape et le véritable fondement d’un processus d’unification européenne ouvert aux autre États de l’Europe. Pour l’Allemagne à peine sortie du nazisme, l’occasion se présentait d’entrer sur un pied d’égalité dans le concert des nations européennes. Ainsi la jeune République fédérale des années 50, sous l’impulsion d’Adenauer, de Hallstein et de bien d’autres encore, devint rapidement le plus fervent défenseur de cette intégration. Il en allait de son intérêt. De son côté, la France victorieuse eut la grande sagesse politique d’offrir a l’ennemi d’hier les moyens d’une coopération durable. Évidemment le couple franco-allemand, à la fin des années 50, formé de de Gaulle et d’Adenauer, se distingue de ses précurseurs. La philosophie fédéraliste des débuts perdait de son attrait et se voyait supplantée par l’idée d’une Europe des patries. En témoignent l’échec de la C.E.D. en 1954 et la crise de la chaire vide en 1965. Mais, au-delà des considérations techniques et juridiques, le grand Général français et l’ancien maire de Cologne étaient de cette même génération qui a vécu et souffert pendant les deux grandes j guerres de ce siècle. Même s’il ne 35 croyait pas vraiment aux vertus de l’intégration européenne, comme l’avaient imaginée Monnet, Spaak et Hallstein, de Gaulle était, à sa manière, un européen convaincu. Il fit rapidement sienne l’idée française d’après-guerre de la coopération franco-allemande. Le Traité de l’Elysée, signé en 1963 et aujourd’hui encore en vigueur en est le signe le plus marquant. Une nouvelle politique étrangère était née des deux côtés du Rhin. Elle a, depuis lors, survécu aux années de crises et même su trouver écho chez les moins enthousiastes des hommes politiques, tels que Ludwig Erhard en Allemagne. Est-ce encore le fruit d’un hasard historique qui permet d’expliquer l’apparition, dès 1974, d’un troisième tandem franco-allemand sur la scène

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européenne? A moins qu’il ne s’agisse d’une situation historique objective qui révèle les grands hommes? Toujours est-il que Valéry Giscard d’Estaing et Helmut Schmidt ont profondément marqué le processus d’intégration. Laissons cette éternelle question et constatons simplement que la génération marquée par la Seconde Guerre mondiale se lança sans difficultés sur les traces des ses prédécesseurs. Le moteur franco-allemand œuvrant dans l’intérêt de la construction communautaire n’a pas mal fonctionné durant les années 70: instauration du Conseil européen, élections du Parlement européen au suffrage universel direct, création du Système monétaire européen. Deux hommes, une fois encore, malgré leurs divergences, se sont rejoints dans une idée commune. Ils étaient, certes, plus technocrates que la génération antérieure. Mais ils étaient animés de la même volonté et de la même sagesse politique pour avancer ensemble dans l’intérêt de leurs pays et de la Communauté en général. L’alternance politique au début des années 80, socialiste en France, conservatrice en Allemagne, a permis la naissance du fameux couple Kohl–Mitterrand, très vite uni, à l’image de leurs prédécesseurs, par leurs profondes convictions européennes. L’adhésion à l’idée européenne transcende ainsi les divisions partisanes. Cette continuité dans l’engagement européen, malgré l’appartenance à des familles politiques divergentes, souligne une fois encore le caractère spécifique de cette entente franco-allemande, qui dépasse les vicissitudes de la politique quotidienne. La guerre froide, il est vrai, favorisait l’unité et la solidarité européennes. Mais il y a d’avantage; d’une part, il y a eu le grand projet de marché intérieur à l’instigation de Jacques Delors qui fut, après Walter Hallstein, le deuxième président d’envergure de la Commission européenne. Les deux hommes ont sans doute formé un autre couple franco-allemand, qui a largement influencé la politique communautaire. j 36

D’autre part, la signature du Traité de Maastricht aura été la réponse européenne au grand tournant de l’Europe de l’Est après les événements de 1989. Il s’agissait encore d’un projet qui, dans ses grandes lignes, correspondait à une approche française, mais qui fut adopté par l’Allemagne, tout juste réunifiée. Encore une fois, l’entente franco-allemande, symbolisée par ces deux hommes, s’est avérée décisive pour la continuation d’une œuvre commencée il y a 40 ans et aujourd’hui confrontée au grand tournant de l’histoire européenne et mondiale. Le Traité d’Amsterdam aujourd’hui, et l’Union économique et monétaire demain ne sont au fond que la réalisation du grand dessein de Maastricht. D’ailleurs, le vrai succès d’Amsterdam ne réside pas tant dans la réalisation d’un nouveau texte, qui demeure assez maigre; il confirme plutôt les promesses de Maastricht.

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III. La réussite d’une entente de partenaires inégaux Si, rétrospectivement, ces cinquante années d’entente franco-allemande paraissent évidentes et irréversibles, il ne faut jamais oublier que nos grandes divergences rendaient, à première vue, une telle coopération improbable. D’une part une France conviée à la table des vainqueurs a l’issue de la Seconde Guerre mondiale, membre permanent du Conseil de sécurité des NationsUnies, bientôt dotée d’un armement atomique, une puissance défendant des intérêts à l’échelle mondiale et, point important, co-détenteur, avec les trois autres puissances d’occupation, de la souveraineté allemande. D’autre part une Allemagne vaincue, déshonorée par son passé immédiat, un pays divisé par le rideau de fer, dépendant de ses voisins a maints égards. On ne peut que saluer, aujourd’hui, la clairvoyance de la politique française qui de Robert Schuman à l’heure actuelle, a su tendre la main à son voisin affaibli et lui offrir de coopérer sur une base toujours plus égale. Elle a également inventé ces structures communautaires au sein desquelles les nations européennes, plus ou moins grandes, ont pu unir leurs efforts économiques et politiques tout en préservant leur identité nationale. Du côté allemand, d’Adenauer à Kohl, en ce sens véritable petit-fils du premier chancelier, la grande majorité des hommes politiques a su heureusement comprendre le caractère crucial des relations avec la France, tant pour le redressement économique et politique de l’Allemagne que pour promouvoir un équilibre viable et définitif au sein de notre continent. Ainsi s’est développée dans notre pays une politique étrangère qualifiée par l’historien Hans Peter Schwarz de «nouvelle tradition d’après-guerre». Tous les partis politiques allemands voient dans l’entente avec la France, fondée par Adenauer et poursuivie par tous ses j successeurs, la clef de 37 l’intégration européenne et de l’établissement d’un ordre pacifique sur le continent. IV. Double nécessité du «moteur communautaire» franco-allemand dans une grande Europe Tant que l’Europe s’est trouvée divisée par les ambitions du communisme soviétique, la nécessité d’une entente étroite avec la France s’est imposée en Allemagne. Jusqu’en 1989, la sécurité de la République fédérale a dépendu en tout premier lieu de l’appui militaire américain, garanti par l’OTAN. Cependant, c’est dans l’intégration européenne, largement conditionnée par les initiatives du couple franco-allemand, que l’Allemagne a pu fonder la stabilité de son développement économique et politique.

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La chute du communisme à l’Est et la réunification allemande ont profondément modifié cette situation. Sur le plan militaire, pour autant que l’on puisse le prévoir, la menace à l’Est a pratiquement disparu. Ainsi la République de Bonn, qui sera transformée en République de Berlin à l’aube du siècle prochain, doit-elle redéfinir sa politique en faveur de l’unification européenne. Peut-être cette contrainte est-elle heureuse. Tant la politique menée par le gouvernement Kohl au cours des années 90 que les idées défendues par l’opposition révèlent la permanence, au sein de l’opinion publique, du consensus en faveur de l’intégration européenne. La République de Berlin conservera la Constitution de Bonn, dont le Préambule et le nouvel article 23, adoptés en 1992 à la quasi-unanimité par le Parlement, réaffirment l’adhésion à l’idée de l’Union européenne. Cette adhésion résiste donc aux tensions causées par les perspectives de la disparition du Deutschmark, symbole identitaire du succès de l’Allemagne d’après-guerre. Il est surtout clairement apparu qu’aucune alternative à la continuation du processus d’intégration ne s’offre à l’Allemagne. Un simple coup d’œil sur la carte de l’Europe suffit à montrer que l’adhésion des nouvelles démocraties de l’Europe de l’Est constitue le premier défi du siècle à venir, malgré toutes les difficultés économiques, financières et structurelles liées a ce processus. Le second apport important au sommet d’Amsterdam est d’avoir, avec quelque peine il est vrai, ouvert la porte à ces négociations d’adhésion. Là encore, on peut mettre en évidence une communauté d’intérêt entre la France et l’Allemagne. Le grand espoir des pays de l’Est est l’entrée dans cette coopération multilatérale qui caractérise la Communauté. Au-delà de simples relations de bon voisinage avec l’Allemagne réunifiée, ces pays aspirent à une 38 intégration dans j l’Europe toute entière. Pour l’Allemagne cependant, la coopération multilatérale et l’ouverture des frontières, inhérentes à l’Union européenne, constituent le meilleur cadre pour mettre un terme définitif au chapitre douloureux, ponctué par deux guerres mondiales, de la fixation des frontières orientales. Sans doute, la France ne peut-elle que se féliciter d’un tel développement. Surtout dans la Communauté de vingt membres, peut-être plus, qui se dessine avec l’élargissement a l’Est, la nécessité d’un moteur se fait sentir plus que jamais afin d’atteindre cette «Union toujours plus étroite» dont parle le Préambule du Traité de Maastricht. L’affirmation formulée par le Général de Gaulle dans les années 60, selon laquelle on ne peut faire une fédération sans fédérateur, demeure juste. Certes, il faut admettre que l’Union est encore loin de constituer une fédération et que, même dotée d’une monnaie unique, elle ne formera probablement jamais un super-État.

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D’autre part, la Communauté est beaucoup plus qu’une organisation internationale de type classique; l’Union bâtie depuis un demi-siècle en Europe connaît aujourd’hui une densité de relations intra-communautaires qui tient davantage des rapports internes à un État que des relations internationales. Pour fonctionner, et plus encore pour progresser, une entité politique de ce type a besoin d’un „noyau“ d’où proviennent des idées nouvelles, des impulsions et des initiatives. C’est l’idée du moteur, sans doute peu éloignée du «Fédérateur» évoquée par le Général de Gaulle. Un État membre, qu’il s’agisse de l’Allemagne ou de la France, serait à la fois trop isolé et trop national pour assumer ce rôle à lui seul. La France et l’Allemagne, en revanche, ne sont pas seulement des puissances comparables œuvrant à une tâche commune, mais elles ont également deux approches différentes du monde, deux mentalités spécifiques, des intérêts parfois divergents, bref, un ensemble susceptible de constituer l’essence de l’Union européenne. La France, liée au monde latin au sens large du terme, l’Allemagne, regardant souvent vers le Nord et vers l’Est; la France qui, du plan Schuman à l’Union monétaire, a été le foyer des grandes idées et des grands projets de la Communauté, l’Allemagne à son tour défendant des options fondamentales telles que l’élargissement de la Communauté, le libre-échange mondial, ou, plus récemment, la stabilité monétaire. L’entente trouvée entre ces deux grands pays fondateurs de l’Union répond probablement à l’intérêt général de la Communauté et offre les perspectives d’un développement ultérieur. Au regard de l’histoire commune des cinquante dernières années, également si on regarde les réussites les plus récentes, il est permis d’espérer que nos j deux pays continueront à bien servir la Communauté 39 au cours du siecle à venir. Au-delà d’une simple coopération conduite par la seule logique des intérêts calculés, le couple franco-allemand s’est transformé en une entente souvent cordiale entre des peuples et des dirigeants qui ont appris du passé que seule une Union de type communautaire, telle qu’elle a été fondée et développée à Paris, à Rome, à Maastricht et aujourd’hui à Amsterdam, peut garantir pour un temps indéfini, comme l’énonce l’art. 240 du Traité instituant la CE, l’état de paix, de sécurité et de bien-être économique qui marque la différence, sur notre continent, entre l’époque antérieure à la Seconde Guerre mondiale et la nôtre. Bibliographie Hrbek, Rudolf: Der Vertrag von Amsterdam – eine neue Etappe im EU-Integrationsprozeß, Wirtschaftsdienst 1997, 378. Magiera, Siegfried/Siedentopf, Heinrich (éds.): Die Zukunft der Europäischen Union, 1997.

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II. Personen und Mächte

Mosler, Hermann: Die europäische Integration aus der Sicht der Gründungsphase, Festschrift Everling, 1995, 911. Oppermann, Thomas: Perspektiven der Europäischen Rechtsordnung nach Maastricht II, in: Universität Graz (éd.), EU-Recht, Erfahrungen und Perspektiven, 1997, 35. Pfeil, Werner: 40 Jahre Römische Verträge: Der deutsche Beitrag, Integration 1997, 193.

Sinn und Grenzen einer EG-Angehörigkeit

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Der Weg des ursprünglichen „Marktbürgers“ (Hans Peter Ipsen) zum späteren Unionsbürger. Gleichzeitig Benennung der Grenzen einer „EG-Angehörigkeit“ zur nationalen Staatsbürgerschaft.*

Von Hause aus ist Karl Doehring mehr Völker- als Europarechtler. Langjähriger Direktor am Heidelberger völkerrechtlichen Max-Planck-Institut, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht 1981–1985, Membre de l’Institut de Droit International, Autor des wohl „völkerrechtlichsten“ deutschen Staatsrechtslehrbuchs1, das sind einige der äußeren Insignien, die den im Inund Ausland hochgeschätzten Jubilar als einen der führenden deutschen Internationalisten ausweisen. Gleichzeitig hat Doehring jedoch an den Fragen der europäischen Einigung seit langem Anteil genommen und die besondere Art der Fragestellungen klar erkannt, welche das europäische Gemeinschaftsrecht mehr und mehr „zwischen“ Völkerrecht und Staatsrecht als eine eigenständige Rechtsschicht einordnen. Innerhalb des „realen Status der Völkergemeinschaft, die sich immer noch aus koordinierten Gemeinwesen, aus Staaten, zusammensetzt“, sieht er die moderne (west)europäische Sonderentwicklung, nach der „die volle Souveränität im Sinne der klassischen Auffassung von der nationalen Staatsmacht in den vom Europarecht geregelten Materien nicht mehr vorhanden ist“2. Im Rahmen dieser Zusammenhänge galt und gilt Doehrings spezielles Interesse gerne wichtigen Kollisionspunkten im Spannungsverhältnis zwischen Nationalität und Supranationalität. So suchte er in der Präambel des Grundgesetzes den character indelebilis des Wiedervereinigungsgebotes auch gegenüber dem Integrationsbekenntnis zu wahren3, oder bei der Frage der Gewährung des nationalen j Kommunalwahlrechts an europäische Ausländer zu Lösungen über 714 das klassische Instrumentarium des Staatsangehörigkeitsrechts (Einbürgerung u. a.) zu gelangen4. So mag es den Neigungen des Jubilars entsprechen und sein Interesse finden, in dieser Festschrift mit der Frage nach Sinn und Grenzen ei* Erstmals erschienen in: Hailbronner u. a. (Hrsg.), Staats- und Völkerrechtsordnung, Festschrift Karl Doehring, 1989, 713–724. – With kind permission of Springer Science and Business Media. 1 K. Doehring, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsvergleichung und des Völkerrechts, 3. Aufl. 1984. 2 Einerseits K. Doehring, Die staatsrechtliche Stellung der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland, VVDStRL 32 (1974), 8; andererseits ders. (Anm. 1), S. 81. 3 K. Doehring, Die Wiedervereinigung Deutschlands und die Europäische Integration als Inhalte der Präambel des Grundgesetzes, DVBl. 1979, 633 ff.; ders., Die Wiedervereinigung Deutschlands und die europäische Integration, NJW 1982, 2209 ff.

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ner „EG-Angehörigkeit“ eine Thematik anzusprechen, in der sich Aktualität und Grundsätzlichkeit des europäischen Einigungsprozesses gleichermaßen spiegeln. I. Auf dem Wege vom „Marktbürger“ zum „EG-Angehörigen“ Bekanntlich besteht eine der „staatsnahen“ Besonderheiten der Europäischen Gemeinschaft, die ihr im internationalen Leben ihr unverwechselbares Profil verleihen, darin, daß nicht nur die Mitgliedstaaten im klassisch-völkerrechtlichen Sinne, sondern in bestimmtem Umfang auch ihre Staatsangehörigen und juristischen Personen „Mitglieder“ der Gemeinschaft sind5. Von der unmittelbaren Geltung des Gemeinschaftsrechts für die Angehörigen der Mitgliedstaaten über deren direkten Zugang zum Europäischen Gerichtshof bis hin zum Wahlrecht zum Europäischen Parlament ist dieser europäische Status der Einzelpersonen vielerorts mit Händen zu greifen. Hans Peter Ipsen hat hierfür schon früh den griffigen Terminus des „Marktbürgers“ geprägt6. In der allgemeinen Entwicklung der EG während der siebziger und achtziger Jahre in Richtung auf das Fernziel der „Europäischen Union“, wie es seit 1986/87 in Art. 1 der Einheitlichen Europäischen Akte verbindlich niedergelegt worden ist, hat sich diese Marktbürgerschaft allmählich in ihrem Inhalt so weit angereichert, daß die Frage nach ihrer qualitativen Umwandlung in eine über das Wirtschaftliche hinausgehende „EG-Bürgerschaft“ oder „EG-Angehörigkeit“ mehr und mehr gestellt wird7. Im Grunde geht es dabei um nichts anderes als um die vielerörterte Problematik des Wesens der Gemeinschaft, von der personalen Seite her gesehen. j 715

1. Die wirtschaftlich-soziale Personenfreiheit als Ausgangspunkt einer EG-Angehörigkeit

Seit den Anfängen der Gemeinschaft vor über 30 Jahren prägt sich die „Marktbürgerschaft“ vor vielem anderen in der Freizügigkeit der Arbeitnehmer gemäß Art. 48 ff. EWGV und in der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit der Selbständigen nach Art. 52 ff., 59 ff. EWGV aus. Diese grundlegenden Personenfreiheiten sind im wesentlichen seit dem Ende der ursprünglichen Über-

4 K. Doehring, Nationales Kommunalwahlrecht für europäische Ausländer?, in: Festschrift Kutscher (1981), 109 ff. 5 Dazu eingehend schon E. Grabitz, Europäisches Bürgerrecht zwischen Marktbürgerschaft und Staatsbürgerschaft, 1970. 6 H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, bes. S. 742 ff. 7 Gesetz zur Einheitlichen Europäischen Akte vom 28.2.1986, BGBl. 1986 II 1102; grundsätzlich etwa C. Tomuschat, La libre circulation et le statut politique des ressortissants communautaires, Cahiers de Droit Européen 1976, 58 ff.; T. Oppermann, Vom Marktbürger zum EG-Bürger?, Ipsen-Symposium, 1988, 87 ff.

Sinn und Grenzen einer EG-Angehörigkeit

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gangszeit der EWG 1968/70 verwirklicht8. Sie sollen primär dazu beitragen, die wirtschaftliche Integration der Mitgliedstaaten voranzutreiben. Mittels der Mobilität der Arbeitnehmer und der selbständig Tätigen sollen die Auslastung der Produktionsstätten optimiert, Neugründungen gemeinschaftsweit erleichtert und damit der Wohlstand gefördert werden. Der Wanderarbeitnehmer wird deshalb von den Vertragsvorschriften vorrangig in seiner Funktion als „Produktionsfaktor Arbeit“ gesehen. Die Einräumung des Rechts auf Inländergleichbehandlung in bezug auf die Arbeits- und sonstigen Tätigkeitsbedingungen ermöglichte den Wanderarbeitnehmern und den Selbständigen jedoch die dauerhafte Eingliederung in die Arbeitswelt des Aufnahmelandes. Der Marktbürger richtete sich seßhaft im Gastland ein, da er dort die besten Voraussetzungen für die Schaffung und Erhaltung seiner materiellen Lebensgrundlage fand. Je mehr Wanderungsbewegungen zum Stillstand kamen und die Freizügigkeitsberechtigten auf Dauer im aufnehmenden Mitgliedstaat blieben, desto mehr rückten die EG-Ausländer als „EGBürger“ und nicht mehr nur als „Marktbürger“ ins Blickfeld. Zusätzlich zur Gleichstellung im beruflichen Bereich strebt man daher inzwischen ihre Integration auf gesellschaftlichem und allgemein-politischem Gebiet an. Die Gemeinschaft soll zu einem „Europa der Bürger“ werden, in welchem der einzelne die EG auf Grund konkreter Erfahrungen als „seine Sache“ begreifen kann9. So löste z. B. der Europäische Gerichtshof den Begriff der „sozialen Vergünstigung“ in Art. 7 Abs. 2 der grundlegenden Freizügigkeitsverordnung Nr. 1612/68 von einer notwendigen Verbindung mit einem Arbeitsvertrag10. Ebenso räumte die VO Nr. 1612/68 in ihren Art. 10 ff. neben den Wanderarbeitnehmern auch ihren Familienangehörigen gewisse Rechte ein. Sie dürfen bei den eigentlich Freizügigkeitsberechtigten Wohnung nehmen, die Kinder haben Anspruch auf Teilnahme am j allgemeinen Schulunterricht sowie an der 716 anschließenden Berufsausbildung, die aus EG-Sicht auch ein Studium einschließt11. Diese Entwicklung entspricht der Zielsetzung der Gemeinschaft in der Präambel des EWG-Vertrages, wonach neben dem wirtschaftlichen auch der soziale Fortschritt und neben der Besserung der Beschäftigungssituation auch die der Lebensbedingungen anzustreben sind. Auch Art. 117, 130a EWGV gehen von diesem Konzept aus. Die Förderung engerer Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten (Art. 2 EWGV) verlangt ebenso eine verbesserte Integra-

8 Vgl. etwa K. Hailbronner (Hrsg.), Freizügigkeit von Arbeitnehmern und Niederlassung von Unternehmen in Europa, 1986. 9 EG-Kommission (Hrsg.), Der Bürger Europas und seine neuen Rechte, 1987; S. Magiera, Die EG auf dem Wege zu einem Europa der Bürger, DÖV 1987, 221 ff. 10 Vgl. etwa EuGHE 1974, 773, Rs. 9/74 „Casagrande“; ständige Rechtsprechung. 11 Verordnung Nr. 1612/68, ABl. 1968, L 257/2 ff.; zu ihr F. Burrows, Free movement in European Community Law, 1987.

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II. Personen und Mächte

tion der Wanderarbeitnehmer und der selbständigen Freizügigkeitsberechtigten im nicht-wirtschaftlichen bis hin zum allgemein-politischen Bereich. 2. Vom Freizügigkeitsstatus zum „Europäischen Bürgerrecht“

Im Zuge der in den siebziger und achtziger Jahren fortschreitenden Integration nimmt die Vorstellung vom „Europa der Bürger“ allmählich noch eine weitergehende, über den Freizügigkeitsstatus der Art. 48 ff. EWGV in seiner wirtschaftlichen und sozialen Komponente hinausreichenden Sinn an. Auf Grund des Zusammenwachsens der Gemeinschaft erwerben die Angehörigen der EGMitgliedstaaten unabhängig von ihrer wirtschaftlichen Betätigung als „EG-Angehörige“ bestimmte Rechte und Pflichten, deren Summe man inzwischen als eine Art von „europäischem Bürgerrecht“ bezeichnen kann12. Auch in der Europäischen Gemeinschaft wandelt sich der Bourgeois allmählich – im Sinne Rudolf Smends – zum Citoyen. Wichtigstes Beispiel für diese Entwicklung ist das Wahlrecht zum Europäischen Parlament, das seit Einführung der Direktwahlen 1976/79 auf Grund gemeinschaftsrechtlicher Grundentscheidungen jedem EG-Bürger zusteht, wenngleich vorläufig noch über nationale Wahlgesetze vermittelt13. Interessanterweise taucht der Terminus „EG-Bürger“ im europäischen Wahl-Sekundärrecht und in der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments bereits amtlich auf14. Auch die Grundrechtsbindungen, denen die öffentliche Gewalt in der Gemeinschaft auf Grund der allgemeinen Rechtsgrundsätze unterliegt, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind (Art. 215 Abs. 2 717 EWGV), gehören in diesen Zusammen- j hang15. Ebenso weisen die Bestrebungen des Europäischen Gerichtshofes, über seine „Gravier-Doktrin“ den Freizügigkeitsstatus in großzügiger Handhabung des Art. 7 EWGV bis zu einem gewissen Grade auf Schüler und Studenten auszudehnen oder die Dienstleistungsfreiheit auf den Touristen als „passiven Dienstleistungsempfänger“, in die Richtung eines „Europas der Bürger“, in welchem dem EG-Bürger über die wirtschaftlich-sozialen Rechte hinaus ein allgemein-politischer Status zusteht16.

12 G. van den Berghe/C. H. Huber, European Citizenship, in: Gedächtnisschrift Sasse, Bd. 2, 1981, 755 ff. 13 Vgl. das deutsche Europawahlgesetz vom 16.6.1978, BGBl. I 709, und C. Sasse u. a., The European Parliament: Towards a uniform procedure for direct elections, 1981. 14 Z. B. Art. 108 ff. Geschäftsordnung Europäisches Parlament in der Fassung vom 26.3.1981, ABl. C 90/49 ff. 15 EuGHE 1969, 425, Rs. 29/69 „Stauder/Ulm“, ständige Rechtsprechung; dazu etwa M. Meessen, Grundrechte für Europa, Europa-Archiv 1978, 641 ff.; ferner dazu A. Bleckmann, Die Personenverkehrsfreiheit im Recht der EG. Vom Gleichheitssatz zur Verankerung absoluter Grundrechte, DVBl. 1986, 69 ff.

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Die Bestrebungen zugunsten dieses „Europas der Bürger“ sind ein wesentlicher Bestandteil der langjährigen Bemühungen, eine „Europäische Union“ zu schaffen. Sie gehen zurück bis zur Haager Gipfelkonferenz der Staats- und Regierungschefs der EG-Staaten 1969, als die „politischen Zielsetzungen“ der Europäischen Gemeinschaft nach dem Abklingen der „de Gaulle-Krise“ 1965/66 offiziell neu bestätigt wurden. Der Kopenhagener Gipfel 1973 verwies in seiner Erklärung zur „Europäischen Identität“ u. a. auf die Achtung der Menschenrechte. Der eigentliche Anstoß für die Bemühungen um eine Art „Europäischen Bürgerrechts“ erfolgte sodann auf dem Pariser Gipfeltreffen 1974 mit der Einsetzung einer Arbeitsgruppe, die prüfen sollte, welche „besonderen Rechte als Angehörige der Gemeinschaft“ den Bürgern der Mitgliedstaaten allmählich zuerkannt werden könnten17. 1975 definierte die Kommission daraufhin in einem Bericht als solche „besonderen Rechte“ insbesondere das Kommunalwahlrecht, das Recht auf Zugang zu öffentlichen Ämtern unterhalb der nationalen Ebene sowie die Ausübung des Versammlungs- und Vereinigungsrechts. Ferner wurde die Schaffung der Paßunion genannt18. Aus diesen Anregungen der Kommission wurden bisher jedoch nur sehr begrenzte Konsequenzen gezogen. 1977 erkannten die Gemeinschaftsorgane die vom Europäischen Gerichtshof in seiner Rechtsprechung als verbindlich angesehenen Gemeinschaftsgrundrechte in einer gemeinsamen Erklärung an19. Die Kommission hat seit 1979 dem Rat den Vorschlag einer auf Art. 235 EWGV gestützten Richtlinie vorgelegt, die allen EG-Bürgern ein j von der Ausübung 718 einer Erwerbstätigkeit unabhängiges Aufenthaltsrecht in der ganzen Gemeinschaft gewähren will. Diese Richtlinie wurde jedoch bisher nicht verabschiedet20. Nachdem die Gipfelinitiative 1974 auf diese Weise zunächst wenig praktische Ergebnisse erbracht hatte, setzte der Europäische Rat 1984 in Fontainebleau im Zuge der 1986/87 zur Einheitlichen Europäischen Akte führenden EG-Verfassungsreform einen ad hoc-Ausschuß „Europa der Bürger“ (Adonnino-Ausschuß) ein, der geeignete Vorschläge machen sollte21. In zwei Berichten 1985 regte der Ausschuß u. a. den Abbau der Grenzformalitäten, die gegenseitige Anerkennung 16 EuGHE 1985, 593, Rs 293/83 „Gravier“; dazu T. Oppermann, Deutsche Bildungsordnung und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1987; EuGHE 1984, 377, Rs 286/82 und RS 26/83 „Luisi und Carbone“; dazu M. Seidel, Die Dienstleistungsfreiheit in der neuesten Rechtsentwicklung, in: J. Schwarze (Hrsg.), Der Gemeinsame Markt, 1987, 113 ff. Grundsätzlich hierzu auch S. Magiera, Politische Rechte im Europa der Bürger, ZRP 1987, 331 ff. 17 Magiera, a. a. O. (Anm. 9). 18 EG-Kommission (Hrsg.), Europa der Bürger, Bulletin EG, 1975, Beilage 7. 19 Text in ABl. 1977, C 103/1 ff. – Zur EuGH-Rspr. oben Anm. 15. 20 Text des Vorschlages in ABl. 1979, C 207/1 ff., inzwischen Änderungen. 21 Zu ihm die Darstellung bei B. Janssen, Das Europa der Bürger – Der „kleine Bruder“ im Abseits. Zur Arbeit des Adonnino-Ausschusses, Integration 1985, 165 ff.

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der Diplome und Prüfungszeugnisse sowie einen EG-weiten, verstärkten Kultur-, Jugend- und Sportaustausch an22. Obwohl das Europäische Parlament und die Kommission diese Vorstellungen eines menschlicheren und bürgernäheren Europas anschließend aufgriffen, fand hiervon so gut wie nichts Aufnahme in die Einheitliche Europäische Akte 198623. Jedoch gehen die Bemühungen um den Ausbau des europäischen Bürgerrechts auf der Ebene der Sekundärrechtsetzung weiter. Insbesondere die grundsätzliche Einigung über die Anerkennung der Diplome und Prüfungszeugnisse zwischen den EG-Mitgliedstaaten im Hochschulbereich Mitte 1988 bedeutete eine neue wichtige Etappe auf dem Wege zum Europa der Bürger24. 3. „Unionsbürgerschaft“ als Endziel?

Die Schwierigkeiten, denen die geschilderte Entwicklung „vom Marktbürger zum EG-Bürger“ weiterhin begegnet, reflektieren in einem tieferen Sinne die noch unterschiedlichen Haltungen der EG-Mitgliedstaaten zu den längerfristigen Zielen der europäischen Einigung auf dem Wege zur Europäischen Union25. Je weniger „staatsähnlich“ der Endzustand der Gemeinschaft gesehen wird, um so stärker sind die Widerstände gegen die allmähliche Anreicherung des „Europäischen Bürgerrechts“ in den politischen Bereich hinein bis zu einer Lage, in der sich die Frage der Schaffung einer förmlichen EG-Angehörigkeit kraft Ge719 meinschaftsrechts ernsthaft stellen j würde. Nach bisherigem Stand erscheinen Vorschläge wie derjenige nach Einrichtung einer „Unionsbürgerschaft“, welche die Staatsangehörigkeiten der EG-Mitgliedstaaten nach Commonwealth-Vorbild überwölbt, noch wenig aussichtsreich (Art. 3 des Verfassungsentwurfes des Europäischen Parlaments von 1984 für eine Europäische Union)26. Rechtlich bedürfte es insoweit einer ausdrücklichen Vertragsergänzung nach Art. 236 EWGV beziehungsweise durch zusätzliche völkerrechtliche Rechtsetzung. Art. 7 EWGV, der jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit im Anwendungsbereich des EWG-Vertrages verbietet, läßt erkennen, daß jenseits des wirtschaftlich-sozialen Bereiches, also vor allem im staatsbürgerlich-politischen Felde, die Staatsangehörigkeit weiterhin ein legitimes Unterscheidungsmerkmal darstellt. Bedenkenswert kann in konkreten Teilbereichen der Verträge allerdings sein, inwieweit über die Entwicklungen zugunsten des „Europas der Bür22

Die Berichte des Ausschusses in Bulletin EG, 1985, Beilage 7. Zu dieser unerfreulichen Negativbilanz Forwood/Clough, The Single European Act and Free Movement, European Law Review 1986, 383 ff. 24 Dazu BMBW (Hrsg.), EG-Richtlinie zur Anerkennung von Hochschulabschlüssen für den Berufszugang, Stand: 28.10.1988. 25 Einiges bei Oppermann, a. a. O. (Anm. 7) und H. v. d. Groeben, Legitimationsprobleme der EG (1983). 26 Dazu U. Everling, Zur Rechtsstruktur einer Europäischen Verfassung, Integration 1984, 12 ff. 23

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ger“ der durch die Einheitliche Europäische Akte 1986 reformierten Gemeinschaft neue Ziele erwachsen sind, zu deren Verwirklichung vertragsergänzende Maßnahmen auf der Grundlage des Art. 235 EWGV getroffen werden können. Das betrifft einige der wichtigsten, seit Jahren erörterten Vorhaben zugunsten des „Europäischen Bürgerrechts“. II. Erste Ausprägungen des „Europäischen Bürgerrechts“ In der gemeinschaftspolitischen Diskussion stehen seit Jahren als mögliche Ausprägungen eines allgemein-politisch zu begreifenden europäischen Bürgerstatus vor allem Überlegungen zugunsten der Schaffung einer „Paßunion“, der Gewährung eines allgemeinen Aufenthaltsrechts für alle EG-Bürger innerhalb der Gemeinschaft und die Frage der Zuerkennung des jeweiligen nationalen Kommunalwahlrechts an (EG-)Ausländer. 1. Paßunion

Schon auf dem Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der EG-Staaten in Paris 1974 wurden die Gemeinschaftsorgane dazu aufgefordert, die Möglichkeiten für die Schaffung einer sogenannten „Paßunion“ zu prüfen. Der Grundgedanke war dabei, durch eine gewisse äußerliche Angleichung der nationalen Pässe das Gemeinschaftsgefühl zu stärken. Der Träger des Europapasses soll sich, vor allem in Drittländern, bereits ein wenig als civis europeus verstehen. Zugleich könnte eine solche Paßharmonisierung j technischer Ansatzpunkt für 720 die anschließende innergemeinschaftliche Gewährung größerer Freizügigkeit zugunsten der Inhaber von „EG-Pässen“ sein27. Über zwei Ministerratsbeschlüsse vom 23. Juni 1981 und 30. Juni 1982 vereinbarten die Mitgliedstaaten, bis 1985 die äußere Form der Pässe der Mitgliedstaaten zu vereinheitlichen („lila Europapaß“)28. In Deutschland wurde dieses Vorhaben erst am 19. Februar 1986 verwirklicht29. Das ehrgeizige Fernziel der Paßunion soll die Abschaffung sämtlicher Kontrollen an den Binnengrenzen der EG unter Beibehaltung der Kontrollen an den Außengrenzen sein30. Es ist inzwischen zu einer der vorrangigen europapolitischen Forderungen bei der Vollendung des europäischen Binnenmarktes bis 27

E. Denza, Le passeport européen, Revue du Marché Commun 1982, 489 ff. Texte der Beschlüsse in ABl. 1981, C 141/1 und ABl. 1982, C 179/1. 29 Änderung des Paßgesetzes, BGBl. 1986 I 537 ff. Der vollständige Übergang auf die „Europapässe“ nimmt noch eine Reihe von Jahren in Anspruch. 30 Dazu die Ratsentschließung vom 2.7.1982, ABl. C 197/6; Rogalla/Neuhaus, Die Unvereinbarkeit der Personenkontrollen von Marktbürgern an den EG-Binnengrenzen mit dem EWG-Vertrag, EuR 1984, 203 ff. 28

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Ende 1992 gemäß Art. 8a EWGV n. F. geworden. Zum Teil wurde dieses Vorhaben bereits bilateral zwischen bestimmten Mitgliedstaaten in die Tat umgesetzt, wie im Deutsch-Französischen Abkommen zum schrittweisen Abbau der Kontrollen an der deutsch-französischen Grenze vom 31. Juli 198431. Die Probleme bei einem vollständigen Wegfall der Grenzformalitäten liegen weniger im wirtschaftlichen Bereich als bei der polizeilichen Verbrechensbekämpfung. Die erleichterte Möglichkeit für Straftäter, von einem Staat in den anderen zu wechseln, muß durch Verbesserungen in der transnationalen Strafverfolgung und in der übernationalen polizeilichen Zusammenarbeit ausgeglichen werden. 2. Gemeinschaftsweites, allgemeines Aufenthaltsrecht

In der Logik eines „Europäischen Bürgerrechts“ läge es ferner, allen Angehörigen der EG-Mitgliedstaaten grundsätzlich ein Aufenthaltsrecht in der gesamten Gemeinschaft zu gewähren, welches von der Ausübung einer Erwerbstätigkeit unabhängig wäre. Die Verknüpfung mit den Freizügigkeitszielen der Verträge liegt hierbei besonders nahe, seitdem über die Rechtsprechung des Gerichtshofes nicht nur die im engeren Sinne unselbständig oder selbständig Erwerbstätigen in den Anwendungsbereich des EWG-Vertrages einbezogen worden sind, sondern auch Schüler und Studenten als „Prä-Arbeitnehmer“ sowie praktisch alle sich zeitweilig in anderen EG-Staaten aufhaltenden EG-Angehöri721 gen (z. B. Touristen in ihrer Eigenschaft j als „passive Dienstleistungsempfänger“32. Auf diese Weise bleiben ohnehin nur noch sehr begrenzte Personenkreise übrig, deren Aufenthaltsrecht in einem anderen Mitgliedstaat sich nicht irgendwie vertraglich legitimieren ließe. Aus solchen Gründen und auch auf Grund einer Aufforderung des Europäischen Parlaments 1977, Vorschläge für die Gewährung bürgerlicher und politischer Rechte an die EG-Angehörigen zu machen, hat die Kommission 1979 dem Rat eine Richtlinie vorgeschlagen, die ein entsprechendes allgemeines Aufenthaltsrecht für alle EG-Bürger innerhalb der Gemeinschaft vorsieht33. Allerdings will der Vorschlag für diese Richtlinie des Rates über das Aufenthaltsrecht von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten im Gebiet eines anderen Mitgliedstaates es den Mitgliedstaaten doch noch freistellen, die Ausübung des Aufenthaltsrechts von gewissen wirtschaftlichen Voraussetzungen abhängig zu machen. Trotz solcher Konzessionen an den nationalen ordre public wurde die in ihrer Tragweite für ein „Europa der Bürger“ sehr wesentliche Richtlinie in31

Text in BGBl. 1984 II 768. Vgl. oben Anm. 16. 33 Vgl. oben Anm. 20; geänderter Text des Vorschlages jetzt in ABl. 1985, C 171/ 1 ff. Die Richtlinie soll auf Art. 235 EWGV gestützt werden, was eine großzügige Auslegung des „freien Personenverkehrs“ nach Art. 3 c) EWGV unter Berücksichtigung der Zielsetzungen des „Europas der Bürger“ voraussetzt. 32

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nerhalb von 10 Jahren (!) noch nicht verabschiedet34. Der Vorgang zeigt, welche psychologischen Hindernisse in den EG-Staaten dem Aufbau eines nennenswerten „Europäischen Bürgerrechts“ vorläufig noch im Wege stehen. 3. Gewährung des nationalen Kommunalwahlrechts an EG-Bürger?

Schon seit den siebziger Jahren spielt die Forderung, (EG-)Ausländern das aktive und passive Kommunalwahlrecht in allen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft zuzuerkennen, eine besondere Rolle unter den Themen um das „Europäische Bürgerrecht“. Wie in anderen Mitgliedstaaten ist diese Maßnahme auch in Deutschland sehr umstritten35. Die Befürworter verweisen darauf, daß eine solche begrenzte politische Teilhabe an den örtlichen Angelegenheiten für die soziale Integration der Ausländer sehr sinnvoll sei und gemeinschaftsrechtlich eine wichtige Abrundung des Freizügigkeitsstatus darstelle. Die Kommission hat das Kommunalwahlrecht für EG-Bürger j verschiedentlich unter die „be- 722 sonderen Rechte“ eingereiht, die im Zuge der Anreicherung des „Europäischen Bürgerrechts“ allmählich allen EG-Angehörigen zuerkannt werden sollten36. Inzwischen haben Dänemark 1980 und die Niederlande 1985 nach dem Vorbild Schwedens (1975) das Ausländerkommunalwahlrecht eingeführt37. Hier wurde dieses Wahlrecht jeweils allen Ausländern nach einer mehrjährigen Ansässigkeit verliehen. Allgemeinpolitisch ist es schwierig, innerhalb eines Landes zwischen EG- und Drittlandsausländern zu differenzieren. Dieses Problem besteht in der ganzen Gemeinschaft, da die Mehrheit der Wanderarbeitnehmer in den EG-Staaten aus Drittstaaten stammt, nämlich insgesamt 8 Millionen von 13 Millionen38. Gemeinschaftsweite politische Mehrheiten für eine europarechtliche Verpflichtung der Mitgliedstaaten, innerstaatlich die notwendigen Maßnahmen zur Einführung des Kommunalwahlrechts wenigstens für EG-Ausländer zu treffen, sind vorläufig nicht erkennbar. Rechtlich denkbar und mittelfristig in der Logik eines „Europäischen Bürgerrechts“ liegend wäre ein solcher Schritt zweifellos.

34

Zuletzt EG-Kommission, 21. Gesamtbericht 1987, 1988, 129. Vgl. etwa C. Sasse, Kommunalwahlrecht für Ausländer, 1974; K. A. Lamers, Repräsentation und Integration der Ausländer in der BR Deutschland unter besonderer Berücksichtigung des Wahlrechts, 1977; Doehring (Anm. 4); EG-Kommission (Hrsg.), Das Wahlrecht der Bürger der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft bei Kommunalwahlen, Bulletin EG, 1986, Beilage 7. 36 EG-Kommission (Anm. 18 und 35); R. Bieber, „Besondere Rechte“ für die Bürger der EG, EuGRZ 1978, 203 ff. 37 Näher H. Pehle, Das schwedische Modell. Erfahrungen mit dem kommunalen Wahlrecht für Ausländer, Aus Politik und Zeitgeschichte, B 24/1988, 26 ff. 38 Nähere Zahlen in EG-Kommission (Hrsg.), Die Zuwanderer in der EG, 1985. 35

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Da die Gewährung des Wahlrechts an Ausländer auch auf Gemeindeebene eine allgemeine staatlich-politische Regelung darstellt, die im Kern außerhalb des Anwendungsbereiches des EWGV fällt, bedarf es allerdings insoweit einer Vertragsänderung im Sinne von Art. 236 EWGV. Dies entspricht auch der grundlegenden Bedeutung einer solchen gemeinschaftsweiten Verpflichtung39. Außerdem stellt sich in den Mitgliedstaaten die Frage, ob die Einführung des Ausländerkommunalwahlrechts einer Verfassungsänderung bedarf. Für Deutschland besteht weitgehend Einigkeit, daß eine solche Grundgesetzänderung jedenfalls nicht an Art. 79 Abs. 3 GG scheitert40. Es gibt aber gute Gründe dafür, daß der „Integrationshebel“ (Hans Peter Ipsen) des Art. 24 Abs. 1 GG auch zur Übertragung begrenzter politischer Aktivrechte auf EG-Bürger durch einfaches Bundesgesetz tauglich ist, d. h. daß es zu einer auf die EG begrenzten Regelung des Ausländerkommunalwahlrechts keiner Verfassungsänderung bedürfte41. Der 723 sich in j der EG entwickelnde Europäische Bürgerstatus hat Rückwirkungen auf die Vorstellung vom „Volk“ im Sinne des Art. 20 Abs. 2 GG. Eine andere Betrachtung wäre dagegen geboten, wenn man das Ausländerkommunalwahlrecht über die EG hinaus einführen wollte. Eine andere, rechtspolitische Frage geht dahin, ob die allgemeinpolitische Integration der „EG-Ausländer“ in ihren Gastmitgliedstaaten über das Kommunalwahlrecht hinaus nicht besser durch „gemeinschaftsspezifische Erleichterungen des Erwerbs der Staatsangehörigkeit des betreffenden Mitgliedstaates“ erreicht werden sollte42. Hier ergibt sich allerdings das schwer vorab zu klärende Problem, in welchem Ausmaß Wanderarbeitnehmer und ihre Familien auch nach längerem Aufenthalt und bei erleichterter Einbürgerungsmöglichkeit sich nicht mit dem geringeren „EG-Status“ aus sozial-kultureller Bindung an die „alte Heimat“ zufrieden geben würden. Interessanterweise hat die bisherige Erfahrung mit dem Ausländerkommunalwahlrecht in Dänemark, den Niederlanden und Schweden gezeigt, daß selbst diese begrenzte Beteiligung am politischen Leben des Gastlandes von den Begünstigten nur zögernd angenommen wird. Die Wahlbeteiligung ist geringer und ging in der Regel nach den ersten Wahlen sogar noch zurück43. 39 Großzügiger im Sinne der Anwendbarkeit des Art. 235 EWGV, wobei die Ziele der Art. 2, 3c, 220 EWGV extensiv ausgelegt werden: Magiera (Anm. 16); M. Zuleeg, Ausländerrecht und Ausländerpolitik in Europa, 1987; ders., Die Bedeutung des europäischen Gemeinschaftsrechts für das Ausländerrecht, NJW 1987, 2193 ff., mit Hinweisen auf ähnliche Auffassungen in der EG-Kommission und im Europäischen Parlament. 40 H.-J. Papier, Verfassungsrechtliche Probleme des Ausländerwahlrechts, Aus Politik und Zeitgeschichte, B 24/1988, 37 ff.; W. Däubler, Der Ausländer als Untertan – ein Dauerzustand? ibid., S. 41 ff. 41 Oppermann (Anm. 7); wohl zurückhaltender Doehring (Anm. 4). 42 Das ist die Tendenz bei Doehring (Anm. 4); ähnlich die Tendenz bei H. Quaritsch, Staatsangehörigkeit und Wahlrecht – Zum Problem des Ausländer-Wahlrechts, DÖV 1983, 1 ff.

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III. Staatsbürger und EG-Angehöriger Der Weg zu einer künftigen „EG-Angehörigkeit“ über die allmähliche Anreicherung des Europäischen Bürgerstatus scheint vorgezeichnet. Wie bei anderen Entwicklungen im europäischen Einigungsprozeß bedarf es dabei jedoch eines langen Atems. Vieles spricht dafür, daß die personelle Assimilierung und Integration auch innerhalb einer sich verhältnismäßig „nahestehenden“ Regionalgemeinschaft wie der Europäischen Gemeinschaft ein langfristiger, über eine Generation hinausreichender Prozeß ist. Die Entwicklung vom Marktbürger zum EG-Bürger stellt eine notwendige Konsequenz des Aufbaues der Europäischen Union dar. Der Ausbau des Freizügigkeitsstatus zur förmlichen EG-Bürgerschaft fordert aber ebenso Geduld und politisches Augenmaß der Gemeinschaftsorgane wie ihre Beharrlichkeit. Die sich in den EG-Staaten verkörpernden alten Nationen Westeuropas mit ihrer ethnischen, kulturellen und sprachlichen Identität werden auch langfristig die konstituierenden Elemente einer Europäischen Union bleiben. „Schmelztiegellösungen“ wie in den historisch anders entstandenen USA sind für die Zukunft der EG allenfalls sehr begrenzt zu erwarten. Eine j künftige „EG-Angehörigkeit“ oder etwas ähnliches ist sinnvoll 724 nur als gemeinschaftsrechtliche Zusammenfassung eines weiter vorangetriebenen „Europäischen Status“ der Einzelperson über den nationalen Staatsangehörigkeiten denkbar, nicht an ihrer Stelle. Die EG-Bürgerschaft mag eines künftigen Tages unmittelbar kraft Gemeinschaftsrechts vermittelt werden, und nicht – wie heute – indirekt über die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates. Staatsbürger seines Heimatlandes wird ein solcher künftiger „Unionsbürger“ im Sinne des primären Anknüpfungspunktes seiner Lebensverhältnisse für die voraussehbare Zukunft bleiben.

43

Vgl. Pehle (Anm. 37).

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Größere und kleinere Mitgliedstaaten in der Europäischen Union Die Ausbalancierung der Gewichte zwischen größeren und kleineren Mitgliedstaaten war ein – letztlich ungelöstes – Kardinalproblem der EU-Verfassungsgebung im Konvent 2002–2003.*

I. Persönliche Vorbemerkung Mit Walter Schmitt Glaeser verbindet mich seit Jahrzehnten gute Bekanntschaft, die längst in Freundschaft erwachsen ist. So bereitet es Freude, an dieser Ehrung mitwirken zu können. Unsere erste Begegnung ergab sich Ende der sechziger Jahre in Tübingen durch meine Berufung an die dortige Fakultät. In den Universitätswirren nach 1968 war es stets eine Wohltat, Menschen zu begegnen, die dem Aktionismus und der Hektik jener Zeit nicht erlagen. Mit seinem wohltemperierten bajuwarischen Naturell gehörte Walter Schmitt Glaeser dazu. Beeindruckend war, wie er sich schützend vor seinen Lehrer Günter Dürig stellte, dem die häßlichen Begleiterscheinungen der sogenannten „Kulturrevolution“ innerlich mehr zusetzten, als er sich anmerken ließ. Später verfolgte ich aus der Ferne mit hohem Respekt den Aufbau der Bayreuther Universität und ihrer Juristischen Fakultät zu einer der erfolgreichen Neugründungen in der Bundesrepublik. Schmitt Glaesers maßgeblicher Anteil hieran ist bekannt. 1992 konnte ich mich persönlich davon überzeugen, als wir beide – gemeinsam mit Hartmut Maurer, Thomas Fleiner-Gerster und Wilfried Berg – die Staatsrechtslehrertagung in Bayreuth organisierten. Schmitt Glaesers Ansehen in der Universität und als Mitglied des Bayerischen Senats ebneten die Wege zu festlichen Tagen. Zwei Jahre später durfte ich ihm die Stafette im Vorsitz der Vereinigung übergeben, für die er zusammen mit Michael Kilian, Karl Korinek, Bernhard Raschauer und Hans-Peter Schneider die Staatsrechtslehrer 1994 zum ersten Mal in die neuen Bundesländer nach Halle und das Jahr darauf nach Wien führte. Neben manch anderen Begegnungen brachte uns eine glückliche Fügung 2001/2002 in Budapest ein weiteres Mal in enge Verbindung. Die drei „Donauländer“ Baden-Württemberg, Bayern und Österreich hatten beschlossen, Un* Erstmals erschienen in: Horn u. a. (Hrsg.), Recht im Pluralismus, Festschrift Walter Schmitt Glaeser, Mohr Siebeck, Tübingen 2003, 559–567.

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garn auf seinem Wege in die Europäische Union durch Hilfe bei der Gründung einer deutschsprachigen Graduiertenhochschule in Budapest zu unterstützen. Sie wurde nach dem Außenminister der österreichisch-ungarischen Monarchie „Andrássy-Universität Budapest“ benannt. Die Hilfe aus Deutschland und Österreich bedeutete neben finanziellen Zuwendungen Mitwirkung aus den Universitäten der drei Länder bei der Schaffung des Profils der neuen Einrichtung. Das schließlich vom j Gründungssenat übernommene interdisziplinäre Konzept, 560 junge Praktiker und Wissenschaftler aus Mittelosteuropa durch europäisch geprägte Vertiefungsstudien in Politik, Wirtschaft, Recht und Kultur auf die Mitgliedschaft in der EU vorzubereiten, trug wesentlich die Handschrift Schmitt Glaesers. Im Gründungssenat, in dem wir uns begegneten, wog seine Stimme besonders. Es muß Schmitt Glaeser mit Freude erfüllt haben, daß die AndrássyUniversität nach Überwindung der unvermeidlichen Probleme im postkommunistischen Ambiente Ende 2002 in Anwesenheit des Bundespräsidenten feierlich ihre Tore öffnete. Welchen Beitrag soll ich dem Freund im Rahmen dieser Festschrift widmen? Schmitt Glaesers Werk ist durch Zugehen auf das Konkrete gekennzeichnet. Mit dem souverän gehandhabten Instrumentarium juristischer Dogmatik und Methodik werden Rechtsfragen angegangen, die sich im realen Leben von Staat und Gesellschaft stellen. Bayerisch verwurzelt greift Schmitt Glaeser in alle wesentlichen Aspekte des deutschen Staats- und Verwaltungsrechts in seiner grundgesetzlichen Prägung aus. Dabei geht es zugleich immer um Grundfragen und Leitprinzipien, ohne deren Mitbedenken die Lösung des Autors „Rechtstechnik“ bliebe. Wesentliche Aspekte der Staatslehre, Demokratie, Rechtsstaat, Föderalismus und manches andere, schwingen wie selbstverständlich mit und dienen der Überzeugungskraft des Arguments. Unter diesen Umständen könnte das seit langem andauernde Ringen zwischen größeren und kleineren Mitgliedstaaten um ihre „gerechte“ Position im Gefüge der Europäischen Union Schmitt Glaeser interessieren. Bei der Niederschrift dieser Zeilen spielt es sich im Europäischen Konvent ab, der 2002/2003 einen europäischen Verfassungsvertrag vorbereitet. Mit ihm soll sich die ab 2004 abzeichnende EU von 25 und mehr Mitgliedstaaten handlungsfähig erhalten und gleichzeitig besser demokratisch legitimiert werden. Unabhängig vom Ausgang des Verfassungskonvents und der nachfolgenden Regierungskonferenz wird die Suche nach dem tragfähigen Ausgleich zwischen dem Völkerrechtsgrundsatz der Gleichheit kleiner und großer Staaten und der bundesstaatlich-demokratischen Anerkennung demographischer und anderer tatsächlicher Unterschiede ein Dauerthema des europäischen Einigungswerkes bleiben.

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II. Die beiden Legitimationsstränge der Europäischen Union Die politischen und literarischen Stellungnahmen zu Wesen und Rechtsnatur der in einem Halbjahrhundert Gemeinschaftsgeschichte seit 1950 entstandenen Europäischen Union sind mittlerweile Legion. Der „unvollendete Bundesstaat“ Walter Hallsteins (1969) hat sich mehr und mehr als eine Zukunftsvision erwiesen, die wie eine Fata Morgana immer wieder in die Feme rückt, je mehr man sich ihr zu nähern scheint. Auf der anderen Seite besteht heute weitgehend Einigkeit, daß es der Realität der „immer engeren Union der Völker Europas“ (Art. 1 EU-Vertrag) nicht mehr entspricht, die supranationale Gemeinschaft un561 ter die Internationalen j Organisationen des Völkerrechts einzureihen, wie es der bedeutende Internationalist Ignaz Seidl-Hohenveldern noch 2000 getan hat. Juristische Phantasie bequemt sich notgedrungen dazu, die EU irgendwo „zwischen“ die klassischen Pole Staatenbund und Bundesstaat einzureihen. Dafür werden verschiedene, teilweise schöne Vokabeln angeboten: „Gemeinschaft“ (Carl Friedrich Ophüls), „Staatenverbund“ (BVerfGE 89, 155 ff. „Maastricht“), „Vereintes Europa“ (Präambel und Art. 23 Grundgesetz) oder eben die europaweit seit 1992 offizielle Benennung als „Europäische Union“ (Art. 1 EU-Vertrag). Das Wort „Union“, das nach allem Anschein auch für die künftige „Groß-Union“ von Brest bis Brest-Litowsk und von Schottland bis Zypern gelten soll, empfängt dabei historische Patina in Erinnerung an die Begründung der nordamerikanischen Union 1776/1787. Im Europäischen Verfassungskonvent macht die Vorstellung von den „zwei Legitimationssträngen“ der EU die Runde. Sein Präsident Valéry Giscard d’Estaing bedient sich gerne dieses Bildes. Woraus schöpft die EU ihre Existenz und Zukunft? Sie ist zum einen aus dem Willen der ursprünglich sechs, inzwischen fünfzehn und morgen mehr als 25 Staaten entstanden, ihre Politiken in der Wirtschaft und darüber hinaus zu bündeln. Wie weit geht dieser politische Wille? Ist man bereit, dem so entstandenen Geschöpf, der Gemeinschaft oder Union, allmählich die staatliche Souveränität zu überantworten? Zweifel sind angebracht. Grundlage der Union bleibt nach Vorstellung ihrer Gründer auch nach 2003/2004 ein völkerrechtlicher „Verfassungsvertrag“, über dessen weiteres Schicksal die Mitgliedstaaten „Herren“ bleiben möchten. Der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs (Art. 4 EU-Vertrag) und der (Minister)Rat der Gemeinschaft (Art. 202 EG-Vertrag) sind zusammen mit der im Kern völkerrechtlichen Vertragsänderung (Art. 48 EU-Vertrag) Ausdruck der Position der Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“. Andererseits wächst allmählich ein integriertes Europa heran, das seine Legitimation nicht mehr aus der abgeleiteten Übertragung nationaler Gewalt gewinnt, sondern aus der unmittelbaren Zustimmung der europäischen Bürger und Völker. Hierfür steht ein Europäisches Parlament, das seine wachsenden Rechte

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seit 1979 aus den Europawahlen herleitet. Mit der Europäischen Kommission, dem Gerichtshof und der Europäischen Zentralbank sind weitere genuin europäische Institutionen geschaffen worden. Diese Organe der EU bilden ein Gegengewicht zur „Herrschaft“ der Mitgliedstaaten. Das Bild von den „zwei Legitimationssträngen“ der EU erscheint wirklichkeitsnah. III. Die Mitgliedstaaten im europäischen Verfassungsgefüge Auch wenn man, wofür vieles spricht, die Erkenntnis von den zwei Legitimationssträngen der EU akzeptiert, bleiben die Mitgliedstaaten in diesem Zusammenhang kraft ihrer völkerrechtlichen „Ratifizierungsgewalt“ bisher der Souverän. Sie tragen Verantwortung für die künftige Gestalt der Europäischen Union und ihrer j Institutionen. Da auf der anderen Seite die „genuin europäischen“ 562 Institutionen (Parlament, Kommission usw.) in der Entwicklung der Union bereits eine respektable Position gewonnen haben, sind beide Seiten bei der Fortentwicklung der Union aufeinander angewiesen. Hieraus erklärt sich die bei der Einsetzung des Europäischen Verfassungskonvents 2002 zum zweiten Mal angewendete Methode, die Revision der Europaverträge von einem parlamentarisierten Gremium vorbereiten zu lassen, in dem das Europäische Parlament und die Kommission einen respektablen Platz einnehmen. Die Mitgliedstaaten behalten jedoch auf der anschließenden Regierungskonferenz das letzte Wort. Die EU-Staaten sind von höchst unterschiedlicher Größe und Gewicht. In der Union von 15 Mitgliedstaaten spannt sich der Bogen zwischen Deutschland mit ungefähr 80 Millionen Bürgern und Luxemburg mit 400.000. Deutsche Bundesländer wie Baden-Württemberg, Bayern oder Nordrhein-Westfalen überragen nach Bevölkerungszahl und Bruttosozialprodukt bis auf Polen alle anderen Beitrittsstaaten von 2004. Nach der großen Erweiterung ist Malta mit weniger Einwohnern als Köln kleinster Mitgliedstaat. Legt man die Wirtschaftskraft zugrunde, ergeben sich ähnliche Diskrepanzen. Gleichzeitig ragen in der Union von 25 Staaten und 450 Millionen Bürgern ab 2004 sechs Mitglieder (Deutschland, England, Frankreich, Italien, Polen und Spanien) deutlich hervor. Sie verkörpern gute zwei Drittel der Unionsbevölkerung und des in der Union erwirtschafteten Bruttosozialproduktes. Darf die Verfassung der künftigen Union, die mit gemeinsamen Politiken und teilweise einer gemeinsamen Währung staatsähnliche Züge aufweist, an derartigen Fakten vorbeigehen? Sollte auch künftig das Referendum in einem Mitgliedstaat wie Dänemark nach Maastricht 1992 oder Irland nach Nizza 2001 über das Wohl und Wehe der Zukunft der Union entscheiden dürfen?

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II. Personen und Mächte

IV. Die „genuin europäischen“ Organe: Staatengleichheit versus „reales Europa“ Die Frage nach der angemessenen Gewichtung zwischen den Mitgliedstaaten stellt sich in besonderer Schärfe bei den „genuin europäischen“ Organen mit politisch oder juristisch bedeutsamer Entscheidungsgewalt: Europäisches Parlament, Kommission, Europäische Zentralbank und Europäischer Gerichtshof. 1. Europäisches Parlament

Für das Parlament hat das Prinzip der demokratischen Repräsentation spezifisches Gewicht. Hier ist seit dem Maastricht-Vertrag 1992 die demographische Komponente in einer schwierigen Kombination mit der Staatengleichheit bis zu einem gewissen Grade zum Tragen gebracht worden. Nach den Zahlen des Nizza-Vertrages 2001 spannt sich der Bogen zwischen 99 Abgeordneten für das 563 bevölke- j rungsreichste Deutschland, 72 gleichermaßen für England, Frankreich und Italien bis schließlich zu sechs luxemburgischen und fünf maltesischen Abgeordneten. Das Gewicht der Staatengleichheit bleibt gleichwohl erheblich. Ein deutscher Europaparlamentarier vertritt ungefähr 800.000 Bürger, sein Luxemburger Kollege 70.000. Ein solches „Mischsystem“ ist unvermeidlich, solange die EU Staatenunion und nicht Bundesstaat sein will. 2. Europäische Zentralbank und Kommission

Im Zentrum des verfassungspolitischen Ringens um die institutionelle Struktur der „Groß-EU“ ab 2004 stehen die Europäische Zentralbank und die Kommission. Dies ist alles andere als zufällig. Beide Einrichtungen greifen mit europäischer Gemeinschaftsgewalt ähnlich wie staatliche Entscheidungsträger unmittelbar in die mitgliedstaatliche Sphäre ein. Am deutlichsten wird dies an der Geldpolitik des EURO sichtbar, mit der die EZB täglich auf die Finanz- und Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten und der in ihnen handelnden Wirtschaftssubjekte Einfluß nimmt. Aber auch die Kommission prägt durch ihr gesetzgeberisches Initiativmonopol bei aller Mitwirkung von Parlament und Rat maßgeblich eine europäische Normsetzung, der Mitgliedstaaten und Bürger anschließend unterworfen sind. Darüber hinaus kann die Kommission in bestimmten Bereichen wie im Wettbewerbsrecht als Exekutive unmittelbare Hoheitsgewalt über die Unternehmen und Individuen ausüben. Wie die Gemeinschaftsgewalt in diesen beiden Institutionen verteilt ist und wie daraufhin das von EZB und Kommission zu definierende europäische Gemeininteresse jeweils konkret aussieht, hängt aufs Engste mit der Zusammensetzung der Organe der EZB und Kommission zusammen. In der Union von 15 Mitgliedstaaten, die sich 2004 zunächst auf 25 erweitert, war eine tragfähige

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Balance zwischen den größeren und kleineren EU-Staaten gefunden worden. In der intern mit Mehrheit entscheidenden Kommission stellten die „Großen“ (Deutschland, England, Frankreich, Italien und Spanien) mit jeweils zwei Kommissaren die Hälfte der 20 Mitglieder. Ähnlich sind die Gewichte innerhalb der Zentralbank in Frankfurt verteilt, wo sich unter den 18 Mitgliedern von Rat und Direktorium acht Mitglieder aus Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien befinden (Großbritannien nimmt an der Währungsunion bisher nicht teil). Mit der bevorstehenden Erweiterung auf 25 und möglicherweise bald 30 und mehr EU-Staaten stellt sich die Grundfrage neu, ob die bevölkerungsreicheren Mitglieder, zu denen nunmehr Polen gehören wird, aufgrund ihres demographischen und wirtschaftlichen Gewichtes ein Anrecht auf die Wahrung des bisherigen Status im größeren Kreise haben oder ob sie im Interesse besserer Repräsentanz der „Kleineren“ hieran Abstriche hinnehmen sollten. j a) Europäische Zentralbank Am weitesten ist diese unausweichliche Reformdiskussion bisher in der EZB gediehen, wo der Rat von derzeit 18 Mitgliedern (davon sechs aus dem Direktorium) je nach künftigen EURO-Beitritten auf bis zu 33 Mitglieder anwachsen kann. Eine solche Aufblähung würde nicht nur die praktische Handlungsfähigkeit des EZB-Rates bedrohen, sondern führte gleichzeitig dazu, daß beispielsweise ein Mitglied wie Deutschland als Staat mit der größten Volkswirtschaft im „Euroland“, dessen Währung bis 1999 Stabilitätsanker des europäischen Binnenmarktes war, bei den EZB-Entscheidungen in eine ausgeprägte Minderheitenposition verwiesen wird. Nicht viel anders sähe es bei Frankreich, Italien und Spanien aus. Der EZB-Rat sucht dem mit dem Vorschlag einer künftigen „gewichteten Rotation“ bei den Abstimmungen im Rat zu begegnen. Sobald mehr als 15 Mitglieder der Währungsunion beigetreten sind, sollen in einem nach künftigen Mitgliedschaften gestuften Verfahren „Stimmgruppen“ gebildet werden. Dabei erhalten die fünf größten EZB-Länder ein höheres Stimmgewicht als die übrigen. Ob mit einem solchen oder ähnlichen Modellen bereits dem Anspruch der großen Volkswirtschaften nach einem angemessenen Gewicht bei den geldpolitischen Entscheidungen der Bank entsprochen wird, bleibt umstritten. Von grundsätzlichem Interesse sind solche Überlegungen, weil hier in einem „vorbundesstaatlichen“ Denken der Versuch unternommen wird, die Entscheidungsfindung der EZB an die Strukturen des „realen Europas“ anzunähern. Wie die Erfahrung der amerikanischen Federal Reserve Bank lehrt, sind solche Strukturen einer an der Preisstabilität orientierten, kohärenten Geldpolitik förderlich.

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b) Europäische Kommission Bei der europäischen Verfassungsreform im Konvent und daran anschließend kommt der Zusammensetzung der Kommission in der künftigen „Groß-EU“ besondere Bedeutung zu. Solange die Kommission über das Initiativmonopol bei der europäischen Gesetzgebung verfügt, spielt sie eine Schlüsselrolle in der Fortentwicklung der Union. Umgekehrt gerät diese klassische Rolle als „Motor und ehrlicher Makler“ (Walter Hallstein) in Gefahr, wenn sich wichtige Mitgliedstaaten im Kommissionsgremium nicht mehr angemessen vertreten fühlen. Außerdem ist bei der Kommission wie beim EZB-Rat absehbar, daß die Arbeitsfähigkeit jenseits einer bestimmten Mitgliederzahl leidet. Möglicherweise haben die kleineren EU-Staaten auf der Nizza-Konferenz 2001 einen fatalen Pyrrhus-Sieg errungen, als sie für das Nachfolgegremium der Prodi-Kommission ab 2004/2005 gegen die größeren Mitglieder das Prinzip ertrotzten, daß ab 21 EU-Staaten jeder über „seinen“ Kommissar verfügen soll (Art. 4 des Erweiterungsprotokolls von Nizza). Im Gegensatz zu der bisher geltenden Regelung wird damit den sechs bevölkerungsreicheren Mitgliedern ein 565 einseitiges Opfer j auferlegt (Verzicht auf einen Kommissar). Sie werden damit in eine deutliche Minderheit innerhalb der künftigen Kommission versetzt. Dies kann sehr leicht zur Folge haben, daß die Akzeptanz von Vorschlägen aus einer solch „unrepräsentativen“ Kommission abnimmt und daß die Berechtigung ihres Initiativmonopols zugunsten des Parlamentes und des Rates in Frage gestellt wird. Unter diesen Umständen stellt sich dem Verfassungskonvent und der anschließenden Regierungskonferenz die Aufgabe, eine „föderal“ besser gewichtete Kommission in arbeitsfähiger Größenordnung zu entwickeln. Ansatzpunkt hierfür ist der in Nizza 2001 ebenfalls gefaßte Beschluß, daß die Kommission ab dem Beitritt des 27. Mitgliedstaates durch Einführung einer „gleichberechtigten Rotation“ verkleinert werden soll. Hier bietet sich noch einmal die Chance der Rückkehr zu einer angemessenen Gewichtung zwischen den bevölkerungsreicheren und übrigen EU-Staaten. Am „Reißbrett“ ist ein solches Modell leicht zu entwickeln. Es bestünde in der Zuweisung eines ständigen Sitzes innerhalb der Kommission an jeden der sechs größeren Mitgliedstaaten (Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Polen und Spanien). Die übrigen ungefähr 20 kleinen und mittleren EUMitglieder könnten in zwei gleichgroße Gruppen aufgeteilt werden. In jeder der beiden Gruppen würden die betreffenden Mitgliedstaaten während einer fünfjährigen Sitzungsperiode des Europäischen Parlamentes ein Kommissionsmitglied stellen. Denkbar wäre auch bereits ein Wechsel nach zweieinhalb Jahren zur Halbzeit der Sitzungsperiode. Alle kleinen und mittleren Staaten hätten damit die Garantie, in festen Abständen über eine eigene Vertretung in der Kommission zu verfügen. Zahlenmäßig entstünde eine arbeitsfähige Kommission von

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ungefähr 15 Mitgliedern (sechs ständigen und ungefähr zehn rotierenden). Es handelte sich um eine „gleichberechtigte“ Rotation, bei der den größeren Staaten der endgültige Verzicht auf einen der bisherigen zwei Kommissare auferlegt würde, während die übrigen gewissermaßen von einem auf einen „halben Sitz“ zurückgingen. Von Ferne erinnern solche Überlegungen an die Struktur des UN-Sicherheitsrates mit seinen ständigen und nichtständigen Mitgliedern. Im Gegensatz zu dort wäre es im Rahmen der gleichberechtigten europäischen Integration jedoch nicht denkbar, den ständigen Kommissionsmitgliedern besondere Rechte zu verleihen. Mit Rückblick auf den Kampf der kleineren Staaten auf der Nizza-Konferenz um „ihren“ Kommissar dürfte der Widerstand aus diesen Reihen gegen ein solches Rotationsmodell beträchtlich sein. Dies gilt besonders für die Beitrittsstaaten, die zur „Eingewöhnung“ in die Union besonderen Wert auf eine Vertretung in der Kommission legen. Andererseits ist gerade das Interesse der kleineren EU-Mitglieder an einer starken Kommission als Hüterin des europäischen Allgemeininteresses ausgeprägt. Möglicherweise setzt sich vielleicht doch noch die Einsicht durch, daß eine ungerechtfertigte Verkürzung der Repräsentanz der größeren EU-Staaten in der Kommission diese notwendig schwächen muß. Dies widerspräche nicht nur den Anliegen der „Kleinen“, sondern zugleich dem Grundanliegen der EU-Verfas- j sungsreform, die erweiterte Union von 25 und 566 mehr Mitgliedstaaten handlungsfähig zu halten. Vorschläge im Verfassungskonvent suchen den kleineren Mitgliedstaaten dadurch entgegenzukommen, daß der Kommissionspräsident eine handlungsfähige Zahl von Kommissaren (13–15) ohne feste nationale Zuordnung vorschlägt. Die so nicht berücksichtigten EUStaaten stellen eine Art nicht stimmberechtigter „Junior-Kommission“.

3. Gerichtshof

Aus verschiedenen Gründen läßt sich das Prinzip der Staatengleichheit am Europäischen Gerichtshof (und gleichermaßen am Gericht erster Instanz) am ehesten ohne Abstriche verwirklichen. Wie bereits das Beispiel des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes in Straßburg mit über 40 Richtern aus den einzelnen EMRK-Staaten zeigt, schafft die gleichberechtigte und umfangreiche Besetzung eines überstaatlichen Gerichtes aus allen Mitgliedstaaten keine unüberwindlichen Probleme. Zum einen läßt die Verpflichtung der Richter zur Unparteilichkeit kaum Raum für überzeugende Forderungen nach besonderen Rechten für einzelne Mitgliedstaaten. Andererseits ist die Arbeitslast der europäischen Gerichtsbarkeit in den letzten Jahrzehnten derart angewachsen, daß der mit der Erhöhung der Zahl der Mitgliedstaaten einhergehende Zuwachs im Richterkollegium nur willkommen sein kann. Seit der in Nizza 2001 eingeschla-

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genen Gerichtsreform ist der Weg vorgezeichnet, wie durch eine Differenzierung der Spruchkörper innerhalb des Gerichtshofes demnächst 25 und mehr europäische Richter sich sinnvoll betätigen können. V. Zur Staatengewichtung im Rat: Die Einführung des demographischen Faktors Seit den Anfängen der Europäischen Gemeinschaft in den fünfziger Jahren gehörte zum Integrationsmodell der Verträge die Möglichkeit nach der Größe der Mitgliedstaaten unterschiedlich gewichteter Stimmabgabe im Rat. Das wichtigste Beispiel war die schon in den Römischen Verträgen von 1958 (Art. 148 EWG-Vertrag) vorgesehene qualifizierte Mehrheitsentscheidung, die ursprünglich für Deutschland, Frankreich und Italien je vier Stimmen vorsah, für Belgien und die Niederlande je zwei und für Luxemburg eine Stimme. Bestimmte Schutzregelungen, insbesondere das Vorschlagsrecht der Kommission, verhinderten dabei eine einfache Überstimmung der Beneluxstaaten durch die drei „Großen“. Durch alle seitherigen Vertragsänderungen in Verbindung mit dem Wachstum der Gemeinschaft und späteren Union von sechs auf heute 15 Mitgliedstaaten hindurch wurde an diesen Grundprinzipien bei der Berechnung der qualifizierten Mehrheit festgehalten. Mit der Zunahme der Zahl der Mitgliedstaaten stellt sich seit einiger Zeit das umgekehrte Problem eines „Schutzes der Großen“, indem durch komplizierte „Schwellen“ für die qualifizierte 567 Mehrheit verhindert werden soll, daß große Mit- j gliedstaaten durch ein disparates Bündnis mit einer größeren Zahl „Kleiner“ die anderen bevölkerungsreichen Mitglieder überstimmen. Erstmals wurde hierfür in der Nizza-Konferenz als Schutzklausel für bevölkerungsreiche Mitgliedstaaten außer den „Schwellenwerten“ ein demographischer Faktor in die Stimmengewichtung eingeführt. Ab 2005 kann ein Ratsmitglied beantragen, daß bei einer Beschlußfassung mit qualifizierter Mehrheit überprüft wird, ob diese Mehrheit mindestens 62% der Gesamtbevölkerung der Union umfaßt (Erklärung zur Erweiterung der EU des Nizza-Vertrages, letzter Absatz). Inzwischen mehren sich im Verfassungskonvent und anderwärts die Stimmen, welche anstelle dieses überkomplizierten Nizza-Mechanismus sowohl für die einfache wie für die qualifizierte Mehrheit in der künftigen europäischen Verfassung „doppelte“ Mehrheiten, das heißt sowohl der Zahl der Mitgliedstaaten als auch der EU-Bevölkerung für erforderlich und ausreichend erachten. Möglicherweise bahnt sich hier ein sowohl in der Öffentlichkeit verständlicher als auch unter europäisch-repräsentativen Gesichtspunkten für die Belange größerer und kleinerer EU-Staaten langfristig überzeugender Kompromiß an.

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VI. Schlußbemerkung: Von der Einstimmigkeit zur „superqualifizierten“ Mehrheit? Schließlich haben die Erfahrungen in der Union zwischen Maastricht und Nizza Gefahren einer „Diktatur der Kleinen“ in Fällen von Einstimmigkeitsentscheidungen aufgezeigt. Die Ratifikation des Maastricht-Vertrages nach 1992 geriet nach der Zustimmung aller übrigen Mitgliedstaaten durch ein zunächst negatives Referendum in Dänemark ebenso in Gefahr wie diejenige des NizzaVertrages durch die Notwendigkeit der Zustimmung der irischen Bevölkerung. Auch diese wurde erst 2002 in einem „zweiten Anlauf“ mit Mühe erreicht. Die Norweger hatten bereits 1972 und 1994 zweimal von ihrer Regierung ausgehandelte Beitrittsverträge durch Referenden zu Fall gebracht. In der künftigen „Groß-EU“ von 25 und mehr Mitgliedstaaten erhöhen sich die Gefahren aus solchen „Vetopositionen“ eines einzelnen Mitgliedstaates bei grundlegenden Entscheidungen weiterhin. Ihnen könnte durch die Ersetzung der Einstimmigkeitsregel durch eine hohe „superqualifizierte“ Mehrheit begegnet werden, welche die Ablehnung bisher einstimmig zu beschließender Rechtsakte durch einen oder zwei der kleinsten Mitgliedstaaten zu überwinden vermag. Allerdings ist nicht zu übersehen, daß damit die Souveränität der betroffenen Mitgliedstaaten („Irland plus Malta“) in wichtigen Fragen angetastet und in die Hände einer übergroßen Unionsmehrheit gelegt würde. Vermutlich stellt sich damit die Frage nach der Anerkennung eines ausdrücklichen Austrittsrechtes für die betroffenen Staaten. Damit würde die andere hier nicht mehr zu behandelnde Grundfrage der Union nach ihrer bündischen Auflösbarkeit oder bundesstaatlichen Ewigkeitsgarantie an unvermuteter Stelle neu aufgeworfen.

III. Wesen der europäischen Integration

Die Europäische Gemeinschaft als parastaatliche Superstruktur Skizze einer Realitätsumschreibung Beitrag zu Ehren des Hamburger Pioniers des Europarechts in Deutschland in Auseinandersetzung mit der Ipsenschen Deutung der EWG als Zweckverband funktionaler Integration.*

Unendlich oft ist während der europäischen Einigungsbestrebungen seit dem Zweiten Weltkrieg der Versuch unternommen worden, zu definieren, wohin die Reise geht. Vielleicht hat sich die deutsche Seite dabei besonders hervorgetan, systematisierenden Neigungen des nationalen Charakters gemäß, aber auch im Sinne der eigenen bundesstaatlichen Traditionen, denen der Gedanke des Aufgehens der kleineren in der größeren Einheit historisch nicht fremd war. Doch war gewiß mehr als deutsche akademische Liebhaberei im Spiel, wie sich an der ersten grundlegenden „Vision“ Winston Churchills von den „Vereinigten Staaten von Europa“ in seiner Zürcher Rede 1946 ablesen ließ. Mit ihr wurde ein Grundakzent gesetzt, der sich in der Gründung des Europarates 1949 einerseits, der drei Integrationsgemeinschaften EGKS, EWG und EAG 1953/58 andererseits und vor allem in der Finalität niederschlug, die diesen neuen Personalitäten innerhalb Westeuropas nach dem Willen ihrer ursprünglich weithin präföderalistisch gesonnenen „Väter“ Adenauer, de Gasperi, Hallstein, Monnet, Schuman, Spaak u. a. in die Wiege gelegt wurde. I. Zum Wandel der „Idées directrices“ der europäischen Integration Spätestens seit der zweiten Hälfte der sechziger Jahre ist auch dem überzeugtesten Anhänger künftiger europäischer (Bundes)staatlichkeit bewußt geworden, daß die Wege zum „immer engeren Zusammenschluß der europäischen Völker“ (Präambel EWG-Vertrag) zumindest verschlungener und langwieriger sind, als es die erste Nachkriegsgeneration der europäischen Politiker zu hoffen gewagt hatte, die noch ganz aus der Erfahrung und Antriebskraft des Negativbildes des * Erstmalig erschienen in: Stödter/Thieme (Hrsg.), Hamburg Deutschland Europa, Beiträge zum deutschen und europäischen Verfassungs- und Wirtschaftsrecht, Festschrift für Hans Peter Ipsen zum siebzigsten Geburtstag, Mohr Siebeck, Tübingen 1977, 685–699.

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III. Wesen der europäischen Integration

686 nationalstaatlichen Europas j der dreißiger Jahre gelebt hatte, wie es sich im 2. Weltkrieg endgültig ad absurdum führte. In der breiten politischen Öffentlichkeit verdrängten die neuen Formeln des gaullistisch inspirierten „Europas der Vaterländer“ oder seit 1969 die meist konföderativ begriffene „Europäische Union“ der achtziger Jahre in bemerkenswertem Maße die älteren Leitbilder, soweit es nicht in der Mühsal und Nüchternheit der Brüsseler Tagespolitik geradezu zur Tugend wurde, die Fragen nach den ferneren Perspektiven im Europa der Putensterze und des Trockenmilchpulvers zu verdrängen. Die gemeinschaftsrechtliche und -politische Theorie hat diesen ungefähr seit der großen EWG-Krise 1965/66 zu datierenden allmählichen Wandel der Zielsetzungen ihrerseits sorgsam zur Kenntnis genommen. Wohl niemand so einfühlsam wie Hans Peter Ipsen in seinem monumentalen „Europäischen Gemeinschaftsrecht“, mit dessen Erscheinen 1972 die Europarechtswissenschaft weit über die Bundesrepublik Deutschland hinaus eine neue Qualität und Dignität gewonnen hat. Aus dem Impetus der ebenso eigengeprägt geschlossenen wie in der Einzelentfaltung vielfältig fruchtbaren Sicht der Gemeinschaften als „Zweckverbände funktioneller Integration“ heraus, die ohne „Staatlichkeitspräjudiz“ in offener Gestaltform sich ihren eigenen Zielbedarf periodisch erneuern, rechnete Ipsen hier wie bei vielen anderen Gelegenheiten in seiner unnachahmlichen juristischen Eleganz und Ironie gleichermaßen mit der vermeintlichen Hypertrophie der bundesstaatlich/konstitutionalistischen Sicht wie mit der Verstocktheit des klassisch-völkerrechtlich geprägten „Internationalisten“ ab, der auf seine Weise an die Neuartigkeit des Gemeinschaftsphänomens verkürzte dogmatische Maßstäbe anlegt. Es wird das bleibende Verdienst der funktionalistischen Theorie bleiben, daß sie einer Gemeinschaftspraxis, in der sich der frühere „Europa-Idealismus“ mehr und mehr abkühlte, mit dem Übergang „vom Gefühlsverband zum Zweckverband“ (Karl Döhring) neue „Idées directrices“ zur Verfügung stellte, die dem in den sechziger Jahren ernüchterten Integrationsempfinden gemäßer waren als die ursprünglichen Hoffnungen bei Vertragsabschluß. Für eine Fülle von Einzelfragen des weiteren Ausbaues und der Reorganisation der Wirtschaftsunion wird der Funktionalismus auf Dauer entscheidende Argumentationshilfe zu bieten vermögen. An die Irrungen und Wirrungen der jüngeren EWG-Agrarpolitik jederzeit die hehren Grundsätze eines allgemeinpolitisch gemeinten europäischen Zusammenschlusses anlegen zu wollen, hieße partikularistische Interessenpolitik unzulässig hochstilisieren und damit gleichzeitig jene anderen Motivationen unnötig diskreditieren. j 687

Ungeachtet dieser unbestreitbaren Verdienste der Rücknahme eines allzu idealistischen Höhenfluges über die funktionalistische Denkweise fragt sich doch spätestens seit der ersten Haager „Gipfelkonferenz“ von 1969 mit ihrer Wiederaufnahme dessen, was man dort vorsichtig „die politischen Zielsetzun-

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gen“ nannte, die „der Gemeinschaft ihren ganzen Sinn und ihre Tragweite verleihen“ (Ziff. 4 des Haager Kommuniqués vom 1./2.12.1969), ob der Grundgedanke eines die (Prä)staatlichkeit scheuenden Zweckverbandes den weiteren Prozeß der Gemeinschaftsentwicklung in den siebziger Jahren noch voll zu umspannen vermag. Ist nicht diese bald unter dem Signum einer Vorbereitung der Europäischen Union laufende Entwicklung mit der Einrichtung der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) seit dem Davignon-Bericht 1970 auf eine Verdichtung der Beziehungen innerhalb der Gemeinschaft angelegt, die auch in der institutionellen Sicht nach neuen Überlegungen verlangt? Spätestens seit dem „Einfangen“ des Systems der regelmäßigen, lockeren Gipfelkonferenzen in dem gemeinschaftsnäheren „Europäischen Rat“ 1974, dem Bedenken der Gestalt einer Europäischen Union über die „Mission Tindemans“, 1974/75, und vor allem über die Direktwahlbeschlüsse der Regierungschefs und Außenminister am 12.7./20.9.1976 hat die Neunergemeinschaft insgesamt eine Qualität des Politischen wiedergewonnen, die es sinnvoll erscheinen läßt, die Frage nach ihrer strukturellen und institutionellen Personalität zwischen nationalem und internationalem Bereich erneut zu stellen. Im Sinne weniger skizzenhafter Prolegomena, die im Lichte sowohl der Erfahrungen eines Vierteljahrhunderts mit der europäischen Integration als auch unter dem Blickwinkel der heutigen, hieraus geläuterten Aspirationen einige Grundtatsachen und -linien akzentuieren, sei ein solcher Versuch unternommen.

II. Bundesstaat, Internationale Organisation und Zweckverband als Chiffren des Integrationsprozesses? Vielleicht liegt eine gewisse methodische Gemeinsamkeit der drei wesentlichen bisherigen „Denkschulen“ in der Frage der sinnvollen Erklärung des Phänomens der Europäischen Gemeinschaft darin, daß ihre Sicht bei aller Unterschiedlichkeit an jeweils einem bereits wohlbekannten Begriffstypus des staatlichen beziehungsweise des internationalen Rechts anzuknüpfen suchte. Bei den verschiedenen Varianten des (prae)föderalistischen Gedankens von Walter Hallstein bis etwa Ulrich Scheuner wird ebenso deutlich, daß hier als gedanklicher Grundansatz ein – mannigfach j abgewandelter – Bundesstaatsbegriff Pate ge- 688 standen hat, wie bei den „Internationalisten“ Ignaz Seidl-Hohenveldem oder jüngst Albert Bleckmann der Grundtypus der Internationalen Organisationen als Rechtssubjekt des Völkerrechts, von dem dann mannigfach schattiert eine Sonder- und Unterkategorie Supranationale Gemeinschaften oder ähnlich gebildet wird. Aber auch der funktionalistische Grundansatz, von Ipsen gegenüber „Vorläufern“ wie u. a. Andreas Sattler und Heim Wagner ungemein erweitert und vertieft ausgebaut, kann der Zwischenbemerkung nicht ganz entgehen, daß er ungeachtet aller Staatlichkeitsscheue mit der Chiffre des Zweckverbandes un-

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III. Wesen der europäischen Integration

geniert auf eine bekannte Rechtsfigur des nationalen deutschen Verwaltungsrechts zurückgegriffen hat. An all dem ist ganz offensichtlich nichts Prinzipielles auszusetzen. Bei aller Originalität der Gemeinschaftskonstruktion nach 1950 wurde hier weder real noch in der diese Realität widerspiegelnden rechtlichen Terminologie die Welt völlig neu erfunden. Sowohl entstehungsgeschichtlich bei den Gründungsakten (wie vor allem von einem Beteiligten wie Hermann Mosler des öfteren betont und nachgewiesen) als auch innerhalb des fortschreitenden Integrationsprozesses war es ganz naheliegend, natürlich, ja zwingend, daß sich Institutionen und Recht der EG allmählich und in fortwährender Anleihe und gleichzeitiger Abwandlung aus dem reichhaltigen Arsenal der Begrifflichkeiten und Dogmatik sowohl der nationalen Mitgliedsrechte als auch des Völkerrechts entwickelten. Wirklich neue „juristische Entdeckungen“ ereignen sich, wie Hans Dölle einmal nachgewiesen hat, nach gut zwei Jahrtausenden abendländischen Rechtsdenkens höchst selten mehr. Auch das europäische Gemeinschaftsrecht entfaltet seine mittlerweile hinreichend gewonnene unverwechselbare Identität zwischen Staats- und Völkerrecht weniger in taufrischer Originalität als über eine ganz spezifische und wesentlich hierdurch neue „Dosage“ zwischen den staatlichen und den transnationalen Denkfiguren und -weisen. Bei einem Ansatz wie dem hier versuchten wird es sich so seinerseits um nichts weniger handeln können als um eine Art „Verwerfung“ der drei oben angedeuteten, sich ihrerseits vielfältig berührenden „Philosophien“ des Integrationsprozesses. Sinnvoll kann die Frage nach einer möglichst überzeugenden und die Einzelhandhabung des Gemeinschaftsrechtes fruchtbar weiterführenden Deutung der Rechtsgestalt der EG daher immer nur im Sinne einer gewissen Um-Akzentuierung längst bekannter und vielfältig erörterter „Denkmodelle“ gestellt werden. Dabei bleibt gleichzeitig der Faktor des Raumes und der Zeitentwicklung mitzubedenken. Die Erwei689 terung der EG seit 1973 um große Teile des angelsäch- j sisch-nordischen Europas mit seinen eigenen Staats- und Rechtstraditionen verlangt möglicherweise ebenso nach gewissen Umformulierungen vorher „richtig“ gewesener Antworten, wie jeder auch nur mit einem Minimum zeitgeschichtlicher Sensibilität Begabte sich hüten wird, gewisse Hoffnungen der „Föderalisten“ von 1950 ff. aus dem damaligen Impetus der Gründerjahre – Ursprung und Vorbedingung alles später Erreichten! – in einer simplistischen Weise nur deshalb als „falsch“ zu deklarieren, weil die integrationspolitische Entwicklung im inneren und äußeren Kräftespiel unter den westeuropäischen Staaten seither in vielem nicht den geradlinigen Weg der Visionen Winston Churchills oder Jean Monnets gefolgt ist. So ist auch die Kritik an der Zugrundelegung eines „Blue print“ wie des Bundesstaates, der Internationalen Organisation oder des Zweckverbandes, nur eine partielle und der optimalen Akzentuierung. Was aus der Sicht der zweiten Hälfte der siebziger Jahre insoweit stört, ist nicht so sehr die Entlehnung bestimmter einzelner Vorstellungsbilder oder Schlußfolgerungen, sondern der

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grundsätzliche Versuch, jeweils eines dieser „Bilder“ ins Zentrum der Deutungsversuche um die Personalität der EG zu rücken. Ganz gewiß liefert das bundesstaatliche Modell weiterhin eine Fülle höchst bedenkenswerter Anregungen für die binnen-institutionelle Fortentwicklung der Gemeinschaften. Die letzten Vorschläge im Tindemans-Bericht von 1975 über die Fortentwicklung des Zusammenspiels Rat-Kommission-Parlament sind in all ihrer Vorsicht in der Grundanlage gar nicht verständlich ohne einige „zwischen den Zeilen“ sichtbare Basisvorstellungen über die Verbindung bundesstaatsähnlicher Staatensouveränität mit Ansätzen gemeinschaftsweiter demokratischer Legitimierung durch Stärkung der Parlamentskompetenzen. Ebenso hat etwa Albert Bleckmann völlig recht, wenn er in seinem neuen, eindrucksvollen Lehrbuch des Europarechts z. B. bei der Frage eines potentiellen ungeschriebenen Austrittsrechtes der Mitgliedstaaten ungeachtet Art. 240 EWG-Vertrag angesichts der Erfahrungen mit Charles de Gaulle 1965 und James Callaghan 1974 auf den „völkerrechtlichen Lebensfaden“ verweist, an dem die Gemeinschaften angesichts des bisherigen Status integrationis bis auf weiteres immer noch hängen. Schließlich wird niemand, der nach heutigem Stand Ipsens Modell des Zweckverbandes funktioneller Integration von 1972 durch eine etwas andere Chiffre ersetzen möchte, daran vorbeisehen, wie sehr gerade durch diese „nüchterne Herabstufung“ in der Kennzeichnung der Gemeinschaften anstelle früherer nicht mehr tragfähiger „Überhöhungen“ der Weg frei gemacht worden ist für sachentspre- j chende 690 Sichtweisen des täglichen Wirkens der EG in juristischer und tatsächlicher Hinsicht, so wie es besonders in den „Planverfassungen“ der einzelnen Sachbereiche des EWG-Vertrages von der Zollunion bis zur Sozialpolitik konkret angelegt ist.

III. Gefahren perspektivischer Verkürzung Kritisches Fortdenken aus der heutigen Sicht bleibt so nur im Sinne der Frage sinnvoll, ob das Zentrieren um jeweils eine dieser drei Schlüsselvorstellungen den Stand und die Aussichten des Vergemeinschaftsprozesses (noch) optimal trifft. Hier mag die Reserve gegenüber dem „klassischen“ bundesstaatlichen Ansatz der fünfziger Jahre inzwischen am meisten verbreitet sein. Die föderalistische Sicht hatte sich ursprünglich nicht nur bei den führenden Politikern von Adenauer bis Spaak artikuliert, sondern auch in der den praktischen Integrationsprozeß begleitenden Theorie, wobei den deutschen Stimmen (Hallstein, Wohlfahrth, Scheuner, z. T. auch Ophüls u. a.) aus der nationalen Verfassungsgeschichte heraus vielleicht eine gewisse Führungsrolle zufiel, in anderen Mitgliedstaaten aber durchaus analoge Folgerungen gezogen wurden (Héraud, Neri, Rigaux, Waelbroeck u. a.). Diese ursprünglich integrationspolitisch „herrschende Lehre“ ist mittlerweile vor dem Hintergrund langjähriger Erfahrungen nicht nur mit dem gaullistischen Weltbild und neuerdings englischer Parlamentssuprema-

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III. Wesen der europäischen Integration

tie, sondern vor allem auch gegenüber dem Dauertest einer im ganzen noch wenig präföderalen Ausprägung der großen Rechtsmasse des sekundären Gemeinschaftsrechts und seiner nationalen Verlängerungen verständlicherweise stark in den Hintergrund getreten. Selbst Walter Hallstein – gleichermaßen staatsmännischer „Mr. Europe“ und eminenter wissenschaftlicher Analytiker der Integration – hat bezeichnenderweise die jüngeren Auflagen seines „Unvollendeten Bundesstaates“ in „Die Europäische Gemeinschaft“ umgetauft, wenngleich er dort bis heute das Credo der europäischen Föderalisten unmißverständlich verficht: „Politisch sind die Gemeinschaften zugleich Teil eines größeren Ganzen, Zwischenziel auf dem Wege zum Endziel. Dieses Endziel bleibt der europäische Bundesstaat.“ Zutiefst beeindruckende Worte für jeden, der sich der europäischen Integration seit ihren Anfängen verpflichtet weiß, auch wenn die Zahl derjenigen inzwischen drastisch abgenommen hat, die ein Ende der westeuropäischen Nationalstaaten in einem substantiellen Sinne auch nur am ferneren Horizonte zu entdecken vermögen. j 691

Eine Schule oder gar politisch wirksame Richtung der „Internationalisten“ mit der erklärten Absicht, die Integrationsgemeinschaften im Sinne eines „zweiten Europarates“ in den Grenzen des klassischen internationalen Organisationsrechtes halten zu wollen, hat es praktisch wie theoretisch im Grunde nie gegeben. Selbst der Gaullismus, der solchen Vorstellungen vielleicht noch am nächsten kommen mochte, hat als weitgehend pragmatisches Staatsdenken zwar jede seriöse und endgültige Antastung der einzelstaatlichen Entscheidungsfreiheit energisch abzuwehren gesucht, andererseits jedoch in Frankreichs Interessen dienlichen Bereichen, wie insbesondere der Gemeinsamen Agrarpolitik ohne besondere Gewissensskrupel die über das Völkerrecht hinausweisenden supranationalen Techniken und Kunstgriffe bis ins letzte ausgeschöpft. Die Palme für die Errichtung des Gemeinsamen Agrarmarktes – trotz aller Unvollkommenheiten, ja Widersinnigkeiten bis heute der am stärksten europäisierte Teil des Gemeinsamen Marktes – gebührt neben Sicco Mansholt zweifelsohne Couve de Murville und den Agrarministern der V. Französischen Republik in der ersten Hälfte der sechziger Jahre, welche die Vorschläge des Holländers im Rat hartnäckig durchsetzten. Im theoretischen Ansatz war es bei Völkerrechtlern wie etwa Seidl-Hohenveldern und Bleckmann die selbstverständliche Gewohnheit des Denkens von der Rechtsquellenlehre des Völkerrechts her, sowie von seinem dualistisch bzw. monistisch verstandenen Rangverhältnis zum „Landesrecht“ und schließlich ganz besonders die Optik eines grundsätzlich stets reversiblen „internen Staatengemeinschaftsrechts“ der Internationalen Organisationen, welche hier das Bild der EG formten. So mochten die Gemeinschaften als in ihrem besonderen Ehrgeiz vielleicht etwas farbenprächtigere Personalitäten erscheinen, aber letztlich doch als eine Art Rara Species in die große Familie der Internationalen Organisationen von den Vereinten Nationen abwärts einzuordnen sein. Etwa un-

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ter die Kategorie westeuropäische Regionalorganisationen wirtschaftlicher Zielsetzung oder ähnlich. Keinerlei Aversion gegen das europäische Einigungswerk führte dabei die Feder, sondern die abgeklärt weltweite Sicht des traditionellen Internationalisten, für den alles vermeintlich Neue an den Gemeinschaften schon irgendwo einmal da gewesen ist, von der unmittelbaren Geltungskraft bestimmter Organakte bei den internationalen Flußkommissionen über Mehrheitsentscheidung und eigene Einnahmen beim Internationalen Währungsfonds bis zu einer dem Rechtsschutz des Luxemburger EG-Gerichtshofes vergleichbaren Justiziabilität des Organisationsrechtes im Straßburger „Europa der Menschenrechte“. Freilich erlag j solche „völkerrechtliche Präjudizierung“ (Ipsen) nur zu 692 leicht der Versuchung, über den unbestreitbaren entstehungsgeschichtlichen Analogien zwischen den Integrationsgemeinschaften und anderen Internationalen Organisationen zu übersehen, daß ab einem bestimmten Ausmaß der Akkumulation spezifischer Organisationsbefugnisse der qualitative Umschlag in jene „neue Rechtsordnung des Völkerrechts“ erfolgt sein mochte, als welche der Europäische Gerichtshof die Gemeinschaften erstmals in der Rechtssache Costa/ Enel 1964 charakterisiert, um bald darauf das genitivische Zusatzattribut in dieser Formel ganz fallenzulassen. Die funktionalistische Sicht von der EG als Zweckverband mag in ihrem Standort irgendwo zwischen Präföderalismus und traditioneller Internationalität begriffen werden. Von der besonderen Wirklichkeitsnähe dieser Sicht vor allem für ein hinreichendes rechtlich/institutionelles Verständnis der Alltagspraxis der Gemeinschaft in ihrer intensiven, gar nicht „internationalen“ Assimilierung, aber auch in der Absenz vieler staatlicher Grundattribute wurde bereits gesprochen. Kritische Befragung mußte die Zweckverbandsvorstellung, die in vielem den Zustand der EG in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre und darüber hinaus treffend umschrieb, in dem Augenblick erfahren, als sichtbar wurde, daß die „staatsferne“, stark exekutivisch geprägte Verfassungsperspektive des Funktionalismus in der Gemeinschaftswirklichkeit gerade nicht zu neuartigen, gleichzeitig dauerhaften und innovationsfähigen Strukturen führte, sondern zu ausgesprochenen Ermüdungserscheinungen einer immer mehr zum gehobenen Organisationssekretariat abgleitenden Europa-Exekutive. Statt in eine planerisch aktiv organisierte Willensbildung des Zweckverbandes hineinzuführen, der aus jeweils gegebenen Sachzwängen den eigenen künftigen Zielbedarf regelmäßig exekutivisch neu produziert, erwies sich die blanke Rationalität des Funktionalismus auf Dauer nicht als fähig, der allmählichen Stagnation, ja teilweisen Erosion des Brüsseler Pouvoir européen seit der EWG-Krise 1965/66 konzeptionell gegenzusteuern. Erst das gewisse Wiederaufleben gerade jener Art allgemeinpolitischer Impulse seit Den Haag 1969, insbesondere des sich über die Direktwahldiskussion immer mehr verstärkenden Parlamentarisierungsgedankens, welche die funktionalistische Theorie gerne als schädlich verengendes „Staatlichkeits-Präjudiz“ bekämpft hatte, halfen der maroden Gemeinschaft über die

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Gipfelkonferenzen Anfang der siebziger Jahre allmählich in eine gewisse Erneuerung hinein. j 693

IV. Die „Grande Illusion“ einer europäischen Nation

Was sind dann aber die Grundelemente, auf der eine realitätsbezogene Umschreibung der Rechtsgestalt der Gemeinschaften nach einer Erfahrung von gut 25 Jahren aufzubauen hätte? Die Attraktion der funktionalistischen Sicht gegenüber den bundesstaatlichen Hoffnungen beruht nicht zuletzt darauf, daß sie entschlossen – vielleicht zu entschlossen – von der großen Illusion Abschied genommen hat, der fortschreitende Integrationsprozeß führe allmählich im Sinne der Präambel des EWG-Vertrages zu einem so engen Zusammenwachsen der Völker Westeuropas, daß sich jene tatsächliche Infrastruktur einer gemeinsamen europäischen Nation bilden werde, die nach aller verlassungsgeschichtlichen und verfassungsvergleichenden Erfahrung von Italien bis Deutschland und von den USA bis Australien und anderwärts als Vorbedingung für die dauerhafte Errichtung der Vereinigten Staaten von Europa gelten muß. Eine solche „Schmelztiegellösung“, wie sie in Nordamerika seit dem 18. Jahrhundert im Zusammenhang mit dem bekannten „WHASP“ (White/Anglo-Saxon/Protestant)Führungsfaktor einheitliche politische Strukturen ermöglichte, ist im EG-Raum seit den fünfziger Jahren in der Tat nirgendwo in Sicht gekommen. Wer die großen und auch weniger großen Staaten Westeuropas – und dabei keineswegs nur die V. Französische Republik, in welcher der Gaullismus die Idee des Fortlebens der nationalen Souveränität im Grunde nur in besonderer ideologischer Schärfe artikulierte – heute ihren jeweils eigenen Interessen nachgehen sieht, wird zögern, tiefergehende Veränderungen in den nationalen Attitüden innerhalb Europas während der letzten Jahrzehnte entdecken zu wollen. Und ist dieser äußere Eindruck im Grunde nicht nur Produkt des kaum veränderbaren Umstandes, daß sich die jahrhundertealt eingewurzelten sprachlichen, ethnischen und geschichtlichen Differenzierungen im westeuropäischen Raum selbst durch eine einschneidende temporäre Erfahrung wie die Diskreditierung des Nationalstaates durch den 2. Weltkrieg nicht tiefergehend aufheben lassen? Hat nicht sogar, könnte man fragen, die Annäherung der Menschen in der Freizügigkeit der Gemeinschaft sie entgegen den Hoffnungen und Erwartungen gar nicht so sehr nähergebracht, als vielmehr in manchem geradezu ihrer unterschiedlichen nationalen Identität bewußter gemacht? Fühlt sich der italienische Gastarbeiter in der Bundesrepublik oder der regelmäßige deutsche Urlauber an der Adria heute weniger im „fremden Ausland“ als vor zwanzig Jahren? Nach allen, z. T. auch de694 moskopisch erhärteten Beobachtungen bleibt die Eigenart j der alten politischen Nationalkulturen innerhalb Westeuropas für eine nicht absehbare Zeit übermächtig und die Fähigkeit zur gegenseitigen Osmose begrenzt.

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Viel eher als Ansätze zu einer mit diesem Namen ernsthaft belegbaren „europäischen Nation“ werden zeitgeschichtlich weitere Risse innerhalb der bisherigen Staatsvölker sichtbar. Spiegelt sich in der Schwierigkeit, Südtiroler, Flamen und Wallonen, Nordiren und Schotten unter geographisch und nationalkulturell nahestehenden Zentralgewalten dauerhaft zu befrieden, nicht a fortiori das Illusionäre jeder auch nur mittelfristig voraussehbaren Erwartung an eine „Nation Europa“, die zur nötigen Massenloyalität gegenüber einer echten „europäischen“ Regierung bereit sein könnte? De Gaulle vermißte in seinen Pressekonferenzen der sechziger Jahre aus dem Elysée, in denen er die „Apatriden“ der Brüsseler Kommission in ihre Schranken zu weisen suchte, verschiedentlich den großen „Fédérateur“, der seiner Auffassung nach Vorbedingung eines wahrhaften europäischen Einigungswerkes gewesen wäre. Aber auch wenn der französische Staatspräsident für sich selbst mehr die Rolle eines europäischen Bismarck des 20. Jahrhunderts und nicht so sehr diejenige Metternichs gesucht hätte, mag man zweifeln, ob der Voluntarismus eines noch so bedeutenden einzelnen dort ausgereicht hätte, wo die politische, soziale und kulturelle Infrastruktur für die Vereinigten Staaten von Europa fehlte. V. Vom Bedürfnis nach Staatsanalogien in der Europäischen Gemeinschaft Muß man den Funktionalisten daher danken, daß sie ein Stück von der europäischen Bühne abräumten, dessen ursprünglich genuines Pathos im Laufe der Zeit etwas routiniert und in manchem hohl zu klingen begann, so fragt es sich andererseits doch, inwieweit sie ihrerseits mit der strengen und etatophoben Beschränkung der Gemeinschaftsaktion auf die meist wirtschaftlichen Aufgaben des Tages, wie in den Verträgen vorgezeichnet, die Realien des Integrationsprozesses vollständig genug trafen. Die Visionen von Churchill, Schuman und Adenauer von einem künftigen europäischen Bundesstaat – Träume im übrigen einer ganzen Generation, die aus dem 2. Weltkrieg zurückkehrte – mögen in gewissem Sinne Illusionen gewesen sein. Aber auch Träume und Illusionen vermögen, wie die Geschichte vielfältig lehrt, politische Schubkraft zu entfalten, insbesondere dann, wenn sich in ihnen reale und dauerhafte Bedürfnisse ihrer Zeit widerspiegeln. Der Erfolg der wirtschaftlichen Teilintegration in den drei j 695 Gemeinschaften von 1950 bis heute ist zunächst einmal das eindruckvollste Beispiel hierfür. Ob Keimzelle weiterer und allgemeinerer Entwicklungen oder nicht, haben EGKS, EWG und EURATOM sich jedenfalls, wie Ophüls einmal mit Recht feststellte, seit dem Ende des 2. Weltkrieges in Westeuropa als die wohl bedeutsamsten „Errungenschaften“ erwiesen, die durch alle Krisen hindurch der Erosion des tagespolitischen Wandels standgehalten haben. Darüber hinaus – und das ist die vielleicht entscheidende und notwendige Ergänzung zur Sicht des „Zweckverbandes funktioneller Integration“ – gehört zu

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einer Realitätsumschreibung der heutigen gesellschaftlichen Strukturen in Westeuropa nicht nur die Feststellung der fortdauernden Abwesenheit einer europäischen Nation auch nur in den Ansätzen. Genauso wichtig ist das Aufzeigen jener anderen Grundlinie in Gestalt der mächtigen Egalisierungstendenzen, welche die Lebensweise der modernen Industriegesellschaft in einem grosso modo ohnehin schon ebenmäßig entwickelten Raume wie demjenigen der EG mit sich bringt. Diese Linie läuft der Gemeinschaftsaktion weithin parallel, ja kann sogar als eigentliche Vorbedingung ihres bisherigen Erfolges bezeichnet werden. Mag sich der apostrophierte italienische Gastarbeiter heute in Deutschland in einem subjektiven soziokulturellen Sinne vielleicht nicht viel mehr „zu Hause“ fühlen als vor hundert Jahren, so sind sich andererseits nicht nur er, sondern ebenso sein Kollege in Mailand, Paris oder London über die Uniformierungen der industriellen Lebensweise objektiv unendlich nähergerückt als die Generationen vor ihnen. Verbunden mit der heutigen verkehrsmäßigen Erschließung eines Großraumes wie desjenigen der EWG, der in die zeitliche Dimension der Erreichbarkeit umgesetzt sich heute gewissermaßen auf die geographische Größe eines seiner Mitglieder vor hundert Jahren reduziert hat, haben diese und andere technologische Faktoren mittlerweile einen ganzen Kranz von Basisdaten für eine früher unbekannte Regelmäßigkeit, Intensität und Qualität der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit in Westeuropa geschaffen. Diesen Chancen entspricht die bisherige Assimilation innerhalb der Gemeinschaft. Wenn auch ohne die Intimität des binnen-nationalen Umganges, geht die jahrzehntelange tagtägliche Begegnung maßgeblicher Teile der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Eliten der Mitgliedstaaten in den Institutionen der Gemeinschaft sowie innerhalb ihrer Bürokratie über die Beliebigkeit und jederzeitige Rückrufbarkeit des klassischen, völkerrechtlich geprägten internationalen Verkehrs längst hinaus. Mittels einer früher unvorstellbaren Familiarität der ge696 genseitigen natio- j nalen Bekanntschaft hat die EG ihr erstes Ziel der definitiven Befriedung und Beseitigung von „Erbfeindschaften“ zwischen ihren Mitgliedern längst erreicht. Bereits diese letztgenannte Absicht, für Robert Schuman und Konrad Adenauer 1950 über alle ökonomischen Nützlichkeiten der Montanfusion hinweg die zentrale politische Ratio der EGKS, weist auf jenen gehörigen Schuß „Staatsanalogie“ hin, wie er dem Integrationsprozeß seit den fünfziger Jahren nicht nur in dem stets erneuerten schwierigen Unterfangen der allgemeinpolitischen Vergemeinschaftung von der gescheiterten Europäischen Politischen Gemeinschaft des Jahres 1953 bis zur heutigen EPZ im Europäischen Rat immanent war. Walter Hallsteins stete Beteuerung als Kommissionspräsident „We are in politics, not only in economics“ rechtfertigte sich auch in dem Sinne, daß bereits der aufgrund der drei Integrationsverträge zu vergemeinschaftende Sachbereich von einer solchen Dimension war, daß hier weder die locker-internationale, noch aber auch eine eher technokratisch-funktionale „Zweck-Sicht“ für

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einen dauernd tragfähigen Ausbau des Gebäudes der Gemeinschaft ausreichend erscheinen konnte. Auch die EG lebt sozusagen nicht alleine vom Brot ihrer ökonomischen Tagesaufgaben, sondern die hier vergemeinschafteten Sachaufgaben verstehen sich letztlich als ein Dienst überstaatlicher Leistungsverwaltung und Daseinsvorsorge – wie wir deutsch/verwaltungsrechtlich sagen würden – am „Marktbürger“, der damit legitimen Anspruch auf einen Locus standi gegenüber der Gemeinschaftsgewalt erheben kann. Jedenfalls im Grundansatz ist er vergleichbar demjenigen, der dem Bürger innerstaatlich gegenüber den sozioökonomischen Ausprägungen seiner nationalen Staatsgewalt verfassungskräftig zusteht. Gemeinschaftsgrundrechtsdiskussion, Parlamentarisierungsforderungen und manches andere „staatsanaloge“ Postulat in permanenten institutionspolitischen Gesprächen zwischen der Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten folgern hieraus wie von selbst, oder wie es Pierre Pescatore in romanischer Luzidität formuliert: „Les exigences de la démocratie et la légitimité de la Communauté européenne.“ VI. „Parastaatliche Superstruktur“ der EG als derzeitig gültige Kennzeichnung? So nötigt die Skepsis gegenüber der bundesstaatlichen Perspektive weder zum Souveränitätsfetischismus, der die Gemeinschaften sich allmählich zu rein völkerrechtlichen Organisationen auflockern sieht, noch zu einer j Sicht des sich 697 im Wirtschaftlich/Sozialen erschöpfenden Zweckverbandes, bar jeder Attribute der Staatlichkeit. Kein Staat, auch kein unvollendeter Bundesstaat, aber doch voller Anverwandlungen zumeist dem staatlichen und nicht dem internationalen Recht entlehnter Verhaltensweisen: wie charakterisieren sich diese Gemeinschaften dann heute und für eine überschaubare Zukunft, wenn sich der Jurist nicht auf seine ebenso beliebte, wie sterile Leerformel des „sui generis“ zurückziehen will? Besonders wertvolle Ansätze zur Beantwortung dieser Frage kommen nicht zufällig aus der kraft ihres amtlichen Self-Restraints zur Beschränkung auf das Wesentliche veranlaßten Rechtsprechung. Wenn das deutsche Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 22, 296) in Anlegung der Sonde des § 90 BVerfGG und in Anlehnung an die Sprüche des Europäischen Gerichtshofes von der „neuen Rechtsordnung“ der EG seinerseits von einer „im Prozeß fortschreitender Integration stehenden Gemeinschaft eigener Art“ spricht, einer „neuen öffentlichen Gewalt“, die „gegenüber der Staatsgewalt der einzelnen Mitgliedstaaten selbständig und unabhängig ist“, vom EWG-Vertrag als „gewissermaßen der Verfassung dieser Gemeinschaft“ und schließlich vom sekundären Gemeinschaftsrecht als einer „eigenen Rechtsordnung, deren Normen weder Völkerrecht noch nationales Recht der Mitgliedstaaten sind“ – dann klingen in diesen knappen Andeutungen bereits die wesentlichsten positiven Charakteristika der Gemeinschaftskonstruktion an. Bezeichnenderweise hat selbst der an-

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dere Senat des Bundesverfassungsgerichts in seiner vielkritisierten GrundrechtsFehlentscheidung dieser Umschreibung des Rechtsstatus der EG ausdrücklich Reverenz erwiesen (BVerfGE 37, 278). Wenn hier mit der Chiffre „parastaatliche Superstruktur“ in weiterer Erläuterung solcher Formeln und in Ergänzung vor allem der funktionalistischen Sicht ein kleiner Zusatz gemacht wird, so will er nach dem bisher schon Gesagten vor allem zweierlei akzentuieren. Zum einen darf die grundsätzlich berechtigte Betonung der „Eigenart“ der Gemeinschaft beziehungsweise der Stellung ihrer Rechtsordnung „zwischen Staatsrecht und Völkerrecht“ nicht im Sinne einer völlig lupenreinen „dritten Ebene“ mißverstanden werden. Vielmehr bringt gerade eine sehr wesentliche „Eigenart“ des Gemeinschaftsrechts, nämlich sein unmittelbarer Durchgriff und der unbedingte Vorrang gegenüber der innerstaatlichen Norm, die Gemeinschaft in eine so unmittelbare Staatsnähe, daß man nicht Föderalist sein muß, um sich daraus ergebende zwingende Legitimationserfordernisse „parastaatlicher“ Art anzuerkennen. Mag auch das Wort von der 698 „strukturellen Homogenität“ zwischen Gemeinschafts- j und nationaler Gewalt infolge mancher, insbesondere deutscher Übertreibungen – mit der Forderung nach einem grundgesetzadäquaten, geschriebenen EG-Grundrechtskatalog in BVerfGE 37, 271 ff. als negativer Apotheose! – verständlicherweise in Verruf gekommen sein, so steckt in ihm doch ein richtiger Kern. Zwar sollte am deutschen Grundrechtswesen gewißlich nicht Europa genesen müssen. Jedoch hat die Neuaufnahme der „hochpolitischen“ Themen seit dem Ende der Übergangszeit wie insbesondere der Parlamentarisierung und damit Demokratisierung der Gemeinschaft und in der gemeinschaftsgemäßen Form ungeschriebener Allgemeiner Rechtsgrundsätze auch die Befassung des Europäischen Gerichtshofes mit der Geltung von Grund- und Menschenrechten in der Gemeinschaft vor aller Augen gezeigt, daß die inzwischen stark mit staatsähnlichen Befugnissen und Funktionen ihrer parlamentarisch-demokratisch verfaßten Mitglieder angereicherte Gemeinschaftsgewalt dringend einer „strukturellen Funktionsanalogie“ im Sinne gewisser Angleichungen an die grundlegenden Staatsformprinzipien ihrer Mitglieder bedarf, will die EG nicht am Ende doch in einem schwächlichen Zoll- und Kaufmannsverein verkümmern. Das Wort von der „Superstruktur“ will seinerseits zum einen von den durch die bisherige Gemeinschaftsgeschichte diskreditierten bundesstaatlichen Blütenträumen ablenken. Wenn nicht alles täuscht, wird es auch im Jahre 2000 und danach keinen europäischen Bundesstaat jener Prägung geben, wie wir herkömmlicherweise diesen Typus der Staatenverbindung verstehen. Andererseits spricht vieles dafür, daß die dann hoffentlich erreichte „Europäische Union“, will man schon kategorisieren, eine solche Fülle bereits heute sichtbarer und in der Weiterentwicklung befindlicher staatsanaloger Funktionen in sich aufgenommen hat, daß die Existenz der Gemeinschaft im Sinne jenes notwendigen Katalysators endgültig gesichert erscheint, der den 250 Millionen Westeuropäern so-

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wohl hinreichende und gleichmäßig verteilte innere Wohlfahrt garantiert, als sie auch im Zeitalter der Supermächte gegenüber der Außenwelt in angemessener Größe gesprächs- und handlungsfähig macht. Eine solche EG als eine Art zwischenstaatlicher Personalität, die den öfters zu früh zitierten „Point of no return“ der Abhängigkeit von den politischen Wetterlagen ihrer Mitgliedstaaten dann tatsächlich hinter sich gelassen hätte, wäre bei allen Abstrichen gegenüber den Hoffnungen der Gründungsväter der Integration nach 1945 die Mühen von Jahrzehnten gewißlich wert gewesen. Schließlich ein letztes: die Absicht einer definitorischen Bemühung im engeren wortprägenden Sinne fehlt den hier angestellten deutenden Über- j legungen 699 zur „parastaatlichen Superstruktur“ gänzlich. Begriffe braucht man nur dann durch neue zu ersetzen, wenn es bislang an einer hinreichenden Kennzeichnung fehlt. Die Europäische Gemeinschaft bleibt aber insoweit eben als „Gemeinschaft“ in höchst glücklicher Aussagekraft auch für die Zukunft umschrieben. In dem Abschnitt über die semantischen Assoziationen, die der Gemeinschaftsbegriff hervorruft, hat Hans Peter Ipsen – selbst von der „Zweistufentheorie“ des Subventionsverhältnisses bis zum „Marktbürger“ der EWG einer der großen und erfolgreichen Begriffspräger unseres Jus Publicum! – innerhalb seines „Europäischen Gemeinschaftsrechts“ nicht nur Carl Friedrich Ophüls die gebührende Huldigung für seine geglückte Befruchtung der zwischenstaatlichen Organisationsterminologie anläßlich der EGKS-Verhandlungen 1951 erbracht, sondern in einem der vielen Kabinettstücke dieses Magnum Opus eingehend nachgewiesen, wie sehr der „organische“ Gemeinschaftsbegriff lebendige und wachsende Einrichtungen wie die Integrationsgemeinschaften zutreffend umschreibt. Dem war hier über wenige Bemerkungen hinaus nichts hinzuzufügen, die zu der immer wieder neu sich stellenden Frage nach der Rechtsgestalt der EG aus der Sicht der mittsiebziger Jahre einige Akzentuierungen geben wollten.

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Wesen der Europäischen Union* Erweiterte und bestätigende Wiederaufnahme der „Wesensfrage“ in der Ipsen-Festschrift 1977. Die Europäische Union dürfte auf unvorhersehbare Zeit als eine Art Zwitter „Staatenverbund“ bleiben, d.h. eine enge Integrationsgemeinschaft, deren Mitglieder zum qualitativen Sprung in die Bundesstaatlichkeit nicht bereit sind, sich aber gleichwohl in vielerlei Beziehung „staatsähnlich“ zusammenschließen. Art. I-1 Abs. 1 des Entwurfes der EU-Verfassung vom 29.10.2004 definiert zutreffend diese Doppelnatur der Union.

I. Weg und Ziel der europäischen Einigung Das ein gutes halbes Jahrhundert währende Ringen um eine dauerhafte Einigung Europas wird von Anfang an von Überlegungen begleitet, wie die seit den fünfziger Jahren geschaffene Europäische Gemeinschaft und Union in einer Gesamtbetrachtung zu begreifen ist. Das ist die Frage nach der Rechtsnatur oder dem „Wesen“ der EG/EU. Man stellt sie, weil sich zum einen nützliche Schlußfolgerungen bei Einzelfragen ergeben. Gleichzeitig kann man sich durch die Erkenntnis des Wesens der Europäischen Union besser über die künftigen Ziele des europäischen Einigungsprozesses schlüssig werden. Die drei (seit 2002 zwei) Gemeinschaften, die 1992 durch den Maastrichter Unionsvertrag als Europäische Union vereinigt worden sind (Rz. 6/1), stellen die wichtigste Realisation der „Europäischen Idee“ dar. Die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft machten mit der formellen Gründung der EU in Maastricht 1992 (Präambel Abs. 13, Art. 1 (ex A) EUV) deutlich, daß die europäische Integration sich mit dem Zusammenbruch des europäischen Kommunismus 1989/91 nicht erschöpft hatte. Die EU begreift sich als neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas (Art. 1 (ex A) Abs. 2 EUV). Die Konferenzen von Maastricht 1992, Amsterdam 1997 und Nizza 2001 legten neues Zeugnis von dem dynamischen Charakter ab, der die Entwicklung der EG/EU seit ihren Anfängen 1953/58 gekennzeichnet hatte (Fusion der Exekutiven, Beitritte, Gründung des Europäischen Rates mit Beginn politischer Zusammenarbeit, Direktwahl des Europäischen Parlaments, Europäisches Währungssystem, Einheitliche Europäische Akte, Währungsunion). Mit * Die Querverweise (Rz./§ . . .) beziehen sich auf die 3. Auflage des Lehrbuches zum Europarecht von Thomas Oppermann, C. H. Beck, München 2005, die Zahlen und Striche auf die Seitenzahlen. Der Beitrag ist erstmalig dort erschienen (S. 272– 282).

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der Gründung der EU wurden gleichzeitig gewisse Konturen der künftigen Finalität j des Einigungsprozesses sichtbar. In dem neuartigen Bekenntnis zur 273 Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten (Präambel Abs. 4, Art. 6 (ex F) Abs. 1 EUV) sowie zum Subsidiaritätsprinzip des Art. 5 (ex 3 b) EGV wurden zum ersten Mal Grenzen des Integrationsprozesses definiert. Die Ratifikation der Verträge von Maastricht, Amsterdam und Nizza zog sich über Jahre hin und war mehrfach durch das Scheitern von Referenden bedroht (Dänemark, Irland). Zwar bewies die gleichzeitige Erweiterung der EU auf 15 Mitglieder 1995 und 25 im Jahre 2004 die fortdauernde Anziehungskraft des „Projektes Europa“. Aber wie sollte diese „Groß-EU“ aussehen? Wo könnten ihre endgültigen geographischen Grenzen liegen? Schließen sie die Türkei, die Ukraine und andere „Randstaaten“ ein? Mit dem Europäischen Rat von Köln 1999 und der beinahe gescheiterten Nizza-Konferenz 2001 gewannen die Mitgliedstaaten die Erkenntnis, daß das künftige „große“ Europa einer neuen verfassungsmäßigen Grundlegung bedürfe. Anstelle der völkerrechtlichen Vertragsänderung (Rz. 6/ 52) wurde die „Konventsmethode“ eingeführt. Konvente sind parlamentarisch/ gouvernemental gemischte Gremien, die der Regierungskonferenz vorgeschaltet werden. Ihnen wurde die Aufgabe übertragen, „Verfassungsentwürfe“ vorzubereiten, denen die Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“ abschließende Gestalt geben. Auf diese Weise entwarf der „Grundrechtekonvent“ unter Leitung von Roman Herzog 1999/2000 die Europäische Grundrechte-Charta. Der anschließende „Verfassungskonvent“ erarbeitete 2002/2003 unter Giscard d’Estaing den Entwurf eines Europäischen Verfassungsvertrages, in den die Grundrechte-Charta einbezogen wurde. Die anschließende Regierungskonferenz 2003/2004 einigte sich auf den Text des „Vertrages über eine Verfassung in Europa“ (Unterzeichnung in Rom am 29.10.2004). Wer nach der heutigen Rechtsnatur der EU fragt, muß sich dieser Entwicklung bewußt sein. II. Schaffung eines „Staatenverbundes“ als Konzept der Verträge Bei der Umschreibung der Rechtsnatur der EG/EU ist nicht so sehr auf die große Zahl theoretischer oder auch politisch inspirierter Konzeptionen abzustellen, die seit den fünfziger Jahren und im Anschluß an den Maastrichter EUV seit 1992 verstärkt an die Gemeinschaft angelegt wurden. Oft spiegeln sich in ihnen nichts anderes als vorauseilende oder auch bewußt hemmende europapolitische Wunschvorstellungen. Grundlage für eine wirklichkeitsbezogene rechtliche Analyse kann nur das Konzept j der Verträge als der „Verfassung“ der 274 Union (EuGHE 1991, I-6079 ff. (6080) – Gutachten 1/91 „EWR“) selbst sein, unter Mitberücksichtigung der Änderungen und Ergänzungen und der konsentierten Gemeinschaftspraxis in einer mittlerweile über fünfzigjährigen Geschichte.

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III. Wesen der europäischen Integration 1. Die Europäische Gemeinschaft und Union als neuartige Form zwischenstaatlicher Verbindung

Wesentlich ist als erstes die Erkenntnis, daß sich die EG/EU in ihrer konzipierten und gewachsenen Eigenart nicht in das klassische Schema der völkerund staatsrechtlichen Staatenverbindungen (Internationale Organisation, Staatenbund, Bundesstaat usf.) pressen läßt, sondern dieses um eine neue Variante bereichert. Die Bezeichnung hierfür hat gewechselt. Bis Maastricht 1992 galt das auf den deutschen Schumanplanunterhändler Carl Friedrich Ophüls 1950/51 zurückgehende schöne Wort „Gemeinschaft“. Seit Maastricht ist die überwölbende Bezeichnung „Union“, unter deren „Dach“ die Europäische Gemeinschaft als eigentlicher Kern der Union neben der intergouvernementalen GASP und PJZ fortbesteht (Art. 1 (ex A) Abs. 3 EUV, Rz. 6/1). Rechtspersönlichkeit im juristischen Sinne bleiben bisher die EGen (EG und EAG). Wenn die Europäische Verfassung 2004 in Kraft tritt, wird die EU zur zentralen Rechtspersönlichkeit (Art. I-7, Art. III-438 EV). Die EAG besteht daneben weiter. In Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 89, 155 ff. „Maastricht“) für die EG/EU seit 1993 die Wortprägung „Staatenverbund“ in Umlauf gebracht. Sie ist für alle praktischen Bedürfnisse weitgehend synonym mit „Gemeinschaft“, „Union“, „Staatenunion“ oder „Staatengemeinschaft“. Zeitgeschichtlich läßt sich feststellen, daß es einen der europäischen Integration nach 1945 vergleichbaren umfassenden Einigungsprozeß einer großen regionalen Staatengruppe bisher noch nicht gegeben hat. Ähnliche Unterfangen in Europa (EFTA, EWR, OECD, vgl. § 3), in anderen Kontinenten (OAU, ASEAN, NAFTA u. a.) oder weltweit (GATT/WTO) bleiben nach dem Umfang der gestellten Aufgaben oder der Intensität der Zielverfolgung hinter den europäischen Bestrebungen zurück. Die EG/EU erweist sich als ein „neuer Rechtsträger im Geflecht der zwischenstaatlichen Beziehungen“ (Rudolf Bernhardt). Stellt man die Frage, was die Besonderheit der Europäischen Union in ihrer Mischung und Verschmelzung aus staatlichen und internationalen Strukturelementen ausmacht, wird häufig auf die Überstaatlichkeit („Supranationalität“) der EG/EU verwiesen. Dies stellt eine nützliche Chiffre dar, wenn man den übersteigerten Gebrauch des Supranationalen vermeidet, der früher bei europäischen Föderalisten üblich war.

a) Zur Überstaatlichkeit (Supranationalität) der EG/EU In einer der Offenheit des Einigungsprozesses Raum gebenden Definition hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 22, 296; st. Rspr.) die EG charakterisiert als „eine im Prozeß fortschreitender Integration stehende Gemeinschaft ei-

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gener Art, . . . auf die die Bundesrepublik Deutschland – wie die übrigen Mitgliedstaaten – bestimmte Hoheitsrechte ,übertragen‘ hat“. Diese Umschreibung betont zutreffend mit der Erwähnung der Übertragung von Hoheitsrechten die im Vergleich zu anderen Internationalen Organisationen stärkeren Eigenzuständigkeiten der EG, die es rechtfertigen, von einer „Gemeinschaftsgewalt“ zu sprechen. Ferner wird der prozeßhafte, in fortschreitender Entwicklung stehende Wesenszug der Gemeinschaftsgewalt hervor- j gehoben. Die Betonung, daß nur 275 „bestimmte“ Hoheitsrechte von den Mitgliedstaaten auf die EG übertragen wurden, erinnert an die Begrenztheit der Befugnisse. Damit unterscheidet sich die EG/EU von Formen der Staatlichkeit. Die Kompetenzfülle der EG/EU ist gewöhnlich gemeint, wenn von ihrer Überstaatlichkeit („Supranationalität“) die Rede ist. Das Wort war in den fünfziger und beginnenden sechziger Jahren zeitweilig zu einer Schlüsselvorstellung der europäischen Föderalisten (Monnet, Hallstein u. a.) geworden, die auf eine bundesstaatliche Zukunft der Gemeinschaft hinweisen sollte. Dies rief seit den sechziger Jahren die souveränitätsbewußte Gegenreaktion des „Europas der Vaterländer“ (De Gaulle, Thatcher) hervor. Für die in Maastricht Anfang der neunziger Jahre gefundene Rechtsgestalt der EU sind inzwischen in der Staatspraxis Definitionen typisch geworden wie die „Union européenne, constituée d’États qui ont choisi librement, en vertu des traités qui les ont institués, d’exercer en commun certaines de leurs compétences“ (Art. 88-1 Französische Verfassung) oder ähnlich als „Staatenverbund zur Verwirklichung einer immer engeren Union der – staatlich organisierten – Völker Europas“ (BVerfGE 89, 156 – „Maastricht“). Auch wenn hier etwas stärker als früher die staatliche Herkunft der Gemeinschaftsgewalt betont wird, bleibt gültig, daß der Union von ihren Mitgliedstaaten eine bemerkenswerte Zahl bisher staatlicher Befugnisse übertragen worden ist. Bei deren Ausübung muß die EG/EU notwendig „über“ ihren Mitgliedern im Sinne des Vorranges der Gemeinschafts(Unions)gewalt (Rz. 7/2) stehen. Zu diesen supranationalen Elementen der EG/EU gehören insbesondere: aa) Breite der Aufgabenbereiche der Union Der EU sind weite Teile des öffentlichen Wirtschaftsrechts ihrer Mitgliedstaaten zur gemeinsamen Verantwortung überantwortet worden. Basisbereiche (Kohle, Stahl, Kernenergie), die Handels(Zoll)politik im weitesten Sinne, Wirtschafts-, Industrie- und Regionalpolitik, Landwirtschaft, Verkehr, freier Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr, Währungs-, Steuer-, Wettbewerbs-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik, Forschung/Technologie, Bildung, Kultur und Umweltpolitik unterfallen in unterschiedlichem Umfang der Gemeinschaftskompetenz. Ebenso verfügt die Union mittlerweile über Zuständigkeiten in der Außenpolitik (Handels- und Entwicklungspolitik, allgemeine Außenpolitik und Si-

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cherheitspolitik). In der klassischen Innenpolitik bestehen mit der PolizeilichJustitiellen Zusammenarbeit Ansätze gemeinschaftlichen Handelns. Die Gesamtheit dieser Aufgabenbereiche ist mittlerweile durch umfängliche Setzung von Sekundärrecht ausgebaut worden. Dies wird zusammenfassend als „gemeinschaftlicher Besitzstand“ (Acquis communautaire) bezeichnet. bb) Verpflichtung der Union auf gemeinsame politische Grundwerte Die EU ist nicht nur Wirtschaftsraum, sondern in wesentlichem Umfang eine Politische Union. Sie bekennt sich zu politischen Grundwerten, die den gemeinsamen Überlieferungen der Verfassungen ihrer Mitgliedstaaten entnommen sind. Hierzu rechnen gemäß den Aussagen in den Präambeln und Zielbestimmungen der Verträge Demokratie, Gewaltenteilung, Rechtsstaat, Menschenrechte und Grundfreiheiten, Solidarität, Subsidiarität, Frieden, Sicherheit u. a. m. Ähnlich wie ihre Mitgliedstaaten legitimiert sich die Union durch ihr Bekenntnis zu Wertvorstellungen sozialethischer Natur („Wertegemeinschaft“). cc) Autonome und intensive Rechtsetzungsgewalt der EG/EU Ein Spezifikum der EG liegt nicht nur in der Breite, sondern auch in der Tiefe ihrer Tätigkeit. Kern der Supranationalität ist die vor allem im EG-Vertrag den Organen übertragene Befugnis, gegenüber und in ihren Mitgliedstaaten mit unmittelbarer Verbindlichkeit Gemeinschaftsrecht setzen zu können. Im unbedingten „Vorrang des Gemeinschaftsrechts“ (Rz. 7/3) prägen sich Unabhängigkeit und Befolgungsanspruch der Gemeinschaftsgewalt bis hin zum einzelnen Unionsbürger aus. Als autonom „europäische“ Rechtsordnung unterscheidet sich die EU von den völkerrechtlichen Staatenverbindungen. j 276

dd) Selbständigkeit der EG-Organe Alle Organe der Gemeinschaft sind als von den Mitgliedstaaten selbständige Einrichtungen in dem Sinne zu begreifen, daß ihr grundlegender Auftrag die Findung des gemeinsamen europäischen Interesses und die Bildung des europäischen Gemeinwillens ist. Zur Erleichterung dieser Aufgabe sehen die Verträge öfters die Möglichkeit souveränitätsüberspringender Mehrheitsentscheidungen vor. Mag auch die Europäisierung in der Entscheidungsfindung bei den einzelnen Organen (Rat, Kommission, Europäisches Parlament, Gerichtshof) Abstufungen kennen und sind in der Gemeinschaftspraxis bei der genuin europäischen Willensbildung nicht selten Abstriche zu machen, bleibt doch der gemeinschaftsrechtliche Anspruch an die Selbständigkeit der Organe unabdingbar.

