Ins Unbekannte: Eine Weltreise in die Geschichte 3806241147, 9783806241143

Eine Reise um die Welt: Welche Geschichte wohnt den Orten inne? Ob in Baku, Singapur oder Cornwall, auf Haiti oder Neus

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German Pages 896 [923] Year 2020

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Table of contents :
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Titel
Impressum
Inhalt
Einleitung. Wo die Zitronen blühn – Von Pilgern und Entdeckern
1. Kerno: Das Reich des Quonimorus
2. Baki – Baku: Flame Towers im Land des Feuers
3. Al-Imarat: Berge von Geld und tankerweise Missverständnisse
4. Dilli – Delhi: Dalits, Tempel und Salutschüsse
5. Melayu: Amok oder amuk an der „schlammigen Mündung“
6. Singapura: Inselstadt der Tiger und Löwen
Intermezzo. Oriens: Richtung Sonnenaufgang
7. Moris: Im Land der Kreolen und Dodos
8. Tassie: Das „Down Under“ von „Down Under“
9. Aotearoa: Laufvögel im „Land der langen weißen Wolke“
10. Otaheiti: Auf der Jagd nach dem Paradies
11. Tejas: Comanchen, Chicanos und Siedler – Freunde und Feinde
12. Mannahatta: Delawares, Holländer und viele Sklaven
13. Rückkehr, transatlantisch: Widersinnig oder doch im Sonnensinn?
14. FRA: Boarden, Fliegen, Abstürzen, Verschwinden und Landen
15. Imperium: Europäische Geschichte wird exportiert
Nachwort
Anmerkungen
Ortsregister
Abbildungsverzeichnis
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Ins Unbekannte: Eine Weltreise in die Geschichte
 3806241147, 9783806241143

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Norman Davies Ins Unbekannte

Norman Davies

Ins Unbekannte Eine Weltreise in die Geschichte Aus dem Englischen von Tobias Gabel und Jörn Pinnow

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Beneath Another Sky. A Global Journey into History by Penguin Books Ltd, London. Text copyright: © Norman Davies 2017

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. wbg Theiss ist ein Imprint der wbg © 2020 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Lektorat: Kristine Althöhn, Mainz Satz: Vollnhals Fotosatz, Neustadt a. d. Donau Umschlagabbildung: Claude Lorrain, „Einschiffung des Odysseus“ (1646), Paris, Musée du Louvre. Foto: © akg images. Umschlaggestaltung: Harald Braun, Helmstedt Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Czech Republic Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8062-4114-3 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-8062-4123-5 eBook (epub): 978-3-8062-4124-2

Inhalt Einleitung. Wo die Zitronen blühn – Von Pilgern und Entdeckern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1. Kerno: Das Reich des Quonimorus

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

2. Baki – Baku: Flame Towers im Land des Feuers

. . . . . . . . . . . . . . . . . . 81

3. Al-Imarat: Berge von Geld und tankerweise Missverständnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 4. Dilli – Delhi: Dalits, Tempel und Salutschüsse

. . . . . . . . . . . . . . . . . .

5. Melayu: Amok oder amuk an der „schlammigen Mündung“

. . . . .

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. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6. Singapura: Inselstadt der Tiger und Löwen Intermezzo Oriens: Richtung Sonnenaufgang

185

7. Moris: Im Land der Kreolen und Dodos

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

8. Tassie: Das „Down Under“ von „Down Under“

. . . . . . . . . . . . . . . . .

9. Aotearoa: Laufvögel im „Land der langen weißen Wolke“ 10. Otaheiti: Auf der Jagd nach dem Paradies

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. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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11. Tejas: Comanchen, Chicanos und Siedler – Freunde und Feinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 607 12. Mannahatta: Delawares, Holländer und viele Sklaven

. . . . . . . . . . .

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13. Rückkehr, transatlantisch: Widersinnig oder doch im Sonnensinn? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 729 1 4. FRA: Boarden, Fliegen, Abstürzen, Verschwinden und Landen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 755 15. Imperium: Europäische Geschichte wird exportiert

. . . . . . . . . . . . .

797 5

Inhalt

Nachwort

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 841 Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 876 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 888

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Einleitung Wo die Zitronen blühn – Von Pilgern und Entdeckern Die liebste Lektüre meiner Mutter war John Bunyans Pilgerreise (The Pilgrim’s Progress).1 Über Jahre lag dieses Buch auf ihrem Nachttisch, fast wie ein stiller Tadel an die Adresse meines Vaters, dessen sehr viel seichterer Lieblingsschmöker, Der Graf von Monte Christo, stets neben seinem Kissen auf der gegenüberliegenden Seite des Bettes zu finden war.2 Die Helden dieser beiden Bücher verkörperten die so verschiedenen Gemüter meiner Eltern – und ich habe allen Grund zu der Annahme, dass „der Pilger“ und „der Graf“ auch in jenen Augenblicken diskret zugegen waren, in denen mein eigener Lebensweg seinen Anfang nahm. Trotz einer obligatorischen Wallfahrt zu der Stelle, wo in Elstow, Bedfordshire, einmal sein Geburtshaus gestanden hatte – ich muss damals sieben oder acht Jahre alt gewesen sein  –, bin ich mit Bunyan nie wirklich warm geworden. Er ist Puritaner gewesen – mehr noch: ein puritanischer Prediger, ernst und streng. Und doch habe ich ausgerechnet bei ihm jene wunderbare Allegorie kennengelernt, die den Lebensweg als eine Reise durch wechselvolles Gelände beschreibt, mitsamt allen „Sümpfen der Verzweiflung“, aber auch mit „herrlichen Höhen“; als eine Reise, an deren Ende die Ankunft in einer „himmlischen Stadt“ lockt. Bei der allmorgendlichen Schulversammlung schmetterten wir aus voller Kehle Bunyans mitreißendes To Be a Pilgrim, das einzige Kirchenlied aus seiner Feder: He who would valiant be ’Gainst all disaster, Let him in constancy Follow the Master. There’s no discouragement 7

Einleitung

Shall make him once relent His first avowed intent To be a pilgrim.

Wer sich im Lebenssturm fest will bewähren, folge dem Meister nur und seinen Lehren. Keiner Enttäuschung Schlag zeitigt, dass er verzagt und schließlich ganz entsagt dem Weg des Pilgers.3

Die markante Melodie von Ralph Vaughan Williams, nach der Bunyans Text heute meist gesungen wird, trägt zu der immensen Wirkung des Liedes noch einiges bei. Das Singen von Kirchenliedern war ein wesentlicher Teil meiner Erziehung. Noch immer kann ich mich ans Klavier setzen und Dutzende dieser Lieder aus dem Gedächtnis spielen. Aber keines davon kommt für mich an Cwm Rhondda heran, ein ursprünglich walisisches Lied, das als „Gebet um Stärke auf der Reise durch die Wildnisse dieser Welt“ ins Englische übertragen wurde. Es erklingt in einem kräftigen As-Dur und ist, was kräftigende Kirchenlieder angeht, das Stärkungsmittel überhaupt: Guide me O Thou, Great Redeemer, Pilgrim in this barren land. I am weak, but Thou art mighty; Hold me with Thy powerful hand. Bread of Heaven! Bread of Heaven! Feed me till I want no more. When I pass the banks of Jordan Bid my anxious fears subside. Death of death, and Hell’s destruction Bring me safe to Canaan’s side. Songs of Praises! Songs of Praises! I will ever give to Thee. 8

Wo die Zitronen blühn – Von Pilgern und Entdeckern

Leite mich, du großer Retter, den Pilger in der Wüstenei. Ich bin schwach, doch du bist mächtig; deine Rechte mach’ mich frei. Brot vom Himmel! Brot vom Himmel! Gib mir, bis ich hab’ genug. Wenn ich Jordans Fluten quere, lindre meiner Ängste Qual. Todes Tod, der Höll’ Zernichtung führ’ mich heim in Kanaans Saal. Halleluja! Halleluja! will ich singen immerdar.4

Wann immer ein „Sumpf der Verzweiflung“ sich drohend auftut: ein oder zwei schnelle Durchgänge von Cwm Rhondda, und man kann seine Reise sicheren Schrittes fortsetzen. Ein- oder zweimal im Jahr nimmt mein Sohn Christian (der unter anderem nach dem Helden von Bunyans Buch so getauft wurde) mich mit ins Millennium Stadium von Cardiff – um ein Rugbyspiel zu sehen, natürlich, aber auch, damit ich den Fangesängen lauschen kann. Bei diesen Gelegenheiten wird der walisische Text von Cwm Rhondda gesungen, und das sogar mit noch mehr Inbrunst: Arglwydd, arwain trwy’r Fi berein gwael ei wedd Na does ynof nerth na bywyd Fel yn gorwedd yn y bedd: Hollaluog! Hollaluog! Ydw’r Un a’m cwyd i lan Ydyw’r Un a’m cwyd i lan.5

Sowohl mein Vater als auch meine Mutter haben ältere Brüder im Ersten Weltkrieg verloren, der noch heute in Großbritannien schlicht als „der große Krieg“, the Great War, bezeichnet wird. Die meisten populären ­Stücke aus ihrem Liederschatz entstammten jenen Kriegsjahren und tauchten – damit ich auch noch etwas davon hatte – in den 1960er-Jahren in Joan Littlewoods brillantem (später auch verfilmten) Satire-Musical Oh, What a 9

Einleitung

Lovely War! wieder auf. Meist geht es in diesen Liedern um Verlust und Sehnsucht: There’s a long, long trail a-winding Into the land of my dreams Where the nightingales are singing, And a white moon beams. There’s a long, long night of waiting Until my dreams come true, Till the day when I’ll be going down That long, long trail with you.

Eine lange Straße windet sich für mich in einen Traum, wo die Nachtigall verkündet Fried’ in mondbeglänztem Baum. Eine lange Nacht, die dauert ohne dich noch mal so lang – wann erwach’ ich mit dem Schauer, dass ich mit dir dort wandeln kann?6

Nur wenige moderne Popsongs, finde ich, können da mithalten, was Melodie, Stimmung oder Aussage angeht. In der achten oder neunten Klasse lasen wir in der Schule William Hazlitts On Going a Journey („Über das Reisen zu Fuß“), einen Klassiker des englischen Essays. Für mich war es eine wahre Offenbarung, dass da einer seine eigenen Gedanken und Gefühle mit derart gründlicher Präzision – und in aller Seelenruhe!  – zergliedern und reflektieren konnte. Hazlitt (1778–1830), der tatsächlich ein ziemlich erbärmliches Leben führen musste, feiert in seinem Essay die Freuden der Einsamkeit und den therapeutischen Nutzen des Reisens. Am bekanntesten ist der folgende Satz: It is better to travel than to arrive – „Reisen ist besser als ankommen“ oder anders gesagt: Der Weg ist das Ziel. Aber Hazlitts Text enthält noch weitere Perlen: „Nie bin ich weniger allein, als wenn ich ganz allein bin“ etwa oder das folgende Motto: „Gebt mir den strahlend blauen Himmel über mir, das saftig-grüne 10

Wo die Zitronen blühn – Von Pilgern und Entdeckern

Gras unter meinen Füßen und drei Stunden Fußmarsch bis zum Abendessen – und dann wird nachgedacht!“7 Zu meinem ewigen Vorteil teilten gleich mehrere meiner Lehrer Hazlitts Philosophie; immer wieder unternahmen sie mit uns Ausflüge, bei denen wir jede Menge saftig-grünes Gras unter die Füße bekamen. Ich kann nicht sehr viel älter als zehn Jahre gewesen sein, da hatte ich bereits die fells des nordenglischen Lake District erklommen, angefangen mit dem Helvellyn und seinen immerhin 951 Metern; ich hatte den Peak District in Mittelengland erkundet (zuerst bestiegen wir den Mam Tor) und war über die Lichtungen des altehrwürdigen New Forest in Südengland gestreift, wo wir in Queen’s Bower auf der Isle of Wight unser Lager aufgeschlagen hatten. Ich war durch die Einöde von Dartmoor im Südwesten Englands gewandert und hatte mein Zelt vor den Mauern einer Burg in den schottischen Highlands aufgeschlagen, während der Dudelsackspieler des lairds – des Burgherrn – uns eine Serenade blies. Ein weiterer Lehrer, der in nur kurzer Zeit einen tiefen Einfluss auf mich ausübte, war David Curnow, der später Professor für englische Literatur an der Amerikanischen Universität von Beirut werden sollte. Als jungem Cambridge-Absolventen hatte man ihm die beinah unmögliche Aufgabe übertragen, in die Dickschädel einer Horde von Oberstufenschülern, die noch dazu Englisch als Hauptfach bereits abgewählt hatten, so etwas wie literarische Sensibilität einzutrichtern. Hochgewachsen und elegant, spielte er seine Rolle perfekt: das Haar zu einer modischen Tolle nach Art der Teddy Boys frisiert, mit einer etwas geckenhaften Krawatte angetan und in Hosen aus Cavalry-Twill, an deren akkurat gepressten Bügelfalten man sich hätte schneiden können. Seine Strategie war es, leise und unauffällig den Raum zu betreten, die Hände in den Hosentaschen – wobei er den Tumult, den wir gerade veranstalteten, vollkommen ignorierte  –, sich ein Stück Kreide zu schnappen und (ohne auch nur ein Wort zu sagen) einige Verse an die Tafel zu schreiben. Dann drehte er sich blitzschnell um, sah den Dickschädeln unerschrocken ins Auge (wobei er weiter schwieg)  – und wartete auf eine Reaktion: Ah Sun-flower! weary of time, Who countest the steps of the Sun: Seeking after that sweet golden clime Where the traveller’s journey is done. Where the Youth pined away with desire, And the pale Virgin shrouded in snow: 11

Einleitung

Arise from their graves and aspire, Where my Sun-flower wishes to go.

Ach, Sonnenblume! du bist es müd, zu bemessen der Sonne Hast, suchend das glückliche Land im Süd, wo der Reisende findet Rast: Wo der Jüngling, der hinschwand in Schmachten, und die Jungfrau, das Herz vereist, aus den Gräbern erstehn und trachten, wohin meine Sonnenblume weist.8

Der Effekt war enorm: Der Tumult ebbte ab, und Schweigen fiel auf den Raum voller pubertierender Burschen, die alle bereits selbst erfahren hatten, was es hieß, „in Schmachten hinzuschwinden“, und die nun plötzlich begriffen, dass William Blake mit ihnen selbst sprach, wenn er über das Leben und den Tod, über Sexualität und spirituelle Grenzerfahrungen dichtete. Etwa zur selben Zeit entdeckte ich, ganz zufällig, die Welt der Reiseliteratur. Beim Stöbern in der Stadtbücherei von Bolton stieß ich auf eine ungewöhnlich große Abteilung mit Reiseberichten und -erzählungen, die meisten davon aus viktorianischer Zeit. Unter den Büchern, die sich mir besonders eingeprägt haben, waren solche Klassiker wie Arthur Youngs Reisen durch Frankreich (1792), Alexander Kinglakes Eothen (1844), Wildes Wales von George Borrow (das meine Neugier auf Genealogie und Familienforschung lenkte), Robert Louis Stevensons Reise mit dem Esel durch die Cevennen (1879), dem ich eine tiefe Faszination mit dem ländlichen Frankreich verdankte, und Joshua Slocums fesselnder Bericht von seiner SoloWeltumseglung, Allein um die Welt (1900). Mein unbestrittener Favorit war jedoch William Cobbetts Rural Rides („Ritte über Land“, 1830), in dem sich detaillierte Beschreibungen von weiten Ausritten durch das vorindustrielle England mit prägnanten politischen und sozialen Analysen und Urteilen verwoben. Schon lange bevor ich selbst nach Oxford kam, konnte ich bei Cobbett nachlesen, worauf ich mich einzustellen hatte: Wie mir die große Menge von Bauwerken in den Blick kam, die sie in Oxford als die Bienenstöcke ihrer sogenannten „Gelehrsamkeit“ errichtet haben, da konnte ich nicht anders, als an all die Drohnen zu denken, die 12

Wo die Zitronen blühn – Von Pilgern und Entdeckern

darin hausen, und an all die Wespen, die Jahr für Jahr daraus hervorschlüpfen! Mögen manche unter diesen Geschöpfen auch noch so bösartig sein, ihr auffälligster, ja ihr beherrschender Charakterzug bleibt doch die Torheit: völlige Leere in den Köpfen, Mangel an Talent, und die Hälfte der Kerle, die sie hier gebildet nennen, taugte noch nicht einmal als Gehilfe in einem Kramladen oder Tuchkontor. … Da stieß ich unwillkürlich und wie zu mir selbst hervor: „Herbei, o ihr Großkopferten, ihr prächtig genährten Doktoren! Herbei, ihr vermögenden Kirchenmäuse, denen arme Schlucker per annum einhunderttausend Pfund Sterling in die Geldkatze stecken! … So kommt doch herbei und schaut mir ins Gesicht, der ich mit der Schreibarbeit meiner Mußestunden [mehr] unter euren Schäfchen gewirkt habe als ihr alle zusammen in dem vergangenen halben Jahrhundert!9

Kaum weniger inspirierend für einen heranwachsenden Burschen wie mich waren fiktionale Reiseerzählungen. Unter den Büchern, die ich vor Begeisterung geradezu verschlang, waren Jules Vernes Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer, Arthur Conan Doyles Die vergessene Welt und König Salomons Schatzkammer von H. Rider Haggard. Als ich einmal mit Mumps oder Masern das Bett hüten musste, las ich Die Zeitmaschine von H. G. Wells – das heizte meine Fieberträume wohl eher noch an! In meiner Fantasie erfand ich eine eigene Maschine, mit der man die Lichtstrahlen, die von einem beliebigen Ereignis in der Geschichte reflektiert worden waren, auffangen, bündeln und wiederum projizieren konnte. Auf diese Weise – man musste nur die Regler an der Maschine auf einen bestimmten Ort und eine bestimmte Zeit einstellen, wie etwa „Thermopylen, –480“ oder „Hastings, +1066“ – würde man dann ein wahrheitsgetreues Bild der jeweiligen Szene rekonstruieren können. „Tatsächlich gibt es vier Dimensionen“, heißt es bei Wells, „von denen wir drei die Ebenen des Raumes nennen, und eine vierte, die Zeit.“ Das ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Nach mühsamen Reisen durch Raum und Zeit würde ich reich belohnt werden: mit grenzenlosem Wissen, den Eindrücken von unzähligen Wundern und allen Geheimnissen dieser Erde!10 Heute fällt mir immer wieder auf, dass die angeblichen Experten, denen wir Top-10- oder Top-20-Listen der „Besten Reisebücher aller Zeiten“ verdanken, die Ursprünge des reiseliterarischen Genres fast ausnahmslos ignorieren.11 Die meisten Autoren, die sich gegenwärtig über Reiseliteratur äußern, scheinen beispielsweise in seliger Unkenntnis von Goethes Italienischer Reise zu schreiben – eines wahren Grundpfeilers des reiseliterari13

Einleitung

schen Kanons! Goethe bereiste Italien während zweier Jahre unmittelbar vor der Französischen Revolution, aber er veröffentlichte seine Aufzeichnungen von dieser Rundreise erst mehr als drei Jahrzehnte später, nachdem er sie durch umfangreiche Reflexionen und Kommentare erweitert hatte. Auf den ersten Blick ähnelt sein Bericht den unzähligen Beschreibungen der Grand Tour, die betuchte Bildungsreisende aus ganz Europa schon seit Jahrhunderten zu Papier gebracht hatten. Tatsächlich jedoch war die Italienische Reise höchst innovativ. Nach Goethes über Jahre gereifter Überzeugung bestand der höchste Zweck des Reisens darin, Selbst-Entdeckung zu betreiben; das Reisen war für ihn gleichsam eine „Schule des Sehens“, aber er wollte, wie er schrieb, vor allem sich selbst besser in den Blick bekommen: „Ich mache diese wunderbare Reise nicht, um sich selbst zu betriegen [sic], sondern um mich an den Gegenständen kennen zu lernen …“12 Indem er immer neue, unbekannte Landschaften, Kunstwerke und Menschen aufsuchte und kennenlernte, suchte Goethe also – indem er der Wirkung nachspürte, die diese Erlebnisse auf ihn hatten –, mehr über seine eigenen Vorlieben und vorgefassten Meinungen zu erfahren. Das tat er zu einem großen Teil im Rahmen seiner „Entdeckung der Antike“, wie man diese Etappe seines Lebenswegs charakterisiert hat: Goethe gelangte zu der Einsicht, dass die Griechen und Römer uns keineswegs nur Scherben und Ruinen hinterlassen hatten, sondern quicklebendige Traditionen. So kann man sein Reisen und das Schreiben darüber als Teile eines großen Experiments begreifen, das kulturelle und psychologische Fragestellungen miteinander verband. Goethe war also alles andere als ein simpler Chronist. Und obwohl die Italienische Reise auf seinen Reisetagebüchern der Jahre 1786–88 basiert, hat ihr die spätere Überarbeitung – sorgfältig, Schicht um Schicht – einen eigentümlichen, schillernd-mehrdeutigen Charakter eingeschrieben. Sie war nun, wie Goethe selbst in einem Brief an seinen Freund Zelter bemerkte, „zugleich völlig wahrhaft und ein anmutiges Märchen“.13 Seine Liebe zu dem Land jenseits der Alpen indes hat ein Leben lang gehalten: Kennst du das Land? wo die Zitronen blühn Im dunkeln Laub die Gold-Orangen glühn, Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht, Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht, Kennst du es wohl? Dahin! Dahin Möcht ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn! …14 14

Wo die Zitronen blühn – Von Pilgern und Entdeckern

Und natürlich lautete das berühmte Motto, das Goethe seiner Italienischen Reise voranstellte: „Auch ich in Arkadien!“ – Et in Arcadia ego. Ich denke mir, dass die damalige Schulleiterin der Bolton School, Margaret Higginson, von ganz ähnlichen Ideen beseelt war, als sie es in den Osterferien 1956 wagte, mit einem Trupp halbwüchsiger Jungen und Mädchen nach Venedig, Florenz und Verona aufzubrechen. Als Lektüreempfehlung für die lange Zugfahrt wies sie uns auf ein schmales Bändchen hin, in dem die Klassiker der lateinischen Literatur in ihrem Zusammenhang mit der italienischen Landschaft vorgestellt werden. Es hieß Poets in a Landscape (Römisches Arkadien. Dichter und ihre Landschaft), und ich war sofort gefesselt  – der Beginn einer lebenslangen Begeisterung.15 Was ich damals nicht wusste, war, dass der Verfasser des Büchleins, Gilbert Highet – ein Altphilologe schottischer Herkunft, der sich an amerikanischen Universitäten einen Namen gemacht hatte –, zuvor bereits eine wahre „Bibel“ seiner Zunft publiziert hatte: The Classical Tradition.16 „Die Welt ist klein geworden heutzutage“, hatte Highet in einem anderen Buch namens People, Places and Books geschrieben, „aber die Geschichte bleibt doch weit und tief. Mitunter kommt man weiter herum, wenn man in den eigenen vier Wänden ein Geschichtsbuch liest, als wenn man mit Schiff oder Flugzeug Tausende von Meilen zurücklegt.“17 Ich war gerade achtzehn geworden, da reiste ich zum ersten Mal allein ins Ausland. Die Aufnahmeprüfungen für Oxford hatte ich bereits erfolgreich hinter mich gebracht; nun sollte ich in der Dauphiné, genauer gesagt in Grenoble, mein gesprochenes Französisch vervollkommnen – und wohl auch meine Eigenständigkeit und „Überlebensfähigkeit“ in fremder Umgebung unter Beweis stellen. Den Plan für diese Expedition hatte ich mir selbst überlegt, inspiriert durch meine Lieblingscousine Sheila, die vor dem Zweiten Weltkrieg dort studiert hatte und in deren Fußstapfen ich – so viel stand fest – nun treten wollte. Die genaue Wahl meines Ziels war indes auch durch die Nähe der französischen Alpen beeinflusst. So belegte ich Kurse an der Universität von Grenoble und nahm ein Zimmer bei der Familie De la Marche in der Rue du Lycée, Hausnummer 5 (das Haus steht nun schon lange nicht mehr). Der freundlichen Zuwendung meiner verwitweten Zimmerwirtin – Madame la Baronne – verdanke ich viel. Ich freundete mich mit ihren Söhnen an, Christian und Bernard, und zog – obwohl ich mein Reisegeld ja eigentlich nicht zum Skifahren geschickt bekam – bei jeder sich bietenden Gelegenheit in die Berge hinauf. Wie ich bald herausfand, war es einer der besten Wege, mein Französisch zu verbessern, mich selbst als „Lehrer“ zu betätigten: Ich half Marie-Louise, der kleinen Schwester meiner 15

Einleitung

beiden Kameraden, bei ihren Hausaufgaben und wiederholte die Übungen in ihrem Lehrbuch dann für mich selbst. Marie-Louise, die von allen in der Familie nur Choupette gerufen wurde – „Süße“ oder „Püppchen“ etwa –, mag damals zwölf oder dreizehn Jahre alt gewesen sein. Eines Tages sollte sie ein Sonett aus dem 16. Jahrhundert auswendig lernen: Heureux qui, comme Ulysse, a fait un beau voyage, Ou comme cestuy-là qui conquit la toison, Et puis est retourné, plein d’usage et raison, Vivre entre ses parents le reste de son âge. Quand reverrai-je, hélas, de mon petit village Fumer la cheminée, et en quelle saison Reverrai-je le clos de ma pauvre maison, Qui m’est une province, et beaucoup davantage? Plus me plaît le séjour qu’ont bâti mes aïeux Que des palais Romains le front audacieux: Plus que le marbre dur me plaît l’ardoise fine. Plus mon Loir [sic] gaulois que le Tibre latin, Plus mon petit Liré que le Mont Palatin Et plus que l’air marin la douceur angevine.

