Ins Denken ziehen: Eine philosophische Autobiographie 3406756425, 9783406756429

Dieter Henrich ist weltweit bekannt als Erforscher des deutschen Idealismus und Philosoph der Subjektivität. In Gespräch

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German Pages 282 [284] Year 2021

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Über den Autor
Impressum
Inhalt
Vorwort
1. Prolog: Kindheit und Religion
2. Schul- und Studienzeit in Marburg (1933–1949)
3. Heidelberger Anfänge (1950–1960)
4. Erfahrungen in Berlin (1960–1965)
5. Wieder in Heidelberg – neue Blickbahnen (1965–1981)
6. Die amerikanischen Jahre
7. Philosophische Ostpolitik
8. München – Werke und Wandlungen (seit 1981)
9. Epilog: Kunst, Wissenschaft und letzte Gedanken
Editorisches Nachwort
Personenregister
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Ins Denken ziehen: Eine philosophische Autobiographie
 3406756425, 9783406756429

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Dieter Henrich INS DENKEN ZIEHEN

Dieter Henrich

INS DENKEN ZIEHEN Eine philosophische Autobiographie

Im Gespräch mit Matthias Bormuth und Ulrich von Bülow

C.H.BECK

© Verlag C.H.Beck oHG, München 2021 Umschlaggestaltung: geviert.com, Christian Otto Umschlagabbildung: © Isolde Ohlbaum Satz: Fotosatz Amann, Memmingen ISBN Buch 978 3 406 75642 9 ISBN eBook (epub) 978 3 406 75643 6 ISBN eBook (PDF) 978 3 406 75644 3 Die gedruckte Ausgabe dieses Titels erhalten Sie im Buchhandel sowie versandkostenfrei auf unserer Website www.chbeck.de. Dort finden Sie auch unser gesamtes Programm und viele weitere Informationen.

Inhalt

Vorwort

7

1. Prolog: Kindheit und Religion

9

2. Schul- und Studienzeit in Marburg (1933–1949)

46

3. Heidelberger Anfänge (1950–1960)

78

4. Erfahrungen in Berlin (1960–1965)

109

5. Wieder in Heidelberg – neue Blickbahnen (1965–1981)

128

6. Die amerikanischen Jahre

155

7. Philosophische Ostpolitik

185

8. München – Werke und Wandlungen (seit 1981)

204

9. Epilog: Kunst, Wissenschaft und letzte Gedanken

243

Editorisches Nachwort

273

Personenregister

277

Vorwort

Früh hatte ich beschlossen, niemals eine Autobiographie zu schreiben. So viel Aufmerksamkeit, die eigene und die anderer, auf mein Leben zu ziehen, schien mir unangemessen, das eigene Zeugnis dabei zu wenig verlässlich. Dagegen schien es mir mit anwachsendem Alter sinnvoll, von den Zeitfragen und den Gestaltungsproblemen zu berichten, die jeweils in einer Spanne meiner Lebenszeit besonders aktuell wurden, an denen ich tätigen Anteil nahm und die auch weiterhin Aufmerksamkeit verdienen. Dazu gehören die Bemühung um die Neuordnung der deutschen Universität, die Öffnung der deutschen Philosophie für andere Kulturen und Traditionen und die Herausforderung durch die atomare Bedrohung und die deutsche Teilung. Wegen der vielen Begegnungen und weltweiten Erfahrungen, von denen ich gelegentlich zu erzählen hatte, wuchs das Interesse an Ausnahmen von dieser Beschränkung. Der Verlag C.H.Beck hat schließlich durch Stefan Bollmann, dem dies Buch in allen Stadien seiner Entstehung viel verdankt, eine Art von Autobiographie von mir in Auftrag gegeben und in Matthias Bormuth und Ulrich von Bülow zwei jüngere Kollegen dafür gewonnen, sie in der Form von Gesprächen wirklich werden zu lassen. Die Interessen dieser Kollegen, mit denen ich schon länger freundlichen Kontakt hatte, gewannen nun Einfluss auf die Gestaltung der Arbeit. Sie hatten selbst ein Interesse an der Auskunft über einige Aspekte meiner Arbeit, vor allem aber an den Motiven,

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die mich in meinen Forschungen und meinem Philosophieren bestimmt haben. Damit rückte das gemeinsame Buch notwendig näher an die Form einer Lebensbeschreibung heran. Dies Moment trat sogar in den Vordergrund derjenigen Gespräche, die meinem frühen Leben und meiner Entscheidung für einen Lebensweg in der Philosophie zugewendet waren. Meine Mitautoren haben mich davon überzeugt, dass ein Bericht über einen solchen Weg in seiner Zeit sehr wohl von ganz anderem als allein neugierigem Interesse für viele Leser bleiben werde. Mir selbst fiel der Verzicht auf meine ursprüngliche Zurückhaltung umso leichter, weil er mir die Gelegenheit gab, meinen geliebten Eltern, deren ich voll Dankbarkeit gedenke, ein kleines Denkmal zu setzen. Ich habe dann auch dem weiteren Wunsch der Mitautoren nicht widersprechen wollen, den Text mit einem Bericht über Religion einzuleiten und mit einer Reflexion über Kunst abzuschließen. So ist eine Autobiographie entstanden, deren Selbstbeschränkung dadurch angezeigt bleibt, dass sie durchgängig in Beziehung auf die Philosophie verfasst ist. Man sieht es schon daran, dass von meinem späteren Leben und von denen, die mir nahestanden und nahestehen, in ihr kaum je die Rede ist. Auch das vielbezügliche Satzfragment des Buchtitels zeigt dies an: Er verweist sowohl auf die Motive, die mich zum Philosophieren bestimmten, als auch auf die Hauptaufgabe meines tätigen Lebens. Ich selbst möchte sogar hoffen, dass das aus unterschiedlichen Interessen zusammengewachsene Werk durch seinen Überlegungsgang selbst als ein philosophisches Buch wahrzunehmen ist. München, Sommer 2020

Dieter Henrich

1. Prolog: Kindheit und Religion

Wir möchten unser Gespräch zunächst auf das lenken, was in Ihrem Leben der Philosophie vorausging und für Sie von Bedeutung wurde. In welcher Familie sind Sie aufgewachsen? Ich war das einzige lebende Kind. Meine Eltern hatten 1919 geheiratet, als mein Vater von der Front heimgekehrt und meine Mutter über den Krieg schon dreißig Jahre alt geworden war. Die ersten drei Schwangerschaften verliefen unglücklich: eine Fehlgeburt und zwei Knaben, die als Kleinkinder starben. Es war die Zeit der Spanischen Grippe. Die Ärzte waren von diesem besonderen Schicksal offenbar aufrichtig berührt. Der selbst noch junge Marburger Professor für Kinderheilkunde, Ernst Freudenberg, zu dem meine Eltern großes Vertrauen gefasst hatten, beriet sie voll Anteilnahme. Der Tod der Kinder war für sie eine tief entmutigende Erfahrung, so dass es über einige Jahre zu keinen Schwangerschaften mehr kam. Meine Mutter erzählte mir später, sie seien der Meinung gewesen, Gott wolle offenbar nicht, dass sie Kinder hätten. Nur im Glauben an den unbegreiflichen Gott konnten sie das schwere Geschick bestehen. Als dann aber die Zeit der Gebärfähigkeit allmählich zu Ende ging, fassten meine Eltern den Entschluss, es noch einmal zu versuchen. Das Ergebnis bin ich. Sie können sich vorstellen, mit welcher Bedeutung meine Eltern mein ­Leben besetzten. Meine glückliche Geburt war eine Erlösung für sie. Ihre Eltern glaubten an einen Gott? Meine beiden Eltern waren gläubige Christen und sehr darum

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­bemüht, mich in das christliche Leben einzuführen. Dazu gehörte das gemeinsame Gebet. Tisch- und Gute-Nacht-Gebete waren lange selbstverständlich. Weniger die Erfahrung des Anrufs des Helfers in Nöten als jene der Zuversicht auf sein Geleit war mir durch die Eltern stets gegenwärtig. Wie sah die christliche Lebensorientierung der Eltern aus? Es gab wohl zwischen meinem Vater und meiner Mutter Unterschiede in ihrem Glauben. Mein Vater hatte als Naturwissenschaftler eine starke, ins Rationale ausgreifende Naturbeziehung. Er versuchte schon früh, mir Einsteins Relativitätstheorie zu erklären, und lehrte mich, den Nordstern zu finden, die Erd- und Mondbewegung zu verstehen und die Sternenwelten zu bewundern. Ich bekam Baukästen, mit denen man kleine elektrische Geräte konstruieren konnte. Ich baute einen Elektromotor mit primitiven Mitteln. Schon früh sah ich mit großer Verblüffung, wie in feinem Metallstaub die Magnetfelder ihre Spuren legten. Sie erlebten in den Gesprächen mit dem Vater so etwas wie die wissenschaftliche Entzauberung der Welt, von der Max Weber spricht? In gewisser Weise. Aber mein Vater bezweifelte nicht, dass die Wirklichkeit Gottes hinter allem stand. Er ging regelmäßig in die Kirche und lebte in einem in Not und Krieg gefestigten Gottvertrauen. Er stammte aus einer armen Familie. Sein eigener Vater war zwar schon Landmesser gewesen, starb aber mit kaum dreißig Jahren ohne Pensionsberechtigung und hinterließ eine Frau mit vier Kindern. Die Rente der Großmutter betrug etwa 20 Goldmark im M ­ onat. So kam die kinderreiche Familie wirklich in wirtschaftliche Not. Meine Großmutter war als Tochter eines Zuchthausdirektors nicht dazu erzogen, berufstätig zu sein. So musste sie im Kaiserreich als Mutter einen Beruf erlernen und jahrzehntelang als Fleischbeschauerin im



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Schlachthaus von Kassel arbeiten, während die Kinder aufwuchsen. Obwohl die Mittel zum Leben knapp waren, konnte die Mutter meines Vaters zwei ihrer Söhne studieren lassen. Diese mussten sich allerdings auf das kürzest mögliche Studium beschränken. Als Primus im Abitur hätte meinem Vater auch sein Wunschstudium Jura offengestanden. Er sah die mangelhafte Versorgung einer Witwe mit vielen Kindern als Verfehlung des kaiserlichen Systems und erinnerte mich angesichts dieser Erfahrung immer an die Ideen der Sozial­ demokratie, obgleich er selbst die SPD nicht wählte. Schon als ich acht oder neun Jahre alt war, sprach mein Vater mit mir ziemlich offen und ernsthaft über politische Fragen. Wie verlief Ihre frühe Kindheit? Als Kleinkind wurde auch ich krank, so dass meine Eltern ungewöhnlich quälende Angst um mich hatten. Sie befürchteten, auch dies Kind werde ihnen wieder genommen. Die nachfolgenden langen Krankheitszeiten, aber ebenso mein kindliches Gespür für die elterlichen Ängste bedrückten mein Leben, machten mich aber ­ wohl zugleich hellwach. An welcher Krankheit litten Sie? Ich hatte gleich nach der Geburt eine Furunkulose auf der Brust – wohl eine Ansteckung durch den Arzt. Später kam eine chronische Mittelohrentzündung auf, die jeden Winter in eine Eiterung ausbrach und dazu zwang, die Trommelfelle zu durchstechen. Schon sehr früh, mit zwei Jahren, musste der Schädel hinter einem Ohr aufgemeißelt werden. Da es noch kein Penicillin gab, bestand damals die Gefahr, dass das Gehirn infiziert werden könnte. Der HalsNasen-Ohren-Arzt ist mir in lieber Erinnerung, weil er  – um den ganzen familiären Hintergrund wissend  – mit äußerster Vorsicht und Freundlichkeit vorging. Ich hatte vor dem Krankenhaus geradezu panische Angst, aber zum Professor Uffenorde Vertrauen. Die

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Klinik war eine Art Imitat einer kaiserlichen Kaserne mit strengsten Reglementierungen. Zweimal in der Woche war für eine Stunde der Besuch der Eltern erlaubt. Obwohl sich meine Mutter immer wieder gegen die Regeln für kurze Zeit zu mir durchkämpfte, war ich einsam und erlebte das Gefühl tiefer Verlassenheit. Damals habe ich meine ersten nihilistischen Erfahrungen gemacht. Sie wurden durch die Angst der Eltern verstärkt und standen im Widerspruch zur Erfahrung des unbedingten Einsatzes meiner Eltern für meine Gesundung. Diese Spannung ist ein mein Leben bestimmender Grundkonflikt geblieben: dass ich in meinem Lebensvollzug bedroht bin und lähmende Verluste erfahre – und dann aber auch, dass ich durch die Zuwendung meiner Eltern in einen warmen Glückszustand versetzt werden könnte. Man erfährt sich als ausgesetzt, aber es gibt auch etwas Schützendes. Ich denke manchmal, dass ich die nihilistische Erfahrung tiefer als Nietzsche durchlebt habe. Die Tonart, in der er ihr Ausdruck gibt, ist von Wirkungswillen bestimmt. Man kann aber seine Beobachtungen dennoch scharfsinnig und aufschlussreich finden. Aus solchen Erfahrungen geht ein anderes Grundverhältnis zur Wahrheit über das Menschsein hervor. Besagte die von Ihnen geschilderte frühkindliche Erfahrung, dass Verlust und Umsorgtwerden zusammengehörten? Ich war damals zwei Jahre alt. Was kann man zu dieser Zeit schon explizit denken? Ich konnte nicht umhin, meinen Eltern Vorwürfe zu machen, dass sie mich nicht aus diesem Verließ herausholten. In Briefen an Verwandten sprachen meine Eltern davon, wie schrecklich es für sie war, dass ich mich auch von ihnen abwandte, obwohl sie selbst weitgehend ohnmächtig waren und die Maßnahmen der Kasernierung nicht abschaffen konnten, von denen man



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damals meinte, sie seien als Schutz vor Infektionen in aller Strenge zur Rettung nötig. Sie erinnern dies, obwohl Sie erst zwei Jahre alt waren! Ich erinnere ganz genau das dunkle Zweibettzimmer, in dem ich nach der Operation lag. Die Erinnerungen sind kleinkindlich punktuell, aber vollkommen plastisch. Als ich gerade vier Jahre alt war, zogen wir um in eine andere Wohnung. Von diesen ersten Jahren könnte ich durchaus eine Art dichter Autobiographie schreiben. Es war noch die Zeit der Weimarer Republik, in der mein bewusstes Leben begann. Ich erinnere mich auch an politische Ereignisse, ­soweit sie in Marburg überhaupt präsent waren, beispielsweise an Hitlers Rede im Zirkus Sarrasani. Auf der Lahnwiese stand für ihn das Zirkuszelt. Meine Mutter sagte, sie ginge abends zu einer Rede von Hitler, der solle so elektrisierend sprechen. Sie kam dann enttäuscht zurück. Am nächsten Morgen erzählte sie, Hitler habe gar nichts in ihr ausgelöst. Fiel in diese Zeit das Erwachen des Ich-Bewusstseins? Ich habe sicher gewusst, wer ich bin und dass ich dem, was um mich und in mir geschieht, ausgesetzt bin. Allerdings nutzte ich damals das Wort «ich» in der eigenen Sprache nicht, obwohl es mir von den Erwachsenen her bekannt war. Ich erkläre mir, warum Kinder dies Wort erst später gebrauchen, obwohl sie es längst kennen, auf meine Weise. Im Gebrauch von «ich» liegt nämlich auch eine Distanznahme, die im kindlichen Gebrauch der Sprache im Umgang mit Erwachsenen erst stabil werden muss. In der Not, die ich in ­diesen Jahren erlebte, habe ich das Walten des lieben Gottes nicht erfahren können. Es half niemand. Allenfalls mit dem Trost, «es wird doch wieder». Ich bin vielleicht nur Philosoph geworden, profes­ sionell und mit eigenen Ideen, weil ich mit dieser hohen Erwartung an mein Überleben großgezogen worden bin und die langen, lebens-

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gefährdenden Krankheitszeiten durchstehen musste. Ich begann in Schmerz und Schwäche nachzudenken, und sicher auch über die Frage «Wieso?». Für Ihre Eltern war dagegen Gott eine große Hilfe, auch nach dem Verlust von drei Kindern. Sie erfuhren im Leiden wie im Glück die Zuwendung Gottes, ungefähr so, wie es bei Mörike heißt: «Herr! schicke, was du willt, / Ein Liebes oder Leides; / Ich bin vergnügt, daß Beides / Aus Deinen Händen quillt.» Doch als ein Vergnügen im wörtlichen Sinne haben sie das ihnen auferlegte Leid kaum erfahren. Wie würden Sie Ihr Verhältnis zu Ihren Eltern charakterisieren? Ich hatte zu beiden Eltern nach der Erlösung aus der Hospitalisierung wieder eine völlig ungestörte Beziehung des Vertrauens und der Liebe. Zwar habe ich damals ihre Ohnmacht gegenüber einem Geschick an mir selber erfahren. Aber als ich dann wieder bei ihnen war, gab es diese Bedrohung auch von innen her nicht mehr. Sie ­waren da, und ich war glücklich und geborgen in ihrer einfallsreich sich bezeugenden Liebe. Doch wurde ich nicht etwa nur verwöhnt und verzärtelt. Meine Eltern waren ebenso sehr um die Bildung des Charakters ihres Kindes besorgt. Es gehörte zu ihrer Erziehung, die Anforderungen einer strikten, christlichen Lebensführung an mich zu stellen. So bekam ich zum Beispiel nur Weihnachtsgeschenke, wenn ich vorher etwas von den früheren Geschenken an arme Kinder abgegeben hatte. Ich erinnere mich heute noch gern, wie ich mit drei oder vier Jahren mühsam die Auswahl treffen musste, was ich von meinen Stofftieren und Blechautos an solche Kinder abgeben könnte. Meine Mutter fuhr dann mit mir vor die Stadtgrenze, wo ein Zigeunerlager war, und ich hatte diese Spielsachen selber zu überreichen. Die



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strahlenden Augen der Zigeunerkinder, die zu mir hingelaufen ­kamen, leuchten noch vor mir. Welche Rolle spielte Ihr Vater? Ich empfand höchste Bewunderung und Verehrung für ihn. Mein Vater spielte so wunderbar mit mir in allen Varianten und hatte ­offensichtlich die größte Freude daran. Vom Schlüsselbund, den er klappern ließ, über das Malen von Uhren, über kleine Szenen, die inszeniert wurden, das Kasperletheater und den Kaufmannsladen. Später sammelten wir zusammen Briefmarken, wir spielten Schach. Mein Vater starb, als ich elf Jahre alt war, im Alter von nur siebenundfünfzig Jahren. Ihr Vater stand noch mitten im Berufsleben? Er war gerade versetzt und befördert worden. Das war für ihn eine glückliche Wendung, denn mein Vater liebte seine bisherige Arbeit ganz und gar nicht. Er war im staatlichen Vermessungsdienst tätig; damals ging es um die Zusammenlegung der zer­ stückelten Felder in den länd­lichen Gebieten. Dies war die Antwort des preußischen Staats auf die Folgen der jahrhundertelangen Erbteilungen in den Dörfern, nach denen die Höfe kaum noch wirtschaftlich zu führen waren. Das bedeutete für meinen Vater, viele Monate in einem Dorf zu sein und den Zank unter und mit den Bauern austragen zu müssen, die sich durch die Maßnahmen sehr oft für benachteiligt hielten. Allerdings kamen sie dann bei seiner Beerdigung in großer Zahl nach Kassel. Uns bewegte, wie sie ihn sichtlich verehrten und anerkannten, dass er Gutes bei der Neuverteilung der Ländereien wirken wollte. Was passierte in Kassel? Dort erhielt er ein Lehramt für die jungen Vermessungsbeamten. Er freute sich sehr, dass er nicht mehr auf die Dörfer hinaus musste, und schenkte meiner Mutter ein Opernglas. Denn nun würden sie

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wieder zusammen in die Oper gehen, die es in Marburg nicht gegeben hatte. Sie freuten sich auf das Großstadtleben. Aber mein Vater litt an Nierensteinen und hoffte, in der Klinik von diesem Übel befreit zu werden. Wir waren alle glücklich, dass nun alles gut für uns werden sollte. Es war im Mai 1938. Ich war jetzt im Kasseler Gymnasium Fridericianum. An diesem Maitag herrschte schon große Hitze, so dass wir von der Schule früher frei bekamen und ich durch die alte Residenzstadt bummelte, die mir noch neu war. Ich schaute mir das geschäftige Treiben in den Straßen an, ging langsam, aber geradewegs zur Klinik und freute mich darauf, den Vater als Überraschung besuchen zu dürfen. Und dann sah ich schon von weitem im Flur über seinem Zimmer das rote Licht blinken. Meine Tante saß auf dem Gang und sagte: «Dieter, du kannst nicht hinein.» Und nach wenigen Augenblicken war mir klar: Die Ärzte kämpften gerade um meines Vaters Leben. Das Gefühl des Glücks schlug unmittelbar um in die schrille Angst um den geliebten Vater. Wir saßen da, warteten eine gute Stunde. Er hatte eine Lungenembolie erlitten, von einer Nierenkolik ausgelöst. Man hatte damals keine Möglichkeit, den Blutpfropfen, der von der Lunge ins Herz geriet, aufzu­ lösen. Als die Ärzte resignierten, wurde ich hereingerufen. Es war seine Todesminute. Meine Mutter, die ihren Mann verlor, hatte die Kraft, zurückzutreten. Ich kniete am Bett meines Vaters – und vor dem unbedingten Bedeutungsgewicht des Augenblicks fiel die Erregung des Todesschreckens von mir ab. Er, mein Vater, nahm seine letzte Kraft zusammen und sprach stockend ein Segenswort, mit dem er meines Lebens Zukunft Gott anbefahl. Ich konnte ihm noch mit der zärtlichen Anrede ‹Väterchen› antworten, die zwischen uns üblich war. Dann war er diesem Leben entzogen. Was bedeutete dieser Moment für Sie? Ich habe den Verlust des Vaters über viele Jahre nicht verwinden



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können. Aber es war mir immer klar: Was ich in seiner letzten Lebensminute erfahren hatte, war für mein Leben unbedingt verbindlich. Er, der mehr über die Natur als über Gott sprach, hatte in der letzten Not, den Weg seines Sohnes nun nicht mehr begleiten zu dürfen, einen Ruf an die höchste denkbare Instanz über allem ergehen lassen. Es war eine spontane Segnung, dem entsprechend, was unter der Übermacht des Geschehens noch möglich war. Es liegt nahe, sich an Berichte im Alten Testament erinnert zu sehen. Ich habe rückblickend nicht das Gefühl, dass mir magisch etwa eine Lebenskraft übertragen wurde. Ich kann gegenüber dem Geschehen von damals aber dennoch keine Distanz aufkommen lassen. Ich denke, mein ganzer Lebensgang erfuhr mit seinen letzten Worten etwas, das man ganz zutreffend als einen Segen zu verstehen hat. Er enthält die Forderung und den Impuls, der Hoffnung des Vaters in meinem Leben zu entsprechen, und meine Freude daran, dass mir das gelingen könne. Deshalb werde ich immer Gedanken fassen, in denen dieser Moment als eine letzte Bedeutungsquelle bewahrheitet bleibt. Wann hat dieses Gedankenfassen eingesetzt? Und war es ein kontinuierlicher Prozess? In dieses Geschehen reichen auch einige Wurzeln meiner Subjek­ tivitätstheorie, in der die Freiheit des Subjekts als eine ermöglichte verstanden wird und nicht als eine aus Selbstmacht initiierte. Sie kann als eine Energie, die mit anderen assoziiert ist, in einer großen Befreiungs- und Aufklärungsbewegung münden, die im eigenen Denken anhebt. Dann versteht man das, was man erwirkt, nicht nur als eigene Tat. Ich war deshalb auch nie in der Versuchung, meinen Weg allein meiner eigenen Geschicklichkeit oder Leistungsfähigkeit zuzuschreiben, sondern immer ebenso einem Geschehen, in dem mir Gutes zuteil geworden ist und Aufgaben und Chancen mir zuwuchsen.

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Handelt es sich nicht auch bei solchem Nachdenken, das durch den Segen des gläubigen Vaters initiiert ist, um eine Form des ­Enthusiasmus, der bei aller Spannung zur Religion auch Hölderlin, Schelling oder Hegel vertraut war? Ja, zumal es etwas ist, das von Anfang an dieser Nichtigkeits­ erfahrung hat standhalten müssen. Dies galt eigentlich schon für meinen Vater, der die prekäre Erfahrung machte, sich nirgends mit der Wirklichkeit identifizieren zu können, in der er zu leben hatte. Er wollte eigentlich gern Richter werden, um, wie er hoffte, der Gerechtigkeit zur Verwirklichung zu verhelfen. Doch da seiner Mutter das Geld fehlte, war ihm dieser Weg versagt. So musste er als Preis für den Status des Akademikers und für ein nur kurzes Studium den ungeliebten Beruf im Vermessungsbereich hinnehmen. Dann wurde er im Ersten Weltkrieg Soldat und erlitt ihn als blutiges, schmutziges Geschehen. Die Frontbriefe, die er nach Hause schickte, drücken das beredt aus. Viele spätere, existentiell anmutende Lebensfragen, die zuletzt in Ihr Buch «Sein oder Nichts» eingingen, scheinen schon in Ihren frühen Jahren angelegt worden zu sein. Alles, was ich darin über die Lebensführung darlege, sollte sich vor solchen Erfahrungen bewähren können. Es darf ohnedies nichts Ausgedachtes sein. Der für einen Menschen beste Halt beruht auf Implikationen von Erfahrungen, die für ihn unhintergehbar geworden sind. Handelt es sich gleichsam um etwas Mythisches, das Sie erfuhren und das später erst durch den Logos aufgearbeitet wurde? Die Begründung muss aus sich selbst heraus überzeugen können. Jürgen Habermas und Niklas Luhmann haben die Religion auf jeweils ihre Weise zum Thema eines theoretischen Ansatzes ­gemacht. Angesichts der Analysen meiner Generationsgenossen



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muss das, was ich theoretisch ausarbeite, aus dieser Begründung allein heraus überzeugen – und zugleich verfugt mit dem sein, was ich als meine eigene Erfahrung in Erinnerung halte und seitdem sprachlich und begrifflich zu durchdringen versuche. Was wir hier im Gespräch berühren, hat sich in dieser zweifachen Hinsicht zu bewähren. Kommen wir noch ein wenig genauer auf Ihre Mutter zu sprechen. Sie hatte eine ästhetisch-künstlerische Neigung. Meine Mutter sprach das an, was in der Religion das Geheimnisvolle ist. Sie hatte Freundinnen, die mit der Bewegung um Rudolf Steiner verbunden waren und die versuchten, mich ebenfalls zu gewinnen. Eine andere gute Bekannte meiner Mutter war Anhängerin der Sekte um Mathilde Ludendorff, der Frau des Generals. Sie verstand sich als völkische Theosophin, die mit ihren umfangreichen, meist in Versen verfassten Werken eine Art militarisierter Mystik begründen wollte. Die musste ich als Jugendlicher lesen, weil diese Tante mich dazu drängte. Meine Mutter selbst blieb ­immer protestantische Christin, zugleich offen gegenüber jeder Erfahrung des Heiligen, des Einbrechens einer numinosen Wirklichkeit, in die wir für sie auch im alltäglichen Leben bereits einbe­ zogen waren. Entspricht dies nicht dem Denken von Rudolf Otto, der im ­Zentrum der Religion geradezu die Erfahrung des Heiligen sieht? Bei Otto gibt es die Doppelung von Faszinosum und Tremendum im Phänomen des Heiligen: Ich erschrecke über dessen Präsenz, aber ich kann nicht von ihm ablassen. Meine Eltern kannten übrigens Rudolf Otto, der in Marburg lehrte. Von seinem Tod im Jahr 1937 hörte ich, dass er krank gewesen und von der Burgruine des Frauenbergs herabgestürzt sei. Ich spürte damals, dass man meinte, es könne wohl ein Suizid gewesen sein. Mich selbst haben Erfah-

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rungen des Numinosen, die für Otto den kirchlichen Ritus, etwa das Abendmahl, zu tragen hatten, wohl berührt, aber niemals im Zentrum ergriffen. Die Klarheit einer Einsicht wollte ich in jeglicher Erfahrung von Unbedingtem nicht schwinden sehen. In welche Kirche gingen Sie damals? Der Pfarrer meiner Mutter war Karl Bernhard Ritter. Er war ­einer der Gründer der Berneuchener Bewegung und der Michaelsbruderschaft, dessen erster Ältester er war. Im protestantischen Gottesdienst spielten bei ihm die Gewänder und die Sprechgesänge eine neue und beträchtliche Rolle. Das gefiel mir nun doch wiederum. Ritter war der Pfarrer, der mich im «Dritten Reich» in der Marburger Universitätskirche konfirmiert hat. Er versuchte, psychedelische Grenzphänomene wie die Telekinese glaubwürdig werden zu lassen. Uns Konfirmanden erzählte er, wie er selbst erlebt habe, dass sich zum Gebet eines Sufis die Krüge auf den Emporen der Moschee neigten. Im Unterschied zur Telepathie, für die meine ­eigene Mutter zwingende Zeugnisse gab, blieb all das für mich unglaubwürdig. Was wirkte auf Sie befremdlich? Es gibt einen Unterschied zwischen der in der Subjektivität verwurzelten Frömmigkeit und den Erfahrungen und Beglaubigungen, die charismatisch gegründete Religionsgemeinschaften in ihren Riten aufrufen und vollziehen. Ich halte die persönliche Frömmigkeit für eine dem Menschen wesentliche Möglichkeit, wenn sie das entfaltet und vertieft, was auch Kant im Blick hatte, obgleich er dem nur in der strengeren, resonanzärmeren Sprache der Moral e­inen Ausdruck zu geben vermochte und meinte, die Folgerichtigkeit verlange es, sich abwertend gegen die Sprache der Liebe zu wenden. Dabei hat die Erfahrung der unbedingten Liebe in Wahrheit ihren Ort in der Evidenzsphäre der personalen Religiosität. Dennoch muss



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man dem ganzen Komplex der mythischen Aneignung und Auslegung von Welt und Leben gerade in den frühen Z ­ ivilisationen und auf ihrer Stufe der Entfaltung von Besinnung und Selbstdistanz eine überlegene epistemische Überzeugungskraft zuerkennen; sie ist nicht psychologisch als Selbsttäuschung oder Einbildung zu analysieren und zu entwerten. Rührte Ihre Zurückhaltung gegenüber dem Numinosen nicht doch auch im Respekt vor ihm? Kaum – ich hätte eher einer Religion zugehören wollen, die auf den Schauder im Heiligtum verzichten kann. Doch lässt sich ja auch für manche zentralen Riten eine Verwurzelung im bewussten Leben aufweisen. Hölderlin hat dies, überraschend und wenig bekannt, aber eindrucksvoll, für das christliche Abendmahl getan. Hat das mit Pantheismus zu tun? Nein. Hölderlin fragt in einem Text, warum haben alle Menschen Religion. Seine Antwort ist die erstaunliche These, dass alle Menschen in dem Bedürfnis leben, eine Erinnerung zu haben und dankbar zu sein. Über die Wurzeln dieses Bedürfnisses wäre vieles zu ­sagen. Es hat eine Weile gedauert, bis ich sah, dass dies auch Hölderlins Verstehen der Eucharistie impliziert. Denn das Abendmahl ist eine Feier der Erinnerung, wenn es heißt: «Tut dies zu meinem Gedächtnis»; und als Eucharistie  – wörtlich ausgedrückt  – eine Dankesfeier für die Erlösung, die man kraft der Auferstehung Jesu erfährt. Das Abendmahl ist konstitutiv für die Religion in der Form einer Gemeinde. Doch es steht dem philosophischen Vollzug von Transzendenz im bewussten Leben nicht entgegen. Dagegen habe ich die Wandlung, die auch noch Luther als physische Wandlung verstand, schon als Kind nicht glaubwürdig finden können. Man kann und muss zweierlei voneinander unterscheiden, was in einem ritualen Akt eng zusammengehen kann: die symbolische Vergegen-

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wärtigung von dem, was für Menschen unbedingte Bedeutung hat und in einem Transzendenzbezug verankert ist, und die von Magie und Zauber nicht gänzlich abgelöste Wandlung und Konstituierung einer spirituellen Gemeinschaft. Das erinnert an die Theorie der Entmythologisierung von R ­ udolf Bultmann, der ein existentielles Angesprochensein suchte; diese sollte die Bibel von mythischen Vorstellungen befreien und so den Glauben dem naturwissenschaftlich erzogenen Menschen der Moderne zugänglich werden lassen. Ich habe Bultmann noch selbst gekannt und sowohl den Forscher als auch die Person in ihrer schlichten Frömmigkeit verehrungswürdig gefunden. In meinen Marburger Anfängen, Ende der 40er Jahre, hörte ich seine Vorlesung und erhielt später über einen Freund Zugang zu dem «Kreis der ehemaligen Marburger (Theologen)», den Schülern von Bultmann, die sich jedes Jahr einmal mit ihm trafen. Über diesen Kreis bin ich auch mit Martin Heidegger zusammengetroffen. Meine Vorbehalte gegenüber Heidegger als Person kontrastierten mit meiner Hochschätzung Bultmanns. Kehren wir in die Zeit Ihrer Jugend zurück. Machte sich der ­Nationalsozialismus in der Kirche bemerkbar? Der Nationalsozialismus war anders als die vom Sowjetmaterialismus fundierte Politik der DDR nicht offen antikirchlich. Hitler hatte mit der katholischen Kirche sogar ein Konkordat geschlossen. Aber es wurde die Doktrin verbreitet, dass das Christentum eine undeutsche Glaubensweise sei. Es seien statt der christlichen Selbsterniedrigung vielmehr Stärke und Härte in der Selbstbehauptung zu erfahren und zu lehren. In der evangelischen Kirche gab es als parteinahe Formation die «Deutschen Christen». Von ihnen hielt sich meine Mutter fern. Ihr Pfarrer Ritter wurde dagegen von den Nazis kaum geduldet und oft bedrängt.



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Vertrat die Partei auch einen Glauben? Im Nationalsozialismus begegnete man einem Kult. In ihm gab es keinen wirklichen Transzendenzbezug, sondern die Suggestion einer letztbedeutsamen Haltung und Erregung herrschte vor, verbunden mit dem Willen zum großen Akt und Auftritt. Das kann anziehend sein, zumal für junge Menschen, weil es ohne viel Hintergrund einen hochfliegenden Gestus ermöglicht. Es gab schon aus früherer Zeit Kultverse, die mir immer zugleich ein Hochgefühl und einen Schrecken einjagten. Wir sagten auch im humanistischen Gymnasium Philippinum Sprechchöre im Sinne des braunen Mythos auf: «Heilig Vaterland in Gefahren / deine Söhne sich um dich scharen.»1 Heilig Vaterland – das hat mich zwar irgendwie erhoben, ich spürte aber sogleich einen Widerstand gegen die Zumutung der Autosuggestion und den implizierten Wirklichkeitsverlust. Weil es sich um eine Instrumentalisierung handelte? Ich fühlte mich in irgendetwas hineingesogen, das unaufrichtig werden lässt. Ich wehrte mich gegen eine politische Religion oder – genauer gesagt – eine bloße Doktrin, die in einer Erhebung durch Unterordnung kulminiert. Dagegen kann ich vielleicht im Blick auf wirkliche Religion sagen: Das Gebet, die Liebe, welche von der Abhängigkeit in Lust und Verlangen unterschieden ist, und die Dankbarkeit  – sie alle enthalten die Freiheit in sich. Unserer Zeit fehlt vielleicht das Bewusstsein davon, dass es solches geben kann und dass es in vieler Gestalt wirklich war und ist. Die Freiheit ist nicht etwas rein Profanes. Sie hat wesentlich eine metaphysische Dimension. Auch darum kann die Moderne gar nicht als nachmetaphysisch definiert werden. 1  Rudolf Alexander Schröder, Deutscher Schwur (1914).

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Die Abhängigkeit von etwas Absolutem ist etwas anderes als die von einem Relativen. Diese Freiheit ist unsere, also von endlichen Wesen, und sie kann deshalb den Grund, von dem her sie ist, nicht so durchdringen, dass es in Beziehung auf ihn demonstrative Erkenntnisse oder unbezweifelbare, evidente Lehrsätze geben könnte. Zugleich habe ich immer versucht, der Religiosität in ihrer ganzen unverkürzten Wirklichkeit zu begegnen. Sie war mir, wie sich hier wieder zeigt, gerade als Thema philosophischen Verstehens wichtig. Auch ein Begriff vom Heiligen lässt sich ja philosophisch fassen (etwa als die ­adäquate Manifestation des einzig Unbedingten in einem Endlichen als solchem) und zugleich zu den Dispositionen des bewussten ­Lebens in Beziehung setzen – aber immer so, dass daraus wohl ein Verstehen, nicht aber ein Geltungsanspruch an unser Leben hervorgeht. Können Sie Ihre Begegnungen mit der Religiosität genauer ­schildern? Wenn auch nur ‹von außen›, das heißt in bestimmten historischen Situationen, aber doch in großer Nähe bin ich zweimal einer Präsenz des Heiligen in der Welt und in personaler Gestalt begegnet. Einmal war dies um Papst Pius XII. (Pacelli) spürbar, dem ich 1951 in Rom begegnete; das andere Mal trug es sich um den 68. Hinduistischen Shankaracharya in Kanchipuram bei Madras zu, den ich dort 1973 kennenlernte. Diese Situationen waren glaubwürdig, besonders die indische; aber in mir selber wollte die Erfahrung von Heiligkeit gleichwohl nicht Platz greifen. Berichten Sie doch bitte davon! Ich reiste 1951, ermöglicht von einem Promotionsgeschenk, ­unter spartanischen Bedingungen mit einer kleinen Studentendelegation aus München nach Rom. Der Papst gab in diesem «heiligen



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Jahr» seinen Osterempfang just für diese Studentengruppe. Die Papstrede auf einem solchen Empfang galt als eine bedeutende ­Verlautbarung. Sie wurde am nächsten Tag auf der Titelseite des L’Osservatore Romano veröffentlicht. Die vatikanischen Würdenträger waren also in Erwartung versammelt. Als nun Pacelli den Raum betrat, knieten zu meiner Verblüffung alle nieder. Ich war der Einzige, der stehen blieb. Ich konnte es nicht über mich bringen. Da war eine Barriere, die mich hinderte, meine Knie zu beugen. Man sollte denken, in so einer Situation erfordert es mehr Kraft, stehen zu bleiben als niederzuknien. Als ich meine Freundin, die mit zur Gruppe gehörte, aber gleichfalls evangelisch war, dann fragte, wie konntest du niederknien, sagte sie: Es war so zwingend und angemessen. Für mich selbst hat offenbar der Totaleindruck einer solchen Szene nicht genügt, dass sich meine Knie gebeugt hätten. Und was geschah in Indien? Ich bin nach Indien wie nach Japan und später auch China immer mit einem Interesse am religiösen und spirituellen Leben gefahren. Das waren die Länder, die auch eine philosophische Tradition besitzen und die folglich eine Religion kennen, die sich in Nähe der philosophischen Betrachtungen und Argumente entfaltet. Es war mir wichtig, das nicht nur durch Lektüre oder in Vorträgen kennen­ zulernen, sondern möglichst an zentraler Stelle im authentischen ­Vollzug. Während einer Vortragsreise durch die Goethe-Institute ­Indiens war ich eine gute Woche in Madras. Dort lehrte an der Universität Professor Mahadevan, der Bücher über die Philosophie des Advaita-Vedanta geschrieben hatte. Diese philosophische Schule legt die hinduistische Grundlehre so aus, dass Brahman, also der Grund des Alls, in Atman, dem Leben der vielen endlichen Seelen, ungetrennt gegenwärtig ist. Letztlich ist «Gott» Einer in Allem und

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insofern Alles auch Eines. Es ist dies eine monistische Philosophie, die aber nicht nur als Philosophie gelehrt wird, sondern eine hinduistische Glaubenspraxis zum Grund und Korrelat hat. Dabei er­ füllen die hinduistischen Götter – Vishnu, Shiva, Ganesha und so weiter  – entsprechende Rollen; es gibt Klöster und Rituale, aber ­zugrunde liegt eine philosophische Lehre. So gab es neben der Universität eine von Professor Mahadevan geleitete hinduistische Gemeinde. – Nun lebte zu jener Zeit in Madras Friederike, die Königin-Witwe von Griechenland mit ihrer Tochter, Prinzessin Irene. Ihr Sohn, König Konstantin II., war nach seinem gescheiterten Gegenputsch vor der nun herrschenden Militärjunta nach England geflohen. Telefonisch hielt die Königin-Mutter Kontakt mit ihrem Sohn und versuchte, ihn zu beraten und zu unterstützen, wieder an die Macht zu gelangen. Das Leben dieser eindrucksvollen Frau, die eine preußische Prinzessin war, verlief in Madras etwas eintönig, weshalb sie philosophische Gespräche mit mir suchte, zu denen sie durchaus fähig war. Friederike war Hinduistin geworden, weil sie diese Religion überzeugender fand als die christliche Glaubenslehre. Mit ihr zusammen durfte ich den ‹Gottesdienst› von Mahadevan besuchen. Sie hatte zwar einen privilegierten Status, musste und wollte aber die rituellen Praktiken der Hindugemeinde mitvollziehen. Eines ­Tages fuhren wir dann mit Autos nach Kanchipuram. An diesem heiligen Ort residiert ein Shankaracharya, der Nachfolger des Shankara ist, des Gründers der Lehre des Advaita-Vedanta. Es gibt an vier Orten solche Shankaracharyas, wobei jener in Kanchi­ puram als der oberste von ihnen gilt. Wir fuhren in der prächtigen Tempelstadt, deren Pracht um den residierenden Shankaracharya gipfelt, jedoch zu einem Besuch seines Vorgängers, der wiederum Professor Mahadevans Guru gewesen war. Er hatte sich der Übung



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gemäß ins asketische Einsiedlerleben zurückgezogen. Das ergibt sich aus der dortigen Personalsukzession: Jeder Nachfolger in dies Amt wird schon als Knabe vom amtierenden Amtsinhaber aufgrund der Eingebung eines Augenblicks bestimmt. Er zieht dann über Jahre lehrend und segnend durch ganz Indien. Wenn der Vorgänger älter wird und etwas gebrechlich, tritt der junge Mann in sein Amt ein, und der Vorgänger beginnt, seinen spirituellen Aufstieg­ zum einen und höchsten Grund in Armut und Askese zu vollenden.­ Der ältere Shankaracharya, Chandrashekarendra Saraswati, lebte in ­einer Holzhütte, eher einem Verschlag, ohne schließendes Dach und ohne Fenster. Er sprach nicht mehr. Über den oberen Rand der Hütte konnte er sein Gesicht zeigen und auf besondere Worte der wenigen Besucher mit seinen Gesichtszügen, etwa einem Lächeln, und zustimmenden Hin- und Her-Neigen antworten. Sein Anblick strahlte offenbar für die, denen er gewährt wurde, eine besondere Machtwirkung aus. Die Besuchsgruppe brachte ihm ein Geschenk mit: eine Taschenlampe. Denn seine Augen sahen schlecht, und es gab in der Hütte keine Elektrizität. Als sein Gesicht erschien, geschah, was meine Erfahrung bei Papst Pacelli in Rom weit überbot: Alle warfen sich zu B ­ oden – jedoch diesmal nicht mit den Knien auf Teppiche oder Marmor, sondern mit dem ganzen Körper im Freien. Dort war der Boden leichtem Dauerregen ausgesetzt. So sah ich die Königin von Griechenland rechts vor mir flach sich auf den matschigen Boden niederwerfen. War das vorgeschrieben oder eine spontane Reaktion? Das war wohl schon vorgeschrieben, Mahadevan tat es auch. Und obwohl ich ebenfalls tief beeindruckt war, blieb ich wieder stehen. Einer, der die ganze geistliche Macht innegehabt hatte, lebt in einer Hütte mit halb offenem Dach. Stellen Sie sich das bei unserem pensionierten Papst Benedikt XVI. vor! – In der Folge kam es aber

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zu einer weiteren Szene, die den Gesamteindruck des Heiligen auf mich noch erhöhte: Eine Dienerin trug zu dem Shankaracharya eine Schale mit seinem Essen, die sie in eine Luke stellte. Sie war in ihrem Sari von großer Schönheit, zumal in ihren harmonischen und ausdrucksvollen Bewegungen. Diese indische Dienerin näherte sich dem Heiligen in einer Haltung tiefster Ergriffenheit und Überzeugung von der Gegenwart des Höheren und der Ehre ihres Dienstes. So etwas lässt sich nicht einüben. Ich hatte im selben Moment den Gedanken: So also muss man sich eine Frau vorstellen, die auf Jesu Frage, wer er sei, bekennend antwortet: «Du bist Christus, des ­lebendigen Gottes Sohn!» Ich habe eine solche gestische Szene nie wieder erlebt. Dies waren die beiden Momente, während derer mir das Heilige vollkommen gegenwärtig schien. Ich konnte mich selbst aber nicht in die Erfahrung hineinziehen lassen. Ich kann nur von außen die Realität des Heiligen bestätigen und suchen, es im Vollzug bewussten Lebens anderer zu verstehen. Zu welchem Ergebnis kamen Sie dabei? Vielleicht geht das Phänomen in seiner Grundbedeutung für eine religiös orientierte Lebensführung auf frühere Epochen der Entfaltung des bewussten Lebens zurück. Jedenfalls hatte diese Erfahrung Folgen für mein Verständnis der Kirche, das heißt der Geschichte und möglichen Gegenwart des Christentums. Es gibt offenbar Religiosität in verschiedenen Modalitäten. Wenn ich an meine Eltern zurückdenke, so spielte eine Erlösung durch Jesus Christus in ihrer Frömmigkeit kaum eine Rolle. Gott ja, und zwar der Gott, in dem die Liebe selbst gründet und ganz verwirklicht ist. Meine Mutter glaubte und wollte mich lehren, dass eine von inniger und hingebungsbereiter Liebe geprägte Lebensführung das Höchste dessen ist, was in der Welt überhaupt erreicht werden kann.



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Gott also nicht als Schöpfer? Dass es einen Grund für das Dasein der Welt geben muss, erscheint ja schon dem alltäglichen Nachdenken als zwingend. Erst Humes Skepsis und Kants Tiefenanalyse des Ursprungs dieser Überzeugung haben den Zweifel an ihr allgemeiner werden lassen. Jeder kann aber noch immer die argumentative Kraft schon in Kinderliedern nachvollziehen: Weißt du, wie viel Sternlein stehen? – «Gott der Herr hat sie gezählet». Es muss doch einen Wissenden geben, dem das Unendliche nicht verschlossen ist. Und die Lieder sagen zudem, dass er kein Ingenieur ist, der sich nur für sein Werk als Ganzes interessiert, und dass man sich ihm anvertrauen kann. Ich habe solche Lieder als Kind mit allen Strophen gern gesungen. Die kindliche Weltbeziehung und Frömmigkeit, die in den Argumenten dieses Liedes anklingen, hat größere Vorgänger inspiriert, so Paul Gerhardt und Matthias Claudius zu ihren Dichtungen. Ein Leben in Frömmigkeit? Paul Gerhardt hatte als Dichter das Glück, einen Komponisten zu finden, der auf der Höhe der Kompositionskunst der Zeit seine Gedichte vertonte und eingängig werden ließ. Wahrscheinlich haben die Kirchenlieder von Paul Gerhardt für den Protestantismus mehr bedeutet als alle Predigten und Dogmatiken zusammen. Die einfachen Gedankenführungen von Matthias Claudius, dieses frommen Journalisten, gehören dazu, der mit seinen Gedichten die Atmo­ s­phäre kindlicher Frömmigkeit auch in Erwachsenen ganz rein aufgehen lassen kann. Deren Werke hatten auch für meinen katholischen Kollegen Robert Spaemann, der vor kurzem starb, eine he­rausragende Bedeutung Betrachten Sie die christliche Lebensführung mit Bewunderung, auch wenn Sie ihr selbst nicht folgen? Mit Spaemann konnte ich über vieles offen sprechen. Er war

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Christ zunächst aus Erkenntnis, die mehrere Wurzeln haben kann. Dagegen hatte ich die christliche Kindheitserfahrung, die dann unter Herausforderungen gestellt worden ist. Vor allem in dogma­ tischer Betrachtung hat das Christentum übrigens wirklich insofern einen Vorrang unter den monotheistischen Religionen, als es der Unbegreifbarkeit des Göttlichen in ganz anderem Maße als die ­übrigen gedanklich Ausdruck zu verleihen vermag. Wie meinen Sie das? Aufgrund der gerade für das Christentum wesentlichen Gedanken über den Einschluss des Endlichen in der Unendlichkeit Gottes kann sich auch ein katholischer Systematiker wie Klaus Müller in Münster als Philosoph meiner Art des Verstehens von Endlichkeit anschließen. Seine Glaubensform ist die des Panentheismus, der nicht das All als solches das Göttliche sein lässt, sondern im All etwas, durch das das All Eines ist. Im 19. Jahrhundert wurde diese Richtung von der katholischen Kirche als H ­ äresie, als Irrlehre, verurteilt. Nun versucht Klaus Müller, ihr wieder Ansehen zu verschaffen. Da ist viel Gemeinsames, aber ich bleibe in der philosophischen Welt, in der man Verheißungen und Verkündigungen auch philo­ sophisch muss einlösen können. Die B ­ ibel ist für mich kein kano­ nisierter Lehrinhalt, sondern umgekehrt ein Ort, an dem man vieles entdecken kann, was die geistige Kraft verständlich macht, aufgrund derer das Christentum zur Weltreligion werden konnte. Wie würden Sie diese Kraft näher beschreiben? Ich sehe diese Kraft konzentriert in einigen Grundaussagen über das Menschsein. Zu ihnen gehören also nicht die Lehren vom Ende aller Dinge, vom Jüngsten Gericht, vom kommenden Gottesreich oder gar von Hölle, Teufel und Erlösung; vielleicht nicht einmal die von der Schöpfung und unvergänglichem seligen Leben. Wohl aber Aussagen, in denen die gesamte Theologie des Paulus oder des



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­Johannes angekündigt und beglaubigt sind. Für Johannes etwa: «In der Welt habt ihr Angst», und dagegengestellt: «Furcht ist nicht in der Liebe». Ihre Position erinnert an Spinoza, den Kritiker eines dogma­ tischen Bibel-Glaubens. Als Philosoph wollte er sich die Freiheit zu subjektiven Spekulationen offenhalten. Dabei respektierte er Religionsgemeinschaften. Spinoza erwartete, dass diese auch die Frömmigkeit des Philosophen in seiner Eigenart achten sollten. Hegel sagt, man sollte nicht den einen Atheisten nennen, der lehrt, dass es nichts anderes gibt als Gott. Spinoza sei Akosmist: Es gibt keinen Kosmos unabhängig von Gott.2 Die Welt ist in Gott. Auch der Panentheismus trägt eine spinozistische Erbschaft in sich. Bei Spinoza oder Hegel ist das höchste Wesen immer auch eine Denknotwendigkeit, aber nicht unbedingt eine Erfahrung. Gott ist zunächst ein Wort. In seinem letzten Brief hat mir Spaemann noch einmal gesagt, er könne sich das Wesen, zu dem man sich wendet, nur als Person vorstellen. Das Gebet, als Bittgebet und das Dankgebet, setzte Gott als vernehmende Person voraus. Das hat mir auf andere Art auch Ernst Tugendhat entgegengehalten: Er würde wohl gern das ‹Gott sei Dank› selbst ernsthaft vollziehen. Er könne es aber nicht, weil er sich Gott nicht als Person vorstellen könne. Also müsse er auf etwas verzichten, das vielleicht ein Letztes der Erfüllung seines eigenen Lebens hätte sein können. In solcher staunenswerter Disziplin zur Aufrichtigkeit liegt doch etwas Zweideutiges. Inwieweit kann meine Fähigkeit zu klar bestimmbaren, in einem theoretischen Grundmuster beherrschbaren Gedanken die 2  «Will man ihn aber Atheismus nennen nur deshalb, weil er Gott nicht von der Welt unterscheidet, so ist dies ungeschickt; man könnte ihn vielmehr ebensogut einen Akosmisten nennen.» (Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, Werke, Bd. 20, Frankfurt am Main 1979, S. 177).

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Instanz zur Entscheidung über etwas sein, worin sich mein bewusstes Leben zu sammeln vermag? Gibt es nicht ebenso die Notwendigkeit, zu etwas wie Abschlussgedanken für alle Vernunftakte zu gelangen, die über die Beherrschbarkeit in Theorien hinausweisen? Dann erhebt sich freilich wiederum die Frage: Ist solches nicht doch nur eine Fiktion? Ich neige dann dazu, zu sagen, dass schon das Verhältnis Endliches zu Unendlichem eine für uns unaufgebbare Selbstbeschreibung ist. Wir müssen unsere Erkenntnis als endlich betrachten und zugleich den Gedanken hegen, dass etwas als wirklich zu denken sein muss, was nicht auf endliche Weise erkannt werden kann. Damit wird es legitim, Grenzgedanken zu entfalten. So macht es Sinn, das Unendliche auch überpersönlich zu verstehen – jedoch so, dass die Weise, wie sich Endliches in ihm als gegründet selbst erfährt, darin eine gültige Fundierung hat. Dann kann der überpersönliche Grund der endlichen Zuwendung in einer Weise entsprechen, die dem endlichen Verstehen zugleich verschlossen bleibt. Ich kann mir so auch den Sinn des Gebetes meiner Eltern aufgehen lassen. Es muss nicht dem Verdacht unterworfen werden, allein auf Einbildung, Trostwunsch und Unterwerfungsbereitschaft zu be­ruhen. Bildet diese Sicht nicht einen Kontrast zum Denken Hegels? Auf der Grundlage der Erkenntnis, dass ein Gedanke vom ‹Absoluten› unabweisbar gefasst werden muss, hat Hegel versucht, eine eigenständige Logik des in sich selbst bewegten Unendlichen zu entwickeln. Damit setzt ein Logozentrismus des Unendlichen ein, der zwar das Endliche nicht herabsetzt, die zentrale und einzig angemessene Beziehung zu jenem Prozess aber in den Vollzug von Gedanken setzt, in denen das Endliche überstiegen wird. Hegel lehrte, dass sich in der denkenden Erhebung zur entfalteten Idee konzen­ trieren müsse, was als bloße Frömmigkeit in noch nicht freigekom-



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mener Form legitim sein mag. Erst der Gehalt der Idee erhebt die, die sie denkend erfassen, in eine eigene Sphäre des Verstehens, das heißt der Einigkeit mit sich und auch der Freiheit. Verwandte Dimensionen in der Frömmigkeit werden von seiner herablassenden Kritik überzogen. Auch die Dankbarkeit gehört zu ihnen. Sein bedeutendster Gegner war Schleiermacher, der umgekehrt die christliche Religion als Ganze in einem Gefühl unbedingter Abhängigkeit gegründet sah. Wir können schon im Blick auf die Oberfläche dieses Konflikts sagen: Um die Gründung und den Vollzug des eigenen Lebens in seiner tieferen Orientierung wirklich angemessen charakterisieren zu können, muss man eine begrifflich differenziertere Betrachtungsart zur Verfügung haben, als sie mit der einfachen Unterscheidung von Gedanke und Gefühl gegeben ist. Ist dort, wo der Mensch sich absolut setzt, für Sie eine Grenze erreicht? Wäre das für Sie eine Anmaßung? Die Szene bei dem Shankaracharya ist mir noch oft Anlass zum Nachdenken gewesen. Denn man kann sich fragen, ob dort nicht eigentlich die Philosophie als Religion praktiziert wurde. Der Shankaracharya, dessen Lächeln zu sehen damals ein Privileg war, hat seine Hütte ein paar Jahre später wieder verlassen und sein Eremitenleben aufgegeben. Er erklärte, er mache einen Schritt zurück im Gange der Verunendlichung seines eigenen Lebens, um andere Menschen Anteil nehmen zu lassen an seinem Wissen. So wurde er wieder zu dem heiligen Lehrer, dem man nun auch im indischen Fernsehen zuhören konnte. Advaita-Vedanta, das sind philosophische Lehren, die aber unmittelbar als Lebenslehre auf dem Weg zur Beseligung realisiert werden sollten. Der Lehrer bezeugt deren Wahrheit und strahlt etwas aus von der in ihr gelegenen Versöhnungskraft. Er sprach wieder, aber er aß nur wenig und erschien in einem alten Pilgergewand. Zu seinen Verehrern gehörte übrigens

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der Dalai-Lama, der ihn mehrfach besuchte. Er sagte über ihn, er sei der einzige wahre Asket des zwanzigsten Jahrhunderts. Ließe sich nicht auch denken, dass die moderne Philosophie wieder religiös wird? Vielleicht hat dem späten Heidegger so etwas vorgeschwebt. In seiner anfänglichen Dozentenzeit lag für Heidegger der Akzent auf dem Verstehen der Dynamik im Menschenleben, in der die Religionen wurzeln. Später ging er von jenem Geschehen aus, das Europa und schließlich den Erdkreis in die Entfaltung dessen einbindet, was sich mit den Grundworten der griechischen Metaphysik zuerst erschloss. Er wollte durch sein Nachfragen in der Moderne eine Besinnung und Umkehr einleiten, die auch die Lebensführung des einzelnen Menschen verändert. In der Konsequenz der Anlage seiner Gedanken muss der Bereitschaft zur Umkehr aber eine neue Möglichkeit des Verstehens aufgehen, die nicht vom Menschen konzipiert sein kann. Darin kann man schon ein Muster erkennen, das ihm von der Selbstbeschreibung einer Religion her vor Augen stand. Ist Religion etwas, wozu jeder Mensch seinen eigenen Zugang hat? Oder gehört zur Religion immer auch eine Gemeinde? Kein Einzelner ist imstande, eine Heilslehre alleine zu institutionalisieren und an viele weiterzugeben. Es muss die Möglichkeit e­ iner Vergegenwärtigung in der Gruppe existieren, es muss eine Tradition gebildet werden können, die man dann reflektieren kann. Andererseits muss jede Religion Erfahrungen in Anspruch nehmen, die den Einzelnen zunächst für sich allein angehen und die ihn aus den Gruppen, denen er zugehört, herausreißen. Ohne sie lässt sich keine Stiftung einer Religion vom Typus der Achsenzeit verstehen. Man kann aber Religion als beschränkt denken auf eine verstehende Orientierung des Lebens von einem Grund her, der dieses Leben sowohl



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beansprucht wie birgt. Sie bedarf dann nicht der Gestalt eines Propheten, Stifters oder Erlösers – nur des Lehrers und Vorbilds. Eine solche Religion kann sich im Leben eines Einzelnen für sich a­ llein bilden  – wozu freilich immer soziale und kulturelle Bedingungen vorausgesetzt sind, unter denen diese Verständigung erst möglich wird. Sofern in der Philosophie als solcher sich eine Religion ausbildet, muss sie wohl von ebendieser Art sein. Nur wird sie sich dann mit ihren Gründen für andere aufschließen wollen. Das schließt wieder nicht aus, dass sie zugleich Anschluss an Gehalte sucht und findet, die in der Heilslehre einer religiösen Gemeinde von zentraler Bedeutung sind. Gibt es für Sie selbst einen solchen Zusammenhang? Meine frühen Lebenserfahrungen wirkten dabei mit, dass schon in der Studienzeit die Spannung zwischen Kants Begründung der Selbstbestimmung und Hegels Kantkritik meine Aufmerksamkeit fesselte. Hegel hatte sich auf dem Wege zu seiner Selbständigkeit zunächst auf die christliche Lehre vom höchsten Rang der Liebe bezogen. Dem entsprach nicht ganz von fern, dass meine Mutter mir oft ihre Überzeugung nahebrachte, liebende Zuwendung sei das Höchste und Schönste im Leben. Sie verkörperte und verwirklichte diese Überzeugung durchaus. Dabei verlangt die Liebe, die zugleich Gottes Wesen definieren soll, nach einem Verständnis, das nicht in den vielfältigen alltagssprachlichen Bedeutungen des Wortes oder der entsprechenden Wörter der griechischen Sprache aufgeht. In der Theologie des Evangelisten Johannes ist Gott, ein unendliches, aber individuelles Subjekt, mit einem Allgemeinen, eben der Liebe, identisch. Man muss dann dies Allgemeine individualisieren und zugleich als einen allbefassenden wirklichen Prozess denken. Wie bringt man das zusammen? Johannes will alle Rätsel mit der plausiblen Bemerkung beiseitesetzen, dass niemand

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Gott je gesehen habe. Das bedeutet so viel wie, dass sein Wesen unausdenkbar sei. Aber jeder könne diese göttliche Liebe in sich selbst und in der Gemeinde als wirklich erfahren. Wer in dieser Liebe bleibe, dem sei nicht nur Gottes Wesen gegenwärtig und vertraut, sondern er sei in seinem Erfahren und Wirken in Gottes eigenes ­Dasein eingeschlossen. Was ist die Bedeutung dieser Liebe? Ist Nächstenliebe gemeint? Die christliche Liebe ist eine komplex gegliederte Art von Verstehen und Verhalten. Zu ihr gehört die stete Bereitschaft zum Dienst an den Bedürftigen – gleich welchen Standes, Stammes und Zustandes. In ihr spürt man zugleich eine freundliche Gestimmtheit gegenüber der Welt und dem eigenen Geschöpfsein, so dass der Christ selbst in abschreckenden Lagen nicht in der treuen Pflichterfüllung aufgeht. Ist dies, was Spaemann «Wohlwollen» nennt? Man kann vieles in der Liebe als Wohlwollen (benevolentia) fassen. Aber einerseits schließt diese Liebe die intime Partnerbeziehung und die reife innige Lebensgemeinschaft durchaus ein. Andererseits ist für die christliche Liebe zudem ein Selbstverhältnis des Menschen konstitutiv. In ihm weiß er sich selbst getragen von einer freundlichen Macht. Die lässt den Christen auch frei dazu werden, sich anderen zuzuwenden. So wird seine freundliche Zuwendung zu fremden Menschen immer ein Zeugnis sein für jene gründende und befreiende Macht. Zu dieser im ganz eigenen und spezifischen Sinne christlichen Gestalt der Liebe gehört dann als zentral der Bezug auf den Opfertod Jesu, in dessen Nachfolge der Christ lebt. Die Liebe ist mit ihm als Selbsthingabe zu verstehen. In seinen Jugendschriften hat Hegel die Liebe als Preisgabe des Selbstseins und zugleich als Vereinigung beschrieben – dies unter Bezug auf die sexuelle Vereinigung und zugleich als Teil des Prozesses des Lebens – im Unter-



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schied zu der Selbstbehauptung des Verstandes, in der nach Kant auch die praktische Nächstenliebe gründet. Erschöpft sich darin die Erfahrung der Liebe? Diesen besonderen Zug im christlichen Verstehen von Liebe konnte Hegel nicht dauerhaft als maßgebend einsetzen. Denn gerade wenn in der menschlichen Paarbeziehung für das Verstehen der Liebe die grundlegende Orientierung gelegen sein soll, geben Hingabe und Vereinigung nur einen unzulänglichen Aufschluss. Zur komplexen Gestalt der Liebe gehört ebenso sehr, dass das Wesen des Anderen nicht mit dem eigenen verschmilzt, sondern sich in seiner Eigenart als unentbehrlich behauptet. Weiter gilt meines ­Erachtens, dass sich jeder Liebende in dieser Beziehung ganz als er selbst findet. Vertieftes Selbstsein und Liebe sind demnach kein Gegensatz. In unserer, in vielem doch noch immer christlich geprägten Kultur ist die Einsicht in diesen Grundzug der Liebe beinahe verstellt. Das Wort «Liebe» hat, da es für etwas für das Leben Zentrales steht, einen weiten Referenzbereich, der komplexen Weisen des Verstehens Raum gibt. Dies sind lebensumfassende Gedanken, die Selbstbestimmung mit der Erfahrung des anderen verknüpfen. In der Theologie des Johannes kulminiert die Liebe zu einer Dreiheit mit Licht und Leben. Es ist interessant, dass diese drei Leitworte in der kulturellen Umwelt des kirchlich gebundenen Christentums immer wieder eine erschließende und unterschiedlich konnotierte Bedeutung angenommen haben. Ein Beispiel ist die Madonna von Stalingrad des Wehrmachtarztes Kurt Reuber. Er hat auf der Rückseite einer russischen Landkarte eine im eisigen Winde halbnackte Maria mit dem Kind gezeichnet und dazugeschrieben: «Licht, Leben, Liebe» – als das, woran man sich auch in der Gewissheit des kommenden Untergangs halten könne. Das

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Original dieser Madonna hängt heute in der Kaiser-WilhelmGedächtnis­kirche in Berlin. Ich war verblüfft, als ich in Weimar am Grab von Johann Gottfried Herder stand und auch auf der bronzenen Grabplatte diese drei Worte wiederfand. Auf seinem Grab schafft die Konnotation nicht die Madonna, sondern die Schlange, die mit i­hrem Körper einen Kreis schließt, indem sie sich in den Schwanz beißt – ein freimaurerisches Symbol von Weltkreislauf und Ewigkeit. Es ist nicht selbstverständlich, über diese Themen so heute in der Philosophie zu sprechen … Ein bedeutender Denker, den ich näher kannte und der philosophierend die Lehre des Christentums zu stützen suchte, war neben dem schon genannten Robert Spaemann der evangelische Theologe Wolfhart Pannenberg. Sie waren beide in kirchenferne Familien ­hineingeboren worden. Die kindliche Erfahrung christlich geprägter Liebe fehlte ihnen somit. So war ihre Orientierung eher die an dem Lehrgehalt des Christentums. Pannenberg und ich hänselten uns gelegentlich mit der Bemerkung, er sei der Philosoph und ich der von einem christlichen Leben Geprägte. Steht dahinter etwa der Gedanke, dass ein Theologe kein Christ mehr sein kann? Nein, die Vermutung ist gescheit, nur nicht zutreffend. Aber für eine Phänomenologie der Liebe, die im Zentrum der christ­ lichen Lehre steht, ist eine frühe Erfahrung der sprachlichen und lebendigen Praxis, die sich an christlicher Lehre orientiert, anscheinend doch die kaum zu entbehrende Grundlage. Ich selbst habe die christliche Lebenspraxis mit fast allen Zügen der johanneischen Liebespredigt, aber beinahe ohne Christologie, welche sie in den Texten des Johannes doch gründet, in der Tiefe erfahren – am unvergesslichsten, als mein Vater starb. Beim Tod meiner



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Mutter hat sich übrigens dies Erleben in ganz anderer Gestalt wiederholt. Wann war das? Im Jahr 1957. Ich war damals bereits dreißig Jahre alt, aber immer noch recht jung. Der Tod hatte in meinem kindlichen Alltag eine untergründige Allzeit-Präsenz besessen. Meine Eltern trauerten immer noch um ihre toten Kinder. Ich konnte in keiner Weise da­ rüber hinwegleben. Der Friedhof war für mich vielleicht ein für ein Kind gar zu häufiger Aufenthaltsort gewesen, so dass die religiöse Dimension des Todes mir oft gegenwärtig war und vertraut wurde. Wie starb Ihre Mutter? Sie litt an Leukämie, die sie zu Tode schwächte. Die geliebte Mutter war zu jener Zeit meine einzige Angehörige. Ich lebte also in der Gefahr, bald ganz allein zu sein, und hatte nur von Angst besetzte Gedanken an ihren kommenden Tod. Sie starb, ohne dass sie noch sprechen konnte. Ich erwartete, dass ich nach ihrem Tod vollkommen niedergeschlagen sein würde. Aber fast das genaue Gegenteil trat ein: Ich erfuhr auf einmal eine tiefe Dankbarkeit dafür, dass sie da war, also für sie und unser (im Unterschied zu meiner frühen Ehe) immer glückliches Leben miteinander. Meine philosophischen Überlegungen über die Dankbarkeit sind von daher motiviert und für mich beglaubigt. Ich hatte es nicht für möglich gehalten, dass im Angesicht des Schreckens des Todes so etwas geschehen könne. Ich war ganz erfüllt von dieser Erfahrung. So konnte ich mit dem Tod meiner Mutter nahezu frohen Herzens umgehen. Dankbarkeit gilt bei den Psychologen als ‹positives Gefühl›. Meine Angst war verschwunden. Ich konnte ins anatomische Institut gehen und mich im Saal der Toten lange an ihren Sarg setzen. Der Wächter bemerkte, dass es kaum jemals vorgekommen sei, dass einer nachgesucht habe, dort bei einem Toten verweilen zu dürfen. Vor der Beerdigung

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blätterte ich des Abends in der Bibel. Mein Auge stieß auf jenen Satz des ersten Johannesbriefes: «Furcht ist nicht in der Liebe» (1 Joh. 4,18). Ich ließ ihn auf ihren Grabstein meißeln. Wie kam es, dass Sie aus diesem Erlebnis eine Theorie der Dankbarkeit entwickelten? Für das anstehende Sommersemester hatte ich schon eine Vorlesung über Religionsphilosophie angekündigt. Ich machte mir klar, dass ich mit dem Tod meiner Mutter gerade eine für die Philosophie höchst relevante Erfahrung gemacht hatte. So verspürte ich die Pflicht, sie vor meinen Studenten nicht zu verschweigen. Wie sind Sie dabei vorgegangen? Ich konnte meine Erfahrung weder angemessen ausdrücken noch in einen Bau von Gedanken eingliedern. Mir fehlten die Mittel, sie in theoretischer Distanz mit meinen Gedanken zu durchdringen. Damit fehlten mir auch die Mittel, sie in der Art ihres Vollzugs und Erfahrenseins gegen die skeptische Destruktion ihrer Motivation von einer Außenperspektive her zu verteidigen  – gegen den Verdacht nämlich, sie sei etwa doch nur eine Weise, die eigene vitale Lebenskraft unter einer extremen Erschütterung zu bewahren. Diese Art der Entlarvung der Erfahrung verbindet sich immer und notwendig mit einem Verdacht gegen jede Ausdeutung der Erfahrung, dass diese nämlich gar nichts anderes als eine Fiktion sein könne. Ich hielt die angekündigte Vorlesung mit Anstand, aber schloss mit der Kontroverse zwischen Kants und Hegels Denken. Beide hatten aus jeweils ganz unterschiedlichen Gründen eine bedeutende Rolle von Dankbarkeit im Vernunftleben bestritten. Für mich hatte es darum zu gehen, meine durchaus philosophische Begriffsbildung für die Tiefenanalyse solcher Erfahrungen subtil genug werden zu lassen. Ich habe fast dreißig Jahre gebraucht, bis ich die Abhandlung über Dankbarkeit schreiben konnte und den nöti-



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gen philosophischen Hintergrund für sie erarbeitet hatte.3 Sie setzt meine anhaltende Bemühung um ein Begreifen von Selbstsein voraus. So schwer ist es, die volle Lebenserfahrung, ihre Tiefen und Ambivalenzen, in rationale Begriffsformen angemessen und aufrichtig zu übersetzen. Könnte man Ihre spätere Philosophie auch aus dem Bemühen verstehen, die frühen Erfahrungen im Denken einzuholen oder haltbar zu machen? Für mich sind stets, wie immer auf Umwegen, die Themen im Spiel, die von früh auf Lebensfragen waren. Was mich schon im Studium als ein Konflikt zwischen Kant und Hegel ins Nach­ denken zog, das kann ich erst jetzt in der Komplexion der Problemlage so durchdringen, dass ich nicht ein gravierendes Ungenügen daran spüren muss. Ich kann aber nicht beanspruchen, dass das, was mich seit den frühen Jahren in Gedanken bewegt, zu einer Lehre werden könnte, die dann, wenn sie verstanden wird, als Rat für das Leben anderer zu gelten hätte. Es ist eine Hilfe zur Durchsicht und Klarheit, die vielleicht dazu befähigen kann, zu einer sowohl durchdachten wie verwurzelten Affirmation des eigenen Lebens zu gelangen. Dass im Leben eine Zustimmung, ein Segen wirksam ist, schließt ü ­ brigens nicht aus, dass das Ende definitiv ist, das heißt ohne eine ­ dieser Erfahrung entsprechende Hoffnung. Dabei sehe ich die Möglichkeit einer Selbstdistanz, die mit der Endlichkeit des Menschen verbunden ist und sich in den Gestalten von Naturalismus oder ­Nihilismus aller Sinnfindung enthält. Das habe ich in meinem Buch Sein oder Nichts näher ausgeführt.4 Deshalb 3  Vgl. Dieter Henrich, Gedanken zur Dankbarkeit, in: Oikeiosis. Festschrift für R. Spaemann, hrsg. v. Reinhard Löw, Weinheim 1987, S. 38–52. 4  Dieter Henrich, Sein oder Nichts. Erkundungen um Samuel Beckett und Hölderlin, München 2016.