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ee) Finanzielle Selbständigkeit der Union Die Union ist inzwischen nicht mehr Kostgänger ihrer Mitgliedstaaten, sondern finanziert sich vollständig aus eigenen Einnahmen (Zölle, Agrarabschöpfungen, sonstige Abgaben, Mehrwertsteuereinnahmenanteil, BSP-Mittel, Montanumlage, Gemeinschaftsanleihen, Gemeinschaftssteuern, Rz. 11/18). Sowohl diese staatsähnlichen Formen der Finanzierung als auch das für eine zwischenstaatliche Einrichtung ganz ungewöhnlich hohe Haushaltsvolumen (derzeit gute A 100 Mia. jährlich) verleihen der Gemeinschaft Eigengewicht sowohl gegenüber ihren Mitgliedstaaten als auch international. ff) Umfänglicher Rechtsschutz Die intensive Rechtsetzungsgewalt der EG (Rz. 6/117) wird im Interesse der Rechtsunterworfenen (Mitgliedstaaten, Unternehmen, Einzelpersonen u. a.) durch einen breit und effektiv ausgestalteten Rechtsschutz ergänzt. Dabei ist nicht nur an die umfänglichen Zuständigkeiten des Gerichtshofes der EG und des Gerichtes erster Instanz verfassungs-, verwaltungsrechtlicher und sonstiger Ausrichtung zu denken (Rz. 9/4). Da das Gemeinschaftsrecht in den MSen unmittelbar gilt, sind gleichzeitig die nationalen Gerichte zur Rechtsschutzgewährung verpflichtet. Die Harmonisierung der beiden Rechtsschutzebenen erfolgt über das Vorabentscheidungsverfahren des Art. 234 (ex 177) EGV. Der Rechtsschutz ist zugleich ein sehr wichtiges Instrument, die Entscheidungen der Gemeinschaftsgewalt gegenüber retardierenden Kräften in den Mitgliedstaaten durchzusetzen. gg) Unvollendetheit und Dauerhaftigkeit der Union Bisher ist für die EU der offene, prozeßhafte Grundcharakter ihrer Tätigkeit kennzeichnend. Die Union ist noch nicht vollendet, sondern strebt einer Finalität zu, die erst in Umrissen erkennbar wird. Auf der anderen Seite ist die europäische Einigung in Gestalt der EU dauerhaft gemeint. Ähnlich wie eine nationale Verfassung gelten die Verträge „auf unbegrenzte Zeit“ (Art. 51 (ex Q) EUV, Art. 312 (ex 240) EGV). Dies schließt allerdings den Austritt nicht aus. Die EU-Verfassung 2004 sieht diese Möglichkeit ausdrücklich vor (Art. I-60 EV). Diese wichtigsten Züge der Europäischen Union als eines neuartigen, intensiven „Staatenverbundes“ sind jeweils für sich genommen nicht originär. Über breite Aufgabenfelder verfügen auch die Vereinten Nationen. Unmittelbar geltendes internationales Recht vermochte die Donauschiffahrtskommission schon nach dem Ersten Weltkrieg zu setzen. Überstaatlichen Rechtsschutz gewährt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Rahmen der Straßburger Men-

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schenrechtskonvention. Eine Eigenfinanzierung ist beim Internationalen Währungsfonds gegeben. Was die EU als überstaatliche Verbindung ihrer Mitglieder aus den sonstigen zwischenstaatlichen Organisationen heraushebt, ist die Zusammenfassung dieser fortgeschrittenen Organisationsbefugnisse in einer einzigen Einrichtung. Die spezifische Akkumulation und „Mischung“ starker Kompetenzen macht die Eigenart der Union als einer besonders intensiven Staatenverbindung sui generis aus. b) Zur Nichtstaatlichkeit der EG/EU Auch wenn man der EG/EU in bestimmten Zusammenhängen „Staatsähnlichkeiten“ oder „Staatsnähe“ zuspricht, ist sie kein Staat, auch kein (Vor-)Bundesstaat. Das schließt nicht aus, daß sie hier und da (z. B. in der Finanzordnung, 277 Rz. 11/ j 72) einzelne praeföderale Züge aufweist. Es fehlen der Union insbesondere folgende wesentliche Eigenschaften von Staatlichkeit, wie sie nach den herkömmlichen Kriterien der Staatslehre für den Staat moderner Prägung gefordert werden: aa) Keine umfassende Gebietshoheit Die EU besitzt keine umfassende, d. h. virtuell unbegrenzte Verfügungsgewalt über ein „EU-Gebiet“ im Sinne eines grundlegenden Elementes der Staatlichkeit. Gemäß dem Prinzip der begrenzten Einzelzuständigkeiten übt die Gemeinschaft vielmehr im „räumlichen Geltungsbereich“ der Verträge (insbes. Art. 299 (ex 227) EGV) die ihr verliehenen Einzelzuständigkeiten punktuell aus. bb) Keine umfassende Personalhoheit Auch nach der Einführung der Unionsbürgerschaft (Art. 17 (ex 8) EGV, Rz. 4/53) übt die EG/EU keine umfassende Personalhoheit über diesen Personenkreis aus. Entscheidend bleibt die Staatsangehörigkeit der MSen, welche die Unionsbürgerschaft vermittelt. Der Unionsbürger wird nur punktuell von der Gemeinschaftsgewalt erfaßt (z. B. als Adressat einer VO oder als Wahlbürger bei der Direktwahl zum EP). Immerhin ist die Union nicht nur ein Staatenzusammenschluß, sondern eine Vereinigung der Völker Europas (Art. 1 (ex A) EUV. Die EU-Verfassung 2004 stellt auf die Bürgerinnen und Bürger und Staaten Europas ab (Art. I-1 EV)). Dies schließt bestimmte „europäische“ Rechte und Pflichten der Unionsbürger ein, wie sie z. T. in Art. 17 (ex 8) ff. EGV zusammengefaßt sind.

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cc) Begrenztheit der Gemeinschaftsgewalt Vor allem an dem die Rechtsetzungsgewalt der EG/EU beherrschenden Prinzip der begrenzten Einzelzuständigkeit (Art. 5 (ex E) EUV, Art. 5 (ex 3 b) EGV) zeigt sich der qualitative Unterschied der Gemeinschaftsgewalt zur plenitudo potestatis klassischer Staatsgewalt. Dies gilt in mehrfacher Hinsicht. Zum einen ist die Gemeinschaftstätigkeit auf die ihr ausdrücklich (einschließlich der wichtigen, aber ihrerseits begrenzten Möglichkeiten der Vertragsfortentwicklung über Art. 308 (ex 235) EGV) eingeräumten Sachbereiche beschränkt. So ist eine Gemeinsame Agrarpolitik der EG möglich, nicht aber eine Gemeinsame Schulpolitik. Die Union ermangelt, mit anderen Worten, der Kompetenz-Kompetenz und ist insoweit auf zusätzliche Übertragungen von Hoheitsrechten seitens der MSen im Wege der Vertragsergänzung (insbes. Art. 48 (ex N) EUV) angewiesen. – Eine zweite Begrenzung ergibt sich daraus, daß die Gemeinschaft „nur“ als Rechtsgemeinschaft angelegt ist, d. h. selbst kaum über Zwangsgewalt polizeilicher, militärischer oder auch nur justiziell-zwangsvollstreckungsmäßiger Art verfügt. Auch insoweit ist sie auf die Unterstützung ihrer MSen angewiesen. dd) Keine Souveränität der EU Insgesamt ist die EG/EU nicht „souverän“ in dem elementaren Sinne, daß ihre eigenen Mittel rechtlicher und politisch/tatsächlicher Art zur Bewältigung von Grenzsituationen (Krisen, aber auch Konstellationen politischer Fortentwicklung) ausreichen. Die EG/EU verfügt als Rechtsgemeinschaft nicht über die Souveränitätsreserve eigener politischer Macht. So bleiben die Mitgliedstaaten die „Herren der Verträge“. Dabei ist zu bedenken, daß sie als Glieder der Union im Sinne der Verfolgung der konsentierten Vertragsziele gleichzeitig deren Diener sind (Ulrich Everling). – Das Bewußtsein um solche (möglicherweise nie zu mobilisierenden) Letztkompetenzen sollte nicht die langjährige und fortdauernde Normalsituation verdunkeln, in der sich die Union über den MSen als dauerhafte Rechts- und Organisationsebene zur gemeinsamen Bewältigung einer großen Zahl transnational gewordener Aufgaben etabliert hat. Auch wenn die Gemeinschaft die Schwelle zu eigener, von den MSen gelöster Staatlichkeit nicht überschreitet, stellt sie in der Dichte und Unmittelbarkeit ihrer kommunautären Existenz im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten und zu den privaten Rechtssubjekten eine neuartige, intensive Verbindungsform dar, die ihresgleichen sucht. Ebenso spielt die EU in den internationalen Beziehungen eine aktive Rolle, die über diejenige der herkömmlichen Internationalen Organisationen hinausreicht. In der Union verkörpert sich eine bestimmte Identität Europas in der Welt. j

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III. Wesen der europäischen Integration 2. Andere Deutungen

Immer wieder ist versucht worden, die Gemeinschaften in der einen oder anderen Form in den aus dem Völker- und Staatsrecht bekannten Kanon der Staatenverbindungen oder auch in bekannte Organisationsfiguren des innerstaatlichen Rechts einzufügen. Aus solchen Deutungsversuchen ist mancherlei Gewinn für die Erkenntnis des Wesens der EG/EU abgefallen. Letztlich hat es sich aber als unbefriedigend und unzulänglich erwiesen, das neuartige Phänomen der Gemeinschaft an diesem überkommenen Begriffsarsenal zu messen. a) Internationale Organisation Zweifelsfrei sind die Europäischen Gemeinschaften (bisher nicht die EU als ihr „Dach“) Völkerrechtssubjekte, d. h. zwischenstaatliche Organisationen, die nach Maßgabe ihrer Außenkompetenz an den internationalen Beziehungen zu dritten Staaten und anderen Internationalen Organisationen teilnehmen (Rz. 30/ 8). Ebenso sind sie privatrechtsfähige internationale juristische Personen innerhalb ihrer MSen (vgl. bes. Art. 281, 282 (ex 210, 211) EGV). Unbefriedigend bleibt jedoch, die EGen oder die EU in völkerrechtlicher Sicht unter die klassischen Internationalen Organisationen aufzunehmen, mit lediglich der Besonderheit einer „stärker integrierten Internationalen Organisation“ (Seidl-Hohenveldern). Eine solche Deutung trägt der Summe der staatsähnlichen Befugnisse nicht hinreichend Rechnung, welche den überstaatlichen Charakter der Gemeinschaft ausmachen. Die autonome „Europäische“ Rechtsordnung der EG/EU mit ihrem Vorrangsanspruch gegenüber dem nationalen Recht unterscheidet sich grundlegend von einer völkerrechtlichen Verbindung. – Nach anderen völkerrechtlichen Deutungen wird die EG als „offenes (d. h. ggf. durch Völkerrecht zu stärkendes) Subsystem“ begriffen, d. h. mehr als eine klassische Internationale Organisation (Marschlik, Subsysteme im Völkerrecht, 1997). b) Staatenbund/Verwaltungsunion Aus ähnlichen Gründen sind Bezeichnungen der EG/EU ungenügend, die sie unter besondere Formen völkerrechtlich geprägter Staatenverbindung einordnen möchten, wie den Staatenbund oder die Verwaltungsunion. Zwar zeigt das europäische Einigungswerk, besonders auf der allgemeinpolitischen Seite (GASP, PJZ), gelegentlich konföderative Züge. Mit seiner Konzeption eines „Europas der Vaterländer“ hatte De Gaulle in den sechziger Jahren die föderalistisch inspirierten Pläne zur weiteren Integration entscheidend gehemmt. Dennoch orientiert sich der historische Begriff des Staatenbundes zu stark an Vorstellungen einer primär völkerrechtlich gemeinten, klassisch-diplomatischen Staatenzusammenarbeit bar weiterer politischer Finalitäten. Er wird damit der Neuartigkeit

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und Intensität des EU-Zusammenschlusses nicht gerecht. Auch die Erinnerung an die völkerrechtliche Verwaltungsunion im Stile des 19. Jahrhunderts (Constantopoulos) vernachlässigt sowohl die über den wirtschaftlichen Bereich hinausweisenden Aspekte der europäischen Vergemeinschaftung als auch den unbedingten Befolgungsanspruch des Gemeinschaftsrechts. Verwendbar ist dagegen die Definition der EU als Staatenverbund (BVerfGE 89, 155 ff. „Maastricht“), wenn man sich bewußt bleibt, daß sie gerade nicht Konföderation meint, sondern einen intensiveren Rechts- und Handlungsverbund. Staatengemeinschaft oder Staatenunion („Union of States“) wäre wahrscheinlich eine Wortwahl, die über die deutschen Sprachgrenzen hinaus verständlich gemacht werden könnte. c) Zweckverband funktioneller Integration Im Anschluß an die amerikanische Theorie des Funktionalismus (Deutsch, Haas, Lindberg u. a.) entwickelte Hans Peter Ipsen (Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 196 ff.) die Deutung der EG als „Zweckverband funktioneller Integration“. Hiernach ist die Gemeinschaft eine vornehmlich wirtschaftliche Organisation, die mit ihren begrenzten Befugnissen transnational gewordene Aufgaben verwirklicht. Mit den „spill-over-Effekten“ fortschreitender sektoraler Teilintegration verstärkt sich die wirtschaftliche Vereinigung Europas immer weiter, bis der „point of no return“ erreicht ist. Der Charakter des Gemeinschaftsrechts als eigenständige Rechtsordnung zwischen Staats- und Völkerrecht und die Offenheit des Integrationsprozesses ohne vorzeitige „Finalität“ sind weitere Bestandteile der Deutung Ipsens. Die funktionale Theorie ermöglichte auf diese Weise vielfältig ein vertieftes Verständnis der wirtschaftlichen Gemeinschaftsaktion. Die Schwäche der funktionalen Betrachtungsweise liegt in ihrer „technokratischen“ Selbstbeschränkung auf den wirtschaftlichen Bereich. Spätestens mit der Gründung der Europäischen j Union in Maastricht 1992 wurde deutlich, 279 daß mit der „europäischen Idee“ Robert Schumans und anderer Ernst gemacht wurde, einen allgemeinpolitischen Zusammenschluß Europas zu schaffen. Diese politische Finalität der EU hat sich über die Konferenzen von Amsterdam und Nizza 1997/2001 und die EU-Verfassung 2004 verstärkt. Die Kategorie des „Zweckverbandes“ greift heute zu kurz. d) (Vor-)Bundesstaat Seit dem Briand-Plan für eine Europäische Föderation 1929, dem Appell des Haager Europa-Kongresses 1948 und auch der Schuman-Erklärung von 1950 ist die Schaffung eines Europäischen Bundesstaates („Vereinigte Staaten von Europa“) nach dem Vorbild der USA eine europapolitische Vision geblieben, die

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in der einen oder anderen Form immer wieder in der politischen Diskussion ihren Platz findet. Die tatsächliche Entwicklung der EG und EU ist in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts etwas andere Wege gegangen. Bis in die sechziger Jahre waren die Visionen der europäischen Föderalisten (Adenauer, de Gasperi, Schuman) maßgeblich. Ihnen stellte de Gaulle das Konzept eines konföderalen „Europas der Vaterländer“ entgegen. In der Gemeinschaftspraxis hat sich die EU seit Maastricht 1992 als „Staatenverbund“ sui generis entwickelt (Rz. 3). Mit der immer fortschreitenden Erweiterung der EG/EU von der ursprünglichen Sechsergemeinschaft zu einer Union von 25 und mehr Mitgliedern ab 2004 ist die bundesstaatliche Perspektive mehr oder weniger zur Chimäre geworden. Man kann jedoch in der engen Staatenunion gewisse „föderale Elemente“ entdecken, wie beispielsweise in der EU-Finanzordnung sowie in der europäischen Strukturpolitik oder in der Währungsunion. Neuerdings wird von den „zwei Legitimationssträngen“ der EU gesprochen (Giscard d’Estaing), einem integrativ-europäischen und einem intergouvernementalen. Sie verkörpern sich einerseits in Institutionen wie dem Europäischen Parlament, der Kommission, dem Gerichtshof und der Zentralbank, während die bis auf weiteres vorrangige mitgliedstaatliche Komponente im Rat und ganz besonders im Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs ihren Platz findet. 3. Zur Finalität der Europäischen Union

Über das Endziel des europäischen Einigungsprozesses ist viel gerätselt worden. Die angestrebte Finalität hat seit dem Beginn in den fünfziger Jahren Wandlungen durchlaufen. Die in der Sechsergemeinschaft der fünfziger und frühen sechziger Jahre scheinbar konsensfähige Vision des Europäischen Bundesstaates hat in der EWG-Krise 1965–66 einen entscheidenden Stoß erhalten, von dem sie sich nicht mehr erholt hat (Rz. 1/24). Seit Maastricht 1992 ist nach einer längeren pragmatischen Periode das ausdeutungsfähige Leitbild der Europäischen Union an die Stelle der föderalistischen Pläne getreten. Art. 1 (ex A) Abs. 2 EUV definierte die „Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas“ als neue Zielsetzung. Die Vollendung des Binnenmarktes und die Währungsunion bedeuteten in den neunziger Jahren Schritte auf diesem Wege. Dagegen blieb die Verwirklichung einer „Politischen Union“ in Gestalt einer Vergemeinschaftung der klassischen Innenpolitik und der Außenpolitik trotz kleinerer Fortschritte in Amsterdam 1997 und Nizza 2001 stecken. Beide Bereiche blieben weithin intergouvernemental. Der Maastrichter „Staatenverbund“ ließ gleichzeitig mit der Achtung der nationalen Identitäten und der Einführung des Subsidiaritätsprinzips (Art. 6 (ex F) Abs. 3 EUV, Art. 5 (ex 3b) Abs. 2 EGV) erstmals „verfassungsmäßige“ Grenzen des Einigungsprozesses erkennen. j 280

Zur gleichen Zeit führten die Beitritte zur Union 1995 und 2004 einschließlich einer größeren Zahl von „Beitrittsperspektiven“ auf dem Balkan bis zur

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Türkei anstelle der immer engeren zu einer immer weiteren Union von 25 und bald mehr Mitgliedstaaten. Die sich wiederholenden Beschwörungen, daß Vertiefung und Erweiterung Hand in Hand gehen müßten, änderten zunächst nicht viel. Unter dem Eindruck der beinahe gescheiterten Nizza-Konferenz brach sich jedoch die Einsicht Bahn, daß die „große Union“ über eine neue „Verfaßtheit“ eine Rechtsgestalt finden müsse, die ihr im 21. Jahrhundert Handlungs- und Entwicklungsfähigkeit sichern würde. Dank der „Konventsmethode“ (Rz. 2) gelang die Einigung auf den Ende 2004 in Rom unterzeichneten Europäischen Verfassungsvertrag. Bedeutet die EU-Verfassung 2004, wenn sie in Kraft tritt, in ihrer institutionellen Gestalt die Endstufe der EU? Der „zweite Vertrag von Rom“ bestätigt – mit Entwicklungsmöglichkeiten in bestimmten Bereichen – das Konzept des Maastrichter Staatenverbundes (Rz. 28). Er übernimmt grundsätzlich das supranationale Erbe der EG. Vom Europäischen Bundesstaat ist nicht mehr die Rede. Auch die „immer engere Union“ wird nur noch an versteckter Stelle erwähnt. Vor dem Hintergrund der großen EU von 25 und bald mehr MSen erscheint der Erhalt des engen Staatenverbundes für die voraussehbare Zukunft das Maximum des Erreichbaren. Falls die Grenzen der EU mit einem Beitritt der Türkei – und anderer großer „Nachbarn“ – überdehnt würden, wäre die Rückentwicklung der Integration in bestenfalls eine lockere Konföderation unvermeidlich. Neben ihr wird bereits gelegentlich die undeutliche Vision eines „Kerneuropas“ beschworen. – Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist die Gefahr größer geworden, daß die Europäische Union Opfer ihres eigenen Erfolges wird. III. Ausblick 1. Die Rechtsnatur der Europäischen Union in der EU-Verfassung 2004

Die EU-Verfassung 2004 stellt die Natur der „neuen EU“ klar. Sie hat Rechtspersönlichkeit (Art. I-7 EV), wird vom Willen der Bürgerinnen und Bürger (nicht mehr: der Völker) und der Staaten Europas geleitet und hat einen dualen Charakter (Art. I-1 EV). Einerseits übertragen die MSen der Union Zuständigkeiten zur Verwirklichung ihrer gemeinsamen Ziele. Die EU übt diese Zuständigkeiten in gemeinschaftlicher Weise aus und erweist sich damit in den festgelegten Bereichen als Integrationsgemeinschaft. Die Union koordiniert anderwärts „intergouvernemental“ Politiken der MSen, die den EU-Zielen dienen. Die EU setzt auf diese Weise den in Maastricht 1992 geschaffenen Staatenverbund auf einer neuen Stufe fort. Er gilt wie bisher auf unbegrenzte Zeit (Art. IV446 EV). Die Möglichkeit freiwilligen Austritts aus der Union wird ausdrücklich geregelt (Art. I-60 EV). Die bundesstaatliche Option wird damit ausgeschlossen.

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Entsprechend tritt die neue EU die Rechtsnachfolge der Maastrichter EU einschließlich der EG an und übernimmt den Acquis communautaire (Art. IV-438 281 EV). Die Rechtsprechung von EuGH und j EuG bleibt für die verbindliche Auslegung des Unionsrechts maßgeblich. Das Werk der früheren Verträge soll fortgeführt werden (Präambel, 5. Absatz) Möglichkeiten der integrativen Fortentwicklung der EU bleiben bestehen. Die Präambel (3. Absatz) erwähnt, daß die Völker Europas „immer enger vereint“ ihr Schicksal gemeinsam gestalten wollen. Die Integration kann in erster Linie über die Europäische Gesetzgebung des sekundären Unionsrechts vertieft werden, sowie gegebenenfalls durch die ordentlichen und vereinfachten Änderungsverfahren der Verfassung (Art. IV-443 ff. EV). Die Verfassung enthält andererseits deutlicher als bisher Grenzen für den weiteren Vereinigungsprozeß. Die Devise der Union ist „In Vielfalt vereint“ (Art. I-8 EV). Die von der Union zu achtende nationale Identität der MSen wird in Art. I-5 EV eingehend ausformuliert. Die Subsidiaritätskontrolle der EU-Gesetzgebung wird durch ein „Frühwarnsystem“ unter Einschaltung der nationalen Parlamente während des Legislativverfahrens sowie „ex post“ durch erweiterte Einschaltung des EuGH verstärkt (Art. I-11 EV; neues Subsidiaritätsprotokoll). Der „staatsnahe“ Charakter der Union bleibt erhalten. Sie ist Wertegemeinschaft (Art. I-2 EV, Grundrechte-Katalog) und Demokratie (Art. I-45 ff. EV). Ihre Symbole (Flagge, Hymne, Feiertag u. a., Art. I-8 EV) gleichen denjenigen eines Staates. Die EU-Verfassung 2004 hat das Wesen der EU nicht grundlegend gewandelt. Sie hält am Konzept des „Staatenverbundes“ fest und sucht ihn den Bedingungen der großen EU von 25 und mehr MSen anzupassen.

2. Legitimierung der Europäischen Union im 21. Jahrhundert?

Die EU hat eine Erfolgsgeschichte von über fünfzig Jahren hinter sich. In der Zeit des Kalten Krieges vereinte sie wesentliche Teile Westeuropas in zunehmendem wirtschaftlichem Wohlstand und schuf ein überzeugendes Gegenmodell zur kommunistischen Mangelwirtschaft im Osten des Kontinents. Seit der Wende 1989/91 ist die Union zur wichtigsten wirtschaftlichen und politischen Organisation Gesamteuropas geworden. Mit der zunehmenden Mitgliederzahl wurde es gleichzeitig immer schwieriger, die ursprünglich für sechs Staaten entworfenen Formen überstaatlicher Integration aufrechtzuerhalten. Die Finalität der EU ist möglicherweise in der Gestalt der Staatenunion sui generis erreicht. Mit Blick auf das weitere Wachstum stellt sich die Frage, ob es überhaupt noch notwendig ist, die enge Integrationsgemeinschaft aufrechtzuerhalten und fortzuentwickeln. Wäre nicht eine gesamteuropäische Freihandelszone, eingebettet in eine lockere politische Konföderation, ausreichend? Die Philosophie der „Eu-

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roskeptiker“, insbesondere in Großbritannien, geht seit langem in diese Richtung. Die Befürworter eines Beitritts der Türkei und möglicherweise weiterer Staaten Osteuropas bereiten faktisch den Boden für solche Lösungen eines neuen „Europäischen Konzerts“. Die Entscheidung der EU-Verfassung 2004, an der europäischen Integration im größeren Kreise festzuhalten und sie in defizitären Bereichen fortzuentwikkeln, rechtfertigt sich gleichwohl aus mehreren Gründen. a) Die EU als Akteur in der globalisierten Welt aa) Garant der Wirtschafts- und Wohlstandsgemeinschaft Die europäische Einigung seit dem Zweiten Weltkrieg legitimiert sich bis heute aus der Bewältigung gemeinsamer Aufgaben in der modern-industriellen Welt (Roman Herzog). Die „Schrumpfung“ Europas durch die immer mehr gesteigerten Erreichbarkeiten infolge der technologischen Möglichkeiten in einer regionalisierten und glo- j balisierten Welt stellt eine bleibende Rechtfertigung 282 und ständige Herausforderung für den Integrationsprozeß dar. Mit Binnenmarkt, gemeinsamer Außenwirtschaftspolitik und Währungsunion ist die EU dauerhaft zur Wirtschafts- und Wohlstandsgemeinschaft geworden, trotz aller Probleme zu einer der wenigen „Inseln der Seligen“ in der Weltwirtschaft. bb) Auf Dauer nur Zivilmacht? Der europäische Bundesstaat ist nicht mehr eine realistische Zielvorstellung für die Union. Ihre Mitglieder gehen trotz aller Kooperation im Ernstfall immer noch getrennte Wege. Die Irakkrise 2003, in der die EU in zwei Lager zerfiel, hat dies jüngst wieder deutlich gemacht. Die Reflexe ihrer stolzen Nationalgeschichte hindern ehemalige Weltmächte wie Frankreich, Großbritannien oder Spanien bisher daran, ihre Kräfte zu vereinen und aus der Union eine Weltmacht mit gemeinsamer Außen- und Sicherheitspolitik zu machen. Die geringen und zersplitterten Verteidigungsausgaben der EU-Staaten versetzen die Union in einen inferioren Status vor allem gegenüber der USA als derzeit einziger Supermacht. Als integrierte Zivilmacht vermag die EU in der „Triade“ der Welthandelsordnung mit den Vereinigten Staaten und Japan gleichberechtigt aufzutreten. Bei Krieg und Frieden bleiben die EU-Staaten in den internationalen Beziehungen zweitrangig. Wollen die Europäer dies ändern, gibt es zu weiteren Schritten in dauerhafte Einigung keine reale Alternative. Anderenfalls könnte die EU zu den Verlierern des 21. Jahrhunderts gehören.

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b) Die EU als Wertegemeinschaft Die zweite dauerhafte Legitimierung der Union liegt in der Verbundenheit ihrer Mitglieder durch gemeinsame politische Überzeugungen und Ideale. Sie haben in den Verweisen des EU-Vertrages auf Freiheit und Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaat, Solidarität und manches andere mehr (Rz. 5/7) verfassungsmäßigen Niederschlag gefunden. Diese Grundwerte der Union sind aus gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen ihrer MSen erwachsen. Der innere Zusammenhalt der Union rührt aus den gemeinsamen Überzeugungen und Ideen her, die religiös und philosophisch durch Christentum und Humanismus, politisch seit der französischen und amerikanischen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts für die gesamteuropäische Verfassungsentwicklung prägend geworden sind. Europa als Wertegemeinschaft ist zugleich eine wichtige Antwort auf die vielgestellte Frage nach den Grenzen Europas im Osten und am Mittelmeer. c) Europäische Friedensordnung Seit dem Ende des Kalten Krieges 1989/91 fällt der Europäischen Union als Drittes die historische Aufgabe zu, Gesamteuropa eine dauerhafte Rechtsgestalt zu geben, in der Frieden und Sicherheit des Kontinents nach innen gewährleistet bleiben. Mit der Osterweiterung 2004 auf 25 und mehr Mitgliedstaaten und der Schaffung einer Verfassung hat sich die EU dieser Herausforderung gestellt. Die besten Organisationsformen können freilich niemals Selbstzweck sein. Gründender Grund der Union bleibt auch künftig die Einsicht ihrer Völker und Bürger, daß Frieden und Wohlergehen Europas den Umgang seiner Glieder in solidarischer Gemeinsamkeit voraussetzen. Literatur Die Literatur zum Wesen der EU ist uferlos. Zu kaum einem anderen EuropaThema ist über die Jahrzehnte so viel geschrieben worden, insbesondere in Deutschland. Allgemeines Lagrange, Die Rechtsnatur der EGKS und der EWG, ZHR 1961, 67 ff.; Hallstein, Die EWG – Eine Rechtsgemeinschaft (1962), in: Ders., Europäische Reden, 1979, 341 ff.; Oppermann, Die Europäische Gemeinschaft als parastaatliche Superstruktur, FS Ipsen, 1977, 685 ff. (in diesem Band abgedruckt S. 187 ff.); Bernhardt, Die Europäischen Gemeinschaften als neuer Rechtsträger im Geflecht der zwischenstaatlichen Beziehungen, EuR 1983, 199 ff.; Pliakos, La nature juridique de l’Union Europénne, RTDE 1993, 188 ff.; Hommelhoff/P. Kirchhof (Hrsg.), Der Staatenverbund der EU, 1994; P. M. Huber, Das Ziel der europäischen Integration, 1995; Böckenförde, Welchen Weg geht Europa?, 1997; Brosius-Gersdorf, Die doppelte Legitima-

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tionsbasis der EU, EuR 1999, 133 ff.; Steindorff, Mehr staatliche Identität, Bürgernähe und Subsidiarität, ZHR 1999, 395 ff.; Häberle, Europa als werdende Verfassungsgemeinschaft, DVBl. 2000, 840 ff.; Mancini, Democracy and Constitutionalism in the EU, 2000; Schwarze/Müller-Graff (Hrsg.), Europäische Verfassungsentwicklung, 2000; J. Fischer, Vom Staatenverbund zur Föderation. Gedanken über die Finalität der europäischen Integration, RuP 2001, 8 ff.; Loth (Hrsg.), Das europäische Projekt zu Beginn des 21. Jahrhunderts, 2001; Vaubel, Europa-Chauvinismus – Der Hochmut der Institutionen, 2001; Blanke, Essentialia einer europäischen Verfassungsurkunde, ThürVBl. 2002, 197 ff.; Jachtenfuchs, Die Konstruktion Europas, 2002; Stolleis, Europa nach Nizza. Die historische Dimension, NJW 2002, 1022 ff.; Graf Vitzthum, Die Identität Europas, EuR 2002, 1 ff.; Korioth/v. Bogdandy, Europäische und nationale Identität, VVDStRL 63 (2003), 117 ff.; della Cananea, L’Unione Europea. Un ordinamento composito, 2003; Holler/Kliemt/Schmidtchen/Streit, European Governance, 2003; P. Kirchhof, Die rechtliche Struktur der EU als Staatenverbund, in: v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, 893 ff.; Everling, Zur konsensualen Willenbildung in der föderal verfassten EU, FS Badura, 2004, 1053 ff.; Oppermann, Europäischer Verfassungskonvent und Regierungskonferenz 2002–2004, DVBl. 2004, 1264 ff. (in diesem Band abgedruckt S. 305 ff.); Wuermeling, Der Vertrag für eine europäische Verfassung vom 19. Juni 2004, BayVBl. 2004, 577 ff.; Kotzur, Die Ziele der Union, 2005. Zum Staatenverbund als Konzept der Verträge Mosler, Die Entstehung des Modells supranationaler und gewaltenteilender Staatenverbindungen in den Verhandlungen über den Schumanplan, FS Hallstein, 1966, 355 ff.; Everling, Sind die Mitgliedstaaten der EG noch Herren der Verträge?, FS Mosler 1983, 173 ff.; Brevin, The EC: a Union of States without unity of government, JCMS 1987, 1 ff.; Zuleeg, Wandlungen des Begriffs der Supranationalität, Integration 1988, 103 ff.; Bleckmann, Die Wahrung der „nationalen Identität“ im Unions-Vertrag, JZ 1997, 265 ff.; Bernhardt, Europäisches Gemeinschaftsrecht und Recht der Internationalen Organisationen, FS Seidl-Hohenveldern, 1988, 25 ff.; v. Bogdandy, Die EU als supranationale Föderation, Integration 1999, 95 ff.; Busse, Die völkerrechtliche Einordnung der EU, 1999; Hertel, Supranationalität als Verfassungsprinzip, 1999; Wichard, Wer ist Herr im europäischen Haus? EuR 1999, 170 ff.; Hirsch, Kein Staat, aber eine Verfassung?, NJW 2000, 46 ff.; Schmitz, Integration in der supranationalen Union, 2001; Gehring, Die EU als komplexe internationale Organisation, 2002; Gerken/Märkt/Schick/Renner, Eine freiheitliche supranationale Föderation, 2002; Harlow, Accountability in the EU, 2002; Herdegen, „Föderative Grundsätze“ in der EU, FS Steinberger, 2002, 1193 ff.; W. Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, 2002; Lepoivre, Staatlichkeit und Souveränität in der EU am Beispiel Frankreichs, 2003; Nettesheim, Die konsoziative Föderation von EU und Mitgliedstaaten, in: Hess (Hrsg.), Wandel der Rechtsordnung, 2003, 1 ff.; Nissen, Europäische Identität und die Zukunft Europas, APUZ B 38/2004, 21 ff.; Schönberger, Die EU als Bund, AöR 2004, 81 ff.; van Gerven, The EU. A Polity of States and Peoples, 2005.

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III. Wesen der europäischen Integration Zur Finalität

Maillet, À la recherche d’une nouvelle vision de l’intégration économique européenne, RMC 1990, 370 ff.; Dehousse (Hrsg.), Europe after Maastricht – an ever closer Union?, 1994; P. Kirchhof, Die Staatenvielfalt – ein Wesensgehalt Europas, FS Schambeck, 1994, 947 ff.; Tomuschat, Das Endziel der europäischen Integration, in: Nettesheim/Pierangelo (Hrsg.), Der integrierte Staat, 1997, 155 ff.; Zivier, Politische Visionen. Rechtliche Maßstäbe zur „Finalität“ des europäischen Einigungsprozesses, RuP 2001, 30 ff.; J. Meyer/Gerhardt, Der Schritt von der Wirtschaftsgemeinschaft zur Werteordnung, ZRP 2002, 282 ff.; Walker, Sovereignty in transition, 2002; Mestmäkker, Wandlungen in der Verfasstheit der EG, in: Ders., Wirtschaft und Verfassung in der EU, 2003, 49 ff.; Zuleeg, Der unvollendete Bundesstaat – Vision oder Realität? in: Ders. (Hrsg.), Der Beitrag Walter Hallsteins zur Zukunft Europas, 2003, 110 ff. Zum Ausblick Oeter, Europäische Integration als Konstitutionalisierungsprozeß, ZaöRV 1999, 901 ff.; Speer, Die EU als Wertegemeinschaft, DÖV 2001, 980 ff.; Stern, Der Weg zur Politischen Union, FS Oppermann, 2001, 143 ff.; Arnull/Wincott, Accountability and legitimacy in the EU, 2002; Brok, Die künftige Verfassung der EU, Integration 2004, 328 ff.; Jacqué, Der Vertrag über eine Verfassung für Europa: Konstitutionalisierung oder Vertragsrevision?, EuGRZ 2004, 551 ff.; T. Meyer, Die Identität Europas, 2004; Streinz u. a., Die neue Verfassung für Europa, 2004; Zuleeg, Der rechtliche Zusammenhalt der EU, 2004; K.-H. Fischer, Der Europäische Verfassungsvertrag, 2005, 119 ff.; Papier, Die Neuordnung der EU – Zum Vertrag über eine Verfassung für Europa, EuGRZ 2005, 753 ff.

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Glanz und Elend der Jurisprudenz beruhen auf der ewigen Variation weniger Denkfiguren. Rechtsdogmatische „Neuerfindungen“ sind selten. Vortrag im Rahmen einer Ringvorlesung der Tübinger Juristenfakultät anlässlich des 500jährigen Universitätsjubiläums 1977, der nach juristischen Innovationen im Europarecht sucht.*

„Fortschritt im Recht“ – bei dieser Thematik unserer Ringvorlesung legt sich ein Blick auf das europäische Gemeinschaftsrecht wie von selbst nahe. Ebenso wie die drei Integrationsgemeinschaften EGKS, EWG und EURATOM in der westeuropäischen Nachkriegsgeschichte in einem politischen Sinne als eine der wenigen neuen Errungenschaften gelten können, die im letzten Vierteljahrhundert den Erosionen der Tagespolitik zu widerstehen vermochten, kann man den Einzug des sog. „Europarechtes“ unter die Fachdisziplinen des rechtswissenschaftlichen Kosmos in derselben Zeit als eine wichtige Fortentwicklung des juristischen Spektrums bezeichnen. Die vielfältigen Bemühungen sowohl der Wissenschaft als auch der maßgeblichen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes und nationaler Gerichte wie unseres Bundesverfassungsgerichtes um die Standortbestimmung des Gemeinschaftsrechtes haben inzwischen die gesicherte Erkenntnis abgeworfen, daß hier eine neuartige Rechtsmasse irgendwie „zwischen“ nationalem Mitgliedstaatsrecht und Völkerrecht entstanden ist, was immer das im Näheren bedeuten mag. An den Juristenfakultäten hat sich das Europarecht mittlerweile bis hinein in den offiziellen Lehr- und Prüfungskanon einen schmalen, aber als solchen gesicherten und unangefochtenen Platz errungen. Charakteristisch für seine vom klassischen Internationalen Recht in vielem unterschiedene Struktur war dabei, daß Privat- und Öffentlichrechtler bei der Erschließung dieser jungen Provinz des Rechtes von Anfang an gemeinsam wetteiferten. Hier in Tübingen waren es Adolf Schüle und Ernst Steindorff, die das europäische Gemeinschaftsrecht gleichermaßen in die Fakultät hineintrugen wie an seiner ersten praktischen Entfaltung über die Rechtsprechung des Luxemburger Gerichtshofes der Gemeinschaft beteiligt waren. Bei den Studenten macht es sowohl die zukunfts- j gerichtete Offenheit des Integrationsprozesses in ei- 416 nem allgemeinpolitischen Sinne als auch die weithin gegebene wirtschaftsrechtliche Konkretheit des Stoffes im allgemeinen leichter, für das europäische Gemeinschaftsrecht Interesse zu wecken als für die klassisch-dogmatischen und * Erstmalig erschienen in: Gernhuber (Hrsg.), Festschrift 500 Jahre Tübinger Juristische Fakultät, Mohr Siebeck, Tübingen 1977, 415–433.

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gleichzeitig etwas luftig-entrückten Sphären des traditionellen Völkerrechts. Angesichts solcher „Nouveauté“ bedarf es wohl kaum weiterer Legitimierung, im Rahmen von Überlegungen über juristischen Fortschritt an die europäische Integration erinnern zu wollen. I. Was ist das: „Juristischer Fortschritt“? Freilich tut anfangs sicherlich eine Besinnung darauf not, was mit der Vokabel und Fragestellung „Juristischer Fortschritt“ eigentlich sinnvollerweise anvisiert werden soll. Das umso mehr, als die „Progressivität“ im letzten Jahrzehnt unter mannigfachen Stichworten einer stark politisierten öffentlichen Debatte wie „Aufbrechung verkrusteter Strukturen“ oder „Reformpolitik“ als Wert an sich zeitweilig zu einem unerwarteten Faszinosum wurde, von dem allerdings infolge des Ausbleibens vieler erhoffter Ergebnisse bereits wieder mancher Lack abzublättern beginnt. Schon um nicht in die Strudel solcher vordergründiger Antithetik hineingezogen zu werden, ist eine Verdeutlichung der Zielsetzung nützlich. „Juristischer Fortschritt“: manches von diesem Vorstellungsbild klingt an in der Suche Hans Doelles – glanzvolles Mitglied der Tübinger Juristenfakultät in den vierziger und fünfziger Jahren – in seinem Festvortrag auf dem 42. Deutschen Juristentag in Düsseldorf 1957 über „juristische Entdeckungen“. Doelle war hier bemüht um den Nachweis, daß die Jurisprudenz – von ihm damals noch ohne „sozialwissenschaftliche“ Zwitterempfindungen ganz selbstverständlich unter die Geisteswissenschaften eingereiht – ebenso wie die publikumswirksameren Naturwissenschaften und die Medizin ihre „geistigen Hochleistungen mit nachhaltiger Erkenntniswirkung“ aufzuweisen habe. Labands Unterscheidung der Vollmacht von dem ihr zugrunde liegenden Verhältnis, Iherings Entwicklung der Culpa in Contrahendo, Zitelmanns Gestaltungsrechte, Savignys Lehre von der Maßgeblichkeit des Sitzes des Rechtsverhältnisses im IPR und manches andere mehr werden hier als Belegstücke dafür vorgelegt, daß die Rechtswissenschaft ihre eigenen spekulativen Akte kennt, „die bestimmte gesetzmäßige Zusammenhänge erkennen lassen, deren man sich bis dahin nicht 417 bewußt war“. Akte, wie j Doelle mit der ihm eigenen rhetorischen Bildkraft vertiefend wiederholt, die „bisher verborgene Gesetzlichkeiten ans Licht der Erkenntnis bringen“, mit einer „das bisherige geistige Dunkel erhellenden Leuchtkraft“. Unser verehrter Kollege Gernhuber, Oberhaupt dieser Ringvorlesung, pflegt denselben Gedanken gerne so auszudrücken: „Der Professor wird dafür bezahlt, daß ihm ab und zu etwas einfällt.“ Originalität, Fruchtbarkeit und Sinngebung – so lassen sich in der Tat vielleicht einige Elemente des „echten“ Fortschritts andeuten, bei dem nicht der Wandel als solcher bereits zum Wert emporstilisiert wird, sondern jene Ände-

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rung angesprochen ist, die im Sinne der berühmten Entwicklungsformel von Arnold Toynbee „Challenge and Response“ eine sachgerechte, neue Antwort auf eine gewandelte Lage darstellt. Wenn derartige Fragestellungen an die europäische Integration herangetragen werden, so ergibt sich eine etwas andere Akzentuierung gegenüber dem DoelleAnsatz dadurch, daß hier die Fortschrittsfrage an einen komplexen Gesamtprozeß herangetragen wird und nicht so sehr spezifische Einzelentdeckungen gesucht werden. In dieser Optik stellt sich damit zugleich um so dringlicher das Bedürfnis nach der Stellungnahme zu der alten geschichtstheoretischen Frage, inwieweit der Ablauf zeitgeschichtlicher Prozesse wie des Versuches der europäischen Einigung überhaupt in einem tiefergehenden optimistischen Sinne finalisiert werden kann. Über die Vereinigten Staaten von Europa auf dem Wege zum künftigen Weltstaat der Vereinten Nationen – sind solche und ähnliche futurologische Gedankenassoziationen überhaupt statthaft? Eine irgendwie breitere und vertiefte Behandlung einer solchen Fragestellung ist hier offenkundig nicht möglich. Erforderlich, aber wohl auch ausreichend, mag in diesem Zusammenhang vielmehr die Feststellung sein, daß jedes Bekenntnis zu irgendwie substantiellem Fortschritt durch die bisher entwickelten „Techniken und Kunstgriffe“ des europäischen Gemeinschaftsrechts – um mit Ernst Forsthoff zu sprechen – den Nachweis voraussetzt, daß diese junge Rechtsschicht sich bislang als fähig erwiesen hat, wesentliche rechtlich-staatliche Aufgaben in einer neuartigen Dimension aufzunehmen und in ihr hinreichend zu bewältigen. Es ergibt sich damit, anders gesprochen, die Frage nach der grundsätzlichen Qualifikation und Geeignetheit der Integrationsstrukturen zur Lösung erkennbarer und anerkannter Sachbedürfnisse unserer Zeit in Westeuropa. j II. Juristische Einfälle in der Geburtsstunde der Europäischen Gemeinschaft Sieht man, noch einmal mit Hans Doelle, ein gewisses Maß schöpferischer Spontaneität als Kennzeichen fortschrittlicher juristischer Entdeckung an, so wird man solche Prädikate für bestimmte Vorgänge in der Frühzeit der europäischen Integration zu Beginn der fünfziger Jahre aus dem heutigen Rückblick eines Vierteljahrhunderts ohne weiteres vergeben dürfen. Als Robert Schuman am 9. Mai 1950, 16 Uhr, im berühmten Uhrensaal des Quai d’Orsay in einer Pressekonferenz der noch nicht ein Jahr alten Bundesrepublik Deutschland und anderen nicht namentlich genannten Staaten das historische Angebot machte, „die Gesamtheit der französisch-deutschen Kohle- und Stahlproduktion unter eine gemeinsame oberste Behörde zu stellen, in einer Organisation, die den anderen europäischen Ländern zum Beitritt offensteht . . . Durch die Zusammenlegung der Grundindustrien und die Errichtung einer neuen obersten Behörde, deren Entscheidungen für Frankreich, Deutschland und die anderen teilnehmenden Länder bindend

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sein werden, wird dieser Vorschlag den ersten Grundstein einer europäischen Föderation bilden . . .“,

– da lag hinter dieser knapp formulierten Vision, die bereits alle entscheidenden Elemente der späteren drei Integrationsgemeinschaften in sich barg, keinerlei größere und systematische Vorarbeit. Konrad Adenauer hat im 1. Band seiner Erinnerungen festgehalten, wie Jean Monnet, damals Leiter der französischen Planbehörde, die Grundgedanken des sog. „Schuman-Planes“ mit seinem „Küchenkabinett“ in einem kleinen grauen Hause in der Pariser Rue Martignac zwischen Januar und Mai 1950 ohne Konsultationen mit der eigentlich zuständigen Bürokratie des Außenministeriums und auch ohne Kontakt mit den Industrieverbänden entwickelte. Dabei sei nicht übersehen, daß die in jenen Wochen entworfene „juristische Erfindung“ des Vorranges und der unmittelbaren Wirksamkeit des europäischen Gemeinschaftsrechts im nationalen Raum – bis heute Kernstück der „Eigenart“ des Europarechtes – gar nicht von Juristen stammt, sondern weithin von Ökonomen der Umgebung Monnets wie insbesondere Hirsch und Pierre Uri. Juristischer Fortschritt braucht also nicht immer von Juristen zu stammen. Freilich mögen französische Wirtschaftswissenschaftler kraft der allgemeinen cartesianischen Affinität des französischen Geistes zu den strikteren Formen der Logik sich von der Prägekraft rechtlicher Formulierung besonders gern stimulieren lassen. j 419

Mag Frankreich, seit Descartes, Turgot, Condorcet und Comte vom 17. Jahrhundert an lange Zeit international als das Land an der Spitze des zivilisatorischen Fortschrittes überhaupt angesehen sein, somit das Ersturheberrecht für die „Erfindung“ des Integrationsgedankens in seiner spezifischen Variante nach dem 2. Weltkrieg mit guten Gründen für sich beanspruchen, braucht deutsche juristische Phantasie sich deshalb nicht zu verstecken. Ein deutscher Oberregierungsrat – also Jurist per definitionem! – namens Carl Friedrich Ophüls, später erster EWG-Botschafter der Bundesrepublik in Brüssel und eminenter Analytiker des Europarechts, war es, der 1951 bei den Verhandlungen zur organisatorischen Gründung der Montanunion in luzidem Einfall für dieses erste supranationale Gebilde den Namen „Gemeinschaft“ vorschlug, der mittlerweile wie kaum ein anderer dem europäischen Einigungsprozeß in allen Sprachen der Mitgliedstaaten sein Signum aufgedrückt hat. Vielleicht spiegeln sich in dieser Ophülsschen Bezeichnungsidee, die ihrerseits eine nachweisbare Wurzel in Tönnies’ bekannter Antithese von 1887 zwischen „Gemeinschaft und Gesellschaft“ hatte, sogar in einer ganz besonderen Weise die Wirkungschancen einer von der Sache her geglückten juristischen Wortwahl. Die kleine Bibliothek politischer und fachlicher Literatur, die seit den fünfziger Jahren über die Frage der Rechtsnatur der Europäischen Gemeinschaft zusammengeschrieben worden ist – Hans Peter Ipsen hat sie in seinem Magnum Opus des „Europäischen Gemeinschaftsrechts“ von 1972 nachgezeich-

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net – kommt letztendlich über die verfeinernde Paraphrase des bis heute frisch gebliebenen Gemeinschaftsbegriffes wenig hinaus. In der möglicherweise bislang besten Umschreibung des neuen zwischenstaatlichen Phänomens definiert z. B. das deutsche Bundesverfassungsgericht im Jahre 1967 in Anlehnung gleichzeitig an den Europäischen Gerichtshof die EWG als „keinen Staat, auch keinen Bundesstaat“. Sie ist eine im Prozeß fortschreitender Integration stehende Gemeinschaft eigener Art, eine „zwischenstaatliche Einrichtung“ im Sinne des Art. 24 Abs. 1 GG, auf die die Bundesrepublik Deutschland – wie die übrigen Mitgliedstaaten – bestimmte Hoheitsrechte „übertragen“ hat. Damit ist eine neue öffentliche Gewalt entstanden, die gegenüber der Staatsgewalt der einzelnen Mitgliedstaaten selbständig und unabhängig ist. Der EWG-Vertrag stellt gewissermaßen die Verfassung dieser Gemeinschaft dar. Die von den Gemeinschaftsorganen im Rahmen ihrer vertragsgemäßen Kompetenzen erlassenen Rechtsvorschriften, das „sekundäre Gemeinschaftsrecht“, bilden eine eigene Rechtsordnung, deren Normen weder j Völkerrecht noch nationales Recht der 420 Mitgliedstaaten sind. Das Gemeinschaftsrecht und das innerstaatliche Recht der Mitgliedstaaten sind „zwei selbständige, voneinander verschiedene Rechtsordnungen“; das vom EWG-Vertrag geschaffene Recht fließt aus einer „autonomen“ Rechtsquelle1. Bringen diese Formulierungen, in die immerhin bereits über zwei Jahrzehnte praktischer Erfahrung mit der Anwendung des europäischen Gemeinschaftsrechts eingeflossen sind, im Kern wesentlich mehr als jener große „Wurf“ Robert Schumans in der Erklärung vom 9. Mai 1950, den Ophüls dann in dem einzigen Wort „Gemeinschaft“ zusammenfaßte? III. Die europäischen Institutionen – angemessene Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit? Geglückte Semantik alleine könnte freilich noch nicht als Nachweis für Fortschritt in der Sache durch die Gründung der Europäischen Gemeinschaft gelten. Woraus erklärt sich der relative Erfolg der europäischen Integration ungeachtet aller Rückschläge und Krisen, wie er im nunmehr jahrzehntelangen Basiskonsens der Mitglieder über die Institutionen und ihre Spielregeln, wie auch in der Erweiterung von der Sechser- zur Neunergemeinschaft seit 1973 sichtbar ist? Man kann dieser Frage von mancherlei Seiten nachgehen, etwa von den Ursachen des wirtschaftlichen Erfolges der EG seit 1958 her. Den Juristen dürfte jedoch eine über den materiellen Ertrag der Vergemeinschaftung hinausgehende Erklärung mehr befriedigen, welche die Ratio der Integration im Sinne von Art. 240 EWG-Vertrag auf „unbegrenzte Zeit“ zu begreifen sucht. Sie wurde einmal Anfang der sechziger Jahre vom damaligen EWG-Kommissionspräsiden1 BVerfGE 22, 296, unter gleichzeitiger Zitierung von Sammlung der Rspr. d. Gerichtshofes der EG VIII, 110; X, 1270.

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ten Walter Hallstein – Ehrendoktor zugleich unserer alten, die Rechts- und Wirtschaftswissenschaft vereinigenden Tübinger Fakultät von 1967 – in einem Berner Vortrag vor Schweizer Publikum angesprochen. Ungeniert rüttelte Hallstein dort am heiligsten Tabu der Eidgenossenschaft, ihrer immerwährenden Neutralität. Hat Neutralität nicht, so war das Postulat, als Institut des Jus in bello nur so lange einen Sinn, als Staaten noch in einer Ordnung leben, in welcher der Krieg zwischen ihnen als Ultima ratio überhaupt ernsthaft denkbar ist? 421 Und wird nicht umgekehrt dort, j wo eine dauerhafte Friedensordnung entstanden ist, die sich separierende Neutralität eines Mitgliedes gegenüber den anderen zur leeren Hülse, wenn nicht gar zum Instrument eigensüchtiger Nebenzwecke? Wir wissen, daß Walter Hallstein sein Schweizer Publikum nicht zu einem Beitrittsantrag an die EWG hat bewegen können. Er hat einen solchen Effekt seiner Rede wohl gar nicht ernsthaft erwartet. Was an dem damaligen Gedankengang freilich bis heute interessiert, ist der Fingerzeig, daß die Europäische Gemeinschaft schon damals zu Beginn der sechziger Jahre und noch viel mehr in ihrer weiteren Entwicklung bis heute 1977 die ganz elementare Staatsaufgabe der inneren Befriedung zwischen ihren Mitgliedern erfolgreich gelöst hat. Gewiß haben sich in den Jahren seit 1950 nicht alle bundesstaatlichen Blütenträume der „Europäer der ersten Stunde“ Adenauer, De Gasperi, Schuman, Spaak und anderer erfüllt. In manchem bietet das heutige Feilschen auf dem Brüsseler Basar des Ministerrates um Agrarpreise, Zölle, Kontingente oder Fischereirechte sogar ein ernüchterndes, ja manchmal sogar abstoßenderes Bild als während der Aufbauphase der EG in den sechziger Jahren. Dennoch bleibt jede Gesamtbeurteilung der bisherigen Leistung der Gemeinschaft unvollständig, ja zutiefst ungerecht, die nicht herausstellen würde, daß die Gemeinschaften ohne sonderliches Aufhebens über die Verschmelzung ihrer Wirtschaft und angrenzender Bereiche ganz im Sinne von Robert Schuman und Jean Monnet ihr allererstes wichtiges Ziel der Beendigung der „Erbfeindschaften“ zwischen Deutschland und Frankreich, aber darüber hinaus zwischen ihren Mitgliedern überhaupt, in einem zu hundert Prozent erfolgreichen Sinne erreicht hat. Wenn man im Sinne der Anerkennung sog. „notwendiger“, zwingender Staatsaufgaben die Wahrung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, mit anderen Worten des Friedens nach innen, als die allererste Ratio essendi der Res publica ansieht, so ist es eine erstrangige Leistung der Europäischen Gemeinschaft, als selbstverständliche Vorbedingung oder als Nebenprodukt des Prozesses der wirtschaftlich-sozialen Integration die Wahrung dieses inneren Friedens im Raume der Gemeinschaft in einem grundlegenden Sinne ermöglicht zu haben und weiter zu garantieren. Über das Wirken der Institutionen der EG hat die Herstellung und Wahrung eines gemeinschaftsweiten Zustandes öffentlicher Ordnung und Sicherheit die Qualität einer innereuropäischen Angelegenheit gewonnen. Der Zustand des Friedens innerhalb Westeuropas ist seit den fünfziger Jahren nicht

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mehr Resultante eines außenpolitisch-militärischen Machtgleichgewichts oder anderer klassisch-völkerrechtlicher La- j gen zwischen den Staaten dieser Re- 422 gion, sondern eine interne Errungenschaft geworden, die ganz wesentlich mit den Mitteln des Rechts im Konsens über die Spielregeln innerhalb der Integrationsgemeinschaften erreicht und erhalten wird. Wenn man dies nicht juristischen Fortschritt nennen darf, was sonst noch? Natürlich könnte man auf dieser Grundlinie weiterdenken. Der Integrationsprozeß in Westeuropa wird seit seinen Anfängen sehr verständlich begleitet von einer permanenten Debatte über das Endziel des Einigungswerkes. Gemäß dem wechselvollen politischen Ablauf sind dabei die verschiedensten Akzentuierungen laut geworden. Den anfänglichen Hoffnungen und dem Elan der „Gründungsväter“ in den vierziger und fünfziger Jahren entsprach die Vision des europäischen Bundesstaates. Zuerst 1946 als die künftigen „Vereinigten Staaten von Europa“ von Winston Churchill in Zürich beschworen, lebt die föderalistische Idee bis heute weiter. Walter Hallstein formuliert auch 1973 in der neuesten Auflage seiner „Europäischen Gemeinschaft“: „Politisch sind die Gemeinschaften zugleich Teil eines größeren Ganzen, Zwischenziel auf dem Wege zum Endziel. Dieses Endziel bleibt der europäische Bundesstaat.“ Ursprünglich die Hoffnung einer ganzen Generation, die aus dem 2. Weltkrieg heimkehrte, hat die Zahl der Föderalisten sich allerdings heute unter dem Eindruck mancher Renaissance nationalstaatlicher Vorstellungen verringert. Vor allem der Souveränitätsfetischismus der gaullistischen Staatsdoktrin, aber etwa auch die jahrhundertelang machtvoll eingewurzelte Vorstellung nationaler britischer Parlamentssuprematie haben den Prozeß des Aufbaues und Ausbaues der Gemeinschaft bekanntlich in mancherlei Stockungen und Krisen geführt, in denen das letztliche Ziel des gemeinsamen Weges gelegentlich verschwamm. Dennoch wurden in den siebziger Jahren seit der sog. „Gipfelkonferenz“ der Regierungschefs der EG in Den Haag 1969 die politischen Ziele der Gemeinschaft allmählich wieder deutlicher definiert. Vor allem das Stichwort einer wohl vorläufig konföderativ zu verstehenden „Europäischen Union“ für die achtziger Jahre beherrscht seither die integrationspolitische Entwicklung. Die Bildung des regelmäßig tagenden „Europäischen Rates“ der Regierungschefs auf Initiative Valéry Giscard d’Estaings seit 1974 und die juristisch bindende Vereinbarung der Direktwahlen zum Europäischen Parlament 1976 sind zwei neue konkrete Schritte auf diesem sicherlich noch dornigen Wege. Im Zusammenhang unserer Fragestellung nach dem Beitrage des Rechtes zum Integrationsprozeß erweckt diese Beobachtung von der Permanenz der po- j litisch-staatsähnlichen Elemente innerhalb des eu- 423 ropäischen Gemeinschaftsrechtes erneut das Interesse, anhand einiger wesentlicher Beispiele die neuartige juristische Qualität der „supranationalen“ Gemeinschaftsebene als einer eigenen, der besonderen wirtschaftlich-sozialen Infrastruktur Westeuropas angepaßten Form der Staatenbindung sichtbar werden zu lassen. Dem sei im folgenden Teil der Überlegungen etwas nachgegangen.

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IV. Die Rolle der Europäischen Kommission, überstaatliche Parlamentswahlen und die menschenrechtliche Aktion des Europäischen Gerichtshofes als Paradigmata der Originalität des Integrationsprozesses Ich greife hierfür aus den drei klassischen Teilen der öffentlichen Gewalt (Exekutive/Legislative/Judikative), wie sie sich auch grundsätzlich in der Gemeinschaftsgewalt widerspiegeln, jeweils ein Beispiel heraus, an dem sich vielleicht sowohl der juristische Erfindungsreichtum der Vertragsväter ablesen läßt als auch die Fruchtbarkeit ihres rechtspolitischen Vorausdenkens zugunsten der Entwicklung bedürfnisgerechter überstaatlicher Strukturen. Mir will scheinen, daß sich dies zum einen besonders gut an der in den Verträgen niedergelegten Rolle der EWG-Kommission zeigen läßt, ferner an dem seit dem letzten Jahre in die Wege geleiteten Wagnis europaweiter Direktwahlen zur Straßburger Versammlung und schließlich vielleicht am beeindruckendsten an jener seit 1970 begonnenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes, welche die Grund- und Menschenrechte auf dem Wege ungeschriebenen Richterrechtes in das europäische Gemeinschaftsrecht eingeführt hat.

1. Zur Rolle der Kommission der Europäischen Gemeinschaften

Als „originellstes Stück der Gemeinschaftsorganisation, ohne jedes direkte Vorbild in der Tradition“ hat Walter Hallstein die Rolle der Kommission vor allem nach dem EWG-Vertrag umrissen. Aus dem Munde des ersten, langjährigsten und erfolgreichsten Kommissionspräsidenten hat eine solche Beurteilung Gewicht. In der Tat gehört das institutionelle Grundmuster des Vertrages, wonach der Ministerrat für den Erlaß aller wesentlichen Rechtsakte obligatorisch eines Vorschlages der Kommission bedarf, den er nach Art. 149 Abs. 1 EWGV nur einstimmig abändern kann, zu jener Art fortschrittlicher juristischer Ein424 fälle, bei j deren Anwendung in der Praxis es höchst reizvoll zu beobachten und abzuwägen ist, wie im Zusammenspiel zwischen der inneren logischen Kraft der neu „erfundenen“ Rechtskonstruktion und ihren tatsächlichen Umweltbedingungen sich die Hoffnungen erfüllen, beziehungsweise enttäuscht werden, welche die Urheber einer solchen Regelung in sie gesetzt hatten. Die praktische Tätigkeit der EG-Kommission seit 1958 bietet mittlerweile reiches Anschauungsmaterial für beides. Der Grundgedanke des Vorschlagsrechtes war bekanntlich, die Kommission in bemerkenswerter Modifikation des traditionellen Gewaltenteilungsprinzips einmal legislativ zum ideenspendenden „Motor des Vertrages“ und damit zur Keimzelle eines von den Mitgliedstaaten unabhängigen „Pouvoir européen“ zu machen. Gleichzeitig wurde ihr damit die eminent politische Rolle des „ehrlichen Maklers“ zwischen den Mitgliedstaaten anvertraut, mit der besonderen Akzentuierung des Schutzes der Belange der

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kleineren Mitgliedstaaten vor den größeren in der Perspektive der späteren Mehrheitsentscheidung im Rat. Abgerundet wurde diese Aufgabenfülle in Art. 155 EWGV sodann bekanntlich mit der halb exekutiven, präjustiziellen Funktion des „Hüters des Vertrages“ im Sinne einer allgemeinen Aufsicht über die Exekution des Gemeinschaftsrechts durch die Mitgliedstaaten und mit der Waffe der „Mängelrüge“ vor dem Europäischen Gerichtshof nach Art. 169 EWGV als Ultima ratio. Glanz und Elend dieser gemeinschaftsrechtlich höchst originellen Übergangskonstruktion, in der sich bereits die Chance einer späteren Fortentwicklung der Kommission zur europäischen Regierung unter Zurücktreten des Rates in eine bundesratsähnliche zweite Kammer andeutete, sind heute nur allzu bekannt. Konrad Hesse hat für das deutsche Verfassungsrecht die Kategorie der „normativen Kraft“ der Verfassung im Sinne einer Befürwortung ihrer möglichsten Nähe und Anpassung an die geschichtlichen Gegebenheiten entwickelt, aus denen sie entstanden ist und in deren Wandlungen sie zu leben hat. Gar nicht weit davon entfernt ist die Grundthese der Allgemeinen Staatslehre von Herbert Krüger, daß Verfassung und moderne Staatlichkeit überhaupt Antworten auf die jeweilige innere und äußere „Lage“ der in ihnen „verfaßten“ Gruppe von Menschen sind. Die bisherigen Erfolge und Mißerfolge der EG-Kommission in Wahrnehmung ihres Vorschlagsrechtes, die europäische Gemeinschaftsgewalt über den gerne beschworenen „Point of no return“ hinweg dauerhaft zu etablieren, bieten illustratives Material dafür, daß auch ingeniöser juristischer Einfallsreichtum keine Gewähr für j das erfolgreiche Funktionieren so geschaffener In- 425 stitutionen bieten kann, wenn und solange es an dem politischen Konsens und Willen fehlt, auf dem die normative Kraft auch der Gemeinschaftsverfassung beruht. Diese These belegen einerseits der zündende Ideenreichtum und die politische Durchschlagskraft der mittlerweile bereits legendären ersten „Kommission Hallstein“, die ab 1958 kraft ihrer Persönlichkeiten und im Zusammenspiel mit einem prinzipiell gutwilligen Ministerrat bis Mitte der sechziger Jahre die große Konzeption Sicco Mansholts von einem nur noch über den Preis gesteuerten gemeinsamen europäischen Agrarmarkt ebenso zu verwirklichen verstand, wie über mehrfache Beschleunigungsbeschlüsse die Zollunion oder etwa in ebenfalls geschlossenem und gestuftem Gesamtkonzept die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb Westeuropas und die freie Niederlassung der selbständig tätigen Personen. Daneben steht freilich ebenso das Bild des zeitweiligen Niederganges der Kommission zu einem trotz unveränderter Rechtsgrundlagen ziemlich müde gewordenen Organ, das seit der EWG-Krise 1965/66 an die Grenzen des von der V. Französischen Republik nur in besonderer ideologischer Schärfe artikulierten nationalstaatlichen Willens der Mitgliedstaaten gestoßen war und hierauf in manchen Jahren nur noch im gehobenen Sekretariatsstil reagierte. Der im Laufe der Jahre sehr variierende politische Standard der Kommission und ihr Einfluß auf den Integrationsprozeß ist ein besonders markantes

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Beispiel dafür, wie wenig auch genial erdachte und zunächst wirksame Rechtsnormen bei einer Abflachung des sie tragenden politischen „Elan vital“ dauerhaften Erfolg garantieren können. Freilich ist die junge Geschichte der EGKommission auf der anderen Seite auch Paradigma dafür, daß die legale Bestandskraft einmal praktisch bewährter Normen die Chance des „Überwinterns“ durch widrige Zeitläufe bietet, mit der Möglichkeit des Wiederauflebens unter günstigeren Umständen. „Mit den Verträgen ist es wie mit den jungen Mädchen und den Rosen: sie blühen und verblühen“, sagte der französische Staatspräsident De Gaulle im Frühjahr 1963 in seiner Enttäuschung über die Nato-freundliche Präambel, die der Deutsche Bundestag dem Zustimmungsgesetz zum deutsch-französischen Beistands- und Konsulationsvertrag, dem sog. „ElyséeVertrag“, vorangestellt hatte. Man könnte indes im Bilde bleibend hinzufügen, daß juristisch fortschrittliche, d. h. dauerhaft sinnvolle, Entdeckungen wie die Pflanzen auch über die Eigenschaft zeitweiliger Verkapselung des Wesentlichen und seiner späteren Regeneration verfügen. Die Wiederaufnahme der Überle426 gungen um eine entscheidende Stärkung der j Rolle der Kommission im Gemeinschaftsprozeß seit der „Mission Tindemans“ 1975 belegt dies augenfällig.

2. Europäische Direktwahlen als qualitative Neuerung?

Das wichtigste Beispiel für anhaltende Bestandskraft in sich überzeugender institutioneller Konzeptionen stellt aber wohl die Einigung der Regierungschefs und Außenminister der neun EG-Staaten vom 12.7. und 20.9.1976 über erste Direktwahlen zu einem künftig auf 410 Abgeordnete erweiterten Europäischen Parlament im Mai oder Juni 1978 dar. War denn der endlich positive Abschluß der seit der Haager Gipfelkonferenz 1969 von Willy Brandt und Georges Pompidou wiedereröffneten Direktwahldiskussion etwas anderes als die Einlösung des Versprechens, das bereits Art. 138 Abs. 3 EWGV im Jahre 1957 juristisch bindend festgelegt hatte? Das Europäische Parlament hatte diese Klausel alsbald 1960 mit seinem von Fernand Dehousse inspirierten ersten Plan für die Direktwahl einzulösen gesucht. 1965 schien diese wichtige Reform dann aber durch den empörten Widerstand des gaullistischen Frankreich endgültig vom Tisch gewischt, das zur Vereitelung einer derartigen Souveränitätsantastung sogar die Auslösung der großen EWG-Krise nicht scheute. Heute will es scheinen, daß das allmähliche Näherrücken europäischer Wahlen ein zutiefst erregendes Beispiel dafür ist, wie sich eine von der Sache her naheliegende, ja wahrscheinlich notwendige Idee im Laufe der Jahre und Jahrzehnte unmerklich selbst gegen den Widerstand zeitgenössischer Staatsmänner ersten Ranges und Einflusses durchzusetzen vermag. Nachdem die Gemeinschaftsgewalt spätestens nach ihrer vollen Entfaltung seit dem Ende der Übergangszeit in den siebziger Jahren stark mit staatsähnlichen Befugnissen und Funktionen ihrer parlamentarisch verfaßten Mitglieder angereichert worden war, stellten nicht nur die theoretisch-juristi-

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schen, sondern zugleich auch höchst politische Antriebskräfte in den Mitgliedstaaten immer dringender die Forderung nach einem Mindestmaß struktureller Homogenität zwischen der Rechtsgestalt der Gemeinschaft und ihrer Glieder, d. h. konkret gesprochen die Forderung nach der Parlamentarisierung und Demokratisierung der EG. Verbesserung der direkten Kommunikation zwischen den „Marktbürgern“ der Gemeinschaft und ihren Institutionen, eine Revitalisierung der Gemeinschaftsaktion und die Verkürzung der unverständlichen „Ferne“ der EG für ihre Völker – das waren offensichtlich ebenso wesentliche wie verständliche Motivationen, von de- j nen die Regierungschefs sich bei ihren Be- 427 schlüssen über die Direktwahl 1976 leiten ließen. Bringen die Direktwahlen auch juristischen Fortschritt im hier befragten Sinne? Man würde die kühne Perspektive des Unternehmens unzulässig verkürzen, wollte man den Akzent lediglich auf eine Art mechanischer Übertragung rechtlicher und institutioneller Figuren auf die supranationale Ebene legen, die aus dem nationalen Recht parlamentarisch regierter Staaten wie in Westeuropa bereits wohl vertraut sind. Selbstverständlich finden hier kräftige verfassungsrechtliche Entlehnungen statt. Gleichzeitig wird jedoch ein gar nicht zu überschätzender qualitativer Sprung gewagt, indem man ein bisher nur im Bereiche einer geschlossenen nationalstaatlich assimilierten staatsvölkischen Infrastruktur erprobtes Modell in die Dimensionen der Gemeinschaft überträgt. Selbst die entschlossensten Befürworter des künftigen europäischen Bundesstaates haben bisher noch nie zu behaupten gewagt, daß in Westeuropa bereits nennenswerte Ansätze zu einer „europäischen Nation“ sichtbar geworden wären, die eine Art „Schmelztiegellösung“ zugunsten der Vereinigten Staaten Europas wie in den USA im 19. Jahrhundert gestatteten. Alle äußeren Anzeichen deuten vielmehr umgekehrt auf den machtvollen Fortbestand der jahrhundertealten sozio-kulturellen Nationalkulturen in Westeuropa hin. Eher als ein Aufgehen dieser nationalen Identitäten in einer „Nation Europa“ werden von Südtirol über das Baskenland und die Bretagne bis Nordirland und Schottland zusätzliche Fragmentierungen der Volkskörper sichtbar. Gegenüber einem so unterschiedlichen sozial-kulturellen „Unterbau“ innerhalb der Gesamtgemeinschaft im Unterschied zur Lage in ihren Mitgliedstaaten kann und muß der Erfolg der Direktwahlen auf die ganz andersartigen „künstlichen“ Egalisierungs- und Assimilierungstendenzen setzen, welche die Gleichartigkeit der modern-industriellen Lebensweise von Kopenhagen bis Palermo für den einzelnen Bürger mit sich bringt. Ob das für eine wirksame Parlamentarisierung und Demokratisierung der EG ausreichen wird, kann nur die Erfahrung der ersten Direktwahlen lehren. Hieran und an vielen weiteren Konsequenzen des Direktwahlbeschlusses, wie insbesondere an dem neuartigen Experiment des Aufbaues supranationaler Parteiverbindungen von der „Europäischen Volkspartei“ der christlichen Demokraten über die liberale Föderation und sozialistische Internationale Westeuropas bis wohl demnächst zu analogen Strukturen des sog. Euro-Kommunismus läßt

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III. Wesen der europäischen Integration

sich in jedem Falle ablesen, daß es bei den europäischen Wahlen nicht nur um 428 das Kopieren von zu j Hause vertrauter politischer Verhaltensweisen gehen kann, sondern um einen ausgesprochenen Gang in Neuland. Neben manchem anderen müssen sich hierbei nicht zuletzt auch wieder die innovativen Qualitäten des Gemeinschaftsrechts neu bewähren. 3. Die Entdeckung der Gemeinschaftsgrundrechte – „Wurf“ des Europäischen Gerichtshofes

Will man über fortschrittliche Aspekte der Gemeinschaftskonstruktion sprechen, würde es schließlich unverzeihliche Auslassung bedeuten, nicht an den Beitrag zu erinnern, den der Luxemburger Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften seit seiner Gründung als ursprüngliche Spruchinstanz der Montanunion 1954 zur richterlichen Entwicklung und Fortbildung des Gemeinschaftsrechts erbracht hat. Juristischer Fortschritt durch Richterrecht – diese Thematik bedarf innerhalb einer Juristenfakultät wie der Tübinger am wenigsten der ausführlichen Einführung, in der – ich erwähne nur die Namen von Otto Bachof und seinerzeit Horst Schröder – die unmittelbare Verbindung akademischer und richterlicher Betätigung stets gepflegt wurde und Überlegungen zur Rechtsprechung als zusätzlicher Rechtsquelle eigentlich zu jeder Zeit angestellt wurden und werden. Der Europäische Gerichtshof hat sich seinerseits von Anfang an in besonders prononcierter Weise nicht nur als Gericht im strikten Sinne der 3. Gewalt und des Judicial self-restraint verstanden, sondern oftmals ganz bewußt in einem unserem § 1 BVerfGG vergleichbaren verfassungsgerichtlichen Sinne als halb gemeinschaftspolitisches Organ, dem der Fortschritt der Integration mit anvertraut ist. Von dem Niederländer A. M. Donner, einem der früheren Präsidenten und heute noch bedeutendem Richter der Cour européenne, stammt die bemerkenswerte Formulierung von der Rolle des Gerichtshofes als „Kämpfer“ für die Durchsetzung und Entfaltung der Gemeinschaftsrechtsordnung. Seit der allerersten Rechtssache 1/54, in der die Cour der Hohen Behörde der Montanunion einen außerordentlich weiten Ermessensspielraum bei ihren Entscheidungen bescheinigte, spannt sich bis heute ein eindrucksvoller Bogen bewußt gemeinschaftsfördernder Rechtsprechung, mit dem kompromißlosen Ausbau des unbedingten Vorranges der Gemeinschaftsrechtsordnung vor dem nationalen Recht seit den berühmten Entscheidungen „Van Gend und Loos“2 und „Costa/ 429 ENEL“3 1963 bzw. 1964 j und der alle herkömmlichen Auslegungsregeln sprengenden Begründung einer umfassenden Außenzuständigkeit der EWG in dem Urteil „AETR“4 im Jahre 1971 als gewissen Höhepunkten. An dieses in 2 3

Rs. 26/62, Rspr. IX, 3. Rs. 6/64, Rspr. X, 1251.

Juristische Fortschritte durch die europäische Integration?

229

seinem Ausmaß bisweilen nicht unproblematische integrationspolitische Engagement des EuGH sei hier nur kurz allgemein erinnert. Auch Kritiker solchen „Gouvernement des juges“, vor allem aus Frankreich, haben die Lauterkeit der Motive des Gerichts selten in Frage gestellt, bei einem „Law in action“ wie dem noch im fortlaufenden Ausbau befindlichen europäischen Gemeinschaftsrecht die Freiheiten richterlicher Rechtsfortbildung stärker als anderwärts akzentuieren zu wollen. Unter das Thema juristischer und gleichzeitig sachlicher Integrationsfortschritte gehört indes ganz besonders ein jüngeres Grundanliegen des Europäischen Gerichtshofes, das sich eng an das schon bei der Direktwahl berührte Thema der Demokratisierung der Gemeinschaft anschließt. Wenn es richtig ist, daß die Gemeinschaftsgewalt mit zunehmender Entfaltung und Ausnutzung ihrer unmittelbar wirksamen wirtschaftlich-sozialen Rechtsetzungs- und Exekutionsbefugnisse dem einzelnen Marktbürger immer stärker an Stelle und wie sein nationaler Staat entgegentritt, stellt sich in einer Gemeinschaft rechtsstaatlich verfaßter Staaten notwendig immer deutlicher die Forderung, daß der Bürger dann auch gegenüber dieser ihn „zu Hause“ heimsuchenden staatsanalogen EG-Gewalt über vergleichbare Positionen des Status negativus, positivus und activus verfügen muß, wie sie ihm in den Bereichen seines nationalen Verfassungsrechtes verbürgt sind. Jenseits aller Einzelfragen, die insoweit die unterschiedliche mitgliedstaatliche Grundrechtsverbürgung mit sich bringt, wurde gegen Ende der Übergangszeit der Gemeinschaft die scheinbare „Grundrechtsleere“ des Integrationsrechtes immer stärker als Problem empfunden. Es gehört zu den bahnbrechenden „juristischen Entdeckungen“ des Europäischen Gerichtshofes, um noch einmal Hans Doelle zu bemühen, daß er seit 1970 in den Urteilen „Getreidekaution“5 und „Nold“6 in einer ebenso kühnen wie dem Gegenstande adäquaten Entschlossenheit in Anknüpfung an die in Art. 215 Abs. 2 EWGV benannten „allgemeinen Rechtsgrundsätze, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind“, die Existenz eines ungeschriebenen Kernbestandes gemeinschaftlicher Grund- und Menschenrechte und rechtsstaatlicher Grundprinzipien als dem europäischen Gemeinschaftsrecht immanent dekla- j rierte. – In einer Ringvorlesung der Tübinger Juristenfakultät 430 darf vielleicht an dieser Stelle die Fama weitergegeben werden, daß an diesen die Rechtsquellenlehre des Gemeinschaftsrechtes elementar beeinflussenden Entscheidungen der luxemburgische Richter des EuGH, Pierre Pescatore, seinerseits vor längeren Jahren Student und ausgebildeter Rechtskandidat dieser Fakultät, seit kurzem auch ihr Ehrendoktor, maßgebenden Anteil gehabt haben

4 5 6

Rs. 22/70, Rspr. XVII, 263. Rs. 11170, Rspr. XVI, 1125. Rs. 4/73, Rspr. XX, 491.

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III. Wesen der europäischen Integration

soll. Ein Blick in kurz vor dieser Rechtsprechung erschienene Schriften von Pescatore ist jedenfalls nur zu geeignet, solche Vermutung zu bestärken. Nur mit Beklommenheit erinnert sich freilich gleichzeitig der deutsche Jurist an dieser Stelle des offenkundigen Versagens des 2. Senats unseres Bundesverfassungsgerichtes, in seinem gewiß nicht „anti-europäischen“, wohl aber erschreckend grundgesetzintrovertierten „Solange-Beschluß“ von 19747, diese wahrhaft fortschrittliche Großtat des Europäischen Gerichtshofes in ihrem ganzen rechtsstaatlichen Wagemut und in ihrer Entwicklungsfähigkeit nicht kongenial zu erkennen und aufzunehmen, um statt dessen mit der beckmesserischen Forderung nach einem strikt grundgesetzadäquaten, geschriebenen Grundrechtskatalog den Ruf nach dem deutschen Grundrechtswesen zu erheben, an dem Europa zu genesen habe! Es wird der Tübinger Juristenfakultät, dessen bin ich sicher, noch lange zur Zierde gereichen, daß sich unser verehrter Kollege und Bundesverfassungsrichter Hans Rupp bei dieser Entscheidung zu den drei „Dissenters“ geschlagen hat, deren abweichende Meinung ohne die Änderung eines einzigen Kommas in jedes offizielle Handbuch des Europarechtes aufgenommen werden könnte8. Es bleibt nur zu hoffen, daß sich möglichst bald die Chance einer Plenarentscheidung nach § 16 BVerfGG bietet, mit der das gesamte Bundesverfassungsgericht auf den vom 1. Senat bereits 1967 im 22. Bande eingeschlagenen Pfad europäischer Tugend zurückfinden möge! Wenn solche Entwicklung ungeschriebener Gemeinschaftsgrundrechte durch den Europäischen Gerichtshof, wie inzwischen bereits für Gleichheit, Eigentum, Berufsfreiheit und Übermaßverbot geschehen, hier als letztes und krönendes Beispiel juristischen Fortschrittes durch die europäische Integration vorgelegt wird, so auch deshalb, weil diese Rechtsprechung in besonders wichtiger Weise noch über den Rechtskreis der Europäischen Gemeinschaft hinausweist. Sind Grund- und Menschenrechte wirklich allgemeine Rechtsgrundsätze der Mitgliedstaaten der EG, so erinnert sich der Deutsche wie von selbst an den „Cha431 rakter in- j delebilis“ der Menschenrechte, der ihnen „als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ mit den schönen Worten des Art. 1 Abs. 2 GG beigelegt wird. Unser mittlerweile ortsältester Kollege Günter Dürig hat in den letzten Jahrzehnten von Tübingen aus wie kaum jemand sonst in Deutschland dafür gesorgt, solch „zivilreligiöser“ Fundierung der Grund- und Menschenrechte bei uns den Boden zu bereiten. Der völkerrechtlich gebildete Internationalist wird seinerseits über den Ansatz des Europäischen Gerichtshofes an „die von den Kulturvölkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze“ gemahnt, die nach Art. 38 c des Statuts des Internationalen Gerichtshofes von Den Haag Bestandteil des universalen Völkerrechts sind. In einer Zeit, in der nicht nur im Westen Europas, sondern 7 8

BVerfGE 37, 271 ff. BVerfGE 37, 291 ff.

Juristische Fortschritte durch die europäische Integration?

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vor allem über die humanitären Prinzipien des sog. „Korbes 3“ der KSZESchlußakte von Helsinki 1975 auch in anderen Teilen Europas die Bürger- und Menschenrechtsbewegung zu einem immer bedeutsameren Faktor des zwischenstaatlichen politischen Lebens wird, kommt diesem zutiefst einleuchtenden und ausbaufähigen Vorstoß des Europäischen Gerichtshofes zugunsten normativer Wirksamkeit und Kraft des Menschenrechtsgedankens weit über das europäische Gemeinschaftsrecht hinaus richtungsweisende Bedeutung zu. V. Wohltaten oder Verhängnis des Fortschritts? Kehrt man zum Schluß zur Eingangsfrage nach dem Wesen des Fortschritts, auch des juristischen, zurück, sind vielleicht gerade nach den optimistischen Untertönen, die der Streifzug durch das europäische Gemeinschaftsrecht hervorrief, doch noch einige eingrenzende und relativierende Bemerkungen angebracht. Manches Plausible ließ sich für die Grundthese anführen, daß die Europäische Gemeinschaft und ihre Rechtsordnung nicht einem zufällig machtpolitischen Voluntarismus ihre Entstehung und ihr Fortleben verdanken, sondern eine naheliegende und begreifliche Antwort der westeuropäischen Völker auf die Herausforderungen einer Nachkriegszeit darstellen, in der die Weltordnung vielerorts im Sinne der verkehrstechnologisch bedingten „Verkleinerungen“ ihrer Regionen in ein Zeitalter staatlicher und parastaatlicher Superstrukturen einzutreten scheint. Wer kühn und optimistisch genug ist, mag sich bei solchen Entwicklungen, zu denen schöpferische Jurisprudenz ihr Scherflein beiträgt, gar an Immanuel Kants aufklärerisch-rationalen Glauben vor 200 Jahren in seinen j 432 Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht erinnert fühlen. Vom Fortgang der menschlichen Geschichte als der Vollziehung eines verborgenen Planes der Natur, eine vollkommene, sprich: weltbürgerliche Staatsverfassung und damit einen vollkommenen Entwicklungszustand der Menschheit überhaupt hervorzubringen und von vielem ähnlichem war damals die Rede. Die Europäischen Gemeinschaften als ein kleines Bruchstück solcher Konfessionen? Wer würde es nicht allzu gerne glauben. Aber andererseits, um eine bisher ganz ausgesparte Komponente wenigstens zum Schluß kurz zu berühren: ist das nicht eine viel zu idyllisch-idealistische Sicht? Handelt es sich bei der EG nicht in Wirklichkeit gemäß zynischeren Versionen nur um Angstprodukte des Kalten Krieges, eine Art von NATO-Beiwerk, also der Schuman-Plan als Frucht des Koreakrieges ab 1950 ebenso wie die EWG eine Ausgeburt des Antikommunismus nach dem Ungarn-Aufstand von 1956? Ohne die alte Erfahrung in Abrede stellen zu wollen, daß Krieg und Konflikt bis heute der Vater vieler, auch wohltätiger Entwicklungen gewesen sind, befriedigt eine solch monokausale Begrün-

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III. Wesen der europäischen Integration

dung aus vielerlei, zum Teil hier bereits berührten Gründen in keiner Weise. Notwendig ist es jedoch, sich daran zu erinnern, daß die Europäische Gemeinschaft ihre vorhin berührte große Leistung, als Gemeinschaft des Rechts den inneren Frieden in Westeuropa wesentlich mit zu garantieren, nur im Windschatten eines umfassenderen „Gleichgewichtes des Schreckens“ zu vollziehen vermag, das ihre Mitglieder und andere im Atlantischen Bündnis über eine in Friedenszeiten noch niemals gekannte Akkumulation zerstörerischer militärischer Macht aufrechterhalten. Bleibt man sich solcher Gesamtsituation bewußt, braucht man deshalb noch nicht den tiefen Pessimismus zu teilen, der in Gestalt etwa von Jacob Burckhardt in der Schweiz, Nietzsche in Deutschland, aber auch z. B. Paul Valéry in Frankreich vor und nach dem 1. Weltkrieg in Reaktion auf das frühere 19. Jahrhundert hinter dem äußerlichen Glanz des technisch-wirtschaftlichen Fortschritts nur den Verfall der eigentlichen Werte der westlichen Kultur sah. Die „moderne Alchimie“ der Atomwissenschaft (Otto Hahn), welcher auch und gerade die europäische Integration in der Gründung von EURATOM einen – wenig gelungenen – Tribut zollte, hat in unseren Tagen solchen Kulturpessimismus bis hinein in das dumpf-irrationale Protestlertum gegen jeglichen Versuch der Zähmung der Kernkraft zugunsten des materiellen Fortschrittes popularisiert. Doch kommen wir zurück auf unsere bescheidenere Fra433 gestellung: Juristischer Fortschritt durch die Errichtung j des großen übernationalen „Gehäuses“ der europäischen Integration oder letztlich auch hier, wie es Karl Löwith in einer bemerkenswerten Mainzer Universitätsrede vor einigen Jahren formulierte: „Verhängnis des Fortschritts“? Eine eindeutige Antwort dürfte kaum möglich sein. Begnügen wir uns vielleicht in der diesjährigen Ambiance 500-jährigen Nachdenkens über Recht und Gerechtigkeit in der Tübinger Juristenfakultät mit der Erfahrung, daß jedenfalls derjenige wirklichen Fortschritt am ehesten zu begreifen und wertzuschätzen vermag, der durch gelegentlichen Blick zurück auf jahrhundertelange, immer wieder erneuerte Anpassung der juristischen Einrichtungen und Denkfiguren an die Forderungen des Tages die nötige Immunität vor der Krankheit unserer Zeit gewonnen hat, nämlich der alleinigen Besessenheit von Gegenwart und Zukunft.

IV. Die europäische Verfassung

Vom Nizza-Vertrag 2001 zum Europäischen Verfassungskonvent 2002/20031 Vortrag im Rahmen des deutsch-italienischen Verfassungsrechtscolloquiums in Tübingen im Mai 2002.

Die Vorbereitung einer klaren und lesbaren Europäischen Verfassung ist nach der enttäuschenden Nizza-Regierungskonferenz 2001 und vor der großen Erweiterung der EU von 15 auf 25 und mehr Mitgliedstaaten unabweisbar geworden. Nach dem Erfolg des Grundrechte-Konvents 2000 hat der Europäische Rat in Laeken 2001 einen zweiten parlamentarisierten „Europäischen Konvent“ eingesetzt, der bis Mitte 2003 den Entwurf eines Verfassungsvertrages vorlegen soll. Über ihn entscheidet eine anschließende Regierungskonferenz abschließend. Der Beitrag schildert den Weg zum Brüsseler Verfassungskonvent, seine Gestalt und die bisherigen Ergebnisse der Konventsarbeit bis November 2002. I. Zur Entwicklung der Gemeinschaftsverträge von Paris 1950 bis Nizza 2001 1. Hat die Europäische Union bereits eine Verfassung?

Seit einigen Jahren geht in Europa ein Gespenst um: die Schaffung einer „europäischen Verfassung“. (Man sollte besser von einem „guten Geist“ sprechen.2) Je nachdem, wie man das Wort „Verfassung“ verwendet, ist das nichts Neues oder ein revolutionärer Sprung. Hier wird „Verfassung“ in dem bekannten und einleuchtenden Sinne verstanden, daß es sich um die oberste Grundordnung einer Organisation handelt, welche gleichzeitig die Existenz dieser Organisation legitimiert. In diesem Sinne hat bereits Alfred Verdross 1926 vom Völkerbund als der „Verfassung der Völkergemeinschaft“ gesprochen oder heute 1 Thomas Oppermann nahm an den Verhandlungen des Europäischen Konvents als Berater von Ministerpräsident Erwin Teufel (Stuttgart), Mitglied des Konvents für den deutschen Bundesrat teil (vgl. auch S. 334). Der Beitrag enthält die persönliche Auffassung des Verf. – Stand: November 2002. Siehe ferner als Fortsetzung die beiden nachfolgenden Beiträge. Der Beitrag erschien erstmals in: DVBl. 2003, 1–10. 2 Die Stellungnahmen in der europäischen Verfassungsdebatte sind Legion. Etwa Schwarze, Auf dem Wege zu einer europäischen Verfassung, DVBl. 1999, 1677 ff.; Müller-Graff, Der Post-Nizza-Prozess. Auf dem Weg zu einer neuen europäischen Verfassung? Integration 2001, 208 ff.; Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001; Schüsselbauer, Erwartungen an den Post-Nizza-Prozess, Orientierungen 89 (2001), 44 ff.

1

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IV. Die europäische Verfassung

Martin Nettesheim von der Welthandelsorganisation WTO als einer „Erscheinung konstitutionalisierter Ordnung“3. Dieser Verfassungsbegriff wird ohne viele Umstände transnational verwendet. Verfassungsgebung braucht nicht mit Staatswerdung gleichgesetzt zu werden. Andererseits gibt es in Deutschland bemerkenswerte Stimmen wie die ehemaligen Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm und Paul Kirchhof, die dem Gedanken einer „europäischen Verfassung“ mehr oder weniger reserviert gegenüberstehen, weil wirkliche Verfassungen angeblich einen Staat voraussetzen4. Die Europäische Union und Gemeinschaft sei aber kein Staat. Solch unter2 schiedli- j cher Sprachgebrauch hängt mit der Unterscheidung zwischen formellem und materiellem Verfassungsrecht zusammen. Im Falle der staatsnahen und mittlerweile erheblich demokratisierten Europäischen Union legt es sich besonders nahe, ihr primäres Gemeinschaftsrecht als die bereits existierende vertragliche Verfassung der EG/EU zu begreifen. Das Bundesverfassungsgericht hat schon im Jahre 1967 vorausschauend formuliert, der EWG-Vertrag stelle „gewissermaßen die Verfassung der Gemeinschaft dar“5. Der Europäische Gerichtshof hat seinerseits 1991 die Integrationsverträge über ihren Charakter als völkerrechtliche Verträge hinaus als Gründungsakte und „Verfassungsurkunde“ der Gemeinschaft und Union begriffen6. Mit der seit Maastricht 1992, Amsterdam 1997 und Nizza 2001 eingetretenen Vertiefung der EU drängt sich diese Vorstellung mehr denn je auf. 2. Die Unzufriedenheit mit dem heutigen Verfassungszustand der Union

Mit dem Ausgreifen der Gemeinschaftsaktionen in immer neue Sachgebiete seit den neunziger Jahren ist die Unzufriedenheit der europäischen Öffentlichkeit mit dem „Brüsseler Europa“ ständig gewachsen7. Die Problematik des heutigen europäischen Verfassungszustandes, die zu der besonders seit Nizza 2000/ 2001 immer mehr angeschwollenen Diskussion über die Notwendigkeit einer neuen „europäischen Verfassung“ geführt hat, liegt darin, daß die Gesamtheit des geltenden primären Gemeinschaftsrechts im Laufe der Zeit eine ganz fürch3 Verdross, Die Verfassung der Völkergemeinschaft, 1926; Nettesheim, Von der Verhandlungsdiplomatie zur internationalen Verfassungsordnung. Zur Entwicklung der Ordnungsformen des internationalen Wirtschaftsrechts, Liber Amicorum Oppermann, 2001, 381 ff. 4 Grimm, Braucht Europa eine Verfassung? JZ 1995, 581 ff.; P. Kirchhof, Der Verfassungsstaat und seine Mitgliedschaft in der Europäischen Union, Liber Amicorum Oppermann, 2001, 201 ff. 5 BVerfGE 22, 292 ff. (296). 6 EuGHE 1991, 6079 – Gutachten 1/91 „EWR“. 7 Bekannter literarischer Ausdruck bei Enzensberger, Ach Europa!, 1991; vgl. auch Verschraegen, Die Europäische Union. Anspruch und Wirklichkeit, 2001.

Nizza-Vertrag 2001 und Europäischer Verfassungskonvent 2002/2003

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terliche Grundordnung der EG/EU geworden ist. Von der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) 1952 aufgrund der historischen Initiative von Robert Schuman am 9.5.1950 im Verein mit Konrad Adenauer und Alcide de Gasperi über die Römischen Verträge (EWG und EAG) von 1957, die Einheitliche Europäische Akte 1986 sowie die Verträge von Maastricht 1992, Amsterdam 1997 und Nizza 2001 spannt sich der Bogen des europäischen „Verfassungsprozesses“8. Immer wieder wurde der europäische Einigungsprozeß nach der „Methode Monnet“ im Sinne fortschreitender sektoraler Teilintegration vorangetrieben. Formal geschah dies im Wege völkerrechtlich geprägter Vertragsänderung (heute Art. 48 EU-Vertrag) über Regierungskonferenzen und anschließende Ratifikation durch die nationalen Parlamente. Mit der Mitwirkung der Europäischen Kommission, des Europäischen Parlamentes und neuerdings der Europäischen Zentralbank wurden diesem Verfahren gewisse „verfassungsgebende“ Elemente eingefügt. In diesen Zusammenhang gehören ferner die Vertragsänderungen aufgrund der vier Erweiterungen der EG 1972 (Dänemark, Großbritannien, Irland), 1981 (Griechenland), 1986 (Portugal, Spanien) und 1995 (Finnland, Österreich, Schweden), die aus der ursprünglichen Sechsergemeinschaft eine Union von 15 Mitgliedstaaten machten. Die größte Erweiterung um ein ungefähres Dutzend ost- und südeuropäischer Beitrittskandidaten steht der EU ab 2004 bevor9. Mit dieser vielgestaltigen Entwicklung ist die formelle EU-Vertragsverfassung des primären Gemeinschaftsrechts bis heute immer mehr ausgeufert und mit all ihren Verträgen, Protokollen, Erklärungen usf. selbst für Spezialisten nicht mehr überschaubar. Neben einer Minderheit grundlegender Artikel, die wie Art. 6 EUV mit den Grundsätzen von Freiheit, Demokratie, Grundrechten und Rechtsstaatlichkeit oder mit den Vorschriften über die Organe der Gemeinschaft wirkliches materielles Verfassungsrecht enthalten, stehen Hunderte von Bestimmungen mit Detailregelungen und auch Nebensächlichkeiten. Wir haben heute auf europäischer Ebene die schlechteste Art von Verfassung, nämlich eine lange und dunkle. Der Unionsbürger wendet sich mit Grausen von diesem Konglomerat ab. II. Paradigmenwechsel: Der Europäische Konvent 2002–2003 1. Köln 1999 und Nizza 2001: Der Weg zum Konventsverfahren

Nach verbreitetem Urteil ist die gouvernemental-völkerrechtliche Form der Änderung der Integrationsverträge über Regierungskonferenzen spätestens mit 8 Zur Gemeinschaftsgeschichte Stolleis, Europa – Seine historischen Wurzeln und seine künftige Verfassung, 1997; Bärenbrinker/Sakubowski, Die Geschichte der europäischen Integration, Integration 1998, 103 ff. 9 Zohlnhöfer, Perspektiven der Osterweiterung und Reformbedarf der EU, 1998.

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IV. Die europäische Verfassung

der nahezu gescheiterten und in ihren Ergebnissen problematischen Reform von Nizza 2001 an ihre Grenzen gestoßen10. Die EU-Mitgliedstaaten haben sich allerdings bisher nicht bereit gefunden, ihre „verfassungsgebende Gewalt“ („Herrschaft über die Verträge“) im demokratischen Sinne an einen parlamentarischen Pouvoir constituant abzutreten. Jedoch wird neuerdings mit einem halbherzigen, aber gleichwohl bemerkenswerten Schritt dem weiter geltenden Verfahren nach Art. 48 EUV die Arbeit eines teilweise parlamentarisierten „Konventes“ vorgeschaltet. Die anschließende Regierungskonferenz befindet über dessen Ergebnisse endgültig. Die politische Bindungswirkung der Konventsarbeit für die Regierungen beruht auf der Qualität und Überzeugungskraft ihrer Ergebnisse. Zum ersten Mal erteilte der Europäische Rat in Köln und Tampere 1999 einem solchen Konvent das Mandat, eine EU-Charta der Grundrechte vorzubereiten11. Damit sollte der komplizierte Status der europäischen Grundrechte 3 zwischen ungeschriebenem Gemeinschaftsrecht j und der Anwendung der Europäischen Menschenrechtskonvention 1950 für die Unionsbürger sicherer und sichtbarer gemacht werden. Der Grundrechte-Konvent umfasste 62 Mitglieder, mehrheitlich Mitglieder des Europäischen und der nationalen Parlamente sowie Beauftragte der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten und ein Mitglied der Europäischen Kommission. Unter der Präsidentschaft des ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog gelang es dem Konvent, am 2.10.2000 die „Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ mit 54 Artikeln einvernehmlich zu verabschieden12. Der Europäische Rat von Nizza 2001 hat die Charta „feierlich proklamiert“. Über die Rechtsverbindlichkeit der Charta und ihre Einbeziehung in eine künftige EU-Vertragsverfassung soll im Post-NizzaProzeß auf der Regierungskonferenz 2004 entschieden werden. Der Charta wird bereits heute als Ausdruck europäischen Wertekonsenses in einem umfangreichen Schrifttum der Rang des zentralen Grundrechtekataloges der EU zuerkannt. Die Generalanwälte greifen am Europäischen Gerichtshof in einer Art Selbstbindung auf die Charta zurück. Das Gericht erster Instanz verfährt ähnlich13. 10 Zum Urteil über die Nizza-Konferenz Pleuger, Der Vertrag von Nizza: Gesamtbewertung und Ergebnisse, Integration 2001, 1 ff.; Pache/Schorkopf, Der Vertrag von Nizza, NJW 2001, 1377 ff.; Pocar/Secchi, Il Trattato di Niza e l’Unione Europea, 2001. 11 Zu dem Konvent zur Ausarbeitung der EU-Grundrechtecharta Hilf, Sonderbeilage NJW „Charta der Grundrechte der EU“, 2001, 5 ff. 12 ABl. 2000, C 364/1. Zur Grundrechtecharta hat sich bereits eine umfangreiche Literatur entwickelt, vgl. etwa Pernice, Eine Grundrechte-Charta für die Europäische Union, DVBl. 2000, 847 ff.; Meyer/Engels, Die Charta der Grundrechte der EU. Berichte und Dokumentation, 2001; Nettesheim, Die Charta der Grundrechte in der Europäischen Union, Integration, 2002, 35 ff. 13 Alber/Widmaier, Die EU-Charta der Grundrechte und ihre Auswirkungen auf die Rechtsprechung, EuGRZ 2000, 497 ff.

Nizza-Vertrag 2001 und Europäischer Verfassungskonvent 2002/2003

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Der Erfolg des Grundrechtekonvents führte 2001/2002 zur Einsetzung des Europäischen Verfassungskonvents. Hintergrund war die auf der Nizza-Konferenz gewonnene Erkenntnis, daß die EU mit ihrer unübersichtlichen „Verfassungsordnung“ trotz der Reformen von Amsterdam 1997 und Nizza 2001 nicht hinreichend auf die ab 2004 bevorstehende große Erweiterung um bis zu zwölf mittel- und osteuropäische Beitrittsstaaten sowie Malta und Zypern vorbereitet war. Die notwendige durchgreifende Verfassungsreform würde unter 25 und mehr Mitgliedstaaten nahezu unmöglich werden. Die Nizzaer „Erklärung zur Zukunft der Union“ forderte in Abwendung von den völkerrechtlichen Vertragsänderungsverfahren als erstes eine „umfassende Debatte“ der nationalen Parlamentarier und der Öffentlichkeit insgesamt (Politik, Wirtschaft, Hochschulen, Zivilgesellschaft) darüber, wie die „Groß-Union“ nach der Erweiterung aussehen solle14. Für diese Debatte wurden in Nizza im Interesse der „demokratischen Legitimation und der Transparenz der Union und ihrer Organe“ zentrale Themen vorgegeben. 2. Die Einberufung des Europäischen Verfassungskonvents in Laeken Ende 2001

Die Erklärung des Europäischen Rates von Laeken vom 15.12.2001 „Die Zukunft der Europäischen Union“ faßte diese öffentliche Diskussion in einer Reihe ausführlicher Fragestellungen zusammen15. Gleichzeitig erfolgte in Laeken die „Einberufung eines Konvents zur Zukunft Europas“. Seine Aufgabe ist es, bis ungefähr Mitte 2003 ein „Abschlußdokument“ zu erstellen. Auf diese Weise wird etwas verschämt der Entwurf einer EU-Vertragsverfassung umschrieben, in der die bisherigen Verträge fortentwickelt und vereinheitlicht werden sollen. Falls der Konvent keinen Konsens erreicht, kann er verschiedene „Optionen“ vorlegen. Die Ergebnisse des Konvents werden Ausgangspunkt für die Arbeiten der anschließenden Regierungskonferenz ab 2004 sein, welche im Vertragsänderungsverfahren des Art. 48 EUV „die endgültigen Beschlüsse faßt“. Italien hat den Ehrgeiz, die Regierungskonferenz unter seiner Ratspräsidentschaft bereits Mitte 2003 zu beginnen und vor dem Jahresende abzuschließen. Die neue europäische Verfassung könnte auf diese Weise zum zweiten Mal nach 1957 als „Römischer Vertrag“ in die Geschichte eingehen. Andere Mitgliedstaaten wie Großbritannien üben größere Zurückhaltung. Sie möchten eine längere „Brandmauer“ zwischen dem Abschluß der Konventsarbeit und dem Beginn der Regierungskonferenz errichten, um die Handlungsfreiheit der Mit14 23. Erklärung zum Nizza-Vertrag: „Erklärung zur Zukunft der Europäischen Union“, Text BGBl. 2001 II, 1700; hierzu Ronge (Hrsg.), In welcher Verfassung ist Europa – Welche Verfassung für Europa? 2001. 15 Text Doc SN 283/01. – Wägenbaur, Die Erklärung von Laeken zur Zukunft der EU, EuZW 2002, 65.

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IV. Die europäische Verfassung

gliedstaaten als „Herren der Verträge“ zu betonen. Wenn der Konvent wirklichen politischen Einfluß auf die Regierungskonferenz ausüben will, wird es entscheidend sein, daß er sich einvernehmlich oder wenigstens mit eindrucksvoller Mehrheit auf einen einheitlichen Verfassungsentwurf einigt. Die Aufgabe des Verfassungsgremiums ist im Vergleich zum GrundrechteKonvent ungleich schwieriger. Auf dem Tisch des Verfassungskonvents liegen die meisten hochpolitisch umstrittenen Fragen zur Zukunft der erweiterten Union. Der Konvent soll die künftige Aufgabenverteilung zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten ebenso regeln wie eine Reform der zentralen Institutionen der EU (Rat, Kommission, Parlament, Gerichtsbarkeit u. a. m.) einleiten, um die künftige Union von 25 und mehr Mitgliedstaaten handlungsfähig zu erhalten16. Weitgehender Konsens dürfte über die Einbeziehung der EU-Grundrechtecharta 2000 in den künftigen Verfassungsvertrag bestehen. 3. Die juristische und die politische Gestalt des Europäischen Verfassungskonvents

Der Europäische Konvent, der am 28.2.2002 im Gebäude des Europäischen 4 Parlaments in Brüssel seine Arbeiten j aufgenommen hat, besteht aus insgesamt 105 Mitgliedern. Davon sind 66 voll stimmberechtigt („Kernteam“). Hinzu treten 39 Mitglieder aus den 13 Bewerberstaaten (einschließlich der Türkei). Sie können sich ohne letztentscheidendes Stimmrecht umfassend an den Beratungen beteiligen. 13 Mitglieder des Wirtschafts- und Sozialausschusses, der europäischen Sozialpartner, des Ausschusses der Regionen und der Europäische Bürgerbeauftragte sind als Beobachter eingeladen. Jeder Mitglieds- und jeder Beitrittsstaat entsendet einen Regierungsvertreter und zwei Parlamentarier (in Deutschland je einen Vertreter des Bundestages und des Bundesrates). Ferner gehören 16 Mitglieder des Europäischen Parlaments und zwei Vertreter der Kommission dem Konvent an. Auf diese Weise stehen im „Kernteam“ 46 Parlamentarier 17 gouvernementalen Vertretern gegenüber. So ergibt sich eine ähnliche parlamentarische Mehrheit wie im Grundrechte-Konvent. Gleichzeitig sind die unterschiedlichen nationalen Interessenlagen relevant. Der Europäische 16 Der Konvent hat seit dem Frühjahr 2002 zur Vorbereitung des Verfassungsvertrages eine Reihe thematischer Arbeitsgruppen einberufen, z. B. über Subsidiarität, Kompetenzen, Justiz und Inneres, Rolle der nationalen Parlamente, einheitliche Rechtspersönlichkeit, Vereinfachung der Verträge, Einbeziehung der Grundrechtscharta, Außenund Sicherheitspolitik. Der Einsetzung einer Arbeitsgruppe geht jeweils eine Debatte im Plenum des Konvents voraus, aus der sich das Meinungsspektrum zu der Thematik ungefähr erkennen läßt. Nach Vorlage des jeweiligen Schlußberichts der Arbeitsgruppe wird dieser im Konventsplenum erörtert. Vgl. auch Haensch, Aus der aktuellen Arbeit des Konvents: Stand und Perspektiven, Integration 2002, 226 ff., und Marhold, Der Konvent zwischen Konsens und Kontroversen: Zwischenbilanz, Integration 2002, 251 ff.

Nizza-Vertrag 2001 und Europäischer Verfassungskonvent 2002/2003

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Konvent ist viel stärker als ein nationales verfassungsgebendes Gremium diffus und multipolar zusammengesetzt. Auf der einen Seite spielt die Zugehörigkeit zu den großen „politischen Familien“ (Bürgerliche Volksparteien, Sozialisten, Liberale usf.) eine Rolle. Ebenso prägt jedoch die Zugehörigkeit zu gewissen Gruppen von Mitgliedstaaten die Arbeit des Konvents (z. B. englische und dänische „Euroskeptiker“, Gruppe der Mittelmeerländer, deutsch-französische Kooperationen u. a. m.). Die Fronten wechseln auf diese Weise öfters bei den einzelnen Sachfragen. Im Sinne des Auftrages von Nizza und Laeken hat der Konvent im Sommer 2002 eine Anhörung der „Zivilgesellschaft“ im weitesten Sinne vorgenommen und zur weiteren Information einen mehrtägigen „Jugendkonvent“ einberufen17. Der Europäische Konvent wird von einem zwölfköpfigen Präsidium geleitet, an dessen Spitze der ehemalige französische Staatspräsident Valéry Giscard d’Estaing steht. Auf diese Weise repräsentiert sich der Konvent angemessen im Kreise der Staats- und Regierungschefs des Europäischen Rates, dem der Konvent regelmäßig Bericht erstattet. Der Konvent wird von einem eigenen Sekretariat unterstützt. Generalsekretär ist der Brite John Kerr. Nach der Entsendung ihrer Vertreter zu urteilen, scheinen die Mitgliedstaaten und die europäischen Institutionen die politische Bedeutung des Konvents unterschiedlich einzuschätzen. Italien hat mit den beiden ehemaligen Ministerpräsidenten Giuliano Amato (Präsidiumsmitglied) und Lamberto Dini sowie mit dem stellvertretenden Ministerpräsidenten der gegenwärtigen Regierung Berlusconi, Gianfranco Fini, mehrere hochrangige Politiker in den Konvent geschickt. Es ist auch im Sekretariat qualifiziert vertreten. Auch Deutschland hat mit der Entsendung des Bundesaußenministers Joseph Fischer nach der Bundestagswahl 2002 sein Interesse an der Konventsarbeit intensiviert. Ebenso sind der baden-württembergische Ministerpräsident Erwin Teufel als Vertreter des Bundesrates und aus dem Europäischen Parlament sein früherer 17 Als Zivilgesellschaft hörte der Konvent am 24./25.6.2002 unter Leitung des Präsidiumsmitgliedes Dehaene zahlreiche Organisationen des Sozialen Sektors, Umweltverbände, akademische „Think-Tanks“, Bürgergruppen, Gebietskörperschaften, Menschenrechts- und Entwicklungsorganisationen, kulturelle Verbände sowie Repräsentanten der Kirchen über die Aufgaben des Konvents an und trat in einen Dialog mit diesen Gruppen ein. Der Kontakt mit der Zivilgesellschaft wird über das Internet fortgesetzt. – Der Jugendkonvent, an dem 210 18–25-jährige Vertreter von Jugendorganisationen aus den 28 Konventsstaaten teilnahmen, tagte parallel zum Konvent vom 9. bis 12.7.2002 und übergab dem „Senior Convent“ eine ausführliche, sehr sachverständige Resolution zu den Konventsthemen, in der für entschiedene Fortschritte in der Integration plädiert wurde (Final Text adopted by the European Youth Convention, Brussels, 12 July). So unvollkommen die Repräsentanz beider Veranstaltungen mit Blick auf die 570 Millionen gegenwärtiger und künftiger Unionsbürger auch gewesen sein mochte, bedeutete der Kontakt mit Zivilgesellschaft und Jugend für den Konvent mancherlei unmittelbare Einblicke, welche Überlegungen und Probleme auf der „Bürgerebene“ als vordringlich angesehen werden.

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IV. Die europäische Verfassung

Präsident Klaus Hänsch (Präsidiumsmitglied) national bekannte Politiker. Auch Frankreich, die Beneluxstaaten, Spanien und Portugal nehmen die Konventsarbeit sehr ernst. Andere EU-Staaten halten sich stärker zurück. Politisch gesprochen dürfte es im Konvent eine Mehrheit von integrationswilligen „Europäern“ gegenüber den „Euroskeptikern“ geben. Diesen Eindruck haben die Debatten der ersten Monate vermittelt18. Die Mitglieder aus den Beitrittsstaaten nehmen engagierten Anteil an der Konventsarbeit. Alles in allem ist der Europäische Konvent politisch schwergewichtig genug besetzt, um es der anschließenden Regierungskonferenz schwer zu machen, über ein einmütiges Ergebnis der Konventsarbeit zur Tagesordnung überzugehen. Anders würde es aussehen, falls sich der Konvent auseinander dividiert. III. Eine Vertragsverfassung für die künftige „Groß-EU“ von mehr als 25 Mitgliedstaaten? 1. Der Auftrag des Konventes: Eine einmalige europapolitische Herausforderung

Es stellt eine noch nie gekannte Herausforderung dar, daß ein offiziell von den Regierungen eingesetztes europäisches verfassunggebendes Gremium den Entwurf einer europäischen Verfassung ausarbeiten soll. Frühere Initiativen aus 5 dem Europäischen Parlament (Spinelli- und Herman-Ent- j würfe 1984 und 1994) sind verpufft19. In der Literatur gibt es seit den Paneuropa-Ideen des Grafen Coudenhove-Kalergi aus den zwanziger Jahren bis zu Äußerungen und Textversuchen seit Maastricht 1992 eine unendliche Fülle gedanklicher Anstrengungen, Europa eine dauerhafte konstitutionelle Gestalt zu verleihen20. Die Ziele, die sich der Europäische Konvent im Zeitraum eines guten Jahres unter den Gegebenheiten der heutigen EU setzen kann, sind wesentlich bescheidener und weithin durch den Auftrag von Nizza und Laeken definiert21. Für sich gesehen, bleibt die Aufgabe des Konvents immer noch grandios. 18 Mit Hilfe einer strikt auf drei Minuten begrenzten Redezeit kommt auf den Plenarsitzungen jeweils ein großer Teil der Konventsmitglieder zu Wort. Auf diese Weise erhält das Präsidium einen guten Einblick in vorherrschende Meinungstrends innerhalb des Plenums, was für die spätere Vorlage konkreter Vertragstexte von Bedeutung ist. – Die grundsätzlich „europäische“ Haltung der Konventsmehrheit verdankt viel den 16 Europaparlamentariern und ihren Stellvertretern. Sie ist nicht nur unter der überlegten Führung von Mitgliedern wie Elmar Brok, Klaus Haensch oder Alain Lamassoure die zahlenmäßig größte Gruppe innerhalb des Konvents, sondern vermag, von wenigen Ausnahmen abgesehen, regelmäßig nach außen homogen aufzutreten und intern über die Parteigrenzen hinweg Konzepte zu entwickeln. Vgl. Haensch (Anm. 16). 19 Borchardt, Die europäische Einigung, 1995. 20 Loth, Entwürfe einer europäischen Verfassung. Eine historische Bilanz, 2002. 21 Schneider, Der Post-Nizza-Prozess: ein direkter Anlauf zur Konstitutionalisierung der EU? Integration 2001, 198 ff.

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Die Laeken-Erklärung 2001 sieht Europa an dem Scheideweg, die Teilung des Kontinents nach 1945 endgültig zu überwinden und der „Groß-Union“ mit 25 und mehr Mitgliedstaaten handlungsfähige Strukturen zu geben oder mangels Einigung in eine Art lockere „europäische UNO“ zurückzufallen. Die Herausforderung europäischer Verfassungsgebung ist eine doppelte22. Zum einen soll die EU nach innen durch eine zeitgemäße Verfassung demokratischer, bürgernäher und effizienter werden. Auf der anderen Seite muß die EU ihre auswärtige Rolle in der sich globalisierenden Welt verbessern. Die Entwicklungen nach dem 11.9.2001 einschließlich des Nahostkonfliktes haben ein weiteres Mal die begrenzten weltpolitischen Einflußmöglichkeiten einer Union vor Augen geführt, die keine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik kennt, die diesen Namen verdient. Ähnliches gilt für das Fehlen einer gemeinsamen Einwanderungspolitik, den ungenügenden Schutz der Außengrenzen oder für die Bekämpfung der transnationalen Kriminalität. 2. Vereinfachung des europäischen Vertragswerkes durch eine Zweiteilung der Verträge?

Im formalen juristischen Sinne steht der Konvent vor der äußerst schwierigen Aufgabe, das kaum noch überschaubare Konglomerat der bestehenden Verträge zu vereinfachen. Der Unionsbürger benötigt eine lesbare und praktikable Verfassung, wenn er sich wenigstens ansatzweise mit „Europa“ identifizieren soll. Im „technischen“ Sinne hat die Arbeit von Kommissionen gezeigt, an denen Armin v. Bogdandy und Claus-Dieter Ehlermann beteiligt waren, daß die Verträge klarer und einfacher gestaltet werden können23. Solche Bestrebungen stoßen jedoch auf die politische Schwierigkeit, daß nach einem halben Jahrhundert Gemeinschaftsgeschichte hinter sehr vielen Vertragsbestimmungen, beispielsweise in der Agrar-, Wettbewerbs- oder Verkehrspolitik, mühsam ausgehandelte Kompromisse der Mitgliedstaaten stehen. An ihnen soll möglichst nicht gerüttelt werden. Es ist mehr als fraglich, ob der Konvent binnen eines Jahres die Zeit und Kraft findet, diese Büchse der Pandora zu öffnen. Die Nizzaer Erklärung zur Zukunft der Union hat gefordert, die Verträge zu vereinfachen „mit 22

Laeken-Erklärung (Anm. 15), 1. v. Bogdandy/Ehlermann, Consolidation of the European Treaties, CMLRev. 1996, 107 ff. – Im Jahre 2000 übergab das Europäische Hochschulinstitut Florenz der Kommission einen von Ehlermann und Meny koordinierten „Basisvertrag für die Europäische Union“, der auf der Grundlage des geltenden Rechts in 314 Artikeln die „wesentlichen Merkmale der EU“ vereinheitlicht. Inzwischen wird die Konventsarbeit im Jahre 2002 von verschiedenen Vertragsentwürfen aus Praxis und Wissenschaft begleitet, u. a. der EVP-Gruppe im Konvent („Entwurf Brok“), dem „Freiburger Entwurf“ (Hrsg. Jürgen Schwarze) dem „Berliner Entwurf“ (Hrsg. Gloser/Roth, MdB), dem „Cambridge-Text“ (Hrsg. Alan Dashwood) oder der „Constitution Européenne“ von Robert Badinter. 23

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IV. Die europäische Verfassung

dem Ziel, diese klarer und verständlicher zu machen, ohne sie inhaltlich zu ändern“. Ein solcher Auftrag gleicht der Quadratur des Zirkels. Die Laeken-Erklärung hat unter diesen Umständen einen Gedanken aufgegriffen, der zuerst im Herbst 1999 in dem Bericht der „drei Weisen“ Dehaene/ Simon/v. Weizsäcker entwickelt worden ist24. Es geht um eine Zweiteilung des bestehenden Vertragsrechts. Die Aufgabe des Konvents bestünde vor allem im Entwurf eines „Basisvertrages“. Dieser sollte sich im Sinne der klassischen Inhalte materiellen Verfassungsrechtes auf die Aufnahme der Werte und Grundentscheidungen der EU einschließlich einer Inkorporation der EU-Grundrechtecharta von 2000 beschränken, sowie die institutionelle Ordnung der Union einschließlich ihrer Rechtsinstrumente, die Aufgaben- und Kompetenzverteilung zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten und das Gesetzgebungsverfahren einschließlich des Budgetrechtes regeln. Gleichzeitig ist die heute umstrittene und komplizierte Frage einer einheitlichen Rechtspersönlichkeit der Union zu lösen, durch eine Einbeziehung von EURATOM in den EG-Vertrag und möglichst unter gleichzeitiger Einbeziehung der beiden intergouvernementalen „Säulen“ der Außen- und Sicherheitspolitik sowie des Raumes der Sicherheit und des Rechts in die Gemeinschaftskonstruktion. Wenn es dem Konvent gelänge, über einen solchen Basisvertrag Konsens zu erzielen, hätte er seine hauptsächliche Aufgabe gelöst. Der Basisvertrag wäre nichts anderes als die europäische Vertragsverfassung im materiellen Sinne. Inzwischen hat der vom Konventspräsidium am 28.10.2002 vorgelegte „Vorentwurf des Verfassungsvertrages“ das ehrgeizigere Ziel ins Auge gefaßt, die Gesamtheit des primären Unionsrechtes in einem einzigen, in zwei Teile gegliederten „Vertrag über eine Verfassung für Europa“ zusammenzufassen25. Dem 1. klassischen Verfassungsteil („Struktur der Verfassung“) schließt sich ein 2. Teil „Die Politikbereiche und die Durchführung der Maßnahmen der Union“ 6 an, dessen Konturen vorläufig noch undeut- j lich sind. Es wird abzuwarten bleiben, ob dem Konvent der „große Wurf“ gelingt, das viel verästelte Primärrecht der Politiken vom Binnenmarkt über die Wirtschafts- und Währungspolitik bis zu den einzelnen Sachpolitikbereichen in eine knappe „verfassungsmäßige“ Form zu überführen.

24 Weizsäcker/Dehaene/Simon, Die institutionellen Auswirkungen der Erweiterung. Bericht an die Europäische Kommission vom 18.10.1999. 25 Document CONV 369/02 vom 28.10.2002. Mit Blick hierauf bereits Giscard d’Estaing, Europas letzte Chance, Süddeutsche Zeitung, 23.7.2002, S. 9. Ferner Hauser, Ein Etappensieg für den Konvent, Konvent-Spotlight 10/2002. – Das italienische Präsidiumsmitglied Amato ist in besonderer Weise bei der Ausarbeitung der Verfassungstexte engagiert.

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3. Vorrang der „eigentlichen“ Verfassung oder Gleichrangigkeit beider Teile?

Bei einer Zweiteilung des künftigen Unionsvertrages stünden dem Basisvertrag „andere Vertragsbestimmungen“ gegenüber, wie es die Laeken-Erklärung formuliert26. Der zweite Teil enthielte im wesentlichen die bisherigen Politiken der Gemeinschaft (Grundfreiheiten des Binnenmarktes, Landwirtschaft, Verkehr, Wettbewerb, Wirtschafts- und Währungspolitik, Handelspolitik und manches andere mehr). Hinzu träten die neuen Aufgaben der Gemeinschaft, beispielsweise anstelle der bisherigen zweiten und dritten „Säule“ eine stärker vergemeinschaftete Außen- und Sicherheitspolitik sowie wichtige Teile der klassischen Innenpolitik („Raum der Sicherheit und des Rechts“). Bei einer solchen Zweigliederung der Verträge in eine „Verfassung“ (Basisvertrag) und in „andere Vertragsbestimmungen“ liegt ein zentrales Problem in der sachgerechten Regelung des Rangverhältnisses zwischen den beiden Verträgen. Der erste Reflex des Verfassungsrechtlers geht wahrscheinlich dahin, in der Vertragsverfassung des Basisvertrages einen überlegenen Teil des Vertragswerkes zu sehen. Muß nicht „echtes“ Verfassungsrecht sonstigen Bestimmungen vorgehen? Dennoch ist Vorsicht anzuraten. Beide Teile der künftigen Gesamtregelung werden gleichermaßen als primäres Vertragsrecht nach dem Verfahren des Art. 48 EUV von den nationalen Parlamenten ratifiziert. Kann oder sollte bei dieser Gelegenheit eine Art „Primärrecht erster und zweiter Klasse“ geschaffen werden? Der Basisvertrag als ein „Super-Primärrecht“ mit Vorrang gegenüber den „anderen Vertragsbestimmungen“? In diesem Falle müßte das bisherige Sekundärrecht der Verordnungen und Richtlinien zu einer neuen Kategorie des „Tertiärrechts“ absinken. Ein derart dreigeteiltes Unionsrecht wäre noch komplizierter und schwerer durchschaubar als heute. Es würden sich außerdem prekäre Rangprobleme ergeben. Beispielsweise, wenn die Grundrechte des Basisvertrages prinzipiellen Vorrang gegenüber den Grundfreiheiten des Binnenmarktes beanspruchen wollten27. Ferner wäre der allgemeine Vorrang von drei Kategorien des Unionsrechtes gegenüber dem Recht der Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Verfassungen noch schwieriger durchzuhalten als bereits heute. Eine ernsthafte Beschädigung des Vorranges des Gemeinschaftsrechts müsste die Ordnung der Union ins Mark treffen. Daher spricht wahrscheinlich vieles dafür, Basisvertrag und zweiten Teil grundsätzlich als gleichrangiges primäres Unionsrecht anzusehen. Hiervon geht auch der Vorentwurf des Konventspräsidiums aus. Divergenzen zwischen Rege-

26

Laeken-Erklärung (Anm. 15) II. Schmitz, Die EU-Grundrechtecharta aus grundrechtsdogmatischer und grundrechtstheoretischer Sicht, JZ 2001, 833 ff.; Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2003. 27

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IV. Die europäische Verfassung

lungen der beiden Verträge könnten dann gemäß den allgemeinen Auslegungsregeln geklärt werden. 4. Sinn der Zweigliederung: Unterschiedliche Abänderbarkeit?

