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German Pages 182 Year 2016
Zekirija Sejdini (Hg.) Islamische Theologie und Religionspädagogik in Bewegung
Globaler lokaler Islam
Zekirija Sejdini (Hg.)
Islamische Theologie und Religionspädagogik in Bewegung Neue Ansätze in Europa
Dieses Projekt wird durch das Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres (ko-)finanziert.
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Inhalt
Vorwort | 7 Einleitung | 9
Zekirija Sejdini Zwischen Gewissheit und Kontingenz | 15 Auf dem Weg zu einem neuen Verständnis von islamischer Theologie und Religionspädagogik im europäischen Kontext
Ednan Aslan Pluralität als Wille Gottes | 33
Sebastian Günther Bildungsauffassungen klassischer muslimischer Gelehrter | 51 Von Abu Hanifa bis Ibn Khaldun (8.-15. Jh.)
Ömer Özsoy Dekontextualisierung des Korans: moderne Koraninterpretationen oder Konstruktion moderner Korane | 73
Rabeya Müller Der Koran im Unterricht: Chance für Geschlechtergerechtigkeit oder Anleitung zum Extremismus? | 91
YaĢar Sarıkaya Der Hadith im islamischen Religionsunterricht: eine religionspädagogische Herausforderung | 101
Matthias Scharer Eine islamische Theologie und Religionspädagogik, »mit der wir leben können« | 119 Kommentar zur Ringvorlesung aus katholisch-religionspädagogischer Perspektive
Martina Kraml Religionsdidaktik in der Spannung zwischen öffentlichem und religionsgemeinschaftlichem Bildungsauftrag | 133
Fatima Çavis Islamische Frauenkatechismen in der religiösen Erwachsenenbildung: eine kritische Analyse | 147
Mehmet Hilmi Tuna Ansätze im islamischen Religionsunterricht für neue Entwicklungen in Theologie und Religionspädagogik | 163 Autorinnen und Autoren | 177
Vorwort Z EKIRIJA S EJDINI
Seit dem Wintersemester 2013/14 bietet die Universität Innsbruck als einzige österreichische Universität das Bachelorstudium Islamische Religionspädagogik an. Damit besteht für Studierende im Westen Österreichs zum ersten Mal die Möglichkeit, neben der Erlangung einer akademischen Ausbildung sich auch mit verschiedenen islamischen Themen im universitären Rahmen auseinanderzusetzen. Angetrieben durch diese neue Möglichkeit und die gesellschaftspolitische Relevanz der Entwicklungen im Bereich der islamischen Theologie und Religionspädagogik veranstaltete der Bereich Islamische Religionspädagogik im Sommersemester 2015 eine Ringvorlesung mit dem Titel: »Neue Ansätze in der islamischen Theologie und Religionspädagogik im europäischen Kontext: Binnen- und Außenperspektiven«. Im Rahmen dieser Ringvorlesung hatten die zahlreichen Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Gelegenheit, unterschiedlich akzentuierte Vorträge im Bereich der islamischen Theologie und Religionspädagogik zu besuchen und an den Diskussionen mitzuwirken. In Anbetracht der hervorragenden Qualität der Vorträge, aber auch der enormen Bedeutung der angesprochenen Themen im gegenwärtigen Kontext erschien es uns sinnvoll, diese Beiträge zu veröffentlichen, um sie auf diese Weise nicht nur zu »verewigen«, sondern auch einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Leider war es uns aus verschiedenen Gründen nicht möglich, die Beiträge aller Referentinnen und Referenten zu erhalten. Dies wurde jedoch durch die Aufnahme anderer Beiträge kompensiert, verfasst von Autoren, die an vielen der Vorträge dieser Ringvorlesung teilgenommen haben. Was auf viele akademische Aktivitäten zutrifft, gilt auch in unserem Fall – ohne die finanzielle Unterstützung einschlägiger Institutionen sowie die uner-
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müdliche Arbeit bestimmter Personen wäre weder die Ringvorlesung noch die Veröffentlichung dieser aus ihr hervorgegangenen Publikation möglich gewesen. Daher sei an dieser Stelle neben den Autorinnen und Autoren auch allen Institutionen gedankt, die die Ringvorlesung und diese Publikation finanziell unterstützt haben. Dazu zählen das Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres (BMEIA), der Österreichische Integrationsfonds, die Islamische Religionsgemeinde für Tirol und das Vizerektorat für Forschung der Universität Innsbruck. Großer Dank gebührt auch meinem Team, bestehend aus Edith Pachler, Fatima Çavis, Mehmet Tuna, Ayse Çakin und Zahid Tuna. Ganz besonders hervorgehoben sei jedoch meine Assistentin Fatima Çavis, die mir bei der Publikation eine sehr wichtige Stütze gewesen ist. Zuletzt möchte ich mich auch bei meiner Ehefrau Zehra, meiner Tochter Edita und meinem Sohn Arif herzlich für ihre Nachsicht und Unterstützung bedanken, ohne die vieles nicht möglich gewesen wäre.
Innsbruck, am 22.05.2016
Einleitung Z EKIRIJA S EJDINI
Obwohl die islamische Präsenz in Europa eine lange Tradition hat und daher zu Recht angenommen werden kann, dass der »Beheimatungsprozess« des Islams in Europa, wenn auch nicht abgeschlossen, so doch in einem fortgeschrittenen Stadium ist, zeigen die jüngsten Entwicklungen, dass zumindest bei einem Teil der Gesellschaft – der gleichwohl nicht zu unterschätzen ist – der Islam mehr denn je als Fremdkörper betrachtet wird. Die Diskussionen über die Zugehörigkeit des Islams zu Europa lassen deutlich erkennen, dass nicht nur der erhoffte und notwendige Fortschritt im »Beheimatungsprozess« des Islams in Europa ausgeblieben ist, sondern dass im Gegenteil der Drang einer öffentlichen Abgrenzung vom Islam, speziell im politischen Kontext, immer stärker wird. Diese besorgniserregenden Entwicklungen haben naturgemäß verschiedene Ursachen, die in einer Vielzahl von Bereichen zu suchen sind. Dazu gehören neben der andauernden Finanzkrise auch die instabile Weltpolitik, die ständigen Terroranschläge, die steigende Anzahl der Asylsuchenden aus den Kriegsgebieten wie Syrien, eine rechtpopulistische Politik, die einseitigen und undifferenzierten Medienberichte über den Islam, aber auch das Fehlen von neuen islamischen theologischen Ansätzen im europäischen Kontext. Auch wenn letzterer Umstand im Vergleich zu den anderen Faktoren eine eher geringe Rolle bei der Entstehung dieser Aversion gegenüber dem Islam spielt, darf er dennoch nicht völlig außer Acht gelassen werden. Denn nicht selten bilden unreflektierte theologische Positionen die Grundlage von Diskussionen, die im weiteren Verlauf durch populistische Parteien und pauschalisierende Medienberichte generalisiert und auf den Islam insgesamt ausgedehnt werden.
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Einer der Gründe, warum trotz der langen Geschichte des Islams in Europa eigene theologische und religionspädagogische Ansätze lange gefehlt haben und teilweise immer noch fehlen, ist die bis vor Kurzem nicht vorhandene Verankerung der islamischen Theologie an den europäischen Universitäten. Der Mangel an Möglichkeiten einer akademischen Auseinandersetzung innerhalb europäischer Universitäten hat die Entstehung von neuen islamischen theologischen und religionspädagogischen Positionen unter Berücksichtigung des säkularen, demokratischen und pluralistischen europäischen Kontexts verhindert und dazu geführt, dass die europäischen Muslime in Sachen Befriedigung ihrer spirituellen Bedürfnisse nach wie vor von der Betreuung durch ihre Herkunftsländer abhängig sind. Erst durch die Etablierung theologischer Zentren an österreichischen und deutschen Universitäten in den letzten Jahren ist es einigermaßen gelungen, verschiedene gesellschaftspolitisch relevante islamische Themen auch aus einer innerislamisch verankerten universitären Perspektive zu beleuchten. Die nunmehrige Aufgabe besteht darin, ausgehend von der reichen islamischen theologischen Tradition, theologische Positionen zu erarbeiten, die sowohl den gegenwärtigen wissenschaftlichen Diskurs als auch den durch Säkularität, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und weltanschaulich-religiöse Pluralität geprägten europäischen Kontext berücksichtigen und ihm gerecht werden. Vor diesem Hintergrund soll auch diese Publikation verstanden werden. Die verschiedenen Beiträge, die zum Teil aus der Innen- und zum Teil aus der Außenperspektive verfasst worden sind, sollen zur Entstehung von neuen islamischen theologischen und religionspädagogischen Ansätzen im europäischen Kontext beitragen. Dieses Buch beinhaltet zehn Beiträge, die diese Problematik aus verschiedenen Perspektiven beleuchten. Der erste Beitrag, der zugleich die Grundlage der an der Universität Innsbruck gehaltenen Antrittsvorlesung des Herausgebers bildete, widmet sich explizit der Problematik der Verankerung der islamischen Theologie und Religionspädagogik im gegenwärtigen Kontext. Dabei wird der Versuch unternommen, die fundamentalen Probleme einer im Werden begriffenen islamischen Theologie und Religionspädagogik aufzuzeigen und Lösungsansätze anzubieten. In diesem Zusammenhang wird der Frage nachgegangen, welcher Zugang zur Anthropologie, zur Offenbarung und zum Kontext aus islamischer Perspektive vonnöten ist, um zu theologischen und religionspädagogischen Ansätzen zu gelangen, die den gegenwärtigen Bedürfnissen der Musliminnen und Muslime, aber auch der Gesellschaft insgesamt entsprechen. Besonders hingewiesen wird darauf, dass ohne eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit bestimmten theo-
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logischen Annahmen die Entwicklung neuer theologischer und religionspädagogischer Ansätze nicht möglich sein wird. Der Frage nach Inklusion und Exklusion – eine der entscheidenden Fragen im religiösen Diskurs – widmet sich Ednan Aslan. In seinem Beitrag analysiert er die Möglichkeiten einer theologischen Begründung der religiösen Pluralität aus muslimischer Perspektive. In diesem Zusammenhang geht es um die Eruierung der Voraussetzungen einer inklusivistischen Haltung gegenüber anderen Religionen innerhalb der islamischen Theologie. Dabei steht die Ausweitung der Bedeutung von zentralen islamischen Begriffen, wie zum Beispiel des Begriffs Muslim, von den Anhängern des Propheten Muhammad auf alle Gott ergebenen Menschen innerhalb der monotheistischen Tradition im Zentrum dieser Überlegungen. Damit sollen stabile und theologisch begründbare Grundlagen für ein respektvolles Miteinander im gegenwärtigen pluralen Kontext geliefert werden. Dass neue Ansätze nicht unbedingt der Tradition widersprechen müssen, sondern auf dieser aufbauend neu interpretiert werden können, zeigt auf beeindruckende Weise der Beitrag von Sebastian Günther, in dem die Bildungsauffassungen der klassischen muslimischen Gelehrten zwischen dem achten und fünfzehnten Jahrhundert behandelt werden. Anhand der Analyse einiger Aussagen des Korans und der Tradition des Propheten Muhammad, aber auch der Meinungen von berühmten klassischen muslimischen Gelehrten werden verschiedene pädagogische Elemente benannt, die für die Weiterentwicklung der religiösen Bildung im islamischen Kontext von enormer Bedeutung sein können. In diesem Zusammenhang werden sowohl Inhalte als auch Verfasser klassischer islamischer pädagogischer Schriften ausführlich dargestellt. Dabei werden sowohl von großen muslimischen Rechtgelehrten wie Abu Hanifa als auch von Literaten, Mystikern und Philosophen wie Dschahiz, Ghazali und Ibn Ruschd entworfene religionspädagogische Konzepte analysiert und dargestellt. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit modernen Zugängen zum Koran liefert Ömer Özsoy. In dieser wird vor allem die Frage erörtert, ob – und wenn ja, wie – die Aussagen des Korans – als ursprünglich auf eine vollkommen andere Lebenswelt gerichtet – auch heute noch Gültigkeit haben können. In seinem Beitrag liefert der Autor zudem eine Analyse der geschichtlichen Hintergründe der anachronistischen Annäherung an den Koran und zeigt einige rezeptionsgeschichtliche Brüche in der Denktradition auf. Nach dieser allgemeinen Darstellung der pädagogischen Ansätze in den islamischen Quellen und bei muslimischen Gelehrten folgt der Beitrag von Rabeya Müller, dessen Fokus auf dem Umgang mit der primären und wichtigsten Quelle des Islams, dem Koran, im Rahmen des islamischen Religionsunterrichts liegt. Dabei zeigt die Autorin anhand konkreter Beispiele die ambivalente Hal-
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tung des Korans bezüglich verschiedener Themen und damit auch die Notwendigkeit eines angemessenen Zugangs zu dieser wichtigen Quelle, um missverständliche Interpretationen zu vermeiden. Den angemessenen Zugang zu der zweiten wichtigen islamischen Quelle im Rahmen des islamischen Religionsunterrichts, der Tradition des Propheten Muhammad, behandelt der Beitrag von YaĢar Sarikaya. Neben den Arten und der Bedeutung der prophetischen Überlieferung wird darin auch auf die grundsätzlichen Probleme eingegangen, die bei der Anwendung dieser wichtigen Quelle im Religionsunterricht auftauchen. Der Beitrag liefert wertvolle didaktische und methodische Anregungen zum Umgang mit dem umfangreichen Material. Neben den Beiträgen, die aus einer islamischen Binnenperspektive verfasst wurden, bringen die Ausführungen von Matthias Scharer, unter Bezugnahme auf die Vorträge der Ringvorlesung, eine religionspädagogische und religionsdidaktische Außenperspektive ein. Sein Text beschäftigt sich grundsätzlich mit der Darstellung und Analyse der Entwicklungen im Bereich der islamischen Theologie und Religionspädagogik aus Sicht eines katholischen Theologen und Religionspädagogen. Dabei werden sowohl die Gemeinsamkeiten als auch die Unterschiede in beiden Religionen analysiert und wichtige Verknüpfungen aufgezeigt. Die Spannung zwischen öffentlichem und religionsgemeinschaftlichem Bildungsauftrag thematisiert Martina Kraml. Diese Spannung, wie immer sie gedacht wird, nimmt entscheidenden Einfluss auf die Religionspädagogik und Religionsdidaktik, insofern, als sie Konzepte religiöser Bildung hervorbringt, die pluralitätssensible religiöse Bildung auf konfessioneller Basis unterstützen oder aber verunmöglichen. Die Herausforderung besteht in der Anschlussfähigkeit an den säkularen Raum. Die Stellung der Frau innerhalb der Religionen bildet einen wichtigen Themenbereich in den theologischen und religionspädagogischen Auseinandersetzungen fast aller Religionen. Auch die islamische Theologie und Religionspädagogik macht hier keine Ausnahme. Daher darf in einem Buch über neue islamische theologische und religionspädagogische Ansätze im europäischen Kontext das Thema Frau im Islam nicht fehlen. Ausgehend von der Bedeutung muslimischer Katechetik im traditionellen Verständnis von religiöser Bildung geht Fatima Çavis der Frage nach den Frauenbildern nach, die in den in der Türkei verwendeten Katechismen vermittelt werden. Dieser Beitrag, der auf den Analysen und Ergebnissen der von der Autorin verfassten Magisterarbeit gründet, zeigt auf unmissverständliche Art und Weise, dass das Frauenbild in der klassischen islamischen religiösen Bildung nicht unseren Wertvorstellungen entspricht und
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daher ein wichtiger Themenbereich neuer theologischer und religionspädagogischer Reflexion sein muss. So, wie das Frauenbild ein zentrales Thema bei der Konzipierung neuer theologischer und religionspädagogischer Ansätze im islamischen Kontext darstellt, kommt auch dem islamischen Religionsunterricht – als einer wichtigen Schnittstelle zwischen dem Staat und der islamischen Glaubensgemeinschaft – eine Schlüsselrolle bei der Formierung neuer theologischer und religionspädagogischer Ansätze zu. Im letzten Beitrag behandelt Mehmet Tuna, unter Heranziehung einer im Rahmen seiner Masterarbeit durchgeführten empirischen Studie, die Gründe für die Abmeldung vom islamischen Religionsunterricht in Österreich. Dieser Beitrag liefert unter anderem wichtige empirische Ergebnisse, die in den theoretischen Auseinandersetzungen um neue theologische und religionspädagogische Ansätze mitberücksichtigt werden müssen. Jeder Beitrag in diesem Buch befasst sich mit einer besonderen Problematik im Bereich der islamischen Theologie und Religionspädagogik. Dabei unterscheiden sich sowohl die Themen als auch die Ansätze und die Perspektiven. Wichtig jedoch erscheint, dass sämtliche Beiträge im Hinblick darauf verfasst wurden, die Weiterentwicklung von neuen Ansätzen in der islamischen Theologie und Religionspädagogik im europäischen Kontext zu befördern.
Zwischen Gewissheit und Kontingenz 1 Auf dem Weg zu einem neuen Verständnis von islamischer Theologie und Religionspädagogik im europäischen Kontext Z EKIRIJA S EJDINI (I NNSBRUCK )
1. E INLEITUNG »Zwischen Gewissheit und Kontingenz« als Titel für eine Antrittsvorlesung zu wählen, mag angesichts aller – insbesondere bei der Diskussion von religiösen Themen vorhandenen – Bestrebungen nach Klarheit, Sicherheit und Wahrheit ungewöhnlich und unerwartet erscheinen. Betrachtet man jedoch die allgemeine Lage, in der wir uns befinden, so wird die Notwendigkeit der Problematisierung von Klarheit, Sicherheit und Wahrheit rasch ersichtlich. Denn vor dem Hintergrund vieler Diskussionen, die im Kontext von Religion, speziell im Kontext des Islams, aus der Innen- und Außenperspektive, geführt werden, wird bei genauerem Hinsehen eine Spannung sichtbar zwischen Gewissheit und Kontingenz, die als Möglichkeit, so oder so und damit auch jeweils anders zu sein, verstanden werden kann. Entlang dieser Problemstellung ist dieser Beitrag aufgebaut. Er gliedert sich in fünf Abschnitte: An die Einleitung schließt ein Blick auf den Ist-Zustand an, aus dem im nächsten Abschnitt Konsequenzen abgeleitet werden, die im Rahmen dieses Beitrages in Ansätzen für ein neues Verständnis von islamischer Theologie und Religionspädagogik im europäischen Kontext fruchtbar gemacht werden sollen. In diesem Zusammenhang lege ich mein Verständnis von Anthropologie, Offenbarung und von der Bedeutung des Kontexts als Grundkompo1
Bei dem vorliegenden Beitrag handelt es sich um die redigierte Fassung der vom Verfasser am 13.01.2016 an der Universität Innsbruck gehaltenen Antrittsvorlesung.
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nenten einer neu interpretierten islamischen Theologie und Religionspädagogik dar. Dies wiederum erlaubt die Formulierung von Grundätzen für die islamische Religionspädagogik im europäischen Kontext. Der letzte Abschnitt beschäftigt sich mit der Bedeutung dieser Grundlagen für die wissenschaftliche Auseinandersetzung in der islamischen Theologie und Religionspädagogik der Gegenwart. Entsprechend meiner wissenschaftlich-methodologischen Haltung bietet dieser Beitrag zunächst einen Überblick über die aktuellen Diskurse im Hinblick auf den Islam.
2. B ESCHREIBUNG
DES I ST -Z USTANDES
Es gibt kaum ein Thema, das gegenwärtig so breit, so intensiv, so kontrovers und emotional diskutiert wird, wie das Thema Islam, kaum einen gesellschaftlichen Bereich, der nicht von der Diskussion um den Islam durchgedrungen wäre. Mit anderen Worten: Der Islam ist heutzutage in aller Munde. Dabei fällt auf, dass der Diskurs um den Islam seit den Terrorattacken des 11. September 2001 in New York generell – um nicht zu sagen ausschließlich – negativ beladen und weit von einer – in anderen Bereichen durchaus gepflogenen Sachlichkeit – entfernt ist. Dies hat zur Folge, dass das Thema Islam, speziell in den Medien, tendenziell unreflektiert und undifferenziert diskutiert wird. Dies aber erschwert mögliche Lösungen und reißt die Gräben innerhalb unserer multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft weiter auf. Eine dringend notwendige konstruktive Auseinandersetzung mit dem Thema scheint damit ferner denn je. Betrachtet man die laufenden Diskussionen rund um den Islam, tut sich eine Vielzahl an Themen auf, die in diesem Zusammenhang angesprochen werden: Dabei geht es einmal um den politischen Islam, ein anderes Mal um die Kompatibilität des Islams mit der Demokratie und der rechtsstaatlichen Säkularität, wieder ein anderes Mal um Meinungsfreiheit und Religionsfreiheit, dann wieder um Frauenrechte und den Umgang des Islams mit Homosexualität und nicht zuletzt um das Gewaltpotenzial des Islams – und diese Liste ließe sich problemlos fortsetzen. Angesichts der vorgebrachten, oft monokausalen Erklärungen zu den erwähnten Problemfeldern nimmt es nicht wunder, dass dabei die Sachlichkeit und mit dieser eine auf multikausalen Erklärungen basierende Analyse oft ausbleibt und die Religion im Allgemeinen und der Islam im Speziellen als Problem und Gefahr für die Gesellschaft dargestellt werden.
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Dieser Diskurs um den Islam wird zurzeit von – grob gesprochen – zwei festgefahrenen Positionen dominiert, die eine sachliche Auseinandersetzung verunmöglichen: Die eine Position, die hauptsächlich von Musliminnen und Muslimen eingenommen wird und als »apologetisch« oder als eine Art »Opferrolle« bezeichnet werden kann, bestreitet jeglichen Reformbedarf der eigenen Religion und sucht die Gründe für die Probleme stets bei den anderen. Für diese Gruppe ist der Rat zu »Selbstkritik« unerwünscht und beleidigend. Kritik von außen wird entweder als Ausweis der Islamophobie von Nichtmuslimen oder, wenn es sich um Muslime handelt, als Häresie qualifiziert. Im Hinblick auf die Letzteren werden von Vertretern dieser Position nicht selten Verschwörungstheorien entwickelt und die Kritiker als Handlanger dunkler Mächte begriffen, die den Islam durch Reformen bis zur Unkenntlichkeit entstellen wollten. Die Lösung wird in einer rückwärtsgewandten »back to the roots«-Bewegung in blinder Nachahmung der prophetischen Zeit gesehen, die eindeutige Orientierungen und klare Wahrheiten verspricht.2 Die zweite Position, die den Diskurs über den Islam beherrscht und der erstgenannten diametral entgegensteht, wird hauptsächlich von Nichtmuslimen vertreten und suggeriert eine essenzialistische Verwobenheit des Islams mit Gewalt, Politik und Intoleranz.3 So sind die Verfechter dieser Position der Ansicht, dem Islam fehle es aufgrund der genannten Verwobenheit prinzipiell an Kompatibilität mit den westlichen Werten. Daher könne vom Islam weder die Achtung der Menschenrechte noch die Anerkennung einer demokratischen, säkularen Gesellschaft erwartet werden, da diese ihm wesensfremd seien. Jeglicher Versuch einer Harmonisierung der demokratischen Werte mit dem Islam stellt für die Protagonisten dieser Position eine Abweichung von »dem Islam« (d.h. von ihrem Verständnis vom Islam) dar und wird in Widerspruch zu einem vermeintlichen »Urislam« gesehen. Daher sind für die Vertreter dieser Ansicht diejenigen, die von mehreren, unterschiedlichen Prägungen des Islams ausgehen, entweder blauäugige Nichtmuslime, die die Wahrheit nicht durchschauen, oder Muslime, die sich entweder tarnen, um Europa von innen zu unterwandern und
2
Vgl. Behnam T. Said/Fouad Hazim (Hg.): Salafismus. Auf der Suche nach dem wahren Islam, Freiburg-Basel-Wien: Herder 2014.
3
Vgl. Rhonheimer, Martin: Christentum und säkularer Staat. Geschichte – Gegenwart – Zukunft, Freiburg im Breisgau: Herder 2012, S. 329; Raddaz, Hans-Peter: »Allah im Westen. Islamisches Recht als demokratisches Risiko«, in: Hans Zehetmair (Hg.): Der Islam im Spannungsfeld von Konflikt und Dialog, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2005, S. 49-66.
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zu islamisieren, oder muslimische Häretiker, die sich so sehr säkularisiert haben, dass sie nicht mehr im Namen des Islams sprechen können. Vergleicht man die Überzeugungen der Protagonisten beider Gruppen, kann man hinter den Positionen eine ähnliche Geisteshaltung entdecken: Beide gehen von der Existenz und Eindeutigkeit nur eines (des eigenen) Islamverständnisses aus und negieren die Perspektivität ihrer eigenen Wahrnehmungen, Aussagen und Überzeugungen. Damit beharren sie auf statischen, unveränderbaren und für alle Zeiten gültigen Wahrheiten, in deren Besitz sie sich sehen, leugnen indirekt oder direkt das Vorhandensein von Anderem und entziehen sich der Auseinandersetzung mit Pluralität. Es handelt sich hier um eine Geisteshaltung, die in der Menschheitsgeschichte in ihren verschiedenen Entwicklungsphasen sehr viel Leid verursacht hat. Genau dieser Geisteshaltung gilt das Anliegen der Antrittsvorlesung, indem sie der Gewissheit das Kontingenzbewusstsein gegenüberstellt und die Spannung thematisiert. Kontingenz wird hier im Sinne von Möglichkeiten/Möglichkeitsbewusstsein verstanden – ganz im Geiste von verschiedenen philosophischen, theologischen und literarischen Positionen, die Kontingenz in dem Sinn, dass etwas auch anders möglich ist, als es ist, fassen. Gemäß diesem Verständnis hat Kontingenz Pluralität zur Folge, Pluralität zieht wiederum Ambivalenz und Ambiguität nach sich.4 Ähnliches hat wahrscheinlich auch der deutsche Mathematiker und Physiker Max Born erkannt, dessen Worte ich an dieser Stelle gern zitiere: Ich glaube, daß Ideen wie absolute Richtigkeit, absolute Genauigkeit, endgültige Wahrheit usw. Hirngespenste sind, die in keiner Wissenschaft zugelassen werden sollten […] Diese Lockerung des Denkens scheint mir als der größte Segen […] Ist doch der Glaube an eine einzige Wahrheit und deren Besitzer zu sein, die tiefste Wurzel allen Übels auf der Welt. 5
Ausgehend von diesen Überlegungen lassen sich auch Grundhaltungen für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit theologischen und religionspädagogischen Themen nachzeichnen. Mit Blick darauf sehe ich mich als muslimischer Religionspädagoge herausgefordert, die eigenen traditionellen Grundlagen theo-
4
Zum Kontingenzbewusstsein im Sinne von Möglichkeitsbewusstsein vgl.: Kraml, Martina, Dissertation gestalten im Raum der Möglichkeiten. Eine theologiedidaktische Studie zu Dissertationsprozessen mit besonderer Aufmerksamkeit auf die Entwicklung empirischer Forschung. Unveröffentlichte Habilitationsschrift, Innsbruck 2013, S. 397-414, bes. S. 412.
5
Born, Max: Physik im Wandel meiner Zeit, Braunschweig: Vieweg 1957, S. 265.
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logischen und religionspädagogischen Denkens im Lichte der Spannung von Gewissheit und Kontingenz zu hinterfragen. Als diesem Anspruch verpflichtet soll auch dieser Beitrag verstanden werden. Entgegen den Bestrebungen, Spannungen und Ambivalenzen zu negieren, soll die islamische Religionspädagogik als eine eigenständige Art des Theologisierens begriffen werden, die aus den genannten Spannungen konstruktiv und aktiv Potenziale hebt und damit gangbare Wege auslotet, um den europäischen Musliminnen und Muslimen einen dem europäischen Kontext entsprechenden Zugang zu ihrer Religion zu ermöglichen. Es erscheint äußerst wichtig, in diesen schwierigen Zeiten durch die universitäre Verankerung religionspädagogische Ansätze anbieten zu können, die durch Mehrperspektivität, wissenschaftliche Reflexion und interdisziplinäre Zugänge gekennzeichnet sind.6 Solche Ansätze erfordern ein Theologieverständnis, das anschlussfähig für die religionspädagogischen Anliegen ist und ein hohes Maß an Kontingenzsensibilität im Sinne von Möglichkeitsbewusstsein aufweist. Dabei stellt sich – mit Blick auf den Titel, der von einem neuen Verständnis von Theologie und Religionspädagogik spricht – die Frage, worin die Innovation besteht und ob diese angestrebte Innovation sich aus der islamischen Innenperspektive entwickeln lässt. Denn der Versuch, eine islamische Theologie und Religionspädagogik von außen und durch Hinzufügung von ihr fremden Komponenten zu erneuern, würde nur Gegenwehr und Isolation erzeugen und wäre somit zum Scheitern verurteilt.
3. E INE KONTINGENZSENSIBLE T HEOLOGIE R ELIGIONSPÄDAGOGIK
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Eine Theologie, die religionspädagogisch anschlussfähig ist, kann sich nicht als abgeschlossenes, statisches Gebilde verstehen, das sich im Besitz der absoluten Wahrheit wähnt bzw. diese zu vermitteln trachtet. Denn eine Theologie, die sich, wie Norbert Mette und Friedrich Schweizer zu Recht meinen, »als eine auf ewige und unverrückbare Wahrheiten gegründete und damit zeitlichen und kontextuellen Zufälligkeiten enthobene Spekulation versteht, für deren Einsichten universale Gültigkeit beansprucht wird, kann nur zur Indoktrination und zur
6
Vgl. Sejdini, Zekirija: »Grundlagen eines theologiesensiblen und beteiligtenbezogenen Modells islamischer Religionspädagogik und Religionsdidaktik im deutschsprachigen Kontext«, in: Österreichisches Religionspädagogisches Forum 23 (2015), S. 21-28.
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Unmündigkeit der von ihr indoktrinierten Personen führen«.7 Eine derartige Theologie ist für die Ausführung des Bildungsauftrags, den wir zu erfüllen haben, unbrauchbar. Leider trifft dies – mit einigen Ausnahmen – auf eine Reihe von gängigen theologischen Ansätzen zu. Die folgende Darstellung wird also versuchen, Theologie nicht als ein abgehobenes, von verschrobenen Gelehrten im Elfenbeinturm betriebenes Geschäft zu präsentieren. Es soll darin vielmehr deutlich werden, wie Theologie, in diesem Fall die islamische Theologie und Religionspädagogik, zum einen aus einer bestimmten gesellschaftlichen und kulturellen Wirklichkeit erwächst, aber auch, wie sie auf die Gesellschaft zurückwirkt, indem sie die für jede Gesellschaft elementar wichtige Funktion der Welterklärung und Sinnstiftung erfüllt. Doch wie kommen wir zu einem möglichkeitssensiblen Verständnis in der islamischen Theologie und Religionspädagogik? Welche Argumentationslinie kann diesbezüglich verfolgt werden? Wie sehr lässt sich diese Linie mit den Quellen des Islams vereinbaren und wie kann eine theologische Verengung vermieden werden? Um – im Sinne der erwähnten Fragen – aus den islamischen Quellen authentische theologische und religionspädagogische Ansätze entwickeln zu können, wird im Folgenden auf drei Hauptsäulen eingegangen, die die Grundvoraussetzungen jeder anschlussfähigen islamischen Theologie und Religionspädagogik bilden sollten. Betrachtet man die gängigen islamischen theologischen und religionspädagogischen Diskussionen, so zeigen sich die größten Hindernisse für ein anschlussfähiges Verständnis genau in den angesprochenen Grundsäulen. Diese (Anthropologie, Offenbarung, Bedeutung des Kontexts) sind programmatisch für mein eigenes Theologie- und Religionspädagogikverständnis, da sie meiner Meinung nach Maßstab für eine qualitätsvolle Theologie und Religionspädagogik sind. 3.1 Anthropologie als Ausgangspunkt Alle theologischen und religionspädagogischen Überlegungen gründen auf bestimmten Menschenbildern, die zumeist von den jeweiligen heiligen Texten abgeleitet werden. Auch wenn diese anthropologischen Grundannahmen nicht immer reflektiert werden, sind sie doch immer vorhanden. So geben die theologischen und religionspädagogischen Ansätze Aufschluss über die ihnen zugrunde liegenden Menschenbilder. So ist es beispielsweise nicht schwer zu erschlie7
Mette, Norbert/Schweitzer, Friedrich: »Neuere Religionsdidaktik im Überblick«, in: Christoph Bizer/Roland Degen/Rudolf Englert et al. (Hg.): Religionsdidaktik, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2002, S. 21-40, 37.
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ßen, welches Menschenbild einer Theologie zugrunde liegt, die Frauen das Autofahren mit theologischen Argumenten, also im Namen Gottes, verbieten will, wie es bis vor Kurzem in Saudi-Arabien der Fall war. So gesehen ist es Aufgabe der wissenschaftlichen Theologie und Religionspädagogik, die zumeist impliziten Menschenbilder zu untersuchen und zu explizieren. Diese Art von Explikation und »Dekonstruktion« ist eine notwendige Maßnahme, um Reflexionsdistanz zu gewinnen und neue Zugänge zu schaffen. Theologie und Religionspädagogik sind menschliche Produkte, die – aufgrund von Kontext- und Subjektbezogenheit – subjektive und kontingente Charakteristika beinhalten. Das bedeutet, dass im Rahmen einer anthropologischen Analyse plurale Menschenbilder sichtbar werden, auch wenn die religiösen Quellen dieselben sind. Doch nicht nur die Perspektivität des Menschen ist Ursache der unterschiedlichen anthropologischen Annahmen, es sind auch die religiösen Quellen, die unterschiedliche, ambivalente, ja teilweise sogar widersprüchlich erscheinende Aussagen beinhalten. Besonders im Islam wird die Vielfalt der Quelleninterpretation durch das Fehlen einer institutionalisierten Autorität gefördert. Auch wenn das Fehlen einer höchsten theologischen Autorität innerhalb des Islams, die die Deutungshoheit über die Quellen innehat, im gegenwärtigen Kontext für viele als eine Schwäche erscheint, kann angesichts der in den mehrheitlich muslimischen Ländern herrschenden theologischen Positionen Gott für die Nichtexistenz einer verbindlichen islamischen »Kirche« nicht genug gedankt werden. Nicht nur weil viele Kolleginnen und Kollegen, die an den europäischen Universitäten forschen kein »nihil obstat« bekommen würden, sondern weil es keines institutionellen Beschlusses bedarf, um aus den islamischen Quellen Menschenbilder zu gewinnen, die dem gegenwärtigen Kontext entsprechen, das humanistische Menschenbild bekräftigen und neue theologische Ansätze im europäischen Kontext ermöglichen. Wenn wir nun zu den inhaltlichen Bestimmungen neuer anthropologischer Ansätze kommen, die gleichfalls kontext- wie kontingenzsensibel und authentisch anschlussfähig an die muslimische Tradition sind, sollen drei Merkmale erwähnt werden, die sowohl in den islamischen Quellen wie auch im Verständnis mancher Gelehrter vorzufinden sind. Dabei handelt es sich um die menschliche Würde, Vernunft und Freiheit, aus denen sich auch die menschliche Verantwortung ableiten lässt.
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Die Würde des Menschen In den islamischen Quellen gibt es sehr viele direkte und indirekte Hinweise auf die Würde des Menschen. Den wichtigsten direkten Hinweis auf die gottgegebene, unantastbare Würde des Menschen liefert der Vers (17:70), in dem Gott darauf hinweist, dass alle Menschen, nicht nur die Muslime, von Ihm mit Würde ausgestattet sind. Worin die Würde des Menschen liegt, wird zwar im Koran explizit nicht weiter ausgeführt, dennoch ist sie die wichtigste Grundlage für ein inklusivistisches Verständnis, aus dem dann auch die Menschenrechte begründet werden können. Dieser Ansatz, die Würde des Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, hat sich wie in vielen anderen Theologien auch in der klassischen islamischen Theologie leider oft nicht durchgesetzt. Lediglich in der islamischen Mystik lassen sich Spuren finden.8 Neben den direkten Hinweisen finden sich im Koran, vor allem in der koranischen Schöpfungsgeschichte, viele indirekte Hinweise, die auf die Würde des Menschen hindeuten, von denen ich die folgenden exemplarisch erwähne. Da wären die Erschaffung des Menschen in der bestmöglichen Form (32:7), die Einhauchung des göttlichen Geistes (32:9) sowie die Ernennung des Menschen zum Stellvertreter Gottes auf Erden in (2:30). Dies sind nur einige koranische Stellen, die auf die Besonderheit aller Menschen hinweisen, aus der die Würde aller Menschen abgeleitet werden kann.9 Die Verankerung der gottgegebenen und unantastbaren Würde des Menschen in den theologischen und religionspädagogischen Überlegungen ist eine unabdingbare Voraussetzung zur Entwicklung einer kontingenz- und kontextsensiblen Theologie und Religionspädagogik. Dies bedeutet im heutigen Kontext, dass eine Theologie ohne die Berücksichtigung der Menschenrechte, in denen die besondere Würde aller Menschen in der Gegenwart ihren Ausdruck gefunden hat, undenkbar ist. Vernunft Ein weiteres entscheidendes anthropologisches Merkmal ist die Vernunft des Menschen. Gott hat den Menschen mit Vernunft ausgestattet und ihn sich dadurch zum Kommunikationspartner gewählt. Aufgrund der Vernunft ist der 8
Vgl. Schimmel, Annemarie: Mystische Dimensionen des Islam. Die Geschichte des Sufismus), Frankfurt am Main-Leipzig: Insel Verlag 1995.
9
Vgl. Renz, Andreas: Der Mensch unter dem An-Spruch Gottes. Offenbarungsverständnis und Menschenbild des Islam im Urteil gegenwärtiger christlicher Theologie (= Christentum und Islam. Anthropologische Grundlagen und Entwicklungen, Band 1), Würzburg: Ergon-Verlag 2002.
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Mensch in der Lage, sich von der göttlichen Botschaft ansprechen zu lassen und auf diese zu antworten. Gleichzeitig ist er aber auch aufgefordert, seine Umwelt zu erforschen, in Kommunikation mit anderen Menschen zu treten und zu neuen Erkenntnissen zu gelangen, die wiederum in den Dienst der Menschheit gestellt werden können. Daher fordert der Koran den Menschen immer wieder auf, seine Vernunft zu gebrauchen, um sich und die Gesellschaft weiterzuentwickeln (6:32). Obwohl die Vernunftbegabung ein Wesensmerkmal des Menschen und die Voraussetzung für die Kommunikation mit Gott ist, wird diese in der islamischen Theologie und Religionspädagogik vielfach missachtet. Damit aber wird die für den Glauben konstitutive Vernunft, die eine Gabe Gottes ist, als Hindernis dargestellt und nicht selten auch bekämpft. Freiheit Eng an die Vernunft gebunden ist die Freiheit des Menschen, womit wir zum dritten anthropologischen Merkmal kommen. Die menschliche Freiheit ist ebenfalls ein wesentliches und den Menschen von anderen Geschöpfen unterscheidendes Merkmal. Grundsätzlich ist sie ambivalent, sie kann zum Heil oder zum Unheil führen. Obwohl die Freiheit des Menschen als mögliche Quelle von Unheil schon von den Engeln erkannt wurde, ist Gott aus eigenem Wunsch dieses »Risiko« eingegangen, ein Lebewesen zu erschaffen, das aufgrund seiner Merkmale, wie Würde, Vernunft und Freiheit in der Lage ist, seinen Weg zu gehen und sich auch für oder gegen Gott zu entscheiden. Dies wird im Koran folgendermaßen geschildert: 30. UND SIEHE! Dein Erhalter sagte zu den Engeln: »Seht, ich bin dabei, auf Erden einen einzusetzen, der sie erben wird.« Sie sagten: »Willst Du auf ihr einen solchen einsetzen, der drauf Verderbnis verbreiten und Blut vergießen wird – während wir es sind, die Deinen grenzlosen Ruhm lobpreisen und Dich preisen und Deinen Namen heiligen?« (Gott) antwortete: »Wahrlich, ich weiß, was ihr nicht wißt.« (2:30-34)10
Die drei angesprochenen anthropologischen Aspekte – Würde, Vernunft, Freiheit – dürfen nicht isoliert betrachtet werden, denn sie sind eingebunden in die Verantwortung, die Gott dem Menschen für sich und seine Umwelt übertragen hat, und sie zeigen, dass der Mensch selbst für seine Handlungen verantwortlich ist. Dementsprechend bedarf es – wie Karl Rahner formuliert hat – einer »anthropologischen Wende« in der islamischen Theologie und Religionspädagogik, 10 Übersetzung von Asad, Muhammad: Die Botschaft des Koran. Übersetzung und Kommentar, Ostfildern: Patmos 2011.
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die den Menschen in seiner Verantwortung berücksichtigt und ihn in den Mittelpunkt seiner theologisch-religionspädagogischen Überlegungen stellt. Diesen Ansatz vertritt auch Kenneth Cragg, wenn er sagt: »As reverent theists we can be sure that we shall never be far away from a living theology if we are radically and honestly committed to understanding man.«11 Nach den Anmerkungen zur Anthropologie kommen wir nun zur erwähnten zweiten Grundkomponente: 3.2 Offenbarung: von der Wissensvermittlung zur Kommunikation Trotz der anthropologischen Vorstellung von einem freien und vernunftbegabten Menschen sieht der Islam – wie im Übrigen alle monotheistischen Religionen – die göttliche Offenbarung als Voraussetzung für ein verantwortungsvolles Handeln des Menschen an. Dabei stellt sich die Frage, wie die Offenbarung beschaffen sein muss, damit sie den erwähnten anthropologischen Bestimmungen entsprechen kann. Eine auf Würde, Vernunft und Freiheit ausgerichtete Offenbarung kann nur als eine Art von Kommunikation verstanden werden, die darauf abzielt, durch Rechtleitung den Menschen Orientierung zu geben.12 Dies impliziert, dass die Offenbarung nicht als Bevormundung des Menschen in Form einer Instruktion, nicht als »objektive« Wissensvermittlung und nicht als ausschließlich autoritätslegitimiert unter Ausschluss der menschlichen Vernunft verstanden werden darf. Vielmehr sollte sie als Kommunikationsprozess aufgefasst werden, der Subjektivität miteinschließt und gerade aufgrund von Vernunft und Freiheit lebendig erhalten, ständig neu interpretiert und fruchtbar gemacht werden kann. In diesem Kontext muss auch die primäre Offenbarungsquelle des Islams, der Koran, verstanden werden. Auch wenn der Koran als Verbalinspiration betrachtet wird, stellt diese kein Hindernis dar, ihn als kontextbezogenen Kommu-
11 Cragg, Kenneth: The Christian and Other Religion. The Measure of Christ, London & Oxford: Mowbrays 1977, S. 3. 12 Vgl. Thurner, Martin: »Von der Information zur Kommunikation. Das Offenbarungsverständnis der beiden Vatikanischen Konzilien«, in: Richard Heinzmann/Mualla Selçuk (Hg.): Offenbarung in Christentum und Islam, Stuttgart: Kohlhammer 2011, S. 128-143.
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nikationsprozess aufzufassen.13 Denn, wie Harun Behr zu Recht meint: »Es verändert das Denken und vertieft den Glauben, wenn man die Geschichte nicht als Prädikat des Korans, sondern den Koran als Produkt der Geschichte versteht.«14 Doch in der islamischen Theologie hat sich, generell gesagt, die Vorstellung von der koranischen Offenbarung als Informationsvermittlung und Instruktion durchgesetzt. Speziell in fundamentalistischen Kreisen zeigt sich dies in einer allzu normativen, wortwörtlichen und kontextlosen Lesart mit allumfassendem Anspruch, was zur Folge hat, dass der Mensch nicht ernst genommen wird, dass es Stagnation und keine Weiterentwicklung gibt, und dass die gesamte Wahrheit auf ein offenbartes Buch reduziert wird. So wird die Offenbarung, die den Menschen eigentlich Wege öffnen soll, durch falsche Zuschreibungen zu einem Hindernis für die Entwicklung der Menschheit. Der Koran selbst fordert den Menschen auf, seine Vernunft zu gebrauchen, und sich den außerkoranischen Zeichen Gottes nicht zu verschließen. Im Koran heißt es: In der Erschaffung von Himmel und Erde; im Aufeinanderfolgen von Tag und Nacht; in den Schiffen, die zum Nutzen der Menschen auf dem Meer fahren; darin, dass Gott Wasser vom Himmel hat herabkommen lassen, um dadurch die Erde, nachdem sie gestorben war, (wieder) zu beleben; darin, dass er auf ihr allerlei Getier sich hat ausbreiten lassen; darin dass die Winde wechseln; in den Wolken, die zwischen Himmel und Erde in Dienst gestellt sind, (in alldem) liegen Zeichen für Leute, die Verstand haben. (2:164)
In diesem Sinne geht es in einer, wie Thomas Bauer sagt, pluralitätsoffenen und ambiguitätstoleranten15 Theologie und Religionspädagogik darum, ein Verständnis und neue Zugänge zur Offenbarung im Sinne der anthropologischen Merkmale von Würde, Vernunft und Freiheit zu finden.
13 Vgl. Abu-Zaid, Na r Ḥ.: Gottes Menschenwort. Für ein humanistisches Verständnis des Koran (= Buchreihe der Georges-Anawati-Stiftung Religion und Gesellschaft, Band 3), Freiburg-Basel-Wien: Herder 2008. 14 Behr, Harry Harun: »Keine Angst vor Kritik. Wie viel Glaubenszweifel verträgt die islamische Theologie?« (= Herder Korrespondenz 1-2014), S. 57-60, hier S. 59. 15 Vgl. Bauer, Thomas: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams, Berlin: Verlag der Weltreligionen 2011.
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3.3 Der Kontext Die Kontextbezogenheit ist die letzte der Grundsäulen, auf die ich mich in diesem Zusammenhang beziehen werde, die eine konstitutive Rolle in der Entwicklung neuer theologischer Ansätze spielt. Es ist die Kontextbezogenheit, die Kontingenz, Pluralität, Ambivalenz und Ambiguität in den Blick treten lässt und die Vermitteltheit unserer Zugänge deutlich macht. So erscheint es – nach Joachim Willems – »notwendig, die Vorstellung einer direkten Abbildbarkeit der Welt zu verwerfen: Was für ein Bild wir uns von der Welt machen, also von unserer natürlichen Umwelt und unseren Mitmenschen sowie von den Werten, die unserer Überzeugung nach höhere oder weniger hohe Gültigkeit besitzen, hängt wesentlich von unserer kulturellen und religiösen Prägung ab. Nicht erst die Interpretation von Erfahrungen und Wahrnehmungen ist demnach kulturell und religiös bestimmt. Vielmehr gibt es gar keine ›reinen‹ Erfahrungen und Wahrnehmungen, die von Kultur und Religion unbeeinflusst wären. Wie etwas und was überhaupt wahrgenommen oder erfahren wird (und was nicht), geschieht im Rahmen kulturell-religiöser Prägungen und ist bereits Folge von vorangegangenen Wahrnehmungen und Erfahrungen, die wiederum auf eine bestimmte (kulturell und religiös kontingente) Art und Weise gemacht wurden«16. Aus diesem Gedankengang wird deutlich, dass ein Verstehen ohne Mitbedenken des Kontextes nicht möglich ist. Die islamische Theologie war in der Tradition vielfach an die entsprechenden Kontexte gebunden und konnte Impulse an diese zurückgeben. Dies war auch der Grund, warum die islamische Welt es zustande brachte, zwischen dem achten und zwölften Jahrhundert das zivilisatorische Zentrum der Welt zu sein und die Welt in künstlerischer, philosophischer und anderer wissenschaftlicher Hinsicht zu bereichern. Erst im Zuge der Begegnung mit der säkularen Gesellschaft, die in manchen Regionen aufgrund der Kolonialisierung sehr unglücklich verlaufen ist, wurde die Interpretation des Islams aus dem säkularen Kontext als Niederlage und Kapitulation und eine daraus resultierende Erniedrigung verstanden, was eine Resistenz gegenüber der Kontextualisierung zur Folge hatte, so, als ob die Schuld bei der Zeit und nicht bei der Unfähigkeit, sich den Umständen anzupassen, läge. Diese Aversion gegenüber der Kontextualität hält in weiten Teilen der der islamischen Theologie und Religionspädagogik noch immer an. Speziell in
16 Willems, Joachim: Interreligiöse Kompetenz. Theoretische Grundlagen – Konzeptualisierungen – Unterrichtsmethoden, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011, S. 65.
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einem, ihnen von der eigenen Tradition her fremden, säkularen Umfeld sehen die Muslime die Kontextbezogenheit als eine Verwässerung der islamischen Theologie und nehmen eine apologetische Haltung ein.17 Im europäischen Rahmen, der durch eine demokratische säkulare Rechtsstaatlichkeit gekennzeichnet ist, sollten Demokratie und Säkularität konstitutiver Bestandteil einer islamischen Theologie und Religionspädagogik sein, um deren Beheimatung in einer multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft zu gewährleisten.
4. G RUNDÄTZE FÜR DIE ISLAMISCHE R ELIGIONSPÄDAGOGIK IM EUROPÄISCHEN K ONTEXT Ausgehend von den erwähnten Grundsäulen, die mein theologisches und religionspädagogisches Konzept repräsentieren, stellt sich die berechtigte Frage, welche Auswirkungen die vorgeschlagenen Transformationen in der Anthropologie, im Offenbarungsverständnis und in der Kontextbezogenheit innerhalb der islamischen Theologie und Religionspädagogik haben können. Es geht um die Entwicklung einer den wissenschaftlichen Standards und dem europäischen Kontext entsprechenden islamischen Religionspädagogik als Theorie religiöser Bildung. »Die Interpretation einer lebendigen religiösen Tradition will nicht nur ihre Genese und ihr historisches Verständnis rekonstruieren, sie zielt vielmehr in ihrer praktischen Auslegung, ihrer ›Anwendung‹ auf eine gegenwärtige Situation. Denn die nächste Generation steht immer vor der Frage, ob diese Tradition ihr selbst auf Zukunft hin Lebensmöglichkeiten eröffnet oder verschließt.« 18, so der deutsche Pädagoge und Theologe Helmut Peukert. Eine so konzipierte islamische Religionspädagogik sollte sich an folgenden Grundsätzen orientieren: •
Alle Menschen sind in ihrer Würde gleich: Niemand darf aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer Religion oder auch Nichtreligion benachteiligt oder
17 Vgl. Bielefeldt, Heiner: Muslime im säkularen Rechtsstaat. Integrationschancen durch Religionsfreiheit (= Globaler lokaler Islam), Bielefeld: transcript Verlag 2003. 18 Peukert, Helmut: »Erziehungswissenschaft-Religionswissenschaft – Theologie – Religionspädagogik Eine spannungsgeladene Konstellation unter den Herausforderungen einer geschichtlich neuartigen Situation«, in: Engelbert Gross (Hg.): Erziehungswissenschaft, Religion und Religionspädagogik, Münster: Lit 2004, S. 51-93, hier S. 83.
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bevorzugt werden. Wenn ich religionspädagogisch denke, dann darf Studierenden/Lernenden nicht vermittelt werden, die eigene religiöse Gruppe sei aufgrund der religiösen Zugehörigkeit oder den anderen Menschen überlegen. Glaube ist ein Angebot Gottes: Als solches kann der Glaube aufgrund der von Gott verliehenen Freiheit angenommen oder abgelehnt werden. Religionspädagogisch gedacht, muss jedem Menschen diese Entscheidungsmöglichkeit zugestanden werden, ohne dass er/sie dabei befürchten muss, die Rechte oder das Ansehen als Mensch zu verlieren. Zwang vernichtet den Glauben: Eine reflektierte Religionspädagogik hat die Unverfügbarkeit des Glaubens zu achten. Den Glauben aufzuzwingen ist weder gestattet noch erwünscht noch im Sinne des Erschaffers. Freiheit ist die Voraussetzung für wahre Religiosität. Nur dort, wo es Freiheit gibt, für oder gegen Gott zu sein, kann von einer authentischen Religiosität ausgegangen werden. Dies wird auch im Koran verdeutlicht. Dort heißt es: »(Es ist) die Wahrheit (die) von eurem Herrn (kommt). Wer nun will, möge glauben, und wer will, möge nicht glauben! ... « (18:26) Der Glaube ist eine persönliche Erfahrung: Davon ausgehend braucht es aus islamisch-religionspädagogischer Perspektive eine anerkennende und respektvolle Haltung gegenüber anderen Glaubensvorstellungen und Weltanschauungen. Dieser Ansatz bildet den Schlüssel zu einer wertschätzenden Haltung gegenüber dem Anderem in einer multikulturellen und multireligiösen demokratischen Gesellschaft. Glaube schließt Vernunft und Wissenschaft nicht aus: Eine wissenschaftliche Religionspädagogik muss sich eines stets vor Augen halten: Der Glaube darf nicht auf der Missachtung der Vernunft und der Verbannung der Wissenschaft aufgebaut werden. Die Aufgabe der Offenbarung besteht in der Stimulierung der Menschen zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung und nicht in der Übermittlung einer eigenen Art von wissenschaftlichen Erkenntnissen. Oft wird übersehen, »...dass es zwischen den religiösen Institutionen und ihren eigenen Traditionen des Wissensmanagements einerseits und den akademischen Fachkulturen andererseits zu einer produktiven Spannung kommen muss. Die islamische Theologie kann ihrer kulturpolitischen Aufgabe nur gerecht werden, wenn sie sich in den religionsbezogenen Diskurs begibt«19. Nicht alles lässt sich in den Offenbarungstexten finden: Die wissenschaftlichen Ergebnisse müssen weder von der Offenbarung bestätigt noch von ihr abgeleitet werden. Der Versuch, wissenschaftliche Ergebnisse theologisch zu
19 H. Behr: Kritik, S. 58.
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verifizieren, wäre nicht nur eine theologische Verengung, sondern entstellt gewissermaßen die Grundintention der Offenbarung und kann zu Indoktrination und folglich zu Unmündigkeit führen.20 Mündigkeit im Sinne von Eigeninitiative als Prinzip der religiösen Bildung: Durch den Wunsch, theologische Inhalte zu vermitteln, ist die Gefahr, andere in Unmündigkeit zu halten und für andere zu entscheiden, groß. Eine islamische Religionspädagogik in unserem Sinne versteht sich nicht als Belehrung über bestimmte Wahrheiten, sondern als Begleitung der Menschen auf dem Weg der Wahrheitssuche. Säkularität und Demokratie als konstitutive Ideen der Religionspädagogik: Säkularität garantiert Religionsfreiheit und ermöglicht die Entfaltung verschiedener Weltanschauungen und Religionen. Damit wird religiöse Vielfalt erst möglich. Es bedeutet eine große Herausforderung für die Religionspädagogik, religiöse Vielfalt zu pflegen, sich in der religiösen Vielfalt zu bewegen, diese zu fördern und als Bereicherung zu betrachten. Damit sind, »Veränderungsbereitschaft und Neuanpassung«21 verbunden und weniger »das Perpetuieren alter Gewohnheiten, Gebräuche und Traditionen«22. Einer derartigen Religionspädagogik ist eine demokratische Gesinnung inhärent. Diese sollte » … sozialen Wandel nicht nur ermöglichen und zulassen, sondern herausfordern und fördern. Es geht um die Ausbildung eines Habitus, sich vorlaufend mit sich selbst, der Welt und anderen auseinanderzusetzen«23, was im Grunde genommen nichts anderes sagt, als sich einen bildenden Habitus oder einen Habitus der Bildung anzueignen. Universitäre Auseinandersetzung mit dem Islam: Islamische Selbstauslegung muss sich transformieren, wenn sie den Bedingungen der säkularen Universität entsprechen will. Dabei geht es nicht um eine »Perpetuierung bisheriger islamischer Wissensbestände«, so der deutsche Islamwissenschaftler Reinhard Schulze, »sondern die säkulare Universität bedingt eine Ordnung von ›islamischem‹ Wissen, die dem Charakter einer säkularen Universität entspricht«24. Voraussetzung ist, dass beide Ordnungen, »Religion und Gesell-
20 Özsoy, Ömer: »Darf der Koran historisch-hermeneutisch gelesen werden?«, in: Urs Altermatt/Mariano Delgado/Guido Vergauwen (Hg.): Der Islam in Europa. Zwischen Weltpolitik und Alltag, Stuttgart: Kohlhammer 2006, S. 153-160. 21 Krainz, Ulrich: Religion und Demokratie in der Schule. Analysen zu einem grundsätzlichen Spannungsfeld, Wiesbaden: Springer VS 2014, S. 61. 22 Ebd. 23 Ebd. 24 Schulze, Reinhard: »Islamische Studien und Islamwissenschaft: Sieben Thesen zur notwenigen Differenzierung«, in: Mouhanad Khorchide/Marco Schöller (Hg.): Das
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schaft, als komplementär, sich gegenseitig anerkennende Ordnungen angesehen werden«25.