Glücklich, wer wie Odysseus eine schöne Reise Machte oder der Mann, der einst das Vlies errang Und wiederkam, erprobt und voller Weisheit, lang Zu leben für den Rest nur im vertrauten Kreise! Wann seh ich wieder, ach, in meinem Dorf aufsteigen Den Rauch übern Kamin? In welcher Jahreszeit Seh ich den Garten dort, mein armes Haus – bereit Für mich Provinz zu sein, viel mehr noch: ganz mir eigen? Ich liebe mehr den Ort, wo meine Väter wohnten, Als die Paläste Roms mit ihren kühnen Fronten, Statt harten Marmors sagt mir feiner Schiefer zu, Mein kleiner gallischer Loir statt des Lateiners Tiber, Mehr als der Palatin ist mir mein Hügel lieber, Statt Salz und Meereswind – die Sanftheit des Anjou.18

Der Dichter dieser Zeilen, Joachim du Bellay, hatte die lange Reise aus ­seiner Heimat – dem Anjou im Westen Frankreichs – nach Rom auf sich 16

Wo die Zitronen blühn – Von Pilgern und Entdeckern

genommen und litt nun unter schrecklichem Heimweh  – ganz wie ich selbst bisweilen in Grenoble. – Was wohl Choupette heute macht …? Odysseus – oder „Ulysses“, wie du Bellay und die Römer ihn nannten – ist natürlich der Archetyp des europäischen Wanderers. Homer hat ihn zum Helden des zweiten Ur-Klassikers der europäischen Literatur gemacht. Odysseus (was womöglich so viel bedeutet wie „der Sorgenvolle“) war als Veteran des Trojanischen Krieges von der tückischen Nymphe Kalypso auf deren Insel festgesetzt worden und kehrte erst nach zehn langen Jahren voller gefährlicher Abenteuer in seine Heimat auf der Insel Ithaka zurück. Homers epischer Bericht von diesen Abenteuern umfasst genau 12 110 Verse im daktylischen Hexameter. Meine eigene Ausgabe der Odyssee – eine englische Prosaübertragung – habe ich zu einer Zeit gekauft, als man mir mit einigem Druck nahelegte, ich solle mich doch für den auserlesenen Kreis derer bewerben, die an meiner Schule Griechisch lernten. Die HomerÜbersetzung fand ich dann allerdings – leider! – alles andere als spannend. „Schon hatten alle Überlebenden des Krieges den Weg in die Heimat gefunden“, begann sie ganz nüchtern, „und so die Gefahren von Schlachtfeld und Seefahrt hinter sich gelassen …“19 Vielleicht wäre mein Enthusiasmus größer gewesen, hätte mir nur jemand von der viel älteren Übersetzung George Chapmans (1559–1634) erzählt, eines Zeitgenossen Shakespeares, der nur ein Jahr vor dem Tod Joachim du Bellays geboren wurde. Dann hätte mich womöglich auch jener glühende Eifer gepackt, den John Keats in seinem Sonett On First Looking into Chapman’s Homer („Als er zum ersten Mal in Chapmans Homer las“) so trefflich beschrieben hat: Much have I travelled in the realms of gold, And many goodly states and kingdoms seen; Round many western islands have I been Which bards in fealty to Apollo hold. Oft of one wide expanse had I been told That deep-brow’d Homer ruled as his demesne; Yet did I never breathe its pure serene Till I heard Chapman speak out loud and bold …

Viel goldene Lande schon hab ich durchreist, Glänzende Macht und Herrschaft sah ich viel; Im Westen manches Eiland fand mein Kiel, Freistatt den Dichtern nach Apolls Geheiß. 17

Einleitung

Oft kam von einem Großreich mir die Kunde, Dort, hieß es, herrscht mit hoher Stirn Homer; Doch spürt’ ich seine reine Luft nicht eher Als Chapmans Kraft mir sprach mit kühnem Munde …20

Chapmans Homer-Übertragung aus dem 17. Jahrhundert, von der Keats so begeistert war, ist in kunstvollem Paarreim gehalten, wobei jeder Einzelvers zehn Silben zählt. Die berühmte Eröffnung der Odyssee („Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes …“) klingt bei Chapman demnach so: The Man (O Muse) informe, that many a way Wound with his wisedome to his wishèd stay; That wanderd wondrous farre when He the towne Of sacred Troy had sackt and shiverd downe. The cities of a world of nations, With all their manners, mindes and fashions, He saw and knew; at sea felt many woes, Much care sustaind, to save from overthrowes Himselfe and friends in their retreate for home …21

Nachdem ich das Griechische also törichterweise verschmäht hatte, blieb meine klassische Bildung auf das Lateinische beschränkt, dessen erhabene Perioden und imposantes grammatisches Innenleben ich bald bewundern lernte. Nach kurzer Zeit hatten wir uns genug sprachliches Rüstzeug angeeignet, um mit Vergils Aeneis bekannt gemacht zu werden, die ich allerdings eher mit Ehrfurcht denn mit mühelosem Verständnis las – und nicht selten griff ich auf die willkommene Hilfe eines zweisprachigen „Spickers“ zurück: Arma virumque cano, Troiae qui primus ab oris Italiam fato profugus Laviniaque venit litora, multum ille et terris iactatus et alto vi superum saevae memorem Iunonis ob iram, multa quoque et bello passus, dum conderet urbem inferretque deos Latio, genus unde Latinum Albanique patres atque altae moenia Romae.22 Waffentat künde ich und den Mann, der als erster von Troja, schicksalgesandt, auf der Flucht nach Italien kam und Laviniums 18

Wo die Zitronen blühn – Von Pilgern und Entdeckern

Küsten, viel über Lande geworfen und wogendes Meer durch Göttergewalt, verfolgt vom Groll der grimmigen Juno, viel auch duldend durch Krieg, bis er gründe die Stadt und die Götter bringe nach Latium, dem das Geschlecht entstammt der Latiner, Albas Väter und einst die Mauern der ragenden Roma.23

All diese Texte und Schreibweisen übten einen nachhaltigen Einfluss auf die abendländische Literatur aus. Der bedeutendste unter den vielen Erben und Nachfolgern Homers und Vergils war fraglos Dante Alighieri (1265– 1321), dessen tatsächlich göttliche Göttliche Komödie (Divina Commedia) mir noch bevorstand; während meines Studiums in Oxford sollte sie das Herzstück eines vertiefenden Prüfungsmoduls über „Das Zeitalter Dantes“ bilden. Dantes Vision von einer spirituellen Reise durch das Jenseits verdankte sich einer christlichen Perspektive, die seine heidnischen Vorläufer Homer und Vergil selbstverständlich nicht teilen konnten. Dennoch tritt der Florentiner in das große Triumvirat der Seelenreiseführer. Dante nennt Vergil lo mio maestro e ’l mio autore – seinen „Meister und Urheber“, weshalb er ihn auch als seinen Lotsen auf dem ersten Abschnitt der Reise ins Paradies verpflichtet. Über all diesen inneren wie äußeren Abenteuern und Erkundungsfahrten wurde mir immer deutlicher bewusst, dass zum Reisen mehr gehört als der bloße Ortswechsel von A nach B. Tatsächlich geht es im ganzen Prozess der Erziehung nur einerseits um den Unterricht im Klassenraum und das Studieren schlauer Bücher; genauso wichtig sind jedoch jene prägenden Einflüsse, denen die Lernenden in einer neuen Umgebung ausgesetzt sind, die ihre Wahrnehmung anregt. Zunächst hätte ich also ohne Weiteres dem Leitsatz zugestimmt, der da besagt  – vermeintlich unbestreitbar  –, dass „Reisen bildet“. Ich hätte auch Mark Twain zugestimmt, der, selbst ein ausgewiesener Weltenbummler,  das Folgende schrieb: „Reisen ist für Vor­ urteile, Bigotterie und Engherzigkeit lebensgefährlich, und viele unserer Leute benötigen es aus diesem Grunde dringend. Umfassende, gesunde und nachsichtige Vorstellungen von Menschen und Dingen kann man nicht dadurch erwerben, dass man sein ganzes Leben lang in einer kleinen Ecke der Welt vegetiert.“24 Heute bin ich mir da nicht mehr ganz so sicher. In einer Welt, in der das Reisen viel von seinen früheren Beschwernissen  – körperliche wie geistige – verloren hat, trifft man Menschen, die Tausende von Kilometern fliegen, nur um in Dubai ein wenig zu shoppen, in Bali am Strand zu liegen oder in Adelaide ein Cricket-Match anzusehen. „Dreimal bin ich schon auf 19

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den Galapagos-Inseln gewesen“, hat mir eine augenscheinlich betuchte amerikanische Dame einmal auf einem Langstreckenflug anvertraut, „und ich weiß überhaupt nicht, wo ich als Nächstes noch hin soll!“ Was lernen solche Leute, wenn sie reisen – von leichten Temperaturschwankungen und der nicht zu unterschätzenden Aufgabe, sich auf unterschiedlichen Flughäfen zurechtzufinden, einmal abgesehen? Manche Reisenden legen enorme Entfernungen zurück, ohne dass auch nur ein einziges ihrer sorgsam gehüteten Vorurteile dabei zu Bruch ginge. Reisen bildet – das mag sein, aber leider Gottes bildet es nicht automatisch: „Geht der weise Mann auf Reisen, kommt er weiser wieder her; / Will der Narr das auch beweisen, kommt er wieder närrischer“ – da hat der Volksmund nicht ganz unrecht. Erst kürzlich las ich, dass einer der frühesten Pioniere der Reiseschriftstellerei, der italienische Renaissancedichter Francesco Petrarca, vor fast siebenhundert Jahren zu demselben Schluss gelangt ist. Im Jahr 1336 bestiegen Petrarca und sein Bruder nämlich  – was zur damaligen Zeit absolut unerhört war – den Mont Ventoux in der Provence, woraufhin der Dichter in einem Brief an einen Freund seine Eindrücke von dieser Exkursion festhielt. Bei dem Aufstieg hatte er ein Exemplar von Augustinus’ Bekenntnissen (Confessiones) bei sich und las auf dem Gipfel eine passende Passage daraus: „Und da gehen die Menschen hin“, schreibt Augustinus da, „und bestaunen die Gipfel der Berge, die ungeheuren Fluten des Meeres, die breiten Wasserfälle der Flüsse, die Größe des Ozeans und die Bahnen der Sterne, aber sie vergessen dabei sich selbst …“ – über sich selbst staunen die wenigsten.25 Petrarcas Besteigung des Mont Ventoux am 26. April 1336 ist auch als der „Eröffnungstag der Renaissance“ bezeichnet worden.26 Petrarca selbst jedenfalls war regelrecht entrüstet, weil einige Bekannte, die er zu der Wanderung eingeladen hatte, diese einmalige Chance nicht ergreifen wollten: Seiner Meinung nach ließen sie eine ­frigida incuriositas erkennen, eine „kühle Teilnahmslosigkeit“ und Mangel an Neugier.27 Der vollständige Name von Bolton in Lancashire, der vormals unabhängigen Stadt, in der ich geboren wurde und aufgewachsen bin, ist „Bolton-leMoors“, was von der mittelalterlichen Stadtpfarrei gleichen Namens herrührt. (Dass Bolton inzwischen vom Großraum Manchester „geschluckt“ wurde, ist im Übrigen fast so unbegründet wie Putins Annexion der Krim.) Als junger Bursche habe ich viele glückliche Tage damit zugebracht, über die Heidelandschaft rund um Bolton zu streifen (die moors aus dem mittelalterlichen Stadtnamen), dabei die Kraft in meinen Beinen zu spüren, mich 20

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in Nebel und Regen zurechtzufinden – und über den „richtigen Weg“ für das Leben im Allgemeinen nachzusinnen. An lauen Sommerabenden konnte man den Rivington Pike erklimmen, einen hohen Hügelkopf am Rand des Heidelandes, und zusehen, wie die Sonne in der fernen Irischen See versank. Meist war dann auch die Spitze des Blackpool Tower zu sehen, 40 Meilen – gut 65 Kilometer – entfernt, am anderen Ende der flachen Halbinsel Fylde. Und wenn dann der Lichteinfall und die Luftfeuchtigkeit genau richtig waren, konnte man am Horizont gerade so auch noch die dunklen Umrisse der Isle of Man ausmachen. Das war für mich damals „der Westen“. Irgendwo hinter dem Horizont lag Irland, hinter Irland der Atlantik und jenseits des Atlantiks – Amerika! Über viele Jahre hinweg verlockte mich jedoch nichts, über das Meer nach Westen zu gehen. Und auf der Isle of Man bin ich bis heute nicht gewesen. Wenn ich nun also auf dem Gipfel des  – immerhin rund 360  Meter hohen – Rivington Pike hockte, neben dem Aussichtsturm und mit Blick auf einen feuerroten Sonnenball, der langsam im dunklen Wasser versank, dann gab mir das zugleich Gelegenheit, ein wenig über meinen eigenen Ort in der Galaxis nachzudenken. Natürlich war es verlockend, dem jahrtausendealten Denkfehler der Menschheit nachzugeben und zu glauben, dass es die Sonne war, die sich bewegte, während ich selbst, der Aussichtsturm neben mir und der Hügel, auf dem er stand, an Ort und Stelle blieben. Aber irgendwann hatte ich einmal im Schulunterricht von jener großen Entdeckung gehört, die mit dem Namen Nikolaus Kopernikus verbunden ist: dass nämlich die Erde um eine statische Sonne kreist. Tatsächlich raste ja nicht nur die Erde mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von etwa 30 Kilometern pro Sekunde um die Sonne, sondern drehte sich gleichzeitig um ihre eigene Achse, was uns den Wechsel von Tag und Nacht bescherte. Und das mit einem geradezu höllischen Tempo: Auf etwa 53 Grad nördlicher Breite fuhr Rivington Pike (mit mir, dem Turm und der gesamten Erdoberfläche samt Atmosphäre) mit einer Geschwindigkeit von gut 965 Kilometern pro Stunde durch das All. Das konnte man zwar nicht spüren; aber wenn der Wind einem ins Gesicht blies, konnte man sich den Luftwiderstand der Atmosphäre wenigstens vorstellen. Und schloss man die Augen, dann fiel es nicht schwer, sich auszumalen, was „wirklich“ geschah: Ihrer vermeintlichen Bewegung zum Trotz hing die Sonne vollkommen still an ihrem Ort, während der Hügel samt Besatzung in einer weiten elliptischen Flugbahn durch das All auf und davon brauste. Ohne es direkt wahrnehmen zu können, war ich der Reiter einer gewaltigen planetaren DoppelSchubbewegung  – einer größeren um die Sonne, einer kleineren um die 21

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Erdachse. Das Einzige, womit man das vielleicht noch vergleichen konnte, waren die komplexen Dreh- und Schraubbewegungen auf den blinkenden Fahrgeschäften, die bei der alljährlichen Neujahrskirmes von Bolton die Hauptattraktion ausmachten. Dort gab es ein großes Karussell, das sich um einen Mittelpfosten drehte, während die einzelnen Gondeln – wir nannten sie „Wirbler“ – zugleich um ihre eigene Achse rotierten. Wesentlich häufiger jedoch zog es mich nicht nach Westen, sondern in die entgegengesetzte Richtung, und dann stürzte ich mich in die wilden, geheimnisvollen Heidemoore im Landesinneren. Wenn ich an der Ostflanke des Winter Hill stand, konnte ich mühelos den Peel Tower auf dem Holcombe Hill bei Ramsbottom ausmachen sowie, etwas weiter entfernt, das düstere Band der Blackstone Edge, einer langgezogenen Felswand aus dunklem grobem Sandstein, die an der Grenze zwischen Lancashire und Yorkshire liegt. Bevor die Ära der Autobahnen anbrach, war Yorkshire, dessen Einwohner damals noch allgemein als „Tykes“ bekannt waren, eine seltsame und wenig zugängliche Gegend, wo die Leute nur mit Grabesstimme sprachen und aus Prinzip in der Mitte der Straße fuhren. Das war – für mich, wohlgemerkt – die Exotik des „fernen Ostens“. Jenseits von Yorkshire lag die Nordsee und am anderen Ufer der Nordsee, wie ich wusste, das europäische Festland. Wenn Rivington Pike also mein persönlicher Sonnenuntergangs-Tempel war, dann war der Osthang des Winter Hill das Observatorium des Sonnenaufgangs. Man konnte dort herrlich zwischen Heidekraut und Grasbüscheln sitzen, den Lerchen und den Brachvögeln lauschen und dem noch jungen Tag bei seinem allmählichen Anwachsen zusehen, bis er alle Höhenzüge und Täler der Pennines – Englands gebirgigem Rückgrat – im hellen Sonnenlicht gebadet hatte. Das also war das Wunderland meiner Kindheit und Jugend. Es gab keinen besseren Ort, um sich in Zeit und Raum zu orientieren – und das alles direkt vor meiner Haustür! Ich stieg einfach in den Bus Nummer 19 oder 20 nach Doffcocker (oder noch weiter hinauf bis nach Montserrat) und stiefelte dann entlang der alten Straße nach Chorley an den Zäunen der Schafweiden vorbei. Unten sah ich den gewaltigen Moloch der alten Industriemetropole Manchester liegen, wo Millionen von Menschen zusammengepfercht waren. Vor mir jedoch lockten der klare, offene Himmel, eine leichte Brise, die von den Hügeln strich, und die Leere – selige, vollkommene Leere. Nach etwa einer Meile bog ich auf den Pfad ab, der gegenüber dem Pub Jolly Crofters am Bottom o’th‘ Moor zum Steinbruch hinaufführt, dann immer weiter hinauf zwischen Trockensteinmauern, bis ich, vor Anstrengung und freudiger Erwartung schon leicht außer 22

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Puste, auf die hohe, windgepeitschte Heide hinaustrat  – als Herr über alles, was ich sah. Schon früh war mir bewusst, dass meine Freiheit, nach Lust und Laune über Moor und Heide zu streifen, ein Privileg war, das es während der Kindheit meines Vaters beispielsweise noch gar nicht gegeben hatte; und in der Tat waren meine eigenen jugendlichen Ausflüge, wenn man es ganz genau nimmt, illegal. Bis in das frühe 20. Jahrhundert hinein blieben die braven Bürger von Bolton gezwungenermaßen zu Hause hocken, bis sie im Qualm ihrer eigenen Kohleöfen beinah erstickten, denn die Familie Bridgeman (geadelt mit dem Titel der Earls of Bradford), der das Heideland rund um die Stadt gehörte, wollte dieses als Jagdrevier für Moor- und Rebhühner der Öffentlichkeit vorenthalten. Das Thema lag auch William Cobbett sehr am Herzen. Zu seiner Zeit konnte man für das widerrechtliche Erlegen eines Stücks Federwild nach „Van-Diemens-Land“ deportiert werden  – in das heutige Tasmanien –; auf Widerstand gegen den Wildhüter stand gar die Todesstrafe. Cobbetts Entrüstung ist also vollkommen gerechtfertigt: Es heißt (und ich glaube es aufs Wort), dass in England eine größere Zahl von Männern wegen Verstößen gegen die Jagdgesetze inhaftiert sei, als in Frankreich (mit seiner mehr als doppelt so großen Bevölkerung) wegen aller möglichen Verbrechen zusammengenommen. Als sich ob der an den Priestern und den hohen Herren Frankreichs verübten Grausamkeiten ein lauter Aufschrei erhob …, musste Arthur Young bloß daran erinnern, welche Grausamkeiten unter dem Deckmantel des Jagdrechts am [französischen] Volk verübt worden waren: Wie viele hatte man nicht zu Galeerensklaven gemacht, weil sie Rebhühner, Fasane oder Hasen getötet oder ihnen auch nur nachgestellt hatten!28

Nachdem dann ein neues Jagdgesetz, der Game Act von 1831, erlassen worden war, der sowohl die Registrierung aller Wildhüter als auch feste Schonzeiten für das Wild vorsah, verlegte der Protest sich eher auf Problembereiche wie das Zugangs- und Wegerecht sowie die entsprechenden Strafen für das unbefugte Betreten von Privatgrund. Ich bin durchaus stolz darauf, dass mein Onkel Don – Donnie Davies, der Cricketspieler und Journalist, der bei dem großen Flugunglück von München im Februar 1958 ums Leben kam – bei den Massenprotesten, die schließlich zur Öffnung der Pennines rund um Bolton für die Allgemeinheit führten, eine entscheidende Rolle gespielt hat. Bereits 1910 – da war er 23

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gerade achtzehn Jahre alt – errichteten er und seine Mitverschwörer unter fadenscheinigem Vorwand ein Mahnmal an dem uralten Pfad, der über den Winter Hill führt. Irgendwo in den Akten hatten sie den Fall eines schottischen Kesselflickers namens George Henderson aufgetan, der auf der Heide von Rivington Moor im November 1838 „meuchlings ermordet“ worden war  – und bekamen doch tatsächlich die Genehmigung, dem armen Mann ein Denkmal zu setzen: „Zum ewigen Gedenken an …“ Unter den gestrengen Blicken von Polizisten und Wildhütern mühten die geschichtsbeflissenen jungen Männer sich den steilen Pfad hinauf, der von Belmont aus bergan führt; ein Esel zog den Karren mit dem schweren Pfosten aus Gusseisen, an dem die Plakette angebracht werden sollte. Doch kaum war Scotchman’s Stump – „der Schottenstummel“, wie das Denkmal noch heute im Volksmund heißt  – fest in seinem Fundament verankert, kaum hatte die eigentliche Zeremonie zu seiner Enthüllung begonnen, da erschienen entlang der Kuppe des Moores Hunderte wild entschlossener „Trauergäste“, deren schiere Anzahl die Ordnungskräfte völlig überforderte. Gegen eine Handvoll Demonstranten wurde ein Ordnungsgeld wegen unbefugten Betretens verhängt, aber von einem Zutrittsverbot für unbescholtene Spaziergänger war nach diesem Vorfall nie wieder die Rede. Andernorts in England dauerten ähnliche Kampagnen noch sehr viel länger. Der größte Fall von massenhaftem – wiewohl friedlichem – Hausfriedensbruch wurde 1932 auf der Hochebene von Kinder Scout in Derbyshire organisiert. Gesetzlich verankert wurde das „Recht auf freies Umherstreifen“ aber erst mit dem Countryside and Rights of Way Act („Gesetz über Landschaftsnutzung und Wegerechte“) aus dem Jahr 2000. Bei meinen Streifzügen über Moor und Heide gewöhnte ich mir zudem an, den Fakten und Ereignissen der Lokalgeschichte nachzuspüren, was vielleicht half, einen untergründig bereits angelegten, detektivischen Spürinstinkt weiter auszubilden. Wohin ich auch kam, fragte ich mich schon bald ­(und mit völliger Selbstverständlichkeit) nicht nur: „Was kann ich sehen?“, sondern ich begann, auch über das nachzudenken, was nicht mehr sichtbar war – jedenfalls nicht auf den ersten Blick. Das faszinierte mich: Dinge zu entdecken, die früher einmal dagewesen, aber inzwischen nur mit Mühe noch erkennbar waren. Das römische Britannien, für das man im England meiner Kindheit wohl eine gewisse „imperiale Affinität“ empfand, hat in Lancashire nur wenige Spuren hinterlassen. An den Ursprüngen der Stadt Manchester steht das Römerlager Mancunium, von wo ein Fächer von Pflasterstraßen in Richtung der nördlichen Grenze ausstrahlte. Mein Vater fuhr mit uns 24