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meine Beschäftigung mit Samuel Beckett. Ich meine zu erkennen, dass er immer wieder die nihilistische Pointe evident werden lässt, um zu sehen, ob am Ende doch etwas vor ihr oder in ihr gegen sie standhält – oder nicht. Kann der Philosoph eine Antwort geben? Schon im Philosophiestudium hatte ich niemals das Ziel, die Frömmigkeit zu stärken, sondern mit den Meistern begründen und argumentieren zu lernen. Meine Themen – die Apologie der Subjektivität, ihre Vertiefung, meine Verteidigung der Metaphysik, das Verstehen des bewussten Lebens  – habe ich deshalb rein wissenschaftlich behandelt. Aber zugleich stand ich in einem Bedürfnis und unter einer Pflicht, in den Bahnen des Denkens Schlüsselerfahrungen meines Lebens gerecht zu werden. Die Philosophie kann die Selbstverständigung des bewussten Lebens nicht durch einen Beweisgang stützen, aus dem eine Gewissheit über sein Gegründetsein hervorgeht. Sie kann jedoch sehr wohl aufzeigen, warum der Mensch auf eine Gewissheit, welche die Vollzugsart seines Lebens durchdrungen hat, vertrauen kann. Sie hat sich in seinem Leben und in seinem Bemühen um dessen stimmige Gestaltung, die sich allseitig bewähren kann, selber ausgebildet und gefestigt, und sie lässt ihn nun sein Leben als in einem Ganzen gegründet erfahren, sich so unter solchem Wissen weiter vertiefen oder sein Geschick durchstehen. Es ist immer auch eine Frage des Interesses, welchem Thema man sich zuwendet. Inwiefern passte der Deutsche Idealismus zu den Erfahrungen, die Sie motivierten? Es war mehr der Tiefgang und die Bauart dieser Gedankenwelt, die mich anzogen  – nicht eine direkte Beziehung zu dem, was ich ­erfahren hatte. Die Zeit, in der diese Konzeptionen auftraten, war übrigens auch die Zeit, in der man überhaupt zu fragen begann, wie die komplexe Wirklichkeit einer Religion gedanklich zu erfassen sei.



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Meinen Sie, dass einer Philosophie, die den Stachel der Religion nicht ernst nimmt, etwas fehlt? Es ist nicht notwendig, dass sie sich von einer Religion oder dem religiösen Leben überhaupt in Frage gestellt sieht. Wenn sich ein Philosoph aber umfassend auf die Möglichkeiten und Tendenzen des bewussten Lebens in seinen Gedanken einlässt, wird er nicht umhinkommen, die kulturelle Tatsache der Religionen verstehen zu wollen. Auch ist es möglich, dass philosophische Lehren sich in die Nähe einer religiösen Lebensform begeben. Wir können wohl aus Indien das Bild einer Philosophie mitnehmen, die in Europa keinen Boden mehr hat. Unsere Philosophie ist eine der säkularen Institutionen. Sie war es nicht immer. Die Kirchenväter waren gar keine Philosophen in diesem Sinne. Aber selbst die Evangelisten haben ab und an in den Bahnen der griechischen Weisheitslehren gedacht und zu lehren versucht. Im Verbund der Kirche wurden auch die Grundlagen der platonischen Weisheitslehre tradiert. Im Römischen Reich lebten die Philosophenschulen als solche fort. Man kann zwischen Plotins Schule und der Lehre des Shankaracharya Ähnlichkeiten konstatieren. Aber die Philosophie kann als solche nicht in einen religiösen Kultus eintreten und sich in ihm erhalten. Sie wird immer auf Klarheit der Gedanken, Stimmigkeit und allseitige Abgewogenheit der Begründungen und vor allem mehr auf verstehende Durchsicht des Lebens statt auf Erhebung, Erlösung oder Heiligung des Individuums ausgehen. Die religiösen Themen, die wir besprochen haben, haben einen intimen Charakter. Sie benötigen einen Raum von Vertrautheit, um aufgebracht werden zu können. Wir teilen immer viel von uns selbst mit, wenn wir über das ­sprechen, was uns als Person angehen muss. Daraus ergibt sich die Aufgabe einfühlsamen Sprechens. Man muss solche Gespräche aus

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­eigener gedanklicher Arbeit so führen können, dass sie nicht bedrängen, sondern Freiheit lassen und Durchsicht geben – und das ist schwer. Es gilt, weder wissenschaftliche Ausnüchterung vorzutäuschen noch in einen Predigtton zu verfallen. Damit würde man als Philosoph, der doch immer mit bedrängenden Zweifeln Umgang hat, unglaubwürdig werden. Dazu kommt, dass es auf alle Fragen, die nicht das Verhalten, sondern das Sich-Verstehen an Grenzen ­betreffen, nur tastende Antworten geben kann, die in Erfahrungen und selbst erwogenem Wissen gestützt sein müssen. Als Beispiel dafür mag die Suche nach einer Orientierung am ­eigenen Lebensende gelten. Nicht sehr viele Menschen in dieser Weltgegend werden sich ganz auf die Verheißungen einer Religion verlassen oder sich mit einem Alltagsnaturalismus, der sich auf die evolutionäre Rolle sterblicher Individuen beruft, völlig zufriedengestellt finden. Jeder von ihnen braucht dann ein beträchtliches Maß an Besinnungskraft, wenn er einen festen Stand zu letzten Dingen seines eigenen Lebens zu gewinnen sucht. So möchte man wohl denken können, die mit Unbedingtem verbundene eigene Wirklichkeit sei auch der Vergänglichkeit enthoben, während das Leben, das der Mensch führte, in jeglichem Sinne untergeht. Dann aber stellt sich allererst die eigentlich philosophische Frage, unter welchen ­Voraussetzungen der Gedanke an eine solche Wirklichkeit zu fassen und stimmig zu machen sein könnte. Eine solche Situation lässt uns verstehen, warum in ihr viele ­Menschen in ein Verstummen hineingleiten, in dem Hilflosigkeit, Bewahrung vor Selbstzerfall und Trost in der Erinnerung dominieren. Wenn aber die Philosophie nichts anderes vermag, als es ihnen im Verstummen gleichzutun, so gilt mir das als Symptom ihrer Schwäche und einer Entkernung ihrer Tradition und Aufgabe. Diese Tradition geht von Platon aus. Sie rechnet damit, dass keine höchste



Kindheit und Religion

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Wissenschaft für sich allein eine Einsicht vermitteln kann, welche die gesamte Gedankenbewegung, die im bewussten Leben einsetzt, zu einem ihr gemäßen Abschluss bringt. Sie muss also die Fragen, die sich in ihm auftun, unverkürzt und in deren eigenem Richtungssinn aufnehmen und in einer Verständigungsbewegung zusammenführen. Platon und ebenso Kant haben diese Bewegung als einen Aufstieg in Gedanken von einem Forschungsgang unterschieden. So allein wird die Philosophie die religiösen Erfahrungen verstehen und denen, die von ihnen her denken und leben, etwas für sie ­Bedeutsames sagen können, das diesseits aller Glaubensfragen Bestand hat.

2. Schul- und Studienzeit in Marburg (1933–1949)

Sie sind in Marburg geboren, haben dort die Schule besucht und erste Studienjahre verbracht. Meine Schulzeit koinzidierte mit Hitlers Herrschaft. Ich bin zu Ostern 1933 in die Volksschule gekommen, die Süd-Schule. Sie wurde gerade in «Horst-Wessel-Schule» umbenannt. Zeigten sich bei Ihnen bereits in der Volksschulzeit Anlagen oder Begabungen, die Sie ein Leben lang begleitet haben? Sie unterscheiden einmal den Komplex Ihrer historischen Arbeit von dem eigenen philosophischen Werk. Ich war immer ein tüchtiger Schüler, aber kein Überflieger. Eine Begabung und Motivation zum historischen Teil meiner späteren Arbeit zeigte sich wohl in meiner Freude an der ‹Heimatkunde›. In der dritten Klasse bekam ich in diesem Fach ein «sehr gut», was ­damals selten war. Hinter die Note hatte der Lehrer zudem in Klammern eine «1» mit dickem Ausrufezeichen gesetzt. Mein Vater schenkte mir darauf zu Ostern 1936 die Leinenausgabe der Geschichte der Stadt Marburg von Walter Kürschner. Dies war mein erstes wissenschaftliches Buch, versehen mit Anmerkungen und Literaturhinweisen. Woher kam Ihre Liebe für die Stadtgeschichte? Mein Vater hat die Neigung zur heimatlichen Landschaft sicher befördert. Die Stadt hat durch Schloss und Elisabethkirche ein durchaus monumentales Profil und zugleich doch die Intimität einer kleinen Bürgerstadt am Berghang. Das Schloss auf der Bergspitze steht



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in harmonischem Kontrast mit den gotischen Doppeltürmen der mächtigen Kirche im Tal. Wer auf eine solche Atmosphäre anspricht, wird die Stadt lieben. Ich erinnere mich daran, wie ich einmal, mit elf Jahren, von Kassel allein nach Marburg fahren durfte. Während der Zug im Lahntal bei Cölbe durch die letzte Kurve fuhr und dies Bild der Stadt im Frühdunst der Ebene plötzlich auftauchte, war ich im Nu überströmt von Tränen. Ich war glücklich. Es war die Erfahrung der Rückkehr in das, was mir Heimat geworden war. So bat ich meine Mutter, da wir meinen Vater verloren hatten, nach Marburg zurückzuziehen. Sie tat es um meinetwillen. Vielleicht hatte ich der Beheimatung noch mehr als andere Kinder bedurft, weil ich durch meine langen Krankheitszeiten und durch Monate der Isolation in meinem Selbstvertrauen schwach und körperlich mutlos geworden war. Mit der Liebe zu Marburg war Ihr Bedürfnis verbunden, eigene Wege ihrer Erkundung zu nehmen, mehr vom Ganzen der Stadt zu erfahren. Man kann von einer Stadtatmosphäre berührt werden, ohne sich eingehender mit ihr beschäftigen zu wollen. Aber bei mir erwachte damals auch der Betätigungstrieb; ich wollte in Marburgs Geschichte eindringen, möglichst selbst etwas beobachten und herausfinden. Die Liebe zu Marburg war für mich ein wichtiger Motor für meine Liebe zur Wissenschaft unter Einschluss der Gestimmtheit, die sich aus der intensiven Erforschung einer vergangenen Epoche ergeben kann. Wann wurde Ihnen bewusst, dass Sie die Begabung haben, ein komplexes Ganzes zu durchschauen? Vielleicht wurde mir mein Ordnungsvermögen schon als ganz kleines Kind deutlich, als mich die Marburger Straßenbahn zu faszinieren begann. Es gab zwei Fahrzeugtypen. Die unterschied ich

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als Kleinkind nach den Tönen, die sie von sich gaben, in «Ipp» und «Opp». Marburg besaß damals gerade einmal zehn Wagen auf glatten Schienenbahnen, die neben holprigem Kopfsteinpflaster im eigenen Stil elegant dahinglitten und meine Phantasie in Gang setzten. Nur war die eine Marburger Linie doch viel zu wenig. So träumte ich von vielen Weichen und neuen Linien und von ihren Verknüpfungen und Kreuzungsstellen. Dieses Vorstellungsspiel übertrug sich später leicht auf jedes Straßenbahnnetz von Großstädten, die ich kennenlernte. Gab es auch andere kindliche Leidenschaften, die Ihren systematischen Geist oder historischen Sinn anzeigten? Ich sammelte etwa Zigarettenbildchen von historischen Uniformen, schon in der Vorschulzeit. Überall wurde mir von Verwandten und Bekannten geholfen, denn die Alben mussten vollständig werden. Ich kannte bald alle Staaten und ihre Regimenter, die da abgebildet waren. Für mich war klar, dass man eine Suchaktion auch zu Ende führen muss, um einen entsprechenden Überblick auf dem betreffenden Gebiet zu erlangen. Eine andere Besonderheit Marburgs konnte die Erwägung von weit ausgreifenden Gedankenbahnen und Weltauslegungen nahe­ legen. Marburg war einmal eines der wichtigsten Pilgerziele der gesamten Christenheit und ein Ort zahlreicher Klöster gewesen. Und dennoch wurde es ein Zentralort der Reformation mit der ersten protestantischen Universität der Welt. Es lag nahe, sich für den Streit zwischen den christlichen Kirchenlehren zu interessieren. Und dies Interesse dehnte sich von Beginn an auf jegliche Weltauslegung aus, mit der ich bekannt wurde. Darin lag schon die Bereitschaft zu Gedankengängen, die auf ein Ganzes und Grundsätzliches gehen und Anstoß und Anlass zum Verstehen und zur Ordnung des Menschenlebens geben.



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Ihre Kindheit fällt in die Zeit des Nationalsozialismus, in der nationale Gefühle vielfach missbraucht wurden und ideologische Vorstellungen vom Ganzen entwickelt wurden. Der Kult um den ‹Führer›, der aus dem Volke selbst kam und als einfacher Gefreiter ein Held war, nun aber neben dem alten Feldmarschall stand, hat auch mich angerührt. Kaum war die erste Schulwoche vorbei, da zog ich als Sechsjähriger mit der ganzen Volksschule auf eine Straßenkreuzung, um eine Rede ‹des Führers› zu hören. Der Radioapparat dröhnte aus einem offenen Eckfenster. Die Schule selbst hatte noch keinen. Ich habe später das Parteiprogramm genau gelesen, das wenig mit deren wirklichem Handlungsprofil zu tun hatte. Gewiss war der Nationalsozialismus eine Weltanschauungspartei. Als Bewegung setzte er die soldatische Disziplin, die Niederkämpfung des Kommunismus und den Wiedergewinn ­nationaler Selbstachtung ganz nach oben. Waren Sie in den obligatorischen Jugendorganisationen? Ja, meine Eltern schickten mich schon, als es noch nicht Pflicht war, zum Deutschen Jungvolk. Ich sollte als Einzelkind unter Kinder kommen. Die Jugendlichen auf der Straße waren ihnen zu verdächtig. Sie fanden es auch gut, dass im Jungvolk Jungen aus verschie­ denen sozialen Gruppen zusammenkamen, dass die Bürgerkinder aus dem Südviertel und die Kinder der Bauern aus Ockershausen derselben Gruppe angehörten. Wie sah das Leben im Jungvolk konkret aus? In meinem ersten ‹Dienst› lernte ich Kanon singen. Überhaupt singen, immer wieder neue Lieder mit anderen historischen Bezügen. Die ergänzten die vielen Formen des Soldatenspielens, darunter das Sich-Orientieren in der Landschaft mit Messtischblatt und Kompass, Zeltbau, Winkernachrichten, weite Wanderungen (‹Fahrten› genannt) und Lagerleben, auch mit großangelegten Wettspielen

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aller Art. Das Ganze war von einer Melange von Abenteuer, Kompetenzgewinn und Ordnungsstolz durchzogen. Sie sollten in der Aneignung der ‹Ideen› Hitlers kulminieren, welche alle Eigenschaften einer leicht verständlichen, suggestiv auftrumpfenden Sektenlehre hatte. Die verehrten Heroen der von ihm repräsentierten ‹Bewegung› waren zunächst die Gefallenen des Ersten Weltkrieges und der ‹Kampfzeit›, die dann freilich bald hinter die Kriegshelden von Hitlers eigenem Krieg zurückgestellt wurden. Zudem bot das Jungvolk gegenüber der Schule die Möglichkeit, einen Rang zu erhalten und diverse Leistungsabzeichen zu erwerben  – so auch für Segel­ fliegen und Schießen. Das Ganze hatte etwas Frisches, Unternehmensfrohes. Scheinbar regierte sich die Jugend wirklich selbst, noch die obersten Vorgesetzten waren ganz junge Leute. Es war eine Welt ohne Erwachsene  – ganz anders als die Schule mit ihren in einer Wissenschaft vor langem einmal ausgebildeten Erziehern. Es gab auch Hilfsdienste, die im Vorfeld des Krieges schnell zunahmen. Zunächst sammelten, zum Beispiel, Jungen und Mädchen in Uniform für das Winterhilfswerk mit Sammelbüchsen und hatten dabei Abzeichen und Figürchen für Weihnachtsbäume zu verkaufen. Lag darin ein Erbe der früheren Jugendbewegung? Es wurde vieles aus dieser Tradition übernommen, auch die Einfachheit des Lebens und die Naturverbundenheit. Aber das militärische Leitbild stand der erwünschten Lockerheit doch immer auch entgegen. Wie kamen Sie mit dem Militärischen zurecht? Ich war ein sehr unsportlicher Knabe; dramatisch ersichtlich darin, dass ich Nichtschwimmer war. Viel später erst habe ich mir diese Schwächen weggearbeitet, habe als Ordinarius in Heidelberg das Schwimmen gelernt und als Reiseziel Kriegs- und Krisengebiete, etwa Vietnam, bevorzugt. Als Folge meiner überlangen Krankheitszeiten



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fiel an mir als Heranwachsendem offenbar eine habituelle u ­ nsportliche Verzagtheit auf. Schon von daher hatte ich kaum eine Chance, in Hitlers Jungvolk eine Position als ‹Führer› zu erlangen. Ich hätte selbstredend gern solche Erfolge erzielt – um mein Selbstbewusstsein aufbauen zu können und darin Bestätigung zu erfahren. Schließlich kam ich auch zu einer ganz militärfernen Funktion, welche die entscheidenden Fähnleinführer offenbar als gerade mir gemäß empfanden: als Bibliothekar eine Bibliothek aufzubauen und später als Adjutant in größerem Rahmen die Akten des Jungvolks zu bearbeiten. Haben Sie damals etwas von der Verfolgung der Juden gewusst? Ich kannte persönlich nur einen Juden, den Kohlehändler der ­Familie während meiner frühen Jahre. Ich hatte es gern, wenn er kam, und nannte ihn Onkel, verlor ihn aber aus den Augen, als ich vier Jahre alt war, weil wir damals umzogen und er nicht mehr für uns zuständig war. Als nach der Weimarer Republik die Juden rasch und zunehmend sozial an den Rand gedrängt wurden, lehnte meine Mutter es ab, dass man Menschen so ausgrenzt und unter Druck setzt. 1934 gab es schon erste diffamierende Ausgrenzungsappelle wie «Kauft nicht beim Juden!». Zu Hause habe ich nie ein unfreundliches Wort über Juden gehört. Mein Vater, der damals noch lebte, äußerte seine Kritik an dieser vom Staat gestützten Gewalt gegen einzelne Bürger so: «Sie waren doch meine Kameraden», nämlich an der Front im Ersten Weltkrieg. Aber er war Beamter und riskierte nicht, durch lauten Protest uns alle zu gefährden. So blieb nur die Hoffnung, dass sich das ändern werde. Vermutlich kam das Thema Juden doch auch im Jungvolk vor? Ich habe die Vorstellung gehabt, dass es zum Jungvolk nicht essentiell gehöre, antisemitisch zu sein. Das war natürlich ein beschö­ nigender Irrtum. Er hätte sich kaum bei einer ernsthaften Lektüre der hasserfüllten Tiraden in Hitlers Mein Kampf behaupten können.

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­Sogar die sogenannten Halbjuden wurden ja bald von der Schule verwiesen und konnten auch nicht im Jungvolk bleiben. Ich bin damals zum Fähnleinführer gegangen und habe gesagt, das dürfe nicht sein, sie gehörten zu uns. Was war seine Antwort? Er zeigte sich ganz hilflos. Er verwies auf seine Befehle, hat mich aber keineswegs hinausgeworfen. Er war ebenso wenig einverstanden wie Sie? Er tat, was er tun musste, jedenfalls nicht gerne. Das war in der Schule nicht anders! Die Lehrer haben es geschehen lassen, um dann aber den ehemaligen Schülern sogar manchmal privat zu helfen, den Bildungsanschluss nicht zu verlieren. Haben Sie den entlassenen jüdischen Schüler noch einmal ge­ sehen? Ich habe ihn am selben Tag noch besucht und ihm gezeigt, dass wir das nicht wollen. Andererseits wollte ich deshalb das Jungvolk nicht etwa verlassen. Ich legte mir die Situation notdürftig zurecht, indem ich mir sagte, dass der Antisemitismus ein ‹Fehler›, kein konstitutives Element des Regimes sei. Der seinerzeit aus der Klasse verwiesene Schüler rechnete sich selbst nach dem Kriege übrigens ihr wieder zu. Kam bei Ihnen einmal der Verdacht auf, dass das politische ­System etwas grundsätzlich Unmoralisches an sich hat? Spätestens seit der «Reichskristallnacht». Wir erlebten sie noch in Kassel; und dort kam es im Unterschied zu Marburg zur demonstrativen Schändung der Synagoge: Die Thora-Rollen lagen auf die Straßen gezerrt herum. Meine Mutter war entsetzt. Sie sagte erregt: «Das werden wir büßen müssen» – die Schändung eines Gotteshauses und die Demütigung seiner Besucher. Mir ging dieser moralische Makel nicht mehr aus dem Sinn. Und er brach sich Bahn, als



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Deutschland durch den Sieg über Frankreich sich selbst im Triumph feierte. Damals zogen Einheiten der Wehrmacht auch am Schulhof des Gymnasiums vorbei, von Menschenscharen bejubelt und mit Blumen auf ihren Kübelwagen. Ich konterkarierte die Szene auf dem Schulhof. Der Mut dazu kam mir auch aus dem Bewusstsein: du bist erst dreizehn Jahre alt – du hast nicht viel zu fürchten. Was genau war geschehen? Ich vertrat lauthals die These, dass wir kein moralisches Recht hätten, den Krieg zu gewinnen – eine Ansicht, mit der ich mich dem anschloss, was seit 1938 die Überzeugung meiner Mutter war. Bestärkt hatten mich noch Bemerkungen eines Geistlichen der SteinerGemeinde, der aus einem Konzentrationslager entlassen worden war. Er durfte nichts erzählen, sagte aber doch, dass es furchtbar gewesen sei – eine brutale Demütigung. Das alles war noch lange vor dem Plan zur Ermordung der Juden Europas. Und Sie konnten unter Schülern ohne Widerspruch einfach so reden? Es ging doch nicht so beiläufig ab, wie ich es mir gedacht hatte. Wohl aus dem Schülerkreis heraus ging eine Denunziation bei der Bannführung der Hitlerjugend ein, dass ich so etwas auf dem Schulhof sage. Es war wohl eher eine freundlich gemeinte, gleichwohl doch erschreckende Denunziation. Etwa so: «Der Dieter redet sich um Kopf und Kragen, also müsst ihr da oben mal auf ihn einwirken!» So wurde ich, der kleine Jungvolk-Bibliothekar, zum Bannführer höchstpersönlich, dem obersten Marburger Führer, beordert. Er war wohl gerade einmal zwanzig Jahre alt und, als Soldat dekoriert, mit verwundeter Hand nicht mehr dienstfähig, aus der Armee entlassen. Er horchte mich zunächst ein wenig aus, wo ich all das wohl herhaben mochte, was mich dazu bringt, so zu reden. Da ich darüber

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nichts sagen wollte, bemerkte er zu meinem Schrecken, er könne den, der so rede, von der Schule verweisen lassen, fügte aber alsbald hinzu, er werde das natürlich nicht tun, und erklärte es, großzügig und etwas herablassend, so: «Du hast das sicher von deinen Tanten. Man soll aber nicht nur nachsagen, was man von Tanten gesagt ­bekommt. Du kannst ja gar nicht wissen, ob wahr ist, was du da erfahren haben willst.» Dann fuhr er zu meiner völligen Verblüffung so fort: «Aber ich will dir sagen: Vieles von dem, was du da sagst, stimmt. Nur: Du ziehst die falsche Schlussfolgerung. Du sagst, wir müssen den Krieg verlieren, weil da so manche Schweinereien bei uns geschehen. Ich sage dir dazu meine Meinung und die richtige Schlussfolgerung: Wir müssen den Krieg gewinnen; denn wenn wir ihn verlieren, dann bricht unser Land gänzlich auseinander. Und wieder sind viele umsonst gefallen. Auch du kannst das doch nicht wirklich wollen. Darum ist zu folgern: Wir müssen selber, und zwar nach dem gewonnenen Krieg, für die Veränderung dessen sorgen, was bei uns im Argen liegt – wir, die Jungen.» Und dann kam noch die wichtigste Wendung: «Denk mal drüber nach, sag nicht, was die anderen erzählen, du musst nur sagen, was du dir selbst klargemacht hast.» Mit dieser Ermahnung war ich entlassen. Dies war tatsächlich das erste Mal, dass einer das sapere aude!, Kants Forderung, selbst zu denken, von dem ich doch noch gar nichts wusste, an mich ergehen ließ, in welcher Absicht auch immer. In einer imposanten Naziuniform gab er in einer überraschenden Verknüpfung dem Kantischen Imperativ zum Selbstdenken und ­einem separaten Selbstbewusstsein der Hitlerjugend im Ganzen des Regimes Ausdruck! Die Aussicht, auf die er da anspielte, war zwar illusionär, und sein Appell an die Selbständigkeit des Denkens hätte mich letztlich in das Gegenteil solcher Selbständigkeit hi­nein­ge­



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drängt. Und doch erfuhr ich die Art, wie man mit mir in dieser brenzligen Lage argumentierte, als gänzlich verschieden von dem, was ich erwartet hatte. Sie war für mich in der Marburger Um­gebung – auch der Schule – ganz und gar neu. So war ich sowohl erleichtert wie betroffen, aber auch nicht wenig beeindruckt. Auch von solcher Seite konnte man also eine Stimme vernehmen, die ein für die Philo­ sophie wesentliches Prinzip geltend machte: Mut zur Eigenständigkeit im selbst erworbenen Urteil, das dann folgerichtig bleiben muss und so verlässlich zu sein vermag. Durch ihn ist an mich zum ersten Mal in meinem Leben ein Aufruf ergangen, nicht irgendeine bestimmte Wahrheit mir zu eigen zu machen, sondern nur den e­ igenen, selbständigen Einsichten zu folgen. Die moralischen Skrupel, die ich mit meiner Mutter teilte, hat er etwas gedämpft, in der Substanz allerdings sogar eher bestätigt. Nur war mir später diese Bilanz zu Ungunsten Deutschlands ohnedies nicht mehr so eindeutig, nachdem ich bei dem Hilfseinsatz nach der Zerstörung Kassels durch die Engländer die aufgehäuften zivilen Bombenopfer gesehen hatte. Jeder wusste damals von der schändlichen Behandlung der jüdischen Nachbarn, aber doch noch nicht von dem barbarischen Massenmord an ihnen. Wir wollen von der erstaunlichen Erfahrung mit dem Bannführer doch noch einmal zurückgehen: Wie hatte sich Ihre Situation verändert, als Sie 1937 in das humanistische Gymnasium Philippinum kamen? Wie war die Haltung der Lehrer zum National­ sozialismus? Die Schule war überhaupt nicht nazistisch. Es war wirklich ein sehr lokales Marburger Wunder, dass es das gab. Es war kaum ein Parteigenosse unter den Lehrern, und bestimmt ging von den wenigen auch keine Indoktrination aus. Allerdings gab es auch keine Aufklärung. Was es gab, waren unterschiedliche Erklärungen des-

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sen, was man für richtig halten sollte, wobei dies etwas durchaus anderes sein konnte als das, was vom Regime offiziell vorgegeben war. Mein Klassenlehrer, der mit Latein, Griechisch, Geschichte und Religion vier Fächer zugleich unterrichtete, war Monarchist, und zwar bekennender. Er erklärte, dass er dem Führer vor allem vorhalten müsse, dass er nicht den Kaiser zurückrufe. Überhaupt war die kaiserzeitliche Atmosphäre durchaus noch dominant. Lasen Sie im Griechischunterricht auch Texte der klassischen Philosophen? Nein, der Griechischunterricht, den wir genossen, war so etwas wie ein Teil des Geschichtsunterrichts, und zwar der Kriegsgeschichte. Man kann die meisten griechischen Texte, die das ­Unterrichtsprogramm ausmachten, tatsächlich als Teil der Militär­ geschichte abhandeln, angefangen von Homer über Xenophons Anabasis bis zu Thukydides – alles Kriegsbücher. So konnte man also das griechische Erbe wilhelminisch absorbieren. Und man konnte dann die Schlachten und die Strategien, etwa Marathon, vergleichen mit Cannae und Leuthen und mit der Marne-Schlacht. Über sie wollte der Klassenlehrer gerade ein Buch schreiben. Platon kam also nicht vor? Doch, aber in einer wilhelminischen Version. Im Griechisch­ unterricht lasen wir Platons Kriton, aber nicht primär mit Bezug auf Platon, den Philosophen und Begründer der Ideenlehre. Dessen Sokrates diskutiert in diesem Text mit seinen Anhängern nach seiner Verurteilung über die Frage, ob man aus dem Gefängnis fliehen dürfe. Aus der Ablehnung des Sokrates wurde von unserem Lehrer der Schluss gezogen: Wo der Staat einen hinstellt, da muss er auch stehen bleiben. Platons Lehre unterstütze also die des Kaisers. Gab es Lehrer, die Sie mehr beeindruckten? Ja, vor allem Dr. Wilhelm Anz, der ein christlicher Existential­



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philosoph und als solcher vor allem ein subtiler Menschenfreund und -lehrer war. Er war nur wenig über dreißig Jahre alt, hatte über Kierkegaard gearbeitet und kannte die klassische deutsche Philosophie gut. Er war mein Deutschlehrer im ersten gymnasialen Schuljahr. Ich war also in der Sexta, somit zehn Jahre alt, und habe, ohne irgendetwas von seinem Hintergrund zu ahnen, sogleich Bewunderung und Zuneigung für ihn empfunden. Man spürte, er wollte die Schüler mit den eigentlichen, den zentralen Lebensproblemen vertraut machen, das aber in einer vergeistigten Durcharbeitung. Und er gab den Schülern immer wieder eine Möglichkeit zu eigener Gestaltung. Als er später einmal aus einem längeren Militärurlaub zurückkam und in der schäbigen Alltagsuniform des einfachen Soldaten für mehrere Wochen den Deutschunterricht übernahm, war ich geradezu glücklich. Seine Fähigkeit, die Sphäre eines ‹geistigen Lebens› aufgehen zu lassen, unterschied sich auch von dem demons­ trierten Sarkasmus des Mathematiklehrers, den dieser nicht nur gegenüber den Schülern, sondern auch gegenüber dem Regime an den Tag legte. Am Anfang des Unterrichtstages mussten die Klassen damals stehend und durch Armerheben den Hitler-Morgengruß ­ ­erbringen. Besagter Mathematiklehrer sagte dann, wenn er die erste Stunde zu unterrichten hatte, indem er den stumm ausgestreckten Arm langsam zu Boden sinken ließ: «Setzt euch!» Das war seine Form, den «Deutschen Gruß» in eine andere Geste umzuwidmen. Jeder verstand das, und das wurde auch, als eine Art von listigem Witz, durchaus mit Respekt quittiert. Aber gegenüber einer auf allseitig kritische Attitüde begründeten Weltbeziehung, die sich dann auch in seinem Unterricht umsetzte, gegenüber einem monarchis­ tischen Kaiserpathos, gegenüber einer kultivierten Frankreichseligkeit des Direktors erschien mir in Anz allein die eigentlich geistige Lebensführung verkörpert zu sein.

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Hat Wilhelm Anz, der später an der Kirchlichen Hochschule in Bethel als Philosophischer Ordinarius lehrte, so dass Sie beide Kollegen wurden, Sie auch auf philosophische oder gar theolo­ gische Texte hingewiesen? Kein Wort! Selbst das Wort «Philosophie» fiel nicht. Aber auch ohne das war zu spüren, dass er aus einem philosophischen Hintergrund lehrte. Das zeigte sich etwa daran, dass er uns Phänomen­ beschreibungen anfertigen ließ. Die damalige Existentialphilosophie verstand sich ja als über Heidegger von der Phänomenologie her entstanden. So führte er durch eine sprachliche Übung in die Phänomenologie ein. Sodann wurden, was nicht im Lehrplan des Deutschunterrichts stand, Shakespeares Tragödien gelesen und analysiert. Damit war die existentialistische Position in der Philosophie ins Spiel gebracht  – über das Tragische des Lebens, das sich nicht in der gleichen Weise nur als Phänomen beschreiben lässt. Und was Anz zu sagen wusste, berührte mich wie ein Hauch aus ­einer anderen, mir noch entzogenen Welt. Demgegenüber war die gesamte andere Schulzeit, ebenso wie deren politische und kulturelle Umgebung, irgendwie unwirklich. Welche Erinnerungen haben Sie an den damaligen Schuldirektor Kurt Steinmeyer? Kurt Steinmeyer war ein ganz anderer Mensch als Anz, er hatte einen milden und eleganten Intellektuellen-Habitus und strahlte eine Atmosphäre von Gelassenheit aus; er war von einer bedeckten Nachdenklichkeit, einer aufmerksamen und zugleich ein wenig ano­ nymen Freundlichkeit. Ich habe seine warme, gedämpfte Stimme noch im Ohr, und ich sehe seine Gesten mit der verwundeten Hand aus dem Ersten Weltkrieg noch vor mir. Nicht militärische Diszi­ plin, sondern die Verhaltensart eines gebildeten humanistischen Bürgers kam in seiner Erscheinung und Umgangsweise recht überzeu-



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gend zum Ausdruck. Intellektuelles, so wie von Anz, auch implizit Intellektuelles, ist von ihm aber für mich nicht ausgegangen. Ich hatte ihn allerdings auch nicht als Lehrer in prägenden Situationen. Später habe ich gelegentlich Latein bei ihm gehabt  – und immer Französisch. Französisch war die vierte, die letzte Sprache in dieser Schule, in den Mittagsstunden, oft schon unterbrochen durch Fliegeralarm. Im Französischen, da lebte Steinmeyer als Individuum auf. Er liebte Paris, er liebte die französische Sprache und Geistigkeit und versuchte von beidem so viel, wie ihm möglich war, zu vermitteln. Das war aber nichts Spezifisches nur für die besondere Marburger Intellektuellengruppe um Rudolf Bultmann, mit der er befreundet war und der er wohl auch zuzuzählen ist. Man kann ­sagen, wenn man Frankreich bewunderte und die französische Lebensart hochhielt und von ihr viel vermitteln wollte – das war nicht unbedingt etwas Regime- oder Kriegskritisches; denn die Bewunderung für Frankreich war sogar im Krieg allgemein. Aus dem Lateinunterricht erinnere ich mich, dass er gelegentlich Freud zitierte, und zwar bei der Vergil-Lektüre in Beziehung auf die Traumdeutung. Das verstand sich damals gewiss nicht von selbst. Aber dies wusste ich nun wiederum damals noch nicht. Ich wusste wenig von Freud, und ich wusste auch nicht, dass Freud Jude war. Dass man intellektuelle Avantgarde-Leistungen, die von jüdischen Autoren stammten, mit Zustimmung und Neugier erweckend in der Schule oder auch im privaten Leben vorgeführt bekam, das hatte jedenfalls in Marburg kaum eine besondere demonstrative Bedeutung. Und auch Steinmeyer kam nicht ganz umhin, uns gestützt auf klassische Zitate die Süße des frühen Todes für das Vaterland zu predigen. Gab es etwas, was Ihnen an der Schule fehlte, was Sie aber im Jungvolk fanden? Es fehlte vollkommen daran, dem Selbst-gestalten-Wollen der

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­Jugendlichen, was Erikson den «Werksinn» nannte, von sich aus entgegenzukommen. Unterrichten war fast alles. Nur Dr. Anz wusste es damals schon besser. Er ließ uns, als wir Andersens Märchen von Des Kaisers neuen Kleidern lasen, Szenen daraus in Konkurrenz miteinander theatralisch aufführen. Gegen den reinen Frontalunterricht der Schule standen mir im Jungvolk interessante Möglich­ keiten und Aufgaben in Aussicht. Auch deshalb wollte ich mich dort etablieren – zusätzlich zu dem Motiv, mich unter den Jugendlichen anerkannt zu sehen. Und das hatte ja für mich die besondere Seite, dass ich in vielen Punkten mich körperlich nicht leistungsfähig glaubte und das ausgleichen wollte. Üblicherweise trat man damals als Gymnasiast aus dem Jungvolk aus und in die Hitlerjugend ein. War das bei Ihnen auch so? Nein, ich konnte mit meinen Verwaltungsaufgaben im Jungvolk bleiben. Ich machte dort sogar bald eine weitere Karriere. Wie kam das? Es hing mit der Kinderlandverschickung zusammen, die das ­Regime Anfang 1943 aufgrund des Bombenkrieges einführte. Das war nun eine Situation, in der die Organisation der Hitlerjugend auf neue Weise in Erscheinung zu treten hatte. Es kamen die Schulklassen von bedrohten Großstädten in Landgebiete, wo noch die Versorgung gesichert war, und zwar zusammen mit einem Lehrer. Aus der Region, in welche die Verschickten kamen, wurde jeweils auch ein Jungvolkführer in die Kinderlandverschickung delegiert. In dieser Situation bestimmten nunmehr die Schulen und nicht mehr die Hitlerjugendführung allein, wer da hingehen sollte. Das Marburger Gymnasium hatte zwei Schüler zu benennen, denen eine sehr lange Zeit ohne Schulbesuch nicht zu sehr schaden würde. Steinmeyer benannte mich mit einem anderen Schüler einer etwas höheren Klasse. Voraussetzung war, dass wir wenigstens einen ge-



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wissen Jungvolk-Rang hatten. So erhielt ich mit meiner Vergangenheit als Jungvolk-Bibliothekar und -Adjutant durch Steinmeyers Entscheidung nun die außergewöhnliche Stellung eines Fähnleinführers, und zwar unter Umgehung der Marburger Hitlerjugend direkt von der Zentrale der Kinderlandverschickung in Hessen. ­ Und so begründete ausgerechnet der liberale Direktor Steinmeyer meine eigentliche Jungvolk-Karriere! Denn als ich aus der Kinderlandverschickung nach einem halben Jahr zurückkam, hatte ich diesen Rang, der mir nicht mehr zu nehmen war. Welche Erfahrungen haben Sie als Fähnleinführer in der Landverschickung gemacht? Ich war während dieses halben Jahres bei einer Bremer Volksschule aus einem Arbeiterviertel, bei der ich mehr, vor allem aber anderes lernte, als in dem halben Jahr Gymnasium Philippinum möglich gewesen wäre. Mir ist das unvergesslich. Denn es war die einzige Erfahrung meines Lebens, die ich mit Proletarierkindern machte, mit denen ich unter einem Dach den Alltag zu teilen hatte. Beispielsweise waren sie im Unterschied zu mir sexuell völlig aufgeklärt. Als ihr Führer durfte ich mir dies natürlich nicht anmerken lassen. Man traute mir auf diesem Gebiet also wer weiß was alles zu und forschte mir gerne, aber vergeblich nach. Manche übten untereinander homosexuelle Praktiken aus, die ich verhindern musste, ohne recht zu wissen, was diese Praktiken eigentlich waren. Dabei wurde ich bei den Bremern allmählich sehr beliebt. Denn ich appellierte an das Erfolgsstreben der Jungen, gab viele Gelegenheiten, sich aktiv zu betätigen, reduzierte den Kommandoton und den üblichen Leerlauf. Ich hatte vorher noch nie vor einer Marsch­ kolonne gestanden und Kommandos gegeben, brachte das aber zu meiner eigenen Überraschung schnell hin und war im Übrigen in der Gestaltung meines Umgangs mit den Bremern völlig eigenbe-

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stimmt. Für die war ich wohl auch der erste Gymnasiast, mit dem sie engen Kontakt hatten. Ihre Zustimmung und Anhänglichkeit hat meinem zuvor gedrückten Selbstbewusstsein einen sehr erheb­ lichen Auftrieb gegeben. Vor fünfzehn Jahren gab es einige öffentliche Erregung über die Aufnahme von Prominenten Ihrer Generationsgenossen in die ­NSDAP, an die sie sich nicht erinnerten. Haben Sie einen Antrag zur Aufnahme gestellt? Schon vor vielen Jahren habe ich Ihnen im Rahmen Ihres Buches über die «Marburger Hermeneutik» erzählt, dass ich Anfang 1944 während einer so genannten Führerbesprechung zusammen mit vielen anderen vom obersten Geschäftsführer der Hitlerjugend einen Antrag zur Aufnahme in die Partei ausgehändigt erhielt.5 Ich habe ihn ausgefüllt und unterschrieben  – mit ungutem Gefühl, denn die real existierende Partei war auch in Marburg nicht beliebt; ihre Leitung sogar der Korrumpierung verdächtig. Die Anträge wurden wieder eingesammelt und im Bündel weitergereicht  – offenbar auf einen langen Dienstweg. Denn ein Parteibuch traf niemals ein. Als wir die Anträge abgaben, war für uns der achtzehnte Geburtstag noch weit entfernt, und ich dachte, dass man bis ­dahin jedenfalls nur ein Anwärter der Partei sein würde. Dass die Anträge, obwohl wir, als wir sie stellten, gerade erst siebzehn Jahre alt geworden waren, noch vor Kriegsende realisiert worden sein müssen, ist mir erst nach dem Krieg bekannt geworden. Damals wurden die Fragebogen, die Studien­bewerber auch in Marburg ein­reichen mussten, von den Amerikanern an Hand der eben aufgefundenen Mitgliederkartei

5  Vgl. «Was ist verlässlich im Leben?», Gespräch mit Dieter Henrich, in: Matthias Bormuth, Ulrich von Bülow [Hgg.], Marburger Hermeneutik zwischen Tradition und Krise, Göttingen 2008, S. 13–64, hier S. 17 f.



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überprüft. In meinem hatte ich mich als Anwärter der Partei bekannt. Das wurde akzeptiert. Im Übrigen hat dann die Jugend­ amnestie den Weg in eine Zukunft in Freiheit aufgetan. Sie galt für alle, bei denen die Nachforschungen ergeben hatten, dass ihnen ­wegen ihres individu­ellen Verhaltens nichts vorzuwerfen sei. Dem Geburtsjahrgang nach gehören Sie zur Generation der Flakhelfer. Wurden Sie gegen Kriegsende noch zum Wehrdienst eingezogen? Meine Klasse wurde während meiner Delegation in die Landverschickung zu den Luftwaffenhelfern eingezogen. Dies hatte ­einen doppelten Vorteil: Ich war zu einem beträchtlichen Rang aufgestiegen und zugleich um diese Einziehung herumgekommen. Die Schulklasse bestand nur noch aus wenigen Schülern, und ich befürchtete, demnächst zu den Luftwaffenhelfern nachgezogen zu werden. Das probate Mittel, um dies zu verhindern, war meine Tätigkeit im Deutschen Jungvolk. Ich erhielt aber zunächst, der Unsportlichkeit weiterhin verdächtig, das «Kommando» bei einer Jungvolk-Einheit in Lohra, einem entlegenen Flecken, wo ich ­einen Antrittsbesuch beim Ortspfarrer machte, dessen Verblüffung Sie sich denken können. Ich dachte wohl, dass in der Sorge um die Zukunft der He­ranwachsenden etwas uns Gemeinsames lag. Mit den hessischen Bauernjungen verstand ich mich bald ähnlich gut wie mit den jungen Bremer Proletariern, so dass auch diese Jungvolk-Rolle zu einer recht erfolgreichen und nunmehr auch in der Marburger Führung anerkannten wurde. Vom dörflichen Jungvolk, das mir nach dem Schulunterricht noch lange Bahnfahrten unter der ständigen Luftkriegsbedrohung abverlangte, wurde ich schließlich doch wieder in die Marburger zentrale Organisation kommandiert und also neuerlich als «Bürokrat» verwendet, und zwar um die Personalverwaltung zu organisieren, und als solcher «dienstverpflichtet». Dabei ist es mir gelungen, unter

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anderem aufgrund einer Kreislaufkrankheit, die ich mir durch die Dauerbelastung und -spannung, unter der ich stand, zugezogen hatte und die ich aufbauschen konnte, den Kriegsdienst im schon lange als verloren gewussten und auch immer wieder als verloren erklärten Krieg zu verzögern – eine Strategie, die mir selbst als zwie­spältig und doch gegenüber dem Aufruf zum fanatisch-sinnlosen Endkampf gerechtfertigt erschien. Aber die Erinnerung daran, dass niemand meinem wenig älteren Schulfreund diese Möglichkeit, die er sich sehr gewünscht hatte, verschaffen konnte, so dass er bald in einem aussichtslosen Angriff auf weit überlegene kana­dische Truppen zu Tode kam, geht mir bis heute in bedrückenden Gefühlen nach. Bedeutete für Sie das Ende des Krieges und der Nazidiktatur auch eine persönliche Befreiung? Gewiss, und zwar in einem ganz umfassenden Sinn. Meine ­Generation hatte die im Grunde aporetische Aufgabe, die Jahre des Erwachsenwerdens – vom elften zum achtzehnten Lebensjahr – mit der ­Realität des Kriegs zu verknüpfen, der natürlich nach einem ganz anderen Entwicklungsschema verlief und unter ganz anderen Vorzeichen, nämlich denen einer immer weitergehenden ideolo­gischen In­ filtration. Dagegen musste man sich wehren. Aber man konnte sich dem nicht einfach nur entziehen; man musste die gegenläufige Dynamik irgendwie zugleich durchstehen. Das ist eine sehr schwere Aufgabe. Ich glaube, die in dieser Zeit fast tägliche Herausforderung hat Menschen wie Spaemann oder mich produktiv werden lassen. Wir sind notwendig hellwach geworden. Als alles dann ­vorüber war, gab es guten Grund, entlastet und zu ganz Neuem bereit zu sein. In jedem Fall hatten Sie – wie überhaupt Ihre Generation – sehr widersprüchliche Erfahrungen machen müssen. Die Konflikte, die ich unter Hitler durchstehen musste, zwischen dem Nichtschwimmer-Sein, aber doch gern im Deutschen Jungvolk



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Erfolg zu haben, zwischen der tief christlichen Mutter und dem ­verführerisch-illusionären Vernunftappell des Hitlerjugendführers: «Wir machen das mal ganz anders und du kannst mitmachen, überleg’s dir mal», zwischen dem wohlbehüteten, sexuell ahnungslosen, wenn auch lernfähigen Sechzehnjährigen und der Gruppe von zwölf- bis vierzehnjährigen sexuell aktiven Bremer Proletarierkindern, zwischen dem Verwalter der Jungvolk-Personalakten und dem sicheren, aber notwendig verhohlenen Willen, dem verlorenen Krieg mit allen möglichen Mitteln zu entgehen – diese Konflikte haben mich selbständig werden lassen. Und ich hatte das Glück, noch rechtzeitig an die Universität zu kommen und dann wirklich mit dem eigenständigen Denken beginnen zu können. Unmittelbar nach dem Kriegsende waren Sie zunächst noch Schüler. Wie hat sich das Gymnasium nach dem Krieg verändert? Die Schule war nach 1945 eine gänzlich andere. Steinmeyer blieb der Direktor. Anz war noch in russischer Kriegsgefangenschaft; ­daher fehlte mir eine Gestalt, die das Bewusstsein, «da gehörst du eigentlich hin, da willst du auch hin», in mir freisetzte. Aber es gab einen ungeheuren Lernwillen bei den überlebenden Jungen, eine ebenso uneingeschränkte Bereitschaft der Lehrer, ihr Bestes zu vermitteln. In die Klasse kamen auch Leute zurück, die viel älter waren als ich, die also lange Soldat gewesen waren, erwachsene Männer eigentlich unter großer Erfahrungslast – und ihnen gegenüber traten die Lehrer ganz anders auf. Wir hatten zudem eine vorzügliche Lehrerin in Englisch. Sie hat mich schon als Abiturient auf Vor­ lesungen hingewiesen, die für mich wichtig sein könnten. Ich wusste bis dahin nicht, dass man auch als Schüler in Vorlesungen gehen konnte. Und so war der Übergang zur Universität im letzten halben Jahr fließend. Der Unterricht war ungleich inspirierender, aber nicht wirklich persönlich berührend.

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1946 haben Sie das Abitur abgelegt. Wussten Sie damals schon, welches Fach Sie studieren wollten? Beim Abitur musste man einen Berufswunsch angeben. Ich sagte unsicher, ich wolle Lehrer werden. Eigentlich wollte ich nur nicht schon vom Gymnasium Philippinum weg; vielleicht mit einer Erinnerung an Wilhelm Anz als Vorbild, und doch auch wieder aus ­einer gewissen Nesthocker-Tendenz heraus. Aber das änderte sich dann mit dem Studium ganz schnell. Bei Ihrem Interesse für Geschichte hätte es nahegelegen, dieses Fach zu studieren. Ja, auch im Abitur hatte ich in Geschichte wieder eine ausgezeichnete Note. Mich interessierte vor allem die Ideengeschichte. Ich hatte sehr solide Kenntnisse und eine große Begeisterung für die Franzö­ sische Revolution und deren Nachgeschichte. Und was solche Gestalten wie Stein, Hardenberg und Humboldt in Preußen daraus im Kontrast wirklich werden ließen, nämlich etwas ganz Neues, was aber diese Radikalität vermied, hat mir großen Eindruck gemacht. Auch von daher rührt mein frühes Interesse an der Institutions­geschichte der Universität. Das heißt, Sie studierten Neuere Geschichte? Nein, der erste Lehrer, der mich in Marburg ähnlich wie Anz als ganze Person faszinierte, unterrichtete Urgeschichte. Ich ging zu ­Beginn des ersten Semesters in seine Vorlesung morgens um acht Uhr. Ihr Thema war die Hallstatt-Kultur. Es dauerte nur diese eine Vorlesungsstunde, und ich war gänzlich davon gefesselt, wie der Professor sein Sujet entfaltete. Man kann der Prähistorie durchaus eine philosophische Dimension geben. Denn sie lässt alle Lebensverhältnisse in einer Umgebung und in der gegenwärtigen ­Lebenswelt als von Grund aus variabel und vor dem Hintergrund einer sehr langen Genese wie in Suspens erscheinen. Eben das tat



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Professor Gero Merhart von Bernegg, den eine menschenfreund­ liche Skepsis bewegte und der, wie ich später lernte, zugleich der angesehenste Forscher und Lehrer seines Faches in ganz Deutschland war. So waren später meine beiden prähistorischen Kollegen in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften seine Schüler. Seinet­ wegen habe ich mich, obwohl ich mich überall umsah, zunächst auf dieses Fach konzentriert. Für seine sehr kleinen Seminare habe ich ausdauernd gearbeitet und mich daran gefreut, seine Anerkennung zu gewinnen – bis ich merkte, es ist doch die Philosophie, die meine eigentliche Sache ist. So habe ich mich mit Schmerzen von Merhart verabschiedet. Hing Ihre Entscheidung für die Ur- und Frühgeschichte nur mit Ihrem Lehrer zusammen, oder gab es auch inhaltliche Gründe? Der weite Horizont, die Jahrzehntausende. Dieser Horizont ging erst im zweiten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts als ein allgemeines Wissen auf. Hegels Geschichtsphilosophie ist noch kaum berührt von ihm. Hielten Sie das Fach für philosophischer, weil Sie dem Wesen des Menschen auf diese Weise näher kamen? Zumindest habe ich erfahren, dass man Eingang in eine ganz andere Lebensart finden und sie zum Sprechen bringen kann. Der Professor, der übrigens beurlaubt worden war, weil er sich geweigert hatte, die Urgeschichte mit Nationalsozialismus und Rassenlehre zusammenzuführen, wollte uns in Gegensatz dazu vor allem zeigen, dass dort, wo man jetzt lebte, einmal andere Menschen ganz anders gelebt hatten. Insofern war es auch das Detektivische, was Sie an der histo­ rischen Forschung gereizt hat? Ja, zur Forschung gehört das Herausfindenwollen von tiefliegenden und unerwarteten Zusammenhängen, und das war mir sehr

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wichtig, aber auch die dabei gebotene Umsicht. In meinem ersten Semester hatte ich ein Referat in der mittelalterlichen Geschichte zu schreiben, über die Vita Heinrici Quarti und die Frage ihrer Verfasserschaft. Nachdem ich das Referat eingereicht hatte, wurde ich zum Privatdozenten Helmut Beumann bestellt. Er wollte mir persönlich sagen: «Herr Henrich, Sie müssen Wissenschaftler werden. Ihre Argumentation ist schon ganz professionell.» So war ich als Wissenschaftler sofort anerkannt und mit dem Dozenten seither befreundet. In der Urgeschichte hielt ich einmal im Proseminar ein Referat über so allerlei Scherben aus verschiedenen Kulturen, die ich bestimmen sollte. Als ich fertig war, sagte Merhart, der hinter mir stand, gar nichts, aber legte seine Hand auf meine Schulter und drückte sie mehrmals. Das empfand ich als einen Ritterschlag. Warum haben Sie dann dieses Studienfach aufgegeben? Mir wurde, wie gesagt, klar, dass meine eigentliche Sache die Philosophie war, zwar nicht als die einzige und eigentliche Begabung, aber der Motivation nach. Es wäre vielleicht anders gekommen, hätte ich nicht schon als kleines Kind die volle Lebenserfahrung dessen gehabt, was bis heute auch die Philosophie in Spannung versetzt. Sie meinen, die Wissenschaft allein, auch die Freude am ordnenden System, die sich in Ihrer frühen Begeisterung für Straßenbahnnetze zeigte, reichte als Motivation zur Philosophie nicht aus? Übersicht und kohärente Durchsichten zu gewinnen, ist nur eine der Hauptvoraussetzungen für das Philosophieren. Man muss das Leben und die Schwierigkeit der Lebensführung überblicken. Man muss zugleich hinter alles Geläufige zurückfragen und die Fähigkeit haben, sich bei der Orientierung in den Dimensionen, in die man damit gerät, überlegt zu bewegen; die Mühe, eine Übersicht zu ge-



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winnen, gerne auf sich nehmen. Auch das ist unerlässlich, wenn man ein Lebensproblem begrifflich wirklich zu durchdringen und ihm in Gedanken einen Ort und die Aussicht auf eine Lösung zu geben hat. Wie Sie sich dafür begeistern konnten, Übersicht über Straßenbahnen zu gewinnen, fühlten Sie sich auch gefordert, das eigene Leben zu überblicken? Diese Herausforderung war mir nun in mein eigenes Dasein gepflanzt, und damit konnte auch nur ich umgehen. Meine Eltern haben gar nicht so richtig wahrnehmen können, in welcher Beängstigung ich durch die Erfahrung der Krankheit lebte. Sie wussten, wie krank ich war, und versuchten alles, mich über diese Krankheit hinwegzubringen. Aber dass das in mir eine dauernde Herausforderung blieb, das verstand meine Mutter so wenig wie ich selbst. Vergeblich versuchte sie, mir als Heranwachsendem gelegentliche Unbeherrschtheiten und Attacken von Erregung abzugewöhnen. Könnte man mit Jaspers sagen, die Grenzsituation hat Sie in eine Art von Nachdenklichkeit versetzt? Ja, und zwar schon als hilfloses Kind. Das hat mir die Kraft und Konzentration gegeben, nicht nur theoretische Grundfragen, sondern mit ihnen zusammen Lebensproblemen immer weiter und tiefer nachzugehen. Worin bestand genau das Problem, vor das Sie sich gestellt ­sahen und das Sie letztlich motivierte, Philosoph zu werden? Es kommt in einem kleinen Text zu einem ersten direkten Ausdruck, den ich um 1975 ganz spontan vorgetragen habe.6 Im Voraus muss man den grundlegenden Problembestand der Philosophie als solcher vor Augen haben. Zu ihm gehört es, das Verhältnis

6  Dieter Henrich, Glück und Not, in: Poetik und Hermeneutik  VI, München 1975, S. 512–518.

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­zwischen Alltagsverstehen, wissenschaftlicher Erkenntnis und der ­Dynamik zu klären, die Personen in ihrer Lebensführung in sich tragen oder der sie ausgesetzt sind. Weiter gehört zu ihm, die Frage zu durchdenken, ob und in welchem Sinne in diese Lebensführung etwas eingebunden ist, das einen anderen Status hat als ein nur faktisch Wirkliches – ein Unbedingtes, wie für Sokrates sein daimónion oder für Kant das Bewusstsein von der unbedingten Geltung des moralischen Urteilsprinzips. Würden Sie sagen, dass es eigentlich gar kein Talent zur Philosophie gibt, sondern lediglich eine Begabung zum Denken, zu der dann eine Grunderfahrung der geschilderten Art als Motivation hinzukommen muss? Nein, dazu bin ich nicht genötigt. Die Probleme, die sich mir aus meiner Kindheit aufdrängten, sind tief in der Verfassung des bewussten Lebens verwurzelt. Ein großer Geist mit einem untrüglichen Spürsinn für Hintergründe wird sie nicht übersehen. In sprachlichen Kunstwerken kommen die Erfahrungen früh zum Ausdruck. Sie leiten dort nur nicht zu den Problemen über, die nur im Philosophieren in die ihnen gemäße Bewegung zu versetzen sind. Dass zum Entschluss zur Philosophie als Lebensaufgabe wohl ein Bruch im v­ italen Lebenswillen führen muss, ist eine andere These. Bei mir ging dieser Bruch so tief, dass er mich nachhaltig verunsicherte. Als ich zum Philosophen wurde, war ich bereits viel zuversichtlicher geworden. Lässt sich so die Motivation, in die Philosophie zu gehen, sich darüber hinaus auch der Subjektivität als Problem zu widmen, als Resultat Ihrer defizitären Erfahrungen verstehen? Es kann ganz andere Motive geben. Die Verwunderung über die Fähigkeit, etwas zu verstehen, und über die Wirklichkeit von Mentalem und Kognitivem, die überall in Anspruch genommen ist, führt unmittelbar zu den prominentesten Problemstellungen einer zweiten



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Reflexionsstufe. Sich wirklich auf diese einzulassen, bedarf allerdings einer Irritation in der unmittelbaren Präsenz in der Welt des alltäg­ lichen Lebensvollzugs. Die allein wird aber nicht ausreichen. Es sind so viele Faktoren, die zusammen zur Wirkung kommen müssen: das Interesse und die Fähigkeit, Übersicht aus einer Distanz zu gewinnen, das Suchen-und-Finden-Motiv der Forschung, das Herausbringen von Hintergründen  – keine solcher Tendenzen macht den Philosophen für sich allein; sie müssen einander inspirieren. Und dann sind noch die Zeitläufte in die Erklärung einzufügen. Wie hätte Ihrer Meinung nach Ihr Leben verlaufen können ohne diesen frühen Stachel? Vermutlich wäre ich Historiker geworden, und zwar Ideenhistoriker. Und dann womöglich nicht mit der Wissenschaft als Beruf. Welchem Philosophen begegneten Sie in Ihrer Marburger Stu­ dienzeit zuerst? Klaus Reich, ein Kantianer, bei dem ich zwar nicht in meinem ganzen Selbstsein angesprochen war, der mich aber durch seinen Scharfsinn und seinen Forschergeist faszinierte. Ich sah klar: Die Argumentationsführung ist eine Klasse besser als anderswo, und die Themen, die historisch und subtil abgehandelt wurden, sind zudem von allererstem Rang. Ihm schloss ich mich gerne an, zumal auch er mich etwa so wie einen jüngeren Kameraden akzeptierte. Ich sperrte mich jedoch, als er mich in seine eigenen Forschungsinteressen integrieren wollte. Und ich verließ Marburg, als ich Gadamer kennenlernte, von dem ich wieder mit allen Fasern angesprochen war. Ein deutlich älterer Mitstudent, Wolfgang Albrecht, der später auch noch Philosophieprofessor werden sollte, hatte mir dazu schon längst eindringlich geraten. Er überschaute besser als ich die Folgen des Mangels pädagogischer Großzügigkeit für eine junge Begabung auf der Suche nach ihrem Weg.

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Wie haben Sie Gadamer kennengelernt? Es war eine sehr persönliche Begegnung. Bei mir ist fast alles ­Wesentliche immer auch ganz persönlich gewesen. Er kam 1948 nach Marburg – zum Ferienkurs der Hessischen Hochschulwochen, der von den Amerikanern veranstaltet, jedenfalls umfassend ge­ fördert wurde. Da gab es als Hauptveranstaltung eine Diskussion im Auditorium Maximum zwischen Gadamer und Tillich über Hei­degger. Gadamer erklärte die damals noch gar nicht bekannte ­Position Heideggers nach dessen «Kehre» und was für ihn die «Seins­ geschichte» nunmehr sei. Dabei stimmte er in Heideggers Modernitätskritik ein, wofür ihm Max Weber als prominenter Anwendungsfall für diese seine Kritik diente. Ich verdankte damals der Lektüre von Max Weber eine lebenswichtige Aufklärungserfahrung. So ­argumentierte ich also, durch vielfältige Zustimmung längst mutig im Auftreten, gegen Gadamer vor dem großen Publikum. Gadamer ging auf dem Podium kaum auf meine Argumente ein, was mich ­irritierte, da sie mir luzide erschienen. Doch es gab in diesem Ferienkurs auch eine Schach-Konkurrenz. Gadamer nahm teil und fädelte es ein, mit mir die erste Partie spielen zu müssen. Er gewann, und zwar aufgrund eines Zugfehlers von mir. Er war Defensivspieler – das wusste ich später viel besser, nachdem ich noch oft mit ihm gespielt hatte –, und ich war Angriffsspieler. Meinen Fehler beutete er knallhart und scharfsinnig aus, so dass ich aufgeben musste. In dem Moment, in dem ich aufgab, gab er mir die Hand und gab zugleich mit nur einem Halbsatz die Antwort auf meinen Diskussionsbeitrag vom Vortag: «Damit Sie sehen, dass ich auch etwas von scharfsinnigen Argumentationen verstehe.» Ich hatte ihm nämlich in meinem Diskussionsbeitrag wohl einige triftige Einwände gemacht, aber mich nicht zu dem Punkt verhalten, um den es ihm eigentlich gegangen war, und das sagte er mir jetzt, in der Situation, wo ich



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die Schachpartie verloren hatte. Er traute mir also zu, dass ich den Zusammenhang verstehe – und ich verstand auf der Stelle. Ich war sowohl perplex wie auch berührt. Ich fühlte mich geschmeichelt, obwohl es in gewisser Weise eine doppelt vernichtende Kritik war: Ich hatte verloren, und er hatte in meiner Weise zu argumentieren einen unphilosophischen Zug deutlich werden lassen. Doch gleichzeitig fühlte ich: Dieser Mann kann wie wohl kein anderer zu dir sprechen. In solcher Weise hatte ich das noch nicht erlebt. Gadamer machte mir klar, dass ich mit dem Verhalten, das ich gezeigt hatte, ins Leere lief. Er hat mich aber gleichzeitig deswegen angesprochen und mich damit als Person ernster genommen, als es aufgrund einer Gegenargumentation hätte geschehen können. So konnte ich die Kritik annehmen und als hilfreich erfahren. Es war dieser halbe Satz, der mich veranlasste, im Jahr darauf, als dies unter Nachkriegsbedingungen möglich geworden war, nach Frankfurt zu gehen, um bei Gadamer weiterzustudieren. Dieser Entschluss wurde zu meinem großen Glück. Denn er adoptierte mich sogleich und versprach mir seine damals einzige Assistentenstelle für die Zukunft. Er erklärte mir dabei, gerade im siebten Semester, dass er meine Karriere als Professor für ausgemacht hielt. Was damals Anz in seinem Unterricht praktizierte, über Gehalte Menschen zu erreichen, das war in ganz anderer Weise auch für Gadamers Umgang mit Menschen maßgebend: keine Trennung der philosophischen Sachfragen von den Tiefendimensionen des Menschenlebens zu akzeptieren. Es gibt keinen Menschen, den ich kennenlernte, in dem das, was er als Philosoph denkt und schreibt und was er als Person ist und zu wirken versucht, in so vollständiger Übereinstimmung war wie bei Gadamer. Man kann etwas Ähnliches zwar auch von seinem Marburger Freund Karl Löwith sagen. Aber in Gadamer war dabei eine platonische ­Differenziertheit und Hintergründigkeit am Werke. In signifikanten

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Situationen, deren ich mit Gadamer noch viele erlebt habe, war überhaupt nichts rhetorisch. Er war direkt, sicher zielend in die Mitte des Lebens und dabei von einer sokratischen Kraft der verstehenden Freundschaft und des pädagogischen Eros. Nach dem Ende des Kriegs war die große Frage, wie es mit Deutschland weitergehen sollte. Wurden Sie in dieser Zeit als junger Mann politisiert? Obwohl ich nicht in die Politik als Beruf strebte, habe ich mich lange politisch engagiert, zuerst als Mitglied des Hochschulbundes der Sozialdemokratischen Partei. Bald danach habe ich mich für die Partei Gustav Heinemanns eingesetzt. Mit ihm bin ich nach deren Scheitern in die Nähe der SPD zurückgekehrt – bis ich schließlich konstatieren musste, dass diese Partei in der Hochschulpolitik immer wieder wider alle Vernunft und historische Erfahrung optierte. Das war während und nach der Studentenrevolution nicht anders als auf den Bologna-Irrwegen. Als ich zu entscheiden hatte, wie ich meinen Drang zu gestalten umsetzen könne, wurde mir wieder der Austausch mit Gadamer wichtig. Er riet mir: «Lassen Sie das Staatsexamen weg, das brauchen Sie nicht, Sie werden sicher Philosophieprofessor werden.» Ich wendete ein: «Ich bin aber gar nicht sicher, ob dies für mich das Beste ist.» Nachdem ich ihm offenbart hatte, dass ich in der Nazizeit mein Talent zur Gestaltung von Verhältnissen entdeckt hätte und dächte, dass ich eine solche Fähigkeit immer würde praktizieren wollen, antwortete Gadamer, der noch vor kurzem Rektor in Leipzig gewesen war: «Das können Sie in der Universität genauso gut.» Ich war mir damals ja noch gar nicht sicher, ob es mir gelingen würde, den großen Aufgaben der Philosophie jenseits der philosophischen Forschung in einer mir gemäßen Weise gerecht zu werden.