5. W AHRHEIT , G EWISSHEIT , K ONTINGENZ Im Lichte des bisher Gesagten zeigt sich klar, dass die Frage nach der Wahrheit und der Gewissheit in der einen oder anderen Weise das Kernanliegen aller erwähnten Diskurse bildet. Daher soll es in der islamischen Theologie und Religionspädagogik der Gegenwart, wie auch in jeder anderen Theologie und Religionspädagogik, unter anderem um die Auslotung eines kontextsensiblen Zugangs zur Problematik der Wahrheit und der Gewissheit gehen. Die religionspädagogische Aufgabe besteht darin, die Kontingenzsensibilität zu stärken und das Bewusstsein der eigenen Beschränktheit nicht defizitär zu qualifizieren, sondern produktiv zu gestalten. Gerade in diesem Zusammenhang muss deutlich gemacht werden, dass es nicht um Kontingenzbewältigung gehen kann, sondern darum, sich in Auseinandersetzung mit der Kontingenz begeben zu können. Religionspädagogisch betrachtet erweist sich »der tiefere Glaube … nicht in der Abwesenheit des Zweifels, sondern in dessen steter Bearbeitung«. Die »islamische Theologie sollte folglich mehr die Haltung des Fragens kultivieren. Ihre Aufgabe läge weniger darin, Antworten vorzugeben als vielmehr Antworten zu ermöglichen«.26 Denn nicht Antworten öffnen die Welt, sondern Fragen. »Nicht von Antwort zu Antwort wachsen wir, sondern von Frage zu Frage.« 27, so Lotte Ingrisch. Eine solche Haltung würde der Religion, in diesem Fall dem Islam, seine zurzeit verlorene Kompetenz, die ganze Menschheit anzusprechen, wiedergeben und ihm ermöglichen, theologische und religionspädagogische Konzeptionen zu entwickeln, die, wie einer meinen Kollegen sagte, »sowohl Hassan als auch Hans« ansprechen.
Verhältnis zwischen Islamwissenschaft und islamischer Theologie. Beiträge der Konferenz Münster, 1.-2. Juli 2011, Münster: agenda 2012, S. 183-191, hier S. 183. 25 Ebd. 26 H. Behr: Kritik. 27 Zitiert nach: Brunner, Hans/Knitel, Dietmar/Resinger Paul J./Mader Robert: Leitfaden zur Bachelor- und Masterarbeit: Einführung in wissenschaftliches Arbeiten und berufsfeldbezogenes Forschen an Hochschulen und Universitäten, Marburg: Tectum Wissenschaftsverlag 2015, S. 129.
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Auch wenn diese kontingenzsensible Haltung auf den ersten Blick, speziell im religiösen Bereich, als unzumutbar erscheint, so stellt sie doch eine Maxime jeder theologischen und religionspädagogischen Überlegung dar, die ihre primäre Aufgabe darin sieht, die eigene Religion als eine besondere Weise, Mensch zu sein, zu verstehen. So gesehen sollte auch der Islam als eine der hervorragenden Möglichkeiten und Wege, »Mensch zu sein«28, verstanden werden. Dass die Entwicklung einer Kontingenzsensibilität, trotz aller Schwierigkeiten machbar ist, zeigen auf beeindruckende Weise die Gedanken eines Schamanen, mit deren Wiedergabe ich meinen Vortrag auch beenden will: Frage: »Warum sollte man einen spirituellen Weg einschlagen, wenn man am Ende nur zu dem Wissen gelangt, dass man nichts weiß?« Schamane: »Es liegt eine Schönheit in dieser Art des Nichtwissens. Es ist ein bewusstes Nichtwissen und kein ahnungsloses. Und mit der Zeit gelangst du an einen Punkt, an dem du dich mit der Vorstellung, dass du nichts weißt, anfreundest. Du hast dich so weit entwickelt, dass dieses Nichtwissen tatsächlich zum Vergnügen wird, weil du dadurch offen bleibst, um deine Wahrnehmung ständig zu erweitern. Das ist wie ein Tanz, zur selben Zeit gefestigt und offen zu bleiben. Es ist wirklich ein interessanter Tanz, da er eine Fertigkeit ist. Jeder kann eine Fertigkeit erlernen, aber diese Art der Fertigkeit ist sehr schwer zu erlernen, da sie so gegensätzlich zu unserer gewohnten Denkweise ist. Du musst wissen, dass du im Grunde nichts weißt und dich damit zufriedengeben. Auf diese Weise bleibst du immer offen für das Mysterium. Meiner Ansicht nach ist es das, was jeder gute spirituelle Weg lehren sollte.«29
28 Smith, Wilfred C.: On understanding Islam (= Selected studies, Band 19), The Hague, Paris, New York: Mouton 1981, S. 12. 29 Kalisch, Sven: »Religion und Gewissheit – Anmerkungen zu einem epistemologischen Problem und eine schamanische Lösung«, in: Jürgen Werbick/Muhammad Sven Kalisch/Klaus von Stosch (Hg.): Verwundete Gewissheit. Strategien zum Umgang mit Verunsicherung in Islam und Christentum, Paderborn, München, Wien, Zürich: Schöningh 2010, S. 31-52, hier S. 51.
Pluralität als Wille Gottes E DNAN A SLAN (W IEN )
Die Muslime haben im Lauf ihrer Geschichte verschiedene Vorstellungen davon entwickelt, wie das Zusammenleben mit Vertretern anderer Religionen zu gestalten sei und welche Stellung ihnen in einem muslimisch geprägten Land zukommen solle – Rechte und Pflichten von Juden und Christen wurden in einer Vielzahl von theologischen Werken detailliert niedergelegt. Was in all diesen Werken hingegen fehlt, sind Überlegungen zur Partizipation der religiösen Minderheiten an der Macht – außer in einigen Sufi-Schriften bleibt eine Auseinandersetzung mit der Sonderstellung der religiösen Minderheiten und ihren – aus theologischer Sicht dem institutionalisierten Islam gegenüber minderwertigen – Wertevorstellungen aus.1 Nun sind die einst entwickelten Konzepte zur Stellung religiöser Minderheiten in Verhältnissen eines global durchgesetzten Pluralismus längst nicht mehr imstande, den Herausforderungen der Gegenwart zu begegnen, geht es doch heute nicht mehr um die Begründung der wechselseitigen Duldung von verschiedenen Religionen, sondern darum, deren Pluralitätsfähigkeit auszugestalten, um – als weiteren Schritt in Richtung einer hochentwickelten Gesellschaft – ein friedliches Zusammenleben ohne den Absolutheitsanspruch einer bestimmten Religion oder Weltanschauung zu gewährleisten. So, wie sich die christlichen Religionen angesichts geänderter globaler Verhältnisse gezwungen sahen, ihre eigene Theologiegeschichte kritisch zu beleuchten, sind auch die Muslime auf-
1
Vgl. Aydın, Mahmut: »Dinsel çoğulculuk üzerine bir müslüman mülahazası«, in Mahmut Aydın (Hg.): Hristiyan, Yahudi ve Müslüman Perspektifinden Dinsel Çoğulculuk ve Mutlaklık Ġddaları, Ankara: Ankara Okulu Yayınları 2005, S. 87-128, hier S. 92.
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gerufen, ihre Stellung anderen Religionen gegenüber zu hinterfragen und im Sinne des Korans und der Tradition des Propheten weiterzudenken. Freilich müsste jegliche Erwartung, auf der Suche nach fertigen Konzepten in der eigenen Geschichte fündig zu werden, zu Enttäuschung oder Isolation führen – Fragen, die die Lebenswelt von heute aufwirft, waren und sind in der Geschichte des Islams unbekannt. Wir sehen unseren Glauben nicht als etwas, das sich fortlaufend verändert. Wir suchen ständig nach festen Konzepten wie dem Konzept von Medina und jenem von Mekka. Aber beide sind allzu simpel: vor der Hidschra und nach der Hidschra. Im mekkanischen Konzept waren wir die Opfer; im Konzept von Medina haben wir gewonnen und waren die Herrschenden. Beide sind aber für eine offene und pluralistische Gesellschaft nicht geeignet, denn hier geht es immer um Geben und Nehmen.
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Ein Blick in die aktuelle Forschungslandschaft in den islamischen Ländern zeigt, dass leider sehr wenige muslimische Wissenschaftler sich mit der Frage der Pluralitätsfähigkeit des Islams befassen. Nach wie vor wird die Stellung der religiösen Minderheiten ausschließlich auf der Grundlage eines institutionalisierten Islams debattiert. Das aber generiert unweigerlich weitere Widersprüche und Konflikte, entspringt diese Herangehensweise doch nicht der Anerkennung der Gleichwertigkeit der Religionen, sondern der Abwertung anderer Religionen und verunmöglicht damit die Entstehung pluralitätsfähiger theologischer Konzepte. 3 Die in Europa lebenden Muslime, die mit religiöser und kultureller Vielfalt konfrontiert sind, stehen – mehr als ihre Glaubensgenossen in den islamisch geprägten Ländern – vor der Aufgabe, ihre eigene Theologie in diesen Verhältnissen weiterzudenken, weil davon die Zukunft des Islams in Europa entscheidend abhängt. Dabei dürfen sie sich nicht von den Leistungen anderer Religionen abhängig machen; vielmehr müssen sie sich bemühen, ihre eigene Theologie in einem aktiven Dialog mit anderen Religionen im europäischen Kontext neu zu prägen, die Widersprüche zwischen Islam und pluralistischer Gesellschaft aus den dem Islam eigenen Denktraditionen heraus aufzulösen und entsprechende Impulse in Richtung der islamischen Länder zu senden – sozusagen als Beweis
2
Esack, Farid: »Deutsche Muslime sind nur Mitreisende«, in: http://de.qantara.de/inhalt/ interview-mit-dem-islamischen-theologen-farid-esack-deutsche-muslime-sind-nurmitreisende (10.04.2015).
3
Vgl. Karaman, Hayrettin: »Demokrasi çoğulculuk, laiklik ve Ġslam«, in: http://www. yenisafak.com.tr/yazarlar/HayrettinKaraman/demokrasi-cogulculuk-laiklik-ve-islam/ 53629 (03.04.2014).
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dafür, dass sich auch mit einem koranischen Konzept eine pluralistische Gesellschaft begründen lässt. Ein diesbezüglicher Ansatz – der in der Folge vorgestellt werden soll – erfordert zunächst eine Analyse des muslimischen Religionsverständnisses unter Berücksichtigung der neuen Verhältnisse, um im Anschluss daran Aussagen über allfällige Konsequenzen treffen zu können. Auf dieser Grundlage könnte ein Konzept für die Pluralitätsfähigkeit des Islams entstehen, das es erlaubt, die muslimische religiöse Praxis den realen Lebensverhältnissen gemäß zu begründen bzw. weiterzuentwickeln.
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Dīn4 wird im Koran an über 90 Stellen in vier Dimensionen beschrieben. In der ersten Dimension hat der Begriff dīn mit der gelebten Wirklichkeit zu tun, insofern, als er die Traditionen und Gewohnheiten einer Kultur und Gesellschaft definiert – ittakhadhū dīnahum lahwan wa-la’ban (7:51). Weiters umfasst er die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft im Sinne der Orientierung der Gesellschaft, aber ebenso einer Person – al-dīn al-hanīf, sirātin mustaqīmin dīnan, shara'a lakumu ’l-dīna (6:161). Dīn inkludiert auch den Gottesbezug des Menschen, als solcher bringt er dessen Verhältnis bzw. Vertrauen zu Gott zum Ausdruck – aldīn al-qayyim (30:30). Auf die Gesellschaft bezogen beschreibt dieser Terminus schließlich sowohl die sozialen als auch die rechtlichen Verhältnisse in einer Gesellschaft – yawm al-dīn, ahu’l-dīna (10:105). Diesen Ausführungen ist zu entnehmen, dass der Begriff dīn als Bezeichnung für Religion nicht ausschließlich vom institutionalisierten, von Prophet Muhammad verkündeten Islam in Anspruch genommen werden kann: Tatsächlich rekurriert die āya »Für euch euer Moralgesetz, und für mich meines« (109:6)5 auch auf die Lebensweise und Moraleinstellungen der nicht muslimischen Mekkaner.6
4
Zu einer ausführlichen Erläuterung vgl.: Esack, Farid: The Qur’an, Liberation & Pluralism: An Islamic Perspective of Interreligious Solidarity against Oppression, Oxford: Oneworld 1997, S. 128; Asad, Muhammad: The Message of the Qur’an translated and explained by Muhammad Asad, Gibraltar: Dar Al-Andalus 1980, Fußnote 249.
5
Sämtliche im Beitrag angeführten deutschsprachigen Koranzitate aus: Asad, Muhammad: Die Botschaft des Koran. Übersetzung und Kommentar, Ostfildern: Patmos 2012.
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Als Grund für die Herabsendung dieser Sure berichtet Tabari: Die Kureischiten boten dem Propheten Muhammad Geld und Frauen ganz nach seinem Wunsch, damit er sich
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Demnach werden in der Lehre des Korans alle Religionen, die sich auf Gott berufen, im Hinblick auf ihren Wesenskern als dīn bezeichnet. Alles, was über diesen Wesenskern hinausgeht, gilt nicht als Teil von dīn, sondern als theologische Wunschvorstellung. Und sie behaupten: »Keiner wird jemals in das Paradies eingehen, es sei denn, als Jude oder Christ.« So sind ihre Wunschglaubensvorstellungen! Sag: »Bringt einen Beweis hervor für das, was ihr behauptet, wenn, was ihr sagt, wahr ist.« (2:111) Überdies versichern die Juden: »Die Christen haben keine gültige Grundlage für ihre Glaubensvorstellungen«, während die Christen behaupten: »Die Juden haben keine gültige Grundlage für ihre Glaubensvorstellungen«, und beide zitieren die göttliche Schrift! Ebenso wie das, was sie sagen, haben (immer) jene gesprochen, die bar des Wissens waren; aber Gott ist es, der zwischen ihnen am Auferstehungstag richten wird hinsichtlich all dessen, worüber sie uneins zu sein pflegten. (2:113)
Den durch Verweis auf die eigenen Quellen untermauerten Anspruch von Christen und Juden versucht der Koran zu entkräften, indem er benennt, was das Wesentliche in einer Religion ausmacht: Ja, fürwahr: jeder, der sein ganzes Wesen Gott ergibt und überdies Gutes tut, wird seinen Lohn bei seinem Erhalter haben; und alle solche brauchen keine Furcht zu haben, noch sollen sie bekümmert sein. (2:112)
Diese āya vermeidet jegliche Hervorhebung einzelner Religionen bzw. religiöser Gruppen und verweist stattdessen auf die persönliche Handlung und Verantwortung des Individuums – nicht der soziale Rang und Status und auch nicht die Stammes- bzw. Gruppenzugehörigkeit eines Menschen sind ausschlaggebend für seine Qualität als Mensch; entscheidend sind seine individuellen Werke unabhängig von seiner religiösen Zugehörigkeit.7 Allein den Islam mit seinen institunicht mehr für die Verbreitung des Islams einsetze. Als der Prophet dieses Angebot ablehnte, kamen sie mit einem weiteren Angebot: Der Prophet möge die mekkanischen Göttinnen Lat und Uzza anbeten, dafür würden die Mekkaner im Gegenzug den Gott des Propheten Muhammad anbeten. Mit der Herabsendung dieser Sure verwies Gott auf die Grenzen der verschiedenen Religionen. Vgl.: Abū Jaʿfar Muhammad b. Jarīr al-Tabarī: The commentary on the Qur’ān: being an abridged translation of Jāmiʿ al-bayān ʿan taʾwīl āy al-Qurʾān, Oxford: Oxford University Press 1930, Sure 109. 7
Dies gilt für Muslime ebenso wie für die Angehörigen anderer Religionen. »(Aber) sie sind nicht alle gleich: unter den Anhängern früherer Offenbarung gibt es aufrechte
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tionalisierten Strukturen als dīn zu verstehen, würde dem Wesen des Islams nicht gerecht. Siehe, die einzige (wahre) Religion in der Sicht Gottes ist (der Menschen) Selbstergebung in Ihn; und jene, denen vordem Offenbarung gewährt wurde, nehmen aus gegenseitiger Eifersucht unterschiedliche Ansichten (über diesen Punkt) erst an, nachdem Wissen (davon) zu ihnen gekommen war. Aber was den angeht, der die Wahrheit von Gottes Botschaften leugnet – siehe, Gott ist schnell im Abrechnen. (3:19)
Auch in dieser āya wird deutlich, dass mit der wahren Religion keineswegs ausschließlich der Islam als institutionalisierte Religion gemeint ist, stattdessen erfolgt der Hinweis auf den gemeinsamen Ursprung aller Religionen, von denen jene, über die der Koran spricht, als »Islam« bezeichnet wird. Auch an dieser Stelle werden die Menschen nicht für die Abweichung von einer institutionalisierten Religion, sondern – wie auch in āya 2:112 – von den guten Werken und Wohltaten, die von ihnen erwartet werden, kritisiert. Der Islam ist hier also weniger als Religion, sondern vielmehr als allgemeine Bezeichnung für die guten Werke guter Menschen zu verstehen. Jene Menschen jedoch, die ihre individuelle Verantwortung Gott und den anderen Menschen gegenüber ignorieren, verstoßen nicht nur gegen eine bestimmte Religion, sondern gegen ihre eigenen Naturveranlagungen (fītra).
Leute, die Gottes Botschaften die Nacht hindurch rezitieren und sich (vor Ihm) niederwerfen. Sie glauben an Gott und den letzten Tag, und gebieten das Tun dessen, was recht ist, und verbieten das Tun dessen, was unrecht ist, und wetteifern miteinander im Tun guter Werke: und diese sind unter den Rechtschaffenden. Und was immer Gutes sie tun, ihnen wird niemals der Lohn davon verweigert werden: denn Gott hat volles Wissen von jenen, die sich Seiner bewusst sind.« (3:113-115) Bemerkenswert ist der Offenbarungsgrund für die āya 3:113 (das durch Gott ausgesprochene Verbot der Hervorhebung anderer Religionen): »Ibn Mas‘ud who said: ›The Messenger of Allah, Allah bless him and give him peace, delayed the time of the nightfall prayer. When he came out to lead the prayer, he found people waiting for the prayer. He said: ›There is no one among the adherents of other religions who is remembering Allah, exalted is He, at this hour except you.‹ And Allah, exalted is He, revealed these verses (They are not all alike. Of the People of the Scripture there is a staunch community who recite the revelations of Allah in the night season ...) up to His saying.‹« Siehe al-Wāhidī, Alī ibn Ahmad: Asbāb al-Nuzūl. Translated by Mokrane Guezzou, Amman, Jordan: Royal Aal al-Bayt Institute for Islamic Thought 2008, S. 39.
38 | E DNAN A SLAN Und so richte dein Gesicht unverwandt auf den (einen immer wahren) Glauben hin und wende dich ab von allem, was falsch ist, in Übereinstimmung mit der natürlichen Veranlagung, die Gott dem Menschen eingegeben hat: (denn) keine Veränderung zum Verderben dessen, was Gott also erschaffen hat, zu erlauben – dies ist der (Zweck des einen) immer wahren Glaubens; aber die Menschen wissen es nicht. (30:30) UND SIE sagen: »Seid Juden – oder Christen – und ihr werdet auf dem rechten Pfad sein.« Sag: »Nein, sondern (unser ist) das Glaubensbekenntnis Abrahams, der sich von allem abwandte, was falsch ist, und nicht einer von jenem war, die etwas anderem neben Gott Göttlichkeit zuschreiben.« (2:135) In Sachen des Glaubens hat Er für euch das verordnet, was Er Noah geboten hatte – und worin Wir (o Muhammad) durch Offenbarung Einsicht geben – wie auch das, was Wir Abraham und Moses und Jesu geboten hatten: Haltet den (wahren) Glauben standhaft aufrecht und spaltet nicht eure Einheit darin. (42:13)
Im Kern ist das, was der Koran als dīn bezeichnet, ein geistiger, ein Bewusstseinszustand, der der Naturveranlagung der Menschen entspricht. Dīn ist die Menschheitsgeschichte hindurch unverändert geblieben, ungeachtet der unterschiedlichen Offenbarungen, die den Menschen in den verschiedenen Kulturkreisen, unter unterschiedlichsten Verhältnissen und Sprachen zuteil wurden. Die Vielfalt der Offenbarungen ist eine der Form, ist also nicht deren jeweiliger Kernbotschaft geschuldet. Und dir (o Prophet) haben wir diese göttliche Schrift gewährt, die Wahrheit darlegend, die Wahrheit dessen bestätigend, was immer von früherer Offenbarungen noch erhalten ist, und festlegend, was darin wahr ist. Richte denn zwischen den Anhängern früherer Offenbarung in Übereinstimmung mit dem, was Gott von droben erteilt hat, und folge nicht ihren irrigen Ansichten, die Wahrheit verlassend, die zu dir gekommen ist. (5:48)
Die von Gott für verschiedene Kultur- und Sprachkreise erlassenen unterschiedlichen gesellschaftlichen Regeln sind nicht unbedingt als Teil von dīn zu betrachten, weil die Bedürfnisse und Erwartungen der Menschen einem Wandel unterliegen, der Kern von dīn aber, der auf Gerechtigkeit und Solidarität beruht, unverändert blieb. Aus der Tradition des Propheten wird überliefert, dass er den Kern seiner Botschaft darin sah, allen Religionen in Medina dieselbe moralische Verantwortung für die Gesellschaft zu übertragen und sich selbst als Richter über die Einhaltung dieser moralischen Regeln einsetzte. Der Koran berichtet davon, dass
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der Prophet die Juden und Christen nicht nach den Regeln des Islams, sondern nach deren eigenen moralischen und theologischen Regeln richtete und großen Wert darauf legte, dass Juden und Christen gemäß ihrer eigenen Wertevorstellungen handeln.8 Demgemäß sieht auch Matūridī šarīʿa nicht als einen verbindlichen Teil von dīn, weswegen er dīn und šarīʿa getrennt voneinander betrachtet hat. Nach ihm ist dīn unveränderlich, während die šarīʿa – so, wie die Gesellschaft – einem dynamischen Prozess unterliegt.9 Muhammad Asad betrachtet dīn als die durch ethische Handlungen der Menschen gestaltete moralische Prägung einer Gesellschaft. Die Bezeichnung »din« bezeichnet sowohl den Inhalt als auch die Befolgung eines moralisch verbindlichen Gesetzes; folglich bedeutet sie »Religion« im weitesten Sinn dieses Begriffs, der sich auf alles erstreckt, was seine Lehren und deren praktische Konsequenzen betrifft, wie auch die Haltung des Menschen zum Gegenstand seiner Anbetung, und schließt somit auch den Begriff des »Glaubens« ein. Die Übertragung von din mit »Religion«, »Glauben«, »religiöses Gesetz« oder »Moralgesetz« hängt vom Kontext ab, in dem dieser Begriff verwendet wird. – Auf der Grundlage des obigen kategorischen Verbots von Zwang (ikrah) in allem, was zum Glauben oder zur Religion gehört, vertreten alle islamischen Juristen (fiqaha) ausnahmslos die Ansicht, dass eine erzwungene Konversion unter allen Umständen null und nichtig ist und dass jeder Versuch, einen Nichtgläubigen zu zwingen, den Glauben des Islams anzunehmen, eine schwere Sünde ist: ein Urteil, das mit dem weitverbreiteten Trugschluss aufräumt, der Islam stelle die Ungläubigen vor die Alternative von »Konversion oder das Schwert«.
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Siehe die Herabsendungsgründe für die āya: »Darum richte zwischen den Anhängern früherer Offenbarung in Übereinstimmung mit dem, was Gott von droben erteilt hat, und folge nicht ihren irrigen Ansichten; und hüte dich vor ihnen, damit sie dich nicht von etwas weglocken, was Gott dir von droben erteilt hat. Und wenn sie sich (von Seinen Geboten) abwenden, dann wisse, dass es nur Gottes Wille ist, sie (also) für einige ihrer Sünden heimzusuchen: denn, siehe, sehr viele Leute sind fürwahr frevelhaft.« (5:49) »Wünschen sie etwa (durch) das Gesetz der heidnischen Unwissenheit (regiert zu werden)? Aber wer könnte für Leute, die innere Gewissheit haben, ein besserer Gesetzgeber sein als Gott?« (5:50)
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Vgl. Özcan, Hanifi: Matüridi’de Dini Çoğulculuk, Istanbul: MÜ. Ilahiyat Fakültesi Vakfi Yayinlari 2013.
10 M. Asad, Die Botschaft des Koran, S 95.
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Nach dieser kurzen Darstellung des Begriffs dīn können wir uns nun dem Begriff »Islam« zuwenden.
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Der Umstand, dass die Begriffe »Islam« und »Muslim« eine bestimmte Religion und ihre Angehörigen bezeichnen, hat seine Wurzeln nicht im Koran, sondern in der Theologiegeschichte des Islams. Der Koran versteht unter diesen Begriffen die »Gottergebenheit« und das »Gottesbewusstsein« der Menschen. Diese Gottergebenheit ist im Sinne des Korans nicht als blinder Gehorsam, sondern als mündiges Gott-Mensch-Verhältnis zu verstehen. Als Beleg dient das Beispiel Abrahams, der sich dagegen wehrt, die unreflektierte religiöse Zugehörigkeit oder buchstabengetreuen Gehorsam als Gottergebenheit zu betrachten. Abraham war weder ein Jude noch ein Christ, sondern er war einer, der sich von allem abwandte, was falsch ist, da er sich Gott ergeben hatte; und er war nicht einer jener, die etwas anderem neben ihm Göttlichkeit zuschreiben. (3:67)
Der Begriff »Muslim« wird im Koran neben Ibrahim auch für die Söhne von Yaqub (2:133) und die Apostel von Jesus verwendet. Selbst Pharao soll laut dem Koran, als er dem Ertrinken nahe war, sich als »Muslim« bezeichnet haben (... wa ana min al Muslimīn).11 Daraus folgt, dass die theologische Definition von »Islam« und »Muslim« nicht mit der koranischen Beschreibung beider Begriffe übereinstimmt. 12 Bei Ersterer
11 »Ich bin zum Glauben gekommen, dass es keine Göttlichkeit gibt außer Ihm, an den die Kinder Israels glauben, und ich bin von jenen, die sich Ihm ergeben.« (10:90) 12 Muhammad Asad kommentiert die āya, in der der Begriff »Muslim« zum ersten Mal in der Geschichte des Korans verwendet wird – »Denn siehe, es sind (allein) die Gottesbewussten, die Gärten der Seligkeit bei ihrem Erhalter erwarten: oder sollen Wir etwa jene, die sich Uns ergeben, so behandeln wie (Wir) jene (zu behandeln pflegen), die in Sünde verloren bleiben?« (68:34-35) –, wie folgt: »Dies ist das früheste Vorkommen des Begriffs muslimun (sing. muslim) in der Geschichte der koranischen Offenbarung. Überall in diesem Werk habe ich die Begriffe muslim und islam in Übereinstimmung mit ihren ursprünglichen Bedeutungen übersetzt, nämlich ›einer, der sich Gott ergibt‹ (oder ›ergeben hat‹) und ›die Selbstergebung des Menschen in Gott‹; dasselbe gilt für alle Formen des Verbs aslama, die im Koran vorkommen. Man beachte,
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steht die Institutionalisierung einer Religion im Vordergrund, der Koran betont demgegenüber die Förderung des religiösen Gottesbewusstseins als universales Erkennungsmerkmal der Gottergebenheit. Daraus gewinnen die beiden Begriffe »Islam« und »Muslim« eine neue Bedeutung, die nicht nur eine bestimmte institutionalisierte Religion (šarīʿa-Islam), sondern die Glaubensgrundlage für alle gottergebenen Menschen umfasst.13 Okuyan und Öztürk kritisieren die Reduzierung des Muslimseins auf die Durchführung bestimmter religiöser Rituale und sprechen sich dagegen aus, die Begriffe »Islam« oder »Muslim« nur im Zusammenhang mit den Angehörigen der durch Muhammad verkündeten Religion zu verwenden: Eine āya aus dem Koran wie »Vor Gott ist der Islam die einzige Religion« oder »Gott hat für euch als Religion den Islam bestimmt« wurde nur auf den institutionalisierten Islam bezogen, die Menschen, die außerhalb dieser Institution sind, wurden als »Kafir« bezeichnet. Aus dieser allgemein ausschließenden Position heraus wurden die Inhalte des Korans, die die Andersgläubigen loben, unterschiedlich interpretiert oder auf die Juden und Chris14
ten aus der Zeit des Propheten reduziert und eine solche āya für abrogiert erklärt.
Der Koran vermeidet ausdrücklich die pauschalisierende Bezugnahme auf den Menschen ohne individuelle Eigenschaften, war es doch das Anliegen des Islams, die Menschen von der Festlegung auf eine Gruppen- oder Sippenzugehörigkeit – wie sie für die vorislamischen Araber kennzeichnend war – zu befreien. Durch sein Bekenntnis zum Islam ist der gläubige Mensch zwar ein Mitglied der islamischen Gemeinschaft, sein bewusstes Bekenntnis zum Islam macht ihn jedoch zu einem Individuum, das sich über die Stammeszugehörigkeit hinwegsetzt, durch die ihm zuvor ein fester Platz zugewiesen worden war. Diese neue Person ist in der Lage, autonome Entscheidungen zu treffen, wozu er zuvor weder die Erlaubnis noch die Verpflichtung hatte, sofern er nicht das unangefochtene Gruppenoberhaupt war. dass der ›institutionalisierte‹ Gebrauch dieser Worte – d. h. ihre ausschließliche Anwendung auf die Anhänger des Propheten Muhammad – eine definitiv nach qur’anische Entwicklung darstellt und daher in einer Übersetzung des Koran vermieden werden muss.« M. Asad, Die Botschaft des Koran, S 1086. 13 »Siehe, die einzige (wahre) Religion in der Sicht Gottes ist (des Menschen) Selbstergebung in ihn.« (3:19), oder »Denn wenn einer auf die Suche geht nach einer anderen Religion als Selbstergebung in Gott, wird sie niemals von ihm angenommen werden, und im kommenden Leben wird er unter den Verlorenen sein.« (3:85) 14 Okuyan, Mehmet, Öztürk, Mustafa: »Kur’an verilerine göre ›Öteki’nin Konumu‹«, in: Yaran, Cafer: Islam ve Öteki, Istanbul: Kaknus 2001, S.174-175.
42 | E DNAN A SLAN Unter Autonomie muss man das besondere Etwas einer Person verstehen, die Tatsache ihrer Singularität. Zu erklären, dass die Personen autonom sind, heißt zu behaupten, dass es keinen menschlichen Prototyp gibt, kein Muster, nach dem alle Personen zugeschnitten wären: Jede hat ihre eigene Berufung, unerschöpfliche Quelle der Spontaneität und Initiative.
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Damit stand die islamische Bildung vor der Aufgabe, den Menschen durch Erziehung zu der Mündigkeit zu befähigen, die es ihm erlauben würde, sich von blinder Unterwerfung unter gesellschaftliche Zwänge zu befreien und eine kritische Loyalität seiner Gemeinde gegenüber zu entwickeln. Auf der anderen Seite inkludiert der Universalismus des Islams nicht nur die Muslime, sondern fordert auch die Andersgläubigen auf, sich für das Wohl der Gesellschaft einzusetzen. Auf ganz besonders bemerkenswerte Weise kommt die universale Verantwortung aller Menschen in der Begebenheit zum Ausdruck, in der ein Gefährte des Propheten Muhammad, der als Salman der Perser bekannt ist, von seinen christlichen Freunden berichtete, mit welchen er sehr lange zusammenlebte, gemeinsam betete und gute Erfahrungen machte. Einige von ihnen sollen den Überlieferungen zufolge dem Gefährten sogar empfohlen haben, Prophet Muhammad zu besuchen. Auf seine positiven und wohlwollenden Berichte über diese Christen erwiderte der Prophet: »Sie sind alle in der Hölle!«16 Diese Antwort stürzte Salman in einen schweren Gewissenskonflikt, weil er sich diese Menschen mit ihren Wohltaten und ihrem aufrichtigen Glauben nicht in der Hölle vorstellen konnte. Diese āya, die sogar den Propheten zurechtwies, holte Salman aus seiner Betrübnis – weil sie klarstellte, dass Gott die Rettung und das Heil der Menschen allein von den drei Bedingungen Glauben an den einen Gott, Glauben an den Tag des Gerichts und rechtschaffenes Handeln im Leben abhängig gemacht hat.17 Diese Episode gilt als der Offenbarungsgrund der folgenden āya: WAHRLICH, jene, die Glauben (an diese göttliche Schrift) erlangt haben, wie auch jene, die dem jüdischen Glauben folgen, und die Christen und die Sabier – alle, die an Gott und den Letzten Tag glauben und rechtschaffene Taten tun – werden ihren Lohn bei ihrem Erhalter haben; und keine Furcht brauchen sie zu haben, noch sollen sie bekümmert sein. (2:62)
15 Lahbabi, Mohamed Aziz: Der Mensch: Zeuge Gottes, Freiburg: Herder 2011, S. 61. 16 al-Wāhidī: Asbāb al-Nuzūl, S. 22. 17 Vgl. M. Asad: Die Botschaft des Koran, S. 41.
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Aus dieser āya geht hervor, dass Muslim zu sein jenseits der religiösen Zugehörigkeit als Ausdruck einer gerechten Lebensweise zu verstehen ist, die die Glaubens- und Handlungsgrundlage für alle rechtschaffenen Menschen bildet. Rechtschaffenes Handeln kann sich in verschiedenen Religionen auf unterschiedliche Weise in den Ritualen zeigen. Entscheidend ist jedoch, was aus diesen Ritualen entsteht oder wie diese Rituale wirken. Den Glauben auf diese rituellen Handlungen einzuschränken, mag eine bestimmte religiöse Zugehörigkeit ausdrücken, nicht aber die erwünschte gesellschaftliche Wirkung zeitigen, die Gott von Menschen verlangt: DIE BEDUINEN sagen: »Wir haben Glauben erlangt.« Sag (zu ihnen, o Muhammad): »Ihr habt (noch) nicht Glauben erlangt; ihr solltet (vielmehr) sagen: ›Wir haben uns (äußerlich) ergeben‹ – denn (wahrer) Glaube ist in eure Herzen noch nicht eingezogen. Aber wenn ihr (wahrhaft) auf Gott und Seine Gesandten acht gebt, wird Er nicht die geringste eurer Taten verfallen lassen: denn ›siehe, Gott ist vielvergebend, ein Gnadenspender.‹« (49:14)
Mahmut Aydin ergänzt diese āya durch einen Kommentar dazu, wie Muslime ihre eigene Haltung gegenüber Andersdenkenden und Andersgläubigen weiterdenken sollten: Neben dieser allgemeinen Bedeutung bringt diese āya ein aktuelles Problem der muslimischen Gemeinschaften im Umgang mit Vielfalt und Einheit zum Ausdruck. Danach entsteht die Frage, ob eine Rechtsschule, theologische Erklärung oder eine Ideologie einen Muslim/eine Muslimin als ungläubig erklären kann. Wenn wir die Antwort auf diese Frage im Koran suchen, finden wir eine beeindruckende Antwort: » … und sagt nicht – aus einem Verlangen nach den flüchtigen Gewinnen dieses weltlichen Lebens – zu einem, der euch den Friedensgruß entbietet: ›Du bist keiner der Gläubigen.‹« (4:94) … Unabhängig vom Bekenntnis zur religiösen Pluralität auf der Grundlage des Glaubens sind die Muslime leider noch nicht einmal in der Lage, sich zur Vielfalt in ihrer eignen Gesellschaft zu bekennen.
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18 M. Aydın: »Dinsel çoğulculuk üzerine bir müslüman mülahazası«, S. 119.
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Der folgende Abschnitt widmet sich dem Thema Pluralität als einem Gesellschaftskonzept des Islams im Lichte koranischer und prophetischer Traditionen. Dabei werden entgegengesetzte Konzepte nicht ignoriert, vielmehr wird auf die Notwendigkeit einer Neuprägung des Islams unter geänderten gesellschaftlichen Verhältnissen hingewiesen, als Voraussetzung für eine Versöhnung der Widersprüche zwischen gelebter Religiosität und starrer Theologie. Pluralität als ein Gesellschaftskonzept des Islams In der Frühzeit des Islams führte die Begegnung mit anderen Kulturen und Religionen dazu, dass die Muslime ihr religiöses Verständnis auch hinsichtlich des theologischen Umgangs mit Andersgläubigen oder Andersdenkenden zu überprüfen hatten. Erste Hinweise zur Stellung der Juden, Christen und Andersdenkenden neben dem Koran liefert die Verfassung von Medina, die die Andersgläubigen als einen Teil der muslimischen Gemeinde, der umma, fasste und ihnen dieselben Rechte zugestand, die die Muslime hatten: They are one community (umma) to the exclusion of all men.
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Diese Inklusion verpflichtete die Andersgläubigen nicht zur Befolgung der islamischen Lebensweise, sondern gestand ihnen ihre eigene Lebensweise gemäß ihrer Moral zu. Der Prophet Muhammad sah sich nicht nur als Hüter der islamischen, sondern auch der jüdischen und christlichen Moral. 20 Die Anhänger des Evangeliums sollen denn in Übereinstimmung mit dem richten, was Gott offenbart hat: denn diejenigen, die nicht im Lichte dessen richten, was Gott von droben erteilt hat – sie sind es, die wahrhaft frevelhaft sind. (5:47)
Die Verantwortung der Muslime, sich für die Präsenz der Religionen in der Gesellschaft einzusetzen, damit die als Wille Gottes verstandene religiöse Viel-
19 Guillaume, Alfred: The Life of Muhammad – A Translation of Ishaq’s Sirat Rasul Allah. Karachi: Oxford University Press 1955, S. 231-233. 20 Zu näheren Ausführungen siehe: al-Wāhidī: Asbāb al-Nuzūl, S. 69.
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falt sichtbar bleibe, wird auch in einer weiteren āya, die für die Handlung des Propheten die Grundlage bildete, bekräftigt: Denn wenn Gott die Leute nicht befähigt hätte, sich gegeneinander zu verteidigen, wären (alle) Klöster und Kirchen und Synagogen und Moscheen – in denen (allen) Gottes Name reichlich lobgepriesen wird – sicherlich (bereits) zerstört worden … (22:40)
Dass in der Theologiegeschichte des Islams Andersgläubige als Angehörige einer minderwertigen Religion mit Sondergesetzen behandelt wurden, ist als Abweichung von der koranischen Tradition zu erachten: Um diese diskriminierende und polarisierende Theologie begründen, die Welt in Gut und Böse einteilen zu können, haben nicht wenige Theologen einen Teil des Korans für abrogiert erklärt und aus dem muslimischen Leben eliminiert. 21 Damit leiteten sie zweifellos einen zivilisatorischen Rückschritt ein – ganz entgegen dem revoluti-
21 Suyuti begründet die Abrogation der āya – »Was solche (die Ungläubigen) angeht, die nicht wegen (eures) Glauben gegen euch kämpfen und euch auch nicht aus euren Heimstätten vertreiben, so verbietet Gott euch nicht, ihnen Güte zu erweisen und euch ihnen gegenüber völlig gerecht zu verhalten: denn, wahrlich, Gott liebt jene, die gerecht handeln.« (60:8) – durch die Herabsendung der Schwert-āya – »Und wenn dann die heiligen Monate vorüber sind, tötet jene, die die etwas anderem neben Gott Göttlichkeit zuschreiben, wo immer ihr auf sie stoßt, und nehmt sie gefangen und belagert sie und lauert ihnen an jedem vorstellbaren Ort auf. Doch wenn sie bereuen und sich an das Gebet machen und die reinigenden Abgaben entrichten, lasst sie ihres Weges ziehen: denn, siehe, Gott ist vielvergebend, ein Gnadenspender.« (9:5) – folgendermaßen: »God does not forbid you in regard to those who did not wage war against you, from among the disbelievers, on account of religion and did not expel you from your homes, that you should treat them kindly (an tabarrūhum is an inclusive substitution for alladhīna, ‘those who’) and deal with them justly: this was [revealed] before the command to struggle against them. Assuredly God loves the just.« (al-Suyuti, 2007, S. 662). Bemerkenswert an allen diesen klassischen Werken ist, dass sie unter theologischem Zwang den Koran für Kampfhandlungen instrumentalisieren wollen, ohne dabei den Offenbarungskontext zu berücksichtigen. Dieser Versuch schließt unbewusst sogar den Kampf gegen den Koran ein – in dem Sinn, dass ein Teil des Korans herausgegriffen und einfach für ungültig erklärt wird. Siehe auch: Kaya, Remzi: »Kur’an-i Kerim’de neshi iddia edilen Ayetler«, in: Uludag Üniversitesi, Ilahiyat Fakültesi Dergisi, Nr. 8, Band 7. Bursa: Ilahiyat Fakültesi Yayinlari 1998.
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onären Akt der Befreiung des Menschen aus der Zugehörigkeit zu einer Gruppe, Sippe, Rasse oder Nation. Die religiöse und kulturelle Vielfalt Gottes als theologische Grundlage für die Teilung der Erde zu betrachten, hieße den Islam misszuverstehen. Der Koran sieht diese Pluralität als Grundlage für das Zusammenleben, auf keinen Fall als einen Grund für die Spaltung der Gesellschaft: Und (also ist es) hätte dein Erhalter es so gewollt, alle jene, die auf Erden leben, hätten sicherlich Glauben erlangt, allesamt: denkst du denn, dass du die Leute zwingen könntest zu glauben, ungeachtet dessen, dass kein Mensch jemals anders Glauben erlangen kann als mit Gottes Erlaubnis … (10:99-100)
Diese Vielfalt widerspiegelt demnach nur die Wirklichkeit – die unterschiedlichen gesellschaftlichen Prägungen der Menschen sind Resultat ihres, einem dauernden Wandel unterworfenen, sprachlichen und kulturellen Kontexts. Es zeugt vom Grad der geistigen Reife eines Menschen, wie er diesen Kontext gestaltet. Der Koran findet diesbezüglich sehr klare Worte: ALLE MENSCHHEIT war einst eine einzige Gemeinschaft; (dann begannen sie, uneins zu sein –) woraufhin Gott die Propheten als Verkünder froher Botschaften und als Warner erhob und durch sie die Offenbarung von droben erteilte, die Wahrheit darlegend, so dass sie entscheiden möge zwischen den Leuten hinsichtlich all dessen, worüber sie unterschiedliche Ansichten angenommen hatten. Doch keine anderen als dieselben Leute, denen diese (Offenbarung) gewährt worden war, begannen aus gegenseitiger Eifersucht über ihre Bedeutungen uneinig zu sein, nachdem aller Beweis der Wahrheit zu ihnen gekommen war. Aber Gott leitete die Gläubigen zu der Wahrheit, über die sie, mit Seiner Erlaubnis, uneinig gewesen waren: denn Gott leitet auf einen geraden Weg, wer (geleitet werden) will. (2:213)
Unter Verweis auf diese āya spricht Aydin sogar von einem gemeinsamen Ursprung aller heiligen Bücher: Wie wir hier sehen, spricht der Koran nicht im Sinne der Vielfalt der heiligen Bücher von den »Büchern«, sondern als Ursprung aller heiligen Büchern von einem himmlischen »Buch«. Danach sind alle heiligen Bücher die irdischen Erscheinungsformen einer einzigen Quelle.
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22 Aydin, M.: Dini çoğulculuk üzerine bir müslüman mülahazası, in: M. Aydın (Hg.): Dinsel çoğulculuk ve Mutalklık iddaları. Ankara: Ankara Okulu Yayınları 2005, S. 104.
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Nasr vertritt ebenfalls die Ansicht, dass die Wahrheit zwar absolut und unumstößlich ist, die Form und die Sprache, in der sie sich offenbart, jedoch unterschiedlich sein und sogar Widersprüche aufweisen können. Die Worte, mit denen die Wahrheit den Menschen nähergebracht werden soll, müssen an deren jeweiliges kulturelles Normensystem anknüpfen – gerade deswegen aber ist nicht Vereinheitlichung, sondern Vielfalt eine Selbstverständlichkeit, ja sogar der Natur der Schöpfung entsprechend, die sich ebenfalls in immer komplexerer Vielfalt entwickelt.23 Für Nasr gibt es nur den einen Gott, der sich in den verschiedenen Kulturen anlässlich verschiedener historischer Begebenheiten auf mannigfaltige Weise offenbart hat. Und diese Einigkeit kann durch keinerlei äußerliche Differenzen zerstört werden.24 Pluralität als ethisches Prinzip Stets haben verschiedene Völker und Kulturen Gott auf unterschiedliche Art und Weise angebetet. Nach der koranischen Lehre kommt es aber, wie bereits ausgeführt, nicht darauf an, wie die Menschen Gott anbeten, sondern welche Wohltaten für die Menschheit aus diesen Akten der Anbetung, den nusuk, entstehen. Sag: »Siehe, mein Gebet und (alle) meine Akte der Anbetung und meinem Leben und meinen Sterben sind für Gott(alleine), den Erhalter aller Welten.« (6:162) Für jede Gemeinschaft haben wir (verschiedene) Weisen der Anbetung bestimmt, die sie befolgen sollen. (22:67)
Die Ergebnisse der nusuk werden als ʿibada bezeichnet – es sind dies die guten Handlungen, durch deren Ausführung der Mensch Gott dient. Aus diesem Grund sind das Gebet, das Fasten usw. sozusagen gottesdienstliche Handlungen, die ʿibada gebären. Noch besser wäre es zu sagen, dass sie manasik sind, aus denen ʿibada entstehen. In der arabischen Sprache haben nusuk/manasik folgende Bedeutung: das Düngen der Erde, um mehr Ernte zu bekommen (nusuk’l ard), die nach dem Regen sich grün färbende Erde (ard-un nasik).25 23 Vgl. Nasr, Seyyed Hossein: Knowledge and the Sacred, New York: University of Edinburgh 1989, S. 250-254. 24 Vgl. Aslan, Adnan: »Dini çoğulculuk Problemine yeni bir yaklaĢım«, in: Islami AraĢtırmalar Dergisi (4) 2000, S. 17-30. 25 Eliacik, Recep Ihsan: Bana dinden bahset. Istanbul: Insa Yayinlari 2014, S. 28.
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Im Sinne des Korans bilden die ʿibada den ethischen Kern einer idealen Gesellschaft. Ohne Verinnerlichung des eigentlichen Zwecks der religiösen Rituale wären Anbetungen sinnlose Handlungen. Eine der wichtigsten ethischen Ausdrucksformen der ʿibada wird durch das Wort sālihāt – good works – bezeichnet, das im Koran öfters in Zusammenhang mit īmān (Glaube) Erwähnung findet. Eine gottesdienstliche Handlung ohne good works kann nicht als ʿibada gelten. Wahrlich jene, die Glauben erlangen und rechtschaffene Taten tun – sie sind für das Paradies bestimmt, darin zu verbleiben. (2:82) Sag (o Muhammad): »Ich bin nur ein sterblicher Mensch wie ihr alle. Es ist mir offenbart worden, dass euer Gott der Eine und Einzige Gott ist. Darum, wer immer (mit Hoffnung und Ehrfurcht) die Begegnung mit seinem Erhalter (am Gerichtstag) erwartet, soll rechtschaffene Taten tun und nicht irgendjemanden oder irgendetwas einen Anteil an der Anbetung zuschreiben, die seinem Erhalter gebührt.« (18:110)
Ähnlich wie salih ist der Begriff birr ein koranischer moral term, der darauf hinweist, dass es in der Religiosität nicht auf die Form der Anbetung, sondern auf ihre Folgen für die Mitmenschen ankommt. (Aber was euch angeht, o Gläubige) niemals werdet ihr wahre Frömmigkeit erlangen, außer ihr gebt für andere aus, was ihr selbst wertschätzt; und was immer ihr ausgebt – wahrlich, Gott hat volles Wissen davon. (3:92) Gebietet ihr anderen Leuten, fromm zu sein, indessen ihr euch selbst vergesst – und doch tragt ihr die göttliche Schrift vor? Wollt ihr denn nicht euren Verstand gebrauchen? 26
(3:92)
Mit diesen Ausführungen sollte verdeutlicht werden, dass die Muslime sich nicht durch die Art der Anbetung definieren sollten, sondern durch ihre good works. In diesen guten Werken macht Gott keinen Unterschied zwischen den Menschen. Die Muslime sollten nicht darauf stolz sein, dass sie fünfmal am Tag beten oder mehrmals die Pilgerfahrt nach Mekka absolvieren, sondern darauf, was aus ihren Gebeten, Pilgerfahrten und Fasten für die Gesellschaft entsteht – gemäß dem ethischen Konzept des Korans verdienen jene das Wohlgefallen Gottes, die sich für das Wohl der Menschen einsetzen. 26 Zu weiteren Koranquellen siehe: Izutsu, Toshihiko: Ethico Religious Concepts in the Qur’an, London: McGill’s University Press 2002, S. 208-210.
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Wahrlich, jene die Glauben (an diese göttliche Schrift) erlangt haben, wie auch jene, die dem jüdischen Glauben folgen, und die Christen und die Sabier – alle, die an Gott und den Letzten Tag glauben und rechtschaffene Taten tun – wer den ihren Lohn bei ihrem Erhalter haben; und keine Furcht brauchen sie zu haben, noch sollen sie bekümmert sein. 27
(3:92)
Aus diesem Verständnis heraus wendet sich der Koran an alle Menschen, die an die Wirkung und Bedeutung der good works für die Gesellschaft glauben. Sag: »O Anhänger früherer Offenbarung! Kommt zu dem Grundsatz, den wir und ihr gemeinsam haben: dass wir keinen anbeten sollen außer Gott, und dass wir nicht etwas anderem neben Ihm Göttlichkeit zuschreiben sollen, und dass wir nicht Menschen als unsere Herren neben Gott nehmen sollen. Und wenn sie sich abwenden, dann sagt: Bezeugt, dass wir uns Ihm ergeben haben.« (3:64)
Auch wenn hier Christen und Juden angesprochen sind, lässt sich dieser Aufruf im Sinne des Korans noch erweitern, um auch andere Religionen und Weltan-
27 »Die obige Passage – die im Qur`an mehrfach vorkommt – legt eine grundsätzliche Lehre des Islam dar. Mit einem aufgeschlossenen Weitblick ohnegleichen in irgendeinem anderen religiösen Glauben wird hier die Vorstellung von ›Rettung und Heil‹ von nur drei Bedingungen abhängig gemacht: Glauben an Gott, Glauben an den Tag des Gerichts und rechtschaffenes Handeln im Leben. Die Darstellung dieser Lehre an dieser Stelle – d.h. mitten in einem Aufruf an die Kinder Israels – findet ihre Berechtigung durch die falsche jüdische Glaubensvorstellung, ihre Herkunft von Abraham berechtige sie dazu, als ›Gottes auserwähltes Volk‹ betrachtet zu werden.« M. Asad, Die Botschaft des Koran, S. 41, Fußnote 50. Zu dieser āya schreibt al-Qušairī: »The diversity of [religious] paths in spite of the unity of the source does not prevent a goodly acceptance [for all]. For anyone who affirms the Real in His signs and believes in what He has told concerning His Truth and Attributes, the dissimilarity of [religious] laws and diversity occurring in name[s] is not a problem in considering who merits [God’s] good pleasure. Because of that He said, ›Surely those who believe and those of Jewry‹. Then He said, ›whoever believes‹, meaning if they fear [God] in the different ways of knowing [Him], all of them will have a beautiful place of return and an ample reward. The believer (muʾmin) is anyone who is in the protection (amān) of the Real (s). For anyone who is in His protection, it is fitting that no fear shall befall them, neither shall they grieve.« al-Qušairī, Abū l-Qāsim: at-Tafsīr al-kabīr laṭāʾif al-išārāt bi-tafsīr al-Qurʾān (Laṭāʾif al-išārāt. Band 1, Amman: Royal Aal al-Bayt Institute for Islamic Thought o. J., S. 76.
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schauungen, die zur Entstehungszeit des Korans noch gar nicht existierten bzw. bekannt waren, dazu einzuladen, sich solidarisch für die good works in der Gesellschaft einzusetzen. … denn jede Gemeinschaft wendet sich ihrer eigener Richtung zu, von der Er der Mittelpunkt ist. Wetteifert daher miteinander im Tun guter Werke. Wo immer ihr sein mögt, Gott wird euch alle zu Sich versammeln: denn, wahrlich, Gott hat die Macht, alles zu wollen. (2:148)
Gemäß dem ethischen Prinzip des Korans setzt das Wohlergehen einer Gesellschaft Pluralität als eine von Gott gewollte Selbstverständlichkeit voraus, wobei den Religionen für die Gewährleistung der Pluralität eine besondere Verantwortung zukommt.
F AZIT Obige Ausführungen verfolgten das Ziel, das durch den Koran vermittelte Verständnis von Religion (dīn) und Muslimsein, demzufolge die Menschen nicht aufgrund ihrer religiösen oder weltanschaulichen Rituale, sondern aufgrund ihrer wirksamen Handlungen, die die ethische Grundlage für die Gesellschaft bilden, beurteilt werden, umfassend zu beleuchten. Die äußerlichen Differenzen in den Religionen sind nicht nur zu tolerieren, es gilt vielmehr, sie als Zeichen Gottes zu schützen. Leider wurden die pluralitätsfördernden Inhalte des Korans seitens verschiedener theologischer Denkschulen immer wieder ignoriert oder – noch bedauerlicher – durch erfundene Theorien außer Kraft gesetzt, um die Anwendung von Gewalt im Namen Gottes zu legitimieren. Nun stehen vor allem die im Westen lebenden Muslime vor der Herausforderung, den Koran und andere Quellen des Islams im Sinne des Korans zu reformieren und ihren Beitrag zum Gelingen einer gelebten Pluralität zu leisten.
Bildungsauffassungen klassischer muslimischer Gelehrter Von Abu Hanifa bis Ibn Khaldun (8.-15. Jh.) S EBASTIAN G ÜNTHER (G ÖTTINGEN ) »Diene dem Wissen, indem du Nutzen daraus ziehst!«1
Die faszinierende Welt der pädagogischen Aussagen muslimischer Denker aus der Blütezeit des Islams zwischen dem neunten und dem dreizehnten Jahrhundert ist ein von der Wissenschaft bislang noch kaum erschlossener Bereich der Ideengeschichte. Zum einen ist in diesem Zusammenhang zu konstatieren, dass
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Das dem Beitrag vorangestellte Zitat ist eine pädagogische Maxime des Hammad ibn Abi Sulaiman (gest. 738), Mentor des islamischen Theologen und Rechtsgelehrten Abu Hanifa (699-767), welche besagt: »Diene dem Wissen, indem du Nutzen daraus ziehst; und lerne beständig, indem du Gutes tust!« Es ist enthalten im Minhāğ almutaʿallim (»Die Anleitung für den Lernenden«), ein Werk, das dem autoritativen islamischen Theologen und Mystiker Abu Hamid al-Ghazali (1058-1111) zugeschrieben wird; vgl. Al-Ġazālī, Abū Ḥāmid Muḥammad ibn Muḥammad: Minhāğ almutaʿallim, in: Hišām Naššāba (Hg.): at-Turāṯ at-tarbawī al-islāmī fī ḥams maḥṯūṯāt, Beirut: Dār al-ʿIlm li-l-Malāyīn 1988, S. 89-90. Arabische Personen- und Eigennamen werden in diesem Beitrag in einer vereinfachten, dem deutschen Sprachgebrauch weitgehend angepassten Umschrift wiedergegeben. Nicht berücksichtigt wird dabei der arabische Artikel in Personennamen, wenn diese isoliert stehen. Die bibliografischen Angaben sowie arabische Fachtermini sind nach der wissenschaftlichen Umschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft transkribiert. Alle Datumsangaben beziehen sich auf die Ära n. Chr. Zitate aus dem Koran folgen (gelegentlich leicht modifiziert) der Übersetzung von Rudi Paret. Siehe: Paret, Rudi: Der Koran, Stuttgart: Kohlhammer 1985. Alle Übersetzungen aus dem Arabischen sind – sofern nicht anders vermerkt – meine eigenen.