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einmal nach Affetside, wo wir uns die kärglichen Überreste einer dieser Straßen, der in unserer Gegend sogenannten Watling Street, anschauen sollten. Gut 40 Kilometer weiter nördlich lag am Ufer des Flusses Ribble eine bedeutende römische Wehrsiedlung namens Bremetannicum Veteranum, das heutige Ribchester. Ein silberner Reiterhelm, der dort gefunden wurde, befindet sich heute im Britischen Museum in London.29 Zwar verließen die römischen Legionen Britannien im Jahr 410 unserer Zeitrechnung, doch die anschließende Migrationswelle der „angelsächsischen“ Invasoren hat unsere Gegend an der nordwestlichen Küste wohl erst mit einiger Verzögerung erreicht. Früher glaubte ich fälschlicherweise, der Name eines winzigen Dörfchens in der Nähe von Bolton – Anglezarke, das heute von Stauseen für die Wasserversorgung von Liverpool umgeben ist – sei ein Beleg für das frühe Eintreffen der Angeln. Wie sich herausstellte, lag ich mit meiner Herleitung des Namens falsch – aber immerhin damit hatte ich recht, dass sie irgendwann doch eintrafen und ihre Kultur mitbrachten. Da sowohl die Römer als auch die Angeln in unsere Gegend eingewandert waren, habe ich mir über die Identität der „echten Eingeborenen“ von Lancashire lange Zeit den Kopf zerbrochen. Wenn sie weder Latein noch Angelsächsisch sprachen – wer waren sie dann? Als Träger des urwalisischen Nachnamens „Davies“ hätte ich vielleicht schon etwas früher darauf kommen können … Die entscheidenden Hinweise geben uns zwei Hügel. Der eine heißt „Pendle“ und der andere, gleich hinter der Grenze nach Yorkshire gelegen, heißt „Pen-y-Ghent“. Pen- ist das walisische Wort für „Kopf“ oder „Gipfel“, und so verraten uns die beiden Namen, dass die „Ureinwohner“ von Lancashire – vor Römern und vor Angelsachsen – wohl keltischsprachige Britonen waren. Sie gehörten zu Wales lange bevor sie zu England oder zu Lancashire gehörten. Die Stadt Lancaster bezieht ihren Namen von der brythonischen (also keltischen) Bezeichnung für den heutigen River Lune, der wenige Kilometer hinter der Stadt in die Irische See mündet; und es ist nicht auszuschließen, dass große Teile der späteren Grafschaft Lancashire sich damals in den Grenzen des frühmittelalterlichen Königreichs Strathclyde befanden, dem Kingdom of the Rock, dessen Schwerpunkt entlang dem River Clyde im heutigen Schottland lag.30 Auch die angeblich so furchterregenden Wikinger haben mich immer fasziniert; schließlich bedeutet ja schon mein eigener Vorname, Norman, so viel wie „Nordmann“ oder eben „Wikinger“. Die Drachenschiffe der Männer aus dem Norden erschienen an den Küsten Britanniens erstmals am Ende des 8. Jahrhunderts; danach siedelten sie sich in Irland und im nördlichen Schottland an (das sie – aus ihrer Perspektive, versteht sich – Sutherland nannten, 25

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also „Südland“), in der Gegend von York und auch auf dem Gebiet der heutigen Grafschaft Cumbria. Irgendwann erfuhr ich einmal, dass „Anglezarke“ in Wahrheit auf das altnordische Anlafserg zurückgeht, was so viel bedeutet wie „Anlafs Hügelweide“. (In York regierte einst ein Wikingerkönig namens Anlaf Guthrisson.) Auch die Normannen, die England im Jahr 1066 eroberten, waren ihrer Herkunft nach „Nordmänner“. Erst wenige Generationen zuvor hatten sie sich, aus Skandinavien kommend, im Norden Frankreichs – der Normandie eben – angesiedelt. Diese mittlerweile Französisch parlierenden Ritter teilten nun also die Äcker und Weiden Englands unter sich auf, und einer von ihnen, Harvey de Walter, ein enger Gefolgsmann von Wilhelm „dem Eroberer“, baute sich eine Burg auf einem Hügel nicht weit von Bolton. Seine Nachfahren führten daraufhin den Nachnamen „De Hoghton“ oder „Houghton“, also etwa „vom hohen Platz“. Einmal habe ich meine Mutter zu einem Ausflug nach Hoghton Tower genötigt; wir mussten etliche Male mit dem Bus umsteigen. Beweise für das Gerücht, Shakespeare hätte einmal auf der Burg Zuflucht gesucht, konnten wir jedoch keine finden – und so bleibt der Besuch von König Jakob I. im Jahr 1617, bei dem dieser (der Legende nach) ein besonders schmackhaftes Stück Rindfleisch als „Sir Loin“ zum Ritter geschlagen haben soll, das einzige geschichtliche Ereignis von nationaler Bedeutung, mit dem Hoghton Tower seitdem in Verbindung gebracht wird. Die Bewohner des mittelalterlichen England waren demnach nicht annähernd so englisch, wie man uns immer glauben machen wollte. Bolton selbst wurde erstmals 1185 als „Boelton“ urkundlich erwähnt, aber ich habe nie herausfinden können, welche Sprache oder Sprachen die damaligen Old Boltonians wohl gesprochen haben. Das älteste Gebäude der Stadt, ein Fachwerk-Wirtshaus namens Ye Olde Man and Scythe („Zum Alten Schnitter“), ist zwar seit 1251 belegt, aber wer weiß schon, wann dort zum ersten Mal ausgeschenkt wurde – geschweige denn, welchen Namen das Wirtshaus damals trug. Ein einschneidendes Ereignis der englischen Geschichte war natürlich die Reformation, und der traurige Anblick von Klosterruinen, die als letzte Überreste von der Aufhebung der Klöster unter Heinrich VIII. zeugten, hat mich immer tief bewegt. Als Kind habe ich die Broschüren gesammelt, die das damals für ihren Erhalt zuständige Bauministerium über die einzelnen Klöster veröffentlicht hat; ja, ich schrieb dafür sogar das Ministerium in London an, damit man sie mir zusandte. Die selbst noch als Ruinen großartigen Überreste von Bolton Abbey, die wir auch besucht haben, befinden 26

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sich jenseits der Grenze zu Yorkshire. Aber Furness Abbey, das war – trotz der etwas weiteren Entfernung – unser Kloster. Dort erfuhr ich, dass Lancashire eines der Zentren der Pilgrimage of Grace („Pilgerfahrt der Gnade“) gewesen war, eines großen Bauernaufstandes, der sich 1536/37 gegen die Abspaltung der englischen Kirche von Rom richtete. Bei uns im Norden blieb der Katholizismus im Geheimen stark. Eine Biografie des 1970 heiliggesprochenen katholischen Märtyrers Edmund Campion untergrub für mich den Mythos, dass England ein von Natur aus tolerantes Land sei.31 Das Elisabethanische Zeitalter  – das letzte, bevor die Zusammenführung der englischen und der schottischen Krone sie zu „Briten“ machte – lieben die Engländer ganz besonders. In Bolton ist von dieser Blütezeit nicht viel zu sehen, ausgenommen vielleicht Teile von Smithills Hall, einem herrlich anzusehenden Tudor-Anwesen mit Fachwerkelementen. Gleichwohl wurden im Sommer 1588 auch auf dem Rivington Pike und anderswo in der Umgebung Signalfeuer entzündet, um vor dem Nahen der Spanischen Armada zu warnen. Als dann 1642 schließlich der Englische Bürgerkrieg ausbrach, befand sich Bolton fest in der Hand von Cromwells puritanischer Parlaments­ partei. Im Mai 1644 war die Stadt Schauplatz eines schrecklichen Massakers, bei dem zweitausend Einwohner von königstreuer Reiterei unter dem Prinzen Ruprecht von der Pfalz geradezu abgeschlachtet wurden. Nach Cromwells Sieg bezahlte der Wortführer der Royalisten am Ort, James, Earl of Derby, für dieses Blutbad mit seinem eigenen Leben. Bevor er auf dem Platz vor dem Wirtshaus enthauptet wurde, soll er sich im Old Man and Scythe ein letztes Mal gestärkt haben. Als meiner Grundschulklasse diese Geschichte erzählt wurde, standen wir alle wie versteinert neben der großen Säule mit dem Marktkreuz, nur wenige Schritte entfernt vom Schauplatz des Geschehens. Die industrielle Revolution machte Großbritannien binnen Kurzem zur Weltmacht, und was ein echter Boltonian ist, der schwört Stein und Bein, dass dies alles in Bolton begann. Genauer gesagt ist Samuel Crompton (1753–1827), der Erfinder des spinning mule, einer frühen Spinnmaschine, der als einfacher Weber in dem alten, schwarz-weiß gezimmerten Fachwerk-Gutshof von Hall i’th‘ Wood begonnen hatte, in der Stadt so etwas wie ein Lokalheld. Als wir  – wiederum auf einem Schulausflug  – durch jenes altehrwürdige Haus geführt wurden, in dem Crompton einst seine Erfindung gemacht hatte, sagte man uns, dass zwar die Stadt Bolton dank seiner Spinnmaschine reich geworden, der findige Mann selbst jedoch im Armenhaus geendet sei. 27

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Die familiären Wurzeln meiner Mutter reichten offenbar tiefer in die Stadtgeschichte von Bolton zurück als die meines Vaters  – immerhin war ihr Mädchenname „Bolton“ gewesen. Mein Großvater mütterlicherseits, Edwin Bolton, war ein Steinmetz und Baumeister, der im Zuge der Weltwirtschaftskrise in den 1930er-Jahren bankrott ging. Seine Frau, meine Großmutter Elizabeth Isherwood, kam aus einer Familie, über deren Vergangenheit nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen wurde. In meiner Eigenschaft als Familienhistoriker kam ich der Wahrheit schließlich irgendwann auf die Spur: In den Unterlagen der Volkszählung von 1861 stieß ich auf einen Major James Slater, der mit dem Dienstmädchen Betty Isherwood unter einem Dach lebte – und zwar auf dem Anwesen der Familie Slater in Egerton ein Stück außerhalb der Stadt (wo übrigens auch der Bolton Wanderers F. C. gegründet wurde). Beider Sohn, James Slater Isherwood, genoss eine hervorragende Erziehung und wurde Anwalt, trank sich dann jedoch in ein frühes Grab. Daher rührten also der lebenslange Einsatz meiner Mutter für die Abstinenzlerbewegung, ihr Streben nach einem gottgefälligen Leben und ihre Zuneigung zu John Bunyan. Die Ursprünge der Familie meines Vaters, der Davies’, sind sogar noch nebulöser. Mein Großvater väterlicherseits, Richard Samson Davies (1863– 1939), war angeblich ein walisisch sprechender Waisenknabe, der im Alter von sechzehn Jahren eines Tages nach Manchester gewandert kam, mit einem Halfpenny in der Tasche und dem Kopf voller Mythen aus der alten Heimat. In der freikirchlichen Gemeinde von Pendleton lernte er Ellen Ashton kennen, die er bald darauf in derselben Kirche heiratete. Ihre Mutter war die unverheiratete Tochter eines Bergmanns. Zusammen verbrachten sie vierzig glückliche Jahre und zogen neun Kinder groß. Im Frühjahr 1901 marschierten sie die 10 Meilen (etwa 16 Kilometer) von Pendleton nach Bolton, mit ihrer ganze Habe in einem schweren Bollerwagen und mit ihren fünf ältesten Kindern im Schlepptau. Ihr sechstes Kind, mein Vater Richard, wurde wenig später in einem winzigen, mittlerweile abgerissenen Reihenhaus in der Ash Street geboren. Und doch, diesen bescheidenen Anfängen zum Trotz: Die Davies’ kamen voran in der Welt. Großpapa stieg bis zum Geschäftsführer von Hodgkinson & Gillibrand auf, einer Strumpfwarenfabrik in der Lower Bridgeman Street – in Anbetracht seiner Herkunft eine geradezu erhabene Führungsposition. Er kaufte ein (frei stehendes!) Einfamilienhaus, das er nach seiner einstigen Waisenanstalt „Wigmore“ taufte; es war um einiges größer als alles, was ich mir später in dieser Hinsicht leisten konnte. Seine älteste Tochter, Lydia – meine „Tante Sis“ –, ging zum Studium nach Cambridge 28

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und sein ältester Sohn, Don, besuchte das traditionsreiche Gymnasium der Stadt, die 1514 gegründete Bolton Grammar School. Wie die meisten britischen Familien hatten beide, die Davies’ wie die Boltons, unter dem Ersten Weltkrieg schwer zu leiden. Der zweitälteste Bruder meines Vaters, der wie ich Norman Davies hieß, kam im September 1918 um sein junges Leben; er war neunzehn Jahre alt und Pilot. Der älteste Bruder meiner Mutter, James Bolton, war Infanterist bei den Lancashire Fusiliers. Er starb an der Westfront am Morgen des 11. November 1918 – am Tag, an dem der Krieg zu Ende ging. Neben dem prachtvollen Rathaus von Bolton, der 1873 erbauten Town Hall, war es natürlich der Bolton Wanderers Football Club, der die Herzen der Stadt mit Bürgerstolz füllte. Zusammen mit unserem „Nachbarverein“ Blackburn Rovers gehörten die Wanderers zu den Gründungsmitgliedern der englischen Fußballliga. In den Jahrzehnten vor dem Aufkommen des Fernsehens verwandelte sich ihr Heimatstadion, Burnden Park, einmal in der Woche in ein Fußball-Mekka, eine rein männliche Domäne. Mein Onkel Don, der als Amateur in der Nationalmannschaft spielte, trat dort an, bevor er zu Stoke City wechselte. (Eines seiner früheren Teams waren die „Northern Nomads“ gewesen.) Mein Großvater, Richard Samson, behauptete, er sei an der Außenwand des Wembley-Stadions in London hinaufgeklettert, um den Sieg der Wanderers beim legendären Meisterschaftsfinale von 1923 mitzuerleben. Ich selbst war dann in den Jahren nach 1945 auf der Stehtribüne von Burnden Park zu finden, wo ich all die „großen Namen“ jener Jahre spielen sah  – Legenden wie Stanley Matthews, Tom Finney und Wilf Mannion. Der unerschrockene Boltoner Mittelstürmer Nat Lofthouse, der vor seiner Profikarriere in einer örtlichen Kohlengrube geschuftet hatte, war der Held meiner Kindheit. Im frühen 20. Jahrhundert wurde das Leben in Bolton in vielerlei Hinsicht von den Aktivitäten des berühmtesten Sohnes der Stadt geprägt: dem Industriemagnaten William Lever (1851–1925), der später als Lord Leverhulme geadelt wurde und das Fundament für den noch heute bestehenden, international tätigen Konzern Unilever gelegt hat. Der edle Lord hatte sowohl die Freikirche in der St. George’s Road gestiftet, in der meine Eltern sich kennenlernten und zum Gottesdienst gingen, als auch die 1913 mit Abteilungen für Jungen und Mädchen neu gegründete Bolton School, an der ich selbst Schüler gewesen bin. Lever ist in einem kleinen Haus in der Wood Street geboren, dem Geburtshaus meines Vaters gar nicht unähnlich, und hatte den Grundstein für sein sagenhaftes Vermögen mit der Herstellung 29

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und dem Verkauf von Seife der Marke „Sunlight Soap“ gelegt. Als Kinder wurden wir allesamt mit dem Bus in die Nähe von Liverpool kutschiert, wo wir uns pflichtschuldigst das Modelldorf Port Sunlight anschauten. Dort war Levers größte Fabrik, und dort legten die Tanker von Levers Flotte an, die das Kokosöl von seinen Plantagen in Afrika herbeischafften. Vergleichsweise weniger bekannt ist Lord Leverhulmes extravagantes Landhaus, der sogenannte „Bungalow“ mit seinem japanischen Garten, beide mit herrlichem Ausblick über dem Stausee von Anglezarke gelegen. Der Bungalow wurde 1913 von militanten Suffragetten niedergebrannt und danach nicht wieder aufgebaut. Vierzig Jahre später, als ich über das Gelände streunte, konnte man sich noch immer in das völlig verwilderte Gestrüpp schlagen und die Hände voller exotischer Blüten wieder hinauskommen – Überreste der einstigen orientalischen Pracht. Wenn sich aus der Vergänglichkeit aller menschlichen Mühen überhaupt eine Lehre ziehen lässt, dann habe ich diese Lektion dort gelernt. Mit meinem Aufstieg in die höheren Schulklassen zogen unsere Exkursionen immer weitere Kreise. Während die früheren Sommerlager des Boltoner Pfadfindertrupps Nr. 19 stets innerhalb Großbritanniens stattgefunden hatten, schickte man die Senior Scouts – also die vierzehn- bis achtzehnjährigen Pfadfinder – traditionell ins Ausland. Einem Vergleich mit den „Klassenfahrten“ des Jet-Zeitalters, bei denen die lieben Kleinen beinahe routinemäßig bis nach Nepal, Namibia oder Patagonien verfrachtet werden, hätten unsere Touren sicher nicht standgehalten; und doch waren sie nicht weniger aufregend oder herausfordernd. Innerhalb kurzer Zeit fand ich mich beim Zelten in Luxemburg wieder, wo wir rostige Helme ausgruben – Überreste der blutigen Schlacht in den Ardennen im Kriegswinter 1944/45; in einem Kanu, das die Loire hinabtrieb, während wir die Schlösser entlang des Flusses bestaunten; als Wanderer in den Kärntner Alpen nahe der jugoslawischen – heute slowenischen – Grenze; und beim Bergsteigen in Tirol, wo uns im Morgengrauen ein Bergführer auf den Dachsteingletscher brachte, der erst kurz zuvor aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft heimgekehrt war. Dieser kräftige Tiroler erzählte uns seine Geschichte, während wir am Rand des Gletschers ein karges Frühstück zu uns nahmen. Das öffnete mir die Augen für die andere, mir zuvor völlig unbekannte Seite des Zweiten Weltkriegs. Als junger Bursche etwa in unserem Alter war er zur Wehrmacht eingezogen worden, bei Stalingrad in Gefangenschaft geraten und hatte in einem sibirischen Arbeitslager dem Tod ins Auge geblickt. Die meisten anderen Gefangenen hatten die Strapazen nicht überlebt. Gerettet 30

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hatten ihn seine robuste Konstitution sowie die Überlebenstechniken, die er schon in jungen Jahren gelernt hatte – und zwar in einer raueren Umgebung als dem Winter Hill. Etwa um dieselbe Zeit begann ich auch, ein Notizheft zu führen, in dem ich meine Lieblingszitate festhielt. Dort finden sich bereits all die Autoren, die einen prägenden Einfluss auf mich hatten: Shakespeare, Hobbes, Michelet, Macaulay, Milton, Vidal de La Blache (der Begründer der Humangeografie), Bacon, Platon, Aristoteles, Gibbon, Augustinus, Blake, Byron, Shelley, Keats, Lamartine, Donne, Gray, Carlyle, Mill, Hazlitt und viele andere mehr. Einer der ersten Einträge, datiert „August 1955“, ist ein Cobbett-Zitat: Gott hat uns das beste Land der Welt geschenkt; unsere tapferen und weisen und tugendhaften Vorväter … haben uns die beste Regierung auf der ganzen Welt geschenkt – und wir, ihre feigen und törichten und liederlichen Söhne, haben dieses einstige Paradies zu dem gemacht, als das es heute vor uns steht!32

Zum Zeitpunkt der letzten Einträge hatte ich gerade Gibbons monumentales Geschichtswerk vom Verfall und Untergang des Römischen Imperiums ausgelesen: Wenn die christlichen Apostel, Petrus und Paulus, nach dem Vatikan zurückkehren könnten, dürften sie möglicherweise nach dem Namen der Gottheit fragen, die mit so geheimnisvoller Zeremonie in diesem prachtvollen Tempel verehrt wird …33

Beide Autoren schienen mir sagen zu wollen, dass es mit der Welt beständig bergab gehe. Unweigerlich enthielt meine recht eklektische Sammlung von Gedichtbänden auch etliche Werke, die mit Reisen und insbesondere mit der Reise auf dem Lebensweg zu tun hatten. Wie so oft, sind auch in diesem Punkt die Beobachtungen Shakespeares von kaum zu überbietender Prägnanz: Weary with toil, I haste me to my bed, The dear repose for limbs with travel tired, But then begins a journey in my head, To work my mind when body’s work’s expired. For then my thoughts (from far where I abide) Intend a zealous pilgrimage to thee, 31

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And keep my drooping eyelids open wide, Looking on darkness which the blind do see … Wenn ich, erschöpft von Mühsal, ruhen will, die müden Augen fallen mir nicht zu; ach, dann ist’s erst in meinem Kopf nicht still: der Leib will Ruh, der Geist gibt keine Ruh. Denn dich sucht bald er in der weiten Ferne, in die es ihn mit frommem Sehnen zieht. Vergebens aber leuchten Augensterne durch jenes Dunkel, das der Blinde sieht …34

Es ist, als ob Shakespeare dreihundert Jahre vor Rainer Maria Rilke eine Einsicht gehabt hätte, die oft Rilke zugeschrieben wird: „Die einzige Reise ist die innere.“ Rilke, auf den ich erst viel später traf, hat überhaupt sehr wortgewaltig über den Effekt geschrieben, den das Reisen auf den Reisenden hat, etwa in seinem späten Gedicht Spaziergang: Schon ist mein Blick am Hügel, dem besonnten, dem Wege, den ich kaum begann, voran. So faßt uns das, was wir nicht fassen konnten, voller Erscheinung, aus der Ferne an – und wandelt uns, auch wenn wirs nicht erreichen, in jenes, das wir, kaum es ahnend, sind; ein Zeichen weht, erwidernd unserm Zeichen … wir aber spüren nur den Gegenwind.35

Robert Louis Stevenson (1850–1894), dessen Romane Die Schatzinsel und Entführt echte Lieblingsbücher meiner Jugend waren, kam als Reisender so weit herum, dass er nie wieder heimkehrte: Begraben liegt er auf einem Berggipfel der samoanischen Insel Upolu, weit draußen im Pazifik. Ferne Länder erfüllten ihn mit einer geradezu kindlichen Begeisterung, wie man in seinem Gedicht Travel („Das Reisen“) noch heute spüren kann: I should like to rise and go Where the golden apples grow; Where below another sky 32

Wo die Zitronen blühn – Von Pilgern und Entdeckern

Parrot islands anchored lie, And, watched by cockatoos and goats, Lonely Crusoes building boats; Where in sunshine reaching out Eastern cities, miles about, Are with mosque and minaret Among sandy gardens set, And the rich goods from near and far Hang for sale in the bazaar … Where are forests hot as fire, Wide as England, tall as a spire, Full of apes and cocoa-nuts And the [native] hunters’ huts; Where the knotty crocodile Lies and blinks in the Nile, And the red flamingo flies Hunting fish before his eyes, … Where among the desert sands Some deserted city stands, All its children, sweep and prince, Grown to manhood ages since, Not a foot in street or house, Not a stir of child or mouse, And when kindly falls the night In all the town no spark of light. There I’ll come when I’m a man With a camel caravan … Wie gern ging ich, jetzt und gleich nach der goldnen Äpfel Reich, wo fern unter fremden Himmeln Papageieninseln wimmeln und wo – beäugt von Kakadus und Ziegen – einsame Crusoes still an ihren Booten schnitzen; wo östlich-reiche Städte blitzen in der Sonne, meilenweit, mit Moscheen in Gärten breit; 33

Einleitung

wo Minarette prunken und Flotten kleiner Dschunken verführerische Waren bringen, einen Basar von manchen Dingen … Wo Wälder ragen, himmelhoch und ewig fern, und schwüler noch; voll Affenrasen, Kokosnüssen, wo eingeborne [Jäger] grüßen; wo das garst’ge Krokodil liegt und blinzelt in dem Nil und der Zwergflamingo fliegt, weil Fischjagd ihm am Herzen liegt … Wo irgendwo im Wüstensand einst eine Stadt (nun wüst) entstand, deren Kinder – Bettler, Prinzchen – schon lange nicht mehr Mann noch Kind sind; in keiner Straße, keinem Haus rührt sich Kind noch oder Maus. Und wenn gütig dann die Nacht heranbricht – nichts! Nicht eine Kerze wacht. Dahin komm’ ich einst als Mann per Kamelkarawane an …36

Charles Baudelaire (1821–1867), der, ähnlich wie Stevenson, sein Leben lang an diversen Krankheiten litt, war ebenfalls ein Wortschmied von beinah magischem Geschick. Immer wieder hörte ich als Student von seinen ­poetischen Heldentaten, meist von Freundinnen  – Margaret, Helen oder Jenny –, die für moderne Fremdsprachen eingeschrieben waren. Mit seinem Gedichtband Die Blumen des Bösen (Les Fleurs du mal, 1857) handelte Baudelaire sich einen Gerichtsprozess wegen „Verletzung der öffentlichen Sittlichkeit“ ein, und schon als junger Bursche war er von seinem Stiefvater auf eine lange Reise nach Indien geschickt worden, die seine angebliche Arbeitsscheu heilen sollte. Diese Erfahrung änderte zwar nichts an Baudelaires eigensinnigem Verhalten, aber er dachte doch gern und merklich begeistert daran zurück: Pour l’enfant, amoureux de cartes et d’estampes, L’univers est égal à son vaste appétit. 34

Wo die Zitronen blühn – Von Pilgern und Entdeckern

Ah! que le monde est grand à la clarté des lampes! Aux yeux du souvenir que le monde est petit! … Dites, qu’avez-vous vu?