Der Sinn einer Zweiteilung der Verträge läge im Falle ihrer Gleichrangigkeit vor allem in einer unterschiedlichen Abänderbarkeit ihrer Texte. Bei der europäischen Verfassung des Basisvertrages dürfte angesichts ihres Charakters als Grundnorm des „Staatenverbundes“ der EU zu erwarten sein, daß sie weiterhin nach Art. 48 EUV nur im Konsens der Mitgliedstaaten und durch Ratifikation der nationalen Parlamente geändert werden kann. Bei einer künftigen Union von 27 Mitgliedstaaten wird dieses Verfahren aus praktischen Gründen nur noch selten greifen. Ähnlich wie bei der Charta der Vereinten Nationen ist zu erwarten, daß die europäische Verfassung „versteinert“. Umso wichtiger ist die Qualität ihres Inhalts. Schwierige Fragen wirft dagegen die Abänderbarkeit des zweiten Teiles des Verfassungsvertrages auf. Hier stehen sich zwei grundsätzliche Überlegungen gegenüber. Einerseits hat die Erfahrung des Integrationsprozesses gezeigt, daß die operativen Gemeinschaftspolitiken immer wieder flexibel angepaßt werden müssen. Ein Instrument war hierfür in der Vergangenheit das „Kompetenzabrundungsverfahren“ des bisherigen Art. 308 (ex 235) EG-Vertrag28. Wahrscheinlich wird die künftige Union ein ähnliches Verfahren benötigen, auch wenn sie über eine klarere Kompetenzordnung als bisher verfügt. Andererseits muß der Gefahr begegnet werden, daß mittels vereinfachter Vertragsänderung wesentliche Kompetenzerweiterungen der Union ohne Legitimation seitens der Mitgliedstaaten stattfinden29. IV. Schwerpunkte der Arbeit des europäischen Konventes 1. Das Mandat von Nizza und Laeken

Die Nizzaer Erklärung zur Zukunft der Union und die Erklärung von Laeken haben das Mandat des Konventes politisch näher definiert und eingegrenzt30. Neben dem Ziel der Vereinfachung der Verträge in Verbindung mit dem Ent28

Schwartz, Art. 235 EGV nach „Maastricht“, FS Mestmäcker, 1996, 467 ff. Ein „neuer Art. 308“ könnte Anpassungen durch einstimmigen oder „superqualifizierten“ Ratsbeschluß unter Zustimmung des Europäischen Parlamentes vorsehen. Bei Vertragsänderungen, die Hoheitsrechte der Mitgliedstaaten berühren, erscheint dagegen auch beim zweiten Teil der künftigen EU-Verfassung die Zustimmung der nationalen Parlamente unverzichtbar, dazu Häde/Puttler, Zur Abgrenzung des Art. 235 EGV von der Vertragsänderung, EuZW 1997, 13 ff. 30 Oben Anm. 14, 15. 29

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wurf einer lesbaren „Kernverfassung“ sollen „unter anderem“ folgende Fragen behandelt werden: – eine genauere, dem Subsidiaritätsprinzip entsprechende Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten, j – der Status der in Nizza „feierlich verkündeten“ EU-Grundrechte-Charta in 7 der europäischen Verfassung und in diesem Zusammenhang die Erwartungen der europäischen Bürger an Europa („Bürgernähe“ der EU), – die Rolle der nationalen Parlamente in der Architektur Europas. Vor allem hat die Laeken-Erklärung des Europäischen Rates den ursprünglichen Auftrag von Nizza um eine Reihe grundlegender Themen erweitert (Demokratie, Transparenz und Effizienz in der Union, ihre Rolle in der globalisierten Welt). Insgesamt ist der Konvent beauftragt, eine kohärente neue Vertragsverfassung vorzubereiten. 2. Eigene Initiativen des Konvents?

Aus der bisherigen Arbeit des Konventes läßt sich ablesen, daß er das Mandat von Nizza und Laeken als den Schwerpunkt seiner Arbeit ansieht. Das schließt nicht aus, daß er aus eigener Initiative die eine oder andere Frage aufgreift, die sich aus dem grundsätzlichen Ziel ergibt, eine in sich geschlossene Vertragsverfassung zu entwerfen. Der Konvent kann sich zwar nicht als eine souveräne verfassunggebende „Europaversammlung“ begreifen, die den europäischen Pouvoir constituant für sich beansprucht31. Dagegen spricht die Einsetzung des Konvents durch die Regierungen, der beträchtliche Anteil an Regierungsvertretern im Konvent und seine begrenzte Aufgabe, der anschließenden und endgültig beschließenden Regierungskonferenz lediglich den Entwurf einer europäischen Verfassung vorzulegen. Andererseits ist der Konvent kein willfähriges Sekretariat der Regierungskonferenz, sondern eine parlamentarisierte, in der Erfüllung ihres Auftrages unabhängige Einrichtung. Daraus ergibt sich die Legitimation, das Ausmaß dieses Auftrags aus eigenem Urteil näher zu umreißen. 3. Eine bessere Kompetenzordnung für die Europäische Union – Präzisierungen und Stärkungen der Unionsgewalt

Unter den Problemfeldern der Konventsarbeit steht anfangs die Reform der Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten im Vordergrund. Es handelt sich dabei um eine besonders schwierige Aufgabe. Auf der einen Seite hat sich im Laufe der Zeit in den Mitgliedstaaten – in Deutschland nicht zuletzt in den deutschen Bundesländern als „Regionen“ der Gemein31

Koenig/Pechstein, Die EU-Vertragsänderung, EuR 1998, 130 ff.

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IV. Die europäische Verfassung

schaft – viel Unmut über die „Regulierungswut“ Brüssels angestaut32. Diese Kritik ist zwar nicht immer berechtigt, zumal die Mitgliedstaaten selbst den Anstoß für viele Gesetzgebung der Gemeinschaft gegeben haben. Es gibt jedoch Beispiele genug, bei denen der Brüsseler Gesetzgeber die EG-Zuständigkeiten mit juristischen Techniken wie der „nützlichen Auswirkung“ (effet utile) so weit als irgend möglich ausgedehnt hat und hierbei vom Europäischen Gerichtshof bestätigt wurde33. Es entstand in solchen Fällen ein immer dichter gesponnenes europäisches Regelwerk, das den nationalen und regionalen Behörden kaum noch Luft zum Atmen läßt und die schlechte Meinung des Bürgers über die praxisferne Brüsseler „Eurokratie“ befestigt. Die „Europaverdrossenheit“ der Bürger muß für den Konvent ein ebenso wichtiges Thema sein wie auf der Ebene der Mitgliedstaaten die Politik- und Parteienverdrossenheit. Die Forderungen nationaler Vertreter im Konvent nach Möglichkeiten der Rückübertragung auf die Mitgliedstaaten solcher EG-Zuständigkeiten, die sich in der Praxis nicht bewährt haben, erscheinen verständlich. Sie liegen im wohlverstandenen Interesse eines „bürgernahen“ Europas, zu dem sich der EU-Vertrag in Art. 1 schon heute bekennt. Auf der anderen Seite ist unübersehbar, daß das längst nicht mehr nur wirtschaftliche, sondern auch politische und soziale Zusammenwachsen der Union und Gemeinschaft neue Bedürfnisse zu Stärkungen der Unionsgewalt mit sich gebracht hat. Die zahlreichen Forderungen insbesondere nach einer stärkeren Vergemeinschaftung der Außen- und Sicherheitspolitik sowie der polizeilich-justiziellen Felder der Innenpolitik sind die bekanntesten Beispiele. Die Erklärung von Laeken hat daher verständlich auf diese Themen hingewiesen. In den Debatten des Konvents ist bereits ein breiter Konsens über eine Stärkung der internationalen Rolle der Union und ebenso zugunsten einer Einbeziehung des „zweiten Pfeilers“ (Justiz und Inneres) in die eigentliche Unionsstruktur sichtbar geworden34.

32 Oppermann, „Regulierungswut“ der Europäischen Union? in: Kitagawa/Murakami/Nörr/Oppermann/Shiono (Hrsg.), Regulierung – Deregulierung – Liberalisierung, 2001, 337 ff. (in diesem Band abgedruckt auf S. 88 ff.). 33 Ein junges Beispiel ist der Versuch der Kommission, durch ein europäisches Verbot der Tabakwerbung mittels Rechtsangleichung sich gesundheitspolitische Kompetenzen zu erschleichen. EuGHE 2000, I-8419, Rs. C-376/98, hat diese Kompetenzausweitung zunächst zurückgewiesen. Gleichwohl verfolgt die Kommission solche Tendenzen weiter, vgl. Oppermann, EU-Tabakwerbeverbot am Europäischen Gerichtshof vorbei?, ZUM 2001, 950 ff., und insgesamt H. P. Schneider/T. Stein, The European Ban on Tobacco Advertising, 1999. 34 Die Möglichkeiten des Ausbaus der Unionszuständigkeit in diesen Bereichen werden in zwei Arbeitsgruppen des Konvents „Auswärtige Aktion“ und „Verteidigung“ unter Dehaene und Barnier näher untersucht. Die Kommission hat ihrerseits Vorschläge in ihrer Mitteilung „Ein Projekt für die Europäische Union“ vom 22.5.2002 Dok. KOM (2002) 247 endg. gemacht.

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Zu einer solchen Eingrenzung und Stärkung der Unionszuständigkeiten in der künftigen Verfassung bieten sich vor allem drei Wege an. a) Eine klare und zukunftsoffene Kompetenzabgrenzung Eine große und schwierige Aufgabe des Konvents besteht darin, die bisherige Kompetenzverteilung der Verträge zu überprüfen, die Zuständigkeiten der Union möglichst im Sinne einer besseren Übersichtlichkeit zu ordnen und notwendige Änderungen vorzunehmen35. Dazu gehört die Einteilung der Unionszuständigkeiten in ausschließliche, mit den Mitgliedstaaten geteilte und in ergänzende Kom- j petenzen. Bei den letzteren handelt es sich um Zuständigkeiten der Mit- 8 gliedstaaten (z. B. Bildung), bei denen die Union unterstützend tätig werden kann, insbesondere mit finanzieller Förderung36. b) Beachtung der Kompetenzausübungsprinzipien Kompetenzkonflikte zwischen der Union und ihren Mitgliedern lassen sich außerdem durch Präzisierungen der bereits heute in den Verträgen enthaltenen „Kompetenzausübungsprinzipien“ entschärfen. Hierher gehören: – Eine Verdeutlichung des heute in Art. 5 Abs. 1 EGV niedergelegten Prinzips der begrenzten Einzelzuständigkeit der Gemeinschaft im Sinne einer klaren Zuständigkeitsvermutung zugunsten der Mitgliedstaaten37. – Eine Präzisierung der heute im Subsidiaritätsprinzip (Art. 5 Abs. 2 EGV) enthaltenen unbestimmten Rechtsbegriffe, wie „besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können“, um die Justiziabilität des Subsidiaritätsprinzips zu verbessern38. – Die heutige Formulierung des Verhältnismäßigkeitsprinzips in Art. 5 Abs. 3 EGV wird dagegen allgemein als gelungen angesehen und könnte unverändert in den Verfassungsvertrag übernommen werden. – Eine wichtige Ergänzung des in Art. 10 EGV enthaltenen Grundsatzes der Unionstreue (jetzt Art. 10 EGV). Bisher werden hier lediglich die unbestritte35 Pernice, Kompetenzabgrenzung im europäischen Verfassungsverbund, JZ 2000, 866 ff.; v. Bogdandy/Bast, Die vertikale Kompetenzordnung der EU, EuGRZ 2001, 441 ff.; Götz/Soria (Hrsg.), Kompetenzverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten, 2002. 36 Vgl. F. C. Mayer, Die drei Dimensionen der europäischen Kompetenzdebatte, ZaöRVR 2001, 577 ff. 37 Krausser, Das Prinzip der begrenzten Ermächtigung im Gemeinschaftsrecht als Strukturprinzip des EWG-Vertrages, 1991. 38 Zuleeg, Justiziabilität des Subsidiaritätsprinzips, in: Nörr/Oppermann (Hrsg.), Subsidiarität: Idee und Wirklichkeit, 1997, 185 ff.

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IV. Die europäische Verfassung

nen Loyalitätspflichten der Mitgliedstaaten gegenüber der Union angesprochen. Nach dem heutigen Entwicklungsstand der europäischen Integration muß zugleich die Kehrseite der Medaille in Gestalt der Treuepflichten der Union im Verhältnis zu ihren Mitgliedstaaten in den Verfassungsvertrag Aufnahme finden. Wie im deutschen Staatsrecht („beiderseitige Bundestreue“) ist auf europäischer Ebene von einer beiderseitigen Unionstreue auszugehen39. Sie ist ihrerseits ein bei der Aktion der Gemeinschaft und Union jederzeit zu beachtendes Kompetenzausübungsprinzip. – Eine gewisse Ausformulierung der Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten, wie sie heute in Art. 6 Abs. 3 EUV niedergelegt ist. Nach weithin vorherrschender Auffassung wird die künftige „Groß-Union“ von 25 und mehr Mitgliedstaaten in voraussehbarer Zukunft nicht zu einem europäischen Bundesstaat werden, sondern ein entwicklungsoffener „Staatenverbund“ („Union of Member States“) bleiben, in dem die Mitgliedstaaten ihre unverwechselbare Eigenart bewahren40. Aufgabe der europäischen Vertragsverfassung sollte es sein, die wesentlichen Elemente dieser unantastbaren nationalen Identität zu benennen, wie beispielsweise den inneren Staats- und Verwaltungsaufbau gemäß den nationalen Verfassungsordnungen, das StaatKirchen-Verhältnis und manches andere mehr. Für die Gemeinschaftsaktion bedeutet die nationale Identität eine letzte und unverrückbare Kompetenzausübungsschranke. Wenn diese grundlegenden Prinzipien künftig eindeutig als Verfassungsprinzipien der Union verankert werden, sollte sich eine behutsame Kompetenzausübung der Union sicherstellen lassen, die manchen Zuständigkeitsstreit gar nicht aufkommen läßt. c) Eine wirksame Kontrolle der Kompetenzordnung Für verbleibende Kompetenzkonflikte im kommenden Verfassungsrecht der Union wird von verschiedenen Seiten eine neue Kompetenzregelungsinstanz gefordert41. An sich besteht diese Instanz bereits in Gestalt des Europäischen Gerichtshofes. Nach bisherigem Recht entscheidet der EuGH jedoch erst zu später Stunde nach Inkrafttreten eines Rechtsaktes und in einem langwierigen, meist mehrjährigen Verfahren. Außerdem hat sich im Laufe der Zeit vielerorts Euroskepsis gegen die vermeintlich zu gemeinschaftsfreundliche Rechtsprechung aus 39 Due, Der Grundsatz der Gemeinschaftstreue in der EG, 1992; Unruh, Die Unionstreue, EuR 2002, 41 ff. 40 Bleckmann, Die Wahrung der „nationalen Identität“ im Unionsvertrag, JZ 1997, 265 ff. 41 Goll/Kenntner, Brauchen wir ein Europäisches Kompetenzgericht? EuZW 2002, 101 ff.; kritisch dazu Everling, Quis custodiet custodes ipsos? EuZW 2002, 357 ff.

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Luxemburg entwickelt („in dubio pro communitate“). Als Aufgabe des Konventes wird daher mittlerweile die Schaffung einer Einrichtung zur wirksamen Kontrolle der Kompetenzausübung durch den Gemeinschaftsgesetzgeber angesehen, an der auch nationale Instanzen teilhaben. Hierfür ist einerseits die Schaffung eines politisch-parlamentarischen Gremiums denkbar, das „ex ante“ während des europäischen Gesetzgebungsverfahrens eine politisch-parlamentarische Kontrolle über die Einhaltung der Kompetenzausübungsprinzipien ausübt42. Die Schwäche dieses Modells liegt darin, daß ein solches Gremium lediglich Empfehlungen aussprechen könnte, wenn man das legislative Verfahren intakt halten will. Daher ist in erster Linie die Einrichtung einer neuen Kompetenzkammer des Gerichtshofes ins Gespräch gekommen, welche die Kompetenzkontrolle unter Beteiligung nationaler Verfassungsrichter nach dem Vorbild des französischen Conseil Constitutionnel durch ein frühzeitiges Urteil vor dem Inkrafttreten des Rechtsaktes wirksam ausüben könnte43. 4. Einbeziehung der EU-Grundrechte-Charta 2000 in die Vertragsverfassung der Union

Einfacher steht es wahrscheinlich um den anderen Auftrag der Nizza-Erklärung zur Zukunft der Union an den Ver- j fassungskonvent. Dank der erfolgrei- 9 chen Vorarbeit des EU-Grundrechtekonvents 1999/2000 sollte die Inkorporation der bereits von den Regierungen in Nizza feierlich verkündeten Grundrechtecharta als verbindlicher Bestandteil in die europäische Verfassung (Basisvertrag) keine grundsätzlichen juristischen Probleme bereiten44. Die Schwierigkeiten für die Arbeit des Konventes sind hier neben einigen technisch-juristischen Fragen vor allem politischer Natur. Es gilt die Widerstände vor allem von britischer Seite zu überwinden. Der über Jahrhunderte ungeschriebenen englischen Verfassungstradition widerstreitet, kurz nach der mühseligen Annahme der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950, jetzt schon wieder einen neuen Grundrechtekatalog in die nationale Rechtsordnung zu übernehmen.

42 Die Konventsarbeitsgruppe „Subsidiarität“ unter Mendez de Vigo hat für eine solche politische Kontrolle des Subsidiaritätsprinzips in Gestalt eines „Frühwarnsystems“ (vor Inkrafttreten des Rechtsaktes) Vorschläge vorgelegt, Schlußbericht der Arbeitsgruppe vom 23.9.2002, Document CONV 286/02. 43 Dieses Konzept wurde durch die Entschließung des Europäischen Parlaments zu der Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten vom 16.5.2002 („Lamassoure-Bericht“), Dok. PE 318.651 in die Arbeiten des Konventes eingeführt. 44 Über die Einbeziehung der Grundrechte-Charta als rechtsverbindlicher Bestandteil des künftigen Verfassungsvertrages wurde in der Konventsarbeitsgruppe „Charta“ unter Leitung von Vitorino breiter Konsens erzielt, Schlußbericht vom 22.10.2002, Dokument CONV 345/02.

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IV. Die europäische Verfassung 5. Die Rolle der nationalen Parlamente in der europäischen Verfassung

Verlegenheiten bereitet für den Konvent der verschwommene Nizza-Auftrag, in der „Architektur Europas“ eine Rolle für die nationalen Parlamente zu finden45. In Deutschland gehören dazu auch die Landtage. Hintergrund des hier zum Ausdruck kommenden Unbehagens ist die Sorge um die zunehmende Rückstufung der „souveränen“ Nationalparlamente durch die Ausbreitung europäischer Gesetzgebung. Eine Zuständigkeitsverteilung zwischen der Union und den Mitgliedstaaten, die den verbleibenden Spielraum nationaler Legislativgewalt verdeutlicht, bedeutet daher gleichzeitig eine Aufwertung der mitgliedstaatlichen Parlamente46. Diese können auch eine sinnvolle Aufgabe bei der Kompetenzkontrolle finden, wenn den nationalen Parlamenten ein Klagerecht zur Kompetenzkammer des Gerichtshofes eröffnet würde. Die wichtigste Form der Teilhabe nationaler Legislativen an der europäischen Rechtsetzung besteht weiterhin in der Einflußnahme auf ihren Vertreter im Rat kraft nationalen Rechts. Sie ist in Deutschland seit 1992 über die Neufassung des Art. 23 GG im wesentlichen befriedigend geregelt worden47. Andere Mitgliedstaaten haben hierbei noch Nachholbedarf. Von mehr dekorativer Natur dürfte dagegen der im Konvent gelegentlich aufflackernde Gedanke an gelegentliche oder regelmäßige Zusammenkünfte nationaler und europäischer Parlamentarier in einer neu zu schaffenden gemeinsamen Institution („Assisen“ oder „Kongreß der Völker Europas“) sein48. 6. Reform der Institutionen und weitere Aufgaben des Konventes

Inzwischen läßt sich absehen, daß die Regie des Konventspräsidiums dahin geht, die Behandlung verschiedener besonders gewichtiger, aber auch umstrittener Problemfelder erst zu einem verhältnismäßig späten Zeitpunkt aufzunehmen. Möglicherweise steht dahinter die Überlegung, daß sich hierfür unter Zeit-

45

Oben Anm. 14. Näher der Schlußbericht der Konventsarbeitsgruppe „Rolle der nationalen Parlamente“ unter Leitung von Stewart vom 22.10.2002, Dokument CONV 353/02. Ein wichtiger Vorschlag besteht in der Empfehlung der Konventsmethode für gewichtige künftige Vertragsänderungen. 47 D. König, Die Übertragung von Hoheitsrechten im Rahmen des europäischen Integrationsprozesses – Anwendungsbereich und Schranken des Art. 23 des Grundgesetzes, 2000. 48 Ein Befürworter ist der Präsident des Konventes, Giscard d’Estaing. Der Kongreß wird im Vorentwurf des Konventspräsidiums vom 28.10.2002 (Art. 19) als neue Institution vorgeschlagen. Er wird in den Konventsdebatten allerdings mehrheitlich als neben dem Europäischen Parlament überflüssig abgelehnt. 46

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druck – der Konvent muß seine Arbeiten in jedem Falle spätestens Mitte 2003 beenden – am ehesten die notwendigen Kompromisse finden lassen. In diesen Zusammenhang gehört die Reform der Institutionen der Union (vor allem bei Rat, Kommission und Parlament). Nachdem es den Konferenzen von Amsterdam 1997 und Nizza 2001 nur begrenzt gelungen ist, die Organe der Union in eine Form zu bringen, in der sie mit 25 und mehr Mitgliedstaaten handlungsfähig bleiben, liegt hier die wahrscheinlich größte Herausforderung für den Verfassungskonvent. Die Institutionenreform ist zwangsläufig mit der Stärkung der Unionsgewalt in dem bisher intergouvernementalen zweiten und dritten „Pfeiler“ der Union (Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sowie Justiz- und Innenpolitik) verbunden. Der Konvent steht hier vor der „ideologischen“ Gretchenfrage der künftigen Union insgesamt: „Wie hältst du es mit der Integration?“. Die Vorfelddebatten innerhalb und außerhalb des Konvents haben bereits den grundlegenden Dissens zwischen „Europäern“ und „Euroskeptikern“ aufgezeigt, der hierzu innerhalb des Konvents besteht und wahrscheinlich noch stärker auf der nachfolgenden Regierungskonferenz ab 2004 sichtbar werden wird. Der Europaabgeordnete Elmar Brok hat ihn auf die plastische Formel gebracht: „Monnet oder Metternich“. Rechtspolitisch gesprochen geht es um die Fortsetzung der klassischen, bis zur Schuman-Erklärung 1950 zurückreichenden Gemeinschaftsmethode („Methode Monnet“) oder um den verstärkten Übergang zu intergouvernementalen Handlungsformen, als deren Ahnen man in der Gemeinschaftsgeschichte auf Charles de Gaulle und Margaret Thatcher verweisen mag. Ähnliche Frontstellungen haben sich bereits am Rande des Konvents zwischen Blair, Chirac und Aznar mit der Befürwortung eines langjährigen Ratspräsidenten als „Chef der Union“ und der Prodi-Kommission im Verein mit einigen anderen Mitgliedstaaten aufgebaut, die auf die künftige Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Parlament und in der europäischen Außenpolitik auf eine vereinheitlichte Repräsentanz in den Händen der Kommission setzen49. j Die Stunde der Bewährung für Giscard d’Estaing und sein Konventspräsi- 10 dium wird schlagen, wenn es darum geht, die nationalen und im engeren Sinne europäischen Legitimationsstränge des Einigungswerkes im Verfassungsvertrag in einer überzeugenden und praktikablen Weise zusammenzuführen.

49 Vgl. einerseits die Rede des Präsidenten des Europäischen Rates Aznar in Oxford am 20.5.2002 (zit. nach Pressemitteilung) und andererseits die Mitteilung der Kommission vom 22.5.2002 (oben Anm. 34).

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IV. Die europäische Verfassung

V. Vollendung des europäischen Einigungswerkes oder Triumph der Euroskepsis? „Leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen“ (Friedrich v. Schiller). Theoretisches Raisonnieren über die besten europäischen Verfassungszustände im 21. Jahrhundert tut sich leichter als die praktische Umsetzung im Europäischen Konvent. Angesichts der heterogenen Zusammensetzung des Konventes und vielfältig unterschiedlicher Interessenlagen ist der Erfolg eines von breiter Zustimmung getragenen europäischen Verfassungsentwurfes nicht gesichert. Viel wird von der Führungskraft des Präsidiums abhängen, die verschiedenen Strömungen zusammenzuführen und die nötigen Kompromisse vorzubereiten. Die Laeken-Erklärung hat zu Recht betont, daß Europa zu Beginn des neuen Jahrhunderts am Scheideweg steht50. Erneuert sich ein weiteres Mal der politische Wille zur Schaffung fester, integrierter Strukturen der sich abzeichnenden großen Europäischen Union nach einem halben Jahrhundert Gemeinschaftsgeschichte? Oder obsiegen die sich vielerorts regenden Reflexe zugunsten vermeintlicher nationaler Unabhängigkeit? Es geht einerseits um die berechtigten Ansprüche eines Europas, das Frieden und Wohlstand nach innen sichern will und den ihm zustehenden Platz in der globalisierten Welt sucht. Andererseits möchten sich Mitgliedstaaten, Regionen und vor allem die Bürger aus Brüssel nur das vorschreiben lassen, was sie nicht selbst erledigen können. Der Schlüssel zum Erfolg der europäischen Verfassungsarbeit liegt in der konsequenten Beachtung und Anwendung des Subsidiaritätsprinzips. Eigentlich wäre es zutiefst widersinnig, wenn die seit 1989 endlich überwundene Teilung unseres Kontinents zum Niedergang jener Union führte, mit der die Staaten des westlichen Europas nach 1945 die Lehren aus zwei Weltkriegen gezogen haben. Die europapolitischen Hoffnungen richten sich darauf, daß dem Konvent bis Mitte 2003 ein Verfassungsdokument gelingt, dessen Überzeugungskraft sich die anschließende Regierungskonferenz 2004 nicht entziehen kann.

50 Oben Anm. 15. Vgl. auch Oppermann, Der europäische Traum zur Jahrhundertwende, 2001 (in diesem Band abgedruckt S. 13 ff.).

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Der Entwurf des Europäischen Konvents Darstellung des Konventsentwurfes für den EU-Verfassungsvertrag, 2003 unter dem frischen Eindruck der Verfassungsberatungen geschrieben. Sie sucht die wesentlichen „Weichenstellungen“ des Entwurfs aus der Entstehungsgeschichte zu erklären. Am 18.7.2003 wurde der Entwurf des Europäischen Konvents für einen „Vertrag über eine Verfassung für Europa“ der italienischen Ratspräsidentschaft zur weiteren Behandlung auf der Regierungskonferenz im Herbst 2003 übergeben. Der Beitrag behandelt den Entwurf, welcher das erste amtliche Dokument einer europäischen Vertragsverfassung ist. Er beachtet besonders die entstehungsgeschichtlichen Hintergründe des Verfassungsvertrages. Der erste Teil des Beitrages behandelt die Einsetzung und Arbeit des Konvents, die grundsätzliche Rechtsgestalt der künftigen EU von 25 und mehr Mitgliedstaaten, die Präambel, Werte und Ziele der Union, ihre Kompetenzordnung und von den Institutionen das Europäische Parlament, den Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs, den Ministerrat und die neue qualifizierte Mehrheit für die Ratsentscheidungen in der EU. j Der zweite Teil des Beitra- 1234 ges behandelt zunächst die Regelungen des Entwurfes des Europäischen Verfassungskonvents in Teil I über die Europäische Kommission, den Gerichtshof, die Europäische Zentralbank, den Rechnungshof sowie über den Ausschuß der Regionen, den Wirtschafts- und Sozialausschuß und über die Europäische Investitionsbank. Anschließend werden die Regelungen über die Rechtsakte der Union und das Gesetzgebungsverfahren einschließlich der Besonderheiten bei der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, bei der Schaffung des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts sowie die offene Koordinierung und die verstärkte Zusammenarbeit von Mitgliedstaaten behandelt. Zum „demokratischen Leben der Union“ gehört das Bekenntnis zu repräsentativer und partizipativer Demokratie und der Kirchenartikel des Verfassungsentwurfs. Teil I regelt weiterhin die Finanzordnung der Union sowie die Zugehörigkeit zur Union einschließlich des neuen Austrittsrechtes. – Teil II übernimmt die EU-Grundrechtecharta 2000 in die Verfassung. – Es wird auf den Inhalt des umfangreichen Teiles III (Politikbereiche der Union) hingewiesen, der weite Teile des EG-Vertrages übernimmt und den 2. und 3. Pfeiler des Maastrichter Unionsvertrages in die Verfassung integriert. – Der Schlußteil IV der Verfassung enthält insbesondere das Verfahren für künftige Änderungen des Verfassungsvertrages. – Eine grundsätzliche Bewertung des Konventsentwurfes und ein Blick auf das In-Kraft-Setzen der Verfassung (Regierungskonferenz, Unterzeichnung, Ratifikation) beschließen den Beitrag. 1 Siehe Anm. 1 zum vorherigen Beitrag (zur Vorgeschichte des Konvents, S. 235); dieser Beitrag (erstmals erschienen in: DVBl. 2003, 1165–1176 und 1234–1246) bildet dessen Fortsetzung mit Stand August 2003; siehe ferner als weitere Fortsetzung den nachfolgenden Beitrag.

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I. Einsetzung und Arbeit des Europäischen Konvents 1. Mandat von Nizza und Laeken – Einsetzung des Konvents

Mit Blick auf die bevorstehende Erweiterung der EU von 15 auf 25 und mehr Mitgliedstaaten war in den 90er Jahren klar geworden, daß die große gesamteuropäische Union des 21. Jahrhunderts einer neuen verfassungsmäßigen Ordnung bedürfe, um handlungsfähig zu bleiben.2 Gleichzeitig sollten die seit den 50er Jahren immer unübersichtlicher gewordenen Integrationsverträge vereinfacht und für den Bürger lesbar gemacht werden. Die Regierungskonferenzen von Amsterdam 1997 und Nizza 2001 konnten dem Projekt einer neuen europäischen Verfassung nicht gerecht werden. Die klassisch-völkerrechtliche, gouvernementale Methode der Vertragsfortbildung war an ihre Grenzen gestoßen. In der 23. Erklärung des Nizza-Vertrages zur Zukunft der Union3 formulierten die Staats- und Regierungschefs als „Herren der Verträge“ zur weiteren Reform und Vorbereitung der nächsten Regierungskonferenz folgende Aufgaben: – Schaffung einer genaueren, dem Subsidiaritätsprinzip entsprechenden Kompetenzverteilung zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten, – Regelung des Status der EU-Grundrechtecharta, – Vereinfachung der Verträge, ohne sie inhaltlich zu ändern, – Rolle der nationalen Parlamente in der Architektur Europas. j 1166

Der Europäische Rat von Laeken führte am 15.12.2001 in seiner Erklärung zur Zukunft der EU 4 diese Aufgaben näher aus (u. a. „Mehr Demokratie, Transparenz und Effizienz in der EU“, Reform der EU-Außenpolitik) und berief zu ihrer Durchführung nach dem Vorbild des erfolgreichen Grundrechte-Konvents („Herzog-Konvent“) 1999–2000 einen zweiten „Konvent zur Zukunft Europas“ ein. Zu seinem Präsidenten wurden Giscard d’Estaing und als Vizepräsidenten Amato und Dehaene bestimmt.5 Aufgabe des Konventes sollte im Rahmen des 2 Die Worte „Verfassung“, „Verfassungsvertrag“ wurden im Konvent in dem unbefangenen europäisch-internationalen Sinn als oberste Grundordnung der EU verwendet, ohne damit eine Staatlichkeit der Union zu reklamieren. Vgl. etwa v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003. – Zum strengeren staatsrechtlichen Verfassungsbegriff P. Kirchhof, Der Verfassungsstaat und seine Mitgliedschaft in der EU, Liber Amicorum Oppermann, 2001, 201 ff. 3 BGBl. 2001 II 1700. Zu Nizza Pleuger, Der Vertrag von Nizza: Gesamtbewertung und Ergebnisse, Integr. 2001, 1 ff. 4 Doc SN 283/01. R. Wägenbaur, Die Erklärung von Laeken zur Zukunft der EU, EuZW 2002, 65. 5 Die offizielle Kurzbezeichnung war „Europäischer Konvent“. Informell bürgerte sich vor allem „Verfassungskonvent“ ein. – Die Leitung des Konvents durch drei ehemalige Staats- und Regierungschefs unterstrich den Rang seiner Arbeiten.

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Mandates von Nizza und Laeken die Erstellung eines „Abschlußdokumentes“ als Ausgangspunkt für die Arbeiten der nächsten Regierungskonferenz sein. In etwas verschämter Form verbarg sich darin die Möglichkeit, den Entwurf einer neuen Verfassung für die EU vorzulegen. Der Konvent hat diese Chance genutzt. 2. Zusammensetzung, Charakterisierung und Verlauf des Europäischen Konvents

a) Zusammensetzung Zum Präsidium des Konvents gehörten neben dem Präsidenten und den Vizepräsidenten neun weitere Konventsmitglieder.6 Mitglieder des Konvents waren je drei Vertreter aus jedem Mitglieds- und Beitrittsstaat (je ein Mitglied der Regierung und zwei des nationalen Parlamentes), 16 Mitglieder des Europäischen Parlamentes und zwei Vertreter der Kommission.7 Jedes Mitglied verfügte über eine(n) Stellvertreter(in). Insgesamt umfaßte der Konvent auf diese Weise 105 Mitglieder (mit ebenso vielen Stellvertreter(inne)n). Ferner nahmen Beobachter des Ausschusses der Regionen, des Wirtschaftsund Sozialausschusses, der Sozialpartner und der Europäische Bürgerbeauftragte am Konvent teil. Die Präsidenten des Gerichtshofes und des Rechnungshofes hatten auf Einladung des Präsidiums ein Äußerungsrecht. Die Administration der Konventsarbeit oblag einem – außerordentlich effizienten – Konventssekretariat unter Leitung von Generalsekretär Kerr sowie einem ebenfalls ausgezeichneten Sprachendienst. Viele Konventsmitglieder wurden von einem eigenen Mitarbeiterstab unterstützt.8

6 Im Präsidium waren Vertreter der Mitgliedstaaten vertreten, die während des Konvents den Ratsvorsitz führten (Spanien/Dänemark/Griechenland), ferner Vertreter nationaler Parlamente, des Europäischen Parlaments (u. a. der Deutsche Hänsch) und der Kommission. Hinzugewählt wurde für die Beitrittsstaaten als Gast Peterle (Slowenien). 7 Deutschland wurde auf diese Weise im Konvent durch J. Fischer, anfänglich Glotz (BReg), J. Meyer (BT) und Teufel (BRat) vertreten. Die Vertreter aus den 13 Beitrittsstaaten (neben den 10 Staaten, die 2004 beitreten, Bulgarien, Rumänien, Türkei) arbeiteten im Konvent faktisch gleichberechtigt mit. – Die Mitglieder des EP wurden proportional zur Sitzstärke im Parlament aus EVP, Sozialdemokraten und Liberalen und einer deutschen PDS-Vertreterin bestimmt. Kommissionsvertreter waren Barnier und Vitorino. – Kritisch zur Zusammensetzung des Konvents („Zentralisierungsinteresse“) Vaubel, Die Politische Ökonomie des Europäischen Verfassungskonvents, WiD 2002, 636 ff. 8 Unterstützung des deutschen Regierungsvertreters J. Fischer erfolgte durch das Auswärtige Amt. Für den Bundesratsvertreter Teufel wurde im Staatsministerium Stuttgart ein Arbeitsstab Konvent eingerichtet.

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b) Charakterisierung des Konvents In seiner Funktion war der Konvent ein parlamentarisiertes Vorbereitungsgremium für die nachfolgende Regierungskonferenz, der die endgültige Entscheidung über den zu unterzeichnenden Text der Vertragsverfassung obliegt. Weder nach seiner Zusammensetzung noch nach seinem Mandat war der Konvent eine „souveräne“ verfassungsgebende Versammlung, wenngleich sich manche Mitglieder im Verlauf seiner Arbeiten als „Verfassungsgeber“ empfanden. In seiner politischen Zusammensetzung war der Konvent „weder Fisch noch Fleisch“, d.h. weder ein parlamentarisches Gremium noch eine Regierungskonferenz. Zum einen gab es im Konvent eine deutliche Mehrheit von 77 Parlamentariern (Nationale Parlamente und EP). Ihr stand eine Minderheit von Regierungsvertretern gegenüber, die meist zu Hause hohe Funktionen innehatten (Außenminister u. ä.). Im Präsidium spielten die Regierungsvertreter zahlenmäßig und tatsächlich eine herausgehobene Rolle. Bedeutsam war der Einfluß des Präsidenten Giscard d’Estaing auf den Verlauf der Konventsarbeit und auf den Inhalt des Verfassungsentwurfs. Hervorzuheben ist ferner die große Mehrheit von Vertretern aus kleinen und mittleren Mitgliedstaaten („Von Malta bis zu den Niederlanden“) im Konvent. In der 25er-Union stehen den sechs bevölkerungsreichsten Mitgliedstaaten (Deutschland, England, Frankreich, Italien, Polen und Spanien) 19 kleinere und mittlere gegenüber. Hieraus sich ergebende Probleme haben bei wichtigen Fragen die Konventsarbeit geprägt. Europapolitisch setzte sich der Konvent aus einer sehr großen Mehrheit von „Europäern“ gegenüber wenigen „Euroskeptikern“ wie Bonde oder HeathcotAmory zusammen, die letztlich das Konventsergebnis ablehnten. Wichtiger war die Unterscheidung innerhalb der „Europäer“ zwischen „Integrationisten“ (z. B. die meisten EP-Abgeordneten), die sich für möglichste Stärkung der EU einsetzten und den „Euro-Realisten“ (insbesondere die meisten Regierungsvertreter), die nach der dauerhaften Balance zwischen der EU und den Mitgliedstaaten suchten. Der Verfassungsentwurf stellt einen Kompromiß zwischen diesen beiden Richtungen dar. Aufgrund dieser disparaten Zusammensetzung hätten Abstimmungen im Konvent über keine Legitimationskraft verfügt. Der Konvent hat seine Arbeiten am 13.6./10.7.2003 stattdessen mit einem förmlichen Konsens der sehr großen Mehrheit seiner Mitglieder beendet. Zahlreiche positive Abschlußreden, der Verzicht auf Einsprüche und abweichende Stellungnahmen sowie die Unter1167 zeichnung des Entwurfs signalisierten die grundsätzliche Zu- j stimmung der Konventsmitglieder zum Verfassungsentwurf, ohne daß jedes Mitglied damit sein Einverständnis mit jeder Regelung im Text bekundete.9

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c) Verlauf der Konventsarbeit Der Europäische Konvent wurde am 28.2.2002 in Brüssel eröffnet und schloß seine Arbeiten nach einer Abschlußsitzung am 10.7.2003 mit der Übermittelung des Verfassungsentwurfs an die italienische Ratspräsidentschaft in Rom am 18.7.2003 ab. Der wesentliche Teil des Entwurfs war bereits am 20.6.2003 vom Europäischen Rat in Thessaloniki als guter Ausgangspunkt für die Regierungskonferenz entgegengenommen worden. Sitz des Konvents war das Brüsseler Gebäude des Europäischen Parlamentes. Der Konvent arbeitete mit mündlichen Kurzbeiträgen in 26 Plenarsitzungen. In diesen Erörterungen konnte das Präsidium wesentliche Meinungsströmungen erkennen. Wichtige Vorarbeiten leisteten eine Reihe von Arbeitsgruppen und Diskussionskreisen zu bestimmten Themen (z. B. Subsidiarität, Vereinfachung der Verträge oder Finanzfragen). Mündliche und schriftliche Stellungnahmen und Ergebnisse der Verhandlungen gingen in Konventsdokumente ein, die fortlaufend nummeriert und mit Jahreszahl versehen wurden (CONV 1/02 ff.). Wichtige Entscheidungen nahmen ihren Ausgang in Einzelgesprächen. Ebenso stimmten sich Regierungsvertreter, nationale und Europaparlamentarier als „Komponenten“ des Konvents regelmäßig ab. Bedeutsam war die begleitende Arbeit der drei „politischen Familien“ der Europäischen Volkspartei, Sozialdemokraten und Liberalen.10 Der Konvent bemühte sich, im Rahmen des Möglichen gegenüber den 450 Millionen Bürgern der 25er-EU offen zu sein. Die „Zivilgesellschaft“ wurde über repräsentative Verbände mehrtägig angehört. Für zwei Tage hörte der Konvent einen Jugendkonvent, der eine umfassende Stellungnahme übermittelte. Sämtliche Konventsdokumente standen zeitgleich über das Internet der Öffentlichkeit zur Verfügung. Auf diese Weise wurde eine ständige fachliche und wissenschaftliche Begleitung der Konventsarbeit möglich.11 In der überregionalen

9 Die „Euroskeptiker“ um Bonde legten einen Gegenbericht „Europa der Demokratien“ (= Anlage III zu CONV 851/03 v. 18.7.2003) vor. Er wird der Regierungskonferenz zusammen mit dem Verfassungsentwurf des Konvents übermittelt. 10 Ihre drei „Fraktionsvorsitzenden“ Brok, Amato und Duff waren wichtige Meinungsbildner innerhalb des Konvents. Die größte Gruppe der EVP wurde von Brok über verschiedene „Studientage“ effizient geleitet und nahm in zahlreichen Stellungnahmen auf die Konventsarbeit Einfluß. 11 Beispielsweise durch den Berliner „Club 2004“ unter Prof. Pernice, das von Prof. Weidenfeld initiierte regelmäßige „Konvent-Spotlight“ der Bertelsmann-Stiftung, die begleitenden Konventsanalysen von Prof. A. Maurer oder durch verschiedene Arbeiten des Europäischen Hochschulinstituts Florenz (z. B. de Witte (Hrsg.), Ten reflections on the Constitutional Treaty for Europe, 2003 (E-book)). – Aus dieser Begleitung entstanden komplette Vertragsentwürfe (z. B. der „Entwurf Brok“ der EVPGruppe (letzte Fassung: 27.1.2003; zu ihm Selmayr, Die Arbeit des Konvents und der Verfassungsentwurf von Frascati, Europablätter 2003, 256 ff.), der „Freiburger Ent-

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Presse der EU-Staaten wurde regelmäßig qualifiziert über die Konventsarbeit berichtet. Im zeitlichen Ablauf zerfiel die Arbeit des Konvents in eine bis in den Herbst 2002 reichende „Phase des Zuhörens“ mit Plenardebatten und Berichten von Arbeitsgruppen. Mit einem ersten Vorentwurf des Verfassungsvertrags durch das Präsidium12 begann die „Phase der Studien“ über eine Reihe wichtiger Einzelprobleme. Ungefähr ab Februar 2003 ging sie in die abschließende „Phase der Texte“ über. In ihr wurde aufgrund sukzessiver Vorlage von Texten des Präsidiums und schließlich von Gesamtentwürfen der am 13.6. und 10.7. finalisierte Verfassungstext vorbereitet. Mit dieser Methode blieb die eigentliche Definitionsmacht bis zum Ende in den Händen des Präsidiums.13 II. Grundsätzliches zum „Entwurf eines Vertrags über eine Verfassung für Europa“ vom 18.7.200314 1. Gestalt des Verfassungsvertrages

Der Verfassungsentwurf des Konvents (VE) umfaßt eine Präambel und 4 Teile mit insgesamt 465 Artikeln sowie verschiedenen Protokollen und Erklärungen: – Präambel, – Teil I („Organisationsverfassung“) mit 59 Artikeln, – Teil II (Grundrechte-Charta) mit einer Präambel und 54 Artikeln, wurf“ (Hrsg. J. Schwarze), ein „Cambridge-Text“ (Hrsg. Dashwood) oder eine „Constitution Européenne“ von Badinter. 12 CONV 369/02 vom 28.10.2002. 13 Das o. g. Vorgehen brachte den Konvent in den letzten Monaten in akute Zeitnot. Manche Beobachter sahen hierin eine gezielte Planung des Präsidiums, um den Konsensdruck zu erhöhen. 14 CONV 850/03 vom 18.7.2003. Eine Publikation des Verfassungsentwurfs als Broschüre durch das Amt für amtliche Veröffentlichungen der EG ist in Vorbereitung. – CONV 851/03 v. 18.7.2003 enthält den Bericht, den Giscard d’Estaing der italienischen Ratspräsidentschaft anläßlich der Übergabe des Verfassungsentwurfes in Rom am 18.7.2003 über die Arbeit des Konvents erstattete. – Erste Stellungnahmen zum Konventsergebnis etwa Altmaier, Eine Verfassung für das bürgerliche Europa, FAZ 18.6.2003; Blumenwitz u. a., Der Europäische Verfassungskonvent, Pol. Studien, Sonderheft 1/2003; Brok, Der Europäische Verfassungskonvent, KAS-Auslandsinformationen 1/2003, 14 ff.; Emmanoulidis/Giering, Licht und Schatten – eine Bilanz der Konventsergebnisse, Konvent-Spotlight 08/2003; Haenel/Sicard, Enraciner l’Europe, 2003; Knöll/Bauer, Der Konvent zur Zukunft der EU – eine Zwischenbilanz aus Sicht der deutschen Länder, NVwZ 2003, 446 ff.; Schwarze, Auftakt für Europas Reform, Financial Times Deutschland, 8.7.2003; Teufel, Konturen der europäischen Verfassung, Forum Constitutionis Europae, 3/2003. – Ein Verriß des Entwurfs aus euroskeptischer Sicht: Where to file Europe’s new Constitution, The Economist, 21.–27.6.2003. Der Artikel führte zu zahlreichen empörten Leserbriefen.

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– Teil III (Politikbereiche und Arbeitsweise) mit 342 Artikeln, – Teil IV (Schlußbestimmungen) mit 10 Artikeln,15 – 5 Protokolle und 3 Erklärungen. j Der verschiedentlich erhobene Vorwurf, der Entwurf des Konvents sei zu lang 1168 und unübersichtlich geraten, ist ungerechtfertigt. Die „eigentliche Verfassung“ der Teile I, II und IV umfasst lediglich 122 Artikel und ist damit kürzer als beispielsweise das deutsche Grundgesetz mit seinen über 150 Artikeln. Die Teile I und II sind für den Leser knapp und verständlich formuliert. Der umfangreiche Teil III, der in 342 Artikeln weithin den Text des bisherigen EG-Vertrages zu den Fachpolitiken übernimmt, war unvermeidlich, weil die Europäische Union kein Staatswesen mit virtuell unbegrenzter Zuständigkeit ist, sondern ein Staatenverbund besonderer Art, dem die Mitgliedstaaten begrenzte Zuständigkeiten zugewiesen haben (Art. I-9 VE). Diese EU-Kompetenzen müssen daher innerhalb der Verfassung nach Sachbereich und jeweiliger Rechtsgewalt der Union im einzelnen genau definiert werden.16 2. Rechtsnatur der künftigen Europäischen Union

Der Verfassungsentwurf bringt eine gewisse Klärung in die unendliche Diskussion über die Rechtsnatur und das „Wesen“ der Europäischen Union.17 Die künftige Union von 25 und mehr Mitgliedern besitzt eine eigene Rechtspersönlichkeit, „der die Mitgliedstaaten Zuständigkeiten zur Verwirklichung ihrer gemeinsamen Ziele übertragen. Die Union koordiniert die diesen Zielen dienende Politik der Mitgliedstaaten und übt die ihr von den Mitgliedstaaten übertragenen Zuständigkeiten in gemeinsamer Weise aus“ (Art. I-1, I-6). Die auf diese Weise neu begründete Union erweist sich als intensiver Staatenverbund besonderer Art, der weder Bundesstaat oder gar „europäischer Superstaat“ noch rein völkerrechtlich geprägter Staatenbund ist.18 Seine Verfassung gilt weiterhin auf unbe15 Der Verfassungstext ist bisher unvollständig und bedarf der Ergänzung auf der Regierungskonferenz, u. a. um verschiedene Protokolle des bisherigen EG-Vertrages. 16 Es wäre möglich gewesen, die Einzelregelungen des Teiles III in ein „Organgesetz“ unterhalb der Verfassung mit erleichterter Abänderbarkeit zu verweisen, wenn in den Kompetenzlisten des Teiles I sämtliche EU-Zuständigkeiten präzise aufgezählt worden wären. Der „Brok-Entwurf“ der EVP-Gruppe vom 27.1.2003 (maßgeblicher Verfasser: Selmayr) hatte hierfür Texte entworfen. Auf diese Weise hätte sich der Verfassungsentwurf auf 120–130 Artikel verkürzen lassen. Angesichts grundsätzlichen Widerstandes insbesondere von spanischer Seite gegen die Einfügung einer Kompetenzordnung in die Verfassung war dies im Konvent nicht möglich. Die Einzelzuständigkeiten der Union mußten daher wie im EG-Vertrag mit den Fachpolitiken verbunden bleiben und Teil III die gleiche Rechtsqualität wie die anderen Teile der Verfassung erhalten. 17 Hierzu etwa Oppermann, Europarecht, 2. A. 1999, S. 333 ff.; Loth (Hrsg.), Das europäische Projekt zu Beginn des 21. Jahrhunderts, 2001.

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IV. Die europäische Verfassung

stimmte Zeit (Art. IV-8), jedoch kann jeder Mitgliedstaat freiwillig aus der EU austreten (Art. I-59).19 Indem Reizworte wie „föderal“ oder „immer engere Union“ in der Verfassung vermieden wurden, bleibt die Frage offen, ob der Entwurf sich als endgültige Rechtsgestalt der EU versteht oder künftig eine weitergehende Finalität angestrebt wird. Die Union wird gleichermaßen vom Willen der Bürgerinnen und Bürger wie der Staaten Europas getragen (Art. I-1)20. Damit werden die beiden Legitimationsstränge der EU angesprochen. Der Bürgerunion entspricht das in Satz 2 des Art. I-1 angesprochene gemeinschaftliche („integrierte“) Vorgehen des Europäischen Parlamentes, der Kommission sowie des Gerichtshofes und der Europäischen Zentralbank, während für die Staatenunion die koordinierende („intergouvernementale“) Tätigkeit der nationalen Regierungen im Europäischen Rat und Ministerrat kennzeichnend ist. In dieser doppelten Legitimation wird ein weiteres Mal die spezifische Rechtsnatur der Union als Staatenverbund eigener Art sichtbar. 3. Integriertes und reales Europa

Die Verfassung einer nichtstaatlichen Union von vorläufig 25 Mitgliedern mußte sich ferner dem Spannungsverhältnis stellen, das sich aus dem Vorhandensein einer großen Mehrzahl von 19 kleinen und mittleren Staaten gegenüber 6 wesentlich größeren ergibt, die nach Bevölkerungszahl und Wirtschaftskraft 18 Im Sinne von BVerfGE 89, 155 ff. – „Maastricht“. – Nach Art. IV-3 tritt die künftige EU intern und international die Rechtsnachfolge der EG und der „alten“ Union an. Die EGKS ist bereits am 23.7.2002 in der EG aufgegangen. Der EAG-Vertrag gilt unter Veränderungen gemäß dem „Protokoll zur Änderung des EURATOMVertrages“ fort. EURATOM behält eine eigene Rechtspersönlichkeit. Dies entsprach dem Wunsch grün-atomkritischer Konventsmitglieder, welche die Möglichkeit eines Austritts aus der EAG unter Fortbestand der Mitgliedschaft in der Union offen halten wollten. 19 Art. I-59 bestätigt ausdrücklich ein einseitiges Austrittsrecht aus der Union, welches nach vorherrschender Auffassung (vgl. etwa Doehring, Einseitiger Austritt aus der EG, FS Schiedermair, 2001, 695 ff.) sich schon bisher völkerrechtlich ergab, solange die Union die Schwelle zur Bundesstaatlichkeit nicht überschritt. Sinn des Art. I59 ist nicht eine Erleichterung des Austritts, sondern einem austrittswilligen Staat in einem längeren, geregelten Verfahren die volle Bedeutung eines solchen Schrittes vor Augen zu führen. Grundsätzlich wird die Union weniger durch juristische Gebote als durch ein in Jahrzehnten gewachsenes Interessengeflecht zusammengehalten, aus dem jeder Mitgliedstaat gewichtige Vorteile zieht. 20 Der Entwurf nimmt damit bewußt Abschied vom Bild der bisherigen Gemeinschaft als eines Zusammenschlusses der Völker und Staaten Europas (Art. 190 EGV). Dieser Paradigmenwechsel ging auf Befürchtungen insbesondere Spaniens zurück, daß die Verwendung des Volksbegriffes Separationstendenzen von „Regionalvölkern“ wie der Basken fördern könne. – Als Union der Bürger und Staaten wird der demokratische Charakter der EU in ausdeutungsfähiger Weise betont. – Die Unionsbürgerschaft versteht sich wie im EGV als europäische Ergänzung zur Staatsangehörigkeit der Mitgliedstaaten (Art. I-8).

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die Union faktisch dominieren.21 Hier galt es, den Ausgleich zwischen dem völkerrechtlichen Prinzip der Staatengleichheit und den bundesstaatsähnlichen Verhältnissen einer Integrationsgemeinschaft zu finden, in denen dem demographischen und ökonomischen Gewicht ihrer Mitglieder Rechnung zu tragen ist. Wenn die künftige EU von allen Mitgliedern dauerhaft akzep- j tiert werden 1169 soll, darf sich das integrierte Europa in seiner Rechtsgestalt nicht zu sehr vom realen Europa entfernen. Seit der Gründung der Sechsergemeinschaft durch die Römischen Verträge 1958 bis zur EG der Fünfzehn 1995 hatte sich die Position der größeren Mitgliedstaaten in den Gemeinschaftsinstitutionen (Parlament, Rat, Kommission, Gerichtshof) durch die Zunahme der Mitgliederzahl mehrfach reduziert.22 Der Konventsentwurf versucht vor allem durch eine Aufwertung des Europäischen Rates der Staats- und Regierungschefs sowie durch eine arbeitsfähige Größe und Zusammensetzung der Kommission und eine neue Berechnung der qualifizierten Mehrheit im Ministerrat die Schere zwischen dem integrierten und dem realen Europa wieder etwas zu schließen.23 In einem bundesstaatsähnlichen Gebilde wie der EU ist aus völkerrechtlichen Gründen eine gewisse Besserstellung der kleineren Mitglieder gerechtfertigt. Die Kunst der guten Verfassungsgebung besteht darin, diese Privilegierung zu Lasten der Größeren in einem erträglichen Ausmaß zu halten. III. Teil I des Verfassungsentwurfs („Organisationsstatut“) Teil I des Verfassungsentwurfes regelt ähnlich wie nationale Verfassungen die klassischen Fragen des organisatorischen Aufbaues der Union. Zusammen mit der Grundrechte-Charta des Teiles II und den Schlußbestimmungen in Teil IV stellt Teil I die „eigentliche EU-Verfassung“ dar. 21 Diese Gegenüberstellung ist notwendig pauschal. Die Niederlande als größter „Mittelstaat“ der EU übertreffen Polen erheblich an Wirtschaftskraft. Andererseits verfügen deutsche Bundesländer wie Baden-Württemberg, Bayern oder Nordrhein-Westfalen über eine größere Bevölkerung und Wirtschaftsleistung als eine Reihe der kleineren EU-Staaten und 9 der 10 Beitrittsstaaten (Ausnahme: Polen). 22 Während in der Sechsergemeinschaft das Verhältnis größerer zu kleineren und mittleren Mitgliedstaaten 3:3 betrug, war es bei den 15 Mitgliedern seit 1995 bereits 5:10 zu Lasten der ersteren. In der 25er-EU ab 2004 wird es bei 6:19 liegen. Dieser qualitative Sprung trug entscheidend zu den unbefriedigenden Entscheidungen von Nizza 2001 zur künftigen Zusammensetzung der Kommission und der Stimmengewichtung im Rat bei. 23 Vgl. näher unten bei II. 4. a) bb) und dd). – Besonders Präsident Giscard d’Estaing hat sich im wesentlichen erfolgreich für die neue Balance zwischen den Mitgliedstaaten eingesetzt, was ihm zeitweilig heftige Kritik im Konvent eintrug. Wenn der Kompromiß zwischen „Groß und Klein“ auf der Regierungskonferenz Bestand hat, muß sich bei der Verfassungsanwendung erweisen, ob eine dauerhafte Lösung für diese Grundproblematik der EU gefunden worden ist.

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IV. Die europäische Verfassung 1. Präambel und Werte der Europäischen Union

Mit seiner Präambel24 und Art. I-2 betont der Verfassungsentwurf, daß es sich bei der Union nicht mehr allein um eine Wirtschaftsgemeinschaft, sondern um eine Wertegemeinschaft handelt, die auf gemeinsamen sozialethischen und politischen Grundlagen beruht. Die „kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen Europas, deren Werte in seinem Erbe weiter lebendig sind“, werden angerufen.25 Demokratie26, Achtung der Menschenwürde und Wahrung der Menschenrechte, Freiheit, Gleichheit, Solidarität, Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit, Pluralismus, Toleranz und Nichtdiskriminierung werden in einer nicht ganz glücklichen Reihenfolge als die Werte der Europäischen Union benannt, die das „große Abenteuer“ fortsetzt, die alten Trennungen Europas zu überwinden und „immer enger vereint“ das Schicksal ihrer Staaten gemeinsam zu gestalten. 2. Ziele der Union

Die in dem Katalog des Art. I-3 des Entwurfs aufgezählten Ziele der Union sind ihrerseits sozialethisch fundiert. Sie beziehen sich jedoch auf den politischen Raum, für den sie grundlegende Forderungen aufstellen, welche die Union praktisch verwirklichen soll. Eine wichtige Neuerung und Klarstellung der Verfassung im Vergleich zum EG-Vertrag besteht darin, daß die Ziele politische Willensbekundungen darstellen, die von den Zuständigkeiten (Kompetenzen) der Union unterschieden werden. Während der „Tätigkeitskatalog“ des Art. 3 i. V. m. Art. 308 EGV zwischen Zielen und Zuständigkeiten nicht unterschied und damit breite Einfallstore für dynamische Kompetenzerweiterungen der Gemeinschaft ermöglichte, unterscheidet der Verfassungsentwurf zwischen dem Zielkatalog des Art. I-3 und der Kompetenzordnung der Art. I-9 bis I-17 in Verbindung mit Teil III. Ziele werden entsprechend dem Umfang der Zuständigkeiten verfolgt, die der 24 Die Formulierung des Entwurfes der Präambel hatte sich Giscard d’Estaing persönlich vorbehalten. – Vgl. auch v. Bogdandy, The Preamble, in: de Witte (Hrsg.) (oben Anm. 11), 3 ff. 25 Trotz andauernder Versuche gelang es den kirchlich-christlich orientierten Konventsmitgliedern und der sie unterstützenden Öffentlichkeit gegen den Widerstand der „Laizisten“ im Konvent nicht, einen Gottesbezug oder auch nur eine ausdrückliche Erwähnung des Christentums als eine maßgebliche Wurzel Europas in der Präambel zu verankern. Entgegen dem anfänglichen Entwurf wurde jedoch die Gegenwartsbedeutung der religiösen Überlieferungen klargestellt. – Wie kaum ein anderes Thema sensibilisierte der „Streit um den Gottesbezug“ eine weitere Öffentlichkeit in allen Mitgliedstaaten für die Konventsarbeit. Zur Position der Kirchen Zewell, Eine Beleidigung der Vernunft, Rheinischer Merkur 13.6.2003. 26 Die Präambel beginnt mit einem altgriechischen Thukydides-Zitat, welches die Verfassung als demokratisch charakterisiert.

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Union in der Verfassung übertragen werden (Art. I-3 (6)). Ebenso betont der Eingangsartikel III-1 des Teiles III der Verfassung, daß bei den Politiken der Union die Ziele nur „unter Einhaltung des Grundsatzes der begrenzten Einzelermächtigung“ berücksichtigt werden dürfen. Zwar enthält der Entwurf in Art. I17 eine dem bisherigen Art. 308 EGV entsprechende „Flexibilitätsklausel“. Sie ist jedoch präziser gefaßt und von zusätzlichen Voraussetzungen abhängig gemacht worden.27 Der Zielekatalog des Art. I-3 enthält eine lange, in sich öfters spannungsreiche Liste von politischen Wünschbarkeiten, welche die Union im Rahmen ihrer Kompetenzordnung verfolgen sollte. Innenpolitisch wird die Erhaltung des Friedens als Erstes genannt. Dies entspricht der verbreiteten Sicht, welche die Union vor allem anderen als die große Friedensordnung Europas begreift, welche die Lehre aus den beiden Weltkriegen gezogen hat. Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, der Binnenmarkt „mit freiem und unverfälschtem Wettbewerb“ sowie der wirtschaftliche, soziale und territoriale Zusammenhalt als Solidarität zwischen den Mitgliedstaa- j ten cha- 1170 rakterisieren nach innen die Gestalt der Union. Wirtschaftlich-sozial werden in einem wenig greifbaren Formelkompromiß zwischen den wirtschaftsliberalen, sozialen und ökologischen Kräften im Konvent „eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt, sowie ein hohes Maß an Umweltschutz“ und die Förderung des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts als Unionsziele postuliert. Dabei erfährt die soziale Seite mit der Förderung sozialer Gerechtigkeit, der Gleichstellung von Frauen und Männern, der Solidarität zwischen den Generationen und dem Schutz der Kindesrechte sowie dem Kampf gegen Ausgrenzung und Diskriminierung besonders wortreiche Ausprägung.28 Kulturell wahrt die Union im Sinne ihrer Devise „Einheit in Vielfalt“ den Reichtum der kulturellen und sprachlichen Vielfalt Europas und schützt das kulturelle Erbe. Außenpolitisch wird ebenfalls ein umfangreicher Zielekatalog ausformuliert, mit dem die Union den globalen Schutz ihrer Werte und Interessen betont. Frieden, Sicherheit, nachhaltige Entwicklung, internationale Solidarität mit „freiem und gerechtem Handel“, Armutsbeseitigung und Schutz der Menschenrechte sind die wichtigsten Stichworte. In der Betonung „strikter Einhaltung“ des Völkerrechts und der Grundsätze der Vereinten Nationen schwingen Reaktionen des 27

Vgl. unten III. 3. g). Für die geringe Beachtung wichtiger traditioneller Lebensformen im Konvent war bezeichnend, daß im Gegensatz zur zweimaligen Erwähnung der Kindesrechte der Schutz von Ehe und Familie keine Aufnahme in den Sozialkatalog fand. Ministerpräsident Teufel blieb hier einsamer Rufer in der Wüste. – Die familiären Ziele finden eine schwache Erwähnung in der Grundrechte-Charta (Art. II-9). 28

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IV. Die europäische Verfassung

Konvents auf die Irakkrise des Frühjahres 2003 mit. Auffällig ist der Verzicht auf jede Erwähnung gemeinsamer Verteidigung der Union nach außen. Die Gesamtheit ihrer Zielvorstellungen charakterisiert die Union nach innen als Repräsentantin des europäischen Wirtschafts- und Sozialmodells. Hierzu hat das Leitbild der deutschen sozialen Marktwirtschaft beigetragen. Außenpolitisch stellt sich die EU als international aufgeschlossene, friedliebende Zivilmacht dar. Die Union dürfte bei der Entwicklung ihrer konkreten Politiken im Rahmen ihrer Kompetenzordnung wenig Schwierigkeiten haben, mit dem reichen Arsenal der Zielvorstellungen in Einklang zu bleiben.29 3. Kompetenzordnung der Union

Die in Art. I-9 bis Art. I-17 in Verbindung mit den Einzelzuständigkeiten des Teiles III enthaltene Kompetenzordnung der Union ist in ihrer Gesamtheit eine originäre Neuerung des Verfassungsentwurfs im Vergleich zum EG-Vertrag. Dies entsprach dem Auftrag von Nizza und Laeken. Wie dort waren auch im Konvent Deutschland und insbesondere die deutschen Bundesländer die treibende Kraft.30 Sie hatten sich mit erheblichen Widerständen aus Mitgliedstaaten mit zentralistischen Traditionen auseinanderzusetzen. Die Kompetenzordnung des Verfassungsentwurfs hätte dementsprechend noch konsequenter ausgestaltet werden können. Sie stellt jedoch einen entscheidenden Fortschritt im Vergleich zum EG-Vertrag und einen Einstieg in eine bundesstaatsähnliche Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten dar. a) Verdeutlichung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten In Art. I-5 wird über die bisher knappe Erwähnung in Art. 6 (3) EU-Vertrag hinaus die nationale Identität der Mitgliedstaaten näher verdeutlicht. Es handelt sich dabei um die „Unantastbarkeiten“ der mitgliedstaatlichen Ordnung oder um das „Hausgut“ der Mitgliedstaaten.31

29

Näher zum Verhältnis Werte-Ziele-Zuständigkeiten Teufel (Anm. 14). Für Teufel als Vertreter des Bundesrates im Konvent bedeuteten die Kompetenzfragen ein Hauptanliegen. Der Bundesrat hatte sich in zwei Entschließungen vom 20.12.2001 und 12.7.2002 eingehend mit der Kompetenzordnung befaßt. Vgl. auch Pernice, Kompetenzabgrenzung im europäischen Verfassungsverbund, JZ 2000, 866 ff.; Götz/Soría (Hrsg.), Kompetenzverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten, 2002; Magiera, Kompetenzneuordnung zwischen EU und Mitgliedstaaten, Integr. 2002, 269 ff.; Weatherill, Competence, in: de Witte (Hrsg.) (Anm. 11), 45 ff.; ter Steeg, Eine neue Kompetenzordnung für die EU, EuZW 2003, 325 ff. 31 Im Konvent wurde gelegentlich von einem „negativen Kompetenzkatalog“ gesprochen, was allerdings begrifflich auf wenig Gegenliebe stieß. – Bleckmann, Die Wahrung der „nationalen Identität“ im Unionsvertrag, JZ 1997, 265 ff. 30

Eine Verfassung für die Europäische Union

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Art. I-5 benennt hierfür als ein Prolegomenon der Kompetenzordnung die grundlegende politische und verfassungsrechtliche Struktur der Mitgliedstaaten einschließlich der regionalen und kommunalen Selbstverwaltung.32 Territoriale Unversehrtheit, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und der Schutz der inneren Sicherheit werden beispielhaft als grundlegende staatliche Funktionen benannt. Damit läßt Art. I-5 erkennen, daß die klassische Staatsaufgabe des elementaren Schutzes der Bürger weiterhin den Mitgliedstaaten obliegt. Art. I-5 ist grundsätzlich äußerste Grenze für die Tätigkeit der Union. b) Beiderseitige Unionstreue Art. I-5 (2) wandelt begrüßenswert die bisher einseitige Loyalitätspflicht der Mitgliedstaaten gegenüber der Gemeinschaft nach Art. 10 EGV in einen Grundsatz gegenseitiger loyaler Zusammenarbeit zwischen Union und Mitgliedstaaten um.33 Dies entspricht dem Verständnis der Bundestreue in Deutschland. c) Präzisierung der Grundsätze der Kompetenzabgrenzung und -ausübung In Art I-9 des Verfassungsentwurfs in Verbindung mit den Protokollen über die Rolle der nationalen Parlamente (PrnatParl) j und über die Anwendung der 1171 Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit (SubsPr) werden die zentralen Kompetenzabgrenzungs- und -ausübungsprinzipien der begrenzten Einzelermächtigung der Union sowie der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit über die bisherigen Art. 5 EUV, Art. 5 EGV und die beiden Protokolle von 1997 hinaus wesentlich präzisiert und mit Kontrollverfahren angereichert. aa) Begrenzte Einzelermächtigung der Union Der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung der Union bleibt für die Rechtsnatur der Union als über- und gleichzeitig nichtstaatlicher Staatenverbund konstitutiv. Art. I-9 (2) stellt klar, daß die Union ihre Ziele in den Grenzen der ihr von den Mitgliedstaaten „zugewiesenen“ Zuständigkeiten verwirklicht. Alle anderen Zuständigkeiten verbleiben bei den Mitgliedstaaten. Die Position der Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“ wird an dieser Stelle besonders deutlich. 32 Über die Funktion des Art. I-5 hinaus wird mit der Erwähnung der kommunalen Selbstverwaltung erstmals ein Organisationsprinzip in die europäische Verfassungsebene aufgenommen, das von jeher von hoher Bedeutung für die innere Entwicklung Europas gewesen ist. – Würtenberger, Auf dem Weg zu lokaler und regionaler Autonomie in Europa, FS Maurer, 2001, 1053 ff. 33 Unruh, Die Unionstreue, EuR 2002, 41 ff.

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IV. Die europäische Verfassung

bb) Verhältnismäßigkeit Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Proportionalität) wird als Prinzip der Ausübung einer gegebenen EU-Kompetenz in Art. I-9 (4) und in den PrnatParl und SubsPr im Vergleich zu Art. 5 Abs. 3 EGV nur geringfügig präzisiert. Der bewährten Rechtsprechung des Gerichtshofes zur Verhältnismäßigkeit dürften sich kaum neue Aufgaben stellen. cc) Subsidiarität Für die Verbesserung der Kompetenzabgrenzung und -ausübung war die Präzisierung des Subsidiaritätsprinzips und vor allem seiner Kontrolle bei der Unionsgesetzgebung und durch den Gerichtshof in Art. I-9 (3) in Verbindung mit den PrnatParl und SubsPr zentral.34 Dies entsprach dem Auftrag von Nizza und Laeken nach einer „genaueren, dem Subsidiaritätsprinzip entsprechenden“ Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen der EU und den Mitgliedstaaten. Während das Subsidiaritätsprinzip seit Maastricht 1992 trotz aller Bemühungen legislatorisch und justiziell ziemlich „zahnlos“ geblieben war, könnte es nach dem Verfassungsentwurf Brüsseler „Regulierungswut“ wirksamer entgegengesetzt werden. Der Verfassungsentwurf bringt allerdings keine wesentlichen Neuverteilungen von Zuständigkeiten zugunsten der Union beziehungsweise Rückübertragungen an die Mitgliedstaaten. Dies hätte dem anderen Auftrag von Nizza widersprochen, die Verträge zu vereinfachen, „ohne sie zu ändern“. Der Wortlaut des Subsidiaritätsprinzips weicht in Art. I-9 (2) nur wenig von demjenigen in Art. 5 (2) EGV ab. Dem Geist des Prinzips entspricht die Klarstellung, daß auch Regelungen auf regionaler und lokaler Ebene Unionsmaßnahmen entbehrlich machen können. Von Bedeutung ist künftig, daß in Art. I-12 die ausschließlichen Zuständigkeiten der Union in einer kurzen abschließenden Liste festgehalten werden.35 Damit wird klargestellt, daß in allen anderen Bereichen das Subsidiaritätsprinzip zu beachten ist. Kernstück der neuen Subsidiaritätsordnung sind die beiden Protokolle über die Rolle der nationalen Parlamente und die Anwendung der Subsidiarität. Sie führen die Protokolle von 1997 durch die Einführung eines „Frühwarnsystems“ im Gesetzgebungsverfahren und durch neue Klagerechte wegen Subsidiaritätsverstoß beim Gerichtshof bemerkenswert weiter.36 Die nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten (einschließlich zweiter Kammern) werden von der Kommis34 Bocklet, Die Zukunft des Subsidiaritätsprinzips – Leitlinie für Kompetenzausübung und gerichtliche Kontrolle, in: Blumenwitz u. a. (Anm. 14), 6 ff. 35 Vgl. unten III. 3. e) bb). 36 Die neuen Protokolle wurden in einer Arbeitsgruppe „Subsidiarität“ unter Leitung von Méndez de Vigo und Mitarbeit von Teufel maßgeblich konzipiert.

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sion mit einer gesonderten eingehenden Begründung („Subsidiaritätsbogen“) gleichzeitig mit dem Unionsgesetzgeber über ihre Gesetzgebungsvorschläge unterrichtet, zu denen sie unter Subsidiaritätsgesichtspunkten binnen 6 Wochen Stellung nehmen können. Der Unionsgesetzgeber berücksichtigt diese Stellungnahmen. Rügt ein Drittel (in bestimmten Fällen ein Viertel) der Parlamente den Kommissionsvorschlag, muß die Kommission ihn noch einmal überprüfen. In jedem Falle dürften gewichtige Stellungnahmen der nationalen Parlamente mit Blick auf die abschließende Beschlußfassung im Ministerrat ihre Bedeutung entfalten. Das „Frühwarnsystem“ ermöglicht geschickt einen verstärkten nationalen Einfluß auf die Unionsgesetzgebung, ohne diese zeitlich zu blockieren. Die zweite Stufe der Subsidiaritätskontrolle ist justiziell nach Inkrafttreten des Gesetzgebungsaktes möglich.37 Als neuer Fall der Nichtigkeitsklage (Art. III-270) wird der Gerichtshof nach Ziff. 7 des Subsidiaritätsprotokolls für Subsidiaritätsklagen eines Mitgliedstaates zuständig.38 Die nationale Rechtsordnung kann vorsehen, daß der Mitgliedstaat Klagen eines nationalen Parlaments oder einer Kammer dieses Parlaments an den Gerichtshof übermittelt.39 – Eine vergleichbare Klage kann vom Ausschuß der Regionen erhoben werden. j d) Vorrang des Unionsrechts Nach Art. I-10 (1) haben die Verfassung und das zuständigkeitsgemäß von den Unionsorganen gesetzte Recht Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten. Dieser neue Artikel muß als Bestätigung der langjährigen Rechtsprechung des Gerichtshofs über den Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts verstanden werden.

37 Vorschläge zugunsten einer raschen ex-ante-Kontrolle der Subsidiarität zwischen Erlaß und Inkrafttreten des Rechtsaktes durch den Gerichtshof oder ein besonderes Kompetenzgericht („Lamassoure-Bericht“ des EP vom 16.5.2002, Dok. PE 318.651) fanden im Konvent keine hinreichende Unterstützung. Vgl. auch Colneric, Der Gerichtshof der EGen als Kompetenzgericht, 2002. 38 Da die Rüge der Subsidiarität notwendig die Vorfrage nach der Unionszuständigkeit aufwirft, spricht viel dafür, daß in diesem Verfahren die Kompetenzfrage als solche der Miterörterung bedarf. 39 Mit diesem schwierigen Kompromiß wurde der wichtigen deutschen Forderung nach einem Klagerecht zweiter Kammern (Bundesrat) und evtl. auch von „Regionen mit Gesetzgebungsbefugnissen“ (einzelne Bundesländer) gegen starken Widerstand von Mitgliedstaaten mit zentralistischer Tradition im wesentlichen Rechnung getragen. Es liegt nunmehr in der Hand innerdeutscher Regelungen, die „Übermittelungsfunktion“ der Bundesregierung festzulegen. Durch Grundgesetzänderung oder Ergänzung des Zusammenarbeitsgesetzes Bund/Länder in EU-Angelegenheiten könnte der Bundesrat seinerseits verpflichtet werden, Subsidiaritätsklagen einzelner Bundesländer als eigene zu übernehmen. Näher F. Kirchhof, Zulässigkeit einer indirekten Klagebefugnis eines deutschen Bundeslandes beim EuGH in Subsidiaritätsfragen über einen Antrag des Bundesrats (Unveröff. Rechtsgutachten v. 10.6.2003).

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IV. Die europäische Verfassung

e) Kompetenzarten und Kompetenzlisten Erstmalig unternimmt der Verfassungsentwurf (Art. I-11 bis I-16) in grundsätzlicher Anlehnung an nationale föderale Verfassungen eine Aufteilung der Unionskompetenzen in ausschließliche und geteilte Zuständigkeiten sowie in ergänzende Unionsmaßnahmen („Unterstützungs-, Koordinierungs- und Ergänzungsmaßnahmen“).40 Infolge anfänglich verbreiteten Widerstandes gegen das Prinzip einer Kompetenzordnung ließ sich die Aufzählung der Einzelkompetenzen in Listen in Teil I der Verfassung nur zum Teil verwirklichen. Die Einzelheiten des Umfanges und der Ausübung (Art der zulässigen Rechtsakte) müssen daher vor allem bei den geteilten Zuständigkeiten wie bisher im EG-Vertrag den Spezialregelungen zu den einzelnen Fachpolitiken in Teil III der Verfassung entnommen werden (Art. I-11 (6)). Ungeachtet dessen bedeutet die erreichte Kompetenzordnung u. a. einen erheblichen Gewinn an Klarheit über die Zuständigkeitsverteilung zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten („Wer entscheidet was?“). aa) Binnenmarktfreiheiten und Nichtdiskriminierung Ähnlich wie bisher Art. 14 und Art. 12 EGV definiert Art. I-4 die Grundfreiheiten des Binnenmarktes und das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit als fundamentale Charakteristika der Union. Sie müssen bei der Ausübung der Unionszuständigkeiten regelmäßig Beachtung finden. bb) Ausschließliche Unionszuständigkeiten Im ausschließlichen Bereich ist die Union nach Art. I-11 (1) allein berechtigt, bindendes Unionsrecht zu erlassen. Die Mitgliedstaaten dürfen hier nur aufgrund Unionsermächtigung tätig werden oder um Rechtsakte der Union durchzuführen. Die in Art. I-12 (1) abschließend aufgezählte Liste der ausschließlichen Unionszuständigkeiten (Wettbewerbsregeln des Binnenmarktes – Währungspolitik des EURO – Gemeinsame Handelspolitik – Zollunion – Erhaltung der biologischen Meeresschätze) ist kurz. Nur insoweit ist die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips ausgeschlossen. Für die anwendbaren Rechtsakte und die Art des Gesetzgebungsverfahrens gelten die Spezialregelungen des Teiles III der Verfassung.

40 Im Vordergrund stand hierbei die Kompetenzordnung des deutschen Grundgesetzes, die insbesondere von Teufel in die Konventsdiskussion eingeführt wurde. Giscard d’Estaing bezeichnete ihn in seiner Abschlußrede am 13.6.2003 als den Inspirator der Kompetenzordnung.

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Nach Art. I-12 (2) hat die Union ferner im Sinne der langjährigen Rechtsprechung des Gerichtshofes die ausschließliche Zuständigkeit für den Abschluß derjenigen internationalen Abkommen, die in Rechtsakten der Union vorgesehen oder zur Ausübung ihrer internen Zuständigkeiten notwendig sind. cc) Zwischen Union und Mitgliedstaaten geteilte Zuständigkeiten Nach Art. I-11 (2) haben Union und Mitgliedstaaten im geteilten Bereich gleichermaßen Rechtsetzungsbefugnis. Die ursprüngliche Zuständigkeit liegt bei den Mitgliedstaaten. Sie wird vom Unionsrecht im Maße seines Erlasses und seiner Geltungsdauer verdrängt. Anders als bei den ausschließlichen Zuständigkeiten und den ergänzenden Unionsmaßnahmen handelt es sich bei dem geteilten Bereich um keine abschließende Aufzählung. Vielmehr gehören hierher nach Art. I-13 (1) sämtliche Zuständigkeiten, die nicht ausschließlich sind beziehungsweise bei denen die Union im nationalen Bereich auf Ergänzungsmaßnahmen beschränkt ist. Art. I-13 (2) zählt entsprechend in einer längeren Liste von „Hauptbereichen“ lediglich exemplarisch geteilte Kompetenzen auf. Hier finden sich neben einigen Besonderheiten die meisten der vom EG-Vertrag bekannten Fachpolitiken (u. a. Binnenmarkt – Landwirtschaft – Verkehr – Umwelt). Neu ist insbesondere die Einbeziehung des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts im Sinne der Auflösung der bisherigen „EU-Pfeilerstruktur“ sowie eine allgemeine Energiezuständigkeit. Umfang und Art der Ausübung der geteilten Zuständigkeiten erschließen sich erst aus den Spezialregelungen des Teiles III der Verfassung. dd) Ergänzende Unionsmaßnahmen Dieser etwas umständlich mit „Unterstützungs-, Koordinierungs- und Ergänzungsmaßnahmen“ abschließend umschriebene Bereich (Industrie – Gesundheit – Bildung/Jugend/Sport – Kultur – Zivilschutz) unterliegt grundsätzlich nationaler Zuständigkeit (Art. I-11 (5)). Die Union ist hier lediglich befugt, zusätzliche Maßnahmen „mit europäischer Ausrichtung“ zu treffen, die bindend sein können, aber keine Rechtsharmonisierung enthalten dürfen (Art. I-16). Bei den Ergänzungsmaßnahmen handelt es sich zumeist um die Fortführung einer bereits vom EG-Vertrag legitimierten Praxis.41

41 Ein bekanntes Beispiel sind die ERASMUS-Programme zur Förderung der europaweiten Mobilität von Studierenden.

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IV. Die europäische Verfassung

Eine unglückliche „Zwittereinordnung“ zwischen geteilter Zuständigkeit und ergänzenden Maßnahmen haben die Bereiche Forschung, technologische Entwicklung, Raumfahrt sowie Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe 1173 in Art. I-13 (3) und (4) erfahren. j Der genaue Umfang und die Grenzen des Ergänzungsbereiches werden wiederum in Teil III der Verfassung im Näheren definiert. f) Besonders geregelte Kompetenzen Zwei besonders wichtige und sensible „Nahtstellen“ zwischen nationaler und europäischer Zuständigkeit, nämlich die Koordinierung der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik sowie die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik werden außerhalb der drei Kompetenzarten in Art. I-14 und Art. I-15 jeweils in Verbindung mit Teil III der Verfassung spezifisch geregelt. aa) Koordinierung der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik In einer strittigen Diskussion innerhalb des Konvents zwischen Anhängern einer stärkeren wirtschaftspolitischen Koordinierung auf EU-Ebene und Verteidigern des Status quo des EG-Vertrages ist in Art. I-14 eine ziemlich mißglückte, unklare Regelung getroffen worden. Es ist sowohl von Maßnahmen der Union zur Koordinierung der Wirtschaftspolitik die Rede als auch von einer Koordinierung durch die Mitgliedstaaten. Zur Beschäftigungspolitik kann die Union Koordinierungsmaßnahmen treffen, zur Sozialpolitik Initiativen zur Koordinierung. Aus den maßgeblichen Ausführungsbestimmungen des Teiles III (Art. III69 ff. = Wirtschafts- und Währungspolitik, Art. III-97 ff. = Beschäftigung, Art. III-103 ff. = Sozialpolitik) läßt sich jedoch entnehmen, daß die Rechtslage im Vergleich zum EG-Vertrag kaum verändert worden ist.42 Für das EURO-Währungsgebiet werden im Interesse der Währungsstabilität stärkere Möglichkeiten zur Koordinierung der Haushaltsdisziplin und der Wirtschaftspolitik eröffnet (Art. III-88 ff. und Protokoll betreffend die EUROGruppe). bb) Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Trotz vielfältiger Bemühungen im Konvent ist die Integration des „GASPPfeilers“ in die Verfassung infolge tiefgehender Meinungsverschiedenheiten vor 42 Dies hat ein Kenner der Verhältnisse im Gegensatz zu manchen Befürchtungen in Deutschland festgestellt, Schlecht, Keine Kompetenzverschiebung, FAZ 28.6.2003, 10.

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allem zwischen den englischen und anderen Konventsmitgliedern nur sehr begrenzt gelungen. Die spezifischen Regelungen zur Außen- und Sicherheitspolitik in Teil I und III des Entwurfes sind überaus wortreich und kompliziert geraten. Vor ihre praktische Anwendbarkeit muß ein Fragezeichen gesetzt werden. Die große Zahl von Artikeln kann das in der Irakkrise 2003 offenkundig gewordene Dilemma der GASP nicht verdecken, daß abgesehen von der Handelspolitik die außen- und sicherheitspolitischen Vorstellungen der Mitgliedstaaten häufig auseinandergehen und wenig Bereitschaft besteht, sich Mehrheitsbeschlüssen unterzuordnen. Art. I-15 begründet in „Auflösung“ des bisherigen „zweiten Pfeilers“ die grundsätzliche Zuständigkeit der EU für alle Bereiche einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik einschließlich der Entwicklung einer gemeinsamen Verteidigung. Damit werden die Gemeinsame Handelspolitik und die humanitärentwicklungspolitische Zusammenarbeit mit Drittländern im Sinne des EG-Vertrages in die GASP einbezogen (Art. III-216 bis 223). Für die „klassische“ Außen- und Sicherheitspolitik gelten besondere institutionelle Regelungen und Rechtsakte (Art. I-27, Art. I-39 bis 40) sowie die umfangreichen Zielsetzungen des „Auswärtigen Handelns der Union“ (Art. III-193 ff.) g) Flexibilitätsklausel Angesichts der besseren Abgrenzung zwischen den Zielen und Zuständigkeiten der Union war im Konvent umstritten, ob weiterhin eine Ergänzungsklausel im Stile des bisherigen Art. 308 EGV zur „dynamischen“ Fortentwicklung der Unionskompetenzen erforderlich sei.43 Schließlich wurde eine solche „Flexibilitätsklausel“ in Art. I-17 beibehalten, jedoch im Vergleich mit ihrer Vorgängerin präziser gefaßt. Die Flexibilitätsklausel soll weiterhin Zielverwirklichungen über die in der Verfassung festgelegten EU-Zuständigkeiten hinaus dienen. Vorschläge der Kommission nach Art. I-17 werden jedoch der Subsidiaritätskontrolle im Sinne von Art. I-9 (3) unterworfen und dürfen keine neuen Rechtsharmonisierungen enthalten. Neben der einstimmigen Annahme im Ministerrat ist künftig die Zustimmung des Europäischen Parlaments erforderlich. Insgesamt besteht Hoffnung, daß die exzessive Inanspruchnahme der Ergänzungsklausel der Vergangenheit angehört.44 43 Bungenberg, Dynamische Integration, Art. 308 und die Forderung nach dem Kompetenzkatalog, EuR 2000, 879 ff.; Shaw, Flexibility in a „Reorganised“ and „Simplified“ Treaty, in: de Witte (Hrsg.) (Anm. 11), 183 ff. 44 Leider wurde der sinnvolle Vorschlag einer „Verfallsklausel“ (Sunset-Clause) nicht in Art. I-17 aufgenommen. Hiernach sollten Flexibilitätsregelungen nach einer Frist von etwa 5 Jahren automatisch wieder außer Kraft treten. Bei bewährten Neuerungen hätte dies ermöglicht, sie in dieser Frist als neue Kompetenzen in die Verfassung aufzunehmen.

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IV. Die europäische Verfassung 4. Die Institutionen der Union

Eine erstrangige Aufgabe des Konvents im Sinne von Nizza und Laeken betraf die Schaffung einer handlungsfähigen Union von 25 und mehr Mitgliedstaaten. Dies schloß gleichermaßen eine erhöhte demokratische Legitimation der Union ein wie die bessere Effizienz ihres Handelns. Hierzu bedurfte es vor allem einer Reform der EU-Institutionen. Die Konferenzen von Amsterdam und Nizza hatten diese Herausforderung nicht zu bewältigen vermocht. Der Konvent hat nach strittigen Diskussionen verschiedene Änderungen im Institutionengefüge der Union vorgenommen.45 Dabei sollte das Gleichgewicht im sogenannten „institutionellen Dreieck“ Parlament-Rat-Kommission gewahrt bleiben. j 1174

a) Die Organe der Union In nicht sehr glücklicher Weise unterscheidet der Titel IV des Teiles I des Entwurfs über die Organe der Union zwischen den („eigentlichen“) Organen und den sonstigen Organen und Einrichtungen. Die eigentlichen Organe (Europäisches Parlament, Europäischer Rat, Ministerrat, Europäische Kommission, Gerichtshof) bilden nach Art. I-18 den „einheitlichen institutionellen Rahmen“ der Union. Neu ist die Aufnahme des Europäischen Rates (ER) als besonderes Unionsorgan. Damit werden die bis 1974 als „EG-Gipfel“ völlig außerhalb der Verträge stehenden und anschließend seit 1986 (zuletzt in Art. 4 EUV) nur locker mit den EG-Organen verbundenen Staats- und Regierungschefs zum regulären Bestandteil des institutionellen Rahmens der EU.46 Obwohl der ER in Art. I-18 (2) protokollarisch nach dem Parlament aufgeführt wird, steht hinter seinem Organstatus unausgesprochen die eurorealistische Vorstellung, daß die Staats- und Regierungschefs die eigentlichen „Herren der Union“ sind. Aus diesem Grunde wurde die Aufnahme des ER in Art. I-18 von den „Integrationisten“ des Konvents vornehmlich aus dem Europäischen Parlament lange bekämpft, da er die 45 Der Institutionenteil des Verfassungsentwurfs trägt in besonderem Maße die Handschrift des Präsidiums und seines Präsidenten. Er wurde ausschließlich im Plenum des Konvents ohne Vorbereitung durch Arbeitsgruppen behandelt. Wichtige Impulse ergaben sich aus dem deutsch-französischen Beitrag zur institutionellen Architektur der EU vom 15.1.2003, Text: Pressemitteilung 21/03 des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung. 46 Die Aufnahme des Europäischen Rates als eigenes EU-Organ wurde durch Giscard d’Estaing hartnäckig durchgesetzt. Er vollendete damit ein Konzept, zu dessen Beginn er 1974 als französischer Staatspräsident den Europäischen Rat anstelle der früheren informellen „Gipfel“ erfolgreich in Vorschlag gebracht hatte. – Dagegen drang Giscard nicht mit dem anderen Vorschlag durch, als weitere Institution einen „Kongreß der Völker Europas“ zu schaffen, in dem nationale und Europaparlamentarier die künftige Entwicklung der Union regelmäßig erörtern sollten.

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„föderalistische“ Entwicklung der Union mit dem allmählichen Hineinwachsen der Kommission und ihres Präsidenten in die Führungsrolle zu verbauen schien. Zum Kompromiß wurde Art. I-21 (4), der nur einzelstaatliche, nicht europäische Ämter für unvereinbar mit der Präsidentschaft des ER erklärt. Auf diese Weise bleibt die künftige Fusion der Ämter von Rats- und Kommissionspräsident (sog. „großer Doppelhut“) eine Option innerhalb des Verfassungsrahmens. aa) Europäisches Parlament Das Europäische Parlament (EP) zieht im Vergleich zum EG-Vertrag bemerkenswerten Gewinn aus dem Verfassungsentwurf (Art. I-19 i.V. mit dem Protokoll über die Vertretung der Bürgerinnen und Bürger im EP und mit Art. III232 ff.).47 Das nunmehr „Gesetzgebungsverfahren“ genannte Mitentscheidungsverfahren unter weitgehender Gleichberechtigung zwischen Parlament und Ministerrat (MR) wird zum Regelverfahren der Gesetzgebung. Ähnlich wird eine annähernde Gleichberechtigung zwischen EP und MR bei der Ausübung der Haushaltsbefugnisse hergestellt. Eine wichtige Neuerung ist die Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Parlament mit einfacher Mehrheit aufgrund eines Vorschlages des ER, der die Ergebnisse der Wahlen zum EP berücksichtigt (Art. I-19 (1) i.V. mit Art. I-26 (1)). Für Größe und Zusammensetzung des EP sind bis zur Wahl 2009 die Entscheidungen von Nizza maßgeblich. Die Höchstzahl der Mitglieder ist damit im Vorgriff auf den Beitritt Bulgariens und Rumäniens ab 2007 auf 736 festgesetzt. Für die Zusammensetzung gilt die „degressive Proportionalität“ mit mindestens 4 Mitgliedern je Mitgliedstaat. Sie soll auch für die Neuregelung gelten, die der ER zusammen mit dem EP für die Wahlen ab 2009 erläßt. Deutschland bleibt mit 99 Abgeordneten vorläufig proportional stark unterrepräsentiert. bb) Europäischer Rat Der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs ist im Geist des Verfassungsentwurfs als das herausragende Organ der EU konzipiert (Art. I-20 bis Art. I-21, Art. III-244).48 Wie bisher gibt er der Union die erforderlichen „Entwicklungsimpulse“ und legt die politischen Zielvorstellungen und Prioritäten fest. Er wird nicht gesetzgeberisch tätig.49 Der ER wird infolge der Zunahme der Zahl der Mitgliedstaaten verkleinert, um arbeitsfähig zu bleiben. Reguläre Mitglieder sind nur noch die Staats- und 47

Duff, Der Beitrag des EP zum Konvent, Integr. 2003, 3 ff. Vgl. oben III. 4. a). 49 Der ER faßt jedoch verschiedentlich bindende Beschlüsse, z. B. über die Zusammensetzung des EP (Art. I-19 (2)). 48

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IV. Die europäische Verfassung

Regierungschefs und die Präsidenten des ER und der Kommission. Der Europäische Außenminister nimmt teil. Weitere Minister oder Kommissionsmitglieder können durch Ratsbeschluß hinzugezogen werden. Die Zahl der regulären Sitzungen des ER wird von zwei auf vier jährlich erhöht. Eine wichtige, im Konvent vielumstrittene Neuerung war die Schaffung eines hauptamtlichen Präsidenten des Europäischen Rates (Art. I-21).50 Zunächst von den „Integrationisten“ und Vertretern kleiner und mittlerer Staaten als intergouvernementaler Rivale des Kommissionspräsidenten und Symbol eines Direktoriums der größeren Mitgliedstaaten heftig abgelehnt, setzte sich schließlich das Argument durch, daß die Beibehaltung der sechsmonatigen Rotation im Vorsitz bei 25 und mehr Mitgliedstaaten der Arbeitsfähigkeit des ER abträglich sein müßte. Der Präsident des ER wird von den Mitgliedern mit qualifizierter Mehrheit für zweieinhalb Jahre mit der Möglichkeit einmaliger Wiederwahl gewählt. Er darf kein einzelstaatliches Amt innehaben.51 Der „typische“ Ratspräsident soll hiernach ein angesehener ehemaliger Staats- und Regierungschef aus einem größeren oder kleineren Mitgliedstaat sein.52 j 1175

Die Aufgaben des Ratspräsidenten beschränken sich nach Art. I-21 (2) im wesentlichen auf die Vorbereitung und Durchführung der Ratstagungen in Zusammenarbeit mit dem Kommissionspräsidenten. Ferner ist er oberster Repräsentant der Union in der Außenvertretung unbeschadet der Zuständigkeiten des Außenministers der Union. Der Präsident des ER verfügt über keine eigene Bürokratie, sondern soll sich des Generalsekretariats des Ministerrates bedienen. cc) Ministerrat und Entscheidung mit qualifizierter Mehrheit Der Ministerrat (MR)53 wurde wegen seiner Vermengung von Regierungs-, Exekutiv- und Legislativaufgaben und infolge der Auffächerung in eine große

50 Dieser „Präsident für Europa“ wurde von Giscard d’Estaing im Verein vor allem mit Dänemark, Frankreich, Großbritannien und Spanien favorisiert. Deutschland nahm eine unentschiedene Haltung ein. 51 Damit könnte der Präsident der Europäischen Kommission gleichzeitig zum Präsidenten des ER gewählt werden. Dies ist die von den „Integrationisten“ favorisierte Variante des „großen Doppelhutes“, vgl. oben III. 4. a). 52 Wie schon die jahrzehntelangen Erfahrungen bei der Auswahl der Kommissionspräsidenten gelehrt haben, wird das reale Gewicht des Präsidenten des ER von der jeweils auserkorenen Persönlichkeit abhängen. Als hauptamtlicher Präsident verfügt er über bessere Gestaltungsmöglichkeiten als der bisherige Vorsitz, der unter den aktiven Staats- und Regierungschefs halbjährlich rotiert. 53 Die Bezeichnung „Rat“ des EG-Vertrages wurde in „Ministerrat“ geändert. Damit wird häufigen sprachlichen Verwechslungen zwischen Europäischem Rat und Mi-

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Zahl von „Fachräten“ (Außen-, Agrarminister usf.) von vielen Seiten als das reformbedürftigste Organ der Union bezeichnet. Im Verfassungsentwurf wurden gewisse Verbesserungen erreicht, wenngleich noch mehr Klarheit möglich gewesen wäre (Art. I-22 bis Art. I-23, Art. III-245 bis Art. III-249). Aufgaben des MR sind zum einen die Gesetzgebung und die Ausübung der Haushaltsbefugnisse gemeinsam mit dem Europäischen Parlament, zum anderen die Politikfestlegung und Koordinierung nach Maßgabe der Verfassung. Obwohl nicht ausdrücklich genannt, gehören gewisse ausführende Befugnisse ebenfalls hierher.54 Die ständigen Formationen des Ministerrates werden auf den Rat für Allgemeine Angelegenheiten und Gesetzgebung55 und auf den Rat für Auswärtige Angelegenheiten beschränkt. Der Europäische Rat kann andere Zusammensetzungen des Ministerrates festlegen. Als Allgemeine Angelegenheit wird das laufende politische Geschäft in Verbindung mit dem ER verstanden. Als Gesetzgebungsrat tagt der Ministerrat künftig öffentlich (Art. I-49 (2)). Durch die Zentralisierung der Gesetzgebung im Legislativrat dürfte künftig „fachegoistische“ europäische Rechtsetzung schwieriger werden. Jeder Ministerrat besteht aus einem allein handlungsbefugten Vertreter auf Ministerebene. Im Gesetzgebungsrat können es je nach Tagesordnung ein oder zwei Fachminister sein.56 Im Zweifel beschließt der MR mit qualifizierter Mehrheit (Art. I-22 (3)). Beim Vorsitz des MRes treten an die Stelle der bisher halbjährlichen Rotation im Interesse der Arbeitsfähigkeit längerfristige Regelungen. Im Rat für Auswärtige Angelegenheiten führt der Außenminister der Union ständig den Vorsitz. Bei den anderen Formationen beträgt die Dauer des Vorsitzes mindestens ein Jahr. Die Reihenfolge der „gleichberechtigten Rotation“ wird vom ER festgelegt. In Art. III-247 werden wie bisher der Ausschuß der Ständigen Vertreter und das von einem Generalsekretär geleitete Generalsekretariat als Vorbereitungs- und Unterstützungsgremien des Ministerrates bestimmt. Qualifizierte Mehrheit: Für die Zukunft der großen EU von 25 und mehr Mitgliedstaaten ist die Art der Abstimmung im Europäischen Rat und Ministerrat entscheidend. Wo weiterhin Einstimmigkeit vorgesehen wird, ist die Gefahr künftiger Blockade und Stillstandes groß. Leider hat der Konvent den verschienisterrat vorgebeugt. Die neue Bezeichnung bringt zugleich ein gewisses hierarchisches Verhältnis zwischen Europäischem Rat und Ministerrat zum Ausdruck. 54 Vgl. Art. I-36 (2). 55 Die sinnvolle Trennung in je einen Rat für Allgemeine Angelegenheiten und für Gesetzgebung scheiterte im Konvent am Widerstand aus einigen Mitgliedstaaten, die eine solche Aufteilung personell nicht für machbar hielten. 56 Die Möglichkeit, „regionale Minister“ (in Deutschland Länderminister nach Art. 23 (6) GG ) stimmberechtigt in den Ministerrat zu entsenden, bleibt unberührt.

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dentlich erörterten Gedanken nicht aufgegriffen, die Einstimmigkeit gänzlich fallen zu lassen und an ihre Stelle eine sehr hohe „superqualifizierte Mehrheit“ zu setzen, welche die Blockade von ein oder zwei kleinen Mitgliedstaaten („Malta plus Irland“) verhindert hätte.57 Der Entwurf arbeitet stattdessen mit einer sog. „Passerelle“, d.h. der Möglichkeit eines künftigen einstimmigen Beschlusses des ER, von besonderen (z. B. einstimmigen) Rechtsetzungsverfahren zum ordentlichen Gesetzgebungsverfahren mit qualifizierter Mehrheit überzugehen (Art. I-24).58 Regelfall soll im Ministerrat die Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit werden (Art. I-22 (3)). Im ER gilt grundsätzlich die Konsensentscheidung (Art. 20 (4)), d.h. das allseitige Einverständnis ohne förmliche Abstimmung, falls nicht ausdrücklich Widerspruch erhoben wird. Zunächst gilt jedoch für die Berechnung der qualifizierten Mehrheit im ER und MR in der EP-Wahlperiode 2004–2009 die „Nizza-Formel“ für die Stimmengewichtung (Art. 2 Protokoll über die Stimmengewichtung im ER und MR). Sie sieht eine komplizierte Austarierung der Stimmengewichte unter Gleichbehandlung der 4 großen Staaten (D, F, I, UK) sowie zwischen Polen und Spanien vor, ferner ein Überprüfungsrecht jedes Mitgliedstaates, ob hinter dem Beschluß mindestens 62% der Gesamtbevölkerung der Union stehen. Anderenfalls kommt der Beschluß nicht zustande. Die ab 2009 maßgebliche Berechnung der qualifizierten Mehrheit erfordert in Vereinfachung der Nizza-Formel nach Art. I-24 eine Mehrheit (in bestimmten 1176 Fällen zwei j Drittel) der Mitgliedstaaten, die gleichzeitig mindestens drei Fünftel der Bevölkerung der Union repräsentieren. Die endgültige Akzeptanz dieser „Konvent-Formel“ würde die Handlungsfähigkeit der künftigen Union entscheidend fördern. Sie setzt gleichzeitig ähnlich wie in einem Bundesstaat die Bereitschaft größerer Minderheiten voraus, sich dem Mehrheitswillen zu unterwerfen.59

57 Die Kommission (Mitteilung zur institutionellen Architektur v. 4.12.2002 = KOM (2002) 728 endg.) und andere hatten vergeblich eine „verstärkte Mehrheit“ von drei Vierteln der Mitgliedstaaten und zwei Dritteln der Unionsbevölkerung vorgeschlagen. Diese verstärkte Mehrheit hätte die Funktion der „Quasi-Einstimmigkeit“ nicht erfüllt, da hiermit u. a. größere Mitgliedstaaten überstimmt werden konnten. 58 Diese „gouvernementale“ Verfassungsänderung ist verfassungsrechtlich nicht unbedenklich. Nach Art. I-24 (4) beschließt der ER nach Anhörung des EP und Unterrichtung der nationalen Parlamente. In Deutschland wäre möglicherweise die vorherige Zustimmung der parlamentarischen Körperschaften vor der Stimmabgabe des Bundeskanzlers im ER erforderlich. 59 Bei 25 Mitgliedstaaten können bis zu 12 überstimmt werden. Bei 450 Millionen Unionsbürgern umfasst die überstimmbare Minderheit von 40% ca. 180 Millionen Unionsbürger, also beispielsweise Deutschland und Frankreich nebst mehreren kleineren Mitgliedstaaten. Für Deutschland ist die „Konvent-Formel“ infolge der Einbeziehung des demographischen („demokratischen“) Faktors etwas günstiger als die bereits

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Die künftige große EU ist auf eine praktikable und akzeptierte Mehrheitsentscheidung im Europäischen Rat und im Ministerrat angewiesen, um handlungsfähig zu bleiben. Dabei bedarf eine erfolgreiche Handhabung der neuen qualifizierten Mehrheit vor allem einer Vorbereitung der Beschlüsse in gegenseitiger Rücksichtnahme und Verständnis. Rasches „Durchentscheiden“ könnte das System in Gefahr bringen. j dd) Europäische Kommission

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Die Europäische Kommission hat als unabhängiger „Motor, Wächter und ehrlicher Makler“ (Walter Hallstein) seit den Anfängen innerhalb der Gemeinschaft und Union eine zentrale Rolle gespielt. Sie ist auch künftig unentbehrlich. Das Ansehen der Kommission hatte zuletzt durch verschiedene Vorfälle gelitten (Rücktritt der Kommission Santer 1999). Die Forderung nach besserer parlamentarischer Legitimation und Verantwortlichkeit der Kommission wurde immer lauter. In einer Union von 25 und mehr Mitgliedstaaten stellt sich ferner die Frage nach der arbeitsfähigen Größe des Gremiums. j Der Verfassungsentwurf sucht die künftige Kommission durch die Stärkung 1235 ihres Präsidenten effizient zu gestalten. In diesen Zusammenhang gehört ferner die Schaffung eines Außenministers der Union. Gleichzeitig wird die Position des Europäischen Parlamentes gegenüber der Kommission ausgebaut. Das entscheidungsberechtigte Kommissionskollegium soll sich dauerhaft auf 15 Personen beschränken (Art. I-25 bis I-27, Art. III-250 ff.). Die Aufgaben der Kommission sind in Art. I-25 ähnlich wie bisher ausgestaltet. Zentral ist weiterhin ihr grundsätzliches Initiativmonopol in der Unionsgesetzgebung als Kernstück der sogenannten „Gemeinschaftsmethode“60. Hinzu treten die Überwachung der Anwendung des Unionsrechtes unter der Kontrolle des Gerichtshofes („Hüterin der Verträge“), verschiedene Koordinierungs-, Exekutiv- und Verwaltungsfunktionen und außerhalb der GASP die Außenvertretung der Union, vor allem in der Handelspolitik.

akzeptierte Nizza-Formel. Vor allem Spanien hat bisher große Schwierigkeiten mit der „Konvent-Formel“. 60 Wie bisher kann der Ministerrat Vorschläge der Kommission grundsätzlich nur einstimmig ändern (Art. III-30l). – Ausnahmen vom Initiativmonopol bestehen vor allem beim Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (Justiz und Inneres), wo neben der Kommission Mitgliedstaaten über das Initiativrecht verfügen. – Die Vertreter des Europäischen Parlaments im Konvent haben entgegen manchen Forderungen bewußt auf ein Initiativrecht für das EP verzichtet, obwohl es sich hier um ein parlamentarisches „Urrecht“ handelt. Bei einer Zuerkennung des Initiativrechtes an das Parlament hätte es zwangsläufig dem Ministerrat nicht verweigert werden können. Das damit zu befürchtende „Zerflattern“ des Gemeinschaftsinteresses sollte unter allen Umständen vermieden werden.

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Für die Zusammensetzung der Kommission gilt ähnlich wie beim Europäischen Parlament für die Periode 2004–2009 die Entscheidung von Nizza, wonach jeder Mitgliedstaat einen Kommissar stellt61. Gegen den starken Widerstand kleinerer Mitgliedstaaten sieht Art. I-25 (3) vor, daß die Kommission anschließend auf ein stimmberechtigtes „Kollegium“ von 15 Mitgliedern (Präsident, Außenminister und 13 weitere Mitglieder) verkleinert wird. Daneben ernennt der Kommissionspräsident „Kommissare ohne Stimmrecht“ aus allen im Kollegium nicht berücksichtigten Mitgliedstaaten. Der ER beschließt ein „System gleichberechtigter Rotation“ zur regelmäßigen Berücksichtigung aller Mitgliedstaaten im Kollegium62. In einer wichtigen Reform sieht Art. I-26 (1) die Wahl des Kommissionspräsidenten durch das EP mit einfacher Mehrheit anstelle der bisherigen Benennung durch die Mitgliedstaaten vor. Dabei hat der ER das Vorschlagsrecht für den Kandidaten. Er muß jedoch das Ergebnis der Europawahlen berücksichtigen. Mit diesem Kompromiß wird ein bemerkenswerter Schritt in Richtung auf die Einführung des parlamentarischen Prinzips im Verhältnis EP – Kommission getan. Zugleich wird eine Politisierung und Belebung der Europawahlen durch die Präsentation konkurrierender Spitzenkandidaten erhofft und damit eine Stärkung des Kommissionspräsidenten gegenüber ER und MR. Der Präsident wählt anschließend „sein“ Kommissionskollegium aus Dreierlisten der im Kollegium befindlichen Mitgliedstaaten aus. Dieses Kollegium stellt sich zusammen mit dem künftigen Außenminister der Union und den Kommissaren ohne Stimmrecht einem Zustimmungsvotum des EP (Art. I-26 (2)). Eine weitere wichtige Neuerung ist gemäß Art. I-27 die Schaffung eines Außenministers der Union im Zusammenspiel zwischen ER, Kommission und Par61 Nicht selten wird als schwerwiegende Fehlentscheidung der Nizza-Konferenz angesehen, daß die größeren Mitgliedstaaten von jeweils zwei Kommissionsmitgliedern auf eines zurückgingen, während der Status der kleineren und mittleren EU-Staaten mit jeweils einem Kommissar unverändert blieb. Dem „realen Europa“ hätte entsprochen, daß die letzteren zu einer Rotation in zwei Gruppen übergegangen wären, also gewissermaßen über einen „halben“ Kommissar verfügt hätten. Demgegenüber wurde vor allem darauf verwiesen, daß die neuen Beitrittsstaaten zur „Eingewöhnung“ in die Union sämtlich in der Kommission vertreten sein müßten. Dies ist nunmehr 2004– 2009 der Fall. 62 Art. I-25 (3) enthält einige Grundsätze zur näheren Festlegung der „vollkommenen Gleichbehandlung“ der Mitgliedstaaten bei der Rotation. Kernpunkt wird die „gerechte“ Austarierung des Verhältnisses zwischen größeren und kleineren Mitgliedstaaten sein. Ein Vorschlag des französischen Konventsmitgliedes Lequiller (CONV 837/ 03 vom 30.6.2003) geht dahin, drei Gruppen der 6 bevölkerungsreichsten EU-Staaten (= 74% der EU-Bevölkerung) sowie von 8 „mittleren“ (19%) und 11 „weniger bevölkerten“ (7%) zu bilden. Der ersten Gruppe sollte jeweils ein ständiger Kommissar zustehen, während aus den beiden anderen Gruppen in einem zweieinhalbjährigen Rhythmus je vier Kommissare in das Kollegium zugewählt würden.

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lament63. Er ersetzt das bisherige Tandem des Kommissars für äußere Angelegenheiten und des Hohen Vertreters des Rates für die GASP (sog. „Fusion Patten/Solana“). Im Sinne eines „kleinen Doppelhutes“ wird der Außenminister vom ER mit Zustimmung des Kommissionspräsidenten ernannt und bedarf eines Zustimmungsvotums des EP. Der Außenminister gehört dem ER an und ist einer der Vizepräsidenten der Kommission. Zu seiner Unterstützung soll aus Beamten des Generalsekretariates des Ministerrates, der Kommission und abgestelltem Personal nationaler Diplomatie ein „Europäischer Auswärtiger Dienst“ gebildet werden. Die Hoffnung geht dahin, daß das auf Rats- und Kommissionszuständigkeiten zersplitterte Auswärtige Handeln der EU durch Personalunion im Amt des Außenministers besser gebündelt wird. Dennoch erscheint zweifelhaft, ob fehlender Wille zu gemeinsamer europäischer Außenpolitik durch institutionelle Vorkehrungen ersetzt werden kann64. Der Verfassungsentwurf stärkt die Stellung des Kommissionspräsidenten innerhalb des Kollegiums (Art. I-26 (3)). Er verfügt über eine „Leitlinienkompetenz“, ernennt die Vizepräsidenten und regelt die interne Organisation der Kommission. Auf seine Aufforderung müssen Kommissionsmitglieder ihr Amt niederlegen. Insgesamt schafft der Entwurf die verfassungsmäßigen Voraussetzungen für eine handlungsfähige Kommission j unter Leitung eines parlamentarisch legiti- 1236 mierten und mit starken Befugnissen ausgestatteten Präsidenten. Für den Erfolg ihrer Arbeit wird die konstruktive Zusammenarbeit mit dem seinerseits gestärkten ER und dessen Präsidenten entscheidend sein. ee) Gerichtshof Der Konvent hat sich mit dem Gerichtshof nur am Rande befasst (Art. I-28, Art. III-258 ff.). Gegen Ende der Konventsverhandlungen wurde ein Arbeitskreis zur Überprüfung seiner Regelungen eingesetzt65. 63 Diese Reform geht maßgeblich auf Konzeptionen des deutschen Auswärtigen Amtes zurück. 64 Zur schwachen Vergemeinschaftung der GASP im Verfassungsentwurf vgl. unten III. 5. a) dd). 65 Er arbeitete unter Leitung des Kommissionsmitgliedes Vitorino und hörte als Sachverständige u. a. die Präsidenten des EuGH und des EuG. Von deutscher Seite beteiligte sich insbesondere J. Meyer. – Man mag den verhältnismäßig geringen Reformbedarf bei der europäischen Gerichtsbarkeit als indirekte Reverenz gegenüber dem geltenden, zuletzt in Nizza reformierten System begreifen (dazu Lenz, Die Gerichtsbarkeit in der EG nach dem Vertrag von Nizza, EuGRZ 2001, 433 ff.). Everling hat den Gerichtshof gelegentlich als das am besten funktionierende Organ der Gemeinschaft bezeichnet.

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Zum Gerichtshof gehören nach Art. I-28 der Europäische Gerichtshof (bisher: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften), das Gericht (bisher: Gericht erster Instanz) und die in Nizza vorgesehenen Fachgerichte. An der Zahl und Ernennung der Richter und Generalanwälte durch die Regierungen der Mitgliedstaaten für jeweils sechs Jahre hat sich trotz einiger Reformdiskussion nichts geändert66. Neu ist die Schaffung eines Ausschusses aus hochrangigen europäischen und nationalen Richtern und Juristen, der vor der Entscheidung der Regierungen eine Stellungnahme über die Eignung von Bewerbern abgibt (Art. III-262). Die Zuständigkeiten des EuGH sind durch die neuen Klagerechte der Mitgliedstaaten und des Ausschusses der Regionen bei der Subsidiaritätskontrolle ergänzt worden67. Die Klagemöglichkeiten natürlicher und juristischer Personen gegen Handlungen der Union erfuhren eine erweiternde Präzisierung (Art. III270). Dagegen war der Konvent nicht bereit, Anträgen zur Einführung einer allgemeinen Grundrechtsbeschwerde mit Blick auf Teil II der Verfassung (Grundrechte-Charta) zu folgen.68 Vor allem mit Blick auf Beitrittsstaaten legt Art. I-28 (1) eine Pflicht der Mitgliedstaaten fest, national die für einen wirksamen Schutz auf dem Gebiet des Unionsrechts erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen. Im übrigen wurde in Art. III-258 ff. im wesentlichen das Gerichtsverfassungsrecht des EG- Vertrages übernommen69. b) Sonstige Organe und Einrichtungen, Ämter und Agenturen In anzweifelbarer Terminologie und unvollständig fassen Art. I-29 bis I-31 die Europäische Zentralbank, den Rechnungshof und den Ausschuß der Regionen sowie den Wirtschafts- und Sozialausschuß als „sonstige Organe und Einrichtungen“ zusammen. Es fehlt beispielsweise die Europäische Investitionsbank (Art. III-299 bis III-300).

66 Bemühungen fanden keine Mehrheit, um der Stärkung der Unabhängigkeit der Richter willen wie beim deutschen Bundesverfassungsgericht eine einmalige Amtszeit von 8–12 Jahren einzuführen. 67 Vgl. oben III. 3. c) dd). 68 U. a. sprach sich der Präsident des EuGH gegen die allgemeine Grundrechtsbeschwerde aus, da über die EMRK bereits breiter Rechtsschutz vor dem EGMR gewährleistet sei und die Union den Beitritt zur EMRK anstrebe (Art. I-7 (2)). – Dabei spielte zugleich die Sorge eine Rolle, daß der EuGH durch eine Flut von Grundrechtsbeschwerden wie in Straßburg und Karlsruhe in der Erfüllung seiner sonstigen Aufgaben ernsthaft behindert würde. 69 Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch des Rechtsschutzes in der EU, 2. Aufl. 2003.

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In Art. III-301 ff. finden sich einige gemeinsame Vorschriften für die Organe, Einrichtungen, Ämter und Agenturen der Union. Das Europäische Parlament, der Ministerrat und die Kommission können unter Wahrung der Verfassung interinstitutionelle Vereinbarungen schließen (Art. III-303). Alle Institutionen stützen sich auf eine offene, effiziente und unabhängige europäische Verwaltung (Art. III-304). aa) Europäische Zentralbank Die Europäische Zentralbank (EZB) verfügt bisher in Art. 8 EGV über eine Sonderstellung neben den in Art. 7 benannten Organen. Art. I-29 reiht sie nunmehr unter die „Sonstigen Organe und Einrichtungen“ ein. Dabei bleibt unklar, ob sie als Organ der EU oder als „Einrichtung“ anzusehen ist70. Es ist jedoch entscheidend, daß die Unabhängigkeit der EZB im Institutionengefüge der EU und gegenüber den Regierungen der Mitgliedstaaten gemäß Art. I-29 (3) unzweideutig klargestellt wird71. Man würde den Redaktionskünsten der Verfasser des Art. I-29 zu viel Ehre antun, in den Unklarheiten des Artikels einen Anschlag auf die Unabhängigkeit der Bank zu wittern. Die umfangreichen Regelungen über die EZB und das Europäische System der Zentralbanken (Art. I-29, Art. III-77 ff., insbesondere Art. III-84 bis III-87) entsprechen den Vorgängerbestimmungen des EG-Vertrages. bb) Rechnungshof Der Rechnungshof war nach Art. 7 EGV reguläres Organ der EG. Er ist wahrscheinlich wegen der Unabhängigkeit seiner Mitglieder im Verfassungsentwurf nicht unter die Organe des Art. I-18 aufgenommen, sondern in Art. I-30 als ein besonderes „Organ, das die Rechnungsprüfung wahrnimmt“, neben die ihrerseits unabhängige EZB ge- j stellt worden. Am Status des Rechnungshofs 1237 soll sich hierdurch nichts ändern. Im übrigen wurden in Art. I-30 und Art. III290 f. die Regelungen des EG-Vertrages übernommen. Entgegen Vorschlägen aus dem Rechnungshof und von Konventsmitgliedern besteht der Rechnungshof weiterhin aus einem Staatsangehörigen je Mitgliedstaat72. 70 Art. I-29 (3) bezeichnet die EZB als ein „Organ, das Rechtspersönlichkeit besitzt“. Andererseits verpflichtet S. 4 a. a. O. „die Organe . . . der Union“, die Unabhängigkeit der EZB zu achten, und unterscheidet die Zentralbank auf diese Weise von den übrigen Organen. 71 Auch die engere Koordinierung der Wirtschaftspolitik innerhalb des EURO-Währungsgebiets gemäß dem neuen Protokoll betreffend die EURO-Gruppe schränkt die Unabhängigkeit der EZB nach Art. I-29 (3) nicht ein. Sie ist im Gegenteil als Unterstützung für die EZB-Aufgabe zu verstehen, die Preisstabilität zu wahren.

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cc) Ausschuß der Regionen Der Ausschuß der Regionen (AdR) war 1992 in Maastricht im Zusammenhang mit der Einführung des Subsidiaritätsprinzips als beratende Einrichtung der Gemeinschaft gebildet worden. Nachdem der Auftrag von Nizza und Laeken an den Konvent eine Stärkung des Subsidiaritätsprinzips forderte, war der AdR als Repräsentant der „subsidiären“ regionalen und kommunalen Ebene bestrebt, seine Position unter den Einrichtungen der Union zu verbessern. Die Beobachter des AdR im Konvent und den Regionalinteressen verbundene Konventsmitglieder forderten für den Ausschuß den Organstatus und eine Erweiterung seiner Befugnisse. Der Verfassungsentwurf hat diesen Forderungen nur zum geringen Teil entsprochen73. Der AdR bleibt beratende Einrichtung der Union (Art. I-31 i.V. mit Art. III-292 bis III-294). Die Regelungen entsprechen weitgehend denen des EG-Vertrages. Die Wahlperiode des AdR wird von 4 auf 5 Jahre verlängert und damit derjenigen des EP gleichgestellt. Wichtigste Neuerung ist das Klagerecht des AdR in Subsidiaritätsfragen bei Gesetzgebungsakten, für welche die vorherige Anhörung des Ausschusses in der Verfassung vorgeschrieben ist (Ziff. 7 des neuen Subsidiaritätsprotokolls). Protokollarisch wird der AdR im Verfassungsentwurf anders als im EG-Vertrag vor dem Wirtschaftsund Sozialausschuß genannt. dd) Wirtschafts- und Sozialausschuß Für den Wirtschafts- und Sozialausschuß (WSA) als beratende Einrichtung aus Vertretern der Zivilgesellschaft hat der Entwurf ebenfalls weithin die Vorgängerregelung des EG-Vertrages übernommen (Art. I-31 i.V. mit Art. III-295 bis III-298). In der Zusammensetzung des WSA soll neben den wirtschaftlichsozialen Interessen künftig der staatsbürgerliche und der kulturelle Bereich stärker Berücksichtigung finden (Art. I-31 (2)). Die Mandate des WSA werden ebenfalls von vier auf fünf Jahre umgestellt. Die Größe sowohl des AdR als auch des WSA bleibt bei höchstens 350 Mitgliedern. Die Zusammensetzung wird durch einstimmigen Beschluß des Ministerrates neu geregelt. In Zukunft soll sie regelmäßig vom Ministerrat auf Vor-

72 Schon in der EG von 15 Mitgliedstaaten war die Spitze des Rechnungshofes zur Erfüllung seiner Aufgaben nach eigener Auffassung des Hofes mit 15 Mitgliedern personell überdimensioniert. Sachgerecht wäre die Einführung eines Rotationsprinzips ähnlich wie beim Kommissionskollegium gewesen. 73 Gegner einer Organstellung des AdR waren im Konvent sowohl Mitgliedstaaten wie Spanien, die in ihren Regionen Separationstendenzen befürchten (Baskenproblem) als auch das Europäische Parlament, welches seinen eigenen Status als das eigentliche Parlamentsorgan nicht mit einer weiteren Versammlung teilen mochte.

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schlag der Kommission überprüft werden, um der soziodemographischen Entwicklung in der Union Rechnung zu tragen74. ee) Europäische Investitionsbank Die Europäische Investitionsbank (EIB) ist unverständlicherweise nicht unter den „Sonstigen Organen und Einrichtungen“ im Sinne von Art. I-29 ff. aufgeführt, während sie in Art. 9 EGV neben der EZB aufgenommen worden war. Ihr Status wird ausschließlich in Teil IIII der Verfassung geregelt (Art. III299 f.). Dort werden Art. 266 f. EGV nahezu wortgleich übernommen. Da alle Teile der Verfassung gleichen Rang haben, bedeutet die „Verbannung“ der EIB in Teil III keine inhaltliche Minderung ihrer Position unter den EU-Institutionen. 5. Ausübung der Zuständigkeiten der Union

Nizza und Laeken hatten dem Konvent den Auftrag erteilt, die Verträge zu vereinfachen, um sie klarer und verständlicher zu machen. Dies zielte besonders auf das rechtliche Instrumentarium der Union und die Art und Weise der Durchführung des Unionsrechts. Beides war in der Gemeinschaftspraxis für den Bürger, aber auch für Sachverständige immer unübersichtlicher geworden, vor allem durch die Schaffung der „Drei-Pfeiler-EU“ seit Maastricht 1992. Mit dem Verfassungsentwurf (Art. I-32 bis I-43) dürfte es gelungen sein, einiges Licht in dieses „Dickicht“ zu werfen75. Allerdings ist die Auflösung und Integration des 2. und 3. Pfeilers in die allgemeinen Unionsstrukturen nur bis zu einem gewissen Grade durchgeführt worden. Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts und vor allem die GASP führen innerhalb der einheitlichen EU weiterhin ein Eigenleben. a) Die Rechtsakte der Union und das Gesetzgebungsverfahren Der Verfassungsentwurf ordnet die Rechtsakte und das Gesetzgebungsverfahren der Union neu. Bemerkenswert sind sowohl veränderte Bezeichnungen für die Rechtsakte als auch Vereinfachungen im Gesetzgebungsverfahren und bei der Durchführungsrechtsetzung der „zweiten Ebene“. 74 Damit wird Forderungen vor allem aus den bevölkerungsreicheren Mitgliedstaaten entgegengekommen. Die augenblickliche Zusammensetzung von AdR und WSA nach Art. 258, 263 EGV widerspricht seit längerem extrem der demografischen Größe der Mitgliedstaaten. So entsendet beispielsweise Deutschland je 24 Mitglieder, Luxemburg andererseits je 6. Eine Revision erscheint unumgänglich. 75 Besondere Verdienste hat sich hierbei der Vizepräsident des Konvents Amato und eine von ihm geleitete Arbeitsgruppe „Vereinfachung der Verträge“ erworben.

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aa) Die Rechtsakte Die Union übt ihre Zuständigkeiten mittels fünf Arten von Rechtsakten aus: Europäisches Gesetz (bisher: Verordnung), Europäisches Rahmengesetz (bisher: 1238 Richtlinie), Europäische Verordnung, Europäischer Beschluß (bisher: j Entscheidung) sowie die rechtlich nicht verbindlichen Empfehlungen und Stellungnahmen (Art. I-32 (1)). Diese überfälligen Neubezeichnungen entsprechen dem staatsnahen Entwicklungsstand der Union. Die Rechtsakte werden „gemäß den Bestimmungen in Teil III“ erlassen. Damit bleibt es dabei, daß die jeweils zulässigen Arten der Rechtsakte in Teil III der Verfassung festgelegt sind76. Für die Charakterisierung des Europäischen Gesetzes und Rahmengesetzes sowie des Europäischen Beschlusses werden die Definitionen aus Art. 249 EGV übernommen. bb) Durchführungsrechtsetzung Neu ist die Europäische Verordnung (EuVO) als allgemein geltender Rechtsakt unterhalb des Gesetzes (Art. I-32 (1) UA 4). Sie entspricht im wesentlichen der deutschen Durchführungsverordnung bzw. auf Gemeinschaftsebene den Verordnungen, die „Grundverordnungen“ des EGV näher ausführen. Die EuVO kann allgemein und unmittelbar verbindlich sein oder als eine „Rahmenverordnung“ den innerstaatlichen Stellen die Einzelausführung überlassen. Der Erlaß von EuVOen bedarf der gesetzlichen Ermächtigung (Art. I-35). Ähnlich wie in Art. 80 GG muß das Europäische Gesetz/Rahmengesetz dabei „Ziele, Inhalt, Geltungsbereich und Dauer“ der Übertragung ausdrücklich festlegen. „Wesentliche Vorschriften“ können nicht übertragen werden77. Grundsätzlich sind die Mitgliedstaaten wie bisher zur Durchführung des Unionsrechts berechtigt und verpflichtet (Art. I-36 (1)). Bei besonderem Bedürfnis nach unionsweiter einheitlicher Durchführung können der Kommission oder ausnahmsweise dem Ministerrat Durchführungsbefugnisse übertragen werden (Art. I-36 (2))78.

76 Beispielsweise ist allgemeine Rechtsangleichung nach Art. III-64 nur durch Rahmengesetze möglich, Binnenmarktrechtsangleichung nach Art. III-65 durch Europäische Gesetze und Rahmengesetze. Damit wurde Bestrebungen eine Absage erteilt, die Auswahl der Art des Rechtsaktes allgemein den Unionsorganen anzuvertrauen. Diese können unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsprinzips nur dann wählen, wenn die Verfassung die Art des Rechtsaktes nicht ausdrücklich vorgibt (Art. I-37 (1)). 77 Insoweit hat die „Wesentlichkeitstheorie“ des Bundesverfassungsgerichts Pate gestanden. 78 Die Regelung setzt bei der bisherigen Gemeinschaftspraxis an, sucht aber zugunsten der Kommission die unübersichtliche „Komitologie-Regelung“ (Mensching, Der neue Komitologiebeschluß des Rates, EuZW 2000, 268 ff.) zu vereinfachen.