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die Bildungskonzeptionen der klassischen muslimischen Gelehrten in einem hohen Maße Fragen betreffen, welche den Islam als Religion und Lebensweise generell bestimmen. Zum anderen stellen sich die Fragen, ob und inwieweit die klassischen islamischen Vorstellungen zu Wissen, Wissenstransfer, Bildung und Erziehung, welche im Kontext der religiösen, kulturellen und ethnischen Vielfalt des Mittelmeerraumes jener Zeit entstanden, Ansichten betreffen, die in den immer stärker multikulturellen Kontexten der modernen Gesellschaften in Europa bedenkenswert bzw. wichtig sind. Nach einigen einführenden Worten zu pädagogischen Elementen im Koran sowie Fragen der religiösen Bildung und des Buchwissens in der klassischen Zeit des Islams wird sich dieser Beitrag vor allem bestimmten Charakteristika sowie einigen wichtigen Vertretern des pädagogischen Schrifttums im klassischen Islam widmen. Am Ende schließlich wird ein Ausblick auf die Relevanz dieser mittelalterlichen Bildungsgedanken für die heutigen Gesellschaften versucht.
P ÄDAGOGISCHE E LEMENTE P ROPHETENTRADITION
IM
K ORAN
UND IN DER
Im Koran (d.h. »Lesung«, »Verlesen« oder »Rezitation« des Gotteswortes), der im siebenten Jahrhundert durch den Propheten Muhammad verkündeten Offenbarungsschrift der Muslime und damit dem »ersten Buch« des Islams überhaupt, finden sich wiederholt konkrete Aussagen sowohl zur Vermittlung bzw. Aneignung religiösen und profanen Wissens als auch zum kognitiven Verstehen sowie zur Bildung und Erziehung der Menschen als Individuen und als Gemeinschaft. Bemerkenswerterweise werden die Menschen im Koran wiederholt dazu aufgerufen, ihren Verstand zu benutzen. Sie sollen die Welt und das Universum nicht nur mit dem Herzen, sondern eben auch rational begreifen und reflektieren, um so zu Gott zu finden und sich Gottes Willen ganz hinzugeben. Das verstandesmäßige Lernen nimmt somit – neben der spirituellen Gotteserfahrung – im Koran und in der Religion des Islams generell einen wichtigen Platz für die Bildung und Erziehung der Menschen ein. Im Rückblick auf die vorislamische Zeit mit ihrer weitgehend durch mündliche Weitergabe des Wissens geprägten Kultur im alten Arabien ist das Phänomen hervorzuheben, dass im Koran die Bedeutung der Schrift als Medium der Kommunikation wie auch der Funktion schriftlicher Materialien als Wissensspeicher mehrfach betont wird. Diese Tatsache reflektiert für das siebente Jahrhundert einen Paradigmenwechsel, der mit dem Auftreten des Propheten
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Muhammad eine neue Ära in der Kultur- und Geistesgeschichte der Araber einleitete. In frühislamischer Zeit kommt die besondere Wertschätzung, welche Studium, Bildung und Wissenschaft im Islam generell genießen, vor allem in zahlreichen, vom Propheten Muhammad überlieferten Aussprüchen und Verhaltensregeln bzw. kurzen Geschichten zu seiner exemplarischen Lebensweise zum Ausdruck. Nach dem Koran sind diese Prophetentraditionen (arab. Ḥadīṯ) für Muslime die Texte mit der höchsten religiösen Autorität. In dieser prophetischen Literatur finden sich zum Beispiel zahlreiche Texte, wonach der Prophet Muhammad ausdrücklich betont habe, dass Gott allen Menschen, Männern und Frauen gleichermaßen, die Pflicht auferlegte, nach Wissen zu streben, und dass das Lernen eine lebenslange, geografische Grenzen überschreitende Aktivität zum Wohle der Gemeinschaft sei.
R ELIGIÖSE B ILDUNG UND B UCHWISSEN Die religiöse Sanktionierung von Bildung und Wissenschaft in den religiösen Texten aus der Anfangszeit des Islams einerseits und die neuen gesellschaftlichen und materiellen Verhältnisse des rasch expandierenden islamischen Reiches im neunten und zehnten Jahrhundert andererseits ließen »Bücher« und andere schriftliche Dokumente zu tragenden Säulen der arabisch-islamischen Kultur und Zivilisation werden. Ein wichtiger materieller Faktor war dabei das Papier, dessen Herstellung die Araber im achten Jahrhundert von den Chinesen gelernt hatten. Papier ersetzte das Pergament und den Papyrus im islamischen Lehrbetrieb und revolutionierte somit die Buchproduktion. Diese Entwicklungen verliehen Studium und Bildung so nachhaltige Impulse, dass sich die arabisch-islamische Gesellschaft in ihrer Blütezeit zwischen dem neunten und dem dreizehnten Jahrhundert zu einer regelrechten »Wissensgesellschaft« entwickelte.
AUFKOMMEN EINES
PÄDAGOGISCHEN
S CHRIFTTUMS
Von den koranischen Vorstellungen ausgehend behandeln eine Reihe mittelalterlicher arabischer Werke verschiedener Wissenschaftsdisziplinen explizit Fragen der Bildung und Erziehung. Diese mittelalterlichen Texte zu Bildungstheorien und Bildungspraxis haben die intellektuelle Kultur des Islams über Jahrhunderte hinweg – und bis in die Gegenwart – entscheidend mitgeprägt. Sie sind eine
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wichtige Quelle zur islamischen Geistesgeschichte, dokumentieren sie doch richtungsweisende Schritte der muslimischen Gelehrten aus der klassischen Zeit des Islams hin zu einer »islamischen Pädagogik«. Dieses bildungsphilosophische Schrifttum im Islam speist sich aus verschiedenen kulturellen und intellektuellen Quellen. Drei Bereiche sind in dieser Hinsicht vor allem zu benennen: (1) die im alten Arabien präsenten paganen, jüdischen und christlichen Bildungsvorstellungen; (2) die normativen Aussagen zu Wissen und Erziehung im Koran sowie die dem Propheten Muhammad zugeschriebenen normativen Aussprüche und Traditionen; und nicht zuletzt (3) das antike griechische, altiranische und indische intellektuelle Erbe in seiner kreativen Rezeption durch die Muslime. Dieses Konglomerat aus außerislamischen Auffassungen und originär islamischen Ansichten bildete den fruchtbaren Boden, auf dem sich ein wissenschaftlichen Kriterien verpflichtetes bildungstheoretisches Schrifttum in arabischer Sprache entwickelte, das wir heute zu Recht als »pädagogisch« bezeichnen können.
I NHALTE
UND V ERFASSER KLASSISCHER PÄDAGOGISCHER S CHRIFTEN
Das sich im neunten Jahrhundert formierende und in den folgenden Jahrhunderten gedeihlich entfaltende pädagogische Schrifttum besticht durch seine konkreten Ratschläge und Gedankenmodelle zu Zielen, Inhalten, ethischen Grundregeln, Techniken und Methoden des Lernens und Lehrens. Diese klassischen arabischen Werke zur Pädagogik und Didaktik im engeren Sinne wurden von Autoren verfasst, welche in ganz verschiedenen Bereichen der islamischen Gelehrsamkeit wirkten. Unter ihnen finden sich neben Korangelehrten und Kennern der islamischen Prophetentradition auch Philosophen, Theologen, Historiker, Juristen, Ethiker, Naturwissenschaftler und Mediziner. Obgleich diese Gelehrten keine Pädagogen im engeren Sinne waren, konnten sie doch alle auf eine umfangreiche Lehrerfahrung als Professoren an Hochschulen oder als dozierende Gelehrte in privaten Lehr- und Forschungszirkeln zurückgreifen. Entsprechend vielfältig sind auch die Textgattungen, in denen sich muslimische Gelehrte zu Fragen der Bildung äußern. Ein Genre tritt im Kontext dieser gelehrten Aussagen zu Fragen der Bildung allerdings hervor: es ist die sogenannte ādāb al-ʿālim wa-l-mutaʿallim-Literatur, d.h. eine Anzahl von Traktaten und Büchern, die sich ausdrücklich mit den »Verhaltensregeln für Lehrer und Schüler« beschäftigen.
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Abu Hanifa (699-767) und sein Schüler Samarqandi (gest. 823) Das früheste Werk dieses Genres entstand wahrscheinlich Ende des achten Jahrhunderts. Es trägt den Titel Kitāb al-ʿĀlim wa-l-mutaʿallim (»Das Buch über den Wissenden und den Wissensuchenden«). Traditionell wird dieses kleine Werk dem bekannten Juristen und Theologen Abu Hanifa, d.h. dem Eponym der größten der vier sunnitischen Rechtsschulen, zugeschrieben. Allerdings hat die neuere Forschung gezeigt, dass das Werk nicht von Abu Hanifa, sondern von einem seiner Schüler mit dem Namen Abu Muqatil al-Samarqandi, verfasst wurde.2 Bei diesem Buch handelt es sich um einen Dialog zwischen einem bereits fortgeschrittenen Studenten und seinem Lehrer, den dieser Student in einer Vielzahl von Fragen des religiösen Lernens und Studierens um Auskunft bittet. Das Bemerkenswerte an dem in dieser Abhandlung wiedergegebenen Dialog ist, dass der Lehrer (Abu Hanifa) seinem Schüler (Samarqandi) nicht in abschließender Weise antwortet bzw. mit endgültigen Fakten begegnet. Vielmehr reagiert er auf die Fragen des Studenten, indem er Beispiele und Allegorien anführt und den Fragesteller auf diese Weise zum Nachdenken und zu eigenen Schlussfolgerungen anregt. Dabei vertritt der Lehrer nicht die Position des Allwissenden, sondern vermittelt dem Schüler durch den Dialog den Eindruck, in der Lage zu sein, selbst die richtigen Antworten auf seine Fragen zu finden. Es handelt sich bei dieser Art des Unterrichts in Dialogform demnach um eine Form der Unterweisung, die bereits von den alten Griechen praktiziert wurde und die im modernen didaktischen Sprachgebrauch – nach dem griechischen Gelehrten Sokrates (469399 vor Chr.) – als »sokratische Methode« bezeichnet wird. Diese Form der Unterweisung baut auf eine interaktive Vermittlung von Wissen, bei der sowohl Lehrer als auch Lernende aktiv sind und bei der das Wissen von Lehrer und Lernendem gewissermaßen gemeinsam erschlossen wird. Diese diskursive Wissensvermittlung unterscheidet sich grundsätzlich vom sogenannten »Frontalunterricht«. Bei Letzterem gestaltet bekanntlich nur der Lehrer den Unterricht aktiv, wobei die Lernenden und Studierenden durch (»passives«) Zuhören lernen. Ein Textbeispiel aus dieser frühen Schrift mag diese Feststellung veranschaulichen:
2
Zu Autor und Werk vgl. Schacht, Joseph: »An early Murciʾite treatise: The Kitāb alʿĀlim wa-l-mutaʿallim«, in: Oriens 17 (1964), S. 96-117; van Ess, Josef: Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra: Eine Geschichte des religiösen Denkens im frühen Islam, 6 Bde., Berlin: Walter de Gruyter 1991-1997, insbes. Band 1, S. 183-214; Rudolph, Ulrich: Māturīdī und die sunnitische Theologie in Samarkand, Leiden: Brill 1997, S. 45-57.
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عما يغنيك ،واعلم أن قال العالم :نعم ما رأيت يف ابتحاثك ّ
العمل تبع للعلم كما أن األعضاء تبع للبصر ،فالعلم مع العمل اليسري أنفع من اجلهل مع العمل الكثري ]...[ .ولذلك قال اهلل َّ ِ َّ ِ ين لَ يَعلَ ُمو َن ؟ إََِّّنَا ين يَعلَ ُمو َن َوٱلذ َ تعاىل :قُ ْل َ ‹:ىل يَستَ ِوى ٱلذ َ يَتَ َذ َّكر أ ُْولُواْ ٱألَلبَٰ ِ ب›. ُ
فأما قول األصناف قال المتعلّم :لقد زدتين يف طلب العلم رغبة ّ ، [ ، ]...فأخربين باحلجج عليهم .
تدخلن ىذه املداخل فإ ّن [قال العالم ]:رأيت أقواماً يقولون ل ّ نيب اهلل صلّى اهلل عليو وسلّم مل ‹يدخلوا يف شيء من ىذه أصحاب ّ غماً ،ووجدت األمور وقد يسعك ما وسعهم› .وإ ّن ىؤلء زادوين ّ مثلهم كمثل رجل يف هنر عظيم ،كثري املاء ،كاد أن يغرق من قبل تطلنب املخاضة جهلو باملخاضة فيقول لو آخر ‹ :اثبت مكانك ول ّ ›. احلجة قال العالم رمحو اهلل :أراك قد أبصرت بعض عيوهبم و ّ عليهم 3.
Der Lehrer sagte: »Du hast eine großartige Entscheidung getroffen, wenn du [nach Wissen] suchst, das dir von Nutzen ist. Wisse, dass die Handlungen dem Wissen in der Weise folgen wie die Körperteile dem Blick des Auges. Demzufolge ist Wissen, das nur wenige Handlungen hervorruft, besser als Unwissen, dem Aktionismus folgt. … Aus diesem Abū Ḥanīfa an-Nuʿman ibn Thabit/Abū Muqātil as-Samarqandī: al-ʿAlim wa-lmutaʿallim, riwayat Abi Muqatil ʿan Abi Ḥanifa, wa-yalihi risalat Abi Ḥanifa ila ʿUṯman al-Batti, tumma l-fiqh al-absa , riwayat Abi Mu iʿ ʿan Abi Ḥanifa, Hg. Muḥammad Zāhid al-Kauṯari, Kairo: Maṯbaʿat al-Anwar 1368/[1989], S. 9.
3
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Grund hat Gott (im Koran) gesagt: ›Sprich: Sind (etwa) die Wissenden den Nichtwissenden gleich[zusetzen]? [Doch] nur diejenigen, die Verstand haben, lassen sich mahnen.‹« Der Schüler antwortete: »Mit deinen Worten hast Du mich motiviert, noch intensiver nach Wissen zu suchen! Deshalb unterweise mich nun in den stichhaltigen Argumenten, die jene Personen widerlegen (welche Studierenden anraten, ausschließlich der Tradition zu folgen, ohne eigene Gedanken zu entwickeln).« [Der Lehrer erklärte:] »Ich kenne Leute, die sagen, ›Beschäftige dich auf keinen Fall mit diesen Argumenten, da die Gefährten des Gesandten Gottes – Gott segne ihn und schenke ihm Heil – sich auch nicht mit irgendwelchen damit zusammenhängenden Fragen beschäftigt haben. Vielleicht solltest du dich mit dem begnügen, was schon den Prophetengefährten genügte.‹ Doch diese Leute haben nur meinen Kummer verstärkt. Für mich sind sie wie jemand, der einem in einem wasserreichen Fluss beinahe Ertrinkenden, der festen Boden [unter den Füssen] sucht, rät: ›Bleib, wo du bist und versuche keinesfalls festen Boden [und einen sicheren Übergang über den Fluss] zu finden!‹« Der Lehrer – Gott möge sich seiner erbarmen – sagte ebenfalls: »Ich denke, [nun] verstehst du die Unzulänglichkeit dieser Leute und auch die Beweismittel, die [ihre Argumente] widerlegen.«
In thematischer Hinsicht widmet sich »Das Buch über den Wissenden und den Wissensuchenden« vor allem Fragen der islamischen Theologie und Dogmatik. Der Sprache und Form nach ist allerdings die juristische Perspektive des Textes besonders evident: hier fallen sowohl der klare Ausdruck als auch die gut durchdachte Präsentation der Argumente ins Gewicht. Ein genauer Blick auf die Intention und Aussagen dieser Abhandlung zeigt aber auch, dass das Werk durchaus als pädagogisch zu bezeichnen ist, denn es ermutigt den bildungsbeflissenen Leser zur bestmöglichen Entfaltung des eigenen intellektuellen Potenzials, zeigt die Notwendigkeit auf, dem erworbenen Wissen nützliche Handlungen folgen zu lassen und deutet überdies auch Wege zur Umsetzung dieses Bildungsanliegens an. Besonders hervorzuheben ist hier u.a. der ausdrückliche Rat an die Lernenden, sich nicht blind an die Tradition zu klammern, sondern Entwicklungen stets neu zu bewerten: nur so könne der Mensch, der von Gott mit Verstand ausgestattet wurde, zu Entscheidungen gelangen, welche dabei helfen, aktuelle Herausforderungen zu meistern.
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Dschahiz (777-868) Ein Gelehrter, der wie wenige andere die Geschichte der arabischen Belletristik beeinflusst hat, gleichzeitig aber auch als rationalistischer Theologe Bedeutsamkeit erlangte, ist ʿAmr ibn Bahr al-Dschahiz aus Basra. Dschahiz widmete sich schon in früher Jugend dem Lernen und der Wissenschaft und studierte eifrig auch die Werke der griechischen Philosophen, insbesondere die des Aristoteles (384-322 vor Chr.), welche zu seiner Zeit bereits in arabischer Übersetzung vorlagen. Dieser Einfluss des antiken griechischen Denkens ist in vielen Werken des Dschahiz deutlich. Obgleich das vielfältige literarische und wissenschaftliche Schaffen dieses Gelehrten des neunten Jahrhunderts zum Teil schon gut erforscht ist, ist eines seiner kleineren, ausdrücklich der Bildung gewidmeten Werke bislang eher weniger bekannt: es ist das Kitāb alMuʿallimīn (»Das Buch über die Lehrer«). Dieses philosophisch-literarische Essay widmet sich speziell dem Berufsstand des Lehrers. 4 Dschahiz fordert in diesem Werk die Lehrer explizit auf, mit ihren Schülern und Studierenden fürsorglich und respektvoll umzugehen und sie wie ihre eigenen Kinder zu behandeln. Er rät den Lehrern darüber hinaus, in ihrem Unterricht ein besonderes Augenmerk auf die selbstständige Lektüre sowie auf die logische Argumentation und Deduktion als effektive Lehr- und Lerntechniken zu richten. Das Lesen von Büchern rege außerdem die Lernenden zum Nachdenken, zu Kreativität und zur Generierung neuen Wissens an. Bloßes Auswendiglernen hingegen berge die Gefahr in sich, dass die Lernenden lediglich repetieren, was frühere Generationen schon wussten. Aussagen dieser Art lassen aufmerken, wurden sie doch in einer Zeit geäußert, in der in den traditionellen islamischen Wissenschaften dem Auswendiglernen und Tradieren von bereits gesichertem Wissen die unangefochtene Vorrangstellung eingeräumt wurde. Ähnliches lesen wir aber auch in den großen, besser bekannten Werken des Dschahiz, in denen sich für die Pädagogik gleichermaßen wichtige Aussagen finden. Im berühmten Kitāb al-Bayan wa-l-tabyīn (»Das Buch über Klarheit und Erklärung [im mündlichen und schriftlichen Ausdruck]«), einer Art Sachbuch zu Fragen der Redekunst z.B. fragt ein Schüler seinen Lehrer:
›أّن لك ىذا العلم؟ َّ ‹ 4
Zu Inhalt und Struktur des Werkes sowie einer Teilübersetzung vgl.: Günther, Sebastian: »Advice for Teachers: The 9th Century Muslim Scholars Ibn Sahnun and alJahiz on Pedagogy and Didactics«, in: Sebastian Günther (Hg.): Ideas, Images and Methods of Portrayal. Insights into Classical Arabic Literature and Islam, Leiden: Brill 2005, S. 110-125.
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›. ولسان سؤول، ‹قلب عقول:قال »Wie konntest du dieses Wissen erwerben?« [Der Lehrer] antwortet: »Mit Hilfe eines begreifenden Herzens und einer fragenden Zunge.«
Dschahiz kommentiert diese Sentenzen mit den Worten:
، وبطول الختالف إىل العلماء، واإلنسان بالتعلّم والتكلّف وىو ل حيتاج ىف، ومدارسة كتب احلكماء جيود لفظو وحيسن أدبو وىف فساد البيان إىل أكثر من ترك، اجلهل إىل أكثر من ترك التعلّم . التخري Durch Lernen und Fleiß, regelmäßige Konsultationen mit Gelehrten und die Beschäftigung mit den Büchern der Weisen wird die Ausdrucksweise des Menschen geistreicher und sein Verhalten aufrichtiger. Nicht zu lernen hingegen führt zu Unwissenheit und die Vernachlässigung der Wissenssuche zu Verderbtheit in der Redekunst. 5
Das vordringliche Anliegen von Dschahiz in diesen Zeilen ist es, Wissen um einen klaren und effektiven mündlichen und schriftlichen Ausdruck zu vermitteln. Als einem der originellsten Adab-Autoren seiner Zeit gelingt ihm dies, indem er Sachinformation und anspruchsvolle literarische Darstellung gekonnt miteinander verbindet. Noch ein weiteres Werk von Dschahiz ist in diesem Kontext zu nennen, nämlich das berühmte Kitāb al-Ḥayawān (»Das Buch über die Tiere« oder, wie es auch heißt, »Das Buch über die Lebewesen«). Das Kitāb al-Ḥayawān ist das vielleicht bekannteste Werk von Dschahiz, das durch seine (semi-)naturwissenschaftlichen Betrachtungen ebenso besticht wie durch seine philosophischen Überlegungen und die zahlreichen literarischen Anekdoten, Sprichwörter und Gedichte, welche alle in der einen oder anderen Form dazu angetan sind, in unterhaltsamer Form Wissen zu vermitteln. Bemerkenswerterweise beginnt das Werk mit einem mehr als 60 Seiten umfassenden, wunderbar eloquenten Madḥ 5
Al-Ğaḥi , ʿAmr ibn Baḥr: Kitāb al-Bayān wa- - abyīn, Hg. ʿAbd as-Salām Muḥammad Hārūn, Kairo: Maktabat al-Ḥanğī 1968, S. 84-85, 86.
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al-kitāb (»Lobpreis auf das Buch«), wobei das »Buch« im Kontext der Menschheitsgeschichte als Speicher und Vermittler von Wissen gewürdigt wird. 6 Diese für Dschahiz charakteristische Hervorhebung der Bedeutung schriftlicher Dokumente in der Vermittlung und Aneignung von Bildung ist bemerkenswert, schreibt al-Dschahiz doch in einer Zeit, in der sich die Schrift- und Buchkultur erst allmählich – nun aber in ganz rasanter Weise – als ein Wesensmerkmal der mittelalterlichen arabisch-islamischen Welt etablierte.7 Ibn Mansur al-Yaman (ca. 883-ca. 957) Ein anderes besonders frühes Handbuch zu Lehre und Lernen trägt den Titel Kitāb al-ʿĀlim wa-l-ghulām (»Der Meister und sein Schüler«). Es stammt von einem ismailitischen Autor aus dem Ende des neunten und frühen zehnten Jahrhunderts mit dem Namen Jaʿfar ibn Mansur al-Yaman. Ibn Mansur al-Yaman wirkte zunächst am Hof des zweiten FatimidenKalifen, al-Qaʾim (reg. 934-946), in Ifriqiya, d.h. der Region, die heute Tunesien sowie Teile Algeriens und Libyens umfasst, und in Kairo unter dem dritten Fatimiden-Kalifen, al-Muʿizz (reg. 953-975), der ihn ganz besonders schätzte. Später reiste Ibn Mansur al-Yaman in den Jemen, wo er missionarisch für die ismailitische Gemeinschaft tätig war und hohes Ansehen als Autorität in der Koranauslegung erlangte.8
6
Vgl. al-Ğaḥi , ʿAmr ibn Baḥr: Kitāb al-Ḥayawān, Hg. ʿAbd as-Salām Muḥammad Hārūn, 7 Bde., Kairo: Mu afā al-Bābī al-Ḥalabī 1938-1958, Band 1, S.. 38-102. Für Exzerpte aus dieser Laudatio auf das Buch in deutscher Übersetzung vgl Charles Pellat, (Hg.): Arabische Geisteswelt: Ausgewählte und übersetzte Texte von AlGahiz (777-869). Unter Zugrundelegung der arabischen Originaltexte aus dem Französischen übertragen von Walter W. Müller, Zürich: Artemis 1967, S. 211-14 und Rufai, Ahmet: Über die Bibliophilie im älteren Islam nebst Edition und Übersetzung von Gâḥi ’ Abhandlung Fî Madḥ Al-Kutub. Arabisch-Deutsch (Dissertation, Berlin 1931), Istanbul: Universum Buchdruckerei, 1935, S. 43-46. Vgl. auch Günther, Sebastian: »Praise to the Book! Al-Jahiz and Ibn Qutayba on the Excellence of the Written Word in Medieval Islam«, in: Yohanan Friedmann (Hg.): Jerusalem Studies in Arabic and Islam 31. Franz Rosenthal Memorial Volume, Jerusalem: The Hebrew University Press 2006, S. 125-143.
7
Vgl auch Schimmel, Annemarie: »Die arabische Schriftkultur«, in: Hugo Steger/Herbert Ernst Wiegand (Hg.): Schrift und Schriftlichkeit, Berlin: Walter de Gruyter 1994, Band 10.1, S. 525-535.
8
Vgl. [Ibn Man ūr al-Yaman, Ğaʿfar]: The Master and the Disciple: An Early Islamic Spiritual Dialogue. A New Arabic Edition and English Translation of Jaʿfar b. Man ūr
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Das Kitāb al-ʿĀlim wa-l-ghulām ist eine (ebenfalls) in Dialogform angelegte, kunstvoll-literarische Erzählung, welche die spirituelle Initiation eines Adepten behandelt. Das Buch berichtet von der graduellen Erlangung spirituellen Wissens und unterweist formvollendet jene, die die Wahrheit suchen, in den Regeln des Verhaltens und über den Pfad, welcher zur Erreichung dieses Ziels führt. Der Autor ermutigt dabei die Lernenden (bzw. Leser), ihre eigenen Antworten auf grundsätzliche Fragen und intellektuelle Herausforderungen zu finden. Vor allem durch subtile Andeutungen, die Verwendung von Symbolen und die Bezugnahme auf mythische Figuren ermutigt er den Leser zu reflektieren, über Ereignisse und Ideen aus den Heiligen Schriften nachzudenken und diese für den eigenen Lernprozess heranzuziehen. Dabei ist es ein Hauptziel des Werkes, über die grundsätzliche metaphysische Struktur der Realität nachzudenken und sowohl »diese Welt«, in der wir leben, als auch die »andere Welt«, die uns nach dem Tod erwartet, zu verstehen. Ein weiteres Ziel dieses Bildungsdialogs besteht vor allem darin, zu vermitteln, dass alles, was erlernbar ist, in die Praxis umgesetzt werden sollte. Nur so könnten der Einzelne und die Gemeinschaft daraus Nutzen ziehen. In diesem Sinne instruiert der Meister seinen Schüler, wie es im Text heißt:
تلك منزلة قد أكرمها اهلل على مجيع، بين ّ يا، ىيهات:قال العامل عملت عملها فإن، فال تنال إلّ بعمل فاضل، املنازل والدرجات َ رجوت أن، كي و ٍاع ّ وقلب ز، بيقني صادق، وسعيت سعيها، .تدرك منا ما أدركو أولياء اهلل املصطفون األخيار Der Meister sagte [zu seinem Schüler]: »Sei auf der Hut, mein Sohn! Gott hat [die höchste Stufe spiritueller Erkenntnis und menschlicher Perfektion] vor allen anderen Stufen und Rängen ausgezeichnet. Sie kann nur durch die vortrefflichsten und verdienstvollsten unter den Handlungen erreicht werden. Wenn Du nun die dementsprechenden Handlungen ausführst und auf angemessene Art und Weise danach strebst, d.h. mit dem höchsten Maß an aufrichtiger Klarheit und einem reinen, empfänglichen Herzen, wirst du erreichen, was auch schon die Freunde Gottes, ›die Auserwählten und Allerbesten‹ [vgl. Koran 38:47] erreichten.«9 al-Yaman’s Kitāb al-ʿĀlim wa’l-ghulām, Hg./Übers. James W. Morris, London: Tauris 2001, S. 23 (Einleitung). 9
Ebd., § 159 (arab. S. 29; engl. S. 96).
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Die Verwendung des Dialogs als literarisch-didaktisches Mittel der Darstellung ermöglicht es dem Leser, den Argumentations- und Gedankengängen der Protagonisten dieser Erzählung gut zu folgen. Der Leser begleitet die Protagonisten gewissermaßen auf ihrer intellektuellen Reise, welche darauf angelegt ist, diese von Unsicherheit und Unwissen schließlich zur Wahrheit zu führen. Zudem erleichtert die Dialogform dem wissbegierigen Leser das Verständnis der in diesem Text behandelten, oft komplexen Sachinhalte. Eine solche gleichermaßen abwechslungsreiche wie effektive Darstellungsform weckt die intellektuelle Neugier und lässt die lernbegierige Leserschaft viel Freude bei der Lektüre dieses Buches empfinden.10 Der Text vermittelt dabei die Vorstellung, dass es der gelehrte Meister durch fürsorglich-begleitende Unterweisung dem Lernenden ermöglicht, dass Letzterer durch aktives, eigenständiges intellektuelles Bemühen den Weg zu Wissen und Wahrheit findet. Gleichzeitig macht diese Schrift aber auch deutlich, dass – in den Augen seines Verfassers – für jegliche spirituelle Wissenssuche ein Lehrmeister oder geistiger Führer unabdingbar ist. Ghazali (ca. 1057-1111) Der Gelehrte, den ich als »den großen Architekten« der klassischen islamischen Bildungstheorien bezeichne, ist Abu Hamid al-Ghazali. Ghazali, ein philosophischer Theologe, Rechtsgelehrter und Mystiker des zehnten Jahrhunderts, gilt bis heute als einer der bedeutendsten religiösen Denker des Islams überhaupt. Ghazali stammte aus dem iranischen Tus, verbrachte dann aber lange Zeit seines aktiven Lebens – als Gelehrter und Rektor der berühmten NizamiyyaHochschule – in Bagdad. Nach einem kurzen Intermezzo als Lehrer an der Nizamiyya-Hochschule in Nischapur starb Ghazali im Alter von nur 53 oder 54 Jahren in seiner Heimatstadt Tus. Ghazalis besonderes Interesse an Fragen der Bildung und seine reiche eigene Erfahrung als Lehrer spiegeln sich nahezu in allen seiner großen und auch in mehreren kleinen Werken wider. So befasst sich vor allem Ghazalis theologisches Hauptwerk, Iḥyāʾ ʿulūm ad-dīn (»Die Wiederbelebung der religiösen Studien [bzw. der Religionswissenschaften]«), in mehreren Kapiteln ausdrücklich mit Fragen der islamischen Bildung und Erziehung. Diese pädagogisch-ethischen Ratschläge Ghazalis zur intellektuellen und zur Herzensbildung besitzen für viele Muslime bis heute autoritativen Charakter. Bezeichnenderweise behandelt das erste Kapitel des monumentalen Werks Iḥyāʾ ʿulūm ad-dīn den »Vorzug
10 Vgl. Ehrhardt, Sabine: Der Dialog im Sprachunterricht der englischen Renaissance. Dialog als didaktische Methode – Didaktik als Dialog. Unveröffentlichte Dissertation, Jena 2003, S. 29.
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des Wissens« (Fa l al-ʿilm) und das fünfte Kapitel »Verhaltensregeln für Lehrer und Schüler« (Ādāb al-ʿālim wa-l-mutaʿallim). Ghazali bietet in Letzterem zudem einen umfangreichen Katalog mit konkreten Hinweisen zum Lehren und Lernen. So rät er den Studierenden unter anderem, zunächst alle schlechten Eigenschaften abzulegen und die Seele zu reinigen, bevor sie sich dem Studium zuwenden, da die Aneignung von Wissen jenen Menschen vorbehalten sein sollte, die moralisch geläutert sind. Außerdem sollten sich Studierende voll und ganz dem Studium hingeben, sich nicht vom Studium ablenken lassen und sich auch nicht einer Thematik, einer Wissenschaftsdisziplin oder dem Lehrer gegenüber respektlos zeigen. Es sei zudem ratsam, erst ein Wissensgebiet umfassend zu studieren, bevor man sich einem neuem widmet. Die Lehrer wiederum werden aufgefordert, sich ihren Schülern und Studierenden gegenüber fürsorglich zu erweisen und sie wie ihre eigenen Kinder zu behandeln – ein Appell, der uns in dieser Ausdrücklichkeit schon bei Dschahiz begegnete. Zudem obliege es den Lehrern, den Lernprozess so weit wie nur möglich zu erleichtern und zu fördern sowie die Wissensvermittlung interessant und kurzweilig zu gestalten. Auch und vor allem sollten Lehrende die Lernenden durch freundlichen Rat und liebenswürdige Rechtleitung zum Wissenserwerb ermuntern, denn Tadel und Strafen seien dem Lernprozess nicht förderlich.11 Auch mehrere andere, oft stark mystisch geprägte Werke Ghazalis enthalten zentrale Aussagen zur religiös geprägten Bildung. Zu nennen sind hier vor allem die arabischen Schriften Mīzān al-ʿamal (»Die Waage der Handlungen«), alMunqid min al- alāl (»Der Erretter aus dem Irrtum«), Bidāyat al-hidāya (»Der Anfang der Rechtleitung«) und das kurze persische Werk Kimiya-yi saʿādat (»Das Elixier der Glückseligkeit«). Für die islamische Bildung besonders wichtig ist aber auch der Traktat Ayyuhā l-walad (»O Kind«, oft auch übersetzt als »O mein Sohn«), in dem der Autor auf die – realen oder imaginären – Fragen eines schon fortgeschrittenen Studenten nach dem Nutzen von Studium und Wissenschaft antwortet. Die Tatsache, dass sich dieses Werk mit Fragen der höheren Bildung beschäftigt, soll hier hervorgehoben werden, da der Titel zunächst nahelegen könnte, dass sich diese Abhandlung vorrangig mit der Kindererziehung beschäftigt. Dies ist aber nicht der Fall, auch wenn es zuweilen (etwa 11 Vgl. hierzu meine Beiträge: »Be Masters in that You Teach and Continue to Learn: Medieval Muslim Thinkers on Educational Theory«, in: Comparative Education Review 50.3 (2006), Special Issue, Islam and Education–Myths and Truths, S. 367-388, inbes. S. 380-85, und »The Principles of Instruction are the Grounds of our Knowledge: Al-Farabi’s (d. 950) Philosophical and al-Ghazali’s (d. 1111) Spiritual Approaches to Learning«, in: Osama Abi-Mershed (Hg.): Trajectories of Education in the Arab World: Legacies and Challenges, London: Routledge 2010, S. 15-34.
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in bestimmten Internetforen) unter dem Blickwinkel der Kindererziehung gelesen und ausgewertet wird. Ayyuhā l-walad wurde im Jahre 1838 erstmals von dem österreichischen Diplomaten und Orientalisten Josef von Hammer-Purgstall (1774-1856) ins Deutsche übertragen.12 Inzwischen wurde es mehrfach übersetzt und liegt nunmehr in zahlreichen Sprachen vor. Die Kernaussagen des Buches Ayyuhā l-walad betreffen vor allem zwei Aspekte: zum einen sollte alle Wissensaneignung der spirituellen und ethischen Vervollkommnung des Menschen dienen; zum anderen sollte der Mensch aus der Aneignung von Kenntnissen praktischen Nutzen ziehen. Letztes Ziel sei es jedoch in beiden Fällen, dass der Mensch seinen Platz im diesseitigen Leben findet und sich gleichzeitig auf das ewige Leben im Jenseits vorbereitet, sodass ihm der Eingang ins Paradies möglich wird. Gleich zu Beginn des Werks sagt Ghazali hierzu: Dies gilt besonders für denjenigen, der konventionelles Wissen verfolgt und mit der Verbesserung seiner persönlichen [materiellen] Umstände und mit weltlichen Errungenschaften beschäftigt ist [...]. Begreift ein solcher eingebildeter Mensch nicht, dass, wenn er sich Wissen aneignet und dann nicht danach handelt, dieses [Wissen] am Tag [des Gerichts] mit Sicherheit zu einem Belastungsbeweis gegen ihn wird, gemäß den Worten des Gesandten Gottes – Gott segne ihm und schenke Heil: »Der Mensch, der am Jüngsten Tag am härtesten bestraft wird, ist ein Gelehrter, dem Gott keinen Nutzen aus seinem Wissen zuteil werden ließ.«13
Diese prinzipiellen Aussagen zu Sinn und Wert der islamischen Bildung durchziehen nahezu das gesamte wissenschaftliche Schaffen Ghazalis: Denn, wie Ghazali sagt, »bloßes Wissen«, d.h. Wissen um des Wissens willen, ist fruchtlos und bringt keinen Seelenfrieden – weder im Diesseits noch im Jenseits.14 Vielmehr muss ein jeglicher Lernprozess und alles Studium zur Läuterung des Charakters und zu gottgefälligen Handlungen führen, d.h. zu Handlungen, die hohen ethischen Maßstäben genügen und gleichzeitig dem Einzelnen und der Gemeinschaft dienlich sind. In diesem Sinne ermahnt Ghazali die Studierenden ausdrücklich, wenn er sagt:
12 Vgl. Al-Ġazālī, Abū Ḥāmid Muḥammad ibn Muḥammad: O Kind! Die berühmte ethische Abhandlung Ghasali’s. Arabisch und deutsch, als Neujahrsgeschenk, Übers. Joseph von Hammer-Purgstall, Wien: A. Strauß 1838. 13 Al-Ġazālī, Abū Ḥāmid: O Kind! Ayyuhā ’l-walad, Übers. Muhammad Harun Riedinger, Braunschweig: Edition Minarett 2002, S. 24 (leicht modifiziert). 14 Ebd., S. 25-27.
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O mein Sohn, wie viele Nächte hast du in der Vertiefung des Wissens und im Studium von Büchern verbracht und dir selbst den Schlaf verweigert? Ich weiß nicht, was dich dazu bewog. Wenn es das Streben nach Ansehen in der Welt und ihren vergänglichen Gütern und das Erreichen von Rang und Stellung in ihr und eitles Prahlen unter Ebenbürtigen und dergleichen ist, dann wehe dir und abermals wehe dir! Wenn dein Ziel jedoch die Belebung der šarīʿa (d.h. des religiösen Gesetzes) des Propheten – Gott segne ihn und schenke ihm Heil – ist und die Läuterung deines Charakters [...], dann wohl dir und abermals wohl dir!15
Ibn Ruschd (1126-1198) Gleichfalls zu erwähnen, wenn hier auch nur kurz, ist Ibn Ruschd, der arabische Gelehrte aus Cordoba, der in Europa unter dem Namen Averroes bekannt ist. Ibn Ruschd lebte im zwölften Jahrhundert im damals islamischen Spanien und in Marokko, wo er als Jurist, Arzt und Philosoph bemerkenswertes Ansehen genoss.16 Eines der originellsten Werke Ibn Ruschds ist der Traktat Fa l al-maqāl wat-taqrīr fī mā baina aš-šarīʿa wa-l-ḥikma min al-itti āl (»Die entscheidende Abhandlung und Urteilsfällung über das Verhältnis von göttlich geoffenbartem Gesetz und Philosophie«). Gemäß Ibn Ruschds eigenen Worten sind die beiden Hauptanliegen des Fa l al-maqāl, erstens zu beweisen, dass das göttlich geoffenbarte Gesetz generell »zur [rationalen] Betrachtung bzw. zum Studium der existenten Dinge mit Hilfe der Vernunft und zum Erwerb von Wissen über sie verpflichtet«; und zweitens zu zeigen, dass das religiös definierte Gesetz im Islam das rationale Denken und die wissenschaftliche Erforschung der realen Welt nicht nur ausdrücklich vorschreibt, sondern sogar erfordert und schützt.17 Diese beiden großen Thesen bilden den theoretischen Rahmen für jene Überlegungen des spanisch-arabischen Philosophen Ibn Ruschd, die für das Spannungsfeld von Rationalität, Bildung 15 Ebd., S. 29-30 (leicht modifiziert). 16 Vgl. auch meine Beiträge »Das Buch ist ein Gefäß gefüllt mit Wissen und Scharfsinn: Pädagogische Ratschläge klassischer muslimischer Denker«, in: Peter Gemeinhardt/Sebastian Günther (Hg.): Von Rom nach Bagdad: Bildung und Religion von der römischen Kaiserzeit bis zum klassischen Islam, Tübingen: Mohr Siebeck 2013, S. 357-379, insbes. 374-75, sowie Averroes and Thomas Aquinas on Education, Washington: Georgetown University Press 2012. 17 Vgl. Averroes (Ibn Ruschd): Die entscheidende Abhandlung und die Urteilsfindung über das Verhältnis von Gesetz und Philosophie. Arabisch-Deutsch. Mit einer Einleitung und kommentierenden Anmerkungen übersetzt von Franz Schupp, Hamburg: Felix Meiner 2009, insbes. S. 2-7.
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und Religion generell und für eine vernunftorientierte islamische Pädagogik im Besonderen relevant sind. Ibn Ruschds Vorstellungen trafen – in hebräischer und lateinischer Übersetzung – vor allem im 13. Jahrhundert auf ein vitales Interesse unter einflussreichen Denkern Europas. Sie beeinflussten jüdische Gelehrte wie den Philosophen und Arzt Moses von Narbonne (ca. 1300-1363), den Philosophen, Religionsgelehrten und Naturwissenschaftler Levi ben Gershon (1288-ca. 1344) oder den Religionsphilosophen Josef Albo (ca. 1365-1444),18 um nur einige Beispiele zu nennen, ebenso wie christliche Gelehrte in Paris, Neapel und Köln; unter Letzteren ist Thomas von Aquin (ca. 1225-1274) besonders prominent zu erwähnen. In der arabischen Welt sind es heute insbesondere die zum Teil säkular ausgerichteten muslimischen Denker wie der ägyptische Philosoph Hasan Hanafi (geb. 1935) und der marokkanische Gelehrte Muhammed Abed al-Jabri (1935-2010), die als Vordenker einer neuen arabischen Aufklärung wirken und dabei an Ibn Ruschds vernunftorientierte Philosophie auch in Fragen der Bildung anknüpfen. Ibn Khaldun (1332-1406) Zum Schluss wollen wir uns noch Ibn Khaldun, dem prominenten spanischarabischen Historiker, Rechtsgelehrten und Soziologen des vierzehnten Jahrhunderts, widmen. Ibn Khaldun stammte aus einer einflussreichen andalusischen Familie, was ihm eine ausgezeichnete Erziehung und Ausbildung in diversen Wissensbereichen ermöglichte. Hierzu gehörten religiöse Wissensgebiete (wie Koran und Prophetenbiografie) und das islamische Recht ebenso wie nicht religiöse Bereiche (d.h. vor allem die arabische Sprache und Literatur, Mathematik, Logik und Philosophie). Diese Bildung kam Ibn Khaldun später beruflich sehr zugute und ermöglichte es ihm, trotz wechselnder Machtverhältnisse und sich ablösender Dynastien in Andalusien und Nordafrika immer wieder wichtige politische Ämter auszuüben. Seine letzten Jahre verlebte Ibn Khaldun in Kairo unter dem Schutz des mamlukischen Sultans Barquq (reg. 1382-89 und 139099). Er wurde hier zum Professor an die Qamhiyya-Madrasa, eine der wichtigsten religiösen Hochschulen jener Zeit, berufen und im Jahre 1384 gleichzeitig zum obersten malikitischen Qadi ernannt.19 Ibn Khaldun starb im Jahre 1406 in Kairo im Alter von 74 Jahren. 18 Vgl. u.a. Rohling, Bernd: Aristotelische Naturphilosophie und christliche Kabbalah im Werk des Paulus Ritus, Tübingen: Walter de Gruyter und Max Niemeyer Verlag 2007, S. 393-7; sowie Gerhard Müller et al. (Hg.): Theologische Realenzyklopädie, Berlin: Walter de Gruyter 1988, Band 17, S. 244. 19 Vgl. u.a. Fromherz, Allen James: Ibn Khaldun: Life and Times, Edinburgh: Edinburgh University Press 2010, S. 99; Berkey, Jonathan P.: The Transmission of Knowledge in
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Bekannt ist Ibn Khaldun vor allem durch seine im Druck über 500 Seiten lange Muqaddima, d.h. das »Vorwort« oder die »Prolegomena« zu seiner monumentalen Universalgeschichte mit dem Titel Kitāb al-ʿIbar (»Das Buch der Lektionen« bzw. »Lehren«, die aus der Geschichte zu ziehen sind). Aufgrund der von Ibn Khaldun angewandten soziologisch-wissenschaftlichen Methode und seines historisch-kritischen Ansatzes bei der Bewertung geschichtlicher Entwicklungen besitzt die Muqaddima eine herausragende Stellung in der arabischislamischen Wissenschafts- und Ideengeschichte. Noch viel zu wenig erforscht ist allerdings die Bedeutung der Muqaddima im Kontext der historischen Bildungsforschung. Dies ist erstaunlich, da schon der Titel der Universalgeschichte deutlich macht, dass es sich um ein Werk mit einem dezidierten Bildungsanspruch handelt. Diese Feststellung wird untermauert durch zahlreiche Kapitel in der Muqaddima, die sich konkret Fragen der Wissensvermittlung und des Wissenserwerbs widmen.20 Dabei ist unverkennbar, dass Ibn Khaldun seine generell historisch-soziologische Perspektive auch auf die Fragen der Bildung anwendet. So unterscheidet er zunächst drei Arten von theoretischem und praktischem Wissen: •
•
•
das Wissen vom Wesen bzw. den hauptsächlichen Charakteristika der Dinge: dieses Wissen sei für das Verständnis der Wirklichkeit und ihrer Phänomene notwendig; das Wissen von der natürlichen Welt und der menschlichen Kultur: dieses Wissen versetze die Menschheit in die Lage, ihr Dasein zu ordnen und die Umwelt zu begreifen und zu kontrollieren; sowie das moralisch-ethische Wissen: dieses Wissen stehe in Beziehung zur Fähigkeit des Menschen, zu denken und Erfahrungen zu sammeln. 21
Ibn Khaldun unterstreicht dabei auch die Bedeutung, die sozialen Kompetenzen sowie der Fähigkeit zur Zusammenarbeit im Kontext des Lernens zukommt. Interessanterweise sieht Ibn Khaldun die Bildung als die Hauptgrundlage für die Verwirklichung des Menschen an. Obgleich die genealogische Abstammung Medieval Cairo: A Social History of Islamic Education, Princeton: Princeton University Press 1992, S. 103. 20 Vgl. Ibn Khaldūn: The Muqaddimah: An Introduction to History, Übers. Franz Rosenthal, Princeton: Princeton University Press 1958, insbes. Band 2, S. 309-463, sowie der gesamte Band 3. Vgl. auch Black, Antony: The History of Islamic Political Thought: From the Prophet to the Present, Edinburgh: Edinburgh University Press 2001, S. 165-182. 21 Vgl. ebd., S. 166.
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ebenso wie der menschliche Umgang und die allgemeine kulturelle Umwelt nachhaltig Einfluss auf die Entwicklung eines Menschen ausübten, so sei es doch vor allem und ausdrücklich die Bildung und Erziehung, die einen Menschen hauptsächlich prägten. Für Ibn Khaldun ist die Bildung mithin der einzig nachhaltige Garant dafür, dass sich die Menschen als Individuen weiterentwickeln, in ihrem Wirken erfolgreich sind, gleichzeitig der Gemeinschaft nützen und somit einen geachteten Platz in der Gesellschaft einnehmen. Aus dem breiten Spektrum von Ibn Khalduns Erörterungen zu Bildung und Erziehung sei hier auf einige Aussagen zu den Lehr- und Lernmethoden im religionsgebundenen Unterricht näher eingegangen. Ibn Khaldun widmet dieser Thematik in der Muqaddima ein ganzes Kapitel. Er verweist hier zunächst auf die grundsätzliche Bedeutung, die dem Unterricht der Kinder im Koran als einem, wie Ibn Khaldun es ausdrückt, »essentiellen Merkmal der islamischen Religion« (šiʿār min šaʿāʾir ad-dīn) zukommt.22 Denn die Unterweisung im Koran erfülle die Herzen der Jugendlichen mit dem festen Glauben an die Grundsätze des Islams. Sie lege somit die Grundlage für alle Eigenschaften und Verhaltensgewohnheiten, die sich der Mensch im späteren Leben aneignet. Gleichzeitig weist Ibn Khaldun darauf hin, dass Probleme auftreten können, wenn die Unterweisung der Kinder in der Heiligen Schrift zu früh im Kindesalter beginnt, die Kinder nicht ausreichend darauf vorbereitet sind oder die religiöse Ausbildung auf Kosten der Allgemeinbildung stattfindet.23 Diese Feststellung stellt Ibn Khaldun Beispielen aus verschiedenen geografischen Regionen des islamischen Weltreichs voran. Er zeigt dabei, dass die islamische Bildung immer dann besonders erfolgreich war, wenn sie – wie etwa in al-Andalus oder im Osten des islamischen Reiches – in einer ausgewogenen Mischung aus traditionell religiöser Unterweisung und nicht religiösen Fächern erfolgte. Eine überproportionale Konzentration auf den Koran, die Prophetentradition und andere religiöse Fächer, wie Ibn Khaldun dies in seiner Zeit für den Maghreb verzeichnet, sei kritisch zu sehen. Sie sei zu einseitig, da sie die Jugendlichen weder in die Lage versetze, sprachliche Meisterschaft zu erreichen, noch die notwendige Allgemeinbildung vermittle, die beide für Erwachsene bzw. das Berufsleben unverzichtbar seien. Ibn Khaldun merkt in diesem Kontext ebenfalls an, dass ein vielfältiges Curriculum schon ab dem frühen Kindesalter es den Lernenden später ermögliche, sich Fähigkeiten und Fertigkeiten anzueignen, die für jede Art der mündlichen 22 Vgl. Ibn Khaldūn, ʿAbd ar-Raḥmān: al-Muqaddima, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmīya 1421/2000, S. 461; Ibn Khaldūn: The Muqaddimah, Band 3, S. 300. 23 Vgl. Ibn Khaldun: al-Muqaddima, S. 463; Ibn Khaldūn: The Muqaddimah, Band 3, S. 304.
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und schriftlichen Kommunikation essenziell sind. Hierzu gehören »das Erlernen von Gedichten und deren vorzügliche Rezitation (tarassul), von den Regeln des Arabischen und deren richtiger Anwendung sowie von einer guten Handschrift.«24 Der mündliche und schriftliche Ausdruck besitzt für Ibn Khaldun eine zentrale Bedeutung beim Lernen und Studieren, da er den Ausgangspunkt und die Grundlage für jegliche Gedankengänge sei, die wiederum den Übergang von einzelnen Ideen zu komplexen Gedankensystemen ermöglichten. Mit anderen Worten ausgedrückt: es sind Sprache und Sprachbeherrschung, die für den Sozialhistoriker Ibn Khaldun essenziell für das Verstehen, Lernen und Handeln sind. Des Weiteren merkt Khaldun an:
Für jede Bildung ist ein kenntnisreicher und in ethischer Hinsicht rechtschaffener Lehrer nötig, von dem die Schüler durch genaue Beobachtung (bi-lmuʿāyana) lernen; das Lernen muss allmählich und den intellektuellen Fähigkeiten der Studierenden entsprechend erfolgen; die Studierenden dürfen nicht überfordert werden. Und nicht zuletzt: eine Thematik muss erst ausreichend gemeistert werden, bevor man sich einem neuen Wissensbereich zuwendet – ein Ratschlag, der sich in gleichermaßen expliziter Form schon bei Ghazali findet.25
S CHLUSSFOLGERUNGEN Im Zentrum dieses Beitrags standen einige besonders prominente muslimische Gelehrte aus der klassischen Zeit des Islams: der Rechtsgelehrte Abu Hanifa bzw. sein Schüler Samarqandi, der Literat und Theologe Dschahiz, der ismailitische Religionsgelehrte und Koranexeget Ibn Mansur al-Yaman, der Theologe und Mystiker Ghazali, der soziologisch interessierte Historiker Ibn Khaldun sowie, wenn auch nur kurz, der Philosoph und Rechtsgelehrte Ibn Ruschd. Obgleich sich die methodischen und thematischen Zugänge dieser Gelehrten zur Bildung aufgrund der durch sie vertretenen Fachdisziplinen unterscheiden, las-
24 Ibn Khaldun: al-Muqaddima, S. 462; Ibn Khaldūn: The Muqaddimah,, Band 3, S. 301. 25 Vgl. auch Cheddadi, Abdessalam: »Ibn Khaldun (A.D. 1332-1406/A.H. 732-808)«, in: Prospects: The Quarterly Review of Comparative Education 24 (1994), S. 7-19, insbes. S. 14.
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sen sich dennoch bestimmte, allen diesen Autoren gemeinsame pädagogische Prinzipien herausarbeiten. Zu nennen sind vor allem folgende Punkte: 1. Sowohl im profanen als auch im religiösen Lernen ist es möglich und erforderlich, den Verstand zu benutzen, um durch rationale Argumentation und Kontemplation zu einem tieferen Verständnis von Gott und der Welt zu gelangen. 2. Ein Lehrer ist für den Lernprozess unabdingbar. Dabei ist die Autorität des Lehrers durch den Lernenden in allen Bereichen des Lernens zu akzeptieren. 3. Die Lehrer sind verpflichtet, ihre Schüler und Studierenden zu respektieren und den Unterricht gleichsam auf Augenhöhe mit diesen durchzuführen. 4. Der Lehrer sollte den Unterricht interessant gestalten. Dabei muss die Unterweisung das intellektuelle Niveau der Schüler und Studierenden angemessen berücksichtigen und darf diese nicht überfordern. 5. Einmal erworbenes Wissen erfordert eine kontinuierliche Pflege, da Wissen – ebenso wie die menschliche Existenz – vergänglich ist. So muss altes Wissen tradiert und gepflegt werden. Es muss aber auch immer wieder hinterfragt werden, denn nur so ist es möglich, effektiv Nutzen daraus zu ziehen und neues Wissen zu generieren. Diese Einsicht war den mittelalterlichen muslimischen Gelehrten durchaus bewusst, wie die Tatsache verdeutlicht, dass sie bereits in den ersten Jahrhunderten des Islams Leitfäden und Handbücher für Lehrer und Schüler verfassten, in denen sie konkrete pädagogische Ratschläge erteilen und erörtern. Dem ist hinzuzufügen, dass sich alle hier betrachteten Bildungstexte durch eine besonders klare Präsentation und eine oft bildreiche Sprache auszeichnen, die wiederum die darin getroffenen inhaltlichen Aussagen und Argumente verdeutlichen bzw. unterstützen. Über diese generellen Gemeinsamkeiten hinaus finden sich in diesen Werken wertvolle spezielle Aussagen zu Bildung und Erziehung. Zu nennen sind: a. die Forderung, dass alle gute Bildung in Handlungen münden und sich zum Nutzen sowohl der Gemeinschaft als auch des Einzelnen auswirken müsse – wie Ibn Mansur al-Yaman, Ghazali und Ibn Khaldun explizit äußern; b. die Notwendigkeit, schriftliche Dokumente und gute Bücher ins Zentrum von Lehre und Lernen zu stellen, da diese das kreative Denken förderten – ein Gedanke, den vor allem Dschahiz thematisiert;
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c. die Ermahnung, sich nicht durch schlechte Ratschläge im Lernen beirren oder behindern zu lassen und stattdessen immer darauf bedacht zu sein, eigenständig zu denken – wie Abu Hanifa und sein Schüler Samarqandi verdeutlichen; und schließlich d. die Prämisse, dass das religiöse Gesetz im Islam die Nutzung des Verstandes in Bildungsprozessen nicht nur fördert, sondern geradezu erfordert und schützt – wie Ibn Ruschd feststellt. Diese und ähnliche pädagogische Aussagen muslimischer Gelehrter sind auch im Kontext moderner multikultureller Gesellschaften interessant, da sie wichtige Lösungsansätze für Kernfragen im Spannungsverhältnis von Bildung und Religion bieten. Dabei kommt der historischen Bildungs- und Islamforschung eine wichtige Rolle in der wissenschaftlichen Erschließung, Auswertung und Aufbereitung dieser Texte für eine breitere interessierte Öffentlichkeit zu. Insofern ist mit diesem Beitrag die Hoffnung verbunden, dazu anzuregen, die mittelalterlichen arabischen Werke neu zu lesen bzw. im Sinne einer historisch-kritischen interkulturellen Pädagogik erneut zu entdecken – zumal zahlreiche pädagogische Prinzipien der klassischen muslimischen Gelehrten sich als uneingeschränkt kompatibel mit jenen Bildungskonzepten erweisen, die in der vor allem jüdischchristlichen geprägten, humanistischen Bildungstradition Europas stehen. Sie können insofern einen wichtigen Beitrag dabei leisten, die Integration verschiedener kultureller und religiöser Traditionen, einschließlich der des Islams, in Europa entscheidend voranzutreiben.