Dem Kind verliebt in Stiche und Atlanten Genügt das All zu Hungers Sättigung. Wie groß sahn wir die Welt, wenn Lampen brannten, Und, ach! wie klein sieht sie Erinnerung. Ein Tag bricht an … im Hirne Flammen gaukeln … Die Brust brennt Groll und Sehnens Bitterkeit … Wir ziehn und tragen nach der Woge Schaukeln Unendlich Herz in Meeres Endlichkeit. … Allein die echten Wandrer sind, die gehen, Um fortzugehn; sie weichen nie vom Plan Des Schicksals ab, und wenn die Winde drehen, Ruft, unbewußt warum, ihr Herz: „Wohlan!“ … Ein Segler nach Ikarien ist die Seele. „Habt acht“, ruft einer von dem Mittelschiff. Vom Mars ein andrer, Wahnsinn in der Kehle: „Glück … Liebe … Ruhm!“ Zum Teufel, s’ist ein Riff … … Ihr mächtigen Wandrer, welche Abenteuer Sehn wir auf eurer Augen Meeresgrund! Tut auf den Schrein Erinnerns! Welch ein Feuer Geschmeids aus Stern und Düften wird uns kund! … Was saht ihr denn! O sagt! …37 35

Einleitung

Auch ich war eines von jenen Kindern gewesen, von denen Baudelaire schreibt, „verliebt in Stiche und Atlanten“; auch ich war so begierig wie wohl jedes Kind gewesen, von den Abenteuern aus dem Erinnerungsschatz der Reisenden zu hören. Als ich auf meinem Lebensweg dann, im Alter von zwanzig Jahren, endlich bei der Divina Commedia ankam, musste ich zu meiner Überraschung feststellen, dass Dante für Odysseus, den archetypischen Wanderer und Umherreisenden, einen Platz im achten Kreis der Hölle vorgesehen hat, wo der „Listenreiche“ seine Ewigkeit im Feuer fristet. In Dantes Kosmos konnte ein „Heide“ wie Odysseus eben keinen Zugang zu der reinigenden Sphäre des Purgatoriums erhalten – und zum Paradies natürlich erst recht nicht. Aber irgendwie empfindet man doch, dass Odysseus als einer der größten Helden des klassischen Altertums schon mit etwas mehr Nachsicht hätte rechnen dürfen. Aus diesem Grund hat Dantes strenges Urteil unter den Gelehrten denn auch für hitzige, endlose Debatten gesorgt. Wie sich nämlich herausstellt, war Odysseus, der ewige Unglücksrabe, überhaupt nicht wegen seines langen Umherirrens in Dantes Hölle gelandet, sondern wegen seiner früheren Beteiligung an der griechischen Kriegslist rund um das Trojanische Pferd. Zur Strafe ist er, in der Gesellschaft anderer „falscher Ratgeber“, zu ewigen Qualen verurteilt; die lodernde Flamme, in der er eingeschlossen sitzt, teilt er sich mit seinem Mitverschwörer Diomedes. Da die Römer sich als Abkömmlinge der Trojaner verstanden, waren die lateinischen Quellen zu diesem Sagenkreis – die Dante als einzige zur Verfügung standen  – traditionell pro-trojanisch und anti-griechisch. Nach ihrer Ansicht – und nach der Ansicht Dantes – war der Trick mit dem Trojanischen Pferd das Paradebeispiel einer ehrlosen und zutiefst verwerflichen taktischen Hinterlist. Und doch: Sobald der Grund für Odysseus’ missliche Lage erklärt ist, gesteht Dante ihm eine lange und sprachgewaltige Rede zu, in der er von seinen Reisen berichtet und auch auf die Motive zu sprechen kommt, die ihn einst dazu bewogen hatten, in See zu stechen. Vor allem anderen war er aufgebrochen, sagt Odysseus, um die Welt zu entdecken und ihre Bewohner kennenzulernen: Ne dolcezza di figlio, ne la pietà del vecchio padre, ne il debito amore lo quale dovea Penelope far lieta vincer poeter dentro da me l’ardore ch’i‘ ebbi a divenir del mondo esparto 36

Wo die Zitronen blühn – Von Pilgern und Entdeckern

e delli vizi umani e del valore ma misi per me per l’alto mare aperto sol con un legno e con quella compagna picciola da la qual no fui diserto …

Nicht väterlich, nicht kindlich Sehnsuchtwehe Nach Sohn und Vater, nicht daß Pflicht der Liebe Mir um Penelope zu Herzen gehe Nichts dämpfte mir die glühenden Wandertriebe Um Länder, Meer und Menschen zu erkunden, Daß fremd mir Laster nicht noch Tugend bliebe. Mit kleiner Mannschaft, längst als treu befunden Mit einem Schiff nur gings hinaus die Pfade Ins offene weite Meer zu fremden Sunden …38

Und „Länder, Meer und Menschen“ gleich auf einmal „zu erkunden“ – das ist doch kein kleines Ziel. Wenig später – Odysseus hat gerade berichtet, wie er mit seinen Gefährten die Säulen des Herkules im äußersten Westen erreichte – gibt er auch noch die Anfeuerungsrede wieder, die er seiner zweifelnden Besatzung an diesem Halbzeitpunkt der abenteuerlichen Reise gehalten hatte: O frati, dissi, che per cento milia perigli sieti giunti all’occidente a questa tanto picciola vigilia d’i nostri sensi ch’è del rimanente non vogliate negar l’esperïenza, di retro al sol, del mondo sanza gente. Considerate la vostra semenza: fatti non foste a viver come bruti, ma per seguir virtute e conoscenza.

„O Brüder, bis zum fernen Okzidente Brachten euch,“ sprach ich, „tausend Abenteuer; Drum folgt, solang noch irgend in euch brennte Der Sinnenkräfte letztes Abendfeuer, Mir ferner nach zu unbewohnten Welten: 37

Einleitung

Dem Lauf der Sonne folge unser Steuer. Bedenkt, aus welcher Saat entkeimt wir gelten! Und strebten wir nach Tugend nicht und Wissen, So dürfte man mit Recht uns Tiere schelten!“ –39

Klarer und deutlicher kann man es nicht sagen: Wir reisen, um nach Tugend und nach Wissen zu streben, und weil wir das volle Potenzial unserer Menschlichkeit ausschöpfen wollen. Nach diesen Vorstößen in die Welt der romanischen Sprachen, die ich im Schulunterricht erstmals erkundete, wandte ich mich Schritt für Schritt in Richtung Osten und brach zu einer neuen Reise auf, auf der ich mich bis heute befinde: meiner Reise durch die slawische Welt. Oft habe ich mich gefragt, ob es nun durch irgendeinen Instinkt oder durch meine freie Wahl so gekommen ist. Fast wäre ich schon mit achtzehn aufgebrochen. Ich hatte mich damals als Wehrpflichtiger melden müssen und unter den verschiedenen Möglichkeiten, meinen Dienst abzuleisten, für eine Bewerbung bei der britischen Marine, der Royal Navy, entschieden, weil ich gehört hatte, dass dort Russisch-Intensivsprachkurse angeboten wurden. Doch Matrose wurde ich nie, denn die Wehrpflicht wurde abgeschafft, bevor ich meinen Einberufungsbescheid erhalten hatte. Stattdessen stellte ich nach meinem Studienbeginn in Oxford fest, dass die Einsteigerkurse der russischen Sprache, die am Oxforder Polytechnikum (der heutigen Oxford Brookes University) angeboten wurden, auch den Studenten der Universität Oxford offenstanden. Finanziert wurde das Ganze von dem schillernden Verleger und Parlamentsabgeordneten Robert Maxwell, der sich daraus einen Vorteil für seinen Verlag, die Pergamon Press, versprach. Maxwell, der als Ján Ludvík Hoch in der Tschechoslowakei geboren worden war und später als the Bouncing Czech* bekannt wurde, war in alle möglichen zwielichtigen Geschäfte verwickelt, darunter viele, die hinter dem Eisernen Vorhang abliefen. Seine Pergamon Press diente ihm dazu, wissenschaftliche und technische Fachbücher und -zeitschriften aus dem Ostblock nachzudrucken, die zu diesem Zweck natürlich übersetzt werden mussten. Ab und an lud er uns, die angehenden Sprachkundigen von gegenüber, zu einem Umtrunk in seine Villa, Headington Hill Hall, ein. Auf diese Weise machte ich also meine ersten Schritte auf dem „slawischen Pfad“, der mich schließ* Ein Wortspiel mit the bouncing cheque, das auf Maxwells Sinn für Lebensart und zugleich auf seine mitunter fragwürdigen Geschäftspraktiken anspielt: Der „putzmuntere Tscheche“ wird mit einem „platzenden Scheck“ in Verbindung gebracht (Anm. d. Übers. T. G.).

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Wo die Zitronen blühn – Von Pilgern und Entdeckern

lich – nach etlichen Windungen und Wendungen, bald rascher, bald mit Verzögerungen  – zu einem zweiten Studienabschluss in Russistik an der Universität Sussex führen sollte. Zwischenzeitlich hatte ich mich jedoch, während meiner ersten langen Semesterferien in Oxford, dreien meiner früheren Schulkameraden angeschlossen, die einen gebrauchten Jeep der U.S. Army erstanden hatten und nun eine Überlandfahrt bis in die Türkei planten. Ich hatte gerade, wie schon erwähnt, Gibbon gelesen und war begierig, die Theodosianische Mauer von Byzanz mit eigenen Augen zu sehen. Europa war seit Neuestem durch den Eisernen Vorhang geteilt, und die Straße nach Istanbul führte geradewegs durch den Ostblock. Es war ein unvergessliches (und wohl auch riskantes) Erlebnis, auf der vollkommen ausgestorbenen Straße nach Osten aus Wien hinauszufahren, festzustellen, dass jegliche Wegweiser Richtung Budapest abmontiert worden waren, die Dreifach-Barriere aus Panzersperren, Wachttürmen und Stacheldraht zu passieren und schließlich zu hören, wie die riesigen Stahltore laut dröhnend hinter uns zufielen. Wie leicht hätten wir spurlos verschwinden können! So, wie es dann kam, kehrten auch wir „nach tausend Abenteuern“, aber schließlich eben doch, irgendwie, unversehrt von unserer Reise zurück. Und im Gepäck hatten wir bei unserer Heimkehr das Wissen, dass die östliche Hälfte unseres Kontinents randvoll war mit faszinierenden – aber verbotenen – historischen Früchten. Im Frühjahr 1962 fand ich mich, nachdem eine Studienfahrt nach Moskau, zu der ich mich eigentlich angemeldet hatte, von den sowjetischen Behörden – in letzter Minute und ohne Angabe von Gründen – abgesagt worden war, vollkommen ungeplant plötzlich in Polen wieder, einem Land, von dem ich offen gestanden nichts wusste. Die hoch- und ehrwürdige Geschichtsfakultät der Universität von Oxford hatte es doch tatsächlich versäumt, uns auch nur das Geringste über die dreitausendjährige Geschichte Polens beizubringen! Schon aus Scham begann ich umgehend, mir die notwendigen Grundlagen im Selbststudium anzueignen. Diese wenig verheißungsvollen Anfänge führten schließlich nicht nur dazu, dass ich an der Jagiellonen-Universität in Krakau meinen ersten Doktortitel erwarb, sondern auch zu engen, persönlichen wie familiären Verbindungen nach Polen, die mich mein Leben lang begleitet haben – und nicht zuletzt zu einer Karriere als Forscher und Schriftsteller, die sich zunächst auf polnische Themen konzentrierte. Mit einem Jahr Verspätung kam ich dann schließlich doch noch nach Moskau. Unsere Reisegruppe erreichte die Stadt am Morgen, nachdem man die Überreste Stalins still und heimlich aus dem Mausoleum auf dem 39

Einleitung

Roten Platz entfernt hatte. Nur der mumifizierte Leichnam Lenins, mit seiner grünlich-kränklichen Haut und dem hellorangen Bart, war an Ort und Stelle geblieben und harrte der andächtigen Verehrung durch die Besucher wie die morbide Ganzkörperreliquie irgendeines italienischen Heiligen. Dabei konnte jeder sehen, dass die Sandsteininschrift über dem Eingang, auf denen die Namen beider verstorbenen „Führer des russischen Volkes“ eingemeißelt gewesen waren, auf recht stümperhafte Weise manipuliert worden war. Es bestand kein Zweifel: Wir waren in der Welthauptstadt der Geschichtsfälschung angelangt. Zwei Dinge muss man den Russen zugestehen: Sie haben das größte Land der Erde – und eine unglaublich reiche und nuancierte Sprache, um dieses Land zu beschreiben. Ihre literarischen und musikalischen Traditionen sind so herrlich, wie ihre politischen Gepflogenheiten beklagenswert sind. Ihr Nationaldichter Alexander Puschkin (1799–1837) war ein leidenschaftlicher, feuriger – und ein politisch unbequemer Mann. „Geboren bin ich nicht, um Zaren zu amüsieren“, hat er einmal gedichtet. Im Laufe seines kurzen Lebens lieferte er sich nicht weniger als neunundzwanzig Duelle – an den Folgen des letzten ist er dann gestorben. Sein Einfluss auf die neuere russische Literatur kann wohl mit dem Shakespeares auf die englische oder Goethes auf die deutsche Literatur verglichen werden. Eines seiner Gedichte, das in keiner Sammlung russischer Lyrik fehlen darf, ist Zimnii Put’ („Winterliche Fahrt“, 1826), in dem es ganz und gar um eine Stimmung geht und um die Eintönigkeit einer langen Schlittenfahrt bei Nacht.40 Man könnte meinen, dass Puschkins erhaben-schlichte Perioden sich auch einfach übersetzen lassen müssten. Dem ist nicht so. Schon eine flüchtige Internetrecherche fördert einige urkomische Funde zutage, bei denen mitunter eine seltsame Wortwahl, verdrehte Grammatik, ungelenker Satzbau und unsaubere Reime dazu führen, dass schon die Übersetzung der ersten Strophe nie so ganz den Zauber des Originals einfangen kann, wie sehr die Übersetzer sich auch bemüht haben: Mühsam durch die Nebelschleier Dringt des Mondes bleicher Strahl Gießt sein traurig kaltes Feuer In das traurig stumme Thal …

Oder: Durch die grauen Nebelwälder Stiehlt der Mond sich sacht herein, 40

Wo die Zitronen blühn – Von Pilgern und Entdeckern

Und auf schneebedeckte Felder Gießt er traurig seinen Schein …

Oder aber: Trüb des Mondes Strahlen brechen Durch der Nebelwolken Schicht, Auf des Schneefelds öde Flächen Gießen sie ihr fahles Licht …

Oder gar: Durch den welligen Nebel Sucht sich der Mond hindurchzuarbeiten Auf die traurigen Lichtungen Gießt er traurig sein Licht …

Ein besseres Argument dafür, Russisch zu lernen, wird man wohl kaum finden. Der polnische Nationalheld unter den Dichtern, Adam Mickiewicz (1798–1855) war Puschkins enger Altersgenosse und – während seines Exils in Russland – auch Puschkins persönlicher Freund. Wie Puschkin schrieb er Gedichte, die von romantischer Empfindung und klassischem Formbewusstsein in gleichem Maße geprägt sind, was die Systematiker der Literaturgeschichte regelmäßig ganz durcheinanderbringt. Man wird ihn wohl auf ewig zuerst mit den Eröffnungsversen seines Epos Pan Tadeusz in Verbindung bringen: „Lithauen! Wie die Gesundheit bist du, mein Vaterland! / Wer dich noch nie verloren, der hat dich nicht erkannt …“ Und doch hat Mickiewicz viel und Vielfältiges geschrieben, von Epen und Sonetten bis zu Dramen und akademischen Vorträgen. Mein persönliches Lieblingsgedicht von ihm heißt „In der Akkermanschen Steppe“ und entstand auf einer Reise durch die endlosen Weiten der südlichen Ukraine: Wpłtynąłem na suchego przestwór oceanu … Die Steppe! – Wie ein Schiff im Ozean Schwimmt durch das grüne Meer dahin mein Wagen, Vorbei an Dornen, die wie Klippen ragen Im Blütenmeer, bedrohend Schiff und Kahn. 41

Einleitung

Kein Grabstein zeigt jetzt mehr den Weg mir an. Dem Seemann gleich muss ich die Sterne fragen. Doch fern im Osten fängt es an zu tagen: Der Dnjester blinkt, das Licht von Akkerman. Halt! – Laß mich in die heil’ge Stille lauschen … Die Kraniche? Kein Blick erreicht sie mehr, Ich höre sie! – Im Gras das leise Rauschen? Ein Schmetterling? Die Schlange kriecht umher. Könnt’ ich ein Wort aus Polen doch erlauschen. Fahr zu! Aus Polen dringt kein Laut hierher.41

Osteuropa ist für jeden Reiseschriftsteller ein ideales Jagdrevier, wobei dann allerdings nicht selten eine Variante jenes „Orientalismus“ an den Tag tritt, der in der Vergangenheit so manche Darstellung des Nahen und des Fernen Ostens geprägt (und verzerrt) hat. Für Osteuropa war in dieser Hinsicht Jan Graf Potocki (1761–1815) der große Wegbereiter (da er auf Französisch schrieb, wird er oft auch „Jean Potocki“ genannt). Die Reisen dieses Völkerkundlers, Ägyptologen und Philologen, eines Sprösslings aus wohlhabendem polnischem Adel, erstreckten sich von der Mongolei bis nach Marokko und wurden von ihm in zahlreichen Publikationen beschrieben; am bekanntesten ist jedoch bis heute sein Roman – eigentlich ein Zyklus von Erzählungen mit einer Rahmenhandlung – Die Handschrift von Saragossa (1815).42 Juliusz Słowacki (1809–1849) – gesprochen „Swowatzki“ – ist wohl Mickiewicz’ einziger ernsthafter Konkurrent um den Titel des polnischen Nationaldichters. Wie dieser war er ein reiselustiger Poet, der schließlich ins Exil gezwungen wurde. Sein Versepos Podróz na Wschód („Reise in den Osten“) verfasste er 1836–38 auf einer großen Fahrt, bei der er Griechenland, Ägypten, Syrien und das Heilige Land besuchte.43 Im ersten Teil des Gedichts findet sich das folgende geniale Miniaturporträt von „Europa“: Jeśli Europa jest nimfą – Neapol Jest nimfy okiem błękitnem, – Warszawa Sercem, – cierniami w nodze Sewastopol, Azow, Odessa, Petersburg, Mitawa; – Paryż jej głową, a Londyn kołnierzem Nakrochmalonym, a zaś Rzym … szkaplerzem. 42

Wo die Zitronen blühn – Von Pilgern und Entdeckern

Wenn Europa eine Nymphe ist, dann ist Neapel Ihr himmelblaues Auge; Warschau – Ihr Herz; die Dornen in ihrem Fuß sind – Sewastopol, Asopòs, Odessa, Petersburg, Mittau; Ihr Kopf ist Paris; London – ihr gestärkter Kragen Und Rom hingegen – ihr Skapulier.44

Sodann beschreibt Słowacki seine Abreise aus Italien: I ruszyć w podróż, bo się pieśń przewlecze Niejedna jeszcze przerwana ideą. Jutro kurierem wyjeżdżam do Lecce, Jutro więc zacznę śpiewać Odysseą, Albo wyprawę o Jazona runach Na nowej lutni i na złotych strunach.

Aufbrechen [muss ich], mein Lied wird lang und ich verlier’ den Faden. Morgen nehm’ ich die Kutsche nach Lecce, Morgen beginn ich, von Odysseus zu singen oder von Jasons Jagd nach dem Goldenen Vlies, auf einer brandneuen Leier mit goldenen Saiten.

Da beschwor doch tatsächlich ein Dichter der Romantik – noch dazu einer vom äußersten östlichen Rand Europas – haargenau dieselben klassischen Bezüge herauf wie dreihundert Jahre zuvor Joachim du Bellay im Westen Frankreichs! Meine jugendlichen Streifzüge durch die Welt der Reiseliteratur führten mich noch nicht bis zu Słowacki. In den Regalen der Stadtbücherei von Bolton fanden sich jedoch zahlreiche andere Bände, die sich mit Zentral­ asien und dem Great Game befassten, jenem „Großen Spiel“, in dem Russland und Großbritannien sich über Jahrzehnte die Vorherrschaft in diesem Teil der Erde streitig machten. Zu den Büchern, die ich damals las, zählten etwa Fred Burnabys A Ride to Khiva (1876), Lord Curzons Russia in Central Asia (1889) sowie Heart of a Continent (1896) von Frank Younghusband. Daneben verschlang ich die Werke der großen orientalisierenden Reisemaler und -illustratoren, deren Kenntnisse sich der eigenen Anschauung verdankten, wie etwa bei Edward Lear und David Roberts. 43

Einleitung

Auf dieser Grundlage gelangte ich bald zu neueren Werken wie Peter Flemings Travels in Tartary (1941) und Heinrich Harrers Sieben Jahre in Tibet (1952). Meine Begegnung mit Patrick Leigh Fermor lag noch in der Zukunft; aber Rebecca Wests Black Lamb and Grey Falcon (1941)* sowie Fitzroy M ­ acleans Eastern Approaches (1949) waren als Kostproben mehr als ausreichend, um schon einmal meinen Appetit anzuregen. „Der Osten“ hatte in meinem Kopf also seinen festen Platz, lange bevor ich jemals selbst in eine seiner vielen Gegenden kam. In derselben Zeit bekam ich auch einen intensiven Eindruck davon, wie rapide sich allerorten die Reiseaktivität verstärkte. Einmal traf ich, völlig überraschend, mit dem breit lächelnden Kosmonauten Juri Gagarin zusammen, dem ersten Menschen im All, der die Londoner Automobilausstellung besuchte und mir dort die Hand schüttelte – was mich absolut fassungslos machte. Bei einer anderen Gelegenheit nahm mein französischer Freund Henri mich mit zum Pariser Flughafen Le Bourget, wo wir uns das weltweit erste Transatlantik-Passagierflugzeug mit Düsenantrieb anschauen wollten, eine Boeing 707 der Pan Am, die auf dem Rollfeld parkte. Der zweitälteste Bruder meines Vaters hat, im Gegensatz zu mir selbst, den ersten bemannten Raumflug, den ersten Düsenjet nicht mehr erlebt. Mein Onkel Norman, zu dessen Andenken ich später auf denselben Namen getauft werden sollte, ging zu Neujahr 1918 von der Schule ab, um in die gerade neu gegründete Royal Air Force einzutreten. Nach einigen Wochen Grundausbildung erhielt er sein Offizierspatent und flog – noch als Teenager – mit seiner Staffel an die Westfront. Es war sein erster internationaler Flug, und es sollte sein letzter bleiben. Wie man mir später immer erzählte, war er dennoch ein echter Weltenbummler gewesen – aber einer von denen, deren Bummel sich eher in der Welt der Vorstellung abspielte: Onkel Norman war ein leidenschaftlicher Briefmarkensammler. Das Briefmarkenalbum unserer Familie wurde um das Jahr 1912 herum von Onkel Norman begonnen; er war damals dreizehn Jahre alt. Noch heute ist es eine wunderbare Fundgrube, nicht nur für Briefmarkenenthusiasten, sondern auch in Sachen politische Geografie und historischer Charme. Es trägt den Titel The World Postage Stamp Album, Revised & Enlarged („Briefmarken der Welt, überarbeitete und erweiterte Ausgabe“)

* Eine Auswahl aus diesem Band ist mittlerweile in deutscher Übersetzung erschienen: Schwarzes Lamm und grauer Falke (Berlin 2002), (Anm. d. Übers. T. G.).