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Gadamer hat offenbar eine besonders wichtige Rolle für Ihr ­weiteres Leben gespielt. Er gehörte zu den wenigen Menschen, die mich wirklich berührten, wie Anz und Merhart von Bernegg, die ebenfalls eine tief verankerte, erfahrungsgesättigte Humanität verkörperten. Wie würden Sie in diesem Zusammenhang den Begriff der ­Humanität erläutern? Dazu gehört ein Wissen um das Delikate des Menschseins in seiner vollen Bestimmtheit, von dessen Möglichkeiten und Bedrohungen, von den Ambivalenzen und Alternativen, denen wir ausgesetzt sind. Humanität wäre dann die Bemühung um eine Verhaltensart, die in solchem Wissen einen Stand gewinnt, die es in die Beziehung zu anderen eingehen lässt, so dass von diesem Verstehen etwas ausstrahlt und anderen etwas davon aufgehen lässt. Sie meinen eine Mischung von Nachdenklichkeit und Strenge? Nein. Es geht um die Empathie für die Möglichkeiten ebenso wie für die Schwäche der anderen – bei gleichzeitigem Wissen von der eigenen Schwäche und dem mühsam oder glückhaft gefundenen eigenen Weg. Warum spielten auf Ihrem Bildungsweg persönliche Beziehungen zu Lehrern eine große Rolle? Es ist eine pädagogische Grundwahrheit, die ich auch bei meinen guten Studenten immer wieder bestätigt gesehen habe. Wenn ich sie nach ihren entscheidenden Erfahrungen fragte, war das sehr oft ein Studienrat, der eine philosophische Arbeitsgemeinschaft angeboten hatte und in ihr als ganze Person engagiert war. Das ist auch etwas, was an der Universität jetzt so ganz und gar falsch gemacht wird und was ich aus der eigenen Erfahrung heraus bekämpfe, so gut ich das noch kann: dass man den begabten Studenten die Möglichkeit nimmt, ihren eigenen Lehrer zu suchen, den also zu finden, bei dem

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sie lernen wollen und zur Eigenständigkeit finden können; weil sie den bestimmten Eindruck haben, dass ihre Motive, die sie ja noch nicht ganz durchschauen, dort gebündelt Echo, Steigerung und Antwort finden. Wenn man sie dann an einen Studienort bindet und ihnen scheinbar durchkalkulierte Lehrpläne oktroyiert und irgendwelche, womöglich inferiore Lehrpersonen, die ihre obligatorischen Themen nur abhandeln, weil sie an der Reihe sind, dann finden sie keine Gelegenheit, sich an denjenigen zu halten und auch früh auf ihn zu bauen, der ihnen über Sachen und Aufgaben wirklichen Aufschluss gibt und der ihre Kräfte deshalb auch ganz fordern kann. Ich hatte in der Universität das große Glück, dass mir diese Erfahrung vergönnt war. Zunächst haben Sie eher philosophiehistorische Themen bearbeitet, also jenen Strang ausgebaut, der sich aus Ihrem histo­rischen Interesse speist. Diesen Teil meines Œuvres habe ich zuerst abgeschlossen, ohne aber darüber die mich bedrängenden philosophischen Hauptfragen aus dem Auge zu verlieren. Ich wollte sie mir nicht durch übernommene Philosopheme verstellen lassen; ich wollte selbständig bleiben. Obwohl ich doch anlehnungsbereit bin, habe ich durchweg meine Selbständigkeit behauptet. Die Universität, die nach 1945 ja vielfach wieder aufgebaut werden musste, bot auch Ihrem Organisationstalent ein reiches Betätigungsfeld. Als ich auf die Universität kam, war  – zum ersten Mal überhaupt – das, was mich wirklich interessierte, was ich für bedeutsam und wichtig hielt, in Übereinstimmung mit dem, was mein Tun und Wirken bestimmte. So war ich glücklich in der Universität und konnte meinen Wirksinn, meinen Betätigungswillen, meine sicher auch ererbte Anlage, etwas zu organisieren, sofort entfalten. Die



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Universität sollte noch besser werden, als sie schon war, sie sollte unter völlig veränderten sozialen Verhältnissen wieder so werden wie damals, als der Aufbruch unter Humboldt gelang. Ich habe eine Arbeitsgemeinschaft von Dozenten und Studenten über Grund­ lagenfragen der Wissenschaft begründet, die noch lange nach meinem Weggang aus Marburg bestand. Ich habe noch als Student im Hessischen Rundfunk an einer Debatte teilnehmen dürfen über Probleme der Universitätsreform. Ich habe die verschiedenen Gutachten genau studiert und, mit weiter zunehmender Kenntnis der Literatur seit Humboldts Zeit, mir selbst ein Konzept zurechtzulegen versucht. Das setzte sich dann in Heidelberg mit dem Collegium Academicum und meiner Rolle als Sprecher der Kollegienhausbewegung fort. Das Kolleg selbst war auch eine Gestaltungssphäre, und Gestaltung hieß für mich nicht etwa, andere zu manipulieren, sondern ihnen gute Bedingungen vorgeben zu können, ihre Zustimmung zu gewinnen und sie in Bewegung versetzt zu sehen. Wie ein gutes Straßenbahnnetz? Ja, wo die Bahnen sich alle selbständig, aber in einem stimmigen Bezug aufeinander bewegen. Vielleicht lässt sich dies Bild einer ­Distanz in der Übersicht, die mit der Freude an Stimmigkeit zusammengeht, auch dafür noch einmal gebrauchen.

3. Heidelberger Anfänge (1950–1960)

Bevor Sie mit Hans-Georg Gadamer nach Heidelberg kamen, studierten Sie bei ihm ein Semester in Frankfurt. Welche Absicht verfolgten Sie? Ich hatte Vertrauen zu Gadamer gefasst. Nun hoffte ich, möglichst bald eine Doktorarbeit mit ihm verabreden zu können, war aber auch gespannt auf seine Vorlesung über Platon. Seine Publi­ kationen, auch seine ungedruckte Dissertation, las ich im Voraus. Gadamer lud mich dann mehrfach zu seinen winterlichen Spaziergängen ein. In Frankfurt lernten Sie zum ersten Mal intensiver eine Großstadt kennen. Wie waren Ihre Eindrücke? Als Jugendlicher hatte ich Frankfurt noch in der Friedenszeit ­besuchen können – im Haus eines mit meiner Mutter eng verbundenen Bruders, der mir meinen Vater ein wenig zu ersetzen versuchte. Damals kam ich an Bord des Zeppelins «Hindenburg» in seiner ­riesigen Halle, in den berühmten Zoo und die intakten Museen. Nunmehr lag die Stadt noch weitgehend in Trümmern. Aber man feierte Goethes 200. Geburtstag und erwartete, westdeutsche Hauptstadt zu werden. Ein Parlamentsgebäude war schon errichtet. Es fuhr eine Straßenbahnlinie nur für Besatzungssoldaten herum, und man konnte in Pappkojen im Bunker unter dem Hauptbahnhof, der nun als ein Hotel galt, übernachten. Erste moderne Bauten mit Leuchtreklamen waren schon entstanden, und ich sah in einem nagelneuen Kino Carol Reeds Der dritte Mann. Wenig später öffnete



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«Die Schmiere», das erste Kabarett, mit dem ich in einen näheren Kontakt kam. Der alte Bau der Universität war nur wenig beschädigt. Ziemlich in seiner Mitte hatte das Philosophische Seminar seine wenigen Räume. Aber in seinem Keller florierte ein Studentencafé als Treffpunkt, um allen möglichen Interessen eines Studenten­ lebens nachgehen zu können. Wer heute an Frankfurt und Philosophie denkt, dem fällt wohl zuerst die «Frankfurter Schule» ein. Lernten Sie damals Adorno kennen? Etwas zugespitzt könnte man sagen: Ich war der Erste, der Adorno in Deutschland begrüßte, als er aus dem amerikanischen Exil zurückkehrte. Ich saß in der Bibliothek des Philosophischen ­Seminars, als Adorno gerade vom Flughafen kam. Dort trat er auf mich zu und sagte: «Guten Tag. Ich bin Adorno. Kennen Sie mich?» Ich erwiderte warm: «Ach Herr Professor!» Und so fragte er weiter: «Woher kennen Sie mich?» Darauf meine Antwort: «Aus der Entstehung des Doktor Faustus.» Das war die Wahrheit, und ich fühlte mich mit zweiundzwanzig Jahren mit diesem Wissen schon sehr avanciert. Ich hatte nicht nur den Doktor Faustus gelesen, sondern ebenso die Geschichte seiner Entstehung, in der Thomas Mann die Bedeutung Adornos für das Buch darlegt. Dass in Deutschland zu dieser Zeit Bücher von Adorno selbst überhaupt nicht verfügbar waren, das wusste dieser damals gar nicht. Die mit Horkheimer verfasste Dialektik der Aufklärung erschien in Deutschland erst später, als Suhrkamp Adorno mit seinen rasch entstehenden Werken ein publizis­tisches Forum bot. Wie entwickelte sich Ihr Verhältnis zu Adorno weiter? Adorno hatte wohl die Hoffnung, mich in sein Gravitationsfeld ziehen zu können. Aber ich selbst war, als ich in seiner ersten Vorlesung die Ausführungen über Dialektik hörte, in meiner studen­

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tischen Hochnäsigkeit von der Schwäche der Argumentationen und ihrem eher journalistischen Zuschnitt bald sehr enttäuscht. Was genau kritisierten Sie? Man hatte schon den Marxismus im Ohr, hatte von den dialek­ tischen Argumentationen Hegels und Kierkegaards erfahren und kannte Kants Transzendentale Dialektik. Vor diesem Hintergrund wirkten Adornos Ausführungen auf mich damals als nicht hinreichend durchgearbeitet. Ich war von dem Anspruch eines an Marx angelehnten kritischen Generalduktus. mit dem er auftrat, sogar empört. So hielt ich mich zu ihm in höflicher Distanz, zumal Gadamer mich ja ohnedies nach Heidelberg zog, so dass ich Frankfurt schon nach einem Semester wieder verließ. Adorno beschrieb Sie damals in einem Brief an Horkheimer so: «… ein wahres Wunderkind, ein Zweiundzwanzigjähriger namens Henrich, der aussieht, wie man sich Shelley vorstellt, die Kritik der reinen Vernunft auswendig weiß und über unglaublich subtile Kantische Probleme diskutiert.»7 Adorno muss doch bald meine Reserve gespürt haben. Noch später sah er zweifelsohne so etwas wie einen philosophischen Gegner in mir, der ich sicherlich schon auch war. Ich schätzte allerdings immer, was er über Literatur und über Musik schrieb, und teilte viele seiner Hochschätzungen, etwa für Beckett. Aber das Philosophieren schien mir eigentlich gar nicht zum Feld seiner besonderen Begabung zu gehören. Durch den Anspruch, den er mit ihm verband, schien mir sein Denken sophistisch zu werden. Da gibt es Parallelen zu Heidegger, auch wenn dieser unvergleichlich

7  Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 12.11.1949, in: Theodor W. Adorno/Max Horkheimer, Briefwechsel 1927–1937, hrsg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz, Band III: 1945–1949, Frankfurt am Main 2005, S. 320.



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viel tiefer denken konnte. Zum Anspruch, sich mit ihm zu messen, wie es der Jargon der Eigentlichkeit nahelegt, hatte Adorno trotz guter politischer Motive als Philosoph kein Recht. Fast zwanzig Jahre später schrieb ich für die Frankfurter Allgemeine Zeitung eine ­Rezension seiner Negativen Dialektik, die schon auf einer gewissen Kenntnis von Adornos Gesamtwerk beruht. Darin betone ich nochmals deut­licher die ungenügende Hegel-Rezeption. Dabei opponiere ich nicht gegen den Ausdruck «Negative Dialektik». Auch liegt mir die Meinung nicht fern, dass man in einer bestimmten Art von Dialektik ­einen finalen Horizont des philosophischen Denkens findet. Aber in der Durchführung durch Adorno nahm ich eine Leichtfertigkeit angesichts der Tiefe und Verwicklung der Problemlagen und eine rattenfängernahe Rhetorik wahr, deren suggestiver Wahrheitsanspruch nach Widerspruch zu verlangen schien. Mir ist die Kraft der kom­plexen, aber luziden Argumentation immer als unerlässliche For­derung an den Philosophen erschienen. Allerdings gilt es, sie zu ­erreichen, ohne die Problemlage zu ermäßigen. Ein Vorschlag in solcher Höhenlage muss es erlauben zu ver­stehen, ohne übernehmen zu müssen, was argumentativ doch im Dunkeln und Vagen geblieben ist. Meine Neigung zur klaren Ratio­nalität gerade im Umgang mit vielbedeutenden und verwickelten Fragen erklärt vielleicht die Schärfe meiner Ablehnung, die für Jugendliche charakteristisch ist. Ich wusste sehr wohl, dass ich selbst noch lange außerstande sein würde, meine eigenen Motive des Philosophierens in einem luziden Diskurs zu entfalten. Etwas ganz anderes war die Sympathie mit dem schrecklichen Schicksal des Exils in der Zeit von Hitlers Herrschaft, das Adorno nach der privilegierten Kindheit als Einzelkind und Hochbegabter besonders schwer zu ­erleiden hatte, bevor er sich nach den amerika­nischen Jahren in der Bundesrepublik endlich zu dem längst von ihm erwarteten Höhenflug aufschwingen konnte.

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In Ihrem Frankfurter Semester erlebten Sie offensichtlich schon erste Anfänge der später viel deutlicher zutage tretenden Differenzen zwischen der «Kritischen Theorie» und der «Philosophischen Hermeneutik». Gab es damals schon ein Bewusstsein von diesen Differenzen? Zwischen Gadamer und Adorno herrschte neben einem konfliktfreien kollegialen Umgang nur Indifferenz und Fremdheit. In Frankfurt lehrte damals aber auch der außerplanmäßige Professor Wolfgang Cramer. Er kritisierte Adorno offen, während Adorno dessen Philosophie und ihrem Ziel, einer Letztbegründung, misstraute, die keiner Reflexion auf gesellschaftliche Verhältnisse bedarf. Ich war von Cramers leidenschaftlicher Denkart und seiner Kraft zur Begriffsbildung beeindruckt und habe damals und später viel mit ihm zusammen philosophiert. Dass ich ihn, der noch ohne gesicherte Stellung war, auch öffentlich rühmte, muss auf Adorno als ein weiteres Zeichen der Wendung gegen ihn verstanden worden sein. Sie entschieden sich dafür, 1950 mit Gadamer nach Heidelberg zu gehen. Dort begannen Sie mit der Promotion über Max Weber Ihren philosophischen Weg an der Universität. Die Entscheidung für Gadamer war mit dem Weggang von Marburg schon gefallen. Allerdings entstand alsbald eine neue Frage, als Gadamers Umzug von Frankfurt nach Heidelberg nun bevorstand: Was wird mit mir? Sie erledigte sich aber alsbald: Gadamer bot mir die Heidelberger Assistentenstelle an, über die er zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht verfügen konnte. Bis dahin würde er mir in Heidelberg einen Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft verschaffen. Dort bezog er mich auch gleich in den Lehrbetrieb ein, indem er sagte: «Dies Seminar ist zu groß. Wir teilen das, und Sie machen die eine Hälfte.» Also habe ich mit vierundzwanzig Jahren



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meine Lehrkarriere, und zwar mit Kant, begonnen, die sich sehr bald auf Oberseminare  – zum Beispiel über Hegel  – ausweitete. Denn Gadamer war der Meinung, Proseminare müssten die Ordinarien leiten, da es um die entscheidende Grundorientierung in der Philosophie gehe, während die Oberseminare von denen abgehalten werden könnten, die sich selbst noch einen Überblick in der wissenschaftlichen Arbeit verschaffen müssten. Er wusste, dass ich schwierige klassische Texte im Zusammenhang der Fachdiskussion aus­ legen konnte. Dass ich eine Dissertation über Max Weber schon ­nahezu bereithielt, war für Gadamer eher befremdlich. Wie sind Sie zu Max Weber und dem Thema der Einheit seiner Wissenschaftslehre gekommen? Der Grund lag anfangs in meinem Interesse an methodologischen Fragen, die auch nebenbei meine Entscheidung beeinflussten, von der Urgeschichtsforschung in die Philosophie zu gehen. Wie unterscheiden sich Naturwissenschaft und Geschichtsforschung? Ist etwa die Soziologie überhaupt eine Wissenschaft? Und wenn ja: in welchem Sinne? Zudem regte mich ein älterer Studienfreund aus der Volkswirtschaftslehre an, für den die Methodenlehre Webers wichtig wurde, wie er sie im Wirkungskreis des von ihm geschätzten Autors Carl Menger kennengelernt hatte. Und so stieß ich auf Webers Texte. Sie haben mir alsbald eine wirkliche Aufklärungserfahrung eingebracht. Was mich an Weber fesselte, war die souveräne Kraft der Argumentation, ihre Rationalität und kaskadenhafte Struktur, wobei mir aber zugleich ganz deutlich eine persönliche, untergründige Erregtheit und Ergriffenheit in den Texten spürbar war. Es handelte sich nicht um die Leidenschaft, die er selbst nennt, nämlich etwas Bestimmtes im Denken oder Handeln unbedingt zu wollen. Vielmehr schien sie mir Ausdruck zu sein eines Leidens an einem Menschheitsgeschick, in das man gebannt ist. Ich spürte ein Leiden am Leben, das sich in gedank-

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liche Klarheit übersetzen wollte. So war ich durch das bloße Lesen von Max Weber bewegt, und ich verstand: Es gibt eine Leidenschaft der Vernunft! Die Propagandisten des Nationalsozialismus hatten Rationalität mit d ­ istanziertem Desinteresse und Leidenschaft mit Fanatismus identifiziert und gerade darin noch am wenigsten Widerspruch gefunden. Zu dieser Zeit las ich dann auch Jaspers, der in seiner Gedenkrede von 1920 in dieselbe Richtung verwies. Ihn lernte ich sozusagen zuerst als den «Mohammed» von Max Weber kennen. Das Philosoph-Sein von Max Weber war für Jaspers eigentlich eine Weise des denkenden In-der-Welt-Seins. Das ist dem verwandt, was mich in Webers Texten so faszinierte. Dieses philosophische Element bewirkte wohl, ohne dass es mir recht klar wurde, dass ich mich mit diesem Werk genauer befasste und eine eigenständige These ausarbeitete, die an meine methodologischen und philosophischen Interessen gleichermaßen anschloss: Ich wollte den Zusammenhang zwischen dem, was bei Weber «Ethik» ist, und dem, was «Wissenschaft» ist, theoretisch fassen. Diese Idee hatte ich schon 1948 in petto. Jaspers fungierte gleichsam als Anreger und Verstärker Ihres ­Interesses an Max Weber? Vor allem als Letzterer. Jaspers entsprach in seiner Weber-­ Deutung dem, was ich auch erfahren hatte, mit dem Unterschied, dass dieser Leidenscharakter im Denken eben auch damit zusammenhängt, dass Weber eine Seins-Gewissheit in dem Sinne, in dem Jaspers sie ihm zuschreibt, nicht hatte. Und darauf geht ja auch die Jaspers’sche Selbstrevision, als er viel später von Eduard Baumgarten mit den Liebesbriefen konfrontiert wurde, die Max Weber am Ende seines Lebens an Else Jaffé geschrieben hatte. Davon erfuhr man allerdings erst in den 60er Jahren. Und wie reagierte Gadamer als Ihr Lehrer? Nun kam ich mit der fast fertigen Weber-Arbeit zu Gadamer. Er



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hatte mir schon bei seinem Frankfurter Angebot vorausgesagt, dass ich Professor werden würde: «Sie werden sicher Professor der Philosophie. Sie müssen allerdings zuerst promoviert werden. Sie schließen, sagen wir mal, am 15. Dezember Ihre Promotion in Heidelberg ab.» Diese weit vorausgreifende Vergewisserungsbereitschaft mir gegenüber war für mich natürlich ein großes Vertrauensgeschenk und Glück. Tatsächlich fand genau Mitte Dezember 1950 mein ­Rigorosum statt, dessen Grundlage die Weber-Studie war. Mit dem Thema war es mir möglich geworden, etwas ganz Eigenes vorzu­ legen, ­etwas, das auch mit meinem Leben verbunden war, und dennoch sehr schnell damit zu einem guten Ende zu kommen. Gadamer las die Studie allerdings nur oberflächlich. Dass ich promoviert werden würde, war für ihn eine formale Voraussetzung für etwas, das er ohnehin schon eingeleitet hatte. Und er meinte zu der Weber-­ Arbeit: «Da fehlt natürlich für mich eine ganze Dimension.» Dies war für ihn die Heidegger’sche Hermeneutik, auf die ich mich in meiner ­Untersuchung noch nicht einließ, so dass er mit seiner kri­ tischen Anmerkung recht hatte. Dass ich nach Heidelberg kam, war für mich damals auch deshalb ein Glück, weil es der Ort Max Webers war. Gab es noch Spuren von ihm fast drei Jahrzehnte nach seinem Tod? Vor allem lebte Marianne Weber noch dort. Ich besuchte sie als Student mit dem Wunsch, an Max Webers philosophische Bibliothek heranzukommen. Denn damals gab es noch keine institutionalisierte Weber-Forschung. Marianne Weber saß am Schreibtisch ­ihres Mannes in einem kleinen Arbeitszimmer in dem alten Palais am Neckarhang, in dem sie schon gewohnt hatten, bevor sie 1918 nach München gezogen waren. Hinter ihr stand ein karg bestücktes Bücherregal. Das waren die Bestände, die sie noch in Besitz hatte. Ich

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weiß nicht, ob Weber in der kleinen Wohnung in der Münchner Seestraße seine sicher viel größere Bibliothek noch hatte unterbringen können oder wohin etwa die sicher zahlreichen Dedikations­ exemplare, etwa von Rickert, gekommen waren. Meiner Frage, wie Weber die Philosophen gelesen hatte, konnte ich deshalb nur an zwei Büchern nachgehen; diese waren allerdings mit Marginalien übersät. Es handelte sich um Georg Simmels Philosophie des Geldes und Wilhelm Windelbands Geschichte der Philosophie. In beiden Werken zeigten sich vielfache Spuren von Webers Gewohnheit, Bücher schreibend und unterstreichend zu studieren, so dass meine Schriftkenntnisse später es mir auch leicht erlaubten, in den Beständen der Universitätsbibliothek Heidelberg Max Webers rücksichtslose ‹Bearbeitung› zahlreicher ihrer Bücher wiederzuerkennen. Allerdings verlief meine Suche nach philosophischen Titeln enttäuschend. Eigentlich hatte ich bei Marianne viel Sensationelleres an Marginalien zu finden erhofft. Immerhin führte es dazu, dass Marianne Weber nach dem ihr gewiss noch ungewohnten Ereignis, dass da ein Doktorand kam, der ein Buch über Max Weber schreiben wollte, diesem von da an handschriftliche Einladungen zu dem berühmten Hauskreis zugehen ließ. Einige dieser Kärtchen habe ich wohl noch. Wenn man über den Genius loci Heidelbergs spricht, dann ­gehört der Max-Weber-Kreis unbedingt dazu. Ja, und über Marianne bildete der Zirkel immer noch einen intellektuellen Anziehungspunkt, auch wenn Max Weber selbst schon sehr lange nicht mehr da war. Ich konnte zum Beispiel seinen Bruder Alfred Weber kennenlernen, über dessen Variation der Kulturzyklentheorie ich in Marburg schon ein Referat gehalten hatte. Wie würden Sie Alfred und Max Weber im Vergleich charakterisieren?



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Bei Alfred Weber fehlt das Moment des Leidens an seinem Menschsein ganz, das mich an Max so ergriffen hatte. Alfred hatte einen Hang zur Übersicht. Er war darin ein sehr viel freierer Mensch. Es lag ja auch nicht dieser Fluch auf seinem Leben. Er war nicht krank und führte, mit ein paar Sonderlichkeiten, ein ganz normales, etwas abenteuerliches Leben. Max Weber dagegen war krank und litt darunter schwer. Könnten Sie noch einen Satz zu Webers Krankheit sagen? Sprach man darüber? Es wussten natürlich alle, dass er fast zwei Jahrzehnte in Heidelberg ohne Lehre gelebt und geforscht hatte. Es war eine komplexe psychophysische Krankheit und wohl auch körperlich-funktionale Behinderung. Marianne hatte den Hauskreis als Möglichkeit für ihn eingerichtet, um sich mitteilen und austauschen zu können, was dann Weber mit offenbar ungeheurer Intensität und Überzeugungskraft in diesen Jahren tat. So war Theodor Heuss lebenslang Webers Fähigkeit gegenwärtig, ein enormes Bildungswissen rational zu bewältigen und mit großer Disputationskraft in aufschlussgebende Argumentationen einfließen zu lassen. Wie beurteilen Sie Ihre Dissertationsschrift im Rückblick von über sechs Jahrzehnten? Die Arbeit steht im methodologischen Horizont, der sich mit Max Weber, aber auch Heinrich Rickert verbindet, beides übrigens Autoren des Mohr Siebeck Verlags, bei dem auch meine Studie bald erschien. Ich selbst arbeitete dann nicht weiter auf diesem Gebiet, sondern machte die grundlegenden philosophischen Fragen und die großen Texte und Theorien zum Leitprogramm meiner Arbeit. Das war im Grunde in Marburg schon so, wo die Faszination der singulären Weite und Tiefe ihrer Gedankengänge mich am meisten in die Philosophie hineinzog. Die Arbeit an Max Weber folgte noch nicht

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der Motivation zur Philosophie als solcher. Da gehört dann doch die ganz anders fordernde Erfahrung des Studiums Kants und ­Hegels dazu. Es war eben eine Dissertation über Max Weber, die konnte ich nach acht Semestern so schreiben, dass der Text noch heute gut zu lesen ist. Bei der Relektüre Ihrer frühen Weber-Studie kam uns der Gedanke, dass darin schon Grundthemen und Grundperspektiven Ihres späteren Denkens in nuce enthalten sind, die in den späteren Auseinandersetzungen mit Kant und Hegel auf ganz anderem ­Niveau ausgearbeitet wurden. Die Anfänge mit Weber sind mir immer im Sinn geblieben. Ich habe sie nie abgestoßen, ohne sie aber weiterzuverfolgen, obwohl ich Webers Werk weiter und noch ausgedehnter studierte und mich oft auf seine Thesen bezog. Sie waren philosophisch wohl auch anschlussfähig. Aber ich musste mein Denken in ganz anderen Dimensionen ausbauen und weiter voranbringen. Könnte man sagen, es handelte sich um eine Art erste Bewusstwerdung eigener Fragestellungen in Auseinandersetzung mit Max Weber? Nein, so war es nicht. Es war eine tiefgehende Erfahrung, die ich gemacht hatte, die sich dann immer wieder meldete, wenn man mit einer bestimmten Frage mit Lebensbedeutung umgeht, etwa der: Was ist Metaphysik? Aber es gab weder bei Weber selbst, der ja nun nie ein Philosoph hatte sein wollen, noch auch bei Jaspers, der es relativ spät geworden ist, dieses harte Urgestein des Denkens, diese architektonische Meisterschaft, die vor allem in Kant, aber auch in Leibniz, Aristoteles und Platon, anders in Hegel die Bewunderung des Philosophen auf sich zieht und an der man sich selbst messen muss, ohne aber den Scharfsinn etwa von David Hume und Adam Smith zu ignorieren.



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Diese Leidenschaft für die Vernunft, die im Kreis um Max W ­ eber eine wichtige Rolle gespielt hat, ist ja vermutlich sehr verschieden von der Leidenschaft der Vernunft, die man bei Kant finden kann. Hängt das mit unterschiedlichen ethischen Vorstellungen zusammen? Da geraten wir nun geradezu in ein philosophisches Problem. Also: Webers Ethik war gegenüber der kantischen Ethik noch einmal sehr stark formalisiert. Es ging um Konsequenz, um Aufrichtigkeit, um Entschlossenheit und zuletzt um Wahl; das fehlt in dieser Fassung bei Kant, obwohl das Konzept der «Gründung einer Denkungsart» auf ihn zurückgeht. Weber nimmt den modernen Pluralismus auf, ohne ihn einfach als Pluralismus stehen zu lassen. Er verschärft die Gegensätze, durchdenkt ihre Konsequenzen und fordert dazu auf, eine Option zu vollziehen, die den Sinn (und Respekt) für die andere Möglichkeit kennt und wachhält und so auch allgemeinere ethische Normen vertieft. Bei Weber lag deshalb kein einfacher Historismus vor, auch nicht im Sinne Diltheys Typologie der Weltanschauungen. Das war eine Pointe meiner Dissertation. Sie wollte einmal die These widerlegen, dass die Methodologie von der kantischen Erkenntnistheorie abhänge. Und zudem war mir die Überzeugung nicht einsichtig, dass Max Weber einen moralischen Pluralismus als letzte Wahrheit stehen lasse. Deshalb scheint uns auch der Begriff der Persönlichkeit in Ihrer Arbeit sehr entscheidend zu sein, das heißt die Persönlichkeit, die wohl geprägt ist vom modernen Bewusstsein des Pluralismus und zum anderen doch auch weiß, ich als Einzelner muss mich in Entscheidungen festlegen, auch wenn es noch andere Möglichkeiten gibt, die überzeugend wirken könnten. Die normative Legitimität eines Lebensweges oder einer Lebensführung liegt bei Weber allein in der Evidenz der persönlichen Affinität, des eigenen Dämons.

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Das ist eine letzte Evidenz, die man aber nicht hat, sondern zu ­gewinnen sucht, und die als solche nicht demonstrierbar ist. Es ist eine Evidenz, die sich ausbilden und sich bewähren muss in der Geschichte des eigenen Lebens. Eine Nebenbemerkung dazu: Es gibt in Jaspers’ dreibändiger Philosophie ein Kapitel «Das Gesetz des Tages und die Leidenschaft zur Nacht», von dem mir zuerst Gadamer berichtete, als ich mühsam meinen Weg durch Jaspers’ Von der Wahrheit suchte. «Lesen Sie mal in der Philosophie dieses Kapitel, da können Sie Karl Jaspers at his best sehen!» Dieser Hinweis ist nun auch insofern interessant, als ich sehr viel später durch Eduard Baumgarten, den ich zusammen mit Else Jaffés Tochter besuchte, auf die Vorlesung von Jaspers aufmerksam gemacht wurde, die in das Buch Philosophie einging. Else Jaffé hatte sich schon früh in den 20er Jahren brieflich an Jaspers gewandt, in der Meinung, Jaspers habe in dieser Vorlesung, an der sie teilnahm, offensichtlich von Max Weber gesprochen, der in ganz verschiedenen Welten lebte. Jaspers hatte ihr nicht geantwortet und meinte, so Baumgarten: «Über Max Weber spreche ich nur mit Marianne.» Für dieses Kapitel habe er jedoch überhaupt keinen Gedanken im Blick auf Max Weber entwickelt. Erst später wurde mir – und vor allem auch Jaspers – mit mehr biographischem Wissen, das damals auch Jaspers fehlte, klar, dass dessen Unterscheidung der Weltorientierungen, zwischen denen es (in Jaspers’ Sprache) nur einen scheuen Respekt geben könne, eben doch auf Weber zu beziehen war. Jaspers’ Überlegungen über das «Gesetz des Tages und die Leidenschaft zur Nacht» nehmen deshalb auch eine wichtige Stelle in seiner späten neuen Verständigung über Max Weber ein, eng verknüpft mit dem Konflikt in Dingen der Liebe, den Weber am Ende seines Lebens selbst durchleben musste. Dazu ist allerdings die Rede von dem «Leben in verschiedenen Welten» auch wieder durchaus nicht das letzte Wort.



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Heute weiß man, dass Jaspers dieses Kapitel ursprünglich im vergleichenden Blick auf sich selbst und seinen Bruder Enno schrieb, der als ehemaliger Weltkriegspilot in den Weimarer Jahren ein exzessives Leben führte und sich kurz nach Erscheinen des Buches das Leben nahm. Der Bruder scheint für Jaspers mit seiner «Leidenschaft zur Nacht» eine Art Gegenbild der eigenen Existenz­ weise dar­gestellt zu haben, gebunden durch einen ganz anders dunklen D ­ ämon, als es der helle war, den Jaspers wohl für sich mit dem «Gesetz des Tages» beschrieb. Das würde dann ja auch erklären, dass dieses Kapitel eine so große Suggestionskraft hat. Haben Sie selbst Jaspers in Heidelberg erlebt, als er nach den ersten beiden Jahren in Basel 1950 drei Vorlesungen über Vernunft und Widervernunft in unserer Zeit hielt? Ich war dabei. Jaspers wurde vom Allgemeinen Studenten­ausschuss zu diesen Vorlesungen eingeladen. Gadamer begrüßte ihn übrigens in der Alten Aula «im Namen der Universität Leipzig». Er konnte sich noch korrigieren, aber das Wort Leipzig war schon ­gefallen. So nah war ihm das dortige Rektorat noch, das er nach dem Krieg innehatte, bevor er nach Frankfurt auswich. Jaspers’ Vorlesungen machten mich mit seiner Art und Intensität als Lehrer vertraut. Vielleicht können wir noch etwas über Ihren Lehrer Gadamer sprechen, der die Dissertation zu Weber mit pragmatischer Offenheit annahm, aber nur schweren Herzens duldete, dass Sie sich ­daraufhin mit dem Idealismus beschäftigten. Dies lässt zumindest eine briefliche Äußerung Gadamers gegenüber Heidegger vermuten, in der er sich wundert, warum in seinem Umfeld nachstrebende Kräfte sich jetzt mit Hegel beschäftigen. Ja, da war ich dann sicher mitgemeint. Es gibt auch von Heideg­ ger Briefe über seine Besuche in Heidelberg an seine Frau, in denen

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er mit Befremden feststellt, dass die Studenten seine Werke gar nicht wirklich kannten und sich stattdessen mit alten, für ihn längst obsoleten Themen beschäftigten. Dabei war Gadamer damals durchaus selbst an Kant interessiert; wollte er doch ursprünglich ein Buch über die Kritik der Urteilskraft schreiben. Da ich von Marburg her eine ziemlich gute Kant-Durchsicht hatte, sagte er mir: «Ihretwegen hab ich das aufgegeben. Das können Sie besser.» Zudem hielt er in den frühen Heidelberger Jahren Seminare über Hegels Logik, in denen er Platon und Aristoteles einfließen ließ, dazu geneigt, seine Aristoteles-Lektüre mit Hegelianismen anzureichern. Damals habe ich durchaus etwas von ihm gelernt, auch in diesem Zusammenhang. Als er später seine Hermeneutik entwickelte, schob er diese Dinge mehr und mehr beiseite. So hielt er auch nichts von meinem Vorschlag, das Buch, das später unter dem vom Verlag vorgeschlagenen Titel Wahrheit und Methode Geschichte schreiben sollte, «Hermeneutik und Dialektik» zu nennen. Als dann die zweite Festschrift zu Gadamers 70. Geburtstag erschien, fand mein Titel doch noch Verwendung.8 So habe ich immer wieder kleine Versuche unternommen, die spekulative Tendenz bei Gadamer mehr zu beleben. Er hingegen, so kann man sagen, spürte beständig Heidegger im Rücken und schien innerlich von ihm fast abzuhängen. Sprachen Sie mit Gadamer über Heidegger? Als 1950 Heideggers Holzwege erschienen, war das ein Knall. Damit musste man sich auseinandersetzen. Seine Aufsätze hatten eine Dichte und Form des Zugriffs, dem nur sehr schwer zu widerstehen war, zumal von Heidegger lange Zeit überhaupt nichts

8  Vgl. Dieter Henrich, Selbstbewußtsein, kritische Einleitung in eine Theorie, in: Hermeneutik und Dialektik (Gadamer-Festschrift), hrsg. v. Rüdiger Bubner, Konrad Cramer, Reiner Wiehl, Tübingen 1970, S. 257–284.



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­erschienen war. Gleichwohl gab es keine Kontroversgespräche mit Gadamer über Heidegger. Man konnte ihm Schwierigkeiten, die man mit Heidegger hatte, deutlich machen. Er verwies dann auf Züge, die man noch nicht beachtet hatte – auch auf die frühen Vorlesungen, die, wenn sie einmal veröffentlicht sein würden, Heideg­ gers Bedeutung erst ganz sichtbar machen würden. Es war ja klar, dass ich mich gegen Heidegger wehrte und ihn, Gadamer, geradezu als einen Antipoden zu Heideggers Statur als philoso­phischer Lehrer wahrnahm. Irgendwie wird er das auch geschätzt haben. Jedenfalls hat er es nicht zu einem Streitgespräch zwischen uns kommen lassen. Zugleich hatte Gadamer durchaus Distanz zu Heidegger als Person. An folgendes hellsichtige Diktum kann ich mich gut erinnern: «Heidegger hat zweierlei nicht: Geschmack und politische Urteilskraft.» Sehr treffend. Aber Gadamer bewunderte Heidegger als Denker. Seine Impulse fand er entscheidend. So gab es ein gemeinsames Seminar mit mir über die Nikomachische Ethik, die er von Heidegger her aufschlussreich deutete. Die intime Kenntnis der Griechen war e­ twas, das ­Gadamer als klassischen Philologen mit Heidegger verband. Wissen Sie, wie Gadamer auf die Kritik reagierte, die sein Marburger Freund und Kollege Karl Löwith an ihrem gemeinsamen Lehrer Heidegger übte? Löwiths Polemik Martin Heidegger. Denker in dürftiger Zeit entzündete sich ja vor allem an den Holz­ wegen und machte in den frühen 50er Jahren öffentlich Furore, als sie in drei aufeinanderfolgenden Essays in der Neuen Rundschau erschien. Gadamer war immer zurückhaltend, eine Kritik selbst wieder zu kritisieren. Sicherlich war er der Meinung, dass Löwith die ­gedankliche Tiefe von Heideggers «Kehre» gar nicht verstanden

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hatte. Dabei schätzte Gadamer Löwith, seinen philosophischen Stil und seine kontemplative Intensität – nicht so sehr seine etwas holzschnittartige Begründungsart. Dies war wohl noch entscheidender als die persönliche Freundschaft, die seit der Marburger Zeit bestand. Gadamer tat alles, um Löwith 1952 aus dem amerikanischen Exil auf den zweiten Lehrstuhl nach Heidelberg zu holen. So gab es dort in der Folge dann zwei philosophische Welten, beide in einer Affiliation zu Heidegger. Zu Gadamer gingen die Studenten, die mit den Subtilitäten der theoretischen Philosophie, also etwa mit der Dialektik Platons, etwas im Sinne hatten. Löwith hingegen war seit Von Hegel zu Nietzsche, gewiss einem wunderbaren Buch, das im japanischen Exil entstanden war, bekannt als Zeitdiagnostiker. Er zog darum alle an, auch Theologen, die im weitesten Sinne nietzscheanische Motive des Denkens hatten. Ich erinnere mich an meinen letzten Besuch bei dem sterbenskranken Löwith, der wohl an Nierenversagen litt. Vor dem Fenster seines Krankenhauszimmers blühte ein Kirschbaum. Er wies mich darauf hin und freute sich an der Betrachtung der Kirschblüte, wie er sie in Japan erfahren hatte. In dieser im wörtlichsten Sinne kontemplativen Haltung ist Karl Löwith gestorben. Jürgen Habermas sprach 1963 treffend und mit tiefer Sympathie von «Karl Löwiths stoischem Rückzug vom historischen Bewusstsein». Er war es auch, der zehn Jahre zuvor, als Löwith seine Heidegger-Kritik veröffentlichte, dazu aufrief, «mit Heidegger gegen Heidegger» zu denken. Ja, diesen Artikel, der 1953 in der Frankfurter Allgemeinen ­Zeitung erschien, las ich zeitgleich und beeindruckt. Ich selbst habe Heidegger in Darmstadt kennengelernt, anlässlich der dortigen Hochschulgespräche, im Sommer 1951. Da hielt Heidegger seinen



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Vortrag «Bauen, Wohnen, Denken», den Gadamer mit e­iner Gruppe von Schülern besuchte. In Darmstadt stellte Gadamer die Schüler seinem eigenen Lehrer vor. Man stand, ich vorn, in einer Reihe, und dann kam Gadamer mit Heidegger. Er kannte mich offensichtlich schon und gab mir die Hand, mit einem intensiven Blick, den ich unmittelbar als Versuch der Proselytenmacherei erfuhr. Ich schreckte zurück und sagte mir schon in diesem Moment: Mit dem Mann wirst du dich nie einlassen. Ich behielt mein Misstrauen gegen ihn als Person, aber auch, wie zuvor, gegen seine hochambitiöse, gegen eigene Zweifel und Einwände abgeschottete Schreibart. Bei aller Bewunderung für seine Denkkraft kommt darin meines Erachtens ein Wirkungswille zum Ausdruck, dessen sich die Philosophie zu enthalten hat. Deshalb lese ich ihn auch heute ausgesprochen ­ungern, obwohl sehr aufmerksam. Denn man muss immer gefasst sein, von Heidegger rhetorisch eingefangen zu werden. Auffällig war mir seit damals auch, dass dieser körperlich kleine Mann sich immer reckte und Kraft ausstrahlen wollte. Ich kann mir vorstellen, dass er sich nur im bäuerlichen Umkreis wirklich entspannte. Im akademischen Zirkel wirkte er künstlich aufgebaut. So habe ich ihn eben erfahren. Es mag dabei manches perspektivisch zu verstehen sein. Ich musste mich eben gegen seinen Rang und vorherrschenden Einfluss behaupten und durchsetzen, so dass es in meinem Bild von ihm an Distanz und Freundlichkeit mangelt. Später erlebte ich Heidegger noch in der Arbeitsgemeinschaft der ehemaligen Marburger. Das waren die theologischen Schüler von Rudolf Bultmann, die sich alle Jahre einmal trafen. Mein Freund Helmut Fahrenbach, der eine Arbeit über Bultmann und Jaspers geschrieben hatte, führte mich in den Kreis ein, was nicht schwer war, da ich in Marburg selbst auch Bultmann gehört hatte. Heideg­gers

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Attitüde war mir auch dort fremd und ungemäß. Ihm ging es nicht darum, einen Gedanken im anderen zum Wachsen zu bringen, sondern er wollte die Macht eines überlegenen Gedankens aufblitzen lassen, der an der Zeit ist, und er wollte das Gegenüber von ihm ergriffen sehen. In der Marburger Zeit muss das anders gewesen sein. Damals sprach Heidegger mit seinen Schülern wohl noch sehr offen. Erst später, vor allem nach seiner Rektoratszeit, war Heidegger womöglich zu der Meinung gelangt, dass seine Philosophie weniger diskutiert als verkündet werden sollte. Was Heideggers Antisemitismus betrifft, der nun in den Schwarzen Heften zum Ausdruck kommt, so war er sicherlich der Überzeugung, dass es so etwas wie eine weltumgreifende Denk- und Wirkungsart gibt, die eine Gefahr auch für die deutsche Philosophie darstellt, die der griechischen Metaphysik wieder nachdenkt und die nicht in der Nachfolge der Eschatologie Israels steht. Er war kein rassistischer Antisemit, aber es kam von seiner «Seinsfrage» her unabwendbar bei ihm eine Art kultureller Antisemitismus ins Spiel. Er wollte eine jüdische Geschichtsmacht treffen, die scheinbar gegen das stand, was er selbst als philosophisch verbindliche Geschichtsmacht erfuhr. Hätte er mit dieser Perspektive im Spiegel-­ Interview auftreten können? Man hätte ihn nur noch schärfer angegriffen. Schon deshalb, so denke ich mir, hat er geschwiegen, seine Niederschriften aber nicht manipuliert. Er überließ die Aufklärung über seine Stellung und deren Begründung der Zukunft und einem unbefangeneren Verstehenwollen. Ist es nicht merkwürdig, dass es diese Stellen eigentlich nur in den Schwarzen Heften gibt, die er zunächst für sich selbst schrieb? Heidegger hielt ja öffentliche Reden, wo solche Sätze und Bemerkungen damals durchaus gut angekommen wären.



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Ich denke schon, dass er mit seiner Version von Nationalsozialismus nicht in die primitive, rassistische Hetze einstimmen wollte. Er wird das bis zum Schluss nicht für ganz falsch gehalten haben, was man nun in seinen Notizen liest. Überlegen Sie sich einmal: Was ist Heideggers Wahrheit? Da ist in Griechenland irgendetwas geschehen, das seitdem die Sprache und die ganze westliche Geschichte ­geprägt hat, und diese Tradition – das ist das Originelle von Heideg­ ger – ist zugleich eine Tradition des Vergessens. Schon dieser Anfang in seiner ganzen großartigen Gewalt ist in einem Vergessen gegründet. Und das radikalisiert sich in der technischen Zivilisation. Und nun ist eine Wendung nötig, die nur in der Erinnerung an den griechischen Anfang und das in ihm Ungedachte möglich ist; und dies kann nur in einer Sprache geschehen, welche diese griechische Eröffnung, ihr nachdenkend, für ein anderes zu öffnen vermag. Wenn Sie das denken, wie müssen Sie dann das Judentum als Weltreligion und eigenständige Kultur einschätzen? Für Heidegger stand fest, dass nur die deutsche Sprache fähig ist, die griechische Tradition freizulegen und fortzusetzen. Er dachte in völkischen Kategorien. Schon in Sein und Zeit versteht er unter Geschichte das «Geschick» eines Volkes. Es geht hier um die Frage, ob sein nazistisches Rektorat mitbestimmt war von einer gewissen Zustimmung zu der Nazithese von der weltjüdischen Gefahr. Sonst wird ja immer gesagt: «Er dachte völkisch, aber nicht antisemitistisch.» Das ist nicht gründlich überlegt. Wie stand Gadamer zu diesem Fragen-Komplex? Diese Art von Heideggers Denken hat Gadamer vollkommen fern gelegen. Heidelberg war – auch durch ihn – ein Ort für jüdische Rückkehrer. Gadamer hatte viele jüdische Freunde, und seine Zurückhaltung gegenüber der Naziideologie, mit der er seine Karriere durchaus gefährdet hat, war auch seiner Solidarität mit diesen

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Freunden entsprungen. Nach Löwith, den er aus dem amerikanischen Exil geholt hatte, kam auch Raymond Klibansky als Gast; und Hans Jonas habe ich ebenfalls in dieser Zeit in Heidelberg gehört. Dass Hannah Arendt 1952 mit einem Vortrag zum Totalitarismus in Heidelberg war, erfuhr ich erst später. Damals war ihre Beziehung zu Heidegger nicht bekannt. Auch lag es an der Bewusstseinslage dieser Zeit, dass man sich nicht im Detail mit dem ausei­ nandersetzte, was gewesen war, sondern man lebte im Bewusstsein des neuen Aufbruchs. Man war dankbar und froh, mitgestalten zu können. Wie präsentierten sich die Philosophen, die einst zu dem Marburger Kreis um Heidegger und Bultmann gehört hatten und die nun zu Gadamer nach Heidelberg kamen? Löwith, der einzige Freund Heideggers aus dessen Freiburger Zeit, der aus dem amerikanischen Exil auf Betreiben Gadamers zurückgekehrt war, tat nun allerdings alles, um aus der Philosophie als solcher auszutreten. Die These von der Vormacht und der Allbedeutung der Natur auszuarbeiten und geltend zu machen, also in der allbefassenden Natur das einzig und das letztlich Gründende und Verlässliche aufzuzeigen, war schlussendlich sein einziges wirkliches Interesse. Das erklärt auch, warum sich in Heidelberg das Verhältnis von Gadamer und Löwith für Studenten anders darstellte, als es in der Marburger Konstellation um Heidegger und Bultmann gewesen war. Löwith hatte, begreiflich aus den genannten Gründen, in Heidelberg kaum herausragend begabte Studenten der Philosophie als solcher. Die gingen zu Gadamer, denn bei ihm konnte man schwierige Themen gründlich durchdenken. Da gab es Platons Spätdialoge, da gab es Hegels Logik, da gab es auch Aristoteles’ Metaphysik, in Beziehung auf Platon und Hegel analysiert. Gadamers Absicht, die Problemlagen der Dialektik mit denen der Hermeneutik in einen



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Zusammenhang zu bringen, ist in Wahrheit und Methode nur in Spuren verwirklicht. Bei Gadamer versammelten sich die, die sich für die wirklichen Philosophen hielten. Nebenbei war dann ja auch ich da und bot einiges an, das der großen Tradition zugehörte  – manchmal sogar in Seminaren zusammen mit Gadamer. Welche Erinnerung haben Sie an Hans Jonas? Als Hans Jonas in den 50 er Jahren nach Heidelberg kam, schienen mir Löwith und Gadamer sich etwa so zu verhalten, als sagten sie: «Da ist Hans Jonas, er spricht wieder über Gnosis und interpretiert Heidegger als Gnostiker, ja, wir kennen das schon seit langem. Nett, dass er wieder da ist.» In den USA begegnete ich ihm später wieder – und nun mit seinen eigentlichen Motiven. Sprachen Sie damals mit Gadamer über seine Vergangenheit im «Dritten Reich»? Natürlich hatten Heideggers Schüler damals, sofern sie nicht emigrieren mussten, zunächst gewachsene Chancen, weil ja die ­jüdischen Professoren vertrieben wurden. Gadamer erhielt so auch einige Lehrstuhlvertretungen. Aber auf der anderen Seite waren ihre und auch Gadamers Chancen zugleich nunmehr sehr beschnitten, weil sie mit dieser Gruppe verflochten waren und sich auch nicht von ihr distanzierten. Gadamer hat mir einmal gesagt, dass er ja doch aus seiner Interessenlage heraus die allerbesten Gründe gehabt habe, pro forma in die NSDAP einzutreten  – einfach um sein und seiner Familie Leben zu sichern. An ein schnelles Ende des Regimes hat er nicht geglaubt. Sie lebten ja alle ärmlich, mit ­Stipendien und Hilfskraftstellen, und Krüger und Gadamer waren bereits Väter. Und Gadamer sagte mir weiter, die Parteimitgliedschaft sei für ihn innerlich ganz ausgeschlossen gewesen – «wegen meiner vielen jüdischen Freunde». Mir erschien das als authentisch und glaubwürdig. Deshalb ließ er sich um seiner Karriere willen in

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ein mehr als nur halb obligatorisches Dozentenlager einberufen. Gemäß dem hermeneutischen Prinzip, dass man in allem irgend­ etwas, was Sinn macht, entdecken kann, wenn man sich verstehend verhält, gab es bei ihm nuancierte und spärlich dosierte, so mag man sagen, Anlehnungen an einen Sprachduktus des Regimes, von ihm aber nicht einmal auf den Effekt hin berechnet, glaube ich. Ebenso hat er sich dann auch zum Marxismus verhalten, als die Sowjets ihn zum Rektor in Leipzig gemacht hatten. Auch da hat er Motive, die nunmehr im Schwange waren, von ferne her aufgenom­ men, ohne sich mit dem neuen Regime zu identifizieren. Als der Krieg zu Ende war, erwies es sich ja auch, dass Gadamer mit seiner Wesensart, der direkte Konfrontationen fern lagen (im Schach war er, wie gesagt, reiner Defensivspieler), eine völlig ungestörte Beziehung zu seinen jüdischen Freunden haben konnte. Blickten jüngere Leute nach Kriegsende eher in die Zukunft, während Älteren, die den Krieg aktiv miterlebt hatten, die Vergangenheit deutlicher vor Augen stand? Das war wohl so. Aber wir hatten doch alle eine gewisse Vergangenheit im «Dritten Reich». Ich erzählte Gadamer von meiner bescheidenen Karriere beim Deutschen Jungvolk, worauf er sagte: «Ach, ist doch ganz selbstverständlich.» Bei anderen lagen die Dinge schon schwieriger. Ich erinnere mich noch gut an Hans Robert Jauß, den Romanisten und späteren Mitbegründer von Poetik und Hermeneutik. Er war (wohl zuletzt im Majorsrang) bei der Waffen-SS gewesen. In seinem Verhalten lag nichts Autoritäres, wohl aber ­etwas Striktes und Ordnung Wahrendes. Ich fragte ihn einmal, ganz naiv: «Was haben Sie denn im Krieg gemacht?» Er antwortete, der Wahrheit entsprechend, dass er Major gewesen sei. Mir verschlug es die Sprache, dass dieser kleine Mann, nur einige Jahre älter als ich, es bis zum Major gebracht hatte. Jauß wollte mir nur nicht sagen,



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dass er in dieser Funktion bei der SS gewesen war. Das kann man ihm nicht übelnehmen, zumal er meine Frage einigermaßen wahrheits­ gemäß beantwortet hatte, was gar nicht selbstverständlich war. Ich fragte aber nicht weiter nach. Das hätte damals aufdringlich gewirkt. So kann man sagen, dass gewisse Tabus herrschten und man über brisante Aspekte der eigenen Biographie einvernehmlich schwieg. Für Jauß muss es wohl eine akademische Überlebensfrage gewesen sein. Hätte nicht diese schematische Ostrakisierung stattgefunden, dann hätte er eher über seine Vergangenheit gesprochen. Dabei war er wohl bei einer kämpfenden SS-Einheit gewesen, so dass man aus der Zugehörigkeit nicht schließen kann, er sei in irgend­ etwas anderes als den militärischen Kampf verwickelt gewesen. Mir erzählte er später von den schrecklichen Erinnerungen an die Zeit, als er mit seiner Kompanie vor Leningrad gelegen habe und sie nur noch fünf, sechs Männer gewesen seien. Und seine Frau erzählte mir später, wie er nachts wegen der wiederkehrenden Bilder der Kampfeserfahrung im Schlaf geschrien habe. Es gibt sogar Literatur von einem Franzosen über sein SS-Regiment, aus der hervorgeht, dass selbst vom tapferen Hauptsturmführer Jauß Zweifel laut geworden seien, so dass er von der Front nach Prag versetzt worden sei. Es ist natürlich ein Makel und erregt Verdacht, Mitglied in dieser Organisation gewesen zu sein. Aber wenn der bloße Umstand, dass man «dabei» war, ausreicht, die Karriere ganz unmöglich zu machen – dann hält man den Mund. Was sollte man anderes tun? Wie hatten Sie Hans Robert Jauß kennengelernt? Er versuchte, mich zu seiner studentischen Gruppe Semper Apertus zu «keilen», wie man das damals in der Sprache der alten Verbindungen nannte. Jauß hatte sie initiiert, ihr Name war das

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Motto der Universität Heidelberg. Ich gelangte allerdings zuvor schon in eine andere, die sich Alpbach-Gruppe nannte, nach dem internationalen Forum Alpbach in Österreich, das schon 1945 gegründet worden war und heute noch besteht. Zwei Studenten waren irgendwie dahin gekommen, obwohl man Deutschland ja lange nicht verlassen konnte. Sie waren von dem Beispiel, ein Thema von verschiedenen Fächern her anzugehen, so begeistert, dass sie eine Filialgruppe in Heidelberg gründeten. Es gab auch universitäre Einrichtungen, die dem Grundmodell entsprachen, nämlich die Kollegienhäuser, von denen heute lediglich noch das Tübinger Leibniz-Kolleg existiert. Können Sie über diese Anfänge des interdisziplinären Denkens, das für Heidelberg so charakteristisch ist, mehr berichten? Schon als Assistent leitete ich im Heidelberger Collegium Academicum die philosophische Arbeitsgemeinschaft im hauseigenen Studium generale. Das war eine wunderbare Sache, mit Tutoren, von denen einige im Haus wohnten und andere mit einem Lehrauftrag angestellt waren. Ich hatte also schon zu früher Zeit in einem Semester zwei Seminare als Assistent und dann noch einen Kurs im Collegium Academicum zu geben. Dieser verlief überaus lebendig, und ich selbst lernte auch sehr viel in ihm. Zum Beispiel über Marx’ Jugendschriften, die ich noch nicht kannte. Das Interesse war groß, und wir lasen die neue Ausgabe, die der Kröner-Verlag herausgebracht hatte. Ich war selber fasziniert vom Hegelianismus bei Marx. Das scheint uns ungewöhnlich zu sein für eine westdeutsche Universität der 50er Jahre … Ich war wohl der Erste, der Marx in Heidelberg anbot. Die von Siegfried Landshut erstmals in der Weimarer Republik edierte Ausgabe war für uns überaus erhellend im Kontrast zur sowjetischen Staatsphilosophie und doch auch als deren historische Grundlage.



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Ich erhielt noch Jahrzehnte später Reaktionen auf das Seminar. Es waren Seminare wie dieses, die die Studenten dazu veranlassten, mich als Leiter des Collegium Academicum zu wünschen, während mein Vorgänger jemanden anderen im Blick hatte. So verdanken Sie Marx das Amt als Leiter dieser interdisziplinären Einrichtung? Zum Glück nicht ganz. Die Studenten im Collegium, die keine Philosophiestudenten waren, sondern aus allen Fakultäten kamen, schätzten die intensive Diskussionsatmosphäre unabhängig von den jeweiligen Themen. Ein anderes Seminar, das ebenfalls viel Aufmerksamkeit auf sich zog, behandelte das Widerstandsrecht. Dass das Thema in jenen Jahren brennend war, lag an den Diskussionen um die Berechtigung des 20. Juli und an der akuten Situation im Osten nach dem 17. Juni 1953. Kant beispielsweise war ein Gegner des Widerstandsrechtes. Als ich ein Jahrzehnt später bei Suhrkamp ein Bändchen über Theorie und Praxis bei Kant herausgab, war das Widerstandsrecht ebenfalls Thema, nun im Rahmen der 68erDiskussionen.9 Solche Lehrveranstaltungen im Collegium Academicum waren sachlich faszinierend und menschlich sehr bewegend, da man kontrovers und äußerst intensiv debattierte, wohlgemerkt nicht mit Philosophiestudenten. Was waren Ihre Aufgaben als Leiter des Collegiums? Ich trat mein Amt an, nachdem ich mich Anfang 1956 habilitiert hatte. Während meiner vier Dozentenjahre war das fast ein zweiter Beruf. Ich hatte Sorge für das Studium generale und das kulturelle Programm zu tragen, das Vorträge, Theater- wie Orchesteraufführungen, Ausstellungen, später sogar ein Kabarett umfasste. Ich hatte

9  Vgl. Dieter Henrich (Hg.), Kant – Gentz – Rehberg, Über Theorie und Praxis, Frankfurt am Main 1967.

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aber auch die Verantwortung für die Gestaltung der Beziehungen in die ‹sowjetisch besetzte Zone› Deutschlands, die damals in der Bonner Republik gut abzuwägen waren und unter erheblichen Druck gesetzt werden konnten. Neben dem Orchester, dem Kabarett und einer Galerie gab es für die 150 ausgesuchten Studenten eine eigene Bühne mit öffentlichem Programm, die sich im riesigen Kellergewölbe eines alten Barockbaus befand. Ein Germanistikstudent, der später ein bedeutender Regisseur geworden ist, brachte dies Theater im Gewölbe mit Laienschauspielern und mir als seinem Regieassistenten auf ein sehr gutes Niveau. Von daher stammt meine frühe Bekanntschaft mit Beckett, als wir 1957 dessen Hörspiel All that Fall zum ersten Mal überhaupt szenisch aufführten. Dies war an sich illegitim, da Beckett niemals seine Zustimmung zu einer solchen Aufführung gab. Ich war fasziniert, zumal auch der Regisseur hervorragend war.10 Ich glaube, dass diese Intensität im Collegium möglich war, hängt damit zusammen, dass man damals die Universität als Organismus erleben konnte, in dem im Austausch zwischen denen ganz oben und denen ganz unten eine selbstverständliche Nähe entstand. Studenten wie Professoren zeigten sich letztlich an denselben Themen interessiert, und alle hatten deshalb gemeinsame Fragen, zu deren Klärung sie auf verschiedene Weise beitragen konnten. Kann man sagen, dass nach dem Zweiten Weltkrieg eine Art ­natürliche antiautoritäre Stimmung an der Universität herrschte, die für eine gewisse Durchlässigkeit im akademischen Leben sorgte und solche Foren des Gesprächs ermöglichte? Ja, diese Leichtigkeit im geistigen und persönlichen Umgang und Entdecken als Teil der Nachkriegserfahrung schien uns ganz verein-

10  Vgl. Dieter Henrich, Wir alle fallen … (zu Samuel Becketts Dramaturgie), in: Theater im Gewölbe, 1959.



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bar mit der Schwere der Lebensumstände. Also wie Fichte an seine Verlobte während der für ihn entscheidenden Kant-Lektüren schrieb, er habe unter den eingeschränktesten Bedingungen die glücklichsten Tage erlebt. Das können wir auch für jene Jahre sagen. Allerdings warf 1952, also lange vor meinen Jahren im Collegium. der Korea-Krieg einen Schatten, da man schockartig damit rechnete, der Krieg komme auch bei uns wieder. Können Sie noch etwas zu der «Leichtigkeit» sagen, die Sie in den frühen Heidelberger Jahren erlebten? Um 1950 existierte in Heidelberg eine recht ausgeprägte Bohème, die für einen jungen Mann eine wichtige Lebenserweiterung darstellte und mich selbst in einiges Staunen versetzte. Eine solche Bohème-Erfahrung, auf die bürgerlich-protestantische Kultur meiner Familie gepflanzt, wirkte in vieler Hinsicht konfliktstiftend. Aber auch in einer gewissen Weise produktiv? Oh, ja. Auch Max Weber war seinerzeit fasziniert von der meist großbürgerlichen Bohème, die sich im Tessin um den Monte Verità sammelte, und speziell vom freizügigen Leben seiner Doktorandin Else Jaffé. Solche Phänomene gab es nach dem Zweiten Weltkrieg in Heidelberg auch. Von meiner Freundin von damals musste ich mich seinerzeit aus gutem Grunde schließlich gewaltsam losreißen. Die dunkel-lockere Atmosphäre zwischen Spiel und Abgrund, ziemlich nahe dem damaligen literarischen Paris, unterminierte meine Arbeitskonzentration. Unterschied sich Heidelberg durch diese Bohème-Phänomene von anderen Universitäten wie Tübingen, in denen es akademisch strenger zuging? Heidelberg empfand ich gar nicht als so klein, sieht man von ­einem Vergleich mit dem nahe gelegenen Frankfurt ab, wo ich in dem einen Semester Ähnliches erlebt hatte. Aber es war unzerstört.

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Und Mannheim lag vor den Toren. Das Nationaltheater in Mannheim spielte in einem unzerstörten Kino; ich fuhr per Fahrrad oft hin und verdanke den Fahrten bedeutende Theatererlebnisse. Auch die dortige Kunsthalle war ein wichtiger Orientierungspunkt. Man konnte viele kulturelle Eindrücke aufsaugen. Und noch etwas sollte ich vielleicht erwähnen. Durch den internationalen Ruf Heidelbergs, zu dem Jaspers wohl auch beitrug, kamen viele Amerikaner nach dem Krieg nach Heidelberg, zumal die Stadt das europäische Hauptquartier der amerikanischen Armee war. Ich erinnere mich noch an einen Vortrag, den ich als Privatdozent dort über Rechtsphilosophie in Deutschland nach 1945 nur vor amerikanischen ­Offizieren hielt – mein erster Vortrag auf Englisch. Auch sind mir unter den vielen Besuchern zwei Philosophen besonders gut im Gedächtnis, George Schrader und John Smith, beide Professoren der Yale University, die zu ihrem Sabbatical nach Heidelberg kamen und sich für die deutsche Tradition, vor allem Kant und Hegel, ­interessierten, über die sie mit mir lange diskutierten. Für Amerikaner wie für Japaner war Heidelberg immer ein ­Faszinosum. Was machte in Ihren Augen die Sonderstellung dieser Stadt aus? Heidelberg hatte gewiss viele Seiten, die ich damals gern wahrnahm, auch wenn sie nicht in mein Werk eingriffen: so Goethes West-östlicher Divan, der mir sehr viel bedeutet. Und dann Hölderlin und seine lyrische Huldigung der Stadt in ihrer Landschaft. Zudem Eichendorff, der ebenfalls ein wunderbares Heidelberg-­ ­ Gedicht verfasste, an das sich das romantische Profil und Selbst­ bewusstsein der Stadt gegenüber Mannheim, dem Industriestandort, der ganz auf seine Modernität setzte, immer wieder anschließen konnte. Heidelberg hatte diesen Zug als Ort der Literatur, der Literaten und der Verlage. Zudem war und ist es noch immer die aus



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den Ruinen der französischen Brandstiftung nur provisorisch neu entstandene pfälzische Hauptstadt, die  – als solche bald aufgegeben  – über Jahrhunderte weinselig, aber eigentlich beinahe funk­ tionslos lebte. Diese Funktionslosigkeit bietet wohl auch dem philosophischen und akademischen Nachdenken insgesamt eine gewisse Freiheit. Ja, aber erst seit 1806. Bis dahin war Heidelberg eine Winkeluniversität unter jesuitischer Leitung. Dann löste Napoleon, der das linksrheinische Gebiet für Frankreich okkupiert hatte, den Staat Kurpfalz mit der neuen Hauptstadt Mannheim auf. Als Entschädigung wiederum für die Verluste, die auch Baden hinzunehmen hatte, wurde Heidelberg mit der Universität dem Land Baden zugeschlagen, das bereits ein recht liberales Großherzogtum war. In Karlsruhe bemühte man sich erfolgreich darum, diese Universität zur Bedeutung anwachsen zu lassen. Unter anderem berief man Johann Heinrich Voß, den Homer-Übersetzer, mit wohl der einzigen Verpflichtung, sonntags ein offenes Haus zu halten. Er führte ein universitäres Leben, ganz im Sinne Max Webers. Heidelberg wurde zu einer von Karlsruhe immer geförderten akademischen Ausnahmeerscheinung. Gadamer erklärte mir einmal, dass die Qualität der deutschen Universitäten im Kaiserreich auch darin begründet lag, dass das große Preußen mit seinen vielen Universitäten und der monumentalen Berliner Gründung das kleine Sachsen und das kleine Baden als Konkurrenten auf den Plan rief, die beide versuchten, mit ihren Universitäten mitzuhalten. Und dies waren für Gadamer natürlich Leipzig und Heidelberg. Die badische Verwaltung der Heidelberger Universität hat wenig Kritik auf sich gezogen, und Kuno Fischer, der als Philosophielehrer sogar im Baedeker stand – als Rat für alle war darin zu lesen: Kommen Sie nach Heidelberg, gehen Sie in die

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Vorlesung von Kuno Fischer  –, bekam zum 50. Doktorjubiläum vom Kultusministerium eine Hegel-Büste geschenkt. Sie stand auf einem Holzsockel in unserem Seminarraum, wurde aber später gestohlen und bisher leider nicht wiedergefunden. Das ist in der Tat ein Unglück, denn man könnte sie heute als Vorbild einer hingeschwundenen besseren Zeit für die Universität im Staat vorzeigen. Da stand auf einer Kupfertafel: Herrn Geheimrat Prof. Dr. Kuno Fischer. Zum 50. Doktor-Jubiläum. Das dankbare Kultusministerium. So etwas ist heute nicht mehr vorstellbar.

4. Erfahrungen in Berlin (1960–1965)

Im Jahr 1960 gingen Sie von Heidelberg nach Berlin, als Sie dort einen Ruf auf eine philosophische Professur erhielten. Es waren sogar zwei konkurrierende Angebote. Sowohl die Freie Universität als auch die Technische Universität wollten mich nach Berlin holen. Für mich bedeutete dies ein ungeheures Glück. Ich war mit dreiunddreißig Jahren noch jung und gerade erst vier Jahre habilitiert, als man mich schon für einen Lehrstuhl in Betracht zog. Zudem handelte es sich bei Berlin um meinen Wunschort. Woher kannten Sie die Stadt? Über meine Arbeit am Heidelberger Collegium Academicum. Ich hatte mit Studenten jedes Jahr Fahrten in die geteilte Stadt unternommen, bei denen wir West- und Ostberlin gleichermaßen be­ suchten. Der Westberliner Senat schätzte Besuche aus dem Westen, zumal wenn es sich um eine ausgesuchte Gruppe von Studenten mit einem gewissen Ruf handelte. Die 40 bis 50  Kollegiaten wurden auch im Osten gerne gesehen. Unser Ziel war es, mit der Wirklichkeit des geteilten Deutschland in Kontakt zu kommen. So wurden wir in der sowjetischen Botschaft empfangen und gingen in das Brecht-Theater am Schiffbauerdamm, aber ebenso ins Notaufnahmelager nach Marienfelde. Wir erlebten erschütternde Szenen, die von der stalinistischen DDR zeugten. Es gab sogar einen Kollegiaten, der später im Osten Theologe wurde und die dortigen Verhältnisse verteidigte. So kam es auch zu ersten Kontakten mit DDR-Philosophen. Die kommunistische Herausforderung interessierte uns.