Dekontextualisierung des Korans: moderne Koraninterpretationen oder Konstruktion moderner Korane 1 Ö MER Ö ZSOY (F RANKFURT )
Der vorliegende Beitrag versucht, eine der meines Erachtens zentralen Schwächen des gegenwärtigen islamischen Denkens zu behandeln, nämlich die Herauslösung eines alten Texts – in diesem Falle des Korans – aus seinem Kontext, um ihn über alles Mögliche sprechen zu lassen. Der Ursprung dieses Bemühens, dessen schrillsten Ausformungen wir in der Moderne begegnen, lässt sich bis in frühe Etappen der islamischen Gedankengeschichte zurückverfolgen. Dieser Weise der Annäherung liegt die Annahme zugrunde, der Koran – als das Wort Gottes – beschränke sich nicht auf die Offenbarungszeit, sondern habe vielmehr Ewigkeitswert – eine Vorstellung, die die Möglichkeit eröffnet, definitiv nachkoranische Ereignisse, Meinungen oder Einstellungen durch die Autorität des Korans je nachdem zu legitimieren oder abzulehnen. Der unter den Muslimen allgemein verbreitete Glaube an den übergeschichtlichen Charakter des koranischen Wortlauts bildet die Argumentationsgrundlage, die solchen exegetischen Anstrengungen in den Augen der Muslime Legitimität verleiht. Und was einst erfundene, dem Propheten in den Mund gelegte Hadithe und unterschiedliche, ebenfalls erfundene Lesarten des Korans leisten sollten, wird heute, da beide
1
Der vorliegende Text beruht auf der unveröffentlichten Antrittsvorlesung, die der Autor am 01.11.2007 an der Goethe-Universität gehalten hat. Inzwischen liegt eine überarbeitete und erweiterte Fassung dieses Textes vor: »Das Unbehagen der Koranexegese: Den Koran in anderen Zeiten zum Sprechen bringen«, in: Frankfurter Zeitschrift für islamisch-theologische Studien, Band 1 (2014), S. 29-68.
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Möglichkeiten ausgeschöpft sind, dadurch verwirklicht, dass dem alten koranischen Wortlaut moderne Bedeutungen beigelegt werden. Ich werde im Folgenden versuchen, mögliche geschichtliche Hintergründe dieser anachronistischen Annäherung an den Koran analytisch darzustellen und bestimmte rezeptionsgeschichtliche Brüche auf der Ebene des Denkens und Wahrnehmens, die zu ihr geführt haben dürften, aufzuzeigen.
D IE S ELBSTDARSTELLUNG L EBENDIGER D IALOG
DES
K ORANS :
Ich möchte meine Ausführungen mit einem Zitat von Hans Zirker, einem der wenigen Religionswissenschaftler, die sich mit Korantheologie befassen, beginnen: Der Glaube der Muslime gründet seinem Selbstverständnis nach nicht in einer besonderen Geschichte, sondern allen Ereignissen und Erfahrungen voraus in ›der von Gott geschaffenen Natur, in der er die Menschen erschuf‹ (Sure 30:30). Die fundamentale Offenbarung Gottes ist mit seiner Schöpfung identisch. Wenn die Menschen sich und ihre Welt nur recht begreifen und dementsprechend leben, erkennen sie auch Gott in der für alle Zeiten gültigen, nicht überbietbaren Weise an. Dies bekräftigt der Koran in einer selbst für ihn einmaligen mythologischen Szene [gemeint ist Sure 7:172, d. V.], in der Gott die Menschen schon vor ihrer irdischen Existenz auf das wahre Bekenntnis verpflichtet, damit ihre Religion allen Zufällen irdischen Lebens und menschlicher Geschichte enthoben sei und sie sich ihr nicht schuldlos entziehen können[…]2
Das heißt, dass der Mensch, wenn er seine Innen- und Außenwelt recht begreift und sich dementsprechend verhält, naturgemäß in der Lage ist, auch Gott und seinen Willen anzuerkennen, ohne dabei auf zusätzliche Rechtleitung durch Boten angewiesen zu sein. Daher gelten im koranischen Geschichtsverständnis alle prophetischen Botschaften nur als Erinnerung an das, was der Menschennatur schöpfungsgemäß ohnehin zukommt. Der Propheten bedurfte es allein deshalb, weil die ursprüngliche Offenbarung Gottes, der Urvertrag, vergessen worden war.3 Sie wurden von Gott in seiner Barmherzigkeit gesandt, um die Menschen an den Urvertrag und ihre Uridentität zu erinnern, nicht aber, um ihnen
2
Zirker, Hans: Gottes Offenbarung nach muslimischem Glauben, in: LebZeug 54, 1999, S. 34-45.
3
Vgl. ebd.
D EKONTEXTUALISIERUNG
DES
K ORANS
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religionsgemeinschaftliche Identitäten – Jude, Christ oder Muslim – zu verleihen, welche sich allein aus den Notwendigkeiten des Menschseins ergeben und von Gott auch nur als solche toleriert werden. Der Koran versteht sich als das chronologisch letzte Glied einer Kette göttlicher Offenbarungen, die das ewige Wort Gottes zum Ausdruck brachten, und als Bestätigung dessen, was die früheren Gesandten verkündet hatten: Muhammad, wir senden dir Offenbarung, wie Wir Noah und den Propheten nach ihm offenbart hatten; Wir haben bereits Abraham und Ismael und Isaak und Jakob und den Sippen und Jesus und Hiob und Jonas und Aaron und Salomo offenbart, und Wir gaben David einen Psalm. (4:163; vgl. 41:43)
Diese Selbstdarstellung des Korans macht es in exegetischer Hinsicht notwendig, ihn nicht nur intertextuell, in Anlehnung an die früheren Offenbarungsschriften, zu lesen, sondern ihn gemeinsam mit ihnen als eine Gesamtheit zu betrachten. Denn der Koran ist, wie Abdullah Takim in seiner Dissertation ausführt, ein multireferenzielles Wort. Das heißt, der Koran bezieht sich auf sich selbst, bewertet sich selbst und legt auch dar, welche Stellung er in der Offenbarungsgeschichte einnimmt.4 So wurde die koranische Offenbarung vom Propheten Muhammad auch von Beginn an wahrgenommen. Schließlich sah selbst der Koran die Juden und Christen in Mekka mehr oder weniger als Gemeinden desselben Glaubens an und erwartete von ihnen eine positive Annäherung an die neue Botschaft. Nachdem jedoch nach der Auswanderung des Propheten nach Medina klar wurde, dass diese Erwartung nicht realistisch war, wurden sie auch vom Koran als »Andere« betrachtet und als jeweils eigene religiöse Gemeinde anerkannt wurden. Das hieß aber nicht, dass der Koran seine Erwartungshaltung gegenüber den »Leuten der Schrift« (ahl al-kitāb) aufgegeben5 oder die früheren Schriften für ungültig erklärt 6 hätte. Analog hierzu bezog sich auch der Prophet nach der muslimischen Geschichtsschreibung bis zu seinem Tode auf das, was
4
Takim, Abdullah: Koranexegese im 20. Jahrhundert: Tradition und neue Ansätze in Süleyman AteĢ’ zeitgenössischem Korankommentar, Istanbul: Yeni Ufuklar 2007.
5
Siehe Özsoy, Ömer: »›Leute der Schrift‹ oder Ungläubige? Ausgrenzungen gegenüber Christen im Koran«, in: Hansjörg Schmid/Andreas Renz/Jutta Sperber/Duran Terzi (Hg.): Identität durch Differenz? Wechselseitige Abgrenzungen in Christentum und Islam, Regensburg: Pustet 2007, 107 ff.
6
Zu einer zeitgenössischen, inklusivistischen Auslegung der Koranstellen, in denen es um ahl al-kitāb geht, siehe: AteĢ, Süleyman: Die geistige Einheit der Offenbarungsreligionen. Übers. Abdullah Takim, Istanbul: Yeni Ufuklar 1998.
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den »Leuten der Schrift« aus dem Evangelium (inğīl) und der Tora (tawrāt) vorlag, sofern er keine neue Bestimmung offenbart bekam, sodass die jüdischchristlichen Traditionen (šarīʿa man qablanā) in der islamischen Jurisprudenz als grundsätzliche Rechtsquelle anerkannt wurden. Inhaltliche Unterschiede zwischen dem Koran und den früheren Offenbarungsschriften sind jedoch gerade in einer zunehmend interreligiösen Welt nicht übersehbar. Lassen sich diese nun – wie nach Ansicht vieler zeitgenössischer Muslime – durch »Verfälschung der früheren Schriften« oder – wie von vielen Nichtmuslimen behauptet – durch »Willkür« bzw. »Häresie« Muhammads erklären, oder hängen sie eher mit der Historizität der jeweiligen Schrift zusammen? Ferner, wie sind die schwierigen Koranstellen zu verstehen, die auf der Textebene allem Anschein nach nicht miteinander in Einklang zu bringen sind? Lassen sie sich – wie in den Augen vieler muslimischer Theologen – immer durch »Abrogation« (nasḫ), oder – gemäß vielen Islamwissenschaftlern – nur durch »Widerspruch« erklären – oder aber liegt die Antwort in der Kontextualität der jeweiligen Koranpassagen?
D IE K ORANWAHRNEHMUNG DER AKTUELLE ANREDE
ERSTEN
G ENERATION :
Aus korantheologischer Sicht ist die Offenbarung des verborgenen Wortes Gottes letztendlich die Vergegenwärtigung des kontextlosen, absoluten Willens Gottes in bestimmten historischen, kulturellen und sprachlichen Kontexten: eine Vergegenwärtigung also, durch die das Göttliche, d.h. das Kontextlose, ins Menschliche, d.h. in bestimmte Kontexte, übertragen, übersetzt oder herabgesandt wird. So lässt sich der Koran wie alle früheren Offenbarungsschriften auf eine himmlische Urschrift zurückführen, wobei er sich gleichzeitig als die arabische Entfaltung dieser darstellt: Bei der deutlichen Schrift! Wir machten sie nun zu einem arabischen Vortrag (qurʾānan ʿarabiyyan), damit ihr sie versteht. Er ist in der Mutter der Schrift bei uns, erhaben und weise. (43:2-4)
Die Bezeichnung »arabisch« (ʿarabī)7, die im Koran an zehn Stellen vorkommt, bezieht sich vor allem auf die Sprache des Korans, beschränkt sich aber nicht nur
7
Vgl. zu qurʾān ʿarabī 12:2; 20:113; 39:28; 41:3; 42:7 und zu ḥukm ʿarabī 13:37: »So haben wir ihn (den Koran) als ein arabisches Gesetz hinabgesandt.«
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DES
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auf das Sprachliche. Denn eine Sprache zu verwenden heißt nicht nur, ein Instrument zu benutzen, sondern auch in eine Kultur einzutreten, deren Tür die Sprache bildet. Bezüglich des Korans trat durch das Arabische die göttliche Offenbarung in die damalige arabische Kulturwelt ein und nahm mit den Arabern des siebenten Jahrhunderts Kontakt auf, indem sie sie mit und in ihrer Sprache, Mentalität und Praxis ansprach. Er hat seine Hörer durch seine dialektischen Eigenschaften angesprochen, die ihn für sie zu einer aktuellen Botschaft werden ließen, die ihn aber im gleichen Maße den späteren Generationen, d.h. seinen Lesern, einschließlich uns, fremd werden ließen. So etwa stellten die Adressaten Fragen zum Neumond und Gott gab Antwort (2:189). Sie fragten, ob es recht sei, in den Friedensmonaten Krieg zu führen, und er gab Antwort (2:217). Das sind nur zwei beispielhafte von vielen Antworten, die der Koran gibt.8 Kann man nun behaupten, dass es alle möglichen Fragen sein können, die der Mensch je an Gott richten kann? Kann man behaupten, dass die im Koran gegebenen Antworten darauf abzielen, die gesamte Menschheit im umfassenden Sinn zufriedenzustellen? Wie viele Menschen würden heute, hätten sie die Möglichkeit, an Gott die Frage stellen, wie es zum Neumond kommt? Und wie vielen würde die koranische Antwort darauf genügen? Sie hat offenkundig die damalige Absicht und den seinerzeitigen Wissenshorizont der Fragenden vor Augen und ist demnach zeitbezogen. 9 Anlass und Intention einer Frage, die im Koran gestellt wird, sind deshalb erheblicher als der Umstand, dass sie überhaupt vorkommt. Und noch erheblicher ist die Frage, ob im Koran überhaupt etwas z.B. über Kriegsführung in den Friedensmonaten stünde, wenn während der Offenbarungsjahre darüber Konsens geherrscht hätte. Dieselben Überlegungen könnte und sollte man vielleicht bezüglich des gesamten Inhalts des Korans anstellen, wenn es darum geht, eine authentische Verbindung zwischen seiner diskursiven Entstehungssituation bzw. Wirkungsgeschichte und der Gegenwart herstellen zu können. Es kommt nämlich nicht selten vor, dass im Koran von Äußerungen bzw. Meinungen des Propheten oder von Adressaten die Rede ist, ganz in der Art
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Fragen der Adressaten werden im Koran an 15 Stellen durch yasʾalūnak und an zwei Stellen durch yastaftūnak, ihre Äußerungen an Hunderten von Stellen durch qāl, qālat, qālū, yaqūlūn wiedergegeben.
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Man fragt dich nach den Neumonden. Sag: »Sie sind (von Gott gesetzt als) feste Zeiten für die Menschen, und für die Wallfahrt. Und die Frömmigkeit besteht nicht darin, dass ihr von hinten in die Häuser geht. Sie besteht vielmehr darin, dass man gottesfürchtig ist. Geht also zur Tür in die Häuser, und fürchtet Gott! Vielleicht wird es euch dann wohl ergehen.« (2:189)
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einer zwischenmenschlichen Konversation.10 An manchen Stellen wird direkt auf die Aussage einer Person verwiesen, sogar in Form des Zitats 11 – dergleichen Beispiele kennt die klassische exegetische Literatur zu Hunderten.12 Hierzu zählen auch jene Verse, die direkt auf die Handlungen, Gedanken und Gefühlseinstellungen der Person Muhammad Bezug nehmen. Der Bezug des Korans zur Offenbarungszeit und zu den Adressaten erschöpft sich nicht in diesen Antworten, Anspielungen und Zuschreibungen. 10 In einem der ersten Verse wird z.B. der Prophet gerufen: »Du, der du dich (mit dem Obergewand) zugedeckt hast!« (74:1), eine Anspielung auf sein Ersuchen an seine Familie: »Deckt mich zu!«, als er die erste Offenbarung erlebt hatte und erschrocken nach Hause kam. Ebenso wird überliefert, dass während einer Ansprache des Propheten an seine Sippe am Hügel von Ṣafā, in der er sie zur Annahme der neuen Botschaft aufforderte, sein Onkel Abū Lahab zu ihm sagte: »Sei dem Verderben preisgegeben! Hast du uns hier deshalb versammelt?« Die Offenbarung reagierte darauf mit denselben Worten; in der Sure 111 heißt es: »Dem Verderben seien die Hände Abū Lahabs preisgegeben! Dem Verderben sei er preisgegeben!« 11 In der asbāb an-nuzūl-Literatur heißt es: Der Prophet hat den folgenden Vers verkündet: »Sag: Ihr mögt geheim halten, was ihr in eurem Innern hegt, oder es kundtun, Gott weiß es. Er weiß alles, was im Himmel und auf der Erde ist. Gott hat zu allem die Macht.« (3:29). Darauf haben sich die Muslime beunruhigt und der Prophet befahl ihnen: »Sagt: Wir hören, und wir gehorchen. Uns deine Vergebung, o unser Herr! und zu dir ist die Heimkehr.« In Anlehnung darauf kam folgende Offenbarung: »Der Gesandte glaubt an das, was von seinem Herrn zu ihm herabgesandt worden ist, und die Gläubigen. Alle glauben an Gott, seine Engel, seine Schriften und seine Gesandten – wobei wir bei keinem von seinen Gesandten einen Unterschied machen. Und sie sagen: Wir hören und gehorchen. Schenk uns deine Vergebung, Herr! Bei dir wird es schließlich alles enden.« (2:285). Ebenso wird überliefert, dass der Prophet den folgenden Vers schreiben ließ: »Hierauf schufen wir den Tropfen zu einem Embryo, diesen zu einem Fötus und diesen zu Knochen. Und wir bekleideten die Knochen mit Fleisch. Hierauf ließen wir ihn als neues Geschöpf entstehen.« (23:14) Daraufhin äußerte sich der Schreiber: »So ist Gott voller Segen. Er ist der beste Schöpfer.« So sagte der Prophet: »Schreib genau so! Genau so wurde eben offenbart.« 12 Siehe as-Suyū ī: Al-Itqān fī ʿulūm al-qurʾān, Ägypten 1978, Band 1, S. 46 f. Unter den Beispielen für die koranische Offenbarung als Reaktion auf die aktuelle Praxis ist die Übereinstimmung des Korans mit Meinungen des Prophetengefährten ʿUmar besonders bemerkenswert und so bekannt, dass darüber einzelne Kapitel verfasst wurden (muwāfaqāt ʿUmar). Es wird überliefert, dass z.B. die Verse zur Bedeckung der Frauen und zum Ğihād als Zustimmung zu seinen Ansichten bzw. auf seinen Wunsch hin herabgesandt worden seien.
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Darüber hinaus enthält er auch Hinweise auf fast alle wichtigen Ereignisse der Offenbarungszeit.13 Nicht nur die im Koran genannten Namen von Personen (wie Zayd und Abū Lahab) und Orten (wie Bekka und Yaṯrib), auch die Pronomen zeugen von der engen Verbindung der Offenbarung mit der Außenwelt. Die Identifizierung der Pronomen im Koran wurde gar zum Hauptbetätigungsfeld der mubhamāt-Literatur, da diese von vielen modernen Exegeten als Beleg dafür gelten, dass der Koran als ein übergeschichtlicher Text konzipiert ist und daher bewusst Pronomen anstatt bestimmter Personen- und Ortsnamen verwendet.14 Die Erstadressaten des Korans, d.h. seine Hörer, haben die Offenbarung und ihren historischen Kontext direkt wahrgenommen, während den späteren Generationen, also den Lesern des Korans, diese Möglichkeit fehlt. Man kann wohl sagen, dass die Erstadressaten, um die koranische Botschaft zu verstehen, nur darauf angewiesen waren, seinen Wortlaut zu hören.15 Ein Blick auf die Beispiele zu Koranauslegungen des Propheten und seiner Gefährten, die frühen Korankommentaren, koranwissenschaftlichen Werken und nicht zuletzt Hadithsammlungen zu entnehmen sind, vermittelt uns eine einigermaßen klare Vorstellung von der Art der Schwierigkeiten, die die Urgemeinde beim Verstehen des Korans gehabt haben könnte. Diese Beispiele lassen vermuten, dass der Koran von seinen Erstadressaten im Grunde verstanden wurde.16 Dabei muss man nicht auf eine auf gläubige Adressaten des Korans eingeschränkte Gemeindehermeneutik zurückgreifen. 13 Beispiele sind die Auswanderung nach Abessinien (16:110) und nach Medina (59:9), die Schlacht von Badr (8:5-19), die Schlacht von Uḥud (3:151-159), die Schlacht von Ḫandaq (33:9-27), der Friedensvertrag von Ḥudaybiya (48:10-27), die Eroberung von Mekka (48:27), der Krieg von Ḥunayn (9:25-27), der Feldzug von Tabūk (9:38-50), der Sieg der christlichen Byzantiner gegenüber den Persern (30:1-5) und die Abtrünnigkeiten zur Zeit des Propheten (3:86-91) usw. 14 Zu weiteren koranischen Hinweise auf die Offenbarungszeit und ihre ausführliche Bewertung siehe: Ḥanafī, Ḥasan: Al-Waḥy wa-l-wāqiʿ«, in: o. Hg.: Al-Islām wa-lḥadāṯa, London: Dār as-Sāqī 1990, S. 133-154. 15 An dieser Stelle wäre an die koranischen Hinweise darauf zu erinnern, dass die Berufung des Propheten darauf beschränkt war, die offenbarten Worte zu verkündigen. Außerdem ist im Koran davon die Rede, dass die ungläubigen Mekkaner die Gläubigen daran zu hindern versuchten, dem Koran zuzuhören: »Diejenigen, die ungläubig sind, sagen: ›Hört nicht auf diesen Koran! Schwatzt vielmehr darüber (oder: Redet dazwischen)! Vielleicht werdet ihr damit die Oberhand gewinnen.‹« (41:26) 16 Zu einer ausführlichen Auseinandersetzung mit der Frage siehe: Aš-Šāṭibī: AlMuwāfaqāt fī u ūl aš-šarīʿa, Hg. ʿAbdallāh Dirāz, Ägypten: o. V. 1978, Band 2, S. 64 ff.
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Schließlich hatte der Koran nicht von Beginn an eine einheitliche muslimische Hörerschaft vor sich. Aufgrund seiner besonderen Genese setzt sich der Korantext aus Offenbarungseinheiten zusammen, die auf verschiedene Sprechakte verweisen, an denen jeweils unterschiedliche Akteure mit verschiedenen Wissenshintergründen beteiligt waren, die auch in der Koranexegese in Betracht gezogen werden müssen, wie der ägyptische Literaturwissenschaftler Amīn alḪūlī (gest. 1966) es in seiner koranhermeneutischen Forschung zu etablieren versuchte, was nach ihm jedoch kaum weiterverfolgt wurde. 17 So, wie die erste muslimische Generation den Koran als eine aktuelle Rede an sie wahrnahm, konnten manche Gelehrte dieser Generation auch mit seinen Geboten und Verboten als zeitgebunden umgehen. Bemerkenswert sind die Beispiele von Entscheidungen ʿUmars (gest. 644), die dem Wortlaut der koranischen Bestimmungen bzw. Anordnungen widersprachen. Hier soll seine Entscheidung über die Verteilung der zakāt-Einkommen erwähnt werden. Im Koran heißt es: Die Almosen sind nur für die Armen und Bedürftigen (?) (bestimmt), (ferner für) diejenigen, die damit zu tun haben, (für) diejenigen, die (für die Sache des Islams) gewonnen werden sollen (w. diejenigen, deren Herz vertraut gemacht wird), für (den Loskauf von) Sklaven, (für) die, die verschuldet sind, für den Weg Gottes und für den, der unterwegs ist. […] (Dies gilt) als Verpflichtung von seiten Gottes. Gott weißt Bescheid und ist weise. (9:60)
Der Überlieferung zufolge sprach ʿUmar sich dafür aus, diese Zahlung – zu leisten an Ungläubige, die für die Sache des Islams gewonnen werden sollten – einzustellen, und begründete dies damit, dass der Islam so stark geworden sei, dass man keine Unterstützung von den Ungläubigen mehr bräuchte. Wichtig und lehrreich ist daran, dass er den Mut aufbrachte, statt am Wortlaut der koranischen Bestimmung festzuhalten, von der Idee dahinter auszugehen, die er als übergeordnetes Ziel festgestellt zu haben glaubte.18 Dies ist nicht das einzige Beispiel dafür, dass Entscheidungen getroffen oder fatwās erlassen wurden, die 17 Al-Ḫūlī, Amīn: »at-Tafsīr«, in: Dāʾira al-maʿārif al-islāmiyya, Teheran: o. V. 1966; ders. Manāhiğ tağdīd fī-n-naḥw wa-l-balāġa wa-t-tafsīr wa-l-adab, Kairo: o. V. 1961. Al-Ḫūlīs koranhermeneutische Überlegungen wurden nur ansatzweise von seinen Schülern weiterverfolgt, insbesondere von ʿĀʾiša ʿAbdarraḥmān (gest. 1999), die zugleich seine Frau war, und Muḥammad Aḥmad Ḫalafallāh (gest. 1998). 18 Fazlur Rahman analysiert die vom Wortlaut des Korans sowie vom Hadith abweichenden Rechtsurteile aus dieser Perspektive. Siehe Rahman, Fazlur: Islamic methodology in history, Karachi: Central Institute of Islamic Research 1965, S. 180 ff.
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vom koranischen Wortlaut abwichen. Die in der Methodologie des islamischen Rechts (u ūl al-fiqh) getroffene Unterscheidung zwischen der ursprünglichen Bedeutung (maʿnā) und dem endgültigen Ziel (maġzā) und die Theorie von Zwecken der šarīʿa (maqā id aš-šarīʿa) beruht auf der Annahme, dass sich jede koranische Bestimmung auf einen bestimmten historischen Kontext beziehe und für ähnliche Situationen gültig sei.
D IE ERSTE HERMENEUTISCHE U MWANDLUNG DER K ORANWAHRNEHMUNG : T EXT OHNE K ONTEXT Während die erste Generation den Koran als eine direkt an sie gerichtete, wörtliche Rede erlebt hat, hat die zweite Generation (tābiʿūn) ihn als einen schriftlichen Text wahrgenommen. Für diese war er daher kein offener Prozess mehr, der sich auf ihre Umstände bezogen und sich mit ihren aktuellen Begebenheiten und Gegebenheiten auseinandergesetzt hätte, sondern stellte eine abgeschlossene Gesamtheit dar. Diese Änderung auf der Ebene der Betrachtung und Wahrnehmung beruht teilweise auf dem Umstand, dass aufgrund der zur Zeit des dritten Kalifen ʿUṯmān (644-656) getroffenen Maßnahmen in Richtung Standardisierung bzw. Kanonisierung des Texts des Korans aus der »miterlebten Offenbarung« ein »kanonisches Buch« zwischen zwei Deckeln wurde. Dieser hermeneutische Wandel der Koranwahrnehmung der frühen Muslime, zu dem es bereits zur Zeit der zweiten Generation kam, kennzeichnet die existenzielle und epistemologische Distanz zwischen dem Koran und seinem Leser. Die existenzielle Distanz gegenüber dem Koran ist erst durch die Empathie zur ersten Generation, die die Offenbarungszeit miterlebt hatte, zu überwinden, wobei die glücklichste Generation in diesem Sinne selbstverständlich die tābiʿūn waren, die die Zeugen der koranischen Offenbarung unmittelbar kannten und von ihnen erzogen wurden. Diese Möglichkeit hat von Generation zu Generation allmählich abgenommen; die Gelehrten der zweiten Generation haben versucht, ihr mangelhaftes sachliches und sprachliches Wissen um den Koran dadurch auszugleichen, indem sie sich den Aussagen der ersten Generation zuwandten. Fast alle frühen koranexegetischen Überlieferungen verdanken sich den Fragen der Gelehrten der zweiten Generation, die diese an die erste Generation stellten. Aus den in den Korankommentaren von a -Ṭabarī (gest. 923) und Ibn Abī Ḥātim (gest. 939) angeführten statistischen Angaben zur Verteilung der exegetischen Überlieferungen zwischen dem Propheten, seinen Gefährten ( aḥāba) und Gelehrten der zweiten Generation (tābiʿūn) geht hervor, dass der größte Anteil davon tatsächlich von der zweiten Generation stammt. A -Ṭabarīs Korankom-
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mentar Ğāmiʿ al-bayān enthält insgesamt 36.000 Überlieferungen. Der in Mainz lehrende deutsche Orientalist Heribert Horst hat gezeigt, dass nur ca. 3000 (etwa neun Prozent) davon auf den Propheten und 33.000 (etwa 90 Prozent) auf die Gelehrten der zweiten Generation zurückgehen.19 Ähnliches zeigt eine ganz neue Arbeit vom Ankaraner Theologen Mehmet Akif Koç über das Werk von Ibn Abī Ḥātim, Tafsīr al-qurʾān al-ʿa īm: Von insgesamt 16.283 Überlieferungen stammen vier Prozent vom Propheten, 22 Prozent von der ersten Generation (80 Prozent davon von Ibn ʿAbbās) und 74 Prozent von der zweiten Generation.20 Hält man sich vor Augen, dass die Erklärungen der Prophetengefährten – wie Ibn ʿAbbās (gest. 688) – durch Fragen ihrer Schüler aus der zweiten Generation hervorgerufen und von ihnen überliefert wurden, wie u.a. Fuad Sezgin überzeugend darstellt, lässt sich feststellen, dass wir die Literaturgattung der Koranexegese (tafsīr) grundsätzlich den tābiʿūn, den Gelehrten der zweiten Generation, verdanken.21 Deren Koranwahrnehmung zeigt sich an ihren Beiträgen zur Koranauslegung, wie sie mit dem Koran als einem schriftlichen Text mit Schwerpunkt auf Grammatik und Linguistik umgingen. Schon nach einer Generation hat sich die Haltung der Muslime dem Koran gegenüber von einem Zuhören einer Rede in eine philologische Untersuchung einer Schrift gewandelt. Tatsächlich entnehmen wir die wichtigsten Ansätze einer historischen Koranhermeneutik diesen frühen exegetischen Überlieferungen, die die enge Verbindung der koranischen Offenbarung mit der Offenbarungszeit thematisieren, wie Auskünfte über mekkanische und medinensische Passagen des Korans (makkī-madanī), Offenbarungsgründe einzelner Koranpassagen (asbāb annuzūl), abrogierende und abrogierte Gebote und Verbote des Korans (nāsiḫmansūḫ) und nicht zuletzt Anspielungen (mubhamāt) im Koran. Das Wissen von diesen muss ja, wie al-Wāḥidī (gest. 1075) mit Recht festhält, auf Berichten beruhen, die auf die erste Generation, die die koranische Offenbarung begleitete, zurückgeführt werden können. Angesichts dessen, dass für viele Koranpassagen keine überlieferten Berichte dieser Art vorliegen, können wir uns bei einer geschichtlichen Bearbeitung des Korans mit diesen Überlieferungen freilich nicht
19 Horst, Heribert: Die Gewährsmänner im Korankommentar des Ṭabarī. Ein Beitrag zur Kenntnis der exegetischen Überlieferungen im Islam. Dissertation, Bonn 1951. 20 Koç, Mehmet Akif: Ġsnad Verileri Çerçevesinde Erken Dönem Tefsir Faaliyetleri. Ġbn Ebī Ḥātim (ö. 327/939) Tefsiri Örneğinde Bir Literatür Ġncelemesi, Ankara: Kitâbiyât 2003. 21 Sezgin, Fuat: Geschichte des arabischen Schrifttums (GAS), 1. Band, Leiden: Brill 1967 ff.
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begnügen, zumal diese auch kritisch behandelt werden müssen. 22 Zuletzt kann man sagen, dass jede Stelle im Koran prinzipiell auf die Offenbarungszeit und die lebendigen Adressaten Bezug nimmt, auch wenn uns kein Bericht darüber vorliegt, und dass dies bei der Koranauslegung in jeder Zeit berücksichtigt werden muss. Diese methodische Annäherung impliziert, dass der Koran und der Prophet Muhammad geschichtliche Wirklichkeiten des siebenten Jahrhunderts sind.
W EITERE REZEPTIONSGESCHICHTLICHE T RANSFORMATIONEN : DER K ORAN ALS R EFERENZTEXT In den klassischen Zeiten des Islams, nach dem dritten Jahrhundert der hiğra, in der sich die islamischen Wissenschaften herausbildeten, erfuhr die Koranwahrnehmung der Muslime eine weitere wichtige Entwicklung, die darin mündete, dass der Koran zu einem reinen Referenztext wurde. Davon zeugt nicht nur die Kanonisierung des Korantextes zur Zeit des dritten Kalifen – dabei müssen auch spätere intellektuelle Entwicklungen eine wesentliche Rolle gespielt haben, mit dem Ergebnis, dass sich die muslimische Zivilisation nicht mehr als eine »Zivilisation des Wortes«, sondern als eine »der Schrift« bezeichnete. Eine nähere Darstellung dieser Entwicklung könnte nur im Rahmen wissenschaftlicher Studien erfolgen, die sich zurzeit noch im Anfangsstadium befinden. Doch lässt sich bereits jetzt sagen, dass eine zentrale Rolle der intellektuellen Initiative zukommt, die der große Rechtsgelehrte aš-Šāfiʿī (gest. 820), der zugleich als der wichtigste Begründer der sunnitischen Orthodoxie anzusehen ist, ergriffen hat, um aus der Sunna Hadithe zu machen. Mit dieser Initiative wurde die Sunna ja von lebendigen Traditionen zu festen Texten umgewandelt.23 Frühe Beispiele für die Auffassung des Korans als eine textuelle Gesamtheit lassen sich in koranwissenschaftlichen Werken finden, welche den Koran als widerspruchsfreien, einheitlichen und homogenen Text präsentieren wollen und
22 So kommt es nicht selten vor, dass über den Offenbarungsgrund eines Verses mehrere Berichte überliefert sind oder der Bericht über den Offenbarungsgrund jenem über das Offenbarungsdatum widerspricht. Die geschichtliche Wahrheit lässt sich all diesen Berichten demnach kaum entnehmen. Zu einer gründlichen Auseinandersetzung mit Annahmen, denen Überlieferungen dieser Art zugrunde liegen, siehe Abū Zayd, Naṣr Ḥāmid: Mafhūm an-naṣṣ – dirāsa fī ʿulūm al-qurʾān, Kairo: o. V. 1990. 23 Siehe Mehmet Hayri KırbaĢoğlu (Hg.): Sunnî Paradigmanın OluĢumunda ġâfiî’nin Rolü, Ankara: Kitabiyat 2000.
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daraufhin untersuchen. Im Grunde genommen versuchten die Koranwissenschaftler, die Reihenfolge der Verse innerhalb einer Sure, ja sogar die Aufeinanderfolge der Suren, als kohärent nachzuweisen (tanāsub al-āy wa-s-suwar). Auf der anderen Seite sehen wir, dass die Rechtsgelehrten (fuqahāʾ) sich gezwungen fühlten, über die exemplarische Reihenfolge hinaus eine eigentliche Chronologie der einzelnen Koranpassagen zu eruieren, weil sie den Koran nicht rein literarisch, sondern praxisorientiert behandelten. Das heißt, die Juristen mussten über die vorhandene Textstruktur hinausgehen und den Koran geschichtlich betrachten. Zweifelsohne schufen die Unterschiede zwischen diesen interessegeleiteten Zugängen oft Dilemmata. Korankommentare sind voll von Beispielen für Ambiguitäten, die auftreten, wenn einerseits der textliche und andererseits der geschichtliche Kontext als Maßstab für das Verstehen bzw. Interpretieren einer Koranstelle herangezogen wird.24 Eine der Kernfragen, mit denen sich die islamische Rechtsmethodik von Anfang an auseinandersetzte und immer noch auseinandersetzt, ergibt sich aus der Tatsache, dass die Referenztexte (nu ū ), Koran und Hadithe, begrenzt und stabil sind, während neue Probleme entstehen, von denen in diesen Texten nicht die Rede ist. Diese Sachlage hat die muslimischen Gelehrten ständig dazu veranlasst, über die Natur der Änderung und des koranischen Diskurses gründlich nachzudenken. Die Auseinandersetzungen mit der Frage nach dem Wesen der koranischen Rede kommen in beinahe jedem rechtsmethodischen Werk vor (u ūl al-fiqh). Sprach-, geschichts- und rechtsphilosophische Ausführungen in alMuġnī von al-Qāḍī ʿAbdalğabbār (gest. 1025), al-Mu ṭa fā von al-Ġazālī (gest. 1111), al-Muwāfaqāt von aš-Šā ibī (gest. 1388), Talqīḥ al-fuhūm von al-ʿAlāʾī (gest. 1359) u.a. sind tatsächlich ausgezeichnet und in hermeneutischer Hinsicht sehr wertvoll, allerdings scheinen sie davor zurückzuschrecken, die logischen Konsequenzen aus ihren eigenen Meinungen zu ziehen. Bei al-ʿAlāʾī aus dem 14. Jahrhundert heißt es z.B.: Sind die zur Zeit des Propheten mündlich geführten Anreden, wie »Ihr Menschen!«, »Ihr Gläubigen!« usw., die im Koran und in der Sunna vorkommen, auf die Anwesenden bei der Anrede beschränkt oder umfassen sie doch die ganze Umma von Muslimen bis zum Jüngsten Tag? Nach den Hanbaliten und einer Gruppe von Salafiten umfassen sie mit ihren Worten alle. Und die Mehrheit (ğumhūr) ist der Meinung, dass sie sich zwar nur auf
24 Paret, Rudi: Sure 9, 122 und der Ğihād, in: Die Welt des Islams, Neue Serie Nr. 2 (1953), S. 232-236.
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diejenigen beschränken, die während der Anrede anwesend waren, aber es a priori bekannt ist, ihre Bestimmungen würden für die Nachkommen auch gelten. 25
Das Wissen um den historischen Charakter des koranischen Diskurses war also stets Bestandteil der muslimischen Gelehrsamkeit. Allerdings wurde u.a. folgendes Prinzip entwickelt: ʿumūm al-ḥukm maʿa ḫu ū as-sabab (»die rechtlichen Bestimmungen von Koran und Sunna sind allgemeingültig, auch wenn ihnen spezifische Ereignisse zugrunde liegen«). Dieses Prinzip, von dem man glaubte, dass sich damit jedes neue Problem durch Analogieschluss auf einen Referenztext zurückführen und somit im Einklang mit der šarīʿa lösen ließe, hat sich im sunnitischen Islam durchgesetzt. Die scharfen Kritiken konnten nicht verhindern, dass dieses Prinzip fast über die gesamte klassische, nicht nur die rechtswissenschaftliche, Literatur herrschte und folglich auf die Wahrnehmung der späteren Muslime einen entscheidenden Einfluss ausübte. So sehen wir dasselbe Prinzip in dem im 19. Jahrhundert verfassten Gesetzbuch Mecelle (1868-1878), das auch allgemeine Prinzipien der islamischen Gesetzgebung festlegen sollte, verankert, und zwar in weiterentwickelten Zügen: »Man darf über Sachen, zu denen ein Referenztext (na ) vorliegt, keine freie Meinung (iğtihād) haben.«26 Die Etablierung dieses Prinzips bedeutete offensichtlich den Sieg der textorientierten Mentalität von ahl al-ḥadīṯ über die realitätsorientierte von ahl ar-raʾy.
K ORANINTERPRETATION IN DER M ODERNE : K ONSTRUKTION MODERNER K ORANE In der Moderne kam für die Muslime, die diese Vorgeschichte in ihrem Gedächtnis hatten, hinzu, dass der koranische Wortlaut in praktisch keinem Bereich die heutige Wirklichkeit zu erfassen imstande war: Weder operiert der Koran mit modernen Begrifflichkeiten noch behandelt er Probleme der Gegenwart. Darüber hinaus spricht er Dinge an, die im Zeitalter der Moderne auch von den Muslimen selbst nicht mehr vertreten werden. Die muslimischen Reaktionen auf diese Unstimmigkeit zwischen der Welt des Korans und der Moderne kann man natürlich unter verschiedenen Gesichts-
25 al-ʿAlāʾī, Kaykaldī: Talqīḥ al-fuhūm fī tanqīḥ iyaġ al-ʿumūm. Hg. ʿAbdallāh ibn Muḥammad ibn Isḥāq Āl aš-Šayḥ, o. O.: o. V., o. J., S. 339 ff. 26 »Mevrid-i nassda ictihâda mesâğ yokdur«. Siehe Cevdet PaĢa, Ahmed: Mecelle-i Ahkâm-ı Adliye, o. O.: o. V., o. J.
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punkten betrachten. Ihre feinen Unterschiede aber lassen sich anhand ihrer Vorstellungen von Offenbarung und Geschichte erklären. 27 Die Extrempositionen in der islamischen Welt sind der sogenannte konservative Traditionalismus und der laizistische Modernismus, die die Sachlage als eine Entweder-oder-Frage formulieren: Sie müssten ja entweder korantreu bleiben oder sich modernisieren. Den Traditionalisten zufolge ist der Koran mit seinem Inhalt ewig gültig und auf Wortlautebene für alle Zeiten heilsbedeutsam. Deshalb müsse man um jeden Preis zum Koran zurückkehren, d.h. die heutigen Bedingungen wieder in eine spätantikische arabische Struktur bringen, in der die koranischen Bestimmungen wörtlich angewendet werden könnten. Das modernistische Verständnis nimmt hier die exakte Gegenposition ein und liest dieselben Fakten genau umgekehrt. Ihm zufolge ist der Koran in der Vergangenheit stehengeblieben, weswegen er insbesondere in weltlichen Angelegenheiten kein Bezugspunkt mehr sein kann. Im Grunde treffen sich diese beiden Extrempositionen darin, das Faktische zu einem Wert zu erheben und dadurch in einen Absolutismus zu verfallen. Für die konservativen Traditionalisten ist das der geschichtliche Zustand, das »Goldene Zeitalter«, in dem die ersten Muslime lebten; für die laizistischen Modernisten ist es der als »modern« bezeichnete, aktuelle Zustand. Die sogenannte reformistische Haltung vertritt hier einen verheißungsvolleren Ansatz, der postuliert, dass der Koran den aktuellen Bedürfnissen entsprechend gelesen und interpretiert werden kann. Bei dessen näherer Analyse stellt sich allerdings alsbald heraus, dass dieses Postulat weniger auf einer ernsthaften Auseinandersetzung mit Koran und Moderne beruht, als vielmehr eklektisch vorgeht – der gemeinsame Nenner der reformistischen Ansätze ist die Herstellung einer künstlichen Verbindung zwischen dem koranischen Wortlaut und dem gegenwärtigen Zustand: koranischer Wortlaut plus Anforderungen der Moderne gleich moderner Islam, wenn man es überspitzt formulieren möchte. 28 Eine derartige zeitgenössische Koraninterpretation bringt dann nichts anderes hervor als neue Bedeutungen, die mittels einiger philologischer Schachzüge in den alten Wortlaut des Korans hineingelesen werden. Dieser Position zufolge 27 An dieser Stelle ist die Arbeit von Rotraud Wielandt zu erwähnen, die die Ansätze der bedeutenden muslimischen Denker bzw. Gelehrten in der Moderne zu dieser Problematik analysiert: Siehe Wielandt, Rotraud: Offenbarung und Geschichte im Denken moderner Muslime, Wiesbaden: Franz Steiner Verlag 1971. 28 Siehe Özsoy, Ömer: Erneuerungsprobleme zeitgenössischer Muslime und der Koran, in: Alter Text – Neuer Kontext. Koranhermeneutik in der Türkei heute. Ausgewählte Texte, übersetzt und kommentiert von Felix Körner SJ (= Buchreihe der Georges Anawati Stiftung. Religion und Gesellschaft. Modernes Denken in der islamischen Welt, Band 1), Freiburg: Herder 2006.
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plädiere z.B. der Koran für die Monogamie, rechtfertige an keiner Stelle Gewaltanwendung durch den Ehemann gegenüber seiner Frau, spreche nicht davon, dass dem Dieb die Hand abzuhacken sei, schaffe die Sklaverei ab, legitimiere den Krieg nur in Zeiten konkreter Drohung, lehre die Menschenrechte und die Demokratie, wie wir sie heute kennen usw. Aus dem historischen Blickwinkel lässt sich ein solcher Text nicht mehr als der Koran erkennen. Man müsste daher eher von neuen Texten unterschiedlichen Inhalts sprechen, also modernen Koranen, die völlig frei sind von in der Moderne unvertretbaren – und, wenn man so will, unangenehmen – Dingen. Bei denen es sich also um »Konstruktion moderner Korane« handelt, wobei der koranische Wortlaut zwar gleich bleibt, aber moderne Subjekte ihm jene Bedeutungen zuschreiben, die ihren Vorstellungen und Bedürfnissen entsprechen. Wie bei einer ganzen Reihe von Koranübersetzungen zu beobachten ist, ist das geeignetste Betätigungsfeld für diese Entstellung das Übersetzen. Deshalb finden wir die extremsten Zeugnisse reformistischer Überinterpretationen auch in Ländern, die auf den Koran nur mittels Übersetzung zugreifen können, wie der Türkei, dem Iran, Pakistan und Europa. 29 Bei näherer Betrachtung geben sich derartige Überinterpretation, die als moderne Koraninterpretationen begrüßt werden, als Textfundamentalismus zu erkennen, dem der Irrtum zugrunde liegt, dass der Koran als ein übergeschichtlicher Text konzipiert sei. Fängt man einmal an, den Koran als übergeschichtlichen Text zu lesen, führt das zwangsläufig dazu, ihn über jeden möglichen Gegenstand sprechen zu lassen. Doch dürfte es klar sein, dass die Weisungskompetenz des Korans im Bilde eines Steinbruchs, aus dem sich jeder einen passenden Stein herausbrechen kann, gänzlich zerstört wird, wenn er als ein Text betrachtet wird, der alles sagen kann, was der Leser braucht. So können seine zeitgenössischen Leser im Koran z.B. einen säkularen, demokratischen, pluralistischen, liberalen Staats- und Gesellschaftsentwurf entdecken – aber ebenso gut ein theokratisches und totalitäres System. Dadurch können wir dem Koran Christenbzw. Judenfeindlichkeit zuschreiben, aber ebenso Wohlgesinntheit ihnen gegenüber. Das sind keine Phantasien – all diese Überinterpretationen sind tatsächlich im Umlauf. Was dabei geschieht, lässt sich unschwer als Anachronismus bezeichnen, der den Koran im Namen eines Universalismus von seinem ureigenen geschichtlichen Kontext und seiner authentischen Bedeutungswelt abtrennt, um den Leser bei der Interpretation von historischen Fesseln zu befreien. Durch die Dekontextualisierung des Korans werden nicht nur die ursprünglichen Bedeutungen verfälscht, sondern es geht auch die Grundlage einer Betrach29 Vgl. Özsoy, Ömer: »ÇağdaĢ Kur’an(lar) Üretimi Üzerine. ›Karı Dövme‹ Olgusu Bağlamında 4. Nisâ’, 34 Örneği«, in: Kur’an ve Tarihsellik Yazıları, Ankara: Kitâbiyât 2004.
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tung der Entwicklungsstadien verloren, zu welchen die koranische Offenbarung ihre Adressaten subsequent angeleitet hat. Jenes Stadium, zu welchem die Araber unter der Rechtleitung des Korans und des Propheten gelangten, kann nicht das Endstadium sein, das die Menschheit zu erreichen hat – es bezeichnet nicht die Endziele des Korans, sondern lediglich seine Intentionen und Richtungen. So verbot der Koran tatsächlich den Krieg nicht, er lehrte die sich bekriegenden Menschen, dass sie um des Friedens und der Gerechtigkeit willen zu kämpfen haben. Er räumte der Frau nicht denselben Status wie dem Mann ein, er verpflichtete den bei Streitigkeiten zu Gewalt neigenden Mann zu einem humaneren Vorgehen und schrieb vor, dass der Frau, der ein Erbteil oft gänzlich vorenthalten blieb, die Hälfte jenes ihres Bruders zuteil wird. Er schuf die Sklaverei nicht ab, er erinnerte die Herren daran, dass ihre Sklaven keine Ware, sondern ihresgleichen sind. Er sprach nicht von der Demokratie, er plädierte für Beratung und lehrte, dass kein Mensch in der Rolle des Stellvertreters Gottes Macht und Herrschaft über seine Mitmenschen ausüben darf.
S CHLUSS Dass der Prophet Muhammad starb und die Offenbarung zu Ende ging, bedeutet nicht, dass alle Probleme der Menschheit ein für allemal gelöst worden wären und die Menschheit ihre moralische Evolution abgeschlossen hätte. Dass Muhammad das Siegel der Prophetie ist, bedeutet vielmehr, dass die Menschen über die übergeschichtlichen Ziele der Religion durch die Offenbarungen Gottes ausreichend unterrichtet wurden und dass Gott ihnen das Vertrauen schenkt, weitere Schritte in diese Richtung zu gehen. Die Muslime der ersten Jahrhunderte konnten diese Schritte tun, weil sie nicht am Wortlaut des Korans festhielten, sondern seinem Geist und seiner Intention gefolgt sind. Ohne die Wegweisung durch diese Intention wäre die frühe Aufklärung der Muslime nicht möglich gewesen. Die größte Gefahr einer möglichen historischen Koranhermeneutik besteht meiner Ansicht nach darin, »moderne« Argumente vorzulegen, die mit koranischen Prinzipien, Intentionen und Richtungen unvereinbare Ideen bzw. Praktiken rechtfertigen. Eine historische Koranhermeneutik hat schließlich die Aufgabe, darauf zu achten, weder die Gegenwart auf die Vergangenheit zu reduzieren, indem sie in der Geschichte verhaftet bleibt, noch den Islam mit der Moderne zu identifizieren, indem sie den Koran bedenkenlos den Anforderungen der Moderne unterwirft. Deshalb lautet die eigentliche Kernfrage: Hat der Koran als eine geschichtliche Rede die ihm direkt und nur in der Offenbarungsperiode begegnenden Hörer
D EKONTEXTUALISIERUNG
DES
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vor Augen? Oder berücksichtigt er als übergeschichtlicher Text auch die zukünftigen Leser? Diese Fragestellung, die letztlich auch die traditionell angenommene Allgemeingültigkeit der koranischen Gebote relativiert, ist im Prinzip eine Frage an das Wesen des koranischen Diskurses, womit auch die Möglichkeit der Objektivität beim Verstehen zur Debatte steht. Der philosophische Historismus in seiner radikalsten Form behauptet, dass ein rationaler Gedanke – weil vollständig in seinem eigenen geschichtlichen Bedeutungskosmos aufgehend – nicht in einen anderen Bedeutungskosmos übertragen werden kann und es folglich unmöglich ist, den Gedanken in seiner »originalen« (d.h. objektiven) Form zu verstehen. Diese radikal relativistische Haltung, die Eric D. Hirsch als kognitiven Atheismus bezeichnet, bildet den Gegenpol zu der festen Überzeugung klassischer Metaphysiken, wonach das »rationale Denken in jeder Epoche gleich ist«.30 Der romantische Ansatz, der die Geschichtlichkeit zwar grundsätzlich anerkennt, aber dem »kognitiven Atheismus« widerstrebt, hält den Transfer zwischen unterschiedlichen Bedeutungsgalaxien nur für den Geist des Textes möglich und produziert somit eine Art »exotisches« Textverständnis. Demnach wird nicht der Text, wie er in seiner authentischen geschichtlichen Umgebung verstanden wurde, übertragen, sondern die Lebensenergie oder die Kraft, die dem Text innewohnt und mit der er die geschichtliche Umgebung, die dem Text Existenz verleiht und in die er übertragen wird, vor der Zerstörung bewahrt. Somit verleiht der romantische Ansatz dem Text einen exotischen Charakter, indem er annimmt, dass die Texte, welche den Geist der Vergangenheit tragen, ins Dasein treten, indem sie das Unterbewusstsein, also das »schöpferische Genie« der Folgegenerationen wecken. Muslimische Theologen und Denker, die den klassischen geschichtlichen Ansätzen innerhalb der islamischen Theologie eine neue Dimension verleihen und diese mit einem hermeneutischen Blickwinkel schmücken wollen, verkörpern die Reaktion des »geschichtlichen Bewusstseins« auf die »Überinterpretationen« metaphysischer (übergeschichtlicher) Ansätze und auf die »bedeutungsvernebelnde« Haltung des »kognitiven Atheismus« bzw. des radikalen Relativismus. »Geschichtliches Bewusstsein«, wie sie es verstehen, ist ein Bewusstsein, das den Koran als primär für seine eigene geschichtliche Epoche sprechend annimmt und ihn so zu verstehen sucht, wie seine ersten Adressaten ihn verstanden. Der Hauptbeweggrund des geschichtlichen Bewusstseins ist das Ideal, die »authentische Bedeutung« des Korans in seinem eigenen historischen Bedeu-
30 Siehe Hirsch, Eric D.: Prinzipien der Interpretation. Übers. Adelaide Anne Späth, München: Fink 1972.
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tungskosmos zu begreifen, um sie dann in neueren Kontexten aktualisieren zu können.31
31 Tatar, Burhanettin: »Rezension zu Ömer Özsoy, Kur’an ve Tarihsellik Yazıları«, in: Islâmiyât & Kitâbiyât Bülteni, Nr. 11/2004, S. 5.
Der Koran im Unterricht: Chance für Geschlechtergerechtigkeit oder Anleitung zum Extremismus? R ABEYA M ÜLLER (K ÖLN )
Der Koran gilt den Musliminnen und Muslimen als das – dem Propheten Muhammad durch den Engel Ğabrāʾīl – geoffenbarte Wort Gottes. Der Koran selbst bezieht sich häufig auf frühere Offenbarungen: Wirklich, in ihren Geschichten ist eine Lehre für die Verständigen. Es ist keine erdichtete Rede, sondern eine Bestätigung dessen, was ihm vorausging, und eine deutliche Darlegung aller Dinge und eine Führung und eine Barmherzigkeit für ein gläubiges Volk. (12:111)
Fast alle der 114 Suren beginnen mit der sogenannten Basmala – بسم اهلل الرمحن الرحيم / bismi llāhi r-rahmâni r-rahīm / »Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen« –, nur bei der neunten Sure fehlt diese Formel. In der islamischen Tradition wurden die Texte in mekkanische und medinensische Suren unterteilt, diese Zuordnung findet sich auch in den Überschriften der einzelnen Suren. Der Koran ist nicht chronologisch niedergelegt, grundsätzlich wird davon ausgegangen, dass die 96. Sure die erste Offenbarung darstellt:
اقرأ باسم ربّك الّذي خلق
/ iqraʾ bi-smi rabbika ’lla ī ḫalaq / »Trag vor/Lies im
Namen deines Herrn, der erschaffen hat!«
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Die über 6000 Verse (āyat) werden für liturgische Zwecke nochmals unterteilt: / ğuzʾ, Plural / ağzā), 60 Abschnitte ( / ḥizb, Plural 30 Teile ( / aḥzāb) und 120 Unterabschnitte.
أحزاب
جزء
أجزاء
حزب
Mit dem Tode des Propheten Muhammad endeten die Offenbarungen und damit auch die Perspektiven hinsichtlich des Gemeindelebens bzw. der direkten Bezugnahme auf unmittelbare Ereignisse. Für alle nun folgenden Aspekte und Probleme mussten daher z.B. Ableitungen weiterentwickelt werden. Grundsätzlich existierten bereits in frühislamischer Zeit unterschiedliche Lesarten des Korans und im zehnten Jahrhundert schließlich galten sieben verschiedene Lesarten als autorisiert. Vielfach erklärt der Koran sich aus sich selbst, z.B. indem darin von eindeutigen und mehrdeutigen Versen die Rede ist, die eine Art fortlaufende Bedeutungsvielfalt der Offenbarung reflektieren. Er ist es, Der dir das Buch herabgesandt hat. Darin sind eindeutig klare Verse – sie sind die Grundlage des Buches – und andere, die verschieden zu deuten sind. (3:7)
Die dieser Viel- bzw. Eindeutigkeit der Verse innewohnende Dynamik 1 gilt es nun an die Lernenden weiterzugeben. Sie müssen in die Lage versetzt werden, eigenständig zu reflektieren und zu erkennen, dass gerade in der Mehrdeutigkeit der koranischen Aussagen nicht nur die Freiheit, sondern sogar die Aufforderung zum eigenständigen Denken liegt. Tatsächlich haben Menschen muslimischen Glaubens bereits in frühislamischer Zeit sich eigenständig Gedanken über den Inhalt der Verse und die damit verbundenen Möglichkeiten einer Problemlösungsstrategie gemacht. Methodologische und hermeneutische Grundfragen wurden dabei nicht gezielt angegangen. So verdankt sich der Erfolg der mittelalterlichen islamischen Rechtssysteme zum Teil dem Pragmatismus der ganz frühen Generationen, die für die Gesetzgebung auf Bräuche und Institutionen der eroberten Länder zurückgriffen und diese, wo nötig, im Licht der Lehre des Korans modifizierten und sie mit ihr in Einklang brachten.2 Was Rahman hier andeutet, heißt für den pädagogischen Alltag mit muslimischen Lernenden, ihnen Instrumentarien an die Hand zu geben, die sie dazu befähigen, diese Wege auch selbst zu beschreiten. Dabei empfiehlt es sich
1
Siehe hierzu auch http://www.deutschlandfunk.de/sure-3-vers-7-den-koran-woertlichnehmen-so-einfach-ist-das.2395.de.mhtml?dram:article_id=333628 (09.11.2015).