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und wurde von einem gewissen T. H. Hinton gestaltet – Mitglied sowohl der weltweiten Sammlervereinigung International Philatelic Union als auch der Société Française de Timbrologie – und irgendwann zu Beginn der Regierungszeit Eduards VII. von dem Verlag E. Nister & Co., 24 St. Bride Street, London, EC, auf den Markt gebracht. Für jedes Land der Welt enthält es mindestens eine, oft auch mehrere Seiten; auf jeder Seite ist oben eine Reihe von Briefmarken abgebildet. Zwar ist das Album nicht datiert, aber die neueste Briefmarke, die darin abgebildet ist, wurde 1902 in Transvaal ausgegeben. Das Album ist in sechs Abteilungen gegliedert: I. Britisches Weltreich, II.  Europa und europäische Kolonien, III.  Asien, IV.  Afrika, V.  Amerika und VI. Ozeanien. Unterhalb der Illustrationen sind auf jeder Seite dreißig Plätze für Briefmarken vorgesehen, fein säuberlich durch gestrichelte Linien eingeteilt. Auf den 224  Seiten des Albums hätten also 6720  Briefmarken Platz gehabt. Ein handschriftlicher Vermerk auf der Innenseite des Einbandes  – „3/0“  – lässt darauf schließen, dass das Album einmal drei Shilling gekostet hat. Nach dem Kauf des Albums hat Onkel Norman den inneren Einbanddeckel noch weiter verziert, indem er mit blauer Tinte und in makelloser Schönschrift ein großes, verschnörkeltes Monogramm seiner Initialen „ND“ hineinsetzte. Zu einem späteren Zeitpunkt kam dann allerdings, ob wohl oder übel, sein jüngerer Bruder Richard (mein Vater) hinzu, der in der Familie nur als „unser Dick“ bekannt war. Wohl, weil sie verhindern wollten, dass noch weitere von der Davies-Brut bei ihrem philatelistischen Treiben mitmischen konnten, schrieb der kleine Richard nun eine klare Ansage hinein, die er direkt neben Normans Monogramm platzierte: „Dieses Buch ist das alleinige Eigentum von N. und D.  Davies“, und sicherheitshalber fügte er auch noch die Anschrift der Familie hinzu: „Wigmore, The Haulgh, Bolton, Lancashire“. Nach und nach tauchten jedoch noch weitere Eintragungen auf, darunter die selbstbewussten Signaturen ihres älteren Bruders – „Donny Davies, Rechtsaußen, Nationalmannschaft“, „Lancashire  XI, Old Trafford“ (das Stadion von Manchester United) sowie, voller Stolz nach dem Erringen eines renommierten Stipendiums: „Queen’s Scholar, Cambridge“ –; eine Ausgestaltung des Wortes „Philately“ in schönster Schnörkelhandschrift; eine etwas rätselhafte Beschimpfung (?) in Bleistift („Toshi, der Einarmige“) sowie ein Fragment von irgendjemandes Französisch-Hausaufgaben: „Comment vous portez-vous? Je vais très bien!“ War „Toshi“ vielleicht Onkel Normans Spitzname? Und bekam er in Frankreich vielleicht noch die 45

Einleitung

Chance, sein Französisch ein wenig zum Einsatz zu bringen? Ich bezweifle es. Jedenfalls sollte Onkel Don seiner Schwester niemals nach Cambridge folgen. Nachdem er sein Stipendium erhalten hatte, wurde er zu den Heeresfliegern des Royal Flying Corps eingezogen, stürzte mit seinem Flugzeug hinter den feindlichen Linien ab und verbrachte den Rest des Ersten Weltkriegs in einem deutschen Kriegsgefangenenlager.45 Das Nachsatzblatt sowie die Innenseite des hinteren Buchdeckels wurden verwendet, um die jeweils aktuellen Bestandszahlen der Sammlung als Ganzer festzuhalten, wobei die Einträge zwischen „europäischen“, „australasischen“, „amerikanischen“, „asiatischen“ und „anderen“ Briefmarken unterscheiden. Die frühesten Eintragungen in der Reihe lauten „über 500 am 2. Nov. 1914“ und „1980 am 5ten Mai 1915“, was eine durchschnittliche Wachstumsrate von mehr 200 Briefmarken im Monat beziehungsweise rund sieben Briefmarken am Tag bedeuten würde. Darüber hinaus lassen sich die Berechnungen nur schwer nachvollziehen. Da sie mit dem Bleistift eingetragen wurden, sind viele inzwischen unlesbar geworden – und viele sind wohl auch, wie ich vermute, das Ergebnis einer Art von „kreativer Buchführung“ … Da der Vater der Jungen – mein Großvater – ja Geschäftsführer einer Strickerei war, ist zu vermuten, dass der stetige Fluss der Geschäftskorrespondenz im Baumwollhandel jede Menge ausländischer Briefmarken zu uns nach Bolton spülte. Aber auch der Baumwollhandel kann nicht die wirklich sehr beachtliche Anzahl von Marken erklären, die aus eher ungewöhnlichen Gegenden in das Album gelangt sind, etwa aus Persien, Uruguay, Haiti, Mosambik und dem Osmanischen Reich. Wie um alles in der Welt konnten ein paar Schuljungen aus Lancashire eine solche Fülle an exotischen Postwertzeichen anhäufen? Natürlich werden sie mit ihren Freunden auf dem Spielplatz getauscht und vielleicht auch manches eingekauft haben. Aber 1915 war Dick in Ungnade gefallen, weil seine schulischen Leistungen deutlich nachließen, und mein Großvater hatte entschieden, dass er wohl besser in der Strickerei arbeiten solle. Es ist kaum vorstellbar, dass Normans Taschengeld und Dicks mickriger Arbeitslohn ihnen bei ihrer Sammelleidenschaft große Sprünge erlaubt hätten. Und doch gibt es ein paar untrügliche Anzeichen für die professionellen Kontakte der beiden. Auf einem Stück vergilbten Packpapiers birgt das Album fünf erstklassige Exemplare aus Neuseeland, auf denen die junge Königin Viktoria zu sehen ist. Es handelt sich um die allererste Briefmarkenausgabe der Kolonie Neuseeland aus dem Jahr 1855. Wie sind diese Marken in ihren Besitz gelangt? 46

Wo die Zitronen blühn – Von Pilgern und Entdeckern

Nach Onkel Normans Tod hat mein Vater die Sammlung dreißig Jahre lang nicht angerührt, hat keine neuen Marken hinzugefügt. Wahrscheinlich wäre die Beschäftigung damit zu schmerzlich gewesen. Ab und an holte er den Band aus dem Schrank, um ihn seiner Frau und seinen Kindern zu zeigen, wobei er stets darauf hinwies, diese Briefmarken seien „unsere Versicherungspolice für schlechte Zeiten“. Seine Zurückhaltung gegenüber der alten Sammelleidenschaft gab er erst wieder auf, als er  – wohl aus väterlichem Pflichtgefühl heraus  – auch mir die ersten Grund­ lagen der Philatelie nahebrachte. Zu meinem neunten Geburtstag bekam ich ein Exemplar von Stanley Gibbons’ Simplified Stamp Catalogue („Vereinfachter Briefmarkenkatalog“) in der 14. Auflage, London 1948; und dann bekam ich Onkel Normans geheiligtes Album in die Hände gelegt, mit den Worten: „Das hier hat dein Onkel wirklich geliebt.“ Meine stärkste Erinnerung jedoch ist die an meine Verwirrung. Denn als ich nun die 224 Seiten des Albums durchblätterte, konnte ich manche der Länder nicht finden, von denen ich bereits Marken gesammelt hatte. Der Untermieter meiner Tante Ivy beispielsweise, den ich nur als „Onkel Joseph“ kannte, hatte mir einige ungewöhnliche Marken aus seiner Heimat geschenkt, der tschechoslowakei. (Im Krieg hatte er aus Prag fliehen müssen.) Und meine Tante Doris hatte eine etwas mysteriöse Beziehung zu einem Missionar, der ihr aus südrhodesien schrieb. Aber wo war dieses „Südrhodesien“ denn auf einmal hergekommen? Ich fand es im Katalog, aber nicht im Album. Auf meine verdutzte Frage hin erklärte mir mein Vater, dass in den Jahrzehnten seit der Veröffentlichung des Albums zahlreiche neue Staaten entstanden waren, während andere aufgehört hatten zu existieren. Die Tschechoslowakei beispielsweise war im Oktober 1918 gegründet worden, kaum einen Monat nach Onkel Normans letztem Flug. Und Südrhodesien hatte 1923 das Licht der Welt erblickt, nachdem ein anderes Staatswesen auseinandergebrochen war, das auf Seite  24 des Briefmarkenalbums als britisch-südafrika (rhodesien) erscheint. Und solcherlei Fälle gab es viele: aden (wo mein Vetter Peter bei der Royal Air Force Dienst tat), algerien, eire (woher Peters Freundin Vera stammte), finnland (wohin meine Schwester eine Brieffreundschaft unterhielt), jugoslawien, libanon, litauen, lettland, polen, syrien, die vatikanstadt und noch so einige mehr. An diesem Punkt traf mein Vater eine folgenschwere Entscheidung: Onkel Normans Album war nicht mehr zeitgemäß; wir würden es ersetzen müssen. Also kaufte er ein neues Album der Marke Pacific Stamp mit 47

Einleitung

Loseblattsystem, das nach Bedarf erweitert werden konnte, sowie einen großen Packen der notwendigen Blätter. Und dann machten wir uns an die mühevolle Aufgabe, den Namen jedes einzelnen Landes im Katalog auf eine eigene Seite des neuen Albums zu schreiben, zusammen mit dem Namen der jeweiligen Hauptstadt. Dieses Vorhaben nahm Wochen, wenn nicht gar Monate in Anspruch. Danach kam ein sogar noch aufwendigerer Arbeitsschritt, bei dem wir die Briefmarken von dem alten Album in das neue übertrugen. Das war die Mühe, die für mich das Fass zum Überlaufen brachte: Mein Sammlerwille war gebrochen, meine philatelistische Karriere schien am Ende. Ein Jahr verging, dann zwei, dann drei Jahre, und irgendwann – es muss 1950 oder 1951 gewesen sein – gab ich einfach auf. Ich nahm Onkel Normans World Album, das noch immer halb voll war, legte es in eine Kiste und packte das Pacific Album dazu, das noch immer halb leer war. Statt Briefmarken einzukleben, begann ich, mir mit Fußballspielen die Zeit zu vertreiben. Als ich dann, beinahe sechzig Jahre später, die unvollendete Aufgabe wieder aufnahm, arbeitete ich gerade an einem Buch mit dem Titel Vanished Kingdoms (dt. Verschwundene Reiche: Die Geschichte des vergessenen Europa). Die Prämisse dieses Buchs sollte eine ganz simple historische Beobachtung sein: dass nämliche jegliche politischen Gebilde  – ob nun Königreiche, Imperien oder Republiken – eine zeitlich begrenzte, endliche Lebensdauer haben. Kein Staat ist unsterblich. Wie wir Menschen werden sie geboren, leben dann für eine bestimmte Dauer – manche länger, andere kürzer  – und schließlich sterben sie. Mittlerweile ist mir klar geworden, dass meine frühe Beschäftigung als „Briefmarkenkundler“ ganz entscheidend dazu beigetragen hat, mir diese Denkfigur in den Kopf zu setzen. Als mir nun Jahrzehnte später Onkel Normans Briefmarkensammlung wieder in den Sinn kam, holte ich sie aus ihrer Kiste und begann, mir ihre Bestandteile noch einmal genauer anzusehen. Die größte Abteilung des Albums, sie nimmt die Seiten 6 bis 88 ein, ist dem britischen weltreich gewidmet – einem politischen Gebilde, das inzwischen völlig verschwunden war. Der zweite Abschnitt zu „Europa“ (Seiten 89 bis 162) enthielt vergleichsweise mehr „Überlebende“, von belgien und bulgarien bis zu ­spanien, schweden und der schweiz. Aber österreich-ungarn, das deutsche reich, das russische zarenreich und das osmanische reich waren allesamt zu Staub zerfallen. Eine ganze lange Liste von kolonialbesitzungen europäischer mächte existierte so nun nicht mehr, und nicht weniger als siebzehn deutsche Staaten, Territorien und sonstige Körperschaften, die eigene Briefmarken ausgegeben hatten, waren ebenfalls von 48

Wo die Zitronen blühn – Von Pilgern und Entdeckern

der internationalen Bühne verschwunden, von baden, bayern und bergedorf bis hin zu preussen, sachsen, thurn und taxis (nord und süd) und schließlich württemberg. Die Insel kreta, wiewohl ein eigenständiger Staat, wird in dem Album als „unter der gemeinsamen Verwaltung Großbritanniens, Frankreichs, Russlands und Italiens stehend“ beschrieben; nur kurz bevor Onkel Norman seine Sammlung begann, hatte Kreta schließlich seinen Anschluss an Griechenland erklärt. Die Karibik-Inseln von dänisch-westindien hingegen wurden 1917, als die Brüder noch zur Schule gingen, an die Vereinigten Staaten verkauft und sind seitdem als die „Amerikanischen Jungferninseln“ bekannt. Das im Album als „Fürstentum“ bezeichnete montenegro war ab 1910 ein Königreich, wurde jedoch 1918 brutal von Serbien annektiert – der einzige Staat unter den Alliierten des Ersten Weltkriegs, der in diesem Krieg zerstört wurde. Aus der asiatischen Abteilung des Albums sind die meisten der damals souveränen Staaten, wie etwa china oder japan, auch heute noch auf der Weltkarte zu finden; allerdings hat die Mehrzahl von ihnen in der Zwischenzeit teils drastische Verwandlungen ihres politischen Systems erlebt, und nicht wenige haben ihre Namen geändert: Aus persien wurde Iran, aus Siam wurde Thailand, und korea – damals „unter japanischer Verwaltung“, wie das Album beschönigend erläutert – ist inzwischen zweigeteilt. Unter den afrikanischen Staaten haben liberia und marokko überlebt, wie auch abessinien, das inzwischen freilich Äthiopien heißt. In Nordund Südamerika hat es überhaupt keine Veränderungen gegeben, wenn man einmal von der venezolanischen Hafenstadt la guaira absieht, die zwischen 1864 und 1869 eigene Briefmarken für die Postschiffe nach Curaçao ausgegeben hat. In der Sammlungsabteilung, die Ozeanien gewidmet ist, wird das Territorium hawaii als „US-Protektorat“ bezeichnet, obwohl die Vereinigten Staaten es damals bereits annektierten hatten. Im Jahr 1959 wurde es dann der fünfzigste Bundesstaat der USA. Die Arbeit an Verschwundene Reiche nahm fünf Jahre meines Lebens in Anspruch. Als das Buch dann fertig war, wusste ich nicht so recht, wie es mit diesem Leben weitergehen sollte. Die in den Psalmen genannte einschlägige Wegmarke hatte ich zwar passiert – „Unser Leben währet siebzig Jahre …“, heißt es bei Luther –, aber dank dem hervorragenden Hüftchirurgen Professor Derek McMinn aus Birmingham meine verloren geglaubte Mobilität wiedergewonnen. Und nicht zuletzt hatte ich einen Buchpreis gewonnen, dessen Preisgeld ich in Tickets für Langstreckenflüge investieren konnte. Während ich also noch darauf wartete, dass mein Verlag mir 49

Einleitung

grünes Licht  – und vielleicht einen Themenvorschlag  – für ein weiteres Buchprojekt geben würde, nahm ich die Sache selbst in die Hand und begann, eine Weltreise zu planen. Die Fallbeispiele, über die ich in Verschwundene Reiche geschrieben hatte, beschränkten sich ausschließlich auf Europa. Nachdem ich nun aber Onkel Normans Album nach langer Zeit wieder in der Hand gehabt hatte und noch dazu meine eigene Weltumrundung ins Auge nahm, wurde mir allmählich klar, dass es „verschwundene Reiche“ an allen Enden der Erde gab. Zudem wollte mir scheinen, dass die Menschheitsgeschichte eine Geschichte nicht nur von stetiger Veränderung, sondern ebenso von ständiger Ortsveränderung gewesen war, eine Geschichte voller Bewegung und Fortbewegung. Seit die ersten Exemplare der Art Homo erectus sich vor rund 1,9 Millionen Jahren auf ihre Hinterbeine erhoben hatten – was mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in Ostafrika geschah  –, hatten ihre Nachfahren sich beinahe rastlos von Ort zu Ort weiter fortbewegt: von einem Lagerplatz zum nächsten, dann von Kontinent zu Kontinent, schließlich vom Festland bis auf entlegene Inseln hinaus. Als das Zwielicht der Vorgeschichte dann langsam in die Morgenröte der ältesten Aufzeichnungen überging, hatte der moderne Mensch bereits die meisten Gegenden auf dieser Erde erreicht, mit Ausnahme der Antarktis. Die Schöpfungen der Menschheit – und dazu zählen eben auch Gemeinwesen, Staaten und Reiche – entwickeln sich scheinbar aus dem Nichts, blühen auf, vergehen und werden durch andere ersetzt, die an ihre Stelle treten. Diese Abfolge haben sie mit ihren Schöpfern gemein. Und wie jedes einzelne der Individuen, aus denen das große Kollektiv „Menschheit“ besteht, kam auch die Spezies als Ganze mit einem ungeheuren Bewegungsdrang auf die Welt: will seit jeher krabbeln, dann gehen, laufen und springen, bis sie irgendwann gebrechlich und zittrig den Stab an andere weitergeben wird. Über Jahrtausende sind die Menschen von Ort zu Ort gezogen, stets weiter und weiter, immer auf der Suche nach dem Ort, wo das Gras noch saftiger, die Landschaft noch einladender sein würde. Ab und an machen sie Rast, für Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte, aber früher oder später packen sie ihre Siebensachen und begeben sich auf die nächste Etappe ihrer Wanderschaft. Sie ziehen weiter und erkunden die Gegend, klettern bergauf und steigen wieder ab; sie führen oder folgen, fliehen vor Unglück oder suchen in der Fremde ihr Glück; sie halten zusammen oder zerstreiten sich, dringen vor oder treten den Rückzug an, kommen an oder brechen auf; sie halten Kurs oder irren umher; sie entfernen sich voneinander, gehen getrennte Wege, sondern sich vom großen Hauptstrom ab oder zerstreuen sich; sie finden 50

Wo die Zitronen blühn – Von Pilgern und Entdeckern

zusammen, prallen aufeinander, verschmelzen miteinander oder leben friedlich nebeneinander; sie sind ruhelos, impulsiv oder lassen sich treiben; streunen, streifen und schweifen; stürmen, hetzen oder hasten; marschieren, stampfen oder trampeln; stapfen, trotten oder schleppen sich dahin; drängen, pilgern oder schlendern; sie eilen oder trödeln, gehen, segeln, reiten oder ­fliegen auf ihren ständigen Migrationen, Emigrationen, Immigrationen, bei ihrem Bevölkern, Besiedeln und Kolonisieren; manchmal wetteifern sie, geraten aneinander, erobern oder kapitulieren; immer aber müssen sie interagieren, sich anpassen und sich stets weiterentwickeln. Sie stoßen als furchtlose Einzelkämpfer ins Ungewisse vor oder ziehen in Familiengruppen und Volksmassen ihres Weges. Bisweilen fegen sie, wie etwa die mongolischen Reiterhorden, über die Steppen und Prärien; dann wieder ziehen sie in Kolonnen behäbiger Planwagen durch die Wildnis, wie die Buren und die Mormonen. Die Ozeane haben sie stilvoll in den Kajüten der Ersten Klasse überquert, in der ärmlichen Enge des Zwischendecks oder qualvoll in den Frachträumen der Sklavenschiffe. Sie sind auf Wikinger-Langschiffen gefahren und polynesischen Auslegerkanus, in Fellbooten und in Fiberglas-Jachten. Manchmal sind sie, wie die römischen Legionen, in Reih und Glied marschiert, manchmal haben sie, wie die Barbarenhorden der Völkerwanderungszeit oder die Migrationsströme des 21. Jahrhunderts, bestehende Grenzen allein durch die Kraft der großen Zahl überwunden. Und bei alldem vergessen sie zugleich nie ihren Überlebensinstinkt, sind fruchtbar und mehren sich, wodurch der ständige Menschenstrom aufrechterhalten wird. Unsere heutige Welt ist die – vorläufige – Summe all dieser über Jahrtausende aufaddierten Bewegungen. Dank der menschlichen Rastlosigkeit ist die Erde nun mit einer Vielzahl von Ethnien, Religionen, Kulturen, Stämmen, Gesellschaften, Sprachfamilien, Landsmannschaften, Nationen, Staaten, politischen Gruppierungen und Machtblöcken angefüllt; die Vielfalt von guten Nachbarn, bösen Nachbarn, Verbündeten, Rivalen und Feinden ist kaum noch zu überschauen. Und nun wollte ich, ein einsamer Reisender, der fest entschlossen war, sich auf seine eigene Entdeckungsfahrt zu begeben, mich mitten in dieses Getümmel stürzen. Alles begann mit einer Einladung an mich, in Australien, genauer gesagt in Melbourne, einen Festvortrag zu halten. Meine Frau und ich freuten uns sehr über die Gelegenheit, einmal nach Melbourne zu reisen; aber die Aussicht auf einen 24-stündigen Direktflug erfüllte uns nicht gerade mit Vorfreude. Die naheliegende Lösung war, nicht non-stop nach Australien zu fliegen, sondern stattdessen eine Reihe von kleineren, weniger strapaziösen 51

Einleitung

Etappen zu absolvieren – über Dubai, Delhi und Singapur. Der längste Aufenthalt unserer Reise sollte in Tasmanien sein, wo wir bei Freunden zu Gast sein würden und von wo aus meine Frau dann auch wieder nach Hause zurückkehren wollte. Als Nächstes fiel uns auf, dass wir mit nur ein wenig zusätzlichem Aufwand die Rückreise auch genauso gut ostwärts würden antreten können  – über Neuseeland, Tahiti und die Vereinigten Staaten. Aber wir waren ja nicht in Eile, und so gab es überhaupt keinen Grund, bei einer Reise bis ans andere Ende der Welt jedes besuchte Land nach einer blitzartigen Stippvisite  – Führung, wenig typische Standardmahlzeit, Übernachtung in einem anonymen Flughafenhotel – sofort wieder zu verlassen. Ganz im Gegenteil: Nicht Eile, sondern Gelassenheit war geboten, und zusätzliche Haltepunkte konnten der Route beinahe nach Belieben hinzugefügt werden. So kamen Baku, Kuala Lumpur, Mauritius und Madeira auf den immer weiter wachsenden Fahrplan. Das waren magische Namen auf der Karte all jener Orte, die ich noch nie zuvor gesehen hatte und danach vermutlich auch nie wieder sehen würde. Als der Tag der Abreise herannahte, stieg die Vorfreude – und mit ihr eine gewisse Aufregung – unbestreitbar an. Und natürlich wollte ich mich nicht von unserem Sohn Christian überflügeln lassen, der eines Tages in einem ähnlichen Anfall von Reisefieber nach Zentralasien aufgebrochen war (wie das unter jungen Leuten heutzutage üblich ist), in jenes Zentralasien, das ich selbst nur in Büchern kennengelernt hatte. Seine Postkarte an uns, die daheim­ gebliebenen Eltern, enthielt statt der üblichen, banalen Urlaubsgrüße die folgenden vier wortgewaltigen Verse, die wohl als das persönliche Motto aller passionierten Wandervögel dienen könnten: We travel not for trafficking alone: By hotter Winds our fiery hearts are fanned: For lust of knowing what should not be known We make the golden journey to Samarkand. Wir reisen nicht allein für Ruhm und Handel: In unsren Herzen weht ein heißrer Brand: Die Lust ist’s, Un- in Kenntnis zu verwandeln – Drum reisen wir ins goldne Samarkand.46

Ich kann daher nicht mit letzter Eindeutigkeit sagen, was mich eigentlich zu meinem Vorhaben bewogen hat, die Welt zu umrunden. Ganz sicher 52

Wo die Zitronen blühn – Von Pilgern und Entdeckern

habe ich zur Vorbereitung nicht die zahllosen Theorien darüber studiert, warum Menschen überhaupt einen Reisedrang verspüren; ich habe mich diesem menschlichen Urdrang einfach hingegeben und bin losgezogen. Ganz bestimmt bin ich keiner von jenen „echten“ Reisenden, die – wie es bei Baudelaire heißt – einzig und allein „gehen / Um fortzugehn“. Aber genauso wenig zog es mich auf eine hochgesinnte Pilgerfahrt à la Bunyan. Meine Motivation lag wohl eher in der Nähe von Goethes „Schule des Sehens“ – ich wollte meine Beobachtungsgabe auf die Probe stellen, wiederkehrende Muster entdecken und flüchtigen Details nachjagen, und dann meine Geschichte erzählen. Meine Hoffnung war dabei von Anfang an, dass die Erzählung von meinem impulsiven Abenteuer eine Prise von Cobbetts beißendem Witz, ein Flair ähnlich dem „strahlend blauen Himmel“ und „saftig-grünen Gras“ Hazlitts sowie wenigstens eine Andeutung von Goethes „wahrhaftem Märchen“ enthalten würde. Vielleicht war ich ja auch, wie der alternde Odysseus in Lord Tennysons Gedicht Ulysses, nur ein weiterer „grauer Geist“, der sich nach einem allerletzten Abenteuer sehnte: Death closes all: but something ere the end, Some work of noble note, may yet be done, Not unbecoming men that strove with Gods. The lights begin to twinkle from the rocks: The long day wanes: the slow moon clumbs, the deep Moans round with many voices. Come, my friends, ’Tis not too late to seek a newer world … … [For] my purpose holds To sail beyond the sunset, and the baths Of all the western stars, until I die. It may be that the gulfs will wash us down; It may be we shall touch the Happy Isles, And see the great Achilles, whom we knew. Tho’ much is taken, much abides; and tho’ We are not now that strength which in old days Moved earth and heaven, that which we are, we are; One equal temper of heroic hearts, Made weak by time and fate, but strong in will To strive, to seek, to find, and not to yield. 53

Einleitung

Der Tod schließt Alles: aber vorher, Freunde, Kann etwas Edles, Großes noch getan sein, Was Männern ansteht, die mit Göttern stritten. Schon glitzern rings die Lichter am Gestad, Der Tag versinkt, der Mond geht auf, die Tiefe Wehklagt umher. Auf denn! noch ist es Zeit, Nach einer neuern Welt uns umzusehn! … … [D]enn mein Endzweck ist, Der Sonne Bad und aller Westgestirne Zu übersegeln – bis ich sterben muss. Vielleicht zum Abgrund waschen uns die Wogen: Vielleicht auch sehn wir die glückseligen Inseln, Und den Achilles drauf, den wir ja kannten! Viel ist gewonnen – viel bleibt übrig! Sind Wir auch die Kraft nicht mehr, die Erd und Himmel Vordem bewegte: – was wir sind, das sind wir! Ein einziger Wille heldenhafter Herzen, Durch Zeit und Schicksal schwach gemacht, doch stark Im Ringen, Suchen, Finden, Nimmerweichen!47