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Wissen Sie, wie man in Berlin auf Sie aufmerksam wurde? Wohl vor allem durch den Heidegger-Schüler Wilhelm Weischedel, der Philosophie an der Freien Universität lehrte. Ich kannte ihn über meine Tätigkeit für die Studienstiftung. In einer Heidelberger Runde, in der man über die Studienstiftung debattierte, berichtete ich von meinen Erfahrungen im Collegium Academicum, wo die fachliche Mischung der Studenten zu einem gemeinsamen Nachdenken führte, das die Spezialisierung der bürgerlichen Gesellschaft mit Distanz betrachtete. Es war offensichtlich, dass das Einzelstudium nicht mehr die allgemeinen Grundlagen hatte, die es besaß, als Fichte, Schleiermacher, Schelling und Humboldt die Universität neu begründeten. Der Bericht muss Weischedel beeindruckt haben. So kam es wohl dazu, dass er an mich dachte, als in Berlin eine Professur frei wurde. Wie verlief die Berufung? Die Situation war nicht ganz einfach, da auch die Technische Universität mich auf eine Professur berufen wollte. Hier war es der Germanist Walter Höllerer, der ein Interesse an mir hatte, da er mich vom Heidelberger Studenten-Theater des Collegium Academicum her kannte. Wie kam der Kontakt zu Walter Höllerer zustande? Das «Theater im Gewölbe» gehörte zur Arbeitsgemeinschaft deutscher Studenten-Theater, die sich jährlich in je einer anderen Hochschule trafen. So lernte ich in Saarbrücken Walter Höllerer kennen, der damals Protektor des Frankfurter Studenten-Theaters war. Sie führten ein Stück auf, das mich beeindruckte. Es war eine drama­ tische Fabel mit dem Titel Hochwasser, in der Menschen und Ratten auf der Flucht vor der Flut sich zuletzt auf einem Dachboden immer näher kommen mussten. Der Autor des Stückes war Günter Grass, ein früher Freund von Walter Höllerer. Damals hörte ich schon, Grass wolle einen Roman schreiben, da es mit dem Theater nicht so richtig



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klappe. Das war Die Blechtrommel. Als ich Grass später in Berlin kennenlernte, sagte ich ihm offen: «Herr Grass, ich halte Sie eigentlich für einen Dramatiker.» Wohl aufgrund dieser Begegnung wollte Höllerer mich nach Berlin holen, um an der Humanistischen Fakultät Philosophie im Grundstudium für Ingenieure anzubieten. Auch von meiner Heidelberger Arbeit mit Studenten, die aus allen Fächern kamen, hatte ich eine besondere Sympathie für diese Fakultät. Gab es noch andere Kollegen, die Sie in der Fakultät der TU ­interessierten? Ja. Es gab Hans Heinz Stuckenschmidt, der damals führender Musikkritiker der FAZ war. Und ebenso den Kunsthistoriker Fritz Baumgart, der mir zu einem wirklichen Lehrer wurde. Er war im Krieg in Paris Adjutant des Generals von Stülpnagel, der im Widerstand gegen Hitler aktiv war und nach dem 20. Juli gehängt wurde. In den Pariser Jahren führte Baumgart als Besatzungsoffizier durch die Ateliers der Künstler wie Picasso und Braque. Ernst Jünger nennt Fritz Baumgart den großen Augenöffner. Er habe die Kunst für ihn zum Leben erweckt. Und das war auch bei mir so. Ich habe von diesem Mann ungemein viel gelernt und ihn später oft in seinem Haus am Gardasee besucht. Dort hatte sich eine kleine Siedlung ­gebildet, in der einige Professoren der Technischen Universität ihr Refugium besaßen. In diesem Kreis lernte ich auch Heinrich Hertel kennen, den Lehrstuhlinhaber für Luftfahrttechnik. Ein korpulenter Mann, der gern erzählte und die Flugbewegung der Tiere erforschte, um daraus Erkenntnisse für den Flugzeugbau zu gewinnen. Was reizte Sie mehr, die Philosophen an der Freien Universität oder die Möglichkeit, an der Humanistischen Fakultät der Tech­ nischen Universität zu lehren? Ich musste die attraktive Möglichkeit, unter den technisch orientierten Wissenschaften eine philosophisch-humanistische Grund-

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lage zu legen, letztendlich ablehnen. Mein Drang war größer, rein philosophisch zu wirken. Es gab an der TU jedoch keine Fach­ studenten der Philosophie, die ich zur Promotion hätte führen können. Also entschied ich mich für die Freie Universität. Aber dass die Technische Universität mir ein Ordinariat angeboten hatte, hatte auch Einfluss darauf, dass ich an der Freien Universität eine persönliche ordentliche Professur erhielt. Hatten Sie später noch Verbindungen zur Technischen Uni­ versität? Als ich den Ruf ablehnte, schlug ich der TU den meines Erachtens richtigen Kandidaten für den Lehrstuhl vor. Es war Kurt Hübner aus Kiel, dessen Vorlesungen ich dann häufiger besuchte. Er las unter anderem als Wissenschaftstheoretiker über Relativitätstheorie und verstand sich als Kantianer, der die Fragen aufnahm, die sich der modernen Physik stellen. Auch beschäftigte er sich mit dem Mythischen und hatte als Philosoph Interesse an der Religion. Am Ende seines Lebens sang er ein Loblied auf Papst Benedikt. Ich kannte Hübner gut aus der Assistentenzeit und fand ihn angesichts seiner kantischen Orientierung und seiner kulturellen Lebendigkeit gut geeignet für die Humanistische Fakultät. Blieben Sie selbst in Kontakt mit der TU? Als ich 1965 Berlin wieder verließ, machte man mir das Angebot einer Honorarprofessur an der Humanistischen Fakultät, das ich sehr gerne annahm. Die privilegierte Gastrolle erlaubte mir, über eine Reihe von Jahren regelmäßig wieder nach Berlin zu fahren, von wo ich mich nur sehr schwer trennen konnte. Ich war als Philosoph schon recht bekannt und hatte einige gute Schüler, die nicht mit mir nach Heidelberg gingen und die ich so noch sehen konnte. Ich genoss diese Zeit in Berlin, obwohl es nicht einfach war, das dortige Leben mit den Heidelberger Pflichten zu verein-



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baren. Neben vielen Wochenenden war ich vor allem länger in den Semesterferien dort. Was machte Berlin für Sie so anziehend? Berlin war eine Insel, aber als solche eine wirkliche Polis. Wer dort lebte, der identifizierte sich zumeist mit der Stadt und ihren schweren Lebensbedingungen. Es war die Zeit, in der Chrusch­ tschow den Abzug der West-Alliierten verlangte und im Hintergrund mit einer erneuten Berliner Blockade oder einer Attacke drohte. Ich habe trotzdem den Schritt nach Berlin getan und musste dort meinen Reisepass gegen einen Berliner Personalausweis eintauschen, so dass ich nach dem Bau der Mauer nicht mehr nach Ostberlin kam. Mit anderen Worten, es bedeutete einen wirklichen Schritt, nach Berlin zu gehen. Es war ein Bekenntnis. Ich war noch jung. Hinzu kam, dass ich auch familiär in einer schwierigen Phase lebte. Während meiner Zeit im Collegium Academicum scheiterte meine Ehe, und Berlin half mir in dieser prekären Lage immens. Auch hatte ich noch Verwandte in Ostberlin, zu denen ich oft mit meinem Volkswagen fuhr. Ein Ostberliner Künstler hatte eine entfernte Cousine von mir geheiratet. Wir verbrachten unglaubliche Tage zusammen. Ich erinnere – es muss 1960 gewesen sein – noch genau den gemeinsamen Besuch einer Festveranstaltung der FDJ im Ostberliner Volkspark Friedrichshain. Mit dem kleinen Jungen und seinen Eltern ließ ich diese Welt auf mich einwirken. Abends konnte ich meine Verwandten ins Hilton einladen. Man hatte das Gefühl, intensiver könnten die Kontraste nicht werden. Vor dem Mauerbau floh die Familie nach Westberlin. Ich half fleißig beim Schmuggeln, indem ich mit meinem vollbepackten Volkswagen als Professor noch unkontrolliert durch das Brandenburger Tor fuhr.

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Haben Sie auch Vorlesungen an der Humboldt-Universität ­besucht? Nein. Die Humboldt-Universität durfte man ohne besonderen Ausweis nicht betreten. Ich habe sie erst später als Gast aus Westdeutschland kennengelernt. Allerdings konnte ich die Universitätsbibliothek besuchen, deren Bestände viel reichhaltiger waren als jene in Westberlin. Ich war auf diese Möglichkeit angewiesen und erfuhr als «FU-Professor» eine bevorzugte Betreuung in seltener Freundlichkeit. Jenseits dessen hatte ich jedoch keinen Kontakt zu universitären Stellen oder Kollegen. Das kam dann erst ein Jahrzehnt später, als ich Präsident der Hegel-Vereinigung wurde. Erinnern Sie sich noch an den 13. August 1961? Ja, da war ich gerade privat in Paris und tat alles, um in meinem kleinen Volkswägelchen auf dem Montmartre irgendeinen deutschen Sender zu empfangen. Es kam die Angst auf, ob wir mit dem Wagen überhaupt wieder nach Berlin zurückkommen könnten. Als wir ein paar Tage nach dem Beginn des Mauerbaus dort wieder anlangten, erfuhr ich die Hilflosigkeit der Situation dort überdeutlich. Die Neue Zürcher Zeitung, nach Gadamer die einzige objektive Nachrichtenquelle in deutscher Sprache, berichtete über die Vorkommnisse. Sie schilderte genau, wo die DDR welche Grenzmauern errichtete, und erläuterte auch, warum man in Westberlin keine Angst haben müsse. Der Mauerbau erschien mir so bald als defensive Strategie, als eine Notmaßnahme der DDR, deren politische Führung nicht länger dem täglichen Aderlass zuschauen konnte, der das Land über Berlin ausbluten ließ. Zugleich waren Sie jemand, der die Wiedervereinigung immer sehr befürwortete. Noch vor der Berliner Zeit gehörte ich einer Kommission der Westdeutschen Rektorenkonferenz an, die sich um «Mitteldeutsche



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Hochschulfragen» kümmerte. Die offizielle Aufgabe dieser Kommission war es, Vorbereitungen für den Fall der Wiedervereinigung zu treffen, das heißt, neben den Entwicklungen der westdeutschen Universitäten auch einen Plan für den Moment der Wiedervereinigung zu entwickeln. Es bestand die Absicht, auch Elemente des ostdeutschen Systems beizubehalten. Als die Mauer einige Jahre stand, wurde die Kommission aufgelöst. Man rechnete nicht mehr mit der Wiedervereinigung. Auch das gibt der Bemerkung von Willy Brandt von 1989, er hoffe, dass die Schubladen nicht leer seien, einen Hintergrund. Welche Aufgaben hatten Sie in der Kommission? Ich selbst schrieb noch als Heidelberger Privatdozent für diese Kommission eine kleine Broschüre über den Begriff der Einheit von Forschung und Lehre und seine Kritik durch den Marxismus.11 Die Broschüre wurde als Aufklärungsmaterial weithin verteilt und fand in der DDR sogar eine gewisse Zustimmung. Sie war auch die Grundlage für ein kleines Seminar, das ich 1960 am Rande des deutschen Studententags in Berlin abhielt. Ich war gerade Professor geworden und eingeladen, einen Vortrag zu halten, der sich mit Theorie und Praxis und den Unterschieden befasste, die es u ­ nserer Vorstellung nach zum Konzept in der DDR gab. Mir standen Erfahrungen aus dem Collegium Academicum vor Augen und P ­ er­spektiven, die sich mit der Humanistischen Fakultät an der Tech­nischen Universität verbanden. Die Praxis ist nach kommunis­ tischer These ­eigentlich der Ort, an dem die Theorie ihre Vollendung findet. Das wurde von uns als ideologische Doktrin bestritten. Wir hielten es hingegen für notwendig, dass der Akademiker mit der Arbeits- und

11  Dieter Henrich, Über den Begriff der Einheit von Forschung und Lehre, ­Göttingen 1958.

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Lebenspraxis der Arbeiter vertraut ist, das heißt ein Bergwerk oder eine Walzstraße kennenlernt, sich einmal in eine Fabrik begibt. Sind Sie dieser Forderung in der Berliner Zeit selbst gefolgt? Nein; vorher schon, als ich über persönliche Beziehungen ins Rheinland kam. Auch arbeitete das Collegium Academicum mit ­bestimmten Fabriken zusammen, um Praxis-Wochen für Studenten während der Semesterferien anbieten zu können. Dieser Ansatz ist heute weitgehend verloren. Dass man Betriebe besichtigte, war in der DDR Bestandteil des Lehrplanes an der normalen Polytechnischen Oberschule … Das hätten wir gerne fortgeführt, ebenso das Modell des Doktorandenstudiums in der DDR, aber ohne die ideologischen Vorgaben. Es gab viel zu lernen, wenn man eine gewisse Freude daran hatte, einmal von der anderen Seite her zu denken. Ein Heidelberger Student, der aus der Sowjetunion geflohen war, erzählte mir einmal, dass die besten Gesprächspartner aus dem Geheimdienst stammten, da sie gewohnt waren, sich in die Perspektive des anderen zu versetzen. Sie schätzten das Gespräch mit der anderen Seite? Der Austausch gehörte zum Kick des Intensiven, den die Kon­ traste im geteilten Berlin ermöglichten. Aufgrund der Begegnungen, die das Collegium Academicum in Berlin möglich machte, hatte ich bereits Beziehungen zu jungen DDR-Wissenschaftlern. Ich konnte sie bis zum Bau der Mauer zu mir nach Hause am Nikolassee zu ­einem Privatseminar einladen, an dem auch meine und Weischedels Assistenten teilnahmen. Allerdings musste ihr Kommen geheim bleiben. Einer von den Ostberlinern war der Ökonom Klaus Korn, der später Sekretär Margot Honeckers wurde. Es entspannen sich wirkliche Debatten, in denen wir nicht nur über Marx, sondern ebenso über Karl Popper sprachen. Grundlage der Gespräche war



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ein natürliches Interesse an Gegnern. Und ich bedaure heute, mit Korn das Gespräch nicht aufrechterhalten zu haben. Wie verliefen Ihre Gespräche mit Marxisten aus Westberlin? Als ich im Mai 1960 nach Berlin kam, meldete ich mich gleich beim SDS, dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund. Er war zunehmend stärker marxistisch orientiert als der Sozialdemokra­ tische Hochschulbund, der nun als die Studentenorganisation der ­Sozialdemokratie galt. Ich schätzte die Ideen und Argumente der Denkschrift der Sozialisten, die allerdings nie gedruckt wurde. Diese Leute waren eigentlich alle sehr klug. Man sprach sich mit «liebe Genossen» an. Ich aber durfte als Professor ihre Debatten verfolgen. Dieser Kreis bildete auch eine Wurzel der späteren Studentenbewegung. Ein anderer Kreis war am Philosophischen Seminar angesiedelt. Dort brachte Hans-Joachim Lieber, einer von vier Kollegen, eine Marx-Ausgabe auf den Weg. Hier trafen sich alle an Marx interessierten Studenten. Aus diesem Umkreis entstand die Zeitschrift Das Argument, die Fritz Wolfgang Haug vor allem verantwortete. Damals war Rudi Dutschke dort noch ein Student ­unter «ferner liefen». Nahmen Sie Rudi Dutschke selbst noch wahr? Nein. Ich verließ die Freie Universität 1965, also zwei Jahre vor der Studentenrevolte. Am Philosophischen Seminar war in meiner Zeit die Studentenvertretung nie von Kommunisten besetzt. Immer führten liberale Fachstudenten das Wort. Dafür trug mein Schüler Ulrich Potthast Sorge, der als Reserveleutnant der Bun­ deswehr strenge Ausweiskontrollen bei den Wahlen einführte, so dass tatsächlich nur Philosophiestudenten wählen konnten. Und unter ihnen waren die Kommunisten immer eine kleine Minderheit, solange das so durchgesetzt wurde. Als die Studentenbewegung revolutionär wurde, hatte sie zwar immer noch ein Zentrum

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im Umkreis des philosophischen Seminars. Aber sowohl die theoretischen Köpfe des SDS als auch die Argumentatoren des Arguments waren in ihr zugunsten der Agitatoren zur Seite gedrängt. Als Sie an die Freie Universität 1960 kamen, schrieb Michael Theunissen gerade an seiner Habilitation. Wie lernten Sie ihn am Philosophischen Institut kennen? Ich kannte Theunissen schon, bevor ich nach Berlin kam. Als ich einmal als Dozent in Bonn war, ging ich in die Buchhandlung Bouvier, um mir die neuen Bücher anzuschauen. Dort fiel mir sein Band Der Begriff Ernst bei Sören Kierkegaard auf. Ich dachte: «Donnerwetter, das ist gut entwickelt.» Damals war er gerade promoviert. In Berlin, wo er der Assistent von Weischedel war, habe ich ihm gleich mein Interesse signalisiert. Seine gedankliche Leidenschaft für die Philosophie Søren Kierkegaards öffnete die Tür zwischen Ihnen? Ja. Als gläubiger Christ dachte Theunissen aus der Negationsper­ spektive der Philosophie und sah, wie Kierkegaard die Philosophie als solche nutzte, um zu verdeutlichen, dass man in den Glauben eintreten müsse. Ich selbst betrachtete die Horizontöffnung, die die Philosophie leistete, als das Wesentliche und sah zugleich ihr Bedürfnis nach Erweiterung. Deshalb war mir Theunissens religiöses Interesse wichtig, das seine Habilitationsschrift Der Andere prägt. Wir waren beständig im Gespräch, er, der Assistent, und ich, der Ordinarius. Ich gab ihm immer zu verstehen, dass ich ein gleichberechtigtes, ein kollegiales, ja freundschaftliches Gespräch mit ihm wünsche. Theunissen besaß für mich in Berlin das größte Potential. Nach ihm folgte Ernst Tugendhat, den ich während meiner Berliner Jahre in Tübingen näher kennenlernte. Als ich dann nach Heidelberg zurückging und die Chance hatte, die anderen Lehrstühle zu besetzen, war für mich bereits klar, dass Theunissen und Tugendhat die beste Wahl wären.



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Wie standen Sie zu Klaus Heinrich, der zu Ihrer Berliner Zeit Habilitand war? Merkwürdigerweise lernte ich Klaus Heinrich kaum kennen. Vielleicht lag es daran, dass er einen esoterischen Zirkel um sich herum hatte und damals kaum veröffentlichte. Dabei hat mir seine Habilitation Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen schon Eindruck gemacht, obwohl sie sich an der Grenze der akademischen Qualifikationsschrift bewegte. Es blieb bei einigen beiläufigen Begegnungen, ohne dass wir uns näher kennenlernten, auch wenn mir sein Fach, die Religionswissenschaft, philosophisch und anthropologisch als wichtig erschien. Mir blieb sein Stil fremd, seine Einsichten auf einem gedanklichen Servierteller offenzulegen, bei denen gleichwohl etwas – so wie ich es von Heidegger kannte – als notwendig verborgener, aber bedeut­samer Hintergrund nur angedeutet blieb. Nahmen Sie an der Freien Universität auch Kontakt zur Literaturwissenschaft auf? Zu denken wäre vor allem an Peter Szondi, der ein eigenes Institut in Dahlem erhielt. Ja. Aber Szondi wurde leider zu spät – ich glaube, im Jahr 1965 – als Ordinarius an die FU berufen, als dass wir als Kollegen einen ­intensiveren Austausch hätten haben können. Ich war aber schon vorher über seine Hölderlin-Arbeiten auf ihn aufmerksam geworden. In meiner zweiten Heidelberger Zeit, als ich regelmäßig an die Technische Universität kam, wurde Peter Szondi für mich eine wichtige Gestalt. Wir trafen uns immer wieder. Häufiger ging ich mit ihm sonntags ins Kempinski, wo wir zu Mittag aßen und uns über die hochschulpolitische Lage unterhielten, die er auch in Pu­ blikationen reflektierte. Obwohl wir nie in ein philosophisches Gespräch im eigentlichen Sinne eintraten, gab es genug Gesprächsthemen zwischen uns, vor allem Hölderlin und Beckett als Autoren, die uns beide bewegten.

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War auch die Zeit des «Dritten Reichs» und der Holocaust ein Thema Ihrer Gespräche mit Peter Szondi? Er gehörte ja mit seiner Familie zu der privilegierten Gruppe von deutschsprachigen Juden, die nach dem Kasztner-Abkommen nicht aus Budapest deportiert wurden, sondern über Zwischenlager in die Schweiz emigrieren konnten. In seinen Interpretationen der Gedichte Paul Celans, so zu «Engführung», scheint die Welt der Lager andeutungsweise auf. Eines der Defizite meiner intellektuellen Biographie ist ja auch meine nur marginale Kenntnis von Paul Celan und seiner Dichtung, während Szondi mit Person und Werk des Dichters aufs engste vertraut war, der sich 1970 in der Seine ertränkte. Gadamer hingegen schrieb über dessen Dichtung. Peter Szondi nahm sich 1971 das Leben, als er im Begriff stand, auf Initiative von Emil Staiger von Berlin an die Universität ­Zürich zu wechseln. Sie schrieben damals einen kurzen Nachruf. Wie erschien Ihnen der plötzliche Tod Szondis, der unter Depressionen, aber auch unter der Zeit litt? Ich habe versucht, die besondere Art seines Suizids als eine Verteidigung der lichten Bahnen in seinem Denken und Verstehen des Menschseins gegen die Dämonen zu verstehen, die ihn immer wieder heimsuchten. Szondi veröffentlichte wie Celan im Suhrkamp Verlag. Sie selbst kamen mit der «Suhrkamp Kultur», von der George Steiner in den 70er Jahren treffend sprach, in den Berliner Jahren in engeren Kontakt. Der Verleger Siegfried Unseld schrieb Ihnen 1963 und wollte Sie als Herausgeber der Reihe Theorie gewinnen. Wie kam es dazu? Die Initiative ging von Wilhelm Weischedel aus. Er empfahl mich auch, als sein Schüler Unseld ihn fragte, ob er jemand Geeigneten wisse, der eine großangelegte philosophische Reihe, die klassische



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und aktuelle Texte mit entsprechenden Hinführungen bieten solle, als Herausgeber mit betreuen könne. Unseld war ein Schüler von Weischedel? Unseld hatte als Literaturwissenschaftler in den Nachkriegsjahren auch bei Weischedel in Tübingen studiert, wo er über Hermann Hesse promoviert wurde. Peter Suhrkamp holte Unseld dann auf Anraten Hesses in den Verlag. Der junge Lektor strotzte nur so vor Willenskraft und Lebensenergie und entpuppte sich nach dem frühen Tod von Suhrkamp als genialer Verlagsstratege und Bücherverkäufer, ohne selbst ein Intellektueller im eigentlichen Sinn zu sein. Adorno gehörte zu seinen wichtigsten Ratgebern in Frankfurt. Der lose Kontakt zu Weischedel blieb. Der von Wolfgang Schopf edierte Briefwechsel, den Adorno ­sowohl mit Peter Suhrkamp als auch mit Siegfried Unseld führte, belegt den regen Austausch. Mir behagte die oftmals allzu linke Linie des Verlags nicht, die sich im Laufe der 60er Jahre durchsetzte. Ich versuchte im Austausch mit Unseld gegenzusteuern. Dabei war der Verleger selbst keineswegs ein Linker, sondern vielmehr ein konservativer Patriarch, der den Verlag gerade in der Zeit um 1968 streng führte, als seine linkskritischen Lektoren den Aufstand probten. Wir trafen uns erstmals nach der Anfrage – wohl im Jahr 1963 – in einem Frankfurter Hotel zu einem Vorgespräch über die Reihe Theorie. Habermas lernte ich erst über diese Verbindung genauer kennen. Wir sahen uns in der Folge regelmäßig bei Unseld. Aber das ist ein Thema, das schon in die folgende Heidelberger Zeit gehört, die 1965 begann. Warum verließen Sie Berlin schon nach fünf Jahren? Ein entscheidender Grund lag darin, dass mein Lehrer Gadamer mir diesen Schritt nahelegte. Er hatte auch Habermas als Extraordinarius nach Heidelberg geholt, bevor dieser nach Frankfurt wech-

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selte. Dabei sagte mir Gadamer, als ich den Ruf aus Stuttgart erhielt, nur einen Satz: «Herr Henrich», so sprach er mich unvergesslich an, «überlegen Sie alles genau, dann werden Sie sehen, dass Sie eine solche Chance nur einmal erhalten.» Diese Worte haben am Ende den Ausschlag gegeben. Als ich dann Robert Spaemann, der bald wieder ging, Theunissen und Tugendhat nach Heidelberg holte, begleitete Gadamer mit großem Vertrauen meine Berufungspolitik, obwohl er selbst durchaus andere Kandidaten im Sinn gehabt hatte. So bin ich nach der frühen Ermutigung, in den Beruf zu gehen, und den folgenden Initiativen, mich als Assistent und Professor nach Heidelberg zu holen, meinem Lehrer auch an dieser Stelle zu großem Dank verpflichtet. In Berlin wäre mir ein solcher Gestaltungsraum nicht eröffnet worden. Was war der Grund dafür? Sicherlich lag es mit daran, dass die Berliner Berufungspolitik ­damals von der Binnenperspektive der Insellage geprägt war, die meinen weltweit ausgreifenden Interessen nicht entgegenkam. Zugleich wurde mein Verhältnis zu Wilhelm Weischedel, dem ich viel verdankte, mit den Jahren schwieriger. Dabei schätzte ich ihn sehr als jemanden, der in der Grenzzone zwischen Philosophie und Theologie wichtige Fragestellungen in Bewegung hielt. Weischedel entstammte selbst einer religiösen Familie aus Wuppertal, wo eine besondere Tradition dem Pietismus zuneigte. Das heißt, er stammt aus einer Tradition der – mit Max Weber gesprochen – religiös engagierten Sekten, die gegenüber dem eta­ blierten Kulturprotestantismus ein ausgeprägtes geistliches Leben führten. So könnte man sagen. Weischedel brachte sein starkes inneres ­Leben in die Philosophie ein. Er entwickelte im Rekurs auf die ­antike und moderne Tradition eine skeptische Lehre, die mit einer



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moralisch tiefgegründeten Lebenshaltung verbunden war. Nicht zuletzt suchte er auch das Gespräch mit dem politischen Theologen Gollwitzer, der als Lutheraner der Bekennenden Kirche entstammte. Ihre Unterhaltungen wurden auch publiziert und zogen in der Freien Universität eine große Aufmerksamkeit auf sich. Die Wirkungen gingen bis dahin, dass Theunissen, als seine Tochter 1964 getauft werden sollte, Gollwitzer ansprach. Als Patenonkel hielt ich das Baby über das Taufbecken, während Gollwitzer den Taufakt in Worten und mit Wasser vollzog. Die Taufe fand in Dahlem vor 400 Studenten im Universitätsgottesdienst in der Kirche statt, in der Martin Niemöller gepredigt hatte. Wie entwickelte sich Ihr Verhältnis zu Wilhelm Weischedel? Als ich nach Berlin kam, war ich als junger Professor, den er an die Freie Universität berufen hatte, gleichsam sein Junior-Produkt. Ich genoss sein Vertrauen und hatte von der eigenen Beschäftigung mit Kant und dem Deutschen Idealismus her einige Sympathie für seine Fragestellungen. So durfte ich öfter in Weischedels Häuschen wohnen, wenn er in Ferien ging, so dass ich dann an seinem Schreibtisch saß und auf den Kruzifixus blickte, den Romano Guardini ihm geschenkt hatte. Es war eine sehr enge Beziehung, in die seine Frau Käthe auch einbezogen war. Sie bemutterte mich ein wenig und ­begleitete mich gelegentlich, wenn ich mit meinem Volkswagen zu einem Vortrag nach Westdeutschland fuhr, um den Blick zu weiten. Als ich in Berlin schon mehr Ansehen genoss, meine Vorlesung im Auditorium Maximum hielt und die Fachstudenten stärker anzog, wurde ich jedoch allmählich für meinen Mentor zum Problem, zumal ich auch Angebote von auswärts erhielt. Diese Situation setzte Weischedel bei seiner enormen Sensibilität stark zu. Er schrieb mir Eilbriefe, in denen er die Lage umriss. Mir schien es so, dass ich demjenigen, dem ich in Berlin so viel verdankte, zu einem Konkur-

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renten geworden war. Der Wechsel nach Heidelberg löste für ihn den schwelenden Konflikt. Vielleicht waren Sie sich in manchen Themenstellungen auch zu nahe? Weischedel schrieb ja ebenso wie Sie über Fichte. Das war seine Habilitationsschrift Der Aufbruch der Freiheit zur Gemeinschaft. Aber meine eigene Studie Fichtes ursprüngliche Einsicht entstand erst nach der Berliner Zeit.12 Viele kennen Weischedel vor allem als den Autor der Philoso­ phischen Hintertreppe, eines Buches, das wie wenige sonst seit Jahrzehnten auch die philosophischen Laien anspricht und ihnen in Porträts die großen Philosophen und ihre lebensrelevanten Fragen nahebringt. Weischedel war auch in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft maßgeblich tätig und sich seiner öffentlichen Rolle bewusst. Er hatte zudem einen sehr feinen Sprachsinn. Er schrieb die besten Schüttelreime, die ich kenne. Ich war und bin ihm sehr dankbar für das, was er mir in den Berliner Jahren ermöglichte und gab. Zu seiner Festschrift trug ich eine Abhandlung über die Dunkelheit in einem der wichtigsten Texte Kants bei.13 Aber später verlor sich unser Verhältnis, auch wenn ich als Honorarprofessor der TU noch einige Jahre immer wieder in Berlin lebte. Wie reagierten die Westberliner auf den Mauerbau? Man war zutiefst verunsichert, welches Schicksal der eingeschlossenen Stadt drohte. Nur so ist die leidenschaftliche Reaktion zu ver-

12  Dieter Henrich, Fichtes ursprüngliche Einsicht, Frankfurt am Main 1966; vgl. auch: Dieter Henrich, Dies Ich, das viel besagt. Fichtes Einsicht nachdenken, Frankfurt am Main 2019. 13  Dieter Henrich, Die Deduktion des Sittengesetzes, in: Alexander Schwan (Hg.), Denken im Schatten des Nihilismus. Festschrift für Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1975, S. 55–112.



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stehen, mit der die Berliner auf John F. Kennedys berühmten, nur halb verstandenen Satz reagierten: «Ich bin ein Berliner.» Ich fuhr gerade im Auto und hörte den Aufschrei, der mich erschreckte. Es war ein Schrei der Erleichterung. Der höchste Repräsentant der Schutzmacht Amerika, so konnten die Berliner hören, spricht Deutsch und erklärt sich zum Berliner. In der enthusiastischen Zustimmung spiegelte sich die ganze Angst der Berliner. Es ist nicht ­zufällig, dass in der Folge Lucius D. Clay, der als oberster Befehlshaber der amerikanischen Militärs Westberlin durch die Luft­ brücke in der Blockade-Zeit am Leben gehalten hatte, nun als persönlicher Botschafter des Präsidenten nach Berlin zurückkehrte. Als er ankam, fand eine Parade auf der nach ihm benannten Clayallee statt. Neben den zehntausend Soldaten fuhr die gesamte Streitmacht von einem Dutzend Panzern auf. Jeder war nach einer Bärenart benannt und erhielt ein eigenes Lied. Als der letzte Panzer mit Namen «The Berlin Bär» an uns vorbeifuhr, spielte die amerikanische ­Kapelle bei rauschendem Applaus Das ist die Berliner Luft. Darin drückte sich auch eine Seelenerleichterung aus, die sich vor allem an die Präsenz des Retters General Clay knüpfte, der mit der Parade geehrt wurde. Als die Proteste gegen den Vietnamkrieg in den 68er Jahren ­einsetzten, stieß dies nicht auf die Sympathie der Berliner. Die Berliner waren absolut dagegen und lehnten in weiten Teilen die radikalisierte Studentenbewegung schroff ab. Sie waren aus Erfahrung überzeugte Antikommunisten. Man hielt diesen politischen wie polemischen Antiamerikanismus für eine Bedrohung Berlins und fand: «Das sind Fantasten.» Dies sah man schon bei den Wahlen, an denen noch die SED teilnahm und kaum über zwei Prozent der Stimmen für sich verbuchen konnte. Die Schwester meines Vetters aus Ostberlin berichtete begeistert von der Ablehnung, die sie

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selbst bei der ihr offiziell oktroyierten Wahlwerbung im Westteil der Stadt erfuhr, die sie natürlich leisten musste. Sie trug mit Pokerface Wahlwerbung für die SED vor und freute sich still an der heftigen Zurückweisung. Einer der Sprüche, mit denen die Westberliner die Werberinnen für die SED kommentierten, lautete: «Zieh Leine, oder ik vergess’ mir.» Wie erlebten Sie Berlin nach Ihrem Fortgang nach Heidelberg? Als ich 1965 wieder einen westdeutschen Reisepass erhielt, konnte ich meine Kontakte in Ostberlin erneut beleben. Ich hatte in Berlin noch eine kleine Wohnung, die mir vor allem in den Semesterferien erlaubte, mein Berliner Leben mit der Nähe zur Kunstszene in Ost und West weiterzuführen. Es kam zu Kontakten mit Künstlern wie dem genialen Bühnenbildner Andreas Reinhardt, der damals am Deutschen Theater tätig war und 1975 in den Westen ging. Auch gab es dort das Zentrum für Kulturschaffende Unter den Linden, in dem man ostdeutsche Künstler traf. Es war eine ­intensive Zeit, zu der auch der Austausch mit meinem kunsthisto­ rischen Freund Fritz Baumgart gehörte. Katrin Sello, die später Direktorin des Kunstvereins Hannover wurde, half ich bei ihrer Arbeit über den Kunsthistoriker und expressionistischen Schriftsteller Carl Einstein, während sie mir über ihre Tätigkeit als Kuratorin genauere Einblicke in die Mechanismen der Kunstwelt öffnete. Das klingt nach einem starken Kontrast zu dem akademischen Leben, das die Professur in Heidelberg Ihnen abverlangte. Dort existierte nicht die Spur der Möglichkeit solcher Kunstkontakte. Verglichen mit Berlin war Heidelberg damals kulturell dann doch schon Provinz. Man ging zwar nach Mannheim ins Theater, aber es kam nicht zu den Anregungen, die Berlin als geteilte Stadt künstlerisch bot. Nach 1968 musste ich dieses äußerst anregende Leben zunehmend aufgeben, da neben Heidelberg nun Amerika mit



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den dortigen Gastprofessuren immer prominenter für mich wurde. Jedoch gab es gerade in New York neue Möglichkeiten, den Austausch mit Künstlern und Kunstkennern auf andere Weise fortzusetzen. Es klingt so, als ob Berlin für Sie zuletzt ein privates Refugium gewesen sei. Ich schätzte die Stadt, meine philosophische Tätigkeit dort und ihr kulturelles Leben sehr, obwohl die Anfänge nicht einfach waren. Das hing aber nicht so mit Berlin zusammen, sondern mit meiner persönlichen Situation, der Trennung von meiner Frau, die viel Kraft kostete. Also, Berlin war keineswegs nur eine glückhaft erlebte Zeit. Die Philosophie und der Austausch mit anderen Menschen, den Berlin mir bot, war gerade in einer solchen Lage eine sehr große Hilfe. Wie kann man das verstehen? In solchen Momenten des Bedrängenden wird einem bewusst, wie wunderbar es ist, sich als Mensch über die Sprache mit anderen verständigen zu können, egal ob man erst vier oder schon neunzig Jahre alt ist. Diese Art von gedanklicher Mitteilung ist nur möglich, weil wir die Sprache haben. Diese ist wirklich dem Geist zugehörig, den wir als Menschen besitzen und sich so entfalten sehen können. Keine anderen Wesen können sich in einer solchen Weite miteinander verständigen, wie es für uns Menschen möglich ist. Das Bewusstsein davon zu wecken und wachzuhalten, wäre das in Ihren Augen eine Aufgabe der Philosophie? Meine Rolle sah ich immer als die an, in der Welt die Fackel des Geistes weiterzugeben an den Nächsten. Und wenn diesem wiederum etwas wichtig ist, was in die gleiche Tiefendimension vordringt, die man sich mühsam erschlossen hat, dann ist etwas gelungen. Dann ist Entfaltung und Kultur und in ihr ein Selbstverstehen des Menschseins möglich, zu der die Philosophie maßgeblich beizutragen hat.

5. Wieder in Heidelberg – neue Blickbahnen (1965–1981)

Ihre zweite Heidelberger Periode ist neben der Tätigkeit an der Universität durch eine Vielzahl von Aktivitäten charakterisiert: Sie wurden zum Herausgeber der Theorie-Reihe bei Suhrkamp, Sie schlossen sich der Forschergruppe Poetik und Hermeneutik an und standen lange Jahre der Hegel-Vereinigung vor. Als ich die Berufung nach Heidelberg erhielt, hatte ich akademisch viel erreicht. Allerdings sagte mir der Ort kaum mehr zu. Der Glanz, den die Universität in der Renaissance gehabt hatte, war lange vergangen. Der romantische Ruhm, den die Poeten ihr neu eingebracht hatten, war kaum berechtigt. Der Gedanke an Spinoza, den der Kurfürst vergeblich hatte an die Universität ziehen wollen, sprach für sich. So überlegte ich einige Jahre nach der Annahme des Rufes, wieder nach Berlin zu gehen, unterließ es dann aber doch, da ich nicht hoffen konnte, dort ein philosophisches ­Seminar von wirklichem Rang aufbauen zu können. In Heidelberg bot sich mir diese Chance. Waren die Studenten in jenen Jahren vor 1968 in Heidelberg anders als in Berlin? Die Studenten in Berlin waren schon insgesamt interessanter. Es war ein Negativum Heidelbergs, dass die Mehrzahl der Studenten in der Pfalz zu Hause war, während die wenigen brillanten Studenten meist oft von fern her kamen. In Berlin bestand ein großer Teil der Studentenschaft aus jungen Männern, die dem Wehrdienst in der Bundesrepublik entgehen wollten.



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War der Grad der Politisierung der Studenten in Berlin höher als in Heidelberg? Kaum. Es ging auch in Heidelberg erstaunlich intensiv zu. Zunächst gab es Proteste, die noch linksliberalistischen Parolen folgten, die Reform der Universität als solcher im Auge hatten und denen kommunistische Doktrinen fernlagen. Die Marxisten nutzten allerdings die entstehenden Freiräume, um sich innerhalb der Universität zu organisieren. Etwas später kam es, angeregt von B ­ erliner und amerikanischen Vorbildern, zu Vorlesungsstörungen, zu Besetzungen, zu sogenannten Sit-ins. Gerade die Störungen der Vorlesungen hatten zum Teil auch eine gewalttätige Tendenz, die auf manche so schockierend wirkte, dass es zum Freitod eines ­Dozenten an der Universität kam. Ich fuhr damals meinen eigenen Kurs, zumal ich von der Columbia University her nun bereits amerikanische Erfahrungen gesammelt hatte. Ich wusste, dass viele der eingeforderten Reformen berechtigt, durchaus zukunftsweisend und sachlich gut begründet waren. Wie gingen Sie mit Studenten um, die lieber über Marx und die Revolution sprechen wollten? Zum einen gab es immer hinreichend viele gute Philosophiestudenten, so dass dem Interesse an Marx auf sehr hohem Reflexionsniveau, beispielsweise von Michael Theunissen, begegnet werden konnte. Wenn in meinen Seminaren marxistisch argumentiert wurde, wusste ich es zum Glück noch besser zu tun – einfach weil ich mit meinen Marx-Studien seit dem Jahr 1952 rund fünfzehn Jahre Vorsprung hatte. Wenn die Studenten ein Flugblatt in meine Vorlesung brachten, konnte ich dem mit einem eigenen Gegen-Flugblatt begegnen. Auch hatte ich ein gewisses Training als alleiniger Leiter im Collegium Academicum, in dem ich immerhin mit 150 ausgesuchten Studenten konfrontiert war. Ich hatte dort keine

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direkte Weisungsbefugnis. Meine Aufgabe war es, zu überzeugen. So kam es einmal zu einem Misstrauensantrag durch einen gewieften Juristen, der es später zum Landesminister brachte. Ich überlegte, wie ich mich verhalten solle, und beschloss, einige Studenten um Rat zu bitten. Die Folge war, dass der Konvent der Studenten diesen Senior abwählte und mir damit indirekt das Vertrauen aussprach. Seitdem war ich im Kollegienhaus fast wie auf Wolken­ ­gebettet. Durch solche Erfahrungen bestärkt, hatte ich, als die Studentenrevolte kam, keine Angst vor kritischen Studenten. Mein Training lag schon hinter mir. Einmal wurde ich gebeten, im Seminar lediglich auf Fragen zu antworten und die Leitung an jeweils gewählte Studenten abzugeben. Das tat ich sogleich, bis man mich nach einigen, für die Studenten offenbar weniger ergiebigen Sitzungen bat, das Seminar doch wieder zu leiten. Auch nahm ich Anregungen für die Seminarverwaltung gerne auf. Das Einzige, was ich − schließlich auch mit der Zustimmung der Studenten − verteidigte, war das Privileg, die Assistenten auszuwählen. Den richtigen Kandidaten zu finden, dazu gehört mehr als die Qualifikation, Philosophie zu studieren. Man benötigt einen Fundus an Erfahrungen und die Fähigkeit, einen Werdegang zu prognostizieren; und dies räumte man mir ein. So haben wir bei der Personalbesetzung niemals einen Kompromiss machen müssen. Das war anderswo anders. In diesem Sinne verlief für mich die Studentenrevolte relativ friedlich; es war ein Ansturm, der wieder abebbte, wie in Amerika – leider ohne die längst schon nötigen Reformen nunmehr nach sich zu ziehen. Aber wer in seinem Selbstbewusstsein ungefestigt war, weil er solche Erfahrungen nicht gemacht und nicht gelernt hatte, mit den Studenten aus deren Blickwinkel zu sprechen und solche Krisen auszustehen, der konnte schwer leiden. Es sind sicher auch Kollegen durch solche



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Konflikte aufgerieben worden und durch den kollektiven Druck zu Tode ­gekommen. Dem musste man gemeinsam widerstehen. An der Freien Universität Berlin, mit der ich Verbindung hielt, waren viele jüdische Kollegen, die nach Deutschland zurückgekehrt waren, auch politisch erfahrene Intellektuelle, entsetzt über den Stil der Verunglimpfung und Isolierung einzelner persönlich hilfloser Kollegen. Robert Spaemann kam 1968 nach Heidelberg und blieb nicht einmal vier Jahre. Hat er die Situation an der Universität anders erlebt? Ja, Spaemann hatte selbst nichts zu fürchten. Er ärgerte sich über Ernst Tugendhat, der sich seines Erachtens zu weitgehend mit den Studenten einließ. Er kam auch immer nur an den Vorlesungstagen aus Stuttgart nach Heidelberg und nahm sein Quartier im neckar­ aufwärts gelegenen Kloster Neuburg. Es war ihm ohnedies immer schwer, sich andernorts einzugewöhnen. Man hätte gerade in dieser Zeit am Ort gegenwärtig sein müssen. Immerhin konnte man, und auch er, am Philosophischen Seminar besser überleben als an vielen anderen Instituten der Universität. Ihre Strategie in dieser Situation bestand demnach darin, dass Sie in den Gesprächen und Seminaren mit den ­Studenten das Interesse an gemeinsamen Problemen weckten und i­hnen Räume für eigenständige Entscheidungen ließen. Vom anderen her argumentieren zu können, das scheint mir eine wichtige Kunst zu sein, die Spannungen senken oder ganz nehmen kann. Ich habe in der Zusammenarbeit mit Studenten, wenn ich ihnen eine gewisse Entscheidungsmacht zugestand, immer gute Erfahrungen gemacht – ausgenommen, wenn es sich um ideologisierte Situationen und fanatisierte Menschen handelte. Mein holländischer Kollege Jan van der Meulen, der die deutsche Besetzung Hollands im Krieg miterlebt hatte – übrigens ein sehr

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guter Hegel-Kenner –, war von der rabiaten, aggressiven und argu­ mentationsfeindlichen Formation erschüttert, obwohl er praktizie­ render Psychiater gewesen war. Er nahm sich das Leben. Robert Spaemann meint in seinen Erinnerungen, er sei vor allem befremdet gewesen über das Verhalten der Kollegen, wobei er Sie ausnahm. Spaemann, der nicht die ganze Wahrheit gesagt hat, meinte Ernst Tugendhat, der nicht an der Beerdigung des Dozenten teilgenommen hatte, dessen Vorlesungen gestört worden waren. Das war ein Geschehen, das es notwendig machte, jede Spur von Kumpanei mit den revoltierenden Studenten fahrenzulassen. So habe ich es auch einem meiner Schüler, der Senior am Seminar war, nie verziehen, dass er nicht zur Beerdigung mitgegangen ist. Welche Gründe hat Tugendhat für sein Fortbleiben geltend ­gemacht? Ich kenne keine. Sein Auftreten war damals für uns in Hei­ delberg ein großes Problem, da er sich als Dekan stark mit den Studenten identifizierte. So gerieten viele Fakultätssitzungen unter seiner Leitung zum reinen Chaos. Denn er ließ nicht nur öffentlich tagen, sondern die Mitglieder der Fakultät saßen durcheinandergewürfelt mit den Anführern der Studenten, so dass man sich quer durch ­ Studentenriegen beraten musste. Eine absurde ­Situation. Die nicht hätte sein müssen. Tugendhat hat mit seinem Verhalten wirklichen Schaden angerichtet. Aber ich dachte an seine Jugend als Emigrant und hielt ihn damals trotz allem für aufrichtig und vor allem für einen bedeutenden Philosophen in spe und war froh, dass er da war. Wir kamen gut miteinander aus. Spaemann hingegen hat mich aus einem anderen Grund enttäuscht. Er war auf meine Initiative von Stuttgart



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nach Heidelberg gekommen, und so war es schon verletzend, als ich mehr zufällig bei einem Gespräch im Stuttgarter Ministerium erfuhr, dass er sich bemühte, dorthin zurückzukehren, was ich zunächst gar nicht glauben konnte. Aber so hatte ich dann die Möglichkeit, Theunissen, der inzwischen nach Bern berufen worden war und dort wirkte, nach Heidelberg zu holen. Wie stand man in Heidelberg um 1968 zu den Marxisten im ­damaligen Ostblock? Ich erinnere mich einer Episode, die Sie vielleicht interessiert. Als die Studentenrevolte schon am Ausklingen war, lud ich Teodor Iljitsch Oiserman ins Philosophische Seminar ein, im Rahmen ­meiner Versuche, Kontakte in das Sowjetimperium zu knüpfen. Oiserman war ein russischer Jude und prominentes Mitglied der sowjetischen Philosophie, die sich mit Hegel befasste. Er wurde übrigens 103 Jahre alt, war bis zu seinem Tod (2017) trinkfreudig wie ­immer, wenn ich den Informationen aus Moskau trauen darf. Für die Studenten war das natürlich eine große Sache, den so­wje­ tischen Marxisten – auf Deutsch – sprechen zu hören. Aber Oiserman wurde dann sofort kritisiert, weil er nichts zur politischen Praxis sagte. Auf seine Position, die Theorie sei doch Anleitung der Praxis, erhielt er zur Antwort, die Art seines Vortrags sei ganz unmarxistisch. Harsch argumentierte er: «Ihr seid theoriefeindlich, und das ist ganz und gar unmarxistisch. Die letzte von Marx’ Feuerbach-Thesen lautet: ‹Die Philosophen haben die Welt nur unterschiedlich interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern.› ­Jedoch sie haben sie eben interpretiert! Ohne eine rationale Interpretation der Welt ist bloßer Wille zu ihrer Veränderung blind und irrational.» Es war belehrend zu erleben, wie der Sowjet­ philosoph den Studenten, denen es zuerst um die Aktion als solche ging, von ganz unerwarteter Seite widersprach.

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Ihr Thema «Subjektivität» müsste doch damals den marxistischen Aktivisten ziemlich suspekt gewesen sein. Galt das nicht als bürgerlich? Dass ich ein bürgerlicher Philosoph war und sein wollte, das war klar. Aber ich war ja auch ein Gelehrter. Ich kannte Kant und Fichte und Hegel in der Tiefe und hatte Marx von innen her durchleuchtet. Schon Engels schrieb in Die Entwicklung des Sozia­ lismus von der Utopie zur Wissenschaft: «Wir deutschen Sozialisten sind stolz darauf, daß wir abstammen nicht nur von Saint-­ Simon, Fourier und Owen, sondern auch von Kant, Fichte und Hegel.» Hatte Ihre Aufmerksamkeit für das Thema der Subjektivität auch etwas mit den Zeitereignissen zu tun? Nein. Das Thema hatte ich schon während des frühen Studiums für mich entdeckt: die ebenso distanzierte wie engagierte Selbst­ erforschung im Interesse einer Selbststabilisierung, die erlaubt, einen Stand zu finden, um konsistent sich in allen Lebensbereichen orientieren zu können, in die man hineingezogen wird. Was tat Hans-Georg Gadamer 1968? Um 1968 war Gadamer als Emeritus oft in Amerika. Ich habe ihn 1969 in Washington besucht, als ich im Winter ein Semester lang in Ann Arbor (Michigan) lehrte. Er lebte dort in dem Wohnheim einer katholischen Universität, wo Alkoholverbot herrschte. Er schmuggelte jeden Abend seine Flasche Rotwein hinein. Amerika war für ihn nun sehr wichtig. Zunächst musste er Englisch lernen. Er sprach das gute Französisch eines humanistischen Gymnasiums. Früher in Heidelberg, als das Englische durch die amerikanischen Gastprofessoren aufkam, hatte er mir gesagt, Englisch sei ein Geräusch und keine Sprache im vollen Sinn des Wortes. Das hat er dann später nicht mehr ganz so gesehen.



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Hat Gadamer mit seinem diplomatischen Geschick noch irgendwie auf die Situation der Universität reagiert, den Druck aufgenommen und verwandelt? Ich weiß es merkwürdigerweise nicht. Er hat das Ganze wohl links liegen gelassen, sich auf die USA konzentriert und wahrscheinlich mein politisches Engagement als etwas zu weit gehend betrachtet. Später schrieb ich noch zur deutschen Wiedervereinigung zwei Bücher,14 nachdem ich vorher schon ein Buch über die atomare ­Bewaffnung vorgelegt hatte.15 Das waren drei Bücher, die nicht unmittelbar von Philosophie handelten. Als ich Gadamer dann mein Hölderlin-Buch Der Grund im Bewußtsein16 gab, war er beruhigt und sagte anerkennend: «Dass Sie das neben Ihrem politischen Engagement geschafft haben.» Ich war in Heidelberg sehr in die Bemühung darum engagiert, unter längst erschwerten Voraussetzungen auf eine zeitgerechte Neuordnung der Universität hinzuwirken. Alle diese Versuche sind inzwischen längst und für lange Zeit gescheitert  – nicht etwa allein wegen der Studentenrevolte und der ­ungeschickten Reaktionen auf sie. In der Zeit der beginnenden Studentenrevolte, ab 1964, haben Sie im Suhrkamp Verlag vor allem gemeinsam mit Jürgen Habermas, aber auch unter Beteiligung von Hans Blumenberg und Jacob Taubes das Konzept der Theorie-Reihe entwickelt, die über zwei Jahrzehnte erscheinen sollte. Eigentlich war Suhrkamp ein rein literarischer Verlag mit einem

14  Dieter Henrich, Eine Republik Deutschland. Reflexionen auf dem Weg aus der deutschen Teilung, Frankfurt am Main 1990; ders., Nach dem Ende der Teilung. Über Identitäten und Intellektualität in Deutschland, Frankfurt am Main 1993. 15  Dieter Henrich, Ethik zum nuklearen Frieden, Frankfurt am Main 1990. 16  Dieter Henrich, Der Grund im Bewußtsein. Untersuchungen zu Hölderlins Denken in Jena, Stuttgart 1992.

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philosophischen Appendix, der vor allem durch Walter Benjamin und Theodor W. Adorno besetzt war. Aber das hatte ja auch etwas mit Literatur zu tun – denkt man an Adornos Noten zur Literatur oder Benjamins Berliner Kindheit. Da Unseld selber bei Friedrich Beißner in Tübingen über Hermann Hesse promoviert worden war, wollte er eine literaturwissenschaftliche Sparte anfügen. Aber so, dass auch die Art von Theorie, die Adorno repräsentierte, ihren Platz im Programm haben sollte. Auf Habermas kam Unseld durch Adorno. Wie es bei Blumenberg war, weiß ich nicht. Jacob Taubes kam erst später ins Spiel. Unseld wusste noch nicht so genau, worauf sein Plan eigentlich hinauslaufen sollte. Er dachte an eine Zeitschrift, aber Habermas redete ihm das aus. Wir hätten nicht das ­Potential, eine das Aktuelle im Blick haltende, theoretische und wissenschaftliche Zeitschrift gemäß des Verlagsprofils über längere Zeit zu füttern, so wie es später im linksintellektuellen Kursbuch geschah, das unter anderem Karl Markus Michel herausgeben sollte. Deshalb kam die Buchreihe in die Erwägung. Peter Suhrkamp hatte schon moderne Literatur und Philosophie in den Vordergrund gerückt, die im Nationalsozialismus nicht erschienen ­waren. Es gab unter anderem Beckett und Wittgenstein. Ich sagte Unseld einmal, der im Grunde ein Verehrer von Goethe und Hesse war, mit pole­ mischem Anstrich: «Wenn die Frankfurter Schule Geschichte geworden ist, wird Beckett immer noch ein großer Autor sein, und Wittgenstein nicht weniger.» Unseld war froh über solchen Rat, der ihm half, sein Programm in einer zukunftsfähigen B ­ alance zu halten. Hat Ingeborg Bachmann nicht 1962 ein Sonderheft über Wittgenstein bei Suhrkamp herausgegeben? Diese Publikation war eine weitere Brücke von der Literatur zur Philosophie. Es galt aber auch, unterdrückte oder verschüttete Positionen der Geschichte der Philosophie zu veröffentlichen. Dazu



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gehörte beispielsweise Burke. Er erschien in der Reihe Theorie  I: historische Texte, die kaum eine Rezeption gefunden hatten.17 Dazu trat die Reihe Theorie II: die vernachlässigten oder gar nicht eta­ blierten Anschlüsse an theoretische Entwicklungen der Moderne und der Gegenwart – wobei «theoretisch» durchaus nicht dasselbe wie philosophisch heißen sollte. Man ging davon aus, dass die große Theorie alle Fächer überspannen sollte, so wie es historisch etwa Hegel oder Christian Wolff entwickelt hatten; dass es aber auch in vielen Fächern eigenständige Ansätze zur Theoriebildung von allgemeinerem Interesse gab. Auch ging es um neue Entwicklungen, die noch des Anschlusses bedürfen: Dazu gehörten etwa der Pragmatismus in Amerika oder die strukturalistische Anthropologie. Es war anders, als Philipp Felsch es im Langen Sommer der Theorie darstellt,18 der eine nachstudentenrevolutionäre Perspektive hat. Zwar war der Marxismus  – siehe Oiserman  – theoriesensibel, und es gab marxistische Theorie-Ansätze, die man aufnehmen wollte, etwa bei Lukács. Aber es war nicht das ganze Konzept der Theorie von einer marxistisch gefärbten Aufklärung bestimmt. Theorie hatte für uns, vor allem für Habermas, etwas mit Aufklärung zu tun. Und so hat sich diese doppelte Theorie-Reihe, die historische und die aktuelle, etabliert. Wie kam man auf den Titel Theorie? Das Wort war damals noch nicht in aller Munde. Den Titel Theorie habe, glaube ich, ich erfunden, aber ich bin nicht ganz sicher. Wie kann man das nennen, habe ich mir überlegt. Es muss schlagend sein und muss dem Appeal des Suhrkamp Ver17  Vgl. Dieter Henrich, Einleitung, in: Edmund Burke, Reflexionen über die französische Revolution, Frankfurt am Main 1966. 18  Philipp Felsch, Der lange Sommer der Theorie: Geschichte einer Revolte 1960–1990, München 2015.

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lags entsprechen, frisch, nach vorn, neu. Es muss aber auch fassen, was da beabsichtigt ist. Man brauchte zudem ein vielsagendes und schlagkräftiges Ein-Wort-Programm. Eignete sich das Wort «Theorie» auch deshalb, weil es etwas ­bezeichnet, das etwas anderes ist als Wissenschaft? Ja, es enthält eine Polemik gegen pure, aber im Froschblick befangene Wissenschaft, gegen die bloße Wertschätzung der Strenge des Wissens in einer Wissenschaft – ganz gleich, wovon sie Wissen gewinnt. Gemeint ist: Es muss über das Grundlegende, die Verknüpfungen und die Perspektiven solchen Wissens nachgedacht werden; es muss also abstrahiert und auf Strukturen hin analysiert werden, und Beziehungen von unterschiedlichen Dimensionen sind aufzuweisen. Es ist im Wissensgewinn wohl schon eine Disziplin am Werke. Aber die Disziplin der Theorie ist eine andere als die der Forschung. Wir sahen: Wer offen sein will für die Moderne als Moderne, muss auch offen sein für Theorie. Die Moderne ist etwas, das verlangt, in Perspektiven zu denken, um sich überhaupt zu ihr verhalten zu können. Da kann man nicht nur einfach Wissen weiter akkumulieren und ausloten. Bei der Namensfindung spielte natürlich auch der Blick nach Amerika eine Rolle, wo über sehr viel theoretisiert wurde, was bei uns nicht als theoriefähig galt. Der Begriff «Theorie» kam eher in angelsächsischen Publikationen vor, etwa als Filmtheorie wie bei ­Rudolf Arnheim. Für die Ohren der Wissenschaft in Deutschland hörte sich das zunächst etwas dilettantisch an. Neu war der Begriff «Theorie» in Deutschland vor allem im ­Bereich der Geisteswissenschaften … Das Wort «Theorie» kam vor allem in den Naturwissenschaften vor, etwa als Relativitätstheorie. Auch nach dem Krieg dominierte in den Geisteswissenschaften die philologische Exzellenz. Das war das Kriterium, nach dem man beurteilt wurde. Die Soziologie, die es ja



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erst ein halbes Jahrhundert gab, war nicht besonders ange­sehen. Man hatte nach dem Krieg den Eindruck, dass sich etwas ­ändern muss, dass grundsätzliche Fragen neuen Zuschnitts diskutiert werden müssen. Man musste dazu den Horizont der Theorie haben. Für die Studenten hatte der Terminus «Theorie» sicherlich etwas Anziehendes. Das wurde wirklich durch den Marxismus unterfüttert, mit dem Stichwort «Theorie» konnte man sich ein Über­legen­heits­be­wusstsein zulegen. Etwa so: Die Kapitalismuskritik als Kritik an den bestehenden Verhältnissen muss einen theoretischen Hintergrund haben. Über den verfügen wir. Die, die wir kritisieren, haben ihn nicht. Die Marxisten glaubten, im Besitz der objektiven Wahrheit zu sein. Ja, dieser Anspruch bestand offenbar zu Unrecht. Die Wirtschaftstheorie war aber nun ein Feld, in dem auch damals die Kontroverse herrschte. In den Geisteswissenschaften hingegen war das nicht der Fall, da gab es so etwas nicht. Texttheorie war noch ein unbekanntes Wort. War es die Absicht der Kolloquien der Gruppe Poetik und ­Hermeneutik, den Geisteswissenschaften in diesem Sinn eine ­theoretische Grundlage zu geben? Ja, es war auch ein wichtiges Motiv unserer Generation, das ­unsere Lehrer in den geisteswissenschaftlichen Fächern nicht gekannt hatten. Es ging darum, die intellektuellen Wandlungen der Welt, die erstaunliche Dynamik der modernen Kunst irgendwie einzufangen und aufzuschlüsseln. Das ist nicht etwas, das für die Literatur- oder Kunstwissenschaft, für die Philosophie oder Soziologie allein zur Aufgabe werden könnte. Aber es gibt auch keine Philosophie oder Theorie, die von sich aus alle relevanten Bereiche zusammenführen würde, man musste sich also verbünden. Und so haben wir es gemacht. Mein Freund Wolfgang Iser, ein theoretischer Kopf

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von Rang, war Assistent des Ordinarius Hermann Flasdieck, eines Anglisten und Sprachwissenschaftlers mit großem internationalem Ansehen. Sein wissenschaftlicher Freund war ein gewisser Herr ­Tolkien in Oxford. Von dessen Romanen wusste man noch nichts. Man beschäftigte sich in positivistischer Genauigkeit mit Details der Sprachgeschichte. Aber mein Freund Iser interessierte sich für Literatur und Philosophie, er las die modernen Autoren, er brachte mir T. S. Eliot nahe und erzählte mir: «Ich kann mit meinem Lehrer Flasdieck kein Wort darüber wechseln.» Das wäre also eine Skizze der Situation, so wie wir sie sahen. Hängt das nicht auch damit zusammen, dass in den Geistes­ wissenschaften die Grundlagen fragwürdig wurden? Da gibt es einen gewissen Zusammenhang, aber die Grund­ lagenkrise, von der Sie sprechen, trat eher ein. Sie stellte sich schon um die Jahrhundertwende für die interpretierenden Wissenschaften ­angesichts der exakten und empirischen Wissenschaften. Man hat da an Heinrich Rickerts Die Grenzen der naturwissenschaft­ lichen Begriffsbildung oder Wilhelm Diltheys Grundlegung der Geisteswissenschaften zu denken. Dann wurde der ohnehin anfällige Wissenschaftsstatus dieser Disziplinen im «Dritten Reich» – auch durch die leninistische Zwangsorientierung in der Sowjetunion  – noch einmal neu in Zweifel gezogen. Aber bei unseren Fragen nach der Theorie war diese Grundlagenkrise nicht maß­ gebend. Man dachte schon, es gibt ein positivistisches Residuum, das uns aber auf keinen Fall genügt. Ich bin auch heute der Meinung, es gibt zwei strenge, rigide Methoden. Die eine ist die mathematische Naturwissenschaft, die andere ist die historische Forschung, wobei ich nicht an diejenige denke, die Epochen oder Strategien im Blick hat, sondern an die Erschließung der Quellen, zu der auch die Ausgrabung in wörtlicher und übertragener Be-



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deutung gehört und bei der sich ganz neue Dimensionen öffnen können. Auf einmal entdeckt man Quellen, die niemand je berührt hat, obwohl sie ganz offen verfügbar waren. So habe ich die Geschichte des Idealismus  – mit erheb­licher, lang anhaltender Anstrengung – in ein neues Licht rücken können. Aber das ist natürlich nicht das, worum es uns damals ging und worum es auch mir nach wie vor eigentlich geht. Betrachtet man beispielsweise das Programm des Suhrkamp Verlags um 1968, kann man von einem regelrechten Hype der ­Theorie sprechen, der natürlich auch Gefahr läuft, zur bloßen Mode zu werden im Sinne eines Erlebnis-Enthusiasmus. Die Mode führte zu den vielen K-Gruppen, die alle ihre meist ­laienhaften Theorien und dogmatischen Theoretiker hatten. Haben Sie als Herausgeber der Theorie-Reihe eng mit dem ­Lektor Karl Markus Michel zusammengearbeitet? Er war damals der Lektor und folgte sicher noch stärker als ­Habermas einem dem Marxismus nahen Impuls. Er hat im Herbst 1968 mit anderen Lektoren eine Art Palastrevolution angezettelt und ist in der Folge aus dem Suhrkamp Verlag ausgetreten, um den Syndikat Verlag zu gründen. Das Modell war: Die Autoren sind im Kollektiv selbst der Verleger. So etwa gründete Klaus Wagenbach seinen Verlag und auch Peter Gente den Merve Verlag. Siegfried Unseld blieb Chef bei Suhrkamp. Sein Lieblingsphilosoph war Ernst Bloch. Das war eine persönliche Hochschätzung. Unseld war philosophisch ein Laie. Mit Ernst Bloch hatte er sich befreundet. Haben Sie Bloch persönlich kennengelernt? Ich bin einmal mit ihm zusammen im Tübinger Stift aufgetreten bei einer Veranstaltung zu einem Jubiläum des Hauses. Er war mir grundunsympathisch.