2
Rahman, Fazlur: Islam und Modernity, Chicago: The University of Chicago Press 1982, S. 2 ff.
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durchaus, auf einen problemorientierten Einstieg zurückzugreifen, also gleich »zur Sache zu kommen«. Es entspricht der Lebenswirklichkeit der jungen Menschen, dass die Geschlechterdifferenz sich im Alltag oftmals als problematisch erweist und für die Hierarchisierung der Geschlechter oft eine religiöse Legitimation genutzt wird. Allerdings wäre die von nicht muslimischer Seite immer wieder angemahnte historisch-kritische Lesart bei vielen koranischen Versen zu eingleisig, denn letztendlich geht es auch um die Frage einer interpretierenden Übersetzung. Es ist nicht sinnvoll, eine eventuell frauenfeindliche Deutung immer wieder mit den historischen Umständen zu rechtfertigen. Neben der Betrachtung aus wissenschaftlicher Distanz muss auch der gelebte Alltag der Lernenden ins Auge gefasst werden. Natürlich bleibt der historische Kontext von Bedeutung, die Methodik im islamischen Arbeitsbereich kann allerdings nicht mit dem historischkritischen Aspekt etwa der christlichen Theologie verglichen werden – dazu ist das Schriftverständnis zu unterschiedlich. Bei dem Kontext, der mit den Lernenden zu erarbeiten ist, handelt es sich zunächst um den des Korans selbst. Was sagt der Koran etwa zur Schöpfung, zum Menschenbild und zum Geschlechterverhältnis? Hieraus ergeben sich anthropologische und theologische Grundlagen, die es den Kindern und Jugendlichen ermöglichen, nachfolgende, auch schwierige, Textpassagen einzuordnen. Wenn es etwa heißt, Gott habe den Menschen in bester Form erschaffen3 und ihm einen Wissensvorsprung verschafft, indem er ihn die Namen aller Dinge lehrte4, ist zunächst einmal keine Rede davon, dass er hierbei einen Unterschied hinsichtlich der Geschlechter gemacht hätte. Ein weiteres Beispiel finden wir im Verhalten von Iblis. Dieser weigert sich, im Gegensatz zu den Engeln, sich vor dem »Prototyp Mensch« zu verneigen und begründet dies damit, dass er besser als dieser (der Mensch) sei. 5 Dieses satanische Prinzip gilt es kritisch zu hinterfragen, aber gerade das fällt vielen unsäglich schwer. Im Alltag fühlt sich der Mensch immer wieder besser als z.B. ein Mensch anderer Hautfarbe, einer anderen Religion, eines anderen sozialen Sta-
3 4
Wir haben den Menschen wirklich in bester Form erschaffen. (95:4) Und Er lehrte die Menschen alle Namen, dann brachte Er diese vor die Engel und sagte: »Nennt mir die Namen dieser Dinge!« (2:31)
5
Gott hat euch geschaffen … Dann sagte Gott zu den Engeln: »Verbeugt euch vor dem Menschen!« Sie verbeugten sich, nur Iblis nicht. Da sagte Gott: »Was hat dich daran gehindert, dich niederzuwerfen, obwohl Ich es Dir befohlen hatte?« Iblis aber antwortete: »Ich bin besser als der Mensch! DU hast mich aus Feuer und ihn aus feuchter Erde erschaffen.« (7:11-12)
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tus, aber eben auch als ein Vertreter oder eine Vertreterin des anderen Geschlechts. Zusammengenommen beschreibt der Koran in einer klaren Sprache die Gleichheit der Menschen als Geschöpfe. Dies gilt es mit den Lernenden zunächst vorbereitend herauszuarbeiten und als Basiswissen zu festigen. Anschließend kann mit ihnen die koranische Schöpfungsgeschichte hinsichtlich des Menschen genauer beleuchtet werden. Häufig wird, wenn nach dieser gefragt wird, von den Kindern und Jugendlichen »die Geschichte mit der Rippe« erzählt. Obwohl sie im Koran nicht vorkommt und auch in der Genesis nur in einem der beiden Schöpfungsberichte Erwähnung findet, erfreut sie sich bei vielen Lehrenden offensichtlich großer Beliebtheit. Dabei verlassen die Menschen, die ansonsten einer zu engen Anlehnung an Tora und Bibel skeptisch gegenüberstehen, den Boden ihrer eigenen Grundsätze und stellen die Erhaltung einer Geschlechterhierarchie in den Vordergrund. Muslimische Lernende sollten spätestens hier an die Problematik unterschiedlicher Übersetzungen herangeführt werden. Die grundsätzliche Einstellung, dass der Koran als geoffenbartes Wort Gottes gilt, wird hierbei nicht angetastet, aber es bedarf der Klarstellung, dass dies nur für den arabischen Text gilt und jede Übersetzung, gleich in welche Sprache, eine Interpretation darstellt. So etwa kann Vers 4:1 den Schülerinnen und Schülern in zwei oder mehreren Varianten zur Bearbeitung vorgelegt werden: a. O ihr Menschen, fürchtet euren Herrn, der euch erschaffen hat aus einem einzigen Wesen; und aus ihm erschuf Er seine Gattin, und aus den beiden ließ Er viele Männer und Frauen entstehen. Und fürchtet Gott, in dessen Namen ihr einander bittet ... (4:1) b. Ihr Menschen, seid ehrfürchtig gegenüber eurem rabb, der euch erschaffen hat aus einem einzigen Wesen; aus ihm erschuf Er das (entsprechende) Partnerwesen und aus den beiden ließ Er viele Männer und Frauen entstehen. Und seid ehrfürchtig gegenüber Gott, in dessen Namen ihr einander bittet ... (4:1)
Bei der Bearbeitung gilt es auch herauszustellen, worin die Kernaussage dieses Verses besteht – darin nämlich, dass Gott der Schöpfer und der Mensch das Geschöpf ist. Im Grunde wäre es unwesentlich, ob der erste Mensch nun männlich oder weiblich war, gäbe es da nicht die seit Jahrhunderten anhaltenden Versuche, diesen und auch den nächsten Schöpfungstext als Referenz für eine allgemeingültige Geschlechterhierarchie zu benutzen. So wird auch häufig der Topos der »Verführerin«, die den Mann zum Ungehorsam gegen Gott verleitet und damit die Vertreibung aus dem Paradies provoziert habe, polemisch dazu verwendet, die Frau zu domestizieren und zu kontrollieren. Auch hier ist es für
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muslimische Lernende oft eine ganz neue Erkenntnis zu erfahren, dass der Koran davon spricht, dass diese Schuld beide trifft und dass beide die Konsequenzen tragen müssen.6 Unterstützt werden die nicht koranischen Aussagen oft noch durch Anmerkungen berühmter muslimischer Gelehrter,7 die auf ihrem jeweiligen Fachgebiet wie der Medizin, Philosophie oder Theologie ansonsten großartige Arbeit geleistet haben – nur ihre Aussagen über das weibliche Geschlecht sollten zu denken geben. Fairerweise muss gesagt werden, dass sich diese Zitate beliebig ergänzen ließen mit Aussagen etwa von Sokrates, Augustinus oder Nietzsche. Es scheint sich um ein religions- und ideologieübergreifendes Phänomen zu handeln. Auch das dürfte für die Schülerschaft einen entsprechenden Erkenntniswert darstellen. Anschließend lassen sich dann Aussagen z.B. aus dem Internet 8 zum Geschlechterverhältnis im Islam besser einordnen. Das gilt auch für einen der wohl schwierigsten Texte zu dieser Thematik, nämlich den Vers 4:34. Schon zu Beginn macht es der erste Teil den Leserinnen und Lesern nicht besonders leicht, 6
Jedoch Satan flüsterte dem Menschen Böses ein; er sagte: »Mensch, soll ich dich zum Baume der Ewigkeit führen und zu einem Königreich, das nie wieder vergeht?« Da aßen sie beide (Hervorhebung d. V.) davon, so dass ihnen ihre Blöße bewusst wurde, und sie begannen, Blätter des Gartens über sich zusammenzustecken. Und der Mensch befolgte das Gebot seines Herrn nicht und ging irre. (20:120-121)
7
Ibn Sina (Avicenna) (10./11. Jh.): Instabilität der Frau in moralischer Hinsicht, minderer Charakter und geringere Verstandeskraft: »Die Frau ist in ihrem wahren Charakter schwach an Vernunft …«, »… sie gehorcht leichtfertig …«, »… sie eilt hinzu, dem Begehren und dem Zorn …«. Vgl. Ibn Sina : As-sifa’ – al-Ilahiyat, La Metaphysique du sifa’, Paris: J. Vrin 1985, S. 448 ff. Al-Ghazali (11. Jh.): »Die Mehrzahl der Frauen ist von schlechtem Charakter und schwachem Verstand, und man wird mit ihnen nur zurechtkommen durch Milde, gepaart mit straffer Zucht.« Vgl. Al-Ghazali: Ihya’ ‘Ulum ad-Din, Band 1, Beirut: Dar al-Kitab al Arabiyy (o. J.), S. 42-47.
8
»Allah der Allwiesende und Schöpfer, hat alles nach bester Sorgfalt und im Einvernehmen mit der Natur in bester Harmonie erschaffen. So schuf ER Adam als Mann und aus ihn schuf ER Hava (Eva) seine Frau. Warum Gott diese Hierarchie bzw. diese Reifenfolge, mit all den folgen für die Gesellschaft, machte, das bleibt Gottes Ratschluß. Eines Tages werden wir mal vor IHN stehen, wenn wir es dann noch für nötig halten, können wir den Herrn am Tages des Gerichtes ja fragen. Bis dahin jedoch sollten wir den Sachverhalt so gut es uns Möglich ist, darlegen.«, in: http://www.enfal.de/frauges.htm, zusammengestellt von Halid B. Das Zitat wurde aus dem Internet ohne Berichtigung der Orthografie, Interpunktion oder Grammatik übernommen (d. V.).
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ein Textvergleich zweier unterschiedlicher Übersetzungen kann aber zum Nachdenken anregen: a. Die Männer stehen den Frauen in Verantwortung vor, weil Gott die einen vor den anderen ausgezeichnet hat und weil sie von ihrem Vermögen hingeben. Darum sind tugendhafte Frauen die Gehorsamen und diejenigen, die (ihrer Gatten) Geheimnisse mit Gottes Hilfe wahren. (4:34)9 b
Die Männer stehen ein für die Frauen, wegen dem, womit Gott die jeweils einen vor den jeweils anderen ausgezeichnet hat, und weil sie (als die wirtschaftlich Unabhängigen) aus ihrem Vermögen (Unterhalt und Versorgung) ausgeben. Darum sind loyale Frauen (Gott gegenüber) ergeben. (Sie sind) diejenigen, welche die Geheimnisse (in der Ehe, was nicht öffentlich gemacht wird und Außenstehenden verborgen bleiben soll in Bezug auf die Beziehung der Eheleute) gemäß Gottes Weisung bewahren
…(4:34)10
Besonders der zweite Teil des Verses ist für viele nur schwer zu verarbeiten, auch wenn in diversen patriarchalisch konnotierten Übersetzungen Möglichkeiten zur Relativierung gesucht werden, z.B.:
9
Rassoul, Muhammad: Die ungefähre Bedeutung des Al-Qurʾān Al-Karīm in deutscher Sprache, Köln: Islamische Bibliothek 1989.
10 ZIF: »Ein einziges Wort und seine große Wirkung« – eine hermeneutische Betrachtungsweise zum Qur’an, Sure 4 Vers 34, mit Blick auf das Geschlechterverhältnis im Islam, Zürich 2005.
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Tabelle 1: Sure 4 Vers 34 im Übersetzungsvergleich Yusuf Ali (1989)
Muhammad
Agirakca/Eryarsoy
Amir Zaidan
Rassoul (1989)
(1992)
(2000)
And to those
… und jene, deren
Was diejenigen
Und diejenigen
women on whose
Widerspenstigkeit
Frauen anbetrifft,
Ehefrauen, deren
part ye fear dis-
ihr befürchtet,
von denen ihr
böswillige trotzige
loyalty and ill-
ermahnt sie, mei-
Schlechtes (Übles)
Auflehnung ihr
conduct, admonish
det sie im Ehebett
erwartet, so gebt
fürchtet, diese sollt
them (first), next
und schlagt sie!
ihnen Ratschläge /
ihr zunächst er-
refuse to share
belehrt sie (wenn
mahnen, dann in
their beds (and
sie nicht ablassen),
den Ehebetten
last) beat them
lasst sie allein in
meiden und / (erst
(lightly).
den Betten, und
danach) ihnen
wenn sie immer
einen leichten
noch nicht auf
Klaps geben!
euch hören, schlagt sie (ohne sie zu sehr zu verletzen und ohne irgendetwas zu brechen).
Dergleichen Versuche, das ›Schlagen‹ an sich zu verharmlosen, sind leider nicht dazu angetan, Männer davon abzubringen, Gewalt in der Ehe mit dem Koran zu legitimieren. Hier scheint es viel eher angebracht, dies mit den Kindern und Jugendlichen z.B. mit folgenden Fragen zu bearbeiten: • • •
Wie soll eine Ehe gerettet werden, wenn der eine am Konflikt Beteiligte den anderen am Konflikt Beteiligten körperlich attackieren darf? Wie passt diese dritte Stufe zu den beiden vorhergehenden Stufen des miteinander Sprechens und der Trennung vom Bett? Welchen Zusammenhang hat dies mit dem folgenden Vers 4:35 11 bzw. welche Logik ergibt sich daraus?
11 Und wenn ihr einen Bruch zwischen beiden befürchtet, dann sendet einen Schiedsrichter von seiner Familie und einen Schiedsrichter von ihrer Familie. Wollen sie sich
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Die Anrufung von Schiedsrichtern aus beider Familien wäre nur dann sinnvoll, wenn das Zerwürfnis nicht endgültig ist – aber wie sollte es das nicht sein, wenn einer den anderen schlägt? Hierbei ist die Übersetzung des Zentrums für Islamische Frauenforschung und Frauenförderung hilfreich: Und wenn ihr annehmt, dass Frauen einen Vertrauensbruch begehen, beratschlagt euch mit ihnen und (falls keine Veränderung eintritt) verlasst den Privatbereich (kehrt ihnen den Rücken zu und meidet Intimitäten) und (als Letztes) trennt euch von ihnen. Wenn sie zur loyalen Haltung zurückkehren, so sucht gegen sie keine Handhabe (um ihnen zu schaden). Wahrlich, Allāh ist erhaben, größer (als alles Vorstellbare).12
Sie ermöglicht eine kontinuierlich logische Lesart des Verses: • • • •
miteinander sprechen; Trennung im Bett; Trennung; vor dem Bruch Anmahnung einer Mediationsphase.
Oft werden zur Ergänzung bzw. zur Erklärung einzelner Koranverse Hadithe, also Aussagen, Taten und Billigungen des Propheten Muhammad herangezogen. Grundsätzlich ließe sich aber hier von einer Hierarchisierung der Quellen sprechen, denn ein Hadith sollte dem Koran nicht widersprechen. Gerade was den Vers 4:34 betrifft, finden sich problematische Passagen in der Abschiedspredigt des Propheten, aber im Gegensatz dazu auch stetige Hinweise in seiner Sunna darauf, dass er selbst seine Frauen nie geschlagen habe. Die Schwierigkeiten mit den Hadithen zeigen sich auch in der Verbreitung derselben. So ist z.B. folgende Überlieferung in dieser oder anderer Form sehr bekannt: Abu Bakr berichtete: »Wahrlich, Gott rief mir während der Tage der Kamelschlacht etwas Nützliches ins Gedächtnis, und zwar aus der Zeit, als der Prophet, Gottes Segen und Friede auf ihm, zur Kenntnis nahm, dass das Volk in Persien die Tochter Chosros zum
aussöhnen, so wird Gott Frieden zwischen ihnen stiften. Wirklich, Gott ist Allwissend und kennt alle Dinge. (4:35) 12 Zentrum für Islamische Frauenforschung und -förderung (Hg.): »Ein einziges Wort und seine große Wirkung« – eine hermeneutische Betrachtungsweise zum Qur’an, Sure 4 Vers 34, mit Blick auf das Geschlechterverhältnis im Islam, Zürich 2005.
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Herrscher über sich machte, und er folgendes sagte: ›Niemals werden Leute erfolgreich sein, die eine Frau zu ihrem Herrscher machen.‹« (Bu). (SUN: 2279)
Diese Aussage wiegt besonders schwer, weil sie angeblich bei Bukhārī, also einer gesicherten Überlieferungssammlung, zu finden ist. Sie müsste aber nachdenklich machen, denn sie steht in einem gewissen Widerspruch zu einer Begebenheit einer koranischen Erzählung, nämlich der der Königin von Saba. Diese war eine außerordentlich kluge Herrscherin, die sich, gegen ihre männlichen Berater, zu einer friedlichen Zusammenkunft mit Suleiman entschloss und dadurch ihr Volk vor dem Untergang rettete. Im Gegensatz zu obigem Hadith ist die folgende Aussage des Propheten weit weniger bekannt: Abu Huraira berichtete, daß der Prophet, Gottes Segen und Friede auf ihm, sagte: »Eine Frau, deren Wiederverheiratung bevorsteht, darf nicht verheiratet werden, bis sie dies selbst zulässt. Ebenso darf eine Jungfrau erst verheiratet werden, wenn sie zuvor nach ihrer Einwilligung gefragt wurde.« (Bu) [SUN:832]
Oft werden Hadithtexte benutzt, um Frauen von Ämtern oder Machtpositionen fernzuhalten oder sie zu benachteiligen. Auch koranische Texte – z.B. bezüglich des Erbrechts oder des Zeugenrechts – wurden vielfach zum Nachteil von Frauen ausgelegt. Die augenscheinliche Diskrepanz zwischen den so interpretierten oder übersetzten Versen und denen, die eine emanzipatorische Grundlage schaffen können, wie etwa Vers 33:3513 (trotz oder gerade wegen seines speziellen azbabunuzul [Grund für eine Offenbarung]) oder Vers 57:1214 muss mit den Lernenden 13 Wirklich, die muslimischen Männer und die muslimischen Frauen, die gläubigen Männer und die gläubigen Frauen, die gehorsamen Männer und die gehorsamen Frauen, die wahrhaftigen Männer und die wahrhaftigen Frauen, die geduldigen Männer und die geduldigen Frauen, die demütigen Männer und die demütigen Frauen, die Männer, die Almosen geben, und die Frauen, die Almosen geben, die Männer, die fasten, und die Frauen, die fasten, die Männer, die ihre Keuschheit wahren, und die Frauen, die ihre Keuschheit wahren, die Männer, die Gottes häufig gedenken, und die Frauen, die (Gottes häufig) gedenken – Gott hat ihnen (allen) Vergebung und großen Lohn bereitet. (33:35) 14 Am Tage, da du die gläubigen Männer und die gläubigen Frauen sehen wirst, während (die Strahlen) ihres Lichts vor ihnen und zu ihrer Rechten hervorbrechen(, heißt es): »Eine frohe Botschaft (sei) euch heute (beschieden)! In den Gärten, durch die Bäche fließen, werdet ihr auf ewig weilen. Das ist der gewaltige Gewinn.« (57:12)
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aufgearbeitet werden. Dabei ist es notwendig, immer wieder auf das im Koran vermittelte Menschenbild zurückzukommen und die Kinder und Jugendlichen Schritt für Schritt mit folgenden Instrumentarien vertraut zu machen: • • • •
Eindeutigkeit und Mehrdeutigkeit persönliche bzw. individuelle Entscheidungsfindung Einsicht, dass menschliche Interpretationen keinen Ewigkeitscharakter haben Gewahrwerden dessen, dass es eine Hierarchisierung der Schriften gibt
Diese Form des ergebnisoffenen Unterrichts ist eine Herausforderung auch für die Lehrkräfte, andererseits ermöglicht es der Schülerschaft einen Perspektive erweiternden Zugang zum Koran und macht ihr Mut, sich überhaupt selbst mit diesem Buch zu befassen. Genau das haben fast ganze Generationen verlernt, indem sich viele nur erzählen lassen haben, was in diesem Buch steht. Vielfach wurde, besonders was die persönliche Ebene betrifft, ein Hindernis zwischen dem unmittelbaren Zugang zum Koran und dem ›normalen‹ Menschen errichtet – oft auch, um Machtpositionen beizubehalten. Muslimische Kinder und Jugendliche aber haben ein Recht darauf, eigenständig zu reflektieren, Schlüsse zu ziehen und Entscheidungen zu treffen. In diese Verantwortung müssen sie hineinwachsen und hierin liegt die besondere Aufgabe eines islamischen Religionsunterrichts – es geht darum, den Schülerinnen und Schülern Mut zu machen und ihnen die Angst vor diesem Buch zu nehmen. Denn wenn sie sich nicht ernsthaft damit auseinandersetzen, kann das weitreichende Folgen haben. Die Angst sollte also nicht darin bestehen, sich mit diesem Buch zu beschäftigen, sondern vielmehr darin, sich nicht mit ihm zu befassen. Heißt es doch im Koran: Und Er (Gott) lässt (Seinen) Zorn auf jene herab, die ihre Vernunft nicht gebrauchen wollen. (10:100)
In diesem Sinne ist es Aufgabe der Lehrkräfte, ihre eigene Vernunft dafür einzusetzen, dass die ihnen anvertrauten Schülerinnen und Schüler die ihre gebrauchen.
Der Hadith im islamischen Religionsunterricht: eine religionspädagogische Herausforderung Y AġAR S ARIKAYA (G IESSEN )
1. E INFÜHRUNG
UND
F RAGESTELLUNG
Der Hadith – die Bezeichnung für die Berichte und Überlieferungen der Worte (qawl) und Handlungen (fi‘il) des Propheten Muhammad sowie seine stillschweigende Zustimmung zu einem Sachverhalt (taqrīr) – gilt als eine wichtige Bezugsquelle der islamischen Erziehung und Bildung. Begründet wird diese Signifikanz und Autorität vor allem dadurch, dass der Koran, an dem die Muslime als der von Gott offenbarten Wahrheit nicht zweifeln, Muhammad als Vorbild präsentiert, dem es in Achtung und Bewunderung nachzueifern gilt. 1 Zudem sind die Worte und Handlungen des Propheten Muhammad Gegenstand von Überlieferungen und Anekdoten, denen Schülerinnen und Schüler in ihrer realen Lebenswirklichkeit vielerorts begegnen. Zahlreiche Hinweise sprechen dafür, dass diese Haltung Muhammad gegenüber bereits zu seinen Lebzeiten von seinen Gefährten eingenommen, seine Vorgehensweise (sunna) bei der Anwendung der religiösen Gebote, bei der Durchführung der Rituale, im Umgang mit den Menschen und der Umwelt, bei der Problemlösung in verschiedenen Lebenssituationen etc. bald zum Idealbild in der jungen Muslimgemeinde wurde. Diese Bewunderung führte dazu, dass sich zahlreiche Gelehrte nach seinem Tod eifrig bemühten, alles zu sammeln, was es an Erzählungen und Berichten vom Propheten und über ihn gab. Die ersten schriftlichen Aufzeichnungen, die man als Ṣaḥīfa (»Schriftrolle«) bzw. 1
Siehe Koran 32:21; 68:4.
102 | Y AŞAR S ARIKAYA
djuz’ (»Teil«, »Abschnitt«; »kleines Heft«) bezeichnete, stammen aus der Hand von Prophetengefährten, darunter ‘Abdallāh b. ‘Amr b. al-‘Ās (geb. 65/684) und ‘Abdallāh b. ‘Abbās (geb. 68/687).2 Ihren Höhepunkt erreichte diese Arbeit im dritten Jahrhundert, als erstaunlich umfangreiches Material in Sammelwerken zusammengestellt, systematisiert und kategorisiert wurde. Sechs Werke aus dieser Zeit sollten es später zu großem Ansehen in der sunnitischen Welt bringen und einen wesentlichen Grundstein für das kanonische religiöse Wissen legen. 3 Insbesondere die als Ṣaḥīḥān bekannten zwei Sammlungen – eine von alBukhārī (gest. 256/870)4 und eine von Muslim (gest. 261/875)5 – erlangten im traditionellen sunnitischen Denken sogar »dem Koran nahekommende kanonische Geltung«.6 Unzweifelhaft enthalten diese Hadithsammlungen – unabhängig von der Frage, ob und inwieweit sie glaubwürdig und korrekt sind – umfangreiches Material, das grundlegende, erläuternde oder ergänzende Informationen zu vielen Themengebieten des schulischen Islamunterrichts bietet. Jedoch wurden diese Werke nicht für den Unterricht, sondern primär als Denk- und Handlungsmuster zum Zwecke der Urteils-, Rechts- und Wahrheitsfindung in diversen Situationen des individuellen und kollektiven Alltags der Muslime zusammengestellt. Der Ṣaḥīḥ von al-Bukhārī beispielsweise enthält in 97 Kapiteln neben Überlieferungen zum Glauben und zu Ritualen auch zahlreiche Hadithe zu den Themen Handel, Kredit und Arbeitslohn. In vielen Kapiteln werden zudem familien- und strafrechtliche Themen behandelt. Zahlreiche Unterkapitel enthalten Überlieferungen, die darauf abzielen, das gesamte Leben eines Muslims bis ins Detail zu regeln. Das legt nahe, dass es den – offenbar von einer normativen Denkstruktur geleiteten – Autoren bei der Zusammenstellung ihrer Werke in erster Linie darum ging, Materialien und Instrumentarien bereitzustellen, die als Berufungsinstanz für die Erstellung eines religiösen Gutachtens und/oder Begründung eines religionsrechtlichen Urteils über konkrete oder allgemein theoretische Fragen dienen könnten. Dennoch stellt der Hadith über Jahrhunderte hin2
Vgl. Sezgin, Fuat: Geschichte des arabischen Schrifttums, Band 1, Leiden: Brill 1967, S. 54, 84 ff.
3
Demgegenüber sind es bei den Schiiten vier Sammelwerke.
4
Bukhārī, Muḥammad b. Ismā’īl: Ṣaḥīḥ al-Bukhārī. 4 Bde., Beirut: Dār al-kutub al-
5
Muslim, Abu l-Ḥusayn Muslim: Ṣaḥīḥ. Hg. Muhammad Fu’ād ‘Abdulbāqī, 5 Bde.,
‘ilmiyya 1999. Istanbul: al-maktabatu l-islāmiyya, o. J. 6
Zum Kanonisierungsprozess der beiden Werke siehe Brown, Jonathan A. C.: The Canonization of al-Bukhārī and Muslim: The Formation and Function of the Sunnī Ḥadīth Canon, Leiden: Brill 2007.
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weg – seit der Frühzeit des Islams bis heute – eine wichtige Grundlage des religiösen Wissens und eine elementare Quelle für die Erziehung und Bildung dar.7 Der hohen Wertschätzung des Hadiths dürften sich auch die für den bereits laufenden oder geplanten Islamunterricht zuständigen Lehrplanmacher in Deutschland und Österreich bewusst sein.8 Der Lehrplan für Islamkunde in deutscher Sprache des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen etwa schließt den Einsatz des Hadiths nicht nur nicht aus, vielmehr rekurriert er auf ihn als »die zweite Hauptquelle der Islamkunde«.9 Auch der bayerische Lehrplan für die islamische Unterweisung in deutscher Sprache schreibt vor, dass die Schüler »Einblick in die Geschichte des Islam, in prophetische Erzählungen und in die Überlieferung des Propheten Mohammed« nehmen sollen10 und empfiehlt den Lehrkräften, zur Verfestigung des Verständnisses der einzelnen Themen unter anderem Koranverse und Hadithe heranzuziehen. Auch der niedersächsische Lehrplan weist die Lehrer an, »Auszüge aus Koran und Hadithen« zu Hilfe zu nehmen. 11 So empfiehlt er z. B., Hadithe zu lesen, die Werte und Normen thematisieren.12 Der Bildungsplan für den islamischen Religionsunterricht an den öffentlichen Schu7
Hier sei noch darauf hingewiesen, dass der Hadith seit jeher funktionalisiert und mitunter missbraucht wurde – heute vor allem von salafistischen Predigern. Siehe hierzu Rauf Ceylan/Michael Kiefer (Hg.): Salafismus: Fundamentalistische Strömungen und Radikalisierungsprävention, Wiesbaden: Springer 2013, S. 156 ff.
8
Selbst das Kölner Institut für Interreligiöse Pädagogik und Didaktik (IPD), das gegenüber dem Hadith eine zurückhaltende Position einnimmt, musste dem Hadith den notwendigen Platz in seinem Lehrplan einräumen: »Der islamische Religionsunterricht gründet sich auf die Grundquellen des Islams, auf Qur’an und die verbindliche Sunna des Gesandten Muhammad (sas) …«, in: http://www.ipd-koeln.de/ unterrichtskonzeption.htm. Vgl. auch Mohr, Irka-Christin: Islamischer Religionsunterricht in Europa. Lehrtexte als Instrumente muslimischer Selbstverortung im Vergleich, Bielefeld: transcript Verlag 2006, in: http://books.google.de/books?id= gDoK9v628koC&pg=PA202&lpg=PA202&dq#v=onepage&q=&f=false, S. 94-95.
9
Siehe Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen: Lehrplan für Islamkunde in deutscher Sprache in der Grundschule. Klasse 1 bis 4 (2006); dass.: Islamkunde in deutscher Sprache. Lehrplan für die Sekundarstufe I in Nordrhein-Westfalen. Klasse 5 bis 10 (2009).
10 Siehe Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus: Lehrplan für die islamische Unterweisung in deutscher Sprache. Grundschule, Hauptschule, Jahrgangsstufen 1 bis 10 (2005). 11 Siehe Niedersächsisches Kultusministerium: Rahmenrichtlinien für den Schulversuch »Islamischer Religionsunterricht« (2003). 12 Ebd., S. 27.
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len in Baden-Württemberg betont, dass die Sunna eine unabdingbare Voraussetzung für das Verständnis des Korans bildet, weswegen empfohlen wird, viele Themeneinheiten unter Heranziehung von Beispielen aus Hadithen zu behandeln.13 Auch im Kerncurriculum für den islamischen Religionsunterricht an hessischen Grundschulen wird dem Hadith als zweiter Quelle nach dem Koran eine zentrale Rolle eingeräumt. »Denn«, so der Lehrplan, »der Prophet Muhammad hat den Koran vorgelebt und dient den Muslimen deswegen als ein nachzuahmendes schönes Vorbild (uswa hasana [33:21])«.14 Darüber hinaus sehen die Lehrpläne Themen vor, deren Gegenstand der Hadith oder die Sunna ist. 15 Dennoch ist bisher weitgehend unerforscht, ob und inwieweit der Hadith heute im Islamunterricht eingesetzt werden kann. Anders formuliert: Eignet sich das Hadithmaterial prinzipiell für den Unterricht oder ist eine fachdidaktisch gesicherte Auswahl vorauszusetzen? Und wenn eine Auswahl pädagogisch erforderlich ist, nach welchen didaktischen Kriterien sollen die Hadithe gesichtet werden? Auch wurde bisher kaum diskutiert, wie die ausgewählten Hadithe im Unterricht konstruktiv behandelt und erschlossen werden können. Die Pädagoginnen und Pädagogen sind mit dieser Thematik fachlich nicht genügend vertraut, weswegen sich im schulischen – und noch stärker im außerschulischen – Islamunterricht in Deutschland eine gewisse Willkür hinsichtlich der Auswahl und Anwendung von Hadithen beobachten lässt.16 Unklar ist ferner, auf welcher Grundlage die Auswahlentscheidungen bezüglich der für Lehrwerke und Bildungspläne infrage kommenden Hadithe getroffen wurden. Erste systematische Überlegungen zur Hadithdidaktik im deutschsprachigen Raum habe ich in früheren Arbeiten vorgestellt. Meinem 2011 erschienenen
13 Der Bildungsplan für den islamischen Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen in Baden-Württemberg – Grundschule. Entwurf Januar 2003/Februar 2005, S. 46 ff. 14 Siehe Kerncurriculum für Hessen (Primarstufe). Islamische Religion, in: https://kultusministerium.hessen.de/sites/default/files/media/ditib_hessen_sunnitisch_ kc_islam_primarstufe_hessen.pdf, S. 19. 15 Z.B. bildet im hessischen Kerncurriculum die thematische Einheit »Koran und Sunna« einen Schwerpunkt des islamischen Religionsunterrichts an Grundschulen. Eine Analyse der Lehrpläne hinsichtlich der Quellen bietet Michael Kiefer in seinem Aufsatz: »Islamische Quellen in staatlichen Lehrplänen für den Islamunterricht: Auswahlkriterien, Präsentation und Kontext«, in: Irka-Christin Mohr/Michael Kiefer (Hg.): Islamunterricht – Islamischer Religionsunterricht – Islamkunde: Viele Titel, ein Fach? Bielefeld: transcript Verlag 2009, S. 37-58. 16 R. Ceylan/M. Kiefer, Salafismus, S. 157.
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Aufsatz zur Relevanz des Hadith im Islamunterricht 17 folgte 2011 die erste aus sechs Werken (kutub as-sitta) ausgewählte und ins Deutsche übersetzte Hadithsammlung für den islamischen Religionsunterricht, die sich thematisch an den Lehrplänen der verschiedenen Bundesländer orientiert und didaktisch für verschiedene Themenbereiche bearbeitet wurde.18 Die Basis dafür bildeten die Kriterien, die ich zuvor in meinem Vortrag am Kongress »Das geistige Erbe des Islam III« an der Goethe-Universität Frankfurt im November 2009 vorgestellt hatte.19 Der vorliegende Aufsatz versteht sich daher als eine Weiterführung der Auseinandersetzung mit dem Hadith aus pädagogisch-didaktischer Perspektive unter Berücksichtigung der Reflexionen und Feedbacks in bisherigen schulpraktischen Erfahrungen. Das Ziel dabei ist aufzuzeigen, ob und wie das Hadithmaterial didaktisch und methodisch für den Islamunterricht ansprechend, ertragreich und anregend gestaltet werden kann. Im Mittelpunkt stehen die von mir weiterentwickelten Kriterien für die Auswahl sowie Überlegungen zur didaktischmethodischen Aufarbeitung des Hadiths im Unterricht.
2. AUSWAHLKRITERIEN Wie bereits erwähnt, enthalten die Hadithsammlungen Tausende von Berichten und Anekdoten. Dass diese Fülle und Unüberschaubarkeit eine große Herausforderung für die islamische Religionspädagogik darstellt, liegt in der Natur der Sache. Aus pädagogisch-didaktischer Sicht relevant ist der Umstand, dass wir mit einer Art von Material zu tun haben, welches über Jahrhunderte hinweg bis heute de facto als eine primäre Wissens- und Erkenntnisquelle sowohl in der islamischen Bildung und Erziehung als auch in der islamischen Jurisprudenz und Mystik, mithin in muslimischer Gelehrsamkeit und Frömmigkeit, Anwendung findet. Es liegt vor in Sammelwerken, gedruckt oder in digitaler Form, auf Arabisch und Englisch, teils auch auf Deutsch.20 Nahezu alle Sammelwerke sind
17 Sarikaya, YaĢar: »Der Hadith als Quelle für den islamischen Religionsunterricht«, in: Journal of Religious Culture, Nr. 150 (2011). 18 Ders.: 401 Hadithe für den Islamunterricht, Hückelhoven: Anadolu 2011. S. 20ff. 19 Ders.: Hadith als Quelle des islamischen Religionsunterrichts und die Vorbildfunktion des Propheten. Vortrag am internationalen Symposium »Geistiges Erbe des Islam III«, Goethe-Universität Frankfurt (05.-07.11.2009). 20 Die bisher umfassendste deutsche Übersetzung stammt aus der Feder des katholischen Theologen Adel Theodor Khoury. Siehe Khoury, Adel Theodor: Der Ḥadīth: Urkunde der islamischen Tradition. 5 Bde., Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2008-2011.
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mittlerweile auch online zugänglich. Die islamische Religionspädagogik hat dieses Material aufgrund der oben kurz skizzierten Relevanz ernst zu nehmen, zumal es noch immer den innerislamischen Diskurs prägt, indem es beispielsweise zur Untermauerung einer Position oder zur Rechtfertigung einer bestimmten Handlung herangezogen wird. Folglich ist diese neue Disziplin herausgefordert, plausible Kriterien zu entwickeln, mithilfe derer eine didaktisch sinnvolle Auswahl von im Unterricht verwendeten Überlieferungen getroffen werden kann. Dabei können folgende fachwissenschaftliche und fachdidaktische Aspekte und Prinzipien zur Anwendung kommen: 2.1 Konvergenz mit den allgemeinen Lehren des Korans Bildet der Hadith eine primäre Quelle der islamischen Bildung und Erziehung, so gilt es stets zu fragen, ob und inwieweit die Überlieferung die authentischen Worte und Handlungen des Propheten wiedergeben – eine Frage, die im dritten Jahrhundert der Hidschra zur Genese einer eigenen Wissenschaft, der u ūl alhadith, führte. Für die Analyse der Echtheit der Überlieferungen wurde ein System entwickelt, in dessen Zentrum die Überprüfung der Überlieferer (isnād) nach bestimmten Kriterien (Zuverlässigkeit, Frömmigkeit, Integrität etc.) steht. Die vor allem von Schāfiiten dominierte Hadithwissenschaft konzentrierte sich mithin auf die Kritik der Überlieferer und glaubte, dadurch die Echtheit des Berichts feststellen zu können. Die Plausibilität und Verlässlichkeit dieser Methode wird jedoch heftig diskutiert bzw. sogar in Frage gestellt. Immer mehr Theologen – etwa eine Gruppe von Hadithprofessoren in Ankara – stellen die Methode infrage und knüpfen daran die Forderung nach einer Erneuerung der Hadithwissenschaft.21 Auch die islamische Religionspädagogik kann sich nicht auf die im Mittelalter erzielten Ergebnisse der klassischen Hadithwissenschaft verlassen. In Anlehnung an den besonders von den rationalistischen Theologen (ahl ar-raʾy) verfolgten Ansatz sollte sie die Echtheit einer Überlieferung vor allem daran messen, ob und inwieweit deren Inhalte den generellen Prinzipien des Korans entsprechen. Dieser fachwissenschaftlichen Untersuchungsmethode, die in der Ideengeschichte des Islam insbesondere von Hanafiten und Muʿtaziliten verwendet wurde, liegt die Idee zugrunde, dass der Hadith dem Koran untergeordnet ist, der Prophet Muhammad mithin keinen Inhalt vermitteln kann, der im 21 Siehe Sarikaya, YaĢar: »Die klassischen Hadithwissenschaften in der Sicht der neuen Hadithschule in Ankara am Beispiel der Kritik M. Hayri Kirbasoglus’«, in: Ayse Basol/Ömer Özsoy (Hg.): Geschichtsschreibung zum Frühislam: Quellenkritik und Rekonstruktion der Anfänge, Berlin: EB 2014, S. 137-152.
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Widerspruch zu den allgemeinen Grundsätzen des Korans steht. Hieraus lässt sich generell die Forderung ableiten, dass nur solche Hadithüberlieferungen ausgewählt werden, an deren Konvergenz mit den allgemeinen Lehren des Korans nicht zu zweifeln ist. Die Hadithsammlungen – selbst jene von Bukhārī und Muslim – enthalten indes zahlreiche Überlieferungen, die inhaltlich nicht mit dem Korantext konform sind. Überlieferungen beispielsweise, die den Propheten mit den Worten zitieren, er wisse alles, was in der Zukunft passieren wird, widersprechen der koranischen Maxime: »Niemand weiß, was er morgen erwerben wird.«22 Auch die Überlieferung, wonach Kinder, die zuallererst das Bekenntnis »Kein Gott außer Gott« (Lā ilāha illāllah) lernen, am Jüngsten Tag nicht nach ihren Sünden gefragt würden, auch wenn sie Tausend Jahre lebten, sieht M. Hayri KırbaĢoğlu vollkommen im Widerspruch zum Koran, da sie beispielsweise die koranische Idee der lebenslangen Selbstverantwortung außer Kraft setze.23 Die Überlieferung schließlich, die dem, der an einem Freitag stirbt, den Lohn eines Märtyrers im Paradies verheißt, widerspricht vor allem dem Prinzip der göttlichen Gerechtigkeit. Zu den Hadithen, die – gemäß dieser Perspektive – diskrepante Inhalte vermitteln, gehört auch jener vom Kalifat, der vor allem in der politischen Geschichte des Islams eine große Rolle gespielt hat. Dem Bericht des Prophetengefährten Abu Huraira zufolge habe der Prophet Muhammad gesagt, dass »das Amt des Staatsoberhaupts dem Stamm Quraysch« gebühre24 – eine Ansicht, die dem koranischen Prinzip der Kompetenz und Eignung entgegensteht. 25 M. S. Hatiboğlu, ein zeitgenössischer Hadithgelehrter aus Ankara, kommt in seinem wertvollen und aufschlussreichen Aufsatz, in dem er diese Überlieferungen analysiert, zu dem Schluss, dass es sich dabei um Erfindungen handelt, mithilfe derer man versuchte, eine politische Idee, nämlich eine frühere Form des Arabismus, theologisch zu begründen.26 22 Vgl. Koran 31:34, wo Aischa, die Ehefrau des Propheten, jenen, der behauptet, der Prophet Muhammad wisse, was in der Zukunft geschieht, einen Lügner nennt. 23 Siehe KırbaĢoğlu, M. Hayri: Ġslam DüĢüncesinde Hadis Metodolojisi, Ankara: Ankara Okulu. 2006, S. 44. 24 Eine andere Version wird von Ibn Umar berichtet: »Das Kalifat wird stets den Quraysch gebühren, auch wenn nur zwei Menschen auf der Erde bleiben.« Zur detaillierten Analyse dieser und weiterer Überlieferungen zum Privileg des Stammes Quraysch siehe Hatiboğlu, Mehmed Said: Ġslam’da ilk Siyasi Kavmiyetçilik Hilafetin KureyĢliliği, Ankara: Üniversitesi Ġlahiyat Fak. Dergisi, XXIII 1978, S. 121-213. 25 Vgl. Koran 4:58; 49:13. 26 M. S. Hatiboğlu, Hilafetin KureyĢliliği, S. 121-213.
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2.2 Konformität mit Vernunft und Wissenschaft Ein weiteres Auswahlkriterium bildet die Frage nach der Kongruenz des vorliegenden Textes mit rationalen sowie empirisch-historischen und wissenschaftlichen Erkenntnissen. Jenseits der philosophisch-erkenntnistheoretischen Debatten über den Anspruch der Wissenschaft auf Objektivität ist hier unter Wissenschaft prinzipiell das gemeint, was empirisch nachweisbar ist und mithin als »wissenschaftliche Erkenntnis« universalen Charakter besitzt. In Hinblick auf die Hadithe meint »Rationalität« demnach die »vernunftmäßige« Nachvollziehbarkeit ihres Inhalts. Es gehört jedoch zur Aufgabe des »diskursiven« Islamunterrichts, Schülerinnen und Schüler in höheren Klassen der Sekundarstufe I dazu zu befähigen, sich kritisch und reflektierend mit Hadithen auseinanderzusetzen, die durchaus »unwissenschaftliche« bzw. »unlogische« Inhalte enthalten. Auch dies wird bei der Durchsicht zu berücksichtigen sein. 2.3 Diversität und Pluralität Angesichts der ethnischen, sozialen, religiösen und kulturellen Diversität und Pluralität, durch die die ontische und gesellschaftliche Realität gekennzeichnet ist, und auf die auch der Koran unübersehbar hinweist, ist danach zu fragen, ob eine zur Auswahl stehende Überlieferung eventuell dazu angetan ist, wechselseitige Akzeptanz und Toleranz sowie den innerislamischen, interkonfessionellen oder interreligiösen Dialog zu beeinträchtigen. Die Hadithsammlungen enthalten zahlreiche Überlieferungen, die etwa von sektiererischem Fanatismus oder konfessioneller Intoleranz gegenüber Andersdenkenden durchdrungen sind. In einer Überlieferung werden etwa die Kharidjiten als »Hunde der Hölle« diffamiert,27 während andere die Murdjia und Qadariyya als Häretiker diskreditieren. 28 Berichte dieser Art, die besonders in den gegenwärtig aufflammenden konfessionellen Auseinandersetzungen in den Krisengebieten der islamischen Welt wiederbelebt werden, könnten – würden sie unbedacht und unreflektiert als prophetische Tradition vorgestellt – Hass und Intoleranz erzeugen.
27 Siehe muqaddima 12, in: Ibn Mādja, Abū ʿAbdallāh Muḥammad b. Yazīd: Kitāb assunan, al-Qāhira: Dār al-Ḥadīṯ, 1998. 28 Siehe at-Tirmidhī, Muḥammad b.ʿĪsā: Sunan, qadar 13, Bairūt: Dār al-Kutub alʿIlmīya 2008; Ibn Mādja: Sunan, muqaddima 9.
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2.4 Bildungs- und Erziehungsziele der Kerncurricula Die Lehrpläne legen die Ziele des islamischen Religionsunterrichts sowie die fachlichen und überfachlichen Kompetenzen fest, welche die Schülerinnen und Schüler zu erwerben haben. Selbständigkeit, Kritikfähigkeit, Mündigkeit, Gender- und Differenzgerechtigkeit etc. sind dabei besonders hervorzuheben. 29 Daher ist bei Sichtung der Hadithe auch danach zu fragen, ob und inwieweit die Überlieferung die Lernenden befähigt, die erklärten Ziele und Kompetenzen zu erreichen. Hadithe, die etwa auf Bevormundung abzielen oder dogmatische Antworten nahelegen, sollten daher aus fachdidaktischer Sicht nicht ohne Weiteres als prophetische Worte gelehrt werden. Spezialisten in Sachen Hadithliteratur wissen, dass die Sammlungen nicht selten Berichte enthalten, die etwa dem Prinzip der Gleichheit von Mann und Frau widersprechen. Als Beispiel für solche Hadithe lassen sich Überlieferungen über die Natur und Moral der Frauen anführen. Hierzu gehört etwa der Hadith, demzufolge der Prophet Muhammad die Frauen ermahnte, Gott um Verzeihung zu bitten dafür, dass sie zu oft (auf ihre Ehemänner) fluchten und ihnen gegenüber undankbar seien. Zudem besäßen sie wenig Vernunft und seien zudem nachlässig in Dingen der Religion.30 Jenseits hadithwissenschaftlicher Analysen zur Authentizität solcher Überlieferungen lässt sich konstatieren, dass ein solches Frauenbild nicht nur das koranische Gebot der Gleichheit von Mann und Frau relativiert, sondern darüber hinaus sowohl den Normen des Grundgesetzes als auch den Leitzielen der Bildung und Erziehung widerspricht. Soweit zu den Auswahlkriterien. Es sei betont, dass es hierbei nicht in erster Linie um eine hadithwissenschaftliche Analyse zwecks Überprüfung oder Beurteilung der Echtheit der Hadithe geht, sondern vielmehr um pädagogischfachdidaktische Kriterien, mithilfe derer das umfangreiche Hadithmaterial für den Islamunterricht didaktisch sinnvoll und konstruktiv erschlossen werden kann. In einem weiteren Schritt kann das ausgewählte Material systematischdidaktisch nach Schulformen – oder sogar nach Jahrgängen – zusammengestellt und zu Themeneinheiten des islamischen Religionsunterrichts zusammengefasst werden.
29 Vgl. Kerncurriculum für Hessen (Primarstufe). Islamische Religion, in: https://kultusministerium.hessen.de/sites/default/files/media/ditib_hessen_sunnitisch_ kc_islam_primarstufe_hessen.pdf 30 Siehe Muslim, īmān 114.
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3. K RITERIEN FÜR DEN E INSATZ DES H ADITHS I SLAMISCHEN R ELIGIONSUNTERRICHT
IM
Eine weitere Herausforderung für die islamische Religionspädagogik hinsichtlich der Hadithe bildet die Frage nach fachdidaktisch gesicherten Modellen und Methoden. Wie kann die Arbeit mit dem – etwa nach den oben skizzierten Kriterien ausgewählten – Überlieferungsmaterial im Unterricht fachdidaktisch sinnvoll gestaltet werden? Wie wird es eingesetzt, gelehrt, verstanden und interpretiert? Im Folgenden werden fachdidaktische Kriterien vorgestellt, die insbesondere bei der Auseinandersetzung mit den Hadithen im Unterricht einerseits für höchstmögliche Plausibilität und Nachvollziehbarkeit von Inhalt und Lehre des überlieferten Prophetenausspruchs sorgen und andererseits es den Lernenden ermöglichen sollen, sich selbst spirituell, kognitiv und affektiv zu entfalten und mithin eine mündige religiöse Identität zu entwickeln, indem sie als Subjekte reflexiv, gestalterisch und kreativ im Lernprozess mitwirken. 3.1 Elementarisierung Es ist fester Bestandteil der Tätigkeit von Pädagoginnen und Pädagogen, bei ihrer Unterrichtsplanung eine dem Lerngegenstand und dem Lernniveau der Schülerinnen und Schüler angemessene Vereinfachung vorzunehmen. Aus diesem allgemein pädagogischen Ansatz entwickelte die evangelische Religionspädagogik ein Konzept zur Elementarisierung des Religionsunterrichts. 31 Unabhängig davon, ob und inwieweit dieses Konzept eins zu eins auf den islamischen Religionsunterricht zu übertragen ist, lässt sich festhalten, dass es auch bei der Anwendung der Hadithe darauf ankommt, zwei Perspektiven (Subjekt und Fachwissenschaft) besonders zu berücksichtigen und die sich daraus ergebenen Dimensionen miteinander verknüpfend zu erschließen. Im Hinblick auf die Fachwissenschaft handelt es sich dabei erstens um elementare Strukturen – das sind auf textlicher Ebene die wesentlichen Bestandteile eines Sachverhalts und auf theologischer Ebene die Frage, ob der gewählte Text wesentliche Aspekte des theologisch anvisierten Zusammenhanges wiedergibt – und zweitens um elementare Wahrheiten, nämlich die fundamentalen theologischen Wertaussagen und religiösen Normen, die z.B. in einem Text transportiert werden. Mit Blick auf die Schülerinnen und Schüler heißt das, dass ihre elementaren Ausgangs-
31 Schweitzer, Friedrich: Elementarisierung im Religionsunterricht. Erfahrungen, Perspektiven, Beispiele, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2003.
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punkte (ihre soziokulturellen und kognitiven Verstehensvoraussetzungen) sowie ihre elementaren Erfahrungen (ihre Lebenserfahrungen) zu berücksichtigen sind.32 Für die Unterrichtsmethodik ergeben sich daraus elementare Formen des Lernens wie etwa kreatives Arbeiten, Rollenspiel, eigene Textgestaltung etc. Wie lassen sich die in den Hadithen überlieferten Inhalte elementarisieren? Es versteht sich, dass die Hadithe in ihrer überwältigenden Mehrzahl nicht unmittelbar Kinder und Jugendliche ansprechen bzw. nicht direkt für sie konzipiert sind. Folglich enthalten sie komplexe Themen, Episoden oder Gegenstände sowie Metaphern und Gleichnisse, die entweder weit über den Verständnishorizont der Kinder hinausgehen und/oder für den aktuellen europäischen Kontext und die realen Lebenswirklichkeit irrelevant sind.33 Manche Hadithe enthalten Wörter und Vokabular, die eigenartig (gharīb), kompliziert (muškil), mehrdeutig oder ganz fremd sind, da sie äußerst selten verwendet werden und deswegen einer weiteren Erläuterung bedürfen. Auf die Hadithe bezogen bedeutet Elementarisierung mithin, die überlieferten Inhalte durch adäquate Umgestaltung für verschiedene Verstehenshorizonte zu erschließen. Dabei handelt es sich um die Anpassung des Textmaterials an die Adressaten – freilich nach den entwickelten fachwissenschaftlichen Maßgaben, jedoch ohne den Kerninhalt oder den Sinn zu entstellen. Aufgrund ihres narrativen Charakters lassen sich aus vielen Überlieferungen elementarisierte Texte als Vorlagen für Erzählungen anfertigen. 3.2 Diskursivität Mit »Diskursivität« ist hier gemeint, dass der islamische Religionsunterricht in der Begegnung mit den Hadithen (besser gesagt mit all dem, was das religiöse Bekenntnis ausmacht) auf gedankliche Auseinandersetzung ausgerichtet ist. Demnach bezeichnet sie eine Unterrichtspraxis, die die Schülerinnen und Schüler mit ihrer Individualität und Eigenständigkeit einbezieht und sie als Akteure im Lernprozess ernst nimmt und würdigt.34 Zum diskursiven Religionsunterricht gehört folglich »das Hin- und Hergehen zwischen verschiedenen Interpretatio-
32 Nipkow, Karl Ernst: »Elementarisierung«, in: Gottfried Bitter et al. (Hg.): Neues Handbuch religionspädagogischer Grundbegriffe, München: Kösel 2002, S. 451-456. 33 Dabei wird von Hadithen, deren Texte nicht mit den Normen und Werten der Moderne in Einklang stehen, abgesehen, da diese ohnehin nicht als Unterrichtsmaterial in Betracht gezogen werden. 34 Zum Modell »diskursiver Religionsunterricht« siehe: Schoberth, Ingrid: Diskursive Religionspädagogik, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2009.
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nen und Kontexten, zwischen Absetzung und Kritik einerseits und Zustimmung andererseits.«35 Diesem Ansatz zufolge werden die Hadithe grundsätzlich weder als Bestandteil des kanonischen Wissens noch als Dogma dargestellt, verkündet oder gelehrt. Vielmehr werden Schülerinnen und Schüler dazu befähigt, die in den Hadithen überlieferten Inhalte selbstständig zu bearbeiten und zu interpretieren, indem sie nachfragen und darüber reflektieren. Hierbei gelten die Prinzipien der hermeneutischen Textanalyse. Dies bedeutet, dass die Lernenden die vordergründige Aussage des Textes ermitteln und, ihren Inhalt überprüfend, in eigenen Worten wiedergeben. Dabei sollten sie die Intention des Texts bzw. die Absicht des Autors erschließen, die eigene persönliche Beziehung zum Text herausfinden und zum Ausdruck bringen und den kontextuellen Zusammenhang des Textes betrachten. Dabei soll nicht der Wortlaut in den Vordergrund gestellt werden, sondern vielmehr die mit dem Text einhergehende Lehre und Idee, der Geist oder das Prinzip. 3.3 Kontextbezogenheit Bei der Interpretation und Erklärung der ausgewählten Hadithe im Unterricht ist unbedingt der Kontext, in dem sie entstanden sind, zu berücksichtigen. Das im Text vermittelte Wissen oder Handlungsmuster zeigte sich zuerst in dem Kontext, in dem etwas gesagt, getan oder gebilligt wurde. Dieser Kontext, der personen, zeit- oder ortsbezogen sein kann, spielt eine wichtige Rolle für das Verstehen und Interpretieren eines Hadiths. Die Analyse der Entstehungsgründe der Hadithe (sabab al-wurūd), wohlgemerkt Gegenstand einer aussichtsreichen Subdisziplin der Hadithwissenschaft, kann dabei helfen herauszufinden, warum und unter welchen Umständen der überlieferte Text entstanden ist. Bisweilen ist der Entstehungsgrund eines Hadith in dessen Wortlaut selbst zu finden. Mitunter lässt er sich jedoch erst durch eine kontrastive Analyse der verschiedenen Überlieferungsvarianten ein und desselben Hadiths herausfinden.36 Einem Bericht Abu Hurayras zufolge empfahl der Prophet Muhammad nachdrücklich, vor jedem Gebet den miswāk (Zweig, Knospe oder Wurzelstück des Arakbaumes) zu
35 Ebd., S. 32. 36 Der Entstehungsgrund der bekannten Überlieferung etwa, in der der Prophet erklärt, dass die Taten eines Menschen unter Berücksichtigung der ihnen zugrunde liegenden Absicht bewertet werden, wurde durch die vergleichende Analyse der verschiedenen Variationen festgestellt: Er lag in der Frage an Muhammad bezüglich eines Mannes, der die Absicht hatte, eine Frau aus Medina namens Umm Qais zu heiraten.