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cc) Ordentliches und besondere Gesetzgebungsverfahren, weitere Rechtsetzung Im Sinne der Stärkung des Europäischen Parlamentes und des Demokratieprinzips sieht der Verfassungsentwurf das bisherige, auf dem Prinzip der Gleichrangigkeit von EP und MR beruhende Mitentscheidungsverfahren (Art. 251 EGV) als Regelverfahren der Gesetzgebung vor („Ordentliches Gesetzgebungsverfahren“, Art. I-33 i.V. mit Art. III-302)79. Einigen sich die beiden Organe nicht, kommt der Gesetzgebungsakt nicht zustande. Die Zahl der Anwendungsfälle des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens wurde im Vergleich zum EGV wesentlich erhöht. Die Verfassung kennt daneben bestimmte Fälle eines „besonderen Gesetzgebungsverfahrens“ mit anderer Verteilung der Gewichte zwischen EP und MR (Art. I-33 (2)). Hierzu gehören die fortbestehenden einstimmigen Beschlußfassungen im MR. MR und Kommission erlassen Europäische Verordnungen und Beschlüsse (Art. I-34). Ebenso können der Europäische Rat und die EZB Europäische Beschlüsse erlassen, die EZB auch Verordnungen. dd) Besondere Rechtsetzung in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und beim Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts Die „Auflösung des 2. und 3. Pfeilers“ der Maastricht-EU ist in der Verfassung nur teilweise durchgeführt worden. (1) Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Im Bereich der GASP werden in den umfangreichen Art. I-39 bis I-40 die außen- und sicherheitspolitischen Ziele der Union umrissen und ein rudimentäres Rechtsetzungsverfahren eingeführt. Es basiert auf einstimmigen Beschlüssen, die der Europäische Rat über die allgemeinen Interessen und Ziele der GASP fasst. In diesem Rahmen beschließt der Ministerrat im Näheren80. Vorschlags79 Die Einzelheiten des Verfahrens nach Art. III-302 entsprechen mit einigen Verdeutlichungen der Mitentscheidung nach Art. 251 EGV. Charakteristisch ist die abschließende Entscheidung mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen im EP und der qualifizierten Mehrheit im MR (Art. III-302 (13)). 80 Die Beibehaltung der Einstimmigkeit in der GASP war ein Hauptstreitpunkt im Konvent. Die „Integrationisten“ aus dem EP und andere strebten auch hier vorsichtige Übergänge zur qualifizierten Mehrheit an, scheiterten jedoch an der englischen Haltung. Für Großbritannien war die Einstimmigkeit in der GASP ein Essential bei der Beurteilung der gesamten Verfassung. Dabei war zu bemerken, daß die britische Regierung mit dieser Haltung keineswegs alleine stand, auch wenn sich andere nicht aus der Deckung zu wagen brauchten. Art. 1-39 (8) enthält zugunsten der integrationisti-

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rechte liegen bei den Mitgliedstaaten, dem Außenminister oder dem Außenminister mit Unterstützung der Kommission. Die Ausführung obliegt dem Außenminister der Union und den Mitgliedstaaten. Das EP wird gehört und informiert. Europäische Gesetze und Rahmengesetze sind ebenso ausgeschlossen wie eine Kontrolle des Gerichtshofes. Teil IV der Verfassung enthält Ausnahmen von diesen Verfahren. Das Verfahren bei der Entwicklung einer gemeinsamen Verteidigung der Union ist noch zurückhaltender (Art. I-40 (2)). Bis zur Einführung durch einstimmigen Beschluß des ER bleibt es bei einer engeren Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten unter einer Verpflichtung gegenseitiger kollektiver Sicherheit (Art. I-40 (7)). Gruppen von Mitgliedstaaten können zur Durchführung von Missionen im Rahmen der EU beauftragt werden (Art. I-40 (5), sog. „Koalitionen der Willigen“). j 1239

Allgemein dürfte Skepsis angebracht sein, wieweit die hochkomplizierten Regeln der Beschlußfassung im GASP- und Verteidigungsbereich den Praxistest bestehen. (2) Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts Der „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ (RFSR = Inneres und Justiz) wird in Auflösung und in Anlehnung an die Pfeilerstruktur des Maastrichter EU-Vertrages stärker in das allgemeine Rechtsetzungssystem der Union einbezogen (Art. I-41 i.V. mit Art. III-158 bis III-178). Es verbleiben nicht unerhebliche Besonderheiten. Der Europäische Rat legt die strategischen Leitlinien für die legislativ-operative Programmplanung im RFSR fest (Art. III-159). Grundsätzlich unberührt bleiben die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die öffentliche Ordnung und innere Sicherheit (Art. III-163). Der RFSR ist in die Rechtskontrolle der europäischen Gerichtsbarkeit weithin einbezogen. Im RFSR können Europäische Gesetze und Rahmengesetze im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren erlassen werden (Art. I-41 (1))81. Bei der polizeilichschen Auffassung eine „Passerelle“ (Übergang zur qualifizierten Mehrheit durch einstimmigen Beschluß des ER in begrenzten Fällen). – Eine vollständige Integration des 2. und 3. Pfeilers in das allgemeine System der Verfassung hätte die EU dem Europäischen Bundesstaat ziemlich nahe gebracht. 81 Dies gilt z. B. für so wichtige Bereiche wie die europäische Asyl- und Einwanderungspolitik (Art. III-167, Art. III-168). Auf Antrag der deutschen Konventsvertreter bleibt der Zugang von einreisenden Drittstaatsangehörigen zu den nationalen Arbeitsmärkten in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten (Art. III-167 (5)). – Es wird unterschiedlich beurteilt, inwieweit Mehrheitsregelungen in der europäischen Asyl- und Einwanderungspolitik mit dem Ziel „effizienter Steuerung der Migrationsströme“ (Art. III-168 (1)) im Interesse Deutschlands an einer fairen europaweiten Verteilung

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justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen verfügen neben der Kommission ein Viertel der Mitgliedstaaten über ein Initiativrecht (Art. I-41 (3) i.V. mit Art. III165). Der MR verfügt über Rechte zum Erlaß Europäischer Verordnungen und Beschlüsse. Neben europäischer Gesetzgebung sind die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher und außergerichtlicher Entscheidungen und die operative Zusammenarbeit der zuständigen nationalen Behörden (einschließlich Polizei, Zoll und Strafverfolgungsbehörden) wichtige Handlungsformen zur Herstellung des RFSR. Ungeachtet der verschiedenen Spezialregelungen, die sich aus der Nähe der Innen- und Justizpolitik zur Wahrung des elementaren staatlichen Schutzauftrages für die Bürger ergeben, erscheint die Einbeziehung der Rechtsetzungsmöglichkeiten und sonstigen Handlungsformen in die allgemeinen Strukturen der Union im Falle des RFSR bemerkenswert und in der Ausgestaltung praktikabel82. ee) Offene Koordinierung der Mitgliedstaaten Die Einbeziehung der Methode der „offenen Koordinierung“ (oK) der Mitgliedstaaten in Bereichen nationaler Politik in die Verfassung blieb ein Streitpunkt während der gesamten Dauer des Konvents83. Mangels Einigung ist die oK nicht als allgemeine Handlungsform in den Verfassungsentwurf eingegangen. Sie wurde jedoch in einer Art „Handstreich“ in der letzten Nacht des Konvents ohne nähere Diskussion in vier wichtige Politikbereiche des Teiles III der Verfassung aufgenommen (Soziales, Forschung und technologische Entwicklung, Gesundheit, Industrie)84. In diesen Gebieten wird die Kommission aufgeder Migration liegen. Bisher übt die besonders liberale deutsche Gesetzgebung einen Sog zugunsten der Zuwanderung (Asyl und Einwanderung) in die Bundesrepublik aus. 82 Die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen wird durch die Koordinierungsarbeit der Agentur Eurojust (Art. III-174) und durch die Zusammenarbeit der Polizeibehörden über Europol (Art. III-177) verstärkt. Über Eurojust kann eine europäische Staatsanwaltschaft eingesetzt werden (Art. III-175). 83 Die „offene“, d. h. rechtlich unverbindliche Koordinierung wurde im ER von Lissabon 2000 ohne normative Festlegung zur Steigerung der weltweiten Wettbewerbsfähigkeit der EU entwickelt (Giering, Offene Koordinierung, CAP 5/2001). OK kann zur Entwicklung von Leitlinien und Indikatoren mit vergleichenden „benchmarks“ führen. – Befürworter der oK im Konvent waren vor allem südeuropäische und sozialdemokratische Konventsmitglieder, die hiermit einen ersten Einstieg in die Europäisierung bisher nationaler Tätigkeitsbereiche wie beispielsweise der Sozialpolitik anstreben. Abgelehnt wurde die Konstitutionalisierung der oK von wirtschaftsliberaler Seite und Mitgliedern, die eine Aufweichung der Kompetenzordnung mit finanziellen Auswirkungen befürchten.

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rufen, Initiativen für den Erlaß von Leitlinien mit Indikatoren vorzulegen. Es wird abzuwarten bleiben, ob auf diesem Wege im Sinne der Urheber allmähliche finanzrelevante Aufweichungen der Kompetenzordnung in diesen Sektoren erfolgen. Nach vergleichbaren Erfahrungen bei der europäischen Beschäftigungspolitik dürfte sicher sein, daß die oK als erstes hohen bürokratischen Aufwand auf europäischer Ebene nach sich ziehen wird85. b) Solidaritätsklausel Unter dem Eindruck weltweiter terroristischer Bedrohungen nach dem 11.9.2001 und wiederholter Naturkatastrophen wie des Hochwassers in Tschechien, Polen und Ostdeutschland 2002 hat der Entwurf eine Solidaritätsklausel aufgenommen (Art. I-42 i.V. mit Art. III-231). Die Union „mobilisiert alle . . . Mittel, einschließlich . . . militärischer“, um solche Gefahren abzuwenden und solidarische Hilfe zu leisten. Rechtsgrundlage ist ein Europäischer Beschluß des MR aufgrund gemeinsamen Vorschlages der Kommission und des Außenministers86. c) Verstärkte Zusammenarbeit Je mehr Mitgliedstaaten der Union angehören, umso wichtiger wird die Möglichkeit, daß eine stärker integrationswillige Gruppe von Mitgliedstaaten („Pioniergruppe“) die Möglichkeit erhält, im Rahmen der Verfassung voran- j 1240 zuschreiten, ohne den übrigen Mitgliedstaaten den Weg zum späteren Beitritt zu verbauen. In der Sozialpolitik und vor allem in Gestalt der EURO-Gruppe ist dieses „Europa à la carte“ schon Wirklichkeit geworden. Art. 43 ff. EU-Vertrag und Art. 11, 11a EGV kannten bereits ein Verfahren verstärkter Zusammenarbeit, ohne daß es bisher Anwendung gefunden hätte. Der Verfassungsentwurf hat in Art. I-43 i.V. mit Art. III-322 bis III-329 dieses Verfahren im wesentlichen übernommen und zu erleichtern gesucht. Mindestens ein Drittel der EU-Staaten (bei 25 also 9 Mitglieder) können bei der Kommission einen Antrag auf verstärkte Zusammenarbeit stellen. Die Ermächtigung wird durch Europäischen Beschluß des MR auf Vorschlag der Kommission und nach Billigung des EP erteilt87. Die „Pioniergruppe“ kann anschlie84 Art. III-107, Art. III-148, Art. III-179 und Art. III-181. Die Ergänzung des Entwurfs in der letzten Minute ging auf den Vizepräsidenten des Konvents Amato zurück, der gleichzeitig der sozialdemokratischen Gruppe im Konvent vorstand. Die Aktion gehört nicht zu den Ruhmesblättern der Konventsleitung durch das Präsidium. 85 Vgl. das Urteil bei Steinle, Europäische Beschäftigungspolitik, 2001, 422 ff. 86 Durch die neu geschaffene Rechtsgrundlage des Art. III-231 entfällt künftig die Inanspruchnahme der Flexibilitätsklausel (früher Art. 308 EGV), wie zuletzt bei der Flutkatastrophe in Mittelosteuropa 2002.

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ßend eigene Rechtsakte im MR annehmen, wobei sich die Einstimmigkeit bzw. die qualifizierte Mehrheit bei der Beschlußfassung in diesem engeren Rahmen berechnen88. Die Inhalte der verstärkten Zusammenarbeit müssen mit der Verfassung und dem Recht der Union in Einklang stehen. Die verstärkte Zusammenarbeit steht allen Mitgliedstaaten offen. 6. Das demokratische Leben der Union

Die Forderungen nach stärkerer Demokratisierung und Bürgernähe der EG und EU sind so alt wie die europäische Integration. Die Erklärung von Laeken hatte sie dem Konvent ein weiteres Mal gestellt („Demokratische Herausforderung Europas“). Der Verfassungsentwurf hat dies mit der Stärkung des EP im Gesetzgebungsverfahren und beim Budgetrecht aufgegriffen. Darüber hinaus legt ein besonderer Titel VI (Art. I-44 bis I-51) Regeln für das „demokratische Leben der Union“ fest. Hier mischen sich Grundsätze der repräsentativen mit der unmittelbaren („partizipatorischen“) Demokratie. Hinzu treten weitere „bürgerfreundliche“ Regelungen sowie in einer hier etwas „gewaltsamen“ Einordnung die Anerkennung der religiösen und weltanschaulichen Gemeinschaften durch die Union. a) Repräsentative und unmittelbare („partizipatorische“) Demokratie Art. I-44 bis I-47 suchen wenig strukturiert das Demokratieverständnis der Union näher zu bestimmen. Zunächst wird der Grundsatz der Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger als demokratisches Grundmerkmal betont (Art. I-44)89. Die Arbeitsweise der Union beruht auf dem Grundsatz der repräsentativen Demokratie (Art. I-45 (1)). Sie verwirklicht sich in doppelter Weise: durch die unmittelbare Vertretung der Bürger im EP und ebenso mittelbar, indem die Regierungen der Mitgliedstaaten im ER und MR ihrerseits zu Hause parlamenta87 Bei verstärkter Zusammenarbeit in der GASP wird der Antrag an den MR gestellt, der die Kommission und den Außenminister einschaltet und das EP unterrichtet. Die Ermächtigung wird durch Beschluß des MR erteilt (Art. III-325 (2)). 88 Bei einstimmigen und anderen besonderen Gesetzgebungsverfahren ermöglichen zwei „Passerelles“ mittels einstimmigen Beschlusses der „Pioniergruppe“ im Rat den Übergang zur qualifizierten Mehrheit (Art. III-328). 89 Der Gleichheitsgrundsatz wird nicht auf die politische Gleichheit beschränkt. Die Union achtet ihn vielmehr „in ihrem gesamten Handeln“. Hier klingt das auch an anderen Stellen (z. B. Art. I-3 (3), Art. II-21, Art. III-2 bis 3, Art. III-7 bis III-8) der Verfassung betonte Verständnis einer weit in den gesellschaftlichen Raum reichenden Nichtdiskriminierung an.

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risch legitimiert sind90. Die Bedeutung der politischen Parteien auf europäischer Ebene wird wie in Art. 191 EGV hervorgehoben. Gleichzeitig spricht sich der Entwurf deutlich für Elemente unmittelbarer („partizipativer“) Demokratie aus. Das gilt für die Teilnahme aller Bürgerinnen und Bürger am demokratischen Leben der Union und für die Offenheit und Bürgernähe der zu treffenden Entscheidungen (Art. I-45 (3)). Hierzu gehören „umfangreiche Anhörungen“ von Betroffenen durch die Kommission. Ebenso wird der ständige Dialog der Unionsorgane mit repräsentativen Verbänden einschließlich des sozialen Dialogs sowie mit der Zivilgesellschaft betont. Eine Neuerung stellt die Einführung eines europäischen Bürgerbegehrens dar. Mindestens eine Million Bürger aus einer erheblichen Zahl von Mitgliedstaaten kann die Kommission zu Vorschlägen für bestimmte Rechtsakte auffordern (Art. I-46 (4))91. Der Verwirklichung von Demokratie und Bürgernähe dienen in Übernahme und Erweiterung der EG-Regelungen die Einrichtung des Europäischen Bürgerbeauftragten sowie die Verankerung des Transparenzgebotes und des Datenschutzes bei der Tätigkeit der EU (Art. I-48 bis I-50). b) Achtung des Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften Der Entwurf begründet ein positives Verhältnis der Union zu den Kirchen und sonstigen religiösen oder weltanschaulichen Gemeinschaften. Die rechtlich unverbindliche Kirchenerklärung des Amsterdamer Vertrages wird in erweiterter Form in die Verfassung übernommen (Art. I-51). Die Union achtet den nationalen Status der Kirchen und Gemeinschaften und tritt in Anerkennung ihres Beitrages in einen regelmäßigen Dialog mit ihnen ein92. j 90 Hier wird erneut die bereits aus Art. I-1 ablesbare doppelte Legitimation der Union durch das integrierte und das nationale Europa angesprochen. Sie fand in mehrfachen mündlichen Erläuterungen von Giscard d’Estaing während der Konventsverhandlungen Ausdruck und entspricht dem französischen Verfassungsverständnis vom Verhältnis des nationalen zum supranationalen Recht (Art. 88-1 bis 88-4 französische Verfassung i. d. F. von 1992). 91 Die Einfügung des Bürgerbegehrens erfolgte aufgrund des Antrages einer sehr großen Zahl von Konventsmitgliedern, vornehmlich der sozialdemokratischen politischen Familie. In der vorsichtigen Gestalt des Art. I-46 (4) stellt das Bürgerbegehren eine nützliche Parallele zum Aufforderungsrecht des Ministerrates an die Kommission zur Vorlage von Vorschlägen nach Art. III-248 dar. Die Entscheidungsfreiheit der Kommission bleibt in beiden Fällen gewahrt. 92 Art. I-51 stellt angesichts des traditionellen Mißtrauens starker laizistischer Kräfte in West- und Südeuropa gegen kirchliche Ingerenz im öffentlichen Raum ein bemerkenswertes Bekenntnis der Verfassung zum Geist freundschaftlicher Staat-Kirchen-Kooperation im deutschen Sinne dar. In der Praxis ist die Einrichtung eines stän-

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7. Die Finanzen der Union

Die Finanzordnung der Union stellt sich in Art. I-52 bis I-55 i.V. mit Art. III308 bis III-321 als eine klarstellende Fortentwicklung der EG-Regelungen dar. Die Stellung des EP wird gestärkt. a) Finanzmittel der Union und mehrjähriger Finanzrahmen Wie bisher wird der Union als eigenständigem Staatenverbund weitgehende finanzielle Autonomie garantiert. Die Union stattet sich mit den Mitteln aus, die zur Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlich sind und finanziert ihren Haushalt vollständig aus Eigenmitteln93. Letztlich liegt die Einnahmehoheit über die der Union zur Verfügung zu stellenden Finanzmittel jedoch weiter bei den Mitgliedstaaten. Die Obergrenze der Finanzmittel wird ähnlich wie in Art. 269 Abs. 2 EGV in einem Europäischen Gesetz des Ministerrates einstimmig nach Anhörung des EP festgelegt (Art. I53 (3)). Das Gesetz bedarf der parlamentarischen Ratifikation in den Mitgliedstaaten. In dem Gesetz können neue Mittelkategorien eingeführt und bestehende abgeschafft werden94. Die „Modalitäten“ der Finanzmittel der Union können durch Europäisches Gesetz des MRes nach Zustimmung des EP geregelt werden (Art. I-53 (4)). Hiernach wären Umschichtungen innerhalb der Eigenmittel z. B. zwischen dem EU-Mehrwertsteueranteil und den Mitteln aufgrund des Bruttosozialproduktes mit Mehrheitsentscheidung möglich95. Eine sinnvolle Neuerung ist die Aufnahme des mehrjährigen (mindestens fünfjährigen) Finanzrahmens in die Verfassung (Art. I-54 i.V. mit Art. III-308)96. In digen Dialogs mit der Union für die Kirchen von höherer Bedeutung als „ideelle“ Aussagen in der Präambel. 93 Für die gleichlautenden Art. 6 (4) EU-Vertrag und Art. 269 (1) EGV ist anerkannt, daß es sich dabei nicht um eine „Finanzsouveränität“ der EU handelt, sondern um die Zuweisung der zur Aufgabenerfüllung notwendigen Eigenmittel über die im Rat handelnden Mitgliedstaaten, vgl. etwa Oppermann, Europarecht, 2. Aufl. 1999, S. 307. 94 Damit ist die Einführung von Unionssteuern grundsätzlich möglich. Die Hürde liegt mit der nötigen Zustimmung von 25 Regierungen und Parlamenten sehr hoch. Bereits auf der Grundlage des EG-Vertrages wäre die Einführung von Gemeinschaftssteuern nach vorherrschender Auffassung in gleicher Weise zulässig gewesen. 95 Die Regelung des Art. I-53 (4) erweckt Misstrauen bei „EU-Nettozahlern“ wie Deutschland, weil derartige Umschichtungen möglicherweise zu ihren Lasten gehen. Andererseits könnte auf diese Weise der spätestens mit dem Beitritt der zehn neuen Mitgliedstaaten anachronistisch gewordene „Rabatt“ Großbritanniens bei den EU-Einnahmen zu Lasten der übrigen Mitglieder ein Ende finden. 96 Bisher erfolgte diese Vorprogrammierung der EU-Ausgaben durch interinstitutionelle Vereinbarungen zwischen Rat, EP und Kommission.

1241

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ihm werden innerhalb der Grenzen der Eigenmittel die jährlichen Obergrenzen je Ausgabenkategorie und für Zahlungen festgelegt. Der mehrjährige Finanzrahmen sichert auf diese Weise die Haushaltsdisziplin. Der Finanzrahmen wird mit Gesetz des MRes nach Zustimmung des EP festgelegt (Art. I-54 (2))97. b) Haushalt der Europäischen Union Die Haushaltsregeln der Art. 268 ff. EGV sind in Art. I-52, Art. I-55 i.V. mit Art. III-309 ff. weitestgehend übernommen worden. Der jährliche Haushaltsplan wird vom EP und vom MR gemeinsam unter Beachtung der Haushaltsprinzipien durch Europäisches Gesetz festgestellt. Dabei kann sich das EP im Konfliktfall nach einem längeren Vermittlungsverfahren gegenüber dem MR durchsetzen (Art. III-310 (8)).98 Obligatorische und nichtobligatorische Ausgaben werden künftig im Haushaltsverfahren zugunsten der Rechte des EP gleich behandelt. Haushaltsausgaben dürfen nur getätigt werden, wenn sie zugunsten einer Rechtsgrundlage in Gestalt eines verbindlichen Rechtsaktes erfolgen (Art. I-52 (4)). c) Betrugsbekämpfung Zur Bekämpfung von Betrug im Zusammenhang mit dem EU-Haushalt übernimmt Art. III-321 die bisherige Regelung des Art. 280 EGV. Durch die intensivierte Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (Art. III171 ff., Art. III-176 ff.) im Rahmen der Schaffung des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts wird eine verbesserte Betrugsbekämpfung erhofft99. 8. Zugehörigkeit zur Union – Die Union und ihre Nachbarn

Mit der Erweiterung der Union von 15 auf 25 Mitgliedstaaten bis 2004 stellt sich immer deutlicher die Frage, wo letztlich die Grenzen der EU liegen. Der Verfassungsentwurf regelt in diesem Zusammenhang das Beitrittsverfahren und mögliche „besondere Beziehungen“ zu den nahen Nachbarn der Union.

97 Der erste mehrjährige Finanzrahmen nach Inkrafttreten der Verfassung (voraussichtlich für 2007–2012) wird im MR einstimmig festgelegt (Art. I-54 (4)). Dies war Spanien in Nizza zugestanden worden, das um die künftige Höhe seiner EU-Strukturmittel nach der Osterweiterung fürchtet. 98 Für die EU-Finanzordnung gilt die Faustformel: Herr der Einnahmen ist der Ministerrat, Herr der Ausgaben (in den Grenzen des mehrjährigen Finanzrahmens) ist das Parlament. 99 Vgl. oben Anm. 82.

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Auf der anderen Seite steht die Aussetzung der Unionsrechte wegen schwerwiegender Verletzung der Werte der EU durch einen Mitgliedstaat und das nunmehr ausdrücklich anerkannte freiwillige Austrittsrecht aus der Union. a) Beitritt zur Union Wie bisher steht die Union allen europäischen Staaten offen, die ihre in Art. I-2 definierten Werte achten und ihnen Geltung verschaffen (Art I-1 (2), Art. I-57)100. Das Beitrittsverfahren wird in Art. I-57 (2) ähnlich wie in Art. 49 EU-Vertrag geregelt. Neue Beitritte bedürfen weiterhin der ratifizierten Zustimmung aller Mitgliedstaaten. b) Beziehungen der Union zu ihren Nachbarn Die Union von 25 Mitgliedstaaten ab 2004 mit 450 Millionen Bürgern kann sich auf dem Balkan (Bulgarien, Rumä- j nien, jugoslawische Nachfolgestaaten) 1242 in absehbarer Zeit auf 30 und mehr Mitglieder und ungefähr 500 Millionen Einwohner erweitern. Island, Norwegen und die Schweiz bleiben potenzielle Beitrittsstaaten. Die Türkei ist bereits Beitrittskandidat und hat als solcher wie Bulgarien und Rumänien am Konvent teilgenommen. Geographisch reicht Europa vom Atlantik bis zum Ural und umfaßt damit die Ukraine101, Weißrußland und größere Teile Rußlands. Unabhängig von der Achtung der europäischen Werte setzen Wirtschaft und Demographie der Beitrittsfähigkeit der EU Grenzen. Dinosaurier sterben an ihrer schieren Größe. Der Verfassungsentwurf sieht unter diesem Blickwinkel spezielle Abkommen der Union mit ihren Nachbarn zur Begründung guter Beziehungen im Geiste der Werte der Union vor (Art. I-56 i.V. mit Art. III-227)102. Sie sind als neue Form dauerhafter Assoziierung ohne Beitrittsperspektive zu verstehen. c) Aussetzung der mit der Zugehörigkeit zur Union verbundenen Rechte Art. I-58 übernimmt weitgehend die erst in Nizza revidierte Regelung des Art. 7 EUV, wonach einem Mitgliedstaat, der fundamentale Werte der Union 100

Damit wird auf den „Kopenhagener Kriterienkatalog“ von 1993 Bezug genom-

men. 101

In geographischer Sicht liegt die Mitte Europas in den ukrainischen Westkarpaten. Gedacht ist neben „entfernteren“ europäischen Staaten insbesondere an den Mittelmeerraum. 102

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schwerwiegend verletzt, in einem geordneten Verfahren bestimmte Rechte einschließlich der Stimmrechte im Ministerrat zeitweilig entzogen werden können. Der dubiose „Fall Österreich 2000“, der außerhalb des EUV/EGV ablief, hatte die Notwendigkeit klarer Voraussetzungen und Verfahrensregeln für eine solche Aussetzung unterstrichen103. d) Freiwilliger Austritt aus der Union Der Verfassungsentwurf begründet in Art. I-59 ein ausdrückliches Recht jedes Mitgliedstaates, aus der EU auszutreten. Er teilt dies dem Europäischen Rat mit, worauf ein Austrittsabkommen zwischen der EU und dem austrittswilligen Staat ausgehandelt wird. Kommt dieses Abkommen nicht zustande, wird der Austritt zwei Jahre nach der Mitteilung an den ER wirksam. Wiedereintritt in die Union ist nur über ein neues Beitrittsverfahren nach Art. I-57 möglich. Nach völkerrechtlichen Grundsätzen war nach vorherrschender Meinung schon bisher der Austritt aus der nichtstaatlichen EU möglich104. Art. I-57 soll nicht Austrittswilligkeit fördern, sondern vor allem den neuen EU-Staaten ihren Entschluß zum Beitritt erleichtern, indem verdeutlicht wird, daß sie nicht in ein „Völkergefängnis“ eintreten. Solange Art. I-57 gilt, ist der Übergang der EU in einen „ewigen“ Bundesstaat verfassungsmäßig verschlossen. Andererseits gilt der Verfassungsvertrag wie bisher auf unbegrenzte Zeit (Art. IV-9). Die EU wandelt sich nicht in eine Internationale Organisation, sondern bleibt staatsnaher, intensiver Staatenverbund105. IV. Teil II des Verfassungsentwurfs (Charta der Grundrechte der Union) Nach dem Mandat von Nizza sollte der Konvent die Frage des „Status“ der vom ersten „Herzog“-Konvent 2000 verabschiedeten und vom Europäischen Rat in Nizza am 7.12.2000 ohne Rechtsverbindlichkeit „feierlich verkündeten“ Grundrechte-Charta regeln. Der Inhalt der Charta sollte unberührt bleiben.

103 Schorkopf, Verletzt Österreich die Homogenität in der EU?, DVBl. 2000, 1036 ff. 104 Vgl. oben Anm. 19. – BVerfGE 89, 204 – „Maastricht“ reklamierte ein Austrittsrecht Deutschlands bei einem „Scheitern der Stabilitätsgemeinschaft“. 105 Der Gedanke eines förmlichen Austrittsrechtes entstammte dem Vorentwurf des Konventspräsidiums vom 28.10.2002 (CONV 369/02). Er begegnete zunächst heftigem Widerstand der „Integrationisten“, fand jedoch mehr und mehr Akzeptanz im Plenum des Konvents.

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1. Integration der Grundrechte-Charta in die Verfassung

In diesem Sinne übernimmt der Verfassungsentwurf die Charta grundsätzlich unverändert als Teil II der Verfassung (Art. I-7 (1)). Sie hat damit verbindlichen Verfassungsrang. Diese Positionierung war ein Kompromiß zwischen der britischen Forderung, die Charta außerhalb der Verfassung in einem rechtsverbindlichen Protokoll zu verankern, und anderen, insbesondere deutschen Auffassungen, sie als „Heiligtum“ der Verfassung wie im Grundgesetz an den Anfang zu stellen106. 2. Einzelne Anpassungen

Die Präambel und die 54 Artikel der Charta werden grundsätzlich textgleich in den Verfassungsentwurf übernommen107. Die EU-Verfassung enthält auf diese Weise als Besonderheit zwei Präambeln. Auf britisches Verlangen wurde in den 4. Absatz der Präambel ein deklaratorischer Hinweis auf die „gebührende Berücksichtigung“ der Erläuterungen des Präsidiums des Herzog-Konvents bei der Auslegung der Charta durch die nationale und europäische Gerichtsbarkeit aufgenommen108. j Art. II-51 verdeutlicht über den ursprünglichen Text der Charta hinaus, daß 1243 die Charta die Grenzen der Zuständigkeiten der Union achtet und den Geltungsbereich des Unionsrechts nicht über diese Zuständigkeiten hinaus ausdehnt109.

106 Die Grundrechte finden damit im Entwurf eine ähnliche Platzierung wie 1919 in der Weimarer Reichsverfassung. – Die britische Zurückhaltung ist vor dem Hintergrund einer beeindruckenden jahrhundertelangen Rechtsstaatlichkeit ohne geschriebene Grund- und Menschenrechte nicht unverständlich. Großbritannien hatte sich erst 1998 nach knapp 50 Jahren durchgerungen, die Straßburger EMRK mit dem Human Rights Act gesetzlich zu verankern. Wenig darauf verlangen die merkwürdigen Kontinentaleuropäer die Übernahme eines weiteren voluminösen Grundrechtekataloges! – Um die Integration der Grundrechte-Charta in den Verfassungsentwurf haben sich besonders das portugiesische Kommissions- und Konventsmitglied Vitorino und von deutscher Seite J. Meyer verdient gemacht. 107 Auf den Inhalt der Charta wird hier nicht näher eingegangen. Inzwischen eingehend J. Meyer (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der EU, 2003, m. w. N. 108 Damit soll englischer Rechtsanwendungstradition Rechnung getragen werden. Text der Erläuterungen, die in eigener Verantwortung des Präsidiums formuliert wurden und keine unmittelbare Rechtswirkung haben, in CONV 828/1/03 REV 1 vom 18.7.2003. 109 Diese Bestimmungen möchten potenzieller weiterer Rechtsprechung des Gerichtshofes entgegentreten, welche die Grundrechte als Einfallstore für Kompetenzerweiterungen der Union verwenden wollte. Als „abschreckendes Beispiel“ gilt insbesondere die Erstreckung des EG-Diskriminierungsverbotes auf den nationalen Verteidigungsbereich in EuGHE 2000, 1-69 ff., Rs. C-285/98 „Tanja Kreil“ (Dienst mit der Waffe in der Bundeswehr auch für Frauen).

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Art. II-52 (4)–(5) enthält in Verbindung mit Art. I-7 (3) Verdeutlichungen zu Grundrechten, die sich aus gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben sowie zur näheren Umsetzung von „Grundsätzen“ der Charta. Mit der Integration der inhaltsreichen Grundrechte-Charta in die Verfassung, der Bedeutung der Straßburger EMRK für das Unionsrecht110 und mit dem Verständnis der europäischen Grundrechte als ungeschriebene gemeinsame Verfassungsüberlieferungen verfügt die EU über einen überaus reichhaltigen „Grundrechteschatz“. Rechtsetzung und Rechtsprechung bleiben ständig herausgefordert, diese vielgestaltigen Rechtsgrundlagen praktikabel anzuwenden. V. Teil III des Verfassungsentwurfs (Politikbereiche und Arbeitsweise der Union) Teil III des Entwurfs fällt aus dem Rahmen der „eigentlichen Verfassung“ der Teile I, II und IV. Er enthält 342 der insgesamt 465 Artikel des Entwurfs. Teil III war unvermeidlich, da die Handlungsmöglichkeiten der Union mit Rücksicht auf das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. I-9 (1)) wie im EGVertrag in den Politikbereichen im Einzelnen festgelegt werden mußten. Die Kompetenzordnung der Verfassung stellt sich insgesamt als Zusammenspiel zwischen den Leges Generales et Speziales der Teile I und III dar. Hier können nur knappe Hinweise auf den Inhalt des Teiles III gegeben werden. 1. Übernahme der Politikbereiche des EG-Vertrages

Gemäß dem Mandat von Nizza, die Verträge zu vereinfachen, ohne sie inhaltlich zu ändern, besteht Teil III zu einem erheblichen Teil aus wörtlichen Übernahmen des EG-Vertrages, gelegentlich mit kleineren Änderungen, Ergänzungen und technischen Anpassungen aufgrund der neuen institutionellen, kompetenziellen und gesetzgeberischen Struktur des Teiles I. Das betrifft insbesondere die Regeln über die Freiheiten des Binnenmarktes (Art. III-14 bis III-49), die Wettbewerbsregeln (Art. III-50 bis III-58), die steuerlichen Vorschriften (Art. III-59 bis III-63), die Rechtsangleichung (Art. III-64 bis III-68), die Wirtschafts- und Währungspolitik, mit neuen Sonderregelungen für das Euro-Währungsgebiet (Art. III-69 bis III-96, Protokoll betr. die EuroGruppe), Beschäftigung und Sozialpolitik (Art. III-97 bis III-115), den wirtschaftlichen/sozialen/territorialen Zusammenhalt (Art. III-116 bis III-120), Landwirtschaft und Fischerei (Art. III-I21 bis III-128), Umwelt (Art. III-129 bis III-131), Verbraucherschutz (Art. III-132), Verkehr und Transeuropäische Netze 110

Nach Art. I-7 (2) strebt die Union den Beitritt zur EMRK an.

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(Art. III-133 bis III-145), Forschung, technologische Entwicklung und (neu!) Raumfahrt (Art. III-146 bis III-156), ferner als Ergänzungsmaßnahmen im Sinne von Art. I-16 das Gesundheitswesen (Art. III-179), die Industrie (Art. III180), die Kultur (Art. III-181), allgemeine und berufliche Bildung, Jugend und (neu!) Sport (Art. III-183) sowie die neuen Bereiche Katastrophenschutz (Art. III-184) und Verwaltungszusammenarbeit (Art. III-185).

2. Wesentliche Neuregelungen in Teil III

Der Konvent hat vor allem durch die Integration des 2. und 3. Pfeilers des Maastrichter EU-Vertrages in die Verfassung, aber in großzügiger Auslegung des Nizza-Mandates auch an einigen anderen Stellen in Teil III wichtige Neuregelungen vorgenommen. Teilweise geschah dies in formal und inhaltlich problematischer Weise erst in letzter Minute während des „Nachsitzens“ des Konvents in der ersten Julihälfte 2003. Teil III beginnt mit neuen „Allgemein anwendbaren Bestimmungen“ und einem Titel zu Nichtdiskriminierung und Unionsbürgerschaft. Die Union soll unter Einhaltung des Grundsatzes der begrenzten Einzelermächtigung auf Kohärenz zwischen der Politik in den einzelnen Bereichen und der Gesamtheit der Ziele der Union achten (Art. III-1). Nach Art. I-3 wird hier ein weiteres Mal die Bekämpfung der verschiedenen Formen der Diskriminierung innerhalb der Fachpolitiken angemahnt (Art. III-2 bis III-3, Art. III-7 bis 8). Die bereits in Art. I-8 verankerten Rechte aus der Unionsbürgerschaft werden weiter präzisiert (Art. III-9 bis III-13). – Im letzten Augenblick wurde vornehmlich auf französisches Betreiben in Art. III-6 eine neue Gesetzgebungskompetenz der Union zur Regelung der „Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“ (Daseinsvorsorge, Service Public) als Kontrapunkt zu den wettbewerblichen EU-Zuständigkeiten eingefügt. Einer der wichtigsten neuen Abschnitte in Teil III ist das ausführliche Kapitel über den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (Art. III-158 bis III178) mit Regelungen zu Grenzkontrollen, Asyl, Einwanderung, Justizieller Zusammenarbeit in Zivil- und Strafsachen und Polizeilicher Zusammenarbeit (einschließlich Eurojust, Europäischer Staatsanwaltschaft und Europol). – Die Integration des bisherigen dritten „Pfeilers“ des EU-Vertrages in die Verfassung ist weitgehend durchgeführt worden. Eine Neuregelung ist ebenso der besonders umfangreiche Titel über das Auswärtige Handeln der Union (Art. III-193 bis III-231, Erklärung über die Einrichtung eines Europäischen Auswärtigen Dienstes). Er regelt insbesondere die Gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die Gemeinsame Handelspolitik (in grundsätzlicher Übernahme der EG-Regeln), die Zusammenarbeit mit Drittländern und Humanitäre Hilfe und die j Vertragsschließungskom- 1244

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IV. Die europäische Verfassung

petenz der Union. Die Regelung zur Assoziierung der Überseeischen Länder und Hoheitsgebiete lehnt sich wiederum an den EG-Vertrag an (Art. III-186 bis III-192). Die Einbeziehung des „auswärtigen Pfeilers“ des EU-Vertrages in den Verfassungsvertrag erfolgt insgesamt eher wortreich als in der Sache. Die GASP bleibt weithin ein Sonderbereich der Verfassung. Zu den problematischen „Regelungen der letzten Minute“ in Teil III gehört die Aufnahme der Methode der Offenen Koordinierung in die Bereiche Soziales, Forschung und technologische Entwicklung, Gesundheit und Industrie (Art. III-107, Art. III-148, Art. III-179 und Art. III-181). Ebenso wurde spät und ohne vertiefte Diskussion im Konvent die geteilte Zuständigkeit für Energie (Art. I-13) in Teil III durch einen neuen Abschnitt über Energie (Art. III-157) mit europäischer Gesetzgebungskompetenz näher umschrieben. Die Kernenergie regelt sich weiterhin nach der Sonderregelung des EAG-Vertrages, der durch das Protokoll zur Änderung des Euratom-Vertrages an die Verfassung angepaßt wurde. Die vom Konvent zuletzt in Zeitnot in die Verfassung eingefügten Politikbereiche des Teiles III dürften in der späteren praktischen Anwendung mancherlei Probleme aufwerfen. Teil III enthält ferner unter dem Titel „Arbeitsweise der Union“ (Art. III-232 bis III-342) ausführende Bestimmungen für die Grundnormen des Teiles I zu den Organen der Union, den Finanzvorschriften und der verstärkten Zusammenarbeit. Auf sie wurde bereits oben bei der Behandlung des Teiles I eingegangen. VI. Teil IV des Verfassungsentwurfs (Allgemeine und Schlußbestimmungen) Im letzten Teil enthält der Entwurf in 10 Artikeln die üblichen Abschlußregelungen. Wesentlich ist die Entscheidung, künftige Änderungen des Verfassungsvertrages weiterhin nach völkerrechtlichen Grundsätzen vorzunehmen und kaum zu autonomer „Verfassungsänderung“ überzugehen. 1. Abschlußregelungen

In Art. IV-1 werden mit Flagge (blau mit 12 goldenen Sternen), Hymne (Beethovens Ode an die Freude), Devise („In Vielfalt geeint“), Währung (EURO) und Europatag (9. Mai) die Symbole der Union in der Verfassung bestimmt111. 111 Die Aufnahme in Teil IV ist provisorisch. Der richtige Platz wäre in Teil I. Das Präsidium hatte die rechtzeitige Bestimmung der Symbole versäumt und holte dies am letzten Tag auf Verlangen der übergroßen Mehrheit im Konvent nach.

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Mit Inkrafttreten des Verfassungsvertrages werden der EU-Vertrag und der EG-Vertrag mit den primärrechtlichen Nebenbestimmungen aufgehoben (Art. IV2)112. Die neu gegründete Union tritt die Rechtsnachfolge der EG und der „alten“ Union an (Art. IV-3). Zum territorialen Geltungsbereich u. ä. und zur gleichermaßen verbindlichen Geltung der Verfassung in allen Unionssprachen werden die früheren Regelungen unter Berücksichtigung der neuen Beitritte fortgeschrieben (Art. IV-4 bis IV-6 und Art. IV-10). Der Vertrag über die Verfassung gilt auf unbegrenzte Zeit (Art. IV-9). 2. Ratifikation und künftige Änderungen des Verfassungsvertrages

Wie bisher bedarf der Verfassungsvertrag zum Inkrafttreten der Ratifikation durch alle Mitgliedstaaten (Art. IV-8)113. In einer „Erklärung für die Schlußakte“ wird die nicht unwahrscheinliche Situation ins Auge gefaßt, daß sich angesichts der notwendigen 25 parlamentarischen Zustimmungen und Referenden Schwierigkeiten beim Inkrafttreten der Verfassung ergeben können. Falls zwei Jahre nach der Unterzeichnung vier Fünftel der Mitgliedstaaten ratifiziert haben und bei anderen Schwierigkeiten aufgetreten sind, befaßt sich der Europäische Rat mit der Frage114. Entgegen mancherlei Forderungen im Konvent ist es bei der bisherigen völkerrechtlich geprägten Änderung des Verfassungsvertrages ähnlich Art. 48 EUVertrag geblieben (Art. IV-7). Sie erfährt allerdings eine „Parlamentarisierung“ im Sinne der Konventsmethode. Auch das EP kann dem Ministerrat künftig Änderungsentwürfe vorlegen. Die nationalen Parlamente werden in die Erörterung über diese Entwürfe einbezogen (Art. IV-7 (1)). Stimmt der ER mit einfacher Mehrheit der Prüfung einer Vertragsänderung zu, wird jedes Mal ein neuer Konvent zur Vorbereitung der Regierungskonferenz einberufen. Der Verzicht auf einen Konvent bedarf eines Beschlusses des ER und der Zustimmung des EP115.

112 Der EAG-Vertrag bleibt mit den meist technischen Revisionen im neuen Protokoll zur Änderung des Euratom-Vertrages gesondert bestehen. Es wurde dem Wunsch grüner und anderer Atomkritiker (u. a. Bundesaußenminister J. Fischer) stattgegeben, daß Mitgliedstaaten anders als unter der bisherigen Rechtslage den EAG-Vertrag kündigen können, ohne die Union verlassen zu müssen. 113 Nach Art. IV-8 (1) werden die Ratifikationsurkunden bei der italienischen Regierung hinterlegt. Damit sollte die Bezeichnung der Verfassung als „Zweiter Römischer Vertrag“ (nach dem EWG-Vertrag 1957) gesichert sein, selbst wenn die Unterzeichnung nicht in Rom stattfinden sollte. 114 Eine vollständige Ratifikation durch alle 25 Mitgliedstaaten ist nicht nur politisch, sondern auch juristisch sehr wichtig. Anderenfalls ergeben sich schier unlösbare Probleme mit Blick auf die (partielle oder allgemeine?) Fortgeltung des EU-Vertrages und EG-Vertrages sowie für das Inkrafttreten der Vertragsverfassung.

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IV. Die europäische Verfassung

Die künftigen Konvente geben wie schon 2003 im Konsensverfahren Empfehlungen über die ihres Erachtens wünschenswerten Vertragsänderungen für die anschließende Regierungskonferenz ab. Diese leitet das abschließende völkerrechtliche Verfahren ein. j 1245

Sollte sich die Konventsmethode beim Inkrafttreten des Verfassungsvertrages 2003/2004 bewähren, dürfte die Einschaltung von Konventen bei jeder substantiellen künftigen Vertragsänderung gesichert sein. Im übrigen sieht der Verfassungsvertrag an einigen Stellen (vgl. besonders Art. I-24 (4)) die Möglichkeit erleichterter autonomer Vertragsänderungen durch sog. „Passerelles“ vor, d. h. mittels einstimmigen Beschlusses des Europäischen Rates, gegebenenfalls unter Anhörung oder Unterrichtung des EP und der nationalen Parlamente116. Je mehr Mitglieder die künftige Union umfaßt, desto schwieriger wird in der Praxis künftig die Vertragsänderung werden. Es ist von wesentlicher Bedeutung für die Zukunft der Union, daß der Verfassungsvertrag 2003/2004 Lösungen enthält, die sich über einen längeren Zeitraum als praktikabel erweisen. VII. Bewertung und Inkraftsetzen des Verfassungsentwurfes des Konvents 1. Bewertung

Der Konvent verabschiedete den Entwurf der Vertragsverfassung am 13.6. und 10.7.2003 im „Konsens“117. Die ersten offiziellen Reaktionen anläßlich der Vorlage des Verfassungsentwurfes auf dem Europäischen Rat von Thessaloniki am 20.6.2003 und nach der Übergabe des gesamten Textes an die italienische Ratspräsidentschaft am 18.7.2003 waren grundsätzlich positiv118. Es wurde gewürdigt, daß der Konvent die Kraft zu einem mit sehr großer Mehrheit verabschiedeten Text gefunden hatte und nicht in „Optionen“ auseinandergefallen war. Wenngleich für viele Mitglieder und anschließende Beobachter in den Mitgliedstaaten Wünsche – oft gewichtiger Natur – offengeblieben waren, überwog in den Stellungnahmen die Warnung davor, das „Verfassungs115 Mit diesen Stärkungen des EP im Vertragsänderungsverfahren wurden die „Integrationisten“ zufriedengestellt, die eine noch stärkere Positionierung künftiger Konvente gegenüber der Regierungskonferenz angestrebt hatten. 116 Zur verfassungsrechtlichen Problematik mancher Passerelles vgl. oben Anm. 58. Bis einschließlich Nizza sind sie noch niemals praktiziert worden. Im Falle der Einmütigkeit im Rat bietet sich jeweils das normale Vertragsänderungsverfahren an. 117 Vgl. oben I. 2. b). 118 Giscard d’Estaing charakterisierte das Werk des Konvents in seiner Abschlußrede als „nicht vollkommen, aber unverhofft“.

Eine Verfassung für die Europäische Union

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paket“ auf der Regierungskonferenz wieder „aufzuschnüren“, weil damit die gesamte Verfassungsdiskussion wieder von vorne beginnen könne119. Der Verfassungsentwurf des Konvents dürfte dem Mandat von Nizza und Laeken ungefähr gerecht geworden sein. Die neue EU erhält unter Auflösung der Drei-Pfeiler-Struktur von Maastricht eine einheitliche Rechtspersönlichkeit und ein teilweise neuartiges Profil eines staatsnahen, weiter ausbaufähigen Staatenverbundes. Die Handlungsfähigkeit und demokratische Legitimation der künftigen Union von 25 und bald mehr Mitgliedstaaten wird durch die Stärkung des Parlamentes und ebenso des Europäischen Rates und die Reform des Ministerrates verbessert. Gleiches gilt ab 2009 für die Regelentscheidung im Ministerrat mit der neuen, vereinfachten qualifizierten Mehrheit und für die durch Verkleinerung aktionsfähigere Kommission. Die Aufnahme der Grundrechtecharta in die Verfassung dient der Bürgernähe. Der Einstieg in eine klare Kompetenzordnung mit wirksamer Subsidiaritätskontrolle wird halbwegs vollzogen. Teil I der Verfassung ist im Vergleich zum EG-Vertrag in vielen Einzelheiten einfacher und verständlicher gestaltet. Daneben stehen freilich mancherlei Unvollkommenheiten und Ungereimtheiten des Entwurfs, insbesondere in dem zuletzt mit heißer Nadel genähten Teil III. Besonders bei der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ist nur geringer Fortschritt zu verzeichnen. Insgesamt besteht aber Hoffnung, daß der Entwurf die Union für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts besser gerüstet hat. 2. Der Weg zum Inkrafttreten des Verfassungsvertrages

Die weiteren Schritte der „Verfassunggebung“ der EU sind vorgezeichnet. In der ab Oktober 2003 beginnenden Regierungskonferenz soll der Konventsentwurf unter italienischem und möglicherweise ab 1.1.2004 irischem Vorsitz zur Unterschriftsreife gebracht werden. Der Erfolg der Konferenz wird von der Disziplin der beteiligten Regierungen abhängen, den Verfassungsentwurf nicht wesentlich neu zu verhandeln. Jeder EU-Staat wird über eine Liste von „Essentials“ zur Änderung oder Ergänzung des Entwurfs verfügen. Wenn in der Regierungskonferenz nicht ein allseitiger Verzicht auf diese Forderungen erreicht werden kann, könnte der Erfolg der Konferenz langwierig und ungewiß werden. 119 In Deutschland war dies der offizielle Tenor sowohl auf Bundesebene als auch bei der Mehrheit der Bundesländer und in den meisten Äußerungen aus der Zivilgesellschaft. Weitergehende Änderungen des Entwurfs werden vor allem in Stellungnahmen aus Bayern für notwendig gehalten. Auch in konsequent neoliberalen Wirtschaftskreisen wird Kritik an den vielerlei wirtschaftspolitischen Kompromissen des Entwurfs artikuliert. Äußerungen aus anderen EU-Staaten gehen in ähnlich positive Richtung, mit Ausnahme euroskeptischer Ablehnungen vor allem von konservativer britischer Seite. Vgl. bereits oben Anm. 14.

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IV. Die europäische Verfassung

Die Unterzeichnung des endgültigen Textes des Verfassungsvertrages ist nach dem 1.5.2004 vorgesehen, wenn die 10 Beitrittsstaaten der Athener Verträge vom 16.4.2003 Vollmitglieder geworden sind und als solche ihre Unterschrift leisten120. Für den anschließenden Prozeß der Ratifikation in den nationalen Parlamenten beziehungsweise durch Referenden in verschiedenen Staaten wer1246 den mindestens zwei Jahre veranschlagt121. Bei problemlosem j Verlauf könnte der Verfassungsvertrag ungefähr Mitte 2006 in Kraft treten. Es liegen jedoch manche Stolpersteine auf diesem Wege. Wem daran gelegen ist, daß die neue gesamteuropäische Union fähig wird, im 21. Jahrhundert nach innen Frieden und Wohlstand in einer subsidiär gestalteten Verfassungsstruktur zu sichern und weltpolitisch den ihr zustehenden Rang einzunehmen, muß hoffen, daß die Entscheidungsträger in den Mitgliedstaaten Europa rechtzeitig in gute Verfassung bringen.

120

Es gibt Vorschläge, die Zeremonie der Unterzeichnung zum „Europatag“ des 9.5.2004 in Rom vorzunehmen. 121 In Deutschland würde die Ratifikation eines Verfassungsvertrages im Sinne des Konventsentwurfes nach allgemeiner Auffassung wegen der Neugründung der Union unter substanzieller Änderung der bisherigen Rechtsgrundlagen nach Art. 23 (1) i.V. mit Art. 79 (2) GG der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates bedürfen. Ein gelegentlich gefordertes Referendum über die neue europäische Verfassung würde eine Änderung des Grundgesetzes voraussetzen, die unwahrscheinlich ist. – Vgl. auch F. C. Mayer, Ein Referendum über die Europäische Verfassung?, EuZW 2003, 321.

Europäischer Verfassungskonvent und Regierungskonferenz 2002–2004* Zur „gemischten“ Entstehung der Europäischen Verfassung 2004 Schilderung der „Konventsmethode“, mittels deren der EU-Verfassungsentwurf vom 29.10.2004 im parlamentarisch-gouvernementalen Zusammenspiel in Konvent und Regierungskonferenz 2002–2004 zustande kam.

Am 29.10.2004 wird in Rom der „Vertrag über eine Verfassung für Europa“ von den Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union unterzeichnet. Die Europäische Verfassung 2004 ist das gemeinsame Werk des 2002–2003 in Brüssel tagenden Europäischen Verfassungskonvents und der 2003–2004 anschließenden EU-Regierungskonferenz. Der Beitrag schildert diesen „gemischten“ Verfassungsprozess, insbesondere die Arbeit des Konvents, auf den über 90% des Verfassungstextes zurückgehen. Ferner wird die „Konventsmethode“ im Zusammenspiel zwischen Konvent und Regierungskonferenz beleuchtet. I. Der Weg des Verfassungsprozesses 1. Von Nizza über Laeken von Brüssel nach Rom

Am 18.7.2003 übergab Valéry Giscard d’Estaing als Präsident des „Konvents zur Zukunft Europas“ (meist Europäischer Verfassungskonvent genannt) der italienischen Ratspräsidentschaft in Rom den Entwurf für einen „Vertrag über eine Verfassung für Europa“. Er war im Konvent, der seine Arbeiten am 28.2.2002 in Brüssel aufgenommen hatte, im Konsens verabschiedet worden. Der Konvent hatte damit das Mandat erfüllt, welches ihm die Regierungskonferenz von Nizza und der Europäische Rat von Laeken 2001 auf den Weg gegeben hatten. Mitte 2003 bestand gute Hoffnung, daß die von Italien geleitete Regierungskonferenz den Konventsentwurf mit den ihrerseits erforderlichen Änderungen bis zum Jahresende verabschieden könnte. Diese Erwartung hat bekanntlich getrogen. Zunächst scheiterte die Regierungskonferenz am 13.12.2003 in Brüssel vor allem am Widerstand Polens und Spaniens an einigen hochpolitischen Fra-

* Dieser Beitrag (erstmals erschienen in: DVBl. 2004, 1264–1271) bildet eine Fortsetzung der beiden vorherigen Beiträge; siehe insbesondere Anm. 1 zum ersten der beiden Beiträge (S. 235).

1264

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IV. Die europäische Verfassung

gen, insbesondere der Regelung von Abstimmungen mit „doppelter“ qualifizierter Mehrheit im EU-Ministerrat. Der anschließenden irischen Präsidentschaft unter Ministerpräsident Ahern gelang es jedoch entgegen pessimistischen Erwartungen, die verbliebenen Streitpunkte beizulegen. Die Regierungskonferenz fand am 18.6.2004 endgültigen 1265 Konsens über den „Vertrag über eine Verfas- j sung für Europa“. Über 90 Prozent des Textes entsprechen der vom Konvent 2003 vorgelegten Fassung. Am 29.10.2004 soll die feierliche Unterzeichnung der Verfassung in Rom stattfinden. Man hofft, ihr auf diese Weise nach dem EWG-Vertrag 1958 die Weihe eines „zweiten römischen Vertrages“ auf den Weg zu geben. Offen bleibt, ob die Bevölkerungen und Parlamente der 25 EU-Staaten das Werk des Konvents und der Regierungskonferenz in der kommenden Zeit in Kraft setzen werden. 2. Zweite Bewährung der „Konventsmethode“

Unter diesen Umständen erscheint es sinnvoll, einen Blick zurück auf die Entstehung des Verfassungsvertrages im Ablauf von Konvent und Regierungskonferenz 2002–2004 zu werfen. Dabei dürfte es von besonderem Interesse sein, Eindrücke von der Arbeit des Europäischen Konvents zu vermitteln, der das Fundament der Verfassung legte. Der Verfasser hat den Konvent als Berater von Ministerpräsident Erwin Teufel, Mitglied des Konvents für den deutschen Bundesrat 2002/2003, miterlebt. Die „Konventsmethode“ hat sich im Zusammenspiel zwischen Verfassungskonvent und Regierungskonferenz nunmehr zum zweiten Male nach dem Grundrechte-Konvent 2000 unter der Ägide des deutschen Altbundespräsidenten Roman Herzog bewährt. Beide Male ist es gelungen, in überschaubarer Zeit mittels der Arbeit einer größeren parlamentarisierten Versammlung aus allen EU-Staaten Konsens über einen einheitlichen Verfassungstext zu erreichen. Dies war im Falle des Verfassungskonvents umso bemerkenswerter, als auf seinem Tisch praktisch alle wichtigen, politisch umstrittenen Fragen der Rechtsgestalt der großen Union des 21. Jahrhunderts mit 25 und wahrscheinlich bald mehr Mitgliedern lagen. Somit spricht vieles dafür, daß der „Konventsmethode“ die Zukunft bei künftigen europäischen „Verfassungsänderungen“ gehört. Der Verfassungsvertrag sieht dies in Art. IV-443 vor. Die Ära der ausschließlichen Regierungskonferenzen dürfte nach den ernüchternden Erfahrungen von Nizza 2001 an ihre Grenzen gestoßen sein. Es lohnt sich daher, die neue Art der Fortentwicklung der europäischen Integrationsverträge durch die vorbereitende Arbeit eines breiter legitimierten Gremiums näher anzusehen.

Europäischer Verfassungskonvent und Regierungskonferenz 2002–2004

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II. Der Verfassungskonvent als Gremium 1. Zusammensetzung des Konvents

Der „Konvent zur Zukunft Europas“ umfaßte insgesamt 105 Mitglieder, mit noch einmal so vielen Stellvertretern. Hinzu traten 13 Beobachter aus EG-Institutionen. Ein eigenes Sekretariat unterstützte den Konvent. Die Sitzungen fanden im Gebäude des Europäischen Parlaments in Brüssel vom 28.2.2002 bis zum 10.7.2003 statt. a) Präsidium An der Spitze des Konvents stand ein zwölfköpfiges Präsidium. Es gliederte sich in den direkt vom Europäischen Rat bestimmten Vorsitz des Präsidenten Giscard d’Estaing und der Vizepräsidenten Amato und Dehaene sowie neun weiteren vom Konvent gewählten Präsidiumsmitgliedern (die in zwei Fällen während des Konvents wechselten) und dem ehemaligen slowenischen Ministerpräsidenten Peterle als „Gast“ aus den Vertretern der Beitrittsländer. Das Präsidium war insgesamt gewichtig und geschickt besetzt. Ein selbstbewußter ehemaliger französischer Staatspräsident gab dem Konvent von vornherein jene Autorität, derer er im regelmäßigen Dialog mit dem Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs bedurfte. Amato und Dehaene waren ehemalige Regierungschefs. Auch unter den gewählten Präsidiumsmitgliedern versammelte sich nationale und europäische Prominenz. Die parteipolitische „Dosierung“ des Präsidiums zwischen den beiden größten Gruppen Europäische Volkspartei und Sozialisten (um die europäischen Bezeichnungen zu verwenden) entsprach ungefähr der aktuellen Machtverteilung innerhalb der EU. – Es sollte sich zeigen, daß der Einfluß des Präsidiums und ganz besonders des dreiköpfigen Vorsitzes unter dem zielbewußten Giscard d’Estaing auf die Konventsarbeit erheblich war. b) Nationale Mitglieder des Konvents Die nationalen Konventsmitglieder kamen jeweils zu dritt (ein Regierungsvertreter, zwei Parlamentarier) aus den 15 Mitglieds- und 13 Beitrittsstaaten (einschließlich Bulgarien, Rumänien und der Türkei). Die Vertreter aus den Beitrittsländern durften einen Konsens zwischen den Mitgliedstaaten nicht behindern. In der Praxis agierten sie sonst gleichberechtigt, jedoch im allgemeinen zurückhaltend. Sowohl unter den Regierungsvertretern wie bei den Parlamentariern fanden sich politisch einflußreiche Persönlichkeiten (z. B. aus Italien der stellvertretende Regierungschef Fini und der ehemalige Ministerpräsident Senator Dini, der britische Minister Hain, Minister Farnleitner [Österreich] oder der

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IV. Die europäische Verfassung

ehemalige Kommissionspräsident Santer für Luxemburg). In der zweiten Hälfte der Konventsarbeit erfolgte eine „Veraußenministerung“ des Konvents (Fischer, Deutschland, de Villepin, Frankreich, de Palacio, Spanien, Papandreou, Griechenland). Hierin spiegelte sich in der zweiten Phase das wachsende Interesse der Regierungen an den Ergebnissen des Konvents. Einige bekannte Parlamentarier waren wie Ministerpräsident Teufel, Deutschland (Bundesrat), „verkappte“ Regierungschefs oder -mitglieder. c) Mitglieder aus dem Europäischen Parlament Eine wichtige Position nahmen die 16 Mitglieder des Europäischen Parlamentes ein. Sie gliederten sich in die drei „Fraktionen“ der Europäischen Volkspartei unter Brok, der Sozialisten unter Amato und der Liberalen unter Duff, vervollständigt um einige Grüne und eine deutsche PDS-Dame. Die EP-Fraktionen erweiterten sich im Konvent um ihre jeweiligen nationalen politischen Freunde zu den drei großen „politischen Komponenten“ („politische Familien“), innerhalb und zwischen denen wichtige Entscheidungen vorbereitet wurden. Elmar Brok leitete die EVP-Gruppe mittels mehrtägiger „Studientage“ an schönen Plätzen Europas besonders effektiv. d) Mitglieder aus der Europäischen Kommission Die Kommission war mit Barnier (inzwischen französischer Außenminister) 1266 und Vitorino personell sehr quali- j fiziert im Präsidium vertreten. Als Institution war ihr Einfluß auf den Konvent trotz mehrfacher umfassender Stellungnahmen und Entwürfe eher begrenzt. Giscard d’Estaing und Kommissionspräsident Prodi hatten unterschiedliche Visionen über die künftige EU. Ihr persönliches Verhältnis wirkte unterkühlt. e) Beobachter Sechs Mitglieder des Ausschusses der Regionen, drei aus dem Wirtschaftsund Sozialausschuß der EG, drei Vertreter der Europäischen Sozialpartner und der Europäische Bürgerbeauftragte nahmen mit dem Recht zur schriftlichen und mündlichen Stellungnahme am Konvent beobachtend teil. Der Einfluß vieler qualifizierter Beiträge aus diesem Kreis war indirekt und ist schwer abzuschätzen. f) Konventssekretariat Ausgezeichnete professionelle Arbeit von der Sitzungsbegleitung bis zur Vorbereitung der offiziellen Textvorschläge für den Verfassungsentwurf leistete das

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19köpfige Konventssekretariat unter dem welterfahrenen Schotten Sir John Kerr, ehemaliger Ständiger Vertreter des Vereinigten Königreiches in Brüssel. Das Sekretariat war das wirkungsvolle Instrument, mittels dessen der Vorsitz unter Giscard d’Estaing den Fortgang der Konventsarbeit und vor allem die Definitionsmacht über die Verfassungstexte in der Hand behielt. – Der Sprachendienst des Parlaments übersetzte simultan in allen EU- und Beitrittssprachen. In der überbordenden Flut der Konventsdokumente herrschten das Englische und Französische vor, mit einem bemerkenswert deutlichen dritten Platz für die deutsche Sprache. g) Verbindung mit der Zivilgesellschaft Der Konvent bemühte sich im Rahmen des Möglichen um Offenheit und Dialog mit der Zivilgesellschaft und den 450 Millionen Bürgern der 25er EU. Die Zivilgesellschaft in ihrer weiten verbandsmäßigen Spreizung wurde im Sommer 2002 in einer mehrtägigen Sitzung ebenso angehört wie ein zweitägiger Jugendkonvent mit 210 Vertretern zwischen 18 und 25 Jahren. Jeder Unionsbürger konnte die Konventsdokumente im Internet verfolgen und sich mit einem Kommunikationsstab des Konvents unter Dehaene in Verbindung setzen. Besonders wertvoll war die auf diese Weise erfolgende fachlich-wissenschaftliche Begleitung der Konventsarbeit durch „Denkfabriken“, universitäre Arbeitsgruppen, das Europäische Hochschulinstitut in Florenz oder auch durch einzelne Experten. Längst bevor der Konvent fertig war, lagen ihm komplette EU-Verfassungen wie der „Freiburger Entwurf“, ein „Cambridge Text“ oder eine in Le Monde veröffentlichte „Constitution Européenne“ vor. Ein „Entwurf Brok“ der EVP-Gruppe wirkte unmittelbar auf die Konventsarbeit ein. Die überregionalen Medien berichteten in den meisten Mitgliedstaaten regelmäßig und qualifiziert über die Konventsarbeit. Abgesehen von einigen besonderen „Events“ wie Eröffnung und Abschluss erfolgte die Berichterstattung allerdings meist auf der „vierten Seite“. Brüssel bleibt trotz vieler Bemühungen für die meisten Unionsbürger ein ferner Stern. Laut der Demoskopie wußte die Mehrheit der EU-Bevölkerung mit dem Wort „Konvent“ nichts anzufangen. Die stärkste publizistische Aufmerksamkeit fand europaweit interessanterweise die Frage, ob die Präambel der Verfassung einen Gottesbezug enthalten solle. Während der Regierungskonferenz konzentrierte sich das öffentliche Interesse ähnlich auf wenige spektakuläre Augenblicke. Das vorläufige Scheitern im Dezember 2003 interessierte beinahe mehr als der abschließende Erfolg am 18.6.2004.

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h) Politische Gestalt des Konvents Unter den 105 „Conventionnels“ gab es eine deutliche Mehrheit von 77 Parlamentariern (nationale Parlamente und EP). Ihr stand die Minderheit der Regierungsvertreter gegenüber. Sie war jedoch meist mit dem Prestige hoher nationaler Regierungsämter (besonders Außenminister) oder als Kommissionsmitglied ausgestattet. Im Präsidium spielten die Regierungsvertreter eine herausgehobene Rolle. Giscard d’Estaing schien die Stellungnahmen der Regierungen in den Debattenbeiträgen besonders zu registrieren. Der gouvernementale Einfluß war bereits auf die Konventsarbeit bemerkenswert, sicher mit Blick auf die nachfolgende Regierungskonferenz und die anschließenden nationalen Ratifikationen. Im Konvent stand eine große Mehrheit von Vertretern aus 19 kleinen und mittleren Mitgliedstaaten („von Malta bis zu den Niederlanden“) den Mitgliedern aus den sechs bevölkerungsreichsten EU-Staaten (Deutschland, England, Frankreich, Italien, Spanien und Polen als Beitrittsland) gegenüber. Hieraus ergab sich vor allem bei den institutionellen Fragen viel Gegensätzlichkeit. Zur Bewältigung dieser zentralen Probleme war bedeutsam, daß der einflußreiche Konventsvorsitz aus zwei „großen“ Mitgliedstaaten und einem erfahrenen Benelux-Gründerstaat beschickt worden war. In der Regierungskonferenz sollte sich zeigen, daß die „Vetomacht“ der vielen mittleren und kleinen Staaten stark genug war, um einige wichtige Konventsergebnisse zu ihren Gunsten zu „verwässern“. Parteipolitisch wurde der Konvent von einer gewissen Mehrheit der „bürgerlichen Volksparteien“ im Verhältnis zu den sozialistisch/sozialdemokratischen Kräften geprägt. Liberale, Grüne u. a. folgten in größerem Abstand. Auseinandersetzungen entlang diesen Fronten kamen höchst selten und nur verdeckt vor. Wie in Deutschland war die Europapolitik in den meisten anderen Konventsstaaten überparteiliche Angelegenheit. Dagegen wurde die Konventsarbeit immer wieder vom Gegensatz zwischen den „Integrationisten“ der klassischen Europaphilosophie (meist aus dem Europäischen Parlament) und den pragmatischeren „Euro-Realisten“ (die meisten Regierungsvertreter und viele nationale Parlamentarier) belebt, die nach der Balance zwischen EU und Mitgliedstaaten suchten. Der Verfassungsentwurf stellte schließlich einen tragfähigen Kompromiß zwischen diesen beiden Richtungen dar. Integrationisten und Eurorealisten bildeten gemeinsam eine überwältigende Mehrheit von „Europäern“ im Konvent. Ihr stand eine kleine Zahl von „Euroskeptikern“ wie Bonde aus Dänemark oder der konservative Brite Heath- j cot-Amory gegenüber, die sich am Ende 1267 dem Konsens über den Entwurf verweigerten. Als beeindruckende Persönlichkeiten im Stil des klassisch unabhängigen Abgeordneten verzichteten sie im In-

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teresse ihrer Überzeugungen auf jeden nennenswerten Einfluß, um den eigenen Weg zu gehen. Nach allen Indizien repräsentieren die Euroskeptiker in manchen Mitgliedstaaten einen größeren Teil der europäischen Bevölkerung, als in der Zusammensetzung des Konvents sichtbar wurde. Die bevorstehenden parlamentarischen Ratifikationen und Referenden über die Verfassung werden das wahre Ausmaß heutiger Euroskepsis in den Mitgliedstaaten offenbaren.

2. Zur deutschen Mitwirkung im Konvent

Die Beiträge der Deutschen im Konvent waren insgesamt beachtlich. a) Die deutschen Vertreter aus Parlament und Regierung Die Bundesregierung ließ sich in den ersten Konventsmonaten mit Prof. Glotz und seinem Vertreter Staatssekretär Pleuger „expertokratisch“ vertreten, wobei Pleuger mit diplomatischer Routine rasch einen „Brüsseler Kreis“ organisierte, in dem sich alle deutschen „Conventionnels“ regelmäßig austauschten. Mit dem Wechsel zu Außenminister Joschka Fischer und seinem Vertreter Staatsminister Bury nach der Bundestagswahl 2002 agierte die Bundesregierung mit gesteigertem politischen Gewicht, bald im Schulterschluß mit Frankreich. Prof. Jürgen Meyer MdB engagierte sich zusammen mit Peter Altmaier MdB kundig und brachte seine Erfahrungen aus dem ersten Grundrechte-Konvent ein. Ministerpräsident Erwin Teufel konzentrierte sich mit seinem Vertreter Minister Senf (später Minister Gerhards) als erfahrener Politiker auf die Kernanliegen des Bundesrates wie Kompetenzordnung und Subsidiarität. Durch Verbindung mit Giscard d’Estaing und den Aufbau eines Regionalistenkreises „Freunde der Subsidiarität“ aus den verschiedenen Mitgliedstaaten konnte Teufel viel erreichen. Die überparteiliche deutsche Zusammenarbeit gestaltete sich aus gemeinsamer europapolitischer Grundüberzeugung im allgemeinen gut. Der rot-grünen Bundesregierung war bewußt, daß sie mit dem von den Unionsparteien beherrschten Bundesrat mit Blick auf die spätere Ratifikation Konsens suchen mußte. Fischer und Teufel erfuhren sachverständige Unterstützung durch spezielle Arbeitsstäbe im Auswärtigen Amt und im Stuttgarter Staatsministerium. b) Die „deutschen Europäer“ Wichtigen Einfluß im Konvent nahmen die „deutschen Europäer“ Elmar Brok und Klaus Hänsch. Als Sprecher der großen EVP-Gruppe und ihrer politischen Freunde aus den Konventstaaten kämpfte der barocke Brok in vorderster Linie eindrucksvoll für das integrierte Europa im Geiste Jean Monnets. Sein

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IV. Die europäische Verfassung

loses Mundwerk produzierte gelegentlich unnötige Konflikte mit Giscard d’Estaing („Monnet oder Metternich!“), doch überwog der gegenseitige Respekt. Broks Vertreter Joachim Würmeling vollzog als CSU-Mann im Europäischen Parlament mit Eleganz und Kompetenz den schwierigen Spagat, euroskeptische Münchener Auffassungen mit dem integrationistischen Impetus des EP in seiner Brust zu vereinen. Dem ehemaligen EP-Präsidenten Hänsch oblag als einzigem Deutschen im Präsidium die Aufgabe, wichtige Anliegen in diesem multinationalen Kreise verständlich zu machen. Nikolaus Meyer-Landrut (AA) war als Sprecher Giscards ein erfahrener Ansprechpartner. Im Sekretariat wurde mancherlei „deutsche Wertarbeit“ abgeliefert. In die Stellungnahmen des Ausschusses der Regionen und des Wirtschafts- und Sozialauschusses brachten Dammeyer und Frerichs langjährige Brüsseler Erfahrungen ein. c) Koalitionen Die deutschen Konventsmitglieder hatten rasch erkannt, daß in einem europäischen Gremium zur Durchsetzung eigener Anliegen unterschiedliche Koalitionen mit Gesinnungsfreunden aus anderen Ländern und eine gewisse Kompromißbereitschaft unerläßlich waren. Die klassische „EU-Achse“ mit Frankreich stabilisierte sich in der zweiten Hälfte der Konventsarbeit. Dies schloß Zusammenarbeit mit dem weitsichtigen Kommissar Michel Barnier ebenso ein wie mit den französischen Konventsmitgliedern. Viel Übereinstimmung ergab sich mit den Benelux-Vertretern und Delegierten aus Österreich. Problematisch war gelegentlich der Austausch mit den Spaniern. Infolge ihrer internen Besorgnisse um Separatismus in Katalonien, im Baskenland und in anderen autonomen Regionen standen sie jeder europäischen Stärkung der substaatlichen Ebene mißtrauisch gegenüber. III. Der Konvent – eine verfassungsgebende Versammlung? Der Europäische Konvent war aus verschiedenen Gründen keine verfassungsgebende Versammlung, die der EU des 21. Jahrhunderts „souverän“ ihre Gestalt geben sollte. Das schloß nicht aus, daß sich manche Konventsmitglieder einschließlich ihres Präsidenten in einem höheren Sinne als Verfassungsgeber fühlten. Der Blick schweifte gelegentlich zurück zu den Gründern der USA in Philadelphia 1787. Dem Schwung der Brüsseler Beratungen mochten solche Sentiments zugute kommen.

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1. Ein Geschöpf des Europäischen Rates der Staats- und Regierungschefs

Der Konvent war keine demokratisch gewählte Versammlung. Er war kraft Beschlusses des Europäischen Rates der Staats- und Regierungschefs in der Erklärung von Laeken über die Zukunft der EU am 15.12.2001 zusammengesetzt und einberufen worden. Der Rat bestimmte personell den dreiköpfigen Vorsitz des Präsidiums. Die übrigen Mitglieder wurden national beziehungsweise vom Europäischen Parlament und der Kommission berufen. Der Europäische Rat setzte dem Konvent die feste Frist, vom 1.3.2002 binnen eines guten Jahres seine Arbeiten abzuschließen. Insgesamt stellte sich der Konvent auf diese Weise als Kreation des Europäischen Rates dar und nicht als ein durch demokratische Urwahl geschaffener Pouvoir Constituant. j 2. Ein gouvernemental/parlamentarisch gemischtes Gremium

In seiner Zusammensetzung (oben II. 1.) war der Konvent „weder Fisch noch Fleisch“, d. h. weder eine parlamentarische Versammlung noch eine Regierungskonferenz, sondern ein gemischtes Gremium mit parlamentarischer Mehrheit zur Vorbereitung der endgültig entscheidenden Regierungskonferenz. 3. Begrenztes Mandat des Konvents

a) Das Mandat von Nizza und Laeken Der Konvent verfügte nur über ein begrenztes Mandat. Es war durch die Erklärung der Regierungskonferenz von Nizza zur Zukunft der Union vom 26.2.2001 vorgegeben. In der Laeken-Erklärung vom 15.12.2001 wurde der Auftrag an den Konvent näher umrissen. Danach konnte der Konvent entweder „verschiedene Optionen“ oder „im Falle eines Konsenses Empfehlungen“ in einem „Abschlußdokument“ erstellen. Dieses sollte als „Ausgangspunkt“ für die Arbeit der künftigen Regierungskonferenz dienen, welche „die endgültigen Beschlüsse“ faßt. Die Regierungen hatten ihre Vertragsgewalt zur Fortentwicklung der Integrationsverträge („verfassungsgebende Gewalt“) nicht aus den Händen gegeben. Es gereichte dem Selbstbewußtsein des Konvents zur Ehre, daß er sich um die Finessen der Laekener Erklärung wenig kümmerte und die Vorlage eines einheitlichen „Verfassungstextes“ ins Auge faßte. Die Souveränität der Regierungskonferenz sollte durch die Überzeugungskraft des Verfassungsentwurfes so weit wie möglich begrenzt werden. Inhaltlich war das Mandat des Konvents vor allem durch die knappe NizzaErklärung bestimmt. Hiernach sollte sich der „Prozeß zur Zukunft der EU“ vor allem auf

1268

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– eine genauere, dem Subsidiaritätsprinzip entsprechende EU-Kompetenzordnung, – den Status der EU-Grundrechte-Charta von 2000, – die Rolle der nationalen Parlamente in der Architektur Europas konzentrieren, und dabei – die Verträge mit dem Ziel vereinfachen, diese klarer und verständlicher zu machen, „ohne sie inhaltlich zu ändern“. Der letzte Auftrag der Vereinfachung ohne inhaltliche Änderung war wörtlich genommen eine Quadratur des Zirkels. Er konnte sinnvoll nur so verstanden werden, daß der Konvent eine verbesserte Rechtsgestalt für die erneuerte EU schaffen sollte, ohne an den materiellen Inhalt der einzelnen Politiken der bisherigen EG/EU zu rühren. Die Laeken-Erklärung erläuterte und ergänzte das Mandat von Nizza wortreich im Sinne von „mehr Demokratie, Transparenz und Effizienz in der EU“. b) Überschreitungen des Mandats? Der Konvent hat sich im Rahmen des Mandates von Nizza/Laeken gehalten. Um einen kohärenten Verfassungstext zu schaffen, hat er es hier und da großzügig ausgelegt. Mit der Schaffung neuer EU-Zuständigkeiten in der Daseinsvorsorge, offenen Koordinierung oder in Sachbereichen wie Raumfahrt oder Sport nahm er – teilweise in letzter Minute – inhaltliche Änderungen an den bestehenden Verträgen vor. Dagegen war der spanisch-polnische Vorwurf in der Regierungskonferenz am 13.12.2003 unberechtigt, der Konvent habe mit dem Vorschlag einer neuen „doppelten“ Abstimmungsmehrheit im Ministerrat sein Mandat überschritten. Die Schaffung einer effizienten institutionellen Architektur im Verhältnis Rat – Kommission – Parlament war ein vorrangiges Desiderat an den Konvent im Sinne der Vereinfachung der Verträge. Zugleich blieben der Regierungskonferenz Änderungen des Konventsentwurfes unbenommen. 4. Konsens statt Schlußabstimmung

Formelle Abstimmungen hätten im Konvent aufgrund seiner gemischt gouvernemental-parlamentarischen Zusammensetzung über keine Legitimationskraft verfügt. Welchen politischen Wert hätte die Regierungskonferenz einem Niederstimmen der im Konvent vereinigten Minister einschließlich der Außenminister durch die Mehrheit der Konventsparlamentarier beigemessen? Vernünftigerweise hat der Verfassungskonvent ebenso wie bereits der Grundrechte-Konvent seine Arbeiten am 13.6. und 10.7.2003 mit einem förmlich festgehaltenen „Konsens“ der übergroßen Mehrheit seiner Mitglieder abgeschlossen. Zahlreiche den Entwurf bejahende Reden in den beiden Abschlußsitzungen, der Verzicht auf Ein-

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sprüche und abweichende Stellungnahmen sowie die gemeinsame Unterzeichnung des Textes durch nahezu alle „Conventionnels“ am 10.7.2003 signalisierten die grundsätzliche Zustimmung zum Verfassungsentwurf, ohne daß jedes Mitglied sein Einverständnis mit jeder Zeile des Textes bekunden mußte. 5. Vollständige oder begrenzte Freiheit der Regierungskonferenz gegenüber dem Konventsentwurf?

Wie frei war die Regierungskonferenz ab Oktober 2003 unter diesen Umständen gegenüber dem Werk des Konvents? Im strikt europa- und völkerrechtlichen Sinne war sie befugt, mit dem Ergebnis des von ihr selbst eingesetzten Vorbereitungsgremiums nach Belieben umzugehen. Das vorläufige Scheitern am 13.12.2003 war kein „Verfassungsbruch“. Vertrags- und verfassungspolitisch liegen die Dinge etwas differenzierter. Der Europäische Rat hatte den Konvent in der richtigen Erkenntnis einberufen, daß die Entwicklung der EU bis zu einem Punkte fortgeschritten war, ab dem die traditionelle Methode rein völkerrechtlicher Änderung der Verträge durch Regierungskonferenzen über keine hinreichende Legitimationsbasis mehr verfügte. Umstrittene Konferenzergebnisse wie in Maastricht 1992 und besonders Nizza 2001 hatten diese Schwäche offenkundig gemacht. So wie der „Staatenverbund“ der EU eine Föderation von Nationalstaaten sui generis zwischen Völker- und Verfassungsrecht geworden ist, bedarf seine Fortentwicklung nunmehr einer eigenen „Konventsmethode“. In dieser übernehmen die Regierungen durch ihre Vertreter im Konvent Mitverantwortung für konsentierte Ergebnisse. Auch wenn die Regierungen sich im Abschlußkonsens des Konvents Mitte 2003 nicht streng juristisch auf den Verfassungsentwurf festlegten, hätte ein leichthändiges „Beiseiteschieben“ der Konventsergebnisse j im Widerspruch zu ihrem eigenen 1269 vorherigen Verhalten gestanden. In der Regierungskonferenz ab Oktober 2003 entsprach dem die oftmals erhobene Forderung, der im Europäischen Rat von Thessaloniki am 20.6.2003 von allen Regierungen als „gute Ausgangsbasis“ bezeichnete Entwurf dürfe nicht wieder „aufgeschnürt“ werden. Man wird dies verfassungspolitisch dahin gehend begreifen müssen, daß der Konventsentwurf Grundlage für die nachfolgenden Verhandlungen auf Regierungsebene bleiben mußte. Zur Debatte auf der Regierungskonferenz standen 2003/2004 im wesentlichen nur noch Dissense über essentielle Fragen, jedoch nicht mehr eine vollständige Neuverhandlung des Textes. So bedauerlich es erscheinen mochte, hielt sich das Scheitern des ersten Anlaufes am 13.12.2003 über ein oder zwei institutionelle „Machtfragen“ durchaus in diesem Rahmen. Bei den anschließenden Bemühungen um die Fortsetzung des Verfassungsprozesses in der ersten Jahreshälfte 2004 lag der Konventsentwurf weiterhin auf dem Verhandlungstisch. Sein Text blieb bis zum abschließenden Konsens am 18.6.2004 größtenteils unbestritten. Die Änderungen

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betrafen im wesentlichen dieselben bereits Ende 2003 umstrittenen hochpolitischen Fragen, zu denen jetzt unter dem Eindruck des ersten Scheiterns und durch einige glückliche Umstände (Regierungswechsel in Polen und Spanien) die Kompromißbereitschaft gewachsen war. Ohne den Entwurf des Konvents wäre die Regierungskonferenz niemals in der Lage gewesen, eine so umfassende Revision der verfassungsmäßigen Grundlagen der EU zu verabschieden. IV. Die Arbeitsweise des Konvents Wie in jedem Parlament oder parlamentsähnlichen Gremium vollzog sich die Arbeit des Konvents im Plenum, in Arbeitsgruppen und in sonstigen Vorbereitungsgremien – nicht zuletzt in allerlei informellen Treffen. Sehr wichtig waren schriftliche Stellungnahmen. Die Führungsfähigkeit von Vorsitz und Präsidium war für den Erfolg des Konvents entscheidend. 1. Die mündlichen Debatten

a) Plenum In einer großen multinationalen Versammlung von regelmäßig über 200 Mitgliedern und Stellvertretern konnten die insgesamt 26 ein- bis zweitägigen Plenarsitzungen in knapp anderthalb Jahren nur von begrenzter Bedeutung sein. Ihre hauptsächliche Funktion bestand darin, für Vorsitz und Präsidium durch eine möglichst breite Debatte über grundsätzliche Fragen wichtige Meinungsströmungen im Konvent deutlich zu machen. Dem diente die strikte Redebegrenzung auf drei, gelegentlich nur zwei Minuten. Zur Kunst des Vorsitzes gehörte es, zwischen rhetorischer Brillanz und Sachaussage abzuwägen und die Statur der Redner mit Blick auf ihren meinungsbildenden Einfluß im Konvent einzuschätzen. In vorderer Linie standen meist die Regierungsvertreter und eine Reihe herausragender parlamentarischer Führer. Für denjenigen, der die zwei oder drei wichtigsten EU-Sprachen oder noch mehr beherrschte, bedeutete es öfters ästhetischen Genuß, eine europäische Verfassungsdebatte von hohem Niveau im Original zu verfolgen. Daneben ergaben sich ermüdende Stunden voll sattsam bekannter Europarhetorik. Dank des perfekten Sprachendienstes bestanden im Plenum keinerlei Verständigungsschwierigkeiten. b) Arbeitsgruppen und Diskussionskreise Auf Vorschlag des Präsidiums wurden in der ersten Arbeitshälfte des Konvents zahlreiche thematische Arbeitsgruppen unter Vorsitz jeweils eines Präsi-

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diumsmitgliedes eingerichtet (z. B. über Subsidiarität, Vereinfachung der Rechtsinstrumente, Außenpolitik u. a.m.). Sie standen den Mitgliedern auf Zuruf offen. Die Arbeitsgruppen bedienten sich umfänglich externen Sachverstandes. Die Ergebnisse der Arbeitsgruppen wurden im Plenum diskutiert und anschließend in einen durch das Sekretariat vorbereiteten Abschlußbericht überführt. Er diente Vorsitz und Präsidium als Rohmaterial für die späteren Textentwürfe. Den Arbeitsgruppen waren eigene Textformulierungen untersagt. Je nach der Qualität ihrer Vorsitzenden ergaben sich Abschlußberichte durchaus unterschiedlichen Wertes. Im späteren Verlauf richtete das Präsidium kurzfristige „Studienkreise“ über aufgetretene Probleme ein (z. B. Fragen der Finanzverfassung). Sie berichteten ihrerseits an das Plenum. c) Sonstige Zusammenkünfte Für die inhaltlichen Positionen war die Vorbereitung des Plenums und der Arbeitsgruppen u. ä. durch offizielle und informelle Sitzungen unterschiedlicher Art von wesentlicher Bedeutung. Die Richtung der Konventsarbeit wurde vor allem durch die politischen Familien der Volkspartei, Sozialisten, Liberalen usf. sowie durch gemeinsame Treffen von Vertretern einzelner Mitgliedstaaten beeinflußt. Wichtig war ebenso die Haltung einzelner prominenter Regierungsvertreter. In diesen Zusammenhängen gab es mehr oder weniger sich verstetigende „Koalitionen“ wie die deutsch-französische Zusammenarbeit, einen breiten Konsens unter den Sozialisten über die Stärkung der sozialen Elemente in der Verfassung oder gegen Ende des Konvents die Zusammenkünfte der „kleinen“ EUStaaten. Die selbstsichere Haltung eines einzelnen größeren Mitgliedstaates wie z. B. die britische in der Außenpolitik vermochte manches zu bewegen. Auf wichtige Entscheidungen wurde nicht selten durch informelle Gespräche mit dem Vorsitz in kleinem Kreis oder unter vier Augen Einfluß genommen. Die ständigen „Couloirgespräche“ am Rande der Plenarsitzungen trugen das ihre zum Fortschreiten der Konventsarbeit bei. 2. Schriftliche Stellungnahmen

Da die Zeit für mündlichen Austausch jeglicher Art begrenzt war, kam den schriftlichen Stellungnahmen der Konventsmitglieder sowie den Texten des Sekretariats für die Arbeit eine herausragende Bedeutung zu. Die Flut dieser Dokumente in den verschiedenen EU-Sprachen (meist Englisch, Französisch und Deutsch) wurde durch das Sekretariat von CONV 1/02 bis CONV 850/03 geordnet j und ins Internet gestellt. Hier können die einzelnen Texte nach dem 1270 Ende des Konvents noch längere Zeit abgerufen werden. Die Qualität der Stellungnahmen aus dem Kreise des Konvents war unterschiedlich. Das Sekretariat mußte die jeweilige Nützlichkeit beurteilen. Beson-

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ders in der letzten „Phase der Texte“ des Konvents wuchs die Formulierungslast des Sekretariats einschließlich des Übersetzungsdienstes außerordentlich. Sie wurde bis zum Schluß mit Bravour gemeistert. 3. Zeitlicher Ablauf der Konventsarbeit

a) „Phase des Zuhörens“ Im zeitlichen Ablauf begann die Konventsarbeit auf Vorschlag des Präsidiums im März 2002 mit einer bis in den Herbst reichenden „Phase des Zuhörens“. Sie schloß ausführliche allgemeine Plenardebatten, Anhörungen der Zivilgesellschaft und des Jugendkonvents sowie Diskussionen der Ergebnisse erster Arbeitsgruppen ein, die seit dem Sommer 2002 eingesetzt wurden. b) „Phase der Studien“ Mit einem ersten Gesamtentwurf des Präsidiums zur Struktur der Verfassung (sog. „Skelett“) Ende Oktober 2002 begann die „Phase der Studien“. Sie war von der Arbeit zahlreicher Arbeitsgruppen und Diskussionskreise bis zur Erörterung ihrer Ergebnisse im Plenum beherrscht. Die Einsetzung von Arbeitsgruppen zur Institutionenreform wurde vom Vorsitz verweigert, um ein frühzeitiges Auseinanderfallen des Konvents bei diesen politisch sensiblen Themen zu vermeiden. Dagegen fanden Plenardebatten über die institutionellen Probleme und über andere besondere Themen ohne Vorbereitung durch Arbeitsgruppen statt (z. B. eine Regionaldebatte im Februar 2003). c) „Phase der Texte“ Ungefähr ab Februar 2003 trat der Konvent auf der Grundlage sukzessiver Vorlage von Texten des Präsidiums in die abschließende Beratung des Verfassungsentwurfes ein („Phase der Texte“). Sie verdichteten sich ab Mai zu Gesamtentwürfen des Präsidiums, die im Plenum diskutiert und in den Abschlußsitzungen vom 13.6. und 10.7.2003 im Generalkonsens verabschiedet wurden. Mit diesem Vorgehen blieb die eigentliche Definitionsmacht bis zum Ende in den Händen des Präsidiums, welches sich jederzeit auf das ausgezeichnet arbeitende Sekretariat abstützen konnte. Mit der von Vorsitz und Präsidium gewählten verhältnismäßig späten Vorlage ausformulierter Verfassungsartikel geriet der Konvent in den letzten Monaten in akute Zeitnot. Viel sprach für eine bewußte Strategie des Vorsitzes, um den Konsensdruck auf die Versammlung zu erhöhen. Wenn es so war, ist diese Rechnung aufgegangen.

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4. Zur Rolle von Vorsitz und Präsidium

Der Anteil des Vorsitzes und in ihm des Präsidenten sowie des weiteren Präsidiums auf das Zustandekommen eines einheitlichen Verfassungsentwurfes kann kaum überschätzt werden. Dies gilt zugleich für einige besonders wichtige inhaltliche Weichenstellungen. a) Der Konventspräsident Giscard d’Estaing, Amato und Dehaene ergänzten sich vortrefflich. Giscard brachte die Autorität und Aura eines ehemaligen französischen Staatspräsidenten in den Konvent ein. Seine äußere Distanziertheit und Hartnäckigkeit („Il est têtu“, sagte eine französische Delegierte, die ihn kannte) wurden von vielen Konventsmitgliedern wenig geschätzt. Sie prägte jedoch in einem allgemeinen Sinne Stil und Niveau des Konvents. Vor allem hatte Giscard d’Estaing eine Vision, wie die künftige EU-Verfassung ungefähr aussehen sollte. Durch die V. Französische Republik geschult, ging es ihm für die Union von 25 und mehr Mitgliedstaaten vor allem um Handlungsfähigkeit und Effizienz mittels Stärkung präsidialer und exekutiver Elemente in der Verfassung. Dies schloß die Aufwertung des Europäischen Parlamentes nicht aus. In diesem Sinne sind zentrale Entscheidungen wie der längerfristige Präsident des Europäischen Rates der Staats- und Regierungschefs, die neue doppelte Mehrheit im Ratsbereich, die Stärkung des Kommissionspräsidenten unter Verkleinerung der Kommission oder die Sympathie für den von Joschka Fischer favorisierten „Europäischen Außenminister“ zu verstehen, die Giscard gegen viel Widerstand durchsetzte, auch mit manchen Verfahrenstricks. – Bei einigen dieser zentralen Entscheidungen, z. B. bei der Größe der Kommission, mußte der Konventsentwurf unter dem Druck der vielen kleinen und mittleren Staaten in der Regierungskonferenz Federn lassen. Im Kern ist die von Giscard d’Estaing stark beeinflußte Institutionenstruktur in der 2004 verabschiedeten Verfassung jedoch erhalten geblieben. Als ehemaliger Präsident des Regionalrates der Auvergne hatte Giscard Verständnis für Kompetenzen und Subsidiarität. Dies kam deutschen Anliegen, insbesondere dem deutschen Bundesrat und Erwin Teufel, zugute. Die beiden unterschiedlichen Persönlichkeiten verband gegenseitige Wertschätzung. Schiffbruch erlitt der Konventspräsident mit dem Vorschlag eines aus nationalen und Europaparlamentariern zusammengesetzten „Kongresses der Völker Europas“, der alle zwei Jahre eine Generaldebatte über die Lage der EU führen sollte. Man kann zweifeln, ob der Verfassungskonvent unter einem anderen Präsidenten in seiner Arbeit ebenso weit gekommen wäre.

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b) Vizepräsidenten – Generalsekretär Als ehemaligem Ministerpräsidenten und angesehenem italienischen Verfassungsrechtler war Giuliano Amato die Rolle des Kronjuristen des Konvents auf den Leib geschnitten. Er übte sie in der Leitung mehrerer Arbeitsgruppen zur Vereinfachung der Rechtsinstrumente und in einem steten freundlichen Interesse an allen wichtigen Rechtsfragen des Entwurfs aus, wobei ihm allseitiger Respekt sicher war. Nebenbei hielt Amato als Leiter der sozialistischen Fraktion ein waches Auge auf deren politischen Belange. Demgegenüber vermittelte Jean-Luc Dehaene den Eindruck des durchsetzungsfähigen Vollblutpolitikers. Die besonders umstrittene gemeinsame Außen1271 und Sicher- j heitspolitik lag bei ihm in guten Händen, wenngleich die dortigen Fortschritte infolge der britischen Zurückhaltung begrenzt bleiben mußten. In der von Elmar Brok geleiteten EVP-Gruppe war Dehaene ein maßgeblicher Impulsgeber. Generalsekretär Sir John Kerr war eine Art graue Eminenz des Vorsitzes. Er sorgte dafür, daß das Räderwerk des Sekretariats reibungslos lief. Gleichzeitig schien Kerr diskret bemüht, den Graben zwischen seinen schwierigen britischen Landsleuten und der Konventsmehrheit nicht zu tief werden zu lassen. Der Vorsitz bildete eine geschlossene Einheit, die sich nicht auseinander dividieren ließ. Europapolitisch hätte man die Konventsspitze als Euro-Realisten mit Offenheit für Fortschritte in der klassischen Integration bezeichnen können. c) Gesamtpräsidium Zwischen dem Vorsitz und den weiteren neun Präsidiumsmitgliedern gab es nicht selten kontroversen Abstimmungsbedarf, da sich in diesem Kreise die unterschiedlichen Meinungsströme des Plenums und aus den politischen Familien trafen. Personell war das weitere Präsidium mit erfahrenen und engagierten Politikern wie Barnier, Hänsch, de Vigo, Frau Stewart oder Vitorino besetzt. Alojz Peterle brachte die Belange der Beitrittsstaaten mit dem Geschick eines ehemaligen Ministerpräsidenten Sloweniens ein. Im Ergebnis fand das Gesamtpräsidium meistens zu einheitlicher Haltung nach außen. Gegenseitige Gefälligkeiten gehören zum politischen Geschäft auch einer Verfassungsversammlung. Zur Sicherung des breiten Abschlußkonsenses über den Gesamtentwurf am 10.7.2003 verteilte das Präsidium in der letzten Nacht eine Reihe teilweise fragwürdiger „Geschenke“ an maßgebliche Kräfte im Konvent.

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V. Zur Zukunft der Konventsmethode Nach der erfolgreichen Verabschiedung des Verfassungstextes auf der Regierungskonferenz am 16.6.2004 dürfte der Konventsmethode für künftige substantielle „Verfassungsänderungen“ die Zukunft gehören. Die Konventsmethode ist in der Verfassung für den Regelfall künftiger Vertragsänderungen vorgesehen (Art. IV-443). 1. „Konventsmethode“: Zusammenspiel zweier Institutionen

„Konventsmethode“ bedeutet auch in Zukunft das Zusammenspiel zwischen einer vorbereitenden Versammlung und der entscheidenden Regierungskonferenz. Europäische Verfassungsgebung durch eine europäische parlamentarische Konstituante steht in jeder vorhersehbaren Zukunft nicht auf der Tagesordnung. Dabei setzt erfolgreiche Konventsmethode gegenseitige Rücksichtnahme zwischen den beiden Partnern voraus, denen die Verfassungsfortentwicklung anvertraut ist. Ein Konvent muß hinreichendes Gespür für Vorschläge entwickeln, die zwischen den Mitgliedstaaten konsensfähig sein könnten. Das bedeutet nicht vorauseilenden Gehorsam im Sinne einer Einigung auf dem kleinsten gouvernementalen Nenner. Aufgabe eines Konvents ist es zum einen, den Integrationswillen der Regierungen zu testen und für eine immer engere Union Breschen zu schlagen. Das schließt die – 2002/2003 leider versäumte – Prüfung ein, mißlungene oder überlebte EU-Zuständigkeiten an die Mitgliedstaaten zurückzugeben. Richtig verstanden soll das Subsidiaritätsprinzip in zwei Richtungen Anwendung finden, um der viel beschworenen Bürgernähe der Union zu dienen. Regierungskonferenzen tun ihrerseits gut daran, die Ergebnisse eines von ihnen selbst eingesetzten Konventes nicht zu ignorieren, nachdem sich ihre Vertreter dort engagiert haben. Die Konventsmethode ist geschaffen worden, um der „Verfassungsänderung“ durch parlamentarische Mitwirkung mehr demokratische Legitimität zu verschaffen. Die Regierungen haben die Konventsversammlung mit einem Tropfen Öl verfassungsgebender Gewalt gesalbt. Das ist nicht beliebig rücknehmbar. 2. Die Mitgliedstaaten als Herren und Diener der Union

Letztlich bleiben die EU-Regierungen und ihre nationalen Parlamente auch in einem sich stärker integrierenden Staatenverbund die „Herren der Verfassung“ (Peter Badura). Eine autonome europäische Verfassungsgewalt ist nicht in Sicht. Hat der Konvent nach Auffassung der Regierungen in wesentlichen Fragen versagt, bleibt es ihr gutes Recht, dies zu korrigieren. Die nationalen Regierungen sollten sich jedoch, wie es Ulrich Everling einmal gesagt hat, gleichzeitig als „Diener“ einer verfassungspolitischen Entwicklung der Union verstehen,

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deren grundlegende Zielsetzungen seit einem halben Jahrhundert von ihnen selbst angestoßen werden. Der Brüsseler Verfassungskonvent hat gezeigt, daß die Arbeit einer gemischt gouvernemental-parlamentarisch zusammengesetzten Versammlung für die Fortsetzung und Vertiefung des europäischen Einigungsprozesses unter den Bedingungen der „großen“ EU des 21. Jahrhunderts tauglich sein kann. Für die nähere Zukunft bleibt die Frage, ob die nationalen Parlamente und vor allem die Bürger in den verschiedenen Mitgliedstaaten vielerorts gepflegter wohlfeiler Kritik und Skepsis erliegen oder ob ihnen die unleugbaren Fortschritte bewußt werden, die den Unionsbürgern mit dem erstmals nach übergreifenden Verfassungsprinzipien geformten gemeinsamen Werk von Konvent und Regierungskonferenz vorgelegt werden.

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Positive Würdigung des Konzeptes eines „EU-Präsidialismus“, den Giscard d’Estaing im EU-Verfassungsvertrag gegen viele Widerstände zu verankern wußte.*

I. Persönliche Vorbemerkung Peter Badura aus Anlaß eines stolzen Geburtstages zu gedenken, ist mir eine besondere Freude. Seit langem haben sich unsere Wege gekreuzt, woraus Freundschaft entstanden ist. Wenn ich mich recht besinne, hat uns die Staatsrechtslehrervereinigung erstmals zusammengeführt. Es war wohl 1969 bei einem Glase Bier anläßlich der Berner Tagung, wie meist in der Folgezeit gemeinsam mit unseren lieben Frauen. Auch später wurden die Tagungen der Vereinigung ein regelmäßiger Treffpunkt. Zu den vielen Verdiensten Baduras gehört, daß er durch die stete Anteilnahme an unserer „Zunft“ zu einem der Gewissen der Staatsrechtslehrervereinigung geworden ist, ähnlich wie lange Jahre Hans Peter Ipsen. Ein erfolgreiches Gremium lebt davon, daß es einige Mitglieder gibt, die sich über die Wahrnehmung von Ämtern hinaus seinen Zielen dauerhaft verpflichtet fühlen. Manch andere Begegnungen folgten, an die ich heute gerne zurückdenke. Am Ende der sozialliberalen Koalition Anfang der achtziger Jahre waren wir beide Mitglieder der vom Bundesinnenminister Gerhart Baum einberufenen Kommission „Staatszielbestimmungen“. Den Schlußbericht nahm bereits sein CSUNachfolger Eduard Zimmermann entgegen. Badura und mich einte wohl anders als unseren Vorsitzenden Erhard Denninger eine gewisse Skepsis gegenüber solchen Verfassungsversprechen. Das hinderte nicht gute gelehrte Gespräche und Erkenntnisse innerhalb der Kommission. Sie gingen in einen Bericht ein, der angesichts des politischen Wandels folgenlos bleiben mußte. Mit besonderer Sympathie erinnern wir uns wahrscheinlich beide der deutsch-italienischen Verfassungscolloquien. Sie führten uns von Rom 1979 bis zuletzt in Tübingen 2002 alle paar Jahre mit einem guten Dutzend Kollegen beider Nationen in Orten wie München, Berlin, Florenz j oder in der Villa Vi- 1114 goni zusammen, deren historisch-kulturelles Ambiente zum Unterpfand fruchtbarer und freundschaftlicher Staatsrechtsvergleichung führte. Sabino Cassese * Erstmals erschienen in: Brenner u. a. (Hrsg.), Der Staat des Grundgesetzes – Kontinuität und Wandel, Festschrift Peter Badura zum 70. Geburtstag, Mohr Siebeck, Tübingen 2004, 1113–1124.

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und Christian Tomuschat sowie später Erhard Denninger gebührt das hohe Verdienst, das gegenseitige Verständnis deutschen und italienischen Verfassungslebens aus dem früheren Windschatten in eine ständige Begegnung hinausgeführt zu haben. Armin v. Bogdandys enge Verbundenheit mit Italien bürgt für die Fortsetzung dieser Verbindung. In der sich vertiefenden Europäischen Union wird sie für beide Länder wichtiger denn je. Hat der sich regelmäßig wiederholende Blick nach Italien dazu beigetragen, Peter Baduras Interesse für den europäischen Einigungsprozeß zu vertiefen? Dank des Kieler Staatsrechtslehrerreferates 1964 über das Demokratieproblem auf europäischer Ebene (wie wir heute formulieren würden) war Badura bereits zu einer Stunde mit dem Gemeinschaftsrecht in intensive Berührung gekommen, in der die supranationale Herausforderung an das Grundgesetz für die meisten Staatsrechtslehrer noch terra incognita war. Das Europathema hat ihn seither nicht mehr losgelassen. Das Schriftenverzeichnis weist es vielfältig aus. Mit Maastricht 1992 wurde für Badura „die Verfassung Deutschlands zu einem Tragpfeiler der überstaatlichen Föderation Europas“ (Vorwort der 2. Auflage 1996 zum Magnum Opus seines „Staatsrechts“). So mögen einige Gedanken zu einer wichtigen Frage der jüngsten Fortentwicklung der Europäischen Union sein Interesse finden.

II. Auf dem Wege zu einem europäischen Verfassungsvertrag Seit der beinahe gescheiterten Nizza-Regierungskonferenz der EU-Staats- und Regierungschefs Anfang 2001 hat sich in der Europapolitik die Überzeugung durchgesetzt, daß die während eines halben Jahrhunderts immer komplizierter und unverständlicher gewordenen Integrationsverträge einer grundlegenden Revision bedürfen, wenn die Europäische Union im 21. Jahrhundert handlungsfähig bleiben soll. Letzten Anstoß zu dieser Erkenntnis bot die sich ab 2004 vollziehende große Erweiterung der Union von 15 auf 25 und mehr Mitgliedstaaten. Die in den fünfziger Jahren für eine ursprüngliche Gemeinschaft von sechs Staaten konzipierten europäischen Institutionen (vor allem Rat, Parlament und Kommission) funktionierten schon nach der Nord-, Süd- und EFTA-Erweiterung der EG zwischen 1973 und 1995 mehr schlecht als recht. In der von Schottland 1115 bis Zypern und von Brest bis Brest-Litowsk j reichenden „Groß-EU“, wie sie seit der Unterzeichnung der Beitrittsverträge in Athen am 16. April 2003 beschlossene Sache ist, bedürfen deren Organe grundsätzlicher Neuüberlegungen, wenn der besondere Charakter einer überstaatlich arbeitsfähigen Staatenunion erhalten bleiben und die EU sich nicht in eine Art „europäische UNO“ verwandeln soll. Aus dieser Lage erklärte sich die Einsetzung des Europäischen Konvents durch den Europäischen Rat im belgischen Laeken Ende 2001 und sein Auf-

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trag, bis zur Jahresmitte 2003 den Entwurf eines neuen Verfassungsvertrages für die sich abzeichnende vergrößerte Union vorzulegen. Nachdem 1999/2000 ein erster Konvent unter Leitung von Roman Herzog eine Grundrechtecharta für die EU verabschiedet hatte, scheint diese Form teilweise parlamentarisierter vorbereitender „Verfassungsgebung“ die ausschließlich völkerrechtliche Vertragsrevision durch Regierungskonferenzen abzulösen. Die Konventsmethode entspricht dem heutigen Entwicklungsstand der Union zwischen Internationalität und Staatlichkeit. Anstelle des unüberschaubar gewordenen Dschungels des primären Gemeinschaftsrechts soll das, was man national das materielle Verfassungsrecht nennt, in einer lesbaren Grundordnung zusammengeführt werden. Ungeachtet staatsrechtlicher Bedenken wird in der politischen Diskussion längst von der Vorbereitung einer europäischen Verfassung oder genauer eines Verfassungsvertrages gesprochen. Neben dem Ziel der Vereinfachung schwingt dabei die Hoffnung mit, der großen Union eine Rechtsgestalt geben zu können, die den Bürgern ihre europäische Gemeinsamkeit begreifbar macht und die EU zugleich als weltpolitischen Akteur stärkt. Der Irakkrieg 2003 hat schonungslos sichtbar werden lassen, welchen Bedeutungsverlust ein uneiniges Europa erleidet. III. Legitimität und Effizienz der Union als Reformziele Innerhalb der künftigen europäischen Verfassung kommt der Reform der EUInstitutionen zentrale Bedeutung zu. Nur wenn das sogenannte institutionelle Dreieck zwischen Rat, Parlament und Kommission in seiner Funktionsfähigkeit verbessert wird, bleibt die künftige EU handlungsfähig. Damit ist in gleicher Weise eine Stärkung der demokratischen Legitimität der Union angesagt wie diejenige ihres effizienten Handelns. Im folgenden wird vor allem dieser zweite Gesichtspunkt – bessere Entscheidungsfähigkeit der Union – ins Auge gefaßt. Die Notwendigkeit, die EU durch eine vertiefte Beteiligung der Bürger am europäischen Ge- j schehen besser als 1116 bisher demokratisch zu legitimieren, ist unbestritten. Ihr dient die weitere Stärkung des Europäischen Parlaments. Eine Ausweitung des seit Maastricht bekannten Mitentscheidungsverfahrens zum alleinigen Gesetzgebungsverfahren der künftigen EU führt das Parlament auf gleiche Augenhöhe mit dem Rat. Wenn der Präsident der Kommission vom Europäischen Parlament gewählt wird, ist ein erster Schritt zur Einführung des parlamentarisch-demokratischen Prinzips in der Union getan. Beide Projekte stehen seit 2002 auf der Agenda der europäischen Verfassungsreform.

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IV. Ein handlungsfähiger Staatenverbund? Die zweite Grundforderung der Reform ist schwieriger zu verwirklichen. Wie kann eine „Föderation von Nationalstaaten“ (Joschka Fischer) zu hinreichend geschlossenem Handeln befähigt werden? „On ne peut pas faire une Fédération sans un Fédérateur“ sagte der französische Staatspräsident Charles de Gaulle in den sechziger Jahren in Abwehr der bundesstaatlichen Pläne der Gründungsväter der Europäischen Gemeinschaft. In der sich heute abzeichnenden Union von 25 und mehr Mitgliedstaaten steht der europäische Bundesstaat oder „Superstaat“ auf keiner auch nur entfernten Tagesordnung. Jedoch bedarf die supranational eng verbundene Gemeinschaft im Kern noch souveräner Nationalstaaten, als die sich die EU am Anfang des 21. Jahrhunderts darstellt, aus vielerlei Gründen der Verbesserung ihrer Handlungsfähigkeit in Regierung und Gesetzgebung. Nur so kann das vereinte Europa nach außen und innen die Rolle ausfüllen, die ihm kraft seiner Größe und Wirtschaftskraft und ebenso als „Kontinent der Freiheit und der humanitären Werte“ zusteht, wie es der Europäische Rat in seiner Laekener Erklärung Ende 2001 ausgedrückt hat. Was hindert die Union, sich eine Verfassung zu geben, in der sie ihre Kräfte wirksam zu bündeln und einzusetzen vermag? Wahrscheinlich vor allem anderen jene Vielfalt ihrer Mitglieder, Gesellschaften und Kulturen, deren Europa sich heute zu Recht als Quelle seiner „zivilen Stärke“ berühmt. Ein Reichtum in der Diversität, mittels dessen die kleine Landzunge des asiatischen Kontinents wie kein anderer Erdteil in den beiden letzten Jahrhunderten der Welt ihren Stempel aufgedrückt hat. Im Zeitalter der Globalisierung ist es jedoch schwierig geworden, politische Stärke mit dem Ausleben der nationalen Besonderheiten zu vereinen. j 1117

V. Überrepräsentation kleinerer Mitgliedstaaten Auf der Ebene der Vertragsverfassung erschwert es die immer mehr angewachsene Zahl unterschiedlich großer Mitgliedstaaten der Union, sich Strukturen zu geben, in denen europäischer Gemeinwille sich nach innen überzeugend zu äußern vermag. Gleiches gilt nach außen für die Fähigkeit, im Verhältnis zu den anderen großen Akteuren der Weltpolitik mit einer Stimme zu sprechen. Die Defizienzien eines Staatenverbundes sind überall mit Händen zu greifen, der davor zurückschreckt, die Souveränität seiner Glieder ernsthaft anzutasten, seien sie so klein wie Luxemburg oder Malta. Mit der Erweiterung der Gemeinschaft von ursprünglich sechs auf 25 Mitgliedstaaten hat sich in den meisten Organen das Gewicht der bevölkerungsreicheren Mitgliedstaaten fortschreitend vermindert. Im Europäischen Parlament ist die demographisch-proportionale Präsenz Deutschlands mit 99 Abgeordneten unter 736 heute geringer als in der ursprünglichen Versammlung der Sechsergemeinschaft. Malta, kleiner als Köln,

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stellt 5 Europaparlamentarier. In der Europäischen Kommission besetzten Deutschland, Frankreich und Italien 1958 sechs der neun Kommissionssitze. In der EU von 15 Mitgliedstaaten mit 20 Kommissaren kam noch die Hälfte aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Spanien. Kraft der fragwürdigen Regelung in Nizza 2001 stellt ab 21 Mitgliedstaaten jeder „seinen“ Kommissar. In der künftigen Union ergibt sich ein Zahlenverhältnis 6 (Polen als bevölkerungsreichster Beitrittsstaat den „Großen“ zugerechnet) zu 19 zugunsten der kleineren und mittleren EU-Staaten. Ähnliche Rechnungen lassen sich für die Stimmengewichtungen bei der qualifizierten Mehrheit im Ministerrat ausmachen. Die größeren Mitgliedstaaten haben hier allerdings durch Sperrquoren ihren Einfluß etwas besser gewahrt. Seit Nizza wird erstmals der demographische Faktor in die Berechnungen einbezogen. Am unproblematischsten erscheint die Anerkennung der souveränen Staatengleichheit im Europäischen Gerichtshof, wo demnächst jeder der 25 Mitgliedstaaten einen Richter benennt. Die spezifische Unparteilichkeit des Richteramtes läßt die nationale Herkunft stärker als in den politischen Institutionen in den Hintergrund treten. Das bemerkenswerteste „Souveränitätsopfer“ erbrachte Deutschland mit der Währungsunion. Das Land, dessen Deutsche Mark bis 1999 die „Ankerwährung“ des europäischen Binnenmarktes war, stellt im Rat der Europäischen Zentralbank noch 2 von 17 Vertretern. Wächst „Euroland“ j auf mehr als 15 Mit- 1118 glieder, kann Deutschland bei einer geplanten „gewichteten Rotation“ sein Stimmrecht zeitweilig ganz verlieren. Ähnliche Probleme stellen sich bei der EZB für andere große EU-Staaten. Es gibt mancherlei Begründungsversuche, welche die durchgängige Besserstellung der kleineren Mitgliedstaaten in der Union zu rechtfertigen versuchen. Gerne wird auf die berühmte Zürcher Rede Winston Churchills 1946 verwiesen, mit welcher der europäische Einigungsprozeß eingeläutet wurde: „Kleine Nationen werden so viel wie große gelten . . .“ Churchill schloß freilich sein eigenes Land als „wohlwollenden Freund Europas“ von dieser Vision aus. Andere empfinden es geradezu als anstößig, bei einem Europaabgeordneten oder Mitglied der Kommission nach der Nationalität zu fragen. Sie seien auf das europäische Gemeinwohl verpflichtet und hätten gewissermaßen bei Amtsantritt ihren Paß abgegeben. Wer ein wenig vom „realen Europa“ weiß, kennt die Fragwürdigkeit dieses Argumentes. Zur historischen Wahrheit gehört andererseits, daß die europäische Einigung immer wieder durch Beiträge weitsichtiger Politiker aus kleineren Mitgliedstaaten wesentlich gefördert worden ist. Mit Paul-Henri Spaak, Sicco Mansholt oder Wim Duisenberg spielen die Beneluxstaaten dabei nicht zufällig eine besondere Rolle.

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Der einzig überzeugende, wenn auch nicht rechtfertigende Grund für die heutige Zusammensetzung der EU-Institutionen liegt in der Anerkennung der Souveränität der Mitgliedstaaten, so relativ sich diese darstellen mag. Das Gleichheitsprinzip wird im Ernstfall von den „Kleinen“ mit Zähnen und Klauen verteidigt, wie sich zuletzt bei der Debatte über die Kommission auf der NizzaKonferenz gezeigt hat. Ironischerweise sind es oftmals dieselben, die idealiter das Ziel des europäischen Bundesstaates auf ihre Fahnen schreiben. Wenn die Organe der Europäischen Union in einer Weise zusammengesetzt und gewichtet bleiben, die mit dem politischen, demographischen und ökonomischen „realen Europa“ in zunehmendem Widerspruch steht, wächst die Gefahr, daß die EU-Entscheidungen an Akzeptanz verlieren. Das ist für eine Rechtsgemeinschaft fataler als für ein Staatswesen. Demokratische Legitimität und staatliche Souveränität stehen in einem Spannungsverhältnis. Es beeinträchtigt die Handlungsfähigkeit Europas. Zum Auftrag der europäischen Verfassungsreform gehört, diesen Gegensatz hinreichend zu entschärfen. Da das bundesstaatliche Modell außerhalb ernsthafter Diskussion steht, kann es nur darum gehen, die Gewichte in den Institutionen des Staatenverbundes den Realitäten anzunähern. j 1119

VI. Der Europäische Rat als Leitungsgremium der Union Zum Schlüsselproblem des Bemühens um die bessere Handlungsfähigkeit der künftigen „Groß-EU“ scheint die Reform der Arbeitsweise des Europäischen Rates der Staats- und Regierungschefs zu werden. Das ist kein Zufall. Nach Art. 4 EU-Vertrag ist der Europäische Rat das eigentliche Leitungsgremium der Union. Er gibt „die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse und legt die allgemeinen politischen Zielvorstellungen für ihre Entwicklung fest.“ Art. 4 EU-Vertrag steht in Zusammenhang mit Art. 208 EG-Vertrag, wonach der – politisch vom Europäischen Rat abhängige – Ministerrat die Kommission auffordern kann, „die nach seiner Ansicht zur Verwirklichung der gemeinsamen Ziele geeigneten Untersuchungen vorzunehmen und ihm entsprechende Vorschläge zu unterbreiten“. Diese doppelte Regelung stellt in verhaltener Ausdrucksweise klar, daß der Staatenverbund Europäische Union ungeachtet aller supranationalen Techniken in der politischen Grundausrichtung von den Regierungen der Mitgliedstaaten gelenkt wird. So, wie man gelegentlich die Mitgliedstaaten aufgrund ihrer Ratifikationsgewalt als die „Herren der Verträge“ bezeichnet hat, könnte man im Europäischen Rat den „Herrn der Union“ sehen. Dem entspricht die tatsächliche Entwicklung der Gemeinschaft und Union seit den siebziger Jahren, nachdem der Europäische Rat 1974 auf Initiative von Giscard d’Estaing in Nachfolge der früheren informellen „Gipfel“ der Staatschefs als „Superorgan“ eingerichtet wurde. Seit der Einheitlichen Europäischen

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Akte von 1986 ist er vertraglich verankert. Die meisten maßgeblichen Entwicklungsschritte der EG/EU von der Einführung der Direktwahlen zum Europäischen Parlament 1976 über den Entschluß zur Schaffung der Währungsunion 1990 bis etwa jüngst zur politischen Sanktionierung der großen Ost- und Süderweiterung in Kopenhagen 2002 gründeten sich auf eine Einigung im Kreise der Staats- und Regierungschefs. VII. Ein Präsident für Europa? Die Entscheidungsfähigkeit des Europäischen Rates wird genau wie diejenige der anderen Organe durch die Erweiterung der Union auf 25 Mitgliedstaaten berührt. Schon in der Vergangenheit war die Konsensfindung zwischen einer größeren Zahl vielbeschäftigter Staats- und Regierungschefs keine einfache Aufgabe, zumal der Vorsitz zwischen den Mitglied- j staaten alle sechs Monate 1120 wechselte. Die kohärente Verfolgung mittel- und längerfristiger Ziele erweist sich unter diesen Umständen als höchst schwierig. Diese Schwäche tritt besonders in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Union hervor, die als „zweite Säule“ intergouvernemental organisiert ist. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, trat er in der Unfähigkeit der Union zu Tage, in der Krise um den Irak 2002/2003 zu gemeinsamen Aktionen zusammenzufinden. Dem Europäischen Rat gehören neben den Staats- und Regierungschefs die Außenminister sowie zwei Mitglieder der Kommission an. Nach der Erweiterung ergibt sich eine Größe des Rates von 52 Mitgliedern. Ohne institutionelle Änderungen müßten sich die Schwächen der bisherigen Konstruktion vervielfachen. Es war nicht überraschend, daß die institutionelle Reformdiskussion im Europäischen Konvent sich darauf konzentriert hat, die Arbeitsfähigkeit des Europäischen Rates durch eine Stärkung seines Vorsitzes wiederherzustellen und zu verbessern. Zum maßgeblichen Konzept wurde eine Initiative der Außenminister Deutschlands und Frankreichs Anfang 2003 (Text u. a. in Pressemitteilung der Bundesregierung 21/03 vom 15.1.2003). Nach ihr soll in der europäischen Verfassung ein längerfristig und hauptamtlich tätiger Ratsvorsitzender verankert werden. Der Vorschlag sieht eine Wahl auf zweieinhalb oder sogar fünf Jahre mit qualifizierter Mehrheit durch den Europäischen Rat vor. Die Union erhielte damit eine „sichtbare“ Spitze. Aufgabe des Vorsitzenden wäre nach innen die Vorbereitung und Überwachung der Beschlüsse des Rates. International sollte er die Union neben (vor?) dem Kommissionspräsidenten maßgeblich vertreten. Die operative Außen- und Sicherheitspolitik soll gleichzeitig einem neu zu schaffenden „Europäischen Außenminister“ vorbehalten sein. Er wird in Personalunion der auswärtigen Funktionen des gegenwärtigen

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Hohen Ratsvertreters für die Außenpolitik und des Außenkommissars eingesetzt (sogenannte „Fusion Solana/Patten“ oder auch „kleiner Doppelhut“). Rasch hat das Wort von einem „Präsidenten für Europa“ die Runde gemacht. Inzwischen hat der deutsch-französische Vorschlag die grundsätzliche Unterstützung der übrigen größeren Mitgliedstaaten gefunden (Großbritannien, Italien und Spanien), ferner Dänemarks und der Niederlande. Um so vehementer fiel die Ablehnung durch die übrigen kleineren EU-Staaten aus. Sie werden manchmal die „sieben Zwerge“ genannt. Der hauptamtliche „Präsident für Europa“, für den innerhalb des Europäischen Rates nach Lage der Dinge nur ein ehemaliger Staats- oder Regierungschef in Frage kommt, verkörpert für sie das end1121 gültige Direk- j torat der Mitgliedstaaten über die „genuin europäischen“ Organe wie Parlament und Kommission und damit ein Ende der klassischen Integrationsphilosophie. In ihr war der schrittweise Aufstieg einer dem Parlament verantwortlichen Kommission zur Regierung der Union unter gleichzeitigem Rückzug der verschiedenen Ratsformationen auf die Ebene einer zweiten Kammer vorgesehen. VIII. Sinn und Grenzen der präsidialen Lösung Beim Schreiben dieser Zeilen ist noch nicht ausgemacht, ob und inwieweit sich das Konzept eines längerfristigen und hauptamtlichen Ratsvorsitzes bei der europäischen Verfassungsreform durchsetzen wird. Es spricht viel dafür, daß Schritte in dieser Richtung unternommen werden. Die Beibehaltung des Status Quo mit einem halbjährlichen Wechsel widerspräche eklatant dem Auftrag von Nizza und Laeken, die Handlungsfähigkeit der großen Union sicherzustellen. In der Abwägung des Für und Wider der präsidialen Lösung überwiegen die Vorteile, zumal die Auswirkungen auf das institutionelle Gefüge der EU leicht überschätzt werden. Grundsätzlich bleibt zu bedenken, daß der Vorsitzende des Europäischen Rates nicht stärker sein kann als der Rat selbst. Bei aller Bedeutsamkeit der Vorrangstellung innerhalb der Unionsorgane sind die Grenzen der Handlungsmöglichkeiten des Europäischen Rates nicht zu übersehen. Die EU kennt ein institutionelles Gleichgewicht eigener Art. Der Europäische Rat ist Parlament und Kommission nicht schlechthin übergeordnet. Nach der „Gemeinschaftsmethode“ verfügt die Kommission über ein unabhängiges Initiativmonopol für die europäische Gesetzgebung. An ihm soll in der neuen Verfassung nicht gerüttelt werden. Die politischen Zielvorstellungen des Europäischen Rates mögen für die Kommission maßgeblich sein und sie zur Vorlage von Vorschlägen verpflichten. Innerhalb dieses Rahmens besteht jedoch eine erhebliche Bandbreite eigenständiger Gestaltungsmöglichkeiten. Die Kommission ist auch nicht gehindert, in Abwesenheit von Ratsvorstellungen eigene politische

Ein Präsident für Europa?

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Vorstellungen zu entwickeln. Eine künftige Wahl ihres Präsidenten durch das Parlament würde das Initiativrecht der Kommission weiter aufwerten. Nicht zu vergessen ist ferner, daß der in den Diensten der Kommission sich verkörpernde Sachverstand von bald 30.000 Europabediensteten ihr bei der näheren Gestaltung der Gemeinschaftsaktion einen natürlichen Vorsprung verschafft. j Das Europäische Parlament ist nach allgemeinen Grundsätzen des demokrati- 1122 sierten Unionssystems weder dem Europäischen noch dem Ministerrat untergeordnet. Es hat die vertraglichen Grenzen seiner Gesetzgebungsgewalt zu beachten, die nach der allgemeinen Übernahme des Mitentscheidungsverfahrens in der europäischen Verfassung weiter gezogen werden als bisher. In diesem Rahmen ist es in seiner Meinungsbildung unabhängig. Gleiches gilt kraft ausdrücklicher Regelung für die Tätigkeit der Europäischen Zentralbank im Rahmen ihres geldpolitischen Auftrages. Insgesamt erscheint damit schwer vorstellbar, daß das institutionelle Gleichgewicht zwischen den wichtigsten politischen EU-Organen durch eine Stärkung des Ratsvorsitzes ernsthaft gestört werden könnte. Jedenfalls dann nicht, wenn bei der Neuformulierung der Aufgaben des Europäischen Rates der Anschein eines direkten Über- und Unterordnungsverhältnisses zwischen dem „Präsidenten für Europa“ und dem Kommissionspräsidenten vermieden wird. Andererseits sind gewisse Verbesserungen des Status Quo durch die präsidiale Lösung des Ratsvorsitzes schwer bestreitbar. Schon unter fünfzehn Mitgliedern hat die konzeptionelle Entscheidungsfähigkeit der Runde der Staatsund Regierungschefs dadurch gelitten, daß der jeweilige Vorsitz binnen eines halben Jahres meist nur kurzfristige Anliegen verfolgen und durchsetzen konnte. Nach der großen Erweiterung ergäbe sich eine Art des Wechsels, bei der über ein Dutzend Jahre vergingen, bis ein Mitgliedstaat erneut den Vorsitz übernehmen kann. Die hierdurch eintretende Instabilität läßt sich mit „Troikakonstruktionen“ und ähnlichen organisatorischen Behelfen nur sehr begrenzt ausgleichen. Abwegig ist der Gedanke, ein ehemaliger Staats- oder Ministerpräsident werde als fünfjähriger „Präsident für Europa“ ohne eigene Hausmacht in autoritäre Machtfülle hineinwachsen. Erstrebenswertes Ziel könnte für ihn bestenfalls sein, sich im Kreise der ehemaligen Kollegen eine hinreichende Vertrauensbasis soweit aufzubauen, daß er im Zusammenspiel mit dem Rat und über den „Europäischen Außenminister“ mit der Kommission nach innen und außen den einen oder anderen mittelfristigen Politikentwurf wirksam zu verfolgen vermag. Wie die Erfahrung mit mehr oder weniger erfolgreichen Kommissionspräsidenten von Walter Hallstein bis Romano Prodi gelehrt hat, darf die Autorität der Persönlichkeit für die Führung hoher europäischer Ämter nicht gering veranschlagt werden. Chance und Mißerfolg liegen hier dicht beieinander. Die bestgemeinte institutionelle Vorkehrung versagt, wenn es nicht gelingt, sie personal

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IV. Die europäische Verfassung

angemessen auszufüllen. Kleinere Mitgliedstaaten müssen daher dieselbe Chance wie andere haben, den „Präsidenten für Europa“ zu stellen. j 1123

IX. Finalität der Europäischen Union? Die politischen und wissenschaftlichen Stellungnahmen über den eines Tages eintretenden „Endzustand“ der Europäischen Union sind mittlerweile Legion. Manche verweigern die Antwort, indem sie den Weg zum Ziel erklären. Die Union wird mit dem Radfahrer verglichen, der umfällt, wenn er stehen bleibt. Andererseits nähert sich das Europa der 25 Mitgliedstaaten allmählich seiner geographischen Finalität. Die EU von Athen umschließt noch nicht Gesamteuropa. Seine Grenzen im Osten und Südosten deuten sich aber an. Mit den verschiedenen Balkanstaaten und vielleicht eines Tages der Schweiz, Norwegen und Island mag die EU übermorgen auf über 30 Mitglieder anwachsen. Die Türkei ist ein weiterer potentieller Beitrittskandidat. Es gibt freilich viele Befürchtungen, daß die Einbeziehung Anatoliens und seiner demnächst 80 Millionen Bürger das Ende der integrierten Union bedeuten würde. Im Falle des Beitrittes der Türkei ließe sich die Ablehnung weiterer Ausdehnungen der Union nach Osten bis an den Don oder gar bis zum Ural kaum noch rational begründen. Die Entwürfe zur europäischen Verfassung suchen einem Ende des integrierten Unionsprojektes nach Art der Dinosaurier durch Vorschläge zugunsten eines privilegierten Nachbarschaftsverhältnisses ohne Mitgliedschaft vorzubeugen. Läßt sich das verwirklichen, mag man den sich abzeichnenden europäischen Verfassungsvertrag als eine Urkunde begreifen, die der Union weit in das neue Jahrhundert ihre Gestalt gibt. Danach bliebe der vor Jahrzehnten erhoffte europäische Bundesstaat Fata Morgana. Die Europäische Union wird nicht zur Kopie der USA. Wie es Peter Badura 2002 ähnlich in der Festschrift für YuehSheng Weng ausgedrückt hat, spricht vieles dafür, daß die föderative Staatengemeinschaft Europas auch künftig bei der Wahrung von Frieden, Gerechtigkeit und Wohlstand von der politischen Kraft ihrer Mitgliedstaaten lebt. Wenn dem so ist, bedarf der Staatenverbund EU auf unbestimmte Zeit Organisationsformen, in denen nationaler und „genuin europäischer“ politischer Wille eine fruchtbare Symbiose eingehen. Ein „Präsident für Europa“ könnte ein sinnvoller Schritt in diese Richtung sein.

Dieser Beitrag wurde im Frühjahr 2003 geschrieben. In dem endgültigen Verfassungsentwurf des Konvents, den Präsident Giscard d’Estaing am 18.7.2003 der italienischen Ratspräsidentschaft übergab, ist in Art. 21 des ersten Verfassungsteils ein hauptamtlicher Präsident des Europäischen Rates ungefähr so vorgesehen, wie es einige Monate vorher absehbar war. Er wird von den Ratsmit1124 gliedern mit qualifizierter Mehrheit j für zweieinhalb Jahre gewählt. Einmalige

Ein Präsident für Europa?

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Wiederwahl ist möglich. Er darf kein einzelstaatliches Amt innehaben. Der „typische“ Ratspräsident ist hiernach ein angesehener ehemaliger Staats- und Regierungschef mit einem gleichzeitigen Amt innerhalb der EU. Damit wird der „große Doppelhut“ der Personalunion zwischen Rats- und Kommissionspräsident für die Zukunft offengehalten. Dies war im Kontext der Preis, mit dem die ursprünglichen Gegner des „Präsidenten für Europa“ ihn letztlich akzeptierten. Gleichzeitig wurden seine Aufgaben im wesentlichen auf die Vorbereitung und Durchführung der Ratstagungen in Zusammenarbeit mit dem Kommissionspräsidenten und als oberster Repräsentant der Union in der Außenvertretung beschränkt. Eine starke und geschickte Persönlichkeit dürfte auch in diesen Grenzen dem Amt zum Nutzen der EU Profil geben können. Im Herbst 2003 bleibt abzuwarten, ob und inwieweit der Verfassungsentwurf des Konvents von der Regierungskonferenz der EU-Staaten angenommen wird. Damit entscheidet sich auch das Schicksal des „Präsidenten für Europa“ – wie überhaupt zukunftsfähiger Strukturen der Europäischen Union des 21. Jahrhunderts. Wie ein anderer bedeutender Münchener, Karl Valentin, einmal gesagt hat, sind Prognosen dann besonders schwierig, wenn sie in die Zukunft gerichtet sind.