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Wegen seines prophetischen Gestus? Unter anderem, ja. Auch sein auftrumpfend-suggestives Reden, das Wahrheiten eher kundtut, als zu ihnen hinführt. Das ist etwas, was mir (mit Platon) unangenehm und verdächtig ist  – auch bei Herbert Marcuse, der ähnlich, nämlich wie ein Parteiapostel auftreten konnte. Beide hatten eine eigene, selbstgestrickte Theorie, deren Löcher leicht erkennbar sind. Putnam sagte einmal von dieser Art Löchern, sie seien so groß, dass man mit dem Lastwagen hindurchfahren kann. Aber dann so aufzutreten, als ob sie die erschließende und zudem befreiende Wahrheit besäßen, sich wie ein Agitator an eine Masse zu wenden, statt zu sagen: Sieh mal, wenn du das bedenkst, dann kommst du doch wohl zu folgendem Schluss … Ich ­jedenfalls habe an Stellen von zentraler Bedeutung, wohl mit Nachdruck, das und das zu erwägen gegeben. Ich wollte nicht mit einem suggestiv-doktrinären Gestus auftreten, der vorgibt: So ist es, und das wirst du ja wohl verstehen und mittragen. Immerhin hatte Bloch ja auch ein Buch über Hegel geschrieben. Haben Sie sich für seine marxistische Interpretation interessiert? Er hatte schon ein anderes Niveau und eine profundere Bildung als ein Parteifunktionär. In der DDR hatte er eine bedeutende, öffnende Rolle. Dort war er jemand, der nicht nur die Parteilinie vertritt, sondern einen Marxismus eigenen Profils. Bloch hatte auch kluge Schüler; und ich weiß, dass es ihnen nach der politischen Kampagne gegen den Meister in der zweiten Hälfte der 50er Jahre schlechter als ihm selbst ergangen ist. Aber kommen wir zurück zur Theorie-Reihe. Bald gab es als Affiliationen die Theorie-Werkausgaben, so die Hegel-Ausgabe, die Karl Markus Michel nach der alten Hegel-Ausgabe der «Freunde des Verewigten» herausgegeben hat. Es gab auch eine Kant- und eine Feuerbach-Ausgabe. Die Theorie-Reihe wurde



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durch den hohen Anteil an Übersetzungen ökonomisch insgesamt zum Problem. Deshalb gab es dann die Reihe suhrkamp taschenbuch wissenschaft (stw), die in den frühen 70er Jahren entwickelt wurde. Sie hatte dieselbe Zielgruppe im Auge. Innerhalb ihrer wurden die Reihen Seminar und Materialien aufgebaut. Ich bin Anfang der 80er Jahre als Herausgeber ausgeschieden. Um die TheorieReihe stand es nicht mehr erfreulich. Hans Blumenberg trat schon früher aus, wie er überall irgendwann austrat, etwa aus Poetik und Hermeneutik. Auch Jürgen Habermas zog sich später zurück; ich weiß nicht mehr, aus welchem Grund. Unseld kündigte Taubes. Weil er als zu unstet und als Scharlatan galt? Ich weiß nicht genau, was Unselds Beweggrund gewesen ist, ­Taubes nicht mehr haben zu wollen. Ich habe ja Taubes immer wieder einmal verteidigt. Aber es ist wahr: Er arbeitete nicht ernsthaft. Er las maßgebende Zeitschriften und Rezensionsorgane und griff, gescheit und unruhigen Geistes, wie er war, zu viele Sachen auf und überschüttete Unseld mit Titel-Vorschlägen. Auf einen neuen Herausgeber, etwa Koselleck, haben wir uns mit Habermas nicht einigen können. Also: Die Theorie-Reihe verkarstete irgendwie. ­ Schließlich habe ich noch ein paar Jahre mit Niklas Luhmann allein die Reihe herausgegeben. Unseld hätte sie wohl am liebsten gleich aufgegeben. Aber Luhmann war mit mir der Meinung, er könne nicht einfach den Vertrag auflösen, der noch einige Jahre lief. Aber schließlich habe ich die Lust verloren, weil Luhmann nun mein Partner war, mit dem ich eng zusammenarbeiten musste. Das ging ­konfliktlos, war aber nicht produktiv. Luhmann hatte gar keine Neigung, das, was für Suhrkamp wichtig war, nämlich allgemein intellektuelle und dabei doch reputierliche Werke, in die Reihe aufzunehmen. So scheiterte beispielsweise der Vorschlag, Thomas Nagel über die Theorie-Reihe für den Verlag zu gewinnen, den ich selbst sehr

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favorisierte. Damit war für mich die Reihe eigentlich zu Ende, denn Nagel war meines Erachtens für Suhrkamp ganz besonders geeignet. Gab es eine Art Vetorecht unter den Herausgebern? Ja. Ich wollte, als Blumenberg austrat, Koselleck dazuholen, aber das wollte Habermas nicht, aus politischen Gründen. Ich sah in ihm den am besten geeigneten Generationskollegen mit einem auf produktive Weise abweichenden Profil; seine Nähe zu Carl Schmitt spielte für mich keine wichtige Rolle, zumal diese bei Koselleck nicht politisch motiviert war. Kannten Sie Koselleck schon seit den frühen Heidelberger Jahren? Er war dort Assistent des Historikers Werner Conze. Dessen Geschichtliche Grundbegriffe waren ein hochkarätiges Unternehmen, das etwas Neues in die Zeit hineinbrachte, durchaus auch im Sinne des Stichworts «Theorie», der Theorie-Sensibilität geschichtlicher Epochen. Die politische Theorie bekam eine Bedeutung nunmehr auch für die politische Geschichte. Ich kannte Koselleck schon lange, weil er im Kreis um Alfred Weber in Heidelberg eine Rolle gespielt hatte, zu dem auch Nicolaus Sombart gehörte. Das war ein anderer Kreis als der um Gadamer, weniger philosophisch, aber doch immer eng am Rande der Philosophie. Da gingen intellektuelle Studenten hin, die etwas zu sagen hatten. Koselleck wäre für mich ein guter Nachfolger von Blumenberg gewesen. Würden Sie sagen, dass Habermas in besonderer Weise verkörperte, was wir heute mit 1968 und mit der Theorie-Begeisterung verbinden? Ja, Habermas wollte in der Gesellschaft etwas in Gang setzen, eine Aufklärungsbewegung. Mit habituellen und institutionellen Folgen. Das lag mir selbst in dem von ihm gemeinten Sinne fern. Mir ging es eher darum, Subjektivität und Rationalität zu verbinden, als eine Erfahrung der Lebensführung, gegen die überkomme-



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nen Gehäuse, aber nicht im aktionistischen Sinn. Institutionelle Veränderungen können notwendig und dann von hoher Bedeutung sein. Zentral ist jedoch immer der Wandel in den Lebensperspektiven, im vortheoretischen Verstehen des Einzelnen innerhalb seiner Lebensführung. Aber auch Habermas war keineswegs Aktionist. Ging es ihm stärker darum, in der Gesellschaft Verantwortung zu übernehmen, die über die Profession des Gelehrten hinausgeht? Das war wohl, zumindest am Anfang, sein stärkstes Motiv, auch in der Philosophie  – im Unterschied zu mir. Aber er war immun ­gegen das, was sich in irrationaler Form austrug. Er hätte ja die Chance gehabt, der charismatische Anführer der Studentenbewegung zu sein. Er hat das überlegt zurückgewiesen. Er hatte den Mut, das Wort «linker Faschismus» zu prägen und damit einen Sturm der linken Entrüstung auf sich zu ziehen. Er provozierte ganz kalkuliert, um diese Bewegung von sich fernzuhalten. Er hat mich einmal mitgenommen zu einer Sitzung des Frankfurter SDS. Da war er immer ein potentieller Bundesgenosse, aber nie ein Kumpan. Er hat seine Grundhaltung rationaler Aufklärung  – wenn auch mit Freund-Feind-Mustern – konsequent durchgehalten. Dazu kommt, dass Habermas in der Zeit um 1968 die Psychoanalyse als Möglichkeit der gesellschaftlichen Selbstaufklärung betrachtete. Das war auch bei Adorno so, und bei dem Heidelberger Professor Mitscherlich. Hatten Sie Kontakt zu Mitscherlich? War er nicht auch ein prophetisch-charismatischer Charakter, bei dem man nicht sicher ist, ob seine Gesten durch Substanz gedeckt sind? Ich nehme diese Frage gerne auf. Als ich 1965 nach Heidelberg zurückkam, gehörte es ähnlich wie in New York auch in Berlin bereits zum guten Ton, sich einer Freud’schen Analyse zu unterziehen.

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Adornos These lautete, gesellschaftliche und psychologische Aufklärung gehören zusammen, das Subjekt und das Kollektiv kann man allerdings letztlich nicht einzeln behandeln. Bevor ich Mitscherlich selbst kennenlernte, hatte ich bereits seine Bücher – Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft, Die Unfähigkeit zu trauern oder Die Unwirtlichkeit unserer Städte  – kennengelernt und als wichtige Bücher der Zeit anerkannt. Hier kommt nun etwas Persönliches ins Spiel: Nachdem meine erste Ehe bereits früh gescheitert war, befand ich mich, als ich nach Heidelberg zurückkam, bald erneut in einer Liebeskrise. Den Imperativ im Ohr, man müsse als Intellektueller unbedingt eine Psychoanalyse erhalten, wollte ich mich an Frau Mitscherlich wenden, die ich über Suhrkamp kannte. Ich konnte aber nicht auf sie zugehen, ohne zunächst mit ihrem Mann zu sprechen, der mein Kollege war. Also ging ich zu ihm und sagte ihm, dass ich meine, eine Analyse zu benötigen. Er nahm meine Bitte freundlich auf: «Wenn Sie denken, ich stehe Ihnen zur Verfügung.» Ich konnte das Angebot nicht ablehnen und sagte zu, worauf er fortfuhr: «Also, damit Sie wissen, was Ihnen bevorsteht: Nächste Woche Montag, Dienstag, Donnerstag, Freitag um acht Uhr morgens kommen Sie zu mir.» Das war ein Geschenk. Es kam also zu den ersten analytischen Gesprächen. Nach deren Abschluss eröffnete mir Mitscherlich zu meiner größten Überraschung, fast aber auch Enttäuschung: «Herr Henrich, Sie brauchen keine Analyse.» Unter seinen Begründungen war die wichtigste: «Sie können lieben. Sie können arbeiten. Glück ist den Menschen nicht beschieden, sondern es fällt ihnen allenfalls zu. Sie sind gesund.» Ein souveräner Rat. Da hatte ich eine Bescheinigung vom Präsidenten der Freud-­ Gesellschaft, dass ich psychisch gesund sei. Aber eigentlich war ich irritiert und glaubte ihm nicht ganz. Auch einige Leute, die mich



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kannten, sagten: «Natürlich brauchst du eine Analyse. Mitscherlich hat sich wohl mit dir identifiziert. Wie kann er dir das antun. Er hat ja selbst keine abgeschlossene Analyse.» Ich habe die Geschichte meinem späteren Duzfreund Walter Bräutigam, der die Psychosomatische Klinik in Heidelberg übernehmen sollte, und einer Schülerin von Mitscherlich, die praktizierende Analytikerin war, erzählt. Beide sagten: «Nein, Unsinn, Mitscherlich hat dir einen großen Dienst erwiesen. Du musst ihm dankbar sein. Erstens hat er eine ­abgeschlossene Analyse. Zweitens hatte er ganz recht, die Analyse hätte dich unproduktiv gemacht.» Heute bin ich Mitscherlich tatsächlich sehr dankbar. Hätte ich durch ihn und seine Umgebung keine Bestätigung erfahren, wäre ich meine Ungewissheit nicht losgeworden. Viele der jungen Erwachsenen, darüber hat Mitscherlich auch geschrieben, begehrten in den frühen 60er Jahren gegen die Generation der Väter auf, von denen sie nicht wussten, was sie vor 1945 gemacht hatten. Auch Hans Ulrich Gumbrecht hat ein Buch darüber geschrieben und der Väter-Generation die Schuld an den Lebensproblemen ihrer Kinder gegeben. Aber befreiende Gespräche über die Vergangenheit wurden von beiden Seiten kaum gesucht. Darüber hat Hermann Lübbe kluge Bemerkungen gemacht. Die Professoren damals zu ­fragen: «Was haben Sie eigentlich bis 1945 gemacht?», war schon eine Verletzung einer stummen Vereinbarung. Dringlich wurde die Frage, als sie generalisiert wurde. Da ging es gar nicht mehr um die eigenen Eltern, sondern um die ganze Generation, und zwar darum, sich von ihr mit dem Ziel der Selbstprofilierung abzustoßen. Ich will nicht ausschließen, dass dabei eine längere Schweigeperiode zwischen Eltern und Kindern eine Rolle gespielt hat. Es wäre inte­ ressant, es genauer herauszubringen. Ich selbst bin übrigens nie, bis

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heute nie gefragt worden: «Was haben Sie eigentlich im ‹Dritten Reich› gemacht?» Ich habe es selbst erzählt, lange bevor ich im Gespräch mit Ihnen die Geschichte meiner Kindheit und Jugend zum Thema zu machen hatte. Karl Jaspers und Hannah Arendt waren zur Zeit der Debatten um die Notstandsgesetze der Meinung, dass die Gefahr besteht, wieder in eine faschistische Gesellschaft abzudriften, auch weil die ehemaligen Eliten immer noch entscheidende Funktionen inne­ hatten. Hielten Sie das für eine Dramatisierung? Ich fand es überzogen, ja. Das war alles so ineinandergeschoben. Braucht man nicht wirklich Notstandsgesetze in Zeiten schwerer Krisen? Braucht man sie gerade jetzt? Oder haben die Leute, die darüber entscheiden, suspekte Motive? Alles ging durcheinander, wirbelte einen hektischen Protestaufwand hoch. Kurt Georg Kiesinger erlag ihm als Kanzler. Die Große Koalition hat diesen Kurs in gewisser Weise mitgetragen, zur Enttäuschung vieler Linker. Ich befand mich, wenn man es auf eine handliche Formel bringen will, eigentlich immer mehr oder weniger im Meinungsspektrum der SPD. Helmut Schmidt ist mehr noch als Willy Brandt für mich eine politische Orientierungsfigur gewesen. Bis vor kurzem hatte ich immer noch Sympathie für SPD-Persönlichkeiten wie etwa Franz Müntefering. Aber der Wendepunkt in meiner Grundzustimmung gegenüber dieser Partei war ihre Hochschulpolitik. Die SPD ist doch weitgehend verantwortlich für den allmählichen Untergang der deutschen Universität. Das konnte ich nicht mehr als Neben­ defekt registrieren. Schon als noch in den 70er Jahren geplant wurde, zahlreiche Dozenturen auf Zeit auf einen Schlag in Lebenszeit-Professuren umzuwandeln, habe ich heftig dagegen argumentiert. «Das könnt ihr nicht machen, das blockiert die Stellen für die nachfol-



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gende Generation. Das wird das System ruinieren.» Es schmerzt mich zu sehen, dass die SPD eine Grundneigung dazu hat, ‹Eliten› wie die akademische zu beneiden und zu beseitigen, statt sie nur für alle wirklichen Leistungsträger zu öffnen. Wie kam Ihnen Rudi Dutschke vor? Er hatte wirklich eine charismatische Wirkung. Ich habe Dutschke als Studenten nur flüchtig kennengelernt; damals war er ein unscheinbarer DDR-Flüchtling, protestantisch geprägt und noch gebunden. Er trat dann auch in Heidelberg auf und füllte mit dem Appeal seiner heiseren, agitierenden Stimme das größte Auditorium mit einer frenetischen Menge. Meine Frau sagte mir später einmal: «Dem Dutschke ist es letztlich um das Selbstsein gegangen, also um dasselbe, wofür du dich interessierst.» Er hat sich tatsächlich einmal in ähnlichem Sinn geäußert. Aber seine Wirkung ging auf den Aufstand einer Masse. Ulrike Meinhof oder Gudrun Ensslin kamen aus religiösen ­Kontexten. In der Berliner Studentenbewegung gab es jedoch auch richtig stalinistisch agierende Individuen von einiger Argumentationskraft. Wolfgang Lefèvre etwa, der nun wohl Professor für Wissenschaftsforschung am Max-Planck-Institut ist. Damals erschien er mir fast als ein veritabler Stalinist, ohne den religiösen Hintergrund, den Sie hervorheben. Als solcher wollte er die Massen aktiviert sehen und berauschte sich selbst auch daran, dass das gelang. Auch in Paris hat man solches gesehen. Und ich wusste schon aus den USA, dass die Tendenz zum Terrorismus in kulturrevolutionären Jugendgruppen leicht freigesetzt wird. The Weatherman hieß dort die federführende Gruppe, in Anspielung darauf, dass sie voraussagen, was kommen wird. Es passierte, dass diese radikale Gruppe, die Anschläge – ähnlich denen in Italien  – vorbereitete, schon 1969 ein vierstöckiges

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Townhouse in Manhattan wider Willen in die Luft sprengte. Die persönlichen religiösen Hintergründe der deutschen Führergestalten erklären also nicht die Bewegung als solche. Da muss man vielleicht die Vermittlungslücken zwischen den Generationen ernsthaft in Erwägung ziehen, in dem Sinn, dass es sich um ein Spät-Schicksal des Nazismus handelt. Allerdings nicht in dem geläufigen Sinn, dass die Studentenbewegung die Anfälligkeit der Elterngeneration für den Nazismus endlich ans Licht bringt und destruiert, sondern dass sie gleichsam das Schicksal der Eltern teilt, weil keine klärende Vermittlung stattgefunden hatte. Ich erinnere an das Entsetzen der Professoren an der Freien Universität, die Remigranten waren, so an Reinhard Bendix, den politischen Soziologen, der ganz fassungslos war, dass das möglich war – und ausgerechnet in Berlin, dem Ort, der die Wirklichkeit der DDR als Anschauungsbeispiel in sich selbst trug und der im «Dritten Reich» die am wenigsten nazifizierte Großstadt gewesen war. In Berlin hatten die meisten Juden überlebt. Und gerade dort trug sich die erneute Radikalisierung zu. Das war wie ein Wiederholungszwang unter anderen Vorzeichen. Mit dieser Dia­ gnose müsste man einmal experimentieren und sehen, wie weit man kommt und wo die Grenzen liegen, die sie auch hat. Es wundert mich oft, wie es zu dieser Entwicklung kam, nach dem Krieg, nach dem braunen Terror. Die physiognomischen Gemeinsamkeiten zwischen den frühen dreißiger Jahren und den Szenen der Massenpression gegen Einzelne durch die Studentenbewegung waren doch so offensichtlich. Woran denken Sie? Die Diffamierung des politischen Gegners, der Juden, der bürgerlichen ‹reaktionären› Personen, die Besetzung der Institute, deren Verwüstung, der kollektive Druck auf Personen, die ihm ersichtlich nicht gewachsen waren. Es haben einige Hochschullehrer darüber



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tatsächlich ihr Leben verloren. Über ein Beispiel in Heidelbergs ­Philosophie habe ich Ihnen berichtet. Hat es der 68er-Bewegung an selbstkritischer Reflexion gefehlt? Das war ein wichtiger Punkt, den sogar Oiserman den Studenten klarmachte: dass die marxistische Argumentation eine billige Überlegenheit gegenüber vielen Personen, die sie selbst nicht beherrschten, allein deshalb erreichte, weil sie sich selbst nicht in Frage stellte. Die Theorie diente allein als Waffe. Ich denke, dass in der TheorieReihe keine windschiefen Sachen erschienen sind, welche das unterstützen könnten. Ansonsten gab es das manchmal schon, etwa in der edition suhrkamp (es). Die bunten Bände wurden allerdings öfter gekauft als gelesen. In Ihrer Philosophie gibt es keine derartigen Eindeutigkeiten, vielmehr Ambivalenzen und Einladungen, einen bestimmten Denkweg mitzuvollziehen. Wir müssen, ohne die letzte und universale Erkenntnis zu haben, einen Stand gewinnen. Das ist das große Problem. Wer es verstanden hat, ist zu beharrlich abwägenden Begründungen veranlasst. In dieser Hinsicht stehen Sie im Gegensatz zur 68er-Bewegung. Ich denke, dass für den Marxismus als solchen die Unterschätzung der Subjektivität und die Abneigung gegenüber tiefgehenden Fragen nach den Erkenntnisgrenzen dieses subjektiven Bezugs k ­ onstitutiv ist. Daher die Tendenz zum Dogmatismus. Die absolute Erkenntnis hält er zwar für ausgeschlossen; aber er fordert, die g­ esellschaftliche Praxis als methodischen Halt, als epistemische Zugangsbasis anzu­ erkennen. Es ist nicht möglich, eine marxistische Position zu vertreten und sie zugleich zurückzunehmen auf eine besonnene, wiewohl entschiedene Aufklärung, auf allseitig erwogene Begründungen und auf ein gelassenes Verstehen des bewussten Lebens in seinen Bedingtheiten und ihm wesentlichen Bindungen. Für den Marxisten treibt

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die Geschichte (wenn es denn ein solches singuläres Prozesssubjekt überhaupt gibt) sich selbst vermittels der Interessen der Akteure voran. Ich würde übrigens den Debatten über all dies im gegenwär­ tigen China gern nachgehen können. Welche der philosophischen Projekte, die Sie in diesen politisch bewegten Zeiten auf den Weg gebracht haben, sind Ihnen im Rückblick die wichtigsten? Es ist gut, dass wir nun auf das Philosophieren als solches zurückkommen. Fast alle meine Projekte und Veröffentlichungen haben ihr Motiv und zumindest einen Hintergrund in dem, was mich anfänglich in die Philosophie gezogen hat. In meiner Habilitationsschrift sollten sie alle irgendwie beachtet werden. Das hat dazu geführt, dass diese Arbeit hinter meinen eigenen Erwartungen weit zurückblieb. Die Aufklärung von Zusammenhängen und Leitlinien in der Entwicklung von Immanuel Kants Grundlehre hatte ganz den Vorrang über die Untersuchung der Zusammenhänge zwischen dem Selbstbewusstsein und den Konflikten in der Lebensführung des Menschen. Um sie war es mir eigentlich gegangen. Aber ich musste einsehen, auf sie nicht hinreichend vorbereitet zu sein. In meinen Vorlesungen und Seminaren habe ich dann viele Dimensionen dieser Problemlage durchdacht. Gleichzeitig habe ich versucht, die schwierigen Texte der Gründer der klassischen deutschen Philosophie in der Tiefe und dann auch in Beziehung aufeinander zu erschließen. All das hatte zu meinem Ansehen beigetragen. Es hatte eine größere Zahl begabter Studenten bewogen, in der Zusammenarbeit mit mir auf ihren eigenen Weg kommen zu wollen. Mit der Rückkehr nach Heidelberg und vor dem Beginn meiner Lehre in den Vereinigten Staaten war es dann so weit: Ich konnte mehrere Veröffentlichungen abschließen, die in kleinerem Format doch eine lang anhaltende Beachtung gefunden haben. So habe ich



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in einzelnen Studien Hegels spekulative Grundfiguren zu rekonstruieren versucht. Ich habe Kants Verfahren bei der Begründung der Erkenntnis auf neue Weise entwickelt und bin den Problemen nachgegangen, die durch das Auftreten Fichtes eine Wandlung im intellektuellen Klima bewirkt hatten. Alle diese Themen wurden auch von begabten Studenten aufgenommen. Viele von ihnen hatten ­Interesse, meiner These, dass unserem Verstehen von Selbstbewusstsein größere Schwierigkeiten innewohnen, die bis in die Philosophie der neuesten Zeit übersehen wurden, weiter nachzugehen. Aus der Fragestellung resultierten auch einige öffentliche Debatten mit Kollegen, etwa mit Jürgen Habermas. Für die Gruppe von Doktoranden, die mit ihren Studien diese These auf ihre Weise weiterführten, kam bald der Ausdruck ‹Heidelberger Schule› in Gebrauch. Ich selbst war in den folgenden Jahren darum bemüht, was sich mir in den Vereinigten Staaten näher erschlossen hatte, in den Heidelberger Unterricht einzubringen. Ähnliches gilt für die anhaltenden Gespräche über Kunst und Kunsttheorie, zumal in der Gruppe Poetik und Hermeneutik. Noch vor meinem Übergang nach München haben sie zu zwei Buchpublikationen zusammen mit meinem Freund Wolfgang Iser geführt.19 Aus der Generation sind zahlreiche prominente Philosophen hervorgegangen. Können Sie etwas über Ihren Schülerkreis sagen? Ich erfuhr es als ein Glück, von früh an viele Schüler, auch Schülerinnen zu haben, die zu meinen Kollegen wurden. Einige haben inzwischen selbst wieder Schüler, die in Universitäten lehren. Vielleicht ist es sogar möglich, unter der Individualität der Personen und Interessen einige Züge eines gemeinsamen Profils zu erkennen.

19  Dieter Henrich, Wolfgang Iser (Hgg.), Theorien der Kunst, Frankfurt am Main 1982; dies. (Hgg.), Funktionen des Fiktiven, München 1983

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Mein erster Assistent, Hans Friedrich Fulda, war nur wenige Jahre jünger als ich. Er ist, wie auf andere Weise viele Jüngere, mir zu ­einem Freund geworden. Aber auch Lehrer anderer Fächer sehen sich selbst als meine Schüler, so in der Soziologie, Literaturwissenschaft und mehr noch in der Theologie. In den deutschsprechenden Ländern hatten wohl um die zwanzig Professoren der Philosophie mich zum Doktorvater. Während der zweiten Heidelberger Zeit hatte meine Lehre für Philosophen anderer Länder besonderes Gewicht – nicht nur in den USA, von wo einige meiner Studenten zu einer Studienzeit nach

Heidelberg kamen. Einmal folgte ich der Bitte, ein Seminar für nur sechs japanische Gastdozenten zu halten. Nur einer von ihnen hat allerdings seine Dissertation bei mir eingereicht: Kunihiko Nagsawa. Er ist zum Gründer der japanischen Fichte-Gesellschaft geworden. Zu den Ländern, in denen Philosophen lehren, die bei mir ihre Promotion abgeschlossen haben, gehören neben Japan und den USA Brasilien, Kolumbien, Kanada, England, Israel und der Iran. Über dem Portal der Neuen Universität Heidelberg steht die von Gundolf vorgeschlagene Widmung «Dem lebendigen Geist». Ich darf hoffen, dass ich zum Leben des Geistes in der Gegenwart der Philosophie in dieser verwandelten Welt etwas habe beitragen können.

6. Die amerikanischen Jahre

Seit 1968 lehrten Sie regelmäßig an amerikanischen Universitäten, zuerst an der Columbia und später an der Harvard University. Sie gelten bis heute in den USA als einer der ange­sehensten Vertreter der kontinentalen Philosophie und haben sich dort zugleich der analytischen Philosophie geöffnet. Ja, ich war froh, über fast zwei Jahrzehnte regelmäßig eingeladen zu sein und als Gastprofessor sogar an der renommierten Harvard University über viele Jahre lehren zu können. Dort eröffneten sich mir hervorragende Möglichkeiten zum eigenen Lernen und zum intensiven Austausch zwischen diesen unterschiedlichen Denktra­ ditionen. Wann kamen Sie zum ersten Mal in Kontakt mit dem Eng­ lischen? Nach Latein und Griechisch war Englisch meine dritte Fremdsprache. Später im Krieg fand der Englischunterricht immer seltener statt, da er zumeist auf die letzten Stunden fiel, das heißt auf die Zeit, in der Fliegeralarm immer wahrscheinlicher wurde. Gleichwohl war der Unterricht in Englisch sehr gut, insbesondere aber nach Kriegsende. Meiner Englischlehrerin verdanke ich ja auch die Anregung, schon als Schüler die Vorlesungen eines Kulturoffiziers der Amerikaner an der Universität zu besuchen. Wie sah das konkret aus? Als Franz Borkenau, ein zunächst nach Frankreich emigrierter Kultur- und Geschichtsphilosoph im weiteren Umkreis der Frank-

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furter Schule, nach Kriegsende in Marburg als amerikanischer Kulturoffizier Vorlesungen hielt, sagte meine Lehrerin sehr bestimmt: «Herr Henrich, gerade Sie müssen da hingehen.» Ich war dann fasziniert von den überraschenden und weit ausgreifenden Verbindungslinien, die der Remigrant in seiner Gedankenführung ziehen konnte. Borkenau war früher einmal oberster Funktionär der kommunistischen Studentenschaft Deutschlands gewesen. Nun war er engagierter Antikommunist, rhetorisch brillant, auch gelehrt, aber ebenso soziologisch wie universalhistorisch gebildet und argumentierend. Ihm verdanke ich meine erste Begegnung mit einem jü­ dischen Intellektuellen, der philosophisch ebenso versiert war wie in der politischen Applikation. Könnten Sie die Geschichtstheorie von Borkenau näher charakterisieren? In seinem Buch Ende und Anfang. Von den Generationen der Hochkulturen und von der Entstehung des Abendlandes, das allerdings erst 1984 postum erschien und nun schon zu Unrecht fast vergessen ist, bezog sich Borkenau auf Spengler und Toynbee. Dieser hatte Spenglers Theorie aufgegriffen und respektabel gemacht, auch dadurch, dass er, anders als Spengler, die Kulturen nicht als Urphänomene in Anspruch nahm, sondern zu erklären versuchte, wie es zu einem Kulturzyklus kommt. Seine Grundbegriffe waren dabei challenge und response. Das Faszinierende an Borkenau war schon 1946 für mich, dass er bestritt, dass unsere Kultur auf Rom und Jerusalem zurückzuleiten ist. Das christliche Abendland, das wir sein sollen, hält er für eine Ideologie. Unsere Kultur stamme aus einem ganz anderen Impuls, nämlich aus Irland, aus der irischen Mönchsbewegung. Borkenau nennt die von den Iren inspirierte Kultur die Kultur der Ich-Sager. Es ging um die positive Bedeutung der Verbindung von Selbstbehauptung und Unendlichkeit in der Moderne.



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Schon Spengler hatte ja deutlich gemacht, dass weder Jerusalem noch die Antike die Unendlichkeit als positive Figur anerkannt hatten. So etwas wie Rembrandt – das meinte schon Spengler – wäre von der Antike her undenkbar. Gab es andere geistige Erfahrungen an der Universität, die Sie aus Ihrer Schülerzeit erinnern? Um die Zeit, zu der ich das Abitur bestand, hörte ich auch einzelne Vorträge von amerikanischen Philosophen, darunter den recht berühmten Whitehead-Schüler Charles Hartsthorne. Er gehörte zu den prominenten Gelehrten, die die Amerikaner nach Deutschland sandten, um die Deutschen gezielt über den Pragmatismus und die amerikanische Verfassung aufzuklären  – ein Teil der politischen reeducation. Wie kam es dann zu Begegnungen mit englischsprachigen Philosophen in Ihren akademischen Jahren in Heidelberg? Die amerikanischen Professoren erhielten ja damals schon längst Freisemester, sabbaticals, und als Gadamers einziger Assistent stellte ich zu Anfang der 50er Jahre für einige amerikanische Pro­ fessoren in Heidelberg die erste Anlaufstelle dar. Zwei dieser amerikanischen Full Professors von der Yale University waren George Schrader, ein Kantianer, und John Smith, der vom Pragmatismus her besonders am jungen Hegel interessiert war. Als ich John Smith später in den USA besuchte, erfuhr ich übrigens, dass er nicht nur ein temperamentvoller Philosophieprofessor war, sondern zugleich ordinierter Geistlicher einer protestantischen Denomination. So hörte ich ihn an einem Sonntag von der Kanzel der Universitätskirche predigen. Damals in Heidelberg waren Schrader und Smith mit der deutschen Sprache kaum mehr als passiv vertraut – über ihre Lektüren der klassischen Autoren und der Forschungen über sie. So musste ich mich stärker in das Englische finden. Ihr Interesse hatte

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auch damit zu tun, dass damals jedes Department mit einem Kenner von Kant, möglichst auch des Deutschen Idealismus (Marx oder auch Kierkegaard eingeschlossen) aufwarten wollte. Wann waren Sie zum ersten Mal im englischsprachigen Ausland? 1957 bekam ich als Leiter des Collegium Academicum eine Einladung nach England. Bis dahin hatte ich keine angemessene Vorstellung von dem, was analytische Philosophie eigentlich ist. Aber ich war schon mit Herbert James Paton in Oxford gut bekannt. Als Kantianer und Inhaber des Lehrstuhls für Metaphysik war er – der Vorgänger von Peter Strawson  – eine Koryphäe. Er hatte, wegen Kant, ein großes Interesse an Deutschland – und auch an mir. Denn ich hatte auf Anregung von Gadamer hin ein Buch von ihm in der Philosophischen Rundschau rezensiert. Darin hatte ich es gewagt, Paton einen Fehler in seiner Lektüre der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten nachzuweisen. Als fairer Brite bedauerte er in der nächsten Auflage diesen Fehler und gestand ein, mit Namensnennung, von mir rechtens korrigiert worden zu sein. Lernten Sie Paton auch persönlich kennen? Schon vor meiner Englandreise, in der Korrespondenz und bei ­einem Vortrag in Heidelberg. Als ich als Mitglied der Delegation von Kollegienhaus-Leitern nach Oxford kam, war Paton bereits emeritiert. Er beauftragte aber einen Schüler, William Henry Walsh, sich um mich zu kümmern, so dass ich ihn fragen konnte: «Was ist denn hier gegenwärtig neu, besonders gut und wichtig in der Philosophie?» Unter anderem gab er mir den Hinweis auf James Urmsons kleines Buch über Philosophical Analysis, bei dessen Lektüre es mir wie Schuppen von den Augen fiel. Von der Mächtigkeit der Strömung, die mit Bertrand Russell und George Edward Moore begonnen hatte und über die innerenglische Entwicklung bis hin zum späteren Ludwig Wittgenstein und Gilbert Ryle ging, hatte ich bis



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dahin kaum eine Ahnung, obwohl nach Heidelberg auch Oxforder Studenten und Professoren wie Ryle und Wisdom als Vortragende kamen. Anfang der 60er Jahre, als ich bereits meinen Lehrstuhl in Berlin hatte, konnte ich dann Urmson nach Deutschland einladen. Wir hatten intensive Diskussionen über Grundfragen der Ethik. Darüber wurde mir klar, dass er aufgrund seiner analytischen Schulung differenzierter und schärfer als ich argumentieren konnte. Er brachte Argumente, die so subtil und facettenreich waren, dass ich mit ihnen zunächst nicht zurechtkam. Das machte mir einen großen Eindruck. Und es war mir klar: Wenn du Philosoph bist, dann musst du lernen, die Verfahrensart der analytischen Philosophie zu beherrschen. Gab es noch andere Autoren und Bücher, die Sie in dieser frühen Zeit für die analytische Philosophie einnahmen? Unter anderem erhielt ich schon von Walsh den Hinweis auf ­Peter Strawsons Introduction into Logical Theory. Seitdem las ich aufmerksam, was auch im weiteren kantischen Umkreis im angelsäch­ sischen Raum produziert wurde. Besonders beeindruckte mich Wilfrid Sellars in Pittsburgh, der eine kantisch inspirierte, aber analytisch ausformulierte Systematik entwickelt hatte. Später las ich Strawsons Individuals, eine Wittgenstein-Position, kantisch infiltriert, und dann Strawsons Kant-Buch The Bounds of Sense, das allerdings erst 1966 erschien. Ich war fasziniert und spürte erneut den Imperativ: Du musst lernen, um dich damit auseinanderzusetzen und dich mit deinen eigenen Themen behaupten zu können! Strawson lud ich nach Heidelberg und nach München ein und lernte ihn recht gut kennen. Wann waren Sie zum ersten Mal in den Vereinigten Staaten? Ich hatte das Glück, als Berliner Professor schon früh nach Amerika eingeladen zu werden. Als Beauftragter für Wohnheimfragen an der Freien Universität sollte ich vor Ort die Student Housing Programs kennenlernen. Auf der ersten Rundreise durch das Land

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kam ich auch nach New York, wo sich Jacob Taubes, den ich aus Berlin kannte, als Cicerone ins intellektuelle Leben meiner annahm. Er brachte mich bei sich zu Hause unter und sagte: «Herr Henrich, Sie müssen auch einen Vortrag an der Columbia University halten.» Er brachte es fertig, mich zu überreden, einen philosophischen Vortrag über Husserl, Heidegger und über Zeitbewusstsein ganz spontan in meinem basic English zu geben und zu diskutieren. Bei der Gelegenheit lernte ich Justus Buchler kennen, einen damals beachteten Philosophen, der gerade Chairman war und meine Überlegungen offenbar interessant fand. Zum Jahr 1968 erhielt ich dann schon bald die Einladung nach Columbia, die nach wenigen Wochen meiner Lehre dort in eine Berufung umgewandelt wurde. Schon zuvor hatten Sie eine Einladung an die University of ­Michigan in Ann Arbor für ein Semester angenommen. Ann Arbor war damals in der Rangliste der Departments nach Harvard die Nr. 2 in den USA, und ganz analytisch orientiert. Ernst Tugendhat hatte mich dort ins Spiel gebracht, da man auch jemanden suchte für klassische Themen seit Kant. Neben William Alston, der Tugendhat zur analytischen Philosophie konvertiert hatte, und Richard Brandt lehrte dort Charles L. Stevenson, ein Moralphilosoph, der in der Geschichte der angelsächsischen Moralphilosophie als Erfinder der Emotive Theory of Ethics eine Rolle spielte. Ich zog aber dann doch Lehre und Leben in New York der Kleinstadt und ihren kanadischen Wintern vor. Als Sie 1968 an die Columbia University kamen, war die Studentenbewegung auf ihrem Höhepunkt. Hatte das für Ihre Lehre ­Konsequenzen? Ja, ich kam zur Zeit der dort beginnenden Studentenunruhen im Jahr 1968 nach New York. An die ruhiger gelegene, philosophisch an Europa orientierte Yale University hatte ich auch eine Einladung



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als Gastprofessor; aber mich zog es, wie gesagt, wegen der analy­ tischen Tradition, nicht allein New Yorks wegen, nach Columbia. So habe ich eine ausgedehnte Erfahrung im durchaus unterschiedlichen Umgang mit Studentenbewegungen gemacht. Worin bestanden die Differenzen? Man muss immer einen gravierenden Unterschied der Universitätssysteme mit bedenken: In den USA bezahlen die Studenten ihre Professoren mit, und die Professoren werden ohnehin in das studentische Gespräch hineingezogen, was keine Gleichmacherei darstellt, sondern mit dem Respekt vor dem Rangunterschied der Leistungen einhergeht. So wurde ich in Ann Arbor, wo ich 1969 ein Semester lang lehrte, von graduate students zur Marihuana-Party eingeladen – der einzigen meines Lebens. Ähnliches hätte auch in der Heidelberger Subkultur der Nachkriegsjahre passieren können. Später traten die Studenten als ideologische Bewegung auf. Dies geschah in Amerika durch die Flower-Power-Bewegung, dann auch schon, und früher als hier, gewalttätig, bei den sogenannten New Yorker Weather­men. Aber die amerikanische Universität ist institutionell ungleich stabiler. Sie hat die Studentenbewegung mit vielen temporären Zugeständnissen durch sich hindurchlaufen lassen und stand ­danach ungebrochen noch genauso da wie zuvor. Ein Beispiel von der Columbia University: Einige versuchten, die Scheiben des Präsidentenoffice einzuwerfen, doch es stellte sich heraus, dass sie aus Panzerglas waren. Die Präsidialverwaltung war also vorbereitet auf jegliche Anschläge, und das ist charakteristisch. Im Übrigen war aber auch die Selbstverwaltung der Studenten ziemlich weit entwickelt; die Initiativen zu Gastvorlesungen an den departments gingen von graduate students aus, auch wenn die Einladungen noch offiziell genehmigt werden mussten. Es herrschte wesentlich mehr Offenheit als in der mit Harnischen ausgerüsteten

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deutschen Ordinarien-Universität. Und diese wirkte immer suspekter, weil die Lehrstühle einfach nur linear vermehrt wurden und das Prestige nicht mehr von der herausragenden Leistung aller Einzelnen getragen war. Was erwartete man von Ihnen in der Lehre? Das damals erwachte Interesse an den Gedanken von Marx führte zu einer neuen Attraktivität des Deutschen Idealismus, besonders von Hegel. Aber das Interesse an deutscher Philosophie bestand auch unabhängig davon. Es war ein notwendiger Bestandteil des Graduiertenstudiums. Man musste, um in Philosophie promoviert werden zu können, Kant kennen, möglichst auch ein wenig Hegel, gegen dessen Rezeption in England ja die analytische Philosophie ehedem entstanden war. Neben Heidegger waren auch Wittgenstein, Frege und Carnap deutschsprachige Philosophen. Daher war dann auch die Kenntnis der deutschen Sprache für lange Zeit in Harvard ein requirement für Philosophiestudenten. Ihnen ging es aber weniger um die deutschsprachigen Gründer der analytischen Philosophie als um die klassische deutsche Philosophie. Ja, ich hatte mich selbst, anders als viele meiner Altersgenossen, nicht in die Fortführung der Philosophie der 20er Jahre hineinziehen lassen, auch nicht zu Heidegger und nur partial in Gadamers Hermeneutik. Mein Interesse war auf Kant und mit ihm auf die Verständigung über Subjektivität konzentriert, was zunächst einmal zu Fichte und Hegel hinführt. Und das war offenbar auch das, was die Amerikaner kennen­ lernen wollten. Ja, Das ist sogar noch heute weltweit so. Die klassische deutsche Philosophie kann man nicht übergehen. Und man braucht ­jemanden, der sie einem entschlüsselt. Nicht so sehr Kant, aber vor allem Hegel.



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Ich habe mich in meinen Hegel-Vorlesungen immer bemüht, das, was auch den Deutschen meist unverständlich ist, so darzulegen, dass es auf einmal Sinn macht und dass man es Schritt für Schritt nachvollziehen kann. Das war für die Angelsachsen überraschend und attraktiv. Empfanden Sie dabei den Zwang, deutsche Philosophie in die englische Sprache zu übersetzen, als hilfreich? Das war die Herausforderung, die zu meistern mich viel Kraft gekostet hat. Es war wichtig und interessant, die deutschen Schlüsselworte im Englischen allererst zu erschließen. Durch meine entwicklungsgeschichtlichen Untersuchungen zu Kant und zu Hegel hatte ich ja einen besonderen Zugang zu den Problemen dieser Denker gewonnen, sozusagen von ihren begrifflichen Wurzeln her; darauf konnte ich auch im Englischen aufbauen. Die Sprache selbst war nicht das größte Problem. Auch wenn ich nie einem native speaker Konkurrenz machen konnte, hielt ich doch anderthalbstündige, dauerhaft sehr gut besuchte Vorlesungen frei nach Notizen. Wie erklären Sie sich diesen Erfolg? Gerade das nachkantische Denken wirkte faszinierend auf die Studenten. Vermutlich, weil Begriffe und Sachverhalte wie etwa «objektiver Geist» und «Vereinigung», die von Hegel zu Marx führen, in der analytischen Philosophie gar nicht thematisch gemacht werden. Auch sind es doch bedrängende Fragen der Lebensführung und der Selbstverständigung, die Studenten am meisten ins Philosophieren ziehen. Von den angelsächsischen Autoren sind sie nur begrenzt aufgenommen worden. Selbst die Pragmatisten besitzen nicht die sprachlichen Mittel, um beispielsweise Kierkegaard verständlich werden zu lassen. Dazu benötigt man den ganzen begrifflichen Hintergrund bis zurück zumindest zu Fichte. Der hat, zusammen mit Kant, mit seiner ungeheuren Ausstrahlung nicht nur auf

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die Romantik eine intellektuelle Bewegung in Gang gesetzt, durch die Deutschland überhaupt erst als Land des Philosophierens bekannt wurde. Diese begrifflichen Grundlagen, die die deutsche Philosophie für das Verständnis sozialer und existentieller Probleme legte, versuchte ich in meinen Vorlesungen und Seminaren nicht ohne Erfolg zu verdeutlichen. Als ich von der Columbia University nach Harvard abgeworben wurde, machten die überwiegend jüdischen Studenten in New York zu meiner Beschämung als Deutschem eine Eingabe beim Präsidenten, er solle mich unbedingt halten. Und einer ihrer Gründe besagte, ich könne etwas philosophisch artikulieren, von dem man gedacht hatte, dass es gar nicht Ausdruck in begrifflichem Denken finden könne. Haben Sie noch Kontakt zu Ihren damaligen Studenten? Teilweise. Einer von ihnen ist der bekannte liberale Kulturjour­ nalist Leon Wieseltier, der damals die jüdische Studentengruppe anführte. Als er vor ein paar Jahren in München zu einem Vortrag eingeladen war, sagte er mir etwa dies: «Ohne Sie wäre ich nicht in der Philosophie geblieben. Was ich damals suchte, fand ich nur bei Hans Jonas und Ihnen.» Wieseltier ging es um die Verbindung von vertiefter angelsächsischer Rationalität mit den Problemen des menschlichen Daseins. Wie kamen Sie nach den Jahren an der Columbia University als ständiger Gastprofessor nach Harvard? Die Einladung kam überraschend per Telefonanruf. Die späteren Berufungsverhandlungen führte John Rawls, übrigens mit einer a­ ußerordentlichen Generosität und Einfühlungsfähigkeit. Mir wurde etwas schwindlig ob dieser Chance, aber mir war sofort klar, dort muss ich trotz des Abschieds nun auch von New York hingehen, ­zumal mein zentrales Motiv, überhaupt in Amerika zu sein, nicht darin lag, dort Kant und Hegel zu importieren, sondern selbst tiefer



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reichende Kompetenzen in der analytischen Philosophie zu erhalten. Und in Harvard saßen deren big shots. Für die Harvard-Studenten war es aber besonders anregend, dass ich ihnen auch Fichte und Hegel in einer überlegten, disputierbaren Argumentfolge ex­ plizieren konnte – nicht nur irgendwelche Anwendungen, sondern die Grundlinien der Konzeptionen selbst bis hin zur Tiefenanalyse dessen, was «Geist» heißt, und zur monistischen Metaphysik. Wen haben Sie neben John Rawls besonders vor Augen? Mir fällt natürlich Willard V. O. Quine als Erster ein, neben ihm Nelson Goodman und Hilary Putnam, der damals schon sehr bekannt war als Begründer des sogenannten Funktionalismus (den er später wieder aufgab). Er wies darauf hin, dass man das Hirn wie ­einen Computer betrachten kann, dessen Software-Programme ja auf ganz verschiedener Hardware realisiert werden können. Auch wirkte an der Harvard University als Erkenntnistheoretiker Roderick Firth, und es ging gerade der Stern des noch jungen Robert Nozick auf. Zur traditionsreichen Geschichte der Philosophie von Harvard gehören ja auch Ralph Waldo Emerson und William James und damit entscheidende Anfänge der amerikanischen Philosophie. Emerson und James sind ja ohne die europäische Tradition des Idealismus nicht zu denken. Diese von europäischem Idealismus und amerikanischem Individualismus geprägten Anfänge des Nachdenkens waren in der analytischen Philosophie der 60er Jahre kaum noch lebendig. Allerdings machte mich Stanley Cavell, dessen Vorfahren Anfang des 20. Jahrhunderts als Juden mit einer Emigrationswelle aus dem ­zaristischen Russland nach Amerika gekommen waren, am Anfang meiner Zeit in Harvard auf dieses Erbe besonders aufmerksam. Er führte mich als Erstes zu den Wirkungsstätten von Emerson und auch zu ­Thoreau nach Concord. Er meinte: «Das ist es, was wir in

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den Vereinigten Staaten und auch in unserer Philosophie wieder beleben müssen.» Wie schätzen Sie selbst die historische und heutige Bedeutung des amerikanischen Pragmatismus ein? Der Pragmatismus war etwas Eigenes, wirklich genuin Amerikanisches. Er überschnitt sich nicht mit den Anfängen der analy­ tischen Philosophie, aber teilte doch mit ihr gemeinsame Horizonte. Von William James her gab es eine Beziehung zu Husserl, der, so glaube ich, sogar Englisch lernte, um James lesen zu können. Es existierte am Ende des 19. Jahrhunderts eine Konstellation im Denken, die James mit Husserl und Bergson in dem Interesse an der Zeitlichkeit des menschlichen Bewusstseins verband. Man stellte sich die Frage: Was ist überhaupt Bewusstsein? William James hatte eine Abhandlung Does Consciousness Exist? geschrieben. Husserl hatte mit seiner Problematisierung der Rede vom Bewusstsein Voraussetzungen geschaffen, die zu Heideggers Philosophie der Marburger Jahre hinführte, seiner Akzentuierung der Zeitlichkeit alles Verstehens. Aber der Pragmatismus, vor allem John Deweys, ist auch eine Philosophie mit politischer, mit republikanischer Konsequenz. Er hat bis nach China nachhaltig gewirkt. Mit welchen Kollegen in Harvard entwickelten sich im Lauf der Jahre besondere Beziehungen? Da war vor allem Hilary Putnam. Er starb vor wenigen Jahren, im März 2016. Sein Tod ist mir sehr nahegegangen. Hilary Putnam war ein genialischer, in vielen Feldern begabter Mensch, der in ihnen ­allen schnell und profund denken konnte. Im Nachruf der Harvard University schrieb einer seiner Kollegen sehr zutreffend: «He had the quickest mind I ever encountered.» Es ist damit nicht die Fähigkeit gemeint, schnell etwas aufnehmen zu können, sondern vielmehr die Gabe, auf der Stelle einen wichtigen Punkt zu treffen, auszuloten



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und gegebenenfalls zu kritisieren. In dieser Hinsicht war Putnam kaum übertreffbar. Zugleich war er berühmt für seine Menschenfreundlichkeit, aber auch dafür, seine Positionen häufig zu wechseln. Ich bekam einige dieser Wechsel mit, war auch nicht unbeteiligt an seiner wichtigen gedanklichen Kehrtwendung zum ‹internen Realismus›. Denn wir standen doch in einem recht intensiven Austausch. Wie hat man sich das vorzustellen? Ein Beispiel: Putnam besuchte gerne meine Vorlesungen. Er war auch Hörer meiner letzten Harvard-Vorlesung, die ich im Jahr 1984 über Kant hielt. Ich selbst war ebenfalls im Hörsaal, als er im selben Semester über die Philosophie der Religion eine Vorlesung hielt. Er nahm einiges von dem, was ich über Kant ausgeführt hatte, in seine Vorlesung auf und rückte es in eine von ihm entfaltete Perspektive ein. Ich fing daraufhin an, Putnams Gedanken umgekehrt in meiner Vorlesung zu kommentieren. Unser Gespräch fand also öffentlich in Gegenwart des anderen über die jeweiligen Vorlesungen statt. Dieses Zusammenspiel war wunderbar. Putnam sagte zu mir, als ich ihn nach der letzten Vorlesung auf der Treppe traf: «We make very good music together.» Etwas Ähnliches habe ich in Deutschland auch bei sehr großer persönlicher Nähe nie erlebt. Hilary Putnam kam dann auch zu meinem 70. Geburtstag, der mit einer Tagung in Tübingen begangen wurde, und sagte am Rande zu einer mir vertrauten Person schalkhaft und bei weitem übertreibend: «I’m also a student of Henrich.» Dieser Austausch war also eine wohltuende Alternative zu den steiferen deutschen Umgangsformen? Ja, diese Möglichkeiten zeugen von einer großen inneren Freiheit. Das ernsthafte Diskutieren geht bei den Amerikanern sofort über in ein freundliches Miteinandersein. Man behält auch gegenüber der Philosophie eine gewisse Freiheit, was aber keineswegs heißt, dass

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man sie weniger ernst nimmt und weniger intensiv betreibt. Bei uns kommt leicht die professionelle Furcht auf, dass der Andere einem etwas am Zeug flicken könne. Man hat womöglich eine latente Furcht vor dem Kollegen und verhält sich dann wesentlich reservierter, als dies in den USA üblich ist. Kommen wir nochmals auf Ihre Kant-Vorlesung in Harvard ­zurück. Was war Ihre Intention? Nur eines dazu: Ich wollte unter anderem von Kant her ‹kontinentalen› Einfluss auf die analytische Philosophie nehmen. So widmete ich mich auch der mit Kant verknüpften Frage: Wie lässt sich das, was Selbstbewusstsein ausmacht und impliziert, theoretisch entschlüsseln? Die Fragestellung war vor dem Ersten Weltkrieg in Amerika einmal sehr lebendig gewesen. Danach ist auf diesem Gebiet nur noch wenig geschehen. Aber es gab in dem etwas weiter ausgedehnten Themenfeld der analytischen Philosophie auch zu meiner Zeit einzelne Forscher wie Roderick Chisholm, die dieses Fragen, dieses kantische Thema als Grundproblem der Philosophie betrachteten. Mit ihnen kam ich schon früh in Kontakt. Lehrte Chisholm auch an der Harvard University? Er wirkte fast lebenslang an der etwas südlicher an der Ostküste gelegenen, ebenfalls sehr anerkannten Brown University. Ich hatte ihn in Heidelberg kennengelernt, wohin ich aufgrund der Einsparungen durch meine eigenen Beurlaubungen nach Amerika amerikanische Kollegen einladen konnte. Chisholm kam sogar dreimal für längere Zeit nach Heidelberg. Wir trafen uns zu Gesprächen, die wir «Zwei-Mann-Seminare» nannten. Wir saßen zu zweit notfalls auf dem Fußboden mit einem Blatt Papier, weil wir keine Tafel hatten. Ich lernte ungeheuer viel durch diesen konzentrierten Austausch. Ich folgte seinen Methoden und Wegen, konnte ihn aber im Gegenzug auch stimulieren und herausfordern.



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Haben Sie Ihre Rolle in den Vereinigten Staaten als die eines Vermittlers zwischen analytischer und kontinentaler Philosophie verstanden? Wollten Sie die nüchterne Begrifflichkeit verbinden mit der Lebensbedeutung von Ideen, Konzepten und Perspektiven? Ja, ich denke nämlich, allzu existenznahe Mitteilungen muss man erst einmal philosophisch zu klären und umsichtig zu ergründen versuchen, ehe man sie in eine seriösere philosophische Diskussion einbeziehen kann. Der Ausdruck «kontinentale Philosophie» stammt aus England. Darunter verstand man dort etwas relativ Hochgreifendes, etwas trapezkünstlerisch Verwegenes und auch Unsolides, etwas Schillerndes, nicht ganz Durchsichtiges. Das war den empiristischen, den common sense favorisierenden und traditionalistischen Briten in den common rooms ihrer Colleges fremd. Nicht zuletzt die Franzosen waren und sind für sie continental philosophers, Sartre also zum Beispiel. Heidegger galt und gilt heute als Ur-Paradigma von ‹kontinentaler Philosophie›  – von England aus gesehen. Auch bei Jaspers gibt es die hohe Ambition, wenn auch nicht so fassadenhaft wie bei Heidegger oder Sartre. Heute wird Giorgio Agamben als typischer Vertreter eines solchen sehr literaturnahen Philosophierens betrachtet. Und Derrida ist das ­ Schreckbild eines kontinentalen Philosophen, der in England kaum noch als Philosoph gilt  – von einigen Dissidenten der britischen Tradition abgesehen. Waren Sie selbst einmal in der Versuchung, analytischer Philosoph zu werden? Ernstzunehmende Logik-Kenntnisse habe ich erst in Amerika erworben. Die Logik, die in meinem Studium gelehrt wurde, war die traditionelle Logik von Aristoteles und Kant. Über die modernen Entwicklungen wurde nur oberflächlich und sehr dilettantisch geredet. Mir schien damals, wenn man dieser Literatur nur wirklich

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nachgehen würde, müsste man Mathematiker werden. Damals war Logik bereits ein mathematisches Fach. Quine war ja eigentlich Mathematiker und wurde Philosoph, weil es in der Mathematik, spezifisch der Mengenlehre, für ihn, wie er selbst es sah, nicht zum Allerhöchsten gereicht hat. Zum graduate student in Amerika gehört aber, dass er profunde Kenntnisse höherer Stufen der modernen, also post-fregeschen Logik besitzt und auch teilweise vertraut ist mit den hochstufigen, nur von Mathematikern wirklich beherrschbaren logischen Theorien, die die eigentlich philosophisch interessanten sind, also Gödels Unvollständigkeitsbeweis oder Tarskis Wahrheitstheorie. Ein Kurs über deren Beweise war in Harvard ein obligato­ rischer Kurs für graduate students der Philosophie. Ich habe ihn selbst zweimal absolviert, als ich schon vierzig Jahre alt war. Ich merkte aber bald, dass ich, anders als Putnam, mit den Besten nicht konkurrieren konnte, schon gar nicht auf dem Feld der mathema­ tischen Kontexte. Es wäre töricht gewesen, in den eigentlichen Gebieten der analytischen Philosophie und mitten im Kreis ihrer Koryphäen wirklich Beachtenswertes leisten zu wollen. Was folgte für Sie aus dieser Einsicht? Ich schrieb zwar einige Aufsätze, die sich innerhalb der analy­ tischen Argumentationen bewegten, etwa über Chisholm, Rorty oder Thomas Nagel, der für mich auch eine wichtige amerikanische intellektuelle Gestalt am Rande der analytischen Welt wurde  – ­außerdem sachliche Beiträge in den Bänden von Poetik und Hermeneutik und zur Kunsttheorie. Meine größeren Arbeiten sind jedoch nur indirekt vom Umgang mit analytischen Philosophen bestimmt worden. Mir war klar, dass sich meine eigene Leistungskraft auf anderen Gebieten zu bewähren hatte. So sind meine eigentlichen Projekte aus meiner ursprünglichen Prägung im Deutschen Idealismus herausgewachsen. Meine Überlegungen zu Kant, Hegel, Fichte und



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anderen wurden durch die lange Begegnung mit der analytischen Philosophie sozusagen begrifflich grundgereinigt und aufgerüstet. Sie fanden dann aber auch bei den analytisch Geschulten Anerkennung. Sehen Sie die Gefahr, dass die Begriffsklärungen der Analytiker an der traditionellen philosophischen Aufgabe vorbeigehen, dem Menschen über sein Leben Aufschlüsse anzubieten? Es handelt sich schon um sehr geschliffene Verfahren, die eine hohe Meisterschaft und Aufmerksamkeit verlangen – mit der Folge, dass intellektuelle Erkundungen lebensweltlicher Horizonte nahezu unmöglich werden. In dieser Hinsicht hat sich die amerikanische Philosophie während meiner zwölf Jahre in Harvard aber durchaus verändert. Es setzte eine Art Intellektualisierung ein, die beide Seiten des Philosophierens zu verknüpfen suchte. Für sie ist Robert Nozick, mit dem ich manchmal diskutierte, ein frühes Beispiel. Inzwischen gibt es überall auch auf den bedeutenden philosophischen Lehrstühlen in den wichtigen departments Intellektuelle, die sich in Richtung auf solche Problemstellungen des Lebens äußern – oft mit Verzicht auf die Präsenz in den spezialisierten Kleinzirkeln analy­ tischer Fachleute. Die Biographie von Richard Rorty ist dafür ein Beispiel. Als ich ihn kennenlernte, war er ein strikter analytischer Philosoph, letztlich ein Materialist und Reduktionist. Dem Reduktionismus, also der Entleerung aller vermeintlich tiefen philoso­ phischen Einsichten zugunsten von Weisen des Sprachgebrauchs, ist er auf seine unnachahmliche, ironische Weise treu geblieben. Aber er hat ihn ins intellektuelle Leben und dessen Auflockerungssphären transponiert. Als ich nach Amerika kam, war dem noch nicht so. Cavell war in Harvard schon eine Ausnahme. Er war eigentlich für Ästhetik und Literaturtheorie zuständig, hatte sich aber eine ­gewisse Qualifikation für analytische Philosophie über seinen An-

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schluss an Wittgenstein und vor allem an John Austin erworben. Heute gibt es mehrere solcher vielseitig orientierten Philosophen wie John McDowell. Man versucht, viele Problembereiche gleichzeitig ins Auge zu fassen und im Gleichgewicht zu halten, was eine eigene Kunst darstellt und gedankliche Strenge verlangt, die etwas anderes als analytischer Scharfsinn ist. Diese Weite hatte die von Russell und Moore geprägte analytische Philosophie nicht. Und selbst bei Wittgenstein, dem solches viel näherlag, ist die Fähigkeit, solche Verknüpfungen subtil auszubilden, doch begrenzt. In Deutschland öffnet man sich erst langsam diesen Optionen, nachdem man lange versucht hatte, dem puristischen Selbstverständnis der frühen analy­ tischen Philosophie wenigstens irgendwie nahe zu kommen. Betrafen diese Auflockerungsprozesse auch den harten Kern der analytischen Philosophie? Ja, es handelte sich eben doch auch um einen Prozess der Auflösung strenger schulischer Strukturen. So begann eine Kontroverse innerhalb von Quines Schule. Was Quine marginalisierte, nämlich die Modalbegriffe und deren Logik, machten andere zum Zentrum ihres Nachdenkens und forderten damit Quine heraus. Die analy­ tische Philosophie ist nicht so geschlossen in sich, wie sie zumeist von außen wirkt. Putnam sagte mir schon damals, Quine wisse selbst gar nicht, welches eigentlich und letztlich seine philosophische Position sei. Er wache morgens auf als Positivist, und abends, wenn er schlafen gehe, sehe er sich als Pragmatisten. Tatsächlich ist das so. Wenn Sie sich mit Quine intensiver beschäftigt haben, dann bemerken Sie, dass an der Basis seine Argumentation skizzenhaft wird und als porös erscheint. Schließlich hielten es jenseits aller Streitigkeiten die Schüler von Wilfrid Sellars in der Pittsburgh School für notwendig, Philosophen wie Kant und Hegel wieder genauer zu studieren und bei ihnen einige Anleihen zu machen.



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Haben es Ihrer Auffassung nach die analytischen Philosophen inzwischen geschafft, wieder zu den größeren ‹kontinentalen› Problemhorizonten Kontakt zu finden? Nein. Die Schrittmacher im Gebiet des analytischen Arbeitens – zu denen Richard Rorty ja nicht gehörte  – haben, soweit ich das ­sehen kann, keinen eigenen Zugang zu den tieferen Horizonten der «kontinentalen» Art des Denkens gefunden  – nicht zu finden gewusst. Ich erinnere mich an ein eindrückliches Gespräch mit zwei Kollegen im Harvard Faculty Club. Während wir gemeinsam zu Mittag aßen, sprachen sie mit mir über Gott und begannen durchaus philosophische Gespräche, die Spinoza berührten. Anschließend sagten sie mir dann: «Aber erzählen Sie nur nicht weiter, worüber wir hier sprechen.» Sie fürchteten, das könne ihrem Ansehen als charakterfeste Analytiker Abbruch tun. Neben dem, worin sie ihre professionelle Stärke hatten, konnten sie aber de facto durchaus Intellektuelle in dem Sinn sein, der die ‹kontinentale› Vorstellung von dem berührt, was Philosophie ausmacht. Das zusammenzubringen war für sie jedoch zu schwierig und riskant. Es mag sein, dass sich dies auch aus den Grenzen unserer humanen Kapazitäten erklärt, verschiedene Bedürfnisse und Weisen des Denkens angemessen, also ohne kurzschlüssige Verbiegungen, zu verknüpfen. Es ist schwierig, die logische Grundlegung weiter zu verschärfen, soweit es geht, und gleichzeitig den ganzen Umkreis des Menschseins verantwortlich und in seinen Tiefendimensionen auszuleuchten. Schon Max Weber wies darauf hin, dass es das Schicksal der modernen Wissenschaften sei, in den Problemstellungen immer spezieller zu werden. So könnten die Horizonte des Großen und Ganzen, in dem die Detailfragen zu verstehen sind, kaum mehr begrifflich eingeholt werden. Weber bezog sich auf die Wissenschaften im Allgemeinen. Aber

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die Philosophie hat unter ihnen ja eine besondere Stellung. Sie versteht sich einerseits als eine universalistische Verständigungsart, die mit Kunst und Religion etwas gemeinsam hat, andererseits war sie immer bemüht, sich als Wissenschaft zu etablieren. Es ist jedoch wichtig, dass man diese beiden Möglichkeiten nicht einfach nur auseinanderdriften lässt. Man kann nicht verantwortlich universalistisch philosophieren, ohne sich an harten Problemen wenigstens abgearbeitet zu haben. Es ist wohl so, dass man – wie etwa Frege – nach außen unbeholfen wirkt, wenn man tief in Spezialprobleme eindringt. Aber den Kontakt zu ernsthaften Einzelforschungen zu haben, scheint ganz wichtig zu sein für das Überleben der Philosophie über die Jahrtausende. Die feste und breite Brücke zwischen den Grund- und Spezialfragen und dem großen Ganzen zu spannen, das kann nur jemand schaffen, der wie Leibniz ein Genius über allen Wassern ist. Aber anscheinend gibt es keinen solchen in unserer Zeit. Stanley Cavell sagte mir in solchen Zusammenhängen einmal, was man in Harvard anstrebe, sei excellence for the price of narrowness. Also, hervorragende Philosophen und ein in sich harmonisches und zugleich hervorragendes department müssen in Kauf nehmen, dass sie beschränkt sind. Das ist eine noble Deutung. Sie bestätigt aber auch, dass es in der Philosophie selbst um mehr geht. Lassen Sie uns noch einmal auf die analytischen Philosophen selbst zurückkommen, die Sie in Ihren amerikanischen Jahren ­näher kennenlernten. Kam es über die lockeren Gesprächsformen hinaus auch zu regelrechten freundschaftlichen Beziehungen? Aus den Begegnungen, die über den Austausch rein fachlicher Fragen sich zutrugen, ohne dass tiefere Lebensfragen angesprochen wurden, entwickelten sich in der Regel keine tieferen und dauerhaften Freundschaften. Das ist die Kehrseite des offenen, sehr pragmatisch geführten Lebensstiles in den USA. «To be a friend of …» heißt



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in den dortigen Lebensverhältnissen nicht sehr viel, allenfalls «ein guter Bekannter». Es gibt ja auch nicht die Möglichkeit, jemandem das Du anzubieten. Ob man wirklich ein Freund ist, im deutschen Sinne, das kann man nur über die Jahrzehnte herausfinden. Kam es während Ihrer amerikanischen Jahre zu solchen Fällen von wirklicher Freundschaft? Ja, besonders nahe kam ich Richard Kuhns, der Ästhetik an der Columbia University lehrte. Seine jüdischen Vorfahren stammten aus der Pfalz. Kuhns wohnte in einem Haus mit Arthur Danto, der von jüdischen Emigranten aus Portugal abstammte, als Philosoph ebenfalls vor allem kunsttheoretisch arbeitete und als Kunstkritiker sehr angesehen war. Er kam auch für mich einem guten Freund nahe. Worin lag diese Freundschaft begründet? Ihr tragender Grund war unser gemeinsames Interesse an den Künsten. So unternahm ich mit Richard Kuhns häufig, was wir den Manhattan Dance nannten. Wir gingen dann vom Norden aus die großen Avenues hinunter, an denen die jüdischen Emigranten ihre Geschäfte hatten, und besuchten Buch- und Kunsthandlungen und Museen. In der Diskussion über die Beurteilung von Kunstwerken waren wir uns ganz nah. Mittags kauften wir uns ein Sandwich und aßen das auf der Straße, bevor wir weiter in die nächste Galerie oder Buchhandlung spazierten. Mich hat seine Art der praktizierten Freundschaft im intellektuellen Großstadtleben beglückt. Dieses New York hatte auch einiges mit jüdischer Geistigkeit zu tun. Richard Kuhns besaß eine Polysensibilität. Er nahm mich auch mit in die großen Konzerte. Aber auch Danto sorgte sich um mich. Er hatte oft Karten für die ­Metropolitan Opera oder wusste, wie man an sie kam. Ursprünglich war er selbst Künstler gewesen, hatte die Kunst aber an den Nagel

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gehängt, als er sah, dass er in der Philosophie weiter kommen konnte. Dantos intellektuelle Spritzigkeit und Wärme kannte ich sonst nur aus dem Westberlin der frühen 60er Jahre. Später, nach dem Ende meiner Präsenz in den USA, durfte ich noch eine ähnliche philoso­ phische und zugleich kunstbezogene Freundschaft mit Donald ­Davidson und seiner Frau Marcia Cavell erfahren. Wie würden Sie das jüdische Element in New York näher ­beschreiben? Dass New York ein singuläres Phänomen an intellektueller ­Sensibilität darstellt, beruht meiner Einschätzung nach zum guten Teil auf etwas charakteristisch Jüdischem. Das muss in Deutschland einmal ähnlich gewesen sein. Seit der Hoffnung der Juden auf gleichberechtigte Emanzipation im preußischen deutschen Reich blühte das intellektuelle Leben auf und eine jüdische Kolloquialität und Erkundungsfähigkeit herrschte. New York hat einen sehr hohen Prozentsatz an jüdischer Bevölkerung. Von den acht Millionen Einwohnern der Stadt entstammen ungefähr zwei Millionen jüdischen Familien. Die nicht orthodoxen Juden in Amerika sind eine Gruppe, bei denen es witziger und geschwinder zugeht als bei anderen. Das ist ein besonderer Stil, den man beispielsweise auch bei Nelson Goodman antrifft, einem analytischen Philosophen mit einer ganz eigenständigen Kunsttheorie. Zu Zeiten war er Kunsthändler gewesen. Er konnte interessante, sarkastisch-witzige Urteile über alles produzieren und durchaus auch spitz-polemisch über Kunst und Künstler sprechen, mit großer Freude an bissiger Polemik, so wie in seiner Philosophie. Das ist auch etwas Jüdisches, eine Fertigkeit, die der ‹brave› oder ‹biedere› Amerikaner im Durchschnitt nicht hat. Aber dieser Zug ist in New York durchaus nicht erst von den deutschen Emigranten geprägt worden, die nach 1933 aus Hitler-Deutschland flohen. Jüdische Emi­



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granten gab es dort ja schon viel früher, und kaum aus Deutschland. Pogrome und Armut in Russland und dem ins Zarenreich einverleibten Polen waren im 19. und frühen 20. Jahrhundert triftige Gründe für die Emigration nach Amerika. Wann hatten Sie den ersten Kontakt mit deutschen Emigranten? Nach den Erfahrungen mit Franz Borkenau und den Vertretern der reeducation war es zuerst die Begegnung mit Theodor W. Adorno, der 1949 aus den USA nach Frankfurt zurückkehrte. Mich beeindruckte die Atmosphäre der Assoziationsfähigkeit in dem Kreis um ihn herum, die intellektuelle Beweglichkeit, die Fähigkeit zu extrapolieren, ohne professionelle Rücksichten zu nehmen. Dann kam Karl Löwith 1952 nach fast zwei Jahrzehnten des Exils, das ihn über Rom und Sendai für ein Jahrzehnt an die amerikanische Ostküste geführt hatte, zurück und übernahm eine Professur in Hei­ delberg. Zu seinem siebzigsten Geburtstag schrieb ich ein Porträt Sceptico Sereno, das diesen eher wortkargen Skeptiker knapp zu skizzieren sucht.20 Lernten Sie in Ihren amerikanischen Jahren noch andere der ehemaligen ‹Marburger Hermeneutiker› kennen? Als ich 1964 erstmals die USA bereiste, besuchte ich in Chicago Leo Strauss, den politischen Philosophen, der eine eigene Schule gegründet hatte, um ihm von Gadamer einen Gruß auszurichten. Ich wusste von Leo Strauss recht wenig, aber es kam zu einer netten Unterhaltung. Als ich in dem Jahr nochmals durch Chicago kam, besuchte ich Strauss erneut. Später wurde ich von ihm einmal zum Vortrag nach Annapolis eingeladen, den Strauss dann auch in einem Brief nach Heidelberg kommentierte.