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benutzen.37 Dieser Hadith lässt sich im Islamunterricht etwa zum Themenfeld »Gesundheit und Hygiene« heranziehen. Bei der Bearbeitung können die Lernenden darüber diskutieren, was hier wirklich im Vordergrund steht: die Benutzung des miswāk oder die Reinigung der Zähne. Wird diese Überlieferung dem Sinn nach (ʾilla) interpretiert, so wird deutlich, dass der miswāk tatsächlich als ein Mittel zum Putzen der Zähne erwähnt wird. Dergestalt kann also den Lernenden die Wichtigkeit der Zahnreinigung vermittelt werden – selbstverständlich mit dem Hinweis, dass heute dafür andere, zur Mund- und Zahnhygiene weit besser geeignete Mittel – weiche, harte, elektrische etc. Zahnbürsten – zur Verfügung stehen.38 Aus der Erkenntnis, dass es sich beim Putzen der Zähne mit dem miswāk um eine örtlich und zeitlich bedingte persönliche Präferenz und Angewohnheit Muhammads handelt, können sie selbst ableiten, dass es bei dieser Überlieferung nicht um die Benutzung des miswāk, sondern vielmehr um die Zahn- und Mundhygiene geht.39 Das Wissen um den Kontext erlaubt zudem die Spezifizierung der Aussage oder der Handlung, etwa wenn aus ihm hervorgeht, dass eine scheinbar allgemein gültige Aussage sich nur auf bestimmte Umstände oder einen bestimmten Fall bezieht. Die scheinbar allgemein formulierte Aussage zum Glauben im Hadith: »Keiner von euch darf sich als gläubig ansehen, solange er seinem Freund oder seinem Nachbarn nicht das gönnt, was er sich selbst gönnt.« wird beispielsweise insofern spezifiziert, als es hierbei um die Frage der Vollkommenheit des Glaubens geht, nicht aber um den Glauben an sich. Das gilt für alle Überlieferungen, die Formulierungen wie etwa »die beste Tat«, »die Besten von euch«, »wenn – dann« oder »was Gott am meisten liebt«, »wer dies und das tut, gehört nicht zu uns« etc. enthalten.
37 Vgl. Bukhārī, djumʿa 8, awm 27, Muslim, ahāra 42, Ibn Mādja, ahāra 7. 38 In der islamischen Welt findet der miswāk nach wie vor breite Verwendung, da er offenbar über Inhaltsstoffe verfügt, die beispielsweise gegen Zahnfleischprobleme helfen. 39 Dass der Prophet selbst seine Anhänger davor gewarnt hat, seine Äußerungen wortwörtlich zu nehmen, ist zahlreichen Narrationen zu entnehmen. Hier nur ein Beispiel: Musa berichtet: »Der Gesandte Gottes sah eines Tages, wie Leute eine weibliche Palme durch Pfropfen befruchteten. Er sagte dazu: ›Ich glaube nicht, dass das etwas bringt.‹ Als die Leute davon erfuhren, hörten sie sofort damit auf. Doch der Gesandte Gottes bemerkte: ›Wenn es etwas nützt, dann sollen sie es tun. Ich habe nur einen Gedanken geäußert. Ihr sollt nicht alle meine Gedanken beim Wort nehmen. Wenn ich euch aber etwas von Gott mitteile, dann nehmt es an, denn ich erzähle von Gott gewiss nur die Wahrheit.‹« Muslim, faḍā’il 139 (vgl. auch Muslim, faḍā’il 140-141).
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3.4 Korrelation oder Bezug zur Lebenswirklichkeit Die Schülerinnen und Schüler lernen idealerweise, die durch Textanalyse gewonnenen Erkenntnisse auf die eigene Lebenswirklichkeit zu beziehen und dabei zu fragen, ob und inwieweit die Aussage heute für das eigene Leben, Verhalten und Handeln relevant sein kann. Hierzu lässt sich der folgende Hadith, der nahezu in allen Sammlungen zu finden ist, als Beispiel heranziehen: »Wer an Gott ... glaubt, der soll freundlich zu seinem Nachbarn sein...«40 Auch dieser Hadith lässt sich im Unterricht bei der Behandlung verschiedener Themeneinheiten verwenden. Mit Blick auf ihre eigene Lebenswelt können die Lernenden den Inhalt dieses Hadiths sowohl auf ihren – muslimischen oder nicht muslimischen – Sitznachbarn als auch ihren – muslimischen oder nicht muslimischen – Wohnungsnachbarn beziehen. Das Gebot der Freundlichkeit schließt demnach nicht muslimische Nachbarn, Gäste und Freunde ein. Somit kann dieser Hadith für das fundamentale Erziehungsziel der Nächstenliebe, Toleranz und Anerkennung fruchtbar gemacht werden. 3.5 Orientierungshilfe versus Normativität Der religiöse Stellenwert des Hadiths wird gegenwärtig in der Fachwissenschaft kontrovers diskutiert. Im Gegensatz zum im Mittelalter etablierten orthodoxen Dogma, wonach den Hadithen prinzipiell eine normative Funktion zukomme, kann die islamische Religionspädagogik sie als Texte betrachten, die den Kindern und Jugendlichen eine Orientierungshilfe bei der Gestaltung ihrer Religiosität bieten. Daher können im islamischen Religionsunterricht die aus der Textarbeit gewonnenen Ergebnisse nicht normativ und dogmatisch präsentiert werden – besser gesagt, sollte vermieden werden, aus den Hadithen religiöse Normen, verbindliche Aussagen oder gar Urteile zu religiösen, sozialen oder kulturellen Fragen abzuleiten. Vielmehr gälte es, sie als Orientierungshilfe, als Ratschlag oder als ergänzende Information zum besseren Verständnis des Unterrichtsgegenstandes einzusetzen. Die Schülerinnen und Schüler können und sollen selbst entscheiden, ob sie nach dem jeweiligen Hadith handeln oder nicht. Sie sollten zudem lernen, selbst zu beurteilen, ob der behandelte Hadith universelle Aussagen enthält oder Inhalte, die situativ, zeit- und personenbezogen sind. Die Berichte über den letzten Hadsch des Propheten enthalten aufschlussreiche Hinweise auf bestimmte Rechte des Menschen. So soll er dabei Blut (Leben), Eigentum und Persönlichkeit eines jeden – Werte also, die universale Geltung haben – für
40 Bukhārī, adab 31; Muslim, īmān 74, 76, 77; Ibn Mādja, adab 4.
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unantastbar erklärt haben.41 Diese Überlieferungen können besonders zur Besprechung von Themen wie Menschenrechte, Frieden, Toleranz etc. herangezogen werden. Einer anderen Überlieferung zufolge pflegte der Prophet Muhammad jede seiner Handlungen mit der rechten Seite zu beginnen: die rituelle Waschung, das Kämmen, das Anziehen und die Reinigung der Zähne.42 Auch wenn diese Handlungsweise eine persönliche Angewohnheit des Propheten darstellt und mithin nicht zum Wesen der Religion gehört, besitzt sie in der islamischen Kultur auch gegenwärtig einen gewissen Modellcharakter. So werden Kinder in vielen traditionellen Familien ausdrücklich ermahnt, sich etwa beim Essen und Trinken am Propheten zu orientieren. Werden Hadithe über persönliche Präferenzen des Propheten im Unterricht behandelt, sollte jedoch vermieden werden, daraus eine normative Ethik abzuleiten. Eine weitere Überlieferung lautet: »Der Gesandte Gottes sagte: ›Sage Bismillah beim Essen, iss mit deiner rechten Hand, und iss das, was gerade vor dir ist.‹«43 Dieser Hadith, der drei Sitten beim Essen anspricht, ist auch heute elementares Thema der Werteerziehung in Familie und Gemeinde. In der islamischen Tradition hat sich daraus sogar eine normative Ethik etabliert, welche die Denk- und Handlungsweisen der Muslime stark prägt. So wird das Essen oder Trinken mit der linken Hand nach wie vor als verwerflich betrachtet. In vielen Familien werden selbst linkshändige Kinder von ihren Eltern dazu angehalten, mit der rechten Hand zu essen. Für ein kindgerechtes Verständnis dieses Hadiths sollte daher vor allem der soziokulturelle Kontext (das Essen mit der Hand als kulturspezifische Sitte) herausgearbeitet werden. 3.6 Methodenvielfalt Das Hadithmaterial kann im Unterricht durch abwechslungsreiche methodische Zugänge behandelt werden. Im Folgenden seien einige Lernmethoden vorgestellt, mithilfe derer die Schülerinnen und Schüler sich in der Begegnung mit dem Überlieferungstext kognitiv, affektiv und emotional entfalten können. a. Eine Geschichte bzw. Bildergeschichte schreiben Besonders Hadithe mit narrativem Charakter eignen sich prinzipiell als Ausgangsmaterial für die Kreierung einer eigenen Geschichte. Dies fördert die indi-
41 Muslim, hadjdj, 147; Tirmidhī, fitan 2. 42 Bukhārī, Wuḍūʾ 8, libās 38,77; Muslim, ṭahāra S. 66-67. 43 Bukhārī, aṭ‘ima, 2; Muslim, ashriba, 108.
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viduelle Fähigkeit der Kinder, bestimmte Inhalte und Themen selbstständig, kreativ, schöpferisch und phantasievoll aufzubereiten. Als Beispiel sei der Hadith über das weinende Kamel angeführt. Anas berichtet: »Ein Kameltreiber, der schon von dem Propheten gehört hatte, ritt auf seinem Kamel in die Stadt, wo der Prophet zu predigen beabsichtigte. Er wollte den Gesandten Gottes persönlich hören. An den Toren der Stadt angekommen, ließ er die Zügel seines Kamels auf den Boden gleiten in dem Glauben, er brauche sein Tier nicht anzubinden, da er ja auf Gott vertraue. Er begab sich zum Marktplatz, wo der Prophet seine Predigt hielt. Der Mann fragte, was Gottvertrauen (tawakkul) sei. Darauf sagte der Gesandte Gottes: ›Binde zuerst dein Kamel fest, dann vertraue auf Gott!‹«.44 Eine weitere Möglichkeit wäre die, die im Hadith enthaltene Geschichte oder Erzählung vorzulesen und die Lernenden zu ermuntern, sie in eigenen Worten nachzuerzählen.45 b. Rekonstruktion von Anlass und Kontext Schülerinnen und Schüler sollten angeregt werden, ihre Phantasie einzusetzen und zu überlegen, ob und wie der Anlass oder der Kontext eines im Unterricht vorgelegten Hadiths rekonstruiert werden könne – etwa dadurch, dass eine eigene Vorgeschichte entworfen wird, in der Zeit, Ort, Person(en) und Umstände konkretisiert und spezifiziert werden. c. Textarbeit Einen weiteren methodischen Zugang bildet die sogenannte Textarbeit zum zitierten Hadith. Als zielführend könnten sich dabei vor allem folgende Aufgaben erweisen: Finde heraus, welchen Sinn, welche Kriterien oder Prinzipien du aus diesem Hadith ableiten kannst. Welche Leitideen und Beweggründe verbergen sich in diesem Hadith? Wer/was ist hier eigentlich gemeint? Ist das Wort oder die Handlung orts-, zeit- und personenspezifisch? Ob und wieweit kann ich den Inhalt auf mich/auf unsere Zeit übertragen? d. Hadithanalyse nach fachdidaktischen Kriterien Schülerinnen und Schüler können – besonders in höheren Jahrgängen – dazu angeleitet werden, den ausgewählten Hadith aus einer – in diesem Aufsatz dargestellten fachdidaktischen – Perspektive zu analysieren.
44 Tirmidhī, ifāt al-qiyāma 60. 45 Für diese und weitere Lehrmethoden lassen sich zahlreiche Überlieferungen meinem Band »401 Hadithe für den Islamunterricht« entnehmen.
HADITH IM IRU | 117
e. Rollen- und Hörspiel Viele Hadithe enthalten eine dialogische Szene oder berichten über einen unmittelbaren Dialog, an dem neben dem Propheten andere Personen – nicht selten auch Kinder – beteiligt sind. Gerade diese Hadithe lassen sich im Unterricht für ein Rollen- und/oder Hörspiel einsetzen.46 Die Aufbereitung der Überlieferungen im Islamischen Religionsunterricht kann also mithilfe spannender, mannigfaltiger Unterrichtsmethoden sowohl fachwissenschaftlichen als auch schülerorientierten Perspektiven gerecht werden. Sie kann folglich nicht nur zu einem adäquaten Verständnis von deren Inhalten führen, sondern darüber hinaus den Lernenden dabei fördern, die in den Lehrplänen anvisierten Kompetenzen (personale, soziale, lernerische und sprachliche Kompetenz) zu erreichen.
46 Ein solches Rollenspiel lässt sich z. B. aus folgendem Hadith entwickeln: »Eines Tages kam ein Mann zum Gesandten Gottes und bat ihn um eine Spende. Der Gesandte Gottes fragte ihn: ›Hast du zu Hause überhaupt nichts?‹ Der Mann erwiderte: ›Wir besitzen kaum etwas.‹ Der Prophet fragte ihn: ›Hast du etwas, was ich von dir kaufen kann?‹ Er brachte daraufhin einige Gegenstände und verkaufte sie dem Propheten. ›Nun kauf mit deinem Geld Essen und bring es deiner Familie. Mit dem übrigen Geld kauf bitte eine Axt und komme damit zu mir‹, sagte der Gesandte Gottes. Als der Mann nach dem Kauf einer Axt zurückkam, sagte ihm der Gesandte Gottes: ›Nimm jetzt deine Axt und geh in den Wald, sammle dort Holz und verkaufe es! Fünfzehn Tage möchte ich dich hier nicht sitzen sehen.‹ Der Mann ging und tat, wie der Prophet ihm aufgetragen hatte. So verdiente er so viel Geld, dass er Kleidung und Essen kaufte. Daraufhin sagte der Gesandte Gottes: ›Es ist für dich besser, beim Jüngsten Gericht vor Gott als ein fleißiger Mensch zu erscheinen, als mit dem schwarzen Fleck der Bettelei auf deinem Gesicht. Almosen brauchen also die Armen, Bedürftigen und die Menschen, die so viele Schulden haben, dass sie sie nicht mehr zurückzahlen können.‹« Abū Dāwūd, as-Sidjistānī: Sunan. Zakāt 26, Beirut: Mu'assasat al-Kitāb alThaqāfiyyah, 1409/1988.
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4. S CHLUSS Die hier vorgestellten Auswahl- und Anwendungskriterien sind offen für eine weiterführende Diskussion und daher als Impulse zur Weiterbeschäftigung mit den Hadithen als Quelle der islamischen Bildung und Erziehung zu verstehen. Deutlich wird, dass ein islamischer Religionsunterricht – wie die Lehrpläne und bisher entwickelten Schulbücher zeigen – ohne die Einbeziehung der Hadithe kaum vorstellbar ist, bieten diese doch grundlegende, erläuternde oder ergänzende Informationen für die unterschiedlichsten Themeneinheiten. Zudem können sie, wie wir gesehen haben, einerseits dem fachwissenschaftlich gesicherten Verständnis der Sunna und andererseits den subjektorientierten Perspektiven erschlossen und gedeihlich gestaltet werden. Nachdrücklich anzumerken ist jedoch, dass jeder Hadith, der zu einem bestimmten Thema zitiert oder herangezogen wird, zuerst darauf überprüft werden sollte, ob er den oben skizzierten (fach-)didaktischen Auswahl- und Anwendungskriterien entspricht. Ziel dieses sorgfältigen Umgangs mit dem Hadith ist keineswegs die Schwächung der Autorität der Sunna, vielmehr handelt es sich dabei um den Versuch, den Überlieferungsstoff im Unterricht schülergerecht, produktiv, effektiv und nachvollziehbar zu erschließen.
Eine islamische Theologie und Religionspädagogik, »mit der wir leben können«1 Kommentar zur Ringvorlesung aus katholischreligionspädagogischer Perspektive M ATTHIAS S CHARER (I NNSBRUCK )
Die Ringvorlesung (RV) »Neue Ansätze in der islamischen Theologie und Religionspädagogik«, die im Sommersemester 2015 vom Fachbereich Islamische Religionspädagogik (IRP) durchgeführt wurde, ist ein wichtiger Baustein in der Etablierung dieses neuen Fachs an der Universität Innsbruck. Ihr Zustandekommen ist umso bedeutsamer, als die Einrichtung der IRP zunächst nicht unumstritten war. So beginnt dieser Kommentar mit einer kurzen Rückblende auf die diesbezügliche Auseinandersetzung, an der ich auch persönlich beteiligt war.
1
Die ambivalente Formulierung erinnert an einen einschlägigen Aufsatz des Konzilstheologen Karl Rahner, in dessen ehemaligem Archiv die IRP untergebracht ist. Vgl. Rahner, Karl: »Eine Theologie, mit der wir leben können«, in: Rahner, Karl/Imhof, Paul: Schriften zur Theologie, Band 15, Zürich, Köln: Benziger 1983, S. 104-116: Die Leser können selbst entscheiden, wie sie die Formulierung verstehen wollen: Wurde in der RV das Optimum an Möglichkeiten einer islamischen Theologie und Religionspädagogik angesprochen oder kann man damit gerade noch leben? Vgl. zur Bedeutung der Ambivalenz in der interreligiösen Begegnung: Maria Juen/Gunter PrüllerJagenteufel/Johanna Rahner/Zekirija Sejdini (Hg.): Anders gemeinsam – gemeinsam anders? (= Kommunikative Theologie, Band 18), Ostfildern: Matthias Grünewald Verlag 2015.
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Zweifellos stellt die RV für die generelle Ausrichtung des Fachbereichs, seine Lehr- und Forschungstätigkeit sowie für das derzeitige Bakkalaureats- und Lehramtsstudium IRP, dem noch ein Masterstudium folgen soll, eine Orientierung dar. In diesem Kontext scheint mir die Wahl der Thematik der ersten RV programmatisch zu sein: Sie verbindet »neue Ansätze in der islamischen Theologie« mit »neuen Ansätzen in der islamischen Religionspädagogik im europäischen Kontext«. Wenn katholische Religionspädagogen das »und« zwischen »Theologie« und »Religionspädagogik«2 hören, dann kommt ihnen die problematische Beziehung zwischen (neuscholastischer) Theologie und Religionspädagogik/Religionsdidaktik in den Sinn. Lange Zeit wurde die Religionspädagogik lediglich als ein »Anwendungsfach« der »hohen« Theologie gesehen. Wie die islamische Religionspädagogik ihr Verhältnis zur islamischen Theologie bestimmt, ist eine bedeutsame Frage für ihre grundsätzliche Ausrichtung. Das Verhältnis von Theologie und Religionspädagogik weiter bedenkend, hat mich das eindeutige Plädoyer für eine Korrelationsdidaktik in der Vorlesung von Frau Rabeya Müller zu »Koran im Unterricht – Chance für Geschlechtergerechtigkeit oder Anleitung zum Extremismus?« überrascht. Die Korrelationsdidaktik, die im katholischen und evangelischen Kontext zunächst systematischtheologisch ausgewiesen ist, versucht über den Begriff der Erfahrung eine theologische Fundierung der Religionspädagogik, die nicht mehr neuscholastisch bestimmt ist. Der »garstige Graben« (Paul Tillich) zwischen Tradition (als klassischem Gegenstand der dogmatischen Theologie) und Situation (als klassischem Gegenstand der Praktischen Theologie und Religionspädagogik) soll korrelationstheologisch über die Brücke der Erfahrung überwunden werden. Da mir dieses Konzept für die Verhältnisbestimmung von Theologie und Religionspädagogik von großer Bedeutung zu sein scheint, gehe ich auf die Korrelationstheologie und -didaktik aus katholischer Sicht näher ein; das evangelische Pendant dazu wäre die sogenannte »Elementarisierung«, wie sie von den Tübinger Religionspädagogen Karl Ernst Nipkow und Friedrich Schweitzer entwickelt 2
Im Fachbereich Katholische Katechetik/Religionspädagogik an der theologischen Fakultät der Universität Innsbruck ist das Verhältnis von Katechetik (als theologischer »Leitwissenschaft« und Theorie der Katechese), Religionspädagogik (als die Theorie von impliziten und expliziten Bildungsprozessen in allen Lebensaltern und Feldern im Hinblick auf ihre anthropologisch-theologische Bedeutsamkeit), Religionsdidaktik (Theorie expliziten religiösen Lehrens und Lernens in allen Lebensaltern und Feldern) und Fachdidaktik Religion (Theorie expliziten religiösen Lernens und Lehrens im Kontext von Schule und Unterricht) sehr ausdifferenziert. Der Übersichtlichkeit zuliebe verzichte ich in diesem Aufsatz auf diese Ausdifferenzierung und spreche abwechselnd und synonym von Religionspädagogik und Religionsdidaktik.
R INGVORLESUNG IRP
| 121
und bis in die Kompetenzorientierung hinein weitergeführt wurde.3 Dieser Ansatz kann hier leider nicht weiter ausgeführt werden. Den Beitrag schließe ich mit zusammenfassenden Überlegungen zu einer islamischen Religionspädagogik, die sich »praktisch-theologisch« verorten könnte.
1. U NIVERSITÄRE V ERANKERUNG EINES
NEUEN
F ACHS
In Zeiten, in denen an Universitätsbudgets massiv der Sparstift ansetzt und speziell geisteswissenschaftliche und theologische Fächer unter einem ständigen Legitimationszwang im Hinblick auf ihren gesellschaftlichen Nutzen stehen, ist die Neuerrichtung eines Fachbereichs Islamische Religionspädagogik an einer Universität keineswegs selbstverständlich. Dies offensichtlich auch dann noch nicht, wenn ein großer Bedarf an theologisch und religionspädagogisch gut ausgebildeten islamischen Religionslehrern ausgewiesen ist, weil der islamische Religionsunterricht bereits seit 1983 gleichberechtigt neben dem Religionsunterricht anderer Religionsgemeinschaften als Pflichtfach (mit Abmeldemöglichkeit) besteht. Auch gibt es zunehmenden Bedarf an qualifizierten Studienabgängern in anderen Bildungsbereichen innerhalb und außerhalb der islamischen Community, etwa in der Seelsorge oder in der Erwachsenenbildung. Dieser große Bedarf an theologisch-religionspädagogisch gut ausgebildeten islamischen Experten in der Praxis konnte – speziell im Westen Österreichs – vor der Etablierung der IRP in Innsbruck nur sehr mangelhaft abgedeckt werden. Bis dahin war die einzige Einrichtung, die in Österreich ein Bakkalaureatsstudium IRP betrieben hatte, der einschlägige Lehrgang an der IslamischReligionspädagogischen Akademie (IRPA) in Wien unter der Trägerschaft der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich. Von ihm unterscheidet sich ein universitäres Studium IRP, abgesehen von den Möglichkeiten einer durchgängig forschungsgeleiteten Lehre, die eine Universität bietet, u.a. dadurch, dass vom Gesetz her alle Studierenden, welche die bildungsmäßigen Voraussetzungen erfüllen, zu einem solchen Studium zuzulassen sind. Mit der Einrichtung eines Studiums der IRP an einer österreichischen Universität – zunächst an der Universität Wien, wo aber lediglich ein Masterstudium angeboten wird – haben die
3
Schweitzer, Friedrich: Elementarisierung und Kompetenz: Wie Schülerinnen und Schüler von »gutem Religionsunterricht« profitieren, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2008; ders.: Elementarisierung im Religionsunterricht: Erfahrungen, Perspektiven, Beispiele, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2011.
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Muslime in Österreich einen entscheidenden Schritt in die Scientific Community getan. Der Einrichtung der IRP an der Universität Innsbruck ging die Gründung einer »School of Education« als 16. Fakultät unmittelbar voraus. Im Hinblick auf den Ausbau dieser Fakultät war es auch für die Universität durchaus interessant, dass die IRP als Fachbereich den übrigen Fachdidaktiken strukturell zugeordnet werden konnte. Örtlich wurde die IRP in den Räumen der Katholisch-Theologischen Fakultät untergebracht, mit der bereits vor der Etablierung des Fachbereichs eine vertrauensvolle Zusammenarbeit bestanden hatte. Die theologische Fakultät hatte sich wiederholt für die Einrichtung einer IRP eingesetzt. Weil diese aber aus verschiedenen Gründen zunächst nicht durchsetzbar war, hatte sie – sozusagen als Vorläufermodell – in ihren Räumen einen Durchgang des Wiener Masterstudiums IRP organisiert. Heute erweist sich das Doppelverhältnis, in dem die IRP in Innsbruck steht, als äußerst günstig: Einerseits ist sie in die Fachdidaktiken an der Universität eingebunden und andererseits besteht durch die räumliche Unterbringung die Möglichkeit einer engen Kooperation mit der katholischen Theologie und speziell mit der katholischen Religionspädagogik. Damit findet die IRP an der Universität Innsbruck eine anregende Situation für Forschung und Lehre vor, die sich u.a in gemeinsamen Lehrveranstaltungen und Forschungsprojekten niederschlägt. In der trotz anfänglicher Skepsis schnell erreichten Akzeptanz der IRP an der Universität und weit darüber hinaus liegt eine große Chance. Dies vor allem dank der äußerst gelungenen Besetzung der Professur durch Zekirija Sejdini, dem es – zusammen mit seinem Team – in relativ kurzer Zeit gelang, großes allseitiges Vertrauen zu erwerben. Er bringt eine ausgewiesene Fachkompetenz ein und hat eine innovative Entwicklung eingeleitet. Die gute Kooperation mit der derzeitigen Leiterin des Fachbereichs Katechetik/Religionspädagogik Martina Kraml (sie ist Studienbeauftragte der IRP) und ihrem Team an der theologischen Fakultät sowie die gute Einbindung in die School of Education tragen ein Übriges zu dieser gedeihlichen Entwicklung bei, die sich u.a. in der hier kommentierten Ringvorlesung zeigt. Die permanent hohe Beteiligung an der Ringvorlesung, die bis zu hohen Funktionären der Universität reichte, spricht für sich selbst.
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2. Z USAMMENSPIEL VON ISLAMISCHER T HEOLOGIE R ELIGIONSPÄDAGOGIK – EIN P ROGRAMM ?
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UND
Wie ich bereits einleitend geschrieben habe, kommt katholischerseits im Zusammenspiel von Theologie und Religionspädagogik das lange Ringen der Religionspädagogik und der Praktischen Theologie insgesamt um ihr eigenes Fachverständnis zum Ausdruck. Manchen islamischen Religionspädagogen mag dieses Ringen kaum nachvollziehbar sein, weil sie sich mit der dahinterliegenden theologisch-religionspädagogischen Problematik zu wenig auseinandergesetzt haben.4 Doch der Weg von einer neuscholastisch geprägten »Anwendungskatechese«, die auf einer methodisch-didaktisch kindgerecht zugeschnittenen Theologie basierte und im Kinderkatechismus ihren bekanntesten Ausdruck fand, bis zur heutigen Eigenständigkeit eines im theologisch-anthropologischen Diskurs verankerten Fachs, das wesentliche Beiträge in diesem Diskurs leistet, war lang und mühevoll. 2.1 Vom Kinderkatechismus bis zur Standard- und Kompetenzorientierung des Religionsunterrichts Der Fundamentaltheologe Jürgen Werbick spricht im Zusammenhang mit der Frage-Antwort-Didaktik, die sich speziell im Kinderkatechismus5 manifestierte, von einer »Friss-Vogel-oder-stirb-Katechese«, der die »Leerstellen« fehlten.6 Im Kinderkatechismus war alles fertig: Kinder mussten auf Fragen, die sie so nie stellen würden, die vorgeschriebenen Antworten lernen. Das Einbringen eigener Fragen, Anliegen, Zweifel und Widerstände in die Auseinandersetzung mit den Glaubenstexten war dabei nicht vorgesehen. Es ist hier nicht der Platz, den Weg nachzuzeichnen, den insbesondere die katholische Religionspädagogik von einer Anwendungspraxis der »hohen« Theologie zu einem eigenständigen theologischen Fach zurückzulegen hatte. Aber es sei auf die vielen, u.a. in den unterschiedlichen Konzepten des Religionsunter-
4
Vgl. Dafir, Khalid: Islamische Religionsdidaktik zwischen Selbstverwirklichung und Transferverständnis (= Schriftenreihe Religionspädagogik in Forschung und Praxis, Band 5), Hamburg: Kovač 2013.
5
Vgl. zur Entwicklung des Katechismus: Scharer, Matthias: »Katechismen in der Glaubenskommunikation. Herausforderung und/oder Hindernis?«, in: Korrespondenzblatt des Canisianums (1997), S. 24-26.
6
Werbick, Jürgen: Glaubenlernen aus Erfahrung: Grundbegriffe einer Didaktik des Glaubens, München: Kösel 1989.
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richts bis heute präsenten, Meilensteine verwiesen: Speziell in Österreich verlief er von der Katechese in der Schule über einen biblisch-gestaltorientierten Ansatz7 und ein curriculares Konzept8 bis hin zur sogenannten Korrelationsdidaktik9 und der Kompetenz- und Standardorientierung des Religionsunterrichts, mit der wir uns heute kritisch auseinandersetzen.10 Auf diesem langen Weg konnte man beobachten, wie das Verhältnis von Theologie und Religionspädagogik/didaktik ständig hin- und herpendelt: Einmal wird die Religionspädagogik von der Theologie dominiert, wie das in der Katechese in der Schule oder der biblisch-kerygmatischen Religionsdidaktik der Fall war. Dann wieder dominiert eine zunächst »theologiefreie« Didaktik, wie sie sich in curricularen und kompetenzorientierten Konzepten zeigt. 2.2 Differenzierung und Kooperation um der Menschen willen Bei der RV war für mich auffällig, dass sich manche Tendenzen, die wir aus der katholischen Religionspädagogik kennen, in gewisser Hinsicht auch im Verhältnis von islamischer Theologie und Religionspädagogik ausmachen lassen, ohne dass diese in derselben Weise verlaufen oder benannt würden. Dabei hatte bereits der erste Vortrag von Ednan Aslan gezeigt, dass es die islamische Theologie nicht gibt. Der Diskurs um die Pluralität in der islamischen Theologie ist voll im Gange. Eine »Anwendungsdidaktik«, wie wir sie aus dem neuscholastisch 7
Vgl. u.a. Klaushofer, Johann W.: Gestalt, Ganzheit und heilsame Begegnung im Religionsunterricht: Eine Auseinandersetzung mit der Gestaltkatechese von Albert Höfer, Salzburg: Müller 1989.
8
Kritisch dazu vgl.: Scharer, Matthias: »In der Ziel-/Inhaltsdebatte gefangen. Zur (fundamental-)theologischen Problematik von Religionsplänen am Beispiel des Lehrplans 2000«, in: Christlich Pädagogische Blätter (2002), S. 101-107.
9
Vgl. u.a. Scharer, Matthias: Thema, Symbol, Gestalt: Religionsdidaktische Begründung eines korrelativen Religionsbuchkonzeptes auf dem Hintergrund themen-(R.C. Cohn)/symbolzentrierter Interaktion unter Einbezug gestaltpädagogischer Elemente, Graz: Styria 1987; ders.: »Korrelation als Verschleierung: Zur theologischen Auseinandersetzung um das Konzept des Lehrplanes für den katholischen Religionsunterricht auf der Sekundarstufe I (Lehrplan 99)«, in: Österreichisches Religionspädagogisches Forum 8 (1998b), S. 8-11.
10 Vgl. Obst, Gabriele: Kompetenzorientiertes Lehren und Lernen im Religionsunterricht, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009; Scharer, Matthias: »Vom Prozess zum Output: Kritische Überlegungen zur Standard- und Kompetenzorientierung des Religionsunterrichts«, in: Zeitschrift für Integrative Gestaltpädagogik und Seelsorge 17 (2012), S. 83-85.
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geprägten katholischen Religionsunterricht kennen, wäre nur um den Preis einer fundamentalen, möglicherweise tendenziell sogar fundamentalistischen, theologischen Reduktion möglich. Mit Recht würde eine solche Reduktion, die nicht mehr die Menschwerdung des Menschen und das Wohlergehen aller Menschen bzw. der ganzen Schöpfung im Auge hat, in einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft als bildungs- und schulfremd, ja als ideologisch abgelehnt. Interessant fand ich in diesem Zusammenhang die Ausführungen von Heiner Bielefeldt, der die Entstehung einer eigenständigen islamischen Theologie in Europa mit dem säkularen Rechtsstaat in Zusammenhang brachte. Offen blieb für mich die Frage, wie die Kooperation zwischen systematischtheologischen und praktischen Fächern – wie der Religionspädagogik – in der islamischen Theologie aussehen könnte. Denn auch eine »Koranauslegung in der Moderne«, wie sie vom Koranexegeten Ömer Özsoy überzeugend vorgestellt wurde, erschließt bestenfalls einen fundierten koranischen Zugang für Lehrende, berührt aber kaum die Frage der unmittelbaren Vermittlung. Gibt es in der islamischen Theologie und Religionspädagogik eine theologische Reflexion auf das Vermittlungsgeschehen? 2.3 Theologie des Vermittlungsgeschehens Um das mögliche Fehlen einer solchen Reflexion des Vermittlungsgeschehens deutlicher zu machen, muss ich – als katholischer Religionspädagoge ein »gebranntes Kind« – nochmals auf den innerkirchlichen Diskurs zurückkommen, der speziell unter Papst Benedikt XVI. an Brisanz gewonnen hatte. Noch als Kardinal Ratzinger hatte er in Frankreich die berühmte Rede »Die Krise der Katechese und ihre Überwindung« gehalten, die publiziert vorliegt.11 Ratzinger warnt darin vor einer »Hypertrophie« der Methode speziell im Religionsunterricht, den er auch nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil, den nachfolgenden Synoden12 und dem weltkirchlichen Direktorium für Katechese, die ausdrücklich zwischen Katechese in der Gemeinde und Religionsunterricht in der Schule unterschieden hatten, noch immer als Katechese in der Schule sehen will. Obwohl einige Fragen Ratzingers an die Religionspädagogik durchaus bedenkens11 Ratzinger, Joseph Kardinal: Die Krise der Katechese und ihre Überwindung: Rede in Frankreich, Einsiedeln: Johannes Verlag 1983. 12 Ludwig Bertsch u.a. (Hg.): Beschlüsse der Vollversammlung (= Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland, Band 1), Freiburg im Breisgau: Herder 1978; Scharer, Matthias: »Der Synodenbeschluss zum Religionsunterricht in der Schule: heute gelesen und im Blick auf morgen weitergeschrieben«, in: Österreichisches Religionspädagogisches Forum 17 (2009), S. 30-38.
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wert erscheinen, ist das Grundanliegen problematisch, nämlich (wie er es undifferenziert sieht), die Katechese generell an den Katechismus der Kirche zu binden und die theologische Bedeutung methodisch-didaktischer Fragen auszublenden. Gerade eine theologisch-kritische Reflexion auf das Vermittlungsgeschehen würde aufdecken, dass die Glaubwürdigkeit des Glaubens in einem säkularen Schulkontext vorrangig an der Qualität des Vermittlungsgeschehens, also an religionspädagogischen und religionsdidaktischen Fragen hängt. Die Themenstellung der RV könnte auf den ersten Blick nahelegen, dass die IRP an der Universität Innsbruck – ganz im Geiste der Rede Kardinal Ratzingers – an einem deduktiven Verhältnis zwischen islamischer Theologie und islamischer Religionspädagogik festhält. Sollen daher neuere Tendenzen in der IRP und in der islamischen Theologie vielleicht deshalb in einer RV bearbeitet werden, weil sich die IRP als Anwendungsfach der Theologie versteht? Tendenziell konnte man hinter einigen Vorträgen ein solches Verhältnis vermuten. Wie ich aus der vielfachen Zusammenarbeit mit den Mitarbeitern der IRP und speziell mit Zekirija Sejdini und Fatima Çavis weiß und wie aus den jeweiligen Begrüßungen und Einleitungen vonseiten des Fachbereichs sowie aus den Diskussionsanstößen eindeutig hervorging, ist vom Veranstalter her ein deduktives Verhältnis zwischen islamischer Theologie und IRP jedoch keinesfalls im Blick. 2.4 Die Gratwanderung zwischen Theologie und Pädagogik/Didaktik Das Gegenteil einer theologischen Ableitungs- und Anwendungspädagogik würde eine ausschließlich in der Pädagogik/Didaktik verankerte IRP darstellen. In diesem Sinne wäre religiöse Vermittlung ausschließlich ein »weltlich Ding«. Das Theologische bezöge sich nur auf den Inhalt; in der Form des Vermittlungsgeschehens, also in der Didaktik, würde keine theologisch bedeutsame Frage erkannt. Die theologische Bedeutung des Vermittlungsgeschehens käme nicht in den Blick. Eine theologisch orientierte Religionspädagogik will die Aufspaltung der Religionspädagogik in einen theologischen und in einen pädagogisch-didaktischen Bereich vermeiden. Ihr geht es vielmehr darum, die Spannung, die aus der Verbindung von Glaubenstradition und heutiger Situation heraus besteht, aufrechtzuerhalten. Wie aber ist eine solche lebendige Verbindung zwischen Tradition und postmoderner Situation zu denken?
R INGVORLESUNG IRP
3. Ü BERRASCHENDER B EZUG K ORRELATIONSBEGRIFF
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AUF DEN
Ich habe bereits erwähnt, wie überraschend es für mich als katholischen Religionspädagogen war, dass Frau Rabeya Müller den Korrelationsbegriff, der über Jahrzehnte als Leitbegriff für die katholische Religionspädagogik galt und der u.a. in der Auseinandersetzung um österreichische Lehrpläne für den Religionsunterricht zu heftigen Kontroversen führte13, auch für die islamische Religionspädagogik in Anspruch nahm. Vor diesem Hintergrund gehe ich etwas ausführlicher auf das theologische und religionspädagogische Korrelationsverständnis ein, wie es sich in der christlichen Theologie entwickelt hat, ohne Anspruch auf Vollständigkeit der Darstellung zu erheben. 3.1 Korrelation in der katholischen Religionspädagogik Der Korrelationsbegriff, der vor allem in der Statistik verwendet wird, ist kein originär theologischer oder religionspädagogischer Begriff. Im theologischen Zusammenhang kommt er aus der Dogmatik, also der systematischen Reflexion auf die christliche Tradition. Der evangelische (systematische) Theologe Paul Tillich spricht von der Korrelation als »der Methode« der Theologie.14 Hier wird der Methodenbegriff also nicht didaktisch, sondern wissenschaftstheoretisch verstanden:15 Durch Korrelation zwischen der Tradition, die für den evangelischen Theologen primär in der biblischen Tradition besteht, und der Situation, wie sie Gegenwartsliteratur, aktuelle Philosophie, historische Einsichten usw. erfassen, kann der »garstige Graben«, den die Moderne geschaffen hat, überbrückt werden. Die Brücke zwischen »damals« und »heute« stellt die Erfahrung dar. Damit ist bei Tillich nicht in erster Linie die empirisch erfassbare naturwis-
13 Vgl. Scharer, Matthias: »Korrelation als Verschleierung: Zur theologischen Auseinandersetzung um das Konzept des Lehrplanes für den katholischen Religionsunterricht auf der Sekundarstufe I (Lehrplan 99)«, in: Österreichisches Religionspädagogisches Forum 8 (1998), S. 8-11. 14 Tillich, Paul: Die Methode der Korrelation. (Systematische Theologie Bd. 4), Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk 1973. 15 Vgl. dazu die Differenzierung des Methodenbegriffs in: Scharer, Matthias: »›Der Weg ist das Ziel‹, ist er das? Zum Streit um das ›Methodische‹ in Katechese und Theologie«, in: Nikolaus Wandinger/Petra Steinmair-Pösel (Hg.): Im Drama des Lebens Gott begegnen. Einblicke in die Theologie Józef Niewiadomskis, Münster u.a.: Lit Verlag 2011, S. 366-383.
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senschaftliche Erfahrung gemeint. Sein Verständnis geht viel tiefer; es reicht bis in die mystische Erfahrung hinein. Mit Tillich und anderen christlichen Theologen wurde die Erfahrung zu einer zentralen theologisch-religionspädagogischen Kategorie16, ohne die nicht mehr redlich von Gott und dem Menschen gesprochen werden kann. Auf katholischer Seite wurde die korrelative Theologie vor allem von dem holländischen (systematischen) Theologen Edward Schillebeeckx vorangetrieben, der – zusammen mit anderen »kontextuellen« Theologen wie dem Innsbrucker Konzilstheologen Karl Rahner – auch die Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils entscheidend mitbestimmt hatte. Der Umstand, dass der Fachbereich Islamische Religionspädagogik in den ehemaligen Räumen des Karl-RahnerArchivs angesiedelt ist, mag im Hinblick auf seine theologische Ausrichtung daher mehr als ein blinder Zufall sein. Kontextuelle Theologien, die immer auch korrelative Theologien sind, gehen davon aus, dass die Wahrheit des Glaubens nie allein aus der Tradition heraus verstanden werden kann, sondern ebenso einer genauen Analyse des Kontexts, in dem theologisch gesprochen wird, bedarf. Dem jeweiligen Fokus der Kontextanalyse entsprechend entstehen nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil kontextuelle Theologien wie die Befreiungstheologie, die Politische Theologie, die Feministische Theologie u.a. Auch die Dramatische und die Kommunikative Theologie, an denen an der katholischtheologischen Fakultät in Innsbruck geforscht wird und die auf die theologische Lehre und letztlich auch auf die katholische Religionspädagogik großen Einfluss haben, kann man als kontextuelle Theologien verstehen. 3.2 Wechselseitige und wechselseitig kritische Korrelation – ein theologischer Streit Wenn ich im Zusammenhang mit den korrelativen und kontextuellen Theologien nochmals auf den Ansatz von Schillebeeckx zurückkomme, dann deshalb, weil dessen Korrelationsverständnis die katholische Religionspädagogik wesentlich beeinflusst hat.17 Schillebeeckx spricht von einer »wechselseitigen« und einer »wechselseitig kritischen« Korrelation. Mit dieser Begrifflichkeit, speziell jener, die die Korrelation als wechselseitig kritisch und damit nicht nur als von der
16 Vgl. Grümme, Bernhard: Vom Anderen eröffnete Erfahrung: Zur Neubestimmung des Erfahrungsbegriffs in der Religionsdidaktik, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus; Freiburg-Basel-Wien: Herder 2007. 17 Schillebeeckx, Edward: Menschen: Die Geschichte von Gott, Freiburg im Breisgau: Herder 1990.
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Tradition her in das Heute, sondern auch umgekehrt verlaufend fasst, zog er sich den Verdacht eines theologischen Irrtums zu. (Wie) Kann vom aktuellen Kontext her kritisch auf die Tradition korreliert werden? Schillebeeckx konnte sich theologisch rechtfertigen. Wie bereits Tillich sieht auch er eine Korrelation zwischen »damals« und »heute«, deren Brücke die Erfahrung ist. Diese Korrelation zwischen Tradition und Situation ist auch wechselseitig kritisch insofern, als das »Gotteswort im Menschenwort« in seiner Schriftwerdung immer auch Missdeutungen ausgesetzt ist. In diesem Zusammenhang wäre ein Diskurs mit den Ausführungen von Ömer Özsoy zur »Koranauslegung in der Moderne« gewinnbringend. 3.3 Erfahren und Widerfahren Schillebeeckx bewegt auch der Gedanke, dass die Erfahrung des Menschen – da überlagert von Projektionen, Dramatisierungen, Historisierungen usw. – nie objektiv zugänglich und insofern immer kritisch zu sehen ist. Vor allem aber steht aus christlicher Sicht nicht eine Erfahrung des Menschen, sondern ein Widerfahrnis im Zentrum – das Widerfahrnis des Jesus von Nazareth, das anders als die Berichte über das leere Grab in den Evangelien die Lebens- und Liebesmacht Gottes ins Zentrum rückt: Vom religiösen Establishment ans Kreuz geschlagen, wird er vom einen und einzigen Gott, seinem »Abba«, aus dem Tod ins Leben geführt – »auferweckt … am dritten Tag«, wie es im ältesten Zeugnis heißt (1 Kor 15, 3-8). Die Basis des Korrelierens aus christlicher Perspektive bilden demnach nicht nur Erfahrungen, sondern das Widerfahrnis bzw. die vielen Widerfahrnisse des Menschen im Lieben und Leiden bis zur letzten Stunde, die keinem Menschen erspart bleibt. Die Einsicht, dass letztlich Gott am Menschen handelt und nicht der eigenmächtige Mensch alle Erfahrungen »macht«, bestimmt das christliche Korrelationsverständnis wesentlich. Konsequent unterscheidet Schillebeeckx die alltägliche Routine von tiefen existenziellen Erfahrungen und letztlich den Widerfahrnissen, denen der Mensch im Leben begegnet. 3.4 Von der korrelativen Theologie zur korrelativen Religionspädagogik Schillebeeckx hat seine Korrelationstheologie auf einer großen religionspädagogischen Tagung des Deutschen Katechetenvereins (DKV) in Brixen mit deutschsprachigen Religionspädagogen diskutiert. Damals hat der Korrelationsbegriff den Konvergenzbegriff, der in der Würzburger Synode verwendet worden war,
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um das Zusammenspiel zwischen den Erfahrungen der Kinder und Jugendlichen von heute und den Glaubenstraditionen zu beschreiben, abgelöst. Seither spricht man nicht mehr nur von einer korrelativen oder kontextuellen Theologie, sondern auch von einer Korrelationsdidaktik, die allerdings eine korrelative bzw. kontextuelle Theologie zur Voraussetzung hat. Mit einer Theologie, wie sie die der traditionellen katholischen Katechese zugrunde liegende neuscholastische Theologie darstellte, in der alle Antworten auf die kontextuellen Fragen der Menschen bereits vorgegeben und beantwortet sind, lässt sich auch keine Korrelationsdidaktik betreiben. Im Anschluss an die Rezeption des Korrelationsverständnisses von Tillich und Schillebeeckx entstanden zahlreiche religionspädagogische Entwürfe, die das Korrelationsverständnis ausdifferenzierten und religionspädagogisch weiterführten. Die religionspädagogisch weitestreichende Einsicht aus der Korrelationsdebatte scheint mir in der Erkenntnis zu liegen, dass im Symbol als der »Sprache der Religion«18 bereits eine Korrelationsgestalt vorliegt. Wenn Menschen beten, wenn sie einander gedankentiefe Geschichten, Gleichnisse und Metaphern erzählen, religiös bedeutsame Gegenstände verwenden, dann erfüllen sie damit nicht in erster Linie ein Gebot, eine religiöse Norm, sondern stiften Sinn. Gegenüber einer von Sinnleere und Sinnverlust gekennzeichneten Alltagsroutine erschließt eine symbolzentrierte Interaktion neuen Lebenssinn. Die Symboldidaktik bzw. die Symbolkommunikation eröffnet einen Weg in die interreligiöse Religionsdidaktik, weil das symbolische Handeln allen Menschen in allen Religionen eigen ist. Auch von hier aus ergeben sich interessante Forschungsperspektiven, wenn man die Möglichkeiten und Grenzen einer interreligiösen Religionspädagogik ausloten will.
4. I SLAMISCHE T HEOLOGIE EIN OFFENER H ORIZONT
UND
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In den vorangehenden Ausführungen habe ich versucht, das Verhältnis von Theologie und Religionspädagogik aus katholischer Sicht auszuloten und mit dem Gedanken einer korrelativen Theologie zu verbinden, der speziell in einer Ringvorlesung ins Spiel kam. Die Gratwanderung zwischen einem in der Theologie verankerten oder primär erziehungswissenschaftlich begründeten Fach, die
18 Vgl. Halbfas, Hubertus: Das dritte Auge: Religionsdidaktische Anstöße (= Schriften zur Religionspädagogik, Band 1), Düsseldorf: Patmos 1997; ders.: Religiöse Sprachlehre: Theorie und Praxis, Ostfildern: Patmos 2012.
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der katholischen Religionspädagogik seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil bis heute abverlangt wird, kann in einen fruchtbaren Diskurs mit der IRP führen, ohne dass sich dort die Geschichte wiederholt oder auf mögliche Entsprechungen geschielt wird. Für mich ist es jedenfalls sehr spannend, gemeinsam mit meinen islamischen Kolleginnen und Kollegen nach dem Grundverständnis unseres Tuns in der Theologie und Religionspädagogik zu fragen.
Religionsdidaktik in der Spannung zwischen öffentlichem und religionsgemeinschaftlichem Bildungsauftrag M ARTINA K RAML (I NNSBRUCK )
Im Rahmen des Ringvorlesungsbandes »Neue Ansätze in der islamischen Theologie und Religionspädagogik: Binnen- und Außenperspektiven« nehme ich als katholische Religionspädagogin und Religionsdidaktikerin eine Außenperspektive ein, allerdings eine – aus meiner Einschätzung – mit Binnenbezügen, da einerseits in Innsbruck eine enge Zusammenarbeit zwischen katholischer und islamischer Religionspädagogik besteht und andererseits beide Religionsgemeinschaften mit durchaus ähnlichen Gemengelagen konfrontiert sind. Diese Gemengelagen – wie z.B. diejenigen im Kontext der Pluralisierung oder der Korrelation – können zwar mitunter zeitversetzt auftreten, sind aber dennoch nicht weniger virulent.
1. V ORBEMERKUNG Der Artikel behandelt die Frage nach einem angemessenen Konzept von Religionsdidaktik in Anbetracht des Spannungsverhältnisses zwischen öffentlichem und religionsgemeinschaftlichem bzw. privatem Bildungsauftrag, in dem religiöse Bildung stattfindet. Im Rahmen dieser Einführung zunächst sollen einige Hinweise zur Begriffsverwendung gegeben werden: Das Wort »Konzept« wird im Sinne einer reflektierten Vorstellung, eines reflektierten Plans verwendet. Konzepte geben Orientierung und Überblick. Sie ermöglichen gezieltes, aufbauendes Lernen und legen Rechenschaft ab über Ziele, Ansprüche und angestrebte Kompetenzen. Da Reflexion und methodische
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Nachvollziehbarkeit essenzielle Merkmale des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnungsprozesses sind, sollte wissenschaftliches Handeln per se konzeptorientiertes Handeln sein. Es lassen sich hier zwei Momente des Handelns unterscheiden: 1) das unmittelbare Handeln in konkreten Handlungskontexten, das immer auch 2) Ausdruck eines Gefüges – eines Handlungskonzepts – ist, das unausdrücklich oder ausdrücklich, bewusst oder unbewusst sein kann. In einer anderen Verwendungsweise – dem englischen Sprachgebrauch entspringend – bezeichnet »Konzept« eine Vorstellung, einen Begriff, etwa im Sinne subjektiver Zugänge, subjektiver Vorstellungen oder subjektiver Theorien.1 Bei Letzteren handelt es sich um das Handeln tragende und steuernde Elemente im Sinne professions- oder auch – grundsätzlicher und erweiterter – lebenstragender Überzeugungen (bisweilen wird – wegen der Offenheit für weltanschauliche und normative Konnotationen – der Ausdruck »beliefs«2 vorgezogen). Übertragen 1
Im Kontext der Debatte um die Professionalität der Lehrenden wird der Terminus »subjektives Konzept« oder »subjektive Theorie« häufig verwendet. Vgl. dazu Lehner-Hartmann, Andrea: Religiöses Lernen: Subjektive Theorien von ReligionslehrerInnen, Stuttgart: Kohlhammer 2014; Schröer, Ludger: Individuelle didaktische Theorien und Professionswissen. Subjektive Konzepte gelingenden Geschichtsunterrichts während der schulpraktischen Ausbildung, Berlin: Lit 2015.
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Die relevante Forschung im Kontext Didaktik, Pädagogik, Philosophie und Theologie ist sich weitgehend einig, dass lebenstragende/handlungsleitende Überzeugungen eine große Rolle spielen, insbesondere im Bereich der Professionalisierung von Lehrenden. Dennoch ist die Begriffslage sehr unterschiedlich. In philosophisch-theologischem Sinne wird von lebenstragenden Überzeugungen gesprochen. Vgl. Muck, Otto: »Zur Logik der Rede von Gott«, in: Otto Muck/Winfried Löffler (Hg.): Rationalität und Weltanschauung. Philosophische Untersuchungen, Innsbruck/Wien: Tyrolia 1999, S. 14-44, hier S. 36; in pädagogischen und didaktischen Kontexten ist die Rede von »subjektiven Theorien« oder »kognitiven Konzepten«. In einem eng verwandten Sinne, der aber auch die emotionalen Komponenten mitmeint, redet man von »beliefs«. Mit Ergänzungen folge ich der bei Plöger-Werner dargestellten Begriffsbestimmung von Richardson: »Beliefs are thought of as psychologically held understandings, premises, or propositions about the world that are felt to be true.« Siehe PlögerWerner, Magdalena: Epistemologische Überzeugungen von Erzieherinnen und Erziehern. Die Bedeutung für das pädagogische Handeln in Kindertageseinrichtungen. Dissertation Pädagogische Hochschule Freiburg 2015, S. 42; vgl. auch: L. Schröer: Individuelle didaktische Theorien und Professionswissen. Entsprechend den religionspädagogischen und religionsdidaktischen Anliegen soll der Zugang dabei um eine philosophische und theologische Blickrichtung ergänzt werden. Auch sind mehrere Dimensionen von beliefs zu unterscheiden: die Dimension der einzelnen Person und ihrer
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auf didaktische Fragen heißt das, dass eine Didaktik nicht nur aus Methodik im Sinne von Handlungsanweisungen besteht, auch nicht nur in der Auseinandersetzung über Pläne, sondern viel grundsätzlicher bei den normativen Überzeugungen ansetzt und alle Ebenen miteinander verbindet. Die Auseinandersetzung mit konkretem Handeln, mit Konzepten im Sinne von Handlungsentwürfen und mit handlungstragenden Überzeugungen ist, was immer wieder Verwunderung besonders bei Studierenden auslöst, eine wesentliche Aufgabe der Didaktik und Fachdidaktik. In besonderer Weise gilt das für die Religionsdidaktik, die sich mit der Konzeptualisierung religiöser Bildungsprozesse beschäftigt. So gesehen gehören die lebenstragenden – religiösen – Überzeugungen zum Gegenstand der Religionsdidaktik. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nicht nur nach dem Gegenstand, dem Was der Religionsdidaktik, sondern auch nach dem Wie, der Perspektive, aus der der Gegenstand betrachtet wird. Das bedeutet, dass die Religionsdidaktik sich nicht nur materialiter mit dem Religiös-Weltanschaulichen beschäftigt, sondern dass darüber hinaus auch ihr Blickwinkel theologisch bestimmt ist. Es ist dieser theologische Blickwinkel, der sie zu einer theologischen Wissenschaft macht. Da kommt selbstverständlich sofort die Frage auf, wodurch diese Perspektive denn gekennzeichnet ist. Die Antwort darauf liegt in der Gottesfrage und damit, wie Gott sich in unserer Welt zu verstehen gibt und wie er von uns verstanden werden will. »Sie (die Gottesfrage, d.V.) ist [also] die tiefste Frage des Menschen nach sich selbst, nach Sinn und Bedeutung seines Lebens.«3 In diesem Sinne hängt die Frage nach Gott unmittelbar mit der Frage nach dem Menschen und mit der Qualität seiner Beteiligung an der Welt zusammen. Damit ist die theologische Diskussion darüber eröffnet, worin denn diese Qualität bestehe – in der Anwaltschaft für die Würde und die Rechte der Menschen,4 in der Sorge um die Schöpfung, in der Wahrung der Möglichkeitshorizonte, im Sinne eines letzten Zieles der Menschen? Aus diesen Überlegungen wird deutlich, dass eine theologisch perspektivierte Religionsdidaktik sich den Fragen nach den sie leitenden anthropologischen und theologischen Konzepten stellen, diese reflektieren und verantworten muss. Auch was sie in den Blick nimmt und was sie Überzeugungen (weltanschauliche Überzeugungen, Professionsüberzeugungen, Überzeugungen zum Kontext, Überzeugungen zum Wissenserwerb etc.) sowie die Dimension kollektiver oder subjektiv-kollektiver Überzeugungen. Grundlegend ist, dass diese Überzeugungen – in gewissem Sinne und in unterschiedlichem Ausmaß – einen Wahrheitsanspruch stellen. 3
Gruber, Franz: Das entzauberte Geschöpf. Konturen des christlichen Menschenbildes, Regensburg: Pustet 2003, S. 27.