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Ministerpräsident Erwin Teufel im Europäischen Verfassungskonvent Der Vertreter des deutschen Bundesrates führte im Verfassungskonvent vor Augen, wie viel ein einzelner Vollblutpolitiker in einem großen Gremium zu bewirken vermag, wenn er sich auf seine hauptsächlichen Anliegen konzentriert.*

I. Ein unerwarteter Anruf Anfang 2002 erreichte mich ein plötzlicher Anruf von Minister Christoph Palmer aus dem Stuttgarter Staatsministerium. Ob ich bereit wäre, Ministerpräsident Teufel im Europäischen Verfassungskonvent zu beraten. Der „Konvent zur Zukunft Europas“ konstituierte sich gerade in Brüssel und Teufel war vom Bundesrat zu einem der drei deutschen Mitglieder gewählt worden (neben Professor Jürgen Meyer MdB für den Bundestag und zunächst Professor Peter Glotz für die Bundesregierung – ab Oktober 2002 Bundesaußenminister Joschka Fischer). Aufgabe des Konvents war bekanntlich, unter der Präsidentschaft von Valéry Giscard d’Estaing bis Mitte 2003 den Entwurf eines Verfassungsvertrages für die Europäische Union auszuarbeiten. Bald sprach man nur noch von der Europäischen Verfassung. Was war da zu zögern? So trat ich bald darauf als eine Art „freischaffender Künstler“ in den Arbeitsstab Konvent des Stuttgarter Staatsministeriums ein, der unter Leitung von Karl Greißing, Claus-Peter Clostermeyer und später Alexandra Zoller dem Ministerpräsidenten zuarbeitete. Freundlich aufgenommen (in Behörden keine Selbstverständlichkeit) begannen anderthalb Jahre Mitarbeit an einem faszinierenden Projekt der europäischen Integration in Brüssel und Stuttgart. Ein besonderer Reiz bestand darin, einem deutschen Politiker der vordersten Reihe aus der Nähe helfen zu können. Am 18. Juni 2004 haben die Staats- und Regierungschefs der EU den endgül26 tigen Text der Verfassung festgelegt. j Der allergrößte Teil beruht auf dem Entwurf, den der Konvent elf Monate zuvor dem italienischen Ratspräsidenten übergeben hatte. Der Augenblick erscheint günstig, einen Blick zurück auf das Wirken Teufels in Brüssel zu werfen.

* Ministerpräsident Erwin Teufel im Europäischen Verfassungskonvent, in: Palmer (Hrsg.), Europa in guter Verfassung. Erwin Teufel – für die deutschen Länder im Konvent, 2004, 25–37.

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II. Erwin Teufel – ein „Europäer“ Erwin Teufel vermochte im Konvent konstruktiv mitzuarbeiten, weil er seit langem ein inneres Verhältnis zum europäischen Einigungsprozeß hatte. Als junger Mann erlebte Teufel in den fünfziger und sechziger Jahren die legendäre Gründungsphase der Europäischen Gemeinschaft unter Adenauer, Schuman, Hallstein und anderen – das aus den Ruinen des zweiten Weltkrieges auferstandene Europa. Später wurde er Ministerpräsident Baden-Württembergs, des Exportlandes im Herzen der EG und mit langen Außengrenzen zu verschiedenen europäischen Nachbarn. Das Brüsseler Pflaster lernte Teufel im Ausschuß der Regionen kennen. Was lag näher, als das Zusammenwachsen Europas und insbesondere die Aussöhnung mit Frankreich mit Herz und Verstand zu begrüßen? Erwin Teufel ist kein ideologischer „EG-Integrationist“. Davor bewahren ihn die Erfahrungen eines langen Politikerlebens. Im Konvent konnte man die „Conventionnels“ in drei Kategorien einteilen: Integrationisten, Euro-Realisten und Euroskeptiker. Die Verfassung stellt einen gelungenen Kompromiß zwischen den beiden ersten Gruppierungen dar. Vor allem die Konventsmitglieder aus dem Europäischen Parlament wie Elmar Brok oder Klaus Hänsch vereinte die Überzeugung, daß der klassische Weg weiterer Stärkung der Gemeinschaftsorgane mit Blick auf den Europäischen Bundesstaat weitergegangen werden sollte. Die meisten Regierungsvertreter, darunter untadelige „Europäer“ wie Giscard d’Estaing oder Teufel einte dagegen die Vision einer EU als intensiver und dauerhafter „Staatenverbund“, mit einem ausgewogenen Verhältnis zwischen den Kompetenzen der Union und ihrer Mitglieder. j Das Subsidiaritäts- 27 prinzip war hierfür der Lackmustest. Die „Euro-Realisten“ und die Integrationisten standen sich nahe und fanden in den konkreten Entscheidungen immer wieder Kompromisse. Das trennte sie von den wenigen Euroskeptikern meist britisch-skandinavischer Herkunft, denen die ganze Richtung fortschreitender „Verfaßtheit“ der Union nicht paßte, ohne daß sie über einen Gegenentwurf verfügten. Freilich werden erst die abschließenden Referenden und parlamentarischen Ratifikationen der Verfassung in den kommenden beiden Jahren erkennen lassen, ob die Euroskeptiker im Konvent wesentliche Teile der Unionsbürger repräsentierten. III. Ein Konventsmitglied mit Statur Es dauerte nicht lange, bis Erwin Teufel einen angesehenen Platz im Konvent einnahm. Mehrere Faktoren trugen dazu bei. Zum einen hatte die Stimme eines langjährigen Regierungschefs ihre natürliche Autorität. Als Vertreter des deutschen Bundesrates gehörte Teufel zwar formal zu den parlamentarischen Konventsmitgliedern. Der Sache nach war er jedoch als Ministerpräsident ein Regierungsmitglied. Das Präsidium des Konvents pflegte aus mancherlei Gründen auf

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IV. Die europäische Verfassung

die Regierungsvertreter besonders zu hören. Außerdem war nicht unbekannt, daß der Bundesrat nach dem deutschen Grundgesetz den Verfassungsvertrag später mit ratifizieren muß. Dies sicherte Teufels Anliegen Aufmerksamkeit. Der Ministerpräsident konzentrierte sich als erfahrener Politiker auf Fragen, die ihm und den deutschen Bundesländern am Herzen lagen. Bei den im Konventsplenum üblichen kurzen Debattenbeiträgen wurde rasch spürbar, daß Teufels Interventionen zugunsten einer klaren Kompetenzordnung zwischen Union und Mitgliedstaaten, zur Rolle der Regionen, zur Subsidiarität und auch zu einer christlichen Fundierung der Verfassung von Sachverstand und Überzeu- j 28 gung getragen waren. Er fand Anhänger und Gegner – auf jeden Fall hörte man ihm zu. Erwin Teufel wußte, daß man in einem parlamentarischen Gremium zur Durchsetzung der eigenen Forderungen Bundesgenossen braucht. Er scheute keine Mühen, sie um sich zu scharen. IV. Auf der Suche nach den „Freunden der Subsidiarität“ Teufel hielt von Anfang an Ausschau nach Gesinnungsfreunden im Konvent, die wie er Verständnis für eine „dem Subsidiaritätsprinzip entsprechende Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten“ hatten. Eine solche Kompetenzordnung sollte die Verfassung gemäß dem Auftrag der Nizza-Konferenz 2001 schaffen. Darauf zielten auch die Entschließungen des Bundesrates, die Teufel als Marschgepäck mitgegeben worden waren. Die wichtigste Verbindung wurde gleich zu Beginn hergestellt. Der Ministerpräsident hatte den Konventspräsidenten Giscard d’Estaing zum Europatag Anfang Mai 2002 zu einer Rede in Stuttgart vor großem Publikum eingeladen. Bei dieser Gelegenheit fanden sich die beiden ungleichen Persönlichkeiten. Giscard begriff als Regionalpräsident der Auvergne sofort, daß Teufels föderalistische Erfahrungen für die Verfassung wertvoll sein mußten. Umgekehrt war der „Draht“ zum Konventspräsidenten besonders wichtig, da in Brüssel bald sichtbar wurde, daß das Präsidium mit Hilfe seines von Generalsekretär Sir John Kerr effektiv geleiteten Sekretariates die Zügel der Verfassungsvorbereitung fest in die Hand nahm. Nikolaus Meyer-Landrut wurde als Sprecher des Präsidenten öfters zum wichtigen Mittler. j 29

Im Laufe der ersten Monate häuften sich die Besuche Teufels bei einer Reihe von Kollegen am Rande der Konventssitzungen. Wertvolle Vorbereitung leistete die Brüsseler Landesvertretung Baden-Württembergs unter Richard Arnold und dem nimmermüden, stets fröhlichen Begleiter Gert Jauernig. Immer wieder stapften wir durch das Labyrinth des weitläufigen Brüsseler Parlamentsgebäudes – Tagungsort des Konvents – oder hatten Verabredungen zu knapp bemessenen Arbeitsessen. Die Liste der Gesprächspartner war lang, im Sinne von

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Kurt Tucholsky („Dieweil, lieber Freund, zu jeder Frist, die Hauptsache das Persönliche ist“). Um nur wenige Namen zu nennen: die beiden Vizepräsidenten des Konvents Giuliano Amato und Luc Dehaene, Michel Barnier und Antonio Vitorino als Vertreter der Kommision, aus dem Präsidium Klaus Hänsch, Inˇigo Méndez de Vigo, Ana Palacio (bald spanische Außenministerin) oder der Vertreter der Beitrittsstaaten Alojz Peterle aus Slowenien. j Besonders eng gestalteten sich die Beziehungen zu den französischen Kon- 30 ventsmitgliedern. Senator Hubert Haenel, Alain Lamassoure und Pierre Lequiller waren alle auf ihre Weise „Regionalisten“ und einflußreich. Außenminister de Villepin suchte nach seinem Eintritt in den Konvent Anfang 2003 seinerseits das Gespräch, welches er mit einem Hölderlin-Zitat eröffnete. Selbstverständliche Kontakte ergaben sich für Teufel aus der Zugehörigkeit zur „politischen Familie“ der Europäischen Volkspartei (EVP), die sich wie die Sozialisten und Liberalen regelmäßig abstimmte. Von Zeit zu Zeit wurde in die Klausur auswärtiger „Studientage“ eingeladen. Die EVP-Gruppe entwickelte sich unter der weitsichtigen Regie des barocken Elmar Brok zu einer der wichtigsten Kräfte im Konvent. Sie lag in ihrem integrationistischen Drang oft im Konflikt mit dem Präsidium. Teufel entwickelte viel Einvernehmen mit Kollegen wie Minister Hannes Farnleitner (Österreich), René van der Linden (Niederlande) oder aus der liberalen Gruppierung mit dem römischen Senator Lamberto Dini. Gute persönliche Beziehungen bedeuteten nicht immer Übereinstimmung in der Sache. Die liebenswürdigen Spanier mochten von einer europäischen Stärkung der Regionen mit Blick auf Katalonien und das Baskenland nichts wissen. Hinter der Forderung nach einer klaren Kompetenzordnung witterten sie deutsche Bestrebungen, weniger Strukturmittel nach Brüssel überweisen zu wollen. Das gegenseitige Kennenlernen erleichterte gleichwohl, nach Auseinandersetzungen Brücken zu schlagen. Seit Beginn des Konvents lud der Ministerpräsident von Zeit zu Zeit gleichgesonnnene Gesprächspartner zum gemütlichen Abendessen in die baden-württembergische Landesvertretung ein. Der Name „Freunde der Subsidiarität“ bürgerte sich ein. Der Elsässer Hubert Haenel nannte die Runde „Le Stammtisch“. Ohne formelle Absprachen ergaben sich gemeinsame Positionen. Zu den Freunden j der Subsidiarität zählten auch Beobachter des Ausschusses der Regionen 31 im Konvent unter Josef Chabert, denen Teufel langjährig verbunden war. V. Die „Heimatfront“ Der Ministerpräsident kannte die deutschen Konventsmitglieder längst von anderen Gelegenheiten. Peter Altmaier, Jürgen Meyer und Joachim Würmeling waren parlamentarische Kollegen. Teufels Vertreter Minister Wolfgang Senff

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IV. Die europäische Verfassung

(Niedersachsen), später Minister Wolfgang Gerhards (Nordrhein-Westfalen) kamen aus dem Bundesrat. Auch zu Peter Glotz und anschließend Joschka Fischer wurde ein guter Arbeitskontakt hergestellt. Europapolitik gehört in Deutschland immer noch zu den wenigen überparteilichen Agenden. Die in den Berliner Vorbereitungen mit dem Auswärtigen Amt auszufechtenden Probleme betrafen meist den hinreichenden Einsatz des Bundes für die Anliegen der Länder im Konvent. Als nützlich erwies sich der „Brüsseler Kreis“ der deutschen Konventsmitglieder vor jeder Plenarsitzung, den das Auswärtige Amt (Staatssekretär Pleuger und später Staatsminister Bury) ausrichtete. Teufels Aufgabe war als Vertreter des Bundesrates schwieriger als diejenige der meisten Mitglieder. Ein Beobachter bemerkte scherzhaft, der Ministerpräsident sei „der ärmste Teufel im Konvent“. Das Mandat des Konvents zur Reform der Kompetenzordnung leitete sich aus einer Forderung der deutschen Bundesländer anläßlich der Ratifikation des Nizza-Vertrages her. Der Bundesrat hatte parteiübergreifende Papiere mit präzisen Vorstellungen entwickelt. Ihre Vertretung in Brüssel fiel Teufel grundsätzlich leicht, da sie seinen tiefen Überzeugungen von einem subsidiären Aufbau der EU „von unten nach oben“ entsprachen. Andererseits war ihm klar, daß sich in einem aus 27 Staaten heterogen zusammengesetzten Konvent mit 105 Mitgliedern nicht Alles „Eins zu Eins“ durchsetzen ließ. j 32

Dies war auch den Ministerpräsidentenkollegen aus den deutschen Bundesländern bewußt. Sie honorierten anläßlich der regelmäßigen Konferenzen in Berlin Teufels unablässigen Einsatz für ihre Kernforderungen. „Wenn Teufel weiter so viel in Brüssel ist, muß ich demnächst Baden-Württemberg mit übernehmen“, bemerkte Edmund Stoiber einmal in einem Führungszirkel der Unionsparteien. Ähnlich wohlwollend klangen Äußerungen Kurt Becks und anderer auf den Ministerpräsidentenkonferenzen. Die gute Harmonie zwischen Stoiber und Teufel hinderte die Bayern allerdings nicht, als einziges Bundesland einen scharfsinnigen Regierungsdirektor zu jeder Konventssitzung in die Couloirs des Parlamentsgebäudes zu schicken, um nachzuschauen, ob die Prinzipien des deutschen Föderalismus hinreichend gewahrt wurden. Der Stab Teufels hatte auf der Arbeitsebene ab und zu peinsame Prüfungen zu bestehen, wenn der Stand der Bundesratspapiere abgehakt wurde. Für solche Herausforderungen und für die Probleme in Brüssel war ein Stuttgarter Beraterkreis hilfreich, den der Ministerpräsident früh zusammengerufen hatte. Europarechtliche Experten wie der frühere Richter am Europäischen Gerichtshof und Präsident des Bundesgerichtshofes Günter Hirsch oder Professor Jürgen Schwarze aus Freiburg i. Br. wirkten mit. Letzterer hatte einen eigenen Verfassungstext im Gepäck („Freiburger Entwurf“). Teufel suchte mehrfach Resonanz für seine Arbeit in Brüssel über Konventsdebatten im baden-württembergischen Landtag. Das Staatsministerium richtete

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zur Beteiligung der Bürger im Rahmen des Möglichen ein Internet-Portal ein. Mit dem Fortschreiten des Konvents nahmen Einladungen zu Reden an den Ministerpräsidenten ständig zu. Wie alle deutschen Konventsvertreter war der Ministerpräsident regelmäßiger Ansprechpartner der organisierten Interessen von der Industrie bis zu den Gewerkschaften, die bestimmte Anliegen in der Verfassung berücksichtigt j wissen 33 wollten. Die Kirchen in Deutschland wandten sich zuerst an den Christdemokraten Erwin Teufel. Im Kampf um den Gottesbezug in der Verfassungspräambel wurde Teufel einer der Protagonisten im Konvent. Auch wenn der volle Erfolg ausblieb, gelang mit der Erwähnung des fortwirkenden religiösen Erbes Europas und der Garantie eines regelmäßigen Dialogs zwischen Kirchen und EU eine bisher unbekannte Verankerung des kirchlichen Status in der Verfassung. VI. Die Arbeit im Konvent Die zahlreichen, sich oftmals ändernden Konventstermine bedeuteten eine große Herausforderung an den dichtgedrängten Terminkalender eines Ministerpräsidenten. Auch wenn Flugzeug, Hubschrauber und die modernen Kommunikationsmittel vieles möglich machten, stand Erwin Teufel ab und zu vor der Quadratur des Zirkels. Die meist zweimal im Monat stattfindenden Plenarsitzungen stellten das geringste Problem dar. Hinzu traten fortlaufend Zusammenkünfte von Arbeitsgruppen, Vorbereitungstreffen u. ä. in Brüssel, Berlin und Stuttgart oder die EVP-Studientage im EU-Ausland. Letztlich half die langjährige Erfahrung, Wichtiges und Sekundäres auseinanderhalten zu können. Minister Palmer und der Arbeitsstab sprangen ein, soweit es möglich war. Ein Konventsmitglied konnte neben richtungweisenden Kurzreden auf den Plenarsitzungen und in Arbeitsgruppen – Teufel engagierte sich vor allem in der Arbeitsgruppe „Subsidiarität“ – vor allem über die vielerlei Einzelgespräche am Rande des Konvents sowie über schriftliche Stellungnahmen Wirkung erzielen. Die Spuren, die Teufels Arbeit im Text der Verfassung hinterließ, wurden mit einigen größeren Dokumenten gelegt, die durch die moderne Konferenztechnik in Blitzesschnelle allen Mitgliedern zugänglich waren. Im Herbst 2002 dienten ausführliche j Leitlinien zur Kompetenzordnung der Vorbereitung eines Vier- 34 augengesprächs mit Giscard d’Estaing, in dem wichtige Klärungen erfolgten. Ebenso bedeutsam war die Beteiligung Teufels an Gruppenanträgen, aus denen das Präsidium relevante Meinungsströmungen im Plenum erkennen konnte. Das ungewöhnliche Engagement des Ministerpräsidenten im Konvent erklärt sich wohl letztlich aus der Überzeugung, zur Verfassung einer Europäischen Union beitragen zu können, die Europa stärkt, indem sie das „ferne Brüssel“ dem Bürger näher bringt und mittels deren die Union sich auf diejenigen Auf-

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IV. Die europäische Verfassung

gaben konzentriert, welche die Kräfte der einzelnen Mitgliedstaaten übersteigen, anstatt sich in „Regulierungswut“ zu verzetteln. VII. Die Verfassung: Erreichtes und nicht Erreichtes Es ist mancherorts üblich geworden, den Verfassungsentwurf „kleinzureden“, den der Konvent im Juli 2003 im Konsens verabschiedete und den die Staatsund Regierungschefs der Mitgliedstaaten ein knappes Jahr später am 18. Juni 2004 ohne größere Änderungen verabschiedet haben. Wer die Entstehung des Konventsentwurfs aus der Nähe miterlebt hat, denkt anders. Verfassungspolitik ist wie alle Politik Kunst des Möglichen. In einer Versammlung aus 27 europäischen Staaten mußten Kompromisse geschlossen werden. Manche Wünsche, auch aus den deutschen Bundesländern, blieben unerfüllt. j 35

Wer sich in dem Wirrwarr der heute geltenden Europaverträge auch nur halbwegs auskennt, kann jedoch gerechterweise die Fortschritte nicht leugnen, welche eine einheitliche EU-Verfassung mit sich bringen wird, wenn sie – hoffentlich! – demnächst in Kraft tritt. Läßt man ihren unvermeidlichen dritten Teil beiseite, ist ein knapper und gut lesbarer Text entstanden. Die „eigentliche Verfassung“ ist kürzer als das deutsche Grundgesetz. Auch mit den nicht überall überzeugenden Nachbesserungen der Regierungskonferenz wird die Union der 25 Mitgliedstaaten handlungsfähiger als bisher. Der Einfluß einzelner Konventsmitglieder auf die Verfassung war notwendig begrenzt. Erwin Teufel und seine Bundesgenossen haben gleichwohl ihre Spuren hinterlassen. Zum ersten Mal enthält das europäische Vertragswerk den Einstieg in eine nachvollziehbare Ordnung der Zuständigkeiten zwischen Union und Mitgliedstaaten. Mit ausschließlichen, geteilten und ergänzenden Kompetenzen sind die Anleihen aus der deutschen Verfassungsordnung unübersehbar. Aufgrund starker Widerstände aus anderen EU-Staaten ist man auf halbem Wege stehen geblieben. Anstelle der Unübersichtlichkeit der bisherigen Verträge werden jedoch ordnende Prinzipien sichtbar. Das gilt vor allem für Teufels Hauptanliegen, das Subsidiaritätsprinzip präziser zu fassen und einer politischgerichtlichen Doppelkontrolle zu unterwerfen. Wenn der deutsche Gesetzgeber bei der Ratifikation das Angebot der Verfassung annimmt, kann sich der Bundesrat und indirekt sogar ein einzelnes Bundesland in die Subsidiaritätskontrolle einschalten. Entgegen einem leidenschaftlichen Plädoyer Teufels für einen „negativen Kompetenzkatalog“ zur Sicherung unverzichtbarer Befugnisse der Mitgliedstaaten und Regionen war es nicht möglich, den Konvent hierzu und zur Rückübertragung übertriebener oder überlebter EU-Kompetenzen an die Mitgliedstaaten zu veranlassen. Dies war die wohl schmerzlichste Erfahrung im Konvent. Mit

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dieser j Forderung machte sich der Ministerpräsident in der Euphorie der ersten 36 Konventsmonate sogar zeitweilig ausgesprochen unbeliebt. Die Verfassung überträgt im Gegenteil der Union einige neue Zuständigkeiten, teilweise verständlich, andere überflüssig. Die Zahl der Profiteure von Europazuständigkeiten ist vorläufig zu groß, als daß die Stunde der notwendigen Besinnung bereits geschlagen hätte. Immerhin gelang es als eine Art Ersatz, die Erwähnung der „nationalen Identität“ im Sinne der Unantastbarkeiten mitgliedstaatlicher Ordnung wesentlich zu verdeutlichen. In der Klausel sind nunmehr die klassischen Staatsaufgaben einschließlich des Prinzips der regionalen und kommunalen Selbstverwaltung festgehalten. Die Regierungskonferenz vollzog einen bedauerlichen Rückschritt zum Konventsentwurf, indem sie den von Teufel und anderen hart erkämpften „Legislativrat“ ohne viel Federlesen strich. In diesem übergeordneten Ministerrat sollte gemäß dem – national selbstverständlichen – Kabinettsprinzip künftig alle EUGesetzgebung verabschiedet werden. Nach dem Pyrrhussieg der Ressortegoismen werden die Fachminister von der Landwirtschaft bis zur Umwelt ihr Süppchen in Europa zu Lasten des Ganzen vorläufig weiter kochen. Man könnte noch manches aufzählen, was im Sinne des Vertreters des Bundesrates in der Verfassung Aufnahme fand oder worauf verzichtet werden mußte. Wichtiger als solche Einzelheiten bleibt festzuhalten, daß es den gemeinsamen Anstrengungen gelungen ist, sich auf ein Verfassungswerk zu einigen, welches zum ersten Mal nach einem Halbjahrhundert Gemeinschaftsgeschichte den stückweisen Fortschritt der europäischen Einigung in einem nach übergreifenden Prinzipien geformten einheitlichen Dokument zusammenfügt, eben „in Verfassung bringt“. Die Bereitschaft der Regierungen, nach einigen hochpolitischen Auseinandersetzungen und Kompromis- j sen im wesentlichen 37 den Entwurf des Konvents zu verabschieden, bedeutete die Anerkennung eines anderthalbjährigen erfolgreichen Ringens um Einigung. Nun sollen die Parlamente und mancherorts die Bürger ihr Urteil abgeben. Man darf hoffen, daß sie über wohlfeiler Kritik und Skepsis nicht die bemerkenswerten Fortschritte übersehen, welche der Europäische Verfassungskonvent dank des Engagements von Mitgliedern wie Erwin Teufel und vielen anderen zuwege gebracht hat.

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Valéry Giscard d’Estaing – Vater der Europäischen Verfassung1 Würdigung der Leistung des französischen Konventspräsidenten, unter Vertretern aus 28 Mitglieds- und Beitrittsstaaten Konsens über den Entwurf einer gemeinsamen Verfassungsurkunde herzustellen. Die anschließende Regierungskonferenz übernahm 2004 ungefähr 90% des Konventsentwurfs.

Jost Delbrück fühle ich mich freundschaftlich verbunden, obwohl sich unsere Wege nur gelegentlich kreuzten. Viele seiner Publikationen sind mir ein Begriff, ebenso wie sein Wirken in unserer Scientific Community und darüber hinaus. Die Völkerrechtsordnung, Frieden und Menschenrechte standen stärker im Zentrum seines Schaffens als der europäische Einigungsprozeß. Delbrück ist aber auch Verfassungsrechtler als Mitkommentator des Grundgesetzes und der Charta der Vereinten Nationen. Die nachfolgenden Erinnerungen an den Europäischen Verfassungskonvent 2002/2003 und seinen Präsidenten mögen daher den ehemaligen Rektor der Kieler Christian-Albrechts-Universität, Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht und Inhaber anderer wichtiger Ämter interessieren. I. „Verfassungsväter“ „Vater“ einer Verfassung ist eine gebräuchliche Wortwahl, öfters auch im Plural („Väter des Grundgesetzes“). Der Sieg hat viele Väter. Ähnlich wie bei „Gottvater“ ist die Gleichberechtigung noch nicht weit genug fortgeschritten, um die „Mütter“ einzubeziehen. Sie fehlen bisher in den meisten Fällen. „Vater“ oder „Väter“ sind Persönlichkeiten, die einer Verfassungsgebung durch Einflußnahme auf wesentliche Entscheidungen so stark ihren Stempel aufgedrückt haben, daß man in diesem Zusammenhang unwillkürlich an sie denkt. John Adams, Benjamin Franklin, Thomas Jefferson, James Madison und George Washington schufen vor zweihundert Jahren die amerikanische Verfassung, die bis heute Bestand hat. Im Parlamentarischen Rat 1948/1949 fällt uns 1 Der Beitrag (erstmals erschienen in: Festschrift Jost Delbrück, Duncker & Humblot, Berlin 2005, 519–533) geht auf Eindrücke von Thomas Oppermann 2002–2003 im Europäischen Verfassungskonvent in Brüssel zurück, an dem dieser als Berater von Ministerpräsident Erwin Teufel, Konventsmitglied für den Bundesrat, teilnahm. Diese Beobachtungen und Schlußfolgerungen sind rein persönlich und mögen hier und da spekulativ sein. Im wesentlichen fühlt sich der Verf. ziemlich sicher, daß sie zutreffen.

Valéry Giscard d’Estaing – Vater der Europäischen Verfassung

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ebenfalls nicht eine einzelne Person als „Vater des Grundgesetzes“ ein, sondern mehrere wie Theodor Heuss oder Carlo Schmid. Ähnliches gilt für die Paulskirche 1848. Der Staatsmann und Praktiker Konrad Adenauer hat eher als „Vater der Bundesrepublik“ seinen Platz in der Geschichte, denn als Schöpfer ihrer Verfassung. j In anderen Fällen haben sich einzelne Persönlichkeiten so stark in den Vor- 520 dergrund geschoben, daß sich ein einzelner Name mit dem Verfassungswerk verbindet. Die „Bismarck-Verfassung“ 1871 ist in Deutschland das klassische Beispiel. Die Weimarer Reichsverfassung 1919 hatte im Staatsrechtler Hugo Preuß einen „Hintergrund-Vater“. Charles de Gaulle schuf 1958 mit Hilfe des halb vergessenen Michel Debré die Verfassung der V. Französischen Republik und setzte 1962 gegen viele Widerstände die Direktwahl des Präsidenten durch. Der „Vertrag über eine Verfassung für Europa“ ist am 29. Oktober 2004 in Rom unterzeichnet worden.2 Er beruht zum größten Teil auf dem Entwurf des Brüsseler „Konvents zur Zukunft Europas“. Sein Präsident Valéry Giscard d’Estaing hat den Text am 18. Juli 2003 der italienischen Ratspräsidentschaft zur abschließenden Verhandlung auf der Regierungskonferenz übergeben. Wird man Giscard d’Estaing künftig als „Vater der Europäischen Verfassung“ bezeichnen, falls sie in einem beispiellosen Ratifikations- und Referendenprozeß in 25 Mitgliedstaaten endgültig das Licht der Welt erblickt? Gute Gründe gäbe es. II. Ernannter Präsident einer Kreation des Europäischen Rates Der auf dem Europäischen Rat im belgischen Laeken im Dezember 2001 aus der Taufe gehobene Europäische Verfassungskonvent war kein Pouvoir Constituant im Sinne der Allgemeinen Staatslehre. Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union hatten ihn geschaffen und seine Zusammensetzung aus ungefähr zwei Dritteln Parlamentariern und einem Drittel Regierungsvertretern bestimmt. Der Europäische Rat setzte das dreiköpfige Präsidium mit dem ehemaligen französischen Staatspräsidenten Giscard d’Estaing als Vorsitzendem und den ehemaligen Ministerpräsidenten Giuliano Amato (Italien) und Jean-Luc Dehaene (Belgien) als Vizepräsidenten ein. Die gouvernementale Note war unverkennbar. Angeblich stand auch der frühere französische Kommissionspräsident Jacques Delors für die Spitze des Konvents im Gespräch. Er soll für die Briten zu sehr „Integrationist“ gewesen sein. Der Verfassungskonvent knüpfte mit einem ehemaligen Staatsoberhaupt als Präsidenten an die Tradition des ersten 2 Nachfolgende Artikelnummern gemäß dem endgültigen Verfassungstext vom 29.10.2004.

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„Grundrechte-Konvents“ 1999/2000 an, der vom früheren deutschen Bundespräsidenten Roman Herzog geleitet worden war. Der Konvent war keine souveräne verfassunggebende Versammlung. Seine Arbeit war durch das „Mandat von Nizza“ und die Laeken-Erklärung 2001 auf vier Punkte beschränkt: – Eine dem Subsidiaritätsprinzip entsprechende EU-Kompetenzordnung, – Status der EU-Grundrechte-Charta von 2000, – Rolle der nationalen Parlamente in der Architektur Europas, – Vereinfachung der Verträge, ohne sie inhaltlich zu ändern. j 521

Der Konvent hatte die Wahl, „verschiedene Optionen“ oder ein konsentiertes „Abschlußdokument“ zu erstellen. Dahinter verbarg sich verschämt die Möglichkeit, den Entwurf für eine neue Vertragsverfassung der EU zu erstellen. Die Regierungskonferenz sollte anschließend die „endgültigen Beschlüsse“ fassen. Der Konvent war auf diese Weise ein Geschöpf der Regierungen und von ihnen abhängig. III. Ein „Président à la mesure“ Giscard d’Estaing war aus verschiedenen Gründen ein Idealfall für die Spitze des Konvents. Er brachte die Regierungserfahrung, Autorität und Aura eines ehemaligen Staatspräsidenten der V. französischen Republik mit sich. Dies ermöglichte eine effektive Leitung der Beratungen und einen zügigen Fortgang der Arbeiten, einschließlich gelegentlicher Verfahrenstricks. Ebenso wichtig war, daß Giscard bei der regelmäßigen Berichterstattung im Europäischen Rat als Gleicher unter Gleichen gegenüber den Staats- und Regierungschefs auftreten konnte. Seine Vorstellungen hatten Gewicht und sicherten dem Konvent Unabhängigkeit vor Bevormundungen. Giscard war zugleich „Europäer“. Er hatte als französischer Staatspräsident im Tandem mit Helmut Schmidt in den siebziger Jahren wichtige Entwicklungsschritte der EG verantwortet, wie die Einrichtung des Europäischen Rates als neues „Superorgan“ 1974, die Direktwahlen zum Europäischen Parlament 1976 und die Schaffung des Europäischen Währungssystems 1978 als Vorläufer der Währungsunion. Giscard war kein „Integrationist“ wie Walter Hallstein oder Jacques Delors. Man mag ihn jener Gruppe von „Euro-Realisten“ zuordnen, die wie viele andere Regierungsvertreter im Konvent nach der dauerhaften Balance zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten suchten. Der Entwurf des Konvents sollte ein Kompromiß der Euro-Realisten mit der ihrerseits starken Fraktion der Integrationisten um die Vertreter aus dem Europäischen Parlament wer-

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den. Auf der Regierungskonferenz zeigte sich, daß diese „Mischung“ akzeptanzfähig war. Euro-Realisten und Integrationisten grenzten sich von wenigen „euroskeptischen“ Einzelgängern aus England und Skandinavien ab. Letztlich gereichte auch das Alter des Präsidenten dem Konvent zum Nutzen. Giscard war bei der Eröffnung gerade 76 Jahre geworden. An „Fitneß“ stand er bei den tagelangen Sitzungen keinem Jüngeren nach. Die Zeit im Elysée hatte 1981 ihr Ende gefunden. Nach einer „Traversée du désert“ von zwei Jahrzehnten stand Giscard noch einmal vor einer großen politischen Aufgabe. Er wollte den Erfolg des Konvents und setzte ihn durch – mit mancherlei eigenen Vorstellungen, wie die Verfassung der künftigen Union aussehen sollte. j IV. Selbstbewußtsein des Konvents Der Konvent empfand sich ungeachtet aller Eingrenzungen als eine Art Verfassungsgeber. Schließlich handelte es sich um eine Versammlung selbstbewußter Politiker. Unter der Inspiration von Giscard schöpfte er die ihm vom Europäischen Rat eröffneten Möglichkeiten voll aus und interpretierte sein Mandat ab und zu in großzügiger Weise. Der Blick schweifte gelegentlich zurück zu den Gründern der USA in Philadelphia 1787. Giscard war jedoch erfahren genug, jeden Überschwang zu vermeiden und das Mandat von Nizza und Laeken nicht aus den Augen zu verlieren. Ihm war bewußt, daß die Regierungen das letzte Wort hatten. Allgemeine politische Debatten wie zum Irakkrieg im Frühjahr 2003 wurden sofort abgeblockt. Der Konvent faßte früh die Vorlage eines vollständigen „Verfassungstextes“ an die Regierungskonferenz ins Auge. Die Letztentscheidung der Regierungskonferenz sollte durch die Überzeugungskraft des Entwurfes so weit wie möglich begrenzt werden. Giscard lehnte Vorschläge ab, sich aus Zeitgründen auf die „eigentliche Verfassung“ (Unionsorganisation, Grundrechte usf.) zu beschränken und die materiellen Politiken des EG-Vertrages der Regierungskonferenz zu überlassen. Sie wurden mit wenigen inhaltlichen Änderungen (neben einigen zweifelhaften neuen EU-Zuständigkeiten vor allem eine Neufassung der Innen-, Justiz- und Außenpolitik) in einem voluminösen Teil III des Konventsentwurfes untergebracht. Teil III enthält ungefähr drei Viertel der Artikel des Konvententwurfs. Dies war unvermeidlich, weil die weiterhin begrenzten Zuständigkeiten der Union genau definiert werden müssen. Die EU ist kein souveräner Staat. Die EU-Verfassung muß mit dem unberechtigten Vorwurf leben, zu lang zu sein. Die „eigentliche Verfassung“ der Teile I, II und IV ist kürzer als das deutsche Grundgesetz Der Schwung und das Selbstbewußtsein des Konvents ermöglichten am Ende der Beratungen den förmlich festgehaltenen Konsens der übergroßen Zahl sei-

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ner Mitglieder über den Verfassungsentwurf in der Schlußberatung am 13.6. und 10.7.2003. V. Vorsitz, Präsidium und Sekretariat Das Präsidium des Konvents bestand neben dem Präsidenten und den beiden Vizepräsidenten (Vorsitz) aus neun gewählten Mitgliedern. Der frühere slowenische Ministerpräsident Alojz Peterle wurde als Gast für die Beitrittsstaaten hinzugezogen. Im Präsidium versammelte sich politische Prominenz aus den Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft wie die spanische Außenministerin Ana Palacio, der frühere Präsident des Europäischen Parlaments Klaus Hänsch oder die beiden Kommissionsmitglieder im Konvent Michel Barnier und Antonio Vitorino. j 523

Der dreiköpfige Vorsitz übernahm bald eine entschlossene Führungsrolle im Konvent. Die Gestaltung des Ablaufs der Konventsarbeit (Plenardebatten, Einsetzung von Arbeitsgruppen, eine erste „Strukturierung“ des Verfassungsinhaltes zur Halbzeit und später die Vorlage und Diskussion von Verfassungstexten unter ziemlicher Zeitnot) ging wesentlich von Giscard, Amato und Dehaene aus. Die drei Persönlichkeiten ergänzten sich hervorragend. Giscard war die „Nr. 1“, welche bei wichtigen Entscheidungen die Richtung angab und gelegentlich „einsame Beschlüsse“ mit anschließender Kritik nicht scheute. Dem Verfassungsrechtler Amato war die Rolle des „Kronjuristen“ des Konvents auf den Leib geschrieben. Der bullige Dehaene focht manche politische Kontroverse durch, vor allem zu den Neuregelungen der Gemeinsamen EU-Außenpolitik. Der Vorsitz ließ sich niemals auseinanderdividieren. Das Verhältnis zwischen Vorsitz und weiterem Präsidium war nicht spannungsfrei. Die Präsidiumsmitglieder verkörperten wesentliche Meinungsströmungen im Konventsplenum. Sie konnten in zentralen Fragen mit den meist von Giscard inspirierten Überlegungen des Vorsitzes in Konflikt geraten. Es schien nicht einfach zu sein, den Präsidenten von einer einmal gefaßten Meinung abzubringen. Eine „Conventionelle“ aus Frankreich, die Giscard kannte, bezeichnete ihn als dickköpfig (têtu). Die Präsidiumsmitglieder leisteten in den ersten Monaten wichtige Arbeit als Vorsitzende der einzelnen Konventsarbeitsgruppen. Der Vorsitz hielt die Zügel der Beratungen mit Hilfe des Sekretariates fest in der Hand. Der welterfahrene schottische Generalsekretär Sir John Kerr, früherer Ständiger Vertreter Großbritanniens bei der EU, hatte mit seinen 19 Mitarbeitern (meist aus den EG-Institutionen) ein Instrument geschaffen, welches von der Sitzungsbegleitung bis zur Vorlage der offiziellen Textvorschläge in kürzester Frist ausgezeichnete professionelle Arbeit ablieferte. Das Sekretariat sicherte dem Vorsitz die Kontrolle über den Fortgang der Konventsarbeit und vor

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allem bis zum Schluß die Definitionsmacht über den Verfassungstext. Kerr schien zugleich Verbindung zu seinen schwierigen britischen Landsleuten im Konvent zu halten. Nikolaus Meyer-Landrut war als Sprecher Giscards gelegentlich „Dolmetscher“ deutscher Überlegungen. VI. Vorsitz, Plenum und Arbeitsgruppen Die ein- bis zweimal im Monat angesetzten Plenardebatten (meist anderthalb Tage) waren zentraler Bestandteil der Konventsarbeit. Giscard achtete mit einer überlegten Tagesordnung und strengen Sitten darauf, daß das Plenum nicht zur „Schwatzbude“ wurde. Bei 105 Mitgliedern (die Stellvertreter hatten nur bei Abwesenheit ihrer Mitglieder Rederecht) bedurfte es strikter Begrenzung der Redezeit. Drei Minuten, gelegentlich nur zwei, waren die Regel. Dazwischen gab es „blaue Karten“ für knappe Spontanbeiträge. Die Reihenfolge der Rednerliste spiegelte öfters die Wertschätzung des Präsidiums. j Der Vorsitz war sich mit Blick auf die nachfolgende Regierungskonferenz 524 bewußt, daß den Regierungsmitgliedern im Konvent besonderes Gewicht zukam (Außenminister, aber auch z. B. Ministerpräsident Erwin Teufel als Vertreter des deutschen Bundesrates, der später die Verfassung mitratifizieren sollte). Gleiches galt für die Repräsentanten größerer Konventsgruppen, beispielsweise Elmar Brok für die Vertreter der EVP als größte politische Gruppierung. Brillante Rhetorik wie beim österreichischen „Grünen“ Voggenhuber entsprach nicht immer dem tatsächlichen Einfluß. Manche waren kraft ihres Amtes gleicher als die anderen. Giscard hatte einige „Experten“ im Konvent ausgemacht, auf deren Auffassungen er zu bestimmten Fragen besonders hörte. Beispielsweise fand Joschka Fischers Konzept eines künftigen „Außenministers“ der Union Eingang in den Konventsentwurf. Michel Barnier war der Partner für die Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Bei Erwin Teufel baute Giscard auf seine deutschen föderalen Erfahrungen für die neue EU-Kompetenzordnung. Antonio Vitorino und Jürgen Meyer galten als wichtige Stimmen für die Grundrechte-Charta. Persönliche Sympathien und das Gegenteil mochten gelegentlich nicht ohne Bedeutung sein. Die Prodi-Kommission begleitete das Konventsgeschehen mit verschiedenen Papieren, ohne sonderliche Wirkung zu erzielen. Das Verhältnis zwischen Giscard und dem italienischen Kommissionspräsidenten wirkte unterkühlt. Mit dem „Integrationisten“ Brok bestand manch sachlicher Gegensatz, doch überwog der gegenseitige Respekt. Bei unsachlichen Angriffen aus dem Plenum ließ Giscard schon einmal das Mikrofon abstellen. Die Ergebnisse des Konvents entstanden aus dem Dialog zwischen Vorsitz und Plenum. Die Schlußberichte der Arbeitsgruppen legten Grundlagen für die Plenardebatten. Manche ihrer Vorschläge fanden Eingang in den Verfassungs-

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text. Der Sinn der Plenardebatten lag für den Vorsitz darin, wichtige Meinungsströmungen und wohl auch produktive Einfälle einzelner zu identifizieren. Giscard wußte als erfahrener Staatsmann, daß auch Konventspolitik die Kunst des Möglichen war, d. h. abzuschätzen, inwieweit Vorschläge im Plenum konsensfähig sein würden und gleichzeitig in Rechnung zu stellen, ob sie für die spätere Regierungskonferenz akzeptabel sein könnten. Der Vorsitz zielte jedoch nicht auf einen Entwurf als Kompromiß auf dem gemeinsamen Nenner der verschiedenen Konventsströmungen. Giscard hatte feste eigene Vorstellungen, wie eine Verfassung der Europäischen Union des 21. Jahrhunderts mit 25 und bald mehr Mitgliedstaaten aussehen sollte. Davon suchte er möglichst viel durchzusetzen und hatte Erfolg. Deshalb darf man Giscard d’Estaing als „Vater“ des Konventsentwurfes und später des endgültigen Verfassungstextes 2004 bezeichnen. j 525

VII. Verbindung mit der Zivilgesellschaft Der Konvent und sein Vorsitz waren sich bewußt, daß sie keine gewählte verfassungsgebende Versammlung waren, sondern ein Geschöpf der Regierungen in Gestalt eines halb parlamentarisierten, halb gouvernementalen Gremiums. Eine Hundertschaft ernannter Angehöriger der politischen Klasse aus 25 Staaten sollte für 450 Millionen Unionsbürger eine Verfassung vorbereiten. Ihre Existenz im Brüsseler Glaspalast des Europäischen Parlaments blieb den meisten Bürgern verborgen, wie Erhebungen ergaben. Selbst die Worte „Konvent“ und „Europäische Verfassung“ waren in der Öffentlichkeit Hekuba. Giscard und seine Mitstreiter suchten unter diesen Umständen soweit praktisch möglich die Verbindung zur europäischen Zivilgesellschaft. Repräsentative Verbände wurden mehrtägig angehört. Der Konvent berief für zwei Tage einen Jugendkonvent ein, der eine umfassende Stellungnahme übermittelte. Giscard definierte hierbei souverän „Jugend“ zwischen 18–25 Jahren, um „echte“ junge Menschen anstelle von älteren „Jugendfunktionären“ zu gewinnen. Dehaene erwarb sich in diesen Zusammenhängen große Verdienste. Der Konvent schuf Öffentlichkeit, indem er alle Dokumente zeitgleich ins Internet stellte. Auf diese Weise ergab sich ein laufender Kontakt mit den „Denkfabriken“ und akademischen Eliten in den Mitgliedstaaten, was zu einer Fülle von Anregungen führte. Manche Intellektuelle hatten „ihre“ Verfassung längst vor dem Abschluß des Konvents fertig. Die Medien taten das ihre, den Konvent bekannt zu machen. Der Entwurf des Konvents teilt trotz dieser Anstrengungen das Schicksal anderer Verfassungen, zunächst das Werk eines engen Zirkels zu sein. Auf EUEbene ist der Abstand zum Bürger besonders groß. Größere Bekanntheit und demokratische Akzeptanz kann erst über die späteren parlamentarischen Ratifikationen und Referenden gewonnen werden.

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VIII. Die Handschrift des Präsidenten im Entwurf des Konvents Vorläufig bleibt ziemlich im Dunkeln, an welchen Stellen der Konventsentwurf und der endgültige Verfassungstext von 2004 die Handschrift des Präsidenten trägt. Einige begründete Vermutungen sind dennoch möglich, wenn man den Konvent miterlebt hat. Giscard pflegte zu Beginn der Plenarsitzungen in die jeweilige Thematik einzuführen. Wer genauer zuhörte, vernahm zwischen den Zeilen einiges von der „Verfassungsphilosphie“ des Präsidenten. Danach las man das eine oder andere Papier des Präsidiums mit anderen Augen. Der persönliche Beitrag Giscards zu bestimmten Entwürfen wurde vor allem in den letzten Konventsmonaten an starkem Widerstand innerhalb des Plenums sichtbar. Dazu trug neben Meinungsverschiedenheiten in der Sache die Neigung des Präsidenten zu gelegentlichen „einsamen Entscheidungen“ und einer gewissen Distanz gegenüber der weiteren Umgebung bei. Giscard arbeitete gerne im kleineren Kreis. Parlamentarische j Kumpanei war nicht sein Stil. Das galt auch für 526 die eigene „politische Familie“ der EVP-Gruppe, welcher er formal zuzurechnen war. Von Zeit zu Zeit zog sich Giscard zur ungestörten Überlegung in die vertraute Auvergne zurück. Im Verfassungsentwurf des Konvents lassen sich ungeachtet solcher Schwierigkeiten an zentralen Stellen bemerkenswerte Spuren identifizieren, die auf die Überzeugungen des Präsidenten zurückgehen oder wesentlich von ihnen beeinflußt wurden. Giscard sagte anläßlich der ersten Berichterstattung im Europäischen Rat in Sevilla im Juni 2002, Aufgabe des Konvents sei nicht nur die Vereinfachung der Verträge, sondern auch eine Terminologie zu finden, die den Bürgern die Europäische Union besser verständlich mache. Der Verfassungstext der Regierungskonferenz hat 2004 einige besondere Anliegen Giscards „verwässert“. Es bleibt jedoch genügend von seiner Urheberschaft übrig. Das folgende erscheint hervorhebenswert. 1. „Verfassung“?

Der Juristenstreit, ob sich eine Integrationsgemeinschaft wie die Europäische Union mit einer „Verfassung“ schmücken dürfe, flackerte gelegentlich auch im Konvent auf. Giscard sprach anfangs gerne vom „Traité constitutionnel“. Unter dem Eindruck des unbefangenen Gebrauchs des Verfassungsbegriffs durch die meisten Konventsmitglieder fand der Vorsitz zur eleganteren Formulierung eines „Vertrages über eine Verfassung für Europa“. Sie hatte in der Regierungskonferenz Bestand und dürfte der Sache angemessen sein.

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IV. Die europäische Verfassung 2. Präambel und Symbole der Union

Der Präsident hatte sich die Formulierung der Präambel selbst vorbehalten. Ein Thukydideszitat zugunsten der Demokratie und einige eindrucksvolle Formulierungen legten Zeugnis ab. Der persönliche Stil bleibt trotz kräftiger Änderungen auf der Regierungskonferenz erkennbar. Die Präambel wurde vor allem durch den Streit über die Aufnahme eines Gottesbezuges bekannt. Diese Kontroverse fand wie kein anderes Thema des Konvents über die „Eliten“ hinaus Widerhall in der europäischen Bevölkerung. Der Katholik Giscard sperrte sich mit Erfolg gegen die verbreiteten Wünsche seiner Gesinnungsfreunde von Italien über Deutschland bis Polen, das religiöse Fundament des Kontinents zu verdeutlichen. War es gallikanische Überzeugung oder Rücksichtnahme auf die große laizistische Gruppe im Konvent? Im Kampfgetümmel ging unter, daß die Präambel immerhin die „religiösen Überlieferungen Europas“ benennt und die Verfassung selbst einen regelmäßigen Dialog zwischen der EU und den Kirchen vorsieht (Art. I-52). Kluge Bischöfe äußerten später unter der Hand, daß ihnen dies ebenso wichtig war wie der Gottesbezug. j 527

Die Präambel benennt mit der Devise „In Vielfalt geeint“ eines der später in den Verfassungstext aufgenommenen Symbole der Union (Art. I-8). Es ist nicht bekannt, auf wen die Worte zurückgehen. Giscard hatte Sinn für diese Zeichen unmittelbarer Bürgerintegration und setzte sich für sie ein.

3. Wesen und Grenzen der Europäischen Union

Art I-1 des Verfassungstextes definiert das Wesen der künftigen einheitlichen Union. Sie wird von den Bürgern und den Staaten getragen und weist einen dualen Charakter auf – teilweise integriert und andererseits intergouvernemental koordiniert. Es ist die euro-realistische Sicht eines intensiven und dauerhaften Staatenverbundes ohne die notwendige Finalität des Europäischen Bundesstaates. Der „immer engere“ Zusammenschluß der Union wird lediglich beiläufig in der Präambel erwähnt. Giscard dürfte dieser „Denkschule“ zuzurechnen sein, die sich einer Gemeinschaft auf unbegrenzte Zeit verpflichtet weiß (Art. IV-446), ohne sich auf ewige „Vereinigte Staaten von Europa“ festlegen zu wollen. Dieser pragmatischen Geistesrichtung entspricht das ausdrückliche Recht des freiwilligen Austritts aus der Union (Art. I-60), welches der Präsident gegen heftigen Widerstand der „Integrationisten“ um Elmar Brok durchsetzte. Es soll zwar den Austritt mit allerlei Formalitäten eher erschweren. Solange der Austrittsartikel gilt, bleibt der Europäische Bundesstaat verfassungsmäßig ausgeschlossen.

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Man wird kaum fehlgehen, ein weiteres Stück der „Unionsphilosophie“ Giscards im neuen Konzept „besonderer Beziehungen“ der Union zu den „Staaten in ihrer Nachbarschaft“ (Art. I-57) zu erblicken. Der Beitritt zur EU steht weiterhin allen europäischen Staaten offen, welche die Werte der Union achten (Art. I-1 Abs. 2). Daneben gibt es „Nachbarn“ der Union, mit denen enge und friedliche Beziehungen begründet werden sollen. Hier wird ein Weg zur Beantwortung der Frage aufgewiesen, wo letztendlich die Grenzen der EU liegen. Sind die Ukraine und die Türkei, die Kaukasusstaaten, gar Rußland potentielle Beitrittskandidaten oder handelt es sich um Nachbarn? Zur Türkei hat sich Giscard während des Konvents zum Mißfallen Mancher unmißverständlich geäußert: ihr Beitritt wäre das „Ende der Europäischen Union“.

4. EU-Kompetenzordnung und Subsidiarität

Zum Nizzaer Mandat des Konvents gehörte, eine „genauere, dem Subsidiaritätsprinzip entsprechende Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen der EU und den Mitgliedstaaten herzustellen“. Dieser Auftrag ging insbesondere auf Forderungen der deutschen Bundesländer zurück, die dies in Nizza zur Voraussetzung der Zustimmung des Bundesrates zum Konferenzergebnis gemacht hatten. Eine Kompetenzordnung „von unten nach oben“ sollte der immer weiter ausgreifenden „Regulierungswut“ Brüssels Grenzen setzen. j Es war konsequent, daß Giscard sich den Vertreter des Bundesrates im Kon- 528 vent, den Stuttgarter Ministerpräsidenten Erwin Teufel, zum Gesprächspartner für die Fragen der Kompetenzordnung erkor. Giscard hatte als Regionalpräsident der Auvergne selbst besseres Verständnis für einen „präföderal“ gestuften Aufbau der künftigen Union als manch anderer zentralistisch gesonnene Franzose. Der Präsident und sein deutscher Bundesgenosse fanden nach einer Rede Giscards in Stuttgart im Mai 2002 ein gutes Arbeitsverhältnis. In der letzten Konventssitzung bezeichnete Giscard Teufel als Schöpfer der Kompetenzordnung. Der Auftrag von Nizza war schwer zu verwirklichen. Viele EU-Staaten sind zu Hause mehr oder weniger dezentraliserte Einheitsstaaten und verfügen über keine bundesstaatlichen Traditionen. Eine starke Strömung im Konvent wollte die EU durch neue Zuständigkeiten stärken und sah in einer klaren Zuständigkeitsverteilung nur Hindernisse für den Fortschritt der Integration. Mißtrauische Spanier witterten sogar einen verkappten Anschlag der Deutschen, weniger Geld in die Brüsseler Fonds überweisen zu wollen. Angesichts ihrer Probleme im Baskenland und Katalonien waren sie jeder Stärkung der regionalen Ebene abgeneigt. Es gelang Giscard im Verein mit Teufel und einer Gruppe von „Freunden der Subsidiarität“, dank der Definitionsmacht des Vorsitzes über die Texte den Ein-

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stieg in eine bundesstaatsähnliche Zuständigkeitsverteilung zwischen Union und Mitgliedstaaten in der Verfassung zu verankern (Art. I-11 ff.). Die zentralen Kompetenzabgrenzungs- und -ausübungsprinzipien (begrenzte Einzelermächtigung, Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit, Vorrang des Unionsrechts) werden in der „eigentlichen“ Verfassung des ersten Teiles und in Protokollen wesentlich präzisiert und mit Kontrollverfahren angereichert. Die EU-Verfassung unterscheidet erstmals ähnlich wie das deutsche Grundgesetz zwischen ausschließlichen und geteilten Unionszuständigkeiten sowie ergänzenden Unionsmaßnahmen. In wichtigen Punkten, insbesondere bei der näheren Kompetenzaufzählung, blieb man aufgrund des starken Widerstandes auf halbem Wege stecken. Bei der zentralen Subsidiaritätskontrolle im Vorfeld der Unionsgesetzgebung („Frühwarnsystem“ des Subsidiaritätsprotokolls) wird die Praxis erweisen müssen, ob die neuen Instrumente greifen. Der Vorsitz hatte an anderer Stelle für die Kompetenzordnung Preise zu bezahlen. Die künftige Union erhält in großzügiger Auslegung des Nizza-Mandats einige neue Zuständigkeiten (Daseinsvorsorge, Energie, Sport u. a. m.). Die Kraft und Zeit fehlte, das Dickicht der Verträge daraufhin durchzusehen, ob nicht überlebte Zuständigkeiten an die Mitgliedstaaten zurückgegeben werden sollten. Amato erleichterte seinen südeuropäischen sozialistischen Freunden die Zustimmung zum Abschlußkonsens, indem die verschwommene „offene Koordinierung“ in letzter Sekunde an einigen Stellen als zusätzliche Kategorie Verfassungsrang erhielt. Auf das Ganze gesehen bleibt dennoch bemerkenswert, in welchem Ausmaß unter der Verantwortung eines ehemaligen Präsidenten der französischen „Répu- j 529 blique une et indivisible“ föderales Gedankengut in die europäische Verfassung Eingang gefunden hat.

5. Handlungsfähige Organe der Union

Das Hauptaugenmerk Giscards galt im Konvent den Institutionen der künftigen Union. Er teilte mit vielen anderen offensichtlich die Auffassung, daß die Regierungskonferenzen von Amsterdam 1997 und Nizza 2001 unbefriedigend ausgefallen waren, weil die bisherigen Regeln über die EG-Organe einer effizienten Willensbildung bereits unter 15 Mitgliedstaaten im Wege standen. Wie sollte dann die EU morgen mit 25 und bald noch mehr Mitgliedern funktionieren? Dies schien die Frage zu sein, die den Präsidenten mehr als alles andere umtrieb. Er sah sie ohne viele Umstände im Mandat des Konvents von Nizza und Laeken enthalten. Amato kümmerte sich daneben um die Verbesserung des EU-Gesetzgebungsverfahrens, und Dehaene suchte die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik soweit möglich in die allgemeinen EU-Strukturen einzugliedern.

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Giscard wollte das EG-spezifische institutionelle Gleichgewicht zwischen Rat, Kommission und Parlament nicht grundlegend ändern. Zu keinem Augenblick wurde daran gedacht, die in der Vergangenheit immer wieder erfolgreiche „Gemeinschaftsmethode“ mit der Kommission als „Motor des Vertrages“ in Frage zu stellen. Die Organe sollten erhalten bleiben, aber wirksamer arbeiten können. Der Präsident sah die Lösung dieser für die Zukunft der Union zentralen Frage in einer Stärkung präsidialer Elemente und an manchen Stellen in stärkeren Modifikationen des Prinzips der Gleichheit aller Mitgliedstaaten. Der letzte Gesichtspunkt verband sich „demokratisch“ mit der Berücksichtigung der unterschiedlichen Bevölkerungsgröße der Mitgliedstaaten. Man wird in der Annahme kaum fehlgehen, daß bei diesen Überlegungen Erfahrungen des ehemaligen französischen Staatspräsidenten aus seiner Heimat eine wichtige Rolle spielten. Der Präsidialismus hatte die V. französische Republik in ähnlicher Weise 1958 aus dem Immobilismus ihrer Vorgängerin befreit. Giscard legte sich mit seiner Vision einer handlungsfähigen EU mit starken Gegenkräften an. Die Hervorhebung des Europäischen Rates der Staats- und Regierungschefs als eine Art Direktorium der EU lief der „klassischen Philosophie“ der Integration im Sinne von Monnet, Hallstein und Spaak zuwider, nach der die EU allmählich im Sinne des parlamentarischen Prinzips von einer zur Regierung gewordenen Kommission in Verantwortung gegenüber dem Europäischen Parlament bestimmt werden sollte. Die Gruppe um Elmar Brok aus dem Europäischen Parlament und einer Reihe von Vertretern aus verschiedenen Mitgliedstaaten repräsentierte diese Denkschule im Konvent. Die maßgeblichen Konventsmitglieder aus den 19 kleineren und mittleren Mitgliedstaaten mußten zu natürlichen Verbündeten der Integrationisten werden, nachdem der Vorsitz die Kommission zu ihren Lasten verkleinern wollte. j Mit Blick auf diese Konstellation ist bemerkenswert, wie viel Giscard von 530 seinen Vorstellungen im Konventsentwurf unterbringen konnte. Auch wenn die Regierungskonferenz anschließend einiges wieder „verwässerte“, hat die institutionelle Struktur der Verfassung die „große EU“ von 2004 besser zur Bewältigung ihrer Aufgaben befähigt, als es zuletzt unter dem EG-Vertrag möglich war.

6. Europäischer Rat

Giscard d’Estaing hatte in seiner Zeit als französischer Staatspräsident 1974 den Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs (ER) als „Superorgan“ der Gemeinschaft konzipiert und durchgesetzt. Von ihm gehen seither die übergeordneten politischen Zielvorstellungen und die Setzung der Prioritäten für die Politiken der EG/EU aus. Die besondere Aufmerksamkeit des Präsidenten galt im Konvent dem Ziel, den ER als das herausragende Organ in der künftigen

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Union der 25 und mehr Mitgliedstaaten zu erhalten und zu stärken (Art. I21 f.). Erste Konsequenz war die Verkleinerung des Rates, der bei 25 Mitgliedstaaten in bisheriger Zusammensetzung (Regierungschefs und Außenminister) auf über 50 Mitglieder angeschwollen wäre. Der ER umfaßt nunmehr im Interesse der Arbeitsfähigkeit grundsätzlich nur noch die Staats- und Regierungschefs sowie den Kommissionspräsidenten und seinen eigenen Präsidenten. Teilnahmeberechtigt ist der Außenminister der Union. Giscards wichtigster Reformschritt war die Schaffung eines hauptamtlichen Präsidenten des ER für zweieinhalb Jahre mit der Möglichkeit einmaliger Wiederwahl. Die Geister im Konvent schieden sich an diesem Vorschlag. Die „Integrationisten“, aber auch manche Regierungsvertreter sahen ein „Direktorium der Großen“ heraufziehen. Der Vorsitz setzte sich nach kontroversen Debatten durch. Das Einlenken der Integrationisten wurde durch die Konzession erreicht, daß sich die Inkompatibilität des Ratspräsidenten auf die Innehabung „einzelstaatlicher Ämter“ beschränkt. Die Ämterhäufung von Rats- und Kommissionspräsident („großer Doppelhut“) wird juristisch möglich. Typischer künftiger Präsident des ER bleibt gleichwohl ein angesehener ehemaliger Staats- und Regierungschef aus einem größeren oder kleineren Mitgliedstaat. Die Vision Giscards ist ein „Präsident für Europa“, der für längere Zeit die Kräfte der vereinigten Staats- und Regierungschefs im Interesse der Union zu bündeln versteht. Konflikte mit dem seinerseits gestärkten Kommissionspräsidenten liegen freilich ebenso nahe. Der hauptamtliche Präsident des ER blieb interessanterweise in der Regierungskonferenz unumstritten. Mit der Wahl von Claude Juncker zum zweieinhalbjährigen Vorsitzenden der „EURO-Gruppe“ der Finanzminister wurde 2004 eine vergleichbare Konstruktion der Verfassung bereits vor ihrem Inkrafttreten freiwillig eingeführt. j 531

7. Ministerrat

Der Ministerrat (im Verfassungstext 2004 wieder als „Rat“ geführt) wurde im Konvent von vielen Seiten als das reformbedürftigste Organ der Union bezeichnet. Vorsitz und Plenum nahmen weitreichende Änderungen zugunsten besserer Arbeitsfähigkeit des Rates vor. Nationaler Egoismus der Regierungskonferenz machte sie mit einer wichtigen Ausnahme wieder rückgängig (Art. I-23 ff.). Der Konvent hatte sich auf einen öffentlich tagenden „Legislativrat“ geeinigt, bei dem entsprechend dem nationalen Kabinettsprinzip die gesetzgeberischen Entscheidungen der Union zur übergeordneten Prüfung zusammenlaufen sollten. Die Regierungskonferenz strich zu Beginn ihrer Arbeiten in wenigen Minuten diese sinnvolle Neuerung. Die Außenminister hatten mit der rühmlichen Aus-

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nahme Joschka Fischers dem Druck ihrer Fachminister nachgegeben, die ihr eigenes Süppchen zu Lasten des Ganzen im guten Dutzend der „Fachministerräte“ weiterkochen wollten. Die „schwarze Serie“ der Konferenz setzte sich beim Vorsitz in den einzelnen Ministerräten fort. Der Konvent wollte mit einem einjährigen Vorsitz mehr Kontinuität schaffen Die Regierungskonferenz fiel auf Verlangen der kleinen Mitgliedstaaten auf den vielkritisierten Halbjahresvorsitz zurück. Der wichtigste Vorschlag des Vorsitzes, die qualifizierte Mehrheitsentscheidung im Ministerrat (Art. I-25), führte im Dezember 2003 zur großen Krise der Regierungskonferenz. Der Konvent hatte im Einklang mit Giscards Grundkonzept, die Handlungsfähigkeit des Rates und zugleich die demokratische Legitimation seiner Entscheidungen zu stärken („Union der Staaten und der Bürger“), für die qualifizierte Mehrheit im Rat grundsätzlich die „doppelte Mehrheit“ der Mitgliedstaaten und von drei Fünfteln der Bevölkerung der Union vorgesehen. Der anfänglich erbitterte Widerstand vor allem Polens und Spaniens konnte im Frühjahr 2004 durch einige glückliche Umstände und eine leichte Anhebung der Quoren auf 55% und 65% überwunden werden. Die Regierungskonferenz verwässerte jedoch auch diesen wichtigen Reformschritt, indem sie die Einstimmigkeit an verschiedenen Stellen der Verfassung wieder einführte. 8. Europäische Kommission

Ein weiteres zentrales Anliegen Giscards wurde in der Regierungskonferenz erheblich zusammengestrichen. Der Präsident kämpfte gemeinsam mit Vertretern größerer Mitgliedstaaten für eine Verkleinerung der künftigen Europäischen Kommission, um ihre Schwächung bei einer künftigen Übergröße von 25 und mehr Mitgliedern abzuwenden. Der heftige Widerstand der Konventsvertreter aus den 19 auf das Prinzip der Staatengleichheit eingeschworenen kleineren und mittleren Mitgliedstaaten (mit der rühmenswerten Ausnahme der BeneluxGründerstaaten) hatte im Konventsentwurf bereits zu einem komplizierten Kompromiß von j 18 „echten“ und weiteren „Juniorkommissaren“ geführt. Die Re- 532 gierungskonferenz hat die Möglichkeit einer Verkleinerung der Kommission nunmehr auf mindestens das Jahr 2014 vertagt (Art. I-26). Sachgerechte Konzepte, wie ständige Kommissionsmitglieder für die sechs größeren Mitgliedstaaten und eine Rotation der übrigen, waren im Konvent nicht einmal zur Sprache zu bringen. Die Diskrepanz innerhalb der großen „Einheitskommission“ zwischen dem „realen“ und dem „integrierten“ Europa kann ironischerweise zu einer Schwächung derselben „Gemeinschaftsmethode“ führen, die im Interesse der kleineren EU-Staaten liegt. Das Gewicht der größeren Mitgliedstaaten innerhalb der Kommission hat sich mit jedem Beitritt seit 1973 verringert. Es bleibt eine offene Frage, wie die „Großen“ künftige Kommissionsvorschläge einschätzen werden.

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Hoffnungen richten sich auf die von den Konventsparlamentariern durchgesetzte künftige Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Parlament (Art. I27) und dessen verbesserte Leitlinienkompetenz. 9. Außenminister der Union

Giscard verfolgte mit erkennbarem Wohlwollen das Konzept Joschka Fischers, die nicht voll zu integrierende Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik wenigstens in der Person eines neuen Außenministers der Union zu stärken. Die Idee entsprach seiner Neigung zur „Präsidialisierung“ der Institutionen. Der Europäische Außenminister bleibt freilich ein fragiles Konstrukt (Art. I-28). Er ist in Personalunion („Kleiner Doppelhut“ oder „Fusion Patten/Solana“) Vizepräsident der Kommission, Außenkommissar und Hoher Außenvertreter der GASP. Die Ernennung erfolgt durch den Europäischen Rat mit Zustimmung des Kommissionspräsidenten und des Parlamentes. Der Außenminister leitet unter der Oberaufsicht des Europäischen Rates gemeinsam mit dem Ministerrat das in der Verfassung wortreich und kompliziert umschriebene „Auswärtige Handeln der Union“. Der britische Regierungsvertreter im Konvent Peter Hain sprach gerne vom „sogenannten Außenminister“. Einen Lichtstrahl könnte die sich abzeichnende Ernennung des erfahrenen Solana zum ersten EU-Außenminister bedeuten. IX. Eine lesbare Verfassung Diese Hinweise auf die Handschrift des Präsidenten im Verfassungstext müssen hier genügen. Reichen sie aus, Giscard als „Vater“ der Verfassung zu bezeichnen? Der Präsident erlitt im Konvent mit manchen Ideen Schiffbruch. Sein Vorschlag eines „Kongresses der Völker Europas“, in dem nationale und Europaparlamentarier die Zukunft der Union regelmäßig erörtern sollten, verfiel der 533 Ablehnung. Die j Vertreter des EP im Konvent fürchteten um ihr parlamentarisches Alleinvertretungsrecht in der EU. Mancher „Conventionnel“ mochte dem mächtigen Präsidenten an einer unverfänglichen Stelle die Grenzen seines Einflusses aufzeigen. Die Erfüllung eines wichtigen Wunsches von Giscard d’Estaing wird erst voll sichtbar werden, wenn die EU-Verfassung nach der Unterzeichnung in Rom – hoffentlich! – eines Tages in Kraft tritt und angewendet wird. Der Präsident betonte häufig, wie auf dem Europäischen Rat in Sevilla 2002, die Notwendigkeit einer für den Bürger lesbaren kurzen Verfassung anstelle des „Dschungels“ der in fünfzig Jahren immer unübersichtlicher gewordenen Altverträge. Dieses Anliegen ist mit Hilfe des „Kronjuristen“ Amato und der vor-

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züglichen Sekretariatsarbeit in Erfüllung gegangen. Die klare und einfache Sprache der ungefähr 120 Artikel der „eigentlichen Verfassung“ (Teile I, II, IV) hebt sich eindrucksvoll von technokratischen Formulierungen vieler Vorgängerregelungen ab. Die mit ca. 340 Artikeln unvermeidlich voluminöse Übernahme der einzelnen Politiken aus dem EG- und EU-Vertrag in Teil III ist materiell gesehen eine Art „Organgesetz“ innerhalb der Verfassung. Künftige Verfassungsinterpreten werden es dem Konvent danken. Die Wahl Giscards in die Académie Française nach dem Ende des Konvents mag in seiner Obhut über den Verfassungstext ihre schönste Rechtfertigung gefunden haben. X. Eine „Giscard-Verfassung“? Es ist unwahrscheinlich, daß die künftige EU-Verfassung wie im Falle Bismarcks 1867 und 1871 „Giscard-Verfassung“ genannt werden wird. Zu viele Köche haben das Menu zubereitet. Wer den Konvent miterlebte, ist sich aber alles andere als sicher, ob die Verfassungsversammlung ohne die festen Vorstellungen ihres Präsidenten und ohne seine Umsicht und Hartnäckigkeit den Abschlußkonsens erreicht hätte. Die Regierungskonferenz hat zwar die Balance zwischen der europäischen und der nationalen Ebene ein Stück weit zugunsten der Mitgliedstaaten zurückverschoben. Das Werk des Konvents ist jedoch in den Grundstrukturen erhalten geblieben. Die Suche nach dem „Verfassungsvater“ ist im Gegensatz zum Code Civil erlaubt. Die Verleihung des Europäischen Karlspreises 2003 an Valéry Giscard d’Estaing war eine würdige Antwort.

V. Außenbeziehungen der Europäischen Union

Die Europäische Gemeinschaft und Union in der Welthandelsorganisation (WTO)*

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Bonner Vortrag, der auf der Tätigkeit als Chairman des International Trade Law Committee der International Law Association in den neunziger Jahren beruht.

I. Vollendung von Bretton Woods nach einem halben Jahrhundert 1. EU und WTO 1995: Doppelter Wandel

Das Jahr 1995 ist für die europäische und für die Weltwirtschaft zu einem wichtigen Datum geworden. In Europa ist zu Jahresbeginn mit dem Beitritt Finnlands, Österreichs und Schwedens zur EU ein neues Kapitel in der Geschichte der Gemeinschaft aufgeschlagen worden. Die Union hat sich um 22 Millionen Bürger auf ungefähr 370 Millionen vergrößert. Mit einer gesamtwirtschaftlichen Leistung (Bruttoinlandsprodukt) von ungefähr 13 Billionen (= 13.000 Mia.) DM bildet die Gemeinschaft den größten Binnenmarkt der Welt. Ihr Anteil am Weltexport und am Weltimport betrug 1992 einschließlich EU-Binnenhandel jeweils ungefähr 43%1. Anfang 1995 ist gleichzeitig die neue Welthandelsorganisation (WTO) als Nachfolgerin des GATT gegründet worden. Darauf haben sich die 124 Mitgliedstaaten des GATT Anfang Dezember 1994 in Genf geeignet. Zwar steht der komplexe Übergangsprozeß vom alten „GATT 1947“ mit seinen zahlreichen Seitenverträgen in die WTO mit dem „GATT 1994“ als Kern noch in seinen Anfängen. Er begann mit der politischen Einigung über den Abschluß der bald achtjährigen GATT-Uruguay-Runde am 15.12.19932. Dieser Konsens wurde mit der Unterzeichnung des Übereinkommens zur Errichtung der WTO nebst Schlußakte durch 117 Teilnehmerländer in Marrakesch/Marokko am 15.4. j 920 1994 formalisiert3. Zwar hatten Ende 1994 nur gut 40 Teilnehmer der Uruguay* Überarbeitete Fassung eines Vortrages im Zentrum für Europäisches Wirtschaftsrecht der Universität Bonn am 30.1.1995 (Stand: August 1995). Erstmalig erschienen in: RIW 1995, 919–928. 1 Beitrittsakte 1994, ABl. EG v. 24.6.1994, C 241/22 ff., BGBl. 1994 II 2021 ff.; Glaesner, Europarecht, 7. Aufl. 1995, Einleitung, 1 ff. 2 Jansen, Zum Abschluß der Uruguay-Runde, EuZW 1994, 65; Wartenweiler, Zum Verhandlungsabschluß der Uruguay-Runde, VN 1994, 87 ff. 3 Übereinkommen zur Errichtung der Welthandelsorganisation v. 15.4.1994, BGBl. II 1441 ff.; englischer Text etwa in: Raworth/Reif, The Law of the WTO, 1995.

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V. Außenbeziehungen der Europäischen Union

Runde das Vertragswerk von Marrakesch ratifiziert. Dies reichte jedoch für den Gründungsbeschluß aus. Mitte 1995 gab es bereits 100 WTO-Mitgliedstaaten. Politisch war entscheidend, daß mit der Europäischen Union, die gemeinsam mit ihren Mitgliedstaaten in Marrakesch unterzeichnet hatte, sowie mit Japan und den USA die drei wichtigsten Handelsmächte endgültig der WTO bis Ende 1994 zugestimmt hatten. China und Rußland haben inzwischen WTO-Beitrittsanträge gestellt. Deutschland hatte bereits im Juli 1994 sein Ratifikationsverfahren abgeschlossen4. 2. Errichtung einer Weltmarktwirtschaftsordnung?

Für den geschichtlich denkenden Beobachter war vor allem die nach großen Auseinandersetzungen schließlich eindeutige Zustimmung des US-amerikanischen Kongresses (288:146 Stimmen im Repräsentantenhaus und 76:24 im Senat) ein historisches Datum. Trotz einiger „Souveränitätsvorbehalte“ bedeutete die Zustimmung der Vereinigten Staaten zur WTO die Revision jenes handelspolitischen Isolationismus, wie er 1948/50 in der Ablehnung der damals geplanten International Trade Organisation (ITO) in Gestalt der sog. „Havanna-Charter“ zutage getreten war5. Trotz der begrenzten Ersatzkonstruktion des GATT blieb auf diese Weise das weltwirtschaftliche Bretton Woods-System der Nachkriegszeit auf der handelspolitischen Seite unvollständig. Für Europa bedeutet die amerikanische WTO-Mitgliedschaft nach der weltpolitischen Wende der Jahre 1989–1991 vor allem das Bekenntnis zur Fortsetzung und Vertiefung der transatlantischen Wirtschaftsbeziehungen, wie sie sich zwischen Europa und den USA in über 40 Jahren in sieben GATT-Handelsrunden entwickelt haben. Auch wenn die WTO ein globales System darstellt, hat nicht zuletzt der Ausgang der Uruguay-Runde gezeigt, welches besondere Gewicht den Beziehungen zwischen der EU und den USA zukommt. Mit der Einigung zwischen diesen beiden größten Handelspartnern stand und fiel 1993 der Erfolg der Runde6. Zusammen mit dem fortdauernden Engagement Amerikas in der NATO kann man die gemeinsame WTO-Mitgliedschaft als den zweiten Pfeiler der transatlantischen Partnerschaft zwischen Europa und den USA bezeichnen7.

4 Vgl. Anm. 3. Dazu die Denkschrift der Bundesregierung in: Aktuelle Beiträge zur Wirtschafts- und Finanzpolitik, 11/1994. 5 Grundsätzlich Jackson, Testimony for the U.S. Senate Committee on Foreign Relations on the WTO and US-Sovereignty, 14.6.1994 (unveröff. Manuskript). 6 Zu den Verhandlungen Stoll, Die WTO, ZaöRVR 1994, 241 ff.; Girard, De Punte del Este à Marrakech: le processus de négociation 1986–1993, in: Cottier (ed.), GATTUruguay Round, 1995, 1 ff. 7 Kühnhardt/Pöttering, Weltpartner Europäische Union, 1994, bes. 81 ff.; Langer, Grundlagen einer internationalen Wirtschaftsverfassung, 1995, 1 ff.

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Weltwirtschaftlich gesehen geht die Bedeutung der WTO noch weiter. Mit guten Gründen hat die Denkschrift der Bundesregierung zur Ratifikation des Vertragswerkes von Marrakesch diesen Abschluß als den „wohl bedeutendsten Schritt der internationalen Handelspolitik“ bezeichnet8. Mit der WTO-Gründung soll nicht nur der Niedergang des GATT umgekehrt werden, wie er sich seit den siebziger Jahren mit dem Eintritt der Dritten Welt in die Weltwirtschaftsordnung abzeichnete, im Zeichen einer deutlichen Ausweitung des „neuen“ nichttarifären Protektionismus9. Die 1974–1981 häufig erörterten Pläne der UN-Generalversammlung zur Errichtung einer dirigistischen „Neuen Weltwirtschaftsordnung“ blieben zwar letztlich Makulatur10. Zur Wiedererweckung des ursprünglichen „GATT-Geistes“ mit seinen Grundprinzipien, die am Markt und an weltweiter Geltung ausgerichtet waren, bedurfte es jedoch über die Ablehnung der Weltplanwirtschaft hinaus einer neuen Vision. Sie wurde 1986 mit der Ministererklärung von Punta del Este verkündet, mit welcher die GATT-Staaten ihre „Uruguay“-Runde einläuteten11. Die Erklärung, die maßgeblich von den Vereinigten Staaten beeinflußt worden war, enthielt im Kern bereits jene beiden Elemente, die anschließend in der längsten Handelsrunde der GATT-Geschichte im einzelnen ausgearbeitet wurden: Materiell sollte – über neue Liberalisierungen in den klassischen GATT-Bereichen hinaus – die Einbeziehung des Agrarund Dienstleistungshandels sowie des handelsbezogenen Schutzes geistigen Eigentums in das Welthandelssystem erreicht werden. Rechtlich ging es um die Umgründung des bisherigen GATT in eine institutionell verfestigte und mit verbesserten Streitbeilegungsmechanismen ausgestattete Welthandelsorganisation. Ende 1993 wurde ihr im letzten Moment der Name „World Trade Organization“ (WTO) verliehen12. Nach einem halben Jahrhundert hatte sich auf diese Weise das große Konzept der Väter von Bretton Woods und seiner Folgekonferenzen – Keynes, Windham-White und andere – doch noch ungefähr vollendet, die Weltwirtschaft in Abkehr vom Laissez-faire der Vorkriegszeit durch Gründung von drei Internationalen Fachorganisationen der Währungs-, Entwicklungs- und Handelspolitik in einem neoliberalen Sinne makroökonomisch zu strukturieren13. Die weltpolitische Erkenntnis der Wende 1989–1991, daß der 8

Anm. 4, S. 15. Gutowski (Hrsg.), Der neue Protektionismus, 1984; Bhagwati, Protectionism, 1988. 10 Oppermann, Über die Grundlagen der heutigen Weltwirtschaftsordnung, in: Bryde/Kunig/Oppermann (Hrsg.), Neuordnung der Weltwirtschaft?, 1986, 11 ff. 11 Dolzer, The Philosophy of the Declaration of Punte del Este, in: Oppermann/ Molsberger (eds.), A New GATT for the Nineties and Europe ’92, 1991, 33 ff. (Text: 42 ff.). 12 Der Text der Schlußakte der Uruguay-Runde v. 15.12.1993 enthielt ursprünglich noch die Bezeichnung „Multilateral Trade Organization“ (MTO). Durch ein Corrigendum vom gleichen Tage (Dok. UR-93-0251) wurde sie durch „WTO“ ersetzt. 13 Meier, The Bretton Woods Agreement, 25 Years after, Stanford Law Review 23 (1971), 235 ff.; Jackson, The Crumbling Institutions of the Liberal Trade System, JWTL 12 (1978), 93 ff.; Tumlir, Evolution of the Concept of International Economic 9

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V. Außenbeziehungen der Europäischen Union

planwirtschaftliche Sozialismus praktisch untauglich ist, schuf die Voraussetzung, die reale Weltwirtschaftsordnung auf der Triade Internationaler Währungsfonds, Weltbank und – nunmehr – WTO marktwirtschaftlich zu errichten. Mit dem Scheitern der Pläne einer „Neuen Weltwirtschaftsordnung“ im Sinne der Dritten Welt und mit dem Zusammenbruch der im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (Comecon) organisierten sozialistischen ökonomischen Integration bietet sich erstmals seit 1945 die Chance, ein universal akzeptiertes Weltwirtschaftssystem aufzubauen. Wer will, mag dies als das ökonomische Teilstück der „Neuen Weltordnung“ begreifen, von der in den neunziger Jahren – im Anschluß an eine Wortprägung von George Bush – öfter die Rede ist14. 3. Stehen wir vor einer „Welt-Unordnung“?

Man sollte sich gleichwohl hüten, angesichts des Durchbruchs weltmarktwirtschaftlicher Ansätze seit dem Ende der achtziger Jahre vorschnell einen selbstlaufenden Erfolg des internationalen Wirtschaftsliberalismus für garantiert zu halten. Es gibt in den neunziger Jahren bereits ein anderes Szenario, welches ernstgenommen werden muß. Es war kürzlich dem US-Friedensinstitut eine hochrangig besetzte internationale Konferenz wert, mit der Beteiligung u. a. des 921 bekannten anglo-amerikanischen Zukunftshistorikers j Paul Kennedy. In diesen Kreisen wird darauf hingewiesen, daß die Ursachen des Nord-Süd-Wirtschaftskonfliktes, Wurzel der Spannungen in den siebziger und achtziger Jahren, alles andere als beigelegt sind15. Die Kluft zwischen Industrie- und Entwicklungsländern nimmt durch die Bevölkerungsexplosion und durch zunehmende Umweltprobleme im Sinne eines „Trends zu globaler Apartheid“ zu. Europa und Nordamerika, die 1950 noch 22% der Weltbevölkerung stellten, werden bis 2025 auf 10% zurückgehen. Möglicherweise sind der Zusammenbruch staatlich/gesellschaftlicher Systeme in sogenannten „Failed States“ wie Somalia oder Ruanda, fundamentalistische Entwicklungen im arabischen Raum oder die Nationalitätenkonflikte in Ost- und Südosteuropa Vorboten einer allgemeinen „Weltunordnung“, innerhalb deren Währungsfonds, Weltbank und WTO übermorgen wie Inseln der Seligen aus einem Meere der Armut und des Chaos herausragen könnten. Aus diesem Blickwinkel richtet sich der hilfesuchende Blick trotz aller negativen Erfahrungen erneut auf die Vereinten Nationen. Der bislang noch zögerliche Ansatz der Rio-UNCED-Konferenz von 1992, wirtschaftliche Entwick-

Order 1914–1980, in: Cairneross (ed.), Changing Perspectives of Economic Policy, 1981, 152 ff. 14 Ipsen/Haltern, Rule of Law in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen: Die Welthandelsorganisation, RIW 1994, 718 ff.; Senti, Die neue Welthandelsorganisation, ORDO 45 (1994), 301 ff.; Langer (Anm. 7), 2 ff. 15 Brock, Die Dritte Welt in ihrem fünften Jahrzehnt, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 50/1992, 13 ff.; Kennedy/Connelly, The Atlantic Monthly 1994, 157 ff.

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lung und Umwelt über das Konzept der „verträglichen Entwicklung“ („sustainable development“) zu versöhnen, ist inzwischen auch in GATT/WTO als eines der großen handelspolitischen Themen der neunziger Jahre und darüber hinaus erkannt worden. Die Präambel des WTO-Übereinkommens hat das „sustainable development“ unter die grundlegenden Zielsetzungen der Organisation aufgenommen16. 4. Globalisierung versus Regionalisierung

Schließlich steht das Konzept eines über die WTO zu erneuernden und zu vertiefenden Multilateralismus in Wettbewerb zu der anderen machtvollen Entwicklung, die großen Wirtschaftsräume der Erde in regionalen Handelsblöcken zusammenzufassen. Regionalismus versus Globalisierung heißt das bekannte Stichwort. Die Europäische Gemeinschaft als Kern der durch Maastricht begründeten Union ist der am weitesten entwickelte Fall einer solchen Regionalorganisation. Sie lebt seit Jahrzehnten mit dem GATT in einer spannungsreichen Beziehung17. Die Errichtung der nordamerikanischen Freihandelszone (NAFTA) von 1993 (neuerdings mit der Perspektive einer gesamtamerikanischen Erweiterung bis 2005), in Südamerika die Gründung des Gemeinsamen Marktes „MERCOSUR“ von 1991 zwischen Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay, in Asien die fortschreitende Verwirklichung der 1967 gegründeten südostasiatischen Freihandelsassoziation ASEAN und nunmehr die Vision der asiatisch-pazifischen großen Freihandelszone APEC bis 2020 haben in den letzten Jahren Zeugnis von den sich weltweit regenden Kräften des Regionalismus abgelegt18. Auch Überlegungen über die Schaffung einer transatlantischen Freihandelszone TAFTA zwischen der EU und den USA gehören hierher19. Mit Blick auf diese engeren Handelsblöcke ist vorläufig ein Fragezeichen vor die tatsächliche Verwirklichung des WTO-Übereinkommens zu setzen. Vor allem die Akzentuierung der künftigen Handelspolitik der EU, Japans und der USA in einem mehr bilateralen oder multilateralen Sinne wird darüber entscheiden, in16 Präambel ÜWTO, Abs. 1: „. . . Ziel einer nachhaltigen Entwicklung . . .“ (Hier wie vielerorts wird „sustainable“ unglücklich übersetzt. Gemeint ist in Wahrheit die „(umwelt-)verträgliche“ Entwicklung); allgemein Weiss, The GATT 1994: Environmental Sustainability of Trade or Environmental Protection Sustainable by Trade?, in: Ginther (ed.), Sustainable Development and Good Governance, 1995, 382 ff. 17 Hilf/Petersmann (Hrsg.), GATT und EG, 1986; Oppermann/Molsberger (Anm. 11). 18 Abbott, The NAFTA and Western Hemisphere Integration in the WTO System, 1995; Hirst, Mercosur and the new circumstances for its integration, CEPAL Review 1992, 139 ff.; Lorenz, Europe and East Asia in the Context of Regionalization, Journal of Asian Economics, 1993, 229 ff.; allgemein Preusse, Regional Integration in the Nineties, Journal of World Trade, 1994, 138 ff.; Sacerdoti/Alessandrini (eds.), Regionalismo Economico e Sistema Globale degli Scambi, 1994. 19 Beise, Mit der TAFTA spielt man besser nicht, Handelsblatt 12./13.5.1995.

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wieweit die Zukunft einer globalen Ordnung oder der regionalen Binnenentwicklung gehört. Doch zurück zu den Hoffnungen, von denen die Anfänge der WTO vielfältig begleitet werden. Bei allen Unsicherheiten, die mittelfristigen Handelsvorausschätzungen eigen sind, stimmen die beiden maßgeblichen Studien der OECD von Ende 1993 und des GATT-Sekretariats (Ende 1994) in der Prognose eines großen Netto-Wohlfahrtsgewinnes für die Gesamtheit der GATT-/WTO-Mitgliedsländer Anfang des 21. Jahrhunderts durch die in der Uruguay-Runde bis 2005 beschlossenen Marktöffnungen überein20. Während die OECD ab 2002 einen jährlichen Gesamteinkommensgewinn aller Mitgliedstaaten von 270 Mia. US-$ berechnet, kommt die optimistischere GATT-Studie sogar auf 510 Mia. US-$ jährlich ab 2005. Sie berücksichtigt dabei lediglich den Abbau im klassischen Außenschutzbereich des GATT, ohne die schwer quantifizierbaren Verbesserungen durch eine Liberalisierung des Dienstleistungshandels und durch erhöhte Respektierung geistiger Eigentumsrechte einzubeziehen. Auch die Bundesregierung schätzt, daß der Gesamtnutzen des WTO-Vertragswerkes die rein quantitativ erfaßbaren Vorteile deutlich übersteigen wird. II. Fortentwicklung des GATT In einigen wichtigen Punkten unterscheidet sich die neue Welthandelsorganisation (WTO) von ihrer Vorgängerin GATT21. Sie sind wesentlich, wenn man die Stellung der EU innerhalb der WTO begreifen möchte. Es geht dabei sowohl um institutionelle und im engeren Sinne rechtliche Aspekte als auch um die grundsätzlichen wirtschaftlichen Entscheidungen im WTO-Vertragswerk. 1. Die WTO als unabhängige internationale Organisation

Vor allem anderen verschafft das Übereinkommen von Marrakesch (ÜWTO) der Genfer Welthandelsorganisation nach bald 50 Jahren endlich jene feste Rechtsgestalt, welche das GATT infolge des Scheiterns der Havanna-Charter Ende der vierziger Jahre nie erreichen konnte. Die völkerrechtlichen Unklarheiten um die Rechtssubjektivität waren ein wesentlicher Grund für die besondere 20 OECD, Results of a successful Uruguay Round, 1993; GATT, WTO to boost global income by USD 500 billion, GATT-Newsletter 111 (1994), 1, 5. 21 Aus der bereits umfangreichen WTO-Literatur: Beise, Vom alten zum neuen GATT, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Europäische und Internationale Wirtschaftsordnung aus der Sicht der Bundesrepublik Deutschland, 1994, 179 ff.; Jansen, Die neue Welthandelsorganisation, EuZW 1994, 333 ff.; Oppermann/Beise, Die neue Welthandelsorganisation, Europa-Archiv 1994, 195 ff.; Senti, GATT-WTO, 1994; Stoll (Anm. 6); Benedek, Die neue Welthandelsorganisation (WTO), VN 1995, 13 ff.; Jackson, From the GATT to the WTO, in: Cottier (Hrsg.), GATT-Uruguay Round, 1995, 29 ff.

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Kompliziertheit des GATT. Das betraf seine nur „vorläufige“ Anwendung seit 1948, die „Großvater-Klausel“ zugunsten von Altrechten, die Existenz zahlreicher verselbständigter „Seitenverträge“ (Codices u. ä.) und eine unübersichtliche Organisationsform, die bis zuletzt Zweifel daran beließ, ob es sich beim GATT überhaupt um eine Internationale Organisation handelte22. Demgegenüber erkennen Art. I, VII ÜWTO der WTO nunmehr im völkerrechtlichen Sinne Rechtspersönlichkeit zu, j mit den üblichen Konsequenzen im 922 Hinblick auf Vorrechte und Immunitäten und den Abschluß eines Sitzabkommens23. Im Vergleich mit IWF und Weltbank weist die WTO insofern eine Besonderheit auf, als sie nicht Sonderorganisation der UN ist. Dies hängt mit der „UNFerne“ des alten GATT zusammen, die sich aus der eben geschilderten Entstehungsgeschichte ergab, aber auch aus dem Engagement der UNO seit 1974 für eine „Neue Weltwirtschaftsordnung“, die auf ganz anderen Prinzipien als denen des GATT aufbauen sollte. Handelsorganisation der UN war und ist die UNCTAD. Die Gründer der WTO konnten daher keine besonderen Vorteile in einer förmlichen Anbindung an die UNO erblicken. So beläßt es Art. V ÜWTO bei der allgemeinen Wendung, daß der Allgemeine Rat geeignete Vorkehrungen zur Zusammenarbeit mit anderen zwischen- und nichtstaatlichen Organisationen trifft, die sich mit Angelegenheiten befassen, die mit denen der WTO in Zusammenhang stehen. Damit sind besonders IWF und Weltbank gemeint, ebenso die UNO als solche, aber auch beispielsweise die EU. 2. Ursprüngliche und spätere WTO-Mitglieder

Bei den Mitgliedern der WTO muß nach Art. XI ff. ÜWTO zwischen ursprünglichen und später beitretenden Mitgliedern unterschieden werden. Ursprüngliche Mitglieder sind diejenigen, welche zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der WTO Vertragsparteien des „alten“ GATT von 1947 waren und die den multilateralen Teil des WTO-Vertragswerkes übernehmen. Dazu gehören gemäß Art. XI auch die Europäischen Gemeinschaften. Für die EG ergibt sich somit als wichtigste Neuerung im Vergleich zum GATT, daß die Gemeinschaft nunmehr neben ihren Mitgliedstaaten sowie den sonstigen Mitgliedern förmliches (ursprüngliches) WTO-Mitglied ist (vgl. insbesondere Art. IX, XI ÜWTO). Damit ist den bisherigen komplizierten Überlegungen, inwieweit die EG im alten GATT neben den Mitgliedstaaten ein „fak22 Vgl. den „Klassiker“ Jackson, World Trade and the Law of GATT, 1969, oder Benedek, Die Rechtsordnung des GATT aus völkerrechtlicher Sicht, 1990. 23 Sitzabkommen Schweiz/WTO v. 2.6.1995, vgl. WTO-Focus 3/1995, 5. – 1994 hatte sich die WTO für den Verbleib in Genf entschieden und nahm das deutsche Angebot, Bonn als Sitz der WTO zu wählen, nicht an.

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tisches GATT-Mitglied“ war, ein positives Ende gesetzt worden24. Die neue Regelung im ÜWTO, die der EG als einziger zwischenstaatlicher Organisation ausdrücklich die Mitgliedschaft eröffnet, ist ein eindrucksvoller Beleg für den besonderen Status, den sich die Gemeinschaft über den Aufbau ihrer Gemeinsamen Handelspolitik im Kreise der Welthandelspartner errungen hat. Freilich bleibt die Vertretung des EU-Raumes in der WTO kompliziert. Nach Art. IX ÜWTO verfügen die Europäischen Gemeinschaften in der Ministerkonferenz und im Allgemeinen Rat der WTO dann, wenn sie das „EG-Stimmrecht“ ausüben, über eine Anzahl von Stimmen, die der Anzahl derjenigen EG-Staaten entspricht, die WTO-Mitglieder sind. Das können also bis zu 15 „gebündelte“ Stimmen sein. Die Anzahl dieser EG-Stimmen und derjenigen ihrer Mitgliedstaaten darf jedoch die Anzahl der EG-Staaten in keinem Falle übersteigen. Die WTO wird also künftig mit der komplizierten Aufteilung der handelspolitischen Zuständigkeiten zwischen der EG und ihren Mitgliedstaaten gemäß Art. 110 ff. EGV leben müssen, wie sie jüngst der EuGH mit dem Gutachten 1/94 definiert hat25. Die ursprünglichen WTO-Mitglieder sind gegenüber den später nach Art. XII ÜWTO beitretenden bis zu einem gewissen Grade bevorrechtigt. Ein späterer Beitritt erfolgt zu den Bedingungen eines besonderen Übereinkommens zwischen dem Beitrittskandidaten und der WTO. Die Beitrittsbeschlüsse bedürfen dann einer Zweidrittelmehrheit der WTO-Mitglieder. Angesichts des Interesses aller Beteiligten an möglichst baldiger und weitgehender Universalität der WTO dürfte das Bemühen dahin gehen, die Beitrittshürden für spätere Mitglieder nicht allzu hoch werden zu lassen. Jedoch ist nicht zu verkennen, daß die ursprünglichen Mitglieder zusammen mit dem WTO-Sekretariat es bis zu einem gewissen Grade in der Hand haben, auf den Standard der Rechte und Pflichten späterer WTO-Mitglieder Einfluß zu nehmen. So gesehen ist die ursprüngliche Mitgliedschaft der EU in der WTO von Bedeutung. 3. Das Prinzip des Einheitsabkommens („Single agreement approach“)

An dieser Stelle gilt es, sich zu vergegenwärtigen, welchen grundsätzlichen Inhalt eine WTO-Mitgliedschaft für ursprüngliche wie für spätere Mitglieder mit sich bringt. Leitender Gesichtspunkt des ÜWTO ist der Ansatz des „Einheitsabkommens“ („Single agreement approach“)26. Eine der entscheidenden 24 Petersmann, Die EWG als GATT-Mitglied, in: Hilf/Petersmann (Hrsg.), GATT und EG, 1986, 119 ff. („Völkerrechtliches Gespenst“). 25 EuGHE 1994, I-5267 ff. – Gutachten 1/94 „GATS/TRIPS“. Näher unten bei III. 2. 26 Hierzu International Law Association, International Trade Law Committee, First Report 1994 (Petersmann/Abbott), II, A.

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Schwächen des alten GATT lag darin, daß es ein „GATT à la carte“ erlaubte, bei dem lediglich eine Minderheit der 124 Mitglieder alle Rechte und Pflichten aus dem Grundvertrag von 1947 und aus den zahllosen Zusatzverpflichtungen über die späteren Seitenverträge aus sieben Handelsrunden übernommen hatte. Das bisherige GATT-Recht bestand auf diese Weise aus einem Flickenteppich in sich höchst unübersichtlicher Regelungen, deren Rechte und Pflichten zwischen den Vertragsparteien in ganz unterschiedlicher Weise übernommen wurden. Insbesondere viele Entwicklungsländer hatten aufgrund der Möglichkeiten in Teil IV des alten GATT die meisten Liberalisierungsschritte der letzten Jahrzehnte nicht mitgemacht (sog. Praxis des „free-riding“)27. Selbst in seiner Maastrichter Form stellt sich das Recht der EU wie ein wohlgeordneter Kosmos im Vergleich zu der amorphen Genfer Normenflut des alten GATT dar. Außer einigen hiermit hauptamtlich befaßten Amtspersonen in Genf und in den Hauptstädten sowie einem kleinen Geheimbund hochspezialisierter Gelehrter des Welthandelsrechts war es kaum jemandem vergönnt, sich in diesem Labyrinth zurechtzufinden28. Dieser Zustand war der Akzeptanz des GATT, das öfters vollmundig als „Charta des Welthandels“ o. ä. gepriesen wird, in einer breiteren Öffentlichkeit höchst abträglich29. Mit dem Prinzip des „Einheitsabkommens“ sucht die WTO diesen großen Schwächen nunmehr gegenzusteuern. Um ein „integriertes, funktionsfähigeres und dauerhafteres multilaterales Handelssystem zu entwickeln“, wie es die WTO-Präambel ausdrückt, legen Art. XI, XII und XIV: 1 ÜWTO fest, daß Voraussetzung für die Mitgliedschaft in der WTO die vollständige Übernahme des Grund-Übereinkommens über die WTO sowie aller in den Anlagen zu diesem Übereinkommen enthaltenen „multilateralen Handelsübereinkommen“ ist. Lediglich im Hinblick auf vier „plurilaterale Abkommen“ (über zivile Luftfahrzeuge, das öffentliche Beschaffungswesen sowie internationale Milch- und Rindfleischabkommen) bleibt es beim alten Prinzip eines „GATT à la carte“, d. h., sie binden nur die ratifizierungswilligen Partner. Auf diesen deutlich zurückgedrängten Restbereich j wird hier nicht näher eingegangen30. Er ist nicht 923 mehr prägend für das WTO-System.

27 Hudec, Developing Countries in the GATT Legal System, 1987; Häberli, Das GATT und die Entwicklungsländer, in: Cottier (ed.), GATT-Uruguay Round, 1995, 135 ff. 28 Gesamtdarstellungen des „alten GATT“ etwa bei T. Flory, Le GATT, 1968; Jackson (Anm. 22); Hudec, The GATT Legal System and World Trade Diplomacy, 2. Aufl. 1990; Petersmann, GATT, in: Groeben/Thiesing u. a. (Hrsg.), Hdb. Europäisches Recht, 207. Lieferung, 1984; Senti, GATT, 1986; Benedek (Anm. 22). 29 Hailbronner/Bierwagen, Das GATT – Die Magna Charta des Welthandels, JA 1988, 318 ff. 30 Vgl. zu ihm etwa Barth, Die Handelsregeln der neuen Welthandelsorganisation, NJW 1994, 2811 ff.; Senti (Anm. 21), 116 ff.

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V. Außenbeziehungen der Europäischen Union 4. Die „drei Säulen“ der WTO: GATT 94, GATS und TRIPS

Die WTO ruht unter der Herrschaft des Prinzips des „Einheitsabkommens“ auf drei „Säulen“: (1) Das neue „GATT 1994“ unterscheidet sich lediglich rechtlich von dem alten „GATT 1947“. Im GATT 1947 verbleiben diejenigen bisherigen GATT-Mitglieder, die noch nicht der WTO beigetreten sind. Das neue GATT 1994, welches sich mit dem klassischen Warenhandel befaßt, umfaßt gemäß den Ergebnissen der Uruguay-Runde (= Annex 1 A der Marrakesch-Schlußakte) folgende Regelungen: (a) Zum einen beinhalten diese ungefähr 200 alte GATT-Vereinbarungen sowie 30 neue, im Rahmen der Uruguay-Runde getroffene Vereinbarungen, meist über Zölle. (b) Zum anderen handelt es sich um 12 multilaterale Handelsübereinkommen, u. a. über den Agrarhandel, Textilien, technische Handelshemmnisse, Subventionen und Anti-Dumping sowie über die Schutzklauseln. Grundsätzlich werden über das „GATT 1994“ die grundlegenden Prinzipien des „alten GATT 1947“ – wie Meistbegünstigung, Nichtdiskriminierung, Gegenseitigkeit (Reziprozität), Zollabbau, Verbot nichttarifärer Handelshemmnisse („Tariffs only“) und Rücksichtnahme auf Entwicklungsländer – in die WTO überführt31. (2) Zweite Säule der WTO ist sodann das Abkommen über den Dienstleistungshandel („GATS“), eines der neuen Themen der Uruguay-Runde32. Mit ihm wird ein immer bedeutsamer werdender Handelsbereich, der gegenwärtig ungefähr ein Drittel des totalen Welt-Güterhandels umfaßt, erstmals in die multilaterale Organisation des Welthandels in einem liberalisierenden Sinne einbezogen. Das GATS definiert die Arten von Dienstleistungen, die sich auf so unterschiedliche Sektoren wie Banken/Versicherungen, Bauwirtschaft, Verkehr, Kommunikation, Beratungswesen, Computerprogramme und Tourismus u. a. m. erstrecken33. Das GATS bedeutet einen ersten tastenden Libe31 Senti (Anm. 21), 40 ff. Unter der WTO kann man den Schutz der Umwelt als neues Allgemeinprinzip hinzurechnen (Präambel u. a.). 32 Barth, Das Allgemeine Übereinkommen über den internationalen Dienstleistungshandel (GATS), EuZW 1994, 455 ff.; Etter, Das Dienstleistungsabkommen der Uruguay-Runde, in: Cottier (ed.) (Anm. 27), 91 ff.; Sacerdoti (ed.), Liberalization of Services and Intellectual Property in the Uruguay Round of GATT, 1990; Senti, Die neue Welthandelsordnung für Dienstleistungen, 1994. 33 Abeyratne, The Liberalization of Air Transport Services within GATT, 1994; Footer, GATT and the Multilateral Regulation of Banking Services, The International Lawyer 1993, 943 ff.; Hohmann, Freier Handel mit Kommunikationsdienstleistungen im Rahmen des GATT-Regelungswerkes, Ztschr. vgl. Rechtswissenschaft 1991, 186 ff.

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ralisierungsschritt. Es sucht Grundprinzipien des GATT – wie Meistbegünstigung, Transparenz, Marktzugang, Inländerbehandlung und Streitbeilegungsverfahren u. a. – analog auf den Dienstleistungsbereich anzuwenden (Art. II, III, XVI, XVII GATS). Das Abkommen arbeitet dabei mit Verpflichtungen über den Marktzugang, Inländergleichbehandlung u. a. m. Weithin ist das GATS eine Art pactum de contrahendo, welches durch künftige Verhandlungen fortentwickelt werden muß (Teil IV GATS). Es sind z. T. bereits künftige Verhandlungsrunden vereinbart. Vorläufig enthält das GATS auf Betreiben wichtiger Staaten noch zahlreiche Ausnahmen, vor allem bei den Finanzdienstleistungen, der Telekommunikation, in der Luftfahrt und Hochseeschifffahrt. Im audiovisuellen Bereich (Film/Fernsehen) kam es infolge Nichteinigung zwischen den USA und der EU zu keiner Liberalisierungsverpflichtung (vorläufige „kulturelle Ausnahme“, die jedoch die künftige Verhandlungspflicht unberührt läßt)34. Institutionell wird durch das GATS ein besonderer Rat für den Dienstleistungshandel errichtet. Das GATS ermöglicht ferner die Anrufung des allgemeinen WTO-Streitschlichtungsverfahrens (Art. XXIII GATS). (3) Die „dritte Säule“ der WTO ist schließlich das Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte des Rechtes des geistigen Eigentums („TRIPS“)35. Auch hier beschreitet die Uruguay-Runde Neuland. Die TRIPS gingen auf eine Initiative der USA zu Beginn der Uruguay-Runde in Punte del Este 1986 zurück, der sich die EG allmählich vorsichtig anschloß. Motiv dieser Industriestaaten war die Unzufriedenheit mit dem bisherigen internationalen Schutz geistigen Eigentums durch die alten, ausgangs des 19. Jahrhunderts entwickelten Konventionen zum Gewerblichen und Urheberrechtsschutz, wie sie seit 1970 von der WIPO verwaltet werden. Die Nichtbeteiligung an diesen Abkommen seitens zahlreicher Neustaaten nach 1945 und insbesondere ihre Verletzung durch aufstrebende „Schwellenländer“ in Asien führte vielfältig zu „Produktpiraterie“. Sie summierte sich zu Milliardenverlusten in Industrieländern aufgrund der nichtbeachteten intellektuellen Eigentumsrechte36. Vor allem im Urheberrechtsbereich im weitesten Sinne einschließlich der ökonomisch immer bedeutsamer gewordenen Telekommunikation entsprach das alte Recht nicht mehr hinreichend den Gegebenheiten eines 34 Senti (Anm. 32), 23; Footer, The Future for a Cultural Exception in the WTO (unveröff. Manuskript für das International Trade Law Committee der ILA 1995). 35 Abbott, The WTO Agreement on TRIPS, 1995 (unveröff. Manuskript); Assmann/ Buck, Trips, in: Oppermann/Molsberger (ed.) (Anm. 11), 261 ff.; Drexl, Nach GATT und WIPO: Das Trips-Abkommen und seine Anwendung in der EG, GRUR Int. 1994, 777 ff.; Oppermann/Baumann, Handelsbezogener Schutz geistigen Eigentums („Trips“) im GATT, ORDO 44 (1993), 121 ff.; Otten, Improving Playing Fields for Exports: The Agreements on Intellectual Property, Investment Measures and Government Procurement, in: Cottier (ed.) (Anm. 27), 67 ff. 36 Faupel, GATT und geistiges Eigentum, GRUR Int. 1990, 255 ff.

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modernen „Rechte-Handels“. Obwohl das TRIPS-Abkommen seinem Wesen nach ein Schutz- und nicht ein Liberalisierungsabkommen darstellt, gehört es nach amerikanischer und europäischer Grundauffassung in den Zusammenhang eines nach Fairneß-Prinzipien organisierten Freihandels, nämlich im Sinne des zeitlich begrenzten Schutzes wohlerworbener Rechte37. Inhaltlich sucht das TRIPS-Abkommen ähnlich wie das GATS zentrale GATT-Grundsätze – wie Meistbegünstigung und Inländergleichbehandlung – mittels Gewährleistung bestimmter Standards in den Bereich des geistigen Eigentumsschutzes zu übertragen (Art. 3, 4, 63 TRIPS). Außerdem verpflichtet das TRIPS-Abkommen die Mitglieder zur Beachtung der Pariser Konvention zum Gewerblichen Rechtsschutz (in der Fassung von 1967) und der Berner Übereinkunft zum Urheberrecht (in der Fassung von 1971) (Art. 2 Abs. 1, 9 Abs. 1 TRIPS). Dabei modernisiert der TRIPS-Vertrag diesen Bereich dadurch, daß die im 19. Jahrhundert historisch getrennten Sektoren des Gewerblichen und des Urheberrechtsschutzes nunmehr zunehmend unter den Oberbegriff des Geistigen Eigentums zusammengefaßt werden. Im Ergebnis soll der mit dem TRIPS-Übereinkommen eingeschlagene Weg mittelfristig zur Einführung einer weltweit ungefähr vergleichbaren nationalen Gesetzgebung zum Schutze der Intellectual Property Rights führen. Auch das TRIPS-Abkommen kennt seine eigenen Institutionen (Rat für geistige Eigentumsrechte) und die grundsätzliche Möglichkeit, Streitfälle dem WTO-Streitbeilegungsverfahren vorzulegen (Art. 64 TRIPS). In der Verbesserung der Streitbeilegung („Dispute settlement“) in Kon924 fliktfällen wird ein j entscheidender Fortschritt des TRIPS-Abkommens gesehen.38 5. Streitbeilegungsverfahren und Handelsüberprüfungsmechanismus als gemeinsame WTO-Instrumente

Über diese bereits sehr ansehnlichen drei „Säulen-Abkommen“ GATT 94/ GATS/TRIPS hinaus, die jedes WTO-Mitglied übernehmen muß, verlangt das Prinzip des „Einheitsabkommens“ von den WTO-Kandidaten die Übernahme zweier weiterer Regelungen, von denen zumindest eine, das verbesserte Streitbeilegungsverfahren, von zentraler Bedeutung für das tatsächliche Funktionieren des WTO-Systems sein wird. Daneben steht die Verpflichtung zur Mitratifikation des sog. „Handelsüberprüfungsmechanismus“ (Annex 3 zum ÜWTO)39. Hiermit wird in Fortsetzung einer von der OECD entlehnten GATT-Praxis die 37 Dam, The growing importance of International Protection of Intellectual Property, The International Lawyer 1987, 627 ff.; Oppermann/Baumann (Anm. 35), 122, 134 f. 38 Abbott (Anm. 35); Otten (Anm. 35). 39 Mavridis, GATT’s New Trade Policy Review Mechanism, Michigan Journal of International Law 1992, 374 ff.; Stoll (Anm. 6), 277 f.

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Handelspolitik jedes Mitgliedstaates in regelmäßigen Abständen von einem „Trade Policy Review Body“ (TPRB) i. V. m. dem GATT-/WTO-Sekretariat unter Beteiligung sonstiger Interessenten einem „Examen“ im Hinblick auf die Verwirklichung der Vertragspflichten unterzogen und dabei entsprechende Empfehlungen abgegeben. Die Aufgaben des TPRB übernimmt der WTO-Rat (Art. 4 IV ÜWTO). Mit dem neuen Streitbeilegungsverfahren der WTO, welches in dem „Dispute Settlement Understanding“ (DSU) als integrierendem WTO-Bestandteil zusammengefaßt ist, wird die normative Verbindlichkeit der Regeln der neuen Welthandelsorganisation in bemerkenswerter Weise gestärkt40. Zwar kann man auch bei der WTO noch nicht von einer transnationalen Gerichtsbarkeit sprechen, wie sie in der EU über das Wirken des Europäischen Gerichtshofes und inzwischen auch des Gerichts 1. Instanz geläufig geworden ist. Es bleibt bei einem „politisch gebundenen“ Verfahren (Stoll), in dem der WTO-Rat eine besondere Rolle spielt. Wenn sich das neue DSU-Verfahren in der Praxis der WTO durchsetzt, dürfte jedoch, um ein bekanntes Wort von John H. Jackson aufzunehmen, der entscheidende Schritt von einem macht- zu einem regelorientierten System des Welthandels getan sein41. Von grundlegender Bedeutung des DSU ist zunächst sein integrierter Charakter (Art. 1 DSU). Während die Streitparteien unter dem alten „GATT à la carte“ zwischen verschiedenen Verfahren wählen konnten, sofern sie sich einer solchen Prozedur überhaupt unterziehen wollten, gibt es nunmehr nur noch ein gemeinsames Verfahren für den gesamten Bereich des „Einheitsabkommens“ vom GATT 94 bis hin zu den TRIPS. Die zweite wesentliche Neuerung gegenüber den bisherigen GATT-Verfahren besteht in der verstärkten Regulierung und Institutionalisierung des Verfahrens. Der Allgemeine WTO-Rat nimmt zugleich die Aufgaben eines im DSU vorgesehenen Streitbeilegungsgremiums (Dispute Settlement Body = DSB) wahr (Art. IV: 3 ÜWTO). Dieses Gremium setzt die schon aus der früheren GATT-Praxis bekannten „Panels“ als unabhängige Prüfungs- und Feststellungsinstanzen ein, wobei der Antrag auf Einsetzung eines Panels nur mehr durch Konsens abgelehnt werden kann (Art. 6, 7 DSU). Die entscheidende Verstärkung des DSU-Verfahrens gegenüber der bisherigen GATT-Praxis liegt darin, daß die Annahme der Panel-Berichte im Streitbeilegungsgremium nicht mehr von der Zustimmung der betroffenen Partner abhängt, sondern die Verweigerung der Annahme einer Konsens-Entscheidung des DSB bedarf (Art. 16: 4 DSU). Die Streitparteien können ein neu geschaffenes 40 Vereinbarung über Regeln und Verfahren zur Beilegung von Streitigkeiten v. 15.4.1994, BGBl. II 1749 ff., engl. Text u. a. bei Raworth/Reif (Anm. 3), 713 ff. – Kohona, Dispute Resolution under the WTO, JWTL 1994, 23 ff.; Senti (Anm. 21), 33 ff.; Stoll (Anm. 6), 266 ff.; Petersmann (ed.), International Trade Law and the GATT-WTO Dispute Settlement System (erscheint 1996). 41 Jackson, Restructuring the GATT System, 1990.

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gerichtsähnliches „Ständiges Berufungsgremium“ („Standing Appellate Body“ = SAB) anrufen, dessen Berufungsbericht seinerseits vom DSB nur durch Konsensentscheidung abgelehnt werden kann (Art. 17 DSU). Ansonsten besteht eine grundsätzliche Rechtspflicht, die als vertragswidrig erkannten Maßnahmen aufzuheben (Art. 17: 14, 21 DSU). Als Sanktionen kommen Entschädigungen (Kompensationen) und die Aussetzung vertraglicher Zugeständnisse in Frage (Art. 22 DSU). Zusammenfassend gesehen wird man das Prinzip des Einheitsabkommens in seiner verpflichtenden Wirkung auf die WTO-Mitglieder als einen qualitativen Wandel ersten Ranges im System der Genfer Welthandelsorganisation ansehen müssen. Staaten und auch eine Gemeinschaft wie die EU, die sich der WTO anschließen, erkennen grundsätzlich die Rule of Law in ihren Handelsbeziehungen an42. Damit stellt sich notwendig die Frage nach Qualität und Rang des WTO-Rechts im Konfliktfalle gegenüber nationalen Rechtsordnungen und auch gegenüber einer aus Genfer Sicht regionalen Ordnung wie derjenigen der Europäischen Gemeinschaft. 6. Die Organisationsstruktur der WTO

Wesentliche Änderungen hat der Wandel vom GATT zur WTO auch für die Organisationsstruktur der Welthandelsorganisation mit sich gebracht. Dies gilt insbesondere mit Blick auf die erwähnten multilateralen Abkommen (GATT 94/ GATS/TRIPS), die nach dem Prinzip des Einheitsabkommens unter das Dach der WTO gestellt werden. Institutionell muß man die WTO nach ihren verschiedenen Funktionen begreifen. Sie ist sowohl das eben erwähnte organisatorische Dach für die verschiedenen Aufgabenbereiche als auch künftiges Verhandlungsforum und schließlich in ihrer rechtlichen Substanz auch die „Verfassung“ des multilateralen Welthandels (Art. II, III ÜWTO). Insbesondere das Verständnis dieses letztgenannten konstitutionellen Aspektes ist entscheidend für das Verhältnis der WTO zur EG. In den Organen spiegelt sich die komplizierte Vertragsstruktur der WTO. Als Dachebene bestehen die mindestens alle zwei Jahre stattfindende Ministerkonferenz und vor allem der Allgemeine WTO-Rat, den die Repräsentanten der Mitgliedstaaten bilden, und das Sekretariat mit dem Generaldirektor an der Spitze zur „Erleichterung der Durchführung, Verwaltung und Wirkungsweise“ des Einheitsabkommens und der plurilateralen Handelsübereinkommen (Art. IV–VI ÜWTO). Die im Jahre 1995 erfolgte Wahl des bekannten italienischen Politikers und Handelsdiplomaten Renato Ruggiero als WTO-Generaldirektor in 42 „Schaffung von Sicherheit und Vorhersehbarkeit im multilateralen Handelssystem“ ist das Ziel des WTO-Streitbeilegungsverfahrens (Art. 3: 2 DSU). Vgl. auch Ipsen/Haltern (Anm. 14).

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Konkurrenz zu ihrerseits hochrangigen politischen Persönlichkeiten aus Amerika und Asien ließ etwas von der allgemeinen Bedeutung erkennen, welche der WTO in der internationalen Politik zuerkannt wird43. Unterhalb der Dachebene bestehen die drei besonderen Räte für die großen Bereiche im Rahmen des Einheitsabkommens, nämlich für den Güter- und Dienstleistungshandel und das TRIPS-Abkommen (Art. VI: 5 ÜWTO). Außer der Verwaltung des Bestehenden soll die WTO ständiges Forum für die künftigen multilateralen und plurilateralen Handelsabsprachen sein, sowie durch die Einschal- j tung des Allgemeinen Rates als Streitbeilegungsgremium 925 und Zentralorgan für die Überprüfung der Handelspolitiken der Mitgliedstaaten das juristische und wirtschaftliche Funktionieren des Vertragswerks sicherstellen (Art. III: 2–4 ÜWTO). Die Entscheidungsfindung in den WTO-Organen (Art. IX, X ÜWTO) knüpft ausdrücklich an die unter dem alten GATT teilweise gegen den Wortlaut entwikkelten flexiblen Gewohnheiten an44. Das gilt für die Beschlußfassung durch Konsens (Annahme bei Fehlen eines förmlichen Einspruches) und anderenfalls für die Geltung des einfachen Mehrheitsprinzips mit gewissen verschärfenden Ausnahmen. Selbst Vertragsänderungen bedürfen lediglich einer Zweidrittelmehrheit, mit Ausnahme der Änderung fundamentaler WTO-Prinzipien wie insbesondere der Meistbegünstigung in den drei großen Bereichen, wofür nach Art. X: 2 ÜWTO Einstimmigkeit vorgeschrieben ist. Jeder Kenner der GATTWelt weiß indessen, daß die Entscheidungsfindung in der Praxis wesentlich souveränitätsfreundlicher gehandhabt wird, als es der Buchstabe der Verträge erscheinen läßt. Die Suche nach dem allgemeinen Konsens ist vorherrschend. Die Entscheidungsfindung muß zudem vor dem Hintergrund des an keine Voraussetzungen geknüpften souveränen Rechts jedes Mitgliedes gesehen werden, gemäß Art. XV ÜWTO die Organisation mittels schriftlicher Rücktrittsanzeige binnen 6 Monaten wieder zu verlassen. Dies ist wahrscheinlich der wirksamste Schutz gegen leichtfertiges Überstimmen von Mitgliedern durch irgendwelche Mehrheiten. Art. XV war eines der besten Argumente der WTO-Befürworter im amerikanischen Kongreß, mit dem Befürchtungen einer einschneidenden Souveränitätsbeschränkung durch den Beitritt begegnet werden konnte45.

43 Zunächst hatte der letzte GATT-Generaldirektor Peter Sutherland als erster WTOGeneraldirektor einige Monate amtiert, WTO-Focus 2/1995, 1 f. 44 Zu ihnen etwa Benedek (Anm. 22) und ders., GATT – The Uruguay Round – WTO, in: Wolfrum/Philipp (ed.), United Nations, 1995, 532 ff. 45 Jackson (Anm. 5).

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V. Außenbeziehungen der Europäischen Union 7. Die WTO als Verfassung des Welthandels

Sieht man die Organisationsstruktur und den Entscheidungsfindungsprozeß im ÜWTO zusammen und vergleicht man den Befund mit der bisherigen Regelung im alten GATT, dann wird das Bemühen unverkennbar, die WTO-Rechte und Pflichten der Mitglieder im vollen Sinne rechtlich und nicht nur als flexible „Regeln“ zu verstehen. Dies läßt sich auch entstehungsgeschichtlich nachweisen, wobei sich interessanterweise herausstellt, daß der institutionelle Ansatz zur Schaffung einer mit normativen Befugnissen ausgestatteten Organisation frühzeitig in der EG-Delegation zu den Uruguay-Verhandlungen entwickelt worden ist46. Hier standen offenbar die Erfahrungen mit der Wirkungskraft des transnationalen europäischen Rechtes Pate. Christoph Bail bezeichnet sich gerne als einen der Väter der WTO. Mag das Einfließen von Erfahrungen aus der EG-Handelspolitik in das ÜWTO auch unbestreitbar sein, so verdankt die WTO-Kontruktion andererseits Entscheidendes den jahrelangen theoretischen Bemühungen John H. Jacksons zur Fortentwicklung des GATT in eine mit unzweifelhaften rechtlichen Befugnissen ausgestaltete Welthandelsorganisation47. Zwar gilt der Prophet nicht immer am meisten im eigenen Lande. Jackson verstand es jedoch, manche seiner Gedanken über die kanadische und mexikanische GATT-Delegation in die Verhandlungen einzuführen. Diese entstehungsgeschichtlichen Fingerzeige sind insoweit nicht ohne praktische Bedeutung, als sie eine im vollen Sinne normative Auslegung des WTO-Übereinkommens nahelegen, soweit der Wortlaut der Texte dies ermöglicht. Es erscheint daher nicht zu weitgehend, zumindest im Grundübereinkommen über die WTO einschließlich der multilateralen Handelsübereinkommen ansatzweise in ähnlicher Weise eine „Welthandelsverfassung“ zu erblicken, wie innerhalb der Gemeinschaftsrechtsordnung öfter beim primären Gemeinschaftsrecht der Verträge von der „EGVerfassung“ gesprochen wird48. Sicherlich ist der Verfassungsbegriff auf der universalen Ebene noch stärker funktional im Sinne einer technischen Vorrangnorm zu begreifen, enthält also nicht jene demokratisch-politische Dignität, welche die Europäische Union kraft ihres entwickelteren Status mit zunehmendem Erfolg für sich beansprucht49. Immerhin haben Ernst-Ulrich Petersmann und andere verschiedentlich die konstitutionellen Funktionen der grundlegenden GATT-Prinzipien für einen dem liberalen Marktgedanken, der Nichtdiskriminierung, Reziprozität und einigen anderen Grundsätzen verpflichteten Handelswett46

Bail, Das Profil einer neuen Welthandelsordnung, EuZW 1990, 433 ff., 465 ff. Insbesondere Jackson (Anm. 41); ders., Reflections on Restructuring the GATT, in: Oppermann/Molsberger (eds.) (Anm. 11), 141 ff.; Rückblick nach Inkrafttreten der WTO bei Jackson (Anm. 21). 48 Einerseits Oppermann, Europarecht, 1991, 154 ff. m. w. N., andererseits Petersmann, Constitutional Functions and Constitutional Problems of International Economic Law, 1991, bes. 221 ff.; Langer (Anm. 7), 17 ff. 49 Koenig/Pechstein, Die Europäische Union, 1995. 47

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bewerb herausgearbeitet 50. Da solche Prinzipien weithin nationalen und in Europa auch überstaatlichen Verfassungsüberlieferungen rechtsstaatlicher Demokratien entsprechen, kann ihre Respektierung auf WTO-Ebene durch die Mitgliedstaaten und auch seitens regionaler Gemeinschaften wie der EG im Grundrechtsschutz, in der rechtsstaatlichen Beschränkung handelspolitischer Ermessensausübung und bei der Gewährung und Durchsetzung angemessenen Rechtsschutzes verfassungsähnliche Funktionen erfüllen. Ein solcher Anspruch des WTO-Rechts dürfte ganz besonders in seinem Verhältnis zum Europäischen Gemeinschaftsrecht zu bedenken sein. III. Die EG/EU als WTO-Mitglied: Chancen, Rechte und Pflichten Man kann die Position und die Wirkungsmöglichkeiten der EG/EU als Mitglied der WTO auf mancherlei Weise ansprechen. Im Vordergrund steht die handelspolitische Rolle, welche sich für die Gemeinschaft kraft ihres eigenen vertraglichen Auftrages und Selbstverständnisses in Genf nahelegt51. Die EG kann diese Rolle nur in der organisatorischen Einbindung in die WTO spielen, welche sich aus dem ÜWTO ergibt. Von entscheidender Bedeutung für die Position der Gemeinschaft in der Welthandelsordnung wird schließlich sein, wie das grundsätzliche Verhältnis zwischen dem Recht der WTO und dem europäischen Gemeinschaftsrecht zu verstehen ist. Hieraus definieren sich die Rechte und Pflichten der EG in der WTO. 1. Die EG in der Uruguay-Runde und vor neuen Aufgaben innerhalb der WTO

Unbestritten kommt der Gemeinschaft als dem weltweit größten Handelsraum mit einem Weltmarktanteil von 20% im Waren- und 30% im Dienstleistungsbereich zusammen mit den USA und Japan eine besondere Verantwortung für die Welthandelsliberalisierung zu. Blickt man auf die Uruguay-Runde zurück, dann hat sich die EG nach einem zögerlichen Beginn im Verlaufe der Verhandlungen immer j mehr zu einer der treibenden Kräfte entwickelt, die auf einen erfolgrei- 926 chen Abschluß hinarbeiteten. Dies schloß allerdings bei der Gemeinschaft eben50 Etwa Tumlir, Economic Policy as a Constitutional Problem, 1984; Petersmann, Wie kann Handelspolitik konstitutionalisiert werden?, Europa-Archiv 1989, 55 ff.; ders. (Anm. 48) m. w. N.; Langer (Anm. 7), 84 ff. – In der ökonomischen Theorie haben insbesondere Hayek, Die Verfassung der Freiheit, 1960, und Buchanan, The Limits of Liberty, 1975, dieser „konstitutionellen Sicht“ im Internationalen Wirtschaftsrecht den Weg geebnet. 51 Luyten, A View from a Fortress that never was, in: Oppermann/Molsberger (eds.) (Anm. 11), 275 ff.; Oppermann/Beise, „Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust“ – Welthandel nach der GATT-Runde, Das Parlament, 20.5.1994, 15.

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sowenig wie bei anderen GATT-Partnern Rückfälle in protektionistisches „Festungsdenken“ bei bestimmten Fragen aus. Hierdurch hing der Erfolg der Runde mehrfach „am seidenen Faden“. Sowohl die Unmöglichkeit, die Uruguay-Runde Ende 1990 zeitlich regulär abzuschließen, als auch die Notwendigkeit einer nochmaligen Verschiebung um ein Jahr – zwei Jahre später – war maßgeblich fehlender Kompromißfähigkeit auf europäischer Seite zuzuschreiben52. In beiden Fällen ging es um die Einigung über das welthandelsmäßig weniger wichtige Agrarabkommen, dem aber durch die starre französische Haltung innerhalb der Gemeinschaft einerseits und infolge großen Agrareinflusses bei maßgeblichen Ausfuhrstaaten eine überdimensionierte Bedeutung zugemessen wurde53. Ähnlich belastete die Gemeinschaft noch einmal 1993 – auf französischen Druck hin – die sensible Schlußphase der Verhandlungen, indem sie bei dem Dienstleistungsabkommen die Forderung nach einer „kulturellen Ausnahme“ nachschob, um die Produktion audiovisueller Werke bei Film und Fernsehen vom Freihandel auszuschließen54. In beiden Fällen wirkte neben anderen Faktoren die komplizierte Binnenstruktur der Gemeinschaft hemmend auf die Genfer Verhandlungen. Mehrfach sprach die EG mit mehreren Stimmen nach außen, wenn Ratspräsidentschaft und Kommission unterschiedlichen handelspolitischen Denkschulen angehörten. Ende 1992, als der sogenannte „Blair-HouseKompromiß“ in den Agrarfragen postwendend von Frankreich wieder in Frage gestellt wurde, war zeitweilig sogar innerhalb der Kommission die einheitliche Meinungsbildung in Frage gestellt. Ungeachtet dieser Schwierigkeiten kann aber die Gesamtbilanz des Engagements der EG sowohl beim Zustandekommen der institutionellen WTO-Lösungen als auch bei den materiellen Kompromissen in den mulitlateralen und plurilateralen Übereinkommen positiv bewertet werden. Bei den TRIPS-Verhandlungen trug die Gemeinschaft beispielsweise zu einem für Industrie-, Schwellen- und Entwicklungsländer insgesamt zufriedenstellenden Ergebnis maßgeblich bei55. Nach dem Inkrafttreten der WTO steht die EG bei der Umsetzung der Ergebnisse von GATT 94, GATS und des TRIPS-Übereinkommens erneut vor der Herausforderung, im Geiste des gerade von Deutschland gerne normativ beschworenen Art. 110 EGV sich mittels zügiger und großzügiger Entscheidungen als Eckpfeiler des weltoffenen WTO-Systems zu erweisen und nicht in eine „Festung Europa“ zurückzufallen. Darüber hinaus stehen für die kommenden 52 Oppermann/Beise, GATT-Welthandelsrunde und kein Ende?, Europa-Archiv 1993, 1 ff. 53 WTO-Agreement on Agriculture v. 15.4.1994, Text u. a. bei Raworth/Reif (Anm. 3), 227 ff.; Tangermann, Establishing a „Fair and Market-orientated Agricultural Trading System“ in the Uruguay Round, in: Oppermann/Molsberger (eds.) (Anm. 11), 97 ff.; Senti (Anm. 21), 69 ff.; Horber, Die Liberalisierung des Agrarhandels, in: Cottier (ed.) (Anm. 21), 51 ff. 54 v. Bogdandy, Europäischer Protektionismus im Medienbereich, EuZW 1992, 9 ff. 55 Oppermann/Baumann (Anm. 35), 123 f.