54

1. Kerno: Das Reich des Quonimorus

55

1. Kerno

„Nächstenliebe“, besagt ein Sprichwort, „beginnt daheim.“ Das gilt wohl auch für die meisten Reisen; Reisende und selbst Weltumsegler müssen erst einmal ihre eigene Türschwelle überschreiten, um sich auf den Weg zu machen. Der erste meiner vielen Besuche in der wunderschönen Grafschaft Cornwall – einem Teil dessen, was die Engländer ihr „Westland“ (West Country) nennen – war ein Familienurlaub in meiner Kindheit. Die englische Perspektive auf diese geografische Konstellation findet sich in einer Unzahl von Reiseführern, Urlaubsbroschüren und Reportagen wieder, deren alleiniger Zweck es ist, das angenehm vertraute Gesicht der Gegenwart für die Zukunft zu konservieren. Denn den Engländern, von der einstigen Macht ihres Empire verwöhnt, bringt man bei, die Welt so zu lieben, wie sie ist – damit nicht am Ende ihnen selbst das geschieht, was sie einst anderen angetan haben. Unterstützt durch die Denkmalschutzorganisation English Heritage buhlen Truro, Penzance, Newquay, St.  Ives und andere Orte in Cornwall um die Massen von Ausflüglern, Surfern, Antiquitätenjägern, jugendlichen Sauftouristen und Strandhippies, die unentwegt herbeiströmen, um die wunderbare Küstenlandschaft zu genießen, dazu die Hotels belegen und so der lokalen Wirtschaft einen Schub versetzen – aber natürlich auf keinen Fall den Status quo erschüttern sollen. Die Gründung von English Heritage („Englisches Erbe“) geht auf das britische Denkmalschutzgesetz (National Heritage Act) von 1983 zurück. Die Organisation ist in allen englischen Grafschaften aktiv, verwaltet und bewirtschaftet historische Stätten, hält (Bau-)Denkmäler instand und unterstützt Kulturveranstaltungen.1 (In den anderen Teilen des Vereinigten Königreichs – in Wales, Schottland und Nordirland – gibt es entsprechende Organisationen.) In Cornwall allerdings ist English Heritage in Schwierigkeiten geraten, weil aus dem National Heritage Act nicht klar hervorgeht, wessen „nationales Erbe“ auf der Grundlage dieses Gesetzes denn überhaupt geschützt werden darf. Im Jahr 1999 rissen Demonstranten an vielen Orten in Cornwall Schilder und Hinweistafeln von English Heritage von den Wänden – mit der Begründung, dass die historischen Stätten, an denen diese Schilder angebracht gewesen waren, zum kornischen Erbe gehörten, und nicht zum englischen. Die Protestkampagne trug den Decknamen Operation Chough („Operation Alpenkrähe“) und ihre Aktionen wurden, wie es hieß, im Auftrag einer Gruppierung namens Cornish Stannary Parliament ausgeführt. Ein solches „Zinnparlament von Cornwall“ hatte bis in das 18. Jahrhundert das Bergbaurecht in der Region geregelt, in der schon während Bronzezeit – vor rund 4000 Jahren – Zinn abgebaut wurde. Die 56

Das Reich des Quonimorus

Aktivitäten des selbst ernannten „Zinnparlaments“ aus unseren Tagen führten schließlich zu einem Prozess, der am 18.  Januar 2002 vor dem Krongericht von Truro endete. Drei Männer – Hugh Rowe, Rodney Nute und Nigel Hicks  – waren dort wegen „Verschwörung zur Sachbeschädigung“ angeklagt gewesen; die Polizei hatte sie dabei erwischt, wie sie auf dem Dach ihres Autos ein großes English­-Heritage-Schild transportiert hatten, das eigentlich auf das Gelände von Pendennis Castle in Falmouth gehörte. Nun drohte ihnen eine Gefängnisstrafe. Das Gericht stufte die Motive der Angeklagten als „politisch“ ein und erklärte, man wolle ihnen nicht noch mehr „Publicity“ zuteilwerden lassen. Am Ende wurden die drei zu einer schweren Geldstrafe von insgesamt 4500  Pfund verurteilt und mussten sich im Sinne einer Bewährungsstrafe verpflichten, ihre Protestaktionen nicht weiter fortzusetzen. Ihrer Majestät Staatsanwaltschaft, die sich im Lauf des Verfahrens auf ein Gesetz zum Schutz der nationalen Sicherheit berufen hatte, um Informationen zu geheim gehaltenen Eigentumstransaktionen zwischen English Heritage und dem Herzogtum Cornwall auch weiterhin unter Verschluss halten zu können, ließ die schwerwiegenderen Anklagepunkte gnädigerweise fallen. Zur Rechtfertigung ihrer Kampagne hatten die Angeklagten zuvor einen offenen Brief veröffentlicht, in dem sie ihrer Sicht der Dinge klar und deutlich Ausdruck verliehen. Darin heißt es: „Die Schilder wurden beschlagnahmt und als Beweisstücke für die andauernde kulturelle Aggression vonseiten Englands einbehalten. Eine derartige, im Grunde rassistisch motivierte Beschilderung ist zutiefst beleidigend und stellt für zahlreiche Einwohner Cornwalls eine schwere seelische Belastung dar.“2 Marcus Quonimorus war ein römisch-britischer König, der in der Sprache der Einheimischen Margh oder Marke genannt wurde. Er lebte im 5. und 6. Jahrhundert unserer Zeitrechnung. Sein Name ist auf einem uralten Grabstein überliefert, der sich heute an einer Straße in Menabilly nahe Fowey befindet. Daraus scheint hervorzugehen, dass er der Vater eines gewissen „Drustans“ war, an den dieser Grabstein erinnert  – mit ziem­ licher Sicherheit handelt es sich dabei um den Tristan aus dem mittelalterlichen Sagenkreis um Tristan und Isolde.3 Die Experten sind sich zwar nicht hundertprozentig sicher, aber vermutlich lautet die Inschrift auf dem Grabstein: drustans hic iacet cunomori filius  – „Hier liegt Tristan, Sohn des Quonimorus“. Wie der englische Altertumsforscher und Bibliothekar John Leland im 16. Jahrhundert behauptete, umfasste die Inschrift ursprünglich noch eine dritte Zeile: cum dom ousilla. Diese „Dom[ina] Ousilla“ könnte dann mit ziemlicher Sicherheit als jene Königin Isolde 57

1. Kerno

Kerno (Cornwall)

(Bideford)

(Bude)

Ryskammel (Camelford)

N

Lannstevan (Launceston)

Lannwedhenek (Padstow)

Bosvenegh

) ON EV (D ANS DEWN

Portbud

Atlantischer Ozean

(Bodmin)

S

KERNO (COR N WA L L)

Tewynblustri (Newquay)

Truru

(Truro)

Porth Ia (St. Ives)

(Liskeard)

Essa

(Saltash)

Sen Ostel

(St. Austell) Rame Head

Kammbronn (Camborne)

Pennsans (Penzance)

Aberfala

Penn an Wlas M o u n t ’s (Land’s End)

Lyskerrys

Bay

Hellys

(Falmouth)

Ärmelkanal

(Helston)

0

10

20

30km

identifiziert werden, die in den Legenden stets an der Seite von König Marke genannt wird. In späteren Fassungen der Geschichte ist Tristan nicht Markes Sohn, sondern sein Onkel, aber dieses Detail schließt ja nicht aus, dass der eine nach dem anderen genannt wurde. Jeder einzelne Punkt dieser Interpretation ist angefochten worden. Dennoch liefert das Zusammentreffen von gleich drei zentralen Namen aus dem Sagenkreis ein ziemlich starkes Argument dafür, dass auf dem Grabstein von Menabilly eine geschichtliche Wirklichkeit festgehalten ist, aus der sich dann später eine immer wieder ausgeschmückte Legende entwickelte.4 Die geschichtliche Realität von Marcus Quonimorus ist zwar besser verbürgt als die seines angeblichen Zeitgenossen, „König Artus“, aber eben doch nicht vollkommen zweifelsfrei belegt  – was historischen Pedanten Tür und Tor öffnet. Und doch: Wenn es einen solchen König gab, dann 58

Das Reich des Quonimorus

kann man mit gleichem Recht annehmen, dass es auch ein entsprechendes Königreich gegeben hat, selbst wenn dessen tatsächlicher Name und genaue Ausdehnung bislang unbekannt sind. In einer zeitgenössischen walisischen Quelle ist von einem König von Dumnonia namens „Cynmor“ die Rede – das bedeutet „Hund des Meeres“ oder „See-Hund“. „Cunimorus“ oder „Quonimorus“ sind ganz offensichtlich Abwandlungen dieses Namens. Der fränkische Chronist Gregor von Tours erwähnt einen bretonischen Herrscher aus derselben Zeit, der einen sehr ähnlichen Namen trägt: König Cunomorus, der um das Jahr 550 herum im Kampf gegen die Franken getötet wurde und in Gregors Chronik als Vasall des Frankenkönigs bezeichnet wird – „Cunomorus tyrannus, praefectus Francorum regis“. Das Wort tyrannus weckt natürlich gewisse Assoziationen, zumal immer wieder vermutet wird, dass der böse Herrscher Cunomorus das historische Vorbild für den legendär grausamen Herzog oder König „Blaubart“ abgegeben hat, um den sich schaurige Geschichten ranken.5 Wer das Château de Camors im bretonischen Department Morbihan besichtigt, erfährt dort, dass es sich um „Blaubarts Burg“ handeln soll, die auf einen lokalen Herrscher aus dem Frühmittelalter namens Konomor oder (auf Französisch) Comorre zurückgeführt wird.6 Cunomorus taucht auch in einer Episode aus dem Leben des Heiligen Machutus auf, das Gregor von Tours bald nach dessen Tod niedergeschrieben hat (der Heilige, den die Franzosen Saint Malo nennen, lebte dem Vernehmen nach von 520 bis 621): Chanao [Conan], Graf der Bretonen, tötete drei seiner Brüder und wollte auch [den vierten Bruder] Macliavus [Malo] töten …, den er mit schweren Ketten gefesselt einkerkern ließ. Aber [Malo] wurde vom Tod befreit durch Felix, den Bischof von Nantes. Danach schwor [Conan], seinem Bruder die Treue zu halten, aber aus irgendeinem Grund … neigte er bald wieder dazu, seinen Eid zu brechen. Chanao begann, Macliavus wiederum anzugreifen [und zwang ihn in die Flucht] zu einem anderen Grafen in jener Gegend, der hieß Chonomor … [und] versteckte [Malo] in einer Kiste unter der Erde …, mit einem kleinen Luftloch nur, dass er atmen könne. Als seine Verfolger kamen, [sagte man ihnen:] „Hier liegt Macliavus, tot und begraben“ … und sein Bruder nahm das ganze Königreich. Denn seit dem Tode des Clovis haben die Bretonen stets unter der Oberherrschaft der Franken gestanden, weshalb man ihre Herrscher „Grafen“ nennt und nicht „Könige“. Macliavus aber stieg aus seinem unterirdischen Versteck und ging in die Stadt Vannes, wo er die Tonsur empfing und zum Bischof geweiht wurde.7 59

1. Kerno

Im 8. Jahrhundert war es dann ein bretonischer Mönch mit dem großartigen Namen Wrmonoc, Verfasser einer Vita des 564 gestorbenen Heiligen Paulinus Aurelianus („Saint Pol de Léon“), der als Erster erklärte: „König Marke wurde auch Quonimorus genannt“.8 Natürlich kann man nicht davon ausgehen, dass ein bestimmter Name nur von einem einzigen König getragen wurde und von niemandem sonst; auch ist nicht sicher, dass es in allen diesen Quellen um ein und dasselbe Königreich geht. Der Marcus, der Lady Ousillas Gemahl und Tristans Vater oder Neffe war, könnte entweder ein König von Cornovia gewesen sein (die lateinische Fassung des keltischen Kerno für Cornwall) oder Herrscher über ein Reich namens Dumnonia (also Devon, das allerdings andere Grenzen hatte als die heutige Grafschaft gleichen Namens) oder aber er herrschte über ein vereinigtes Corno-Dumnonia oder vielleicht sogar über ein Reich noch größerer, bislang unklarer Ausdehnung. Der französische Historiker Léon Fleuriot hat die plausible Hypothese aufgestellt, dass Marcus Quonimorus über ein vereinigtes, bretonisch-brythonisches Königreich geherrscht haben könnte, das Kelten beiderseits des Meeres  – in der heutigen Bretagne und im heutigen Britannien  – unter einer Krone vereint hätte.9 Wir sollten festhalten, dass Marcus Quonimorus wohl kaum ein König in der heute geläufigen Bedeutung dieses Wortes gewesen sein dürfte. Seinem Grab fehlt jeglicher monarchische Pomp, und sein erhaben-königlicher Status ist durch spätere Legenden erst aufgebaut worden. Wie auch die irischen oder walisischen „Könige“ aus derselben Zeit, wie die Grafen und Herzöge der Bretagne und die frühesten angelsächsischen Monarchen war vermutlich auch Quonimorus nicht viel mehr als ein lokaler oder bestenfalls ein regionaler Stammesfürst; das missverständliche lateinische rex bezeichnete damals schlicht „einen, der herrscht“ oder den Ton angibt. Viel wichtiger ist jedoch – und zwar steht dies jenseits allen vernünftigen Zweifels fest –, dass es sich bei Marcus Quonimorus um einen wirklichen, historischen Menschen aus Fleisch und Blut gehandelt hat. Er und sein Königreich stehen keineswegs in einer Reihe mit den mythischen, legendären oder fiktionalen Reichen von Atlantis, Lyonesse, Camelot oder Avalon. Viel eher ähnelt „König See-Hund“ den Schutzpatronen von Irland und Wales, dem Heiligen Patrick und dem Heiligen David: Als keltische Herrscher und Heilige gehören sie alle zusammen in die historisch verbürgte Welt des nachrömischen Nordwesteuropa. Und insofern haben sie jedes Recht, in der Geschichte der Britischen Inseln eine ebenso gewichtige Rolle zu spielen wie ihre prominenteren angelsächsischen Zeitgenossen. 60

Das Reich des Quonimorus

Der Grabstein von Menabilly ist übrigens alles andere als einmalig. Tatsächlich ist er nur ein besonders gut bekanntes Beispiel unter Dutzenden ähnlicher Relikte aus Cornwall, die nicht selten zwei Inschriften tragen: eine auf Latein und eine in der altirischen Ogham-Schrift. Der sogenannte Selus Stone beispielsweise, der sich heute in der Pfarrkirche von St. Just in Penwith im äußersten Westen Cornwalls befindet, hält den Tod eines mutmaßlichen kornischen Königs fest, der verschiedentlich als „Selevan“, „Levan“, „Salomon“ oder – auf Walisisch – als „Selyf“ bekannt ist. Die fragliche Inschrift lautet selus ic iac–t („Hier liegt Selus“) und ist mit dem Christusmonogramm aus den griechischen Buchstaben Chi (C) und Rho (R) versehen. Auf dem Saint Kew Stone, der in der Kirche des gleichnamigen Dorfes zu finden ist, steht schlicht und ergreifend iusti, will sagen „[dies ist das Grab] des Justus“. Der Lewannick Stone I ist ähnlich sparsam beschriftet: igenafimemor heißt es dort – „Zum Gedenken an Igenavus“. Aber besonders aussagekräftig ist der sogenannte Worthyvale Stone I, der sich in Slaughterbridge nahe Camelford befindet. Seine Bedeutung besteht teils darin, dass er so gut erhalten ist, teils darin, dass er oft als „König Artus’ Grabstein“ beworben wird, obwohl seine Inschrift latini [h]ic iacit filius magari („[Grab] des Latinus: hier liegt der Sohn des Magarus“) keine ersichtliche Verbindung zur Artussage herstellt.10 Die Fantastereien der arturischen Mythenindustrie legen einer Klärung des historischen Beweismaterials für die nachrömische Epoche Britanniens lästige Steine in den Weg. Vor allem in Cornwall, das schon Sir Thomas Malory zum Schauplatz seiner 1485 gedruckten Artus-Synthese Le Morte Darthur machte und wo in viktorianischer Zeit Alfred Tennyson sein zwölfteiliges Gedicht The Idylls of the King (1859–85) ansiedelte, gerät man als Historiker immer wieder mit derlei Mystifikationen aneinander. Durch die schiere Kraft des Enthusiasmus beseelt, stellen die vermeintlich authentischen Schauplätze Cornwalls bei der endlosen „Suche nach Artus“ alle anderen  – keineswegs unwahrscheinlicheren  – Lokalitäten in anderen Gegenden Großbritanniens, darunter Glastonbury, Clydeside oder sogar das schottisch-englische Grenzgebiet der Scottish Borders, in den Schatten.11 In Slaughterbridge im Norden Cornwalls gibt es inzwischen sogar einen Miniatur-Erlebnispark – The Arthurian Centre –, der exklusiven Zugang zu den Inschriften der Worthyvale Stones bietet: Die Besucher können über die Felder spazieren, auf denen König Arthus und Mordred sich zu ihrem letzten Kampf gegenübertraten … Entwirren Sie ein für alle Mal Fakten und Fiktionen! Was verbindet König Artus mit 61

1. Kerno

Star Wars, dem Herrn der Ringe, Harry Potter und Shrek? … [Besuchen Sie] den Ort [jener Schlacht], bei der König Artus’ Tafelrunde im Jahr 537 endgültig zerschlagen wurde.12

Das Unternehmen – eine Art kornisches Pendant zu „Blaubarts Burg“ in der Bretagne – basiert auf unglaublich wackligen Grundannahmen – etwa, dass das heutige Camelford ohne Weiteres mit dem antiken „Camlann“ oder gar mit „Camelot“ gleichgesetzt werden kann, oder dass der Ortsname „Slaughterbridge“ (eine deutsche Entsprechung wäre vielleicht „Schlachtbrücken“ oder „Metzelbrück“) an den Schauplatz einer „arturischen“ Schlacht erinnere. Nun bedeutet leider das altenglische Wort, von dem der Ortsname tatsächlich abgeleitet ist – slohtre – keineswegs „Schlacht“, sondern eher „Sumpfland.“ Und obwohl archäologische Funde darauf hinzuweisen scheinen, dass es an dieser Stelle irgendwann einmal zu einer gewaltsamen Auseinandersetzung gekommen ist, gehört die angebliche Verbindung zu König Artus doch wohl gänzlich ins Reich der Legende – oder, wie es heute etwas vornehmer heißt: der „erfundenen Tradition“. Bei der Zusammenstellung einer möglichst lückenlosen Chronologie kornischer Könige tun sich also schier unlösbare Probleme auf. Meist unterteilt man diese Könige in zwei Gruppen: dort die rein legendären – wie etwa Corineus, der um 1100 vor unserer Zeitrechnung regiert haben soll  –, hier diejenigen, für die es urkundliche Belege gibt. Diese letztere Gruppe ist klein, sie umfasst lediglich fünf Namen: Marke, Salomon (oder Selyf), Dungarth, Ricatus sowie „Huwal von den Westwalisern“, den die Angelsächsische Chronik in ihrem Eintrag für das Jahr 927 erwähnt. Einen König Artus hingegen findet man auf keiner dieser Listen: Er fehlt sowohl bei Gildas, dem einzigen auch nur annähernd zeitgenössischen Chronisten, als auch bei dem Heiligen Beda, der ihn in seiner Kirchengeschichte des englischen Volkes nicht erwähnt. Erst in der Historia Brittonum des Nennius, die am Ende des 8. Jahrhunderts entstand, taucht Artus plötzlich auf.13 Bezeichnenderweise zählte das Reich des Quonimorus zur Kategorie der maritimen „Seekönigreiche“, und nicht zu jenen landzentrierten Territorien, die mit dem Vorrücken der Angelsachsen entstanden.14 Wenn man einen beliebigen heutigen Atlas aufschlägt, der das unterschiedliche Terrain des Festlandes mit seinen Straßen, Flüssen und Siedlungsgebieten hervorhebt, dann scheint die wichtigste Eigenschaft von Cornwall seine Form zu sein: eine lang gezogene, aber feste Landbrücke, die von Devon aus auf eine äußerste Spitze führt. So gesehen liegt es nahe, Cornwall als einen bloßen „Wurmfortsatz Englands“ zu betrachten. Wenn 62

Das Reich des Quonimorus

man hingegen eine nautische Karte zur Hand nimmt, fällt es einem wie Schuppen von den Augen: Das antike Kerno lag mitten im Zentrum der Keltischen See! Die keltischen Heiligen und Händler, Missionare und Magnaten – alle reisten sie über das Meer. In diesem Licht besehen, wird die wichtigste Eigenschaft Cornwalls eine andere: Am wichtigsten ist das dichte Netz von Seeschifffahrtsstraßen, die von der Halbinsel in alle Richtungen ausstrahlen und die Kerno mit Wales, Irland, der Bretagne und sogar dem fernen Galicien verbinden. Auf diesen traditionellen Seewegen konnte eine beachtliche Menge von „Britonen“ aus dem nachrömischen Britannien von Kerno und Dumnonia in das gallische Armorika einwandern, wo sie zu „Bretonen“ wurden – die Kultur der Bretagne prägt dies bis heute. Diese Wanderungs­ bewegung war dem byzantinischen Geschichtsschreiber Prokopios von Caesarea bereits bekannt, der um das Jahr 560 herum starb. Prokopios saß gerade über der Niederschrift seines Bellum Gothicum („Geschichte der Gotenkriege“), als eine fränkische Delegation in Konstantinopel ankam und ihm von den Vorgängen im äußersten Nordwesten des europäischen Festlandes berichtete: Die Insel Britannien bewohnen drei sehr zahlreiche Völkerschaften, von denen jede unter ihrem eigenen König steht. Diese Völker heißen Angeln, Friesen und, gleichnamig mit der Insel, Briten. Und so ungeheuer ist die Kopfzahl dieser Stämme, dass jedes Jahr große Mengen mit Weib und Kind von dort aufbrechen und zu den Franken hinüberziehen. Diese siedeln die Ankömmlinge in dem Teil ihres Gebiets an, der ihnen am wenigsten Einwohner zu haben scheint, und aus diesem Umstand leiten sie für sich gewisse Ansprüche [darauf] her.15

Prokopios verwendet in dieser Passage das Präsens, was darauf hinweist, dass die betreffende Migrationsbewegung noch immer im Gange war. Weder scheint ihm die Feindschaft zwischen Britonen und Angeln bewusst gewesen zu sein noch die Tatsache, dass ausschließlich Britonen auf das europäische Festland übersiedelten. Aber in groben Zügen ist das Bild doch klar: Während einer jeden Saison stachen in Britannien Schiffe voller M ­ igranten in See, die sich in Armorika – also in der heutigen Bretagne – ansiedeln wollten und so die bisherigen Bewohner jener Gegend nach und nach verdrängten. Ein Landstrich in der südwestlichen Bretagne trägt heute den Namen Cornouaille (auf Bretonisch: Kerne). Ein anderer an der bretonischen Nordküste heißt Domnonée und war einst das Reich jenes 63

1. Kerno

Anglesey

Die Keltische See

N

Irische See

EI R E (IR L A N D)

S

CYMRU ( WALES)

Corcough (Cork)

Tyddewi

(St. Davids)

Lundy Island

K ERN O (CORN WALL)

Keltische See Scilly Islands

Isle of Wight

Ärmelkanal

Penn an Wlas (Land’s End)

Alderney Guernsey Jersey

Atlantischer Ozean St. Malo

(Saint-Malo) B REIZ H ( B RIT TAN Y )

G A L I Z I E N (IBERISCHE HALBINSEL)

0

50

100

150 km

Königs Konomor, den Gregor von Tours erwähnt. Verschiedentlich haben Historiker die Vermutung geäußert, dass jener „Konomor der Verfluchte“ aus der Domnonée und Marcus Quonimorus in Wahrheit ein und dieselbe Person gewesen sein könnten.16 Obwohl die Regierungszeit des Quonimorus nicht präzise datiert werden kann, ist doch klar, dass seine Herrschaft in eine frühe Phase jener langen Ära gehört, die auf den Zusammenbruch der römischen Ordnung folgte, der endgültigen Etablierung der angelsächsischen Vorherrschaft 64

Das Reich des Quonimorus

jedoch vorausging. Noch gab es kein England und kein Schottland; „Wales“ – wenn wir darunter das Land der keltischen Britonen verstehen – erstreckte sich noch immer über den größten Teil Großbritanniens. Die keltischen Bewohner von Kerno, die von den Angelsachsen als „Westwaliser“ bezeichnet wurden, waren den Britonen in anderen Gegenden der Insel eng verwandt; von der späteren Ausdifferenzierung dieser Gruppen war noch kaum etwas zu spüren. Sich selbst sahen sie wohl als „kornische Britonen“, und vermutlich waren sie stolz auf ihre Sprache, Kultur und Geschichte, die sie deutlich von den germanischen Neuankömmlingen unterschied. Aller Wahrscheinlichkeit nach herrschte Marcus Quonimorus in den Jahrzehnten unmittelbar vor der Schlacht von Deorham (dem heutigen Dyrham) in der Nähe von Aquae Sulis (dem heutigen Bath), die sich im Jahr 577 ereignete. Ihr Sieg in dieser Schlacht erlaubte es den Angelsachsen, weiter in Richtung Südwesten vorzustoßen und die „Westwaliser“ so von ihren Landsleuten nördlich des Severn abzuschneiden. In dieselbe Zeit fällt auch die Christianisierung Großbritanniens, zuerst durch die keltische (iroschottische) Kirche, in den Jahren nach 597 dann durch die Mission des heiligen Augustinus von Canterbury, der in römischem Auftrag handelte. Bei den „Westwalisern“ waren diese Jahre zudem eine Blütezeit der keltischen Heiligen, die in ihren Coracles und curraghs – leichten Fell- oder Lederbooten – kreuz und quer über den Ozean fuhren, um die frohe Botschaft des Christentums in eine überwiegend heidnische Gesellschaft zu tragen. Nur wenige dieser Heiligen sollten in ihrer Heimat wirken und sterben, weshalb denn auch große Teile ihrer hagiografischen Heiligenviten und -legenden von Abenteuern auf hoher See handeln. Der heilige Piran beispielsweise, später der Schutzpatron der kornischen Zinnbergleute, war ein gebürtige Ire, der in seiner Heimat Ciaran oder Kieran geheißen hatte. Nachdem er von Irland nach Cornwall gesegelt war und dort das Kloster Lapiran gegründet hatte, lieh er seinen Namen auch noch der – inzwischen von einer Wanderdüne begrabenen – Kirche St. Piran in the Sands im nahen Perranzabuloe sowie dem Sankt-Pirans-Kreuz der kornischen Flagge (weißes Kreuz auf schwarzem Grund).17 Der heilige Pedroc (oder Pedrog), gestorben um 564, war der Sohn eines walisischen Fürsten. Er studierte in Irland und wirkte in der Bretagne, bevor er im kornischen Bodmin eine Klostergemeinschaft gründete.18 (Der Name „Bodmin“ geht auf das kornische Bos Menegh zurück, was „Haus der Mönche“ bedeutet.) Der heilige Samson von Dol, ebenfalls um 564 gestorben, war ein weiterer Waliser (aus Glamorgan); er gründete die Abtei von Dol in der Bretagne und exkommunizierte angeblich den König Konomor von der Domnonée. 65