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Vgl. dazu den Beitrag von Zekirija Sejdini in diesem Band.
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ausblendet, obliegt dieser ständigen theologischen Reflexion und Auseinandersetzung. Dabei bewegt sie sich nicht im »luftleeren Raum«, sondern ist immer in spezifischen kulturellen und historischen Kontexten situiert. Dies hat – aus theologischen, nicht allein aus didaktischen Gründen – ein mehrperspektivisches Verständnis von Theologie und theologischer Bildung, speziell religiöser Bildung, zur Folge. Ein solches religionsdidaktisches Verständnis umfasst die Inhalte und Quellen der religiösen Tradition in gleicher Weise wie die diese Tradition vermittelnden und rekonstruierenden Subjekte, die wiederum nicht singulär leben, sondern in Gemeinschaften und in den aktuellen lokalen wie globalen gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und religionsgesellschaftlichen Globe/Kontext eingebettet sind.5 Eine Religionsdidaktik, die an einem »Ankommen« und »Aufnehmen« der religiösen Botschaft bei den Menschen, ihren Kollektiven und Kontexten, interessiert ist, wird die genannten Dimensionen nicht isoliert sehen, sondern vernetzen. So gesehen ist religionsdidaktisches Handeln eine sehr umfangreiche und vielschichtige Vernetzungstätigkeit. Dies soll im Folgenden, ausgehend von einer kontextuellen Fragestellung, gezeigt werden, indem das Spannungsfeld Religion und Öffentlichkeit religionsdidaktisch beleuchtet wird.
2. R ELIGION IM S PANNUNGSFELD ZWISCHEN ÖFFENTLICHEM , RELIGIONSGEMEINSCHAFTLICHEM UND PRIVATEM R AUM Der europäische Kontext ist im Hinblick auf die Fragestellung Religion/religiöse Bildung und Öffentlichkeit durchzogen von Ambivalenzen, Ambiguitäten und Brüchen. So wird z.B. in Frankreich durch das Verschweigen und die Tabuisie-
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Vgl. dazu die Konzepte der Themenzentrierten Interaktion nach Ruth C. Cohn in: Mina Schneider-Landolf/Jochen Spielmann/Walter Zitterbarth (Hg.): Handbuch Themenzentrierte Interaktion (TZI), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009 und der Kommunikativen Theologie in: Forschungskreis Kommunikative Theologie: Kommunikative Theologie. Selbstvergewisserung unserer Kultur des Theologietreibens (= Kommunikative Theologie interdisziplinär 1/1), Wien/Berlin: Lit Verlag 2007; vgl. weiters Hilberath, Bernd Jochen/Scharer, Matthias: Kommunikative Theologie. Grundlagen – Erfahrungen – Klärungen (= Kommunikative Theologie, Band 15), Ostfildern: Matthias Grünewald Verlag 2012.
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rung von gelebter und praktizierter Religion 6 in öffentlichen Bildungseinrichtungen ein tiefer Graben sichtbar, der Religion zu einem Schattenthema werden lässt. Ähnliche Tendenzen in unterschiedlicher Ausprägung zeigen sich in vielen europäischen Ländern. Entlang von Individualisierungstendenzen, entlang der Pluralität der Weltanschauungen und Weltdeutungsangebote, des Wertepluralismus, des Religionsskeptizismus, des Bedeutungsverlusts der Institutionen, der Umschichtungen im religiösen Verständnis durch die Migrationsbewegungen und der unterschiedlichen Verständnisse und Einschätzungen die betreffend Säkularisierung werden viele weitere Bruchstellen sichtbar. Gerade die letztgenannte Bruchstelle, Religion und Säkularisierung, hat einen großen Einfluss auf die Konzeptionalisierung religiöser Bildung und in diesem Zusammenhang auf Religionsdidaktik. »Säkularisierung« ist zu einem viel verwendeten und oft missverständlich gebrauchten Stichwort im europäischen Kontext geworden. Die unterschiedlichen Verständnisse von Säkularisierung haben dabei einen nicht geringen Einfluss auf die Bewertung der Beziehung von Religion/Religionen und Öffentlichkeit sowie auf den Stellenwert, der der religiösen Bildung in der Öffentlichkeit zugebilligt wird. Es empfiehlt sich daher, zunächst die verschiedenen Gruppen von Verständnisweisen der Säkularisierung/Säkularität 7 zu unterscheiden: 1) Säkularisierung als Prozess der Abkehr von der Religion (speziell Abkehr vom Christentum in Europa), manchmal auch als »Säkularismus« bezeichnet, 2) Trennung zwischen den institutionalisierten Formen von Religion in Gestalt der Religionsgemeinschaften und dem Staat, 3) Säkularisierung als religiöser Pluralisierungsprozess, 6
»Gelebte Religion« ist mittlerweile ein Terminus mit einem weit verzweigten Begriffsfeld. In diesem Beitrag verwende ich den Ausdruck – unscharf und möglicherweise verengt – bezogen auf die im weitesten Sinne im Kontext der Religionsgemeinschaften praktizierte Religion. Dieser Begriff ermöglicht es mir, den Unterschied zwischen religionswissenschaftlichem und theologisch-identitätsbezogenem Zugang im Feld religiöse Bildung/Religionsunterricht deutlich zu machen. Vgl. dazu auch die von Michael Grimmit vorgebrachte und von Bert Roebben weitergeführte und ergänzte Unterscheidung von »in religion« (die ich hier mit der gelebten Religion in Beziehung setzen würde) – »from religion« (Roebben: »through religion«) – »about religion«. Vgl. Roebben, Bert: Religionspädagogik der Hoffnung: Grundlinien religiöser Bildung in der Spätmoderne (= Forum Theologie und Pädagogik 19), Berlin-Münster: Lit 22011, S. 151.
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Unter »Säkularisierung« soll der Prozess der Pluralisierung verstanden werden, während »Säkularität« den Zustand der Trennung von Kirche und Staat bezeichnet. »Säkularismus« bezeichnet die Weltanschauung, die sich auf Immanentes beschränkt und die Überschreitung in Richtung Transzendenz ablehnt.
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der Optionen – und damit Religionsfreiheit – ermöglicht. Diese unterschiedlichen Verständnisse sind wie ein »Scharnier« im Argumentationsfeld Religion und Öffentlichkeit: Je nachdem, welche Auffassung man im Hinblick auf die Rolle der Säkularisierung/Säkularität vertritt, wird die Positionierung der Religion zum säkularen Feld eine affirmative/bejahende oder eine negative/ verneinende und, umgekehrt, die Positionierung des säkularen Feldes zur Religion affirmativ oder negativ sein. Um das Problemfeld zu verdeutlichen, sollen im Folgenden zwei Positionierungen zu dieser Frage exemplarisch skizziert werden: die Auffassung von Charles Taylor8 (und ergänzend dazu verdeutlichende Aspekte von Wolfgang Palaver9) sowie die Überlegungen von José Casanova10. Charles Taylor, mitunter als der »Erzfeind der Einseitigkeit«11 bezeichnet, sieht im Säkularisierungsprozess eine ambivalente und dennoch notwendige Entwicklung für einen reflektierten Umgang mit Religion. Die Säkularität betrachtet Taylor u.a. in Zusammenhang mit der Entstehung des »ausgrenzenden Humanismus«12, der laut Taylor folgenden Grundüberzeugungen folgt: Für das Gedeihen des Menschen bedarf es nicht mehr notwendig des Denkens von Gott – der Mensch kann sein Gedeihen auch selbst bewerkstelligen. Es braucht für das Gedeihen keinen Ausgriff auf das Transzendente, es kann auch immanent – innerhalb des menschlichen Lebens – verortet werden. In diesem Sinne ist auch 8
Taylor, Charles: Ein säkulares Zeitalter. Aus dem Englischen von Joachim Schulte, Frankfurt a. Main: Suhrkamp 2012.
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Palaver, Wolfgang: »Christentum im säkularen Kontext. Grenzen und Chancen«, in: Daniela Kästle/Martina Kraml/Hamideh Mohagheghi (Hg.): Heilig – Tabu. Christen und Muslime wagen Begegnungen, Ostfildern: Schwabenverlag 2009, S. 311-318.
10 Casanova, José: Europas Angst vor der Religion. Deutsch von Rolf Schieder, Berlin: University Press 2009. 11 Probst, Maximilian: »Erzfeind der Einseitigkeit«, in: Die Zeit Online vom 02.09.2010; verfügbar unter: http://www.zeit.de/2010/36/Portraet-Charles-Taylor (20.04.2016). 12 »Die Säkularität trat in etwa zur gleichen Zeit in Erscheinung wie die Möglichkeit des ausgrenzenden Humanismus, der somit zum ersten Mal den Bereich der zulässigen Optionen erweiterte und die Zeit des ›naiven‹ religiösen Glaubens beendete. In gewissem Maße hat sich der ausgrenzende Humanismus durch eine Zwischenform – den providenziellen Deismus – herangepirscht. Dabei wurden sowohl der Deismus als auch der Humanismus durch frühere Entwicklungen innerhalb der christlichen Orthodoxie ermöglicht. Sobald dieser Humanismus den Schauplatz betreten hat, läßt die neue, vielgestaltige und nicht mehr naive Situation Raum für eine Vermehrung der Optionen, die über die ursprüngliche Skala hinausgeht.« Siehe Ch. Taylor: Ein säkulares Zeitalter, S. 43.
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Bildung allein des Menschen Angelegenheit.13 Mit dieser Positionierung des ausgrenzenden Humanismus sind, so Taylor, neue Optionen gesetzt, wurden neue Unterscheidungen getroffen und neue »Schneisen« gezogen. Die Tatsache, dass es im weltanschaulichen Denken und Handeln Alternativen – mehrere Möglichkeiten – gibt, hat eine Situation der Pluralität entstehen lassen. Diese Situation der weltanschaulichen Pluralität bezeichnet Taylor als »säkulares Zeitalter«. Man könnte auch vom Zeitalter der Alternativen, Optionen oder vom Zeitalter der Entscheidungen sprechen. Gleichzeitig darf man »das säkulare« Zeitalter, so Taylor, nicht naiv verstehen, man muss seine Licht- und Schattenseiten sehen und es als Zeitalter der Auseinandersetzung begreifen. Dies beschreibt Christian Geyer-Hindemith in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Taylors Anliegen skizzierend, folgendermaßen: »Das säkulare Zeitalter ist kein goldenes Zeitalter, in das wir nach einer Epoche der Finsternis Einzug hielten. Den Rationalitätsgewinnen stehen vielmehr Verlustgeschäfte gegenüber, die mit dem Ausklammern der Gottesidee zu tun haben. Säkularisierung ist weder als Fortschrittsgeschichte noch als Verfallsgeschichte erzählbar.«14 Die Idee des säkularen Zeitalters beinhaltet eine Botschaft an all diejenigen, die sich mit Religion im europäischen Kontext beschäftigen: Die Ausklammerung der Gottesidee ist eine Alternative geworden, die Gottes-Rede ist nicht mehr selbstverständlich und unbefragt im öffentlichen Raum vorhanden, sondern muss immer neu gesucht und stets – als Frage – vorgebracht, thematisiert und positioniert werden. Dies erfordert einen reflektierten, religionssensiblen und kontingenzbewussten Umgang und bringt Anstrengungen sowie Enttäuschungen mit sich. Ähnliches meint auch Wolfgang Palaver, wenn er davon spricht, dass »der Glaube an Gott heute keine automatisch vorgegebene gesellschaftliche Selbstverständlichkeit mehr ist, sondern sich zur bloßen Möglichkeit oder Option gewandelt hat«15 und – mit Blick auf das Kontingenzbewusstsein – ergänzt: »Die Erfahrung, dass wir alle auch ganz anders könnten, ist zu einem Grundcharakteristikum unserer Welt geworden.«16 In diesem Sinne eröffnet die Säkularität als »Folie« für Optionen- und Wahlfreiheit neue Möglichkeiten. Freiheit in diesem Sinne wird einerseits zu einer Zu-Mutung und benötigt – als ein wesentliches
13 Ebd., S. 36-45. 14 Geyer-Hindemith, Christian: »Im Glanz des noch nie Dagewesenen«, in: Frankfurter Allgemeine vom 04.10.2009, in: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buchmesse2009/buecher/charles-taylor-ein-saekulares-zeitalter-im-glanz-des-noch-nie-dagewe senen-1867956-p2.html?printPagedArticle=true#pageIndex_3 (20.04.2016). 15 W. Palaver: Christentum im säkularen Kontext, S. 312. 16 Ebd.
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Instrument im Umgang mit Möglichkeiten – Reflexion und Entscheidung.17 Laut Palaver braucht es »ein neues Verhältnis von Religion und Öffentlichkeit« 18. Demnach ist Religion wesentlich an Öffentlichkeit gebunden, denn, so Palaver, wer der Ansicht ist, »Religion bliebe auch als gänzlich privatisierte Form überlebensfähig, hat den Sinn von Religion verkannt«. 19 Für die Konzeptionierung religiöser Bildung aus religionspädagogischer und religionsdidaktischer Perspektive bedeutet diese Situation eine immense Herausforderung. Um diese Herausforderung annehmen zu können, ist ein Verständnis von Religion als öffentliche Form und eine Thematisierung des Anliegens der Öffentlichkeit in Theologie sowie Religionspädagogik und Religionsdidaktik unumgänglich.20 Aus einer etwas anderen Richtung, aber mit einem ähnlich konstruktiven Beitrag, nähert sich José Casanova der Problemstellung. Er widerspricht der weit verbreiteten europäischen »Erzählung«, wonach die Religion in enger Verbundenheit mit der Politik zu den Religionskriegen geführt habe, die »die europäischen Gesellschaften in Schutt und Asche legten«,21 und die Emanzipation von der Religion im Laufe des Säkularisierungsprozesses zu einer friedlichen und offenen Gesellschaft geführt hätte. »Moderne Europäer lernten, Religion, Politik und Wissenschaft zu trennen. Vor allem aber lernten sie, die religiösen Leidenschaften zu zähmen und obskurantistischen Fanatismus abzubauen, indem man die Religion in eine abgeschirmte private Sphäre verbannte, um gleichzeitig eine offene, liberale und säkulare öffentliche Sphäre zu etablieren, in der freie Meinungsäußerung und öffentliche Vernunft dominieren.«22 In der von Casanova beschriebenen Sichtweise wird Säkularität im Sinne der Negierung bzw. Absonderung von Religion (also im ersten oben angeführten Sinn) als notwendige Bedingung für Offenheit, Freiheit und Demokratie gesehen. Anliegen Casanovas ist es, aufzuzeigen, dass das geschilderte Narrativ, demzufolge Religion »intole-
17 Vgl. ebd. 18 W. Palaver: Christentum im säkularen Kontext, S. 316. 19 Ebd. 20 Gerade in der letzten Zeit bemühen sich religionspädagogische Autorinnen und Autoren um ein solches Verständnis. Vgl. dazu Könemann, Judith: »Theologie, Kirche und Öffentlichkeit. Zum Öffentlichkeitscharakter von Religionspädagogik und religiöser Bildung«, in: Judith Könemann/Saskia Wendel (Hg.): Religion, Öffentlichkeit, Moderne. Transdisziplinäre Perspektiven, Bielefeld: transcript Verlag 2016, S. 129-152; Grümme, Bernhard: Öffentliche Religionspädagogik. Religiöse Bildung in pluralen Lebenswelten, Stuttgart: Kohlhammer 2015. 21 J. Casanova: Europas Angst vor der Religion, S. 8. 22 Ebd., S. 8-9.
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rant ist und Konflikte erzeugt«23, für die westliche Gesellschaft seit der Aufklärung eine auf der Basis von Ausgrenzung funktionierende identitätsstiftende Rolle hat. Diese Abtrennung der Religion vom öffentlichen Bereich (Politik, Bildung, Wissenschaft etc.) ist unausdrücklich überall vorhanden, explizit ist sie in den einzelnen Ländern unterschiedlich ausgeführt. Das bedeutet: Religion ist ein immenses gesellschaftlich-kollektives »Schattenthema« bzw. droht, dazu zu werden. Casanova tritt dem entgegen und behauptet, dass Religion einen wesentlich konstruktiveren und positiveren Beitrag für die westliche demokratische Gesellschaft leiste als es das besagte Narrativ erkennen lasse, und andererseits mit Blick auf die Säkularisierung auch kritisch anzumerken sei, dass diese wohl nicht zur Demokratisierung geführt habe.24 Mit Blick auf die skizzierten Positionen sind wohl diejenigen zwei Bedingungen im Umgang mit Religion und Säkularität unerlässlich, die Ingeborg Gabriel25 einfordert: die Anerkennung von gelebter Religion (vonseiten der Gesellschaft und des Staates) und die Anerkennung von Säkularität 26 als Religionsfreiheit (vonseiten der Religionen). Mit diesen wechselseitigen Anerkennungsbeziehungen (nicht: Ausgrenzungsbeziehungen) hängt auch die Anerkennung von Pluralität und Kontingenz im Sinne von »etwas kann auch anders sein als es ist«27 zusammen. Dies, so konnten wir bei Wolfgang Palaver sehen und meint auch Ingeborg Gabriel28, stelle eine hohe Anforderung an die Fähigkeit zur Selbstvertretung von einzelnen Menschen, aber auch von Religionsgemeinschaften. Wenn Religion/gelebte Religionen (nicht nur religionswissenschaftliche Rede) im öffentlichen Raum »spielen«, wenn religiöse Bildung Auseinanderset23 Ebd., S. 12. 24 Ebd. 25 Gabriel, Ingeborg: Gibt es einen fundamentalistischen Imperativ? Die Moderne zwischen Fundamentalismus und Säkularisierung. Vortragsskript, in: http://sektf.univie.ac.at/fileadmin/user_upload/i_sozialethik/Download_Mitarbeiterinn en/Gabriel_Fundamentalistischer-Imperativ_Artikel.pdf (04.05.2016). 26 Zum Begriff der Säkularität als Religionsfreiheit vgl. auch Palaver, Wolfgang: »Der christlich-islamische Dialog als geistlicher Wettstreit«, in: Daniela Kästle/Martina Kraml/Hamideh Mohagheghi (Hg.): Heilig – Tabu. Christen und Muslime wagen Begegnung, Ostfildern 2009, S. 311-326. 27 Kraml, Martina: Dissertation gestalten im Raum der Möglichkeiten. Eine theologiedidaktische Studie zu Dissertationsprozessen mit besonderer Aufmerksamkeit auf die Entwicklung empirischer Forschung. Unveröffentlichte Habilitationsschrift 2013, S. 156. 28 I. Gabriel, Gibt es einen fundamentalistischen Imperativ?
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zung mit weltanschaulicher und religiöser Pluralität im öffentlichen Raum bedeutet und Selbstvertretung eine wichtige Kompetenz im Kontext der auszubildenden Pluralitätskompetenzen ist, müssen die Bedingungen und die Verbindlichkeiten des öffentlichen Raumes – durchaus auch im Sinne von Spielregeln – thematisiert werden. Heiner Bielefeldt stellt sich die Frage, was denn die Voraussetzung für das friedliche Zusammenleben der Religionen in Europa sei und knüpft bei den Menschenrechten und der Menschenwürde als Grundprinzipien des modernen Staates an. Diese stellen den Rahmen für das Handeln des Staates dar und sind gleichzeitig die Basis für die »Nicht-Identifikation« des Staates mit einem bestimmten weltanschaulichen oder religiösem System 29. »Der rechtsethisch gebotene Respekt vor der Würde und Freiheit des Menschen wirkt sich somit unter anderem dahingehend aus, dass sich der Staat in Fragen von Religion und Weltanschauung nicht mit einem Bekenntnis identifizieren darf, sondern ›neutral‹ sein soll – womit ein formaler Anspruch gesetzt ist, der materialiter immer wieder neu ausgestaltet werden muss und an dem die reale Religionspolitik des Staates zugleich gemessen werden kann. Die in der Achtung der Religionsfreiheit begründete Säkularität des Staates fungiert deshalb zunächst als ein kritisches Prinzip, das den unterschiedlichen Formen der institutionellen Ausgestaltung des Verhältnisses von Staat und Religionsgemeinschaften normativ vorausliegt.«30 Somit lässt sich folgern, dass die Religionsgemeinschaften nicht im »luftleeren« Raum agieren, sondern in den Raum der Menschenrechte, zu dem sie auch selbst beigetragen haben, eingebettet bzw. auf diesen verpflichtet sind. Auch ist dieser staatliche Rahmen, der fragil und anfällig für Missbrauch ist, ständig im Hinblick auf die Verbesserung der Menschenrechte und ein gutes Leben für alle zu reflektieren, wozu die Religionsgemeinschaften einen wichtigen Beitrag leisten. Dabei bleibt eine Spannung zwischen den Interpretationen gelebter Religion (den religionsgemeinschaftlichen Interpretationen) und den Interpretationen des Staates/der Staaten erhalten.
29 Bielefeldt, Heiner: Muslime im säkularen Rechtsstaat. Integrationschancen durch Religionsfreiheit, Bielefeld: transcript Verlag 2003, S. 23. 30 Ebd., S. 23-24.
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3. D AS Z USAMMENSPIEL VON ( GELEBTER ) R ELIGION UND RELIGIÖSER B ILDUNG IM K ONTEXT DER Ö FFENTLICHKEIT Die Konzepte vom Zusammenspiel von Religion und Öffentlichkeit beeinflussen die Konzepte religiöser Bildung, sei es von Seiten der Staaten oder von Seiten der Religionsgemeinschaften oder von beiden. Dies zeigt sich an den unterschiedlichen Formen und Konzepten von religiöser Bildung/von Religionsunterricht im europäischen Raum. In diesem Spannungsfeld tut sich das Spektrum auf zwischen katechetischen Konzeptionen (religiöse Bildung primär verstanden als Sozialisierung und Eingliederung in die eigene gelebte Religion/ Religionsgemeinschaft, in der ausschließlich der Aspekt »in religion« im Blick ist) am einen Ende und laizistischen Modellen (Religion wird abgetrennt vom öffentlichen Bereich, religiöse Bildung existiert ausschließlich als religionswissenschaftliche »Information«) am anderen Ende.31 Ein Modell expliziter und reflektierter Auseinandersetzung mit Religion/religiöser Bildung und Öffentlichkeit stellt – im katholischen Kontext – der Beschluss der gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland32 im Hinblick auf den Religionsunterricht an der öffentlichen Schule dar.33 Hier wurden die »Zeichen der Zeit« aus einem theologischen Anliegen heraus früh erkannt und – mit kairologischem Interesse34 – eine wegweisende Richtung eingeschlagen. Der Text der Würzburger Synode zum Religionsunterricht hat das Verständnis von religiöser Bildung/Religionsunterricht als Beitrag der Religionsgemeinschaften zur öffentlichen (schulischen) Bildung explizit etabliert.35 Dies kommt besonders dadurch zum Ausdruck, dass er sowohl päda-
31 Vgl. den Beitrag von Matthias Scharer in diesem Band. 32 Vgl. Bertsch, Ludwig: »Der Religionsunterricht in der Schule«, in: Ludwig Bertsch u.a. (Hg.): Beschlüsse der Vollversammlung (= Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland, Band 1), Freiburg im Breisgau: Herder 1978, S. 113-152. 33 Die gemeinsame Synode der Bistümer der Bundesrepublik Deutschland wurde vielfach rezipiert, sodass sich eine Kurzsprech- und -schreibweise etabliert hat, der ich mich anschließe: Würzburger Synode. 34 Scharer, Matthias: »Der Synodenbeschluss zum Religionsunterricht in der Schule: heute gelesen und im Blick auf morgen weitergeschrieben«, in: Österreichisches Religionspädagogisches Forum 17 (2009), S. 30-38, hier S. 30. 35 Dies schließt nicht aus, dass dieses Verständnis sich nicht überall nachhaltig durchgesetzt hat bzw. auch in den kirchlichen Veröffentlichungen der letzten Zeit wieder stär-
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gogische als auch theologische Begründungen für den Religionsunterricht vorsieht. Auf der Suche nach Modellen, wie Religion und Öffentlichkeit vermittelt werden können, stellt das Modell der Würzburger Synode einen Anknüpfungspunkt dar. Religionspädagogik und Religionsdidaktik in ihrer christlichen Ausprägung, weitergeführt aber auch in anderen Ausprägungen, sind herausgefordert, in der Spannung zwischen (gelebter) Religion und Öffentlichkeit, Ansätze aufzunehmen und Modelle weiterzuentwickeln. In Zeiten, da die Rede ist von Inklusion, Pluralitäts- und Differenzkompetenz, geht es nicht nur um kulturelle und interkulturelle, sondern auch um religiöse und interreligiöse Kompetenz. Es geht darum, sich im Raum der Pluralität gelebter Religionen und Weltanschauungen bewegen zu können, sich Religionssensibilität anzueignen, Kontingenzbewusstsein auszuprägen, Entscheidungskompetenz auszubilden, Selbstvertretung einüben zu können. Diese Kompetenzen zu vermitteln, ist Aufgabe religiöser Bildung und betrifft alle Beteiligten im Bildungssystem, nicht nur bekennende Gläubige: Kindergartenpädagoginnen und -pädagogen, Kindergartenkinder, Lehrende, Lernende, Direktorinnen und Direktoren, Schulbehörden, Beteiligte im religiösen »Innenraum« usw. Der Dienst der Religionsgemeinschaften, gelebte religiöse Pluralität zu vertreten, ist unerlässlich. Nur durch die gelebte Religion kann eine »Ahnung« vom Religiösen vermittelt und tradiert werden. In dieser Tradierung muss zwischen den Konzepten religiöser Bildung »nach außen« (in den säkularen, öffentlichen Raum) und »nach innen« (in den religionsgemeinschaftlichen Innenraum) differenziert werden. Ersteres ist nicht beliebig, sondern im Sinne des öffentlichen Bildungsauftrags und im Sinne der Pluralitätsfähigkeit zu gestalten. Zweiteres darf nicht isoliert als hermetisch abgeschlossener, oft apologetisch verteidigter Binnenraum betrachtet werden, sondern muss sich als vom öffentlichen Raum und dessen Bedingungen von Pluralität und Kontingenz beeinflusst verstehen und gelebte Religion wieder in den öffentlichen Raum zurückfließen lassen.
ker zurückgenommen wurde: »Es scheint, dass sich die Konzeption des Religionsunterrichts in Richtung einer Christentumsdidaktik bzw. katholischen Katechese hin entwickelt.« Vgl. Rothgangel, Martin/Ziebertz, Hans-Georg: »Religiöse Bildung an Schulen in Deutschland«, in: Martin Jäggle/Martin Rothgangel/Thomas Schlag (Hg.): Religiöse Bildung an Schulen in Europa. Teil 1: Mitteleuropa (= Wiener Forum für Theologie und Religionswissenschaft 5,1), Göttingen: Vienna Unipress im Verlag V&R unipress 2013, S. 52.
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4. R ELIGIONSPÄDAGOGISCHE UND RELIGIONSDIDAKTISCHE H ERAUSFORDERUNGEN IN DER S PANNUNG ZWISCHEN R ELIGION UND Ö FFENTLICHKEIT Dass die Gottesfrage unter den Bedingungen von Säkularität nicht mehr selbstverständlich ist, sondern erst als Option eingebracht werden muss, stellt für alle – Religionsgemeinschaften und Öffentlichkeit – eine religionspädagogische und religionsdidaktische Herausforderung dar. Dass diese Aufgabe Transformationen in der Religionsdidaktik, neue Zugänge zur Tradition und zu den religiösen Quellen erfordert, ist in der Ringvorlesung vielfach angesprochen worden. Der Perspektivenwechsel bzw. die Verschränkung der Perspektiven zwischen gelebter Religion (Innenperspektive) und öffentlicher religiöser Bildung im säkularen Kontext (Außenperspektive), wie z.B. im Religionsunterricht gegeben, erscheint auch heutzutage noch als große Herausforderung für die christlichen Religionen. Die christlichen Religionen haben im Umgang mit dem säkularen Zeitalter viel Erfahrung sammeln können und sind dennoch immer wieder mit Nahtstellen konfrontiert, die die alten, bereits verheilt geglaubten Bruchstellen und Wunden wieder aufbrechen lassen. Die Konzeptionierung von gelebter Religion in Kontexten der Öffentlichkeit und Pluralität stellt eine solche Bruchstelle dar. Was in der christlichen Religionsdidaktik (nicht immer jedoch in kirchlichen Kreisen) schon längere Tradition hat (in manchen Regionen vielleicht zu sehr!), ist die Differenzierung zwischen der Katechese in der Gemeinde und dem Religionsunterricht an öffentlichen Schulen. Im muslimischen Kontext scheint es – zumindest in manchen Regionen – noch weniger Differenzierung zu geben, was mitunter zu Lasten des Religionsunterrichts geht.36 Eine derartige Differenzierung ist aber Voraussetzung dafür, dass der Religionsunterricht seine öffentliche Bildungsaufgabe erfüllen kann. Ebenso ist es unumgänglich, dass alle an dieser Bildungsaufgabe Beteiligten (Religionslehrerkräfte, Lernende, Eltern usw.) die Eigenart der Bildungsaufgabe »Religionsunterricht begreifen. Auch für die Moscheen ist es bedeutsam, zwischen den Aufgaben und dem Ziel von Moscheekatechese und Religionsunterricht unterscheiden zu können und den Religionsunterricht in seiner eigenständigen Rolle zu unterstützen. Der Religionsunterricht darf weder von der Moschee noch von Eltern und Lernenden am Moscheeunterricht gemessen werden und auch nicht umgekehrt.
36 Tuna, Mehmet Hilmi: »Islam ist nach der Schule …«. Die Situation des islamischen Religionsunterrichts mit Blick auf die Abmeldemotive und -praxis. Unveröffentlichte Masterarbeit, Wien 2014, S. 42.
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Eine weitere Herausforderung ist die Entwicklung pluralitäts- und kontingenzsensibler Konzepte religiöser Bildung. Aus leidvollen Erfahrungen der Ablehnung monoperspektivischer, inhaltszentrierter Ansätze durch Lernende und Eltern haben sich die christlichen Kirchen zu einer Reflexion ihrer – damals noch – weitgehend katechetischen Praxis entschlossen. Dies war gleichzeitig die Geburtsstunde der wissenschaftlich (u. a. auch empirisch) betriebenen Religionspädagogik. Die Frucht dieser Krise bestand in der Entwicklung vielfältiger, mehrperspektivischer Konzepte religiöser Bildung, die Subjekt- und Kontextorientierung einschlossen. Eine ähnliche Herausforderung wurde auch im Kontext der Ringvorlesung sichtbar: Um die Aufgabe religiöser Bildung im pluralen Kontext erfüllen zu können, so wurde deutlich, müsste das Blickfeld erweitert werden. Es gälte, nicht nur die Perspektive des Inhalts bzw. des Texts stark zu machen, sondern – subjektorientiert – zu untersuchen, wie Rezipientinnen und Rezipienten den Inhalt/die Texte in der Aneignung konstruieren und Denkwege nachzuzeichnen. Das Gleiche gilt auch für den Kontext. Ein kontextsensibles religionsdidaktisches Handeln beinhaltet nicht nur die Umsetzung von Lehrplanthemen gemäß dem Inhalt, akontextuell und abiografisch, sondern gibt Freiheit in der Entwicklung von Themen, die – zusätzlich zum Aspekt der Tradition und der Quellen – auch die Perspektiven von Erleben und Erfahrungen der Lernenden, die Dynamik der Lerngruppe und den bedingenden Kontext beinhalten. Eine weitere Frage, die sich im Hinblick auf die Religionspädagogik und Religionsdidaktik aufdrängt, ist die Verortung der Theologie. Es macht einen Unterschied für religionspädagogischen und religionsdidaktisches Handeln, ob das Theologische ausschließlich im Gegenstand/im Materialobjekt (in der expliziten religiösen Sprache, den expliziten religiösen Quellen u. a.) gesehen wird, oder ob es den Blick bzw. die Deutungsperspektive ausmacht, der bzw. die grundsätzlich auf alle Lebensprozesse gerichtet sein kann und theologische Themen im Alltag identifiziert und betrachtet. In diesem stärker impliziten Verständnis von Theologie werden Tradition und aktuelle Lebenswirklichkeit miteinander verknüpft. Manche der katholischen/christlichen Religionsdidaktikkonzepte arbeiten mit einem solchen Theologiebegriff. Ziel dieser Konzepte ist es, im Sinne von »Alltagstheologien« implizite theologische Themen und »Orte« zu erkennen und explizit zu benennen. Wie Muslime darüber denken, ob sich auch in der muslimischen Theologie und Religionspädagogik mit dieser Herangehensweise impliziter/expliziter Theologie authentisch arbeiten ließe, darüber würde ich mich gerne austauschen.
Islamische Frauenkatechismen in der religiösen Erwachsenenbildung: eine kritische Analyse F ATIMA Ç AVIS (I NNSBRUCK )
Ein Blick auf den aktuellen wissenschaftlichen Diskurs über die islamische Religionspädagogik – als Teildisziplin der islamischen Theologie – im deutschsprachigen Raum zeigt, dass dessen Hauptfokus auf der islamischen Bildung im Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen liegt, der sich aktuell in einem Etablierungsprozess befindet. Soll dieser Diskurs zu einer ganzheitlichen Etablierung und einem umfassenden Verständnis der islamischen Religionspädagogik beitragen, ist eine vielfältige Diskussion, die alle Bereiche der religiösen Bildung und Erziehung mit einbezieht, zweifellos von eminenter Bedeutung – nicht zuletzt deshalb, um gleichzeitig der Tendenz der Reduzierung dieser Wissenschaftsdisziplin auf den Bereich der schulischen religiösen Bildung entgegenzuwirken. Vor diesem Hintergrund widmet sich der vorliegende Beitrag einem Thema aus dem Bereich der außerschulischen1 islamischen religiösen Bildung/ Erziehung und diskutiert im Folgenden die islamischen Frauenkatechismen (türk. Kad n Ġlmihalleri); diese stellen innerhalb der türkisch-islamischen Kultur insbesondere im Moscheeunterricht, aber auch in der häuslichen religiösen Erziehung heranwachsender und erwachsener muslimischer Frauen sowohl in der Türkei als auch in Europa wichtige schriftliche religiöse Bezugsquellen dar.2 1
Schon die Bezeichnung »außerschulische religiöse Bildung« in der allgemeinen religionspädagogischen Fachsprache impliziert das Primat der schulischen religiösen Bildung über die anderen religionspädagogischen Bereiche.
2
Zur verbreiteten Anwendung von Katechismen im Kontext der Moscheen in Deutschland siehe Ceylan, Rauf: Cultural Time Lag: Moscheekatechese und islamischer Reli-
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Die islamischen Frauenkatechismen gehören zur Literaturgattung der allgemeinen Religionskatechismen, die im türkischen Sprachgebrauch als ilmihal bezeichnet werden. Der Begriff ilmihal (osman. ilm-i hâl, arab. ʿilm al-ḥāl), der sich aus den beiden arabischen Termini ʿilm (»Wissen«, »Erkenntnis«) und ḥāl (»Zustand«, »Befinden«, »Lage«) zusammensetzt,3 beschreibt als Fachterminus das Pflichtwissen, dessen Aneignung für die Glaubenspraxis als wesentlich gilt.4 Hinsichtlich ihrer Funktion sind die ilmihal-Bücher annähernd vergleichbar mit der aus der christlichen Tradition bekannten Katechismen (gr. kat chism s), die als Religionshandbücher bei der Einführung in den christlichen Glauben Anwendung finden.5 Im Unterschied zu den christlichen Katechismen beinhalten die ilmihal-Bücher zusätzlich zu den Lehrinhalten zum Glauben (ʿaqīda) und zum Gottesdienst (ʿibāda) auch religionsrechtliche Anweisungen, die auf die Regelung des alltäglichen Lebens der Muslime abzielen und deren Kenntnis als obligatorisch gilt, z. B. ethisches Handeln (ʿilm al-aḫlāq) oder die Gestaltung von zwischenmenschlichen Beziehungen (muʿāmalāt). Diese Eigenschaft der ilmihal-Bücher verleiht ihnen gleichsam die Funktion eines an die breite Basis adressierten Rechtshandbuchs. Die islamischen Frauenkatechismen hingegen richten sich hauptsächlich an die muslimischen Frauen – sie schließen zusätzlich zu den genannten Kernthemen auch unmittelbar frauenbezogene religionsrechtliche Fragen hinsichtlich der Gestaltung des familiären, sozialen, politischen, ökonomischen und alltäglichen Lebens in umfassender Form ein und erörtern diese aus religionsrechtlicher Perspektive u.a. durch Einbeziehung von Rechtsgutachten (fatwa). In diesem Zusammenhang bilden neben bioethischen Fragestellungen wie etwa Organtransplantation, künstliche Befruchtung, Geburtenregelung, Abtreibung und Schönheitsoperationen auch genderbezogene Themenkomplexe den Gegenstand der gegenwärtigen Frauenkatechismen – dazu gehören die Schöpfung der Frau, ihre Rechte und Freiheiten als Individuum, ihre Stellung im Islam, die Geschlechtergleichheit, der Feminismus oder kontroverse gionsunterricht im Kontext von Säkularisierung. Wiesbaden: Springer VS 2014, S. 750. 3
Vgl. Aynacı, Mediha: Osmanlı KuruluĢ Dönemi Türkçe Ġlmihal Eserleri Çerçevesinde Ġlmihallerin Fıkhî Yönden Değerlendirilmesi. Unveröffentlichte Dissertation, Ġstanbul 2009, S. 38.
4
Vgl. Karaman, Hayreddin: Ġslâm ın IĢığında Günün Meseleleri, Band 3, Ġstanbul: Ġz Yayıncılık 2000, S. 153 f.
5
Vgl. Katech smus, in: Brockhaus. Die Enzyklopädie, Band 11, Leipzig: Brockhaus 1997, S. 573. Im arabischen Sprachraum haben die Bücher der Art a - arūrat addīniyya eine ähnliche Funktion. Vgl. Kurt, Hasan: Ġlmihal Kitaplarında Ġman Esasları (1930-1965), Ġstanbul: Rağbet Yayınları 2005, S. 23.
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Inhalte wie die kognitiven Differenzen von Mann und Frau, die Versuchung (fitna) der Frau (kad n n fitnesi) oder das Unheil der Frau (kad n n uğursuzluğu), Gewalt gegen die Frau, die Beschneidung von Mädchen, die Gehorsamkeit der Frau, frauenfeindliche Hadithe.6 Kraft ihrer bedeutenden Funktion, aufgrund derer sie auch heute sowohl in der privaten religiösen Erziehung als auch im Moscheeunterricht breite Verwendung finden, üben die islamischen Frauenkatechismen erheblichen Einfluss auf die religiöse Wahrnehmung ihrer Rezipienten aus.7 Diese Gegebenheit macht eine eingehende Auseinandersetzung mit den Religionshandbüchern auf inhaltlicher Ebene umso dringlicher. Bis auf einige wenige, im Rahmen von Masterprojekten durchgeführte wissenschaftliche Studien zu den allgemeinen ilmihalBüchern in türkischer Sprache fehlen bislang jedoch inhaltliche Untersuchungen von islamischen Frauenkatechismen sowohl im türkisch- als auch im deutschsprachigen Raum.8 Dieses Desiderat diente als Anlass für den Versuch einer Analyse und Diskussion von ausgewählten islamischen Frauenkatechismen, die sich in der Türkei im Umlauf befinden. So wurden im Rahmen einer Masterstudie9 die Inhalte von 15 aktuellen islamischen Frauenkatechismen im Hinblick auf die gesellschaftliche Darstellung der Frau in den Bereichen Bildung, Beruf und Politik in öffentlichen Ämtern bzw. als Staatsoberhaupt sowie in der Justiz als Richterin und Zeugin und schließlich mit Blick auf ihre Partizipation an gemeinschaftlichen Ritualen in kultischen Räumen aus dem Genderblickwinkel analysiert. Die Untersuchung zeigte, dass die Frauenkatechismen teilweise gravierende inhaltliche, methodische und formale Defizite aufweisen, die ihre Eignung als Religionshandbücher für eine zeitgemäße und gendergerechte religiöse Erziehung massiv in Frage stellen. Dieser Beitrag möchte im Folgenden einige grund-
6
Vgl. Çavis, Fatima: Eine Analyse und Bewertung der Frauenbilder in ausgewählten islamischen Frauenkatechismen (Kad n Ġlmihalleri) der Türkei. Unveröffentlichte Magisterarbeit, Frankfurt 2013, S. 48-56.
7
Vgl. Kelpetin, Hatice: »Ġlmihal«, in: Türkiye Diyanet Vakfı Ġslam Ansiklopedisi, Band 22, Ġstanbul: Türkiye Diyanet Vakfı Yayınları 2000, S. 139-141.
8
Vgl. KırbaĢoğlu, M. Hayri: »Ġlmihal Dindarlığı nın Ġmkanı Üzerine«, in: Ġslâmiyât, 4 (2002), S. 109-124; Bozkurt, Ramazan: Cumhuriyet Dönemi Ġlmihal ÇalıĢmaları ve Problemleri. Unveröffentlichte Masterarbeit. Konya 2006; H. Kurt: Ġlmihal; Rauf Ceylan widmet in seiner Publikation einen Abschnitt einigen Katechismen, die in verschiedenen Moscheegemeinden in Deutschland bei der religiösen Erziehung von Kindern und Jugendlichen eingesetzt werden. Vgl. R. Ceylan: Cultural Time Lag, S. 259365.
9
Vgl. F. Çavis: Analyse, S. 180.
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legende Problemfelder anhand von konkreten Beispielen aus den Themenbereichen Zeugenschafts- und Erwerbstätigkeitsrecht zusammenfassend darlegen.
1. D IE
ISLAMISCHEN
F RAUENKATECHISMEN
Die religiöse Erziehung auf der Grundlage von islamischen Religionskatechismen blickt in der Türkei auf eine lange Tradition zurück. Die Wurzeln der der ilmihal-Kategorie zuzurechnenden, an die Basis gerichteten Schriften reichen bis in die frühosmanische Phase zurück, wobei ihre Etablierung zu einer eigenständigen Literaturgattung in der heute bestehenden Themenkomposition erst in der spätosmanischen Zeit, der sogenannten Tan īmāt-Phase (1839-1876), erfolgte.10 Die durch die Reformbewegung angestrebte Modernisierung des Bildungssystems in der Tan īmāt-Phase führte zur Eröffnung von neuen Schulen nach westlichem Vorbild, wobei dem islamischen Religionsunterricht ein Platz als eigenständiges Fach im Fächerkanon zugewiesen wurde. Der Notwendigkeit von neuen Religionsbüchern wurde mit der Publikation von zahlreichen allgemeinen wie auch spezifischen ilmihal-Büchern mit systematischer Themengliederung, die an verschiedene Leserschaften gerichtet waren, Rechnung getragen; dazu zählen auch die islamischen Frauenkatechismen, Kinderkatechismen, Soldatenkatechismen oder Bauernkatechismen etc.11 Die ilmihal-Literatur aus der Tan īmāt-Phase entwickelt sich bis heute fort und bildet die Grundlage für die aktuellen Religionskatechismen, die gegenwärtig vermehrt in außerschulischen religiösen Bildungsbereichen Verwendung finden.12 Da die Inhalte der gegenwärtigen islamischen Frauenkatechismen – anders als in der katholischen Kirche – nicht von einer religiösen Instanz bestimmt und aufbereitet werden, liegt die Autorenschaft bei Verfassern mit unterschiedlichen fachlichen Kompetenzen – es handelt sich dabei um Personen mit akademischer theologischer Ausbildung oder ohne eine solche, die sich ihr religiöses Wissen entweder im Selbststudium oder im Rahmen der traditionellen Madrasa-Ausbildung angeeignet haben. Obwohl diese Religionshandbücher unmittelbar an Frauen adressiert sind, finden sich unter den Verfassern nur wenige Frauen.13
10 Vgl. M. Aynacı: Osmanlı, S. 40. 11 Kurt spricht von 900 ilmihal-Büchern unterschiedlicher Art, die er in den türkischen Bibliothekskatalogen gefunden habe (vgl. H. Kurt: Ġlmihal, S. 13). 12 Vgl. ArpaguĢ, Hatice K.: »Bir Telif Türü Olarak Ġlmihal Tarihî GeçmiĢi ve Fonksiyonu«, in: M.Ü. Ġlâhiyat Fakültesi Dergisi 1 (2002), S. 25-56, hier S. 38-39. 13 Vgl. F. Çavis, Analyse, S. 40.
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Hinsichtlich ihrer inhaltlichen Aufbereitung erweisen sich die islamischen Frauenkatechismen als stark rechtsschulorientiert, wobei in der Mehrzahl der Fälle die hanafitischen Lehrmeinungen die Hauptbezugsquellen darstellen, Positionen anderer Rechtsschulen hingegen nur gelegentlich Eingang finden. Dieses Faktum reflektiert die Dominanz der hanafitischen Rechtsschule in der Türkei. Eng mit diesem Konzept verbunden, gehören neben dem Koran und den Hadithkompendien auch Werke der klassisch-islamischen Literatur – seien es TafsīrWerke, Schriften aus der Rechtsliteratur oder Hadithkommentare oder Werke von osmanischen und modernen islamischen Gelehrten – zu den Quellen der gegenwärtigen islamischen Frauenkatechismen.14 Die starke Einbeziehung der klassischen Literatur gibt zugleich einen Hinweis auf die inhaltliche Gestaltung dieser Bücher, die im Folgenden näher erörtert wird.
2. I SLAMISCHE F RAUENKATECHISMEN IM F OKUS – G ENDERGERECHTIGKEIT ( K ) EIN T HEMA ? Eine inhaltliche Analyse der gegenwärtigen islamischen Frauenkatechismen aus dem Genderblickwinkel lässt zunächst erkennen, dass die auf der systematischtheologischen Ebene geführten Diskussionen um die Stellung der Frau im Islam, die ab dem 20. Jahrhundert durch die Begegnung der islamischen Welt mit dem Westen im Zuge der Kolonialisierungsbewegung und dessen Kritik am Islam als eine frauenfeindliche Religion ausgelöst wurden,15 auch Eingang in die Frauenkatechismen gefunden haben. Das zeigt sich in einigen Fällen insbesondere an der darin vorgenommenen Gegenüberstellung der Rolle der Frau im Islam und jener in anderen Kulturen oder Religionen in präislamischer Zeit. 16 Diesem Ansatz – Kontrastierung und Hervorhebung der rechtlich begünstigten Position der Frau, die ihr der Islam in seiner Entstehungszeit gewährt hat – liegt vor allem die Absicht zugrunde, der westlichen Kritik in apologetischer Weise entgegenzuwirken. Zwar existiert die These, dass der Islam im Zuge seines Entstehungs14 Vgl. ebd. S. 56-61. 15 Vgl. Yavuz, Y. ġevki: »Kelâm«, in: Türkiye Diyanet Vakfı Ġslam Ansiklopedisi, Band 25, Ankara: Türkiye Diyanet Vakfı Yayınları 2002. S. 196-203, hier S. 201. 16 Vgl. Uysal, Asım u. MürĢide: Ġzahlı Kadın Ġlmihali, Ġstanbul: Uysal Yayınevi 2010, S. 647; Kasadar, Mustafa: Delilleriyle Kadın Ġlmihali, Ġstanbul: Ravza Yayınları 1998, S. 7; Pehlivan, Rauf: Kaynaklarıyla Büyük Kadın Ġlmihali. Ġslam Aile Hukuku, Ġstanbul: Motif Yayınları 2005, S. 5 f.; EskiĢehirli, Hâce Fatma: Tam Kadın Ġlmihâli, Ġstanbul: Eser NeĢriyat 1995, S. 479; Selvi, Dilaver: Delil ve Örnekleriyle Kadın ve Aile Ġlmihali, Ġstanbul: Semerkand 2011, S. 5.
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prozesses viele Verbesserungen im Hinblick auf die individuellen und gesellschaftlichen Rechte der Frau eingeführt habe, die auch in der gegenwärtigen Forschung breite Akzeptanz finden,17 jedoch erweist sich in Anbetracht bestimmter unter den Muslimen geläufiger Praxen, dass auf der Ebene der Deutung dieser Rechte aus gegenwärtiger Sicht und ihrer Anwendung in der zeitgenössischen Praxis noch großer Aufholbedarf besteht.18 Noch eindeutiger zeigt sich dies in der Auseinandersetzung mit den Inhalten der Frauenkatechismen über die soziale Rolle der Frau: Die Abhandlung von Fragen betreffend die gesellschaftliche Partizipation der Frau – wie ihre Rechte in Sachen Bildung, Erwerbstätigkeit, Politik, die Besetzung von Führungspositionen im staatlichen Dienst, die richterliche Tätigkeit und Zeugenschaft sowie die Präsenz in kultischen Ritualen und Räumen – wirft die Frage auf, warum in diesen Religionshandbüchern diese »Rechte« mit Blick auf die Frauen gesondert behandelt werden (müssen), wenn auf der theoretischen Ebene davon ausgegangen wird, dass diese den Frauen ebenso zustehen wie den Männern. Die Behandlung dieser Punkte in den Frauenkatechismen könnte im Gegensatz dazu auch von der Absicht getragen sein, genau diese Wahrnehmung der Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern, welche die Diskussionen der klassisch-islamischen Periode prägen und bis in die Gegenwart Resonanz finden, zu problematisieren und zu revidieren. Doch eine nähere Analyse zeigt, dass diese Inhalte im Grunde genommen die Meinungen von klassisch-islamischen Gelehrten, denen eine enge theologische Deutung der gesellschaftlichen Rolle der Frau zugrunde liegt, unreflektiert wiedergeben. Insofern liefern die untersuchten Frauenkatechismen ihren Rezipienten äußerst kontroverse Frauenbilder, die patriarchalisch und misogyn sind, gemäß denen eine gleichberechtigte Teilhabe der Frau am gesellschaftlichen Leben kaum oder nur bedingt zulässig ist. 19
17 Vgl. Wunn, Ina/Petry, Daphne: »Frauen, Islam und Religiosität. Zur Einführung: Von der ›Rolle der Frau‹ zum ›Gender Jihad‹ – ein historischer Abriss«, in: Ina Wunn/Mualla Selçuk (Hg.): Islam, Frauen und Europa. Islamischer Feminismus und Gender Jihad. Neue Wege für Musliminnen in Europa, Stuttgart: Kohlhammer Verlag 2013, S. 11-44. 18 Zu einer prägnanten Darstellung dieser Problematik vgl. Horsch, Silvia, in: http://www.islamische-zeitung.de/die-iz-debatte-dr-silvia-horsch-kritisiert-in-ihrerreplik-einen-artikel-von-malik-oezkan-zur-brisanten-frauenfrage/ (05.03.2016). 19 Vgl. F. Çavis: Analyse, S. 8.
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2.1 Inferiores Frauenbild Das Recht auf juristische Zeugenschaft stellt im Hinblick auf die gesellschaftliche Präsenz der Frau einen wichtigen Aspekt dar, der auch Eingang in die meisten aktuellen Frauenkatechismen gefunden hat. Das Recht auf Zeugenschaft verleiht der Frau eine bedeutende öffentliche Funktion – insofern, als es ihr ermöglicht, an der Gewährleistung und am Schutz der Rechte des Einzelnen und der Gesellschaft mitzuwirken. Nicht nur aufgrund ihrer Bedeutung zählt die Zeugenschaft der Frau zu den kontrovers diskutierten Themen sowohl in der klassisch-islamischen Literatur als auch im westlichen Islamdiskurs, sondern auch aufgrund der asymmetrischen Verteilung dieses Rechts zwischen den Geschlechtern. Nach der herrschenden klassisch-islamischen Lehre darf die Frau nur in bestimmten Rechtsfällen und lediglich in Anwesenheit einer zweiten Frau als Zeugin aussagen, während der Mann in allen juristischen Fällen alleine als Zeuge auftreten kann.20 Die Grundlage für diese Regelung bildet die Sure 2:282, in der es um die Gestaltung des vertraglichen Prozedere bei einem Handelsabkommen geht. Bezüglich der Gewährleistung dessen rechtmäßigen Zustandekommens heißt es darin, dass die vertraglichen Bestimmungen in Anwesenheit von zwei männlichen Zeugen niederzulegen sind. Sollte ein männlicher Zeuge fehlen, sind an seiner Stelle zwei Frauen als Zeugen beizuziehen. Begründet wird dies damit, dass, wenn eine Zeugin sich irrt (tu ill), die andere sie an die richtige Aussage erinnern könne (tu akkira). Diese Darstellung stieß im westlichen Islamdiskurs auf Kritik – des Inhalts, dass der Frau im Islam nur halb so viel Wert zukomme wie dem Mann. Eben dieser Vorwurf veranlasste einige der untersuchten Frauenkatechismen, sich mit dieser Thematik auseinanderzusetzen. Bemerkenswert dabei ist, dass nahezu alle Katechismusautoren im Hinblick auf die Zeugenschaft der Frau die klassische Position vertreten, wobei sie auch die misogynen Begründungen der klassischen Gelehrten für diese Diskriminierung unreflektiert übernehmen. In diesem Sinne präsentieren sie das Bild einer Frau, die im Gegensatz zum rational veranlagten Mann21 u.a. von Natur aus emotional22 und vergesslich23 ist, ein schwaches Ge20 Vgl. as-Sara sī: al-Mabsū . Band 30. Editiert von Muḥammad Ḥasan Ismāʿīl. Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya 2009, S. 15-16. 21 Vgl. M. und A. Uysal: Kadın, S. 96 f. 22 Vgl. ebd. S. 97; Paksu, Mehmed: Mutlu bir Yuva için Kadın ve Aile Ġlmihali, Ġstanbul: Nesil Yayınları 2009, S. 170; R. Pehlivan: Kadın, S. 504; M. Kasadar: Kadın, S. 523; BeĢer, Faruk: Hanımlara Özel Ġlmihal, Ġstanbul: Nun Yayıncılık 2010, S. 47; Asımgil, Sevim/ġahin, Merve: Kadın Kaleminden Kadın Ġlmihali, Ġstanbul:
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dächtnis24 besitzt, gar einen Mangel an Intelligenz 25 aufweist und somit grundsätzlich zum Irrtum tendiert und daher nicht in der Lage ist, alleine Zeugenschaft zu leisten. Eine derartige Charakterisierung der Frau als ein gegenüber dem Mann inferiores Wesen scheint den Autoren so selbstverständlich zu sein, dass sie sie bedenkenlos als ontologische Merkmale der Frau präsentieren. Was hierbei äußerst befremdlich anmutet, ist der Umstand, dass auch weibliche Autoren diese Ausführungen akritisch zitieren. Neben den genannten Gründen für die Zeugenschaft von zwei Frauen anstelle eines Mannes scheint in wenigen Frauenkatechismen eine weitere Begründung auf, die unmittelbar mit der sozialen Rolle der Frau verknüpft ist: Dieser zufolge weise die überwiegend im häuslichen Bereich tätige Frau in finanziellen Angelegenheiten kaum Erfahrung auf, weswegen in juristischen Belangen – im Fall, dass die erste Zeugin sich aufgrund mangelnder Erfahrung nicht an die vertraglichen Vereinbarungen erinnern sollte – die Anwesenheit einer zweiten Frau als Unterstützung dienen würde.26 Diese Darstellung steht im Widerspruch zu einer ontologisch begründeten Unfähigkeit der Frau zum alleinigen Zeugnis: Denn Kenntnisse können erworben werden, während die Behebung von Vergesslichkeit oder eines Intelligenzmangels als angeborener Eigenschaften kaum möglich ist. In diesem Sinne deuten auch zeitgenössische Denker diese Zeugenschaftsregelung: Mit Verweis auf den historischen Aspekt und die soziokulturell bedingten Geschlechterrollen zur Zeit der Offenbarung lehnen sie die Begründungen, die auf die physischen und mentalen Eigenschaften der Frau abzielen, entschieden ab. Vielmehr argumentieren sie, dass bei Aneignung von entsprechenden Kenntnissen in finanziellen Angelegenheiten die Zeugenaussage einer Frau der eines Mannes gleichwertig sei.27 Die historische Lesart des Verses 2:282 wird Ġpek Yayınları 2005, S. 379; Dere, Nurgül: Müslüman Hanımın El Kitabı, Istanbul: Kayıhan Yayınları 2011, S. 442; Emre, Mehmed: Hanımların Din Rehberi. Ayet ve Hadislerle Hanımlara SesleniĢ, o. O.: Çelik Yayınevi 1996, S. 348. 23 Vgl. A. Öztürk, Abdülvehhap: Açıklamalı Kadın Ġlmihâli, Ġstanbul: Çelik Yayınevi 1991, S. 35; M. Paksu: Mutlu, S. 171; R. Pehlivan: Kadın, S. 505; N. Dere: Müslüman, S. 442. 24 Vgl. EskiĢehirli, Hâce Fatma: Tam Kadın Ġlmihâli, Ġstanbul: Eser NeĢriyat 1995, S. 287; A. Öztürk: Kadın, S. 36. 25 Vgl. M. Paksu: Mutlu, S. 171; A. Öztürk: Kadın, S. 34. 26 Vgl. M. Paksu: Mutlu, S. 172; A. Öztürk: Kadın, S. 36; M. und A. Uysal: Kadın, S. 97; F. BeĢer: Ġlmihal, S. 47. 27 Vgl. Bulaç, Ali: »Mekasidu ġ-ġeria Bağlamında Kadının ġahitliği Konusu«, in: Ġslâmî AraĢtırmalar Dergisi 4 (1991), S. 292-309; Rahman, Fazlur: Major Themes of the Qurʾān, Chicago: Bibliotheca Islamica 1980, S. 33.