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Jahre neue komplexe Streitfragen an, für die zunächst das Profil der europäischen Handelspolitik entwickelt und geschärft werden muß, wenn die Gemeinschaft anschließend in Genf eine konstruktive Rolle spielen will. Dazu gehört vor allem die in der WTO-Präambel angesprochene Suche nach Legitimation und Grenzen der zunehmenden „grünen“ Handelsbeschränkungen in Fortentwicklung der Maßstäbe von Art. XX GATT und der einschlägigen Panel-Praxis des GATT56. Die Ministererklärung „Trade and Environment“ von Marrakesch vom 14.4.1994 hat dieses Spannungsverhältnis Handel/Umwelt zu einem Schwerpunkt der WTO-Arbeit in den kommenden Jahren gemacht57. Ähnlich ungeklärt ist bislang die europäische Position bei den Forderungen nach der Einfügung sozial- und menschenrechtlich motivierter Schutzklauseln in das WTO-Regelwerk58. Wie bei den zu entwickelnden weltweiten Umweltstandards kann hier der „goldene Schnitt“ zwischen verständlichen Geboten eines fairen internationalen Güteraustausches und der Vermeidung von Protektionismus im sozialen Gewande nur über eine schwierige Einzelanalyse der betreffenden Tatbestände erfolgen. Ferner bleibt die Frage bestehen, ob der faktisch am Ende der Uruguay-Runde erreichte vorläufige Ausschluß der audiovisuellen Dienstleistungen von den Liberalisierungspflichten des GATS das letzte Wort Europas in dieser Angelegenheit bleiben kann. Wie weit legitimiert sich handelspolitisch die Sorge um den Schutz europäischer Kultur vor amerikanischem MultimediaImperialismus, und wie weit handelt es sich hierbei um Scheinargumente zur Abschottung europäischer Industriezweige vor unerwünschter Konkurrenz? Über die besondere „Kulturfrage“ hinaus wird die Verwirklichung des im GATS erst im Grundsatz angelegten freien Dienstleistungshandels durch weitere Verhandlungen eines der wichtigen WTO-Themen der neunziger Jahre bleiben59. Welche Schwierigkeiten hier zu überwinden sind, hat der erste Kompromiß bei den Finanzdienstleistungen 1995 gezeigt. Ganz in der GATT- und WTO-Tradition einer sich weiter liberalisierenden Welthandelsordnung stehen schließlich verschiedene Vorschläge von unabhängiger Expertenseite, die WTO um Regeln eines internationalen Wettbewerbsregimes zu ergänzen60. Diese Vorschläge gehen in ihrer weitreichendsten Form 56 v. Bogdandy, Internationaler Handel und nationaler Umweltschutz, EuZW 1992, 243 ff.; Petersmann, International and European Trade and Environmental Law after the Uruguay Round, 1995; Weiss (Anm. 16); WTO Trade and Environment v. 8.5. 1995, GATT/WTO Activities on Trade and Environment 1994–1995. 57 Text WTO Trade and Environment (Anm. 56), 7 f. 58 Priessnitz, Mindeststandards sind keine Protektion, FAZ 13.10.1994; Stoll (Anm. 6), 335. 59 Petersen u. a. (Hrsg.), Die Bedeutung des internationalen Dienstleistungshandels für die Bundesrepublik Deutschland, 1993; Hoekman/Sauve, Liberalizing Trade in Services, 1994; Senti (Anm. 32). 60 Bourgeois, Multilateral Competition Rules, 1994 (= IBA-Manuskript); Jackson, Alternative Approaches for Implementing Competition Rules in International Econo-

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V. Außenbeziehungen der Europäischen Union

bis zur Ergänzung der WTO um einen „International Antitrust Code“ in Gestalt eines weiteren plurilateralen Übereinkommens zur WTO61. Daneben stehen vorsichtigere Ansätze62. Bekanntlich hatte bereits die Havanna-Charter von 1948 in ihrem 5. Kapitel den Einstieg in ein Weltkartellrecht vorgesehen. Wesentliche Überzeugungskraft beziehen solche Forderungen nach einem internationalen Wettbewerbsrecht aus den Erfolgen der EG-Wettbewerbspolitik in den letzten Jahrzehnten63. 2. Die organisatorische Einbindung der Gemeinschaft in die WTO

An gewichtigen ungelösten Aufgaben wird es also der EG/EU in der WTO nicht fehlen. Wird die Gemeinschaft die Chancen ergreifen, die sich ihr hierbei eröffnen, um durch eine weltoffene Handelspolitik ihre Position als eine der großen ausfuhrorientierten Handelszonen dieser Erde zu stärken? Neben allen politischen Unwägbarkeiten hängt die Antwort hierauf von zwei gemeinschafts927 rechtlichen Grund- j fragen ab, nämlich institutionell von einer praktikablen Aufteilung der in Genf wahrzunehmenden Außenhandelskompetenzen zwischen der .EG und ihren Mitgliedstaaten und – materiellrechtlich – von der bereits angesprochenen Bewertung des Verhältnisses zwischen WTO- und Gemeinschaftsrecht. Zu beiden Fragen hat der Europäische Gerichtshof in jüngster Zeit mit dem Gutachten 1/94 vom 15.11.1994 und dem sog. „Bananenurteil“ in der Rechtssache C-280/93 vom 5.10.1994 eher zurückhaltende Antworten gegeben64. Bei den klassischen Verfassungsfragen des kompetentiellen Verhältnisses zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten in der Außenwirtschaft hat sich der Gerichtshof um ein ausgewogenes Kompetenzgefüge bemüht und den Bemühungen der Kommission eine Absage erteilt, über ein weites außenwirtschaftliches Verständnis von „Handelspolitik“ im Sinne von Art. 113 EGV die Beziehungen der EU zur WTO in ganzer Breite der Gemeinschaft zuzuweisen65. In einer ziemlich restriktiven Fortentwicklung der AETR-Doktrin von 197066 wird der EG lediglich der Bereich multilateraler Übereinkommen, also das GATT mic Relations, Außenwirtschaft 1994, 177 ff.; Immenga, Eine europäische Initiative für eine Internationale Wettbewerbsordnung, EuZW 1995, 129; Petersmann, Proposals for Negotiating International Competition Rules in the GATT/WTO World Trade and Legal System, Außenwirtschaft 1994, 231 ff. 61 Fikentscher/Drexl, Der Draft International Antitrust Code, RIW 1994, 93 ff. 62 Z. B. ein „Annex 4-Approach“ (zum ÜWTO), Bourgeois/Matsushita, The Rule of competition Policy in the WTO, 1995 (Interim Report für das International Trade Law Committee der ILA). 63 Ehlermann, Zukünftige Entwicklungen des Europäischen Wettbewerbsrechts, EuZW 1994, 647 ff.; Zach, Wettbewerbsrecht der EU, 1994. 64 EuGHE 1994, I-5267 ff., Gutachten 1/94 „GATS/TRIPS“; EuGHE 1994, I4973 ff., Rs. C-280/93 „Bananen“.

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1994 mit seinen Nebenverträgen, als alleiniger Zuständigkeitsbereich überantwortet. Beim GATS sowie bei den TRIPS-Übereinkommen wird dagegen eine zwischen der Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten geteilte Zuständigkeit entwickelt. Auch wenn sich das Gutachten formal nur auf die jeweiligen Abschlußkompetenzen bezieht, dürfte die Begründung darüber hinausreichen und für eine umfassende Bereichsteilung im erwähnten Sinne sprechen. Es ist hier nicht der Ort, in eine umfassende Bewertung des Urteils einzutreten, das sich bemerkenswert eng am Vertragswortlaut orientiert (Art. 113, 75, 43 EGV u. a.) und so unter Verzicht auf den früher gerne herangezogenen „effet utile“ der Vertragsbestimmungen zu einem sorgsamen Austarieren der Zuständigkeiten zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten gelangt. Für die Fragestellung nach der künftigen Handlungsfähigkeit der EU innerhalb der WTO insgesamt ist unverkennbar, daß die gemeinschaftsinternen Zuständigkeitskonflikte, die bereits während der Uruguay-Runde gelegentlich aufgetreten sind, nunmehr für die Zukunft vorprogrammiert erscheinen. Ein erhellender Satz des Gutachtens (RdNr. l07) stellt fest, daß „das Problem der Verteilung der Zuständigkeiten nicht nach Maßgabe eventueller Schwierigkeiten geregelt werden kann, die bei der Durchführung auftreten können“. Die Distanzierung vom Geist des AETR-Urteils ist unübersehbar. Der Gerichtshof hat offensichtlich selbst bemerkt, welche praktischen Schwierigkeiten sich bei der Umsetzung des Urteils für ein geschlossenes Auftreten der EU innerhalb der EG ergeben können. Er hat daher eine „Pflicht von Gemeinschaft und Mitgliedstaaten zur loyalen Zusammenarbeit im Rahmen der Außenwirtschaft“ postuliert. Ob ein solches Pflichtbewußtsein stark genug sein wird, künftig die bekannten Unterschiede zwischen tief eingewurzelten nationalen Wirtschaftsphilosophien zwischen den Mitgliedstaaten wirksam zu harmonisieren, muß nach den bisherigen Erfahrungen bezweifelt werden67. Die „Behauptung der Identität“ der EU auf internationaler Ebene (Art. B EUV) ist mit dem Gutachten 1/94 nicht einfacher geworden, mag auch die Anerkennung einer fortdauernden Rolle der EG-Mitgliedstaaten in der WTO neben der Gemeinschaft einer realistischen Betrachtungsweise entsprechen.

65 Hilf, EG-Außenkompetenz in Grenzen, EuZW 1995, 7 ff. – Der EuGH hat seine Sicht im Gutachten 2/92 v. 24.3.1995 („OECD“) bekräftigt, vgl. EuGH-Tätigkeitsbericht 8/95, 8 ff. 66 EuGHE 1971, 263 ff., Rs. 22/70 „AETR“. 67 Optimistischer die Aufzeichnung des Juristischen Dienstes des Rates zum Gutachten 1/94 v. 25.11.1994, 14 f. (unveröff. Dokument).

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V. Außenbeziehungen der Europäischen Union 3. Geltung und Vorrang des WTO-Rechts gegenüber dem Gemeinschaftsrecht

Noch entscheidender für die künftigen Beziehungen der Gemeinschaft zur WTO dürfte sich das grundsätzliche Verständnis des Verhältnisses zwischen WTO- und Gemeinschaftsrecht in Konflikten auswirken. Hier hatte der Gerichtshof seit 1972 („International Fruit Company“) in der begrüßenswerten Einsicht, daß das Recht einer umfassenden Organisation unter seinen Mitgliedern zur Geltung gebracht werden muß, in ständiger Rechtsprechung die Formel geprägt, daß die GATT-Regeln „integrierender Bestandteil des Gemeinschaftsrechts“ sind68. Dies bedeutet zwar aus Sicht des EuGH und der vorherrschenden Praxis und Lehre keine durchgängige unmittelbare Anwendbarkeit des alten GATT in der Gemeinschaft, aber doch die Anerkennung der Rechtspflicht gegenüber Genf, das Gemeinschaftsrecht GATT-gemäß auszugestalten69. Ferner wurden insoweit Möglichkeiten indirekten Rechtsschutzes unter Berufung auf die GATT-Regeln bejaht. In Abschwächung dieser Erkenntnis, die am 5.10.1994 in dem auch sonst in manchem problematischen „Bananenurteil“ zum Ausdruck kam, begibt sich der Gerichtshof jetzt zumindest in die Nähe einer Leugnung der Verbindlichkeit der GATT-Regeln innerhalb der Gemeinschaft und stuft sie mit Blick auf den verhandlungsmäßigen Charakter des Streitschlichtungssystems des alten GATT zu „Codes of Conduct“ oder – anders ausgedrückt – „Soft Law“ herunter, welche nicht unbedingte Verfolgung erheischen, sondern es den Vertragsparteien überlassen, ihre Streitigkeiten auf dem Verhandlungswege beizulegen70. Hieraus wird ferner abgeleitet, daß auch ein EG-Mitgliedstaat sich im Rahmen einer Nichtigkeitsklage nach Art. 173 EGV nicht ohne weiteres auf das GATT berufen kann. Es mag nicht unbedingt erforderlich sein, in eine Auseinandersetzung einzutreten, inwieweit diese plötzlich abgeschwächte Deutung des normativen Gehalts des alten GATT-Rechts durch den Gerichtshof überzeugt. Hier ist mancherlei Kritik denkbar71. Vor allem ist darauf hinzuweisen, daß das Bananenurteil zum alten GATT-Recht und nicht zu dem normativer gestalteten WTO68 EuGHE 1972, 1219 ff., verb. Rs. 21–23/72 „International Fruit Company“; näher Oppermann, Europarecht, 1991, S. 675. 69 Etwa Everling, Das Recht in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen der EG, in: Hilf/Petersmann (Anm. 17), 175 ff.; Petersmann, Application of GATT by the Court of Justice of the European Communities, CML Rev. 1983, 397 ff.; Ehlermann, Die innergemeinschaftliche Anwendung der Regeln des GATT in der Praxis der EG, in: Hilf/Petersmann (Anm. 17), 103 ff. 70 Thürer, „Soft Law“ – eine neue Form von Völkerrecht?, Ztschr. SchweizerR. 1985, 429 ff. 71 Das Finanzgericht Hamburg geht in einer Vorlage v. 15.5.1995 nach Art. 177 EGV an den EuGH (EuZW 1995, 413 ff.) von einem Anwendungsvorrang der („alten“) Art. I-III GATT vor dem Recht der EG-Bananenmarktordnung (VO 404/93, ABI. L 47/1 ff.) aus und behält sich überdies eine spätere Vorlage beim BVerfG vor,

Die Europäische Gemeinschaft und Union in der WTO

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Recht ergangen ist. Um so vernehmlicher ist der Hoffnung Ausdruck zu geben, daß dem EuGH bei der ersten sich bietenden Gelegenheit die geschilderte reguläre Rechtsqualität des nunmehrigen WTO-Systems in Gestalt der Schaffung einer verfassungsähnlich ausgestalteten Vertragsebene mit klaren institutionellen Strukturen, einem verdeutlichten Entscheidungsfindungsprozeß sowie einem mit gerichtsähnlicher Verbindlichkeit ausgestalteten Streitbeilegungsverfahren deutlich wird. Der EuGH sollte auf diese Weise Gelegenheit erhalten, nicht nur die Verbindlichkeit, sondern auch den grundsätzlichen Vorrang des WTO-Rechts als der übergreifenden Welthandelsordnung gegenüber dem regionalen EG-System – mindestens im Sinne der ursprünglichen Rechtsprechung in „International Fruit Company“ – wiederherzustellen. Das würde nicht notwendig die j direkte 928 Anwendbarkeit der WTO-Regelungen im EG-Raum bedeuten, die auch von anderen WTO-Staaten – wie den USA – in Frage gestellt wird72. Unabdingbar erscheint jedoch ein Anwendungsvorrang im völkerrechtlichen Sinne dergestalt, daß die EG/EU – wie alle WTO-Mitglieder – rechtlich verpflichtet ist, das Gemeinschaftsrecht WTO-konform auszugestalten. Ähnlich wie die Europäische Union mit Recht vom deutschen Bundesverfassungsgericht erwarten darf, daß es im Ernstfall – entgegen einigen sibyllinischen Überlegungen in der Maastricht-Entscheidung von 199373 – den Vorrang des Gemeinschaftsrechts im Interesse der einheitlichen Geltung achtet, wird man den EuGH daran erinnern dürfen und müssen, daß die von der Gemeinschaft mitbewirkte Konstitutionalisierung der Welthandelsordnung im Interesse aller Mitglieder den Respekt vor der Herrschaft des Internationalen Handelsrechts erheischt, wie er mit dem Abschluß der Uruguay-Runde vereinbart wurde (Art. II: 2 ÜWTO). Eine Aufweichung des Vorrangs des universalen Rechts könnte nur den Rückfall in ungebändigte regionale Blockbildungen in die Wege leiten, wie sie in den neunziger Jahren in den Gruppierungen von NAFTA, MERCOSUR, ASEAN und APEC sich bereits mancherorts formiert haben. Als älteste, am weitesten entwickelte und damit eigentlich auch politisch weiseste solcher Regionalorganisationen sollte die EG/EU erkennen, daß „Blockhandel“ zwischen rivalisierenden Regionalismen ohne übergeordnete Instanz bei Lichte besehen nichts anderes darstellen würde als die Rückkehr zur unseligen Autarkie der dreißiger Jahre auf höherer Ebene. Im Vergleich zur Chance, die eine Erneuerung und Vertiefung multilateraler Wirtschaftsfreiheit durch die Vollendung von Bretton Woods nach 50 Jahren in Gestalt der WTO mit sich bringt, wäre das nicht einmal die zweitbeste Lösung. das in einem ähnlichen Verfahren (BVerfG v. 26.4.1995, EuZW 1995, 412 L) Verfassungsbeschwerden mangels Erschöpfung des Rechtsweges für unzulässig erklärt hatte. 72 Ein vorsichtiges Plädoyer zugunsten direkter Anwendbarkeit von WTO-Regeln bei Meng, Gedanken zur Frage unmittelbarer Anwendung von WTO-Recht in der EG, FS Bernhardt, 1995, 1063 ff. Vgl. aber die zurückhaltende internationale Praxis bei Herdegen, Internationales Wirtschaftsrecht, 2. Aufl. 1995, 121 ff. 73 BVerfGE 89, 155 ff. (188).

9

Cooperation, Association, Accession: Reflections on the Legal Opinions for the European-Israeli Economic Relationship* Beitrag anläßlich eines Symposiums der Rechtsfakultäten Jerusalem, Tel Aviv und Tübingen in Israel 1993 zu Ehren des 80. Geburtstages von Senator e. h. Rechtsanwalt Dr. Dr. Edward Kossoy/Genf, Gründer der Tübinger Kossoy-Hall-Stiftung zur Förderung des wissenschaftlichen Austausches zwischen den drei Fakultäten.

I. Introduction: Europe and Israel – Remembering a Common Past 1. Historical, Social, and Economic Elements

Without a doubt, one of the basic issues any discussion on Israeli and European law should address is the general legal relationship between the European Community (hereinafter “EC”), on the one hand, and Israel, on the other, in the economic field. European and Israeli law are forming here a symbiosis by the media of international law.1 For the EC, this relationship is historically significant because its creation was one of the earliest steps in the development of the Community’s external relations. It in fact began together with the foundation of the EC in 1958 and has continued to evolve since then. In this case, the special legal forms laid down in the 1958 EEC Treaty and in the 1992 Maastricht Treaty für the EC’s activities in the foreign field played an important role, i. e., trade and cooperation agreements, association and accession treaties. If asked to explain the early and rapid development of this relationship, the European partners will immediately point to the unique features that underlie both the general and economic ties between Israel and Europe. These features also help in understanding the special depth as well as the problematics of this 10 relationship. First of all, Israeli society has strong j European roots insofar as a considerable proportion of its population is of European descent and insofar as Europe has always played an important role in the history of, first, Palestine * The author gratefully acknowledges the contribution of Gerald G. Sander, M.A., research assistant at the University of Tübingen, to this article. Erstmalig erschienen in: Tel Aviv University Studies in Law 13 (1997), 9–27. 1 J. Groux/P. Manin, Die Europäischen Gemeinschaften in der Völkerrechtsordnung, 1984.

Cooperation, Association, Accession

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and, then, the State of Israel.2 Indeed, the modern Zionist concept of the Jewish State was developed by Theodore Herzl on the soil of the former Austro-Hungarian Empire.3 Further, both before and after 1948, the strongest political initiatives to establish a Jewish State emanated from central and eastern European Jewish communities. British and French policies also had an exceptional influence on modern Jewish history in Palestine, both during the period preceding the Second World War and for a short time thereafter. Ironically, the Nazi war crimes provided the catalyst für universal recognition following the War of the need to establish a Jewish homeland. In the period following the Second World War, Europe was supplanted by America as the predominant influence on Israel. But due to its longstanding bonds with Europe, did Israel nonetheless become something like a European state and particularly predestined to enjoy a close relationship with the EC? There are a few reasons why one may hesitate to answer this question in the affirmative. First of aIl, from the perspective of ethnic origin, Israel’s population is as much Asian and North African as it is European, these being only two examples of regions other than Europe from where immigrants to Israel originated. Indeed, Jews from all over the world contributed to the reestablishment of the Jewish State. In addition, the distinctive religious characteristics of the Jewish community, as well as other special features of the Jewish people that developed over a period of two thousand years in exile, also helped shape the modern Jewish State in a unique manner. Nevertheless, the matter of Israel’s European roots is of legal relevance today in light of article 237 of the EEC Treaty (now article O of the Union Treaty of Maastricht), which extends to every “European State” the fight to apply for accession to the EC.4 Another fact should be stressed when searching für reasons for the special proximity between Europe and Israel, namely, that the EC’s activities in the area of external relations are directed mainly at economic problems. In the following, I will focus on this aspect of the European-Israeli relationship. From an economic perspective, Israel again occupies a privileged position j 11 toward the Community within the Mediterranean area, the historically oldest neighboring region of Europe. This special relationship has been strengthened due to the advanced level of the Israeli economy, which has resulted from the growth of Israel’s population, the high qualification of its labor force, and outstanding scientific and technological standards.

2

M. Wolffson, Israel. Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, 1984. M. Comay, Der Zionismus, 1985. Theodore Herzl’s novel (T. Herzl, Altneuland, 1902), remains a classic in this field. 4 T. Oppermann, Europarecht, 1991, S. 690–700. 3

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V. Außenbeziehungen der Europäischen Union

Since the State of Israel was established in 1948, the Israeli population has grown rapidly, going from a mere 600,000 inhabitants to four million by the mid-1980s. Between 1989 and 1990, there was a further population boost following the revolutionary events in the former U.S.S.R. which led to an influx of immigrants into Israel.5 This trend of steady population growth has strongly influenced Israel’s economic progress insofar as it has enabled the development of a labor force of 1.4 million workers. Further, the constant stream of immigrants generates increased demands on the economy, affecting all areas of supply as well as necessitating better external economic relations. These aspects have been taken into consideration in all of the cooperation arrangements signed by Israel and the EC since 1964. These agreements have included far more rules on reciprocity in the areas of trade and tariff than any of the agreements signed by the EC with the other Mediterranean states, and they offer particularly far-reaching prospects in the realm of high-tech industry. Another factor that has always influenced the establishment and development of the economic relations existing between Israel and the EC is Israel’s geographic location on the Mediterranean. For a variety of reasons – historical, geographic, and otherwise – the Mediterranean region became an area of particular interest in the EC’s commercial policy. In this context, the Community has made use both of its powers regarding commercial policy under article 113 of the EC Treaty as well as of its association powers as per article 238 of the Treaty. By means of these powers, the EC Commission has been developing since 1972 a “Global Mediterranean Philosophy” regarding its trade and development policy toward all Mediterranean countries that are not members of the EC.6 As a subject of international law, the EC requires either direct or indirect j 12 recognition of its legitimacy as a legal entity from states and international organizations. Israel was one of the first states to recognize the Community on an international level. By the end of 1957, the Israeli government had already entered into negotiations with the EC, which was in fact a few months before the Rome Treaties came into effect. Moreover, in April 1958, Israel was the third country to establish relations with the Community. As Walter Hallstein, the first president of the EC Commission, pointed out in 1964 in Brussels when the first trade agreement between Israel and the EC was signed, Israel was not only one of the first countries to formally recognize the Community in international law, but Israel also understood that European unification was a process essential to post-war Europe.7 5 For the relevant statistics, see Bundeszentrale für politische Bildung, Der Staat Israel, 1986 (hereinafter Der Staat Israel). 6 For the text of this “Global Mediterranean Philosophy,” see Europa-Archiv 1972, D 509–519, which was further developed in the Declaration of the Council of March 30, 1985 (Bulletin EC 70 [1985]) and by the Barcelona Conference on the relationship between the EC and Mediterranean countries toward the end of 1985.

Cooperation, Association, Accession

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2. Instruments of European Community Law und the EC-Israeli Economic Relationship

The Rome Treaties laid down the Community’s authority to establish external relations8 and article 110 of the EEC Treaty commits the Community to the principle of free trade in this context. The Treaty provides for and distinguishes between three possible types of external relations that the Community can establish with third countries. First, articles 113 and 228 and, to a certain extent, article 235 authorize the EC to conclude trade and cooperation agreements.9 Trade agreements are negotiated by the Commission according to the guiding rules of the Council, and over the course of negotiations, the Commission is supported by the committee for tariffs and trade agreements of the Council. After negotiations are successfully completed by the Commission, the agreements are concluded and implemented by the Council and are binding upon the institutions and Member States of the EC, as per article 228 of the Treaty. A second type of agreement that the Community may conclude with a third state as per the EC Treaty (like the EEC Treaty since 1958) is an j “associa- 13 tion”. Provided for by article 238 of the EC Treaty, an association is the EC’s instrument for forming permanent and extensive economic relations with third parties on the basis of bilateral parity.10 An association agreement entails reciprocal rights and obligations, common action, and special procedures, and it has proven to be a complex legal form in the practice of the Community. The EC has entered into loose forms of an association agreement that have allowed it to give special development aid to the African-Caribbean-Pacific (ACP) States, which have to be renewed regularly since the 1960s. Permanent association treaties have been concluded by the Community with certain European countries (such as Malta) as a substitute für EC membership, while in other cases, association has been a preliminary step toward formal membership in the EC, as was the case with Greece between 1962 and 1981. Association treaties, unlike trade agreements, are not concluded merely through the auspices of the Council and Commission, but, rather, the approval of the European Parliament is also required. It is interesting to note that under 7 W. Hallstein, Europäische Reden 483, 483-84 (T. Oppermann ed., 1979). In 1953, Walter HalIstein was already numbered amongst the German advocates for concluding with the Jewish World Congress the Luxembourg agreement on reparation and restitution. 8 M. Schweitzer/W. Hummer, Europarecht, 4th ed. 1993, 147–148. 9 Until the Union Treaty of Maastricht came into effect on February 7, 1992, the EC continued to have powers in this field as per article 114 of the EEC Treaty. This authority, however, has been suspended as a result of certain amendments made to articles 113 and 228 of the EEC Treaty by the Union Treaty. See R. Geiger, EG-Vertrag, Kommentar, 2d ed. 1995. 10 Oppermann (supra note 4), at 652–656, 700–707.

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V. Außenbeziehungen der Europäischen Union

the Union Treaty of Maastricht (hereinafter “Union Treaty”), trade agreements that foresee a special institutional framework or else that will be of considerable financial consequence to the Community also require ratification by the European Parliament. In the future, this may concern certain ambitious cooperation agreements, especially those including financial regulations.11 This new regulation in the Union Treaty regarding ratification may well have ramifications for future agreements between the Community and Israel. Finally, article 237 of the EEC Treaty (now article O of the Union Treaty) regards the accession of a state to the Community as the most perfect form of relationship. Accession presupposes a special treaty that has been negotiated and must be ratified by all the EC Member States as weIl as by the applicant state.12 Since the northern and southern expansion of the EC in the 1970s, the EC has developed an official “accession philosophy,” with the principle of the acquis communautaire as its cornerstone. This refers to both the readiness and ability of the applicant state to join the EC in its actual shape, i. e., with no 14 alteration of its legal structure. While accession has always been limited j to “European” countries, the Union Treaty has now added that accession must be to the Union in its entirety, that is, accession entails adoption of all three of the EC treaties (the EEC, ECSC, and Euratom Treaties) as well as the evolving common foreign and security policy of the European Union. This is indicative of the ever-growing political (and not merely economic) character of accession. European-Israeli relations (to be presented below) have, in practice, evolved since 1964 from trade relations into association. Both sides have, on occasion, speculated regarding the possibility of Israel’s accession to the EC. However, the obstacles in this case are manifold for both Europe and Israel. Most especially, the then-necessary “Europeanization of Israel” in a political sense sounds like Utopia. II. The First Steps in Trade Relations between the EC and Israel since the Mid-Sixties 1. The Trade Agreement of June 4, 1964

The formal relationship between Israel and the European Community began on June 4, 1964, the point at which they concluded their first trade agreement. This agreement was to be in force for a period of three years13 but a clause was 11 K. M. Sachs, EG-Handelspolitik und zwischenstaatliche Kooperationsabkommen, 1986. 12 Oppermann (supra note 4), at 688–700. 13 Amtsblatt No. 95, 1517–1525 (1964).

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included therein that provided for the possibility of extending the duration of the agreement, and this option was in fact exercised. The agreement provided for the temporary and partial suspension of the EEC Common Customs Tariff for about twenty types of industrial and commercial goods, and quantitative restrictions on trade between the EC Member States and Israel were either partly or completely abolished. Israel for its part committed itself in a declaration of intent to increasing the amount of Community goods imported into the Israeli market. A Mixed Committee was set up to supervise the implementation of this agreement as well as to oversee the favorable development of trade. The President of the EEC Commission at the time, Walter Hallstein, was convinced that the agreement would contribute to an increase in the amount of Israeli goods imported into the EC and, at the same time, to an increase in EC exports to Israel. This would be the result of the improvement in Israeli economic conditions and in the foreign exchange situation. Apart from this economic aspect, Hallstein, when signing the agreement on June 4, 1964, j also 15 mentioned a “conscienceness that the common aspirations that unite us [Israel and Europe] go back to the deep roots of our common history.”14 2. The First Preference Agreement of June 29, 1970

Both Israel and the EC considered the 1964 agreement to be a moderate beginning and supposedly the foundation for the steady development of trade relations between the Community and Israel. Nine months before the expiration of the 1964 agreement, the Israeli government applied to enter into an association treaty with the EC. This application was followed by long and tough negotiations. France, mainly for reasons of political consideration, and Italy were especially opposed to concluding such a treaty with Israel. Germany and the Netherlands, both strong supporters of an Israel-EC association, tried to convince the Community to conclude a preference agreement with Israel. In January 1967, preliminary talks between representatives of the Commission and an Israeli delegation actually began. Then the Six-Day War cast a shadow on this process. On October 17, 1969, the EC Council granted permission to officially begin negotiations. Instead of an association treaty, a trade preference agreement was ultimately chosen. On June 29, 1970, the agreement was signed in Luxembourg, and it came info effect on October 1, 1970.15 These long and difficult negotiations may be explained by the fact that for both parties, a much closer relationship would be established than had been the 14 15

Hallstein (supra note 7). Amtsblatt No. L 183 (1970).

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V. Außenbeziehungen der Europäischen Union

case in the past. This applied especially to the Community; it had barely completed its Customs Union and had only recently established a Common Agricultural Policy, and this agreement would ease considerably access to the European market for Israeli commercial and industrial products. The 1964 trade agreement was supposed to expire on June 30, 1967, but it was extended until the trade preference agreement came info effect in order to prevent a rupture in relations. The new agreement of 1970, concluded on the basis of article 113 of the EEC Treaty, was to be valid for a period of five years. It substantially deepened the economic relations between Israel and the Community, and it may be regarded as the inception of the free trade area between the partners; indeed, it was registered as such with the GATT Secretariat. Israeli exports were given more extensive tariff advantages than they had re16 ceived up to that point. Israel for its part committed itself to the j principle of reciprocity regarding goods imported from the EC, meaning that the Community was given tariff concessions by Israel. For about sixty percent of EC exports, the tariffs were little by little lowered, according to the category of the goods, first by ten percent and later by twenty-five or thirty percent. In conjunction with this, Israel gradually abolished quantitative restrictions on imports of those goods. The Mixed Committee that was set up in 1964 had to supervise the implementation of the 1970 preference agreement. The 1970 agreement had only just come into effect when the relationship between the Community and Israel reached a new phase. This was due to the impeding northern expansion of the Community to include the United Kingdom, Denmark, and Ireland and because of the elaboration of the EC’s global Mediterranean policy. The Israeli government was quick to address the risks that the expansion of the Community might pose to the equilibrium achieved by the preference agreement; Israel also realized that changes would result with respect to its trade relations with the countries joining the EC. 3. The Global Mediterranean Policy of the Community since the Beginning of the 1970s

On February 9, 1971, the European Parliament approved a resolution that called for the foreign ministers of the EC Member States to work out a common policy regarding the countries of the Mediterranean region. The background to this appeal was the permanently growing expectation of a number of countries in the Mediterranean region, beginning in the 1960s, with regard to the EC’s commercial policy in the area.16 Over the course of the debates in the European Parliament in Strasbourg, the representative of the EC Commission 16 R. W. T. Pomfret/A. Tovias, The Global Mediterranean Policy of the EEC, in: H. Giersch (ed.), The Economic Integration of Israel in the EEC, 1980, 41–67.

Cooperation, Association, Accession

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emphasized that the guiding principle of the global Mediterranean policy would primarily be to establish a common “development pattern” (Maurice Flory) for the relationship of the Community vis-à-vis the countries of the Mediterranean region, while taking into account the specific circumstances of each country. The Commission representative further emphasized that it was vital to leave behind the commercial framework in order to contribute to the global economic development of the region. j On June 27 and 28, 1972, the EC Council decided to adopt a global perspec- 17 tive regarding the problems in the Mediterranean region, and this was approved by the heads of government at the EC summit in Paris on October 19, 1972.17 This new global approach, however, would likely require the re-negotiation of already existing agreements prior to their date of expiration. It should be noted that for a long time, the development of a relationship between the EC and the Mediterranean region had been influenced by U.S. objections and special perceptions of France. A global Community policy for the Mediterranean region in fact did not start until the autumn of 1973 with the “Soames-Casey-Formula” and, especially, with the “Mediterranean Consensus” of June 11, 1974, which was reached in Bad Reichenhall between the U.S. Secretary of State Henry Kissinger and German Foreign Minister HansDietrich Genscher, the President of the EC Council at the time. Following the 1973 Yom Kippur War and the Arab oil boycott, the U.S. began to favour the idea of increased European responsibilities in the Mediterranean area.18 When the United Kingdom, Ireland, and Denmark officially joined the EC on January 1, 1973, the Commission prepared proposals detailing precisely the EC’s global concept regarding the Mediterranean region. In addition to trade, this included technical and financial cooperation and free movement of workers. On June 24 and 25, 1973, the Council approved these proposals as negotiation guiding rules. Negotiations within this framework started between Israel and the EC soon thereafter, on July 18, 1973. In the meantime, both parties had signed a twice-extended amendment protocol in order to delay, first until l973 and later until the completion of the negotiations, the application of the commercial regulations of the 1970 agreement concerning trade between Israel and the three new Member States of the EC. These negotiations took two years. Only on May 11, 1975, was a trade and cooperation treaty between Israel and the nine-member Community officialIy signed in Brussels, and it came into effect on July 1, 1975.19

17

D. Puhl, Die Mittelmeerpolitik der EG, 1980. C. A. Erhardt, Die EG im Netz ihrer bilateralen Abkommen, Außenpolitik 1980, 372 (380). 19 Amtsblatt No. L 136 (1975). 18

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This treaty was the first concrete result of the Community’s global policy for the Mediterranean. Today it continues to provide the legal basis for the eco18 nomic relationship between the partners. In principle, one may say that j both sides took advantage of this new phase in European policy regarding the Mediterranean region, with Israel once again playing a pioneering role in the practical application.20 III. On the Road to an EC-Israel Association 1. The Second Preference Agreement of May 11, 1975

On May 11, 1975, a new agreement was signed between the EC and Israel.21 The purpose of this agreement was to establish a free trade zone between the two partners as well as to develop economic cooperation that would not be limited to mere trade. This agreement came to be the model by which the EC realized the global policy that it had developed in 1972 regarding the Mediterranean region.22 Within this framework, Israel – an Asian country with European and other ethnic roots – was meant to play a special role. Soon after signing the agreement with Israel, the Community conducted negotiations with nearly all of the non-EC countries of the Mediterranean region.23 By extending cooperation into the scientific and technological areas, the Community hoped to have found an important instrument for supporting the economic and social development of these countries. However, in the particular case of Israel, this specific area of economic development laid the foundation for a cooperation on equal footing because of the scientific and technological potential of Israel. The preamble of the agreement emphasized the eagerness of both parties to deepen as well as widen the economic relationship that had begun with the agreement of June 4, 1964, and that had continued with the agreement of June 29, 1970. The two sides further stressed their joint determination to preserve the harmonious development of trade between them by maintaining conditions of fair competition. Furthermore, the Community’s desire to develop economic and commercial trade relations with all of the Mediterranean countries was also noted in the preamble, as was Israel’s request to strengthen its economic ties with the Community. Both partners declared that they were prepared to check 19 possible extensions of the agreement into j areas that were not originally included should this be in the interest of their economies. 20

E. Rhein, Die EG und das Mittelmeer, Europa-Archiv 1986, 641 (643). T. Einhorn, The Role of the Free Trade Agreement between Israel and the EEC, 1994. 22 R. W. T. Pomfret/A. Toren, Israel and the European Common Market, 1980, 12–14. 23 Erhardt (supra note 18). 21

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The dynamic nature of the 1975 agreement became evident when an amendment protocol and a financial protocol were signed on February 8, 1977, which led to even closer cooperation between the Community and Israel.24 The Mixed Committee that was appointed in 1964 and which supervised the implementation of the 1964 and 1970 agreements was replaced by a Cooperation Council with additional powers. The 1975 preference agreement establishing free trade, like the 1964 and 1970 agreements, had been concluded by the EC on the basis of its authority regarding commercial policy under article 113 of the EEC Treaty. However, the regulations dealing with cooperation in the technological and financial spheres were within the scope of the EC’s association powers provided for in article 238 of the EEC Treaty.25 The amendment protocol and the financial protocol signed in 1977 were also grounded in article 238 of the EEC Treaty, and as a result, the relationship between Israel and the Community came to be considered an “association” in the legal sense. The legal uncertainties of this type of relationship aside, “association” implies more comprehensive and durable relations between the partners than what exists in a commercial relationship. An association treaty falls somewhere between a trade agreement and an accession treaty, or as Hallstein often commented, “Association reaches from ‘Trade agreement plus 1’ to ‘Accession minus 1.’” Article 238 of the EEC Treaty indicates that an association treaty is distinguished from a trade agreement only insofar as the former involves “common action” and “special procedures.”26 Under Community practice, however, association does not just imply the establishment of economic relations between the EC and a third party; rather, it entails the establishment of a close political reIationship between the partners for an unlimited period of time. With this in mind, the 1975 EC-Israeli agreement (in effect until 1977) may be considered a first, tentative step toward full association. 2. Israeli Economic Problems due to the Southern Expansion of the EC from 1981 to 1986

In 1983, a second financial protocol was concluded between the EC and Israel, which was followed by a third financial protocol and an amendment j pro- 20 tocol on December 18, 1984.27 The EC again chose article 238 of the EEC Treaty (which deals with association powers) as the legal basis for these protocols. Since the amendment protocol in fact only dealt with trade problems, it 24 25 26 27

Amtsblatt No. L 190 (1977). Oppermann (supra note 4) at 654–655. A. Bleckmann, Europarecht, 5th ed. 1990, 371–372. Amtsblatt No. L 332/1 (1984).

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V. Außenbeziehungen der Europäischen Union

could have been based on article 113 of the EEC Treaty. However, in the meantime, the thesis has been put forth that the various EC-Israel agreements since 1975 have to be seen together and understood in the sense of an overall association between Israel and the EC.28 The accession of Greece to the EC in 1981 and, more particularly, of Spain and Portugal in 1986 posed an economic challenge to the relations between Israel and the EC. Indeed, the main reason for the signing of the 1984 amendment protocol between Israel and the Community was the accession of Spain and Portugal to the EC. Most of the other Mediterranean countries – but especially Israel – risked losing the traditional European markets for their most important agricultural products (such as lemons, tomatoes, early potatoes, wine, and olive oil) to these two new EC Member States with their efficient agricultures. Approximately one quarter of the exports were directly threatened because the main competitor, Spain, had secured a protected position under the EC’s common agricultural policy. This development could have had tremendous economic and social consequences for those countries affected, which included Israel. In light of this, the EC declared its willingness to adjust the import regimes regarding traditional agricultural products in favor of the countries of the Mediterranean region so that the traditional quantity of agricultural imports into the EC from these countries would be sustained.29 In principle, the relationship established between the EC and Israel with the second preference agreement of 1975 and the ensuing agreements can be classified as a “limited association regime” in the sense of a durable rapprochement between Israel and the Community. The question that remains is whether these agreements should be regarded as the interim stage leading to Israel’s membership in the EC (“pre-accession”) or whether the arrangement that began in 1975 in fact already represents entry into a definite form of association that should be a substitute für accession. j 21

IV. Membership in the European Union for Israel: A Possible Perspective? 1. The Prerequisites for Accession under Article O of the Union Treaty: Israel is a “European State”?

Article O of the Union Treaty states that any “European State” may apply to become a Member of the European Union. This rule underscores the character 28 29

H. v. d. Groeben, Kommentar zum EWGV, 4th ed. 1991, art. 238, comment 65. Rhein (supra note 20), at 644.

Cooperation, Association, Accession

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of both the European Community and Union as regional organizations.30 Does Israel fulfill the requirements of this “European clause”? The Council acts unanimously about the application. There is no legal right to accession, but rather, the Council exercises political discretion when it approves an application, as do the contracting states when they ratify the Council’s decision. It should be noted that the new preamble of the Union Treaty emphasizes that one of the Community’s goals is to bridge the division of the European continent. Yet the basic condition to be fulfilled by any candidate for accession is acceptance of the acquis communautaire, which means readiness to apply to the whole bulk of EC law without alterations for those states that have become EU members.31 This has been standard practice since the northern expansion of the EC in 1973 and continued with the southern expansion between 1981 and 1986. However, in the case of Israel (as with some other countries), the comprehension of the term “European State” as per article O of the Union Treaty is the determinative factor. The prevailing approach posits that not only does this clause have geographic implications, but it also has political connotations.32 By applying für accession to the European Union, a state indicates that it wishes to belong to a community of democracies with a certain type of economic and social order; it folIows, therefore, that accession to the EU is only conceivable if the fundamental identity of the Community will not be altered. Thus, aside from the geographic criterion, certain unwritten political and economic prerequisites for accession have been developed in EU practice. These include the stipulations that the state wishing to join must have a democratic constitution and that its economic system be oriented toward the basic principles of a market economy and competition. Since the signing of the Union Treaty, a readiness to cooperate in the area of foreign and security policy within the scope of the developing European Union has been added as j a con- 22 dition for acceptance. In principle, the political system of an acceding state should be roughly equivalent to that of those states already members of the EC.33 A broad interpretation has been applied to the geographic aspect of the terms for accession to the Community since the 1963 association agreement between the EC and Turkey (preamble, article 28). This association was supposed to “facilitate” the future accession of Turkey to the EC, though only a small segment of Turkey’s territory is situated geographically in Europe. However, at 30

Oppermann (supra note 4), at 689–690. Schweitzer & Hummer (supra note 8), at 150–151. 32 Oppermann (supra note 4), at 690–692. 33 H. Mosler, Die Aufnahme in internationale Organisationen, ZaöRV 1958, 275 (285). 31

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V. Außenbeziehungen der Europäischen Union

least partial territorial belonging to the European continent seems to remain a condition für accession. For instance, an application for EC membership by Morocco by the end of the 1980s has not been accepted by the Community’s institutions. Actually, the EC would have to change its character as a regional organization if the mere political and socio-economic “European” character of a state would suffice for accession according to article O of the Union Treaty. The number of potential applicants for membership would increase, ranging from Australia to Canada. Accession of a geographically non-European state seems only possible via amendment to the Union Treaty.34 2. Political Difficulties of Accession

Though it would not meet the geographical requirement for accession to the EC, Israel would, in all likelihood, fulfill the required constitutional and economic conditions, perhaps even more so than some of the states that have been accepted as members in the EC. However, Israel’s accession to the EC is more or less an unrealistic option, not only from the European point of view but probably also from the Israeli perspective, especially if one takes into consideration the general political implications. The real difficulties derive from the basic political “philosophy” of the European Union, especially in the area of foreign and security policy, which are now amongst the preconditions for joining the EU according to article O of the Union Treaty. The concept of the establishment of a Jewish State has always entailed providing the Jewish people, scattered across the world, with a homeland and a center für renewal (“Collection of the Scattered”).35 This general 23 idea is fundamentally different from the notion of European integra- j tion since 1945, which was intended to bring about lasting peace and welfare on a regional level through the establishment of an economic, legal, and political Community.36 This difference in political philosophies would probably allow for the development of only a sort of relationship between Israel and the EC, which would leave the identities of both partners intact. Anything more ambitious in the sense of “integration” seems hard to imagine, especially in light of the security aspect; if the EC and Israel were to share a common foreign and security policy, the EC would become directly involved in the Near East conflict. The combination of all these obstacles makes Israel’s accession to the EC an inviable prospect, both from a legal and political perspective. With this in mind,

34

C. D. Ehlerrnann, Mitgliedschaft in der EG, Europarecht 1985, 113 (114). B. Gurion, Israel. Die Geschichte eines Staates, 1973. 36 W. Weidenfeld, Was ist die Idee Europas?, Aus Politik und Zeitgeschichte 1984, B 23–34. 35

Cooperation, Association, Accession

397

further development of the existing association between the EC and Israel increases in importance. V. The Future Development of Israeli-European Relations 1. Israel’s Relationship with the European Free Trade Association (EFTA)

Currently, “Europe” not only consists of the EC but also of EFTA – the latter being about to grow together with the EC into a greater unit of a “European Economic Area” (EEA).37 Since January 1, 1993, Israel has been included in the free trade area between the EC and EFTA. The seven EFTA states signed an agreement with Israel on September 17, 1992, whereby EFTA exporters were given the same sales opportunities in Israel that exporters from the U.S. and the EC already received. Since it now belongs to both the European and American free trade zones, Israel has been able to further strengthen its economic position. On the other hand, for some time, Israeli exports have already received preferential treatment from the EFTA states. The General System of Preferences (GSP) granted to developing countries by industrial countries applies to Israel as well. Free trade between EFTA and Israel came into effect on January 1, 1993, in both directions without transitional measures. It remains to be seen how far the exceptions laid down in the 1992 agreement will go in practice. The agricultural sector has been excluded. Here, bilateral action between each j EFTA state 24 and Israel will be necessary. Furthermore, the parties have foreseen the limitation of free trade under certain conditions, for example, if there are difficulties concerning the balance of payments or in the case of security problems or serious shortages. The EFTA-Israel agreement is in fact more than a trade agreement. It also contains provisions regarding competition rules, public procurement, technological and health regulations, free flow of capital, subsidies, and protection of intellectual property rights. In this sense, the agreement is similar to the EC economic cooperation agreements that have served as the model for the present association relationship between the EC and Israel. As a result of the new ties with EFTA, Israel has succeeded in establishing a solid foundation for its relations with a “Greater Europe,” irrespective of the success or failure of the EEA process.

37

R. Senti, EG-EFTA-Binnenmarkt, 2d ed. 1992.

398

V. Außenbeziehungen der Europäischen Union 2. Possible Developments in the EC-Israel Association

On December 15, 1992, in Brussels, Israel and the EC renewed negotiations on the revision and expansion of the 1975 agreement and the arrangements to follow; these negotiations were concluded in 1995.38 They should help to bring about the realization of the economic growth concept of the Israeli government. In order to reduce unemployment and dependence on foreign economic aid, Israel must expand its economy by approximately six to seven percent and increase its annual average of exports by twelve to fourteen percent. In its capacity as Israel’s primary trading partner, the Community – which accounts für approximately 35.6 percent of Israeli exports – may play a decisive role in turning this concept into a reality. In the most recent Brussels negotiations between Israel and the EC, a basic problem that had to be solved from the Israeli perspective was the unbalanced functioning of the 1975 trade and cooperation treaty. While Community exports to Israel bad been free, problems remained for Israeli exports to Europe with regard to the common commercial policy of the EC in the area of fiscal duties and other taxes and especially with regard to the common agricultural policy of the EC. Declarations of intent of the EC Member States to ameliorate this situation had been expressed in the course of the resumption of the negotiations. These negotiations led to a new cooperation agreement between the EC and 25 Israel within the framework of the “New Mediterranean Policy” of the j Community. It can be expected that this revision of the 1975 agreement will lead to a further deepening and widening of the association regime that already exists between Israel and the Community. Lacking accession, there exists quite a number of possibilities for deepening further the specific association between the partners, in existence since 1964, 1970, and 1975. VI. Conclusion: On the Future Role of the European Community and Union in the Mediterranean Region and Toward Israel The Community plays an important role in the Mediterranean region from both an economic and political perspective. Since 1989, with the historic changes in the world order, the Mediterranean countries have come to expect that the Community, as their closest and most obvious economic partner, will play a more prominent role in the region than it has played in the past. They expect a greater European commitment to the area. This has been particularly true since 1993, with the initiation of the peace process between Israel and the P.L.O. and the resulting gradual establishment of Palestinian autonomy. Many

38

The texts had not yet heen published by the end of 1995.

Cooperation, Association, Accession

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countries of the Mediterranean region hope to find the EC a sympathetic partner in the effort to realize their aspirations, one who does not seek the position of a dominating influence due to its structure as a “civilian power”. Because of its geographic-historical connection to the region and its economic strength, the EC has a special obligation toward the Mediterranean region where the cradle of Europe once stood.39 From an economic standpoint, this means that the EC needs to keep the Common Market open to Mediterranean products as much as possible, especially in the agricultural sector. A “fortress Europe” is absolutely unbearable in relation to this neighboring region. Furthermore, the EC remains financially responsible within the scope of its development cooperation for supporting the development of the Mediterranean world. Whether the Community has to fulfill peacekeeping obligations in the Mediterranean region within the framework of the political cooperation of the European Union is a complex question that cannot be discussed here in detail. The contributions of the EC to the European-Arab dialogue since 1979, the 1980 Declaration of Venice on the Near East Conflict, and, recently, the EC’s commitment in the former Yugoslavia have had only very j little effect.40 The Com- 26 munity has often not even been a welcome partner when trying to mediate in the Near East. Perhaps the EC’s financial contribution to the peace process in this region following the historic Israeli-Palestinian autonomy agreement of September 13, 1993, has changed this situation to a certain degree.41 The future role of the Community in the Mediterranean region will, in all likelihood, remain primarily an economic one. Within this limitation, however, the European-Israeli relationship is of special importance. Aside from the former Yugoslavia and Turkey, Israel is the Mediterranean country that has taken greatest advantage of its free access to the Common Market and that has the strongest ties to Western Europe, both industrially and economically. This is, above all, due to Israel’s great achievements – despite many difficulties – in reaching the status of an industrial country of European standard. Thus far, Israel is the only Mediterranean country capable of extending the Community full reciprocity status in trade. Since January 1, 1989, tariffs and quantitative restrictions on industrial exports from the Community to Israel

39

Puhl (supra note 17). See J. Bourrinet, Le dialogue Euro-Arabe, 1979. See also the Near East Declaration of the European Council in Venice on June 13, 1980 (1980 Europa-Archiv D 382-83). Concerning the critical Israeli reaction (especiaIly on the part of A. Eban and J. Shamir), see Der Staat Israel (supra note 5), at 56. For the role of the EC in the former Yugoslavia, see L. Rühl, Krisenbeherrschung in Europa, Europa-Archiv 1993, 159–66. 41 A. Neustadt, Israel und die Normalität der Friedens, Europa-Archiv 1994, 423. 40

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V. Außenbeziehungen der Europäischen Union

have been abolished. Israel’s position vis-à-vis the EC is comparable to that of the EEA states as opposed to that of Israel’s immediate neighbours. The same applies to the fact that Israel receives no financial aid from the EC’s budget, even though in other contexts, Israel’s dependence on external aid of different types due to its extraordinary security position remains valid for the time being. It comes as no surprise that Israel’s ties to the Community are particularly strong. For as long as a real solution to the Near East conflict has not been achieved, economic access to a number of countries in the Mediterranean region will remain blocked for Israel. The Arab boycott policy still prevails here and there, and attempts are still made to have a negative influence on Israel’s economic relations with third countries. Therefore, good commercial relations with Europe are of vital concern to Israel.42 The Community should be aware 27 of this responsibility toward Israel, and this awareness j should be manifested in political and economic action. Of all the EC Member States, Germany most particularly should support this European relationship with the State of Israel. In light of the elevated economic status it has enjoyed since 1990, but equally because of its historical responsibilities toward the Jewish State, Germany should always be one of the driving forces behind the further improvement of European-Israeli relations.43

42

Rhein, supra note 20, at 646. T. Oppermann, Israel und Palästina – Reifeprüfung der Bonner Außenpolitik, Europa-Archiv 1980, 435 (435–447); A. Neustadt, Israelische Reaktionen auf die Entwicklung in Deutschland, Europa-Archiv 1990, 351. 43

Die Grenzen der Europäischen Union oder das Vierte Kopenhagener Kriterium Die Erweiterung der Europäischen Union von 15 auf 25 (und demnächst bald 30?) Mitgliedstaaten 2004 hat die Frage nach den geographischen Grenzen der EU und ihrer Aufnahmefähigkeit politisch und europarechtlich dramatisch aktualisiert. Der Beitrag erinnert an das oft übersehene vierte „Kopenhagener Kriterium“ der Staatsund Regierungschefs von 1993, wonach neue Beitritte die „Stoßkraft der europäischen Integration“ nicht in Mitleidenschaft ziehen dürfen.*

Nichts liegt näher, als Manfred Zuleeg mit einem „europäischen“ Thema die Ehre zu erweisen. Die europäische Einigung steht im Zentrum des Lebenswerks des Jubilars, dem ich mich freundschaftlich verbunden fühle. Es bereitet auch keinerlei Schwierigkeit, sich die Thematik nach Belieben auszusuchen. Zuleeg ist seit Jahren ein „All-Rounder“ der europäischen Integration. Nie nachlassendes wissenschaftliches Interesse und die Jahre als deutscher Richter am Gerichtshof der Gemeinschaften haben ihn in alle Bereiche des Europarechts ausgreifen lassen. Ein Charakteristikum des reichen Lebenswerkes liegt im Engagement für die Grundfragen der Europäischen Gemeinschaft und Union. Zuleeg ist überzeugter „Europäer“. Er will den dauerhaften Erfolg der europäischen Einigung, deren juristisches Fundament er mit immer neuen Fragestellungen umkreist. Einmal ist es die „Gestalt“ oder der „Bestand“ der Europäischen Gemeinschaft (1976/ 1981), dann der „Integrationsverband“ (1984), die „Rechtsgemeinschaft“ (1993), die „Supranationalität“ (1998) oder die „Demokratiefähigkeit“ (1999) und in jüngster Zeit natürlich die Frage nach der „Verfassung“ der Union. Ich möchte an den „Zusammenhalt der Union“ anknüpfen, ein weiterer Begriff, mit dem sich Zuleeg mehrfach, zuletzt wieder 2004, auseinandergesetzt hat. Während ihn in erster Linie die rechtlichen Voraussetzungen dauerhafter Kohäsion interessierten, scheinen nach der großen Erweiterung der EU von 15 auf 25 Mitgliedstaaten 2004 und angesichts der Perspektive einer größeren Zahl weiterer Beitritte bestimmte Tatsachen in den Vordergrund zu treten, die über das Schicksal der Union im 21. Jahrhundert entscheiden. Immer öfter wird die Frage nach den „Grenzen der EU“ gestellt. Nach welchen Kriterien lassen sie sich bestimmen? * Erstmals erschienen in: Gaitanides u. a. (Hrsg.), Europa und seine Verfassung, Festschrift für Manfred Zuleeg zum siebzigsten Geburtstag, Nomos, Baden-Baden 2005, 72–79.

72

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V. Außenbeziehungen der Europäischen Union

I. Immer engere oder immer weitere Union? Die Europäische Union steht in Gefahr, zu Beginn des 21. Jahrhunderts Opfer ihres eigenen Erfolges zu werden. Mit den Verträgen von Paris und Rom entstand in den fünfziger Jahren eine Gemeinschaft von sechs westeuropäischen Staaten mit 190 Millionen Bürgern. Über die Erweiterungen 1973 (Großbritannien, Dänemark und Irland), 1981 (Griechenland), 1986 (Spanien, Portugal), 1995 (Finnland, Österreich, Schweden) und 2004 (Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn, Zypern) sowie der Einbeziehung der DDR 1990 ist daraus 2004 eine gesamteuropäische Union von 25 Mitgliedern und einer Bevölkerung von 450 Millionen Unionsbürgern geworden. j 73

Weitere Beitritte scheinen nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Bulgarien und Rumänien sollen 2007 EU-Mitglied werden. Mit Kroatien beginnen 2005 Verhandlungen mit Blick auf ein Datum 2008. Auf dem EU/Balkan-Gipfeltreffen in Zagreb 2000 wurde bereits allen übrigen Balkanstaaten (Albanien, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien, Serbien-Montenegro einschließlich des Kosovo) bei Erfüllung der „Kopenhagener Kriterien“ eine Beitrittsperspektive zugesichert. Die am 3. Oktober 2005 mit der Türkei beginnenden Beitrittsverhandlungen werden zum eigentlichen Prüfstein für die Möglichkeiten und Grenzen der Erweiterungsfähigkeit der Union. Die EWR-Staaten Island, Liechtenstein und Norwegen sowie die Schweiz sind politisch und wirtschaftlich beitrittsfähig. Sie haben bisher aus unterschiedlichen Gründen verzichtet, sich der EU zu nähern oder sich, wie Norwegen, zweimal im letzten Augenblick abgewendet. Ein Beitrittsgesuch der Schweizer Regierung liegt wegen der ablehnenden Haltung der Bevölkerung seit 1993 „tiefgefroren“ in Brüssel. Wie immer man rechnet: eine Europäische Union mit 30 bis 40 Mitgliedstaaten und weit über 500 Millionen Bürgern könnte in einer nicht zu fernen Zukunft im Bereiche des Möglichen liegen. Kann das immer so weitergehen? Die Entwicklung des europäischen Einigungsprozesses spiegelt eindrucksvoll die Anziehungskraft der „europäischen Idee“, wie sie nach dem zweiten Weltkrieg von Jean Monnet, Robert Schuman, Konrad Adenauer, Alcide de Gasperi und anderen in die Tat umgesetzt wurde. Die damalige Gründungsphilosophie zielte auf einen Europäischen Bundesstaat oder wenigstens auf die „Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas“ (Art. 1 Maastrichter EU-Vertrag 1992). Die Schaffung des Binnenmarktes 1993 und der Währungsunion 1999 waren zuletzt wichtige Etappen auf diesem Wege. Die „immer weitere Union“ der Beitritte steht zwangsläufig in einem Spannungsverhältnis zum Ziel einer engen und dauerhaften Integrationsgemeinschaft im Sinne der Gründungsväter. Häufig wiederholte Beschwörungen, daß Erwei-

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403

terung und Vertiefung der Europäischen Union Hand in Hand gehen müssen, vermögen hieran nichts zu ändern. Die Beitrittsmotive vieler Neumitglieder speisen sich weniger aus den „europäischen Idealen“ der Nachkriegszeit als aus dem Wunsch, am wirtschaftlichen Wohlstand der EU teilzuhaben. Mit Großbritannien, Dänemark und Schweden gehören der EU seit längerem Staaten an, die einer „immer engeren Union“ skeptisch gegenüberstehen. II. Rettungsversuch: Die Europäische Verfassung 2004 Bei den Verantwortlichen hat sich allmählich herumgesprochen, daß die stürmisch wachsende Union einer durchgreifenden Reform bedarf, wenn sie unter 25 und mehr Mitgliedern handlungsfähig und regierbar bleiben soll. Die Antwort soll eine neue „EU-Verfassung“ geben. Kann der 2002–2004 nach qualvollen Verhandlungen des „Konvents zur Zukunft Europas“ und der anschließenden Regierungskonferenz am 29. Oktober 2004 in Rom unterzeichnete „Vertrag über eine Verfassung für Eu- j ropa“ die Hoffnungen auf eine „große und enge 74 Union“ erfüllen, wenn er in Kraft tritt? Die EU-Verfassung hat sich den Problemen der „Mega-Union“ zu stellen gesucht. Die Einführung präsidialer Elemente in den Europäischen Rat der Staatsund Regierungschefs und an der Spitze der Europäischen Kommission sowie Stärkungen des Europäischen Parlaments und bei der Mehrheitsentscheidung im Ministerrat begreifen sich als Schritte zugunsten der Handlungsfähigkeit der heutigen EU. Bei näherer Betrachtung wird allerdings ebenso das Kompromißhafte vieler Verfassungsentscheidungen sichtbar, welche der Sacro Egoismo der Mitgliedstaaten erzwungen hat, vor allem der kleineren. Die Praxis der Verfassung – wenn sie das Licht der Welt erblickt – muß erweisen, ob sie zum Rettungsanker der 25er EU wird. Der Verfassungsvertrag ist jedoch kein Allheilmittel, mit dem eine beliebige Zahl weiterer Beitritte bewältigt werden kann. Die Frage nach den Grenzen der Union bleibt gestellt und damit nach den Kriterien für die Antwort. III. Die „Kopenhagener Beitrittskriterien“ 1993 Der europäische Einigungsprozeß war von Anfang an gesamteuropäisch ausgerichtet. Der Eiserne Vorhang verhinderte lange Zeit die Verwirklichung. Die Präambel zum EWG-Vertrag 1957 enthielt die Aufforderung an die „anderen Völker Europas, die sich zu dem gleichen hohen Ziel bekennen, sich diesen Bestrebungen anzuschließen“. „Jeder europäische Staat“ sollte Mitglied werden können. Seit den siebziger Jahren wurde jedoch von Beitritt zu Beitritt sichtbarer, daß die Mitgliedschaft in der Gemeinschaft und Union angesichts ihrer Zielsetzung von der Erfüllung weiterer Voraussetzungen abhängig sein muß.

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V. Außenbeziehungen der Europäischen Union

1993 sind sie von den Staats- und Regierungschefs als „Kopenhagener Kriterien“ zusammengefaßt worden (Text: Bulletin der Bundesregierung 1993, S. 629 ff.). Sie bestimmen seither die Beitrittspraxis. Unausgesprochen schwingt in der Praktizierung der Kopenhagener Beschlüsse die Suche nach den Grenzen der Union mit. IV. Die Geographie: „Europäischer Staat“ Objektiv begrenzt der Vertrag in Art. 49 EUV die mögliche EU-Mitgliedschaft auf alle „europäischen Staaten“. Der jahrzehntelange Umgang der Gemeinschaft mit diesem scheinbar eindeutigen Kriterium offenbart die „Politisierung“ der Beitrittspraxis. Die Mitgliedstaaten schieben, wenn opportun, die Geographie beiseite und orientieren sich an anderen Gesichtspunkten. Algerien und die französischen überseeischen Departements waren seit Beginn 1958 Teile der „Europäischen“ Wirtschaftsgemeinschaft. Dagegen wurde ein Beitrittsantrag Marokkos 1987 von Brüssel nicht behandelt. Dasselbe Frankreich, dessen ferne Inseln Guadeloupe, Martinique und Réunion zur EWG gehören, verwarf 1963 aus militärstrategischen Gründen zunächst den Beitritt des zweifellos europäi75 schen Großbritanniens. Das j dänische Grönland war 1973–1982 Teil der Gemeinschaft, bis es aus eigenem Willen ausscherte. Das Assoziierungsabkommen mit der Türkei enthielt 1963 eine verklausulierte Beitrittsperspektive, um diesen NATO-Partner nicht schlechter zu stellen als das zur gleichen Zeit assoziierte Griechenland. Der kleine Gebietszipfel um Istanbul reichte aus, um die Türkei zum „europäischen Staat“ zu erklären. Ebenso galt die Asien zugehörige Insel Zypern bei der Erweiterung 2004 ohne Umstände als europäisch. Bei Israel liegen die Dinge wieder anders. Geographisch reicht Europa vom Atlantik bis zum Ural. Der geographische Mittelpunkt Europas liegt in der Westukraine. Aber weder die Ukraine, Weißrußland, die Kaukasusstaaten oder gar die Russische Föderation wurden in die Osterweiterung der EU einbezogen. Anders als die Türkei erhielten diese europäischen Staaten keine Beitrittsperspektive. Kann man aus diesem „Voluntarismus“ der EU irgendwelche Schlüsse über die Grenzen Europas ziehen? Allenfalls den, daß Geographie Europas und „europäischer Staat“ im Sinne von Art. 49 EUV wenig miteinander zu tun haben. V. Achtung der gemeinsamen Werte Die Europäische Gemeinschaft und später Union hat sich im Laufe der Zeit in ihrer Beitrittspraxis immer stärker als Wertegemeinschaft verstanden. Die „europäischen Ideale“ des Europarates gehörten von Anfang an zu ihrer Identität. Die EG war verfassungsmäßig der Gegenentwurf zum kommunistischen

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Osteuropa und zu Diktaturen von rechts. Der Beitritt eines Staates jenseits des Eisernen Vorhangs war bis 1989 aus politischen Gründen ebenso ausgeschlossen wie derjenige Spaniens und Portugals bis Mitte der siebziger Jahre. Die EWGAssoziierung Griechenlands ruhte 1967–1974 während der Militärdiktatur. Die Kopenhagener Kriterien haben diese Praxis formalisiert. Die EU ist eine Gemeinschaft von Demokratien parlamentarischen oder präsidialen Typus (Art. 6 Abs. 1 EUV). Der Beitrittsstaat muß sich zu denselben Leitprinzipen der parlamentarisch-rechtsstaatlichen Demokratie bekennen und sie praktizieren wie die EU und ihre Mitgliedstaaten in der eigenen Rechtsordnung. Freiheit und Demokratie werden vor allem durch die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten einschließlich freier politischer Wahlen verbürgt. Der Schutz von Minderheiten gehört dazu. Der europäische menschenrechtliche Standard verkörpert sich insbesondere in der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950 und neuerdings in der EU-Grundrechtecharta, die in den Entwurf der EU-Verfassung 2004 inkorporiert worden ist. Das Bekenntnis eines Staates zu den gemeinsamen Werten ist Voraussetzung für den Beitritt zur EU. Es bedeutet jedoch kein „Recht auf Beitritt“. Die Grenzen Europas laufen oftmals, aber nicht überall mit der rechtsstaatlichen Demokratie parallel. Australien und Neuseeland sind keine Anwärter zur Union. Die Fälle der Türkei und neuerdings der Ukraine zeigen allerdings ebenso wie die Einbeziehung der beiden iberischen Staaten nach 1975 und die erfolgreichen Verhandlungen mit Mittelosteu- j ropa seit den neunziger Jahren, daß sich aus 76 der Demokratisierung „naher Staaten“ für die EU gewichtige Argumente ergeben, die Beitrittsperspektive zu eröffnen oder ernsthaft zu erwägen. VI. Wirtschaftliche Beitrittskriterien Wirtschaftliche Kriterien treten neben die „ideellen“. Sie sind definierbar und unabdingbar. Die EU ist auf den Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet (Art. 4 EGV). Ein Beitrittsstaat muß eine vergleichbare Wirtschaftsordnung aufweisen, um fähig zu sein, Teil des Binnenmarktes zu werden und dessen Wettbewerbsdruck standzuhalten. Auch wenn die Wirtschaftskriterien in der Beitrittspraxis mit einer gewissen Flexibilität gehandhabt werden, ist der marktwirtschaftliche Grundansatz aus praktischen Gründen unverzichtbar. Dazu gehört eine konvertible Währung, um sich am freien Waren- und Personenverkehr zu beteiligen. Währungspolitisch reicht die Beteiligung am Europäischen Wechselkursmechanismus aus. Wie die Beispiele Großbritanniens, Dänemarks und Schwedens zeigen, muß nicht jeder EU-Staat Mitglied der Währungsunion sein.

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VII. Vollmitgliedschaft Aus dem Grundgedanken, daß ein Beitrittsstaat über gleiche Rechte wie „Altmitglieder“ verfügen soll, aber auch gleiche Pflichten übernehmen muß, folgen weitere Voraussetzungen. Der Beitrittsstaat muß bereit sein, Vollmitglied zu werden. Ein „Europa à la Carte“ soll es nicht geben. Das hat zweierlei Konsequenzen. Mitgliedschaft in der EU bedeutet längst nicht mehr lediglich Teilnahme an einer Wirtschaftsgemeinschaft von der Art der früheren EWG. Die EU baut seit Maastricht einen „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ im Sinne zunehmender Vergemeinschaftung der klassischen Innenpolitik auf. Ebenso wird die Zusammenarbeit im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) seit den neunziger Jahren verstärkt. Der Beitritt ist nur zur Union als Ganzem möglich (Art. 49 EUV). Das schließt in der Praxis die Mitgliedschaft bisher neutraler Staaten nicht aus (Finnland, Irland, Österreich und Schweden). Erwartet wird jedoch die Mitarbeit in der GASP. Sie soll zum allmählichen Zurücktreten der „Neutralitätsmythen“ führen. Zweitens soll die innere Identität der Union durch Beitritte grundsätzlich unberührt bleiben. Sie stellt sich rechtlich als ein immenses, in Jahrzehnten gewachsenes Corpus primären und sekundären Gemeinschaftsrechts dar („Gemeinsamer Besitzstand“ oder „Acquis communautaire“). Der Acquis steht in den Verhandlungen nicht zur Disposition. Seine Übernahme wird den Beitrittsstaaten durch Übergangsfristen bis zu ca. 10 Jahren erleichtert. Die Angleichung des nationalen Rechts an den europäischen Standard stellt gleichwohl eine große Herausforderung für Verwaltung und Justiz der Beitrittsstaaten dar. j 77

VIII. Aufnahmefähigkeit der EU Die noch lange nicht abgeschlossene Diskussion um einen Beitritt der Türkei hat ein weiteres Kopenhagener Kriterium (das sogenannte „vierte“) in den Vordergrund gerückt. Es richtet sich an die Union selbst, ist objektiver Natur und hängt mit verschiedenen Faktoren wie Geographie, Demographie, Wirtschaft und Kultur zusammen. 1993 wurde in Kopenhagen formuliert, daß Beitritte ihre Grenze an der „Fähigkeit der Union finden, neue Mitglieder aufzunehmen und zugleich die Stoßkraft der europäischen Integration zu erhalten“. Zu prüfen ist hiernach die Kapazität der Union, Länder besonderer geographischer Lage oder demographischer Größenordnung, mit hohen Entwicklungsrückständen oder einer fremden Kultur aufnehmen zu können. In solchen Fällen werden „Ausdehnungsprobleme“ befürchtet, welche die Zukunft einer engen Integrationsgemeinschaft in Frage stellen. Sie betreffen unter anderem die künftige Zusammensetzung der Institutionen (arbeitsfähige Größenordnungen von

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Rat und Kommission, ein legitimationsfähig zusammengesetztes Parlament), die finanziellen Konsequenzen für die großen Förderaktionen der EU (Agrar- und Strukturpolitik) und die soziale Homogenität der Union. Es geht mit anderen Worten um den „Zusammenhalt der Union“ im Sinne von Manfred Zuleeg. Man kann die Frage dahingehend vereinfachen, ob sich ein enger multinationaler Staatenverbund von der Art der EU jenseits einer bestimmten geographischen und demographischen Größe noch aufrechterhalten läßt. Heute 25 Staaten mit 450 Millionen Unionsbürgern und morgen gemäß den bereits eröffneten Perspektiven gut 30 Mitglieder und eine Bevölkerung von über 500 Millionen – ist das die äußerste Grenze oder bereits zu viel? Der Verweis auf die USA (50 Staaten/bald 300 Millionen US-Bürger) oder Indien (28 Staaten, 7 Unterterritorien/1 Milliarde Inder) verfängt nicht. In beiden Fällen handelt es sich trotz aller Probleme um eine gemeinsame Nation, die sich in einem Bundesstaat mit einer effektiven Bundesgewalt zu vereinen wußte. In Europa haben alle Reformen der EG/EU bis zuletzt die „Verfassungsgebung“ 2002–2004 zu keiner vergleichbaren Stärkung der Gemeinschaftsgewalt geführt. Europa ist in zahlreiche Nationalstaaten mit eigener Geschichte, Kultur und Sprache zersplittert. „Kleine Staaten sollen soviel gelten wie große“, hatte Winston Churchill in Zürich 1946 prophetisch gesagt. Dabei ist es bis heute geblieben, mit anderen Worten bei einer „Rechtsgemeinschaft“ mit immer wieder vergrößerten Institutionen, die auf den Befolgungswillen ihrer Mitglieder angewiesen ist und zur Durchsetzung ihrer Beschlüsse nötigenfalls auf das nationale Machtpotential zurückgreifen muß. IX. „Immer größere Union“ oder Europäische Nachbarschaftspolitik? Kann man einen solch komplizierten und fragilen Staatenverbund beliebig vergrößern, ohne ihn im Wesen zu verändern? Dinosaurier sind an ihrer schieren Größe zugrundegegangen. Bei den Beitritten von 1995 und 2004 wurde das vierte Kopenhagener Kriterium noch einmal stillschweigend bejaht. Im Grunde auch bereits für die Beitrittsperspektive des „Restbalkans“. j Die Union ist sich andererseits in den letzten Jahren der existentiellen Frage 78 bewußt geworden, daß eine „immer größere Union“ irgendwann in einen schleichenden inneren Erosionsprozeß übergehen muß. Die von der Europäischen Kommission entwickelte und in die künftige EU-Verfassung 2004 (Art. I-57) aufgenommene Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP) stellt die erste offizielle Initiative dar, die Grenzen der Union zu bestimmen. Sie sieht nicht nur in der südlichen Mittelmeerregion von Marokko bis Syrien „Nachbarn“ der EU und nicht potentielle Mitglieder, sondern ebenso in den Staaten des ferneren Osteuropas (Weißrußland, Ukraine, Moldawien, Kaukasusstaaten und die Russische Föderation).

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V. Außenbeziehungen der Europäischen Union

Die Nachbarschaftspolitik bedeutet keine Abwendung der EU von ihren Anrainern. Doch braucht man nicht jeden Freund in der eigenen Wohnung aufzunehmen. Durch spezielle Übereinkünfte ohne Eröffnung einer Beitrittsperspektive soll bei den Nachbarn Frieden, Stabilität und Wohlstand und damit zugleich die Sicherheit der Union gefördert werden. Man kann die „privilegierte Partnerschaft“, welche der Türkei anstelle einer Mitgliedschaft nach Auffassung wichtiger politischer Kräfte angeboten werden sollte, als Nachbarschaftsregelung für einen „besonders nahestehenden“ Staat verstehen. X. Die Türkei als „Schicksalsstaat“ der Europäischen Union In der andauernden Kontroverse über einen Beitritt der Türkei zur EU scheint sich wie in einem Brennglas die Frage nach Grenzen und Schicksal der EU zu bündeln. Das Spektrum der politischen Antworten reicht vom „Ende der EU“ des Präsidenten des Europäischen Verfassungskonvents 2002–2003, Giscard d’Estaing, bis zur „strategischen Rekonstruktion des Westens“, womit sich der deutsche Außenminister Joschka Fischer vom früheren Ziel einer „Föderation der Nationalstaaten“ verabschiedete. Längst sind beide Standpunkte ausbuchstabiert worden. In Deutschland haben Historiker wie H.-A. Winkler und H.-U. Wehler oder ein Staatsrechtler wie E.-W. Böckenförde die historisch-kulturellen, geographischen, wirtschaftlich-sozialen und nicht zuletzt rechtlich-institutionellen Gründe gegen die Beitrittsfähigkeit der Türkei dargelegt (kein Bestandteil des geschichtlichen Europas, Grenzen zu Syrien, dem Irak und Iran, „Fremdheit“ zwischen dem christlich/laizistischen Europa und dem Islam, ökonomische Rückständigkeit mit untragbarer Kostenbelastung für die EU, anatolischer Migrationsdruck nach Europa, Menschenrechtsprobleme – zusammenfassend die Verbiegung der inneren EU-Architektur durch den Beitritt eines „Randstaates“ mit demnächst über 80 Millionen Einwohnern, d.h. Stillstand und Rückschritt des Integrationsprozesses). Die meist politischen Befürworter des Beitritts setzen sich mit diesen Sorgen wenig auseinander. Sie argumentieren auf einer anderen Ebene (Chance eines gemäßigten Islamismus im Kampf gegen den Terrorismus, Bereicherung durch ein multikulturelles Europa, Vergrößerung des Binnenmarktes und historischer Verweis auf das Osmanische Reich als Teil des „Europäischen Konzerts“ im 19. Jahrhundert). j 79

Bei dieser Kontroverse ist von zweierlei Europa die Rede. Den einen geht es um die Fortsetzung des vor einem halben Jahrhundert begonnenen europäischen Einigungsprozesses. Mit EU-Verfassung 2004 und Nachbarschaftspolitik soll die Union enger Staatenverbund mit der Chance auf wachsende Gemeinsamkeiten bleiben. Der Europäische Bundesstaat ist zwar seit längerem Chimäre geworden. Die „Europäer“ von heute einte erneut im Verfassungskonvent die Über-

Grenzen der EU oder das Vierte Kopenhagener Kriterium

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zeugung, daß nur die bewährten Formen überstaatlicher Rechtsgemeinschaft Europa auf Dauer Frieden und Wohlstand im Inneren und die ihm gebührende globale Rolle nach außen zu sichern vermögen. Für die Strategen der „Rekonstruktion des Westens“ hat sich die Welt dagegen nach dem 11. September 2001 grundlegend geändert. Absolute Priorität gilt dem Kampf gegen den internationalen Terrorismus, mag auch die europäische Integration auf der Strecke bleiben. Fragwürdige Verbündete kommen aus dem Lager der Euroskeptiker in Großbritannien und anderwärts, welche die „Lokkerung“ der EU durch einen Türkeibeitritt nur allzu gerne sehen würden. Politics bring strange bed-fellows together. Unbelehrbaren „Integrationisten“ wird die undeutliche Vision eines „Kerneuropas“ innerhalb der Groß-EU empfohlen. Wenn nicht vieles täuscht, werden die Verhandlungen mit der Türkei ab dem Herbst 2005 zur Schicksalsfrage der Europäischen Union. Ein Europa, welches das vierte Kopenhagener Kriterium beiseite schiebt und seine Grenzen bis zum Persischen Golf ausdehnt, hätte kaum noch etwas mit der „immer engeren Union“ der Gründungsväter und ihrer Nachfolger gemeinsam. Vermutlich auch nicht mit dem „Zusammenhalt der Union“ im Sinne von Manfred Zuleeg.

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Die Assoziierung Griechenlands mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Überlegungen aufgrund von Eindrücken aus den Assoziierungsverhandlungen in Bonn und Brüssel 1960–1962.*

Am 9. Juli 1961 unterzeichneten in Athen Bevollmächtigte des Ministerrates der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft1, der Regierungen ihrer sechs Mitgliedstaaten und der griechischen Regierung das Assoziierungsabkommen zwischen der EWG und dem Königreich Griechenland2. Inzwischen sind die Ratifizierungsverfahren zum Teil bereits abgeschlossen (seitens der Gemeinschaft und Frankreichs), in anderen EWG-Mitgliedstaaten steht der Abschluß bevor (Belgien, Bundesrepublik Deutschland, Italien, Luxemburg, Niederlande). Nach Art. 76 Ass. Abk. tritt das Abkommen am ersten Tage des dritten auf den Austausch der Ratifikationsurkunden folgenden Monats in Kraft. Durch die Einsetzung eines Interimausschusses werden jedoch ähnlich wie vor dem Inkrafttreten des EWG-Vertrags vorbereitende Maßnahmen zur Durchführung der Assoziation getroffen. Mit dem Abschluß des Griechenlandabkommens machte die Gemeinschaft erstmals von der Möglichkeit des Art. 238 EWGV Gebrauch, zwischen der EWG und dritten Staaten eine im Vergleich zur Mitgliedschaft beschränktere 487 Form der Verbindung in Gestalt einer „Assoziierung mit gegenseitigen j Rechten und Pflichten, gemeinsamem Vorgehen und besonderen Verfahren“ einzugehen. Sie handelte damit zugleich im Geiste des im ersten Absatz der Präambel zum EWG-Vertrag ausgedrückten Willens der Unterzeichnerstaaten, mit dem * Der Aufsatz gibt die persönliche Auffassung des Verfassers wieder. Erstmals erschienen in: ZaöRVR 22 (1962), 486–508. 1 Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (BGBl. 1957 II 766 ff.), im folgenden EWGV abgekürzt. Ferner werden die Bezeichnungen EWG und Gemeinschaft verwendet. 2 Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und Griechenland nebst seinen Anlagen und den in der Schlußakte aufgeführten Zusatzdokumenten; Abkommen über die zur Durchführung des Abkommens zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und Griechenland zu treffenden Maßnahmen und die dabei anzuwendenden Verfahren; Abkommen über das Finanzprotokoll im Anhang zum Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und Griechenland. – Die Texte werden nach Abschluß des Ratifikationsverfahrens in der Bundesrepublik Deutschland im BGBl. veröffentlicht werden. Nach Art. 77 Ass. Abk. sind die Texte in deutscher, französischer, italienischer, niederländischer und griechischer Fassung gleichermaßen verbindlich.

Die Assoziierung Griechenlands mit der Wirtschaftsgemeinschaft

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Vertrage „die Grundlagen für einen immer engeren Zusammenschluß der europäischen Völker zu schaffen“. Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl hatte bereits 1954 ein Assoziierungsabkommen mit Großbritannien geschlossen3, das sich jedoch im wesentlichen auf gewisse Konsultationsverfahren beschränkte. Demgegenüber wird mit dem Griechenlandabkommen der ehrgeizigere Plan verfolgt, durch eine Art „EWG-Vertrag in vereinfachter Form“, der sich auf die meisten Wirtschaftsbereiche erstreckt, die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der Gemeinschaft und Griechenland im Verlaufe einer Übergangszeit immer enger zu verflechten und gegebenenfalls einen späteren Beitritt dieses Landes zur EWG vorzubereiten. Insoweit geht diese Konzeption auch über die Ziele der bisher nach dem Vierten Teil (Art. 131 ff.) des EWG-Vertrags und dem Durchführungsabkommen über die Assoziierung der überseeischen Länder und Hoheitsgebiete4 bestehenden Assoziation zwischen der Gemeinschaft und bestimmten außereuropäischen Ländern und Hoheitsgebieten hinaus, die gegenwärtig neu gestaltet wird. Das Griechenlandabkommen kann vielmehr als eine erste Variante für die Verbindungsformen europäischer Staaten mit der EWG angesehen werden, der bei der seit Mitte 1961 im Gange befindlichen Neuordnung der multilateralen Wirtschaftsbeziehungen in Westeuropa besondere Aktualität zukommt. Neben der Türkei, die schon ungefähr gleichzeitig mit Griechenland 1959 die Assoziierung beantragte, haben im Anschluß an die Beitrittsanträge Großbritanniens, Dänemarks und Irlands 1961/62 bisher Österreich, Schweden, die Schweiz und Spanien Assoziierungsgesuche im Sinne des Art. 238 EWGV an die Gemeinschaft gerichtet. Für die sich hieraus ergebenden Fragen der Erweiterung der EWG bietet das Beispiel Griechenlands und das bei seiner Assoziierung angewandte Verfahren manche Aufschlüsse. Diese Feststellung gilt nicht zuletzt für die völker- (oder gemeinschafts-) rechtlichen Aspekte dieser Assoziierung5. Neben dem Abschluß von Zoll- j ab- 488 3 Abkommen über die Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland und der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl vom 21.12.1954, BGBl. 1955 II 838 ff. Vgl. hierzu und dem Assoziierungsbegriff allgemein Mosler, Die Aufnahme in internationale Organisationen (unter besonderer Berücksichtigung der drei europäischen Gemeinschaften), ZaöRV 19 (1958), 275 ff. (302). 4 Durchführungsabkommen über die Assoziierung der überseeischen Länder und Hoheitsgebiete mit der Gemeinschaft, BGBI. 1957 II 998 ff. 5 Es ist hier nicht der Ort für eine Untersuchung der Frage, inwieweit die besonders auf Grund der im EWG-Vertrag enthaltenen gemeinschaftsrechtlichen Rechtsetzungsbefugnisse geschaffenen Normen noch voll dem Völkerrecht zuzurechnen sind oder vielmehr einem „Gemeinschaftsrecht“ angehören, das sich als ein Gemenge nationalen und internationalen Rechts darstellt. Es sei insoweit nur an Materien wie die gemeinschaftlichen landwirtschaftlichen Marktordnungen, das EWG-Wettbewerbsrecht, Bestimmungen über die Freizügigkeit von Arbeitnehmern u. ä. erinnert. Zurückhaltend zuletzt noch Scheuner, Die Rechtsetzungsbefugnis internationaler Gemeinschaften (in:

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V. Außenbeziehungen der Europäischen Union

kommen über den Gemeinsamen Zolltarif der EWG nach Art. 111, 114 EWGV im Rahmen des GATT bot bisher vor allem der Assoziierungsantrag Griechenlands der Gemeinschaft die Möglichkeit, die Bestimmungen des EWG-Vertrags über das gemeinsame Vorgehen in den Fragen der Außenbeziehungen in der Praxis zu erproben. Die hierbei gewonnenen Erfahrungen etwa über die Formen der Zusammenarbeit zwischen den Gemeinschaftsorganen (Ministerrat, Kommission, Europäisches Parlament) und den Regierungen der Mitgliedstaaten werden für die künftige Handlungsfähigkeit der Gemeinschaft gegenüber Drittstaaten und internationalen Organisationen von Bedeutung sein; innerhalb der Gemeinschaft haben sie wertvolle Aufschlüsse hinsichtlich der Aufgabenverteilung zwischen den genannten Institutionen und in ihrem Verhältnis zu den EWG-Mitgliedstaaten ermöglicht. I. Die Aushandlung des Abkommens Mit Recht hat der französische Senator Carcassonne anläßlich der Ratifizierungsdebatte über das Griechenlandabkommen im Französischen Senat betont, das Bemerkenswerte an dem Assoziierungsabkommen liege darin, daß es durch die Gemeinschaft und nicht durch die sechs Mitgliedstaaten ausgehandelt worden sei6. Wenn auch die treaty making power internationaler Organisationen im Rahmen ihrer Satzungen anerkannt ist und von diesen vielfach ausgeübt wird7, verdient dieser Umstand bei einem Vertrage besonders hervorgehoben zu werden, der inhaltlich weitgehende Verpflichtungen der EWG-Mitgliedstaaten in wirtschaftlicher, zollpolitischer und finanzieller Hinsicht mit sich brachte. Als die wesentlichen Partner des Assoziierungsabkommens wurden von Anfang an Griechenland und die EWG als selbständige Rechtspersönlichkeit (Art. 210 EWGV) angesehen. Der Wunsch Griechenlands nach einer Assoziierung mit der EWG war erstmals in einem Schreiben der griechischen Vertretung bei der OEEC vom 8. Juni 1959 an den Präsidenten der EWG-Kommission geäußert worden. Die Beteiligung der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft am Ab489 schluß des Abkommens erfolgte aus besonderen, hier j später zu behandelnden Gründen. Während bei dieser Sachlage die Unterhändlerrolle der Bevollmächtigten der Griechischen Regierung unproblematisch war, mußte auf der Seite der Gemeinschaft erstmals die Frage entschieden werden, in welcher Form Assoziierungsverhandlungen durch die EWG geführt werden. Während Art. 238 Abs. 2 EWGV den Abschluß der Assoziierungsabkommen eindeutig dem Rat

Völkerrecht und rechtliches Weltbild. Festschrift für Alfred Verdross, 1960, 229 ff., bes. 232). 6 Le Monde vom 16.12.1961, S. 9. 7 Vgl. etwa Dahm, Völkerrecht Bd. 2, 1960, 7; Zemanek, Das Vertragsrecht der Internationalen Organisationen, 1957, 19, 21 ff.

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zuweist, ergab sich für die Verhandlungskompetenz das Problem, ob insoweit Art. 228 EWGV anwendbar sei, der für den Abschluß von Abkommen zwischen der Gemeinschaft und einem oder mehreren Staaten oder einer internationalen Organisation der EWG-Kommission die Verhandlungsführung zuweist. Für die Anwendbarkeit des Art. 228 EWGV sprachen gewichtige Gründe8. Die Bestimmung weist der Kommission die Verhandlungsführung zu, soweit der Vertrag den Abschluß der genannten Abkommen vorsieht. Aus Art. 238 EWGV ist nichts ersichtlich, was darauf hinwiese, daß die Fälle des Abschlusses von Assoziierungsabkommen von der allgemeinen Regel des Art. 228 EWGV ausgeschlossen werden sollten. Die Tatsache, daß beim Abschluß von Zollabkommen der Gemeinschaft mit dritten Ländern nach Art. 111 Abs. 2 EWGV oder auch bei Handelsabkommen nach Art. 113 Abs. 3 EWGV die Verhandlungskompetenz der Kommission ausdrücklich erwähnt ist, läßt keine andere Auslegung zu, denn Art. 228 EWGV ist gerade als eine Rahmenbestimmung für diejenigen Fälle der Aushandlung von Gemeinschaftsabkommen gedacht, bei denen eine explizite Feststellung im Vertrag insoweit nicht getroffen ist. Ebensowenig dürfte einem anderen Argument ein besonderes Gewicht zukommen, das bei der Diskussion dieser Frage anläßlich des Griechenlandabkommens vorgebracht wurde und wonach die unmittelbare Nachbarschaft der Regelung des Abschlusses von Assoziierungsabkommen (Art. 238 EWGV) mit derjenigen des Beitrittsverfahrens in Art. 237 EWGV eine Art Assimilierung dieser Vorschriften gestatte. Nach Art. 237 Abs. 2 EWGV werden die bei einem Beitritt notwendigen Regelungen allerdings durch ein Abkommen zwischen den Mitgliedstaaten und dem antragstellenden Staat getroffen, bei dem eine Beteiligung der EWG-Kommission zumindest als voller Verhandlungspartner oder sogar Verhandlungsführer nicht vorgeschrieben ist. Diese Unterschiedlichkeit der beiden Artikel ist jedoch gewollt und erklärt sich aus der sachlichen Verschiedenheit von Beitritt und Assoziierung. Bei einem Beitritt werden die Grundlagen der Gemeinschaft berührt, indem eine Erweiterung j des Kreises der sie tragenden 490 Mitglieder in Frage steht. Hierüber kann sinnvoll nur durch die bisherigen Mitglieder entschieden werden. Die Assoziierung läßt demgegenüber die Struktur der Gemeinschaft als solche unberührt und ordnet ihr lediglich in besonderer Weise einen Assoziierungspartner näher als andere Drittstaaten zu. Insofern kann Art. 238 EWGV von der Konzeption des Gemeinschaftsabkommens ausgehen, das sich dann aber lediglich durch die größere Intensität und Dauer der zu knüpfenden Bande von einem Handelsabkommen der Gemeinschaft im Sinne des Art. 113 EWGV unterscheidet. Hieraus ergibt sich die Anwendbarkeit der allgemeinen Regeln über Gemeinschaftsabkommen wie Art. 228 EWGV. In der Sache setzte sich anläßlich des Griechenlandabkommens dieser Standpunkt im 8 Vgl. zum folgenden Wohlfarth/Everling/Glaesner/Sprung, Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, Kommentar zum Vertrag, 1960, Art. 228 Anm. 14 ff.; Art. 238 Anm. 4; v. d. Groeben/v. Boeckh, Kommentar zum EWG-Vertrag, 1960, Art. 228 D 3.

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wesentlichen auch durch; die Kommission wurde vom Rat mit der Verhandlungsführung gemäß Art. 238 EWGV und unter Berücksichtigung des Verfahrens nach Art. 228 EWGV beauftragt. Eine hiermit zusammenhängende schwierige Frage betraf den Inhalt und das Ausmaß der Befugnis der Kommission zur Verhandlungsführung. In Art. 228, 238 EWGV fehlt eine Art. 111 Abs. 2 (2) EWGV oder auch Art. 113 Abs. 3 (2) entsprechende Bestimmung, die beim Abschluß von Zoll- oder Handelsabkommen die Verhandlungsführung der Kommission in den Rahmen von Richtlinien stellt, die ihr der Rat erteilt. Hieraus kann jedoch schwerlich in einem einfachen Umkehrschluß gefolgert werden, daß die Kommission bei der Aushandlung von Assoziierungsabkommen die von der Gemeinschaft und eventuell ihren Mitgliedstaaten gegenüber dem Assoziierungspartner einzugehenden Verpflichtungen nach eigenem Ermessen festlegen kann. Eine solche Konsequenz wäre schon deshalb überraschend, weil die Verpflichtungen im Rahmen eines Assoziierungsabkommens in aller Regel tiefergreifend als bei Zoll- oder Handelsabkommen sein werden und durchweg auf die Einbeziehung des Assoziierungspartners in eine auf Dauer angelegte Zollunion, Freihandelszone oder sonstige Präferenzzone hinauslaufen dürften9. Man kann daher kaum annehmen, daß es dem Sinn des EWG-Vertrags entspricht, daß die Mitgliedstaaten auf die nähere Gestaltung eines solchen Vertrags, der sie über ihre Mitgliedschaft in der Gemeinschaft langfristig bindet, gänzlich verzichten wollten. Dies wäre aber der Fall, wenn die Kommission ein Assoziierungsabkommen ohne Abstimmung mit dem Rat aushandeln und diesem lediglich das Ergebnis zur Entscheidung über den Abschluß vorlegen könnte; denn zu diesem Zeitpunkt sind weit491 greifende Änderungen des ausgehandelten Ergebnisses kaum noch mög- j lich. Man wird aber aus dem allgemeinen Verhältnis zwischen Verhandlungsführer und Abschlußbevollmächtigtem10 auch mangels ausdrücklicher Bestimmungen folgern können, daß der Verhandlungsführer als der Treuhänder desjenigen, für den er die Verpflichtungen vorbereitet, nicht gegen dessen Willen, sondern vielmehr nur in allgemeiner Übereinstimmung mit seinen Vorstellungen handeln darf. Nur in dieser Weise wird auch dem allgemeinen Grundsatz Genüge getan, der dem EWG-Vertrag verschiedentlich entnommen werden kann (Art. 6, 162 EWGV), daß die Organe der Gemeinschaft in Fragen, welche die Gemeinschaft und ihre Mitgliedstaaten als ganzes betreffen, zusammenwirken müssen, weil angesichts der differenzierten Zuständigkeitsverteilung innerhalb der Gemeinschaft nur so eine effektive Willensbildung erreicht werden kann. Insofern sind 9

Wohlfarth/Everling/Glaesner/Sprung (Anm. 8), Art. 228 Anm. 16. Vgl. hierzu etwa Oppenheim/Lauterpacht, International Law, 8. Aufl. 1955, § 495. Gewisse Parallelen bietet im deutschen Staatsrecht der Weimarer Zeit die sachliche Prüfungsbefugnis des Reichspräsidenten gegenüber den von der Reichsregierung ausgehandelten Verträgen (Art. 45 WRV); vgl. Pohl, in: Handbuch des deutschen Staatsrechts (1930) Bd. 1, 492. 10

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Art. 111 Abs. 2 (2), Art. 113 Abs. 3 (2) EWGV lediglich besonders ausgeprägte Beispiele dieser Verpflichtung. Bei der Aushandlung von Assoziierungsabkommen besteht auch ohne ausdrückliche Vorschrift eine grundsätzliche Pflicht der Kommission zur Herstellung des Einvernehmens mit dem Rat über den Inhalt der Verhandlungsführung. Angesichts des besonders umfänglichen Charakters von Assoziierungsverhandlungen braucht diese Verpflichtung allerdings nicht in genau demselben Umfang wie bei Art. 111, 113 EWGV als Gebundenheit an detaillierte Richtlinien für jede Einzelheit der Verhandlung ausgelegt zu werden. Der Verlauf der Griechenlandverhandlungen hat diese Grundsätze in der Praxis weithin bestätigt. Die EWG-Kommission hat nach erkundenden Vorgesprächen mit den griechischen Bevollmächtigten auf Grund eines Mandats des Rates die eigentlichen Verhandlungen eingeleitet und sich während deren mehr als einjährigem Verlauf über viele Fragen mit dem Rat und einem von diesem eingesetzten Besonderen Ausschuß verständigt. II. Beendigung der Verhandlungsphase Die Kompetenzverteilung zwischen den Organen der EWG warf auch bei der Durchführung der in der Abschlußphase des Assoziierungsabkommens seitens der Gemeinschaft notwendigen Rechtsakte einige Probleme auf. Am 30. März 1961 gelang es der EWG-Kommission und den Vertretern der Griechischen Regierung, sich abschließend über einen Text des Assoziierungsabkommens zu einigen und die Verhandlungsphase hiermit zu been- j den. Das Ergebnis der 492 Verhandlungen wurde von beiden Seiten paraphiert. In einer anschließenden Erörterung innerhalb der Gemeinschaft wurde ausdrücklich festgestellt, daß es sich bei diesem Vorgang um eine Paraphierung im strengen Sinne gehandelt habe, d. h. um eine Feststellung des Verhandlungsergebnisses ohne eine auch nur vorläufige rechtliche Bindung der Partner11. Zu einer darüber hinausgehenden Verpflichtung der Gemeinschaft hätte die Kommission einer besonderen Bevollmächtigung des Rats bedurft, da dies über ihre Befugnisse als Verhandlungsführer hinausgegangen wäre12. Innerhalb der Gemeinschaft wurde z. T. sogar der Standpunkt vertreten, der Verhandlungsführer bedürfe auch zur Paraphierung des Verhandlungsergebnisses der vorherigen Bevollmächtigung oder wenigstens formlosen Zustimmung des Abschlußorgans. Eine solche Ansicht 11 Die Diskussion über diese Frage ergab sich insbesondere auf Grund einer mißverständlichen Fassung in der Mitteilung der EWG-Kommission an die Presse (IP [61] 54 vom 30.3.1961), in der von einer „Unterzeichnung“ des Abkommens durch die Kommission gesprochen wurde. In einer Neufassung dieser Mitteilung (IP [61] 56 vom 5.4.1961) wurde richtiggestellt, daß es sich um eine Paraphierung gehandelt habe. Zur Bedeutung der Paraphierung etwa Dahm (Anm. 7), Bd. 3, 1961, 71. 12 Zumindest im Innenverhältnis gegenüber der Gemeinschaft.

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dürfte jedoch der im Rahmen der Art. 228, 238 EWGV mit einer gewissen Selbständigkeit ausgestatteten Verhandlungsrolle der Kommission nicht gerecht werden. Es sollte innerhalb des Beurteilungsspielraums des mit einem abgegrenzten Mandat ausgestatteten Verhandlungsführers liegen zu entscheiden, ob er ein befriedigendes Ergebnis im Rahmen des ihm erteilten Auftrages erreicht zu haben glaubt. Hat er sich in dieser Annahme getäuscht, ist die Wiederaufnahme der Verhandlungen denkbar. Diese Situation trat bei der abschließenden Behandlung des Griechenlandabkommens ein. Auf Grund der Überprüfung des von der Kommission zunächst ausgehandelten Textes durch den Rat und die EWG-Mitgliedstaaten ergaben sich einige Abänderungswünsche, die zu einer erneuten Verhandlung dieser Punkte mit den Vertretern der Griechischen Regierung führten. So wurde insbesondere der Text des Art. 67 Ass. Abk. über die schiedsgerichtliche Austragung bestimmter aus dem Assoziierungsabkommen sich ergebender Streitfälle zwischen der Paraphierung am 30. März 1961 und der Unterzeichnung durch den Rat am 9. Juli 1961 geändert13. Diese anläßlich der abschließenden Verhandlungen über das Griechenland493 abkommen vollzogene Anwendung der Art. 228, 238 EWGV im Sinne j einer Trennung zwischen der Paraphierung durch den Verhandlungsführer, der sich eine gesonderte Unterzeichnung durch das Abschlußorgan anschließt, dürfte für die weitere Praxis der EWG beim Abschluß von Gemeinschaftsabkommen von besonderer Bedeutung sein. Über die Fälle der Assoziierungsabkommen hinaus müßte diese Übung bei konsequenter Fortführung auch für den Abschluß von Zoll- und Handelsabkommen der Gemeinschaft nach Art. 111, 113, 114, 228 EWGV gelten. Mit dem Abschluß derartiger Abkommen vor allem bei den Zollverhandlungen der Gemeinschaft über den Gemeinsamen Zolltarif mit ihren Partnern im GATT muß bei fortschreitender Festigung der EWG im Verlaufe und nach Beendigung ihrer Übergangszeit (Art. 8 EWGV) in steigendem Maße gerechnet werden. III. Unterzeichnung des Abkommens Die Beendigung der Verhandlungsphase lediglich durch eine Paraphierung seitens der Verhandlungsführer bedingte eine gesonderte Unterzeichnung, mittels deren die Vertragspartner sich verpflichteten, das Ratifizierungsverfahren durchzuführen, um die endgültige völkerrechtliche Bindung an das Abkommen herbeizuführen.

13 Insofern entsprach die Feststellung des Abgeordneten Kreyssig anläßlich der Anhörung des Europäischen Parlaments am 18./19.9.1961 zu dem Assoziierungsabkommen (vgl. Verhandlungen des Europäischen Parlaments. Vorläufige Ausgabe vom 19.9.1961 Nr. 13, 538), daß an dem Text des Abkommens nach Paraphierung durch die Kommission keine Änderungen vorgenommen worden seien, nicht den Tatsachen.

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In diesem Stadium stellte sich die schwierige Vorfrage, ob auf der Seite der EWG als Vertragspartner ausschließlich die Gemeinschaft als selbständige Rechtspersönlichkeit auftreten müßte oder zugleich auch ihre Mitgliedstaaten. Art. 238 EWGV geht zwar von der Konzeption aus, daß Partner der Assoziierungsabkommen an sich nur die Gemeinschaft ist. Angesichts der weitgespannten und nicht immer sehr übersichtlichen Regelungen des Abkommens, das nahezu alle Bereiche des EWG-Vertrags (Zollunion, Beseitigung mengenmäßiger Beschränkungen, Landwirtschaft, Freizügigkeit, Niederlassungsrecht, Dienstleistungsverkehr, Wettbewerbsvorschriften, Steuerregelung, Angleichung der Rechtsvorschriften, Wirtschaftspolitik) in zum Teil abgewandelter Form umfaßt und mit der Einrichtung einer Finanzhilfe für Griechenland gegenüber dem EWGVertrag neue Elemente enthielt, stellte sich jedoch die Frage, ob auch in diesem weiten Umfang die Mitgliedstaaten in Art. 238 EWG der Gemeinschaft eine selbständige Vertragschließungskompetenz für Assoziierungsabkommen übertragen hatten, durch die auch unmittelbar Rechte und Pflichten für die Mitgliedstaaten begründet werden könnten. In der Praxis des Griechenlandabkommens wurde das Problem in einer Weise gelöst, die für die künftige Auslegung des Art. 238 EWGV nur begrenzte Aufschlüsse liefert. Insbesondere infolge der Gewährung der Finanzhilfe an Griechenland im Assoziierungsabkommen, die eine Inanspruch- j nahme der Mit- 494 gliedstaaten voraussetzte, setzte sich die Auffassung durch, das Abkommen bedürfe der Mitunterzeichnung durch die Mitgliedstaaten neben der Gemeinschaft, um eine zweifelsfreie Bindung aller in Frage stehenden Adressaten der Verpflichtungen aus dem Abkommen herzustellen. Gegenüber gewissen Folgerungen, wie sie für den Umfang der Vertragschließungskompetenz der Integrationsgemeinschaften in ihren auswärtigen Beziehungen im Falle der EGKS zum Teil bereits gezogen wurden, mag diese Praxis anläßlich des Griechenlandabkommens als ein Rückschritt erscheinen. Aus den verschiedenen Abkommen, die die EGKS in den vergangenen Jahren geschlossen hatte (u. a. Verkehrsabkommen mit der Schweiz und Österreich, Finanzabkommen mit den USA), obwohl dem EGKS-Vertrag ausdrückliche Zuständigkeiten insoweit nicht zu entnehmen sind14, waren in der völkerrechtlichen Lehre bisweilen weitreichende Schlüsse auf den Umfang der auswärtigen Vertragschließungskompetenz solcher Organisationen gezogen worden. Hierher gehört etwa die Ansicht, daß bei der EGKS die Zuständigkeit in den internationalen Beziehungen der Verteilung der Zuständigkeiten im inneren Bereich entsprechen müßte15. Noch weitergehend hat Monaco für die EWG die These ent-

14 Lediglich für das Assoziierungsabkommen der EGKS mit Großbritannien vom 21.12.1954 findet sich in § 14 des Abkommens über die Übergangsbestimmungen (BGBl. 1952 II 491 ff.) eine ausdrückliche Rechtsgrundlage; die Hohe Behörde tritt hier als Beauftragte der Mitgliedstaaten auf.

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wickelt, nach der der Gemeinschaft die Befähigung zugesprochen werden muß, jedesmal dann in ihren Außenbeziehungen handeln zu können, wenn dies erforderlich sei, um ihr gestellte Aufgaben wahrzunehmen16. Derartige Grundsätze könnten für den Bereich der Assoziierungsabkommen der EWG um so viel eher vertreten werden, als hier der Gemeinschaft durch Art. 238 EWGV eine ausdrückliche Kompetenz verliehen worden ist, deren Ausfüllung nur sinnvoll erscheint, wenn man sie als selbständige Vertragschließungskompetenz begreift. Versteht man die Assoziierung ihrem Wesen nach als eine beschränkte Form des Beitritts, allerdings unter Wahrung der Eigenständigkeit der Assoziierungspartner, so folgt daraus, daß die Gemeinschaft Assoziie495 rungsabkommen über alle Sachgebiete abschließen j kann, die im EWG-Vertrag geregelt sind oder der Natur der Sache nach zu einer Assoziation gehören (z. B. Regelungen über Assoziierungsorgane u. ä.), ohne insoweit einer Beteiligung der Mitgliedstaaten am Abschluß zu bedürfen17. Diese steht nur dann in Frage, wenn das Abkommen Änderungen des EWG-Vertrags mit sich bringt, für die Art. 238 Abs. 3 EWGV folgerichtig die Anwendung des allgemeinen Vertragsänderungsverfahrens nach Art. 236 EWGV vorsieht, oder in Fällen, in denen das Assoziierungsabkommen Materien regelt, die außerhalb der Gebiete des EWG-Vertrags liegen. Der letztgenannte Fall dürfte bei der Gewährung der Finanzhilfe an Griechenland im Rahmen des Assoziierungsabkommens tatsächlich gegeben sein, da man auch angesichts des Bestehens des EWG-Entwicklungsfonds im Assoziierungssystem des Vierten Teils des EWG-Vertrags die Gewährung einer Finanzhilfe nicht als typischen Bestandteil jedes „Assoziierungssystems mit gegenseitigen Rechten und Pflichten“ im Sinne des Art. 238 EWGV wird ansehen können. Hier erweist sich die Mitwirkung der Mitgliedstaaten als 15 Vgl. zu dem Problemkreis de Soto, Les relations internationales de la Communauté Européenne du Charbon et de l’Acier (Recueil des Cours Bd. 90, 1956, 29 ff.); Hallier, Die Vertragschließungsbefugnisse der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (ZaöRV 17 [1956/57], 441); Monaco, Les relations extérieures de la C.E.C.A. (Annuaire Européen 4, 65 ff.); Wengler, Die völkerrechtliche Stellung der Montanunion gegenüber dritten Staaten und Staatenverbänden (Actes officiels du Congrès International d’Études sur la Communauté Européenne du Charbon et de l’Acier Bd. 3, 1958, 7 ff.). 16 Monaco, Caratteri istituzionali della C.E.E. (Rivista di diritto internazionale, 1958, 47). 17 Bei der Diskussion im Kreise der Mitgliedstaaten wurden gegenüber der oben dargelegten Auffassung z. T. wesentlich zurückhaltendere Auslegungen des Art. 238 EWGV vertreten: a) Die Gemeinschaft kann nach Art. 238 Assoziierungsabkommen nur im Rahmen ihrer ausdrücklich zuerkannten Außenbefugnisse abschließen. b) Die Gemeinschaft hat Befugnisse zum selbständigen Abschluß von Assoziierungsabkommen nur, soweit ihr von den Mitgliedstaaten eine Befugnis zur Regelung von Materien im inneren Bereich übertragen wurde. – Eine ausführlichere Behandlung dieser in manchem angreifbaren Thesen ist hier nicht möglich. Für das Griechenlandabkommen wurde die Frage schließlich durch die Mitunterzeichnung der Mitgliedstaaten als hinreichend gelöst angesehen. Je nach dem einzelnen Standpunkt kam dann allerdings dieser Unterzeichnung durch die Mitgliedstaaten eine verschiedene Bedeutung zu.

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notwendig. Sie kann entweder dadurch erfolgen, daß die Gemeinschaft auf Grund entsprechender Vollmachten zugleich im Namen der Mitgliedstaaten handelt oder indem die Mitgliedstaaten neben der Gemeinschaft als Vertragspartner auftreten. Bei dem Griechenlandabkommen entschied man sich für den zweiten Weg. In der Präambel des Abkommens sind die Staatshäupter der Mitgliedstaaten sogar vor dem Rat der EWG genannt, eine äußerliche Akzentverschiebung, die an dem sachlichen Primat der Unterzeichnung durch die Gemeinschaft nichts ändert18. In engem Zusammenhang mit der Frage der Mitunterzeichnung des Assoziierungsabkommens durch die Mitgliedstaaten stand das weitere Problem, ob das Abkommen förmliche Änderungen des EWG-Vertrags enthalte. Die Frage war insbesondere von Bedeutung, weil dann gemäß Art. 238 Abs. 3 EWGV die Einleitung des Verfahrens zur Änderung des EWG- j Vertrags nach Art. 236 496 EWGV vor dem Abschluß des Assoziierungsabkommens erforderlich gewesen wäre. Die Diskussion über diese Frage war jedoch dadurch aufs äußerste erschwert, daß zwischen den Mitgliedstaaten keine Einigung darüber herrschte, in welchen Bestimmungen des weitverzweigten Assoziierungssystems unter Umständen eine Änderung des EWG-Vertrags erblickt werden könnte. So mochte es zweifelhaft sein, ob die in den Protokollen Nr. 15 und 17 zum Assoziierungsabkommen eingegangenen Verpflichtungen zum vorzeitigen Abbau der Binnenzölle für Rohtabak, Tabakabfälle und getrocknete Weintrauben, verbunden mit der Angleichung dieser Zölle an den Gemeinsamen Zolltarif nach Art. 23 EWGV und ihrem Abbau gegenüber Griechenland bis spätestens zum 31. Dezember 1967, voll durch die Ermächtigungen der Art. 15 Abs. 2, 24 EWGV zur Beschleunigung der innerhalb der Gemeinschaft während der Übergangszeit zu treffenden Zollmaßnahmen gedeckt waren19. Diese und ähnliche bei einer Durchsicht des Assoziierungsabkommens auftretenden Zweifel20 legten zeitweilig den Gedanken nahe, durch ein Änderungsab18 Sie wurde gewählt, da der EWG-Rat sich aus Ministern zusammensetzt, die im Range den Staatshäuptern nachstehen. 19 Weiterhin standen in diesem Zusammenhang zeitweilig die Bestimmungen des Protokolls Nr. 16 zur Diskussion, die Griechenland über seine Mitwirkung im Assoziationsrat einen gewissen Einfluß auf die Gestaltung der Gemeinsamen Agrarpolitik der EWG für Tabak einräumen. Ferner wurde die Einordnung der Finanzhilfe (Prot. Nr. 19) an Griechenland im Rahmen der Assoziierung in diesem Zusammenhang diskutiert. 20 Die eigentliche Schwierigkeit, etwaige Vertragsänderungen festzustellen, hing damit zusammen, daß es den Mitgliedstaaten nicht möglich gewesen war, sich über das Ausmaß der Vertragschließungskompetenz der Gemeinschaft nach Art. 238 EWGV zu einigen, wie oben bereits umrissen wurde. Die schwierige Frage kann hier nur angedeutet werden. Je nachdem, ob man in Art. 238 EWGV die Kompetenz der Gemeinschaft auf die Fälle ihrer ausdrücklich geregelten Zuständigkeit für die Außenbeziehung, auf alle ihr im EWG-Vertrag auch für den Innenbereich übertragenen Rechtsetzungskompetenzen, auf die Sachgebiete des EWG-Vertrags überhaupt oder gar auf alle

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kommen zum EWG-Vertrag im Verfahren des Art. 236 EWGV mittels einer Generalklausel alle etwaigen im Assoziierungsabkommen enthaltenen EWGVertragsänderungen durch die Mitgliedstaaten beschließen zu lassen. Eine derart unbestimmte Formel wäre allerdings schon im Hinblick auf etwaige künftige Änderungen des Assoziierungsabkommens nicht sehr befriedigend gewesen21. 497 Solche Überlegungen, aber j auch das politische Bestreben, den Inhalt des EWG-Vertrags gegenüber den Sonderwünschen anderer Assoziierungspartner nicht allzu offensichtlich zur Disposition zu stellen, ließen den Plan eines Änderungsabkommens nach Art. 238 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 236 EWGV nicht zur Ausführung gelangen. Angesichts der Mitunterzeichnung und Ratifizierung des Assoziierungsabkommens durch die Mitgliedstaaten neben der Gemeinschaft verloren außerdem etwaige Zweifel an der völkerrechtlich wirksamen Genehmigung eventueller Änderungen des EWG-Vertrags durch das Assoziierungsabkommen an Gewicht. Nach einer in der neueren Literatur insbesondere von Carstens zum EGKS-Vertrage vertretenen Auffassung22 bleiben die Partner eines multilateralen Integrationsvertrags, der zur Einrichtung einer selbständigen, von den Mitgliedstaaten unterschiedenen und auf Dauer angelegten internationalen Gemeinschaft geführt hat, auch bei der Vereinbarung bestimmter Verfahren für die Revision in dem Vertrage in einem letzten Sinne immer noch die „Herren dieses Vertrages“. Man kann sie wenigstens bei einstimmigem Konsens als legitimiert ansehen, an der kraft ihres Willens entstandenen und ihre Existenz aus ihnen ableitenden Gemeinschaft auch außerhalb eines spezifischen, im Gründungsvertrage enthaltenen Änderungsverfahrens Umgestaltungen vorzunehmen, sofern diese in allgemein völkerrechtlich wirksamer Weise, z. B. durch ein Staatenabkommen erfolgen, das in seiner Rechtsqualität dem ursprünglichen Gemeinschaftsvertrag gleichwertig ist. Es ist hier nicht der Ort, die unterschiedlose Anwendbarkeit bei einer Assoziierung zweckdienlicherweise zu regelnden Materien für gegeben ansieht, ergeben sich verschiedenartige Rückschlüsse auf etwaige Änderungen des EWG-Vertrags durch das Assoziierungsabkommen. Bei einem umfangreichen Abkommen wie im Falle Griechenlands sind die sich aus dieser verschiedenartigen Sicht ergebenden Auslegungsdifferenzen kaum überschaubar. Es ist auch zu berücksichtigen, daß in der Praxis der Gemeinschaft mit den sechs Mitgliedstaaten und der Kommission sieben verschiedene Partner an dieser Auslegung beteiligt sind, deren Interessen bei dem Abschluß derart bedeutsamer Abkommen auch politisch und wirtschaftlich verschieden gelagert sind, was den von ihnen eingenommenen völkerrechtlichen Standpunkt beeinflußt. 21 Für die Bundesregierung hätten sich möglicherweise Zweifel im Hinblick auf die mangelnde Konkretisierung des Bezugs auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung im Sinne des Art. 59 Abs. 2 GG ergeben können. Vgl. Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Art. 59 Anm. 17. 22 Carstens, Die kleine Revision des Vertrages über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (ZaöRV 21 [1961], 1 ff., bes. 6, 23) unter Berufung auf Jerusalem, Schlochauer, De Visscher, Scheuner, Much, Scelle (Zitate ebd., 6, 8) und die Staatenpraxis zur EGKS (ebd., 8).

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eines so weitreichenden Grundsatzes auf eine sich entwickelnde Integrationsgemeinschaft wie die EWG im einzelnen zu untersuchen23. In dem Fall des Griechenlandabkommens, wo der inhaltliche Bestand der Vertragsänderung auf Grund der unterschiedlichen Auslegung j des Art. 238 EWGV ambivalent er- 498 scheint, könnte der Gedanke an eine Bestätigung der Lückenlosigkeit der von den Assoziierungspartnern eingegangenen Rechte und Verpflichtungen durch die Mitwirkung der EWG-Mitgliedstaaten geeignet sein, die völkerrechtliche Wirksamkeit aller Bestimmungen des Abkommens eindeutig klarzustellen. In der Zusammenschau bietet die Anwendung des Art. 238 EWGV bei den Fragen um die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens EWG – Griechenland noch keine allzu genauen Aufschlüsse über die Auslegung dieser Bestimmung in der völkerrechtlichen Praxis der Gemeinschaft. Der vorherrschende Eindruck bleibt eine gewisse Unsicherheit über den Umfang der Vertragschließungskompetenz der Gemeinschaft. Sie bedingte in gesteigertem Maße die Beteiligung der Mitgliedstaaten am Abschluß des Abkommens. IV. Anhörung des Europäischen Parlaments und Abschluß des Abkommens Am 9. Juli 1961 unterzeichneten die Bevollmächtigten der Gemeinschaft und ihrer Mitgliedstaaten in Athen das Assoziierungsabkommen. Im Anschluß wurde es dem Europäischen Parlament vorgelegt, das hierüber am 18. und 19. September 1961 beriet und eine im wesentlichen positive Stellungnahme zu dem Inhalt des Abkommens abgab. Am 25. September 1961 vollzog der Rat durch einen besonderen Beschluß den Abschluß des Abkommens24. Die Anhörung des Parlaments erfolgte nach Art. 238 Abs. 2 EWGV, wonach die Assoziierungsabkommen „nach Anhörung der Versammlung einstimmig vom Rat beschlossen werden“. Die Tatsache, daß der Rat diese Bestimmung bei ihrer ersten Anwendung in dem Sinn interpretierte, daß er das Abkommen erst nach der Unterzeichnung dem Parlament vorlegte, führte zu einer rechtlichen Kontroverse zwischen den beiden Institutionen der Gemeinschaft. Das Par23 Gewisse Gefahren einer unterschiedslosen Anerkennung dieser Auffassung sind nicht zu übersehen. Die durch den völkerrechtlichen Vertrag in Übereinstimmung der Gründer geschaffenen Gebilde können hierbei leicht zu einer Art „Geschöpf“ derselben denaturiert werden, über die diese nach Belieben verfügen. Eine solche Vorstellung erweckt gerade bei einer auf unbegrenzte Zeit (Art. 240 EWGV) abgeschlossenen Gemeinschaft wie der EWG gewisse Bedenken, die nach den Vorstellungen des Vertrags im Verlaufe einer Übergangszeit sich zu einem zunehmenden Eigenleben (vgI. z. B. die selbständige Finanzierung nach Art. 201 EWGV) entwickeln soll. Möglicherweise wird man daher nach dem Grad der Verselbständigung der Gemeinschaften differenzieren müssen. 24 Text des Ratsbeschlusses in: Verhandlungen des Europäischen Parlaments, a. a. O. 1961 Nr. 21 vom 22.11.1961, 976.

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lament, das durch die Unterrichtung eines Besonderen Ausschusses durch die EWG-Kommission schon vor dem Ende der Verhandlungsphase über den Verfahrensstand jeweils unterrichtet wurde, erblickte in dieser verhältnismäßig späten offiziellen Anhörung zu dem Abkommen eine Beschneidung der ihm durch den EWG-Vertrag eingeräumten Stellung als beratendes Organ. Seitens des Parlaments wurde die Auffassung vertreten, daß seine Anhörung bereits zwischen der Paraphierung durch die Kommission und der Unterzeichnung durch den Rat 499 hätte erfolgen müssen, da eine Anhörung nach der Unterzeichnung ihres j Wertes beraubt sei. Zu diesem Zeitpunkt liege der Abkommenstext bereits definitiv fest und dem Parlament bleibe keine reale Möglichkeit mehr, etwaigen eigenen Änderungswünschen Geltung zu verschaffen. In einem Briefwechsel zwischen dem Präsidenten des Europäischen Parlaments Furler und dem amtierenden Ratspräsidenten Spaak25 traten diese gegensätzlichen Auffassungen zuerst deutlich zutage. Der Rat hielt an seiner Auffassung vom zeitlichen Vorrang der Unterzeichnung vor der Anhörung des Parlaments fest. Anläßlich der Unterzeichnung am 9. Juli 1961 wurde jedoch von der Gemeinschaft ein ausdrücklicher Vorbehalt gemacht, daß ihre endgültige Verpflichtung aus dem Abkommen erst mit der Notifizierung eintreten werde, daß die durch den EWG-Vertrag vorgeschriebenen Verfahren, namentlich die Anhörung des Europäischen Parlaments, stattgefunden hätten26. Gleichwohl wurde die Haltung des Rates in dem Bericht des Abgeordneten Battista, des Vorsitzenden des Ausschusses des Europäischen Parlaments für die Assoziierung Griechenlands mit der EWG, für die Anhörung der Versammlung lebhaft kritisiert27. Ihren Höhepunkt erreichte die Kritik in der Debatte des Parlaments am 18. und 19. September 1961 über das Assoziierungsabkommen, in der das Parlament schließlich einem Entschließungsantrag zustimmte, der dem Rat hinsichtlich des von ihm eingeschlagenen Verfahrens eine Vertragsverletzung vorwarf28. Andererseits wurde in dieser Debatte der Rechtsstandpunkt des Rats von seinem amtierenden Präsidenten Müller-Armack ausführlich dargelegt29. Eine Betrachtung der Argumente, die anläßlich der für die Kompetenzverteilung innerhalb der Gemeinschaft beim Abschluß von Abkommen über die Au25

Brief Präsident Furler vom 10.5.1961; Antwort Präsident Spaak vom 19.5.1961. Der genaue Wortlaut: „Mit dem Vorbehalt, daß für die Gemeinschaft erst dann endgültig eine Verpflichtung besteht, wenn sie der anderen Vertragspartei notifiziert hat, daß die durch den Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vorgeschriebenen Verfahren, namentlich die Anhörung des Europäischen Parlaments, stattgefunden haben.“ 27 Bericht des Nichtständigen Besonderen Ausschusses für die Assoziierung Griechenlands mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Dokument Nr. 61 zur Sitzung des Europäischen Parlaments am 18./19.9.1961. 28 Wortlaut in Bericht Battista (Anm. 27, S. 18). 29 Verhandlungen des Europäischen Parlaments (Anm. 27, 1961 Nr. 13 vom 19.9. 1961, 534 ff.). 26

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ßenbeziehungen aufschlußreichen Auseinandersetzung auf beiden Seiten verwendet wurden, läßt wichtige Gründe für die Übereinstimmung des im Falle des Griechenlandabkommens eingeschlagenen Verfahrens mit dem Art. 238 EWGV zugrunde liegenden System erkennen. Bei aller ge- j botenen Vorsicht 500 bei Vergleichen der Verhältnisse in der Gemeinschaft mit einer staatlichen Rechtsordnung werden hier doch einige Parallelen zu dem Abschlußverfahren internationaler Verträge im innerstaatlichen Bereich sichtbar. Wie dort wird man vor allem den „Abschluß“ des Vertrags im Sinne des Art. 238 Abs. 2 EWGV von seiner Unterzeichnung zu unterscheiden haben. Der Sinn der Unterzeichnung liegt hier darin, daß einmal der Text des Abkommens endgültig festgelegt wird, und es nunmehr dem Unterzeichnenden obliegt, die nach seinem Recht noch notwendigen Verfahren zur Inkraftsetzung des Abkommens durchzuführen. Diese Verfahren umfassen im Rahmen der Gemeinschaft die Anhörung des Parlaments und den endgültigen Abschluß durch den Rat nach dieser Anhörung. Erst durch die Notifizierung dieses Beschlusses und die Mitteilung, daß hiermit alle notwendigen Verfahren beendet sind, wird die völkerrechtliche Wirksamkeit des Abkommens begründet. Die Besonderheit im Rahmen des Gemeinschaftsrechts gegenüber der staatlichen Praxis liegt lediglich darin, daß das unterzeichnende und das abschließende Organ in der Institution des Ministerrates identisch ist. Diese Eigentümlichkeit erklärt sich aus dem institutionellen Aufbau der Gemeinschaft, der nicht die Trennung zwischen der Regierung und einer gesonderten Spitze der Exekutive kennt. Der Rat nimmt weitgehend beide Funktionen wahr und ist daher gezwungen, sich anläßlich der Unterzeichnung und beim Abschluß zweimal mit dem Abkommen zu befassen. Dieser Umstand nötigt aber nicht zu einer anderen Interpretation des Art. 238 EWGV. Entscheidend ist hier vielmehr, daß das Parlament vor der eigentlichen völkerrechtlichen Bindung der Gemeinschaft durch den Abschluß und seine Notifizierung gehört wird. Es wirkt insofern in effektiver Weise an der Willensbildung der Gemeinschaft mit. Demgegenüber greift das wesentlichste Argument des Parlaments, wie es auch im Battista-Bericht verwendet wird30, nicht durch. Hiernach weist das Parlament auf das Verfahren des EWG-Vertrags bei der Verabschiedung interner Rechtsakte der Gemeinschaft hin (Verordnungen, Richtlinien usw. im Sinne des Art. 189 EWGV). Insoweit werden allerdings in der Regel die Vorschläge der Kommission dem Parlament vorgelegt, bevor der Rat die Texte abschließend festlegt und beschließt31. Eine einfache Gleichsetzung der Verfahren im internen Bereich der Gemeinschaft und in den Außenbeziehungen übersieht jedoch wesentliche Unter30

Vgl. Bericht Battista (Anm. 27). Vgl. z. B. Art. 43 Abs. 2 EWGV für die auf dem Gebiet der Gemeinsamen Agrarpolitik zu treffende Rechtsetzung. 31

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schiede. Abkommen der Gemeinschaft mit dritten Staaten unterscheiden sich 501 grundsätzlich von der internen Rechtsetzung, bei der die Kom- j mission formelle Vorschläge vorlegt, zu denen das Parlament Stellung nimmt und die der Rat nur einstimmig ändern kann (Art. 149 EWGV)32. Bei Abkommen im Bereich der auswärtigen Beziehungen wird die Kommission dagegen als Verhandlungsführer für die Gemeinschaft tätig, ohne selbst ein Vorschlagsrecht für die materiellen Regelungen zu besitzen. Der Rat als Abschlußorgan muß vielmehr das Verhandlungsergebnis durch die Unterzeichnung endgültig feststellen. Erst nach dieser Unterzeichnung liegt überhaupt ein Abkommenstext vor, zu dem die Stellungnahme des Parlaments sinnvoll eingeholt werden kann. Nur durch die Beachtung dieser Verschiedenheiten wird zugleich die Stellung des Europäischen Parlaments nach dem EWG-Vertrag in den traditionellen Rahmen der parlamentarischen Mitwirkung beim Abschluß völkerrechtlicher Verträge gestellt. Daher gibt auch der weitere, vom Parlament herangezogene Gedanke nicht viel her, bei einer Anhörung nach der Unterzeichnung habe das Parlament keine Möglichkeit mehr, eigenen Änderungsvorschlägen vor dem Abschluß der Verhandlungen Geltung zu verschaffen. Es entspricht vielmehr der herkömmlichen Rolle der Parlamente beim Abschluß internationaler Verträge, zu dem durch die Unterzeichnung festgelegten und bejahten Verhandlungsergebnis in einer (positiven oder negativen) Gesamtwürdigung Stellung zu nehmen. Daß dem Europäischen Parlament im Gegensatz zu den entsprechenden nationalen Institutionen dabei nach dem EWG-Vertrag die Möglichkeit versagt ist, durch eine etwaige Verweigerung der Zustimmung den Abschluß des Abkommens zu verhindern, ist eine Konsequenz seiner nach dem System des Vertrags ganz allgemein beschränkten Stellung als Konsultativorgan. Immerhin würde einer etwaigen negativen Stellungnahme des Europäischen Parlaments, auch wenn sie für den Rat nicht bindend ist, durch ihr politisches Gewicht die entsprechende Bedeutung zukommen, so daß der Rat vor dem Beschluß über den endgültigen Abschluß mit den politischen Folgen seines Handelns in deutlicher Weise konfrontiert würde. Im ganzen kann man daher das bei dem Abschluß des Griechenlandabkommens eingeschlagene Verfahren nach Art. 238 Abs. 2 EWGV als vertragskonform ansehen. Zugleich dürfte es politisch der Position gerecht werden, die dem Europäischen Parlament innerhalb der Gemeinschaft gegenwärtig zugewiesen ist, indem es die Stellung des Parlaments in dem durch den Vertrag abgesteckten Rahmen weitmöglichst an diejenige nationaler gesetzgebender Körperschaften angleicht. Die neben der Anhörung des Europäischen Parlaments infolge der beim j 502 Griechenlandabkommen beschlossenen Mitwirkung der Mitgliedstaaten notwen32

Vgl. hierzu Dahm, Völkerrecht Bd. 2, 680.