20  Dieter Henrich, Sceptico Sereno, in: Natur und Geschichte (Löwith-Festschrift), Stuttgart 1967, S. 458–463.

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Wie haben Sie in Ihren amerikanischen Jahren Hans Jonas und Hannah Arendt wahrgenommen? Das philosophische Projekt von Hans Jonas war in Marburg verwurzelt. Über die Nähe zu Gadamer war er mir vertrauter als Hannah Arendt. Er hielt recht früh im Heidelberg der Nachkriegszeit einen Vortrag über Existentialismus, bei dem ich ihn zum ersten Mal traf. Das letzte Mal war es im Rahmen seiner Gastprofessur in München. Die große Resonanz, die Jonas in den letzten beiden Lebensjahrzehnten in Deutschland erlebte, war für ihn gegenüber den USA etwas ganz Neues. Siegfried Unseld hatte, so erzählte er mir, Jonas ganz früh als einen Kandidaten für den Friedenspreis des deutschen Buchhandels gesehen, den man ihm dann auch wirklich verlieh. Ich selbst nahm ihn zunächst weniger als Philosophen, sondern als Interpreten der Gnostiker wahr. Hans Jonas und Hannah Arendt waren seit dem ersten Mar­ burger Semester im Herbst 1924 freundschaftlich verbunden. Sie besuchten damals zusammen die Seminare von Martin Heidegger und Rudolf Bultmann. Beide hatten gemeinsam, dass ihre eigentlichen Hauptthesen im Widerstand gegen und in der Abwendung von Heidegger formuliert sind. So macht Jonas nicht Geschichte und die Existenz des Menschen zum Ausgangspunkt seines eigenständigen Denkens, sondern das Leben als Natur. Dass Jonas eine am Leben orientierte philosophische Ontologie anstrebte, wurde mir erst später klar – obwohl er mich in New York ausgiebig über Kants teleologische Theoreme ­befragt hatte. Und Hannah Arendt entscheidet sich nicht für Heideg­ gers Topos des Todes und unser Vorlaufen in ihn als Grund ihres Denkens, sondern sieht im Herkommen, in der Natalität des Menschen, den Ursprung des Philosophierens. Dies zielt nicht auf eine existentialistische Entschlossenheit ab, sondern stellt das politische



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Handeln ins Zentrum: die Sorge für ein menschliches Gemein­ wesen. Man könnte also, leicht vereinfacht, sagen: Die Denkwege dieser beiden Emigranten sind auch als abgrenzende Reaktionen auf das Denken ihres Lehrers zu verstehen. Ja, für diese in Marburg mit Heidegger in Kontakt gekommenen jungen Philosophen, man muss auch Karl Löwith, indirekt Leo Strauss und den in Deutschland verbliebenen Hans-Georg Gadamer hinzudenken, war er die prägende Gestalt. Einige von ihnen trafen sich dann zeitweise oder auf Dauer an der New School for Social Research in New York. Wie würden Sie die New School historisch einschätzen? Sie entstand 1919 als Abspaltung von der Columbia University, um die Bildung vielen zugänglich zu machen, und war nach 1933 als University in Exile stark von deutschen Emigranten mit sozia­ listischen Ideen geprägt. Ihr erster Dekan war Emil Lederer, der in Heidelberg in der Nähe Max Webers zum anerkannten Nationalökonomen wurde und auch in Berlin noch als Ordinarius wirkte, bevor er 1933 sein Amt verlor. Man hätte mich dort auch gerne gewonnen. Aber der Kontakt mit Hannah Arendt und Hans Jonas blieb eher lose. Wen kannten Sie sonst an der New School? Befreundet war ich vor allem mit Aaron Gurwitsch, einem gestandenen Phänomenologen, der den frühen Husserl hochhielt und Sartre in Frankreich kennenlernte, wo er zuerst im Exil gewesen war. Unser gemeinsames Thema, über das wir uns regelmäßig austauschten, war Bewusstsein im Verhältnis zu Selbstbewusstsein. Es war eine warmherzige Beziehung. Aaron freute sich, an seiner Pfeife gemütlich schmauchend, mit jemandem aus Deutschland auf Deutsch über phänomenologische Fragen sprechen zu können. Er tat mir leid, weil

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er als großartiger Gelehrter in einer relativ bescheidenen New Yorker Wohnung eher am Rande leben musste. Interessierten sich die emigrierten deutschen Philosophen, die Sie kennengelernt haben, für die analytische Philosophie? Sehr, sehr wenig. Diese Generation, die in Deutschland aufgewachsen war und dann ins Exil gehen musste, nahm nur verschwommen wahr, was in ihrer neuen Umgebung in der Philosophie vor sich ging. Hannah Arendt hat wohl die ganze analytische Philosophie, die mir dann so wichtig wurde, nur als Logik und Wissenschafts­ theorie registriert. Jonas hat wohl nur Whitehead ernsthaft studiert. Aber die Emigranten waren auf andere Weise bedeutende Intellektuelle und beeindruckende Gelehrte. An wen denken Sie da noch? In Columbia beeindruckte mich besonders Oskar Kristeller. Er galt im department als der deutsche Professor und wirkte in der Tat wie der ehedem typische prominente Ordinarius. Kristeller war in Amerika wie in Europa als der maßgebende Renaissance-Forscher anerkannt. In Heidelberg war er ein Schüler von Ernst Hoffmann gewesen, ebenso wie Raymond Klibansky, der nach Kanada ins Exil ging und sich dort weiter als Cusanus-Forscher einen Namen machte. Kristeller war schon Hoffmanns Schüler gewesen, als dieser in Berlin noch als Gymnasiallehrer gewirkt hatte. So beherrschte er natürlich das Griechische wunderbar. Wie verlief Kristellers Weg weiter? Er ging von Heidelberg, wo Jaspers seine Dissertation mit betreute, nach Freiburg, um drei Jahre bei Heidegger zu studieren. Kristeller gehörte zu den wenigen Personen, die über ihn nichts ­Negatives sagten. Heidegger nahm seinen Habilitationsantrag über Ficino an. Als Kristeller aufgrund seiner jüdischen Herkunft nicht mehr zu halten war, ging er nach Italien, sicherlich gefördert auch



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von Heidegger. Dort half ihm Giovanni Gentile, ein eigenständiger und zugleich dem Regime naher Philosoph. Als es auch in Italien für Juden kritisch wurde, gelang Kristeller die Emigration nach Amerika, wo er die Internationalität, die Universalität des Gelehrten repräsentierte und großes Ansehen genoss. So erhielt er beispielsweise das berühmte MacArthur-Fellowship, das ihn über Jahre mit reichlich Geld ausstattete. Kristeller brachte das Iter Italicum auf den Weg, eine vielbändige, bis heute maßgebliche Katalogisierung von ungedruckten Renaissance-Manuskripten. Er war ein großer Forscher, der viel Wert auf akademische und argumentative Qualität legte. Wir betreuten öfter zusammen Dissertationen, die sich auch Kant oder Hegel widmeten. In den späten 70er Jahren hielt ich die Laudatio zu seinem 50. Doktorjubiläum, zu dem Kristeller nach Heidelberg kam, als ob inzwischen gar nichts geschehen wäre.21 Ich würdigte ihn als Philosophen. Begegneten Sie an der Columbia University auch Siegfried Kracauer, dem ehemaligen Redakteur der Frankfurter Zeitung, der nicht mit dem Institut für Sozialforschung vom New Yorker Exil ins kalifornische wechselte? Kracauer lernte ich bereits vor meiner amerikanischen Zeit um das Jahr 1963 in Berlin kennen, als ich ihm zu Führungen durch die eingemauerte Stadt zur Verfügung stand. Seine Filmgeschichte Von Caligari zu Hitler schätzte ich. Seine Biographie, vor allem die frühe und enge Freundschaft, die ihn seit den Weimarer Jahren mit Adorno verband, war mir damals noch ganz unbekannt. Er schien mir jedoch vollkommen anders zu sein als Adorno. Zurückhaltend und

21  Dieter Henrich, Denken und Felsgrund der Forschung. Für und über Paul Oskar Kristeller bei der goldenen Promotion, in: Heidelberger Jahrbücher  24, 1980, S. 29–33.

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stets still nachdenklich. Meine Kritik an Adornos philosophischem Stil teilte er übrigens ganz und gar. Im Hintergrund blieb in Kracauers Gegenwart etwas, was mich immer betroffen machte, wenn ich mit Emigranten zusammentraf. Sie hatten etwas erlitten, was zu dem, das ich selbst erlebt und auch durchlebt hatte, inkommen­ surabel war. In Ihrer Münchner Vorlesung vierzig Jahre nach Kriegsende ­haben Sie über die Schuld und die Opfer gesprochen und auch über die Bedeutung, die diese historische Erfahrung der Deutschen für die Ernsthaftigkeit des Philosophierens haben sollte. Ja. Das war eine weithin wirksame Erfahrung. Die ersten Erinnerungen reichen zurück ins Elternhaus. Im Rückblick ist man auch dann betroffen, wenn man selbst niemandem etwas angetan hat und wenn man für Unrecht hielt und benannte, was den Juden angetan wurde, soweit man es wusste. Für viele Juden kam eine Rückkehr angesichts der furchtbaren Erfahrungen, die sicher oftmals Traumata bewirkten, nicht in Betracht. Manche Emigranten entschieden sich, nie wieder einen Schritt auf deutschen Boden zu setzen. Man war ­ihnen in ihrer oft geliebten Heimat plötzlich mit verschiedenen Formen der Gewalt begegnet, hatte sie zumindest ihrer Stellung, ihres Besitzes und bürgerlichen Daseins und Ansehens beraubt. Glück­ licherweise konnte bei vielen die Stärke der kulturellen Tradition, in der sie aufgewachsen waren, den durch die Vertreibung aufgerissenen Graben doch noch überbrücken. So kamen oft nur zögerlich, einige, wie Hannah Arendt oder Herbert Marcuse, dann regelmäßig zu Vorträgen und Forschungsaufenthalten nach Deutschland. Manche, wie Adorno, Horkheimer, Helmut Kuhn und Löwith, nahmen permanente Stellungen im akademischen Leben an und wurden zu wich­ tigen Figuren in der Nachkriegsphilosophie und in einem wieder aufkommenden intellektuellen Leben, sogar in beiden deutschen Teil-



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staaten. Ich fühlte von Anfang an die Aufgabe, das nachzuempfinden, was die Exilierten erlitten hatten, und staune immer wieder darüber und bin dankbar dafür, dass ich als Deutscher in den Vereinigten Staaten von ihnen so leicht und freundlich aufgenommen wurde. Wie unterschied sich Ihre Generation philosophisch von der­ jenigen der Emigranten? Meiner Generation fiel in der Nachkriegszeit die Aufgabe zu, überhaupt wieder eine Respektbasis in den Augen der Welt zu gewinnen. Wir fanden nach der Nazizeit die alten Positionen der Philosophie zur Zeit des Wilhelminismus und der Weimarer Republik, Heideg­ gers Provokation eingeschlossen, als nicht mehr anschlussfähig und versuchten, wieder eine Position zu erreichen, die unter Bedingungen der Gegenwart international von Bedeutung sein könnte. Das Zen­ trum des Philosophierens, auch des intellektuellen Lebens im Allgemeinen, lag in den Augen vieler damals in Amerika. So wollten wir wissen, was dort gedacht wird, und unseren Teil dazu beitragen. In der auch von Kracauer und anderen Exilanten beachteten Arbeitsgemeinschaft Poetik und Hermeneutik war dieses Interesse von Anfang an wirksam. Auch zeigte es sich in der Theorie-Reihe des Suhrkamp Verlags. Besonders Habermas hatte diese Offenheit sehr früh, einerseits durch seine Beziehung zum Pragmatismus und andererseits durch jene zu Wittgenstein. Die Verwestlichung unseres deutschen Denkens habe ich immer als eine Fluchtlinie seiner Tätigkeit gesehen. Ich selbst wollte, wie gesagt, Fragestellungen wieder aufnehmen und neu formulieren sowie auf neue Weise durchdringen, die auf Kant und Fichte zurückgehen. Damit war ich zunächst ziemlich allein. Wenn Sie heute auf Ihre amerikanischen Erfahrungen zurückschauen, wie würden Sie denn deren Bedeutung für Ihr philoso­ phisches Leben einschätzen? In der frühen Bundesrepublik war die Philosophie in vielem ein

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rückständiges und ephemeres Gebilde geworden, das noch von den neuen Impulsen der frühen 20er Jahre lebte. Wir hatten aber eine viel größere Tradition. Und ihr begegnete ich in Amerika wieder in all ihren Facetten, aber in verwandelter Gestalt und auch umgesetzt auf andere Grundlagen, die mit Frege und Wittgenstein ja ebenfalls aus dem deutschen Sprachraum kamen. Das war ein neuer Kosmos, in den einzutreten ein Privileg war. Für mich war die amerikanische Universitätsphilosophie ein Katalysator, eine Bereicherung und Herausforderung an das Eigene. Wann und warum haben Sie aufgehört, nach Amerika zu fahren? Ich bin weggegangen, weil ich dachte, ich habe erschöpft, was hier zu gewinnen ist. Es war das alles ja auch sehr anstrengend. Ich musste häufig drei Semester im Jahr lehren, und eines davon auf Englisch. So konnte ich meine eigenen Projekte, zumal die aufwendigen Forschungen, nur schwer voranbringen. 1984 war ich das letzte Mal drüben. In dieser schon späten Lebenszeit wurden meine Kinder geboren, über die ich ganz und gar glücklich war. Es war aber nicht einfach, ein Baby nach Amerika zu transportieren und dort neben dem universitären Leben für alles Familiäre Vorsorge zu treffen. So entschied ich mich, nicht mehr den regelmäßigen Weg über den Atlantik anzutreten, auch nicht mehr in jedem zweiten Jahr. Aber die Zeiten dort und die Intensität des Austauschs und der Herausforderung fehlen mir bis heute. Und meine toten Freunde, also Kuhns, Danto, Davidson und Putnam, fehlen mir noch mehr.

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Einen großen Teil Ihres Lebens haben Sie in einer politischen Welt gelebt, die durch den «Eisernen Vorhang» zweigeteilt war. Anders als andere Kollegen haben Sie sich bemüht, hinter diesen Vorhang zu schauen. Brachte Sie das Interesse an Hegel mit den marxistischen Philosophen des Ostblocks ins Gespräch? Ich hatte schon bald nach meinen frühen Arbeiten zu Kant begonnen, mich intensiv mit Hegel zu beschäftigen. Auch mein Habilitationsvortrag bezog sich auf Hegel. Ich sprach über seine Theorie des Zufalls.22 1962 hielt ich auf dem ersten Hegel-Kongress einen Vortrag zum Thema Anfang und Methode der Logik.23 Fast ein Jahrzehnt später erschien 1971 mein Büchlein Hegel im Kontext, das einige Ergebnisse meines weiteren Nachdenkens enthielt. Es war eine herausfordernde Arbeit, da ich Hegels schwieriges Gedankenwerk als ein von Kant kommender Exeget verstehen wollte. Ich fand mich mit der Tatsache konfrontiert, dass ich manche HegelTexte  – obwohl offensichtlich in sinnvollen deutschen Sätzen geschrieben – nicht verstehen konnte. Und ich hatte festzustellen, dass es bisher allen so gegangen war. Er war im Gedankengang nicht so klar wie Kant und schrieb zudem in einer ganz nur ihm eigenen, aber doch der Umgangssprache näheren Terminologie. Wo Hegel 22  Dieter Henrich, Hegels Theorie über den Zufall, in: Kant-Studien, 1958/59, S. 131–148. 23  Dieter Henrich, Anfang und Methode der Logik, in: Hegel-Studien, Beiheft 1, 1963, S. 19–35.

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auf vier Seiten einen zentralen Gedankenschritt komprimiert vollzieht, da benötigt man  – so sah ich schließlich ein  – gut hundert ­Seiten, um diesen Schritt durchsichtig und umfassend verständlich zu machen. Dabei verfolgt er eine grundsätzliche, für unser Leben bedeutsame Problemlage, die auch mich in die Philosophie zog. Ein Ort dieses Nachdenkens war auch die Internationale HegelVereinigung, der Sie einige Zeit als Präsident vorstanden. Wie kam es zu diesem wissenschaftspolitischen Engagement? Als ich 1965 aus Berlin nach Heidelberg zurückkehrte, hatte ­Gadamer schon Jahre zuvor die Internationale Hegel-Vereinigung ­gegründet. Er wollte den Anspruch, Hegel auszulegen, nicht den Kommunisten überlassen. Bis dahin gab es allein die Internationale Hegel-Gesellschaft, die Wilhelm Raimund Beyer ins Leben gerufen hatte. Er war ein alter Kommunist und verfügte zugleich als Kapitaleigner über eigene Betriebsanteile. Neben den Finanzen besaß er auch die politischen Beziehungen, diese Gesellschaft zu organisieren. Er konnte die Professoren des sowjetischen Einflussbereichs einladen und ließ auch – politisch gefiltert – in den Westen Einladungen ergehen. In Frankreich beispielsweise standen aufgrund der dort noch starken Stellung der Kommunistischen Partei auch hochkarätige Gelehrte dieser Partei nahe. Gadamer meinte nun, man dürfe eine Instru­ mentalisierung Hegels und seines Werkes unter sowjetischer Regie nicht zulassen. Natürlich wurde Gadamers Gegengründung von der kommunistischen Gesellschaft als eine faschistische He­rausforderung des sozialistischen Lagers und des legitimen Erbschaftsverhältnisses von Hegel hin zu Karl Marx alsbald diffamiert. Trat darin der alte Gegensatz zwischen Links- und Rechtshegelianern zutage? Sogar noch verschärft, denn es gab das Machtgebilde der Sowjet­ union und des von ihr bestimmten ‹sozialistischen Lagers›. Es kon­



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trollierte und entschied mittels seiner Funktionäre weitgehend über die Karrieren von Gelehrten aus dem östlichen Einflussbereich. ­Gegen diese politische Intention gab Gadamer seiner Unternehmung eine deutlich akademisch bestimmte Ausrichtung. Er nannte sie schlicht «Vereinigung zum Studium von Hegels Philosophie». Die Pointe gegenüber der Hegel-Gesellschaft lag in ihrer Ambition, durch die historisch-rekonstruktive und hermeneutische Arbeit ­einen Gegenakzent zur Hegel-Exegese in Richtung auf Marx, ­Engels und ihre sowjetischen Nachfolger zu setzen. Gadamer verband sein Unternehmen personell mit der wenig früher neu begründeten Akademieausgabe der Schriften Hegels. Er musste als unvermeid­ liche Folge hinnehmen, dass diese Vereinigung auf den Westen beschränkt war. Man konnte Japaner einladen und Amerikaner, aber keine Polen, Tschechen oder Russen. So reichte die Bedeutung seiner Vereinigung nicht über den «Eisernen Vorhang» hinaus. Jedoch selbst in Italien und Frankreich war ihre Präsenz eingeschränkt. Wann übernahmen Sie das Amt des Präsidenten? Ich wurde 1970 in Stuttgart zum Präsidenten gewählt. Alle sechs Jahre veranstaltete die Vereinigung einen internationalen Hegel-Kongress. Zum 200. Geburtstag Hegels 1970 fand er zum ersten Mal und in großer Form in seiner Geburtsstadt statt. Stuttgarts Oberbürgermeister Manfred Rommel wollte das Unternehmen bald nachhaltig fördern. Er hatte ein Faible für Hegel und benutzte diesen HegelKongress, um die Präsenz von Hegel als dem ‹bedeutendsten Sohn Stuttgarts› mit Geist und Witz hervorzuheben. Rommel unterstützte auch das von Arnulf Klett initiierte Unternehmen des Hegel-Preises. Mit dem Kongress von 1970 legte Gadamer die Präsidentschaft nieder. Neben mir kandidierte auch Robert Spaemann, der mich wohl im Verdacht hatte, Hegel politisch zu sehr links zu interpretieren. Tatsächlich hatte ich damals eine parteiliche Präferenz; ich neigte zur

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Sozialdemokratie. Aber ich wurde wohl vor allem darum gewählt, weil ich einen Vortrag mit dem Titel Hegel und Hölderlin24 gehalten hatte, der noch heute gerne zitiert wird. Der nächste Kongress behandelte 1976 die Frage: «Ist systematische Philosophie möglich?» Die Beiträge, die in einem um­ fangreichen Band dokumentiert sind, beeindrucken durch ihre thematische Breite und Vielfalt sowie die Prominenz der Vortragenden. Alle wichtigen Strömungen der damaligen Philosophie waren vertreten. Das entsprach schon Gadamers Anspruch. Aber er hatte noch nicht die weitläufigen Beziehungen und schon gar nicht das Inte­ resse für analytische Philosophie. Aber im Grunde habe ich fortgesetzt, was seine Absicht gewesen war. Dies war auch möglich, da ich durch meine Präsenz in Amerika die führenden Repräsentanten der analytischen Philosophie persönlich kannte. Wie verlief Ihre Arbeit? Es war eine interessante Aufgabe, gerade auch wegen der internationalen Bezüge. Zwischen den großen Hegel-Kongressen gab es alle zwei Jahre Arbeitstreffen von drei Tagen, die sich «Hegel-Tage» nannten und meist in Frankreich oder Italien abgehalten wurden. Diese Veranstaltungen mussten auch entsprechend aus dem Ausland finanziert werden. Der italienische Vizepräsident Valerio Verra, ein Schüler Gadamers und Freund von mir, hatte Kontakte in römische Regierungskreise, so dass die Forschungstagungen unter luxuriösen Bedingungen, in Grand Hotels in Santa Margherita L ­ igure oder auf Anacapri, stattfanden. Dagegen waren wir in Frankreich auf akademische Einrichtungen angewiesen. Aber diese äußeren Dinge tan-

24  Dieter Henrich, Hegel und Hölderlin, in: Hegel-Studien, Beiheft 11, 1970, S. 29–52, auch in: Hegel im Kontext, Frankfurt am Main 1971.



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gierten nicht die gleichbleibende Qualität der Diskussionen. Der französische Vizepräsident Marcel Régnier war ein Jesuit – und ein erfahrener Organisator. Er gab die Zeitschrift Archives de Philosophie heraus, welche die relevante Literatur erschloss. Ich konnte mit diesen beiden Vizepräsidenten in Freundschaft zusammenwirken, so dass unsere Tagungen konfliktlos verliefen. Die Briten hatten eine eigene Hegel-Gesellschaft, aber wir kooperierten, so dass schließlich auch eine Arbeitstagung in England stattfand. Was wollten Sie als Präsident der Hegel-Vereinigung bewirken? Als ich 1970 zum Präsidenten gewählt worden war, hatte ich nicht nur den Ehrgeiz, die Kongresse zu maßgebenden philosophischen Ereignissen und Begegnungen werden zu lassen. Ich wollte zudem die Abschließung gegenüber dem politischen Ostblock nicht einfach als selbstverständlich hinnehmen. So habe ich über zehn Jahre auch daran gearbeitet, die ideologische und politische Kluft zu über­brücken und es Ost-Gelehrten, die nicht gerade parteifavorisierte Marxisten waren, zu ermöglichen, an unseren Konferenzen teilzunehmen. Warum war es Ihnen wichtig, Hegel-Forscher aus den Ländern des Warschauer Paktes einzuladen? Ich sah darin eine politische Aufgabe, gerade auch in der Situation der innerdeutschen Teilung. Dabei war klar, dass der Schlüssel zur Öffnung in Moskau und nicht in Ostberlin liegen würde. Und zugleich war uns bewusst, dass das Ziel nur zu erreichen sein würde, wenn man sich mit Ostberlin irgendwie würde verständigen können. Und so habe ich mich auf beiden Bahnen bewegt, auch dadurch vorbereitet, dass ich mich schon in den 50er Jahren dafür interessiert hatte, was im anderen Teil Deutschlands geschieht. Welche Verbindungen hatten Sie damals konkret geknüpft? Schon zu der Zeit, als ich Leiter des Heidelberger Collegium ­Academicum war, suchte ich Kontakte in die andere Hälfte Deutsch-

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lands. Wir hatten ein Ost-Programm aufgelegt und zum Beispiel eine studentische Theatergruppe aus Leipzig eingeladen. Sie spielten bei uns dann ein Stück von Ernst Toller: Feuer aus den Kesseln. Es fanden zugleich politische Streitgespräche zwischen der Ost-Gruppe und den Kollegiaten statt. Unsere Studenten stellten dabei fest: Gegen die gut geschulten Marxisten konnten sie mit ihrer Argumentation nicht wirklich durchdringen. Das erhöhte das Bedürfnis, Marx-Studien zu betreiben. Es gab auch eine Gegeneinladung. Wir machten 1957 eine überaus interessante Reise nach Leipzig. Drei Jahre später fuhr ich – als Privatdozent  – mit einer offiziellen Delegation der Universität Heidelberg wiederum nach Leipzig. Was passierte während dieses Treffens? Am Ende dieser Tage entstand der Wunsch der Ostberliner Parteizentrale nach einer gemeinsamen Erklärung, eine Art MiniAnerkennung der DDR. In ihr müsse aber auch stehen: «Die Heidelberger schlugen einen Studentenaustausch zwischen Heidelberg und Leipzig vor.» Darauf beharrten wir. Das löste einen heftigen Konflikt innerhalb der Leipziger Universitätsleitung aus. Die SED-Leitung wollte diesen Protokollsatz nicht zulassen. Sie wollte ihre Ablehnung jeden Austauschs nicht öffentlich werden lassen. Man musste mit Berlin telefonieren, wie man sich verhalten sollte. Wir Westler warteten stundenlang im Zimmer des Rektors. Plötzlich ging dort eine Tapetentür auf, aus der der Leipziger Rektor selber trat und uns etwa sinngemäß ansprach: «Gleich wird der Sekretär unserer Partei zu Ihnen kommen und Sie bitten, auf diesen Satz zu verzichten. Ich bitte Sie, tun Sie dies nicht! Die Trennung in Deutschland schmerzt mich seit langem. Ich habe meinen Rücktritt angekündigt, wenn das Kommuniqué nicht unverändert verabschiedet wird.» Und dann verschwand er wieder, bevor etwas später der Parteisekretär erschien. Wir sagten dann, worum uns der Rektor



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gebeten hatte: «Wir können auf diesen Satz nicht verzichten. Wir haben den Austausch vorgeschlagen.» Darauf kam die Mitteilung, das Protokoll sei nun doch genehmigt. Die Berliner SED-Führung legte mehr Wert auf die außenpolitische Anerkennung, die als solche in dem Protokoll lag, als auf den Willen der Parteispitze der Universität. So waren nach dem Verlesen des Abschlusskommuniqués die ­Parteisekretäre die Einzigen, die beim Klatschen ihre Hände nicht rührten. Wie gestalteten sich Ihre Ost-Verhandlungen in Bezug auf die Hegel-Vereinigung in den 70er Jahren? Der Austausch darüber, ob man ihre Leute zu unseren Konferenzen einladen könne, begann auf der Ebene von Manfred Buhr, der als führender Philosoph innerhalb der SED galt, auch wenn seine Position innerhalb der Partei nicht ganz ungefährdet war. Buhr war Direktor des Instituts für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der DDR, dem Zentrum der philosophischen Forschung. Diese hatte einen gewissen Zug auch zur historischen Forschung. Buhr hatte die Reihe Kritik der bürgerlichen Philosophie begründet. Da ich selbst die historische Perspektive auf den Idealismus schätzte, konnte ich eine Beziehung zu ihm aufbauen. Eine Bedingung des näheren Umgangs war für uns die Teilnahme an Tagungen unserer Hegel-Vereinigung, und zwar nicht nur von etablierten Partei-Matadoren, sondern auch von jüngeren Gelehrten. Zu ihnen ­gehörte Steffen Dietzsch. Wir waren auf Dietzsch über einen Jesuiten aus Paris gestoßen, der zu ihm über seine Arbeit an Schelling Kontakt hatte. Gelang es auch, Kontakte zu russischen Philosophen aufzubauen? Sie gingen über Exponenten der Parteiphilosophie erst hinaus, nachdem ich nach Moskau auf einen Hegel-Kongress eingeladen worden war. Man hatte ein fünfzehn Meter hohes Transparent ent-

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faltet, es war das größte Hegel-Bild, das ich je gesehen habe. Über meinen Vortrag zu Hegels Logik lernte ich die sowjetischen Philosophen kennen und fand auch Kontakt zu jüngeren Menschen. Dies geschah auch dadurch, dass man mir immer eine Begleitung zuteilte, die für mein unauffälliges Verhalten Sorge tragen sollte. So lernte ich Nelly Motroschilowa kennen, mit der ich einig darin war, dass in der Sowjetunion auch noch anderes Philosophieren möglich sein sollte als jenes, das offiziell verlautbart und gelehrt wurde. Zu diesen Stimmen aus Russland gehörte der Philosophiehistoriker Aresnij Gulyga. Der Kant-Biograph? Ich konnte daran mitwirken, dass seine Biographie von Immanuel Kant in Deutschland publiziert wurde. Der Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld fand die Sache allerdings so riskant, dass er das Buch im Insel-Verlag nur dann veröffentlichen wollte, wenn es mit einer Bauchbinde ausgestattet werden würde, die eine Empfehlung von mir enthielt. Er befürchtete den Vorwurf, in seinem Haus werde dem Kommunismus die Pforten geöffnet. Gemeinsam mit Nelly Motroschilowa konnte ich bei Suhrkamp später einen Band mit Aufsätzen von jungen Autoren aus der Sowjetunion herausgeben,25 übersetzt von Sigrun Bielfeldt, einer Heidelberger Schülerin, die fließend Russisch sprach. Ich selbst hatte unmittelbar nach dem Krieg etwas Russisch gelernt. Wie kamen Sie dazu? In meiner Zeit beim Deutschen Jungvolk wurde ich im Jahr 1943 auf eine Konferenz über ideologische Fragen ins nahe Eschwege geschickt. Dort wurden in einer Ausstellung über sowjetische Propa-

25  Dieter Henrich, Vorwort zu: Studien zur Geschichte der westlichen Philosophie. Elf Arbeiten jüngerer sowjetischer Autoren, hrsg. v. Nelly Motroschilowa, Frankfurt am Main 1986, S. 7–8.



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ganda auch Flugblätter gezeigt, die deutsche Soldaten zum Deser­ tieren aufforderten. Um den ‹falschen› Nationalismus des «Großen Vaterländischen Kriegs» bloßzustellen, befanden sich in der Ausstellung auch sowjetische Schulbücher. Eines von ihnen enthielt die ­Nationalhymne «Weit ist mein Heimatland», der die Ausstellungsmacher eine deutsche Übersetzung beigefügt hatten. Von dieser war ich beeindruckt. Ich erhielt also über die Grenzen der ideologischen Lager hinweg, vermittelt durch die nationalistische Not-Propaganda der Leninisten, einen ersten Eindruck von Art und Intensität rus­ sischer Gefühlslagen. Ihre Melodie gab auch das Erkennungszeichen des Moskauer Rundfunks ab. Später habe ich das russische Original im Sprachunterricht zum guten Teil auswendig gelernt. Gleich nach dem Krieg waren Russisch-Lehrbücher nur aus der sowjetischen ­Besatzungszone zu erhalten. Der Text der Nationalhymne war tatsächlich der Anfang Ihres Russlandinteresses? Damals entsprang jedenfalls ein gewisses, aus Sympathie gespeistes Interesse. Nach Kriegsende nahm ich zuerst Privatunterricht bei einem ehemaligen russischen Kriegsgefangenen. Das Gymnasium war nach dem Ende des Krieges ja noch länger geschlossen, so dass ich erst im Frühjahr 1946 einen Abiturkurs absolvieren konnte. Als ich mit dem Studium beginnen konnte, belegte ich eine Vorlesung über russische Geschichte, die ein Privatdozent namens Georg von Rauch hielt.26 So lernte ich die Geschichte Russlands von Konstantinopel über Kiew bis hin nach Moskau kennen und die verschiedenen Elemente, die zur russischen nationalen Identität gehörten. Auch belegte ich eine Vorlesung von Arthur Luther, einem Überset-

26  Georg von Rauch, Geschichte des bolschewistischen Russland, Wiesbaden 1956.

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zer von Dostojewski, der früh aus der Sowjetunion emigriert war, aber Moskau immer noch liebte und uns die Stadt gegenwärtig machte. Er sah mit seinem langen Bart aus, wie man sich einen russischen Gelehrten in seiner fremdartigen Tiefe vorstellt. Und bald lernte ich Dimitrij Tschizewskij kennen, den Marburger Slawisten und Hegel-Kenner, der später nach Heidelberg ging. Bei seiner Hilfskraft nahm ich weiteren Russischunterricht; es war Ludolf Müller, später gerühmter Experte für den Philosophen Berdjajew. Kehren wir nach dem Blick auf Ihre Anfänge mit der russischen Sprache zurück zur Hegel-Vereinigung und den damit verbundenen Ereignissen in Moskau. Ich begrüßte sehr, als von dort die Initiative ausging und man Mitte der 70er Jahre sagte: «Jetzt haben Sie uns oft zu Ihren ­Tagungen eingeladen, kommen Sie doch einmal nach Moskau.» Vielleicht waren die Russen des Einerleis der eigenen Propaganda müde. Mich überraschten die unverhofft freimütigen Kontakte. So kam dort unter der Hand der Plan auf, sogar eine Tagung der Hegel-­ Vereinigung in Moskau abzuhalten, an der die kommunistische ­Hegel-Gesellschaft nicht teilnehmen würde. Ich wandte ein: «Sie haben doch Ihre Beyer-Gesellschaft.» Aber man akzeptierte meinen Einwand nicht. Das klingt kompliziert. In der Tat war es nicht einfach. Es galt, noch eine Zwischenstufe zu nehmen. Die Russen mussten für ihren Plan die Rückendeckung nicht nur der Akademiespitze, sondern auch ihres Geheimdienstes erhalten. Ich wurde erneut zu einer Tagung nach Moskau eingeladen, bei der auch Raimund Beyer anwesend war. In deren Verlauf fand ein Empfang im kleinen Kreis statt. Ich hatte mir den Nachmittag vorher vom Kongress freigenommen und wollte mir Moskau noch etwas anschauen. Später ging ich zu dem angegebenen



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Gebäude, einem Restaurant, und zeigte dem Oberkellner meine Einladung. Ich war der Erste. Dann kam noch ein Theologe aus dem Westen. Wir warteten an einem Tisch und bestellten – gegen Dollar – das Einzige, was es gab: Krimsekt und Kaviar. Während wir uns über die rätselhafte Lage wunderten, erschienen schließlich die Offiziellen, vorneweg Raimund Beyer, der auf mich zukam: «Wo sind Sie denn gewesen? Wir haben Sie die ganze Zeit gesucht!» Man ging dann in eine Art Hinterzimmer, wo eine lange, schmale Tafel aufgebaut war, an der man sich nahe gegenübersaß. In der Mitte standen belegte Häppchen und jede Menge von Karaffen mit Wodka. Während ich durch den Krimsekt und den Wodka, den wir aus Wassergläsern tranken, schon stark erheitert war, machte mir Beyer heftige Vorwürfe, was wir alles mit unserer feindseligen und faschistischen Hegel-Vereinigung anrichten würden. Damals konnte ich noch eine große Menge Alkohol vertragen. Das war mein Glück, denn die Russen wollten mich wohl auch betrunken machen. Am Ende sagte Beyer: «Vielleicht können wir uns ja auch etwas zusammen vornehmen. Eine Möglichkeit wäre, am bevorstehenden Todestag Schellings zwei Kränze nebeneinander niederzulegen.» Mein ironischer Gegenvorschlag lautete: «Wir binden einen Kranz mit zwei Schleifen.» Und so ging es hin und her, Beyer echauffiert und ich leicht alkoholisiert und zu Witzen aufgelegt; es kam immer wieder zu Gelächter. Das dauerte eine gute Stunde, dann war plötzlich alles vorüber. Als wir den Raum ohne Ordnung verließen, kam ein kleiner Mann auf mich zu und sprach fast flüsternd: «Wir haben Sie kennengelernt, wir können mit Ihnen zusammenarbeiten.» Es muss ein maßgebender Geheimdienstler gewesen sein. Die Russen ließen, sicher nach Konsultation mit Ostberlin, die kommunistische Hegel-­ Gesellschaft und ihren Präsidenten wortlos fallen. Wir erhielten die Genehmigung, unsere Tagung in konkrete Planung zu nehmen.

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Beyer hat die Zusammenarbeit zwischen den Sowjets und unserer Hegel-Vereinigung später als den «philosophischen Hitler-StalinPakt» bezeichnet. Die politische Großwetterlage war dem Unternehmen günstig, denn damals begann die Zeit der Entspannungspolitik. Seit den Moskauer Geschehnissen, über die noch mehr zu berichten wäre, war ich überzeugt, dass die Wiedervereinigung bei entsprechend geschicktem, auch einfühlsamem Verhandeln erreichbar sein müsste. Was hat Sie so sicher gemacht? Die Art, wie die Russen sich in Moskau verhielten, ließ es nicht ausgeschlossen erscheinen, dass sie auch die DDR unter für sie lohnenden Umständen preisgeben könnten. Nach meiner Erfahrung, die Kenner bestätigten, haben Russen eine besondere Bereitschaft zu 180-Grad-Wendungen. Man kann wohl denken: Nur in solchen Bewegungen und Kontrasten erfährt man die Wirklichkeit des ­Lebens in ihrer ganzen Tiefe. Haben Sie ein Beispiel? Ein Buch des Vaters meiner Frau, Hans von Eckardt, hat mich zu solchen Überlegungen mit angeregt. Er war als Deutschbalte russischer Bürger und studierte in Moskau, bevor er vor dem Ersten Weltkrieg ein Stipendium nach Deutschland erhielt. Ihn interessierte die Dynamik in der russischen Volksfrömmigkeit. Die Dominanz der Gottsuche im Leben und die Intensität der konkreten Erfahrung der Sünde treiben ein Lebensgefühl hervor, das unter ganz anderen Vorzeichen einen Widerstand gegen polierte Lebenswelten erzeugt. Er erzählte vom Studentenleben in Moskau, wo man bis tief in die Nacht viel trank, über die erhoffte Revolution und die freie Liebe räsonierte, das Gelage dann aber mit einem frühmorgendlichen Gang in die Klosterkirche abschloss. Eine solche Grund-



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erfahrungsart ließ diejenigen, die das Land verließen, Westeuropa «unerklärlich weltlich, den metaphysischen Bezogenheiten qualvoll entfremdet erscheinen», wie es in seinem Buch heißt. Dieses Gefühl veränderte sich, als er in Heidelberg Max Weber, Gundolf und Norbert von Hellingrath kennenlernte. Damals optierte er für das, worin er aus seiner russischen Sicht das ‹Geheime Deutschland› sehen konnte: Hier fand er Tiefe in Verbindung mit einer Rationalität, die eine erratische Impulsivität wie die der russischen Nächte ausschließt. Wie sah Ihr Schwiegervater die Sowjetunion? Er hielt wohl die Sowjetunion für einen Versuch Russlands, sich aus seinem mystisch eruptiven, aber beharrenden Grundcharakter herauszuarbeiten. Man wollte die Erprobung der Seelenstärke in Sünd- und Bußexzessen hinter sich lassen und suchte eine rationale Kontrolle und einen gestalterischen Einsatz der Lebenskräfte zu erlangen. Der Marxismus, der in seiner Systematik auch etwas Deutsches ist, schien dafür das probate Mittel. Andererseits setzte der Marxismus der bolschewistischen Partei mit seiner Anmaßung und Rücksichtslosigkeit auf andere Weise die zaristische Form der despotischen Herrschaft fort. Wie ging es weiter mit den Plänen zur Moskauer Tagung? Zuerst sah es nicht so aus, als könnte sie stattfinden. Denn sie fiel unglücklicherweise in die Zeit des Olympiaboykotts, der 1980 nach dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan im Westen beschlossen worden war. Nun entstand eine Missbilligung innerhalb der Vereinigung, zumal von deren amerikanischen Mitgliedern. Was geschah? Wir hatten die Finanzierung – die Tagung war als internationale geplant, und einige Referenten kamen aus Übersee – beim Auswärtigen Amt in Bonn beantragt. Dort hatte man mit der Botschaft in

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Moskau Rücksprache gehalten. Die Ablehnung unseres Antrags wurde daraufhin mit der Einschätzung begründet, man halte das Zustandekommen einer solchen Tagung in Moskau für unmöglich! Wir beschlossen im Vorstand, trotzdem nach Moskau zu fahren und alles aus eigenen Mitteln zu finanzieren, da von den gut besuchten früheren Kongressen noch Geld übrig geblieben war. Für unseren Auftritt in Moskau war eine Erklärung vorgesehen, die den Willen zur Zusammenarbeit betonen und die Distanz zur Afghanistan-Politik der Sowjetunion ausdrücken sollte. Die von mir verfasste Erklärung wurde im Vorfeld in Heidelberg mit den Teilnehmern, unter anderen Charles Taylor, diskutiert. Die schwierige Aufgabe, diese Erklärung in fünfzig Abzügen nach Russland zu schmuggeln, übernahm mein ehemaliger Assistent Friedrich Fulda, der nicht so beobachtet wurde wie ich. Es handelte sich um eine subversive Verletzung der bisherigen Kooperation, die wir unter den gegebenen Verhältnissen für leider unvermeidbar hielten. Wir hatten keinem der Russen von unserer Absicht etwas angedeutet. Sie wären dann nämlich nicht umhingekommen, die von ihnen selbst gewünschte Zusammenarbeit abzubrechen. Nur so konnten wir auch vermeiden, unsererseits die Tagung aufzugeben oder sie von höherer Instanz in der Sowjetunion abgesagt zu sehen. Gelang Ihr Plan? Ich trug auf der Konferenz das achtseitige Manuskript vor. Als ich an die Stelle kam, wo wir uns vom Einmarsch einer überlegenen Armee in Afghanistan, einem Land, das eine lange Freiheitstradition hatte, distanzierten, reagierten die völlig überraschten Russen schockiert und entsetzt. Auch unsere Freunde empfanden die Erklärung als einen Verrat, zumal wir die eingeschmuggelten Exemplare verteilten. Es gab spontane Gegenreden. Die Tagung lief aber dennoch weiter. Es gab sogar einen Empfang in der bundesdeutschen



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Botschaft, die doch diese Veranstaltung für unmöglich gehalten hatte. Aber ich wurde als Vortragender und Präsident nun geradezu geschnitten. Sie waren zur Persona non grata geworden? Die persönlichen Beziehungen wurden eingestellt. Und Nelly Motroschilowa, mit der ich immerhin schon ein gemeinsames Buch im Sinne hatte, sagte mir: «Wir verstehen schon, dass Sie das sagen mussten, aber wir werden die Folgen zu tragen haben.» Diese gewiss realistische Aussicht beschwerte nun mein Gewissen. Ich war traurig und suchte nach einem Ausweg. Mir war klar, dass ich noch vor dem Ende der Konferenz eine Wendung zum Guten, das heißt zur Fortsetzung der Zusammenarbeit, würde finden müssen. Wie gingen Sie vor? Die Chance, die Stimmung zu ändern, bot sich mir über Jan ­Vogeler. Er war der Sohn des Worpsweder Malers Heinrich Vogeler, der in Sibirien umgekommen war. Er war, nachdem er sich gegen seinen Vater hatte stellen müssen, Professor für marxistische Philosophie in Moskau geworden. Vogeler war ein blonder deutscher Jüngling im fortgeschrittenen Alter, der zu den Befürwortern der Zusammenarbeit gehört hatte. Ich konnte im Vertrauen mit ihm sprechen und bat ihn um Rat und Hilfe. Er fand meinen Vorschlag gut, auf dem Schlussempfang in russischer Sprache zu sprechen. Ich bat ihn, mir einige Sätze in perfektes Russisch zu übersetzen. Als ich dann auf dem Abschlussbankett sprechen wollte, wurde ich zunächst angefahren: «Sie halten hier Ihren Mund, sonst sagen Sie nur wieder so etwas ganz Schreckliches.» Ich durfte sprechen, als ich versprach, keine für die Gastgeber politisch anstößigen Bemerkungen zu machen. Ich spürte, dass sich die Stimmung sogleich um 180 Grad zu drehen begann, als ich mit den mit Vogeler eingeübten russischen Sätzen begann. Darauf sprach ich noch etwas länger auf

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Deutsch von den großen Schwierigkeiten, die vor uns lägen wie ein kaum zu überwindendes Hochgebirge; aber wir wüssten doch, ­irgendwo sei ein Weg, den man nur weiter zu suchen habe. Ich schloss meine Rede – wieder in russischer Sprache – mit anerkennendem Dank und unseren Wünschen für ihr Wohlergehen und den Fortgang der Kooperation. Derselbe Mensch, ich denke, er war der Vizepräsident der Akademie, der mir eben noch das Wort hatte verbieten wollen, umarmte mich nun heftig und rief mit Nachdruck: «Sie haben vollkommen recht. Alles ist gut!» Das Russische hatte öffnend gewirkt. Dass ich in ihrer Sprache einige wichtige Sätze sprach, bedeutete den Russen offensichtlich sehr viel; sie fühlten sich glaubwürdig anerkannt. Ich wiederum fühlte mich sehr erleichtert, weil nun die russischen Träger unserer Zusammenarbeit keine gravierenden Folgen mehr befürchten mussten. Es war übrigens von den Russen zugestanden worden, dass alle Vorträge unzensiert auf Russisch und Deutsch erscheinen sollten. So wurde unser Tagungsband eine der ersten zensurfreien Publikationen in der ­ Sow­jetunion.27 Welche Rolle spielte Ernst Bloch in Bezug auf die Hegel-Ver­ einigung? Schon Ende der 50er Jahre war Blochs Stellung an der Universität Leipzig unhaltbar geworden. Er nutzte Hegel, um einen von der sowjetischen Lesart weit abweichenden Marxismus zu lehren. Als ich Präsident der Hegel-Vereinigung wurde, lehrte Bloch schon lange in Tübingen. Für unsere Tagungen und zumal für unsere Bemühung um Öffnung aus dem Osten spielte er keine Rolle. Meines Erachtens hatte er zu dem, was für uns Studium der Hegel’schen Philosophie

27  Teodor Iljitsch Oiserman, Nelly W. Motroschilowa (Hgg.), Die Philosophie Hegels/Filosofija Hegelja, Moskau 1987.



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war, nichts Gewichtiges beizutragen. Bloch rezipierte Hegel unter der ihm eigenen Perspektive einer dynamistischen Anthropologie und Entwicklungslehre. Wir erwarteten im Übrigen auch nicht sehr viel von der östlichen Hegel-Wissenschaft. Ich hielt meine eigenen Arbeiten, die meiner Schüler und einiger anderer, auch von Italienern und Franzosen, in der Exegese und Tiefendiagnose von Hegel für weitaus avancierter. Wir hatten mehr Interesse an dem Disput zwischen Hegel und anderen Schulen als an Hegel-nahem philosophischem ­Eigenbau. Von solchen durchaus für sich interessanten Gebilden hatte es ehedem in Russland viele gegeben. Der Wunsch nach einem direkten Kontakt mit Moskau schloss beides ein, die Lösung einer strategischen Aufgabe und ein solches menschliches und kulturelles Interesse  – nicht eigentlich ein Interesse der Forschung selbst. Nach der Moskauer Tagung habe ich beschlossen, nunmehr bald als Präsident der Hegel-Vereinigung zurückzutreten. Wann war das? Sechs Jahre später. Meine Hauptarbeit für eine uneingeschränkte Wirkungsmöglichkeit der Vereinigung war getan. Dem zweiten großen Kongress meiner Amtszeit hatte ich 1981 den Titel Kant oder Hegel? gegeben, um ihn nicht in eine Hegel-Feier ausufern und schrumpfen zu lassen. Es sollte eine wirkliche philosophische D ­ ebatte sein. Mein letzter großer Kongress stand 1987 unter der Frage: «Metaphysik nach Kant?» Die Entscheidung hing auch mit der Berufung nach München und meiner Intensivierung der Kon­stellationsforschung zusammen. Ich sah deutlich, dass ich mich nunmehr ganz auf die doppelte Aufgabe, neuartige Forschung und philosophische Problem­ entfaltung, konzentrieren müsse. Was waren für Sie die wichtigsten wissenschaftspolitischen Ziele des Austausches mit dem östlichen Europa? Wir wollten die wirkliche Hegel-Forschung im Osten präsent

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werden lassen und die Länder des Sowjetreiches nach Möglichkeit einbeziehen. Es ging vor allem darum, einzelne Forscher, auf die wir aufmerksam geworden waren, in unsere Bemühungen einzubinden und im Folgenden an deren Arbeit und ihren kulturellen Traditionen zu partizipieren. Nebenbei lag uns an guten Kontakten, um ­Zugang zu der großen Menge an Dokumenten, die gerade in der DDR lagen, zu erhalten. In und über allem wirkte die Hoffnung, dem ­Philosophieren als solchem eine Bahn offenzuhalten. Aus Gründen ­ihrer inneren Verfassung gibt es zwar eine theore­ tische Physik, aber keine wirkliche Philosophie ohne Freiheit. Jenseits der pragmatischen Ziele war die Außenpolitik der Hegel-­ Vereinigung ein bedeutendes Beispiel für gelebte Hermeneutik in Zeiten des Kalten Krieges. Auch wenn die geistigen Horizonte nicht verschmolzen, gab es doch Überschneidungen und Verbindungen und den Wunsch, den anderen in seiner historischen Situation und Position zu verstehen. Das Sym-Philosophieren sollte nach Möglichkeit aus einer ideologischen Spaltung und weltpolitischen Spannung befreit werden. Um das zu befördern, musste man hinter den ideologisch-politischen Vorgaben den Wunsch und die Fähigkeit zu einer solchen Kooperation wahrzunehmen wissen. Wenn es um Zusammenarbeit und Vertrauen ging, war meine Maxime: Schau dir den Menschen an. Sie hat sich eigentlich immer bewährt. So entstanden Zugänge, die in den offiziellen Rollenmustern nicht vorgesehen waren. Sie konnten ganz überraschende Situationen entstehen lassen. Die deutsche Wiedervereinigung ist dafür ein monumentales Beispiel. Die Fähigkeit, hinzuhören und mit Menschen anderen Schicksals mitzudenken, wäre im Vollzug dieser Wiedervereinigung sehr nötig gewesen. Sie fehlt leider auch jetzt, in den europäischen und den weltpolitischen Wandlungen des 21. Jahrhunderts.



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Wessen Erinnerung bis in die Weimarer Republik zurückreicht, der ist vielleicht besonders sensibel für die Chancen und die Gefahren, die sich unter scheinbar stabil gewordenen Verhältnissen abzeichnen. Die Wiedervereinigung selbst erwies sich ja bald als eingebettet in einen globalen Prozess. Er hat sich über die notwendigen Experimente mit Europa, die digitale Revolution, den Klimawandel und die Verlagerung geopolitischer Schwerpunkte zugleich mit der Bedrohung durch ein Virus zu einem epochalen Übergang aufgesteigert. Für mich ist die Zeit seit dem Umzug nach München mit allen Phasen dieses Prozesses verbunden.

8. München – Werke und Wandlungen (seit 1981)

Seit 1981 wohnen und arbeiten Sie in München. Zur Zeit dieses Gesprächs bin ich seit 35  Jahren in München; länger war ich an keinem anderen Ort. Dabei habe ich mich nie als in München beheimatet gefühlt. Das habe ich aber auch nicht erwartet, als ich hierher ging. Damals war die deutsche Wiedervereinigung noch in weiter Ferne. München war im Unterschied zu ­allen anderen Städten in Deutschland, die ich kannte, nicht von ­einer von der deutschen Teilung beladenen Tristesse überzogen. So erschien es mir jedenfalls, als ich damals von einem Semester in Harvard nach Deutschland zurückkam. Deutschland wirkte so, als ob in der gesamten politischen Atmosphäre, auch in der Presse, eine gewisse labile Aufgeregtheit vorherrschte, die ich auf die Grenzlage zurückführte. Ich las die Zeitungen, die Zeit etwa, mit Unbehagen. Die Texte schienen mir etwas zugespitzt und leicht hektisch, nicht gelassen die Weltlage analysierend. Doch München hatte etwas Gelassenes, Selbstzufriedenes. Es fehlte, wie ich mich damals immer ausdrückte, der Mehltau des geteilten Deutschlands über dem Lebensgefühl. Dorthin zu kommen, erschien mir als eine vielversprechende Aussicht auf eine freiere Luft auch in der Weltorientierung. Wie würden Sie das Lebensgefühl in München beschreiben? Bayern hatte, wenn wir von der Bundespolitik her dorthin schauen, auch etwas Possierliches. Die von Folklore durchsetzte politische Intensität mit ihrer Gaudi-Neigung, die Franz Josef Strauß weithin verkörperte, war mir fremd. Hinter der Tonart kann sich allerdings



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auch die Frankreich zugewandte Klugheit der Aufklärung von Montgelas verbergen – oder Maximilian II., der Schüler Schellings, der bedauerte, nicht Geschichtsprofessor werden zu können, weil er nun einmal König werden musste. Der bajuwarische Stolz auf das bloße «Mia san mia» ist freilich schon etwas Besonderes. Was bedeutet Ihnen diese Stadt? München wurde als Ort der Anregung für mich niemals so wichtig wie Heidelberg, geschweige denn die Insel Berlin. Gerade künstlerisch war Berlin vielgestaltiger und intensiver. Dort erfuhr ich erst, dass ich eigentlich ein Großstadtmensch bin. Ich kannte ja New York, hatte mich dort wohl gefühlt und hätte mich in der Stadt wohl beheimaten können  – im Unterschied zu Boston: Boston ist zwar eine Millionenstadt, aber nicht in diesem Sinne eine weltbürgerliche Großstadt. München war dies auch nicht, aber damals für eigentlich jedermann ein besonders attraktiver Ort. Was mich zudem anzog, war das Kulturelle. Die Hoffnung war, hier eine dichte Atmosphäre zu finden, die zugleich entspannt und intensiv ist. Darauf freute ich mich. Diese Hoffnung hat sich dann doch nur zum Teil erfüllt. Aber meine Annahme der Berufung war die Voraussetzung dafür, dass meine in München geborenen Töchter zu bekennenden Münchnerinnen haben werden können. Wie kam es zu dem Ruf nach München? Ich hatte überhaupt nicht damit gerechnet, je einen solchen Ruf zu erhalten, schon aus konfessionellen Gründen. Denn schon 1963 hatte ich eine Berufung nach Würzburg, die aber über ein Jahr im Münchner Wissenschaftsministerium festsaß. Erst auf Anfrage von Frau Hamm-Brücher von der FDP im Landtag kam die Sache in Gang. Doch inzwischen waren Göttingen und Heidelberg auf dem Plan. Daraufhin musste ich mir sagen: Wenn es schon solche Schwierigkeiten gab mit Würzburg, dann wird die bayerische Kultusver-

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waltung dich als jemanden, der für die katholische Theologie nicht angemessen ist, als Philosoph niemals nach München berufen. Ich habe das bedauert. Es war dies während der deutschen Teilung, wie gesagt, die einzige Möglichkeit, auf die ich mich von Heidelberg aus noch hätte freuen können. Als der Ruf aus München dann wirklich kam, erhielt ich kein Gegenangebot aus Stuttgart. Ich kannte den dort zuständigen Ministerialdirektor recht gut. Er sagte mir damals: «Gegen einen Ruf aus München ist kein Kraut gewachsen.» Erfüllten sich Ihre Erwartungen? Tatsächlich erfuhr ich von der bayerischen Kultusverwaltung viel Unterstützung und Anerkennung. So wurde alles in allem München zu einer Zeit der Realisierung von dem, was vorher angelegt worden war. In München habe ich die meisten meiner Bücher geschrieben. Ich ließ mich 1994 emeritieren, um endlich meine Forschungen, die immer aufwendiger geworden waren, zu einem Abschluss zu bringen. Nach deren vorläufigem Abschluss konnte ich meine ganze Kraft dem eigenen Philosophieren zuwenden, um das ich schon zuvor verschiedene Kontroversen auszutragen hatte. Auch ergaben sich in der Münchner Zeit besondere Herausforderungen durch die politische Debatte über die atomare Bewaffnung und durch die deutsche Wiedervereinigung.28 Welche Rolle spielte Hans Maier? Ohne ihn wäre die Berufung nicht möglich gewesen. Es gab einen großen Unterschied zwischen ihm und den früheren Kultusministern. Maier war selbst ein wirklicher Wissenschaftler. Strauß hatte ihn als jungen Mann zum Minister gemacht, er war noch nicht einmal CSU28  Vgl. Dieter Henrich, Ethik zum nuklearen Frieden, Frankfurt am Main 1990; Eine Republik Deutschland. Reflexionen auf dem Weg aus der deutschen Teilung, Frankfurt am Main 1990; Nach dem Ende der Teilung. Über Identitäten und Intellektualität in Deutschland, Frankfurt am Main 1993.



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Mitglied. Er ist ein guter, aber selbständig denkender K ­ atholik, der in seinen vierzehn Jahren als Minister eine wichtige Rolle in der Konferenz der Kultusminister spielte. Er hatte einen ­offenen Begriff von Katholizismus und wohl auch vom Christentum. Aber der eigent­ liche Initiator für die Berufung war Robert Spaemann. Dabei ging es ihm nicht allein um mich als Kollegen, sondern auch darum, den von Hermann Krings gewünschten Nachfolger Hans Michael Baumgartner, seinen früheren Assistenten, zu verhindern. Robert Spaemann schätzte Ihre Art zu philosophieren offenbar. Wir hatten beide ein Interesse an der modernen Subjektivität und dem Prozess ihrer Entfaltung. Dabei ergänzten sich unsere Analysen durch einen Gegensatz in ihrem Hintergrund. Wir nahmen beide die Probleme der philosophischen Theologie ernst. Aber war Spaemann, als Sie nach Würzburg berufen wurden, nicht selbst bereits in München? Damals noch nicht. Es lehrte Max Müller, der katholische Heideg­ ger-Schüler. Er war es auch, wie mir kolportiert wurde, der dem Ministerium abriet, mich zu berufen. Eine Berufung nach München in den Schlüsselfächern musste über die Kirche laufen. Ich war Protestant und schon einmal geschieden. Das waren schlechte Voraussetzungen. In der Tat wurde ich in München zum ersten Protestanten auf einem philosophischen Lehrstuhl seit Schelling. So kam das Angebot an mich schon als sehr große Überraschung. Wie verlief Ihr Anfang in München? Ich kannte München bereits recht gut. Denn dort lebte Johann Ludwig Döderlein, der Besitzer eines großen Konvoluts von Briefen des damals noch vollständig unbekannten Tübinger Repetenten Carl Immanuel Diez. Ihm war in meinen Forschungen eine Schlüsselstellung zugewachsen. Döderlein begegnete ich schon 1962, als er einen Vortrag in Heidelberg hielt, aus dem ich von seinem Besitz

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erfuhr. Danach fuhr ich öfter nach München, um mit ihm zu sprechen und zu arbeiten. Er bewohnte in Schwabing als Privatgelehrter eine Ein-Zimmer-Wohnung und unterhielt  – von verschiedenen Renten lebend – Stammtische mit Intellektuellen und Künstlern. Er führte mich in diese Kreise ein, so dass ich manche interessante Leute kennenlernte. Mir schien damals, dass da so etwas sei, was dem, was ich in Berlin erlebt hatte, korrespondieren könne. Es entsprach auch dem, was man über München und Schwabing hörte, allerdings aus der Vergangenheit. Hatten Sie in Ihrer Heidelberger Zeit bereits Beziehungen zur Universität in München? Mit der Universität kam es auch früher schon zu mancher Begegnung. Ich hatte in München den einen oder anderen Vortrag gehalten. Aber es gab niemanden, mit dem ich zusammengearbeitet hätte. Anziehend wirkte allerdings, dass an der Akademie der Wissenschaften die Fichte-Ausgabe entstand. Ich konnte schon in den 60er Jahren für meine Abhandlung Fichtes ursprüngliche Einsicht29 einige Texte von Fichte zitieren, die damals unveröffentlicht waren. Ich lernte sie durch Gespräche mit einem der Herausgeber der Fichte-Ausgabe kennen, der Interesse an meinen Interpretationen hatte. Es war damals nicht häufig, dass sich ein Philosoph wirklich ernsthaft für Fichte interessierte. Während Sie mit historischen Interessen nach München kamen, hatte Wolfgang Stegmüller dort schon eine analytische Ausrichtung des Faches auf den Weg gebracht. Welche Rolle spielte er an dieser katholischen Universität? Stegmüller war, wie man mir erzählte, eine Fehlkalkulation des erzbischöflichen Ordinariats gewesen, da man erst spät sah, dass er, 29  Dieter Henrich, Fichtes ursprüngliche Einsicht, Frankfurt am Main 1967.



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der doch aus Innsbruck kam, Freimaurer war. Er hat die Wissenschaftstheorie in Deutschland auf hoch respektable Weise etabliert. Waren seine Versuche, die analytische Philosophie in Deutschland zu vermitteln, für Sie interessant? Stegmüller hat die analytische Philosophie als Erster und Einziger zu einem Programm gemacht und auch wirklich bearbeitet. Er hatte wichtige Schüler. Ich kannte ihn schon vor meiner Berufung und freute mich auf die Zusammenarbeit. Die ergab sich auch – etwa im Gastprogramm. Ich nahm sogar an einem seiner Seminare teil. Früher hatte ich ihn mehrfach nach Heidelberg eingeladen, und er unterstützte Spaemann darin, dass ich hierher kam. Er ist leider sehr bald gestorben. Sie beklagten einmal, dass die Philosophen in München Gruppen bildeten und wenig miteinander zu tun hatten. Das begann bei den Bibliotheken. Stegmüller hatte seine eigene, ebenfalls der Guardini-Lehrstuhl, der eigentlich für «Christliche Weltanschauung» definiert war. Eine meiner ersten Initiativen war es, eine gemeinsame Bibliothek einzurichten, was dann allerdings erst geschah, als ich schon emeritiert war. An gemeinsamen Veranstaltungen gab es ein Treffen, einmal im Semester, zu dem sich der ganze Lehrkörper – 40 bis 50 Personen – versammelte, einen Vortrag hörte und besprach. Dabei blieb es. Investierten Sie dann Ihre Kraft weniger in die Universität als in Ihre eigene Arbeit? In Heidelberg konnte ich – so wollte es auch Gadamer – ziemlich leicht durchsetzen, was mir richtig schien. In München hatte ich mich darauf eingestellt, mich weitgehend in die ‹bestehenden Verhältnisse› einzufügen. Mir schien die Situation in München so «festgemauert in der Erden», dass es eh keinen Sinn hatte, daran – etwa aus der US-Erfahrung heraus – rütteln zu wollen. Ich musste end-

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lich meine längst überfälligen größeren Problemzusammenhänge schriftlich ausarbeiten und veröffentlichen. Mein Hauptziel war nun ganz die eigene Lehre und Forschung. Wie sah dies konkret aus? Ich habe ja längst ein Doppel-Profil. Ich wollte Philosophie studieren und in ihr einen sicheren Stand gewinnen und selbst begründen können. Aber ich wollte auch Wissenschaftler sein und wollte es zudem vermeiden, mich schon in frühen Jahren in einen Trend hineinziehen zu lassen, der mich allenfalls halb überzeugte und bei dem ich später bereuen müsste, mich auf ihn festgelegt zu haben. Ich war zurückhaltend im Mich-Festlegen auf philosophische Grundaussagen und wurde misstrauisch, wenn ich bei Professoren die Tendenz bemerkte, Anhänger zu gewinnen. So kritisierte ich zwar Heidegger und Adorno, aber ich hatte nicht zugleich selber so etwas wie die Grundzüge einer Lehre anzubieten. Ich legte zwar Argumentationen vor und ließ damit verbundene Perspektiven erkennen, aber nicht in Gestalt größerer philosophischer Publikationen. An meiner Grundmotivation hat sich nichts geändert. Aber ich suchte lange nach einer angemessenen Form, ihr in einer philosophisch angemessenen Weise ausdrücklich und öffentlich nach­ zugehen. Das kunsttheore­ tische Buch Versuch über Kunst und Leben 30 war die erste rein systematische Veröffentlichung in Buchform. Da war ich schon Emeritus! Ich wollte mich weder in die Heideg­ ger-Welle, schon gar nicht in die Welle der Frankfurter Schule, noch etwa in den Logischen Positivismus, von dem Stegmüller eine Variante entwickelt hatte, hineinziehen lassen und eine solche Position, wie man sagt, in der Lehre «vertreten». Ich lehrte

30  Dieter Henrich, Versuch über Kunst und Leben. Subjektivität  – Weltver­ stehen – Kunst, München 2001.



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so­zusagen hypothetisch, ich konnte Denken lehren, aber ich bezog nicht explizit eine eigene Position. Die Abhandlung Fichtes ursprüngliche Einsicht, die 1966 erstmals erschien und von mir jüngst, um eine neue Reflexion ergänzt, nochmals herausgegeben wurde,31 entfaltet durchaus eine philosophische Problemlage mit weitreichenden Konsequenzen. Sie tut es aber indirekt, in der Gestalt einer Exegese. Meine Lehre in den USA war ähnlich verfasst. Ich wurde dort vor allem geschätzt, weil ich die sogenannte kon­ tinentale Philosophie kompetent darlegen konnte, und zwar so, dass man sie verstand und zur eigenen Überraschung denken musste: Da ist ja was dran. Das bringt Licht in für die Menschen zentrale Fragen. Aber ich habe idealistische Theoreme nicht im Sinne einer Position gelehrt. Das war damals noch mehr üblich, als es das heute ist. Ich denke sofort an Gadamer. Er war in seiner Lehre direkter als ich und vertrat eine Heidegger verdankte Grundrichtung mit eigener Pointe. Der Ansatz war nicht in der Ranghöhe der Begründungsgänge angesiedelt, die ich von Kant her gewohnt war und dann in Amerika bei Quine oder Sellars in ganz anderem Milieu zu würdigen gelernt hatte. Sie meinen den Anspruch, ein eigenes Gedankengebäude zu ­entwickeln? Ich selbst bin bis heute in diesem Sinn nicht so weit, wie ich es mir gewünscht hätte. Was sind denn die wirklich systematischen Bücher von mir? Da gibt es das Suhrkamp-Buch über Denken und Selbstsein,32 es gibt eine Reihe von Abhandlungen wie Die Philoso-

31  Dieter Henrich, Dies Ich, das viel besagt. Fichtes Einsicht nachdenken, Frankfurt am Main 2019. 32  Dieter Henrich, Denken und Selbstsein. Vorlesungen über Subjektivität, Frankfurt am Main 2007.

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phie in der Sprache.33 Aber ich könnte heute noch nicht – und vielleicht kann man das auch gar nicht mehr in voller Kenntnis und Berücksichtigung aller Problemlagen – eine systematische Philosophie wie in einem Lehrbuch entfalten, die es vermag, die Verfassung und den Vollzug eines bewussten Lebens verstehend und zugleich in geklärten Begriffen zu erschließen. In einem damit wäre zu benennen, worauf in diesem Leben letztlich Verlass ist, und zu begründen, was es denn verlässlich sein lässt. Wie es Nicolai Hartmann etwa noch konnte? Hartmanns Werk ist universal angelegt und durchaus solide erarbeitet. Neben seiner Lehre hat er ihm fast jede Stunde gewidmet. Schon das ist heute sehr schwer geworden. Zudem sind die Ansprüche an die Grundlegungsarbeit und die begriffliche Differenzierung sehr viel weiter angewachsen. Wer verpflichtet sich selbst heute noch auf eine solche Aufgabe? Ich denke an Hermann Schmitz, der schon allein von daher zu bewundern ist. Schließt für Sie das systematische, direkte Philosophieren auch ein Moment des Bekennens ein, das über das Argumentieren hi­nausgeht? Es fällt schwer, sich einen Philosophen zu erdenken, der mit all seiner Kraft des Denkens und der Erkundung eine Position begründet, die anzunehmen ihm selbst zugleich gänzlich widersteht – nur weil übermächtige Gründe für sie sprechen. Von Naturwissenschaftlern, etwa Darwin, wird solches berichtet. Aber die Begründung einer philosophischen Position hat niemals eine augenfällige oder überwäl­ tigende Evidenz. Dazu liegen die Zusammenhänge, auf die sie sich 33  Dieter Henrich, Die Philosophie in der Sprache. Rede zur Verleihung des Deutschen Sprachpreises, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 233, 2006, S. 45, auch in: Information Philosophie 3/2007, S. 7–19; wiederum in: Wissenschaft und Wissen, 2007/1, S. 68–79 und in: Glanzlichter der Wissenschaft, 2007, S. 73–83.