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auch von der wichtigsten religiösen Instanz in der Türkei, dem Präsidium für religiöse Angelegenheiten (DIYANET), vertreten. In der Abschlusserklärung der im Jahr 2002 von DIYANET organisierten Theologentagung zu aktuellen religiösen Themen heißt es: Der Unterschied beim Thema Zeugenschaft, wie er aus dem »Verschuldungsvers« (2:282) der von den Bedingungen der damaligen Zeit passiven Rolle der Frau in Handelsaktivitäten herrührt, beinhaltet keine allgemeingültige Regelung. Die diesbezüglichen anderen Verse belegen dies klar und deutlich. Aus diesem Grund ist es inakzeptabel, den Unterschied im »Verschuldungsvers« als Begründung der geistigen Unzulänglichkeit der Frau 28
anzuführen.
Bei dieser historischen Lesart des Verses ist anzumerken, dass zeitgenössische Theologen die koranische Bestimmung auf finanzielle Angelegenheiten beschränken und sie nicht als ein endgültiges Gebot für die Regelung der Zeugenschaft deuten, sondern – unter Verweis auf die damaligen soziokulturellen Verhältnisse und die öffentliche Rolle der Frau – ausdrücklich als eine Empfehlung bzw. einen Vorschlag für das Hauptanliegen des Verses, nämlich die Gewährleistung des Rechts, betrachten. Zugleich impliziert die historische Lesart des Verses, dass der Koran durch die Anerkennung der Präsenz von Frauen auf einem männlich dominierten Gebiet als einer Selbstverständlichkeit angesichts der damaligen Verhältnisse eine innovative und fruchtbare Aktion betreibt, 29 deren theologische Bedeutung vor dem Hintergrund der Förderung von Frauen auf individueller und gesellschaftlicher Ebene auch in der Gegenwart als eine wichtige Orientierungsgrundlage dienen sollte. 2.2 Diskrepante Darstellungen Ein weiteres Thema, das in vielen aktuellen Frauenkatechismen aufgeworfen und kontrovers diskutiert wird, ist das Recht der Frau auf Erwerbstätigkeit. Die berufliche Tätigkeit bildet ein wesentliches Instrumentarium für die finanzielle Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung und Selbstentfaltung der Frau und
28 Motika, Raoul: »Der erste große Islamrat in Istanbul im Mai 2002 vor dem Hintergrund der Entwicklung des Islams in der Türkei«, in: Reinhard Kirste/Paul Schwarzenau/Udo Tworuschka (Hg.): Wegmarken zur Transzendenz. Interreligiöse Aspekte des Pilgerns, Band 8, Balve: Zimmermann 2004, § 18. 29 Vgl. A. Bulaç: Mekasidu ġ-ġeria, S. 301 f.
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ebnet ihr maßgeblich den Weg zur gesellschaftlichen Partizipation.30 Die Analyse der Frauenkatechismen im Hinblick auf das Recht der Frau, einer Beschäftigung nachzugehen, zeigt, dass die Autoren sich in erster Linie mit der Frage auseinandersetzen, ob die Berufstätigkeit der Frau aus religionsrechtlicher Perspektive legitim ist. Dabei wird die Frage nach der Legitimität der Erwerbstätigkeit der Frau auf theoretischer Ebene generell positiv beantwortet31 – so wird betont, dass die Frau sowohl als Arbeitnehmerin als auch als Arbeitgeberin in einer Führungsposition tätig sein kann. Es wird ergänzt, dass die Frau – im Gegensatz zum Mann, der zum Unterhalt seiner Familie verpflichtet ist – das Recht hat, über ihren Verdienst alleine zu verfügen.32 Mit Blick auf die sozialethische Ebene halten die Autorinnen Sevim Asımgil und Merve ġahin die Beschäftigung einer verwitweten Frau bzw. einer Mutter gar für eine dem Arbeitgeber zukommende Wohltat.33 Diese Ausführungen zum Recht auf Erwerbstätigkeit könnten die Annahme nahelegen, den Autoren der Frauenkatechismen ginge es darum, ein egalitäres Frauenbild zu vermitteln oder gar der Frau gegenüber dem Mann eine privilegierte Position einzuräumen. Doch in weiterer Folge erweist sich, dass das grundlegende Recht der Frau, einem Beruf nachzugehen, durch die Formulierung bestimmter Voraussetzungen relativiert wird. In diesem Zusammenhang äußern manche Autoren die Ansicht, dass für die Ausübung einer außerhäuslichen Tätigkeit ein »zwingendes Erfordernis« bestehen muss. 34 Andere äußern große Bedenken bezüglich des bedingungslosen Rechts der Frau auf Erwerbstätigkeit.35 Was unter einem »zwingenden Erfordernis« zu verstehen ist, wird nicht näher erläutert; allerdings lassen ihre Ausführungen darauf schließen, dass etwa die – auf Sure 4:34 zurückgehende – Vorstellung vom Mann als alleinigem Erhalter der Familie bzw. als Familienoberhaupt bei dieser Einschränkung eine bedeutende Rolle spielt.36 In diesem Zusammenhang halten einige Autoren 30 Notz, Gisela: »Arbeit: Hausarbeit, Ehrenamt, Erwerbsarbeit«, in: Ruth Becker/Beate Kortendiek (Hg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie, Wiesbaden: VS, 2008, S. 472-480, hier S. 475. 31 Vgl. Konyevî, Seyda Muhammed: Hanefi ve ġafii Mezheblerine göre Kadın ve Aile Ġlmihali, Ġstanbul: Reyhani Yayınları 2011, S. 454; N. Dere: Müslüman, S. 328; S. Asımgil/M. ġahin: Kadın, S. 380; M. und A. Uysal: Kadın, S. 62; A. Öztürk: Kadın, S. 71; D. Selvi: Kadın, S. 256; Kasadar: Kadın, S. 498. 32 Vgl. M. Konyevî: Hanefi, S. 454. 33 Vgl. S. Asımgil/M. ġahin: Kadın, S. 380. 34 Vgl. ebd. S. 381; N. Dere: Müslüman, S. 342. 35 Vgl. D. Selvi: Kadın, S. 256; A. Öztürk: Kadın, S. 59 f.; M. und A. Uysal: Kadın, S. 62 und 68. 36 Vgl. F. Çavis: Analyse, S. 79.
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ausdrücklich fest, dass eine von Vater oder Ehemann versorgte Frau grundsätzlich keiner beruflichen Tätigkeit nachgehen darf37 oder dies nur mit deren Erlaubnis tun kann.38 Nach den Autorinnen Asımgil und ġahin kommt dem Ehemann bezüglich der häuslichen Tätigkeit der Frau sogar ein Interventionsrecht zu, das es ihm erlaubt, ihr eine Arbeit, die nicht seinen Vorstellungen entspricht, zu untersagen.39 Diese Darstellungen liefern ein subalternes Frauenbild, gemäß welchem die Frau der vollständigen Abhängigkeit und der Kontrolle des Mannes unterliegt. Eine derartige androzentrische Determiniertheit der Frau im Hinblick auf ihr Recht auf berufliche Beschäftigung kommt auch in den Ausführungen der Autorin Nurgül Dere zum Ausdruck, die jedoch die berufliche Partizipation der Frau – in religionsrechtlichen Termini formuliert – als eine gemeinschaftliche Pflicht »far al-kifāya« (»Pflicht des Genügeleistens«) definiert.40 Im Kontext der Erwerbsarbeit bedeutet das u.a., dass in sämtlichen Arbeitsfeldern mindestens eine Frau präsent sein sollte. Wird das nicht gewährleistet, trägt die Gesamtheit der islamischen Gemeinschaft dafür Verantwortung. Diese Diskrepanzen in der Interpretation stellen in den untersuchten Frauenkatechismen keine Seltenheit dar und erschweren das Verständnis der Aussage des Textes. 41 Die Gesamtheit der Bedingungen, die in den untersuchten Frauenkatechismen im Hinblick auf die Erwerbsarbeit der Frau in unterschiedlichem Umfang genannt werden, umfasst eine breite Palette – angefangen von der entsprechenden Wahl des Berufs über die Beachtung der Vereinbarkeit mit dem Familienleben und mit ihrer Schöpfung bzw. ihrer Natur bis zu den Kleidungs- und Bedeckungsvorschriften sowie den Voraussetzungen am Arbeitsplatz.42 Jenseits der Diskussion der theologischen Tragbarkeit dieser restriktiven Äußerungen scheint die von den Autoren genannte Bedingung der »zwingenden Notwendigkeit« freilich bereits eingetreten zu sein, bedenkt man, dass angesichts der herrschenden finanziellen und gesellschaftlichen Verhältnisse der Erhalt einer Familie durch das Einkommen nur einer Person – traditionellerweise jenes des männlichen Familienoberhaupts – längst nicht mehr möglich ist, sodass oft 37 Vgl. A. Öztürk: Kadın, S. 74; S. Asımgil/M. ġahin: Kadın, S. 381; N. Dere: Müslüman, S. 342; M. Kasadar: Kadın, S. 497. 38 Vgl. D. Selvi: Kadın, S. 256; M. Kasadar: Kadın, S. 498; M. Konyevî: Hanefi, S. 454; M. und A. Uysal: Kadın, S. 63. 39 Vgl. S. Asımgil/M. ġahin: Kadın, S. 381. 40 Vgl. Ġ. Dere: Müslüman, S. 328. 41 Z. B. Zeugenschaftsrecht, Bildungsrecht, Aufenthalt in kultischen Räumen (vgl. F. Çavis: Analyse). 42 Zur Diskussion dieser Aspekte siehe ebd. S. 78-91.
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auch die Frau durch zusätzliche Erwerbsarbeit zum Familieneinkommen beitragen muss.43 Dieser Umstand stellt das traditionelle, essenzialistische Rollenverständnis bezüglich der Geschlechter auf den Prüfstand und wird auch aus theologischer Perspektive eingehend zu diskutieren sein. 2.3 Methodische Defizite Das Stichwort »Schöpfung von Mann und Frau« bzw. das biologische Geschlecht dient einigen Katechismusautoren als Grundlage für die Legitimierung von essenzialistischen Geschlechterrollen und somit die Festlegung von beruflichen Tätigkeitsbereichen nach Geschlechtern. Demnach werden häusliche Tätigkeiten der Frau und öffentliche Angelegenheiten dem Mann zugeordnet.44 Eine Änderung dieser Aufgabenbereiche gilt manchen Autoren gar als Eingriff in die göttliche Ordnung, die nur in Chaos münden könne.45 Die Hauptmission der Frau sei die Mutterschaft, die Kindererziehung und die Führung des Haushalts. Durch die Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern soll die vollständige Erfüllung dieser Aufgaben gewährleistet werden. 46 Selbst die gemeinschaftlichen gottesdienstlichen Pflichten werden der häuslichen Tätigkeit untergeordnet – so halten die Autoren MürĢide und Asım Uysal fest, dass die Frau aufgrund der Mühseligkeit dieser Aufgaben von der Teilnahme an den Freitags- und Festgebeten freigestellt sei.47 In diesen Ausführungen zeigt sich die Tendenz zur Glorifizierung von häuslichen Tätigkeiten und die Reduzierung der Frau auf ihre Gebärfähigkeit, die den Rahmen ihrer Aufgaben und sogar ihrer spirituellen Belange bestimmt und ihr das Recht auf öffentliche Beschäftigung untersagt.48 Zur religionsrechtlichen Legitimierung dieser Verteilung der Geschlechterrollen als gottgewollt führen manche Autoren Argumente aus dem Koran und aus den Hadithen an, die massive methodische Probleme aufweisen. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist der Umgang von Abdülvehhab Öztürk mit den religiösen Quellen. Zur Untermauerung seiner Behauptung erklärt der 43 Vgl. Wadud, Amina: Qur’an and Women. Reading the Sacred Text from a Woman’s Perspective, New York: Oxford University Press 1999, S. 73 f. 44 Vgl. A. Öztürk: Kadın, S. 64 und 69; M. und A. Uysal: Kadın, S. 65. 45 Vgl. M. und A. Uysal: Kadın, S. 65; M. Kasadar: Kadın, S. 495. 46 Vgl. M. Kasadar: Kadın, S. 495; M. und A. Uysal: Kadın, S. 63 u. 64 f.; A. Öztürk: Kadın, S. 70. 47 Vgl. M. und A. Uysal: Kadın, S. 65; A. Öztürk: Kadın, S. 64 f.; S. Asımgil/ M. ġahin: Kadın, S. 197. 48 Vgl. F. Çavis: Analyse, S. 150.
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Autor mit Verweis auf die Suren 33:33 und 65:1, dass Gott den Frauen befehle, in ihren Häusern zu sitzen, und die Männer anhalte, ihre Frauen nicht hinauszulassen. Nach Öztürk erweist der Islam der Frau damit eine Gunst, da sie so ihre Aufgaben gemäß dem Schöpfungsplan ungehindert erfüllen könne. 49 Dabei ist diese Darstellung von der eigentlich beabsichtigten Aussage der beiden Verse denkbar weit entfernt: Der Vers 65:1 bezieht sich auf die Ehescheidung und besagt, dass, wenn eine Scheidung angestrebt wird, die Männer ihre Ehefrauen nicht sofort aus ihren Häusern fortschicken, sondern sie bis zur Beendigung der gesetzlichen Wartezeit (ʿidda) weiterhin finanziell unterstützen sollten. Diese dem Vers zugrundeliegende spezielle Bedeutung ist auch Öztürk bekannt, allerdings wird sie von ihm nivelliert, der Inhalt des Verses generalisiert: Es ist nicht bedeutend, dass der Vers in Bezug auf die Frauen offenbart wurde, die sich in der Wartezeit (ʿidda) befinden. Denn die in der Wartezeit stehende Frau ist partiell noch ehelich gebunden.50
In der gleichen Weise zeigt sich bei Betrachtung des Verses 33:33 zusammen mit den vorausgehenden Passagen, dass seine Aussage in erster Linie an die Frauen des Propheten Muhammad gerichtet ist und – wie auch ihre lebendige Praxis in der Offenbarungszeit bestätigt51 – ihnen nicht das Verlassen des Hauses untersagt, sondern sie daran erinnert, dabei eine bestimmte ethische Haltung einzunehmen.52 Ein derartig willkürlicher und atomistischer Umgang mit dem Koran, bei dem die Verse aus dem Kontext gerissen und ihre Bedeutungen verzerrt werden, stellt ein anschauliches Exempel für die Instrumentalisierung von religiösen Quellen zur Legitimierung der eigenen Überzeugungen dar – in diesem Fall zur Rechtfertigung von patriarchalisch geprägten Vorstellungen über die essenzialistischen Rollendifferenzen zwischen den Geschlechtern. 53 Methodisch nicht weniger bedenklich erweist sich der selektive Umgang mancher Katechismusautoren mit dem Hadithmaterial. Während die Hadithe, die über die häuslichen Tätigkeiten von Prophetengenossinnen (a - aḥābiyā) berichten, ausführlich beschrieben werden, finden jene, in denen es um ihre öffentli49 Vgl. A. Öztürk: Kadın, S. 65. 50 »Ayetin, iddet bekleyen kadınlar hakkında nazil olması önemli değildir. Zira iddet bekleyen kadın, evlilik bağları ile kısmen bağlıdır.« A. Öztürk: Kadın, S. 65. 51 Vgl. Bint al-Shā iʼ: The wives of the Prophet. Aus dem Arabischen übersetzt von Matti Moosa und D. Nicholas Ranson, Piscataway: Gorgias Press, 2006. 52 Vgl. A. Wadud: Qur’an and Women, S. 98. 53 Vgl. F. Çavis, Analyse, S. 85 f.
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chen Aktivitäten z. B. als Richterinnen, Rechtsgelehrte oder im Wehrdienst geht, entweder nur beiläufige Erwähnung oder werden als irrelevante Ausnahmeerscheinungen bewertet, denen gegenüber die Mutterschaft die wesentliche Aufgabe der Frau darstelle.54 Diese Vorgehensweise offenbart einerseits die allgemeine methodische Problematik, die der Rezeption des umfangreichen und oft diskrepanten Hadithmaterials anhaftet, andererseits bekräftigt sie die These der bekannten Soziologin Fatima Mernissi, wonach die gegenwärtigen politischen Vertreter der (arabisch-) islamischen Welt mit der islamischen Geschichtsschreibung – und damit auch mit den der individuellen und gesellschaftlichen Rolle der Frau gewidmeten Hadithen – äußerst selektiv und willkürlich verfahren.55 Vor dem Hintergrund der in den Frauenkatechismen dargelegten restriktiven Ausführungen zum Recht der Frau auf Erwerbstätigkeit ist erneut auf die Abschlusserklärung der DIYANET-Tagung hinzuweisen, in der ausdrücklich dokumentiert wird, dass die Gewährleistung des Rechtes der Frau auf berufliche Bildung und Erwerbstätigkeit die Grundlage für die Verbesserung des Status der Frau und der Familie darstellt. In diesem Sinne wird in dem Bericht als Ziel genannt, durch Einführung von Antidiskriminierungsmaßnahmen und durch die Revision von bisher herrschenden »restriktiven Ansichten und Praktiken« im Hinblick auf die Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten von Frauen es Frauen und Mädchen zu ermöglichen, »vollständige Partizipation an gleichen Möglichkeiten und Chancen« zu erlangen.56
3. F AZIT Im vorliegenden Beitrag wurde ein fragmentarischer Einblick in die gegenwärtigen islamischen Frauenkatechismen gegeben, die als spezielle Religionshandbücher für Frauen fungieren und in der türkisch-islamischen Kultur sowohl in der Türkei als auch in Europa im Bereich der außerschulischen religiösen Erziehung breite Anwendung finden. Die islamischen Frauenkatechismen enthalten umfassendes Wissensmaterial, das neben religiösen Kernthemen (Glaube, Gottesdienst, Ethik, zwischen-
54 Vgl. A. Öztürk: Kadın, S. 64; Kasadar: Kadın, S. 498. 55 Vgl. Mernissi, Fatima: Frauen im Wandel der islamischen Welt. Die vergessene Macht. Aus dem Französischen und Englischen übersetzt von Edgar Peinelt, Berlin: Orlanda-Frauenverlag, 1993. 56 Vgl. R. Motika: Islamrat, S. 234 f.
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menschliche Beziehungen), deren Kenntnis für einen erwachsenen Muslim als Pflicht gilt, auch spezifisch religionsrechtliche Fragen zum privaten und gesellschaftlichen Leben von muslimischen Frauen einschließt. Aufgrund ihrer Funktion als religiöse Nachschlagewerke kommt den islamischen Frauenkatechismen bei der Formung des religiösen Bewusstseins der breiten Basis eine herausragende Bedeutung zu. Deshalb ist eine interdisziplinär ausgerichtete inhaltliche Auseinandersetzung mit ihnen erforderlich. Vor diesem Hintergrund zeigt die Analyse der in diesen Werken mit Blick auf die gesellschaftliche Rolle der Frau vermittelten Frauenbilder, dass es sich bei diesen um die schlichte Wiedergabe der restriktiven Auslegungen der klassischen Gelehrten handelt, gemäß denen eine gleichberechtigte Teilhabe der Frau am gesellschaftlichen Leben nur bedingt zulässig ist. Die den Ausführungen über das Recht der Frau auf Zeugenschaft und Erwerbstätigkeit zu entnehmenden Frauenbilder erweisen sich als äußerst kontrovers und sind geprägt von patriarchalischen und misogynen Elementen. Neben den inhaltlichen Defiziten und den Darstellungen, die an den Lebensrealitäten der Rezipientinnen vorbeigehen, bildet der willkürliche Umgang mancher Katechismusautoren mit den religiösen Quellen zur Legitimierung ihrer restriktiven Meinungen ein weiteres Problemfeld, welches die Seriosität dieser Bücher und ihre Eignung für eine zeitgemäße religiöse Erziehung wesentlich in Frage stellen. Dass die revidierten, von der höchsten religiösen Instanz in der Türkei und von zahlreichen bekannten Theologen vertretenen Positionen zur gesellschaftlichen Rolle der Frau nicht Eingang in die untersuchten Frauenkatechismen gefunden haben, verweist auf die Notwendigkeit einer entsprechenden Öffnung und Kommunizierung von neuen, auf universitärer Ebene ermittelten theologischen Erkenntnissen an die breite Basis durch diverse Medien. Andererseits stellt diese Gegebenheit die islamischen Religionspädagoginnen und -pädagogen vor die Aufgabe, sich grundsätzlich mit dem Konzept der Religionskatechese auseinanderzusetzen und an theologisch fundierten und religionspädagogisch begründeten, zeitgemäßen Religionskatechismen zu arbeiten, welche ihre Rezipienten als Subjekte wahrnehmen und ihre Lebensrealitäten berücksichtigen.
Ansätze im islamischen Religionsunterricht für neue Entwicklungen in Theologie und Religionspädagogik M EHMET H ILMI T UNA (I NNSBRUCK )
In einem Kontext, in dem es – wie bei dieser Ringvorlesung – um neue Ansätze in der islamischen Theologie und Religionspädagogik geht, kommt dem konfessionellen Religionsunterricht, als einem Ort, an dem neue theologische und religionspädagogische Ansätze weitergegeben und angewandt werden können, eine besondere Rolle zu. Speziell in Ländern wie Österreich, wo der islamische Religionsunterricht (IRU) seit nunmehr 30 Jahren an den öffentlichen Schulen angeboten wird, hat sich dieses Fach als wesentlicher Impulsgeber für die Etablierung neuer islamischer theologischer und religionspädagogischer Positionen erwiesen. Die herausragende Stellung, die der IRU in Österreich einnimmt, verdankt sich vor allem zwei Umständen. Erstens hat er hier – anders als in vielen anderen europäischen Ländern – eine lange Tradition als Unterrichtsfach an den öffentlichen Schulen: auf der Grundlage einer bereits im Jahr 1912 erlassenen gesetzlichen Regelung sind Menschen muslimischen Glaubens seit 1979 durch eine anerkannte Glaubensgemeinschaft, die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGiÖ), vertreten.1 Zweitens fungiert der IRU an den öffentlichen Schulen als die wichtigste Schnittstelle zwischen der IGGiÖ und den in Österreich lebenden Musliminnen und Muslimen. Denn im Gegensatz zu den Moscheen, die bis zu diesem Zeitpunkt von verschiedenen Vereinen relativ autonom
1
Vgl. Heine, Susanne/Lohlker, Rüdiger/Potz, Richard: Muslime in Österreich, Innsbruck: Tyrolia 2012.
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verwaltet wurden, wird der IRU sowohl rechtlich als auch organisatorisch von der IGGiÖ organisiert bzw. verantwortet. Trotz seiner wichtigen Funktion findet eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem IRU kaum statt. Dies hat unter anderem zur Folge, dass vielen Diskussionen rund um dieses Thema keine fundierten wissenschaftlichen Daten zugrunde liegen.2 Vor diesem Hintergrund beschäftigte ich mich im Rahmen meiner Masterarbeit, die den Titel trug »Islam ist nach der Schule …«, mit den Gründen, die junge Menschen – diesfalls im Bundesland Tirol – dazu bewegen, sich vom IRU abzumelden. Im Rahmen einer empirischen Untersuchung, durchgeführt im Schuljahr 2013/14, wurden islamische Schülerinnen und Schüler zu ihren Abmeldemotiven und -erfahrungen interviewt – mit dem Ziel, Erkenntnisse zu gewinnen, die sowohl für den IRU als auch für die islamische Theologie und Religionspädagogik relevant sind. Die Ergebnisse dieser Masterarbeitsstudie bilden auch die Grundlage dieses Beitrags.3 Die Ergebnisse der Studie zeigen einerseits eine große Vielfalt an Abmeldegründen, verweisen andererseits aber auch auf inhaltliche Mängel des IRU, die freilich durch neue theologische und religionspädagogische Ansätze behoben werden könnten. Leitend für die empirische Untersuchung waren folgende Forschungsfragen: 1. Wie entwickelte sich der IRU in Tirol im Hinblick auf die Teilnehmerzahlen, Abmeldungen, Stunden- und Lehrkräfteanzahl? 2. Welche Motive haben Tiroler Schülerinnen und Schüler, sich vom IRU abzumelden? Welche Einflussfaktoren sind für die Abmeldung maßgeblich? Wie erfolgt der Abmeldeprozess und wie wird er erlebt? Welche Forderungen stellen die Muslime an den IRU? 3. Welche Erkenntnisse können für den Religionsunterricht gewonnen werden? Welche Konsequenzen lassen sich aus den Ergebnissen für die Gestaltung des Religionsunterrichts für die Begegnung mit den Schülerinnen und Schü-
2
Vgl. dazu Sejdini, Zekirija: »Grundlagen eines theologiesensiblen und beteiligtenbezogenen Modells islamischer Religionspädagogik und Religionsdidaktik im deutschsprachigen Kontext«, in: Österreichisches Religionspädagogisches Forum 23 (2015), S. 21-28.
3
Vgl. Tuna, Mehmet Hilmi: »Islam ist nach der Schule …«. Die Situation des islamischen Religionsunterrichts mit Blick auf Abmeldungsmotive und -praxis. Unveröffentlichte Masterarbeit, Wien 2014.
NEUE A NSÄTZE IM IRU
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lern ziehen? Welche Faktoren in den Rahmenbedingungen, im Kontext müssten verändert werden? Diesen Fragen wurde anhand von qualitativ-problemzentrierten Interviews mit Schülerinnen und Schülern4 nachgegangen.5 Die Auswertung der Interviews erfolgte in Anlehnung an die qualitative Inhaltsanalyse und die Sequenzanalyse.6 Die Untersuchung wurde ergänzt durch die quantitative Analyse von Abmeldestatistiken betreffend den IRU im Bundesland Tirol. Auf diesem Weg ergaben sich Aufschlüsse über die Probleme des IRU und über die Abmeldeursachen aus der Perspektive der islamischen Schülerinnen und Schüler. Im Folgenden wird zunächst der Rahmen, in dem der IRU in Österreich stattfindet, kurz skizziert. Im Anschluss werden die Ergebnisse der empirischen Untersuchung gemäß den oben dargestellten Forschungsfragen präsentiert.
1. D ER ISLAMISCHE R ELIGIONSUNTERRICHT IN Ö STERREICH Der Religionsunterricht in Österreich ist konfessionell gebunden. Der österreichische Staat bietet allen anerkannten Religionsgesellschaften die Möglichkeit, auf der Primarstufe sowie den Sekundarstufen I und II der öffentlichen Schulen Religionsunterricht zu erteilen. Für Inhalt und Gestaltung des Religionsunterrichts sind die jeweiligen Religionsgesellschaften verantwortlich.7 Der Staat setzt bestimmte Rahmenbedingungen und übernimmt die Remuneration der Religionslehrerinnen und -lehrer. Der konfessionelle Religionsunterricht ist ein Pflichtgegenstand, von dem man sich innerhalb der ersten fünf Schultagen abmelden kann. Die Abmeldung
4
Interviewt wurden sowohl ehemalige bzw. abgemeldete als auch aktiv teilnehmende Schülerinnen und Schüler, die zur Abmeldung vom IRU tendierten bzw. die sich dies für das neue Schuljahr vorgenommen hatten.
5
Vgl.
http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/view/%201132/2519
(15.03.2016). 6
Vgl. Mayring, Philipp: Qualitative Inhaltsanalyse: Grundlagen und Techniken, Weinheim und Basel: Beltz 2008.
7
Vgl. Bundesgesetz vom 13. Juli 1949, betreffend den Religionsunterricht in der Schule (Religionsunterrichtsgesetz), in: https://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/BgblPdf/1949_190_0/1949_190_0.pdf, S. 845851 (15.03.2016).
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kann bis zum 14. Lebensjahr nur von den Erziehungsberechtigten beantragt werden, ab dem 14. Lebensjahr dürfen die Schülerinnen und Schüler diese selbst vornehmen.8 Außer durch manche organisatorischen Schwierigkeiten sticht der IRU in der allgemeinen öffentlichen Wahrnehmung auch durch eine vermeintlich hohe Abmelderate hervor. So gibt es Artikel und Berichte, in denen diese mit ca. 50 Prozent angegeben wird.9 Die entsprechenden Zahlen werden oftmals als Beleg für die schlechte Qualität des Unterrichts und der Ausbildung der islamischen Religionslehrerinnen und -lehrer gesehen. Mit den hohen Abmeldezahlen befasste sich auch die im Jahr 2009 erschienene Studie von Mouhanad Khorchide, in der die islamischen Religionslehrerinnen und -lehrer mittels quantitativer Fragebogen zu bestimmten Themenbereichen befragt wurden.10 Die durch diese Studie auf den IRU und die damit betrauten Lehrkräfte gelenkte mediale und öffentliche bzw. politische Aufmerksamkeit führte dazu, dass eine Reihe von Reformen bzw. Revisionen in Angriff genommen wurde, wie zum Beispiel die Überprüfung und Bewertung der islamischen Religionslehrerinnen und -lehrer oder die Revision der islamischen Religionsbücher und des Lehrplans.11
2. ABMELDUNGEN
IM
B UNDESLAND T IROL
In der Studie wurden die vom Landesschulrat Tirol für den IRU erhobenen Abmeldezahlen in den Schuljahren 2005/06 bis 2013/14 ausgewertet. Die regionale Aufschlüsselung der Daten zeigt – entgegen der allgemeinen Annahme hoher Abmelderaten – stark divergierende Einzelsituationen. Im Schuljahr 2013/14 beispielsweise wiesen die Tiroler Schulbezirke folgende Abmelderaten auf: Kufstein 64,46 %, Imst 49,21 %, Innsbruck Land West 45,13 %, Innsbruck Land Ost 43,43 %, Schwaz 31,81 %, Innsbruck Stadt 29,89 %, Lienz 25,53 %, Kitzbühel 21,25 %, Landeck 20,83 % und Reute 4,39 %. Die
8 9
Vgl. ebd. Vgl. Shaghayegh, Bandari: Muslime müssen Demokratieprüfung bestehen, in: Die Presse vom 03.02.2009.
10 Vgl. Khorchide, Mouhanad: Der islamische Religionsunterricht zwischen Integration und Parallelgesellschaft: Einstellungen der islamischen ReligionslehrerInnen an öffentlichen Schulen, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2009. 11 Vgl. Khorchide, Mouhanad: Der islamische Religionsunterricht in Österreich. Stand Juli 2009 (=. ÖIF Dossier Nr. 5), Wien 2009.
NEUE A NSÄTZE IM IRU
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allgemein bildenden höheren Schulen (AHS) verzeichneten eine Abmelderate von 37,27 %, an den berufsbildenden mittleren/höheren Schulen lag der Wert bei 29,93 %. Werden alle Bezirke und Schultypen zusammen betrachtet, so ergibt sich ein bundeslandweiter Mittelwert von 37,57 Prozent Abmeldungen. Nun wirken 37,57 Prozent Abmeldungen auf den ersten Blick sehr hoch, jedoch werden diese in der Literatur und Öffentlichkeit kaum eingehend untersucht. Betrachtet man sie nämlich näher, vermisst man in Bezug auf den IRU bzw. innerhalb der islamischen Glaubensrichtung die Binnendifferenzierung. Das heißt, während im christlichen Religionsunterricht innerhalb der einzelnen Konfessionen unterschieden wird und die Kirchenaustritte nicht zu den Abmeldungen hinzugezählt werden, gab es bezüglich des IRU bis 2010 weder eine Binnendifferenzierung noch Erkenntnisse über vergleichbare Faktoren wie Kirchenaustritte oder Bekenntnislosigkeit. 12 Im Islam kann man einer Religionsgemeinde angehören, aber man muss nicht Gemeindemitglied sein, um Muslimin oder Muslim zu sein. In diesen 37,57 Prozent Abmeldungen sind jedoch alle islamischen Glaubensrichtungen und säkulare, gemeindeferne Lernende muslimischen Glaubens eingerechnet, die sich aus unterschiedlichen Gründen vom IRU abgemeldet haben. Folgende Tabelle gibt Aufschluss über das Verhältnis von Schülerzahlen und Abmeldungen vom IRU. Der untere Abschnitt der Tabelle zeigt eine mögliche Binnendifferenzierung und deren Auswirkung auf die Abmelderaten.
12 Vgl. Austria Presse Agentur: »Österreich: Aleviten als Religionsgemeinschaft anerkannt«, in: DiePresse.com vom 23.05.2013.
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Tabelle 1: Abmeldestatistik 2005-2014 für Tirol mit Berücksichtigung der Aleviten Schuljahr
05/06
06/07
07/08
08/09
09/10
10/11
11/12
12/13
13/14
Schüler gesamt
91.243 90.294 88.225 86.602 85.650 84.609 81.088 78.09813 80.382
davon Muslime
6057
6318
6501
6642
6969
7112
7064
7223
7414
Muslime %
6,64
7,00
7,37
7,67
8,14
8,41
8,71
9,25
9,23
Teilnehmer am IRU
3350
3586
3705
4018
4231
4327
4543
4579
4446
Teilnehmer am IRU %
55,31
56,76
56,99
60,49
60,71
60,84
64,31
63,39
59,92
unbetreute Muslime
296
144
154
101
87
108
238
192
186
unbetreute Muslime %
4,89
2,28
2,37
1,52
1,25
1,52
3,37
2,66
2,51
abgemeldete Muslime
2411
2588
2642
2523
2651
2677
2521
2644
2788
abgemeldete Muslime %
39,81
40,96
40,64
37,99
38,04
37,64
35,69
36,61
37,57
Aleviten (Annahme 10 %)14 606
632
650
664
697
711
706
722
742
Abmeldungen ohne Aleviten %
33,12
34,40
34,04
31,10
31,16
30,71
28,54
29,56
30,64
Teilnehmer ohne Aleviten
66,88
65,60
65,96
68,90
68,84
69,29
71,46
70,44
69,36
Im Mai 2013 wurde die Islamisch-alevitische Glaubensgemeinschaft offiziell als Religionsgesellschaft anerkannt und kurz darauf folgte die Gründung des ALEVI Schulamtes zwecks der Erteilung des alevitischen Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen.15
13 Im Schuljahr 2012/13 wurden einige BMHS-Schulen nicht erfasst, weshalb hier ca. 2000 Schüler in der Gesamtschülerzahl und ca. 100-150 in der muslimischen Schülerzahl fehlen. 14 Die Annahme von zehn Prozent ist recht realistisch, da es in Österreich außer den Aleviten noch andere islamische Glaubensrichtungen und Gemeinden gibt. Vgl. dazu S. Heine/R. Lohlker/R. Potz: Muslime in Österreich. 15 Siehe http://www.aleviten.at/de/?page_id=588 (21.03.2016).
NEUE A NSÄTZE IM IRU
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Würde man die Schülerinnen und Schüler der alevitischen Glaubensgemeinschaft vom islamischen Religionsunterricht abziehen, betrüge die Abmelderate – bei einer Annahme von 10 Prozent Aleviten – nur noch 30,64 Prozent.
3. ABMELDEMOTIVE Die Studie ergab, dass das Abmeldeverhalten der islamischen Schülerinnen und Schüler nicht allein vom Religionsunterricht bzw. den Lehrenden abhängt, sondern von vielen Faktoren, auf die der Unterricht bzw. die Lehrkräfte nur in begrenztem Rahmen Einfluss haben. Die Ergebnisse können unter folgenden sieben Kategorien zusammengefasst werden: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
religiöse Sozialisation der Lernenden, der IRU in der subjektiven Wahrnehmung der Lernenden, die Beziehung zur Lehrkraft, der erlebte Schulalltag als Muslimin/Muslim, der IRU am Rande des Schullebens – Exklusion aus dem Schulalltag, die subjektive Bewertung des IRU durch die Lernenden, Abmeldung oder Anmeldung.
Die Faktoren »religiöse Sozialisation«, »Schulalltag als Muslimin/Muslim«, »IRU am Rande des Schullebens«, »subjektive Bewertung des IRU« und »Abmeldung oder Anmeldung« liegen im Einfluss- bzw. Verantwortungsbereich vieler Akteure und Instanzen. Dazu zählen unter anderen die Islamische Glaubensgemeinschaft, Moscheeverbände bzw. islamische Glaubensgemeinden, Eltern, Schulleitung bzw. Schulbehörden und Lehrkörper. Dagegen befinden sich die Faktoren »IRU in der subjektiven Wahrnehmung der Lernenden« und »Beziehung zur Lehrkraft« allein im Einfluss- bzw. Verantwortungsbereich der Lehrkraft. Sowohl diese beiden als auch die zuvor genannten fünf Faktoren können für die zukünftige Konzipierung des IRU wie auch für die theologische und religionspädagogische Forschung wichtige Erkenntnisse liefern. Da eine detaillierte Behandlung sämtlicher Faktoren bzw. Ergebnisse den Rahmen dieses Beitrages sprengen würde, werden hier nur jene zwei Faktoren komprimiert dargestellt, die im Verantwortungsbereich der Lehrkraft liegen.
170 | M EHMET HILMI TUNA
Der IRU in der subjektiven Wahrnehmung der Lernenden Das Bild, das die am IRU teilnehmenden Schülerinnen und Schüler zeichnen, lässt auf eine sehr rigorose und inhaltsorientierte Vermittlung des Lehrstoffes schließen. In ihrer Wahrnehmung liegt der Fokus des Unterrichts bzw. der Lehrenden auf den Inhalten sowie auf der Disziplinierung der Schülerinnen und Schüler. Dazu einige – im Originalton wiedergegebene – exemplarische Aussagen: … ist zu streng, ist zu streng, kommt mir vor …von den Suren her … (2, 22-23) … also wir haben manchmal die ganze Stunde nur schreiben müssen … (1, 345-346) … der Lehrer geht durch, wer es kann und wer nicht … (2, 214)
Diese strikte Orientierung am Inhalt findet sich in der Konzipierung bzw. Gestaltung des Religionsunterrichts wieder. In diesem Zusammenhang wird in den Interviews immer wieder das Auswendiglernen von Suren angesprochen. … die anderen Schüler kennen alles, wir machen zwanzig Suras. Sie können alles, ich kann vielleicht sechse, und man kriegt jedes Jahr neue Suras auf. Das ist echt hart … (2, 133-135) … in Religionsunterricht habe ich Suras auswendig lernen müssen … (3, 14)
Ein derartiges Unterrichtskonzept wird von den Lernenden offen kritisiert und zugleich wird die Forderung nach einer Neukonzipierung des islamischen Religionsunterrichts erhoben: … machen ja die Suras auf Arabisch, aber man weiß nicht, was man sagt … (2, 184-185) ... man muss ja Religion mit mehr allgemeinen Themen verfassen, in meinen Augen. Nicht so alte Themen von 1990 und so, man muss sich mit heutigen Themen befassen. Das geht einfach nicht, mit der Technologie und so, sie denken immer altmodisch … (2, 145-148)
Die starke Orientierung am Inhalt lässt die Lernenden oftmals Parallelen zum traditionellen Moscheeunterricht ziehen, in dem viele Suren und Glaubensinhalte auswendig gelernt werden.
NEUE A NSÄTZE IM IRU
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… hab mir gedacht, ich geh sowieso Moschee, kann alles sowieso lernen, und Islam wäre halt zu … (1, 124-125) … die Moschee ist halt besser und eine Stunde reicht mir halt nicht, was zu lernen … (5, 206-207)
Als weiteres besonderes Anliegen nannten die Interviewten die Möglichkeit, im Unterricht Fragen zu stellen. Sie räumen zwar ein, dass diese prinzipiell gegeben sei, bemängeln jedoch die Trivialität und Realitätsferne der Antworten: … man kann den Lehrer jede Woche was fragen, erklärt es gern … (2, 161) … dass zum Beispiel kurze Hosen nicht über den Knien sein darf, aber das kommt mir bisschen komisch vor … (2, 148-149)
Der IRU ist weiters durch die Heterogenität der Teilnehmenden hinsichtlich Alters- bzw. Schulstufen, des Wissensniveaus sowie der religiös-sozialen Orientierung gekennzeichnet. Auch diese wird in den Interviews angesprochen. So etwa nimmt ein Schüler sich selbst als kemalistisch orientiert, seine Kommilitonen hingegen als traditionell eingestellt wahr: … ich bin eher so Atatürk … (2, 91) … meine Klassenkameraden sind echt super nette Burschen; aber sie leben einfach zu traditionell … (2, 153-154)
Ein anderer Schüler thematisiert die Gruppenzusammensetzung aus unterschiedlichen Schulstufen: … die ersten und zweiten Klassen machen zusammen, und die dritten und die vierten machen zusammen ... (5, 122-123)
Zur Gestaltung des Unterrichts gehört unter anderem auch der Umgang mit Störungen, ein Thema, das die Jugendlichen stark zu beschäftigen scheint, wie aus den Interviews ebenfalls hervorgeht. Der Umgang der Lehrenden mit Störungen ist in den Augen der Lernenden recht emotional und unkontrolliert: … in der Klasse waren also so zehn, elf Schüler und wir waren also nicht brav. Er hat immer geschrien und ja das ist normal … (4, 61-62)
172 | M EHMET HILMI TUNA … ja er hat immer geschrien, war immer aggressiv … (4, 129)
Ein anderer Schüler sieht die Verantwortung in Sachen Aufrechterhaltung der Disziplin bei den mit entsprechenden Kompetenzen ausgestatteten Lehrenden: … der Lehrer macht die Disziplin im Unterricht, er bestimmt es … (2, 514-515)
Zusammenfassung Hinsichtlich der Wahrnehmung der Gestaltung des IRU lässt sich Folgendes festhalten: • • •
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Der Unterricht wird als stringent und inhalts- bzw. stofforientiert wahrgenommen. Die traditionelle Glaubenslehre wird von den Lernenden hinterfragt und sie formulieren Anforderungen an den IRU. Die traditions- und inhaltsorientierte Ausrichtung des IRU führt zu einem Vergleich mit dem Moscheeunterricht, der von den interviewten Schülerinnen und Schülern als höherwertig bzw. kompetenter bewertet wird. Der Religionsunterricht wird von den interviewten Schülerinnen und Schülern als realitätsfern angesehen. Realitätsnahe, zur Lebenswirklichkeit der Schülerinnen und Schülern passende Antworten fehlen in ihren Augen. Die Heterogenität bzw. fehlende Differenzierung im Unterricht wird problematisiert. Die Unterrichtsgruppe im IRU setzt sich unter anderem zusammen aus unterschiedlichen Alters- bzw. Schulstufen, unterschiedlichen religiösen Ausrichtungen sowie säkularen und religiösen Schülerinnen und Schülern. Der Mangel an professioneller Leitung und Umgang mit Störungen im Unterricht wird thematisiert, wobei die Verantwortung bei den Lehrenden gesehen wird.
Die Beziehung zur Lehrkraft Wie wichtig die Lehrenden sind, zeichnete sich bereits in den Äußerungen der Schülerinnen und Schüler zur Konzipierung bzw. Gestaltung des Religionsunterrichts ab. In diesem Abschnitt wird nun ein Blick auf die Lehrer-SchülerBeziehung im IRU geworfen. Auf den ersten Blick wird eine Ambivalenz sichtbar, die unter anderem aus den Faktoren Lehrercharakter, Lehrerautorität, Lehrer-Schüler Kommunikation und Lehrerpräsenz resultiert.
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Im Hinblick auf den Lehrercharakter äußern sich die Befragten sehr unterschiedlich. Für manche spielt die religiös-soziale Gesinnung der Lehrenden eine Rolle: … er ist eher so XY-Fan sozusagen und ich bin eher so Atatürk; das Thema funktioniert einfach nicht miteinander … (2, 90-91)
Für andere wiederum ist die ethnische Abstammung der Lehrenden von Bedeutung: … die war aber glaub nicht so ganz Türkin halt; die war Araberin ... (5, 142)
Und für andere die persönliche Behandlung durch die Lehrkraft: … mir war er ziemlich nett, aber naja natürlich hat er manchmal auch schreien müssen … (1, 204-205)
Die Lehrerautorität wird bisweilen in Zweifel gezogen und offen hinterfragt, indem die Lernenden andere Autoritäten ins Spiel bringen und diese höher einstufen als die islamische Religionslehrkraft. … also im Koran steht es mal nicht … (1, 53) … wenn es stehen täte; dann hätte es unser Vorbeter schon längst gesagt … (1, 56) … keine Ahnung er erzählt so unlogische Sachen find ich halt … (4, 84)
Ein wichtiger und von den Befragten problematisierter Bereich ist die LehrerSchüler Kommunikation. Die Kommunikation stellt sich als sehr unprofessionell und unbeholfen dar. Die Lehrkräfte werden im Kommunikationsgeschehen als emotional und wertend gegenüber Schülerinnen und Schülern beschrieben. … er sagte zu mir, ich bin nicht so gläubig … (3, 116-117) … dann hab ich gesagt, weiß ich nimmer was ich gesagt habe. Da hab ich gesagt: »Ja ich melde mich dann ab.« Hab mich abgemeldet … (3, 119-121)
Der Beziehungsaufbau und die Lehrer-Schüler Kommunikation werden zusätzlich erschwert durch die geringe Präsenz der Lehrkräfte an den Schulen. Dies wird auch in den Interviews thematisiert:
174 | M EHMET HILMI TUNA … der Lehrer ist ja fast in jeder Schule in Innsbruck, in (Namen der Schulen). Da findet man keine Sprechstunde … (2, 409-410) … zum Beispiel man kann Projektwoche mit einer anderen Religionslehrerin die von außen kommt, mit der kann man was machen … (5, 306-307)
Zusammenfassung Zusammenfassend wird die Lehrer-Schüler-Beziehung von den interviewten Schülerinnen und Schülern folgendermaßen charakterisiert: •
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Die religiös-soziale Gesinnung der Lehrenden kann die Beziehung belasten, wenn sie das Unterrichtsgeschehen beeinflusst bzw. zum Unterrichtsthema wird. Ethno-kulturelle Differenzen können ebenso belastend sein, wenn damit nicht richtig umgegangen wird. Die islamischen Lehrenden sind nach den Erzählungen der Schülerinnen und Schüler nicht immer in der Lage, sie von der eigenen religiösen Autorität bzw. Kompetenz zu überzeugen. In der Wahrnehmung der Schülerinnen und Schüler sind die Lehrenden in Bezug auf die Lehrer-Schüler-Interaktion emotional – in einzelnen Fällen fehlt es ihnen an der nötigen professionellen Distanz, sodass sie sich sogar zur Bewertung des Glaubens der Lernenden hinreißen lassen. Die geringe Präsenz der islamischen Religionslehrkräfte an den Schulen stellt ein zusätzliches Hindernis für den Beziehungsaufbau und die Kommunikation dar. 16
4. R ELIGIONSDIDAKTISCHE UND - PÄDAGOGISCHE S CHLUSSFOLGERUNGEN In diesem Teil werden religionsdidaktische und -pädagogische Überlegungen in Bezug auf die oben präsentierten Ergebnisse der Faktoren »IRU in der subjektiven Wahrnehmung der Schülerinnen und Schüler« und »Beziehung zur Lehrkraft« präsentiert.
16 Die Anzahl der Unterrichtsstunden ist abhängig von der Anzahl der Teilnehmer am IRU. In der Regel müssen die Lehrenden an vielen Schulen unterrichten, um eine Vollzeitverpflichtung zu erreichen.
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Im Hinblick auf die Qualität sind in der Studie deutliche Defizite hinsichtlich der Konzipierung des IRU sichtbar. In diesem Zusammenhang muss er, um zukunftsfähig zu sein, sich mit den folgenden Problemen auseinandersetzen: •
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Der IRU darf aus zwei Gründen nicht weiterhin eindimensional stofforientiert bleiben: 1. Die eindimensionale und am Moscheeunterricht ausgerichtete Gestaltung führt zur Untergrabung des Eigenwertes. Das heißt, der IRU braucht ein Alleinstellungsmerkmal, das ihn vom Moscheeunterricht unterscheidet. 2. Der professionelle Umgang mit der oben beschriebenen Heterogenität setzt voraus, dass der IRU mehrdimensional und individualisierend konzipiert wird. Weiters ist eine Subjektorientierung bzw. eine theologisch-didaktische Konzeptionierung notwendig, die sich mit der Realität der Lernenden auseinandersetzt und sie in das Unterrichtsgeschehen einbindet. Die Religionslehrerinnen und -lehrer benötigen unter anderem eine Kompetenzerweiterung bzw. -vertiefung in folgenden Bereichen: differenziertes bzw. individualisierendes Unterrichten, Leitungsprinzipien – hier insbesondere partizipative Leitung – sowie Umgang mit Störungen. Auch die Lehrer-Schüler-Beziehung im IRU muss professioneller gestaltet werden. Das heißt, die Lehrkräfte sollten stets darauf achten, in der LehrerSchüler-Beziehung professionelle Distanz zu wahren, um zu gewährleisten, dass die Lehrer-Schüler-Kommunikation auf einer professionell-sachlichen Ebene stattfindet. Zu diesen konzeptions- und kompetenzbedingten Problemen kommen strukturelle Probleme wie die geringe Präsenz an den Schulen aufgrund der Anzahl der islamischen Religionslehrerinnen und -lehrer. Eine Qualitätssteigerung und Senkung der Abmeldezahlen kann hier ebenso Abhilfe schaffen. Die Abmeldezahlen beeinflussen die Stunden- bzw. Schulanzahl der einzelnen Lehrenden.
In der Studie wird deutlich, dass die jungen Menschen muslimischen Glaubens Antworten suchen, die ihre Lebenswirklichkeit in Österreich und Europa berücksichtigen. An dieser Stelle tritt die Wechselbeziehung zwischen dem IRU und der Theologie sowie Religionspädagogik zutage. Denn um diesen Anforderungen gerecht zu werden, bedarf es zum einen neuer theologischer und religionspädagogischer Ansätze, die auf evidenzbasierte Forschung bauen. Zum anderen können die islamischen Religionslehrerinnen und -lehrer die islamische Theologie und Religionspädagogik den Menschen muslimischen Glaubens kommunizieren und ihre Ansätze an sie herantragen.
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Von Forschern, Theologen und Religionspädagogen entwickelte Ansätze bzw. Konzepte können in der Aus-, Fort- und Weiterbildung der islamischen Lehrkräfte behandelt werden. Die Aneignung dieser Kompetenzen, Lösungsstrategien und theologisch-didaktischen Unterrichtskonzepte kann die islamischen Religionslehrerinnen und -lehrer dazu befähigen, ihren Unterricht qualitätsvoller und professioneller zu gestalten.
Autorinnen und Autoren
Aslan, Ednan, Univ.-Prof. Dr., Professor für islamische Religionspädagogik am Institut für Islamische Studien der Universität Wien Çavis, Fatima, M.A., Univ.-Assistentin am Institut für Fachdidaktik, Bereich Islamische Religionspädagogik der Universität Innsbruck Günther, Sebastian, Univ.-Prof. Dr., Professor für Islamwissenschaft am Seminar Arabistik/Islamwissenschaft der Universität Göttingen Kraml, Martina, assoz. Prof. Dr., Professorin für katholische Religionspädagogik am Institut für Praktische Theologie, Bereich Katholische Religionspädagogik der Universität Innsbruck Müller, Rabeya, M.A., Imamin und Vorstandsmitglied des Liberal-Islamischen Bundes e. V. Özsoy, Ömer, Univ.-Prof., Dr., Professor für Koranexegese am Institut für Studien der Kultur und Religion des Islams an der Goethe-Universität Frankfurt Sarikaya, Yaşar, Univ.-Prof. Dr., Professor für islamische Theologie und ihre Didaktik an der Justus-Liebig-Universität Gießen Scharer, Matthias, Univ.-Prof. Dr. em., Professor für katholische Religionspädagogik am Institut für Praktische Theologie, Bereich Katholische Religionspädagogik der Universität Innsbruck
178 | A UTORINNEN UND A UTOREN
Sejdini, Zekirija, Univ.-Prof. Mag. Dr., Professor für islamische Religionspädagogik am Institut für Fachdidaktik, Bereich Islamische Religionspädagogik der Universität Innsbruck Tuna, Mehmet Hilmi, M.A., Univ.-Assistent am Institut für Fachdidaktik, Bereich Islamische Religionspädagogik der Universität Innsbruck
Globaler lokaler Islam Anna C. Korteweg, Gökce Yurdakul Kopftuchdebatten in Europa Konflikte um Zugehörigkeit in nationalen Narrativen August 2016, 296 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3271-2
Theresa Beilschmidt Gelebter Islam Eine empirische Studie zu DITIB-Moscheegemeinden in Deutschland 2015, 270 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3288-0
Florian Kreutzer Stigma »Kopftuch« Zur rassistischen Produktion von Andersheit (unter Mitarbeit von Sümeyye Demir) 2015, 236 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3094-7
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Globaler lokaler Islam Thorsten Gerald Schneiders (Hg.) Salafismus in Deutschland Ursprünge und Gefahren einer islamisch-fundamentalistischen Bewegung 2014, 464 Seiten, kart., 27,99 €, ISBN 978-3-8376-2711-4
Schirin Amir-Moazami Politisierte Religion Der Kopftuchstreit in Deutschland und Frankreich 2007, 294 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-410-2
Nilüfer Göle, Ludwig Ammann (Hg.) Islam in Sicht Der Auftritt von Muslimen im öffentlichen Raum 2004, 384 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-237-5
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Globaler lokaler Islam Sabine Schmitz, Tuba Isik (Hg.) Muslimische Identitäten in Europa Dispositive im gesellschaftlichen Wandel
Georg Stauth Herausforderung Ägypten Religion und Authentizität in der globalen Moderne
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Katrin Simon Die Erben des Malcolm X Afroamerikanische Muslime zwischen Widerstand und Anpassung
Georg Stauth Ägyptische heilige Orte III: Der Manzala-See bei Port Said und der Heilige der Fischer. Konstruktionen, Inszenierungen und Landschaften der Heiligen im Nildelta: Abû al-Wafâ‘ Fotografische Begleitung von Axel Krause
2014, 362 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2668-1
Abbas Poya Denken jenseits von Dichotomien Iranisch-religiöse Diskurse im postkolonialen Kontext 2014, 270 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2590-5
Susanne Schröter (Hg.) Geschlechtergerechtigkeit durch Demokratisierung? Transformationen und Restaurationen von Genderverhältnissen in der islamischen Welt 2013, 324 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2173-0
Tabea Scharrer Narrative islamischer Konversion Biographische Erzählungen konvertierter Muslime in Ostafrika 2013, 404 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2184-6
Markus Gamper Islamischer Feminismus in Deutschland? Religiosität, Identität und Gender in muslimischen Frauenvereinen
2010, 162 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1200-4
Georg Stauth Ägyptische heilige Orte II: Zwischen den Steinen des Pharao und islamischer Moderne. Konstruktionen, Inszenierungen und Landschaften der Heiligen im Nildelta: Fuwa – Sa al-Hagar (Sais) Mit ägyptologischen Studien von Silvia Prell. Fotografische Begleitung von Axel Krause 2008, 246 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-432-4
Irka-Christin Mohr Islamischer Religionsunterricht in Europa Lehrtexte als Instrumente muslimischer Selbstverortung im Vergleich 2006, 310 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-453-9
2011, 354 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1677-4
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de