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dige Beteiligung der nationalen Parlamente vollzieht sich nach den verfassungsrechtlichen Vorschriften der Unterzeichnerstaaten (Art. 75 Ass. Abk.). Hier muß allerdings der Tatsache Rechnung getragen werden, daß diese Mitwirkung lediglich wegen begrenzter in dem Abkommen enthaltener Regelungen notwendig war, während der wesentliche Beitrag zum Inkrafttreten des Abkommens von der Gemeinschaft nach Art. 238 EWGV geleistet wird. Dieser neuartigen Verschränkung des gemeinschaftsrechtlichen und des nationalen Ratifizierungsverfahrens trägt Art. 1 des Entwurfs des deutschen Zustimmungsgesetzes zu dem Assoziierungsabkommen Rechnung33, wenn hiernach die für die Bundesgesetzgebung zuständigen Körperschaften dem Abkommen „insoweit“ zustimmen, als die Zuständigkeit der EWG zum Abschluß überschritten ist. Diese generelle Formulierung löst allerdings die Frage der Abgrenzung der Teile des Assoziierungsabkommens, die unter die alleinige Zuständigkeit der Gemeinschaft fallen, von denjenigen, um derentwillen die Mitwirkung der Mitgliedstaaten beim Abschluß notwendig ist, nicht vollkommen. Es sind insbesondere Schwierigkeiten in Fällen künftiger Änderungen des Assoziierungsabkommens denkbar, wenn festgestellt werden soll, ob bei derartigen Änderungen das Verfahren nach Art. 238 EWGV ausreicht oder wiederum die Mitgliedstaaten beteiligt werden müssen. Angesichts der von den Mitgliedstaaten nicht abschließend gelösten Abgrenzung der Vertragschließungskompetenz der Gemeinschaft im Sinne des Art. 238 EWGV wäre jedoch eine genauere Trennung der beiden Bereiche im nationalen Zustimmungsgesetz schwer denkbar gewesen. Man wird die künftige Praxis bei weiteren Gemeinschaftsabkommen, auch im Bereich der Handelspolitik nach Art. 111, 114, 228 EWGV, abwarten müssen, um zu sehen, ob weitere, zugleich dogmatisch befriedigende und praktikable Verfeinerungen in der Scheidung der nationalen von der Gemeinschaftsmaterie möglich sind. V. Grundzüge des Abkommens, besonders die Verbindung der Assoziation mit der EWG Eine ausführliche Würdigung des Inhalts des Assoziierungsabkommens und der dazugehörigen gemeinschaftsinternen Nebenabkommen ist hier nicht möglich34. Immerhin gestattet ein Umriß der das Abkommen tragen- j den Grund- 503 sätze, das Gebilde der Assoziation zwischen der EWG und Griechenland auch völkerrechtlich etwas genauer zu erfassen. Ihr vielleicht bedeutsamstes Krite33 Z. Z. noch nicht veröffentlicht. Es werden Gegenstände der Bundesgesetzgebung im Sinne von Art. 59 Abs. 2 GG vor allem infolge der in dem Abkommen enthaltenen Finanzhilfe an Griechenland berührt (Art. 115 GG). 34 Für eine erste zusammenfassende Übersicht vgl. L’Association de la Grèce au Marché Commun (Revue du Marché Commun 1961, 221 ff.; ohne Verfasserangabe); Welter, Griechenland und die Europäische Integration. Die Assoziierung Griechenlands mit der EWG als Beispiel europäischer Entwicklungshilfe (Europa-Archiv 1961, 417 ff.).

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rium ist der strenge Bilateralismus, der das ganze Abkommen durchzieht. Es handelt sich um einen Vertrag zwischen im wesentlichen zwei sich rechtlich gleichgeordnet gegenübertretenden Partnern: der Gemeinschaft und Griechenland35. Die Beziehungen, in die diese beiden Rechtssubjekte durch die Gründung einer Assoziation (Art. 1 Ass. Abk.) zueinander treten, unterscheiden sich etwa von der Gründung der EWG dadurch, daß hier nicht noch einmal eine neue Gemeinschaft als eigene Rechtspersönlichkeit gegründet wird. Die Assoziierungspartner übernehmen vielmehr mit der Assoziation ein überaus vielschichtiges und über herkömmliche Handelsbeziehungen hinausgehendes Bündel wirtschaftlicher Rechte und Verpflichtungen, die sich jedoch grundsätzlich im Rahmen zweiseitiger völkerrechtlicher Beziehungen unter Wahrung der Eigenständigkeit der Partner halten. Ergänzt wird dieses bilaterale Vertragssystem allerdings durch den weiteren dem Abkommen zugrunde liegenden Gedanken, daß die Assoziation ungeachtet des zunächst gleichberechtigten Gegenübertretens der Partner dazu dienen soll, Griechenland darauf vorzubereiten, zu einem späteren Zeitpunkt den vollen Beitritt zur EWG zu ermöglichen (Art. 72 Ass. Abk.). Diese den Assoziierungsbeziehungen EWG – Griechenland innewohnende Tendenz unterscheidet sie qualitativ am schärfsten von traditionellen handelsvertraglichen Beziehungen zwischen zwei Staaten und weist die Assoziation als eine Art beschränkten Beitritt zur Gemeinschaft aus. Weiterhin war es das Bestreben der Abkommensparteien, während der grundsätzlich unbestimmten Dauer der Assoziation36 die Autonomie der EWG im Verhältnis zu Griechenland zu erhalten, um hemmende Einflüsse auf die Entwicklung der Gemeinschaft während ihrer Übergangszeit möglichst auszuschalten. Daher sind Bestimmungen wie das Protokoll Nr. 10 über die Änderung des Gemeinsamen Zolltarifs bei einigen Griechenland interessierenden Produkten oder wie das Protokoll Nr. 16 über die gemeinsame Agrarpolitik für Tabak, die Griechenland über seine Mitwirkung im Assoziationsrat einen gewissen Einfluß 504 auf die Festlegung oder Änderung j des Gemeinsamen Zolltarifs beziehungsweise der Gemeinsamen Agrarpolitik der EWG insbesondere für Tabak ermöglichen, seltene Ausnahmen. Im Ministerrat der EWG wurde auf der Sitzung vom 19. Mai 1961 bei der Behandlung dieser Punkte zugleich betont, daß diese Regelungen außergewöhnliche Maßnahmen darstellen, die sich aus der besonderen Bedeutung bestimmter Erzeugnisse für die griechische Wirtschaft erklärten und keinen Präzedenzfall für andere Assoziationen darstellen könnten. 35 Der Mitwirkung der Mitgliedstaaten am Abschluß kommt in diesem Zusammenhang keine wesentliche Bedeutung zu. 36 Eine Art. 240 EWGV entsprechende Vorschrift fehlt im Assoziierungsabkommen ebenso wie eine zeitliche Begrenzung im Sinne des Art. 97 EGKS-Vertrag. Art. 72 Ass. Abk., der die Prüfung eines Beitritts Griechenlands zur EWG vorsieht, sobald das Funktionieren des Assoziierungsabkommens eine solche Aussicht gestattet, kann aber entnommen werden, daß die Assoziierung zunächst auf unbestimmte Zeit gedacht ist.

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Von dem Grundgedanken ausgehend, daß die Assoziierung eine im Vergleich zum Beitritt beschränktere Form der völkerrechtlichen Verbindung eines dritten Staates mit der EWG ist, durchzieht der weitere Grundsatz das Assoziierungsabkommen, daß Griechenland von der Gemeinschaft keine bessere Behandlung zugestanden werden konnte, als die Mitgliedstaaten der EWG sich selbst bei der Gründung der Gemeinschaft gewährt hatten. Wenn man das Assoziierungsabkommen als einen „EWG-Vertrag in vereinfachter Form“ verstehen kann, bildeten damit die Rechte und Pflichten der Mitgliedstaaten untereinander die Grenze dessen, was die Gemeinschaft dem Assoziierungspartner im Rahmen des Art. 238 EWGV an Vorteilen konzedieren zu können glaubte. Dies schließt allerdings nicht aus, daß Griechenland in dem Abkommen, das nach seiner Präambel u. a. der „Verringerung des Abstandes zwischen der griechischen Wirtschaft und der Wirtschaft der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft dienen“ soll, einige Vorleistungen gemacht wurden, um seinen späteren Beitritt zu erleichtern. Im Rahmen dieser Grundsätze knüpfte das Assoziierungsabkommen bis in die Formulierung vieler Artikel hinein an die Lösungen des EWG-Vertrags an. Die Assoziation gründet sich auf die Errichtung einer Zollunion zwischen der EWG und Griechenland (Art. 2 Ass. Abk.) mit Abbau der Binnenzölle, einem Gemeinsamen Zolltarif (Angleichung des griechischen Zolltarifs an den Gemeinsamen Zolltarif der EWG) und Abbau der Kontingente (Art. 6 ff., 12 ff., 20 ff., 22 ff. Ass. Abk.)37. Dabei läßt die EWG ihren internen Zoll- und Kontingenteabbau Griechenland voll zugute kommen, während die griechischen Zölle und Kontingente für 60% des griechischen Einfuhrvolumens in einer Übergangszeit von 12 Jahren und für 40% in einer zweiten Übergangszeit von 22 Jahren abgebaut werden. Bei den griechischen Hauptausfuhrprodukten (Tabak und getrocknete Weintrauben) werden die Binnenzölle der Gemeinschaft bei Inkrafttreten des j Assoziierungsabkommens um 50% gesenkt, und schon 505 bis Ende 1967 wird der Gemeinsame Zolltarif eingeführt, wodurch sich eine beschleunigte griechische Präferenz auf dem Gemeinsamen Markt ergibt (Protokolle Nr. 15 und 17 zum Ass. Abk.). Die Schutzbedürftigkeit bestimmter griechischer Wirtschaftszweige wird durch Schutzklauseln (bes. Art. 68 Ass. Abk.) und eine Reihe von Sonderprotokollen zum Abkommen berücksichtigt. Zum Schutz neuer Industrien darf Griechenland zeitweilig neue Zölle gegenüber der EWG einführen und bestehende erhöhen. Gegenüber dritten Staaten außerhalb der EWG kann Griechenland in beschränktem Maße und mit Zustimmung der EWG Zollkontingente gewähren. 37 Hieraus ergibt sich eine Verpflichtung der EWG-Mitgliedstaaten und Griechenlands als Mitglieder des GATT, das Abkommen nach Art. XXIV GATT den Partnern des allgemeinen Abkommens zu einer Prüfung vorzulegen, ob den GATT-rechtlichen Erfordernissen einer Zollunion bei der Gestaltung der durch die Assoziierung gewährten Präferenzen Genüge getan ist.

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Die Assoziation erstreckt sich auch auf die Landwirtschaft und den Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen (Art. 32 ff. Ass. Abk.). Die Landwirtschaft wird mittels einer Sonderregelung in das Abkommen einbezogen. Es ist eine Harmonisierung der griechischen Agrarpolitik mit der Gemeinsamen Agrarpolitik der EWG vorgesehen. Bis zu diesem Zeitpunkt wendet die Gemeinschaft auf griechische Ausfuhrprodukte im wesentlichen das im EWG-Vertrag bestimmte Verfahren für den Zoll- und Kontingentabbau an. Bei der Ausarbeitung der Gemeinsamen Agrarpolitik für Tabak erhält Griechenland das erwähnte Einflußrecht (Protokoll Nr. 16 zum Ass. Abk.). In dem Abkommen sind ferner gegenüber den entsprechenden Bestimmungen des EWG-Vertrags vereinfachte und sinngemäß angepaßte Regelungen für die meisten der im EWG-Vertrag enthaltenen Materien vorgesehen (Freizügigkeit, Niederlassung und Dienstleistungsverkehr: Art. 44 ff.; Wettbewerbsregeln, Steuerharmonisierung, Angleichung der Rechtsvorschriften: Art. 51 ff.; Wirtschaftspolitik einschließlich Handelspolitik: Art. 58 ff. Ass. Abk.). Es enthält insofern über eine reine Zollunion hinaus Ansätze zu einer Wirtschaftsunion nach der Art des EWG-Vertrags. Ferner wird Griechenland nach dem Protokoll Nr. 19 zum Assoziierungsabkommen eine Finanzhilfe für Investitionsvorhaben in Höhe von 125 Millionen US-Dollar innerhalb von fünf Jahren gewährt. Die Aufbringung dieser Finanzhilfe unter Einschaltung der Europäischen Investitionsbank (Art. 129 f. EWGV) als Kreditbeauftragte der Mitgliedstaaten regelt ein besonderes internes Abkommen der EWG-Mitgliedstaaten über das Finanzprotokoll, das gleichzeitig mit dem Assoziierungsabkommen am 9. Juli 1961 unterzeichnet wurde. Die Verwirklichung der auf Grund des Abkommens zu treffenden Maßnahmen ist in die Hände eines Assoziationsrates gelegt (Art. 65 ff. Ass. Abk.). In den institutionellen Bestimmungen des Abkommens kommt der bilaterale Cha506 rakter der Assoziation wieder deutlich zum Ausdruck. Ein j der EWG-Kommission vergleichbares Assoziierungsorgan ist nicht vorgesehen38. Der Assoziationsrat, der seine Beschlüsse und Empfehlungen einstimmig faßt, ist aus zwei Parteien zusammengesetzt, die einerseits Mitglieder der griechischen Regierung, andererseits Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten, des Rates und der Kommission der EWG umfassen. Jede der beiden Seiten des Assoziationsrates verfügt über eine Stimme. Der Assoziationsrat gibt sich eine Geschäftsordnung. In dem vorliegenden Entwurf ist vorgesehen, daß der Assoziationsrat sowohl auf Ministerebene als auch in Gestalt der Stellvertreter der Minister tagen kann. Besondere Probleme stellten angesichts dieser Zusammensetzung der EWGSeite des Assoziationsrates sowohl die Vorbereitung der Haltung der Gemein38 Die EWG-Kommission ist nach Art. 65 Abs. 3 Ass. Abk. lediglich neben den Mitgliedstaaten Mitglied des Assoziationsrates.

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schaft in diesem Gremium als auch die einheitliche Stimmabgabe und die spätere Durchführung von Assoziationsratsbeschlüssen seitens der EWG und ihrer Mitgliedstaaten dar. Zur Regelung dieser Fragen wurde ein zweites internes Abkommen der EWG-Mitgliedstaaten über die zur Durchführung des Assoziierungsabkommens zu treffenden Maßnahmen und die dabei anzuwendenden Verfahren geschlossen39. Hiernach soll die vorherige Festlegung der Haltung der Gemeinschaft im Assoziationsrat mit Ausnahme der Fragen im Bereich der Handelspolitik einstimmig nach Anhörung der Kommission durch den EWGRat oder die im Rat vereinigten Vertreter der Mitgliedsregierungen erfolgen40. An sich hätte es wegen der allgemeinen möglichst weitgehenden Angleichung des Assoziierungsabkommens an den EWG-Vertrag nahe gelegen, hier durchweg auf die entsprechenden Regelungen der Mehrheitsverhältnisse im EWGVertrag zu verweisen. Eine solche Lösung hätte jedoch zu Schwierigkeiten in der praktischen Anwendung führen können, da nach dem EWG-Vertrag die Mehrheitsverhältnisse beim Erlaß der in den einzelnen Vertragsgebieten zu treffenden Rechtsakte während der Übergangszeit der EWG sich ändern. Nach Art. 5 Abs. 2 des internen Abkommens ist jedoch am Ende der zweiten Stufe der EWG-Übergangszeit eine obligatorische Revision des Abkommens vorgesehen, die nach einer beigefügten Absichtserklärung der Unterzeichnerstaaten das Ziel haben soll, das Verfahren nach dem internen Abkommen möglichst dem des EWG-Vertrags anzugleichen. Die Wahl des Zeitpunktes erklärt j sich dar- 507 aus, daß am Ende der zweiten Stufe nach dem EWG-Vertrag die wichtigsten Änderungen der Mehrheitsverhältnisse von der Einstimmigkeit zur Mehrheitsentscheidung im EWG-Rat getroffen worden sind (Art. 43 Abs. 2, 75, 111 EWGV). Eine dauerhafte Angleichung der Verfahren im EWG-Rat und auf der EWG-Seite des Assoziationsrates dürfte sich dann erreichen lassen. Durch Art. 2 des internen Abkommens werden die Umsetzung der Beschlüsse und Empfehlungen des Assoziationsrates im Rahmen der Gemeinschaft und gegenüber den Mitgliedstaaten geregelt. Berühren diese Rechtsakte des Assoziationsrates die Zuständigkeit der Gemeinschaft, wird ihre Anwendbarkeit durch einstimmige Beschlüsse des EWG-Rates nach Stellungnahme der Kommission ausgesprochen; betreffen sie Materien, die in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten liegen, so treffen diese die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen. Ob diese Abgrenzung im Einzelfall sich immer eindeutig treffen läßt, kann im Hinblick auf den oben umrissenen Dissens der Mitgliedstaaten über die Auslegung des Art. 238 EWGV allerdings etwas zweifelhaft erscheinen. 39 Abkommen über die zur Durchführung des Abkommens zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und Griechenland zu treffenden Maßnahmen und die dabei anzuwendenden Verfahren. 40 Die Kommission, obwohl nach Art. 65 Abs. 3 Ass. Abk. Mitglied des Assoziationsrates, besitzt demnach beschränktere Rechte als die übrigen EWG-Mitglieder dieser Institution.

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Durch Art. 2 wird jedenfalls klargestellt, daß es sich bei den Rechtsakten des Assoziationsrates um völkerrechtliche Verpflichtungen der Vertragsparteien handelt, deren Adressat auf der EWG-Seite je nach der Materie die Gemeinschaft oder die Mitgliedstaaten sein können; für die Durchführung ist dann jeweils das gemeinschaftsrechtliche oder das innerstaatliche Verfahren maßgebend41. Das Assoziierungsabkommen ist ausschließlich von der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und Griechenland abgeschlossen worden42. Die Anwendbarkeit des Abkommens und seiner Nebenbestimmungen auf die unter die Zuständigkeit der EGKS fallenden Erzeugnisse ist durch Art. 69 Ass. Abk. nach einigen vergeblichen Verhandlungen schließlich ausdrücklich ausgeschlossen worden. Für die dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft43 unterliegenden Erzeugnisse (Art. 92 ff. in Verbindung mit Anhang IV EuratomV) ist im Assoziierungsabkommen keine Regelung getroffen worden. Es dürfte indessen für diese Waren nichts anderes als für die EGKS-Waren gelten. Der Ministerrat von Euratom, der nach Art. 206 EuratomV (analog Art. 238 EWGV) eine selbständige Befugnis zum Abschluß von Assoziierungsabkom508 men über die Sachgebiete j des Euratom-Vertrags besitzt, hat sich an dem Griechenlandabkommen nicht beteiligt. Nach Art. 232 Abs. 2 EWGV beeinträchtigt der EWG-Vertrag, d. h. neben anderem auch die auf Grund seines Art. 238 geschlossenen Abkommen, nicht die Vorschriften des Euratom-Vertrags. Unter diesen Umständen dürften die Euratom-Waren ebensowenig unter den „gesamten Warenaustausch“ nach Art. 6 Ass. Abk. fallen, wie sie in den gleichlautenden Begriff in Art. 9 EWGV einbezogen werden44. Beurteilt man abschließend das Gemeinschaftsverfahren, wie es sich bei der Assoziierung Griechenlands mit der EWG in Anwendung vor allem des Art. 238 EWGV zum ersten Male in der Praxis herausbildete, und das Ergebnis der Verhandlungen in Gestalt des Assoziierungsabkommens, so kann dem im EWGVertrag in großen Zügen vorentworfenen System die Arbeitsfähigkeit trotz mancher Unvollkommenheiten nicht abgesprochen werden, die das Zusammenwir41 Da die EWG-Mitgliedstaaten das Abkommen mit unterzeichneten und es nach den nationalen Vorschriften ratifiziert wird, dürften auch unter dem Gesichtspunkt des Art. 24 GG für die Bundesrepublik keine Bedenken bestehen, sie als unmittelbaren Adressaten der Beschlüsse des Assoziationsrates in den genannten Fällen anzusehen. 42 Die Mitwirkung der Mitgliedstaaten ist unter diesem Gesichtspunkt ohne Bedeutung. 43 Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft, BGBl. 1957 II 1014 ff. Im folgenden EuratomV abgekürzt. 44 Diese Auffassung ist allerdings nicht unbestreitbar. Aus dem in Art. 93 ff. EuratomV Teil 2 vorgenommenen Verweis auf den Gemeinsamen Zolltarif der EWG könnte in Verbindung mit Art. 232 EWGV u. U. auf eine Zuständigkeit der EWG-Organe über die Euratomwaren in Zollfragen geschlossen werden, wofür auch sonstige Präzedenzfälle vorliegen. Jedoch erscheint zweifelhaft, ob dieses Argument angesichts der Nichtausnutzung des Art. 206 EuratomV allein für eine Einbeziehung der Euratomwaren in das Assoziierungsabkommen ausreicht.

Die Assoziierung Griechenlands mit der Wirtschaftsgemeinschaft

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ken von sechs Mitgliedstaaten und einer internationalen Organisation als ein im Tatsächlichen weitgehend einheitlicher Vertragspartner mit sich bringen muß. Wenn das Griechenlandabkommen ohne den seinen Abschluß bejahenden politischen Willen der EWG-Mitgliedstaaten auch kaum zustande gekommen wäre, muß jedoch zugleich anerkannt werden, daß die Gemeinschaft, besonders die EWG-Kommission, ihre Chance wahrgenommen hat, diesen Willen über eine Addition von sechs oft divergierenden Ansichten hinaus in gewissem Maße in eine einheitliche Gemeinschaftsform umzugießen. In diesem Sinne hat die EWG mit dem Griechenlandabkommen begonnen, in dem ihr nach dem Vertrage zugewiesenen Rahmen die Außenbeziehungen eigenständig zu gestalten.

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Grundsatzfragen der Einbeziehung Griechenlands in die Institutionen der Europäischen Gemeinschaft Vortrag auf einem Tübinger Symposium 1979, das in Anwesenheit des griechischen Außenministers Konstantinos Mitsotakis und des Staatsministers im Auswärtigen Amt Klaus von Dohnanyi die letzten Schritte Griechenlands auf dem Wege zur EWG-Mitgliedschaft aus europarechtlicher Perspektive begleitete.*

I. Leitsätze 1. Die Grundsatzfragen der Einbeziehung Griechenlands in die Institutionen der EG sind im wesentlichen keine „griechenlandspezifischen“ Fragen. Sie stellen sich vielmehr, weil der Beitritt Griechenlands 1981 nur der erste Teil der „Süderweiterung“ der EG ist (Beitritt Spaniens und Portugals?). Durch die Umwandlung von einer ursprünglichen „Sechsergemeinschaft“ zunächst in eine „Neunergemeinschaft“, nunmehr bald in eine „Zwölfergemeinschaft“, wird die Europäische Gemeinschaft institutionell nicht nur quantitativ, sondern wohl auch z. T. qualitativ gewandelt. 2. An sich könnte man den Beitritt Griechenlands, für sich betrachtet, als unproblematisch ansehen. Die Beitrittsperspektive bestand hinsichtlich Griechenlands seit Abschluß der Assoziierung EWG-Griechenland 1961. Eine „Zehnergemeinschaft“ hatte die Europäische Gemeinschaft bereits bei der ersten Erweiterung 1972/73 ins Auge gefaßt, als neben Dänemark, Großbritannien und Irland auch Norwegen beitreten sollte, das sich im letzten Moment 56 ver- j sagte. Griechenland nähme so gesehen jetzt den norwegischen Platz ein. 3. In diesem Sinne begnügt sich der Beitrittsvertrag 1979 im wesentlichen mit einer „arithmetischen“ Einbeziehung Griechenlands in die EG-Institutionen. Es wird aus der ersten Beitrittsakte 1972 „abgeschrieben“ und Griechenland eine Art „Belgien-Status“ in Rat, Kommission, Europäischem Parlament und Europäischem Gerichtshof zugewiesen. Leitlinie dieser Anpassungen ist die Erhaltung und Fortschreibung des Kräftegleichgewichts zwischen den „größeren“ und „kleineren“ Mitgliedern der Europäischen Gemeinschaft. 4. Es ist eine sehr ernste Frage, ob derartige „arithmetische Anpassungen“ spätestens beim Übergang zur Zwölfergemeinschaft weiter ausreichen können. * Erstmals erschienen in: Ott/Wenturis (Hrsg.), Symposium Universität Tübingen – Europazentrum Tübingen, 1980, 55–81.

Einbeziehung Griechenlands in die Institutionen der EG

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Die einfache quantitative Erweiterung der Organe (Ministerrat mit zwölf Mitgliedern, 16–17 Kommissionsmitglieder, Europäisches Parlament mit 516 Abgeordneten usf.) würde die Funktionsfähigkeit der Europäischen Gemeinschaft in Frage stellen. Andererseits möchten die neuen Mitglieder wie Griechenland schon im eigenen Interesse einer starken und leistungsfähigen Gemeinschaft beitreten. 5. Die Süderweiterung der Europäischen Gemeinschaft ist sowohl aus rechtlichen Gründen (Präambel EWGV, im Falle Griechenlands Beitrittszusage im Assoziierungsvertrag 1961) als auch politisch gesehen (Stabilisierung der Demokratie in Südeuropa) eine historische Notwendigkeit. Dies bleibt auch dann richtig, wenn sich aus dieser Erweiterung gewisse Abschwächungen der allgemeinpolitischen Finalität der Europäischen Gemeinschaft (Weg zur Europäischen Union) ergeben sollten. 6. Die Süderweiterung darf jedoch nicht zu einer Stagnation oder zum Rückschritt im wirtschaftlich-sozialen Integrationsprozeß führen. Dies kann nur vermieden werden, wenn die Europäische Gemeinschaft j sich spätestens beim 57 Übergang von der Zehner- zur Zwölfergemeinschaft (Beitritt Spanien und Portugal) nicht noch einmal lediglich mit „arithmetischen Anpassungen“ begnügt, sondern durch gewisse institutionelle Änderungen eine spürbare Stärkung der zentralen Brüsseler Gemeinschaftsgewalt erreicht. Der Begriff der „erforderlich werdenden Anpassungen“ (Art. 237 Abs. 2 EWGV) beim Beitritt muß sinngemäß, d.h. großzügig verstanden werden. Notfalls ist auch an eine Anwendung von Art. 236 EWGV (Vertragsänderung) zu denken. 7. Im Sinne dieser notwendigen Stärkung der Gemeinschaftsgewalt sollten auf der Tagesordnung der institutionellen Revisionen insbesondere stehen: a) Rat: Stärkerer Einsatz der Mehrheitsentscheidung bei allen nicht wirklich essentiellen Fragen. Dabei kann auf die bereits seit 1974 ermutigende Entwicklung („Brüsseler Verhaltenskodex“) zurückgegriffen werden. Auch an gewisse Änderungen beim Einstimmigkeitserfordernis im Vertrag oder an eine stärkere Variabilität des Rechtsinstrumentariums wäre möglicherweise zu denken. b) Kommission: Angesichts der Existenz des Europäischen Rates ist die „klassische“ Entwicklungslinie der Kommission in Richtung künftige europäische Regierung auf nicht voraussehbare Zeit abgeschnitten. Dies schließt jedoch gewisse Maßnahmen zu einer Stärkung ihrer Position im heutigen Kräfteparallelogramm im Interesse der Gemeinschaft nicht aus: – Verkleinerung der Kommission („Gleichheitssystem“ oder „Sicherheitsratssystem“?) – Einschaltung des direkt gewählten Europäischen Parlamentes in den Benennungsprozeß der Kommission? j

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V. Außenbeziehungen der Europäischen Union

– Wiederbelebung der Initiativfunktion „Schirm“ des Europäischen Rates

der

Kommission

unter

dem

– Stärkere Einschaltung der Kommission in die Exekution des Gemeinschaftsrechts (Art. 155, 4. Gedankenstrich EWGV) c) Europäisches Parlament: Politischer „Erfolg“ des direkt gewählten Parlaments auch bei formal zunächst gleich bleibenden Kompetenzen vor allem in einer Stärkung der parlamentarischen Kontrollfunktion gegenüber Rat/ Kommission und in der Artikulationsfunktion gegenüber der Gemeinschaftsöffentlichkeit. Nur mittels einer solchen Rückbesinnung der EG auf einige ihrer grundlegenden Tugenden und Hoffnungen der „Gründerzeit“ wird sie die Herausforderung der Süderweiterung bestehen können, ohne die eigene Zukunft zu verspielen. II. Text Es ist mir eine Freude und Ehre, in diesem kundigen Kreise über die Grundsatzfragen der Einbeziehung Griechenlands in die Institutionen der Europäischen Gemeinschaft zu sprechen. Grundsatzfragen – ich möchte dieses Wort besonders betonen – der Einbeziehung Griechenlands in die Institutionen der Europäischen Gemeinschaft, das will sagen, daß ich mich bemühen möchte, das Thema nicht nur griechenlandspezifisch anzupacken. Die Grundsatzfragen, die sich aus der Einbeziehung Griechenlands in die Europäische Gemeinschaft ergeben, scheinen sich zu einem wesentlichen Teile aus den umfassenden Perspektiven der bereits vielfach erwähnten größeren Süderweiterung zu ergeben. Es handelt sich bekanntlich, wenn man den Prozeß in seiner vollen sachlichen und zeitlichen Dimension 59 sieht, nicht um eine Erweiterung j der Gemeinschaft von neun auf zehn, sondern von neun auf zwölf Mitgliedstaaten.1 Aus dieser nochmaligen erheblichen Vergrößerung der Europäischen Gemeinschaft resultieren die eigentlichen institutionellen Grundsatzprobleme. Ich werde drei Punkte behandeln. Zunächst ein kurzer Blick auf die heutige Beitrittslage, dann als zweites das, was ich die „Herausforderung der Süderweiterung“ für die Europäische Gemeinschaft nennen möchte und schließlich als drittes, die Möglichkeiten der Bewältigung dieser zweiten Erweiterung und Herausforderung.

1 Zur Süderweiterung insgesamt etwa v. d. Groeben, Die Erweiterung der EG durch Beitritt der Länder Griechenland, Spanien und Portugal, 1979; van Weil, Mittelmeerpolitik und Süderweiterung, Integration 1979, 3 ff; ferner das Heft 19/1977 des Europa-Archivs: „Süd-Erweiterung der EG“, mit Beiträgen von Haferkamp u. a. – Von griechischer Seite z. B. Th. Yannopoulos, Mediterranean Policy of the EEC, Journal of World Trade Law 1977, 489 ff.

Einbeziehung Griechenlands in die Institutionen der EG

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1. Zum „historischen“ Beitrittsanspruch Griechenlands

Erlauben Sie mir ein paar einführende Bemerkungen zur heutigen Beitrittslage. Was charakterisiert den in diesen Tagen „vorgezogenen“ Beitritt Griechenlands zur Europäischen Gemeinschaft in besonderem Maße? Es ist heute morgen verschiedentlich angeklungen, daß der Beitritt Griechenlands, der jetzt zum 1. Januar 1981 perfekt geworden ist,2 sich seit besonders langer Zeit abgezeichnet hat. Dieses Faktum ist es eigentlich, was den griechischen Beitritt von den beiden anderen potentiellen Erweiterungen der Gemeinschaft um Spanien und Portugal unterscheidet. Der griechische Beitritt war bereits im Abschluß des Assoziierungsabkommens zwischen der EWG und Griechenland angelegt, das j am 9. Juni 1961 in Athen unterzeichnet wurde und seit dem 1. November 60 1962 in Kraft getreten war.3 Wenn man sich diesen Assoziierungsvertrag etwas genauer ansieht, enthielt er bereits im Kern eine Art „EWG-Vertrag im kleinen“, den ehrgeizigen Versuch, Griechenland über eine sich fortschreitend verwirklichende Zollunion, Harmonisierungen der beiderseitigen Agrarpolitiken und weitere Ansätze zur Wirtschaftsunion, weitgehend in die Gemeinschaft einzubinden. Der Assoziierungsvertrag kannte insbesondere auch, das ist in diesem Zusammenhang wichtig zu betonen, in seinem Art. 72 eine feste Beitrittsklausel im Falle des Erfolges der Assoziation, die damals auf das in Aussicht genommene Jahr der Vollendung der Assoziation, 1984 festgelegt worden war. Daß man bei der griechischen Assoziation, welche die erste europäische Assoziation in der Geschichte der Gemeinschaft überhaupt darstellte, in der späteren Beitrittsbindung so weit ging, war im Grunde ganz erklärlich. Man knüpfte nur an das an, was als die spezifische Motivation der Gemeinschaft zu Gunsten der Aufnahme Griechenlands immer wieder sehr verständlich betont worden ist, auch auf diesem Symposion. Ein Europa ohne Griechenland, wie wäre das vorstellbar? Gerade in diesen Tagen sind die europäischen Reden von Walter Hallstein erschienen. Unter diesen Reden befindet sich auch diejenige, die er als erster Präsident der EWG-Kommission und einer der maßgeblichen Förderer der Assoziation am 9. Juli 1961 in Athen anläßlich der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens gehalten hat. Die Gedanken, die Hallstein damals aus- j drückte, daß in Griechenland 61 sich die Quellen der europäischen Kultur befanden, daß hier der Ausgangspunkt 2 Die Beitrittsdokumente vom 28.5.1979 sind hier zit. nach „Actes relatifs à l’adhésion de la République Hellénique aux Communautés Européennes“, hrsg. vom Rat der EG, 1979. – Vgl. auch den Überblick in Europa-Archiv 1979, D 451 ff. 3 Text in ABl. 1963, 294; zu ihm Oppermann, Die Assoziierung Griechenlands mit der EWG, ZaöRVR 22 (1962), 486 ff. (in diesem Band abgedruckt S. 410 ff.) und von griechischer Seite u. a. Evrigenis, L’association entre la Grèce et la CEE, 1963; Mitsotakis, Les objectifs de l’Association, RMC 1966, 212 ff.; zu den Wirkungen der Assoziierung Moussis, L’évolution économique de la Grèce depuis son association à la CEE, RMC 1975, 258 ff.

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V. Außenbeziehungen der Europäischen Union

der geistigen Strömungen liegt, die Europa bis heute geprägt haben,4 das sind jene Erinnerungen und höheren geistigen Antriebskräfte, die über alle äußeren Schwierigkeiten hinweg inzwischen nicht nur zur Assoziierung, sondern in diesem Jahre 1979 zur Unterzeichnung der Beitrittsakte am 28. Mai in Athen geführt haben. Es war, auch das verdient festgehalten zu werden, das erste Mal, daß eine Beitrittsakte außerhalb der faktischen „Hauptstadt“ der Gemeinschaft, Brüssel nämlich, in der Hauptstadt des Beitrittskandidaten zur Unterzeichnung vorgelegt wurde. Während selbst ein Staat wie Großbritannien seinen Beitritt 1972 in Brüssel unterzeichnete, wurde Athen 1979 zum Treffpunkt der Regierungschefs und Außenminister. Auch hierin symbolisierte sich die Qualität des griechischen Beitrittsverlangens auf der Grundlage des historisch einmaligen Status Griechenlands innerhalb Europas. Nur vor diesem Hintergrund erklärt sich auch der im ganzen rasche und erfolgreiche Abschluß der Beitrittsverhandlungen in den siebziger Jahren. Die Assoziierung hatte bekanntlich nicht zu den gewünschten Erfolgen geführt, sodaß die Anwendung der Beitrittsklausel unter den rein wirtschaftlichen Aspekten zweifelhaft erscheinen konnte. Das hing bekanntlich vor allem mit der Periode der Militärherrschaft in Griechenland 1967 bis 1974 zusammen. Durch die hierdurch bewirkte politische Inhomogenität der Assoziation kam es zum „Einfrieren“ der Assoziierung seitens der Europäischen Gemeinschaft, was den Kalender des Assoziierungsvertrages durcheinander brachte. Gleichzeitig ergab sich jedoch aus dieser schwierigen Periode der Beziehungen EG – Griechenland die politische Lektion, daß eine rasche und vorbehaltslose Einbeziehung in die Gemeinschaft das sicherste Unterpfand für eine günstige Entwicklung der 1974 wiedererstandenen griechischen Demokratie sein 62 würde. So stellte j die neugebildete Regierung Karamanlis am 24.6.1975 den Beitrittsantrag letztlich doch im Geiste der Beitrittsperspektive des Assoziierungsantrages von 1961, mochte dieser wirtschaftlich auch unerfüllt geblieben sein.5 An diese allgemeinpolitischen, geschichtlich und kulturell mehr denn wirtschaftlich inspirierten Motivationen der Gemeinschaft gilt es sich dann auch bei der Bewältigung der institutionellen Probleme des Beitritts zu erinnern. Nichts anderes als derselbe Geist des „vorprogrammierten Erfolges“, der die Beitrittsentscheidung global charakterisiert, muß dann auch über die Schwierigkeiten der institutionellen Diversifizierung der Europäischen Gemeinschaft im Zuge des griechischen Beitritts und der Süderweiterung überhaupt hinweghelfen.6 4

Hallstein, Europäische Reden (Hrsg. Oppermann), 1979, 287 ff. Vgl. Moussis (Anm. 3); Yannopoulos, Greece and the EEC: the first decade of a troubled association, 1975. 6 So besonders die griechische Perspektive, vgl. Zolotas, Vers l’intégration complète de la Grèce à la Communauté européenne, RMC 1975, 251 f. und Pesmazoglou, Der bevorstehende Beitritt Griechenlands zur EG, Europa-Archiv 1976, 215 ff. (= fran5

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2. Die Perspektive 1981: „Arithmetischer Belgien-Status“ für Griechenland

Was bedeutet nun diese politisch bestimmte Beitrittsperspektive in ihren institutionellen Konsequenzen für die Gemeinschaft? In einer ersten Überlegung könnte man natürlich sagen, daß die Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft erst einmal um Griechenland, also nur um ein weiteres Mitglied noch relativ unproblematisch sein müßte. Die Europäische Gemeinschaft hatte ja bereits einmal die „Zehnerlösung“ für praktikabel gehalten. Bei der „Norderweiterung“ der Europäischen Gemeinschaft 1972 hatte man den Beitritt Norwegens neben demjenigen von Großbritannien, j Irland und Dänemark institutionell be- 63 reits bewältigt.7 Nachdem Norwegen seinerzeit aus internen Gründen diesen zehnten Platz nicht eingenommen hatte, könnte man heute den Beitritt Griechenlands in einer Gesamtsicht mehr oder weniger im Sinn der Einnahme des ursprünglich Norwegen zugedachten Platzes begreifen. In der Tat scheint dies mindestens vordergründig auch die Leitlinie der juristisch/institutionellen Anpassungen in der Beitrittsakte vom 28. Mai 1979 zu sein. Man schreibt hier durchaus verständlich bis zu einem gewissen Grade aus der Beitrittsakte 1972 ab und kommt so zu einer auf den ersten Blick sehr klaren und plausiblen Einbeziehung Griechenlands in die Institutionen der Europäischen Gemeinschaft. Griechenland übernimmt, wie seinerzeit Großbritannien, Dänemark und Irland, mit dem Beitritt das primäre und das sekundäre europäische Gemeinschaftsrecht im weitesten Sinne sowie die Verträge der Europäischen Gemeinschaft (Art. 2, 3 Beitrittsakte). Griechenland wird gleichzeitig, wenn man es auf eine Kurzformel bringen will, ein Platz in den Institutionen der Gemeinschaft eingeräumt, wie er ungefähr Belgien zusteht. Die Gemeinschaft hat bereits seit der Norderweiterung in eingehenden Berechnungen gewichtete Aufnahmekriterien und überhaupt Vergleichskriterien zwischen ihren Mitgliedern entwickelt.8 Sie leiten sich im Kern aus einer Gesamtabwägung zwischen der Fläche der Mitgliedstaaten, ihrer Bevölkerung und dem Bruttosozialprodukt her. So gerechnet und verglichen, ergibt sich eine ungefähre Parallelität zwischen Belgien und Griechenland innerhalb der Gemeinschaft.9 j Daraus ergibt sich die institutionelle Konsequenz, daß Griechenland wie Bel- 64 gien 24 Abgeordnete in das direkt gewählte Europäische Parlament entsendet zösisch in: Studia Diplomatica 1976, 299 ff.). Im Kern aber ähnlich die Sicht der EGKommission in ihrer Stellungnahme zum griechischen Beitrittsantrag, vgl. Europa-Archiv 1976, D 161 ff. (Auszüge); Bulletin EG, Beilage 2/1976 (vollständig). 7 Dazu Puissochet, L’élargissement des C.E., 1974, 39 ff., 42. 8 Vgl. jetzt wieder die Mitteilung der Kommission an den Rat vom 20.4.1978: Umfassende Überlegungen zu den Problemen der Erweiterung (Bulletin EG, Beilage 1/ 78) nebst der ergänzenden Mitteilung: Die Übergangszeit und die institutionellen Folgen der Erweiterung (Bulletin EG, Beilage 2/78), vor allem die letztere, 10 ff. 9 Näher Bulletin EG, Beilage 2/78, 10 (Anm. 8).

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V. Außenbeziehungen der Europäischen Union

(Art. 10 Beitrittsakte) und daß es seinen Sitz im Rat einnimmt und dort im Rahmen der Bildung der qualifizierten Mehrheit über fünf Stimmen verfügen wird (Art. 11, 14). Ferner wird die EG-Kommission von 13 auf 14 Mitglieder erweitert (Art. 15) und am Europäischen Gerichtshof eine zusätzliche Richterstelle geschaffen (Art. 16). Beide neuen Plätze stehen, politisch gesprochen, griechischen Mitgliedern zu. Der Grundgedanke bei dieser institutionellen Beitrittsregelung bleibt also eine ungefähre Erhaltung oder Fortschreibung des seit Gründung der Gemeinschaften konzipierten institutionellen Kräftegleichgewichtes zwischen den so genannten größeren und kleineren Mitgliedern der Gemeinschaft. Es handelt sich um das, was man die „arithmetischen“ Anpassungen des Vertrags zu nennen pflegt.10 3. „Dinosaurisches“ Wachstum der Europäischen Gemeinschaft durch die Süderweiterung?

So weit, so gut, könnte man sagen oder so weit, so einfach. Oder hat sich die Gemeinschaft nicht doch schon beim griechischen Beitritt die Sache etwas zu einfach gemacht und ist mit der reinen „Arithmetik“ zu wenig problembewußt und einfallslos vorgegangen? Tiefer gesehen, insbesondere unter der Perspektive eben nicht nur des Beitritts Griechenlands, sondern der zu erwartenden zwei anderen Beitrittskandidaten Spanien und Portugal, aber auch im Lichte realer Erfahrungen mit der Norderweiterung, muß man gleichzeitig das ins Auge fassen, was ich hier als zweiten Punkt meiner Ausführungen die „Herausforderung“ der zweiten Erweiterung für die Europäische Gemeinschaft nennen möchte. Eine Herausforderung sicher auch für Griechenland, vielleicht sogar eine noch größere Herausforderung für die bisherigen Mitglieder, in die Ge65 mein- j schaft zu gehen,11 aber doch auch eine Herausforderung für die innere und daher nicht zuletzt institutionelle Funktionsfähigkeit und Entwicklungsfähigkeit der Gemeinschaft. Denn unter welchem Gesetz ist die Gemeinschaft angetreten? Wenn man sich die ursprüngliche politische Finalität des Unternehmens einmal wieder ins Gedächtnis ruft – vom Schuman-Plan 1950 und Messinakonferenz 1955 bis zur Direktwahl des Parlaments in diesem Jahr 1979 –, so bleibt trotz aller Rückschläge und Wandlungen die politische Finalität einer sich weiterhin vertiefenden Integration sichtbar, und zwar nicht nur wirtschaftlichsozial, sondern auch allgemeinpolitisch. Mag auch die Chiffre für das große Ziel, Europäischer Bundesstaat, Politische Union, Konföderation oder noch andere Formen der europäischen politischen Identität undeutlicher geworden sein, 10

So z. B. laufend in den in Anm. 8 genannten Dokumenten. Hierzu etwa Morawitz, Die wirtschaftlichen Probleme eines Beitritts Griechenlands zur EG, Europa-Archiv 1977, 249 ff.; Wenturis, Die soziopolitischen und ökonomischen Strukturen Griechenlands im Hinblick auf seine Integration in die EG, 1977; Buck, Griechenland und die EG, 1978. 11

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so beherrscht der Gedanke sowohl des politischen wie des wirtschaftlich-sozialen Voranschreitens auch heute die gesamte Aktion der Gemeinschaft.12 Schon die erste Norderweiterung der Gemeinschaft 1973 hat demgegenüber gezeigt, daß die Erweiterung der Zahl der Mitglieder – zumal sich addierend zu anderen Hemmfaktoren – nennenswerte weitere Integrationsschritte zumindest nicht erleichtert hat. Wenn man etwa an die Fischereipolitik innerhalb der Europäischen Gemeinschaft denkt, an das Trauerspiel der Bemühungen um eine europäische Energiepolitik oder auch an die unvollkommene Gestalt des Europäischen Währungssystems, werden die Gefahren des „dinosaurischen“ Wachstums der Europäischen Gemeinschaft deutlich. Man hat dieses Problem häufig auf die halb resignierende Fragestellung gebracht, ob nicht die größere Integrationsbreite mit einem gewissen Verlust an Integrationstiefe erkauft werden muß.13 j So gesehen, ist natürlich jedes weitere Mitglied mit Reserve zu betrachten, 66 führt es doch zwangsläufig zum Einbau zusätzlicher Rädchen in das große Gehäuse der Europa-Apparatur, mit den zwangsläufigen Reibungsverlusten. Auf jeden Fall reichen die rein arithmetischen Anpassungen jenseits einer bestimmten Größenordnung nicht mehr aus. Und Griechenland ist eben nur der erste Schritt der Süderweiterung, dem Portugal und Spanien folgen sollen. Portugal ist ein Staat, der nach den erwähnten drei Gewichtungskriterien Fläche, Bevölkerung und Bruttosozialprodukt noch einmal ein Griechenland ungefähr vergleichbares Potential in die Gemeinschaft einbringen würde.14 Mit Spanien erhielte die Europäische Gemeinschaft schließlich ein in seiner Größenordnung ganz neuartiges Mitglied, das mit seinen 36 Millionen Einwohnern auf einem Frankreich vergleichbaren Gebiet, aber mit einem noch deutlich hinter Italien liegenden Bruttosozialprodukt irgendwo in eine neue Kategorie des „mittleren“ Gemeinschaftsmitgliedes einzuordnen wäre, zwischen den Niederlanden und den vier so genannten „Großen“ der Gemeinschaft (Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien) in einem Verhältnis 5 : 8 : 10. Offensichtlich würde damit ein bisher unbekanntes Gewicht in das institutionelle Gleichgewicht der Europäischen Gemeinschaft eingefügt, das erst allmählich in der Praxis austariert werden müßte.15 j

12 Zur Zielfrage der EG: Oppermann, Die EG als parastaatliche Superstruktur, FS Ipsen 1977, 685 ff. (in diesem Band abgedruckt S. 187 ff.). 13 Vgl. etwa Everling, Struktur und Funktionieren der erweiterten Gemeinschaft, EuR 1978, 1 ff. 14 Jeweils ungefähr 9 Millionen Einwohner und vergleichbare geographische Größenordnung. Allerdings umfaßte das portugiesische Bruttosozialprodukt 1976 nur 15 Milliarden Dollar gegenüber 22 Milliarden Dollar im Falle Griechenlands. Vgl. die Daten in den oben Anm. 8 genannten Dokumenten. 15 Näher Musto, Spanien und die EG, 1977.

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V. Außenbeziehungen der Europäischen Union 4. Die Dimension einer Zwölfergemeinschaft

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In welchen Größenordnungen wüchsen die Institutionen einer dergestalt süderweiterten Zwölfergemeinschaft bei nur „arithmetischer Anpassung“ schließlich hinein? Die Berechnungen sind von den präzise arbeitenden Diensten der Kommission in Brüssel längst angestellt worden.16 Das Europäische Parlament vergrößerte sich mit spanischen und portugiesischen Parlamentariern nicht nur auf 434 Abgeordnete, die seit dem Athener Beitritt beschlossene Sache sind (410 heute sowie ab 1981 24 zusätzliche griechische Vertreter), sondern letztendlich auf 516 Abgeordnete. Im Rat säßen zwölf Minister, die eine Gesamtstimmenzahl bei der qualifizierten Mehrheitsentscheidung von 76 Stimmen führten. Bei arithmetischer Fortschreibung müßte die Kommission der Zwölfergemeinschaft 16 oder 17 Mitglieder umfassen und der Europäische Gerichtshof verfügte über 13 Richter und zusätzliche Generalanwälte.17 Vielleicht brauchen solche Zahlen uns aus sich heraus noch nicht absolut zu schrecken. Nationale Parlamente mit mehr als 500 Abgeordneten gibt es in Deutschland und anderwärts. Niemand wird kühn genug sein zu behaupten, daß die Ratsarbeit bei rein arithmetischer Fortschreibung auf zwölf Mitglieder am nächsten Tag zusammenbrechen würde. Es gibt sogar Gesetze der Organisationssoziologie, die „Kleingruppenarbeit“, also aktiv beschließende Gremientätigkeit bis zur „magischen Zahl“ von zwölf Mitgliedern, für sinnvoll erklären. Eine solche Betrachtung wäre jedoch rein äußerlich und würde vor allem die Multiplikation der Hemmkräfte außer acht lassen, die sich in einer multinationalen Gemeinschaft aus einer Vermehrung der mächtigen nationalen Interessenstandpunkte ergeben. Dabei ist das Paradox mitzubedenken, daß an sich das objektive Ziel der neu beitretenden Mitglieder gar nicht dahin gehen kann, Mitglied einer Organisation zu werden, die institutionell in ihrer Effektivität, Funktions- und Ar68 beitsfä- j higkeit nur noch so gerade über die Runden kommt, mit einem Räderwerk, das immer langsamer läuft, aber gerade noch arbeitet. Das wäre die Perspektive einer Gemeinschaft „Monstro simile“, wie man in Deutschland das Heilige Römische Reich Deutscher Nation in der Definition von Pufendorf in der Spätzeit ab dem 17. Jahrhundert genannt hat. Auch dieser „Dinosaurier“ lebte noch lange Jahrzehnte, ohne mehr etwas zu bewirken, bis er im Jahre 1806 den letzten Stoß erhielt. Es sind sicherlich nicht die Erwartungen, die man der Zukunft einer süderweiterten Zwölfergemeinschaft entgegenbringt. Weder in der Bundesrepublik Deutschland, für welche die europäische Option trotz mancher Abstriche eine der wichtigsten Zukunftschancen bleibt, noch in Griechen16

Vgl. die Dokumente in Anm. 8. Angesichts der Arbeitsbelastung des Gerichtshofes (zu ihr Lecourt, L’Europe des juges, 1976) käme dessen personelle Verstärkung allerdings einem dringenden Bedürfnis entgegen. 17

Einbeziehung Griechenlands in die Institutionen der EG

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land, das um der eigenen Entwicklung willen die Mitgliedschaft in einer leistungsfähigen Europäischen Gemeinschaft sucht.18 5. Von der arithmetischen Fortschreibung zur qualitativen institutionellen Reform

Daß sich beim Übergang spätestens zur Zwölfergemeinschaft schwierige institutionelle Grundfragen stellen, kann man an einer Fülle von literarischen Beiträgen und Überschriften erkennen, wie sie in den letzten Jahren zur Süderweiterung erschienen sind: „Konsolidierung versus Erweiterung?“ – „Denk ich an Europa in der Nacht, werd’ ich um meinen Schlaf gebracht.“ – „Europäische Gemeinschaft größer, aber schwächer?“ – „Zum Jubiläum ein Alptraum.“ – „Die Sorgen der Neun nehmen kein Ende“ usw.19 Dahinter steht oftmals die Überzeugung, daß die arithmetische institutionelle Anpassung angesichts der jetzigen Größenordnung j der Europäischen Gemein- 69 schaft nicht mehr brauchbare Lösungen liefert. Einige Europajuristen, wie in Deutschland besonders Gert Meier, haben daraus sogar die scharfe Schlußfolgerung gezogen, die vom Gerichtshof als „unwiderrufbar“ bezeichnete Verlagerung effektiver Kompetenzen auf die EG-Organe setze bei der juristischen Beitrittsprüfung im Rahmen des Art. 237 EWGV Sicherungen voraus, daß die Gemeinschaft in ihrer tatsächlichen Handlungsfähigkeit nicht durch die Aufnahme weniger leistungsfähiger Mitglieder „spürbar beeinträchtigt“ werde. Letztlich könne sich so eine Art von zwingendem „Aufnahmestop“ in bestimmten Fällen ergeben.20 Bei näherer juristischer Prüfung, auf die noch zurückzukommen ist, erscheinen solche Thesen – ohne das Problem als solches zu leugnen – als überzogen und haben in der Gemeinschaftspraxis keine Aufnahme gefunden. Durchweg ist die Auffassung vorherrschend, daß die Gemeinschaft sich der Aufgabe ihrer Süderweiterung, juristisch wie politisch gesehen, nicht entziehen kann. Die erneute Erweiterung ist unausweichlich. Sie ist notwendig aus vielerlei Gründen. Im tiefsten Sinne aus dem Gedanken einer Solidarität der parlamentarischen Demokratien in Europa, deren geistige Fundamente zudem im Mittel18 Vgl. bereits Anm. 11 und ferner Tsatsos, La Grèce et l’Europe, 1977; Rey u. a., in: La Grèce et la Communauté (Brüsseler Colloquium), 1978, 80 ff. 19 Nachweise bei Meier, Die rechtlichen Grenzen für einen Beitritt zu den Europäischen Gemeinschaften, EuR 1978, 12 ff. (Anm. 3). 20 Vgl. Anm. 19. – Meier beruft sich insbesondere auf die Entscheidung EuGHE 1971, 1003 ff., Rs. 7/71 „Versorgungsagentur“ und auf das Gutachten EuGH 1977, 741 ff., G 1/76 „Stillegungsfonds Binnenschiffahrt“, die er jedoch sehr extensiv interpretiert.

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meerraum gelegt wurden. Wenn die Bekenntnisse der Europäischen Gemeinschaft 1961 und 1979 am Fuße des Parthenon über die Herkunft der europäischen (einschließlich seiner politischen) Kultur nicht nur hohler Festtagszungenschlag gewesen sein sollen, kann die Gemeinschaft die frisch erneuerten Demokratien des Südens nicht sich selbst überlassen. Anderenfalls würde die Europäische Gemeinschaft ihrem vielberufenen politischen Auftrag der europäischen Einigung in einem Augenblick untreu, in welchem sie ihn im Inneren über die Inspiration der Direktwahlen gerade zu verlebendigen trachtet. Aber auch rechtlich gesehen ist die Gemeinschaft auf weitere Erweiterung hin ein70 fach j angelegt. Wenn die Präambel des EWG-Vertrages, letzter Absatz, mit der Aufforderung der Gemeinschaft an die anderen Völker Europas, „die sich zu dem gleichen hohen Ziel bekennen, nämlich durch den Zusammenschluß der Wirtschaftskräfte Frieden und Freiheit zu sichern, sich diesen Bestrebungen anzuschließen“, von irgendwelcher Aussagekraft sein soll, muß das für die Erweiterung Europas um diejenigen Staaten gelten, die sich jetzt genau mit der hier erwähnten Absicht um den Beitritt zur Gemeinschaft bemühen. Daher muß auch die Anwendung der Beitrittsklausel des Art. 237 EWGV im Lichte der Präambel gelesen werden. Der Europäische Rat hat sich bekanntlich mehrfach zu dieser Art der Beitrittspolitik unter Verweis auf die Präambel bekannt. Im besonderen Falle Griechenlands waren die Dinge, wie bereits erwähnt, auch juristisch insoweit entscheidend erleichtert, als die Beitrittsfähigkeit Griechenlands im Rahmen der Assoziierung 1961 von der Gemeinschaft erörtert worden war und man sich durch die Beitrittsperspektive im Assoziierungsvertrag juristisch und integrationspolitisch bereits festgelegt hatte. Ein schlechthin unmögliches Unterfangen auch unter institutionellen Aspekten dürfte die Entwicklung einer funktionsfähigen Zwölfergemeinschaft im übrigen nicht sein. Allerdings wohl nur unter der wesentlichen, ja entscheidenden Voraussetzung, daß man sich spätestens beim Übergang zur Zwölfergemeinschaft nicht mehr mit der arithmetischen Anpassung der Institutionen begnügt, sondern zur qualitativen Reform übergeht. Eine weiterhin funktionsfähige Zwölfergemeinschaft setzt eine gewisse Stärkung der Brüsseler und Straßburger Gemeinschaftsgewalt voraus. Damit steht und fällt für die künftige Aktion einer nochmals vergrößerten Gemeinschaft auf wirtschaftlich-sozialem Gebiet wie in der Politik letztlich alles. Herr Everling hat in seinen „Zehn Thesen zur Erweiterung der Gemeinschaft“ in der These zwei gesagt, sicherlich mit Recht, daß sich die Tätigkeit der Gemeinschaft künftig noch stärker auf die ohnehin seit den Mittsechzigerjahren gewachsene Staatenzusammenarbeit intergouvernementaler Natur ver- j 71 lagern wird.21 Dieser Entwicklung muß man sicherlich ins Auge sehen, aber sie schließt Stärkungen der EG-Institutionen nicht aus, jedenfalls dann, wenn es 21 Vgl. die Thesen in Europa-Archiv 1977, D 536 ff. (= EG-Magazin Nr. 5/77, 11 ff.). Ähnlich dann wieder Everling (Anm. 13).

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gelingen sollte, daß die beiden neuartigen Initiativzentren der Europäischen Gemeinschaft, Europäischer Rat und direkt gewähltes Parlament, zu einer fruchtbaren Arbeitsbalance zusammenfinden. 6. Kernpunkt institutioneller Revisionen in der Perspektive der Zwölfergemeinschaft

Was kann qualitative institutionelle Reform neben und in Ergänzung der unvermeidlichen arithmetischen Fortschreibung praktisch bedeuten? Hier kann es nur darum gehen, einige grundsätzliche Aspekte anzuführen, um die ungefähre Richtung anzudeuten. Ich darf mir erlauben, die wesentlichsten Organe der Gemeinschaft in diesem Zusammenhang Revue passieren zu lassen und die Fragen auf diese Weise anzusprechen.22 a) Rat Zum Ministerrat muß an dieser Stelle ein weiteres Mal betont werden, daß eine Zwölfergemeinschaft kaum ohne jedenfalls eine gewisse Wiedereinführung oder überhaupt erst Einführung der Mehrheitsentscheidung im Rat auskommen wird. Diese Forderung bewegt sich bekanntlich ganz im Sinne des Geistes und des Buchstabens der Verträge, die diese Art der Entscheidung in wichtigen Bereichen bereits seit dem 1. Januar 1966 vorsahen. Es ist wahrscheinlich, daß die Arbeit im Rat nach der Süderweiterung ohne Mehrheitsentscheidungen sich in nicht mehr trag- j barem Maße verlangsamen wird. Mit anderen Worten muß 72 die Entwicklung zur Rückbildung der sogenannten Luxemburger Vereinbarungen von Anfang 1966 gefördert werden. Sie sahen zwar dem Wortlaut nach die faktische Beibehaltung der Einstimmigkeitsentscheidung nur bei den „essentiellen“ Fragen der Gemeinschaft vor. Hierfür läßt sich auch heute noch vieles sagen.23 In der Praxis der Europäischen Gemeinschaft hat sich eine angebliche „Essentialität“ von Problemen indessen längst in mancherlei Entscheidungen sekundären und tertiären Charakters hinübergewuchert („Wesentlichkeit der Bierflaschenform“). Es wird eine wichtige Aufgabe innerhalb der Zwölfergemeinschaft sein, hier erst einmal dem Buchstaben des Vertrages wieder stärker Geltung zu verschaffen als bisher. Es gibt erfreulicherweise bereits eine ermuti-

22 Die folgenden Erwägungen suchen andere Überlegungen fortzuführen, wie sie von der Kommission in ihrer Mitteilung an den Rat vom 20.4.1978 nebst Ergänzung (Anm. 8) präsentiert wurden. Ferner zu diesem Thema etwa Everling (Anm. 13), 8 ff.; Ganshof van der Meersch u. a., in: La Grèce et la Communauté (Anm. 18), 271 ff.; v. d. Groeben (Anm. 1), 80 ff. 23 Vgl. seinerzeit schon Mosler, National- und Gemeinschaftsinteressen im Verfahren des EWG-Ministerrates, ZaöRVR 26 (1966), 1 ff. – Auch heute noch sehr abwägend Everling (Anm. 13).

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gende Entwicklung seit der Pariser Gipfelkonferenz Ende 1974, als man sich darauf einigte, der Praxis ein Ende zu bereiten, daß eigentlich bei jeder Entscheidung im Rat kraft einer „Vermutung der Essentialität“ die einstimmige Billigung verlangt werden müßte. Man spricht ungefähr seit 1975 von einem „Brüsseler Verhaltenskodex“, wonach alle Mitgliedsstaaten in eindeutig sekundären Fragen Mehrheitsentscheidungen hinnehmen.24 Soweit man die Dinge näher beobachten kann, gibt es aber immer noch eine ganze Anzahl von nicht wirklich essentiellen Entscheidungen, bei denen die „Luxemburger Gewohnheiten“ seit 1966 sich festgefressen haben und bei denen es künftig um zeitlich zumutbarer Entscheidungsfindung im Rat willen im höchsten Grad nützlich wäre, wenn die Mehrheitsentscheidung einen breiteren Raum einnähme; den 73 Raum, den ihr die Verträge eigentlich zuweisen. Wahrschein- j lich bewirkte bereits die Einigung auf einen solchen Wandel als „fleet in being“ eine erleichterte Konsensbildung im Rat. Erleichternd mag in diesem Zusammenhang auch der von Herrn Everling erwähnte Punkt hinzukommen, daß die Möglichkeit für das einzelne Ratsmitglied, eine isolierte Veto-Position einzunehmen, in einer Zwölfergemeinschaft faktisch schwieriger werden mag.25 Es dürfte grundsätzlich schwieriger sein, sich dem Konsens von elf Ratskollegen zu widersetzen, als gegenüber fünf oder auch acht. Auch dieser Umstand mag die Entscheidungsfindung im Rat künftig mit erleichtern, dürfte aber nach den bisherigen Erfahrungen den Übergang zum stärkeren Gebrauch der Mehrheitsentscheidungen nicht überflüssig machen. Es gibt im Ratsbereich noch einige andere Dinge, an die man in diesem Zusammenhang denken könnte. Man könnte sich fragen, ob sich bei den künftigen Beitritten im Rahmen der dann notwendigen Anpassungen der Verträge im Sinne von Art. 237 Abs. 2 EWGV nicht doch gewisse Änderungen der Einstimmigkeitsregelungen in manchen Vertragsbereichen nahelegen. Beispielsweise im Rahmen der Rechtsangleichung nach Art. 100 EWG-Vertrag, wo eine Erleichterung der Gemeinschaftsaktion dem hier oft ungemein schleppenden Rechtssetzungsprozeß der Europäischen Gemeinschaft zugute käme.26 Ebenso könnte überlegt werden, hier und dort (z. B. wieder bei Art. 100) das Rechtsinstrumentarium des Vertrages etwas freier zu stellen, also nicht nur jeweils eine einzige Rechtsfigur, wie in diesem Fall die Richtlinien, zuzulassen, sondern auch andere im Einzelfall manchmal praktikablere Rechtsformen, wie etwa die EWGVerordnung und ähnliches. Es geht hier zum Teil um alte Streitpunkte zwischen den Mitgliedsstaaten und der Gemeinschaft, bei denen die Europäische Gemein74 schaft in früheren j Zeiten durch ein rasches Vorpreschen ihrerseits manches 24 Auf der Grundlage des Punktes 6 des Kommuniques der Pariser Gipfelkonferenz der Staats- und Regierungschefs 1974, vgl. Bulletin EG, 12/1974, Ziff. 1104. 25 Everling (Anm. 13), 9. 26 Dazu näher Marx, Funktionen und Grenzen der Rechtsangleichung nach Art. 100 EWGV, 1976.

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Porzellan zerschlagen hatte.27 Angesichts neuer Notwendigkeiten, vor denen die Zwölfergemeinschaft stehen wird, sollte das nicht hindern, die Frage der Einführung von Erleichterungen der Ratsentscheidungen vorurteilslos neu zu prüfen. b) Kommission Qualitative Verbesserungen der Arbeit der EG-Kommission sind vielleicht der schwierigste Punkt im Zusammenhang denkbarer Reformen in den Brüsseler Institutionen. Die Europäische Kommission war ja, wenn man noch einmal an die klassische Integrationsphilosophie der Vertragsväter von 1950 ff. wie Schuman, Adenauer, Hallstein, Monnet, Spaak, de Gasperi usw. zurückdenkt, darauf ausgerichtet, in einer gewissen Entwicklung allmählich in die Funktion einer Art von europäischer Regierung hineinzuwachsen. Gleichzeitig sollte der Rat, so stellten sich das die bundesstaatlich Denkenden vor, allmählich in die Funktion einer zweiten Kammer zurücktreten28. Wir wissen, daß die Entwicklung ganz anders gelaufen ist. Spätestens seit den Krisen der sechziger Jahre im Zusammenhang mit dem gaullistischen Souveränitätsdogma, dann aber auch ab 1969 durch die Schaffung zunächst der „Gipfelkonferenzen“ der Staats- und Regierungschefs und seit 1975 des Europäischen Rates als Superorgan, welches die obersten Leitungs- und Initiativfunktionen innerhalb der Gemeinschaft zu Lasten nicht zuletzt der Kommission an sich gezogen hat.29 j Das Vertragsmodell der Gewaltenteilung hat so gewohnheitsrechtlich wesent- 75 liche Modifikationen erfahren, die nach aller Erfahrung bis auf weiteres irreversibel zu sein scheinen. Daraus ergibt sich, daß man jetzt im Zusammenhang mit Gedanken an institutionelle Stärkungen der Rolle der Kommission in einer Zwölfergemeinschaft nicht in einem blauäugigem Sinne fordern kann, sie solle möglichst rasch in Wiederaufnahme Hallsteinscher Konzeptionen der frühen sechziger Jahre europäische Regierungskraft demonstrieren und zum Nukleus eines genuinen europäischen Gemeinwillens werden, der die Interessen auch von zwölf Mitgliedern zu binden und vergemeinschaftet überzeugend zu artikulieren vermag.30 Ohne eine gewisse Stärkung oder Wiederbelebung der Rolle der Kommission als ehrlicher Makler unter zwölf Mitgliedstaaten dürfte die Aktion einer süderweiterten Gemeinschaft freilich nur schwierig zu initiieren sein. Die Kommis27 Vgl. Seidel, Aktuelle Probleme der Rechtsangleichung nach Art. 100 EWGV, EuR 1967, 202 ff. 28 Vgl. etwa die Darstellung bei Hallstein, Die EG, 5. Aufl. 1979, 437 ff. 29 Lauwaars, The European Council, CMLRev. 1977, 25 ff. 30 Zu dieser seinerzeit lange vorherrschenden Konzeption Hallstein (Anm. 4), 545 ff.

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sion ist auch unter den heutigen, ihr ungünstigeren Umständen nun einmal durch die vertragliche Balance zwischen Vorschlagsrecht und Entscheidung dasjenige Organ, von dessen Selbstverständnis aber auch effizienter Organisiertheit in ganz entscheidendem Maße auch die Schnelligkeit und Wirksamkeit der Gemeinschaftsaktion mit abhängt. Insofern wird zu Recht an begrenzte Stärkungen der Rolle der Kommission in einer Zwölfergemeinschaft gedacht.31 Zur Debatte steht als erstes der Gedanke, ob die Kommission nicht doch verkleinert werden muß. Eine Kommission mit 17 Mitgliedern mag zwar, wenn man an die Größe nationaler Kabinette denkt, nicht als übermäßig erscheinen, aber man muß auf der anderen Seite bedenken, daß die Europäische Gemeinschaft bis heute bei 76 weitem nicht über die Vollkompetenz eines Staates verfügt. j Die Verteilung der begrenzten EG-Zuständigkeiten auf 17 Kommissionsmitglieder würde voraussichtlich eine nicht mehr gerechtfertigte Aufblähung dieses Organs mit entsprechendem administrativem Leerlauf nach sich ziehen. Es ist allerdings politisch gesehen außerordentlich schwierig, die Kommission zu verkleinern. Zur Debatte stehen bekanntlich vor allem zwei Modelle. Auf der einen Seite haben prominente Politiker vorgeschlagen, daß jeder der Mitgliedstaaten nur durch ein Kommissionsmitglied vertreten sein solle und lediglich der den Präsidenten stellende Staat für dessen Amtszeit ein zweites Kommissionsmitglied vorschlägt, das vom Europäischen Rat eingesetzt wird.32 Das ist ein Modell, das man als „Gleichheitsmodell“ bezeichnen könnte. Es wäre in manchem der inneren nichthegemonialen Struktur der Gemeinschaft gemäß, verlangte auf der anderen Seite freilich von den größeren Mitgliedstaaten Opfer an Einfluß innerhalb der Kommission. Ihm hat man daher bereits das so genannte Sicherheitsratsmodell gegenübergestellt.33 Schon vom Namen her inspiriert es sich von den Vereinten Nationen her. Es kann fraglich sein, ob damit anziehende Assoziationen geweckt werden. Der Grundgedanke des Sicherheitsratsmodells geht dahin, ob man in einer größeren Europäischen Gemeinschaft nicht zwischen ständigen Kommissionsmitgliedern und einer anderen Anzahl nichtständiger Mitglieder unterscheiden sollte, die in einem rollierenden System regelmäßig über bestimmte Zeiten Kommissionsmitglieder würden. Damit wür77 den natürlich die Unter- j schiede zwischen den größeren und kleineren Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft in einer nicht übersehbaren Weise äußerlich markiert.

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In allen oben Anm. 22 genannten Überlegungen. Das war die „Leeds-Formel“ (nach einem EPZ-Treffen der EG-Außenminister 1977). Näher dazu Wallace/Edwards/Tsoukalis, Eine Gemeinschaft der Zwölf, EuropaArchiv 1977, 656 ff. Positiv dazu auch der ehemalige britische Premier Harold Wilson, vgl. in: Oppermann (Hrsg.), In welches Europa führen die Direktwahlen? (Tübinger Europa-Colloquium), 1978, 24 f. 33 Besonders der frühere französische Außenminister Louis de Guiringaud, vgl. Wallace/Edwards/Tsoukalis (Anm. 32). 32

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Das ist wahrscheinlich integrationspolitisch ein sehr starkes Argument, das politisch-psychologisch gegen das Sicherheitsratsmodell spricht. Andererseits könnte das „Gleichheitsmodell“ inzwischen deshalb auch für die „Großen“ in der Europäischen Gemeinschaft erträglich sein, weil die Kommission in ihrer Initiativfunktion ganz anders als früher unter dem Schirm des Europäischen Rates steht, in dem sich das besondere Gewicht einzelner Mitgliedstaaten angemessen entfalten kann. Weiterhin spricht manches dafür, mit der Direktwahl des Europäischen Parlamentes einerseits, den Sachzwängen infolge der Vergrößerung der Europäischen Gemeinschaft durch die Süderweiterung andererseits, die Zeit für gekommen zu halten, das Gewicht der Kommission und damit die Funktionsfähigkeit der Institutionen überhaupt durch eine Verbreiterung der Legitimationsbasis der Kommission zu stärken. Auch ohne damit verbundene Ansprüche auf künftige europäische Regierungsgewalt ließe sich die Initiativfunktion der Kommission durch die Verwirklichung eines der seit längerem vorliegenden offiziösen Pläne, wie des „Plan Vedel 1972“ oder des „Berichtes Tindemans 1975“, wahrscheinlich wesentlich verbessern, nämlich an der Kommissionseinsetzung neben den Regierungen künftig auch das Europäische Parlament zu beteiligen.34 Ein dritter institutioneller Reformaspekt im Zusammenhang mit der Kommission läge darin, die Ausführungsfunktionen im Rahmen der Durchführung des vom Rat gesetzten Gemeinschaftsrechtes in stärkerem Maße der Kommission anzuvertrauen. Mit anderen Worten, die Ausschöpfung des Art. 155, vierter Gedankenstrich des EWG-Vertrages endlich im Buchstaben und Geiste dieser Vorschrift vorzunehmen.35 In einer Zwölfergemeinschaft kommt der Rechtsbefol- j gung im Sinne einer effizienten Durchführung des 78 Gemeinschaftsrechts gesteigerte Bedeutung zu. Das legt nahe, die Exekution stärker in die Hände desjenigen Organs zu legen, das als genuin gemeinschaftliches am ehesten in der Lage wäre, für eine einheitliche Durchführung und prompte Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts sorgen zu können. c) Das Europäische Parlament Zu Recht ist oftmals betont worden, daß eine Zwölfergemeinschaft noch viel mehr als die jetzige Neunergemeinschaft, wenn sie wirklich aktionsfähig sein oder bleiben will, der Herausbildung eines politisch wirkungskräftigen europäischen Gemeinwillens bedarf.36 Auch und gerade unter Erweiterungsgesichtspunkten ist daher die künftige Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft 34 „Plan Vedel“ in: Bulletin EG, Beilage 4/1972; Tindemans-Bericht in: Bulletin EG, Beilage 1/1976. 35 In diesem Sinne z. B. v. d. Groeben (Anm. 1), 82. 36 Statt vieler vgl. die EG-Kommission, Umfassende Überlegungen zu den Problemen der Erweiterung (Mitteilung an den Rat vom 20.4.1978), Bulletin EG, Beilage 1/ 1978, 6, 16 ff.

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aufs engste mit dem Erfolg des gewählten Europäischen Parlaments verbunden, in dem nunmehr bald die Vertreter Griechenlands sitzen werden. Das Europäische Parlament muß insbesondere die klassische parlamentarische Kreationsund Kontrollfunktion gegenüber Rat und Kommission – auch bei Nichtänderung der formalen Kompetenzen – durch ein wachsendes politisches Gewicht und Ansehen stärker wahrnehmen, um Impulse für die Aktionsfähigkeit der Gemeinschaft geben zu können. Auch so gesehen, wäre eine parlamentarische Beteiligung an der Benennung der Kommission bedeutsam. Mindestens ebenso wichtig ist jedoch die sogenannte Artikulationsfunktion. Das gewählte Parlament muß in viel stärkerem Maße als bisher in einen Dialog mit der Gemeinschaftsöffentlichkeit über die großen Fragen der Europäischen Gemeinschaft eintreten. Das gilt nicht zuletzt für einen so immensen Komplex wie die gemeinschaftsinterne „Erklärung“ der Notwendigkeit einer Süderweiterung und anschließend für ihre Durchsetzung in der öffentlichen Meinung der Mitglied79 staaten. In einem tiefer- j gehenden Sinne liegt in solcher Tätigkeit der Wekkung und Erhaltung eines Gemeinschaftsbewußtseins wahrscheinlich sogar die wichtigste Aufgabe des Parlamentes, nicht nur, aber auch im Zusammenhang mit der Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft.37 7. Alternativenlosigkeit der institutionellen Reform

Was hier an Kernpunkten einer institutionellen Reform in der Perspektive der süderweiterten Zwölfergemeinschaft angesprochen wurde, war nicht mehr als die Aufzählung eines Minimums, welches das Schwungrad der Integration einigermaßen im Interesse der Fortentwicklung der Gemeinschaft weiterdrehen ließe. Es wird selbst bei Durchführung einiger der hier behandelten Maßnahmen schwierig genug sein, ambitiösere Projekte der Gemeinschaft, wie das Europäische Währungssystem oder die Herstellung einer globalisierten Haltung der Gemeinschaft zu den weiteren Anrainern des Mittelmeerraumes im Rahmen der Außenhandelspolitik u. ä., unter Zwölfen in inhaltlichem Konsens zu realisieren. Ohne ein derartiges Minimum institutioneller Reformen erscheint dies freilich beinahe unmöglich, das heißt aber, weitgehende Stagnation mit allen Verfallsgefahren würde drohen. Denn gäbe es Alternativen? Auch das muß man zum Schluß wohl streifen. Es ist natürlich ein „Modell“ gelegentlich theoretisch entwickelt und auch in die europapolitische Diskussion eingeführt worden. Das ist die berühmte oder sagen wir eher berüchtigte „differenzierte Entwicklung“ innerhalb der Gemeinschaft. Der ehemalige Bundeskanzler Brandt hat das gelegentlich öffentlich angesprochen, und auch im Tindemans-Bericht 1975 hat die „Communauté à deux vitesses“ oder sogenannte „Multi-tier-Community“ publi-

37 Grundsätzlich hierzu Müller-Graff, Die Direktwahl des Europäischen Parlaments, 2. Aufl. 1979, 28 ff.

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zistischen Niederschlag gefunden.38 Gewisse, das heißt die wirtschaftlich stär- j 80 keren Mitgliedstaaten der Gemeinschaft sollten danach in der Verstärkung der Integrationsdichte schneller vorgehen dürfen als andere EG-Staaten. Bereits von der juristischen Seite her wirft dieses Modell eine Fülle ohne Vertragsänderungen einschneidender Art nicht lösbarer Probleme auf. Aber auch wenn man es von der politisch-wirtschaftlichen Seite her durchdenkt, stellt die „Communauté à deux vitesses“ nicht nur fundamentale Gemeinschaftsprinzipien wie die Gleichheit der EG-Bürger oder die uneingeschränkte Geltung der Gemeinschaftsrechtsordnung in Frage, sondern auch im Grunde den Gedanken des Beitritts weiter zu entwickelnder Staaten, wie im Fall Griechenlands. Denn was würde eigentlich aus jenen Mitgliedstaaten, die sich mit der „langsameren Geschwindigkeit“ bewegen? Genauer betrachtet würden sie keinen Vollstatus als Mitglieder erlangen und nichts anderes als Assoziierte eines neuen Typus und in einer anderen verbalen Einkleidung werden. Ganz abgesehen von der grundsätzlichen Verletzung des Solidaritäts- und des hegemonielosen Legitimationskonzeptes, auf dem die ganze Gemeinschaftskonstruktion bisher ruht, dürfte der Gedanke einer differenzierten Entwicklung innerhalb der Gemeinschaft daher eine wirksame Süderweiterung der Europäischen Gemeinschaft unmöglich machen. Es führt mit anderen Worten, wenn man die Zwölfergemeinschaft wirklich will, kein Weg um eine spürbare institutionelle Stärkung der Gemeinschaft herum. Nach den Erfahrungen mit der „Ablage“ des Tindemans-Berichtes 1975 dürfte freilich die richtige Art und ein günstiger Zeitpunkt der Initiative zur institutionellen Reform von nicht zu unterschätzender Bedeutung sein. Naheliegend und prozedural günstig wäre eine Verbindung solcher Reformschritte mit den „Anpassungen“ im Sinne von Art. 237 Abs. 2 des EWG-Vertrages, die im Zuge des Beitrittes von Portugal und Spanien anstehen werden. Es ist ja stets in der Europäischen Gemeinschaft schwierig, größere, vertragsändernde Reformen wegen des schwierigen Ratifikationsprozesses in den nationalen Parlamenten durchzusetzen. Der Beitritt weiterer Mitglieder bringt jedoch j notwendiger- 81 weise jedesmal einen solchen Ratifikationsprozeß mit sich. Ein aufgeklärtes und keineswegs gewaltsames Verständnis von den beim Beitritt nach Art. 237 Abs. 2 EWGV vorzunehmenden Vertragsanpassungen könnte dazu führen, hierunter auch jene relativ bescheidenen institutionellen Reformen einzuordnen, von denen ich sprach und die in der Tat nichts anderes sind als „Anpassungen“ zugunsten einer fortbestehenden Funktionsfähigkeit der vergrößerten Gemeinschaft.39

38 Vgl. die ursprüngliche Entwicklung dieses Gedankens durch Willy Brandt in: Europa-Archiv 1975, D 33 ff. (Auszüge). Wiederaufnahme im Tindemans-Bericht (Anm. 34), 22. 39 Zugunsten einer solchen teleologisch sinnvollen Auslegung von Art. 237 EWGV grundsätzlich aufgeschlossen Caspari/Nass, in: v. d. Groeben/Boeckh/Thiesing, EWGV, 2. Aufl. 1974, Art. 237, III, 1–4.

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Die Süderweiterung der Gemeinschaft ist zweifellos eine große Herausforderung. Sie wird so oder so besonders im allgemeinpolitischen Bereich voraussichtlich nicht nur quanitative, sondern auch einige qualitative Wandlungen der Gemeinschaft mit sich bringen.40 Dennoch muß diese Prüfung bestanden werden, will die Europäische Gemeinschaft ihr Etikett „europäisch“ weiterhin zu Recht für sich in Anspruch nehmen. Institutionell kann der große Ausbau und Umbau nur gelingen, wenn die Gemeinschaft sich rechtzeitig wieder auf einige ihre Tugenden und Hoffnungen besinnt, die in ihrer eigenen Gründerzeit sehr lebendig waren. Nicht zuletzt auf die Überzeugung, wachsen zu können, ohne die eigene integrative Handlungsfähigkeit und unverwechselbare „gemeinschaftliche Identität“ zu verlieren. Anderenfalls würde die Gefahr entstehen, daß die Europäische Gemeinschaft in ängstlicher Vorsicht ihre eigene Zukunft verspielt. Das wird niemand wollen, weder die sogenannte „Altgemeinschaft“, noch in ihrem eigenen Interesse die neuen Mitglieder, an deren Spitze die Europäische Gemeinschaft am 1. Januar 1981 mit der hellenischen Republik Griechenland den geschichtlichen Ausgangspunkt der europäischen Idee endlich in ihren Kreis einbezieht.

40 Überzeugend hierzu Haferkamp, Chancen und Risiken der zweiten EG-Erweiterung, Europa-Archiv 1977, 617 ff.

Zur „Philosophie“ des Eintritts der Tschechischen Republik in die Europäische Union Anfragen an Deutschland und an die Tschechische Republik Vortrag auf dem zweiten Symposium der Juristischen Fakultäten der beiden „KarlsUniversitäten“ Prag und Tübingen 2001 zu Grundfragen der EU-Mitgliedschaft der Tschechischen Republik.*

I. Wirtschaftliche und politische Dimension des EU-Beitritts Ein Beitritt zur Europäischen Union (Art. 49 EU-Vertrag) bedeutet heute mehr als den Eintritt in eine Wirtschaftsgemeinschaft. Die EU ist nach ihrer ganzen Entwicklung seit den fünfziger Jahren nicht mehr nur Wirtschafts- und Währungsunion. Sie versteht sich als eine auf Dauer angelegte auch politische Verbindung ihrer Mitgliedstaaten, die nach Art. 6 EUV den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit verpflichtet sind. „We are in Politics, not only in Economics“ (Walter Hallstein). Häufig wird die EU mit Blick auf Art. 6 EUV als Wertegemeinschaft bezeichnet, deren Mitglieder sich gemeinsamen politischen Idealen verpflichtet fühlen.1 Die Europäische Union versteht sich nicht zuletzt als eine Friedensgemeinschaft von Völkern, die in der Geschichte lange miteinander in Streit lagen. Die Überwindung der „Erbfeindschaft“ zwischen Deutschland und Frankreich nach 1945 ist hierfür bisher das wichtigste Beispiel. Jenseits der Lösung aller wirtschaftlichen und tagespolitischen Probleme bedeutet die Osterweiterung der EU für die Bürger Deutschlands und seiner mitteleuropäischen Nachbarn wie vor allem Polens und der Tschechischen Republik die Herausforderung, die Schatten einer unseligen Vergangenheit von mehr als hundert Jahren hinter sich zu lassen und Mitglieder einer dauerhaften größeren Gemeinschaft zu werden.

* Erstmals erschienen in: Nettesheim/Oppermann (Hrsg.), Die Tschechische Republik in der Europäischen Union. Zweites Treffen der Juristenfakultäten der EberhardKarls-Universität Tübingen und der Karls-Universität Prag 2001, Mohr Siebeck, Tübingen 2003, 11–18. 1 Lenz, Gemeinsame Grundlagen und Grundwerte des Rechts der Europäischen Gemeinschaft, ZRP 1988, 449 ff.; Scheuing (Hrsg.), Europäische Demokratie, 1998.

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Nach dem „Kopenhagener Kriterienkatalog“ von 1993 gelten als Beitrittsvoraussetzungen die freiheitlich-demokratische Staatsform (darin spiegeln sich die Grundsätze des Art. 6 EUV wider), die Bereitschaft zur vollen Mitgliedschaft 12 einschließlich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheits- j politik und der Polizeilich-Justitiellen Zusammenarbeit, eine den Grundprinzipien einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb entsprechende Wirtschaftsordnung (Art. 4 EGV) und die Übernahme des beim Beitritt geltenden primären und sekundären Gemeinschaftsrechts („Acquis communautaire“).2 Mit der Aufnahme der Beitrittsverhandlungen haben die EU-Mitgliedstaaten ihre Auffassung bekundet, daß die Tschechische Republik in der Lage ist, die Beitrittsvoraussetzungen zu erfüllen. Wie andere Beitrittsstaaten beteiligt sich die Tschechische Republik seit 2002 im Europäischen Verfassungskonvent beratend an den Vorbereitungen für eine europäische Verfassung der künftigen „Groß-EU“ mit 25 und mehr Mitgliedstaaten.3 II. Eintritt in eine dauerhafte „Föderation von Nationalstaaten“ Die Europäische Union soll auf unbestimmte Zeit bestehen (Art. 51 EUV). Sie will kein „Superstaat“ sein, sondern achtet die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten (Art. 6 Abs. 3 EUV). Die EU entwickelt ihre Strukturen immer noch weiter, gegenwärtig im so genannten „Post-Nizza-Prozeß“. In ihm soll eine Regierungskonferenz ab 2004 aufgrund der Vorschläge des Verfassungskonvents über die Rechtsgestalt des großen Europas entscheiden. In der kontroversen politischen Diskussion über die Finalität der EU wird neuerdings öfter von einer „Föderation von Nationalstaaten“ gesprochen, sowie von der Notwendigkeit, eine „europäische Verfassung“ zu schaffen. Unabhängig von diesen noch diffusen Erörterungen bedeutet die Mitgliedschaft in der EU keine rein völkerrechtliche Verbindung, sondern den Eintritt in ein „geregeltes Verfassungsleben“.4 In den Organen der EG/EU werden eine Fülle meist wirtschaftlicher Fragen (z. B. in den Bereichen von Währung, Wettbewerb, Landwirtschaft, Personenfreizügigkeit oder Umweltschutz) in einer Art und Weise behandelt, die dem innerstaatlichen Rechts- und Verwaltungsverkehr und nicht diplomatischen Beziehungen entspricht. Die Staatsangehörigen der EU-Staaten sind 2 Näher zu den Beitrittsvoraussetzungen Oppermann, Europarecht, 2. Aufl. 1999, S. 799 ff. 3 Nach der Erklärung von Laeken vom 15.12.2001 (Doc SN 283/01), mit welcher der Konvent einberufen wurde, ist die Tschechische Republik wie alle EU-Staaten und Bewerberländer mit einem Regierungsvertreter und zwei Parlamentariern im Konvent vertreten. Vg1. auch Wägenbaur, Die Erklärung von Laeken zur Zukunft der EU, EuZW 2002, 65. 4 Zum Verfassungscharakter des Europäischen Gemeinschaftsrechts EuGHE 1991, 6079, Gutachten 1/91 „EWR“; Rodriguez Iglesias, Zur „Verfassung“ der Europäischen Gemeinschaft, 1996.

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gleichzeitig Unionsbürger (Art. 17 ff. EGV). Die Unionsbürgerschaft ergänzt die nationale Staatsbürgerschaft und verleiht verschiedene „europäische“ Rechte. Auch an dem umfassenden Rechtsschutz bei der europäischen Gerichtsbarkeit in Luxem- j burg (Gerichtshof und Gericht erster Instanz, Art. 220 ff. 13 EGV) wird der staatsähnliche und nicht klassisch-internationale Charakter der Europäischen Union sichtbar.5 III. Deutschland und die Tschechische Republik in einem gemeinsamen europäischen Binnenmarkt Die Europäische Gemeinschaft als „harter Kern“ der Union konstituiert sich wesentlich durch den Binnenmarkt als Raum ohne Binnengrenzen (Art. 14 EGV).6 Die Schaffung eines solchen Raumes für den freien Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital kann in der Realität auf Dauer nur gelingen, wenn sich zwischen den Beteiligten über das „Geschäftliche“ hinaus ein positives Verhältnis entwickelt. Der Beitritt bedeutet daher für Deutschland und die Tschechische Republik kraft ihrer geographischen Nachbarschaft eine ganz besondere Verpflichtung, ihre Beziehungen über das Wirtschaftliche hinaus zu gestalten. Die Politiker tragen Verantwortung für einen konstruktiven Umgang beider Länder in ihren offiziellen Beziehungen. In einem Europa der Bürger beschränken sich diese Aufgaben aber nicht auf die Regierungskontakte. Um ein gutnachbarliches Verhältnis zu schaffen, müssen die deutschen und tschechischen Bürger ohne Berührungsängste und Ausschlußforderungen aufeinander zugehen. Erfreulicherweise arbeiten bereits seit Jahren verschiedene deutsch-tschechische Gesprächskreise in diesem Sinne.7 IV. Deutsch-Tschechische Vergangenheit und gemeinsame EU-Mitgliedschaft Für die Tschechische Republik bedeutet die EU-Mitgliedschaft die Rückkehr in ein demokratisches Europa einer ganzen Reihe von Staaten wie etwa Frankreich oder Großbritannien, mit denen die damalige Tschechoslowakei bereits in früheren Zeiten in guten Beziehungen lebte. j 5 Oppermann, Die dritte Gewalt in der Europäischen Union, DVBl. 1994, 901 ff. (in diesem Band abgedruckt S. 101 ff.); Sander, Der Europäische Gerichtshof als Förderer und Hüter der Integration, 1998. 6 Dauses, Die rechtliche Dimension des Binnenmarktes, EWS 1990, 8 ff. 7 Etwa die deutsch-tschechischen „Iglauer Begegnungen“, die seit über einem Jahrzehnt unter Beteiligung von Bürgern und Politikern beider Seiten regelmäßig stattfinden, vgl. den Bericht in FAZ, 10.4.2001, 9. Gefördert werden solche Kontakte durch das offizielle deutsch-tschechische Gesprächsforum und finanziell durch den deutschtschechischen Zukunftsfonds.

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Demgegenüber ist die Entwicklung eines gutnachbarlichen Verhältnisses zwischen den deutschen und tschechischen Bürgern, die mit dem Beitritt gemeinsame Unionsbürger werden (Art. 17 EGV), ein weitaus schwierigeres und historisch belasteteres Unterfangen. Es setzt die allmähliche Überwindung der Distanz und des Mißtrauens voraus, welches aufgrund der leidvollen deutschtschechisch-österreichischen Geschichte seit dem 19. Jahrhundert auf beiden Seiten teilweise bis heute herrscht.8 Für die bilateralen Beziehungen schlug der Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit vom 27.2.1992 die erste Brücke. In Art. 10 sagte Deutschland seine Unterstützung der vollen Eingliederung der damaligen Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik in die Europäischen Gemeinschaften zu. Für die Führung der Beitrittsverhandlungen auf deutscher und tschechischer Seite gilt inzwischen auch die deutsch-tschechische Erklärung von 1997, wonach die beiden Staaten „ihre Beziehungen nicht mit aus der Vergangenheit herrührenden politischen und rechtlichen Fragen belasten“.9 Ungeachtet dieser gemeinsamen Anstrengungen um ein positives Gesprächsklima sind seit dem Fortschreiten der Brüsseler Beitrittsverhandlungen mit Blick auf die Anerkennung der so genannten „Homogenitätsklausel“ des Art. 6 EUV durch die Tschechische Republik im politischen Raum Deutschlands und Tschechiens alte Verletzungen und Ängste wieder aufgebrochen.

Europarechtlich geht es dabei um die Fragen der Fortgeltung und Vereinbarkeit der tschechischen Nachkriegsgesetzgebung 1945/46, welche die entschädigungslose Enteignung und Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei legalisierten, mit der in Art. 6 EUV umschriebenen „homogenen“ Wertegemeinschaft der Union.10 Bei einer beiderseitigen Besinnung auf den Geist der 15 deutsch-tschechischen Beziehungen, wie sie im Vertrag j von 1992 und in der Erklärung von 1997 dokumentiert wurden, erscheint kaum vorstellbar, daß der

8 Die geschichtliche Problematik des tschechisch-sudetendeutschen Verhältnisses vom „Völkerzwist“ 1848/49 bis zur Errichtung des „Protektorates Böhmen und Mähren“ 1939 beschreiben Hoffmann/Harasko (Hrsg.), Odsun. Die Vertreibung der Sudentendeutschen, Bd. 1, 2000. 9 Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit v. 27.2.1992, BGBl. II, 463; Deutsch-Tschechische Erklärung über die gegenseitigen Beziehungen und deren künftige Entwicklung, Text: Bulletin Presseund Informationsamt der Bundesregierung 1997 7/61. Die Erklärung wurde vom Deutschen Bundestag und von der tschechischen Abgeordnetenkammer mehrheitlich angenommen. Vgl. auch Blumenwitz, Die deutsch-tschechische Erklärung vom 21. Januar 1997, AVR 1998, 19 ff. 10 Schorkopf, Homogenität in der Europäischen Union, 2000. – Gegenstand sind die Dekrete des tschechoslowakischen Staatspräsidenten Edvard Benesˇ Nr. 5/12/33/71/ 122/108/137 zwischen dem 19. Mai und 27. Oktober 1945 sowie das Straffreistellungsgesetz v. 8. Mai 1946.

Zur „Philosophie‘‘ des Eintritts der Tschechischen Republik

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Komplex „Benesˇ-Dekrete“ zu einem endgültigen juristischen Hindernis für den EU-Beitritt der Tschechischen Republik werden könnte.11 Um diese Beziehungen jedoch auf der für eine gemeinsame EU-Mitgliedschaft wesentlichen Bürgerebene zu normalisieren, bedarf es mehr als einer Regierungserklärung, nämlich der fortschreitenden Bereitschaft sowohl der Offiziellen als auch der Menschen, im Wissen um die Vergangenheit aufeinander zuzugehen und eine gute nachbarliche Zukunft zu gestalten. Wie die neu erwachten Emotionen vor den Parlamentswahlen in Tschechien und Deutschland 2002 erkennen ließen, liegt insofern noch ein Stück Weges vor allen Beteiligten.12 Nach allen Erfahrungen ist die umfassende Intensivierung der Wirtschaftsbeziehungen, die der Beitritt Tschechiens zur EU mit sich bringt, die beste Voraussetzung dafür, daß sich die menschlichen Beziehungen wandeln und vertiefen. V. Freizügigkeit von Deutschen und Tschechen im gemeinsamen Binnenmarkt Das schwierigste Beitrittsthema zwischen Deutschland und der Tschechischen Republik bei der Herstellung des Binnenmarktes ohne Grenzen ist die Freizügigkeit der Personen (Freizügigkeit der Arbeitnehmer, Niederlassungsfreiheit und Dienstleistungsfreiheit der Selbständigen, Art. 39 ff. EGV) in beiden Richtungen.13 Hier berühren sich Wirtschaft, Soziales und das Menschliche. Die Freizügigkeitsdiskussion ist auf deutscher und tschechischer Seite sowie in Brüssel lange in unglücklicher Weise von Forderun- j gen nach Übergangsfri- 16 sten beherrscht worden, welche die Herstellung der Freizügigkeit unter verschiedenen Aspekten (Mobilität der Arbeitskräfte, Landerwerb u. a. m.) um fünf, sieben Jahre oder noch länger aufschieben sollen.14 Wahrscheinlich lassen sich 11 Das Europäische Parlament und andere am EU-Beitritt beteiligte Instanzen haben Rechtsgutachten zu diesen Fragen erbeten (Frowein, Nettesheim). Auf tschechischer Seite hat zuletzt die Erklärung des Abgeordnetenhauses vom 23.4.2002 die Nachkriegsgesetzgebung (oben Anm. 10) als „konsumiert“ bezeichnet, sodaß heute auf ihrer Grundlage keine neuen Rechtsbeziehungen entstehen könnten. Andererseits seien die aus ihnen hervorgegangenen rechtlichen und Eigentumsverhältnisse „unantastbar und unveränderbar“. In Deutschland kommt ein besonnener Autor wie Tomuschat in seiner Analyse (Reckoning with the Past in the Czech Republic: a Test for the Homogeneity Clause pursuant to Article 6 EC Treaty, CMLRev. 2002, 451 ff.) zu dem Ergebnis, daß die eigentlichen Benesˇ-Dekrete von 1945 kein unüberwindliches Hindernis für den tschechischen EU-Beitritt darstellten. Jedoch müsse das Gesetz vom 8.5.1946 mit der umfassenden Freistellung von allen gegen Sudentendeutsche verübten Straftaten zwischen 30.9.1938 und 28.10.1945 wegen Unvereinbarkeit mit Art. 6 EUV vor dem Beitritt der Tschechischen Republik aufgehoben werden. 12 Spengler/Müller, Wahlen zum Abgeordnetenhaus in Tschechien, KAS/Auslandsinformationen 7/2002, 23 ff. 13 Hailbronner (Hrsg.), 30 Jahre Freizügigkeit in Europa, 1998.

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V. Außenbeziehungen der Europäischen Union

gewisse Übergangsfristen aus wirtschaftlichen und anderen Gründen nicht vermeiden. Sie sind bei den früheren EU-Beitritten auf den verschiedensten Gebieten üblich gewesen.15 Im Interesse der raschen und wirksamen Herstellung des freien Binnenmarktes sollten diese Fristen jedoch so kurz wie möglich gehalten werden. Aus politischer Sicht empfiehlt sich eine paritätische zeitliche Länge. Die Übergangsfristen sollten ferner flexibel gestaltet werden, d.h. sie müssen verkürzt werden können, wenn sich herausstellt, daß die in Deutschland wie in Tschechien befürchteten Gefahren einer „Überflutung durch billige tschechische Arbeitskräfte“ oder eines „Landausverkaufs an die Sudetendeutschen“ nicht eintreten. Die Erfahrung bei den früheren EG-Beitritten beispielsweise Irlands, Spaniens oder Portugals hat gezeigt, daß nur geringe Wanderungsbewegungen eintreten, da mit dem Beitritt zur Union infolge der verbesserten Lage zu Hause der wirtschaftliche Anreiz entfällt, Arbeit in einem anderen EU-Staat aufzunehmen. Auch der Wunsch von Sudetendeutschen und ihrer Nachkommen, die seit 1945 in Deutschland und Österreich leben, sich in der Tschechischen Republik niederzulassen, wird sich zahlenmäßig in engen Grenzen halten. In Deutschland besteht mittelfristig aufgrund der demographischen Entwicklung ein Bedarf an Zuwanderung qualifizierter Personen. Die Herstellung des freien Binnenmarktes für Personen und die gemeinsame Unionsbürgerschaft verlangen rechtlich (Art. 12, 14, 18 EGV) und politisch, daß die Personenfreizügigkeit beiderseits umfassend, in überschaubaren Fristen und ohne jegliche Diskriminierung hergestellt wird. Was nach 1958 zwischen Deutschen und Franzosen, Griechen und Italienern und überall sonst in der EU möglich war, muß auch für das deutsch-tschechische Verhältnis gelten.16 Im Übrigen dient die Erfüllung dieser Pflichten den zwischenmenschlichen Bezie17 hungen. Die gegenseitige Freizügigkeit j ermöglicht ein dauerhaftes und vertief-

14 Die Kommission empfiehlt bisher eine grundsätzliche Übergangsfrist von fünf Jahren bei der Freizügigkeit für die Bewerberländer mit Möglichkeit der Verlängerung auf sieben Jahre, aber auch mit Abkürzungsmöglichkeiten im Lichte der Erfahrungen. Von tschechischer Seite wird gefordert, das Recht auf Grunderwerb durch Bürger anderer EU-Staaten um sieben oder sogar zehn Jahre hinauszuschieben. Ein solcher „Beitritt zweiter Klasse“ wird öfters kritisiert. Vgl. auch Hänlein, Übergangsregelungen beim EU-Beitritt der MOE-Staaten im Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der sozialen Sicherheit, EuZW 2001, 165 ff. 15 Beim Beitritt Spaniens und Portugals 1986 wurde die Arbeitnehmerfreizügigkeit für eine Übergangszeit von sieben Jahren eingeschränkt; Wölker, Rechtsprobleme nach dem Eintritt Spaniens und Portugals in die EG, JZ 1988, 140 ff. 16 In einem Briefwechsel der Außenminister Dienstbier und Genscher in der Anlage zum deutsch-tschechischen Nachbarschaftsvertrag vom 27.2.1992 (Anm. 9) erklärte die Regierung der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik, daß die in Art. 10 des Vertrages erwähnte Perspektive der vollen Eingliederung in die Europäischen Gemeinschaften „die Möglichkeit schaffen wird, daß sich auch Bürger der Bundesrepublik Deutschland in der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik niederlassen können“.

Zur „Philosophie‘‘ des Eintritts der Tschechischen Republik

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tes Kennenlernen und ist damit die beste Voraussetzung für gutnachbarliche Beziehungen zwischen den Bürgern. VI. Juristischer und tatsächlicher Eintritt der Tschechischen Republik in die Europäische Union Trotz aller Schwierigkeiten bei einigen „Beitrittsdossiers“ und zeitlichen Verzögerungen aufgrund von Differenzen zwischen einzelnen EU-Staaten über die „Beitrittsgeschwindigkeit“ dürfte der Eintritt der Tschechischen Republik in die Europäische Union absehbar geworden sein. Der Vertrag von Nizza hat die künftige Stellung Tschechiens in den Institutionen der Gemeinschaft geklärt.17 In den Verhandlungen mit Brüssel liegt die Tschechische Republik zusammen mit Ungarn an der Spitze der ersten Gruppe der mittelosteuropäischen Beitrittsstaaten. Meist wird das Jahr 2004 als erreichbares Datum genannt. Dann finden die nächsten Wahlen zum Europäischen Parlament statt, an denen die ersten Beitrittsstaaten nach Möglichkeit teilnehmen sollen. Bis Mitte 2003 ist der Europäische Verfassungskonvent unter tschechischer Beteiligung aufgerufen, den Entwurf für die Verfassung der künftigen „Groß-EU“ mit 25 und mehr Mitgliedstaaten vorzulegen. Anschließend ab 2004 soll eine neuerliche Regierungskonferenz als Abschluß des „Post-Nizza-Prozesses“ die endgültige Gestalt dieser Vertragsverfassung beschließen.18 Bis die Beitritte und die EU-Verfassung mit den notwendigen parlamentarischen Ratifikationen juristisch in Kraft treten, dürften die Jahre ab 2006 anbrechen. j Wenn der juristische Beitritt der Tschechischen Republik zur Europäischen 18 Union daher noch eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen wird, geht die tatsächliche Entwicklung erfreulicherweise einen rascheren Gang. Wirtschaftsund Bürgerebene haben den Beitritt gelegentlich heute schon vorweggenommen. Ein großes deutsches Automobilunternehmen arbeitet seit Anfang der neunziger Jahre erfolgreich in Tschechien.19 Tschechische Fußballprofis spielen in den besten Bundesligavereinen um die deutsche und europäische Meister-

17 Nach der Erklärung zum Nizza-Vertrag zur Erweiterung der Europäischen Union soll die Tschechische Republik im Europäischen Parlament über 20 Sitze von 732 verfügen. Wie alle EU-Staaten ist Tschechien im Rat vertreten und besitzt dort bei der Stimmengewichtung 12 von 345 Stimmen. Bis zur endgültigen Regelung nach 2005 stellt die Tschechische Republik wie die anderen Beitrittsstaaten ein Mitglied der EUKommission und je einen Richter im Gerichtshof und beim Gericht erster Instanz. 18 Schwarze, Auf dem Wege zu einer europäischen Verfassung, DVBl. 1999, 1677 ff.; Müller-Graff, Der Post-Nizza-Prozeß. Auf dem Weg zu einer neuen europäischen Verfassung? Integration 2001, 208 ff.; Oppermann, Vom Nizza-Vertrag 2001 zum Europäischen Verfassungskonvent 2002/2003, DVBl. 2003, 1 ff. (in diesem Band abgedruckt S. 235 ff.). 19 Das 1991 von der Volkswagen AG übernommene tschechische Staatsunternehmen Skoda wird in Wolfsburg als die „schönste Tochter von VW“ bezeichnet.

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V. Außenbeziehungen der Europäischen Union

schaft. Auf regionaler Ebene finden – oft unter maßgeblicher politischer Beteiligung – ermutigende Begegnungen statt.20 Hierzu rechnen nicht als Geringstes die Wissenschaftsbeziehungen zwischen den Universitäten und Fakultäten. Die beiden Symposien der „Karls-Universitäten“ in Prag und Tübingen 1999/2001 gehören in diesen Zusammenhang.21 Es besteht begründete Hoffnung, daß die „Philosophie“ der gemeinsamen Zugehörigkeit der Deutschen und Tschechen als Unionsbürger zur Wertegemeinschaft der Union in Deutschland und Tschechien, insbesondere in den jüngeren Generationen, wachsende Resonanz findet. Ihre Verankerung in den Köpfen und Herzen der Bürger wäre mindestens so wichtig wie alle Artikel des Beitrittsvertrages.

20

Oben Anm. 7. ˇ ádu˚, 2000 (= Verhandlungen Tichy (Hrsg.), Europeizace Národních Právních R des ersten Symposiums in Prag 15.–17.9.1999). 21

VI. Europa und die Kultur

Die Sprachen der Europäischen Union Ein Blick in das Brüsseler „Sprachenbabylon“. Der Beitrag weist auf die unterschiedlichen linguistischen Anforderungen hin, die sich einer multilingualen Integrationsgemeinschaft stellen – einerseits in ihrem Verkehr mit den Unionsbürgern aus 25 Staaten, andererseits bei den Verhandlungen innerhalb der EU-Institutionen sowie in der täglichen Arbeit der Brüsseler „Eurokratie“.*

I. Sprache als Teil der nationalen Identität Ein wesentlicher Grund, weshalb die Europäische Union sich schwer tut, eine gemeinsame europäische Staatlichkeit zu entwickeln, liegt in der Vielfalt der Sprachen, die innerhalb der Gemeinschaft gesprochen werden. Multinationale Bundesstaaten wie die USA oder Indien erfahren ihre innere Kohäsion nicht zuletzt durch das Band einer gemeinsamen Sprache. Eine Staatengemeinschaft wie die Europäische Union, in der die Mitgliedstaaten die politische Letztverantwortlichkeit bewahrt haben, tut sich da schwerer. Die EU kennt derzeit in ihren 15 Mitgliedstaaten nicht weniger als 12 offizielle Landessprachen. Wenn die im Nizza-Vertrag von 2001 ins Auge gefaßte künftige Union von 27 Mitgliedstaaten Wirklichkeit werden sollte, verfügte sie über 21 Nationalsprachen. Die sprachlichen Grenzen, die auf diese Weise zwischen den EU-Staaten vielfältig bestehen, bedeuten Trennungslinien, die sich anders als Unterschiede in Rechtsvorschriften oder Handelshemmnisse nicht mit juristischen Mitteln auflösen lassen. Die Sprache gehört zur nationalen Identität der Mitgliedstaaten, welche die Europäische Union achtet (Art. 6 Abs. 3 EU-Vertrag, Art. 22 EU-Grundrechtecharta). Die Schaffung eines gemeinsamen Sprachenregimes, welches die Verständigung zwischen den Unionsbürgern und auch zwischen den politisch-wirtschaftlichen-kulturellen Eliten ermöglicht, stellte von Anfang an eine gewaltige Herausforderung für die Europäische Gemeinschaft und Union dar1. Seit ihren Anfängen in den fünfziger Jahren bemühen sich die Gemeinschaft und ihre Mitgliedstaaten um die Bewältigung. j

* Erstmals erschienen in: Graf Vitzthum/Pena (Hrsg.), L’identité de l’Europe/Die Identität Europas, Presses Universitaires d’Aix-Marseille, 2002, 437–447 (nicht mit abgedruckt ist die im Original enthaltene französischsprachige Zusammenfassung). 1 Bruha/Seeler, Die EU und ihre Sprachen, 1998; Hagege, Les langues et l’Europe, Le Forum 1/2001, 183 ff.; Oppermann, Reform der EU-Sprachengesetzgebung? NJW 2001, 2663 ff.

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VI. Europa und die Kultur

II. Gleichberechtigung der Nationalsprachen in der EU „Die Seele eines Volkes lebt in seiner Sprache“, sagt ein altes Sprichwort. Es war daher nur konsequent, daß die 1958 in der ursprünglichen Sechsergemeinschaft konzipierte Sprachenregelung (heute Art. 314 EG-Vertrag und EWG-Verordnung Nr. 1 vom 15.4.1958) vom Grundsatz der Gleichberechtigung der damaligen vier Landessprachen der Mitgliedstaaten ausging2. Über die Nord-, Süd- und EFTA-Erweiterung der EU sind es bis 1995 11–12 Landessprachen geworden3. Sie sind die Amtssprachen der Gemeinschaft. Die sprachliche Gleichberechtigung ist für eine Union zwingend, die nicht nur eine Gemeinschaft der Mitgliedstaaten sein will, sondern gleichzeitig in unmittelbare Beziehungen zu ihren Unionsbürgern tritt und sich zum Demokratieprinzip bekennt4. Internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen, die sich auf den staatlich-diplomatischen Verkehr innerhalb ihrer Organe beschränken, können bei 185 Mitgliedstaaten mit fünf Amtssprachen auskommen. Mitglieder der EG/ EU sind dagegen auch die einzelnen Unionsbürger, die nach Art. 18 ff. EGV über Freizügigkeits-, Wahl-, Schutz- und Petitionsrechte verfügen und der EGRechtsetzung in Gestalt von Verordnungen und Entscheidungen unmittelbar unterworfen sind. Die Unionsbürger können in bestimmten Grenzen bei der europäischen Gerichtsbarkeit klagen. Der europäische Status des Unionsbürgers verlangt, daß jeder Angehörige eines EU-Staates in seiner Muttersprache mündlich und schriftlich mit den Einrichtungen der Gemeinschaft in Verbindung treten und deren Verlautbarungen verstehen kann. Gleiches gilt für Unternehmen, die besonders im Wettbewerbsrecht unter unmittelbarer Brüsseler Kontrolle stehen. III. Praktische Verständigungsbedürfnisse innerhalb der EU-Institutionen

So unabdingbar das Prinzip der sprachlichen Gleichberechtigung auf der Bürgerebene ist, steht es in einem Spannungsverhältnis zu den täglichen Verständi439 gungsbedürfnissen innerhalb der j Einrichtungen der Gemeinschaft in Brüssel, Straßburg, Luxemburg und anderswo (Rat, Kommission, Parlament, Gerichtshof usf.). Für die mündliche und schriftliche Kommunikation zwischen Ministern, 2 VO Nr. 1 zur Regelung der Sprachenfrage, ABl. Gem. 1958, 353 ff. – Änderungen nach den Beitritten zur EG/EU 1973, 1981, 1986 und 1995; Überblick bei Oppermann, Europarecht, 2. Aufl. 1999, S. 83 ff. – Beim EGKS-Vertrag 1952 ff. hatte sich anfänglich ein gewisser Vorrang der französischen Sprache ergeben. 3 Die irische „Ursprache“ Gälisch ist neben Englisch für Irland keine EG-Amtssprache im vollen Sinne. Sie kann aber von irischen Klägern als Verfahrenssprache in der europäischen Gerichtsbarkeit gewählt werden (Art. 29 ff. Verfahrensordnung des Gerichtshofes). 4 Hilpold, Unionsbürgerschaft und Sprachenrechte in der EU, JBl. 2000, 93 ff.; Bleckmann, Das europäische Demokratieprinzip, JZ 2001, 53 ff.

Die Sprachen der Europäischen Union

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Parlamentariern, Kommissionsmitgliedern, Richtern, Zentralbankgouverneuren sowie der großen Zahl von Angehörigen des europäischen und der nationalen Öffentlichen Dienste bedarf es aus praktischen Gründen oftmals der Beschränkung auf wenige Arbeits- oder Verfahrenssprachen. Allerdings muß auch in diesem Zusammenhang zwischen den verschiedenen Formen der Begegnung innerhalb der Institutionen der EU unterschieden werden. IV. Politische Ebene und Ausschußsitzungen Grundsätzlich sind die elf Amtssprachen gemäß Art. 1 der VO Nr. 1 von 1958 zugleich die verbindlichen Arbeitssprachen im offiziellen Verkehr innerhalb der EG/EU. Das bedeutet, daß bei den Beratungen der Politiker in Rat und Kommission sowie beim Europäischen Parlament, aber auch in den leitenden Gremien des Rechnungshofes, des Wirtschafts- und Sozialausschusses und des Ausschusses der Regionen ein Anspruch auf wechselseitige Simultanübersetzung besteht. Da sich bei elf Amtssprachen nicht weniger als 110 Übersetzungskombinationen ergeben, stellt dies eine große Herausforderung für den EU-Sprachendienst dar5. Auf der politischen Ebene ist es jedoch sowohl aus Gründen der Praxis als auch des nationalen Prestiges notwendig, die sprachliche Gleichberechtigung zu wahren, wenn auch gelegentlich mit gewissen Abstrichen6. Nationale Minister, Kommissionsmitglieder und Europaparlamentarier werden nicht wegen ihrer Sprachfertigkeit, sondern aus anderen Gründen gewählt. Sie müssen sich in den EU-Organen in ihrer Muttersprache artikulieren können. Die eigentlichen linguistischen Probleme der Union beginnen auf der Ebene der zahllosen Brüsseler Sitzungen in Ausschüssen der Europäischen Kommission und des Ministerrates, in denen sich die nationalen Beamten aus den 15 Mitgliedstaaten mit den europäischen Bediensteten täglich begegnen7. Eigentlich gilt die Regelung der VO Nr. 1 über die Gleichberechtigung aller Amtssprachen auch für die Ausschüsse. Theoretisch müßten in jeder Ausschußsitzung alle Dokumente in den 11 Sprachen vorliegen und entsprechend simultan gedolmetscht werden. Das ist jedoch auch für j den großen EU-Sprachendienst 440 aus organisatorischen und finanziellen Gründen nicht möglich. Daher hat sich seit längerem faktisch eine Beschränkung auf ungefähr 5–6 Gemeinschaftssprachen ergeben, was gerade noch bewältigt werden kann. Dabei wird sowohl aus Gründen der tatsächlichen Sprachenkenntnisse innerhalb der nationalen und 5

Zu ihm Atkins, The European Commission’s Translation Service, 1999. Bei informellen Ratstagungen galt lange Zeit faktisch eine Dreisprachenregelung (Deutsch/Englisch/Französisch), bis sie 1999 von der finnischen Ratspräsidentschaft zeitweilig in Frage gestellt wurde. 7 Zum Brüsseler Ausschußwesen („Komitologie“), das mittlerweile durch Ratsbeschlüsse eingehend geregelt ist, Mensching, Der neue Komitologiebeschluß des Rates, EuZW 2000, 268 ff. 6

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VI. Europa und die Kultur

europäischen Bürokratie als auch mit Blick auf die Nationalitätenverteilung bei den Beamten der Kommission und des Rates meist auf die sogenannten „großen“ Gemeinschaftssprachen (Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch und Spanisch) zurückgegriffen. Oft tritt das Niederländische als eine der „Ursprachen“ der EWG hinzu. Möglicherweise muß es nach der Osterweiterung durch das Polnische als größte Sprache der Beitrittsländer ersetzt werden. Juristisch läßt sich die praktisch unabdingbare Abweichung vom Gleichbehandlungsgrundsatz mit Art. 6 der VO Nr. 1 rechtfertigen, wonach die Organe in ihren Geschäftsordnungen die Regelung der Sprachenfrage im einzelnen näher anwenden. V. Integrierte Gemeinschaftsverwaltung Besonders akut ist die Sprachenfrage für die tägliche Arbeit im inneren Dienstbetrieb der EU-Gemeinschaftsverwaltung, vor allem bei den Diensten der Europäischen Kommission mit ihren über 20.000 Europabeamten aus allen Mitgliedstaaten8. Bei einer internen Dienstbesprechung oder der Vorbereitung eines Kommissionsvorschlages kann nicht in einer Vielzahl von Sprachen gearbeitet werden. Der Gebrauch ganz weniger im Öffentlichen Dienst der Gemeinschaft besonders verbreiteter Amtssprachen als Arbeitssprachen ist in einem solchen „Verwaltungsmoloch“ notwendig. Das Ideal wäre die Verwendung nur einer einzigen Arbeitssprache. Die Regelung der internen Arbeitssprachen bei Kommission und Rat geschieht durch Dienstanweisungen, die den Geschäftsordnungen im Sinne des Art. 6 VO Nr. 1 gleichgesetzt werden. In der ursprünglichen Sechsergemeinschaft bis 1973 waren Deutsch und Französisch die internen Arbeitssprachen. Infolge der starken „Latinität“ der damaligen EWG stand das Französische im Vordergrund. Mit dem Beitritt Großbritanniens wurde das Englische dritte interne Arbeitssprache. Seither hat diese Lingua franca unseres Zeitalters das Französische auf den zweiten Platz verwiesen. Deutsch ist als dritte Arbeitssprache mittlerweile weit abgeschlagen9. 1999 lag der Gebrauch 441 des Englischen im inneren j EU-Dienstbetrieb bei ca. 45% der Vorgänge, des Französischen bei 40%, während das Deutsche 5% erreichte. Das weitere Vordringen des Englischen dürfte absehbar sein, nicht zuletzt durch die Osterweiterung, da Kenntnisse des Englischen im Öffentlichen Dienst der Beitrittsstaaten heute am stärksten verbreitet sind. Durch juristische oder administrative Maßnahmen läßt sich diese Entwicklung kaum beeinflussen.

8

Dietz/Fabian, Das Räderwerk der Europäischen Kommission, 3. Auflage 1999. Insbesondere Spanien möchte unter Verweis auf die globale Bedeutung seiner Sprache in der EU einen Vorrang des Deutschen als Arbeitssprache nicht anerkennen. Innerhalb der EU steht Spanien jedoch nach der Zahl seiner Muttersprachler erst an fünfter Stelle, vgl. unten Anm. 16. 9

Die Sprachen der Europäischen Union

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VI. Die besonderen Sprachregimes der europäischen Gerichtsbarkeit und der Europäischen Zentralbank Einige besonders unabhängige Institutionen der EG/EU haben sich ihr eigenes Sprachregime geschaffen. Im Vordergrund stehen neben dem Europäischen Patentamt in München und dem Europäischen Markenamt in Alicante10 vor allem der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in Luxemburg (mit dem Gericht erster Instanz) und die Europäische Zentralbank in Frankfurt a. M. Die Sprachregelungen dieser Einrichtungen orientieren sich an deren besonderen Aufgaben und Bedürfnissen. Bei der Bestimmung der Verfahrenssprachen des Europäischen Gerichtshofes nach Art. 29 ff. seiner Verfahrensordnung (gleichlautend für das Gericht erster Instanz) war zu berücksichtigen, daß vor der europäischen Gerichtsbarkeit nationale Behörden verschiedenster Fachrichtungen in Vertretung ihrer Mitgliedstaaten, nationale Gerichte bei der Vorabentscheidung sowie Unionsbürger und Unternehmen als Prozeßparteien im schriftlichen und mündlichen Verfahren auftreten11. Daher wählt grundsätzlich der Kläger die Verfahrenssprache des Prozesses. Er kann sich damit seiner Muttersprache bedienen. Bei Klagen gegen einen Mitgliedstaat, die in der Regel von der Kommission ausgehen, ist dessen Amtssprache Verfahrenssprache. Die Verfahrensordnung orientiert sich insoweit am Grundsatz der Gleichberechtigung der hier zwölf Gemeinschaftssprachen. Eine wichtige Abweichung bedeutet die im Gerichtshof und Gericht erster Instanz geübte Praxis, daß die interne Beratungssprache der Richter das Französische ist. Diese Gewohnheit hat sich erhalten, obwohl sie nicht ausdrücklich vorgeschrieben ist. Die Beschränkung auf Urteilsentwürfe in einer einheitlichen j Beratungssprache ist für eine kohärente Rechtsprechung unverzichtbar. Neben 442 den historischen Gründen ist das Französische als eine klassische Juristensprache in diesem Zusammenhang besonders geeignet12. Die Verkündung der Urteile und ihre Publikation erfolgen dann gleichzeitig in allen Amtssprachen. Dies ist für die gleichmäßige Kenntnisnahme der europäischen Rechtsprechung in den nationalen Rechtsordnungen und damit für die europaweite Akzeptanz des Gemeinschaftsrechts von großer Bedeutung13. 10 Beim Münchener Patentamt, das nicht zur EU gehört, gilt eine Dreisprachenregelung (Deutsch, Englisch und Französisch). Beim Markenamt in Alicante sind Deutsch, Englisch, Französisch, ltalienisch und Spanisch Amtssprachen, wobei Anmeldungen in allen elf Amtssprachen eingereicht werden können, vgl. Prandzioch, Das Europäische Markenamt, 1999, 86 ff. 11 Zu den Zuständigkeiten der europäischen Gerichtsbarkeit Koenig/Sander, Einführung in das EG-Prozeßrecht, 1997. 12 Nichtfrankophone Parteien tun bei der Abfassung ihrer Schriftsätze in den Verfahren beim Gerichtshof und beim Gericht erster Instanz gut daran, zu bedenken, daß die meisten Richter die Akten in französischer Übersetzung lesen. Ce qui n’est pas clair, n’est pas français.

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VI. Europa und die Kultur

Bei der Europäischen Zentralbank herrscht im täglichen Geschäftsverkehr das Englische als gemeinsame Arbeitssprache vor14. Nach Art. 17 der Geschäftsordnung der EZB und verwaltungsinternen Regelungen werden auch die von der EZB zu erlassenden Rechtsakte zunächst in englischer Sprache entworfen, bevor sie in endgültiger Fassung in allen Amtssprachen angenommen und publiziert werden. Auch bei anderen amtlichen Verlautbarungen der EZB steht das Englische im Vordergrund. Dies erklärt sich aus den Üblichkeiten der internationalen Bankenwelt, mit der die EZB in ständiger Verbindung steht. Die Bank muß oftmals in kürzester Frist auf Geschehnisse an den internationalen Finanzmärkten reagieren. VII. Die EU-Sprachregelung vor der EU-Osterweiterung Die sich ab 2004 abzeichnende Erweiterung der EU vor allem nach Osten bedeutet auch sprachlich eine große Herausforderung. Die seit dem Nizza-Vertrag 2001 offiziell umrissene Union von bis zu 27 Mitgliedstaaten wird 21 Nationalsprachen umfassen. Daraus würden sich beim Dolmetschen über 400 Übersetzungsvarianten ergeben. Ebenso sind die Anforderungen an schriftliche Übersetzungen immens. Auch unter Einsatz aller modernen technischen Hilfsmittel wird die künftige „Groß-EU“ bei der Fortschreibung des Sprachenregi443 mes oftmals Kompromisse eingehen müssen15. Eine j Reform der VO Nr. 1 von 1958 erscheint unausweichlich. Dabei dürfte fragwürdig sein, ob sich das mit der Osterweiterung weiter ausbreitende Brüsseler „Sprachenbabylon“ jemals in ein Korsett perfekter Rechtsregeln pressen läßt. Der Gebrauch fremder Sprachen hängt entscheidend vom Vorhandensein von Fremdsprachenkenntnissen ab. Diese lassen sich nicht juristisch beeinflussen, sondern nur mittelfristig durch Spracherziehung. Das künftige Sprachenregime der EU sollte daher vor allem eine Einigung über maßgebliche Grundprinzipien erreichen, die eine flexible Anwendung in der Praxis ermöglichen. Dazu gehört als erstes die Erkenntnis, daß es keine Einheitslösungen geben kann, sondern daß wie bisher auf den verschiedenen „Sprachebenen“ differenziert vorgegangen werden muß. Auf der Bürgerebene wie auf der politischen Ebene behält die Gleichberechtigung aller Gemeinschaftssprachen auch in einer 27er-Gemeinschaft ihr volles 13 Gelegentlich entstehen Auslegungsprobleme, wenn dieselbe Norm des Gemeinschaftsrechts in den verschiedenen Amtssprachen voneinander abweicht. Der Gerichtshof nimmt in solchen Fällen einen wertenden Textvergleich vor und entscheidet sich für diejenige Sprachfassung, die Sinn und Zweck der Gesamtregelung am besten entspricht, z. B. EuGHE 1985, 1169, ständige Rechtsprechung. 14 Verf. ist Direktor Manfred J. Koerber von der EZB für Einblicke in die Sprachpraxis der Bank zu Dank verpflichtet. 15 Der EU-Sprachendienst könnte bereits heute seine Aufgaben ohne technische Hilfsmittel wie das französische elektronische Rohübersetzungssystem „Systran“ nicht erfüllen, das pro Stunde 2000 Seiten Rohübersetzung zu liefern vermag.

Die Sprachen der Europäischen Union

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Recht. Beim Verkehr der Unionsbürger und der nationalen Behörden und Gerichte mit der Gemeinschaft muß der Gebrauch der Muttersprache möglich bleiben, wenn die Union eine Gemeinschaft der in ihr vereinigten Völker bleiben will. Gleiches gilt für die Begegnungen der Europapolitiker in Rat und Parlament und für die Sitzungen des Kommissionsgremiums. Hier erscheint eine sprachliche Diskriminierung der neuen Mitgliedstaaten nicht vorstellbar. Kompromißlösungen sind dagegen auf der „Arbeitsebene“ der Ausschußsitzungen und innerhalb der integrierten Gemeinschaftsverwaltung verstärkt notwendig. Der EU-Sprachendienst – schon heute mit über 3000 Dolmetschern und Übersetzern und einem Jahreshaushalt von ungefähr 1 Milliarde A der größte der Welt – bedarf zwar in der 27er-Gemeinschaft einer weiteren Aufstockung. Dennoch wird es ihm kaum möglich sein, in den Dutzenden von Ausschußsitzungen, die täglich in Brüssel und an anderen Sitzorten der EU abgehalten werden, mehr als 5–6 Amtssprachen simultan zu bedienen und die entsprechenden Dokumente in diesen Sprachen bereitzuhalten. Es sieht danach aus, daß in diesen Zusammenhängen die „kleineren“ Gemeinschaftssprachen zugunsten der größeren zurücktreten müssen, wie es bereits heute weithin der Fall ist16. j In der Gemeinschaftsverwaltung, vor allem in den Diensten der Kommission, 444 wird das Bedürfnis nach Verständigung in möglichst wenigen, am besten nur in einer einzigen Amtssprache, weiter zunehmen, wenn Angehörige aus 27 Mitgliedstaaten sich untereinander täglich rasch verständigen müssen. Nach Lage der Dinge wird das ein weiteres Vordringen des Englischen als Verwaltungs-Arbeitssprache bedeuten, unabhängig davon, ob der Vorrang dieser Sprache in Rechtsregeln verankert wird oder nicht. Leidtragende dieser Entwicklung dürften die beiden anderen Arbeitssprachen sein, das Französische und insbesondere das bereits heute in der Kommissionsverwaltung in den Hintergrund gedrängte Deutsche17. Politische Interventionen zur „Rettung“ dieser Sprachen, wie sie von Zeit zu Zeit erfolgen, werden an dieser Entwicklung nichts ändern können. Sie beruht nicht auf diabolischen Anschlägen gegen irgendwelche Sprachen,

16 Nach der Zahl der Muttersprachler gerechnet liegt das Deutsche (mit Österreich und einigen ausländischen Randregionen) innerhalb der EU mit ca. 91 Millionen an der Spitze, gefolgt von der englischen Sprache (62 Millionen mit Irland), dem Französischen (58 Millionen mit dem wallonischen Teil Belgiens), dem Italienischen (55 Millionen) und dem Spanischen (29 Millionen). In der „Weltrangliste“ der Sprachen europäischer Herkunft führt das Englische (391 Millionen Muttersprachler) vor dem Spanischen (211 Millionen), dem Portugiesischen (170 Millionen), dem Deutschen (98 Millionen), dem Französischen (72 Millionen) und dem Italienischen (55,5 Millionen), vgl. Wolf, Die deutsche Sprache in Europa, Mitteilungen der Alexander von Humboldt Stiftung, Nr. 74, 1999, 27 ff. – Für die Praxis innerhalb der Gemeinschaftsinstitutionen sind allerdings weniger solche Zählungen relevant als vielmehr die Kenntnisse erster und zweiter Fremdsprachen bei den Brüsseler und den nationalen Beamten. 17 Zu den Problemen mit der deutschen Sprache in Brüssel Huber, Deutsch als Gemeinschaftssprache, BayVBl. 1992, 1 ff.