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beziehen muss, zu tief. So wird man also der Wahrheit über das Abwägen von Alternativen und Ambivalenzen auf die angemessenste Weise nahe kommen. Eine Abschottung gegen Tendenzen und Möglichkeiten, die dem bewussten Leben selbst innewohnen, ist damit unvereinbar. Daraus muss sich ein besonnenes und bewegliches Ergründen auch über den Wechsel von Perspektiven hinweg ergeben. Welche Rolle spielte für Sie bei der Begründung einer eigenen ­Position die Auseinandersetzung mit anderen Positionen? Zu großen Theorien muss man zu Beginn immer einen Zugang über vorläufige Urteile gewinnen. Des Weiteren zeigt sich eigene Produktivität anfänglich am deutlichsten in der Fähigkeit zur Kritik an bedeutenden Positionen. Indem man darüber nachdenkt, wie das, was man als Begründungsschwäche wahrnimmt, ausgearbeitet werden könnte, bildet sich die eigene Begründungskraft zur Selbständigkeit hin aus. Sie ist also wirklich nicht nur von der Fähigkeit getragen, Fehler anderer zu bemerken. Dahinter wirkt sich eine latente Bereitschaft zur Annahme oder Abweisung von Positionen aus, die für das Verstehen, das zuvor schon erworben wurde, in der einen oder anderen Weise von Bedeutung ist. Ich kann und muss nicht bestreiten, dass dies auch für meine eigenen Auseinandersetzungen mit Kollegen gilt, die als Person und Autor von mir geschätzt waren – nämlich in meiner Verteidigung einer zentralen Bedeutung der Subjektivität als Wissen von sich und der Unverzichtbarkeit letzter Gedanken, die ehedem unter dem Namen «Metaphysik» standen – etwa gegen Jürgen Habermas und Ernst Tugendhat. Die Fragen von Subjektivität und Metaphysik sind bei Ihnen seit Ihren Anfängen als Problemhorizont vorhanden. Bereits in Ihrer Promotion zu Max Weber wird die Subjektivität als Problem dargestellt. Schon damals stand mir diese große Aufgabe vor Augen. Ich wollte sie nicht in verbilligter Form umsetzen. Gerade so ist es mir

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auch gelungen, das Thema in der philosophischen Debatte zu restituieren und gegen viele Vorurteile zu beleben, ohne dass ich große systematische Werke geschrieben hätte. Halten Sie das Offenhalten eines Problemhorizonts, der Verzicht darauf, ihn systematisch schließen zu wollen, für die angemessenere Haltung? Das hat etwas von Platons Geist. Seine Büste steht mir, wenn ich von meinem Schreibtisch in den Garten schaue, auf einem Sockel immerfort vor Augen – ein lebendiger Imperativ! Er ist der Größte überhaupt, nur einer wie Platon konnte unser Fach gründen. Der Vorteil meiner Disposition in der Zeitsituation ist, dass ich, wie ich hoffe, sagen zu dürfen, nie ins flache, fadenscheinige Argumentieren geraten bin. Man muss sich so weit als möglich hüten, auf eine Weise zu argumentieren, die man später nur noch bedauern kann. Hängt es mit diesen Schwierigkeiten zusammen, dass Sie Ihre Habilitationsschrift über Selbstbewusstsein und Sittlichkeit nicht veröffentlicht haben? Ja. Ich hatte zwar einen ganz wesentlichen Zusammenhang als Thema herausgehoben und bin ihm historisch nachgegangen. Aber im Gang der philosophischen Begründungen fand ich mich selbst vorerst bald überfordert. Die Gründe der Schwierigkeit, über Selbstbewusstsein überhaupt luzide zu sprechen, gingen mir dabei erst allmählich auf. Noch heute wäre es für mich besonders schwer, das Thema angemessen zu entfalten. Kants Zurückhaltung, wenn es ­darum geht, es in den Horizont einer Theorie zu setzen, ist ein wichtiger Hinweis, vorsichtig zu bleiben. Fichte hat einen starken Impuls dahingehend gesetzt, dass, wenn man einer grundlegenden Einsicht nachgeht, es einer besonderen Aufmerksamkeit auf den Gebrauch sprachlicher Ausdrücke bedarf. Hegel,



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für den Subjektivität zum zentralen Begriff seines gesamten Systems vom Geist als Prozess geworden ist, spricht über sie häufig in erstaunlich unbedachten Formeln, die mehrdeutig bleiben müssen und dies sogar sollen. Besteht so gesehen eine der größten Leistungen der Rationalität darin, zu wissen, was man nicht weiß? Dass man den eigenen Gedanken immer noch überschaut und nicht einfach loslaufen lässt. Dieser Eindruck drängt sich übrigens in der Lektüre von Jaspers besonders oft auf. Deshalb hat er wohl in der Philosophie als solcher kaum eine Nachwirkung. Leider, denn er besaß eine große Sensibilität für die Lebensprobleme, die mit Selbstbewusstsein verbunden sind. Er ist kein ausgebildeter Philosoph, aber ein erfahrener Exeget von Tiefendimensionen der Selbsterfahrung. Auch Max Weber war kein ausgebildeter Philosoph. Aber er hatte das Interesse, ein Problem darzustellen, ohne es vorzeitig zugunsten einer Eindeutigkeit aufzulösen, die zwar für seine Leser als Orientierungshilfe willkommen sein mag, aber letztlich die Offenheit der Philosophie reduziert. Weber wird man immer wieder neu durchdenken können. Er hatte übrigens Freude am puren Argumentieren. Das hatte Jaspers in dieser Form nicht. Er ist immer Arzt und als solcher Diagnostiker und Therapeut. Er sieht sich nicht jemandem gegenüber, mit dem er jetzt in ein gemeinsames architektonisches Entwerfen und dabei in eine Art Wettkampf eintritt. Ärzte tauschen eher Einsichten und ­Beobachtungen aus. Als ob im Hintergrund immer die Frage steht, wer der bessere Diagnostiker ist. Er hielt seinen Schwager Ernst Mayer, der Arzt war, für den wahren Mitphilosophierenden.

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Der Nachlass von Jaspers zeigt in der Tat, wie viel er Ernst Mayer verdankte. Was Jaspers eigentlich mit Heidegger besprochen hat, würde man gern genauer wissen. In ihren frühen Jahren waren das wohl wirkliche Gespräche. Jaspers wird die Person Heidegger besser durchschaut haben als dieser ihn. Aber Heidegger setzte das denkerische Niveau seines «Kampfgefährten» eher sehr niedrig an. Die Philosophie von Jaspers ist vielleicht in mancher Beziehung so etwas wie Weisheitslehre. Wenn die theoretischen Probleme den Philosophen so sehr in Anspruch nehmen, dass er gar nichts mehr darüber sagen kann, was Lebensbedeutung hat, so ist das auch eine Deformation. Es gab die Gestalt des Weltweisen, der – wie jener Bauer in einem ­chinesischen Spruch – aus seiner Erfahrung heraus Wahrheiten ausspricht, die dem Philosophen entgehen. Kant sagte allerdings, dass wahre Weisheit sich nur nach dem Durchgang durch die ‹enge Pforte› der Wissenschaft entfalte. Aber zurück zu Ihrer Münchner Zeit. Neben Ihrem Ziel, philosophische Positionen systematisch zu entfalten, setzten Sie Ihre historischen Forschungen fort. Diese hielten mich auch in dem, was sie an Aufmerksamkeit und Zeit verlangten, von der weiteren Ausarbeitung eigener philoso­ phischer Werke ab. Von früh auf wollte ich etwas schaffen, was ­einem strengen wissenschaftlichen Maßstab genügt und zudem eine neue Blickbahn öffnet. Das ist nur in der mathematischen Naturwissenschaft und auf ganz andere Weise in der historischen Forschung möglich. In beiden Bereichen ist das Tempo, in der eine ­Unternehmung zum Ziel kommt, von der Verwicklung der Pro­ blemlagen und anderen Umständen abhängig. Sie können einen dazu zwingen, immer mehr Zeit und Kraft für Nebenwege aufzuwenden. Ich gelangte zudem dahin, in dem Bereich der Geschichte der Philo-



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sophie zwei neue methodische Ansätze zu entfalten: die historischinterpretierende Konstellationsforschung und, als einen Ansatz, der bedeutende Texte der Vergangenheit fruchtbar aufzuschließen vermag, die argument-analytische Interpretation. Mit dieser Programmformel war eine Kritik an dem verbunden, was von Positivisten und analytischen Philosophen die «rationale Rekonstruktion» genannt worden war. Können Sie das näher beschreiben? Die analytische Philosophie hat sich lange Zeit den klassischen Texten in der Meinung zugewendet, sie behandelten zwar auch heute noch fortbestehende Probleme; aber sie hätten nicht die Möglichkeit gehabt, sie richtig zu formulieren, und noch weniger die Mittel, sie angemessen aufzulösen. Sie wollten zeigen, wie man die Fragen besser stellen und dann auch fehlerfrei beantworten kann. Der behandelte Autor war also nur der Anlass, die eigenen Mittel aufzubieten. Zwar habe zum Beispiel Kant in der Kritik der reinen Vernunft argumentiert, aber eben mit allerlei inadäquaten Mitteln und ohne die begrifflichen und methodischen Finessen, über die man heute verfügt. Sie waren anderer Meinung? Dem stellte ich das Verfahren der argument-analytischen Interpretation entgegen. Sie betrachtet die Potentiale, die ein Autor im Laufe seiner Arbeit erkennen lässt, und überlegt, wie weit es ihm gelungen ist, diese Potentiale in seinem Werk zu entwickeln. Man kann weiter versuchen, aus diesen Potentialen eine bessere Argumentation und vielleicht eine veränderte Theorieformulierung zu gewinnen, doch immer nur mit Mitteln, die eigentlich auch dem Autor zur Verfügung gestanden hätten. Man erklärt zwar, was der Autor selber wirklich ausgeführt hat, aber dies muss nicht der beste Begründungsweg sein, den er hätte begehen können. Auf diese Weise kann man die Potentiale verdeutlichen, die einer historisch

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bedeutsamen Position auch weiterhin innewohnen. Diese Methode des Umgangs mit klassischen Texten habe ich schon in meiner Dissertation über Max Weber angewendet, dann über Jahrzehnte auch an Hegel, aber vor allem an Kant geübt und in einem Buch am zentralen Lehrstück der Kritik der reinen Vernunft demonstriert.34 Wie positionieren Sie in diesem Zusammenhang Ihr Buch über Fichtes ursprüngliche Einsicht? Das ist etwas anders. Darin will ich mit Hilfe dessen, was der Autor entwickelte, etwas Eigenes deutlich werden lassen, unter ­ Subtraktion von einigem, was er ebenfalls beabsichtigt hat. Die Kant-Interpretationen dagegen lassen sich immer noch als kantische Lehre ausgeben. Man kann sie kritisieren und sagen, da liegt aber doch eine systematische Fehlentscheidung in den Prämissen, aber man kann das nun ganz anders diskutieren. Man muss nicht mehr über Intentionen, die der Autor verfolgt hat, einfach hinweggehen. Wenn Textexegese ein historisches Verfahren ist, so ist dies eine Exegese nicht dem Wortlaut, sondern den Potenzen nach. Ich habe längere Zeit gebraucht, um das Verfahren auf andere Weise ebenso im Zusammenhang von Hegels gesamtem System anwenden zu können. Wie verhält sich das zu Ihrem Projekt der Konstellationen in ­Tübingen und Jena? Ging es dabei auch darum, die Potentiale der klassischen Texte besser zu verstehen? Dies ist ein Verfahren eigentlicher Feldforschung. Während die argument-analytische Interpretation die Potentiale klassischer Werke heraushebt, schafft die Feldforschung Quellen herbei, aus deren Kenntnis sich neue Perspektiven auf diese Werke ergeben –

34  Dieter Henrich, Identität und Objektivität. Eine Untersuchung über Kants transzendentale Deduktion, Heidelberg 1976.



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auf ihre Genesis und auf ihre Wirkung. Man weiß ja, dass der Auftritt von Kant in seiner Zeit eine gewaltige Wirkung hatte. In dieser Zeit zeichneten sich ohnehin tiefgehende Veränderungen ab  – sie zeigten sich an in der Religion, der Literatur und fanden in den politischen und sozialen Wandlungen in Frankreich den deutlichsten Ausdruck. Moses Mendelssohn, der damals angesehenste deutsche Philosoph, war durch Kants Kritik der Metaphysik als Wissenschaft erschüttert und wusste, dem kann er selbst nichts mehr entgegensetzen. Er nannte Kant den «Alleszermalmer». Er hoffte jedoch, dass Kant, nachdem er die Leibniz-Wolff’sche Philosophie auseinandergenommen hatte, sich nun genauso intensiv an einen neuen Aufbau machen werde. Man betrachtete Kant zunächst vor allem als einen Destrukteur? Für junge Leute hatten Kants Schriften eine ganz andere, ungeheure Anziehungskraft, nicht zuletzt wegen seiner Freiheitslehre. Diese war eines der Denkmotive, die Kant von Rousseau aus neu konzipiert hatte. Die Philosophie des 18. Jahrhunderts tendierte zum Determinismus. Man hatte die psychologische Raffinesse dafür erworben; man sah, wie hinter vielem, was rationale Begründung für sich in Anspruch nahm, andere Antriebe wirken. Der Empirismus hatte auch in der Ethik mit David Hume und seinem Schüler Adam Smith große Subtilität erreicht. Es wurde also sehr wahrscheinlich, dass die Philosophie nun den Mechanismus der menschlichen Seele offenlegen werde. Einen ähnlichen Rückenwind erfuhr jüngst die Hirnforschung. Es gab zwar auch andere Denker wie Tetens und Lambert, die an einer neuen Gründung arbeiteten. ­ Aber die Kritik der reinen Vernunft eröffnete – in vorher unbekannter Tiefe und Neuausrichtung  – ein Tor zu einer selbstbewussten Vernunft- und Freiheitslehre. Junge Leute wie Fichte und Schiller waren in ihrem Zentrum getroffen und inspiriert. Stellen Sie sich

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einmal vor, heute würden so bedeutende Köpfe auf einen Philosophen eine völlige Konversion zurückführen und ihm ihre Befreiung aus scheinbar unabwendbarer Bedrückung bewegt danken! Schiller hat seine Dankbarkeit gegenüber Kant niemals verschwiegen. Erinnern Sie sich an Schillers Brief, in dem er Kant seinen Dank ausspricht für das «wohltätige Licht», das er in seinem Geiste verbreitet habe, und dann die Bedeutung dieses Lichtes mit kantischen Worten aus dessen Theorie von Raum und Zeit charakterisiert: Sein Dank sei «wie das Geschenk, auf das er sich gründet, ohne Grenzen und unvergänglich».35 Kants philosophisches Werk hat in Schiller, dem Könner der großen Geste und der großen Gedankenführung, eine Dankbarkeit ausgelöst, die unermesslich ist. Stellen Sie sich so ein Ereignis heute vor! Man hatte mit diesem Werk eine Vorgabe, welche die Bedeutung der Philosophie auf eine vorher gar nicht absehbare Höhe hob. Die kantische Philosophie wurde unter den Gelehrten und ­Studenten sofort diskutiert. Sie zog alle Aufmerksamkeit auf sich und erzeugte schnell innere Kontroversen. Sie provozierte zudem Einwände eigenständig denkender Zeitgenossen. In diesem Kraftfeld wurden die jungen kan­ tischen Freiheitsfreunde zu eigenen systematischen Leistungen inspiriert, die dazu dienen sollten, Kants Werk zu vollenden. Insgesamt entstand eine explosive Situation, welche die Philosophie eine Höhenbahn ziehen ließ, der zuvor nur einmal, nämlich im Athen Platons, etwas in Dichte und Intensität entsprochen hatte. Ich bezeichne die Voraussetzungen solcher Kreativität als eine Konstellation. Man muss den komplexen Wechselbezug aller ihrer 35  Schiller an Kant, Brief vom 13. Juni 1794.



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Komponenten und der in ihr wirkenden Personen im Blick haben, um das Verhalten, die Entwicklung und die Wirkung aller verstehen zu können. In dieser Wechselbeziehung und über die Anregungen und Herausforderungen, die sich mit ihnen stellen, ergibt sich eine brisante, in der Höhenlage anspruchsvolle und weithin wirksame Kreativität des Denkens und der Ausbildung von philosophischen Konzeptionen. Hatten Sie für diese Art der Betrachtung Vorbilder? Man möchte erwarten, dass in der langen Zeit, in der diese Epoche in der Kultur des Landes und in der Forschung so viel Aufmerksamkeit an sich band, eine solche Erkenntnis längst zur Wirkung gekommen sein sollte. Aber der Rang und das schiere Gedanken- und Textvolumen einer jeden dieser bedeutenden Gestalten in dieser bewegten Zeit haben dem offenbar entgegen­ gestanden. Die Forschung blieb in jeweils einer dieser Gestalten zentriert oder auf eine der zahlreichen Beziehungen innerhalb der Konstellation ausgerichtet. Das hatte zur Folge, dass Gesprächslagen, innerhalb derer sich das Werk der Großen der Epoche überhaupt erst formierte, der Aufmerksamkeit weitgehend entgingen. Als ich mich in die Ergebnisse der Forschung einarbeitete, die zur Zeit meines Studiums vorlagen, ließ mich diese ohne jeden Aufschluss über eine Frage, die doch schon als eine Grundfrage allen vor Augen stand: wie es sich nämlich verstehen lässt, dass in dem einen Bau des ­Tübinger Stifts drei Œuvres von höchster Bedeutung von Schelling, Hegel und Hölderlin auf ihren Weg gebracht wurden. Und zwar so, dass sie bereits zu einer Zeit, in der Kant noch neue Werke erscheinen ließ, sich dem Meister sogar in dessen Spuren entgegenstellten und Konzeptionen von neuem Zuschnitt entwerfen konnten.

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Das passierte alles in sehr kurzer Zeit. Binnen weniger Jahre. Es war ein Aspekt der Aufgabe, die sich mir stellte, diese enorme Geschwindigkeit der Wandlungen zu erklären. Wie sind Sie dabei vorgegangen? Hier können wir wieder auf München eingehen. Das bayerische Wissenschaftsministerium legte damals ein Förderprogramm für die «Spitzenforschung» auf, und Hans Maier verlangte, dass auch die Geisteswissenschaft davon profitieren solle. So suchte das ­Ministerium nach geeigneten Projekten. Man stieß auf meine vorausgehenden Forschungen, und so erhielt ich ein großzügiges Angebot, für das ich keinen Antrag hatte stellen müssen. Man hätte es schwerlich zurückweisen können. Aber mit der Annahme war ich nun auch gebunden und zu einem wirklichen Abschluss mehr als durch mich selbst verpflichtet. Das Programm war damals auch ­politisch besonders attraktiv – wegen seiner gesamtdeutschen Zentrierung. Vom westdeutschen Boden aus stellte es sich als Jena-Programm vor – also mit einem Zielort in der DDR. Meine Vorarbeit innerhalb der Internationalen Hegel-Vereinigung eröffnete mir ­einen leichteren Zugang zu den Archiven in der DDR. Dort wurde ich dann gelegentlich geradezu begeistert begrüßt. Wie haben sich Ihre historischen Forschungen entwickelt? Es war wie die Bewegung eines Schneeballs im hohen pappigen Schnee. Neue Materialien und neue Ansätze akkumulierten sich in für meine Kräfte bedrohlicher Fülle. Zwei Jahrzehnte später, nachdem das Programm immerhin in seiner zentralen Leitlinie abgeschlossen war, gingen etwa achthundert volle Ordner mit Forschungsmaterial als Grundlage für weitere Arbeiten nachfolgender Philosophiehistoriker an die Universitätsbibliothek in Tübingen.



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Dadurch, dass Sie auch unveröffentlichte Texte aus diesen Jahren studierten, sind Sie tief in die Diskussionen der Zeit eingetaucht. Das war der Zwang der Sachlagen. Ich musste mit den Zeitgenossen denken, das Erscheinen von Ausgaben der wichtigen Zeitschriften mit ihrer Erregung erfahren. Dass ich eine Biographie des Repetenten Diez schreiben konnte, von dem zuvor nichts als der Name überliefert war, ergab eine besondere Art von Erfahrung. Mir schien es manchmal so, als würde ich einem vergessenen Toten in sein ganzes Leben wieder heraufhelfen können. Aber es hat eben eine über viele Jahre anhaltende Mühe und Konzentration gekostet. Die archäologische Aufklärung konnte ja nur mit Hilfe einer großen Zahl der verschiedensten handschriftlichen Quellen gelingen. Wo haben Sie die Quellen entdeckt? Das war schwere, auch geduldige Arbeit. Wir mussten ja litera­ rische Nachlässe auch in Privatbesitz suchen. Ich musste aufwendige Nachlassforschungen betreiben, die wegen der Mühseligkeit und langen Dauer auch von großen Instituten vernachlässigt werden. Wie findet man einen Nachlass, den man für eine Edition benötigt – etwa um die Gegenbriefe zu ermitteln oder deren Verlust zu dokumentieren? Auch ein derartiger negativer Beweis ist für eine Edition eigentlich ein notwendiges Desiderat. Worin bestand Ihre Methode genau? Man muss alle Nachkommen und deren Generationenfolge und Erbgänge in Übersicht bringen und dann dort suchen, wo die Möglichkeit der Überlieferung gegeben ist. Sie besteht kaum etwa bei weiten Umzügen der Nachkommen. Als Beispiel erwähne ich Gottlob Christian Storr, den wichtigsten theologischen Lehrer dieser Generation, den sie alle bewunderten wegen seines Scharfsinns. Für sie war dieser dogmatische Theologe wichtiger als viele Philosophen, wegen der systematischen Organisation seiner antikantischen Dog-

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matik. Er war also kein leichter Gegner und außerdem eine verehrungswürdige Person. Diez hat mit ihm diskutiert, und das hat dann wieder Storr vor Augen geführt, dass er etwas tun müsse gegen den Kantianismus, der sich unter den Studenten rasant ausbreitete. Wenn man an einer Edition der Schriften von Diez arbeitet, möchte man natürlich Näheres von Storrs Äußerungen zur Krise seiner Lehre und über seine abtrünnigen Schüler erfahren. Also muss man den Nachlass von Storr zu finden suchen, der in keinem öffentlichen Archiv überliefert ist. So sind wir die Familie durchgegangen und haben die jeweiligen wahrscheinlichen Erben ermittelt. Auf diese Weise haben wir nach Jahren einen zentralen Teil des Nachlasses wirklich gefunden. Er liegt in Stuttgart als Privatbesitz eines Rechtsanwalts, nur ein paar hundert Meter von der Landesbibliothek entfernt, in der man von alldem nichts wusste. Es ist allerdings nicht der ganze Nachlass. Nach meiner Erfahrung ist es immer wichtig, dass ein solcher Nachlass von den Erben irgendwann geordnet wird. Sehr große Bestände werden von Familien kaum über Generationen hinweg aufbewahrt. Die Suche nach den Nachlässen war für meine Konstellationsforschung so wichtig, weil es zunächst in dem Bereich der vermuteten missing links nur sporadische Hinweise und fast gar keine Bestände in öffentlichem Besitz zu geben schien. Reizte Sie an der historischen Forschung immer auch ihre organisatorische und handwerkliche Seite? Ich sprach schon davon: Mein eigentlicher erster Lehrer in der Universität war doch Gero Merhart von Bernegg, Professor für Urgeschichte in Marburg. Durch ihn wurde ich vertraut mit vergleichbaren Verfahren der Erschließung von Unbekanntem: Aus fast nichts entsteht manchmal das Lebensbild einer ganzen Kultur!



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Hat Ihr Interesse für das Tübinger Stift auch mit Ihren Erfahrungen im Collegium Academicum zu tun? Wir beriefen uns damals in der Tat auf das Tübinger Stift als Kreativitätsquelle, wussten aber wenig von dem, was es gewesen war. Später kam bei mir noch die Entdeckung Hölderlins als Philosoph dazu, die eigentlich nicht aus dieser Forschung hervorging. Uns ging es ja um die Generation vor Hölderlin, Hegel und Schelling, die im Wechselbezug und über ihren Studienort erst verstehbar werden könnten. Welche Entdeckungen in Bezug auf Hölderlin haben Sie gemacht? Als ich nach Heidelberg zurückging, war meine Aufmerksamkeit auf Hölderlins Fragment Urtheil und Seyn gerichtet, das 1961 zum ersten Mal veröffentlicht worden war. Der Text war bis dahin völlig unbekannt. Man wusste, dass Hölderlin ein Philosoph war und wichtig für Hegel, schon durch ihre gemeinsame Zeit in Frankfurt, aber man hatte keine Dokumente von größerer Aussagekraft. Gerade von diesem Autograph erfuhr ich dann ein paar Jahre später, dass die Schocken Library in Jerusalem es über das Auktionshaus Hauswedell in Hamburg versteigern ließ, als eines von zwei Hölderlin-Fragmenten. Ich konnte eben noch die Württembergische Landesbibliothek alarmieren. Sie sammelte binnen Tagen eine erhebliche Summe und brachte eine Einigung mit einem potenten Schweizer Sammler zustande, dass er das andere Fragment ersteigern werde. Der so seltene philosophische Text konnte erworben und der Forschung zugänglich gemacht werden. Eine Sensation! Gadamer bezweifelte Hölderlins Autorschaft. Wirklich war der Text so ungewohnt, dass der Nachweis anstand, dass Hölderlin wirklich der Autor war. Daraus ergab sich ein weiterer Anstoß für die Konstellationsforschung – in diesem Fall primär auf Jena bezo-

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gen, wo sich Hölderlin in der Entstehungszeit des Textes aufgehalten hatte. Ich musste nun den Umkreis von Hölderlin in Jena und dann in Bad Homburg in die Feldforschung einbeziehen. Das war für sich schon ein gewaltiges Unternehmen.36 Enthielt für Sie die damalige Konstellation einer Gemeinschaft von gleichgesinnten Philosophen auch ein sozusagen utopisches Element? Hätten Sie selbst gewünscht, in solch einer Konstellation zu leben? Ja, das hätte ich schon gerne. Ich weiß aber nicht, ob sie gerade für mich produktiv geworden wäre. Mir hat sich immer ein Durchblick eher im Zögern und beharrlichen Nachfragen, dann aber plötzlich erschlossen. Sie hatten als historischer Forscher und Philosoph die Chance, mit den damaligen Protagonisten in ein virtuelles Gespräch zu treten. Ich kann mir vorstellen, wie Hegel oder Hölderlin innerlich ihr Leben und Denken erfuhren. Ich denke, dass mir die Lebenserfahrungen und die Passagen der Wandlung deutlich geworden sind, aus denen sie ihre Folgerungen gezogen haben und schließlich ganz mit sich allein ihre epochalen Werke schaffen konnten. Handelt es sich also um eine Art historisch verstehender Philosophie? Ja, das kann man schon so nennen. Es war kein Kalkül, sondern die Erschließung von Grundzügen eines Universums, in das man sein eigenes Leben einschreiben kann. Aber die damaligen Leistungen sind eben bis heute singulär. Ich habe, zum Beispiel, in Harvard unter Mitwirkung von Hilary Putnam mit einem ame­

36  Dieter Henrich, Hölderlin über Urteil und Sein. Eine Studie zur Entstehungsgeschichte des Idealismus, in: Hölderlin-Jahrbuch 1964/65, 1967, S. 73–96.



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rikanischen Literaturwissenschaftler eine vergleichende Lektüre von Hölderlin, Wordsworth und Shelley angeboten. Dabei stellte sich für die Amerikaner heraus, Hölderlin ist im Ausgriff und in der Verdichtung seiner Oden und Hymnen eine Qualitätsstufe für sich. Auch in Ihrem letzten Buch Sein oder Nichts. Erkundungen um Samuel Beckett und Hölderlin geht es um eine Art virtuellen Dialog. Haben Sie Beckett auch persönlich kennengelernt? Heute bedaure ich, dass ich der häufigen Aufforderung seines deutschen Verlegers Siegfried Unseld nicht folgte, mit ihm zusammen Beckett zu besuchen. Es wäre gut gegangen. Ich hatte aber die Besorgnis, dass er mich spöttisch abtut als noch so einen Professor und ich darauf nicht recht zu reagieren wüsste. Dabei gab es damals schon so etwas wie eine Verbindung, die allerdings Jahre zurücklag. Beckett hatte sein Stück Spiel dem von ihm sehr geschätzten Schauspieler und Regisseur Derryk Mendel zur Uraufführung in Ulm und in deutscher Sprache übergeben. Dazu entstand ein Programmheft, und ich wurde gebeten, dafür etwas zu schreiben.37 Vorher hatte ich schon einiges für Programmhefte geschrieben. Beckett, der nie in die eigenen Premieren ging, hat sich die Generalprobe angesehen und ist dann in die Ferien gefahren – irgendwo in den Alpen. Das Programmheft wurde ihm geschickt, in dem es nur zwei Aufsätze gab. Und das hat er dann ungewöhnlich freundlich kommentiert: «All serious and interesting.» Darauf hätte ich mich beziehen können, wenn ich zu ihm gefahren wäre. Ich hatte damals schon geschrieben, dass in Beckett etwas zur Sprache kommt, was die Philosophie allererst einholen muss. Erst jetzt habe ich durch die Edition seiner Briefe erfahren, dass er meinen Aufsatz gelesen hatte. Er

37  Dieter Henrich, Samuel Becketts Spiel, in: Ulmer Theater, 1963; auch in ­Fixpunkte, Frankfurt am Main 2003.

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hätte mich doch wohl angehört, und ich hätte viel aus ihm herausfragen mögen. Ich habe ja nicht viele große Persönlichkeiten näher kennengelernt. Doch wen in unserer Zeit kann man schon einen Großen nennen und mit Hölderlin vergleichen! Die historische Forschung ist bei Ihnen immer eine Art des ­Gesprächs, des Umgangs mit denen, die Ihnen wichtig sind. Dabei geht es Ihnen vor allem um die Rekonstruktionen der Perspektiven, aus denen gedacht wurde. Wenn Sie sich den Band über Diez anschauen, so werden Sie ­sehen, dass dies mit Tausenden von Recherchegängen eine gewaltige Arbeitsaufgabe war.38 Die Edition war viel mühsamer und langwieriger als die Interpretation, die an sie anschloss.39 Da schon so viel Kraft eingesetzt war, wollte ich nicht vorzeitig abbrechen. Der Anstoß erfolgte 1962, als Döderlein mir in München von den Briefen berichtete, fertig war das Buch dann 1997. Ich erinnerte mich oft an eine Bemerkung des früh gestorbenen Musikwissenschaftlers Carl Dahlhaus: Projekte machen könne jeder, aber sie wirklich bis zu Ende auszuführen, das sei die seltene Ausnahme. Die Konstella­ tionsforschung hinsichtlich Hölderlin ist so weit gebracht, dass sie überzeugend dasteht, und inzwischen bauen ja sehr viele darauf auf. Ich stelle immer wieder fest, dass eigentliche Recherchen nur noch selten stattfinden. Was wir damals gemacht haben, erscheint vielen als gar zu mühsames Verfahren. Mir gibt das Bewusstsein, ein komplexes Forschungsprogramm zu Erfolgen geführt zu haben,

38  Carl Immanuel Diez, Briefwechsel und Kantische Schriften. Wissensbegründung in der Glaubenskrise. Tübingen – Jena 1790–1792, hrsg. v. Dieter Henrich, Stuttgart 1997. 39  Dieter Henrich, Grundlegung aus dem Ich. Untersuchungen zur Vorgeschichte des Idealismus. Tübingen  – Jena 1790–1794, 2  Bände, Frankfurt am Main 2004.



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ein gutes wissenschaftliches Gewissen angesichts der Philosophie, welche ja dieselbe ausweisbare Verlässlichkeit nicht erreichen kann. Sie ist keine Wissenschaft im selben Sinn, obwohl sie eine ganz andere, auch inkommensurabel höhere Argumentationsleistung zu erbringen hat. Dabei sind ganz andere Weisen von Verantwortlichkeit und Strenge für sie verbindlich. Wie hat Ihre philosophiegeschichtliche Forschung Ihr philosophisches Denken beeinflusst? Aus der Konstellationsforschung habe ich wenige Impulse bezogen. Aus Hölderlin deutlich mehr. Aber diese Art von Anstrengung, die bei der historischen Forschung notwendig ist, scheint mir derzeit nicht richtig eingeschätzt zu werden. Es gibt wenige Themen, die so viel Aufschluss versprechen. Aber die Konstellationsforschung ist inzwischen ein viel zitiertes Verfahren; andere Anwendungsfelder kamen in den Blick. Haben Sie im Rückblick einmal gedacht, es wäre besser gewesen, in dieser Zeit etwas anderes getan zu haben? Der Gedanke kam mir schon manchmal. Aber eines stand mir eben doch immer deutlich vor Augen: Die Überlegungen, die dich auf diesem Gebiet leiten, sind solide und schlüssig; die Ergebnisse, zu denen du gelangst, werden standhalten. In der Forschung konnte ich im direkten Zugang zu Ergebnissen kommen; im Philosophieren musste ich zuallererst einen Grund gewinnen. Doch wenn ich mit mir selber umgehe, spielt die Konstellationsforschung keine Rolle. Gleichwohl bin ich nicht sicher, ob ich ohne sie in der Philosophie auf entscheidende Weise weitergekommen wäre. In meinem informellen Denken, das kaum je stillsteht, und in meiner Lehre wirkten sich meine Grundmotive in der Philosophie doch jederzeit aus, spannen sich im Hintergrund der Forschung fort und kamen allmählich zu ihrer Reife.

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Wie haben Sie die Zusammenarbeit mit anderen Editoren erlebt? In München waren ja in der Akademie der Wissenschaften drei Editionen zur gleichen Zeit ansässig: neben Fichte auch Schelling und Friedrich Heinrich Jacobi, die beide einmal Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften gewesen waren. Jede der drei kleinen Forschungsgruppen war vollkommen auf sich bezogen und gegen die anderen abgeschlossen. Die Mitarbeiter sprachen nur gelegentlich miteinander. Vielleicht liegt das nicht ganz fern, wenn man nur Texte entziffert. Aber für mich, dem es um Aufschlüsse aus der Konstellation ging, war das eine durchaus befremdliche Situation mit durchaus kontraproduktiven Folgen für die Ausgaben. Zu Hegel musste man übrigens nach Bochum fahren. Kant wurde in Göttingen ediert. All dies ist eine Folge des deutschen Föderalismus. Die DDR hatte ein Akademie-Institut für Philosophie und hätte solche Ausgaben sicher an einem Ort angesiedelt. Und das ist auch richtig – wegen der wechselseitigen Anregungen, auch der Konkurrenz und informellen Kontrolle. Die großen Philosophen, die in direkter Beziehung zueinander gearbeitet haben, sind, was ihre Erforschung betrifft, auf die jeweils gerade meistbietenden Länder und auf Leiter mit eingehegten Hoheitsbereichen zersplittert. Wer ist für solche Entscheidungen verantwortlich? In den Nachkriegsjahren waren die Editionen an die Deutsche Forschungsgemeinschaft gekoppelt. Das bedeutete, dass sie nach ­einigen Jahren neu bewilligt werden mussten. Darum hat die Forschungsgemeinschaft diese Zuständigkeit an die Akademien der Wissenschaften übertragen wollen. Ich riet damals entschieden ab, weil die Akademien gar keine zureichende eigene Kompetenz für die Beaufsichtigung von solchen Forschungsunternehmungen haben. Aber der Föderalismus hat sich durchgesetzt und in der Sache nicht viel Gutes gestiftet. Für mich war die Situation in München –



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ich war bald Akademie-Mitglied – grotesk; ähnlich wie bei den philosophischen Lehrstühlen gibt es bis heute keine Koordination. Ich bin der Meinung, dass sogar das System der russischen AkademieInstitute, das die DDR übernommen hat, besser wäre. Kommen wir von der historischen Forschung zurück zur Philosophie. Wie vollzog sich das philosophische Leben in München? Weltoffen. Ich konnte beispielsweise mehrfach zusammen mit Philosophen der Kyoto-Schule hier oder in Japan zu Kolloquien einladen. In München kam es zu einer anhaltenden philosophischen Zusammenarbeit mit dem bedeutenden Theologen Wolfhart Pannenberg, der mir schon aus der Zeit kurz nach dem Studium bekannt war. Wir haben eine Reihe von Seminaren gemeinsam veranstaltet, die einen gewissen Nachruhm genießen. Was waren die Themen? Es ging im weitesten Sinn um Philosophisches: den Gottesgedanken und seine Genesis im menschlichen Geist, Begriffe der Endlichkeit, über die Person, das Absolute. Das waren theologisch-philosophische Seminare. Pannenberg hat mich immer geradezu ermahnt: Sie müssen eine Metaphysik ausformulieren. Er bedurfte ihrer und traute mir zu, eine solche zu verfassen, die in der philosophischen Gegenwart standhält. Gab es besondere Orte des philosophischen Gesprächs? Zu vielen gewichtigen Begegnungen kam es auch durch die Vorträge innerhalb der Carl Friedrich von Siemens Stiftung. Ich nahm an ihren Aktivitäten gern teil. Hier konnte ich sogar – in hohem Alter und unter ganz anderen Umständen – Wilhelm Anz, längst Ordinarius-Kollege an einer Kirchlichen Hochschule, als Vortragenden begrüßen. Er wusste gar nichts von der sehr großen Bedeutung, die er für mich in der Sexta im Marburger Gymnasium gewonnen hatte.

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Konnten Sie Ihre transatlantischen Verbindungen in München fruchtbar machen? Mir war es möglich, etwas einzurichten, was Modellcharakter haben könnte: die sogenannten Kant- und Schelling-Professuren. Da das Ministerium mir die Harvard-Urlaube weiter gewährte, stand alle zwei Jahre Geld zur Verfügung für Gastprofessuren, zu denen ich einladen konnte. Es kamen für jeweils zwei Sommermonate zu regulären Vorlesungen die Philosophen Peter Strawson, Hilary Putnam, Paul Ricoeur, Elizabeth Anscombe und Donald ­Davidson. Die Studenten begrüßten die Möglichkeit, führende Köpfe der analytischen Philosophie auch in Seminaren kennenzulernen, außerordentlich. Doch brachte die Gastgeberrolle nicht nur Gewinn. Sie beanspruchte auch die Kompetenz im persönlichen Austausch und brachte erheb­ liche zusätzliche Arbeit mit sich. Das Ministerium hätte das Programm nach meiner Emeritierung gern fortgeführt und war bereit, nach meinem Abschied von Harvard dafür Sondermittel einzusetzen Aber das Institut konnte sich leider nicht dazu entschließen. Kannten Sie Donald Davidson schon aus Ihren amerikanischen Jahren? Donald Davidson lernte ich näher auf einer Konferenz in Wien kennen. Ich hatte mir vorgenommen, ihn wegen einiger Fragen zum Thema «Subjektivität» anzusprechen. Dann kam er mir aber nach ­einer Diskussion, die ich leitete, zuvor. Er sprach mich an und sagte: Ich verstehe fast kein Deutsch, aber Sie haben so wunderbar gesprochen. Er lud mich privat zu sich nach Amerika ein; ich habe ihn dort bald mehrfach besucht. Ich sprach mit Davidson oft über Selbstbewusstsein, dafür hatte seine Frau ein besonderes Interesse, denn sie war philosophierende Psychoanalytikerin. Dann lud ich Davidson Anfang der 90er Jahre zu einer der Vorlesungsreihen nach München ein.



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Wie entwickelte sich Ihr Verhältnis zu Donald Davidson? Mit Davidson ergab sich eine späte Freundschaft. Das war etwas ganz Überraschendes und ein wichtiger Ersatz für meine Präsenz in Harvard. Davidson war ein ganz naher Freund von Quine, mit dem er einige Weltreisen gemacht hatte. Mit ihm diskutierte ich über Quine, das war höchst aufschlussreich. Ich hatte dessen Vorlesungen gehört, aber Davidson konnte mir nun seine Kontroversen mit Quine im Detail nahebringen. Von ihren Auseinandersetzungen hatte ich schon in Heidelberg manches mitbekommen  – etwa als 1981 einer der Hegel-Kongresse stattfand und ich nachher zu einer internen Konferenz einladen konnte, an der neben Putnam und Rorty auch Quine und Davidson teilnahmen. Und so kam es zu ­einem viel zitierten Austrag von Kontroversen der Analytiker auf deutschem Boden. Ich hatte damals die Hoffnung, ich könne helfen, die Diskussion in Deutschland auf die gleiche Ebene zu heben  – mindestens über die Schülergeneration. Über Donald Davidson lernten Sie in München auch den Dirigenten Sergiu Celibidache kennen. Wie kam es zu Ihrer Begegnung? Davidson war sehr musikalisch; seine Wahrnehmung von Stimmführungen gehört auch dazu. Er und seine Frau spielten in Berkeley an zwei Flügeln in einem eigenen Musikraum ihres Hauses. Also besorgte ich ihm Karten für ein Konzert mit Celibidache und besuchte es mit den beiden. Der Abend wurde für mich zu einem Konversionserlebnis: Die herausragende Qualität dieser musika­ lischen Präsentation hat mich geradezu erschüttert. Ich suchte und erreichte dann auch eine Nähe zu dem Dirigenten während seiner letzten Lebensjahre. Die Freundschaft mit Davidson bestand bis zu seinem plötzlichen Tod fort. Wenn er nach Deutschland kam, hat er ein Treffen vorgeschlagen, das dann bis tief in die Nacht dauern konnte.

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In Ihre Münchner Zeit fielen auch einige Ihrer politischen Ver­ öffentlichungen – und die deutsche Einheit! Ich hatte zunächst einen kleinen Aufsatz mit dem Titel Nuklearer Frieden40 geschrieben, der sich hauptsächlich an die DDR richtete. Dieser führte zu einer Initiative der «Stiftung Wissenschaft und ­Politik», die damals noch in Münchens Umland sesshaft war. Sie trug die Verantwortung für ein Programm der Ford Foundation, in dem es darum ging, die Situation der nuklearen Bedrohung in allen ihren Zusammenhängen auszuloten. Die paradoxe Formulierung des Titels des Aufsatzes richtete sich gegen den allgemeinen Ausdruck «nuklearer Krieg». Es ging in jenem Programm auch um die Möglichkeit, eine Friedensordnung unter der weltgeschichtlichen Tatsache der nuklearen Bedrohung anzustreben. Im Grunde ein Weber’sches Thema. Ganz richtig! Es war die Hegel’sche, aber auch Weber’sche Art, eine Gesamtsituation in ihren Möglichkeiten und Bedrohungen im Horizont der Lebensführung zu analysieren. Der Aufsatz, der eine kulturdiagnostische Tonart hatte, kam in die Hände der Amerikaner, die das erwähnte Programm planten, und sie luden mich ein. Zwar hatte ich eine These, die übrigens auch in einer Ethik, die ich immer schreiben wollte, eine Rolle gespielt hätte, aber ich war noch in der Konstellationsforschung engagiert und wollte mich nicht in ein weiteres Unternehmen binden. Aber die Stiftung machte mir klar, dass ich eine wiederholte Einladung durch die Amerikaner in einer solchen Sache als Deutscher nicht ablehnen dürfe. So nahm ich schließlich an der Arbeit teil. Das Buch er-

40  Dieter Henrich, Nuklearer Frieden. Gastkommentar für die Zeitschrift «Dia­lektik» Nr. 4, 1982, S. 11 ff., auch in: ders.: Konzepte, Frankfurt am Main 1987, S. 103 ff.



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schien allerdings genau zu dem Zeitpunkt, als die nukleare Konfrontation im Ost-West-Konflikt zusammenbrach. Ich musste also noch ein Nachwort schreiben, um das Buch in die Gegenwart zu stellen.41 Die Ereignisse in Deutschland hatten mich indessen wirklich elektrisiert. Wo waren Sie damals? Ich verfolgte die Dinge im Fernsehen. Ich sah in Leipzig die Demonstrationen, eine Flut von schwarz-rot-goldenen Fahnen ­ ohne Hammer und Zirkel. Ich traute meinen Augen nicht. So etwas ist doch nicht möglich! Mir kamen sogar die Tränen wie schon im Jahr zuvor, als Honecker seinen Staatsbesuch in der Bundesrepublik gemacht hatte und ich hörte, wie die Bundeswehr die Nationalhymne der DDR spielte. Mir schien so die Teilung symbolisch festgemauert zu sein. Ebenso waren mir früher die Tränen gekommen, als ich zum ersten Mal mit dem Auto über die offene Grenze nach Frankreich fuhr, ohne anhalten zu müssen. Das waren Höhepunkte meines Lebens in diesem Lande! Die Wiedervereinigung war ein ganz großes Versprechen und eine ebensolche Aufgabe. Wir hatten sie nicht verdient, sie ist uns zugefallen. Ich hatte sie nach meinen Moskauer Erfahrungen für erreichbar angesehen. In der Zeit, nachdem Kanzler Kohl den Staatsratsvorsitzenden unter den Klängen der DDR-Hymne im Westen empfangen hatte, war ich wieder resigniert, was die Fähigkeit und den Willen betraf, diese Möglichkeit wirklich herauszuarbeiten und zu verwirklichen. War das die Motivation für Sie, sich öffentlich zu äußern? Schon vorher, als ich mich vor allem mit Hochschulpolitik befasst und mich zu ihr auch auf viele Weise geäußert hatte, war ich 41  Dieter Henrich, Ethik zum nuklearen Frieden, Frankfurt am Main 1990.

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immer wieder auf die Tendenz der politischen Instanzen zu kurzsichtigen Lösungen und ihre Aversion gegen gut abzuwägende ­tiefgehende Veränderungen gestoßen. In der plötzlich veränderten Weltlage von 1989 sah ich in Kanzler Kohls lavierendem Zögern eine vergleichbare Gefahr, das nunmehr offensichtlich real Mög­liche noch zu verspielen. Ich empfand es als eine drängende Bürgerpflicht, dem so schnell wie möglich entgegenzuwirken. Daraus entstand ­innerhalb von nur einigen Monaten, mit Hilfe des Suhrkamp Verlages, vom Manuskript bis zum fertigen Buch der Essayband Eine Repu­blik Deutschland. Er erschien im Sommer 1990, ein halbes Jahr nach dem Mauerfall und noch vor dem Vollzug der Einheit. Wie waren die Reaktionen? Eher nachhaltig als unmittelbar. Die größte Zustimmung kam aus der ehemaligen DDR. Wurde die Herausforderung der Wiedervereinigung Ihrer Meinung nach gut gelöst? Ich war für eine verfassunggebende Versammlung. Damit war zwar ein größeres Risiko verbunden. Aber heute sieht man ja doch deutlicher, dass dies das einzig angemessene, nicht nur das vom Grundgesetz selbst verlangte, sondern auf längere Sicht auch das klügere Verfahren gewesen wäre. Man hätte ja das Grundgesetz in den meisten Zügen als Vorbild übernehmen und dabei mit der Zustimmung der Ost-Delegierten rechnen können. So aber vollzog sich die Vereinigung als Anschluss des Ostens an eine Verfassung des Westens, die selbst niemals durch ein Plebiszit legitimiert worden ist. Was bedeutet das Ihrer Ansicht nach für uns heute? Ich denke, dass die eine Republik Deutschland eine Grundreform ihrer Verfassung benötigt. Die Dominanz politischer Parteien und kommerzieller Medien ist weit über das Maß hinausgewachsen, mit



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dem man zur Zeit der Gründung der Bundesrepublik zu rechnen hatte. Sie halten die Bildung politischer Übersicht in der Bevölkerung und die Ausbildung politischen Personals auf einem Niveau, das weder den Wandlungen der globalen Situation noch der Aufgabe der Zusammenführung von nationalen mit übernationalen Loyalitäten gewachsen ist. Ich spüre immer wieder einmal den Impuls, mich dazu öffentlich zu äußern. Doch es gibt keinen Anlass von derselben offenen Dramatik wie die nukleare Bedrohung und die Lage im geteilten Deutschland. Man muss zudem damit rechnen, dass der Selbstbehauptungswille der Parteiendemokratie jeden Ansatz zu einer Verfassungsreform niederhalten wird. Ein solcher Ansatz ist die Durchsetzung der Wahl von Parteivertretern mit Elementen einer Zufallswahl von Bürgern. Beruht Ihre politische Haltung ebenso wie Ihre historische und philosophische Arbeit letztlich auf der Freiheitsidee? Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung  – die beiden Weisen von In-sich-Gegründetsein im Wissen der Endlichkeit und Hinfälligkeit menschlichen Lebens sind wirklich eng miteinander verbunden. Wir können nicht mehr mit Pathos und im Trompetenstoß Freiheit einklagen und verkündigen – wie es in Befreiungsbewegungen durchaus naheliegt. Die Wirklichkeit einer Republik ist auf der Besinnung endlicher Subjekte gegründet, die das Ganze ihres nunmehr planetarischen Lebenszusammenhanges überschauen und versuchen, es zur Entfaltung zu bringen und sich gemeinsam zu bewahren. Dazu wäre noch viel zu sagen. Aber von der tragenden und erschließenden Bedeutung solcher Freiheit, auch für die Philosophie, bin ich überzeugt. Und in meinem Nachdenken und in allen meinen Arbeiten schwingt immer ein Bewusstsein von der Aufgabe mit, sie genauer zu verstehen und dies Verstehen in einer philosophischen Konzeption zu verankern.

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Nach allem, was wir besprochen haben, werden Sie aber wohl in dieser Klärung nicht geradezu den einzigen Orientierungspunkt für Ihr Philosophieren insgesamt sehen? Sie ist in die eigentliche Aufgabe eingeschlossen – nämlich die Verständigung über die Situation menschlichen Lebens überhaupt – im Zusammenhang mit ihm wesentlichen Voraussetzungen und Bezügen. Wenn in diesem Verbund ein Verständnis von Freiheit gewonnen wird, dann geht umfassend Licht über sie auf. Wenn sie sich dabei zugleich als tief verankert erweist, so darf dies wohl zugleich als ein Kriterium für die Vertrauenswürdigkeit der Denkweise gelten, in der die Konzeption ausgebildet wurde. Es ist wohl möglich, auch von Problemen ins Philosophieren gezogen zu werden, welche die Rede von der Freiheit umlagern. Wird in diesem Nachdenken aber der politische Akzent nicht in weiter ausgreifende und tiefer angelegte Horizonte aufgelöst, so wird die Aufklärungsleistung in Hinsicht auf Freiheit schal bleiben und niemals umfassend überzeugen. Damit erinnern Sie an die Motive, die Sie in die Philosophie als Ihre Profession gezogen haben. Sie haben über sie gesprochen, als Sie sich Ihrer Kindheit in Marburg erinnerten. Nachdem wir nun Ihren ganzen Weg in der Philosophie nachgegangen sind, liegt es doch nahe, dass wir Sie bitten, noch einmal auf diese Motive ­zurückzukommen. Dazu muss ich wohl etwas Vorbereitendes sagen. Der Entschluss zum Philosophieren hat fast nichts mit der Entscheidung gemeinsam, sich an eine Auskunftsagentur für schwierige Fragen zu wenden. Indem man ins Philosophieren kommt, wird einem vollends klar, was es mit dem bewussten Leben gemeinsam hat: dass es nämlich auf jede der Fragen, die es von innen bedrängen, nur Antworten im Verbund miteinander geben kann. Das mag dann freilich ­jenem anderen Motiv zum Philosophieren entgegenkommen: der



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Freude an einer architektonischen Führung von Gedankenbahnen. Die Verfugung der Probleme miteinander verlangt es aber, dass man sich in Problemzusammenhänge hineinziehen lässt, die nicht auf eine Selbstverständigung im Blick auf Lebensprobleme ausgerichtet sind. Fragen, deren Lebensrelevanz offensichtlich ist, können nämlich immer nur dann eine stabile Antwort finden, wenn sich Lösungen für Blöcke von Problemen absehen lassen, die weit von­einander abliegen und von denen jedes aus rein intellektuellem Interesse he­ raus fasziniert. Ein Beispiel dafür ist die Verständigung über Freiheit mit der Frage nach Grund und Grenzen der Erkenntnis. Überdies sind philosophische Probleme – zum Teil wegen dieser Verflechtung miteinander  – von der Art, dass sie nicht durch die Energie von Forschern und durch Einschränkung oder neue Verfahren zu einer Lösung gebracht werden können, die dann allgemeine Anerkennung erzwingt. Auch aus diesem Grund wird eine maßgebende Leistung in der Philosophie zumeist einer herausragenden synthetischen Kraft des orientierenden Nachdenkens verdankt. Das lässt verstehen, dass sich die meisten Lernenden in der Philosophie an einen Meister des Faches mehr als an einen guten Lehrer anlehnen. Zwar gibt es auch in der Philosophie verbindliche Fortschritte. Sie bleiben aber immer eingegliedert in ein Spektrum von Grundperspektiven, zwischen denen Wechsel auch möglich sind. Dies ist einer der Gründe für die Bedeutung einer Durchsicht durch die Geschichte des philosophischen Denkens. Und es ist eine Voraussetzung für die Rolle der Philosophie in der Geschichte der Kultur – und für ihren inneren Zusammenhang mit der Selbstverständigung menschlichen Lebens.42

42  Dieter Henrich, Die Philosophie im Prozess der Kultur, Frankfurt am Main 2006.

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Sie meinen jenen Prozess der Selbstverständigung, der mit Ihren frühen Kindheitserfahrungen begann? In unseren Gesprächen zu den Orten meines Wirkens ist sicher schon deutlich geworden, wie weit viele Bereiche, in denen ich als Philosoph gearbeitet habe und gefordert war, von den Lebensfragen entfernt lagen, die mich in meiner frühen Jugend ins Philosophieren hineingezogen haben. Daraus ergibt sich die Frage, in welchem Sinne das Widerspiel zwischen den Erfahrungen der bergenden Gründung und der Nichtigkeit bewussten Lebens nicht nur mein wichtigstes Motiv zur Philosophie war, sondern das Leitmotiv in ihr gewesen ist. Ein Bild mag seine Bedeutung anzeigen: Sie entspricht der Rolle des Nordsterns für die Navigation auf hoher See. Fast immer zielt ihn die Fahrt nicht etwa direkt an. Aber er ist immer die Grundlage für deren Orientierung. Ich habe jede philosophische Konzeption und Verfahrensart, mit der ich mich gründlich befasste, auch da­ raufhin abgehört, welchen Zugang zu dem Lebenskonflikt, der mir vor Augen stand, sie erschließt und welche Auskunft über ihn im Ganzen dieses Zugangs von ihr wohl getragen oder in den Blick gebracht wird. Je tiefer dieser Blick zu gehen versprach, umso nachhaltiger blieb ich bereit, seinen Erkundungen nachzugehen. Es ist leicht abzusehen, welche Reserve daraus gegen die dominanten Strömungen in der Philosophie meiner Jugendzeit folgten und wieso der Versuch zum Rückgewinn einer Philosophie der Subjektivität, der doch gegen diese beherrschenden Tendenzen gerichtet sein musste, mit meinem Entschluss zur Philosophie wie selbstverständlich verbunden war. Damit ist nun freilich nur der Bereich der Fragen in Erinnerung gebracht, die mir im Fortwirken des Antagonismus meiner kind­ lichen Erfahrungen immer im Sinn geblieben sind. Ich sollte aber



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wohl auch die Weise erläutern, wie sich mir über die Jahre ein stimmiges Gesamtbild des Grundes und der Grundzüge des bewussten Menschenlebens zu erschließen begann. Doch müsste ich dazu in eine ganz andere philosophische Untersuchung hineinziehen. In ihr wäre keineswegs von ihrem Abschluss zu berichten. Dagegen wäre davon zu sprechen, warum sie niemals so wie ein Forschungsunternehmen mit einem solchen Abschluss zu Ende zu bringen ist. Aber es ist möglich, Grenzpfähle zu markieren, die für mich von früh an um das weite und weithin offene Spektrum der Suche nach Leitlinien des Verstehens gesetzt waren: Die Erfahrung der Gegenwart eines Unbedingten, eines nicht mehr Dementierbaren gerade in den Momenten des Abschieds und Zerfalls schloss es aus, dass ich im Nachdenken jemals die Ruhe der Selbstdistanz eintreten lassen konnte, welche der wissenschaftlich geübte Blick auf Gewalt und Größe von Kosmos und Evolution verspricht. Sie ist schon ein Sedativ gegen die nihilistische Folgerung und jede Beunruhigung durch sie. Die erfahrene Evidenz im eigenen Leben war der sokra­ tischen Evidenz des Gewissens ähnlich, und sie schloss diese in sich ein. Deshalb musste ich darum bemüht bleiben, dem Selbstsein des Menschen und der Weise des Mitseins, in der es sich zu vollenden vermag, eine Bedeutung anderen als kosmischen Ursprungs zu erschließen. Nur scheinbar im geraden Gegenzug zu diesem schloss ein zweiter Grenzpfahl es aber aus, dass sich eine solche Gewissheit dadurch gewinnen lässt, dass die Erfahrung der Nichtigkeit des Menschenlebens allmählich verglimmt. Zu begreifen, wie beides intern miteinander verbunden sein kann, blieb also eine Herausforderung an das Denken gerade in dem Zusammenhang, der ihm das Philosophieren zur Notwendigkeit hat werden lassen. In meinem Essay über Glück und Not hatte ich, wie immer unbestimmt, ein Übersteigen dieses Gegen-

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satzes in einem Höheren, einer Synthesis im Sinne Hegels, noch im Auge.43 Definitiv ausgeschlossen wird sie in meinen nachfolgenden Texten zu dem, was noch immer den Namen «Metaphysik» nahelegt – etwa in Lebensdeutungen der Zukunft,44 aber ebenso in den Texten über Max Weber,45 Hölderlin und Beckett.46 Das Problem ­einer Selbstverständigung des Menschseins unter Bedingungen der Moderne tritt damit in seinem Grundriss klar hervor. Ein späterer Vortrag hat es in dieser Klarheit auch benannt: Endlichkeit und Sammlung des Lebens.47 Man muss zu verstehen suchen, wie das menschliche Leben über seine Grenzen gerade dort hinausreicht, wo sie ihm so deutlich und schmerzend wie nur überhaupt möglich bewusst werden. Dabei hat man die skeptische Einrede im Blick zu behalten, der zufolge solche Reaktionen nur dazu dienen, eine Erschütterung, die den Kern des eigenen Lebens erreicht, ertragbar werden zu lassen. Aber diese Einrede – und die moderne Blickstellung, aus der ihre Plausibilität hervorgeht – ist selbst doch ein Moment in dem Gesamtprofil und Wechselspiel der Evidenzen, in der ein bewusstes Leben, ohne sich selbst zu amputieren, in eine Verständigung über sich selbst findet, die es in seinem Vollzug verlässlich begleiten. ­Gewiss nicht in einem erklärenden Begreifen seiner Herkunft, sondern (nach Kants Worten) im Begreifen von deren Unbegreifbarkeit.

43  Dieter Henrich, Glück und Not, in: Poetik und Hermeneutik  VI, München 1975, S. 512–518. 44  Dieter Henrich, Lebensdeutungen der Zukunft, in: Aula-Vorträge der Hochschule St. Gallen, Nr. 11, St. Gallen 1981 (auch in: Fluchtlinien). 45  Dieter Henrich, Denken im Blick auf Max Weber, in: Karl Jaspers – Philosoph, Arzt, politischer Denker, Basel, Symposion zum 100. Geburtstag, Heidelberg 1986. 46  Dieter Henrich, Sein oder Nichts  – Erkundungen um Samuel Beckett und Hölderlin, München 2016. 47  Dieter Henrich, Endlichkeit und Sammlung des Lebens, Tübingen 2009.

9. Epilog: Kunst, Wissenschaft und letzte Gedanken

Kunst hat in Ihrem Denken immer wieder eine besondere Rolle gespielt. Bitte erzählen Sie uns von Ihren ersten ästhetischen Erfahrungen! Ich war etwa vier Jahre alt, als meine Mutter herausfinden wollte, ob ich vielleicht ein Dichter werden würde. Sie stiftete mich an, Gedichte zu machen. Da ich noch nicht schreiben konnte, schrieb sie auf, was ich in Versen herausbrachte. Eine ihrer Niederschriften habe ich heute noch. Wissen Sie noch, wovon die Gedichte gehandelt haben? Es waren Landschafts- und Jahreszeitgedichte. Mir wurden keinerlei Themen vorgegeben, also reimte ich den Versen nach, die ich als Kind gehört hatte, darunter solche, die von höherem litera­ rischem Stamme waren. Das waren vor allem Lieder, die meine Mutter mir vorsang. Sie sang sehr gern. Die Gute-Nacht-Lieder, beispielsweise jenes von Brahms, hatten zum Teil literarisch reife Texte. Überhaupt wurde bei uns zuhause viel gesungen. Meine ­Eltern besaßen einen Plattenspieler, und meine Mutter hörte und sang selbst immer wieder Kunstlieder, von Schubert bis hin zu ­Richard Strauß – eher sangesfroh als mit musikalischer Subtilität. Aber auch die Kinderlieder und die zu den christlichen Festtagen waren ja gereimt. Woher kam diese künstlerische Ader bei Ihrer Mutter? Als Lehrerstochter vom Land kannte sie einen Dichter gut, der sie verehrte. Es war ein Jugendfreund ihres Vaters, der als Gefäng-

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nispfarrer des berühmten Zuchthauses Moabit in Berlin wirkte. Sein Name ist Wilhelm Speck. Wir würden ihn als Schriftsteller heute nicht mehr hochrühmen, aber in seiner Zeit war er ein in ganz Deutschland gelesener Autor. Man verlieh ihm als hessischem Dichter den Ehrendoktortitel der Marburger Universität. Von dieser ­Bekanntschaft mit dem viel älteren und verheirateten Dichter her entfaltete meine Mutter eine große Verehrung für die Literatur, auch wenn sie keine höhere Schule besuchen konnte. Vom Dorf aus wäre das nur als Fahrschülerin möglich gewesen; aber es war damals für Mädchen nicht üblich und zudem für einen Landschulrektor kaum zu bezahlen. Für ihr Selbstbewusstsein war die Tatsache, dass der berühmte Dichter sie nicht nur als junge Frau bewunderte, sondern die Tiefe und Sensibilität ihrer Erfahrungsart, auch im Umgang mit Dichtungen, so sehr schätzte, ­sicher eine ganz wichtige Erfahrung. Es verlieh ihr Auftrieb und eine Selbstgewissheit in der ihr möglichen Teilnahme am kulturellen Leben. Ich möchte fast annehmen, dass von daher eine Ermutigung auch noch an mich überging, mich mit Kunst zu beschäf­ tigen. Denn meine Mutter – sie war eine sehr schöne Frau – setzte in mich als das einzige Kind, das ihr geblieben war, ein großes StilVertrauen. Wie lange hielt diese Zeit der Förderung an? Meine Eltern hätten es gern gesehen, dass ich ein Musikinstrument ­gelernt hätte. Aber da ich sehr oft krank war, am Mittelohr chronisch, wollten sie mich dazu nicht nötigen. Meine Mutter konnte nicht Klavier spielen. Mein Vater aber spielte Orgel, manchmal auch Zither. Er hatte ein Harmonium, eine Art Heimorgel, gekauft, so dass er an freien Tagen Partituren, Volkslieder oder Kirchenlieder spielte, und ich lernte dann die Texte und Melodien. Mit dem frühen Tod meines Vaters endete auch dies.



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Wie wurden Sie mit den bildenden Künsten bekannt gemacht? Mein Vater hatte eine gewisse Nähe zur Malerei. Sein Bruder malte selber. Zeichnen und Landschaftsgestaltung gehörten zu seinem Beruf. Er abonnierte Kunstzeitschriften. Es gab in der Schwalm, wo mein Vater als Geodät im Rahmen der staatlichen Flurbereinigung tätig war, die Willingshäuser Malerkolonie, zu der etwa Carl Bantzer gehörte. Ein anderer Maler dieses Zirkels, den mein Vater näher kannte, war Heinrich Giebel. Bekannt war er wohl auch mit Otto Ubbelohde, der die Grimm’schen ­Märchen illustriert hat. Mein Vater ging mit mir immer wieder ins Marburger Universitätsmuseum, das gerade neu errichtet war. Oder er nahm mich mit in die Elisabethkirche, deren geschlossene frühgotische Architektur beeindruckend wirkte – samt den Glasmalereien, der Goldschmiedekunst und den Hochgräbern der Landgrafen. Auch erläuterte er mir die Historienbilder der Aula der Marburger Universität und das Wandgemälde von Bantzer im Marburger Rathaus. Als wir Verwandte in Kassel besuchten, gehörte der Besuch der Gemäldegalerie mit ihrer Rembrandt-Sammlung zu den regelmäßigen Gängen. Dass die Kunst für das Verständnis und die Entfaltung des Menschenlebens eine wesentliche Bedeutung hat, stand für meine Eltern und mich außer Zweifel. Das heißt aber nicht, dass ich damals einen wirklichen Sinn für künstlerische Gestaltung und Größe gehabt hätte  – geschweige denn eine Übung der Urteilskraft erfuhr. Diese Fähigkeiten und die Einsicht in künstlerische Meisterschaft blieben noch zu gewinnen. Besonders lang dauerte es, bis ich wirklich musikalische Kompositionen in ihrem Bau und Gesamtverlauf begriff. Trotz vieler Ansätze, auch in New York und Boston, sah ich mich zu ­luzidem Verstehen erst in der Nähe zum Dirigenten Celibidache geführt.

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Wurde die Freude an Kunst im Kunstunterricht der Schule geweckt? Nein. Für eine gewisse Zeit hatten wir einen Lehrer, der selbst Maler war, wiewohl er eigentlich Religion und alte Sprachen unterrichtete. Er malte durchaus routiniert in spätromantischer Manier. Allerdings regte er nur dazu an, solche Bilder zu beschreiben oder abzumalen. Regelrechte Einübungen in malerische Techniken oder das Erwecken eines tieferen Kunstverständnisses gab es nicht. Erst viel später erlernte ich das Aquarellieren. Der Musikunterricht fand im Krieg nicht mehr regelmäßig statt. Er ging kaum über Gesang, Komponistenbiographien und die Kenntnis der Notationsformen und der Tonarten hinaus  – eine der vielen Einbußen der Schule ­unter Bedingungen des Krieges. Erinnern Sie sich an Begegnungen mit nationalsozialistischer Kunst? Man hatte Kenntnis von den monumentalen, durchaus eindrucksvollen Projekten, die zum Beispiel im Vorfeld der Olympischen Spiele 1936 auf den Weg kamen. Weithin bekannt war Albert Speer, der als Assistent von Heinrich Tessenow eigentlich eine in ­ihrer Einfachheit subtile Architektur favorisierte. Hitler hat ihn in seine Projekte für Berlin hineingezogen, die in ihrer Megalomanie so peinlich-aufdringlich wirken. Aber es gab im «Dritten Reich» auch kleinere Unter­ nehmungen. Oft waren es bodenständig tümelnde Bauten oder eher klassizistische, meist militarisierte Formen. Ein Bau sollte eine naturhafte Lebensform repräsentieren oder – womöglich sogar zugleich – schnörkelfrei etablierte Macht demonstrieren. Alle nazistische Architektur war antibürgerlich, nämlich gegen die Fassadengestaltung der opulenten Bürgerhäuser der Kaiserzeit, die mit neogotischen Asso­ ziationen oder a­ nderen historisierenden Anklängen stilistisch über­ laden waren. Die Machtdemonstration wurde immer ungehemmter



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und somit der schon vor und mit dem Bauhaus erreichten modernen Formgebung immer feindlicher. Zunächst hatte man sich mit dem klassizistischen Faible für klare Form und Freiheit von Dekoration in deren Nähe zu halten bemüht. Expressionistische Maler wurden im Kunstunterricht ver­ mutlich nicht behandelt und hingen wohl auch nicht im Kasseler Museum? Nein, natürlich nicht. Für mich wurden erste Nachkriegs-Ausstellungen, die im Marburger Museum wohl von den Amerikanern gefördert worden waren, zum großen Augen öffnenden Ereignis. Denn Marburg war ein sogenannter collection point. Solche gab es auch in Wiesbaden und München. An diesen Plätzen wurden die im Bombenkrieg ausgelagerten Kunstwerke zusammengeführt. So räumten die Amerikaner, bevor sie vereinbarungsgemäß Thüringen den Russen übergaben, die Stollen der dortigen Salzbergwerke. In ihnen befanden sich große Teile der Berliner Gemäldesammlungen. Diese wurden in Marburger Ausstellungen gezeigt. Dazu kamen Ausstellungen von Bildern, die als «entartete Kunst» gegolten hatten. Ich sah zum ersten Mal ein Bild von Alexander Kanoldt. Da­ rauf war, durchaus gegenständlich, ein Krug zu sehen, der offenbar den Kubismus hinter und in sich hatte. Ich wusste davon noch kaum etwas, obwohl man bald Abbildungen und Erklärungen im Druck vor Augen hatte. Aber mir war sofort klar: Da ist etwas für Kunst Wesentliches, was ich bisher noch nie wahrgenommen hatte. Auch sah ich rein abstrakte Malerei. Die jenseits des Gegenständ­ lichen geforderte ganz andere Sehweise hat mich damals mit Gewalt ergriffen. Man wurde schnell sehr neugierig und erwartungsvoll. Ging es Ihnen in der Literatur ähnlich? Damals hat mich Kafka ähnlich unmittelbar berührt und fasziniert. In seinen Werken spürte ich eine ganz andere Welt; ich merkte,

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dass in seiner untergründig induzierten Erfahrungsweise die Moderne literarisch einen tiefen Ausdruck fand. Wissen Sie noch, welchen Roman Kafkas Sie damals gelesen ­haben? Ich las alle, die mir zugänglich waren: Das Schloß, Der Prozeß oder Amerika, auch die grandiosen Erzählungen. Man bekam die Bücher im Amerika-Haus in Marburg, das ich deswegen nicht genug rühmen kann. Es war in einem beschlagnahmten Hotel eingerichtet worden. Dort lernte ich auch Thoreau kennen, sein Buch Walden habe ich sehr gern gelesen. Der Leiter des Amerika-Hauses war bemüht, den jungen Deutschen in der Literatur etwas zu bieten, was sie nicht kannten. Er beschaffte sogar eigens für mich eine erste Ausgabe von Toynbees A Study of History in der Kurzfassung. Es gab auch kleine Konzerte von moderner, wenn auch nicht atonaler Musik. Das alles spielte sich bereits 1945/46 ab, als ich meine Schulzeit noch zu beenden hatte und mit dem Studium begann. In Trümmern und vielfacher Lebensnot ging durch die Vermittlung der Amerikaner, die sich die reeducation der Deutschen zum Ziel machten, doch eine ganz neue Welt auf. Die Abstraktion erhielt einen ganz neuen Stellenwert? Das Kunstwerk war nicht mehr auf die Aufgabe beschränkt, eine gegenständliche Illusion zu schaffen und dabei hohes Formniveau eigener Prägung zu gewinnen. Schon im Impressionismus wurde Wahrnehmung selbst zum Thema der Darstellung. Der Schritt hin zu Kandinsky und seinen dynamisiert-geometrischen Figuren ist dann nochmals etwas anderes. Er besaß die Fähigkeit, im Medium der reinen Formen Basisstrukturen zu entwickeln, in denen sich eine neue Welterfahrung abzuzeichnen begann. Das erschien mir damals als ein irreversibler Schritt auf dem von der Renaissance eingeschlagenen Weg hin zu einer in der Kunst integrierten Reflektiertheit.