1. Kerno

Der heilige Brendan, genannt „Brendan der Reisende“ (gestorben 575) soll eine der großen Entdeckungsfahrten der Menschheitsgeschichte unternommen haben, als er über sieben Jahre hinweg von Irland nach Island, Grönland und möglicherweise sogar bis nach Nordamerika segelte.19 Begleitet wurde er von einem Britonen, dem heiligen Aaron, der sich später auf der Insel Cézembre in der Bretagne zur Ruhe setzte, nur wenige Kilometer von der Stadt entfernt, der sein walisischstämmiger Anhänger Machutus („Saint Malo“) später den Namen geben sollte. Ein echter keltischer Heiliger ist ohne Wunder nicht vorstellbar. So trieb Sankt Petroc mit einem Mühlstein um den Hals über die Keltische See und der heilige Budoc segelte in einem Fass umher – aber übertroffen wurden sie alle von der heiligen Ia (auch „Hya“ oder „Ives“ genannt), einer irischen Prinzessin und Begründerin von St. Ives, die auf dem Blatt eines Baumes über das Meer schipperte. Die Liste der keltischen Heiligen ließe sich fast endlos fortsetzen: St. Austell, St. Blazey, St. Cai, St. Goran, St. Just, St. Kew, St. Laudus, St. Levan, St. Mabyn, St. Nest und St. Pol …20 Alle zusammen lebten sie in einer kulturell eng vernetzten, einer „pankeltischen“ Welt. Und den Mittelpunkt dieser Welt – keineswegs ihr „Ende“ – bildete Penn an Wlas, heute als „Land’s End“ bekannt, das aber aus keltischer Perspektive nicht irgendwo am westlichen Rand, sondern im Zentrum des Geschehens lag. Allzu viele, die über die Frühgeschichte von Kerno schreiben, geben sich leider nur wenig Mühe, Mythen von historischen Fakten zu trennen. Keinem von uns wird dies jemals vollkommen gelingen – aber manche scheinen nur zu begierig, ohnehin kaum gesicherte Fakten mit verführerischen Fiktionen zu vermischen, bis die zwei fast nicht mehr zu unterscheiden sind: Die Geschichte von Artus ist eigenartig verflochten mit der eines anderen kornischen Königs, der möglicherweise ein Zeitgenosse von ihm oder sein Nachfolger war. Marke, oder Marcus, war im 6. Jahrhundert oder früher König; Castle Dor, einst die Hochburg des Stammesführers Gorlois, war seine Festung. In der Artus-Sage wird Gorlois ermordet und Igraine, seine Frau, von Uther Pendragon verführt und so Artus’ Mutter. Später, als Artus Stammesführer ist oder König, wird seine Frau Guinevere ihrerseits von Lanzelot verführt, einem Ritter an Artus’ Hof und vom König wohlgelitten. Verführung und Verrat finden sich auch bei König Marke, der seinen Neffen Tristan aussendet, um ihm eine irische Braut zu holen, Prinzessin Isolde. Die Geschichte vom Liebestrank, der dem Paar von Isoldes Dienerin Bronwyn verabreicht wird, als das Schiff die Braut nach 66

Das Reich des Quonimorus

Cornwall bringt, ihre hoffnungslose Leidenschaft und König Markes Eifersucht sind weltberühmt, berühmter sogar noch als Artus’ Liebe zu Guinevere …21

Oder noch poetischer: For he that always bare in bitter grudge The slights of Arthur and his Table, Mark The Cornish King, had heard a wandering voice, A minstrel of Caerleon by strong storm Blown into shelter at Tintagil, say That out of naked knightlike purity Sir Lancelot worshipt no unmarried girl But the great Queen herself …

Denn ihm, der stets in bitt’rem Groll ertrug den Spott des Artus und der Ritter Schar, dem korn’schen König Marke, hatte einst ein Spielmann aus Caerleon kundgetan – den starker Sturm nach Tintagel verweht –, dass Lanzelot, der edle Herr und Held, aus ritterlicher Reinheit keiner Magd, sondern der großen Kön’gin selbsten Minne trug …22

* Ich bin kein Experte für das zauberhaft-verführerische Land Kerno. Aber ich stelle es hier an den Anfang, weil mir von den Fragen und Problemen, die die kornische Geschichte aufwirft, viele auf meiner Reise um den Globus wiederbegegnet sind. Die Frühgeschichte von Kerno / Cornwall liefert ein hervorragendes Beispiel für die anhaltenden Probleme, mit denen sich indigene Völker auf der ganzen Welt in ihrem Kampf gegen raffgierige Eroberer, Eindringlinge und Ausbeuter konfrontiert sehen. Manchen mag das weit hergeholt erscheinen; aber es verdeutlicht doch einen heimtückischen historischen Prozess, den man, wie inzwischen vielerorts anerkannt wird, durchaus als „kulturellen Genozid“ beschreiben könnte. Diese Bezeichnung geht letztlich auf den Juristen Raphael Lemkin zurück, der 1944 den Begriff „Genozid“ prägte; allerdings wurde die weitere, kulturell 67

1. Kerno

bestimmte Verwendung von „Genozid“ erst 1994 in die Erklärung der Vereinten Nationen zu den Rechten indigener Völker aufgenommen. Dennoch ist die Praxis, die sie beschreibt, wohl fast so alt wie die Menschheit selbst. In unserer Zeit war es der Dalai Lama, der immer wieder auf sie hingewiesen hat, was nach und nach zu einer wachsenden Besorgnis um das weitere Schicksal Tibets geführt hat. Was den Tibetern heute droht, ist dasselbe Schicksal, dem einst Dutzende von europäischen Völkern ins Auge blicken mussten, von den Bewohnern Kernos bis zu den alten Prußen.23 Deshalb wird es den Engländern nicht schaden, ihre eigene Rolle in der Geschichte einmal in Analogie zu jener der Han-Chinesen im Zentralasien der Gegenwart zu betrachten. Nun klingt die Bezeichnung „kultureller Genozid“ ein wenig nach politischer Effekthascherei; vielleicht ist sie nicht gerade die beste Möglichkeit, das betreffende Phänomen zu beschreiben. Da „Genozid“ und sein Synonym „Ethnozid“ zu einer Gruppe von Wörtern gehören, mit denen wir Tötungsdelikte und damit besonders schlimme Verbrechen bezeichnen – vom Matrizid bis zum Infantizid –, zieht ihre Verwendung im Zusammenhang mit einer ganzen Kultur schnell den Vorwurf einer billigen politischen Pose auf sich. Und doch geht es hier um eine bittere historische Realität, die über Jahrhunderte nicht infrage gestellt wurde, gerade weil es sich dabei um eine zwar gewohnheitsmäßige Gewaltausübung handelte, die vor einem groß angelegten Morden, einer tatsächlichenen Ausrottung jedoch stets zurückschreckte. Tatsächlich hat man eine solche kulturelle Verdrängung lange Zeit als „ganz natürlich“ betrachtet, in demselben Darwin’schen Sinne, in dem man die Ausrottung bestimmter Tierarten für natürlich hielt. Besonders gefährlich ist zudem, dass die Auslöschung einer Kultur ganz allmählich vonstatten geht. Heute sollte man daher offen aussprechen, worum es sich dabei handelt: um eine Form von Zwang, durch die Schwächere von Stärkeren unterdrückt werden. Derartige Denk- und Handlungsweisen waren in den Köpfen der Imperialisten aus dem 19. Jahrhundert fest verankert, aber auch in denen der totalitären Führer des 20. Jahrhunderts, ganz gleich, ob sie nun Faschisten oder Kommunisten waren. Typischerweise sind kulturelle Genozide immer von denen betrieben worden, die meinten, ihre persönliche Bereicherung sowie die Durchsetzung ihrer eigenen Interessen sei mit einer „Verbreitung der Zivilisation“ identisch; sie florieren dort, wo mächtige und weniger mächtige Gemeinschaften aufeinanderprallen, sei es auf den Prärien Nordamerikas, im australischen Outback oder in den umkämpften Territorien Europas und Afrikas. Das Resultat ist stets dasselbe: Das Land und die Ressourcen 68

Das Reich des Quonimorus

der schwächeren Gruppe werden enteignet. Die stärkere Gruppe entsendet jede Menge Soldaten, Siedler, Verwaltungsbeamte, Kaufleute und Lehrer in das betreffende Gebiet. Dessen angestammte Bewohner verlieren die Kontrolle über ihren Besitz und ihre Kinder. Ihre Sprache verschwindet, zusammen mit dem historischen Erinnerungsschatz, den jede Sprache in sich trägt. Ihre Kultur zerfällt und ihre eigene Identität geht in den Fluten unter. Als letzte Demütigung verliert ihr Land seinen ursprünglichen Namen.24 Es ist kein Zufall, dass ehemalige Kolonien nach Erhalt ihrer Unabhängigkeit nicht selten darauf bestehen, wieder ihren vorherigen Namen zu tragen: So wurde Neuspanien wieder zu Mexiko; aus Irland wurde Eire; Indochina zerfiel in Laos, Kambodscha und Vietnam; Südrhodesien wurde zu Zimbabwe, Niederländisch-Indien zu Indonesien und Birma zu Myanmar. Die Zeitspanne derartiger Prozesse kann sich über Jahrhunderte erstrecken. Die Angelsachsen erlangten in Kerno bereits im Lauf des 9. Jahrhunderts eine Vormachtstellung, aber die entscheidenden Schritte wurden erst von König Athelstan unternommen, dem Rex Totius Britanniae, der im Jahr 936 die Grenze zwischen Devon und Cornwall am Fluss Tamar festlegte und die britonischen Einwohner von Exeter aus der Stadt vertrieb. Es ist unwahrscheinlich, dass Athelstan durch seine Maßnahmen tatsächlich die Kultur seiner keltischen Untertanen verändern wollte; vielmehr ging es ihm um die wertvollen Zinnminen in der Region, die nun ein Jahrtausend lang florieren sollten. In der Folge verschwand jedoch allmählich der keltische Landesname Kerno und wurde durch den englischen Namen Cornwall ersetzt, der eigentlich abfällig gemeint ist: „Cornwall“ bedeutet so viel wie „Land der kornischen Fremdlinge“. Im Jahr 1337 wurde ein ansehnliches Stück aus diesem Territorium herausgelöst – immerhin rund 55 000 Hektar einschließlich eines Großteils der Scilly-Inseln – und dem neu gegründeten Herzogtum Cornwall zugeschlagen, dessen Erträge seitdem ein üppiges Finanzpolster für die Lebensführung der englischen Thronfolger speisen. Aber obwohl sie unterdrückt und ausgebeutet wurden, leisteten die Bewohner des Landes Kerno erbitterten Widerstand, selbst noch auf dem Weg in den sicheren Untergang. Besonders bemerkenswert unter den zahlreichen Rebellionen gegen die englische Besatzung ist der Kornische Aufstand von 1497, der erst mit der Niederlage der Aufständischen in der Schlacht von Deptford Bridge vor den Toren Londons endete. Auch als später die Tudormonarchen der Reformationszeit die englische Bibel und das Gebetbuch der anglikanischen Kirche in Cornwall einführen wollten, mussten sie dies gegen den Widerstand der Einheimischen durchsetzen. Ein vorerst letztes Rumoren des kornischen Widerstandsgeistes ließ 69

1. Kerno

sich 1688/89 vernehmen, nachdem der kornische Bischof von Bristol, Jonathan Trelawny inhaftiert worden war, weil er sich als einer von sieben anglikanischen Kirchenoberen der neuen Gottesdienstordnung König ­ Jakobs II. widersetzt hatte. Seine Sturheit machte Trelawny zum Helden des bald auch vertonten Gedichts The Song of the Western Men („Lied von den Männern im Westen“), das der anglikanische Geistliche und Autor Robert Stephen Hawker im Jahr 1825 verfasste. Heute ist es so etwas wie die inoffizielle Nationalhymne Cornwalls: A good sword and a trusty hand! A merry heart and true! King James’s men shall understand What Cornish lads can do! And have they fixed the where and when, And shall Trelawny die? Here’s twenty thousand Cornishmen Will know the reason why. And will Trelawny live? Or will Trelawny die? Here’s twenty thousand Cornishmen Will know the reason why.

Ein gutes Schwert in treuer Hand! Ein frohes, reines Herz! Sagt eurem König von England: Kornen drohn nicht im Scherz! Steht denn schon fest der Ort, die Stund’? Bringt ihr Trelawny um? Und zwanzigtausend korn’sche Jungs, die woll’n wissen, warum! Lasst ihr Trelawny gehn? Oder bringt ihr ihn um? Wir zwanzigtausend korn’schen Jungs, wir woll’n wissen, warum!25

In diesen Worten, die ja erst eine ganze Weile nach den Vorkommnissen der 1680er-Jahre zu Papier gebracht wurden, steckt eine ordentliche Portion dichterische Freiheit. Man erfährt zum Beispiel nicht, dass der Bischof 70

Das Reich des Quonimorus

schließlich freigesprochen wurde, ohne dass „zwanzigtausend korn’sche Jungs“ auch nur das Haus verlassen hätten, denn die angedrohte Revolte kam gar nicht erst zustande. Wenn überhaupt, spiegelt Hawkers Gedicht viel eher das Geschehen und die Emotionen im englisch-kornischen Krieg von 1549 wider, der sogenannten „Gebetsbuch-Revolte“, bei der ein kornisches Heer Plymouth eroberte und Exeter belagerte (und an der, nebenbei bemerkt, ein Großvater des Bischofs Trelawny nicht ganz unbeteiligt gewesen war).26 Wie dem auch sei: Hawkers oft gesungene Zeilen verkörpern den Widerstandsgeist in den Herzen von Cornwalls nicht-englischem Bevölkerungsanteil, dessen heimliche Hymne sie genau deshalb geworden sind. Und natürlich gibt es auch eine kornische Fassung: Verow Trelawny bras Verow Trelawny bras? Mes igens mi a dus Kernow A woffeth oll an kas.27

Auf den Verlust der politischen Autonomie folgte bald der Niedergang der kornischen Sprache, des Kerneweg, obwohl der entscheidende Augenblick durch eine seltsame Wendung des Schicksals noch lange hinausgezögert wurde. Nach der normannischen Invasion des Jahres 1066 verteilte Wilhelm der Eroberer große Stücke des kornischen Grundbesitzes an die zahlreichen Bretonen in seinem Gefolge. Dies führte dazu, dass – wie man übrigens auch an den Wappensprüchen der betreffenden Familien sehen kann – der Adel des mittelalterlichen Cornwall dieselbe (keltische) Sprache sprach wie das gemeine Volk; das Vordringen des Englischen wurde so lange Zeit zumindest eingedämmt. Das Kerneweg war die traditionelle Sprache der Zinnbergleute und des mittelalterlichen Zinnparlaments, das ab 1204 in Lostwithiel zusammentrat; seine Befugnisse wurden erst 1496 aufgehoben, und tatsächlich abgeschafft wurde es sogar erst 1753. Erst in elisabethanischer Zeit, also um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert, setzte der wirkliche Niedergang des Kerneweg ein. Es begann mit der „ZwangsAnglisierung“ von Gottesdiensten und kirchlich geführten Schulen, als die englische Krone für diese Bereiche die englische Sprache als verpflichtend vorschrieb; ein eigenes kornisches Alphabet, eine eigene Rechtschreibung, Grammatik und geregelter Unterricht waren damit faktisch unmöglich geworden. Nachdem man ihnen diese üblichen Mittel sprachlicher Traditionspflege genommen hatte, sahen sich die letzten kornischen Muttersprachler – vollkommen unnatürlicherweise – auf eine mündliche Überlieferung 71

1. Kerno

zurückgeworfen. Die Letzten von ihnen starben im späten 18. Jahrhundert.28 Das Schicksal des Kerneweg veranschaulicht auf eindrückliche Weise die These, dass „Sprachen niemals eines natürlichen Todes sterben, sondern höchstens umgebracht werden“. So wurde die Sprache von Kerno zur Vorläuferin jener dreitausend bedrohten Sprachen weltweit, die nach Ansicht von Experten im 21. Jahrhundert aussterben werden.29 Natürlich ist, bei Licht besehen, nicht ein einziges angeblich „eingeborenes Volk“ schon immer dort ansässig gewesen, wo es heute lebt. Wie moderne DNA-Untersuchungen zweifelsfrei belegen, ist die Menschheit in ihrer Geschichte kreuz und quer über den ganzen Erdball gezogen, zunächst in einer Reihe von prähistorischen Wanderungsbewegungen, durch die sie, ausgehend von einem gemeinsamen Ursprung (vermutlich in Ostafrika), auf alle Kontinente der Erde gelangt ist. Auch die Kelten Großbritanniens stellen keine Ausnahme dar. Obwohl manche von ihnen sich über die „angelsächsische Unterdrückung“ beschweren, müssen ihre Vorfahren doch irgendwann einmal selbst Eroberer gewesen sein, die eine frühere Bevölkerung der Britischen Inseln unterdrückten und schließlich verdrängten. Wir wissen bis heute nicht, zu welcher Ethnie die Erbauer von Stonehenge gehörten, aber eines ist sicher: Sie waren weder Kelten noch Engländer.30 Auch der Name, mit dem man diesen größten prähistorischen Steinkreis Großbritanniens ursprünglich einmal bezeichnet haben mag, ist spurlos und unwiederbringlich verloren. Letzten Endes stammen wir alle von Immigranten ab, und das Konzept eines „ewigen Vaterlandes“ lässt sich – wenn überhaupt – nur als Ausdruck einer imaginären Rekonstruktion der Vergangenheit verstehen. Tatsächlich spielt die Sache sich doch so ab: Jede neue Welle von Migranten baut, sobald sie in ihrer neuen Heimat in eine dominante Position gelangt ist, eine tiefe emotionale Bindung zu der betreffenden Gegend auf, die sie nun als ihr „angestammtes Vaterland“, ihre patria, betrachtet. So werden vormalige Immigranten im Laufe der Zeit zu neuen „Eingeborenen“, die nun ihren eigenen Patriotismus entwickeln und alles Vorangegangene entweder ignorieren oder abwerten. Im Fall von Kerno / Cornwall konnten deshalb, nachdem die englische Vormachtstellung erst einmal gesichert war, in Cornwall geborene Engländer ihre Liebe zum Land ihrer Herkunft bekunden und den Beitrag Cornwalls zu einem „bunten“, von Diversität geprägten England feiern. Der Gründervater dieser Bewegung in neuerer Zeit war Sir Arthur Quiller-Couch (1863–1944), ein ShakespeareForscher, Cambridge-Professor, Verfasser von rund dreißig in Cornwall 72

Das Reich des Quonimorus

angesiedelten Romanen und Herausgeber der Gedichtsammlung Oxford Book of English Verse, der auch unter dem schlichten Pseudonym „Q“ bekannt war. 31 Sein eifrigster Nachfolger war der Historiker A. L. „Leslie“ Rowse (1903–1997), Fellow des All Souls College in Oxford und wohl eine der rechthaberischsten und zugleich selbstgefälligsten Figuren in der langen Geschichte der Gelehrsamkeit. „Dieses widerliche zwanzigste Jahrhundert“, stieß Rowse einmal hervor, „ich hasse es wie die Pest!“32 Rowse war so produktiv wie unsympathisch und veröffentlichte in seinem langen Leben mehr als einhundert Bücher – etliche davon, als ein würdiger, wenn auch sehr viel exzentrischerer Nachfolger seines Mentors „Q“, über Shakespeare, noch stärker jedoch beeinflusst von seiner anglozentrischen Sicht auf Cornwall. Unter seinen Büchern finden sich solche einschlägigen Titel wie Tudor Cornwall: Portrait of a Society (1941), The Spirit of English History (1943), A Cornish Childhood (1944), The Contribution of Cornwall and the Cornish to Britain (1969) sowie The Little Land of Cornwall (1986).33 Die Schriftstellerin Daphne du Maurier (1907–1989), die den größten Teil ihres Lebens in Cornwall verbrachte, hat die Palette der Cornwall-Literatur stark erweitert. Alle ihre Erfolgsromane  – Jamaica Inn (1936), Rebecca (1938), Frenchman’s Creek (1941; dt. Die Bucht des Franzosen), Meine Cousine Rachel (1951) und The House on the Strand (1969; dt. Ein Tropfen Zeit) – spielen in Cornwall. Für die Autorin und ihre Leserschaft handelt es sich dabei um ein Land der Schmuggler, die Schiffbrüche provozieren und dann zu Plünderern werden; ein Land der Geheimnisse und der „düsteren Legenden“. Das von du Maurier geprägte Genre wurde von ihrem kaum weniger berühmten Altersgenossen Winston Graham (1908–2003) aufgegriffen und weiter ausgeschmückt. Grahams historische Poldark-Romane sind gleich zweimal zu erfolgreichen Fernsehserien verarbeitet worden.34 Sowohl du Mauriers Roman Rebecca als auch eine ihrer Kurzgeschichten, Die Vögel (1952), wurden von Alfred Hitchcock als Thriller verfilmt, genauso wie ­Grahams Roman Marnie (1961). Die besondere Spezialität von Daphne du Maurier war jedoch die literarische Darstellung von Eifersucht, und sie schrieb generell in einem sehr eigenen, überaus poetischen Stil. Der berühmte Eröffnungssatz von Rebecca  – Last night I dreamt I went to ­Manderley again („Gestern nacht träumte mir, ich sei wieder in Manderley“)  – ist im Englischen ein perfekter sechshebiger Jambus, und der Schlusssatz des Romans ist kaum schlechter: And the ashes blew towards us with the salt wind from the sea („Und der salzige Seewind trieb uns die Asche entgegen“). „Menschen, die reisen“, heißt es in Die Bucht des Fran­ zosen einmal, „sind immer auf der Flucht.“35 73

1. Kerno

Du Mauriers letzter Roman Rule Britannia (1972; dt. Die standhafte Lady) schlug einen vollkommen neuen und – wie manche inzwischen wohl sagen würden – einen sehr hellsichtigen Kurs ein. Es handelt sich bei dem Buch um eine politische Satire, die einige Jahrzehnte in der Zukunft spielt; in der Ära des Brexit hat sie nun eine fast unheimliche Relevanz bekommen. In du Mauriers Zukunftsvision sind die Beziehungen Großbritanniens zur Staatengemeinschaft des europäischen Festlandes zerrüttet. Die britische Regierung ist in Auflösung begriffen. Bei einem Referendum stimmt eine Mehrheit der Bevölkerung für einen Austritt aus der Wirtschaftsgemeinschaft; es kommt zu Hyperinflation und sozialen Unruhen. Das Land ist gespalten, der Ausnahmezustand wird ausgerufen. Als letzter Ausweg aus der politischen Sackgasse marschieren  – auf Einladung der britischen Regierung – amerikanische Truppen auf der Insel ein, um den neuen Staat „USUK“ zu proklamieren. (Das spricht man wie die amerikanische Beschimpfung You suck! und heißt also etwa „Ihr seid sch…ße!“) Die Queen und der amerikanische Präsident treten gemeinsam an die Spitze des neu geschaffenen Staates. Und wieder einmal sind es die Einwohner Cornwalls, die den Widerstand anführen …36 Die Alpenkrähe (Pyrrhocorax pyrrhocorax), der kornische Nationalvogel mit dem charakteristischen leuchtend roten Schnabel, gehört zur Familie der Rabenvögel. Ihre nächste Verwandte ist die Alpendohle (Pyrrhocorax graculus), die jedoch einen gelben Schnabel hat. (Auf Englisch heißen die beiden Arten denn auch Cornish oder red-billed chough beziehungsweise Alpine oder yellow-billed chough.) Das Verbreitungsgebiet der Alpenkrähe in Westeuropa erstreckt sich über felsige Küstenabschnitte von Irland bis in die Bretagne (wo ihr französischer Name crave à bec rouge lautet) und weiter bis nach Nordspanien. Weiter östlich findet man sie auch auf gebirgigem Terrain in Osteuropa und Zentralasien; sogar an den Hängen des Mount Everest ist sie gesichtet worden. Ihren englischen Namen Cornish chough hat die Alpenkrähe erhalten, weil sie im mittelalterlichen Wappen des Herzogtums Cornwall über dem Wappenschild thront oder – als sogenannter „Schildhalter“ – links und rechts daneben platziert ist. Auf Kornisch heißt sie palores, das bedeutet „Grabevogel“, vermutlich, weil sie gern „feldert“, wie die Vogelkundler sagen, also mit ihrem Schnabel im Erdreich nach Würmern und Insekten pickt.37 Heute jedoch ist die Alpenkrähe zunehmend bedroht; die britische Vogelschutzvereinigung Royal Society for the Protection of Birds (RSPB) führt sie auf ihrer „gelben Liste“ derjenigen Arten, deren Bestände, w ­ iewohl 74