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VI. Europa und die Kultur

sondern auf dem Faktum der gegebenen Sprachkenntnisse, welches seine normative Kraft entfaltet. Die besonderen Sprachregelungen in der europäischen Gerichtsbarkeit, bei der Europäischen Zentralbank und beim Patent- und Markenamt haben sich dagegen bewährt und dürften auf eine weiter vergrößerte Union übertragbar sein. Hier behalten bestimmte größere Gemeinschaftssprachen ihr angestammtes Betätigungsfeld. VIII. Schlußbemerkung In der Entwicklung des Sprachenregimes der Gemeinschaft seit den fünfziger Jahren spiegelt sich wie in einem Brennglas der Fortgang des Integrationsprozesses. Wie bei der Angleichung der nationalen Rechtsordnungen oder der Europäisierung des Geldes erfordert die europäische Einigung beim Gebrauch der Sprachen der Mitgliedstaaten hier und da ihre Opfer. Anders als dort kann die sprachliche Integration jedoch nur eine begrenzte sein. Die Existenz der europäischen Nationalsprachen ist eine unabänderliche Tatsache, welche der Einigungsprozeß zu berücksichtigen hat. Die sprachliche Vielfalt Europas ist kein lästiges Faktum, das mit fortschreitender Integration zu bekämpfen wäre. In ihr verkörpert sich ein jahrhundertealter gesellschaftlicher und kultureller Reichtum, der dem alten Kontinent seine besondere Farbe und die Position verliehen hat, die er bis heute in der 445 Welt einnimmt18. Die j Sprachen sind Teil der nationalen Identität der Mitgliedstaaten im Sinne von Art. 6 Abs. 3 EUV. Wo immer möglich, hat die EG/EU diesen Schatz zu hüten und zu pflegen. Das Europäische Parlament und der Rat hatten in diesem Sinne 2001 zum „Europäischen Jahr der Sprachen“ erklärt und dabei den gleichen kulturellen Wert aller Sprachen Europas hervorgehoben19. Andererseits muß die EU geeignete Regelungen für die praktischen Verständigungsbedürfnisse suchen, die in einer multinationalen Staatengemeinschaft befriedigt werden müssen, wenn sie lebens- und arbeitsfähig sein will. Dazu bedarf es in bestimmten Zusammenhängen der Bereitschaft zum Verzicht auf den jederzeitigen Gebrauch der eigenen Sprache. Er sollte nicht weiter gehen, als es von der Sache her geboten ist. Nationales sprachliches Sendungsbewußtsein läuft jedoch der europäischen Idee zuwider. Es wäre vielleicht bei der Schaffung einer europäischen Verfassung im „Post-Nizza-Prozeß“ bis 2004 angebracht, die Achtung der nationalen Identitäten in Art. 6 Abs. 3 EUV um einen zweiten Satz ungefähr folgenden Inhaltes zu ergänzen: „Die Mitgliedstaaten öffnen sich ihrer gemeinsamen europäischen Berufung.“ Er könnte neben anderem Wegweiser für einen verständigen Umgang der Gemeinschaft mit den Sprachen der in ihr vereinigten Staaten und Völker sein. 18

So bereits Weisgerber, Sprachenrecht und europäische Einheit, 1959. Beschluß Nr. 1934/2000 v. 17.7.2000, ABl. 2000 L 232/1; Ratsentscheidung Nr. 2001/48/EG v. 22.12.2000, ABl. 2001 L 14/32. 19

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Beitrag, entstanden aufgrund zeitweiliger Mitgliedschaft im Rundfunkrat von ARTE-Deutschland. Hinweis auf die Schwierigkeiten, auch nur zwei nationale Kulturen in einem gemeinsamen Fernsehprogramm überzeugend zusammenzufassen, aber auch auf die Sinnhaftigkeit dieses neuartigen Experimentes.*

„Wenn ich es noch einmal zu tun hätte, ich würde mit der Kultur beginnen“ – so ungefähr soll sich Jean Monnet in späteren Jahren über das europäische Einigungswerk geäußert haben, nachdem die von ihm initiierte Schuman-Erklärung vom 9.5.1950 Kohle und Stahl an den Anfang des Integrationsprozesses gesetzt hatte. Wahrscheinlich war es die Erkenntnis, daß die Dauerhaftigkeit einer staatsähnlichen Verbindung der Völker (West)Europas ebensosehr wie von wirtschaftlichen Interessen davon abhing, den Bewohnern der „kleinen Halbinsel Europa“ (Friedrich August v. d. Heydte) zu vermitteln, daß sie trotz aller ethnischen und sprachlichen Vielfalt Teile einer realen Ganzheit sind, Glieder einer europäischen Identität, die sich auf ein jahrtausendealtes geschichtliches und kulturelles Erbe gründet, auf gemeinsame antike, christliche und sonstige geistige Traditionen, auf gemeinsame Anschauungen und Überzeugungen, einen vergleichbaren Lebensstil und Lebensgefühle.1 Etwas anders formuliert, steht hinter der Frage nach dem tieferen und dauerhaften Sinn der europäischen Einigung, wie sie seit 1945 betrieben wird, die Suche nach einer Kulturnation Europa als gründendem Grund der Europäischen Union. Seit dem Maastrichter Europäischen Unionsvertrag (EUV) von 1992, der mit der Neuformulierung des Art. 8 EG-Vertrag den europäischen Marktbürger zum Unionsbürger fortentwickelt, wird versucht, hierauf europarechtlich eine positive Antwort zu geben.2 Zwar spricht Art. 137 EGV bei der Definition des Europäischen Parlaments weiterhin von einer Vertretung der „Völker“ der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten und zeigt sich damit gegenüber der Vorstellung eines europäischen Staatsvolkes reserviert. Gleich- j zeitig be- 484 * Erstmals erschienen in: Randelzhofer u. a. (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Eberhard Grabitz, C. H. Beck, München 1995, 483–498. 1 v. d. Heydte, Ansätze zu einer europäischen Staatsangehörigkeit, FS Maridakis, 1964, 383 ff.; Weidenfeld, Was ist die Idee Europas?, Aus Politik und Zeitgeschichte B 23–24/1984; Angelucci, Die europäische Identität der Europäer, in: v. Bogdandy (Hrsg.), Die europäische Option, 1993, 303 ff. 2 Oppermann, Sinn und Grenzen einer EG-Angehörigkeit, FS Doehring, 1989, 213 ff. (in diesem Band auf S. 163 ff. abgedruckt); Hobe, Die Unionsbürgerschaft nach dem Vertrag von Maastricht, Staat 1993, 245 ff.

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VI. Europa und die Kultur

greift jedoch der erwähnte Art. 8 desselben Vertrages die einzelnen Angehörigen dieser Völker nicht mehr nur als Staatsbürger ihrer Mitgliedstaaten, sondern als in einem unmittelbaren Rechtsverhältnis zur Europäischen Gemeinschaft und Union befindlich. Diese Unionsbürgerschaft wird über die Staatsangehörigkeit der Mitgliedstaaten vermittelt, welche die primäre personale Zuordnung bleibt. Sie beinhaltet aber einen bestimmten, unionsweit gleichen europäischen Status der Bürger an Rechten und Pflichten. In dieser komplizierten Rechtskonstruktion, die sich für den Bürger im bordeauxroten „Europapaß“ sinnfällig manifestiert, schimmert etwas an europäischer Identität durch, welche Europäer von Nichteuropäern unterscheidet. Interessanterweise belegen regelmäßige Meinungsumfragen, daß die Unionsbürgerschaft nicht ein blutleeres Konstrukt darstellt, sondern in ihrer vorsichtigen und begrenzten Zusammenführung der nationalen Staatsangehörigkeiten dem Lebensgefühl eines großen Teiles der EU-Angehörigen zu entsprechen scheint. Eine ungefähre Hälfte fühlt sich „manchmal“ oder „oft“ als Europäer, während dies bei den übrigen nie der Fall ist. Ungefähr 60% halten die Einführung einer europäischen Staatsbürgerschaft für eine gute Sache, nur 14% für eine schlechte.3 Eberhard Grabitz, dessen ich mit diesen Überlegungen gedenke, hat sich seit seiner Dissertation 1970 immer wieder in der einen oder anderen Weise mit der Grundfrage beschäftigt, inwieweit der europäische Einigungsprozeß über die Herausforderungen des Kalten Krieges – als Auslöser – hinaus auf soziologischen Gegebenheiten fußt, die ihn bei kluger europäischer Staatskunst irreversibel machen. Vor allem das Bemühen um ein über das Wirtschaftliche hinausreichendes europäisches Bürgerrecht und dessen politische Repräsentation in einem hinreichend zu demokratisierenden Europäischen Parlament waren zwei Grundkomponenten des Grabitzschen Schaffens.4 So mag es passend erscheinen, an dieser Stelle das deutsch-französische Medienexperiment ARTE aufzugreifen, als den konkreten Versuch ohne Vorbild, über ein europäisches Fernsehprogramm die Nagelprobe zu wagen, ob man so etwas wie eine gemeinsame europäische Kultur tagtäglich auf dem Bildschirm sichtbar machen kann. Jenes geistige Fundament im Sinne Jean Monnets, auf dem die vielen nützlichen Konstruktionen der europäischen Integration dauerhaft gründen. j

3

Eurobarometer-Umfragen der Jahre 1988–1992. Grabitz, Europäisches Bürgerrecht zwischen Marktbürgerschaft und Staatsbürgerschaft, 1970; Grabitz/Läufer, Das Europäische Parlament, 1980. 4

ARTE – ein Experiment europäischer Kultur

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I. Zur Entstehungsgeschichte des Europäischen Kulturkanals ARTE

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1. Kulturpolitik in der Europäischen Gemeinschaft

Trotz aller Grenzen ihrer Zuständigkeiten hat sich die Europäische Gemeinschaft, wie früher bereits der Europarat, seit längerem darum bemüht, an die Existenz einer europäischen Kultur anzuknüpfen, die mehr ist als die Summe ihrer Nationalkulturen. In oftmals schwierigen Auseinandersetzungen mit den Mitgliedstaaten und in grundsätzlicher Anerkennung von deren „Kulturhoheit“ ergaben sich im Zusammenhang mit der fortschreitenden Gemeinschaftsaktion immer wieder zwangsläufige Berührungen mit Kulturfragen. Eine allgemeine „Ausnahme Kultur“ vom Integrationsprozeß, die gelegentlich von nationaler und auch subnationaler Seite gefordert wurde, ist mit einer „immer engeren Union der Völker Europas“ (Art. A EUV) unvereinbar.5 Seit langem beziehen sich EG-Kulturaktivitäten auf „Nützlichkeiten“ wie den freien Warenverkehr der Bücher, die Liberalisierung der Berufstätigkeiten im Filmwesen und auf das Verständnis von Fernsehsendungen als grundsätzlich freie grenzüberschreitende Dienstleistungen im Sinn von Art. 59 ff. EGV („Fernsehen ohne Grenzen“). In einem weiteren Sinne mag man die Folgewirkungen der europäischen Personenfreizügigkeit auf das Bildungswesen, eine Europäische Forschungs- und Technologiepolitik und die „am Rande der EG“ völkerrechtlich vollzogene Gründung des Europäischen Hochschulinstituts („Europa-Universität“) in Florenz 1972 hierher rechnen. Seit der Einheitlichen Europäischen Akte 1987 und Maastricht 1992 sind manche dieser Bestrebungen über die ausdrücklichen Bildungs-, Forschungs- und Kulturkompetenzen der Gemeinschaft (Art. 126–128, 130f–p EGV) außer Streit gestellt worden. Eine besondere Kategorie unter diesen zahlreichen europäischen Kulturaktivitäten stellten seit den achtziger Jahren die Versuche dar, durch konkrete Einzelmaßnahmen gemeinsame europäische Identität zu stiften und europäisches Bewußtsein zu fördern (jährliche Benennung einer „Europäischen Kulturstadt“ seit 1985 – u. a. Berlins und für 1999 als zweite deutsche Stadt besonderer europäischer Berufung Weimars –, Maßnahmen zur Unterhaltung herausragender j europäischer Baudenkmäler als gemein- 486 sames Kulturerbe mit EG-Mitteln u. a.m.).6

5 Fiedler, Impulse der EG im kulturellen Bereich, in: Magiera (Hrsg.), Das Europa der Bürger in einer Gemeinschaft ohne Binnengrenzen, 1990, 147 ff.; Oppermann, Europarecht, 1991, S. 732 ff. 6 Vgl. etwa Vogelaar/Wermuth, Legal aspects of Community action in the field of culture, SEW 1988, 321 ff.

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VI. Europa und die Kultur 2. Die Idee ARTE

In diesen Zusammenhang gehört die Mitte der achtziger Jahre in die europapolitische Diskussion gebrachte Idee, durch Gründung einer deutsch-französischen Fernsehanstalt einen „Europäischen Kulturkanal“ zu entwickeln, um „den Bürgern Europas ein gemeinsames Fernsehprogramm anzubieten, welches der Darstellung des kulturellen Erbes und des künstlerischen Lebens in den Staaten, Regionen und der Völker Europas und der Welt dienen soll“ (so später 1990 die Präambel des völkerrechtlichen ARTE-Gründungsvertrages). Der geschickt gewählte Kunstname ARTE („Association Relative à la Télévision Européenne“) entstand 1991 über Art. 3 des gesellschaftsrechtlichen Gründungsvertrages des in Straßburg domizilierten Senders.7 Ein seltenes Mal scheint die Initialzündung zu einem wichtigen Akt europäischer Kulturpolitik von Deutschland ausgegangen zu sein. Sucht man nach den geistigen Vätern von ARTE, stößt man ab 1984 auf den damaligen Beauftragten der Bundesrepublik Deutschland für den deutsch-französischen Kulturaustausch, den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Lothar Späth, bald fachkundig sekundiert vom Intendanten des Südwestfunks, Willibald Hilf und seinem Justitiar Jörg Rüggeberg. Auf französischer Seite war der langjährige Kulturminister Jack Lang, enger Vertrauter von Staatspräsident Mitterand, einer der besonderen ARTE-Promotoren. In Frankreich wurde u. a. der Widerstand gegen „amerikanische Kulturüberfremdung“ ein wesentliches Motiv zugunsten der Schaffung eines europäischen Kulturkanals.8 So reiht sich ARTE in die große Zahl von Projekten ein, bei denen deutsch-französische Zusammenarbeit einer europäischen Idee zum Durchbruch verhalf. j 487

Wer die vielfältig verflochtene und verschachtelte deutsche Rundfunkwelt föderalistischer Prägung kennt, wundert sich nicht, daß es einer jahrelangen Verhandlungsphase bedurfte, um die neuartige Idee eines – zunächst binationalen – deutsch-französischen Fernsehsenders in die Realität umzusetzen.9 Während das Projekt für Frankreich – angesichts der in Paris zentralisierten Rundfunkkompetenz – eine Frage des politischen Wollens bedeutete, galt es auf deutscher Seite, nicht nur den Bund und die um ihre Rundfunkhoheit besorgten Länder auf eine 7 Schwarzkopf, Arte – Der deutsch-französische Kulturkanal und seine Perspektive als europäisches Programm, Media-Perspektiven 1992, 290 ff. 8 Ein durchgängiges Motiv französischer Europa- und Kulturpolitik, das sich auch beim Erlaß der EG-Fernsehrichtlinie v. 17.10.1989 – ABl. L 298/23 ff. – und bei der Forderung nach der „kulturellen Ausnahme“ in der GATT-Uruguay-Runde äußerte, vgl. Betz, Die EG-Fernsehrichtlinie – Ein Schritt zum europäischen Fernsehen?, Media-Perspektiven 1989, 677 ff.; Tine, L’exception culturelle, Le Figaro, 14.12.1993, S. 2. 9 Zum folgenden Schlie, Die Verhandlungen zur Errichtung eines Deutsch-Französischen Kulturkanals, 1990 (unveröff. Manuskript); Hilf, Der Europäische Fernsehkulturkanal, 1991 (unveröff. Manuskript); Schwarzkopf (Anm. 7).

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Linie zu bringen, sondern genauso die „staatsfreien“ Anstalten, also das ZDF und die in der ARD vereinten, damals neun Länderanstalten zum Mitmachen zu bewegen. Strukturell begegnete die an einen starken Staatseinfluß gewohnte französische Rundfunkwelt, hier vor allem in Gestalt des 1986 etablierten Kulturprogrammes „La SEPT“, dem sorgsam auf seine verfassungsrechtlich garantierte Unabhängigkeit bedachten deutschen öffentlichrechtlichen Rundfunk. Überdies waren ARD und ZDF gerade dabei, zwei deutsche bzw. deutschsprachige Kultursender (1 Plus und 3 SAT) einzurichten, was Neigungen zugunsten eines dritten konkurrierenden Kanals nicht eben förderlich war. Unter diesen Umständen grenzte es an ein kleines Wunder, daß die deutsche ARTE-Initiative im Laufe der Jahre nicht versandete. Dies war dem erwachten französischen Interesse zuzuschreiben, das den Kulturkanal ungefähr seit 1986 zum Gegenstand der deutsch-französischen Gipfelpolitik Kohls und Mitterands machte, aber auch der Hartnäckigkeit der deutschen „Rundfunkeuropäer“ wie Späth und Hilf, zu denen sich in der Länderministerpräsidentenrunde allmählich andere – wie Hamburgs Henning Voscherau – gesellten. Begünstigt wurde die Gründung von ARTE in der Bundesrepublik ferner durch die Aufbruchstimmung, welche das Delorssche Binnenmarktprogramm und die plötzliche Chance der deutschen Einheit Ende der achtziger Jahre erzeugten. Wer wollte es letztlich wagen, einer europäischen Kulturinitiative zu widersprechen, die sich in das Konzept der Erweiterung des Binnenmarktes zur Politischen Union sinnfällig einfügte und von der Treue des sich vereinigenden Deutschlands zur europäischen Idee Zeugnis ablegte? Letztlich nicht einmal die Bundesländer und ihre Rundfunkanstalten, nachdem einigen „Essentials“ des deutschen Medienföderalismus hinreichend Rechnung getragen worden war. j Nachdem vor allem auf Betreiben von ARD/ZDF der Abschluß eines völker- 488 rechtlichen Vertrages mit Frankreich als sichere Grundlage für den neuen Sender konsentiert worden war, hatte sich für die deutsche Seite zunächst das bekannte verfassungsrechtliche Problem der Außenvertretung der Bundesrepublik in Kulturangelegenheiten ergeben.10 Letztlich verzichtete der Bund in einem verfassungsrechtlich bemerkenswerten Akt auf die sonst von ihm in Anspruch genommene Abschlußkompetenz bei Kulturabkommen, sodaß der ARTE-Vertrag am 2.10.1990 zwischen Frankreich einerseits und den 11 „alten“ Bundesländern andererseits zustandekam. Die Bundesregierung erteilte hierzu ihre nach Art. 32 Abs. 3 GG erforderliche Zustimmung durch einen Beschluß vom 1.10.1990, mit dem Bemerken, daß dieser Vorgang „Ausnahmecharakter“ haben solle.11 10 Oppermann, Kulturverwaltungsrecht, 1969, 606 f. m. w. N.; neuerdings etwa Stammler, Europäischer Rundfunkmarkt und innerstaatliche Rundfunkkompetenz, ZUM 1988, 274 ff.; Puhl, Grundrechtsschutz, Bestandsgarantie und Finanzierungsanspruch der Bundesrundfunkanstalten, DVBl. 1992, 933 ff., jeweils m. w. N. 11 Beschluß der Bundesregierung v. 1.10.1990, S. 1 (unveröff.).

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VI. Europa und die Kultur

Auch bei zwei weiteren Essentialia setzten sich die deutschen Rundfunkanstalten durch. Die Staatsunabhängigkeit des neuen Senders, aufgrund der französischen Verhältnisse nicht selbstverständlich, wurde im Sinne einer Rundfunkfreiheit deutschen Stils in Präambel und Art. 1 des ARTE-Vertrages festgeschrieben. Die aus der Sicht von ARD/ZDF kostenneutrale Finanzierung des deutschen Finanzanteils erfolgt seit der Rundfunkgebührenanhebung 1993 über einen monatlichen „ARTE-Zuschlag“ von DM 0.75, den jeder deutsche Rundfunkteilnehmer (ab 1.1.1995 auch in den neuen Bundesländern) für den Kulturkanal entrichtet. Auf diese Weise traten die mannigfachen Bedenken gegen das „kostspielige Prestigeobjekt Kulturkanal“ (WDR) letztlich zurück, und es kam am 2.10.1990 in Berlin zur Unterzeichnung des „Vertrages zum Europäischen Fernsehkulturkanal“ durch zwei französische Minister und die elf Ministerpräsidenten der Bundesländer – am Vorabend der deutschen Einheit ein ironischer Kontrapunkt bundesdeutschen Länderpartikularismus!12 Damit gab es eine Grundlage für die gesellschaftsrechtliche Gründung des Senders „ARTE-G.E.I.E“, die am 30.4. 1991 in Straßburg zwischen der französischen Sendegesellschaft „La SEPT“/ Paris und der mittlerweile am 11.12.1990 in Mainz von ZDF und ARD gemeinsam gegründeten deutschen ARTE-Stelle („ARTE Deutschland TV GmbH“) in Baden-Baden vollzogen wurde.13 Am 30.5.1992 war es schließlich soweit: bei einer Feierstunde in der Straßburger Oper ging ARTE auf Sendung, mittlerweile täglich von 17.00 Uhr bis nach Mitternacht. Diesseits und jenseits des 489 Rheins kann das Programm vorläufig von jeweils j ungefähr 30 Millionen Fernsehzuschauern empfangen werden.14 Eine Sternstunde europäischer Kulturpolitik? II. Die Rechtsgestalt von ARTE 1. Die völker- und gesellschaftsrechtlichen Gründungsverträge 1990/91

Gründung und Existenz von ARTE-G.E.I.E in Straßburg beruhen auf einem Zusammenspiel des Berliner völkerrechtlichen Rahmenvertrages vom 2.10. 12 Verf. wurde kurze Zeit später von dem – mit ihm befreundeten – Direktor der Rechtsabteilung des französischen Außenministeriums angerufen und gefragt, ob die deutsche Ländergesamtheit eigentlich einen solchen Vertrag wirksam abschließen könne. Aus französischer Sicht war dies offenbar eine schwierige Vorstellung. Ich habe meinen Gesprächspartner mit Verweis auf Art. 32 Abs. 3 GG zu beruhigen versucht. 13 Dazu Hilf (Anm. 9). 14 In Frankreich über das terrestrische Netz des früheren Senders „La Cinq“, dazu Meise, Zur Situation des französischen Fernsehens, Media-Perspektiven 1992, 236 ff.; in Deutschland wird ARTE bisher im wesentlichen über Kabel verbreitet. Die Ausstrahlung über einen Satelliten der ASTRA-Gruppe wird angestrebt.

ARTE – ein Experiment europäischer Kultur

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1990 (im folgenden vRV) mit dem Straßburger gesellschaftsrechtlichen Gründungsvertrag vom 30.4.1991 (im folgenden gGV).15 In Berlin „begrüßten“ die Vertragsparteien lediglich das Vorhaben von La SEPT und ARD/ZDF, eine „gemeinsame unabhängige Fernsehgesellschaft mit kultureller und europäischer Ausrichtung mit Sitz in Straßburg zu errichten“, wobei die „Grundsätze des freien Flusses der Informationen und der Unabhängigkeit von Rundfunkveranstaltern“ gewährleistet werden sollten (Präambel vRV). In diesem Sinne wird die „alleinige Verantwortung“ des EKK für die Programmplanung betont (Art. 1). ARTE ist ein eigener Sender und nicht nur unselbständiger Agent der beiden nationalen Stellen in Paris und Baden-Baden. Diese bleiben im wesentlichen für Programmzulieferungen gemäß Straßburger Vorgaben verantwortlich. Ansonsten enthält der vRV neben technischen Regelungen die wichtige doppelte Beitrittsklausel des Art. 4. Es können weitere deutsche Länder ARTE beitreten. Die hiermit angesprochenen neuen Bundesländer haben diesen Schritt inzwischen vollzogen.16 Wichtiger noch ist die europäische Öffnungsklausel, wonach der Vertrag jedem Mitglied des Europarates und jeder Vertragspartei des Europäischen Kulturabkommens zum Beitritt offensteht, allerdings nur, wenn Fernsehveranstalter solcher Staaten Gesellschafter des EKK geworden sind. Bisher hat ledig- j lich Belgien in Gestalt seiner Fernsehanstalt RTBF mit einer 3%- 490 Beteiligung ab 1.3.1993 von dieser Möglichkeit der Europäisierung von ARTE Gebrauch gemacht. Da Brüssel Quasi-EU-Hauptstadt ist, macht gerade diese Beteiligung an ARTE guten Sinn. Im übrigen ist zweifelhaft, ob die in vielen Sonntagsreden beschworene Erweiterung von ARTE um zusätzliche europäische Mitglieder sich abzeichnet oder auch nur wünschenswert wäre. Die Praxis spricht eher für ein Festhalten an der binationalen Konstruktion. Manche Länder und Sender (z. B. England oder Österreich) sind grundsätzlich an ARTE nicht interessiert. Bei anderen fehlt es an der Neigung oder auch Fähigkeit zum nötigen finanziellen Engagement (so bei den süd- und osteuropäischen Staaten, aber z. B. auch im Falle der Schweiz). Wer Einblick in die personellen, sprachlichen, technischen, organisatorischen und sonstigen Probleme der Führung auch nur eines binationalen Senders hat, dürfte einen funktionsfähigen deutsch-französischen Kulturkanal einem schwerfälligen multinationalen Gebilde vorziehen. Seiner europäischen satzungsmäßigen Berufung kommt ARTE bereits heute in Gestalt eines Programmes nach, das weit über deutsche und französische Bestandteile hinaus gesamt15 Text des völkerrechtlichen Vertrages v. 2.10.1990 u. a. bad.-württ. GBl. 1991, 789. Der gesellschaftsrechtliche Gründungsvertrag v. 30.4.1991 ist nicht veröffentlicht. 16 Ihre Bürger werden ab 1.1.1995 – mit der Angleichung der Rundfunkgebühren zwischen Ost- und Westdeutschland – auch für ARTE gebührenpflichtig. Falls ARTE dann noch nicht über Satellit empfangbar ist, ergibt sich die groteske Situation, daß die Fernsehzuschauer in den neuen Bundesländern zwar für das ARTE-Programm zahlen, es aber nicht sehen können, da Ostdeutschland nicht verkabelt ist.

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VI. Europa und die Kultur

europäisch konzipiert ist, oftmals in Programmkooperation mit Anstalten dritter europäischer Länder. 2. ARTE – G. E. I. E/Straßburg und seine „nationalen Stellen“ La SEPT und ARTE-D

Seine eigentliche Rechtsgestalt hat der Straßburger Sender über den gesellschaftsrechtlichen Gründungsvertrag vom 30.4.1991 (gGv) zwischen La SEPT/ Paris und ARTE Deutschland TV GmbH/Baden-Baden gewonnen. Die beiden Gesellschafter sind ungleicher Natur. La SEPT („Société d’Édition de Programmes de Télévision“) war ursprünglich eine 1986 in Frankreich gegründete öffentliche Programmgesellschaft, die als Tochtergesellschaft französischer Anstalten, aber auch des Staates selbst (25%-Anteil!) ein Kulturprogramm für anspruchsvolle Minderheiten anbieten sollte.17 Inzwischen ist anstelle der eigenen Ausstrahlung die Integration des La SEPT-Programmes als französischer Anteil in ARTE getreten. La SEPT ist auf diese Weise zur französischen Produktions- und Zuliefergesellschaft für ARTE geworden („La SEPT/ ARTE“) und verschränkt sich auch personell in nicht unproblematischer Weise mit dem Straßburger Sender. So ist seit 1992 Jerôme Clément gleichzeitig geschäftsführender Direktor von La SEPT und Präsident von ARTE. In Deutschland bedurfte es für die Gründung und den anschließenden laufenden Verkehr mit Straßburg ebenfalls einer „nationalen Stelle“ für ARTE, welche die hiesige Anstaltsvielfalt bündelt. So kam es am 11.12.1990 in Mainz zur Gründung der ARTE Deutschland TV GmbH („ARTE-D“) mit jeweils hälftiger Beteiligung von ARD und ZDF.18 Baden-Baden wurde aus geographischen Gründen und in Anerkennung des besonderen Engagements des Südwestfunks unter Willibald Hilf als „Europasender“ zum Sitz von ARTE-D gewählt. Kernaufgabe von ARTE-D ist die Programmzulieferung von deutscher Seite an 491 ARTE G.E.I.E in Straßburg, unter möglichster Wahrung j des hoch komplizierten „ARD/ZDF-Proporzes“. ARTE-D ist darüber hinaus jedoch gemäß dem Vertrag auch an der Programmplanung aus deutscher Sicht beteiligt und verfügt aus diesem Grunde – in deutscher Rundfunktradition – über einen eigenen Programmbeirat aus 18 Vertretern des deutschen kulturellen Lebens, die von den beteiligten Anstalten benannt werden. Im Zusammenspiel mit der zentralistischen La SEPT kann man an ARTE-D wie in einem Brennglas die Schwächen und auch Stärken des deutschen Medienföderalismus studieren.19 17

Näher Meise (Anm. 14). Auch dieser Vertrag ist unveröffentlicht. 19 Die Programmzulieferung gestaltet sich für die deutsche Seite wesentlich komplizierter als in Frankreich, da vom ZDF bis Radio Bremen jede Anstalt eine genau berechnete „Quote“ zu erfüllen hat, während La SEPT in Paris als Alleinlieferant ganz anders beweglich ist. Andererseits führt die rasche Entscheidungsfähigkeit der Franzo18

ARTE – ein Experiment europäischer Kultur

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Das Problem der Binationalität des Straßburger Senders wurde im gGV vom 30.4.1991 elegant durch Rückgriff auf eine erst jüngst im Europäischen Gemeinschaftsrecht geschaffene Rechtsform gelöst. ARTE-Straßburg erhielt das Gewand einer „Europäischen Wirtschaftlichen Interessenvereinigung“ (Groupement Européen d’Intérêt Économique = G.E.I.E), wodurch die Transnationalität seiner Tätigkeit erleichtert wird.20 Der Sitz von ARTE-G.E.I.E in Straßburg war bereits durch den vRV 1990 vorgesehen. Als Sitz einer deutsch-französischen Einrichtung lag die Hauptstadt des Elsaß mit ihrer hohen Symbolkraft und als Ort anderer europäischer Institutionen (Europarat, Europäisches Parlament) nahe. Unter praktischen Mediengesichtspunkten, insbesondere im Hinblick auf Eigenproduktionen, ist die Wahl Straßburgs weniger günstig. Verkehrsmäßig schlecht angebunden und mit nur sporadischer personeller Präsenz aus „Europa“ liegt ARTE-G.E.I.E etwas im Abseits. Europapolitisch wichtige Sendungen müssen in Brüssel, Paris oder an deutschen Medienplätzen produziert werden. Allerdings war eine politisch beiderseits akzeptablere Alternative zu Straßburg nicht sichtbar. Als eigentliche Aufgabe von ARTE nennt Art. 2 gGV – in Anklang an die Vorgaben des vRV – die Ausstrahlungen von Fernsehsendungen, die „in einem umfassenden Sinne kulturellen und internationalen Charakter haben und geeignet sind, das Verständnis und die Annäherung der Völker in Europa zu fördern“. Damit hat sich im Vertrage letztlich der in der deutschen Auslandskulturpolitik (z. B. Goethe-Institut e. V.) auch sonst bekannte umfassende Kulturbegriff durchgesetzt, der sich nicht auf die j „Schönen Künste“ u. ä. beschränkt, son- 492 dern gesellschaftspolitische Aspekte mit einschließt.21 Außerdem ergibt sich in der Zusammenschau von vRV und gGV als gleichrangige Zweitaufgabe von ARTE neben dem Kulturauftrag die Förderung der europäischen Einigung. ARTE ist kraft des Gründerwillens ebenso sehr Europa- wie Kultursender, wobei sich beide Aspekte im Programm vielfältig verbinden können. Leider besteht in der bisherigen Praxis – infolge der etwas einseitigen Firmierung als „Kulturkanal“, in Verbindung mit gelegentlichen französischen Neigungen zu einem elitären Kulturbegriff („High culture“) – die Gefahr einer zu engen Aus-

sen, verbunden mit der dort stärkeren Politisierung des Rundfunks, zu mancher Sprunghaftigkeit. Demgegenüber weist die verfassungsrechtlich stark festgeschriebene deutsche Rundfunkordnung eine höhere Stabilität auf, was auch positive Aspekte einschließt. 20 EG-Verordnung 2137/85 v. 25.7.1985 – ABl. L 199/lff. Zu ihr Ganske, Das Recht der EWIV, 1988. – Ob die wirtschaftlich gemeinte Rechtsform der EWIV für einen Kultursender wie ARTE wirklich angemessen ist, unterliegt gesellschaftsrechtlichen Zweifeln. Diesen Problemen widmet sich eine in der Entstehung begriffene Tübinger Dissertation von D. Schmid (über ARTE). 21 Zum Kulturbegriff bei ARTE: Oppermann, Der Programmauftrag von ARTE gemäß den vertraglichen Rechtsgrundlagen, unveröff. Arbeitspapier für ARTE-D, 1992.

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VI. Europa und die Kultur

richtung des ARTE-Programmes, mit entsprechenden Konsequenzen für die Zuschauerakzeptanz.22 Ein beherrschender Grundsatz sowohl der organisatorischen Struktur des Senders als auch des Programmes ist die deutsch-französische Parität. Sie wird durch den minoritären belgischen Anteil kaum verändert. Dieses Gleichgewicht drückt sich in der gleichen Stimmzahl der beiden ARTE-Gesellschafter in den Gremien aus, in einer grundsätzlich paritätischen Finanzierung, sowie in der Herkunft des Personals und auch über eine gleichmäßige Programmzulieferung und -ausstrahlung von französischer und deutscher Seite (bes. Art. 7, 20 gGV). Geleitet wird ARTE-G.E.I.E von einem inzwischen vierköpfigen paritätischen Vorstand mit dem Präsidenten und einem Vizepräsidenten an der Spitze (Art. 12 gGV). Der Vorstand ist der ihrerseits paritätischen Mitgliederversammlung verantwortlich (Art. 14). Deutsches Rundfunkrecht hat bei ARTE-G.E.I.E in der Einrichtung eines – französischen Gewohnheiten unbekannten – Programmbeirates aus je acht Vertretern deutschen und französischen kulturellen Lebens seine Spuren hinterlassen (Art. 18). Er berät die anderen Organe in Programmfragen. In Konsequenz des vRV formuliert Art. 19 gGV die Programmgrundsätze von ARTE: Unabhängigkeit, Pluralismus und Ausgewogenheit der Sendungen, Übereinstimmung der Information mit „anerkannten journalistischen Prinzipien“ wie Fairneß, Objektivität, Trennung von Information und Kommentar. Hier mischt sich in interessanter Weise deutsches und französisches Gedankengut. Ferner ist in Art. 19 das Prinzip der Werbungsfreiheit der ARTE-Sendungen verankert. Außerdem ist als zwingende Folgerung aus dem europäischen Charakter des Senders eine „Europa-Quote“ festgesetzt worden: ein mehrheitlicher j 493 Anteil der jährlich ausgestrahlten Sendungen muß europäischen Ursprungs sein.23 Hinsichtlich der Finanzierung von ARTE-G.E.I.E beläßt es Art. 7 gGV bei der Benennung der deutsch-französischen Parität. Dahinter verbergen sich in der Praxis gemäß den unterschiedlichen Rundfunkordnungen diesseits und jenseits des Rheins unterschiedliche Finanzierungsformen. Auf deutscher Seite ist ARTE seit 1993 in die rundfunkstaatsvertragsrechtliche Regelung der deutschen Rundfunkgebührenerhebung dergestalt einbezogen, daß ein fester Teil der deutschen Rundfunkgebühr (z. Zt. DM 0.75 pro Monat und Gebührenzahler) ARTED zu Verfügung steht, die ihrerseits den ARTE-G.E.I.E zustehenden Anteil nach Straßburg weiterleitet. Auf diese Weise steht das deutsche Bein von ARTE trotz aller föderalistischen Kompliziertheit auf sicherem haushaltsmäßigen Funda22

Dazu unten bei III. 1. Zu den Schwierigkeiten solcher Quotierungen, die bei ARTE infolge seines besonderen Programmauftrages allerdings kaum eine Rolle spielen, v. Bogdandy, Europäischer Protektionismus im Medienbereich, EuZW 1992, 9 ff. 23

ARTE – ein Experiment europäischer Kultur

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ment.24 Die Finanzierung des französischen Anteils erfolgt dagegen im wesentlichen über jährliche Zuweisungen aus dem französischen Staatshaushalt an La SEPT und ist auf diese Weise Jahr für Jahr medien- und allgemeinpolitischen Ungewißheiten ausgeliefert.25 Der vertraglich festgelegte Grundsatz der deutsch-französischen Parität erweist sich dabei als wichtiger Stabilitätsanker für den Straßburger Sender. Im Finanzierungsbereich steht so ein labiler und politisierter Zentralismus in Frankreich einer verfassungsrechtlich wie finanziell eindrucksvoll abgesicherten föderalen Rundfunkfreiheit auf deutscher Seite gegenüber. Der Gesamtetat von ARTE betrug 1993 ungefähr 500 Mio. DM, wovon 3/5 von französischer Seite aufgebracht wurden. Das ist die Größenordnung einer eher kleineren deutschen Anstalt. Allerdings ist ARTE ausschließlich Fernsehsender ohne Hörfunk. Der z. Zt. höhere französische Finanzanteil erklärt sich aus den stärkeren technischen Kosten, die der Empfang in Frankreich über das umfassende terrestrische Netz des ehemaligen Senders „La Cinq“ verursacht. Da das ARTE-Programm in Deutschland bisher nur über Kabel und den wenig nachgefragten Satelliten Kopernikus empfangbar ist, d.h. u. a. in den neuen Bundesländern so gut wie nicht, besteht vorläufig empfangsmäßig ein „deutsches Handicap“. j III. Das ARTE-Programm – Ausdruck europäischer Kultur? 1. Zur ARTE-Programmpolitik seit 1992

Wie weit hat der Straßburger Sender es bisher vermocht, den Anspruch der Präambel des vRV, beziehungsweise von Art. 2 gGV einzulösen, ein europäisches Kulturprogramm umfassenden Charakters zu gestalten? Dabei ist vorweg zu bedenken, daß es sich hier um ein revolutionäres Experiment in der europäischen Mediengeschichte handelt, welches mit Sicherheit einer gewissen Anlaufphase bedarf. An eine gemeineuropäische Kultur zu glauben oder sie Tag für Tag in der Zusammenarbeit einer binationalen Equipe auf dem Fernsehschirm überzeugend und zuschauerattraktiv sichtbar zu machen, sind zwei sehr verschiedene Dinge.26 Die Unterschiede nicht nur in der kulturellen Tradition, son-

24 Da ARTE im weiteren Sinne auch Teil der deutschen Rundfunkordnung ist, dürften für die Fortschreibung der ARTE-Gebühr die Absicherungen von BVerfG v. 22.2. 1994, JZ 1994, 515, gelten. Zu diesem Urteil: Oppermann, Rundfunkgebühr – Rundfunkordnung – Rundfunkideologie, JZ 1994, 499 ff. 25 So wurde bei der Verabschiedung des französischen Medienhaushaltes 1994 in der Nationalversammlung vom „letzten Scheck“ für ARTE gesprochen, falls die Einschaltquoten sich nicht besserten. 26 Dazu einiges bei Schwarzkopf (Anm. 7) sowie Duhm-Heitzmann, ARTE – Grenzenlos fernsehen, ZEIT-Magazin 22.4.1994, 35 ff.

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VI. Europa und die Kultur

dern vor allem in Geschmack und Fernsehgewohnheiten selbst zwischen zwei so benachbarten und mittlerweile befreundeten Nationen wie Deutschland und Frankreich gehen viel tiefer und weiter, als es sich dem ersten Blick des Franko- oder Germanophilen in beiden Ländern erschließen mag. Der Geschäftsführer von ARTE-D, Hans-Günther Brüske, hat den intelligenten Satz geprägt: „Auf der Kehler Rheinbrücke trennen sich zwei Fernsehwelten“. Das beginnt etwa bei der scheinbaren Banalität, daß der Deutsche die täglichen Nachrichten der Abendschau ungefähr eine Stunde früher zu sehen pflegt als der französische Zuschauer (wann soll das ARTE-Abendprogramm beginnen?), bis hin zu dem ernüchternden Faktum, daß eine große Abendsendung über die Chansonberühmtheit Edith Piaf heute noch in Frankreich 1,5 Millionen Zuschauer anlockt, in Deutschland 40.000.27 Ein Programm kulturellen Anspruches, das auch nur in zwei Ländern ähnlichen Zuspruch findet, ist ein höchst schwieriges Unterfangen. Europäische Gemeinsamkeiten? Unter diesen Voraussetzungen ist vor allem anderen bemerkenswert, daß der Straßburger Sender seit 1992 gemäß seinem Motto „Lassen Sie sich durch ARTE ablenken“ („Laissez-vous déranger par ARTE“) durch geschlossene Programmpolitik zu eigenem Profil gefunden hat. Möglich war dies, weil sich unter der Leitung der beiden erfahrenen Medienpraktiker Jerôme Clément und 495 Dietrich Schwarzkopf – trotz des in der Grün- j dungsphase unvermeidlichen Experimentierens und Stühlerückens – allmählich eine Mannschaft europäischen Esprit de corps in Straßburg zusammenfand, welche die in den Verträgen formulierte Herausforderung annahm. Ihre Aufgabe war allerdings in Frankreich ungleich begünstigter, wo ARTE von Anfang an als ein „großes Programm“ gegenüber nur fünf Konkurrenten antrat und den Platz von „La SEPT“ einnahm. Im deutschen „Senderwald“ mit über 30 wetteifernden Programmen, einschließlich zunächst zweier Kulturkanäle – nunmehr noch eines Kulturkanals (3 SAT) – tut sich ARTE wesentlich schwerer. Den europäischen Kulturauftrag hat ARTE voll angenommen. Unter der Devise: „Anspruchsvoll, aber nicht elitär“ (Schwarzkopf), bei der die Meßlatte in der Praxis aber hoch angelegt wird, sucht der Sender in einem durch Themenabende, Information, Dokumentar-, Fernseh- und Spielfilme, sowie durch Theater, Musik, Tanz strukturierten Wochenschema so viel wie möglich von der Breite und Tiefe deutscher, französischer und weiterer europäischer Kultur einzufangen. Die englische Comedy-Serie steht neben einem politischen Magazin und der Wagner-Oper, ein Personality-Abend über Jacques Brel neben dem Dostojewskij-Film oder der (sehr erfolgreichen) „Woche vor 50 Jahren“ aus alten Wochenschauen.28 Der Sender hat der zeitweiligen Versuchung widerstanden, durch partielles Auseinanderschalten deutscher bzw. französischer „Fenster“ 27 Zur Zuschauerakzeptanz des ARTE-Programmes in Deutschland liegt die erste GfK-Erhebung für 1993 vor; unveröff. Manuskript ARTE-D v. 22.1.1994.

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Einschaltquoten zu „machen“. Das Programm ist eine Einheit geblieben und – bei aller deutsch-französischen Akzentuierung – allmählich gesamteuropäischer geworden. Eine besondere technische (und finanziell aufwendige) Leistung stellt die durchgängige Zweisprachigkeit dar, wobei Untertitelungen so weit als möglich in den Hintergrund treten. So weit, so gut. Große Probleme liegen gleichwohl auf dem Wege, den ARTE künftig zu durchschreiten hat. Jedem Medien-Erfahrenen ist bekannt, daß Fernsehprogramme mit kulturellem und politischem Anspruch – sogenannte Spartenprogramme – angesichts unverrückbarer Zuschauergewohnheiten und leichtgeschürzter Konkurrenz Minderheitenprogamme bleiben müssen. Dabei kann in der Welt des Massenmediums auch eine Minorität höchst ansehnlich sein. Zum einen quantitativ: 1% Einschaltquote bedeutet bei ARTE hunderttausende von Zuschauern! Die Zahl der bewußt transnational-europäisch interessierten und denkenden Bürger bleibt für eine schwer voraussehbare Zeit begrenzt. Es han- j delt sich dabei – nach allen Untersuchungen – jedoch um eine 496 gesellschaftlich vielseitig aktive Zielgruppe, die sich in den öffentlichen Angelegenheiten im weitesten Sinne engagiert. So gesehen, bleibt der Europäische Kulturkanal seinem vertraglichen Auftrag treu und erfüllt eine wichtige Aufgabe, wenn er sich den „Europäern“ unter seinen potentiellen Zuschauern in Deutschland und Frankreich zu nähern sucht. Man kann das „Elitäre“ und die Zuschauerselektion freilich übertreiben. Von diesen Gefahren ist das bisherige ARTE-Programm nicht frei. Bei Einschaltquoten von gelegentlich allenfalls bis 2,5% Marktanteil in Frankreich, aber nur selten auch nur in der Nähe von 1% in Deutschland, steht ARTE immer noch vor dem existentiellen Problem, eine Art „Geheimtip“ für Eingeweihte geblieben zu sein.29 Die Aufgabe, ohne trickreiche „Quotenmacherei“ in einem ständigen Lernprozeß allmählich einen größeren Teil der 3–8 Millionen „kulturwilligen“ Zuschauer zu erreichen, den die Meinungsforscher in Deutschland ausfindig gemacht zu haben glauben, liegt weiterhin vor ARTE. In diesem Zusammenhang bleibt an den vertraglichen Zweitauftrag zu erinnern, nicht nur Kultur-, sondern auch Europasender im Sinne der ständigen Begleitung des Einigungsprozesses sein zu sollen. In der Gründungsphase hat man ARTE gelegentlich vorgeworfen, nur ein „Kind der Politik“ zu sein. Solche Wertung ist unsinnig und ungerecht. Jede öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt ist bei ihrer Gründung „Kind der Politik“ gewesen. Bei mancher deutschen Kleinländeranstalt der ARD kann mit mehr Fug und Recht als bei ARTE die Frage nach einer Existenzberechtigung gestellt werden, die über die Befriedigung parteipolitischer Partikularinter28 Über das ARTE-Programm orientiert grundsätzlich ARTE-G.E.I.E (Hrsg.), Fernsehen für Europäer, o. J. (1993), ferner die monatlich und wöchentlich erscheinenden Programmvorschauen des Senders. 29 Zu den Zahlen: GfK-Erhebung 1993 (Anm. 27).

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VI. Europa und die Kultur

essen hinausgeht. Freilich erwächst dem Straßburger Kanal als Kind der Europapolitik dann auch die Verpflichtung, im Prozeß der europäischen Integration hinreichend sichtbar zu werden. Hier liegt bei ARTE noch manches im argen. Große europäische Themen – wie die Maastricht-Debatte, die Sorgen um die EG-Währungsunion oder auch die Europawahlen – sind öfters am Sender vorbeigelaufen, beziehungsweise wurden so „kulturell“ abgehandelt, daß sie dem politisch Interessierten verfremdet wurden, während den „Kulturzuschauer“ der politische Hintergrund langweilte. So bleibt für ARTE noch viel zu tun! Doch wäre es mehr als ein Wunder gewesen, wenn dieses neuartige europäische Fernsehexperiment in Kultur und Politik bereits nach zwei bis drei Jahren einen allseits zufriedenstellenden Status gefunden hätte. ARTE hat jedenfalls in kurzer 497 Zeit seinen unverwechselbaren Platz in der deutsch-französischen Fern- j sehwelt gefunden. Ihn gilt es auszubauen. Das ist als Anfang nicht wenig. Angesichts ungeduldiger, nur nach Einschaltquoten urteilender Politiker hat der Europäische Kulturkanal seine Überlebensgarantie wohl noch nicht erhalten. Die Verträge sind kündbar. Doch wird die Stabilisierung an vielen Einzelheiten sichtbar. Glücklicherweise verfügen zwischenstaatliche Einrichtungen erfahrungsgemäß auch über eine Art besonderen Existenzbonus. Unter mehreren Partnern möchte gewöhnlich mindestens einer das einmal Geschaffene aufrechterhalten. 2. Hatte Jean Monnet recht?

Hätte der Vater der europäischen Integration – gemäß seinem eingangs zitierten bekannten Diktum – lieber mit der Kultur als mit der Montanunion beginnen sollen? Der bisherige Verlauf des Experimentes ARTE in europäischer Kultur mahnt zur Vorsicht bei der Antwort. Gemäß der historischen Schuman-Erklärung vom 9.5.1950, die den Zürcher Aufruf Churchills von 1946 an das „geistig große“ Frankreich und Deutschland zur Gründung der Vereinigten Staaten von Europa aufgriff, sollte die erste Etappe der Europäischen Föderation, als welche die EGKS gedacht war, über eine „Interessen-Fusion“ dem jahrhundertelangen kriegerischen Gegensatz zwischen Frankreich und Deutschland ein Ende bereiten.30 Dazu bot sich als konkrete Maßnahme sektorieller Teilintegration die Vergemeinschaftung zweier Schlüsselindustrien, die einen Krieg unmöglich machte, sicherlich eher an als der Anfang einer mühseligen, vielverästelten Integration in einem Bereich der Kultur, den die europäischen Staaten aus guten Gründen bis heute als ein Herzstück ihrer nationalen Identität betrachten. Vordergründig gesehen, scheint die Gemeinschaftspraxis Monnet somit zu widerlegen. Das Wissen um die gemeinsamen Wurzeln europäischer

30 Schwabe (Hrsg.), Die Anfänge des Schuman-Plans 1959/51, 1988; Oppermann (Anm. 5), S. 7 ff.

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Kultur, die es seit zwei Jahrtausenden gegeben hat und die im heutigen Zeitalter transnationaler Kommunikation leichter wiederentdeckt und weiterentwickelt werden können als jemals zuvor, ist nach vier Jahrzehnten Gemeinschaftsgeschichte – und an der Schwelle zu einer staatsähnlichen Europäischen Union – zur Voraussetzung weiterer vertiefter Integrationsschritte geworden. Es sei noch einmal an die Unionsbürgerschaft erinnert. Insofern haben die deutschen und französischen Gründer von ARTE in der Stunde des Binnenmarktes und von Maastricht die Forderung des Tages richtig erkannt. Ohne wachsendes Bewußtsein der gemeinsamen geschichtlichen Herkunft und der geistigen j Überein- 498 stimmung in den grundlegenden Zielsetzungen wäre das europäische Einigungswerk trotz aller äußeren Erfolge auf Sand gebaut. Jean Monnet hat, so gesehen, letztlich in einem doppelten Sinne recht gehabt: konkret-historisch darin, daß er als geistiger Vater des Schuman-Planes 1950 den Einigungsprozeß in die Richtung des Machbaren lenkte und auf diese Weise europäische Institutionen vorbereitete, die den Erosionen der europäischen Nachkriegsgeschichte bis heute standgehalten haben, ja sich weiter fortentwickeln. Zugleich aber auch im tieferen Sinne, wenn er mit seinem Diktum bald darauf an die Notwendigkeit der Annäherung der europäischen Nationalkulturen erinnerte, welche die Union erst über den – oft vorschnell beschworenen – „point of no return“ hinauszuführen vermag. Sollte der Straßburger Kultur- und Europasender ARTE diese Botschaft durch ein interessantes und überzeugendes Programm trotz aller Schwierigkeiten mehr und mehr den Europäern nahezubringen vermögen, würde er sich um die nunmehr von Art. 1 EUV beschworene „Bürgernähe“ der Union Verdienste erwerben, die den Vergleich mit anderen Errungenschaften des europäischen Einigungswerkes nicht zu scheuen brauchten.31

31 Everling, Die Stellung des Bürgers in der Europäischen Gemeinschaft, ZfRV 1992, 241 ff.

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Die Rundfunkfreiheit von ARTE Eine Episode deutsch-französischer Kulturpolitik Pariser Reformpläne im Geiste etatistischer französischer „Rundfunkphilosophie“ drohten 1999 die Unabhängigkeit von ARTE anzutasten. Das Verhandlungsgeschick der für den Sender Verantwortlichen führte schließlich zur Rücknahme der französischen Pläne. Beitrag auf der Grundlage eines Doppelgutachtens gemeinsam mit Jean-Marie Pontier/Aix-en-Provence, das von der rechtlichen Seite zur Wahrung des Status von ARTE beitrug.*

Es legt sich nahe, zu Ehren von Walter Rudolf eine Thematik auszuwählen, in der Grundsätze des Rundfunkrechts mit den heutigen deutsch-französischen Beziehungen Hand in Hand gehen. Mit dem Jubilar verbinden mich langjährige freundschaftliche Beziehungen, die bis auf erste Begegnungen in Bochum 1967 zurückgehen. Dort fand auch kurz darauf, von Ingo v. Münch und Rudolf initiiert, die konstituierende Sitzung einer damals noch jungen Gruppe von Öffentlichrechtlern „von Badura bis Salzwedel“ statt, die gemeinsam ein erfolgreiches, mittlerweile in 11. Aufl. stehendes Lehrbuch des Besonderen Verwaltungsrechts auf die Beine stellte.1 Mittlerweile haben sie sich gemäß der biologischen Gesetze ihrerseits zu Jubilaren gemausert. Rudolf übernahm bis zur 8. Aufl. – danach wurden aufgrund „knallharter“ Kalkulation bei wachsender Konkurrenz alle für das juristische Studium nicht „wahlfachgruppenrelevanten Orchideenfächer“ eliminiert – den Bereich „Presse und Rundfunk“.2 Die konzentrierte und einleuchtende Gesamtdarstellung wurde über längere Jahre zur beliebten Orientierungshilfe für jeden, der sich über den Kern des deutschen Medienrechts informieren wollte. * Erstmals erschienen in: Arndt u. a. (Hrsg.), Völkerrecht und deutsches Recht, Festschrift Walter Rudolf zum 70. Geburtstag, Mohr Siebeck, Tübingen 2001, 497– 511. 1 v. Münch (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 1. Aufl. 1969; Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 11. Aufl. 1999. 2 Rudolf, Presse und Rundfunk, in: v. Münch (Anm. 1), 8. Aufl. 1988, 871 ff. – Das gleiche Schicksal trafen Bereiche wie Bildung (Oppermann), Wissenschaft (Kimminich) oder Wehrrecht (Rauschning). Der kleine Vorgang warf ein Schlaglicht auf die Bedeutsamkeit bestimmter Rechtsgebiete des Besonderen Verwaltungsrechts aus der Sicht der Landesjustizverwaltungen. – Aus dem sonstigen reichen Schrifttum Rudolfs im Medienrecht sei an die Studie „Über die Zulässigkeit privaten Rundfunks“ 1971 erinnert, in welcher der Verfasser zu früher Stunde das Aufkommen der dualen Rundfunkordnung in Deutschland voraussah. In diesen Zusammenhang fügt sich später Fuhr/Rudolf/Wasserburg (Hrsg.), Recht der Neuen Medien, 1989, ein.

Die Rundfunkfreiheit von ARTE

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Die intensive Beziehung Rudolfs zu Frankreich ergab sich ebenso aus den persönlichen Neigungen des Europarechtlers wie aus der Geographie seiner endgültigen akademischen Heimat Mainz. Die 1946 aufgrund französischer Besatzungsinitiative wiedererrichtete Universität pflegte enge Zusammenarbeit mit dem westlichen Nachbarn, insbesondere zur Partneruniversität Dijon, in die sich Rudolf einschaltete. Was lag näher, als das medienrechtliche mit dem französischen und europäischen Interesse zu verbinden? Wie manch anderen fesselte Rudolf bald die delikate und rechtlich anspruchsvolle Thematik der rundfunkrechtlichen Position der EG/EU im Verhältnis zu j den Mitgliedstaaten, in 498 Deutschland also vor allem zu den Bundesländern.3 Dabei erkannte er im Gegensatz zu manchen anfänglichen „Leugnern“ einer EG-Rundfunkkompetenz rasch, daß ebenso wie in anderen „Kulturbereichen“ europarechtlich kein Weg an einer begrenzten Mitwirkung der Gemeinschaft in äußeren Rundfunkangelegenheiten vorbeiführte.4 Ebenso würde Rudolf jedoch der These zustimmen, daß eine supra- oder auch nur internationale Verbindung nationaler Rundfunkordnungen nicht dazu führen darf, inhaltliche Essentialia medialer Betätigung zu verkürzen. Hierzu rechnet an erster Stelle der Grundsatz der Rundfunkfreiheit, wie er in Europa insbesondere in Art. 10 EMRK verankert ist.5 So mag den Jubilar eine auch in der Tagespresse vielbeachtete Auseinandersetzung zwischen dem deutsch-französischen Fernsehkulturkanal ARTE und den jeweiligen Reformplänen innerhalb der französischen Regierung interessieren, die ARTE mehr oder weniger in den nationalen französischen Fernsehverbund einfügen wollte. Im Kern ging es dabei um das Maß an Autonomie und Freiheit, welches einem binational-europäisch konzipierten Sender gegenüber seinem Sitzland zusteht.6 I. ARTE – Ein deutsch-französisches Gemeinschaftsunternehmen Die „Idee ARTE“ entstand in den achtziger Jahren in Fortsetzung anderer Unternehmungen, „am Rande der EG“ das europäische Einigungswerk durch völkerrechtliche Vereinbarungen von Mitgliedstaaten zu erweitern und abzurun3 Rudolf, Zur Rahmenordnung eines europäischen Binnenmarktes für den Rundfunk, AfP 1986, 106 ff. 4 Zu Legitimität und Grenzen der EG-Rundfunkzuständigkeit Oppermann, Europarecht, 2. Aufl. 1999, 673 ff. 5 Astheimer, Rundfunkfreiheit – ein europäisches Grundrecht: eine Untersuchung zu Art. 10 EMRK, 1990. 6 Die folgenden Ausführungen schöpfen aus dem Rechtsgutachten Oppermann, Statut von ARTE und französisches „Projet de Loi modifiant la Loi No 86-1067 relative à la Liberté de Communication“, 1999 (auch französische Übersetzung) und dem französischen Parallelgutachten von Pontier, Les incidences du Projet de Loi No 11871541 relatif à la liberté de communication sur ARTE-GEIE, 1999. Es handelt sich hier um eine selbständige, mit den Gutachten nicht textidentische Publikation unter der alleinigen Verantwortung des Verf.

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VI. Europa und die Kultur

den. Nicht unähnlich der bereits 1972 vollzogenen Gründung des Europäischen Hochschulinstituts („Europa-Universität“) in Florenz durch einen multilateralen völkerrechtlichen Gründungsvertrag kam es nach längeren Vorarbeiten und Verhandlungen aufgrund deutscher und französischer Initiativen (Lothar Späth, Jack Lang u. a.) 1990/1991 zur Gründung des binationalen „Europäischen Kulturkanals“ ARTE mit Sitz in Straßburg.7 Grundidee war, „den Bürgern Europas ein gemeinsames Fernsehprogramm anzubieten, welches der Darstellung des 499 kulturellen Erbes und des künstlerischen Lebens j in den Staaten, Regionen und der Völker Europas und der Welt dienen soll“ (Präambel Gründungsvertrag 1990). Seit 1992 auf Sendung, hat sich ARTE mit einem kompromißlos anspruchsvollen Programm mittlerweile einen zwar schmalen, aber unter den politisch-kulturellen Eliten Deutschlands und Frankreichs beachteten und anerkannten Platz errungen.8 1. Rechtsgrundlagen von ARTE im Völker-, Europa- und nationalen Recht

Zur verschlungenen Entstehungsgeschichte von ARTE gehören sein Berliner völkerrechtlicher Rahmenvertrag vom 2. Oktober 1990 (vRV) und der gesellschaftsrechtliche Gründungsvertrag vom 30. April 1991 (gGV).9 Der vRV vom 2. Oktober 1990, am Vorabend der Deutschen Einheit in Berlin zwischen den damals noch 11 „alten“ Bundesländern und Frankreich unterzeichnet, ist in die deutsche Staatsrechtsgeschichte als bisher einziges Kulturabkommen eingegangen, bei dem der Bund seine sonst in Anspruch genommene Abschlußkompetenz nicht wahrgenommen hat.10 Seine Rechtsgestalt und eigentliche Existenz 7 Zur Entstehungsgeschichte Oppermann, ARTE – Ein Experiment in europäischer Kultur, GS Eberhard Grabitz 1995, 483 ff. (in diesem Band auf S. 469 ff. abgedruckt); Schmid, Der Europäische Fernsehkulturkanal ARTE, 1997, 56 ff.; Pontier, La chaîne culturelle Franco-Allemande ARTE, in: Facultés de Droit Aix/Marseille-Tübingen (Hrsg.), La coopération franco-allemande en Europe à l’aube du XXIe siècle, 1998, 75 ff. – Der Kunstname ARTE wurde über Art. 3 des gesellschaftsrechtlichen Gründungsvertrages 1991 zusammengesetzt: „Association Relative à la Télévision Européenne“. 8 Aufgrund objektiver Unterschiede zwischen der deutschen und der französischen Fernsehlandschaft erreicht ARTE in Deutschland lediglich annähernd 1% Marktanteil, in Frankreich dagegen ca. 3%. Dabei ist zu bedenken, daß solche „Minderheiten“ auch in Deutschland absolut in die hunderttausende Zuschauer gehen und dabei politisch und kulturell wichtige Zielgruppen erreichen. So gesehen erscheinen die von beiden Seiten getragenen Kosten für ARTE von insgesamt gut 500 Mio DM jährlich als legitime Kulturfinanzierung. Näher Oppermann (Anm. 7), 494 ff. 9 Text völkerrechtlicher Vertrag u. a. bad.-württ. GBl. 1991, 789. Beide Verträge sind auch bei Schmid (Anm. 7), 255 ff. publiziert. 10 Die nach Art. 32 Abs. 3 GG erforderliche Zustimmung des Bundes wurde durch einen (unveröff.) Beschluß vom 1. Oktober 1990 mit dem Bemerken erteilt, daß der Vorgang „Ausnahmecharakter“ habe. Die neuen Bundesländer sind seit 1995 ARTE beigetreten.

Die Rundfunkfreiheit von ARTE

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erhielt ARTE durch den gesellschaftsrechtlichen Gründungsvertrag vom 30. April 1991, der zwischen den beiden Partnern La SEPT/Paris (französischer Kulturkanal) und ARTE Deutschland TV GmbH/Baden-Baden abgeschlossen wurde.11 Die beiden Gesellschafter gründeten ARTE in der Rechtsform einer „Europäischen Wirtschaftlichen Interessenvereinigung“ (EWIV, französische Abkürzung GEIE). Während der Sender durch den völkerrechtlichen Rahmenvertrag symbolträchtig auf französischem grenznahem Boden in Straßburg loziert wurde, unterstrich die europäische Rechtsform seine Transnationalität. ARTE ist auf diese Weise weder ein französischer noch ein deutscher Sender, sondern eine binationale Gemeinschaftseinrichtung. Dieser komplizierte Sachverhalt wurde und wird in der weiteren, auch politischen Öffentlichkeit insbesondere in Frankreich nicht immer hinreichend wahrgenommen, wo man ARTE nicht selten verkürzt als Teil der französischen Fernsehlandschaft versteht. Dies führt leicht zu Missverständnissen wie bei der hier zu behandelnden französischen audiovisuellen Reform 1999/2000. Rechtlich müssen auf diese Weise bei dem Gesamtkomplex ARTE drei Ebenen unterschieden werden. Völkerrechtlich trifft der deutsch-französische Vertrag vom 2. Ok- j tober 1990 zum Europäischen Fernsehkulturkanal die grund- 500 legenden Regelungen. Gesellschaftsrechtlich nimmt der Gründungsvertrag von ARTE-GEIE die Rechtsformen des europäischen Gemeinschaftsrechts über die Europäische Wirtschaftliche Interessenvereinigung in Anspruch. Schließlich sind die beiden Gesellschafter von ARTE-GEIE, nämlich ARTE-Deutschland GmbH und bisher die Société Anonyme La SEPT-ARTE nach deutschem beziehungsweise französischem Recht gegründet. Bei diesen komplizierten Strukturen können auch ohne „böse Absichten“ von irgendeiner Seite leicht Schwierigkeiten auftreten, zumal ARTE als binationaler Sender gleichzeitig in der französischen und der deutschen Fernsehlandschaft präsent ist, die sich nicht unerheblich unterscheiden.12 2. Unabhängigkeit und deutsch-französische Parität – Grundprinzipien von ARTE

Inhaltlich legen der völkerrechtliche Rahmenvertrag von 1990 (vRV) und der gesellschaftsrechtliche Gründungsvertrag von 1991 (gGV) vor allem zwei Prinzipien fest, die für die Organisation und die Tätigkeit von ARTE konstituierend 11 ARTE-D bündelt die deutschen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten als deutscher Partner von ARTE-Straßburg und Programmzulieferer von deutscher Seite für den binationalen Sender. ARD und ZDF sind an ARTE-D je zur Hälfte beteiligt. Der Gesellschaftsvertrag von ARTE-D vom 11. Dezember 1990 (Änderungen) ist bei Schmid (Anm. 7), 258 ff. abgedruckt. 12 „Auf der Kehler Rheinbrücke trennen sich zwei Fernsehwelten“ (Hans-Günther Brüske, früherer Geschäftsführer von ARTE-D).

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VI. Europa und die Kultur

sind: die grundsätzliche Unabhängigkeit des Senders im Verhältnis zur staatlichen Gewalt in Deutschland und Frankreich und den Grundsatz deutsch-französischer Parität innerhalb seiner Organisation. Schon der 4. Absatz der Präambel des vRV 1990 spricht von der Errichtung einer „gemeinsamen und unabhängigen Fernsehgesellschaft“ und bekennt sich zu den „Grundsätzen des freien Flusses von Informationen und Ideen sowie der Unabhängigkeit von Rundfunkveranstaltern“. Art. 1 Abs. 1 vRV verdeutlicht, daß damit insbesondere Rundfunkfreiheit als Programmfreiheit gemeint ist. ARTE hat die „alleinige Verantwortung für die Programmplanung und Programmrealisierung“, die unter ausschließlicher Aufsicht und Kontrolle der Gesellschafter La SEPT-ARTE und ARTE-D steht und damit „unabhängig von staatlichen Eingriffen“ ist. Der gGV 1991 führt diese Prinzipien inhaltlich und organisatorisch näher aus. Als Programmgrundsätze werden „Unabhängigkeit, Pluralismus und Ausgewogenheit der angebotenen Sendungen“ genannt, die „keine einseitige Unterstützung . . . einer Regierung, von Parteien oder anderen Akteuren des sozialen, wirtschaftlichen oder politischen Lebens“ enthalten dürfen. Informationssendungen müssen mit „anerkannten journalistischen Prinzipien“ wie Fairneß, Objektivität, Trennung von Information und Kommentar übereinstimmen. Organisatorisch erarbeiten die Gesellschafter für eine senderinterne Programmkonferenz Programmvorschläge, welche hieraus und aus senderinternen Vorschlägen die Programmgrundsätze und das Programmschema aufstellt (Art. 19 gGV). – In die Ausgestaltung der Rundfunkfreiheit von ARTE sind im einzelnen mancherlei Erfahrungen und auch Rechtsgrundsätze eingeflossen, die sich aus dem deutschen Rundfunkrecht ergaben.13 Ohne die Auf501 nahme dieser Regelungen in den j vRV 1990 und den gGV 1991 wäre die Verbreitung des „auch deutschen“ ARTE-Programmes in der Bundesrepublik problematisch gewesen. Auch wenn unmittelbar staatliche Einflußnahmen auf ARTE auf diese Weise hintangehalten werden sollen, ist es bei einem öffentlich-rechtlichen binationalen Sender verständlich, wenn Regelungen getroffen werden, welche die nationale „Färbung“ ausbalancieren. Das Prinzip grundsätzlicher deutsch-französischer Parität in der Organisation des Senders wird zwar als solches nicht ausdrücklich festgehalten. Es liegt aber so vielen Einzelregelungen erkennbar zugrunde, daß man diese Parität als stillschweigend mitgeschriebenen Grundsatz bezeichnen kann. In der Präambel des vRV 1990 wird vom „gemeinsamen“ Fernsehkulturkanal und vom „gemeinsamen“ Fernsehprogramm gesprochen. In Art. 3.4 gGV wird die Parität für die Geschäfts- und Arbeitssprachen von ARTE bestimmt. 13 Zur insbesondere durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts „hochgezüchteten“ Rundfunkfreiheit im deutschen Sinne Fechner, Medienrecht, 2000, 187 ff.

Die Rundfunkfreiheit von ARTE

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Nach Art. 7 ist die Stimmenzahl der Gesellschafter La SEPT-ARTE und ARTE-D auf beiderseits je 6 Stimmen festgelegt, verbunden mit der Verpflichtung, in diesem Verhältnis Finanzmittel, Programmzulieferungen und sonstige Mittel zur Verfügung zu stellen. In Art. 12 gGV ist die Regelung über den Präsidenten und den Vize-Präsidenten von ARTE praktisch so ausgestaltet, daß sich ein deutsch-französisches Alternat ergibt.14 Dasjenige Mitglied, welches nicht den Präsidenten stellt, nimmt den Vorsitz in der Mitgliederversammlung wahr. Vor allem spiegelt sich über die Programmzulieferungen und in der Zweisprachigkeit die ungefähre Binationalität des ARTE-Programms wieder, auch wenn es weder möglich noch sinnvoll ist, in solchen Zusammenhängen auf eine jederzeitige strikte Gleichheit zu setzen.15 3. „Rundfunkphilosophie“ in Deutschland und in Frankreich

Juristisch unterliegt ARTE als binationaler Sender mit eigenen Rechtsgrundlagen einem autonomen Statut. Es darf zwar nicht in einem grundsätzlichen Widerspruch zu den herrschenden Prinzipien der deutschen oder der französischen Rundfunkordnung stehen. Dieses notwendige Maß an Homogenität zwischen ARTE und dem Recht seiner beiden Gesellschafter wird ohnehin durch die gemeinsame Zugehörigkeit zur Medienordnung der Europäischen Menschenrechtskonvention und des EG-Vertrages gewährleistet.16 Es bedarf aber auch nicht einer absoluten Identität zwischen dem ARTE-Statut und dem deutschen beziehungsweise französischen Rundfunkverständnis. Sie wäre schon deshalb nicht möglich, weil die „audiovisuelle Philosophie“ auf bei- j den Seiten 502 des Rheins trotz aller geographischen und geistigen Nähe nicht unerheblich verschieden geblieben ist. Eine der Ursachen hierfür liegt in den vielfältigen Unterschieden zwischen französischem Zentralismus und deutschem Föderalismus in Rundfunkangelegenheiten. Die Rundfunkzuständigkeit liegt in Frankreich auf nationaler, in der Bundesrepublik auf Länderebene. Was das bedeutet, läßt sich bei ARTE an der unterschiedlichen Organisation der beiden Gesellschafter ablesen. La SEPTARTE/Paris ist eine Aktiengesellschaft unter öffentlichem Einfluß (Staatsanteil 14 Tatsächlich ergab sich zunächst eine 8jährige Amtszeit (2 Wahlperioden) des französischen ARTE-Präsidenten Jerôme Clément bei wechselnden deutschen Vizepräsidenten. Seit 1999 amtiert der deutsche Präsident Jobst Plog. 15 Dies wäre schon deswegen nicht möglich, weil ARTE als Europäischer Kulturkanal in nicht unbeträchtlichem Maße Programmteile aus anderen europäischen Ländern aufnimmt. ARTE hat eine Reihe von Assoziierungsverträgen und Kooperationsvereinbarungen mit öffentlichen Rundfunkanstalten anderer europäischer Staaten geschlossen, Texte im ARTE-Handbuch (Losebl.), Abschnitt 4. 16 Zu ihr Fechner (Anm. 13), 117 ff.

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VI. Europa und die Kultur

25%). Sie wirkt als Produktionsgesellschaft, die in großem Stil eigene Programme für ARTE herstellt. Demgegenüber spiegeln sich in der Baden-Badener ARTE-Deutschland GmbH Glanz und Elend des deutschen Rundfunkföderalismus. Gesellschafter von ARTE-D sind zu je 50% die in der ARD zusammengeschlossenen 10 öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und das ZDF. Eine der wichtigsten Aufgaben der GmbH liegt in der Zulieferung von Progammen an ARTE-Straßburg, die in den deutschen Anstalten produziert werden, teilweise speziell für ARTE. Anderes kommt aus dem allgemeinen Programmfundus. Da jede Rundfunkanstalt „von Radio Bremen bis zu WDR und ZDF“ eine feste Programmquote erfüllen soll, erscheint zweifelhaft, ob ARTE-GEIE auf diese Weise von deutscher Seite optimal versorgt wird. Auch sonst erleichtert die Beteiligung von ungefähr einem Dutzend Sendern nicht gerade die Willensbildung innerhalb von ARTE-D. Weiterhin unterscheiden sich die französische und deutsche Rundfunkordnung durch das zugelassene Maß staatlichen – einschließlich parlamentarischen – Einflusses auf die Rundfunkveranstalter. Zwar ist die „Liberté de Communication“ auch in Frankreich über Art. 10 EMRK und das französische Rundfunkgesetz vom 30. September 1986 (Loi No 86-1067) gesetzlich verankert. Dennoch ist der audiovisuelle Bereich in der französischen Tradition in der Praxis immer noch starker staatlicher Einwirkung zugänglich. „Dans la tradition française où la télévision est le fait du prince l’audiovisuel relève toujours du domaine réservé sans que rien, en démocratie, ne justifie cet état du fait“.17 Demgegenüber ist in Deutschland seit 1945 in Reaktion auf die staatliche Beherrschung des Rundfunks unter der nationalsozialistischen Diktatur die Rundfunkfreiheit in einer extensiven Auslegung des Art. 5 GG besonders betont worden. Vor allem die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat über die Jahrzehnte hinweg staatliche Einflußnahmen so weit als möglich zurückgedrängt.18 So leitet sich nicht zuletzt das deutsche System eigener Gebührenfinanzierung durch die Anstalten aus Art. 5 GG ab.19 Demgemäß wird der hälftige deutsche Finanzierungsanteil für ARTE mittels eines Zuschlages auf die allgemeine Rundfunkgebühr aufgebracht, während ARTE aus Frankreich jährlich einen unmittelbaren Haushaltszuschuß erhält. Auch wenn der Straßburger Sender hierauf aus den Verträgen einen Rechtsanspruch hat, geben die Festset503 zung der jeweiligen Höhe des Zuschusses und j die parlamentarische „Souveränität“ Möglichkeiten indirekter staatlicher Einwirkung. Der 1999/2000 zwischen ARTE und Paris ausgetragene Konflikt über die fortdauernde Unabhän-

17 Wolton, Arte, la culture et la télévision, Le Monde, 23 septembre 1992, zitiert bei Pontier (Anm. 7, S. 77). 18 Seit BVerfGE 12, 205 ff. (262) st. Rspr.; umfassend hierzu Herrmann, Rundfunkrecht, 1994, 162 ff. 19 BVerfGE 90, 60 ff.

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gigkeit des Senders im Rahmen der allgemeinen französischen Rundfunkreform bot dazu neues Anschauungsmaterial. Hierauf sei im folgenden eingegangen. II. Die französische Rundfunkreform 1999–2000 („Loi Trautmann“) Schon seit einigen Jahren wurden in Paris Pläne verfolgt, den durch die private Konkurrenz zunehmend bedrängten öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Frankreich zu reformieren und effektiver zu gestalten. Sie nahmen schließlich in einem nach der damaligen französischen Kulturministerin Catherine Trautmann „Loi Trautmann“ benannten Gesetzentwurf Gestalt an („Projet de Loi modifiant la Loi No 86-1067 relative à la Liberté de Communication“ = im Folgenden zitiert „Loi Trautmann“, „Projet de Loi“ oder PL).20 Grundgedanke der „Loi Trautmann“ ist die Zusammenfassung der verschiedenen öffentlich-rechtlichen Programmgesellschaften (insbesondere France 2 und France 3 sowie des Kultursenders La Cinquième) unter dem Dach einer neuen Holding „France Télévision“ (FT), deren Kapital vom französischen Staat gehalten wird. Indem FT ihrerseits das Kapital der genannten Untergesellschaften hält, ergibt sich zumindest von der finanziellen Seite im französischen öffentlich-rechtlichen Rundfunk ein beherrschender Staatseinfluß. Nach diesen Gesetzesplänen wurde ARTE-GEIE von der Reform unmittelbar betroffen. Der bisherige französische Gesellschafter La SEPT-ARTE sollte mit dem französischen Kultursender „La Cinquième“ verschmolzen werden. Die neue Programmgesellschaft „La Cinquième-ARTE“ hätte innerhalb ARTEGEIE den Platz des bisherigen Gesellschafters La SEPT-ARTE einnehmen sollen. Da „La Cinquième-ARTE“ ihrerseits als eine der Untergesellschaften von France Télévision konzipiert war, hätte sich eine bemerkenswerte Transformation des französischen Mitgliedes von ARTE-GEIE vollzogen. An die Stelle der bisherigen, innerhalb des französischen Service Public Audiovisuel in relativer Unabhängigkeit agierenden Gesellschaft La SEPT-ARTE wäre dem deutschen Partner ARTE-D eine neue Gesellschaft gegenübergetreten, die ganz unter dem kapitalmäßigen Einfluß des französischen Staates gestanden hätte und mit einem binnenfranzösischen Kultursender fusioniert gewesen wäre.21 j

20

Zunächst am 27. Mai 1999 von der französischen Nationalversammlung als „Petite loi“ (Texte adopté No 325) in erster Lesung angenommen, inzwischen mehrfach geändert und ergänzt. 21 La SEPT-ARTE hat die Rechtsgestalt einer Aktiengesellschaft, deren Träger sich in gewisser Pluralität auf den französischen Staat (25%), France 3 (45%), Radio France (15%) und das Institut National de l’Audiovisuel (15%) verteilen. Obwohl Bestandteil des französischen öffentlich-rechtlichen Gesamtsystems (Service public), genießt La SEPT-ARTE wegen seiner Verbindung zu ARTE-GEIE eine Sonderstellung. Die Bestimmungen des Teiles III des Rundfunkgesetzes 1986 über die besonderen öffentlich-rechtlichen Bindungen werden auf La SEPT nicht angewandt.

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VI. Europa und die Kultur 1. Grenzen der Handlungsfreiheit des französischen Gesetzgebers aus Verfassung, Völker- und Europarecht

Es bedurfte keines besonderen juristischen Scharfsinns, um verschiedene offenkundige Friktionen zwischen der „Loi Trautmann“ und dem Statut von ARTE-GEIE zu erkennen, wie es 1990/1991 im deutsch-französischen Rahmenvertrag und anschließend im gesellschaftsrechtlichen Gründungsvertrag zwischen der deutschen und der französischen Seite vereinbart worden war. In einer Zeit des Vorranges transnationaler Normen gegenüber nationalem Recht ist die französische Nationalversammlung ebensowenig wie andere nationale Legislaturen voll „souverän“ in ihrem gesetzgeberischem Willen. Die „Loi Trautmann“ muß sich als ein einfaches französisches Gesetz im Rahmen der ihm übergeordneten Normebenen halten. Im Rahmen des französischen Rechts bedeutet dies die Respektierung der Verfassung der V. Französischen Republik von 1958. Nach ihrem Art. 55 haben von Frankreich ratifizierte internationale Verträge unter Vorbehalt der Gegenseitigkeit Vorrang vor den Gesetzen. Nach der neueren Rechtsprechung des Conseil Constitutionnel und des Conseil d’État gilt dieser Vorrang sowohl für Gesetze, die bereits vor dem Inkrafttreten des Vertrages galten („Lex prior“) als auch für spätere („Lex posterior“).22 Da es sich bei dem deutsch-französischen Vertrag vom 2. Oktober 1990 über ARTE um einen Vertrag im Sinne des Art. 55 handelt, ist sein Vorrang gegenüber dem Projet de Loi (PL) gegeben. Aber auch der gesellschaftsrechtliche Gründungsvertrag für ARTE-GEIE beansprucht Vorrang gegenüber einem nationalen französischen Gesetz wie der „Loi Trautmann“. Diese auf den ersten Blick etwas überraschende Feststellung ergibt sich zum einen aus der Tatsache, daß der gGV 1991 nichts anderes als eine nähere Durchführung der Grundentscheidungen des vRV 1990 darstellt (Gründung einer gemeinsamen unabhängigen Fernsehgesellschaft). Art. 2.4 gGV bringt dies zum Ausdruck, wo es heißt, daß ARTE-GEIE „in Übereinstimmung mit den Bestimmungen des zwischenstaatlichen Abkommens“ tätig wird. Materiell gesehen nimmt so der Inhalt des gGV notwendig an der Vorrangwirkung des völkerrechtlichen Vertrages 1990 gemäß Art. 55 der Verfassung teil. Aber auch aus dem Vorrang des europäischen Gemeinschaftsrechts gegenüber nationalem Recht ergeben sich gewisse Begrenzungen der Handlungsfreiheit des französischen Gesetzgebers bei der Gestaltung der „Loi Trautmann“. Da für die Gründung von ARTE-Straßburg die europäische Rechtsform einer Europäischen Wirtschaftlichen Interessenvereinigung (EWIV, franz. GEIE) gewählt wurde,

22 Zuletzt Conseil Constitutionnel, Rec. 1986, 135; Conseil d’État, Rec. 1989, 190 „Nicolo“; näher Fromont, Das Verhältnis zwischen dem nationalen Recht und dem EG- bzw. Völkerrecht in Frankreich, EuZW 1992, 46 ff. und Pontier (Anm. 6, S. 6 ff.).

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muß sich der gGV im Rahmen der EWG-Verordnung 2137/85 halten, welche die Rahmenregelungen für die EWIV enthält. j Nach deren Art. 17 bedürfen Änderungen des gesellschaftsrechtlichen Grün- 505 dungsvertrages einer EWIV/GEIE der Einstimmigkeit der Mitglieder. Da die Ersetzung des bisherigen französischen Mitgliedes La SEPT-ARTE innerhalb ARTE-Straßburg durch die in der „Loi Trautmann“ vorgesehene neue Gesellschaft „La Cinquième-ARTE“ eine Änderung des gGV bedeuten würde, könnte ein solcher „Partnertausch“ nicht einseitig durch den französischen Gesetzgeber rechtswirksam vorgenommen werden, sondern bedürfte der Zustimmung des deutschen Mitgliedes ARTE-D innerhalb ARTE-Straßburg. 2. Inhaltliche Friktionen der „Loi Trautmann“ mit dem Statut von ARTE

Nach der ursprünglichen Fassung des Gesetzesentwurfs zur Änderung des französischen Rundfunkgesetzes von 1986 im Frühjahr 1999 („Loi Trautmann“) hätten sich nicht unerhebliche rechtliche Probleme mit Blick auf die Vereinbarkeit mit den übergeordneten Normen des ARTE-Statuts ergeben.23 Sie ergaben sich vor allem aus der vorgesehenen Verstärkung des französischen Staatseinflusses auf ARTE in einem für die deutsche Sicht der Rundfunkfreiheit bedenklichen Ausmaß, aber auch durch eine damit verbundene Antastung der deutschfranzösischen Parität innerhalb des Senders sowie aus Gefahren für die binational-europäische Identität von ARTE-Straßburg mittels einer zu starken Einbeziehung des Senders in die französische Fernsehlandschaft. Dabei wäre es falsch, hinter den ursprünglichen Zielsetzungen der „Loi Trautmann“ einen bewußten Anschlag auf die Unabhängigkeit von ARTE zu vermuten. Die Probleme ergaben sich letztlich daraus, daß die geistigen Väter des Pariser Gesetzesentwurfs eine umfassende Reform der französischen Rundfunkordnung im Auge hatten, bei welcher das Schicksal von ARTE nur ein Randthema darstellte. Dabei wurde der Straßburger Kulturkanal wie ein sonstiger Bestandteil der französischen Fernsehlandschaft begriffen, ohne die autonome Position von ARTE als völkerrechtlich verankerte binationale Gemeinschaftseinrichtung zu berücksichtigen.

23 Die folgenden Ausführungen fassen die wichtigsten Gesichtspunkte der Rechtsgutachten Oppermann und Pontier (Anm. 6) zusammen. Nachdem der Gesetzesentwurf der „Loi Trautmann“ Anfang 2000 nicht zuletzt mit Blick auf die deutschen rechtlichen und politischen Bedenken geändert wurde (unten Anm. 38), erübrigt sich eine eingehendere Darstellung.

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VI. Europa und die Kultur

a) Der Einfluß des französischen Staates auf ARTE In dem völkerrechtlich sowie europa-gesellschaftsrechtlich festgelegten Statut von ARTE-GEIE wurde der Unabhängigkeit und insbesondere der Programmautonomie des Senders ein hoher Rang eingeräumt.24 Auch wenn dies nicht eine vollständige Übernahme des deutschen Standards der Rundfunkfreiheit bedeutete, steht das Statut von ARTE in diesem Punkte dem stark verrechtlichten deutschen Konzept der Rundfunkfreiheit näher als der französischen Gesetzeslage und Praxis, die stärker auf eine politisch-tatsächliche Gewährleistung der „Liberté de Communication“ setzt und nicht so sehr auf eine bis ins Letzte ausgefeilte Juridifizierung. j 506

Wenn sich der Eindruck aufdrängt, daß in den Vorstellungen der „Loi Trautmann“ der potenzielle Einfluß des französischen Staates auf die Tätigkeit von ARTE-Straßburg zu weit gegangen wäre, handelt es sich daher nicht um ein „Einschmuggeln“ deutscher Grundrechtsstandards auf die transnationale Ebene, sondern um eine Wertung aus der Sicht des ARTE-Statuts, welches beide Vertragspartner 1990/91 festgelegt hatten und mit ihrer nationalen Rundfunkordnung für vereinbar hielten. Stein des Anstoßes aus dieser Sicht war vor allem die vorgesehene Verschmelzung des bisherigen französischen ARTE-Gesellschafters La SEPTARTE mit dem innerfranzösischen Kulturkanal „La Cinquième“ zu einem neuen Sender „La Cinquième-ARTE“. Dieser sollte nicht nur im Sinne eines „Partnertausches“ ARTE-D innerhalb des Straßburger Senders gegenübertreten, sondern zugleich als eine Untergesellschaft der neuen Holding „France-Television“ (FT) dergestalt integraler Bestandteil der französischen Fernsehordnung werden, daß das Nachmittagsprogramm von „La Cinquième“ auf derselben Frequenz abends unmittelbar in die Sendungen von ARTE-GEIE überging. Vor allem sollte sich der Einfluß des französischen Staates bei „La CinquièmeARTE“ im Vergleich zu La SEPT-ARTE erheblich verstärken. Zum einen über die Kapitalseite, wo sowohl „La Cinquième-ARTE“ zu 100% dem Staat gehören sollte, gleichzeitig aber auch über die Beherrschung durch die Holding „France Télévision“, deren Aktien ihrerseits vollständig beim französischen Staat liegen sollen. Damit verbunden sollte FT bei „La Cinquième-ARTE“ die Koordination der Programmpolitik wahrnehmen, die auf diese Weise staatlicher Beeinflussung zugänglich würde, bis hin zu der Möglichkeit der Suspension von Programmteilen, die im Widerspruch zu gesetzlichen oder vertraglichen Vorgaben stehen. Dieses „Wächteramt“ wollte die „Loi Trautmann“ dem offiziösen „Conseil Supérieur de l’Audiovisuel“ (CSA) übertragen. Dies hätte in direktem Widerspruch zu Art. 1 des deutsch-französischen Vertrages vom 2. Oktober 1990 über ARTE gestanden, wonach die Programmpolitik von ARTE 24

Oben I. 2.

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unter ausschließlicher Aufsicht und Kontrolle der Gesellschafter von ARTE und unabhängig von staatlichen Eingriffen „einschließlich unabhängiger Instanzen für die Gestaltung des Rundfunkwesens des Sitzlandes“ wahrgenommen werden sollte. Mit diesem letzten Halbsatz sollte ausdrücklich jede externe Programmkontrolle bei ARTE ausgeschlossen werden, wobei besonders an den – seinerseits nicht „staatsfreien“ – CSA gedacht war. Weiterhin hätte sich der Einfluß des französischen Staates über einen Gesellschafter „La Cinquième-ARTE“ auf den Straßburger Sender gemäß der „Loi Trautmann“ auch personell verstärkt bemerkbar gemacht. Sowohl in den Organen von FT wie auch bei „La Cinquième-ARTE“ liegen die Anteile der vom Staat benannten Vertreter (einschließlich Parlamentarier) bei 50% und höher. Dies ist mehr, als die deutsche Rechtsprechung in Rundfunkorganen um der Gewährleistung der Unabhängigkeit der Anstalten willen für zulässig hält.25 Das Ziel der „Loi Trautmann“, im öffentlichen Fernsehen in Frankreich eine nationale Programmpolitik nach gemeinsamen Leit- j prinzipien möglich zu ma- 507 chen, spiegelt sich schließlich besonders deutlich in der Regelung, daß der Präsident der Holding FT gleichzeitig Präsident von „La Cinquième-ARTE“ sein sollte. Durch diese Personenidentität wäre die Leitung des französischen ARTE-Gesellschafters und damit wahrscheinlich die künftige Präsidentschaft bzw. Vizepräsidentschaft von ARTE-Straßburg derselben Persönlichkeit zugefallen, die mit dem Vertrauen des französischen Staates die nationale Fernsehpolitik von Paris aus zu inspirieren hätte. Ganz offensichtlich lag einer solchen Integration des französischen Gesellschafters von ARTE-GEIE in die allgemeine Organisation des französischen Fernsehens und in eine unter Staatseinfluß stehende Programmpolitik ein anderes Verständnis von Rundfunkfreiheit zugrunde, als es zwischen Deutschland und Frankreich beziehungsweise zwischen La SEPT-ARTE und ARTE-D in den völker- und gesellschaftsrechtlichen Verträgen von 1990/91 vereinbart worden war. b) Antastung der deutsch-französischen Parität innerhalb von ARTE Neben den Problemen, welche eine Verwirklichung der „Loi Trautmann“ für die Unabhängigkeit von ARTE mit sich gebracht hätte, ergaben sich weitere Probleme aus dem Gesetzesentwurf für das zweite den Sender konstituierende Prinzip, die deutsch-französische Parität, welche mannigfach in der inneren Organisation zum Ausdruck kommt.26 Zwar stünde die von der „Loi Trautmann“ beabsichtigte Ersetzung des französischen Gesellschafters La SEPT-ARTE durch „La Cinquième ARTE“ in keiner unmittelbaren Beziehung zum Paritäts25 26

Dazu Herrmann (Anm. 18), 290 ff. und BVerfGE 83, 238 ff. Oben I. 2.

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VI. Europa und die Kultur

grundsatz. In der praktischen Tätigkeit des Straßburger Senders darf eine solche Parität jedoch nicht nur formal verstanden werden, wie bei der Zusammensetzung der Organe, bei der Sprachenfrage usf. Es bedarf gleichzeitig einer materiellen Gleichberechtigung der beiden Seiten in Gestalt eines tatsächlichen Gleichgewichts zwischen dem deutschen und dem französischen Mitglied der Gesellschaft. Hierzu gehört eine strukturelle Homogenität zwischen ARTE-D und dem französischen Gesellschafter im Interesse einer guten Zusammenarbeit unter Gleichen im Sinne des Auftrages des Senders. Ein entscheidender Gesichtspunkt in diesem Zusammenhang ist dabei eine vergleichbare Autonomie des deutschen und des französischen Mitgliedes von ARTE im Verhältnis zu ihrem Staat. An sich gehen der deutsch-französische Vertrag 1990 und der gesellschaftsrechtsrechtliche Gründungsvertrag 1991 von einer solchen vergleichbaren Unabhängigkeit der beiden Gesellschafter aus. Ein Zustand der Ungleichheit hätte sich jedoch ergeben müssen, wenn im Sinne der „Loi Trautmann“ der von staatlichem Einfluß unabhängige deutsche Partner ARTE-D einer „La Cinquième-ARTE“ gegenübergestanden wäre, hinter der als abhängige Untergesellschaft von „France-Télévision“ der französische Staat gestanden hätte. ARTE-D steht als GmbH, deren Gesellschafter die ihrerseits staatsunabhängigen deutschen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten sind, in keinerlei Abhängigkeit 508 zur Bundesrepublik oder einem ihrer Länder.27 Eine solche j Unabhängigkeit entspricht dem Statut von ARTE-Straßburg. Man kann bei dem deutschen Gesellschafter sogar von einer ausgesprochen „schwachen“ Konstruktion sprechen, da ARTE-D mit 11 unabhängigen Rundfunkanstalten als Gesellschaftern oftmals unterschiedliche Interessen bündeln muß, was für ein geschlossenes Auftreten nach außen nicht förderlich ist. Da der bisherige französische Gesellschafter La SEPT-ARTE seinerseits plural strukturiert ist, konnte man in der bisherigen Zusammenarbeit die Parität als hinreichend gewahrt ansehen.28 Bei einem künftigen Nebeneinander zwischen ARTE-D und einer Gesellschaft „La Cinquième-ARTE“, die als große französische Programmgesellschaft eines der maßgeblichen Instrumente staatsbeeinflußter Pariser Fernsehpolitik werden sollte, hätte dagegen eine hohe Wahrscheinlichkeit bestanden, daß die deutschfranzösische Parität innerhalb des Senders zum Nachteil von ARTE empfindlich gestört worden wäre. Das tatsächliche Gewicht von „La Cinquième-ARTE“ hätte der französischen Seite in der täglichen Programmarbeit nur allzu leicht 27

Näher aus dem Gesellschaftsvertrag von ARTE-D (Schmid, Anm. 7) ablesbar. Stimmen in Deutschland sehen allerdings bereits heute die Bargaining power von La SEPT-ARTE derjenigen von ARTE-D als überlegen an, da La SEPT zentral organisiert ist und nicht nur Zuliefer-, sondern auch eigene Produktionsaufgaben wahrnimmt, vgl. Dittmann, L’exemple d’ARTE, in: Facultés de Droit Aix/Marseille-Tübingen (Hrsg.), La coopération franco-allemande en Europe à l’aube du XXIe siècle, 1998, 93 ff. Nach vorherrschender Auffassung ergaben sich jedoch bisher keine merklichen Ungleichgewichte. 28

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einen Vorsprung verschafft, welcher die Planung und Realisierung eines paritätisch konzipierten übernationalen Programmes problematisch gemacht hätte. c) Gefahren für den europäischen Auftrag von ARTE Nicht nur in einem streng juristischen Sinne, sondern auch in der medialen Wahrnehmung von ARTE durch sein Publikum vornehmlich in Frankreich mußte eine Verwirklichung der „Loi Trautmann“ der „Idee ARTE“ abträglich sein. Zu ihr gehörte seit der Gründung von ARTE 1990–92, zur Förderung des europäischen Einigungsprozesses auf der kulturellen Seite einen Sender zur Verfügung zu stellen, der ungeachtet seiner Verankerung in der deutschen und französischen Fernsehlandschaft, mit den Augen der Zuschauer gesehen, etwas Neues und Eigenes darstellt, nämlich ein übernationales Fernsehprogramm europäischer Ausrichtung. Daher hatte bereits Art. 4 des vRV 1990 die Möglichkeit des Beitrittes weiterer europäischer Staaten vorgesehen.29 Dieser spezifische Charakter des ARTE-Programmes, der am Bildschirm täglich seinen Ausdruck findet, hätte in Frankreich in den Augen des Publikums, aber auch bei Verlegern und Produzenten leicht Schaden nehmen können, wenn La SEPTARTE, bisher ausschließlich französisches ARTE-Mitglied, mit einem binnenfranzösischen Programm wie La Cinquième zusammengekoppelt worden wäre. In der täglichen Programmfolge sollte die neu fusionierte Gesellschaft zunächst am Nachmittag ihr eigenes französisches Programm ausstrahlen, bevor im Anschluß ARTE-Straßburg mit seinem Programm begonnen hätte, welches grundsätzlich zur Hälfte ebenfalls von „La Cinquième-ARTE“ bestritten worden wäre. Bei dieser engen j Symbiose und zugleich infolge der Namensähnlichkeit 509 (zweimal „ARTE“) hätte es dem französischen Zuschauer unklar werden müssen, ob er sich für ein französisches oder für ein übernational-europäisches Programm entschieden hatte. Damit wären nicht nur Irritationen und Konfusionen bei den Zuschauern verbunden gewesen, sondern für ARTE-Straßburg ein erheblicher Identitätsverlust als eigenständiger binationaler Sender europäischer Ausrichtung. Zumindest in Frankreich hätte eine deutliche Verwässerung der „Idee ARTE“ gedroht. III. Ein glückliches Ende oder: Die Politik folgt dem Recht Die mit der „Loi Trautmann“ sich für ARTE abzeichnenden Perspektiven mußten die Verantwortlichen des Straßburger Senders mit Besorgnis erfüllen. Auch wenn der Gesetzesentwurf auf eine Gesamtreform der französischen Fernsehordnung abzielte, bei welcher die Umgestaltungen bei La SEPT nur eine begrenzte Bedeutung besaßen und nicht als bewußter „Anschlag auf ARTE“ ge29

Zur bisherigen Verwirklichung oben Anm. 15.

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VI. Europa und die Kultur

dacht waren, standen aus der Sicht des binationalen Senders die ungeschmälerte Fortführung seines übernationalen Auftrages und die Unabhängigkeit seiner Programmpolitik auf dem Spiel. Auch ohne bösen Willen mußte die Verschmelzung des französischen ARTE-Gesellschafters mit einem der großen französischen Sender („La Cinquième“) eine gewisse „Renationalisierung“ von ARTEStraßburg nach sich ziehen. Die Option eines kohärenten, von „La Cinquième“ und ARTE-GEIE gemeinsam verantworteten französischen Kulturprogrammes war unübersehbar. Bei dieser Blickrichtung auf den französischen Zuschauer war die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, daß die eigenständige, am übernational-europäischen Auftrag ausgerichtete Programmgestaltung in Straßburg in Mitleidenschaft gezogen würde. Eine glückliche Konstellation wollte es, daß 1999 seit kurzem mit Jobst Plog ein Präsident an der Spitze von ARTE-GEIE stand, der als gleichzeitiger Intendant einer der größten deutschen Rundfunkanstalten (NDR) rundfunkpolitisches Gewicht besaß und von Deutschland her die Bedeutung nicht nur rechtlich, sondern auch tatsächlich abgesicherter Rundfunkfreiheit einzuschätzen wußte. Zudem war Plog als früherer Vorsitzender der ARTE-Mitgliederversammlung mit den komplizierten Interna des Senders ebenso vertraut wie als langjähriger Frankreichkenner und Frankophiler mit den politischen Gebräuchen des Nachbarlandes. Dennoch war es eine Art Kampf David gegen Goliath, die der ARTE-Präsident im Sommer 1999 gegen die Verabschiedung der „Loi Trautmann“ in der Form aufnahm, welche das Projet de Loi bereits am 27. Mai 1999 in erster Lesung in der französischen Nationalversammlung gefunden hatte.30 Im Vergleich mit den deutschen Verhältnissen ist die Autorität von Staat und Parlament in Frankreich allgemein und auch im Rundfunkwesen ungleich höher einzuschätzen. Wahrend Rundfunkintendanten in der Bundesrepublik gelegentlich als „letzte Fürsten“ tituliert werden, sind sie in Frankreich kaum anderes 510 als j „Grands Commis de l’État“, deren Abhängigkeit von den jeweils herrschenden politischen Verhältnissen offenkundig ist. Dazu trägt nicht zuletzt die bereits erwähnte unterschiedliche „Rundfunkphilosophie“ zu beiden Seiten des Rheins bei.31 Durch die Erfahrungen der Hitlerzeit und später in der DDR haben die öffentlich-rechtlichen Medien in Deutschland gegenüber Regierung und Politik eine machtvolle Position errungen, die ihresgleichen sucht. Das Bundesverfassungsgericht hat sie durch eine jahrzehntelange Rechtsprechung abgesichert, welche insbesondere die spezifische Rolle der Massenmedien als konstituierendes Element der Demokratie betont.32 In Frankreich ist dagegen das Verhältnis des Staates zu den Medien ein antagonistischeres. Auf der Grundlage einer bis zur Französischen Revolution zurückreichenden tatsächlichen Respek30 31 32

Oben Anm. 20. Oben I. 3. Herrmann (Anm. 18), S. 120 ff. mit den Nachweisen aus der Rechtsprechung.

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tierung der Geistesfreiheiten nimmt sich die öffentliche Gewalt nicht selten das Recht heraus, ihre eigene Medienpolitik zu betreiben. In der V. Republik herrschte unter de Gaulle und seinen konservativen Nachfolgern die Grundeinstellung, daß es für den Staat ein legitimes Anliegen sei, durch Einwirkungen auf den öffentlichen Rundfunksektor ein publizistisches Gegengewicht zur meist regierungsfeindlichen Presse zu schaffen. Auch nachdem mit der Rundfunkgesetzgebung der 80er Jahre stärker auf eine auch rechtlich verbriefte „Liberté de Communication“ gesetzt wird, bleibt der zulässige Handlungsspielraum von Regierung und Politik besonders im öffentlichen audiovisuellen Sektor beträchtlich. Die Grundtendenz der „Loi Trautmann“ gehört in diesen Zusammenhang, wenn über die Zusammenfassung der öffentlich-rechtlichen Sendegesellschaften in der Holding „France Télévision“ ein schlagkräftiges publizistisches Instrumentarium geschaffen werden soll, das in der wachsenden Konkurrenz mit dem Privatfernsehen zu bestehen vermag. In einem solchen Gesamtzusammenhang zeigte Jobst Plog bemerkenswertes Selbstvertrauen, sich als nichtfranzösischer Intendant eines in Paris öfters als Teil der nationalen Fernsehordnung empfundenen Senders mit dem mächtigen französischen Staat einschließlich seiner Nationalversammlung anzulegen. Zu Hilfe kamen ihm in dieser zunächst sehr kritischen Situation33 im wesentlichen drei Umstände. Als fester Ausgangspunkt die ziemlich eindeutige Rechtslage des ARTE-Statuts im Sinne der verbrieften Unabhängigkeit des Senders und seiner Position außerhalb der allgemeinen deutschen und französischen Rundfunkordnung.34 Das Recht wurde wieder einmal zur Waffe des Schwächeren. Bemerkenswerterweise fand ARTE aber auch Verbündete in Pariser kulturellen Kreisen, die ihrerseits die geistige Freiheit ARTEs als bewah- j renswertes Gut 511 erkannt hatten.35 Von besonderem Gewicht wurde bald, daß Plog politischen Rückenwind aus Deutschland erhielt. Der komplizierte deutsche Rundfunkföderalismus erwies sich handlungsfähig genug, um Paris zu verdeutlichen, daß der ARTE-Präsident nicht nur für sich selbst und seinen Sender sprach, sondern die allgemeine deutsche Auffassung zu ARTE und dessen selbständiger Stellung in 33 Schlaglichter: Bourgeois, Die ARTE-Chefs proben den Aufstand: warum? epd medien Nr. 80, 13. Oktober 1999; dies., Der ARTE-Elefant. Präsident Jobst Plog legt sich mit Frankreichs Regierung an, Frankfurter Rundschau, 26. Oktober 1999. Atmosphärische Störungen bestanden zunächst besonders zwischen der damaligen Pariser Kulturministerin Trautmann, die um das Schicksal ihres Gesetzesentwurfs fürchtete, und Plog. 34 Die in den beiden von ARTE eingeholten Rechtsgutachten (Oppermann und Pontier, oben Anm. 6) übereinstimmend vorgenommene Analyse fand im Grundsätzlichen wenig Widerspruch. Auch ein von der französischen Regierung erbetenes Gutachten Gaudemet (1999) empfahl trotz etwas anderer Sicht gewisse Modifikationen der „Loi Trautmann“ bezüglich La SEPT und ARTE. 35 Appell „ARTE en danger“ mit zahlreichen Unterschriften, Libération, 11. Januar 2000. Auch der Vorgänger Plogs als ARTE-Präsident, Jerôme Clement, stellte sich unmißverständlich an die Seite des Straßburger Senders und dessen Statut.

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VI. Europa und die Kultur

der deutsch-französischen Fernsehlandschaft zum Ausdruck brachte.36 Günstig war auch die verständnisvolle publizistische Begleitung zugunsten ARTEs in der deutschen Presse.37 Mit Hilfe solcher Zustimmung ging ARTE im Herbst 1999 gestärkt in Verhandlungen mit dem Pariser Kulturministerium, um die nötigen Revisionen am „Projet de Loi Trautmann“ zu erreichen. Nach manchem Hin und Her war es Mitte Januar 2000 tatsächlich so weit: in der unnachahmlichen Eleganz einer französischen Regierungsverlautbarung erklärte kein Geringerer als Ministerpräsident Lionel Jospin dem deutschen Bundeskanzler, „il (= le Gouvernement Français) avait consideré que le caractère éxemplaire de la chaine franco-allemande devait conduire à préserver celle-ci de toute polemique inutile qui l’affaiblirait“.38 Der Brief enthielt die Zusage, daß der französische Gesellschafter von ARTE-Straßburg mittels einer Änderung des Gesetzesentwurfs außerhalb der Holding „France Télévision“ bleiben werde. So ist es inzwischen geschehen.39 Praktisch hat sich auf diese Weise weder am Statut von ARTE-GEIE noch an demjenigen seines französischen Mitgliedes La SEPT-ARTE etwas Wesentliches geändert. Also viel Lärm um nichts? Wohl doch nicht ganz. Die aufwendige Beschäftigung mit dem Schicksal von ARTE im Rahmen der französischen Rundfunkreform sollte einem gemeinsamen Verständnis von Rundfunkfreiheit gutgetan haben, wie es in Deutschland gelegentlich in legalistischem Exzeß überbetont wird, während die französische Praxis dazu zu neigen scheint, die Handlungsfreiheit eines machtvollen Staates gegenüber seinen Medien großzuschreiben. Von der hier sichtbar gewordenen Bereitschaft, den Standpunkt der anderen Seite zu verstehen und aufeinander zuzugehen, dürfte nicht nur das gemeineuropäische Rundfunkrecht profitieren, sondern hoffentlich vor allem die Fortführung des frei gestalteten Programmes von ARTE-Straßburg. In seiner Qualität legitimiert sich öffentlicher Rundfunkauftrag wie selten anderswo.

36 Die Haltung der zuständigen deutschen Bundesländer zugunsten der Wahrung der Unabhängigkeit von ARTE wurde offiziell vom deutsch-französischen Kulturbeauftragten, dem Mainzer Ministerpräsidenten Kurt Beck, in einem Schreiben vom 22. Dezember 1999 an Ministerin Catherine Trautmann zum Ausdruck gebracht. 37 Exemplarisch die verschiedenen Stellungnahmen von Michael Hanfeld in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Sie reichten von einem großen Plog-Interview („ARTE marschiert in die richtige Richtung“, FAZ v. 21. Oktober 1999) bis zum abschließenden Artikel „Ein Kampf um ARTE. Wie ein deutscher Intendant die französische Politik bezwang“ (2. Februar 2000). 38 Pressekommuniqué des französischen Premierministers vom 17. Januar 2000. 39 Loi No 2000-719 du 1er août 2000 modifiant la loi No 86-1067 du 30 Septembre 1986 relative à la liberatide de communication, Journal Officiel 2000, 11903 ff. – Die Sonderstellung des nunmehr „ARTE-France“ genannten französischen ARTE-Mitgliedes ergibt sich aus den Art. 4, 6, 15, 16 der Loi No 2000-719.

Anhang

Nachwort „Friends in need are friends indeed“ – der englische Spruch fiel mir unwillkürlich ein, als ich in das Manuskript dieser Sammlung Einsicht nahm. Claus Dieter Classen, der sich bei mir habilitierte, Martin Nettesheim, mein Nachfolger auf dem Tübinger Lehrstuhl und Wolfgang Graf Vitzthum, jahrzehntelanger Weggefährte am Neckar haben mir mit dieser Herausgabe europabezogener Schriften eine große Freude bereitet. Gerne schließe ich mich dem Dank der Herausgeber an das Greifswalder Team und an Frau Isolde Zeiler in Tübingen an, welche die Lasten der Edition in besonderer Weise getragen haben. Gleiches gilt für die Herren Norbert und Florian Simon in Berlin, mit deren Verlag mich jahrzehntelange enge Beziehungen verbinden. Älter zu werden ist zwar kein Verdienst, sondern eine biologische Zwangsläufigkeit. Gleichwohl tut freundschaftliche Zuwendung zu vorgerückten Lebensdaten wohl. Man wird eigentümlich berührt, wenn man in Beiträgen nachliest, die in unterschiedlichen Jahrzehnten entstanden sind. „Weiß Gott, ich weiß nicht mehr, was ich geschrieben . . .“ heißt es in einem schönen Gedicht von Gottfried Benn. Die seit ungefähr 60 Jahren andauernde europäische Einigung ist ein vielverästelter Prozeß, der in mäanderartigen Windungen verläuft und immer wieder krisenhaft stockt. Er ist seit meinem Studium in Freiburg i. Br. in den fünfziger Jahren, dem Eintritt in die Europa-Abteilung des Bonner Bundeswirtschaftsministeriums 1960, später in der Tübinger Juristenfakultät und bei manch anderen Gelegenheiten zum Bestandteil meines politischen Weltbildes geworden. Kraft der eigenen Lebensdaten empfand ich die Einbeziehung Deutschlands in die europäischen Gemeinschaften als Überwindung unseliger Zeiten unserer jüngsten Geschichte und das Einigungswerk als Unterpfand für eine gute Zukunft des Kontinents. Die Eindrücke aus der Studienzeit, Begegnungen mit den Beamten in Bonn, Brüssel und Stuttgart, mit Richtern, dem einen oder anderen Politiker, mit den Kollegen, Mitarbeitern und Studierenden innerhalb der Universität und manch sonstiger Austausch boten immer neuen Anlaß zu Überlegungen über Aspekte der europäischen Integration. Die von den Herausgebern gemeinsam mit mir getroffene Auswahl der Schriften entstammt unterschiedlichen Zeiten. Manches frühere sieht man heute im einzelnen anders. Doch mögen die Beiträge den heutigen Leser interessieren, weil in ihnen als Grundton trotz aller Zeitgebundenheit die Notwendigkeit fortschreitenden europäischen Zusammenschlusses in den neuartigen Formen des Europarechts durch die Jahrzehnte hindurch anklingt.

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Anhang

Diese Sammlung erscheint während der seit Mitte 2005 aufgrund der Ablehnung des EU-Verfassungsentwurfes in Frankreich und den Niederlanden ausgebrochenen Krise der Europäischen Union. Wahrscheinlich reicht sie tiefer als frühere Auseinandersetzungen. Der „große Sprung“ von 15 auf 25 Mitgliedstaaten 2004 auf unsicherer Vertragsgrundlage, verbunden mit Absichten rascher zusätzlicher Erweiterungen verunsichern die Unionsbürger und mehren vielerorts die Euroskepsis. In dieser Lage erscheint es wichtig, sich im Rückblick der vielfältigen Leistungen zu vergewissern, welche die europäische Einigung dem Bürger erbracht hat, und die er seit einem Halbjahrhundert mehr und mehr als Selbstverständlichkeit hinnimmt. Frieden und – verglichen mit anderen Weltregionen – wirtschaftlicher Wohlstand sind jedoch keine feststehenden Größen, sondern müssen in jeder Generation neu errungen und bewahrt werden. Möge diese Sammlung ihr Scherflein dazu beitragen, die fortdauernde Sinnhaftigkeit des europäischen Zusammenschlusses im 21. Jahrhundert wachzuhalten. Tübingen, Ende 2005

Thomas Oppermann

Thomas Oppermann Curriculum Vitae 1931

Geb. in Heidelberg als Sohn von Prof. Dr. phil. Hans Oppermann und Dr. phil. Ella Oppermann, geb. Borchers. Seit 1963 verheiratet mit Ingrid Oppermann, geb. Cording. Vier Kinder (Patrick, Roland, Arnold und Julia)

1951–1959

Studium der Rechtswissenschaft in Frankfurt a. M., Lyon, Freiburg i. Br. und Oxford – 1./2. juristisches Staatsexamen Freiburg/Hamburg 1955/1959

1959

Promotion Freiburg i. Br.

1960–1967

Bundesministerium für Wirtschaft (Europa-Abteilung), zuletzt Regierungsdirektor

1967

Habilitation bei Prof. Herbert Krüger, Hamburg

1967

Ordinarius für Öffentliches Recht (einschl. Europarecht und Völkerrecht) und Auswärtige Politik an der Juristischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen

1978

Dr. h.c. (Aix-en-Provence)

1983–1985

Vizepräsident Universität Tübingen

1985–1989

Vorsitzender Deutsche Gesellschaft für Völkerrecht

1985–2003

Mitglied Staatsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg

1991

Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg

1991–1993

Vorsitzender Vereinigung Deutscher Staatsrechtslehrer

1999

Emeritierung

2002

Dr. h.c. (Piräus)

2004

Großes Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland

Bibliographie von Thomas Oppermann Fortsetzung* Die Bibliographie beansprucht keine Vollständigkeit. Buchbesprechungen und Urteilsanmerkungen wurden nicht aufgenommen. Gutachten, Artikel in der Tagespresse und sonstige kleinere Gelegenheitsarbeiten nur in Auswahl. 2000 298. Die internationale Vertretung von Euroland, in: Festschrift für Klaus Vogel, 2000, S. 529 ff. 299. La Constitution Allemande et le Droit Communautaire, in: Droits nationaux, droit communautaire: influences croisées (Festcolloquium Louis Dubouis), 2000, S. 61 ff. 300. Remarks on the German Constitution („Grundgesetz“) 1949–1999, Yearbook of the Centre for Irish-German Studies (Limerick) 2000, S. 42 ff. 301. Das Recht der Europäischen Union vor den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, Vortrag auf dem Symposion „Das Zukunftsbild des Rechts“ in Kyoto, 2000 (Manuskript) 2001 302. Hans Peter Ipsen und das Europarecht, in: Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Hamburg (Hrsg.), Hans Peter Ipsen 1907–1998, 2001, S. 21 ff. 303. „Demokratisierung“ der WTO?, in: Festschrift für Karl-Heinz Böckstiegel, 2001, S. 79 ff. 304. Die Rundfunkfreiheit von ARTE, in: Festschrift für Walter Rudolf, 2001, S. 497 ff. 305. Das Bundesverfassungsgericht und die Staatsrechtslehre, in: Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, 2001, Band I, S. 421 ff.

* Fortsetzung der Bibliographie in Classen/Dittmann/Fechner/Gassner/Kilian, „In einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen . . .“, Liber amicorum Thomas Oppermann, 2001, S. 879 ff. – Dort sind nachzutragen: – Sinn und Grenzen einer EG-Angehörigkeit, in: Festschrift für Karl Doehring, 1989, S. 713 ff. – Informaler Regionalismus – Zur Bedeutung privaten Verbundes in der Weltwirtschaft, in: Festschrift für Wolfgang Fikentscher, 1998, S. 958 ff.

Bibliographie von Thomas Oppermann

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306. „Regulierungswut“ der Europäischen Union?, in: Kitagawa u. a. (Hrsg.), Regulierung –Deregulierung – Liberalisierung, 2001, S. 337 ff. 307. Neue Entwicklungen im deutschen Schul- und Hochschulrecht, Vortrag an der Waseda-Universität/Tokyo, 2000 (Manuskript) 308. Der europäische Traum zur Jahrhundertwende (Mit einer Nachbemerkung), 2001 309. Das Sprachenregime der Europäischen Union – reformbedürftig?, ZEuS 2001, S. 1 ff. 310. Schule und berufliche Ausbildung, Handbuch des Staatsrechts, 2. Aufl. 2001, Band VI, S. 329 ff. 311. Freiheit von Forschung und Lehre, Handbuch des Staatsrechts, 2. Aufl. 2001, Band VI, S. 809 ff. 312. Tübingen als Vorort der romanischen Welt. Kulturpreis geht an sechs Länder, Attempto, April 2001, S. 36 f. 313. Reform der EU-Sprachenregelung?, NJW 2001, S. 2263 ff. 314. Der Vorschlag der EG-Kommission v. 30.5.2001 für eine neue Richtlinie zum Verbot der Tabakwerbung im Lichte des Urteils des Europäischen Gerichtshofes v. 5.10.2000 über die Nichtigkeit der ersten Richtlinie vom 6.7.1998. Rechtsgutachten, erstattet dem Zentralverband der Deutschen Werbewirtschaft (ZAW), 2001 (Manuskript) 315. EU-Tabakwerbeverbot am Europäischen Gerichtshof vorbei?, ZUM 2001, S. 950 ff.

2002 316. Hommage au Collègue Aixois. Aix-en-Provence und Tübingen. Erinnerungen an die Begegnung zweier Juristenfakultäten, in: Mélanges en l’honneur de Louis Dubouis, 2002, S. 121 ff. 317. Freier Welthandel und Umweltschutz nach der WTO-Doha-Konferenz, RIW 2002, S. 269 ff. (mit Marc Beise) 318. EU-Beitritt Tschechiens, DÖV 2002, S. 291 ff. 319. Die Sprachen der Europäischen Union, in: Graf Vitzthum/Pena (Hrsg.), L’identité de l’Europe/Die Identität Europas, 2002, S. 437 ff. 320. Die Deutschen in Brüssel: Nationale Präsenz in der EU – Ein Thema für die institutionelle Reform?, in: Walter Hallstein-Institut für Europäisches Verfassungsrecht (Hrsg.), Die Reform der europäischen Institutionen, 2002, S. 43 ff. 321. Qualitätsmanagement im Rundfunk – Qualität in Rundfunkprogrammen. Verfassungsrechtliche Anmerkungen, in: Dokumentation Medientage München, 2002, S. 346 f. 322. Europarecht, Toin Law Review (Yokohama), 8/2002, S. 1 ff. (mit Kenshi Hiroe und Hisatoshi Matsubara (Übers.))

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Anhang

323. Mit Walter Hallstein in die Zukunft der Europäischen Union, in: Palmer (Hrsg.), Gedenkveranstaltung Hallstein 17.11.2001 in Stuttgart, 2002, S. 41 ff. 324. Sprachenpolitik in der Europäischen Union vor und nach der Osterweiterung, in: Festschrift für Woitech Sokolewicz, 2002, S. 250 ff. 325. Theodor Eschenburg als Staatsrechtslehrer, in: Universität Tübingen (Hrsg.), Eschenburg-Symposium 27.10.2000, 2002, S. 38 ff. 326. Idee und Realität einer europäischen Verfassung – Eindrücke aus dem Europäischen Konvent (Lecture of Gratitude in der Universität Piräus anlässlich der Verleihung des Ehrendoktorgrades 25.11.2002 (Manuskript)

2003 327. Vom Nizza-Vertrag 2001 zum Europäischen Verfassungskonvent 2002/2003, DVBl. 2003, S. 1 ff. 328. Zur „Philosophie“ des Eintritts der Tschechischen Republik in die Europäische Union, in: Nettesheim/Oppermann (Hrsg.), Die Tschechische Republik in der Europäischen Union, Zweites Treffen der Juristenfakultäten der Eberhard-KarlsUniversität Tübingen und der Karls-Universität Prag 2001, 2003, S. 11 ff. 329. Größere und kleinere Mitgliedstaaten in der Europäischen Union, in: Festschrift für Walter Schmitt Glaeser, 2003, S. 39 ff. 330. Rundfunk in einer europäischen Verfassungs- und Rechtspolitik, in: Stern u. a. (Hrsg.), Nationaler Rundfunk und Europäisches Gemeinschaftsrecht. Überlegungen zum Post-Nizza-Prozeß, 2003, S. 39 ff. 331. Zweitveröffentlichung von Nr. 327 in: Heidelberger Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Erwartungen an eine Europäische Verfassung, 2003, S. 15 ff. 332. Il processo costituzionale Europeo dopo Nizza, Rivista Trimestriale di Diritto Pubblico, 2003, S. 353 ff. (Italienische Fassung von Nr. 327) 333. Eine Verfassung für die Europäische Union. Der Entwurf des Europäischen Konvents, DVBl. 2003, S. 1165 ff., 1234 ff. 334. Do Tratado de Nice de 2001 á Convenção para a Constituiçâo Européia, Revista dos Tribunais 2003, S. 54 ff. (Brasilianisch/portugiesische Fassung von Nr. 327) 335. Die Zukunftsfähigkeit der Regionen unter einer europäischen Verfassung, Vortrag Regierungspräsidium Tübingen/Arbeitsgemeinschaft ländlicher Raum, 2003 (Manuskript)

2004 336. Ein Präsident für Europa?, in: Festschrift für Peter Badura, 2004, S. 1113 ff. 337. Vom Nizza-Vertrag zum Europäischen Verfassungskonvent, in: Beckmann/Dieringer/Hufeld (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa, 2004, S. 191 ff.

Bibliographie von Thomas Oppermann

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338. Konzeption und Struktur des Verfassungsentwurfs des Europäischen Konvents – Unter Berücksichtigung der Regierungskonferenz 2003, in: Schwarze (Hrsg.), Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents, 2004, S. 23 ff. 339. Freie Berufe in der Europäischen Union nach der Osterweiterung, Vortrag Tagung Arbeitsgemeinschaft Dentale Technologie, 2004 (Manuskript) 340. Ministerpräsident Erwin Teufel im Europäischen Verfassungskonvent, in: Palmer (Hrsg.), Europa in guter Verfassung – Erwin Teufel für die deutschen Länder im Konvent, 2004, S. 25 ff. 341. Europäischer Verfassungskonvent und Regierungskonferenz 2002–2004 – Zur „gemischten“ Entstehung der Europäischen Verfassung 2004 –, DVBl. 2004, S. 1264 ff. 2005 342. Europarecht, 3. Aufl. 2005 (741 S.) 343. Ordinarienuniversität – Gruppenuniversität – Räteuniversität, WissR 2005, S. 1 ff. 344. Die Grenzen der Europäischen Union oder das Vierte Kopenhagener Kriterium, in: Festschrift für Manfred Zuleeg, 2005, S. 72 ff. 345. Der „siebenjährige Krieg“. Erinnerungen an die Prozesse vor der europäischen Gerichtsbarkeit um die sächsischen VW-Beihilfen 1996–2003, in: Festschrift für Volkmar Götz, 2005, S. 211 ff. 346. Valéry Giscard d’Estaing – Vater der europäischen Verfassung in: Festschrift für Jost Delbrück, 2005, S. 519 ff. 347. Die Europäische Verfassung 2004 – Stärkung der globalen Rolle Europas?, Vortrag auf dem Colloquium Aix-Tübingen „Europe et Mondialisation/Europa und Globalisierung“ in Aix-en-Provence, 2005 (im Druck) 348. Konventsmethode und „gemischte“ Entstehung der Unionsverfassung, in: Hufeld (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa, 2. Aufl. 2005, S. 59 ff. 349. Zur normativen Kraft des Europarechts in einer sich erweiternden „Groß-EU“, JZ 2005, S. 1017 ff. 350. Ein deutscher Staatsrechtslehrer im 20. Jahrhundert. Zum 100. Geburtstag von Herbert Krüger (1905–1989), AöR 130 (2005), S. 494 ff. 2006 351. Der Europäische Verfassungsvertrag – Legenden und Tatsachen, in: Festschrift für Jürgen Meyer, 2006 (im Druck) (Stand: 25.11.2005)

Verzeichnis der Originalfundstellen der Beiträge I. Grundfragen der europäischen Integration Der europäische Traum zur Jahrhundertwende, 2001 (vom Autor selbständig herausgegeben) „In einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen . . .“ Der internationale Verfassungsauftrag nach 40 Jahren Grundgesetz, in: Knut Wolfgang Nörr (Hrsg.), 40 Jahre Bundesrepublik Deutschland. 40 Jahre Rechtsentwicklung, 1990, S. 29–50. Europäische Union: Erfüllung des Grundgesetzes, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 28/1993, S. 11–20. Zur normativen Kraft des Europarechts in einer sich erweiternden „Groß-EU“, in: JZ 2005, S. 1017–1021. „Regulierungswut“ der Europäischen Union?, in: Zentaro Kitagawa u. a. (Hrsg.), Regulierung – Deregulierung – Liberalisierung, Symposion Toin-Universität Yokohama, 2001, S. 337–350. Die Dritte Gewalt in der Europäischen Union, in: DVBl. 1994, S. 901–908.

II. Personen und Mächte Mit Walter Hallstein in die Zukunft der Europäischen Union, in: Christoph E. Palmer (Hrsg.), Die politischen Kräfte in unserem Werk drängen weiter. Gedenkveranstaltung für Walter Hallstein am 17. November 2001 in Stuttgart, 2002, S. 41–52. Erinnerungen an das Bundeswirtschaftsministerium und seine Europa-Abteilung in den sechziger Jahren, in: Ole Due u. a. (Hrsg.), Festschrift Ulrich Everling, 1995, Band I, S. 23–31. Die Deutschen in Brüssel. Nationale Präsenz in der EU – Ein Thema für die institutionelle Reform? in: Walter Hallstein Institut für Europäisches Verfassungsrecht/Berlin (Hrsg.), Die Reform der europäischen Institutionen, 2002, S. 43–58. Du Plan Schuman au Traité d’Amsterdam: La coopération franco-allemande, moteur de l’intégration européenne, in: La Coopération Franco-Allemande en Europe à l’Aube du XXIè Siècle – Colloque du 40è Aniversaire du Jumelage des Facultés de Droit Aix-en-Provence – Tübingen 1998, S. 31–39. Sinn und Grenzen einer EG-Angehörigkeit, in: Kai Hailbronner u. a. (Hrsg.), Staatsund Völkerrechtsordnung, Festschrift Karl Doehring, 1989, S. 713–724. Größere und kleinere Mitgliedstaaten in der Europäischen Union, in: Hans-Detlef Horn u. a. (Hrsg.), Recht im Pluralismus, Festschrift Walter Schmitt Glaeser, 2003, S. 559–567.

Verzeichnis der Originalfundstellen der Beiträge

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III. Wesen der europäischen Integration Die Europäische Gemeinschaft als parastaatliche Superstruktur. Skizze einer Realitätsumschreibung, in: Rolf Stödter/Werner Thieme (Hrsg.), Hamburg Deutschland Europa, Beiträge zum deutschen und europäischen Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsrecht, Festschrift für Hans Peter Ipsen zum siebzigsten Geburtstag, 1977, S. 685–699. Wesen der Europäischen Union, in: Thomas Oppermann, Europarecht, 3. Auflage 2005, S. 272–282. Juristische Fortschritte durch die europäische Integration?, in: Festschrift 500 Jahre Tübinger Juristische Fakultät, 1977, S. 415–433.

IV. Die europäische Verfassung Vom Nizza-Vertrag 2001 zum Europäischen Verfassungskonvent 2002/2003, in: DVBl. 2003, S. 1–10. Eine Verfassung für die Europäische Union. Der Entwurf des Europäischen Konvents, in: DVBl. 2003, S. 1165–1176 und 1234–1246. Europäischer Verfassungskonvent und Regierungskonferenz 2002–2004. Zur „gemischten“ Entstehung der Europäischen Verfassung 2004, in: DVBl. 2004, S. 1264– 1271. Ein Präsident für Europa?, in: Michael Brenner u. a. (Hrsg.), Der Staat des Grundgesetzes – Kontinuität und Wandel, Festschrift Peter Badura zum 70. Geburtstag, 2004, S. 1113–1124. Ministerpräsident Erwin Teufel im Europäischen Verfassungskonvent, in: Christoph E. Palmer (Hrsg.), Europa in guter Verfassung. Erwin Teufel für die deutschen Länder im Konvent, 2004, S. 25–37. Valéry Giscard d’Estaing – Vater der Europäischen Verfassung, in: Festschrift Jost Delbrück, 2005, S. 519–533.

V. Außenbeziehungen der Europäischen Union Die Europäische Gemeinschaft und Union in der Welthandelsorganisation (WTO), in: RIW 1995, S. 919–928. Cooperation, Association, Accession: Reflections on the Legal Opinions for the European-Israeli Economic Relationship, in: Tel Aviv University Studies in Law 13 (1997), S. 9–27. Die Grenzen der Europäischen Union oder das Vierte Kopenhagener Kriterium, in: Charlotte Gaitanides u. a. (Hrsg.), Europa und seine Verfassung, Festschrift für Manfred Zuleeg zum siebzigsten Geburtstag, 2005, S. 72–79. Die Assoziierung Griechenlands mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, in: ZaöRVR 22 (1962), S. 486–508.

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Anhang

Grundsatzfragen der Einbeziehung Griechenlands in die Institutionen der Europäischen Gemeinschaft, in: Alfred E. Ott/Nikolaus Wenturis (Hrsg.), Symposium Universität Tübingen – Europazentrum Tübingen, 1980, S. 55–81. Zur „Philosophie“ des Eintritts der Tschechischen Republik in die Europäische Union. Anfragen an Deutschland und an die Tschechische Republik, in: Martin Nettesheim/Thomas Oppermann (Hrsg.), Die Tschechische Republik in der Europäischen Union. Zweites Treffen der Juristenfakultäten der Eberhard-Karls-Universität Tübingen und der Karls-Universität Prag 2001, 2003, S. 11–18. VI. Europa und die Kultur Die Sprachen der Europäischen Union, in: Wolfgang Graf Vitzthum/Marc Pena (Hrsg.), L’identité de l’Europe/Die Identität Europas, 2002, S. 437–447. ARTE – ein Experiment europäischer Kultur, in: Albrecht Randelzhofer u. a. (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Eberhard Grabitz, 1995, S. 483–498. Die Rundfunkfreiheit von ARTE. Eine Episode deutsch-französischer Kulturpolitik, in: Hans-Wolfgang Arndt u. a. (Hrsg.), Völkerrecht und deutsches Recht, Festschrift Walter Rudolf zum 70. Geburtstag, 2001, S. 497–511.