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Erschien Ihnen diese Art der Kunst philosophischer und in diesem Sinn bedeutsamer? In der Tat kann man zu Kandinskys Bildern, ihrer Figurations­ dynamik, tiefer liegende Strukturen von allgemeinerer Bedeutung assoziieren. Das legte er selbst in populären Schriften dar. Ich las auch andere Publikationen zur modernen Kunst und besuchte Vorträge über sie, wo immer sie angeboten wurden. Gab es für Sie nach dem Ende des Kriegs ähnliche Entdeckungen im Theater? In Marburg entstand erst nach 1945 ein Theater. Man nutzte den großen Saal, der sich im Begegnungshaus der evangelischen Gemeinde anbot. Die Schauspieler waren durchaus von einigem Rang, sie waren zum großen Teil Vertriebene oder Geflohene. Das Marburger Schauspiel gab die milderen Formen moderner Dramatik. Sartre und Ionesco hatten es 1945 noch nicht in die Kleinstadt geschafft. So gab es etwa von Thornton Wilder Our town. Das Stück handelt vom einfachen Leben in der kleinen Stadt mit ihren Selbstverständlichkeiten. Es fängt an mit der Flasche Milch, die vom Milchboy geliefert wird und die dann von der Hausfrau, noch im Negligé, von der Tür weggeholt wird. Ein Erzähler auf der Bühne spricht über das Leben der Menschen, wie es in der Abfolge der ­Szenen durch die Lebensalter dahingeht, ohne dass ein Geschick enthüllt würde. Daraus entsteht eine sehr dichte Atmosphäre, die unbestimmt ins Jenseitige transparent ist. Thornton Wilder erzählte mir übrigens später selbst einmal, er habe in der guten Erinnerung an seinen eigenen Deutschlehrer sofort nach dem Krieg Aufführungsrechte nach Deutschland gegeben. In den weiteren Umkreis des Themas Kunst gehört immerhin auch, dass ich gleich nach dem Krieg eine kleine Gruppe von Jugendlichen zusammenbrachte, die tanzen lernen wollte  – bei einer Be-

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kannten meiner Mutter, die als Tanzlehrerin ausgebildet war. Das begann zur Zeit der abendlichen Sperrstunde der Besatzungsmacht und wurde allen Schwierigkeiten zum Trotz fortgesetzt. Wollten Sie die neuen amerikanischen Tanzstile lernen? Es gab schon den Swing, sonst waren es die alten Gesellschaftstänze, vom Walzer zum Slowfox – mich selbst begeisterte insbesondere der argentinische Tango. Auch das war ein Schritt weg vom Marschtritt hin zur Weltläufigkeit. Wie lange hielt die Zeit der Entdeckungen an? Bis in die ersten Semester, etwa 1948. Anfang der 50er Jahre, als ich nach Heidelberg kam, war es eigentlich längst vorüber. Dort hatte sich die Welt der modernen Kunst bereits etabliert. Es gab eine Galerie und eine Reihe moderner Künstler. In Gadamer hatten Sie einen Lehrer, in dessen Philosophie die Kunst eine wichtige Rolle spielte. Gadamer hatte einen geübten Kunstsinn und konnte Künstler sehr gut charakterisieren. Aber er schätzte die Moderne eigentlich nicht. Er favorisierte seinen Malerfreund Werner Scholz, der gegenständlich malte. Von diesem hing ein Bild im Hauptraum seines Hauses, ebenfalls eine farbige Zeichnung einer Pflanzenrispe von Schmidt-Rottluff, ein Geschenk des Expressionisten. Gadamer war gegenüber der informellen Moderne skeptisch. In meiner eigenen Wohnung hingen dagegen Bilder von Hann Trier, einem Professor an der Berliner Akademie, mit dem ich seit meiner dortigen Zeit befreundet war. Diese hat Gadamer, der öfter zu Besuch kam, niemals kommentiert. Das sogenannte ‹Informel› hielt er wohl nicht eigentlich für Malerei. Haben Sie mit Gadamer über Kunst diskutiert? Nein, wir hatten wohl einmal einen langen und lebendigen Disput über Rilke und George, die aber beide dieser Moderne voraus-



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liegen. Gadamer hatte eine Neigung zum Georgeanismus. Es kann sein, dass er ganz gerne Mitglied des Kreises geworden wäre. Er war während seiner Marburger Jahre mit dem Germanisten Max Kommerell befreundet, der von George verstoßen worden war. Gadamer konnte sehr klug, mit unterschwellig starkem Engagement, für George argumentieren. Ich fand dessen Gedichte oft hohltönend; vor allem in Georges später Lyrik herrschte eine letztlich leere Prätention. Immerhin gelang es George, eine Gemeinschaft um sich zu ­bilden. Zuletzt hat Thomas Karlauf in seinem Buch Stauffenberg. Porträt eines Attentäters dargelegt, was ich als These schon vor Jahren vertreten habe: dass niemand das Attentat auf Hitler in dieser Form hätte planen und ausführen können, der nicht etwas wie die Weihe eines George erfahren hatte und den deshalb das Gefühl einer besonderen Mission erfüllte. Haben Sie mit Gadamer über Kafka gesprochen? Nein. Als Moderner, in dem sich ein Abgrund faszinierten Entsetzens auftat, war er der griechischen Welt, die in Gadamer fortwirkte, zu fern. Viel mehr unterhielten wir uns über Hölderlin. Ich bedaure heute, dass ich es unterlassen habe, mit Gadamer über Paul Celan zu sprechen, über den ich leider auch zu wenig weiß. Denn er hatte sich mit dessen Dichtung vertraut gemacht. Celan begann für ihn eine bedeutende Rolle zu spielen. Man muss allerdings bedenken, dass Gespräche über Literatur oder Kunst in den frühen Heidelberger Jahren nicht so sehr zwischen Schüler und Lehrer stattfanden, sondern eher zwischen den Assistenten. An wen denken Sie? Wir waren in Heidelberg eine Art Riege von jungen Leuten, die an den verschiedenen geisteswissenschaftlichen Lehrstühlen als

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die jeweils einzigen Assistenten arbeiteten. Für einen jeden von uns hatte sich die moderne Welt in einer Erfahrung der Befreiung aufgeschlossen. Von daher hatte jeder den anderen sehr viel mitzuteilen. Mein Freund Wolfgang Iser hat mich mit der angelsächsischen Moderne nahe bekannt gemacht, mit der Lyrik (etwa Four Quartets) und dem Theater von T. S. Eliot. Hans Robert Jauß beschäftigte sich mit Proust, der für uns ebenfalls neu war. Jauß kam aus dem Internierungslager für SS-Offiziere mit dem Plan einer Dissertation über Proust. Vielleicht hatte er dessen Werke schon in seiner Zeit bei der SS kennengelernt. Ich war für ihn interessant, weil ich ihm den philosophischen Hintergrund zu Proust, etwa Henri Bergson, erläutern konnte. Als ich nach Heidelberg kam, war er schon zwei Jahre dort. Wer gehörte noch zu dem Kreis? Neben Jauß und Iser waren das noch der Germanist Wolfgang Preisendanz und Jurij Striedter, der als Slawist vom russischen Formalismus angeregt war; schließlich auch Reinhart Koselleck als Historiker. Es gab eine generationsspezifische Bewusstseinslage, eine latente Erregung. Wir wollten Klarheit gewinnen, gerade über die nichtdeutschen Literaturen, die uns ja weitgehend verschlossen gewesen waren. Von daher rührte auch ein gemeinsames Interesse an Erich Auerbach, vor allem an den späteren Kapiteln von Mimesis. Mit seiner Interpretation von Virginia Woolf? Unser Interesse reichte zurück bis zu den Kapiteln über Rabelais und Dante. Dies Interesse war eher methodisch und hatte zu tun mit unserer Unzufriedenheit mit dem Zustand der interpretierenden Wissenschaften. Schon in Marburg hatte ich auch Germanistik studiert, da es ein Schulfach war, und mit dieser Wissenschaft meine Erfahrungen gemacht. Lehrer wie der außerplanmäßige Professor



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Johannes Klein waren eigentlich gehobene Bildungspastoren, denen es um die höhere Wahrheit ging, die sie etwa in Rilke verkörpert ­sahen. Mir erschien das irgendwie penetrant. Schon deutlich anders war Werner Milch, ein Remigrant, der Interesse für literatursoziolo­ gische Fragen hatte und dem ich auch einige wichtige Kenntnisse verdanke. Er starb leider schon sehr bald. Worin bestand Ihre Unzufriedenheit genau? Mir war nicht klar, in welchem Sinn die Germanistik eine Wissenschaft sein sollte. Altphilologie und mittelalterliche Geschichte, das waren Wissenschaften, in denen verbindliche Standards des Wissensgewinns und -ausweises leitend waren. Allem Reden über das, was eine Interpretation anleitet und was sie ausmacht, fehlte damals, so schien es uns, die methodische Basis und eine stabile Überzeugungskraft. Umso mehr wurde dies Thema zu einer wich­ tigen Aufgabe. Der Lehrer meines Freundes Iser war ein Sprachwissenschaftler, der mit seinen Forschungen zum alten Englisch auch in England selbst Ansehen aufgebaut hatte. Bei ihm spielten Literatur oder Kunst als solche keinerlei Rolle. Er betrieb Sprachwissenschaft nach rigiden Forschungsregeln an überwiegend künstlerischen Texten. Sein Assistent Iser musste das alles auch beherrschen. Doch er selbst wollte eigentlich wissen, wie man denkend mit Literatur umgeht. In diesem Zusammenhang war Auerbachs Buch Mimesis eine wichtige Erscheinung. Es gab jedoch auch andere Autoren, die neue Instrumente zu entwickeln suchten, um Texte reflektiert auszulegen – etwa den Altgermanisten Hugo Kuhn in München. Zu den internationalen Ausgangspunkten gehörte der russische Formalismus, ein anderer war der amerikanische new criticism, eine Methode, die nichts weiter fordert, als die Struktur der Werke explizit werden zu lassen. So könne man die ästhetische Qualität erkennen und darüber hinaus zugleich die Botschaft, die in ihr steckt.

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Demnach sollten die interpretierenden Wissenschaften vor a ­ llem objektiver und nachprüfbarer werden? Auch das. Es war ein Versuch, die Interpretation von Werken in ihrer Gesamtverfassung als Verfahren zu etablieren, über die man Rechenschaft geben kann. Man muss sich freilich ebenso klar­ machen, dass einzelne Werke Kulturen angehören und dass diese Zugehörigkeit eine eigene Exegese verlangt. Damit kam die Frage nach dem untergründigen Vorurteil des Verstehens auf, die Gadamer ebenso beschäftigte. Ihn interessierte auch, wie sich unter den ­jeweiligen historischen Bedingungen Sinnordnungen entfalteten. Aber zunächst einmal hatte man ein Verfahren zu gewinnen, das auf erlernbaren Wegen Qualitätsunterschiede explizierbar machte. In Heidelberg war der Germanistikprofessor Paul Böckmann von sich aus an der Bemühung um ein solches Verfahren interessiert. War Erich Auerbach für Sie auch darin aufschlussreich, weil er von konkreten Texten ausging? Ja. Auerbach war kein Formalist im hier umrissenen Sinn, sondern letztlich Kulturhistoriker. Aber er hatte das Prinzip, dass alles im Einzeltext steckt und aus ihm herauszuheben ist. Durch seine Methode exemplarischer Exegesen erschien uns Mimesis für Text­ erschließungen vorbildlich. Beeindruckte Sie auch Auerbachs Kunst des essayistischen Schreibens? Das kann ich nicht erinnern. Jedenfalls war sein Buch sehr gut ­geschrieben. Man las es gerne. Man kann Bücher gut schreiben, auch wenn sie wissenschaftlichen Gehalt haben und dabei die wissenschaftliche Standardform vermeiden. Beeindruckend war die Fülle der von ihm erschlossenen Gehalte der Weltliteratur. Durch Auerbach lernten wir Jüngeren vieles überhaupt erst kennen. Das Wesentliche war aber seine Art der Werkexegese. Um Methoden



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der Werkanalyse ging es dann ja auch der später von den jungen Heidelbergern gegründeten Gruppe Poetik und Hermeneutik. Hinzu kamen da poetologische Fragen: Was ist Dichtung? Wie ist Auslegen überhaupt zu verstehen? Die Theorie ihrer eigentlichen Sache und ihrer Verfahrensarten wurde zunehmend zum Inhalt der Disziplin gemacht. Dieses Anliegen entfernte sich wieder von Auerbach. Es war eine im Nachkriegsbewusstsein wurzelnde Bemühung, die doch zu einem ziemlich nachhaltigen Neubeginn führte. Ergab sich aus diesem Anspruch ein stärkeres Zusammenspiel von Literaturwissenschaft und Philosophie? Offensichtlich. Dies lässt sich auch an der Geschichtswissenschaft von Reinhart Koselleck zeigen. Grundlegende Wandlungen in der Bedeutung von Schlüsselwörtern der politischen Sprache führen im Gange ihrer Klärung immer in die Nähe der Philosophie. Für bildende Kunst und ihre ästhetische Analyse war später in Poetik und Hermeneutik Max Imdahl zuständig. Wir alle sind von einem ähnlichen Impuls her schließlich in irgendeiner Weise zu Theoretikern geworden. Hat mit der Offenheit für verschiedene theoretische Zugänge auch Ihr großes Interesse an Einzelwissenschaften zu tun? Eigentlich ist das zweierlei. Für mich hatten subtil angelegte ­Begründungen und ungewohnte Einsätze schon früh etwas Faszinierendes. So wurden mir eben auch andere Wissenschaften und Forschungsgänge in bisher unbeachteten Zusammenhängen als solche reizvoll. An den interpretierenden Wissenschaften interessierten mich ihre Möglichkeiten, ihre Grenzen und auch die Grundvoraussetzungen, unter denen es so etwas überhaupt geben kann. Interpretieren kann man ja nur, wo man verstehen kann. Aber was genau wäre das  – etwa innerhalb der Soziologie? Im Studium habe ich mich in verschiedene Wissenschaften ein Stück weit eingearbeitet,

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so in die Wirtschaftstheorien und vor allem in die prähistorische Archäologie. Waren die Wissenschaften für Sie wichtiger als die Kunst? Man kann beide kaum direkt miteinander vergleichen. Kunst ­allein kann im Unterschied zur Wissenschaft die Dynamik und die Ambivalenzen des bewussten Lebens als solche erschließen. Die Wissenschaften wiederum haben am Vollzug meines Lebens einen ungleich größeren Anteil als die Künste, einfach darum, weil ich in sie mehr und stärker eingebunden war und eigene Wege suchen und bahnen konnte. Die Philosophie gehört großenteils selbst zu den Wissenschaften, insofern sie unter methodischen Anleitungen begründete Aussagen macht. Sie ist zuständig für Grundlegungs­ fragen, für Methodenfragen, für Normbegründungen. Sie kann die eigene Geschichte erforschen und hat dabei wiederum ihre eigene methodische Norm und Strenge. Eine wirkliche Auszeichnung ergibt sich aber daraus, dass sie noch eine weitere, ganz andere, eine kulturelle Aufgabe besitzt. Sie hat eine Orientierungsfunktion, die in Hegels Zuordnung von Kunst, Religion und Philosophie als eigentlichste Formen von ‹Geist› einen sehr starken Ausdruck gefunden hat. Ich hätte deshalb kein anderes Fach studieren und für ein ganzes Leben zu dem meinen werden lassen mögen. Mich faszinierte nur dieses Fach, das ja auch allein eine solche gedoppelte Bedeutung hat. Dabei stellt sich dann aber als eine Frage von großem Gewicht, wie man dieser doppelten Bedeutung gerecht werden kann. Die Orientierung der Menschen in ihrer Lebensführung wird oft von Individuen gefördert, nämlich tief erfasst und eindringlich formuliert, die keine professionellen Lehrer der Philosophie sind und die auch in Distanz zu den Wissenschaften stehen. Jaspers und Heidegger wollten sich von den akademischen Befangenheiten in der Philosophie ihrer Zeit losmachen.



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Jaspers war allerdings ausgebildeter Mediziner, also Wissenschaftler. Die Medizin hat Komponenten von wissenschaftlicher Erkenntnis, ist aber selbst keine Wissenschaft. Darin ist sie vergleichbar der Philosophie. Aber bei Heidegger wird die Philosophie selbst alsbald wissenschaftskritisch. Er will Wissenschaft nicht analysieren und in ihren Grenzen charakterisieren, sondern ihr von der ihr eigenen Grundeinstellung her, an die sie gebunden ist, die Diagnose stellen. Sie ist für die eigentlichen Fragen nicht nur unzugänglich, sondern wirkt ihnen entgegen. So zu denken ist ein heikles Unterfangen. Es hat etwas von der Proselytenmacherei der Sektierer, einen Kreis von exklusiv Wissenden um sich zu versammeln. Aufklärung ist aber keine Art tox­i­ sche Inokulation, die Verblendung bewirkt. Sie ist ein Hellwerden, das in die Weite dringt und dort eine Orientierung g­ ewinnen lässt. Worin bestünde heute die Bindung der Philosophie an die ­Wissenschaft? Es war für mich immer eine selbstverständliche Aufgabe, als Philosoph einem hohen Standard von Dichte und Treffsicherheit im Begründen gerecht zu werden und komplizierte Problemlagen nicht zu vereinfachen. Er entspricht nicht nur irgendeinem puristischen Ideal, sondern ist eine Voraussetzung dafür, der sehr komplexen Erkundungsweise der Subjekte im Gewinn von Selbstverstehen überhaupt nachgehen zu können. Ein großer Teil meiner Leistung, wenn man sie denn so nennen darf, bestand darin, in der Philosophie eine Gestalt der wissenschaftlichen Forschung und ihrer Methodik zu erarbeiten und zu etablieren. Auch meine Aufenthalte in Amerika, bei denen ich mir im Austausch mit dortigen Kollegen die Vorgehensweise der analytischen Philosophie vergegenwärtigte, hatten damit zu tun. Mir ging es um die Beherrschung eines hohen und ­zugleich gemeinsamen Standards schließlich auch in den philoso­phischen Fragen, die allge-

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meine Lebensbedeutung haben. In der angelsächsischen Philosophie ging mancherorts die Höhenlage des Argumentierens mit einer dumpfen Gleichgültigkeit gegenüber ihren Inhalten, das heißt der Aufgabe der Lebensorientierung, einher. Kluge Analytiker wussten aber, wessen und warum sie sich enthielten, nämlich weil ihre Ressourcen ­ihnen unzureichend schienen. Zu den eher problematischen Aspekten der amerikanischen Lokaltradition gehört die sportliche Hochschätzung eines quick mind: Das ist jemand, der blitzschnell eine ­Problematik, die aufkommt, erfasst und eine intelligente Stellungnahme dazu formuliert. Dieses Talent wird sich kaum dort bewähren, wo komplexen und schwer zu erschließenden Problemlagen nachzu­gehen ist. Kant sagte zutreffend, dass in ihnen nur anhaltendes Nachdenken auf vielen Gebieten ­zugleich in die Tiefe vordringt. Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen Ihrer wissenschaftlichen Forschung und Ihrer Philosophie? Mir scheint, dass das wissenschaftlich Geleistete eine andere Qualität und dauerhaftere Wirkung besitzt, als das, was ich als Philosoph in der Lebensorientierung ausgearbeitet habe. Ich nahm immer wieder Maß an klassischen Texten, etwa an Kants meister­ lichen Argumentationsgängen oder an Fichtes leidenschaftlichem Drängen auf Durchsicht. Meine Texte leben in ihrem Licht. Meine Forschungen müssen dagegen wissenschaftlich kaum einen Vergleich scheuen. Sie haben zwar auch ihre Mängel, sind aber in dem, was sie zum Beispiel in der Konstellationsforschung in Gang brachten, eigenständig und weiterführend. Zur Selbstverständigung im Menschenleben können sie aber allenfalls indirekt beitragen. Allerdings ist es auch nicht etwas Geringes, Kant für unsere Zeit ausgelegt zu haben. Ich wollte den Erfahrungen meines Lebens im Denken nahe sein, den alltäglichen und doch sehr komplexen ebenso wie den exzeptio­



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nellen. Aber nicht erzählend oder räsonierend, sondern in durchsichtigem Begründen und Eröffnungen, die Untergründiges deutlich heraustreten lassen. Eine große Gefahr für die Philosophie besteht darin, dass sie dann, wenn sie zu Aussagen wirklich einmal gelangt, die eine Lebensführung affirmieren, nicht den Grad der Durchdringung des Lebensvollzugs aufbietet, der notwendig wäre. Große Thesen in der Philosophie muss man einerseits mit hinreichender Vorsicht, andererseits mit hinreichend dichten Instrumentierungen ausgestalten. Die Philosophie kann stolz sein auf ihre großen Meister der Sichtbarmachung, der Erschließung von Hintergründen, der Begründung und der Argumentation über viele Ebenen hinweg. Könnten Sie das etwas näher ausführen? Für mich war im Philosophiestudium ein ganz wichtiger Punkt, dass ich von den überwältigenden Architekturen der Systeme und der entsprechenden Baukunst etwas verstehen wollte. So las ich Platon, Leibniz, Kant. Damals kannte ich Hegel noch nicht. Aristoteles ist wohl ein etwas anderer Fall, der allerdings auch eine gewaltige integrative Leistung erbracht hat, die ebenfalls Jahrtausende überdauert hat. Die Höhenlage der Leistungen der großen Meister muss man – samt den Unterschieden zwischen ihnen  – immer im Auge haben, wenn man in diesem Fach nicht zurückfallen will. Auch das macht die Aufgabe sehr anspruchsvoll. Waren Sie niemals versucht, in die Kunst- oder Literaturwissenschaft zu wechseln? Ich könnte nicht sagen, dass mich irgendein Kunstwerk so fasziniert hätte, dass ich, um es wirklich zu durchdringen und ganz zu verstehen, mein Leben darauf ausgerichtet hätte. Auch Beckett und selbst Hölderlin hätten mich nicht dazu bringen können, im Blick auf die Weltliteratur den Fragen nachzugehen, was Literatur eigentlich ist und wie ihre Werke wirken wollten und konnten. Mir

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schwant nur, dass, wenn ich früh im Leben musikalisch gebildet ­gewesen wäre, ein Komponist mich dahin hätte ziehen können. Sie interpretieren Beckett und Hölderlin nicht als Literatur­ wissenschaftler, sondern als Philosoph. Sind Sie der Meinung, dass beide dichterisch etwas zum Ausdruck brachten, was implizit eine Philosophie enthält und darum für Philosophen interessant ist? Es mag so sein, dass für Hölderlin und für Beckett gleichermaßen gilt, dass ihre Werkdynamik von ihrem eigenen spontanen Philosophieren zu einem wesentlichen Teil in Bewegung gesetzt wurde. Solches kann man von Rilke sicher nicht sagen und schon gar nicht von George. Da sind wohl auch weltanschauliche Grundorientierungen im Spiel und in den Texten artikuliert. Aber es fehlt diesen Dichtern etwas so Scharfes wie die Frage des vierundzwanzigjährigen Hölderlin: «Es muß heraus, das große Geheimnis, das mir das Leben gibt oder den Tod.»48 Bei einem Philosophen wie Wittgenstein rührte das Interesse an Literatur und Kunst daher, dass hier Fragen behandelt werden konnten, die seiner Ansicht nach nicht in die Philosophie gehörten. Wie sehen Sie dieses Verhältnis? Die Philosophie zu minimieren, indem man zentrale Fragen ganz an die Literatur oder die Religion delegiert – in dieses Modell kann ich mein eigenes Leben und Nachdenken nicht einbringen. Es würde mich ziemlich ratlos machen, wenn ich, um mich in meiner Selbstverständigungsarbeit weiterzubringen, nur auf Literatur oder gar auf Texte angewiesen wäre, die Verkündigung oder Erbauung geben. Ich bin überzeugt, dass die Philosophie eine ihr wesentliche

48  Friedrich Hölderlin, Fragment von Hyperion, in: Sämtliche Werke und Briefe, hrsg. von Michael Knaupp, München, Bd. 1, S. 510.



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Verbindung hat mit jenem «großen Geheimnis», das nach Hölderlin «heraus muß». Ich habe die Dichter immer in ihrer Motivationskraft für junge Philosophierende wahrgenommen, auch wenn man am Ende vielleicht selbst resümieren muss, dass das Geheimnis sich nicht hüllenlos auftun wollte oder dies gar nicht konnte. Ein Aufschluss des endlichen Lebens über sich selbst kann ihm nicht etwa nur bekannt gemacht werden. Es muss sich in einer Art Resümee mit sich selbst zusammenschließen. Dass es dies kann, muss ihm zuwachsen und ist zugleich doch etwas, was als ‹Sammlung› von ihm selbst vollzogen werden muss. Solches ist schon in dem vorgegeben, was das elementare Selbstbewusstsein ausmacht. Dichtung und Philosophie haben im Menschenleben kaum gänzlich zu separierende Quellen. In ihnen liegen wechselseitig wichtige Herausforderungen für das jeweils andere. Schlüssige Zusammenhänge aufzuweisen und einen Blick in die Tiefe und auf das Ganze zu werfen, sind ohnedies unterschiedliche, aber oft aufeinander bezogene Leistungsarten der Sprache, die beide ­etwas zu verstehen geben. Heidegger sah im Gegensatz zu Wittgenstein eine enge Ver­ bindung zwischen Kunst und Philosophie. Kunst und Philosophie sind verschieden und doch mehr als nur benachbart. Wenn man, was sie vermögen, aneinander annähert, ohne den Unterschied ihrer Verfassung zu respektieren, kann das philosophischen Kitsch oder eine verkrampfte Scheintiefe zur Folge haben. Das zeigt sich besonders deutlich an einigen Texten des späteren Heidegger. Dazu trägt bei, dass deren Präsentation eher aufdringlich als lento intoniert ist. Eine philosophische Aussage, die der dichterischen Sprache nahe sein will und einen appellativen Anspruch hat, muss einen tragenden Grund besitzen. Und eine dichte­ rische Aussage, die einen hohen Appellwert hat, muss eine Basis in

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ihrem Formniveau haben. Ein Formniveau ist etwas anderes als eine schlüssige Argumentation. Allerdings haben Begründungen ­ihrerseits eine andere Art von formalem Niveau. Worauf diese Differenz zurückzuführen ist, ist eine Frage, die weiteren Nachdenkens wert ist. Worum sollte es der Philosophie heute an erster Stelle gehen? Um das Ausdrücklich-Machen von Denkweisen und deren Voraussetzungen, das selbstkritische Überlegen und darum, die Ergebnisse des Überlegens in eine ausgewogene Art der Untersuchung und Mitteilung zu überführen. In dieser Hinsicht ist Platon noch immer der Gründer und der unerreichte Meister des Faches. Er erwartete nicht, dass er selbst zu einer Auflösung aller Schwierigkeiten kommen werde, und flocht vielerlei Erkenntniswege ineinander, um für eine Perspektive die ganze Evidenz zu gewinnen, die eine Lebensweise zu tragen vermag. Er hob als Erster hervor, was für jede gegenwärtige Philosophie erhöhte Bedeutung hat: dass die philosophische Begründung sich auf gegenwendige und doch gleichgewichtige Perspektiven einzulassen hat. In seiner Begründungspraxis ist immer die Besinnung auf den Prozess des Lebens einbezogen, das in der Verständigung über sich, seine Situation und seinen Vollzug zur Klarheit zu kommen sucht. Philosophieren nimmt immer auch dieses Leben als Prozess in Anspruch, welches danach sucht, samt seinem spontanen Selbstwissen in einer philosophischen Konzeption zuhause sein zu können. Ich selbst habe dem – ich könnte wieder sagen: in Aufnahme eines Prinzips Platons – hinzuzufügen, dass im Leben der Endlichen tiefe Ambivalenzen aufkommen, die nicht durch Argumente, sondern nur durch eine im Leben selbst zu vollziehende Bilanz einzuhegen oder aufzulösen sind. In einer solchen Nachdenklichkeit kann sich eine Weise eröffnen, über sich verständigt zu sein, die nur in einem Philosophieren zu erlangen ist. Das



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muss aber nicht professionell geübt sein. In dem genannten Sinn philosophieren alle Menschen. Platon war skeptisch gegenüber den Dichtern. Er kritisiert die Kunst, da sie rein fiktional sei und sich nicht ernsthaft um Wahrheit bemühe. Doch da hat er die spielerische Seite der Kunst vor Augen. Beckett bemüht sich um Wahrheit, freilich in einem damit um die Ausdruckskraft, in der sie mitgeteilt wird. Das gilt für viele andere Schriftsteller und Dichter auch. Während Platon in seiner Jugend Dramen geschrieben haben soll, gab er im reiferen Alter künstlerische Versuche auf. Wie war es bei Ihnen? Nach wenigen, nie ambitionierten Ansätzen von der Kindheit bis in die Nachkriegsjahre gab ich alle eigenen Versuche mit der Kunst auf. Ich verstand mich seitdem ausschließlich als ihr Interpret und Konsument. Doch gibt es ja Künstlerisches in der philosophischen Produktion. Philosophische Bücher – zumal, wenn es um vielbezüg­ liche Themen geht – sind in einem weiteren, auf ihre Art im vollen Sinn Kunstwerke. Sie setzen einen Grundentwurf voraus, in ihnen muss eine Dynamik des Sich-Entfaltens wirken. Die Ideen müssen sich so gliedern, dass sich eine Architektur ergibt – vielleicht nicht als Argumentverlauf, aber im Zuordnen der Gedanken, dem Auswägen und Verschränken von Perspektiven. Es muss einen springenden Punkt geben, irgendetwas, das das Werk zum Ganzen zusammenfügt. Und es muss eine Ausgewogenheit der Textgestaltung und überhaupt einen Duktus der Sprache geben, der dem Thema angemessen ist, aber möglichst unangestrengt bleibt und den Tonus eines eigenen Stils spüren lässt. All das sind künstlerische Züge, auch wenn das Philosophieren eine ganz andere Zielrichtung hat als das Kunstschaffen, in dem es um ein Kunstwerk als solches geht.

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Ist das, was Sie als das Künstlerische eines philosophischen ­Textes beschreiben, trainierbar? Etwas Talent und Übung gehören dazu. Als ich bereits habilitiert war, hatte ich das Bewusstsein eines Defizits, einer eher bleibeschwerten Feder, wenn es darum ging, leichter eingängige Texte zu schreiben, die gleichwohl etwas Subtiles im Hintergrund anzeigen sollten. Mir schien damals, als könnte ich kaum ein elegantes Feuilleton oder einen eingängigen Essay schreiben. Darum habe ich mir selbst die Aufgabe gestellt, mich auf diesem Gebiet ein wenig zu üben. Ich hatte schon als Student wissenschaftliche Rezensionen für einen Professor geschrieben. Aber das Essayistisch-Feuilletonis­ tische musste ich mir erst später aneignen. So war ich dann imstande, im Merkur auf die leichte und doch spitze Feder von Habermas adäquat zu antworten.49 In Ihren Essays gebrauchen Sie Begriffe wie «Bedrängnis», die existentielle Vorstellungen wecken, aber nicht weiter entfaltet werden. Ist in solchen Abstraktionen nicht auch ein Element des Dichterischen enthalten? Die Philosophie kann auf verschiedene Weise bedeutsame Termini prägen. Sie muss den Potentialen der natürlichen Sprache nachhorchen und sie nutzen, wenn sie Sachverhalte, die gerade ihr bedeutsam erscheinen, prägnant aufrufen will. Man denke an Kant oder Husserl. Die transzendentale Analyse gibt ein Verfahren der Rückfrage an, erklärt, wie man dabei vorgeht, und verbindet damit ein Bild von der Verfassung alles Wissens. Oder die phänomenologische Deskription und die sie anleitende Terminologie. Solch methodologische Begriffe habe ich nicht geprägt. Wenn man

49  Dieter Henrich, Was ist Metaphysik, was Moderne? Thesen gegen Jürgen Habermas, in: Merkur, H. 6, Stuttgart 1986, S. 495–508.



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mich in dieser Hinsicht charakterisieren will, so bin ich Kantianer in einer bestimmten Variation. Solche Begriffe dagegen wie der «absolute Geist» oder «Existenz» sollen ein Resümee andeuten, es handelt sich um Programmbegriffe für Lehrgehalte und vielleicht auch für letztgültige Mitteilungen. Sind diese Programmbegriffe so etwas wie regulative Ideen, die, mit Kant gesprochen, einem «metaphysischen Bedürfnis» ent­ sprechen? Vor zwanzig Jahren diskutierte ich mit Theologen über etwas, das der Rede von solch kantischen Ideen nahe kommt. Nämlich wenn man die gesamten Lebenszusammenhänge erwägt und alle Begründungskapazitäten zu Ende gebracht sind, kommen andere Bedeutungsmöglichkeiten ins Spiel. Es sind abschließende Gedanken, in denen ein Leben sich begreifen und zur Ruhe kommen will, in denen ein Mensch sich sammelt, wenn er von allem, gar wohl von sich selbst, Abschied zu nehmen hat. Eigentlich sollte ein Philosoph im Zusammenhang dessen, was er sich erarbeitet hat, doch ­irgendetwas zu denken imstande sein, wenn es für ihn «ums Ganze geht» – etwas, in dem sich eine Summe seines Lebens und die Resultate seines Nachdenkens zusammenfügen. In diesem Sinne habe ich öfter von «letzten Gedanken» gesprochen, welche dann vielleicht selbst einen luziden Ausdruck in der Sprache finden. Ist Subjektivität auf solche «letzten Gedanken» als ein sinnvolles Ende angelegt? Oder handelt es sich um einen Anspruch, den man an sich selbst stellt? Natürlich denkt der Philosoph, er solle mit seiner Theorie eine Position vorstellen, die sich am besten begründen lässt und der man zustimmen kann, ohne sich als nur überredet, als verbogen und eingeschränkt zu erfahren. Aber man muss nicht annehmen, sie folge zwingend aus der Verfassung des bewussten Lebens selbst. Die

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Lehre als solche muss nicht unbedingt eine Lebenssumme einschließen. Diese gibt es auch nicht bei Wittgenstein. Was die Philosophie sagt, wo sie zu Ende kommt, kann einem Menschen ganz gleichgültig sein, wenn es ihm um den Abschluss der Besinnung auf sein Leben geht. Sie kann dann, wie es die Skeptiker oft waren, offen bleiben für eine Offenbarung, die erfolgt ist und es nicht mehr nötig hat, Argumenten entgegenzutreten. Richard Popkin, ein bedeutender Historiker des Skeptizismus in der Moderne, hat zeigen können, dass gerade die Erkenntnis des Skeptikers, dass man nicht zu einer rationalen Entscheidung zu kommen vermag, ein Grund für die Annahme einer geoffenbarten Wahrheit sein kann, die in keiner Weise durch irgendwelche Argumente zu stützen ist. Der Versuchung, auf diese Weise den Skeptizismus zu über­ winden, sind Sie nicht erlegen. Im menschlichen Leben, wenn es wirklich aufs Äußerste herausgefordert ist und sich zu einer letzten Ortsbestimmung dessen gezogen findet, was es mit ihm auf sich hat, gibt es allein aus ihm selbst heraus zwei mögliche Grundhaltungen: die affirmierende und die Negation von unbedingter Bewandtnis. Der einen wird in einer solchen Situation die Beheimatung und eine Art von Legitimation des bewussten Lebens mit überwältigender Deutlichkeit in den Sinn kommen. Die andere lässt sich von der bloßen Faktizität von allem und jedem in eine letzte Ruhe der Sammlung in der Selbstdistanz tragen. Es kann aber auch bei dem untergründigen Hin und Her zwischen beiden Möglichkeiten bleiben. Wo aber eine Option fest und explizit wird, da muss sie im Gesamtzusammenhang der eigenen Lebenserfahrung beglaubigt sein. Sie muss sich ja auch gegen den Schrecken des definitiven Abschieds, Zerfalls und Vergessenseins behaupten. Die Religionen haben vermutlich im Trost, den sie angesichts des Todes spenden, immer ihre größte Wirkungskraft entfaltet.



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Daher die christliche Lehre vom ewigen Leben? Neulich habe ich in der Bibel gelesen, um eine Passage von Nikolaus von Kues zu entschlüsseln. Im ersten Korinther-Brief, im 15. Kapitel, erklärt Paulus, die größte Gegenmacht, die Gott noch unter seine Herrschaft bringen muss, sei der Tod. Er sei mit dem Bösen in die Schöpfung gekommen. Man beachte die Konzeptionskraft in dieser Aussage! Selbst Gott ist bedroht durch die Unausweichlichkeit des Todes des Menschen. Seine Allmacht und Güte sind zutiefst beschädigt, wenn dem Tod eine Macht bleibt. Die Überlegungen des Paulus führen dann weiter zur Trinität und zu der Menschwerdung Christi: ­Jesus, als Christus Gottes Sohn, unterwirft sich den Tod dadurch, dass er ihn schuldlos erleidet, dann aber aufersteht. Ist er wieder vereinigt mit dem Vater, so wird der nunmehr besiegte Tod zum Teil der göttlichen All-Wirklichkeit. Erst dann ist Gott wirklich in Allem. In der Komplexität des Mythos kommt zum Ausdruck, wie ­bedrängend das Problem des Todes für Paulus war. Zu seiner Lösung setzt er die Christologie ein, und zwar von ­ihrem Zentrum her. Die aber entfaltet er wiederum in den Zusammenhang einer spekulativen Gotteslehre  – man muss sagen einer Metaphysik, nach der alles Einschränkende in dem einigen und ­einigenden Grund integriert wird. So ist der Tod nicht zum bloßen Übergang abgemildert, sondern als solcher umgriffen. Wohlgemerkt: dass ein Gedankengang vom Format dieses Zugriffs in diesen Trost mündet, kann man zweideutig finden oder eher als einen Grund dafür, ihn unter Verdacht zu stellen. Doch eine Rationalität, welche die Orientierung des bewussten Lebens als ihre Aufgabe anerkennt, kann sie nicht als obsolet übergehen. Sie kennt sie aus den Grenzgängen der Denkbewegung in diesem Leben. Enthält Ihre Philosophie, indem sie der Frage nachgeht, ob und mit welchen Gründen man die Welt und sich selbst affirmiert oder

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ob das Gefühl der Nichtigkeit überwiegt, nicht ein normatives und in diesem Sinn unwissenschaftliches Element? Ja. Indem die Philosophie das Ganze des Wirklichen in Beziehung auf die Möglichkeit menschlichen Lebens betrachtet, ist sie von Fragen nach dem in ihm unbedingt Gültigen bewegt. Hilary Putnam hat die Unabtrennbarkeit von Normativität und Wahrheit im philosophischen Gedankengang allerdings schon für die wissenschaftliche Praxis aufgewiesen. Viele Begriffe, die ich verwende, kommen, wenn Sie so wollen, aus einer Analyse der «Existenz». Seine Bedeutung hat der Ausdruck im Bezug auf die Wirklichkeit des sogenannten alltäglichen Lebens, in der die philosophische Besinnung letztlich verwurzelt ist und an der sie orientiert zu sein hat. Die Bewusstheit des Menschen gewährt oder auferlegt dem Philosophen, dass er sein eigenes Dasein jederzeit als von irgendwoher so oder so begründet verstehen muss. Er kann die Frage nach dem Leben zwar auf sich beruhen lassen und nicht weiterverfolgen; aber er kann sie nicht beiseiteschaffen oder auslöschen. Sie stellt sich jederzeit neu. Und wenn man ihr gegenüber nicht Augen und Ohren verschließt, sondern zu ihr mit der Aussicht auf eine mögliche Antwort ein Selbstverhältnis gewinnen will, muss man letztlich dem Faden nachdenken, der das eigene Leben zusammenhält. Insofern ist jeder Mensch genötigt oder dazu nobilitiert, selbst zu philo­ sophieren. Das nihilistische Resümee kann gerade kraft seines Verzichts auf jede Sinnfrage als eine Befreiung erfahren werden, vorausgesetzt, jemand kann sich aufrichtig und mit klarem Bewusstsein in ihm einrichten. Solange man schwankt, bleibt das Leben herausgefordert. Aber wenn ich verstanden habe, dass der Konflikt in schlüssigem Denken allein nicht aufzulösen ist, ergibt sich die Möglichkeit, auch in der Anerkennung des Konflikts eine Distanz zu ihm und eine gewisse Ruhe zu finden. Ich werde im phi-



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losophischen Nachdenken nicht glücklich, aber ich bin doch eher gesammelt als zerrissen. Diese Position haben Sie am Beispiel Samuel Becketts beschrieben. Er drängt darauf, alles zu gewahren, was hilft, keiner billigen Verklärung der Wirklichkeit auf den Leim zu gehen. Beckett lässt es allerdings auch offen, ob ganz am Schluss noch etwas anderes aufkommen könnte. Er ist verglichen mit Hölderlin der strengere Denker. Dessen Frage nach dem «großen Geheimnis, das mir das Leben gibt oder den Tod» ist noch mit einer Trost-Note verknüpft, ebenso wie in der Einsicht des Hyperion, dass die Mutter Natur selber leidet, dass also mein eigenes Leid in einem großen Ganzen beheimatet ist. Bei Beckett gibt es so etwas nicht. Doch auch wenn man wie er nichts vom nichtigen Verlauf des Lebens ausgeblendet hat und diesem in aller Konsequenz nachgeht, kann man doch immer noch nicht sagen, man wüsste alles. Diese Situation kann man als bedrückend erleben. Denn es herrscht im endlichen Wesen als solchem das Bedürfnis, sich im bewussten Leben auf ein Unbedingtes zu beziehen. Es geht ihm stets darum, jenseits von allem, was sich empirisch oder in Demonstrationen festmachen lässt, eine das Leben leitende und es resümierende Perspektive zu ge­winnen. Sind Kunstwerke besser als philosophische Systeme in der Lage, auf die Frage einer umfassenden Affirmation oder Negation eine Antwort zu geben? Ja, in der großen Kunst liegt etwas Überzeugendes, das dem Verbindlichen benachbart ist. Man muss hier am ehesten an die Musik denken, die mir erst spät in dieser Bedeutung deutlich wurde. Sie berührt das Medium der Philosophie überhaupt nicht. Sie kann keine Gestalt anstreben, die nicht im Dahingehen gelegen ist, also auch keinen Lehrgehalt bieten. Dennoch ist die Dynamik dieses Verlaufs dem besonders nahe, was die Verständigungs­

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bewegung im Leben ausmacht. Sergiu Celibidache hat das so ge­ sehen und erfahrbar werden lassen. Überdies war es seine Überzeugung, dass in der großen Musik die Affirmation am Ende ­zwingend wird. Wie kann das, was im Kunstwerk aufscheint, auch im Leben ­gelingen? Ich neige zu der Auffassung, dass eine in der Tiefe gefestigte Überzeugung, die ein Ja einschließt, überhaupt nur in der Not erreicht werden kann – dann aber wirklich und auf Dauer. Sie wissen, dass meine frühen Kindheitserfahrungen extreme Situationen einschlossen, auf die ich immer wieder zurückkomme. Mit der Katastrophe, dem frühen Tod des Vaters wie auch mit jenem der Mutter, war für mich zugleich das Beglückende und Versöhnende verbunden. Gerade in diesen Momenten – unter Einschluss der Not – wurde das große Ja wirklich, das über den Tod hinausweist und an dem man festhalten konnte und musste. Vielleicht kann es sogar ganz deutungslos, also ohne die Möglichkeit zu einer approximativen Selbsterklärung, bleiben. Man kann Evidenzen, die in der Lebensbedrängnis aufgehen, nicht vorausnehmen, obwohl sie auf einer langen Vorgeschichte beruhen müssen, um nicht dem Verdacht zu unterliegen, Ereignisse einer momentanen Krisenregie zu sein. Es ist auch nicht so, dass man sich von nun an auf das Ja, das man erfahren hat, gelassen stützen könnte. Man muss diese Affirmation sich immer wieder neu artikulieren lassen. Ich selbst habe, wie Sie auch wissen, nihilistische Erfahrungen in ihrer ganzen Gewalt und ihrer ganz anderen Sammlungskraft durchlebt. Dass es um das Ganze in diesen polaren Deutungen geht, steht mir alle Tage vor Augen, zumal in der philosophischen Arbeit als Autor und Lehrer. Dieser Blick ist vom Kindheitserleben geprägt, dem Erinnern und den fortgesetzten Versuchen, dieses ins Leben zu inte­



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grieren. Für diese Erfahrungen bin ich dankbar. Ich habe durchaus das Bewusstsein, in dem, was ich als Philosoph etwa e­ rschließen konnte, von ihnen her zu leben. Demnach entscheiden über Affirmation oder Negation weniger philosophische Gründe als vielmehr die faktische Lebensgeschichte? Die argumentative Struktur der Philosophie macht das Bild der Dynamik des Lebens glaubwürdig und erschließt es, kann sie aber nicht aus sich heraus leiten oder auflösen, nicht in einer beruhigenden Einsicht sich vollenden lassen. Man muss die subjektiven Erfahrungen vollziehen, aus denen heraus sich eine gedanklich gestaltete Grundhaltung bilden kann. Ich denke aber, dass jedes bewusste Leben in den Bannkreis solcher Erfahrungen gezogen wird. Es kann sie sich nur überdecken, sich zu verhehlen suchen. Sehen Sie Ihre Erfahrungen, die Ihrer Philosophie ­zugrunde liegen, als exemplarisch an? Ich kann nicht beanspruchen, in irgendeinem Sinne ein Muster zu sein. Aber ich kann etwas des Nachdenkens Wertes zu Bewusstsein bringen. Und dies ist selbst in weiten Teilen eine Entfaltung von ­Begründungs- und Argumentationszusammenhängen. Man muss die komplizierten Strukturen vor Banalisierungen bewahren, man muss die Stützungen, die in den Gedankengängen liegen, hervor­ heben können. Ich habe dreißig Jahre nicht über Dankbarkeit schreiben können, weil ich nicht weiträumig und tief genug über diese Erfahrungsart nachgedacht hatte. Die Erfahrung hat mir also die Philosophie gewiss nicht eingebracht. Aber es bedarf der Philosophie, um über sie Rechenschaft zu geben. Und es ist die Philosophie, die uns dazu fähig macht, an dem, was für unser Leben verbindlich ge­ worden ist, ohne Scheu und Verstummen festzuhalten und ihm von ­vielen weitreichenden Perspektiven her Ausdruck zu geben.

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Sie sagten früher, Sie hätten keine Rezepte. Haben Sie nicht die Absicht, Ihre Leser zu beruhigen oder zu heilen? Nein, in diesem Sinn verstehe ich mich gar nicht als Therapeut. Eher als Hilfe, vielleicht als Beistand auf der Suche nach dem eigenen ganzen Verstehen. Es kommt darauf an, dass man, einmal aufgeschreckt, über sich selbst verwundert bleibt. Im Ausgang davon müssen sich alle Wege der Selbstverständigung vor letzten Fragen, in denen ich immer selbst mit in Frage stehe, erschließen und erkunden lassen. Man kann allerdings mit der Philosophie in eine Verfassung seines Selbstbewusstseins gelangen, in der bewahrt ist, was immer für ein Menschenleben unbedingte Bedeutung hat, ohne dass noch alles darauf ankommt, einen sicheren Stand vor der Frage zu gewinnen, ob und wie dies Leben über sich selbst hinausreicht. Aber alle solche Fragen werden damit doch nicht müßig und gleichgültig. Vieles ist dabei lehrbare Arbeit, und manches in Zusammenarbeit oder in der besonnenen Einübung nach von anderen schon gemachter Erfahrung zu gewinnen. Die Antwort, um die es zuletzt geht, wird jedoch immer ganz die eigene sein.

Editorisches Nachwort

Vor langen Jahren führten wir ein erstes Gespräch mit Dieter Henrich, das sich an unsere Tagung Marburger Hermeneutik zwischen Tradition und Krise anschloss, die wir im Herbst 2006 im Deutschen Literaturarchiv Marbach mit deutschen und amerika­ nischen Forschern durchführten. Es war beeindruckend, wie Dieter Henrich über seinen Lehrer Hans-Georg Gadamer und andere ­Philosophen und Philologen berichten konnte, die im Marburg der 20er und 30er Jahre gewirkt hatten und wie Erich Auerbach, Hannah Arendt, Hans Jonas und Karl Löwith ins Exil vertrieben worden waren. Dieter Henrich war für uns in jeder Hinsicht ein idealer Gesprächspartner: als Zeitzeuge, als Philosoph und Philosophiehistoriker und nicht zuletzt als methodischer Begründer der Konstellationsforschung.50 Was uns damals schon überzeugte und begeisterte, war seine Beschreibungskunst, seine Fähigkeit, mit wenigen Worten Personen, Ereignisse und Orte anschaulich zu vergegenwärtigen und auf die ihm eigene Weise zugleich philosophisch zu deuten. Einige Jahre später entstand anlässlich des 150. Geburtstags von Max Weber ein zweites Gespräch mit Dieter Henrich. Es ging aus von seinen frühen Forschungen in Heidelberg und bezog auch seine 50  «Was ist verlässlich im Leben?» Gespräch mit Dieter Henrich, in: Matthias Bormuth, Ulrich von Bülow (Hg.), Marburger Hermeneutik zwischen Krise und Tradition (Marbacher Schriften. Neue Folge  3), Marbach am Neckar 2008, S. 13–64.

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Editorisches Nachwort

späteren Erfahrungen in der hermeneutischen Tradition der dor­ tigen Universität ein.51 In der Folge nahmen wir gerne die Einladung Dieter Henrichs und seines Verlags in der Person von Stefan Bollmann an, weitere Gespräche dieser Art zu führen, die insgesamt in eine dialogisch aufgebaute Autobiographie münden sollten. Schnell waren wir uns einig, dass die Lebensorte und Wirkstätten die Ordnung der Gespräche bilden sollten. Vollständigkeit sollte nicht angestrebt, der mündliche Stil in den Bearbeitungen beiderseits weitgehend beibehalten werden. Auch ging es uns nicht um die Vertiefung in philosophische Gedankengänge, die Dieter Henrich anderswo ausführ­ licher dargestellt hat. Vielmehr war es unser gemeinsames Anliegen, der Frage nachzugehen, wie Dieter Henrich Philosoph wurde und welche Rolle auf seinem langen Lebensweg bestimmte Personen, ­lokale und globale politische Zeitumstände für die Entwicklung des eigenen Denkens gespielt haben. Dabei war von vornherein klar, dass bei einem Philosophen, dessen großes Thema die Subjektivität und das bewusste Leben ist, Narration und Reflexion nirgends zu trennen sind. Auf diese Weise entstanden in den letzten Jahren in lockerer Folge die meisten der hier versammelten neun Gespräche. Um Zusammenhänge zu verdeutlichen, Ungleichgewichte und Dopplungen zu vermeiden, wurden alle, nicht zuletzt auch die drei bereits vorab publizierten Texte,52 in einer Endredaktion noch einmal zum Teil

51  Dieter Henrich: Heidelberg nach Karl Jaspers  – Polychrome Erinnerungen. Ein Gespräch mit Matthias Bormuth, Ulrich von Bülow und Georg Hartmann, in: Offener Horizont. Jahrbuch der Karl-Jaspers-Gesellschaft, Jg. 1, 2014, S. 111–133. 52  Neben den genannten betrifft das auch das folgende Interview: Die amerikanischen Jahre. Dieter Henrich im Gespräch mit Matthias Bormuth und Ulrich von Bülow, in: Zeitschrift für Ideengeschichte, H. 1, 2017, S. 53–68.



Editorisches Nachwort

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erheblich gekürzt und verändert. Und schließlich stellten wir, um ­einen Dieter Henrich angemessenen philosophischen Rahmen zu schaffen, an den Anfang und an das Ende Gespräche zu den Erfahrungsbereichen Religion und Kunst, die nach Hegel einer Philosophie des Absoluten am nächsten stehen. Matthias Bormuth und Ulrich von Bülow Oldenburg und Marbach am Neckar, im Juli 2020

Personenregister

Adorno, Theodor W.  79–82, 121, 136, 145 f., 177, 181 f., 210 Agamben, Giorgio  169 Albrecht, Wolfgang  71 Alston, William  160 Andersen, Hans Christian  60 Anscombe, Elizabeth  232 Anz, Wilhelm  56–60, 65 f., 73, 75, 231 Arendt, Hannah  98, 148, 178–180, 182, 273 Aristoteles  88, 92, 98, 169, 259 Arnheim, Rudolf  138 Auerbach, Erich  252–255, 273 Austin, John  172

Bloch, Ernst  141 f., 200 f. Blumenberg, Hans  135 f., 143 f. Böckmann, Paul  254 Borkenau, Franz  155 f., 177 Brahms, Johannes  243 Brandt, Richard  160 Brandt, Willy  115, 148 Braque, Georges  111 Bräutigam, Walter  147 Brecht, Bertolt  109 Buchler, Justus  160 Buhr, Manfred  191 Bultmann, Rudolf  22, 59, 95, 98, 178 Burke, Edmund  137

Bachmann, Ingeborg  136 Bantzer, Carl  245 Baumgart, Fritz  111, 126 Baumgarten, Eduard  84, 90 Baumgartner, Hans Michael  207 Beckett, Samuel  42, 80, 104, 119, 136, 227, 242, 259 f., 263, 267 Beißner, Friedrich  135 f. Bendix, Reinhard  150 Benedikt XVI. (Joseph Ratzinger), Papst  27, 112 Benjamin, Walter  136 Berdjajew, Nikolai  194 Bergson, Henri 166,  252 Beumann, Helmut  68 Beyer, Wilhelm Raimund  186, 194–196 Bielfeldt, Sigrun  192

Carnap, Rudolf  162 Cavell, Marcia  176 Cavell, Stanley  165, 171, 174 Celan, Paul  120, 251 Celibidache, Sergiu  233, 245, 270 Chisholm, Roderick  168, 170 Chruschtschow, Nikita  113 Claudius, Matthias  29 Clay, Lucius D.  125 Conze, Werner  144 Cramer, Wolfgang  82 Cusanus, Nikolaus (Nikolaus von Kues)  180, 267 Dahlhaus, Carl  228 Dalai-Lama (Tenzin Gyatso)  34 Dante Alighieri  252 Danto, Arthur  175 f., 184

278 Personenregister Darwin, Charles  212 Davidson, Donald  176, 184, 232 f. Derrida, Jacques  169 Dewey, John  166 Dietzsch, Steffen  191 Diez, Carl Immanuel  207, 223 f., 228 Dilthey, Wilhelm  89, 140 Döderlein, Johann Ludwig  207, 228 Dostojewski, Fjodor M.  194 Dutschke, Rudi  117, 149 Eckardt, Hans von  196 f. Eichendorff, Joseph von  107 Einstein, Albert  10 Einstein, Carl  126 Eliot, T. S.  140, 252 Emerson, Ralph Waldo  165 Engels, Friedrich  134, 187 Ensslin, Gudrun  149 Erikson, Erik H.  60 Fahrenbach, Helmut  95 Felsch, Philipp  137 Feuerbach, Ludwig  133, 142 Fichte, Johann Gottlieb  105, 110, 124, 134, 153 f., 162 f., 165, 170, 183, 208, 211, 214, 218 f., 230, 258 Ficino, Marsilio  180 Firth, Roderick  165 Fischer, Kuno  107 f. Flasdieck, Hermann  140 Fourier, Charles  134 Frege, Gottlob  162, 170, 174, 184 Freud, Sigmund  59, 145 f. Freudenberg, Ernst  9 Friederike von Hannover, Königin von Griechenland  26 f. Fulda, Hans Friedrich  154, 198 Gadamer, Hans-Georg  71–75, 78, 80, 82–85, 90–95, 97–100, 107, 114, 120–122, 134 f., 144, 157 f., 162,

177–179, 186–188, 209, 211, 225, 250 f., 254, 273 Gente, Peter  141 Gentile, Giovanni  181 George, Stefan  250 f., 260 Gerhardt, Paul  29 Giebel, Heinrich  245 Gödel, Kurt  170 Goethe, Johann Wolfgang von  78, 106, 136 Gollwitzer, Helmut  123 Goodman, Nelson  165, 176 Grass, Günter  110 f. Grimm, Jacob und Wilhelm  245 Guardini, Romano  123, 209 Gulyga, Aresnij  192 Gumbrecht, Hans Ulrich  147 Gundolf, Friedrich  154, 197 Gurwitsch, Aaron  179 Habermas, Jürgen  18, 94, 121, 135– 137, 141, 143–145, 153, 183, 213, 264 Hamm-Brücher, Hildegard  205 Hardenberg, Karl August von  66 Hartmann, Nicolai  212 Hartsthorne, Charles  157 Haug, Fritz Wolfgang  117 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  18, 31 f., 35–37, 40 f., 67, 80 f., 83, 88, 91 f., 94, 98, 106, 108, 114, 128, 131, 133 f., 137, 142, 153, 157, 162–165, 170, 172, 181, 185–189, 191 f., 194–196, 200–202, 214, 218, 221 f., 225 f., 230, 233 f., 242, 256, 259, 275 Heidegger, Martin  22, 34, 58, 72, 80 f., 85, 91–99, 110, 119, 160, 162, 166, 169, 178–181, 183, 207, 210 f., 216, 256 f., 261 Heinemann, Gustav  74 Heinrich, Klaus  119 Hellingrath, Norbert von  197

Personenregister Herder, Johann Gottfried  38 Hertel, Heinrich  111 Hesse, Hermann  121, 136 Heuss, Theodor 87 Hindenburg, Paul von  49 Hitler, Adolf 13, 22, 46, 49–51, 57, 64, 81, 111, 196, 246, 251 Hoffmann, Ernst  180 Hölderlin, Friedrich  18, 21, 106, 119, 135, 188, 221, 225–229, 242, 251, 259–261, 269 Höllerer, Walter  110 f. Homer  56, 107 Honecker, Erich  235 Honecker, Margot  116 Horkheimer, Max  79 f., 182 Hübner, Kurt  112 Humboldt, Wilhelm von  66, 77, 110 Hume, David  29, 88, 219 Husserl, Edmund  160, 166, 179, 264 Imdahl, Max  255 Ionesco, Eugène  249 Irene von Griechenland  26 Iser, Wolfgang  139 f., 153, 252 f. Jacobi, Friedrich Heinrich  230 Jaffé, Else  84, 90, 105 James, William  165 f. Jaspers, Enno  91 Jaspers, Karl  69, 84, 88, 90 f., 95, 106, 148, 169, 180, 215 f., 256 f. Jauß, Hans Robert  100 f., 252 Johannes (Evangelist)  31, 35, 37 f. Jonas, Hans  98 f., 164, 178–180, 273 Jünger, Ernst  111 Kafka, Franz  247 f., 251 Kandinsky, Wassily  248 f. Kanoldt, Alexander  247 Kant, Immanuel  20, 29, 35, 37, 40 f., 45, 54, 70, 80, 83, 88 f., 92, 103, 105 f., 123 f., 134, 142, 152 f.,

279

158–160, 162–164, 167–170, 172, 178, 181, 183, 185, 192, 201, 211, 214, 216–221, 230, 232, 242, 258 f., 264 f. Karlauf, Thomas  251 Kasztner, Rudolf  120 Kennedy, John F.  125 Kierkegaard, Søren  57, 80, 118, 158, 163 Kiesinger, Kurt Georg  148 Klein, Johannes  253 Klett, Arnulf  187 Klibansky, Raymond  98, 180 Kohl, Helmut  235 f. Kommerell, Max  251 Konstantin II., König von Griechenland 26 Korn, Klaus  116 f. Koselleck, Reinhart  143 f., 252, 255 Kracauer, Siegfried  181–183 Krings, Hermann  207 Kristeller, Oskar  180 f. Krüger, Gerhard  99 Kuhn, Helmut  182 Kuhn, Hugo  253 Kuhns, Richard  175, 184 Kürschner, Walter  46 Lambert, Johann Heinrich  219 Landshut, Siegfried  102 Lederer, Emil  179 Lefèvre, Wolfgang  149 Leibniz, Gottfried Wilhelm  88, 174, 219, 259 Lieber, Hans-Joachim  117 Löwith, Karl  73, 93 f., 98 f., 177, 179, 182, 273 Lübbe, Hermann  147 Ludendorff, Mathilde  19 Luhmann, Niklas  18, 143 Lukács, Georg  137 Luther, Arthur  193 f. Luther, Martin  21

280 Personenregister Mahadevan, T. M. P.  25–27 Maier, Hans  206 f., 222 Mann, Thomas  79 Marcuse, Herbert  142, 182 Marx, Karl  80, 102 f., 116 f., 129, 133 f., 158, 162 f., 186 f., 190 Maximilian II., König von Bayern  205 Mayer, Ernst  215 f. McDowell, John  172 Meinhof, Ulrike  149 Mendel, Derryk  227 Mendelssohn, Moses  219 Menger, Carl  83 Merhart von Bernegg, Gero  66–68, 75, 224 Meulen, Jan van der  129, 131 f., 151 Michel, Karl Markus  136, 141 f. Milch, Werner  253 Mitscherlich, Alexander  145–147 Mitscherlich, Margarete  146 Montgelas, Maximilian von  205 Moore, George Edward  158, 172 Mörike, Eduard  14 Motroschilowa, Nelly  192, 199 Müller, Klaus  30 Müller, Ludolf  194 Müller, Max  207 Müntefering, Franz  148 Nagel, Thomas  143 f., 170 Nagsawa, Kunihiko  154 Napoleon Bonaparte, Kaiser der Franzosen 107 Niemöller, Martin  123 Nietzsche, Friedrich  12, 94 Nozick, Robert  165, 171 Oiserman, Teodor Iljitsch  133, 137, 151 Otto, Rudolf  19 f. Owen, Robert  134

Pannenberg, Wolfhart  38, 231 Paton, Herbert James  158 Paulus (Apostel)  30, 267 Picasso, Pablo  111 Pius XII. (Eugenio Pacelli), Papst  24 f., 27 Platon  44 f., 56, 78, 88, 92, 94, 99, 142, 214, 220, 259, 262 f. Plotin 43 Popkin, Richard  266 Popper, Karl  116 Potthast, Ulrich  117 Preisendanz, Wolfgang 252 Proust, Marcel  252 Putnam, Hilary  142, 165–167, 170, 172, 184, 226, 232 f., 268 Quine, Willard Van Orman  165, 170, 172, 211, 233 Rabelais, François  252 Rauch, Georg von  193 Rawls, John  164 f. Reed, Carol  78 Régnier, Marcel  189 Reich, Klaus  71 Reinhardt, Andreas  126 Rembrandt van Rijn  157, 245 Reuber, Kurt  37 Rickert, Heinrich  86 f., 140 Ricoeur, Paul  232 Rilke, Rainer Maria  250, 253, 260 Ritter, Karl Bernhard  20, 22 Rommel, Manfred  187 Rorty, Richard  170 f., 173, 233 Rousseau, Jean-Jacques  219 Russell, Bertrand  158, 172 Ryle, Gilbert  158 f. Saint-Simon, Henri de  134 Saraswati, Chandrashekarendra  24, 26–28, 33, 43

Personenregister Saraswati, Jayendra  26 f. Sartre, Jean-Paul  169, 179, 249 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph  18, 110, 191, 195, 205, 207, 221, 225, 230, 232 Schiller, Friedrich von  219 f. Schleiermacher, Friedrich  33, 110 Schmidt, Helmut  148 Schmidt-Rottluff, Karl  250 Schmitt, Carl  144 Schmitz, Hermann  212 Scholz, Werner  250 Schopf, Wolfgang  121 Schrader, George  106, 157 Schubert, Franz  243 Sellars, Wilfrid  159, 172, 211 Sello, Katrin  126 Shakespeare, William  58 Shelley, Percy Bysshe  80, 227 Simmel, Georg  86 Smith, Adam  88, 219 Smith, John  106, 157 Sokrates  56, 70 Sombart, Nicolaus  144 Spaemann, Robert  29, 31, 36, 38, 64, 122, 131 f., 187, 207, 209 Speck, Wilhelm  244 Speer, Albert  246 Spengler, Oswald  156 f. Spinoza, Baruch de  31, 128, 173 Staiger, Emil  120 Stalin, Josef  196 Stauffenberg, Claus Schenk Graf von 251 Stegmüller, Wolfgang  208–210 Stein, Heinrich Karl vom und zum  66 Steiner, George  120 Steiner, Rudolf  19, 53 Steinmeyer, Kurt  58–61, 65 Stevenson, Charles L.  160 Storr, Gottlob Christian  223 f. Strauß, Franz Josef  204, 206

281

Strauss, Leo  177, 179 Strauß, Richard  243 Strawson, Peter  158 f., 232 Striedter, Jurij  252 Stuckenschmidt, Hans Heinz  111 Stülpnagel, Carl-Heinrich von  111 Suhrkamp, Peter  121, 136 Szondi, Peter  119 f. Tarski, Alfred  170 Taubes, Jacob  135 f., 143, 160 Taylor, Charles  198 Tessenow, Heinrich  246 Tetens, Johannes Nikolaus  219 Theunissen, Michael  118, 122 f., 129, 133 Thoreau, Henry David  165, 248 Thukydides 56 Tillich, Paul  72 Tolkien, J. R. R.  140 Toller, Ernst  190 Toynbee, Arnold J.  156, 248 Trier, Hann  250 Tschizewskij, Dimitrij  194 Tugendhat, Ernst  31, 118, 122, 131 f., 160, 213 Ubbelohde, Otto  245 Uffenorde, Walther  11 Unseld, Siegfried  120 f., 136, 141, 143, 178, 192, 227 Urmson, James  158 f. Vergil 59 Verra, Valerio  188 Vogeler, Heinrich  199 Vogeler, Jan  199 Voß, Johann Heinrich  107 Wagenbach, Klaus  141 Walsh, William Henry  158 f. Weber, Alfred  86 f., 144 Weber, Marianne  85–87, 90

282 Personenregister Weber, Max  10, 72, 82–91, 105, 107, 122, 173, 179, 197, 213, 215, 218, 234, 242, 273 Weischedel, Käthe  123 Weischedel, Wilhelm  110, 116, 118, 120–124 Whitehead, Alfred North  157, 180 Wieseltier, Leon  164 Wilder, Thornton  249

Windelband, Wilhelm  86 Wisdom, John  159 Wittgenstein, Ludwig  136, 158 f., 162, 172, 183 f., 260 f., 266 Wolff, Christian  137, 219 Woolf, Virginia  252 Wordsworth, William  227 Xenophon 56

Zum Buch Er ist eine der prägenden Figuren der deutschen Philosophie nach 1945: Dieter Henrich, „ein Meister des erzählenden Gesprächs“ (Alexander Camann), führt durch sein an Erfahrungen und Begegnungen reiches Leben und verwebt es mit den großen Fragen und Denkfiguren der Gegenwartsphilosophie. Er erzählt von seinen Begegnungen mit Hans-Georg Gadamer, Martin Heidegger, Theodor W. Adorno, Jürgen Habermas, Hilary Putnam oder Sergiu Celibidache und lässt die Schauplätze seines langen Lebens Revue passieren: das Marburg der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegsjahre, Berlin zur Zeit des Mauerbaus, Heidelberg während und nach der Studentenbewegung, Moskau im Kalten Krieg, New York und Harvard in den 1970er und 80er Jahren, schließlich die Arbeitsklausur unter Weltwandlungen in München. Scheinbar mühelos verbindet hier ein so eleganter wie altersweiser Denker die Kraft der philosophischen Begriffsbildung mit einer überall spürbaren Nähe zur Bedrängnis, Entfaltung und Besinnung des konkreten Menschen. Und zieht so seine Leser in den Bann und ins Denken – nimmt sie mit auf dem Weg des Philosophierens.

Über den Autor Dieter Henrich ist einer der einflussreichsten deutschen Philosophen mit internationalem Renommee. Er ist Mitglied vieler nationaler und internationaler Akademien sowie Träger zahlreicher Ehren und Auszeichnungen, darunter des Deutschen Sprachpreises. Matthias Bormuth hat seit 2012 die Heisenberg-Professur für Vergleichende Ideengeschichte an der Universität Oldenburg inne und leitet dort das KarlJaspers-Haus. Ulrich von Bülow ist Leiter der Abteilung Archiv im Deutschen Literaturarchiv Marbach.