Das Reich des Quonimorus

noch nicht vom Aussterben bedroht, in den letzten Jahrzehnten merklich geschrumpft sind. Zwar nisten an verschiedenen Orten auf den Britischen Inseln noch mehrere Hundert Brutpaare, aber aus ihrer angestammten Heimat Cornwall ist die Alpenkrähe inzwischen  – nach einem langen Populationsrückgang – vollkommen verschwunden. Das letzte Alpenkrähenpaar ist in den späten 1960er-Jahren an der kornischen Nordküste beobachtet worden. Als das Weibchen gestorben war, patrouillierte das einsame Männchen noch einige Zeit über die Felsen, bis es schließlich 1974 ebenfalls das Zeitliche segnete. Dieser traurige Vorgang inspirierte ein Wiederansiedlungsprogramm unter dem Titel Operation Chough („Operation Alpenkrähe“), in dessen Hauptquartier Paradise Park in Hayle an der Bucht von St. Ives zunächst Alpenkrähen in Gefangenschaft nachgezüchtet und schließlich wieder in die Freiheit entlassen werden sollen.38 Und dieses Vogelschutzprojekt lieh dann wiederum jener anderen, oben erwähnten „Operation Alpenkrähe“ den Namen, mit der kornische Aktivisten die „Überheblichkeit“ von English Heritage bekämpfen wollten. Nichts veranschaulicht besser die Parallele, die man zwischen der weltweiten Bewegung zum Schutz indigener Kulturen und dem (allzu späten) Aufstieg von Ökologie und Umweltschutz ziehen kann. Solange die Ressourcen unseres Planeten schier unerschöpflich schienen, spielten solche Themen wie nachhaltiger Konsum oder Artenvielfalt im öffentlichen Bewusstsein kaum eine Rolle. Genauso wenig interessierte man sich für Fragen der „Menschenvielfalt“ oder für das Überleben vom Aussterben bedrohter Kulturen. Noch in den 1970er-Jahren riss man in Australien die Aborigines-Kinder der „Gestohlenen Generationen“ (Stolen Generations) aus ihren Familien, um sie zu ihrer „Kultivierung“ in staatliche oder private, jedenfalls „weiße“ Obhut zu geben.39 In kanadischen Internaten gab es ähnliche Programme, bei denen die Kinder der First Nations, der kanadischen Ureinwohner, zu Assimilierungskursen in Internatsschulen verpflichtet wurden, sogar bis 2007.40 Nicht ohne Grund ist Kanada eines der Länder, in denen man das Konzept des „kulturellen Genozids“ am besten zu verstehen scheint. Die gute Nachricht ist freilich, dass Kultur, insofern sie immateriell ist, gute Chancen auf ein Weiterleben im Jenseits hat. Solange die menschlichen und materiellen Träger der betreffenden Kultur nicht völlig ausgelöscht werden, werden zumindest Überreste ihrer bisherigen Kultur in das kulturelle Feld der neuen Mehrheitsgesellschaft mit einfließen. Man sehe sich nur die Iren an: Nachdem sie ihre eigene Sprache weitgehend verloren hatten, brachten sie zahllose Meister der englischen Sprache hervor. Auch 75

1. Kerno

die Waliser pflegen zwar weiter ihr Cymraeg, haben aber zugleich eine parallele Tradition von walisischer Literatur in englischer Sprache. Das Walisertum eines Dylan Thomas, beispielsweise, strahlt triumphal zwischen den (englischen) Zeilen seiner Sprache hervor. Obwohl das Kerneweg, die traditionelle Sprache Cornwalls, ausgestorben ist, gibt es immer wieder Bestrebungen, es wiederzubeleben.41 Ein solches Revival ist einerseits von Gelehrten wie Henry Jenner betrieben worden, dessen Handbook of the Cornish Language („Handbuch der kornischen Sprache“) schon 1904 veröffentlicht wurde; andererseits sind es patriotischkornische Enthusiasten, die sich bemühen, das Kerneweg im Alltag zu verwenden und auch ihren Kindern beizubringen.42 Im Jahr 1928 wurde zudem – wiederum auf Betreiben von Henry Jenner – der Gorsedh Kernow ins Leben gerufen, eine „Vereinigung der Barden von Cornwall“ nach dem Vorbild des walisischen Eistedfodd. Und selbst, wenn dabei eine ordentliche Portion „erfundene Tradition“ mit im Spiel ist  – die kornischen Barden eilen von Erfolg zu Erfolg: „Die eine Generation hat das Kornische wieder auf die Beine gebracht“, hat Morton Nance erklärt, der nach Jenner zweite „Großbarde“ der neueren kornischen Geschichte, „und nun ist es an der nächsten [Generation], dass es auch wieder Laufen lernt.“43 Diese Ermahnung ist nicht ungehört verhallt. Die Sprachgesellschaft Cornish Language Partnership (deren kornischer Name, Maga, so viel wie „wachsen und gedeihen“ bedeutet) setzt sich mit Eifer für die weitere Verbreitung des Kerneweg ein.44 Das „Zinnparlament von Cornwall“ – vorgeblich eine direkte Nachfolgerin der legislativen Körperschaft gleichen Namens aus dem Mittelalter – hat in letzter Zeit mit den oben erwähnten Protestaktionen gegen English Heritage für Aufsehen gesorgt, ist als kulturelle Interessenvertretung und Lobbygruppe aber schon seit 1974 aktiv.45 Außerdem hat es starke Bestrebungen gegeben, Cornwall in den Kreis eines weiter gefassten Celtic Revival hineinzuführen, das die keltischen Kulturen Westeuropas als Teile eines gemeinsamen Ganzen auffasst. Unter den Büchern, die in der letzten Zeit zu diesem Thema veröffentlicht worden sind, finden sich solche Titel wie Celtic Cornwall („Das keltische Cornwall“), The Celts in Cornwall („Die Kelten in Cornwall“) und West Britons: Cornish Identities and the Early British State („Westbriten: Kornische Identitäten und der frühe britische Staat“).46 An dezidiert kornischen Perspektiven auf die kulturelle Identität Cornwalls mangelt es also nicht  – im Gegenteil, sie vermehren sich rapide.47 Und so müssen sich die Verfechter eines Cornish Revival auch keine Sorgen mehr darüber machen, dass man sie als ein isoliertes Grüppchen von 76

Das Reich des Quonimorus

Exzentrikern betrachten könnte. Die Wiederbelebung ausgestorbener Sprachen ist ein weltweites Phänomen, das inzwischen sogar seine eigene Wissenschaft hervorgebracht hat, die „revivalistische Linguistik“ oder kurz „Revivalistik“ (revivalistics). Das Paradebeispiel hierfür ist immer noch das Neuhebräische oder Iwrit: Da wurde eine Sprache seit mehr als tausend Jahren nicht mehr gesprochen – zumindest nicht im säkularen Alltag –, und doch gelang es der zionistischen Bewegung, sie erfolgreich wiederzubeleben, sodass das Hebräische heute die Amtssprache des Staates Israel sein kann.48 Auch die hawaiianische Sprache ist inzwischen gerettet worden. Zwar war sie 1980 für tot erklärt worden, doch das stellte sich als vorschnell heraus, obwohl sie von den amerikanischen Schulbehörden fast hundert Jahre lang verboten und unterdrückt wurde. Tatsächlich war sie jedoch nicht tot, sondern hatte nur eine Art „Winterschlaf“ gehalten; die Linguistik spricht in solchen Fällen von dem „komatösen“ Zustand einer Sprache.49 Ein Pionier der Revivalistik, der Anthropologe und Sprachwissenschaftler Mark Turin (*1974) betreut sowohl das Digital Himalaya Project der Universität Cambridge als auch das First Nations and Endangered Language Program an der Universität von British Columbia im kanadischen Vancouver – das belegt eindrucksvoll die weltweite Bedeutung derartiger Sprachrettungsprogramme.50 Ein Resultat der Revivalistik ist die Erkenntnis, dass Einsprachigkeit ein ganz und gar künstlicher und heute nicht mehr zeitgemäßer Zwangszustand ist, die Wucherung eines irregeleiteten Kulturbürokratismus. Der Zustand der Mehrsprachigkeit – oder gar der Vielsprachigkeit – ist in der Menschheitsgeschichte der bei Weitem häufigere und natürlichere gewesen. Wo immer seit den 1960er-Jahren offizielle Zweisprachigkeitsregelungen in Kraft getreten sind – etwa in Wales, aber auch andernorts, in Kanada beispielsweise –, haben sie einen wirksamen Beitrag zur Beendigung teils uralter „Sprachkriege“ geleistet. An vielen Fronten sieht man also Fortschritte. 2011 wurde der Cornish Pasty, der traditionellen kornischen Fleischpastete, der Status einer appellation contrôlée im Sinne der EU-Gütevereinbarung über geschützte geografische Angaben verliehen. Damit steht die herzhafte Köstlichkeit auf einer Stufe mit Champagner und Parmaschinken. Und im April 2014 wurde der selbstständige Charakter des kornischen Kulturerbes auch von der britischen Regierung offiziell anerkannt: „Die stolze Geschichte, einzigartige Kultur und eigene Sprache von Cornwall“, heißt es in der Verlautbarung, „werden nach Maßgabe des europäischen Regelwerks zum Schutz nationaler Minderheiten vollumfänglich anerkannt.“51 Diese Entscheidung 77

1. Kerno

war schon meilenweit von der Haltung jener Richter entfernt, die kaum fünfzehn Jahre zuvor kornische Aktivisten zu drastischen Geldstrafen verurteilt hatten. Begleitet wurde sie von einem nicht unbeträchtlichen staat­ lichen Zuschuss für die Sprachgesellschaft Maga. Kaum weniger überraschend ist, dass im Alter selbst Leslie Rowse milde wurde. Er gab schließlich seinen Posten in Oxford auf und setzte sich in Trenarren an der Südküste Cornwalls zur Ruhe. Ja, er trat gnädigerweise sogar dem Gorsedh Kernow bei, über den er sich früher immer lustig gemacht hatte, und begann, sich die grammatischen Grundlagen des ­Kerneweg anzueignen: This was the land of my content. Blue sea and feathered sky, Where, after years away, at last I came home to die.

Dies war das Land, wo Ruh ich fand nach Jahren in der Fremde, wo Himmelblau und Wolkenband mich heimführn an mein Ende.52

Und auch der kornische Nationalvogel, die Alpenkrähe, kehrte in seine Heimat zurück. Am Beginn des 21.  Jahrhunderts ist er aus der Bretagne über das Meer zurückgekehrt.53 Viele Wege führen also zum Erinnern und Gedenken. Es gibt nicht den einen Königsweg, um eine untergegangene Kultur letztlich doch noch dem Vergessen zu entreißen. Viele glauben, die Seele oder der spezifische Geist einer solchen verlorenen Kultur halte sich noch am ehesten in dem schwer definierbaren Genius Loci, der sie einst prägte – der Gegend und dem geistigen Klima jener Orte, an denen sie einst geblüht hat. Daphne du Maurier zum Beispiel, die sowohl kornischer als auch bretonischer Abstammung war, äußert sich nur am Rande über die „keltische Seele“; von ihrer Existenz scheint sie jedoch überzeugt gewesen zu sein. Sobald es um Steine als stumme Zeugen der Geschichte geht, wird ihr ­Tonfall geradezu lyrisch: Unter der Oberfläche des kornischen Charakters schwelt, stets zum Ausbruch bereit, ein hitziger Unabhängigkeitsdrang, ein störrischer Stolz. 78

Das Reich des Quonimorus

Wie viel davon sich den Jahrhunderten der Abgeschiedenheit verdankt, als nach der Eroberung Britanniens durch die Römer der Handel aus dem Mittelmeer nicht mehr den Weg in die Flussmündungen des Südwestens fand, sondern aus dem römischen Frankreich direkt in die weiter östlich gelegenen Häfen des Ärmelkanals gelangte, und wie viel dem Erbe dieser dunkelhaarigen Invasoren mit ihren blauen Perlen und Goldringen, den Erben einer Zivilisation, die schon lange existierte, ehe Rom zum ersten Mal erwähnt wurde, ist etwas, das die Bewohner Cornwalls unter sich ausmachen müssen. Als Außenstehende mit bretonischen Vorfahren möchte ich gerne glauben, dass beide Völker, die beide an der Atlantikküste leben, an der identische Stürme toben und dieselben Nebelschwaden vorbeiziehen, mit den Iren weiter westlich gemeinsame Vorfahren haben. Der Aberglaube liegt allen drei Völkern im Blut. Felsen und Steine, Hügel und Täler wurden von Männern geprägt, die vor langer Zeit ihre Toten in groben Grabkammern bestatteten und die Erdgöttin anbeteten. … Wie natürlicher Granit trotzten diese Steine den Jahrhunderten. Neben ihnen zu stehen, ob auf den Höhen von West Penwith [oder] zwischen Farnkraut bei Helman Tor … bedeutet tatsächlich, eine Zeitreise zu unternehmen. Die Gegenwart schwindet dahin, Jahrhunderte lösen sich auf, der spöttische Lauf der Geschichte mit all seinen Triumphen und Niederlagen verliert seine Bedeutung. Hier, in dem moosbewachsenen Stein, liegt die Essenz der Erinnerung.54

Der kornische Dichter Norman Davies, der in englischer Sprache schreibt, hat sich darauf spezialisiert, genau die flüchtigen Empfindungen, von denen du Maurier schreibt, auch in seinen Versen einzufangen. Ob nun auf dem Küstenpfad über die Klippen von Morvah oder in der „schmerzlichen Stille“ von Bodmin Moor, immer hört er das uralte Echo: Pines darkened, dank in bracts mystery, stand rank on rank like – History … Pipit and lone Bunting scurry in low scrub. Buzzards go a-hunting. Merlin – perching stab holds a view of conquest Birds of prey may share. 79

1. Kerno

History holds no inquest – neither here, nor there. Morvah soon emerging, sapphire blue St. Just Whitesands ever surging As the ocean must. – These are but the gleanings, Lyonesse ablaze. Cornwall’s hidden meanings Lost in Kernow’s haze. Kiefern kalt und klamm, Rätsel der Dickichte, stehn wie tausend Mann, gemahnen an – Geschichte … Strandpieper und Grauammer huschen scheu durchs Holz. Bussarde jagen am Meer. Der Merlin sitzt, blickt stolz mit Aussicht auf Ertrag, Raubvogelbeutefang. Geschichte fragt nicht nach – ist selbst ohne Belang. Schon taucht Morvah auf, St. Just im Saphirblau, Whitesands wogt und brandet wie der Ozean auch. – Dies sind nur die Reste, Lyonesse in Brand. Cornwalls stille Rätsel deckt Kernos Nebelwand.55

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2. Baki – Baku: Flame Towers im Land des Feuers

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2. Baki – Baku

Fliegt man schnurstracks, etwa per Passagiermaschine, von Land’s End aus bis zum westlichen Ufer des Kaspischen Meeres, legt man 4365 Kilometer zurück. Hier ist ein Ende des europäischen Kontinents erreicht, genau wie Land’s End ein anderes markiert. Die direkte Luftlinie geht über den Ärmelkanal, Paris, Bayern, Österreich, Ungarn, Rumänien, das Schwarze Meer, Georgien und Aserbaidschan. Die elegante, halbmondförmige Stadt Baku ist der Ort, an dem Europa endet – oder eben beginnt, wenn man gen Westen reist. Sie ist wunderbar am Ufer des Kaspischen Meeres gelegen und blickt in Richtung Sonnenaufgang. Im Norden, nun links, liegen Russland und die Mündung der mächtigen Wolga. Im Süden, oder rechts, ist der Iran. Im Westen, im Rücken des Betrachters, finden sich die Kaukasusländer Georgien, Armenien und Aserbaidschan. Und im Osten, jenseits des schimmernden Wassers, liegen auf der alten Seidenstraße die zentralasiatischen Republiken. Die Aserbaidschaner nennen ihre Stadt Baki. Die später eintreffenden Russen haben ihr dann jenen Namen gegeben, unter dem sie heute der Rest der Welt kennt. Das Kaspische Meer ist der größte See der Erde; es gilt als See, nicht als Meer und hat eine etwa fünf Mal größere Oberfläche als der Lake Superior in Amerika oder der Viktoriasee in Afrika. Zwar fließen Kura, Wolga und Ural in das Kaspische Meer, doch es hat keinen Abfluss, und Baku liegt knapp unter dem Meeresspiegel. Auch wenn es weniger zurückgegangen ist als sein Nachbar, der kleinere, schon fast völlig ausgetrocknete Aralsee, so ist auch das Kaspische Meer von Umweltverschmutzung und Verdunstung bedroht. „Kaspisch“ nannten die alten Griechen das Meer nach einem ortsansässigen Volk. Die Türken, die Turkmenen und die Aserbaidschaner nennen es Hazar Denizi, „das Meer der Chasaren“, die hier zwischen dem 7. und 10. Jahrhundert herrschten. Wer nicht glaubt, dass Baku zu Europa gehört, wird behaupten, es sei ein Teil Asiens. Doch meist ist man sich einig, dass die Stadt genau dort liegt, wo Europa und Asien sich überlappen. Die Tourismus-Industrie spricht von „europäischem Charme in orientalischem Setting“. Die Geografen, die Ende des 18.  Jahrhunderts eine interkontinentale Linie zwischen Europa und Asien zogen, legten die eurasische Grenze allerdings auf den Kamm des Ural, von wo aus sich die gedachte Linie weiter Richtung Süden durch den Kaukasus und den Bosporus zieht, dem Ural-Fluss und der Nordwestküste des Kaspischen Meeres folgt, um schließlich im Becken der Kura zu enden. Nach dieser Betrachtung liegen Baku und das nördliche Aserbaidschan in Europa, alles unterhalb der Kura in Asien.1 82

Flame Towers im Land des Feuers Wladikawkas

Makhachkala

Aserbaidschan

RUSSISCHE F Ö D E R AT I O N Poti

Schwarzes Meer

( DAG ESTA N )

N

GEORGIEN

Batumi

Tiflis Guba

ARMENIEN

Gandscha

ASERBAIDSCHAN Barda

Jerewan

NAG OR N Y K A R A BAC H

Erzurum

S Halbinsel Aspheron

Shamaki

Baku Gobustan

Stepanakert

TÜRKEI

Kaspisches Meer

Nachitschewan

Länkäran Van Aserbaidschan umstrittenes Gebiet

ASE R BA I DSC HA N

Täbris

( I R A N )

IRAN 0

50

100 km

Heute ist Baku die Hauptstadt der unabhängigen Republik Aserbaidschan, einem Mitglied der Vereinten Nationen und nicht ständiges Mitglied des Sicherheitsrats. Mit 86 000 Quadratkilometern und 9,5 Millionen Einwohnern ist Aserbaidschan größer als ein Dutzend Staaten der Europäischen Union: Seine Fläche entspricht etwa der Portugals oder Tschechiens. Früher gehörte das Land zur Sowjetunion. Die Bewohner Aserbaidschans, die Aserbaidschaner, sprechen Aserbaidschanisch, eine Turksprache. Fünf Schlagworte charakterisieren das Land: „Ex-Sowjetunion“, „Turkvolk“, „Muslime“, „Kaukasier“ und „Ölreichtum“. Es gibt Orte, zu denen gelangt man leichter als nach Baku. Die postsowjetische Bürokratie Aserbaidschans konfrontiert den potenziellen Reisenden mit Hindernissen, die an die Zeiten des Kalten Krieges erinnern. Laut der offiziellen Webseite kann man ein Express-Visum in drei Tagen erhalten. „Ich bekomme ein Express-Visum in drei Tagen?“, erkundige ich mich beim Konsulat in London. „Ja“, erklärt man mir am Telefon, „sofern Sie eine Einladung des Ministeriums in Baku haben.“ Meine Einladung stammt nicht vom Ministerium. „Was kann ich da machen?“ Tödliches Schweigen am anderen Ende der Leitung. Nach einigen Wendungen und Umwegen erreicht mich mein Visum schließlich nach 17 Tagen. 83

2. Baki – Baku

Zwei Tage bevor mein Flug von Frankfurt aus startet. Nachdem ich das Konsulat verlassen habe, erkenne ich jedoch den Haken an der Sache. Obwohl die offiziellen Stellen meine Flugbuchung für den 21. bestätigt haben, stellten sie mir ein Visum für den 22. aus. Alle Visum-Antragsteller werden zudem auf ein weiteres Problem hingewiesen: Da mit Armenien Kriegszustand herrscht, untersagt die Regierung Aserbaidschans allen armenischen Staatsbürgern sowie Menschen mit armenischer Abstammung die Einreise. … Ohne vorherige Zustimmung … untersagt die Regierung Aserbaidschans jeglichen Besuch der Separatistenregion Bergkarabach … und der umliegenden Territorien … die de jure Teil Aserbaidschans sind, aber von Armenien kontrolliert werden. Ausländer, die diese besetzten Gebiete betreten, werden dauerhaft aus Aserbaidschan ausgewiesen und auf die Liste der Persona non grata gesetzt.2

Besucher in Aserbaidschan können daher keinen Abstecher in die oben erwähnte „Separatistenregion“ unternehmen. Sie können allerdings darüber lesen und versuchen, die komplexen Zusammenhänge zu verstehen. Die der Welt auch unter dem russischen Namen Nagorny Karabach bekannte Region heißt in Aserbaidschan schlicht Karabach, „der schwarze Garten“, und bei den armenischen Bewohnern Arzach. David Lang, ein ehemaliger Kollege an der London University, erklärte, dieser Name stamme von König Artaxis I. (etwa 190 bis 160 v. Chr.).3 Heute hat sich hier die Republik Arzach, beziehungsweise die Republik Bergkarabach, gegründet, die eng mit Armenien verbunden ist. Wie mir noch deutlicher werden sollte, reicht dieser Konflikt bis ins Jahr 1918 zurück.4 Im Frankfurter Flughafen fordert mich der Automat am Check-in auf zu bestätigen, dass ich ein Visum besitze. Dann muss ich das Ablaufdatum meines Visums eingeben, nicht aber den Gültigkeitsbeginn. Ich setze einen Haken vor die Box, mit dem ich alle furchtbaren finanziellen Konsequenzen auf mich nehme, sollte ich Lufthansa mit falschen Angaben versorgt haben  – und erhalte augenblicklich meine Bordkarte. Doch ich zögere. Mein Flug landet um 21:00  Uhr. Mein Visum wird erst um Mitternacht gültig. Ist das ein Vergehen? Meine Mitreisenden lassen sich in drei Gruppen einteilen. Zur ersten gehören die Standard-Europäer: Geschäftsleute, Touristen, Ex-Pats, Studierende. Die zweite Gruppe bilden offensichtliche Ausländer: Chinesen, 84

Flame Towers im Land des Feuers

Japaner und Inder. Doch die dritte Gruppe, die Mehrheit, ist erstaunlich einheitlich im Erscheinungsbild: rabenschwarze Haare, rabenschwarze Augen, rabenschwarze Augenbrauen, Adlernasen und blasse Haut. Ich denke: So sehen also echte Kaukasier aus. Sie wirken völlig anders als das, was die US-Regierung als Bild der Kaukasier vermitteln möchte.* Unter den Frauen finden sich einige mit Kopftuch, es trägt jedoch keine eine Abaya oder Burka. Mein Reiseführer listet für Aserbaidschan eine ganze Reihe von Verboten auf. Man sollte kein Kaugummi kauen. Nicht laut reden. „Einen dummen Menschen“, heißt es in einem düsteren aserbaidschanischen Sprichwort, „erkennt man an seinem Lachen.“ Nicht mit den Fingern auf etwas zeigen. Keine Menschen anfassen. Nicht die Füße so heben, dass man die Schuhsohle erkennen kann. Und vor allem: nicht Armenien erwähnen. Und keine Kommentare über den herrschenden Alijew-Clan. Ein falsches Wort und man sitzt schnell wieder im Flieger nach Hause.5 Als ich das Flugzeug im „Heydar Aliyev International Airport“ verlasse, erwarten mich ein Schwall warmer Luft, der Anblick eines goldenen Mondes und große Zweifel. Drei Stunden trennen mich noch von der Sicherheit. Soll ich nun noch drei Stunden in der Ankunftshalle warten oder es spontan entscheiden? Ich bin der Letzte in der Schlange. Der abgekämpfte Grenzkontrolleur schaut mir träge ins Gesicht, erblickt mein abgelaufenes Russland-Visum, fordert mich auf, in die Kamera zu blicken und drückt einen Einreisestempel in meinen Pass. Doch gerade als er ihn mir zurückgeben will, fällt sein Blick auf die Zahl 22. Plötzlich ist er hellwach. „Ihr Visum ist für heute nicht gültig, Sir. Heute ist der 21.“ „Wirklich? Aber es wurde mir doch von der aserbaidschanischen Botschaft ausgestellt.“ „Ihr Visum ist erst morgen gültig, nicht heute. Warten Sie hier.“ Der Polizist nimmt meinen Reisepass und verschwindet. Ich schaue mich ängstlich um, ob womöglich jemand von der Botschaft gekommen ist, mich abzuholen, was ja manchmal passiert, und werfe einen Blick auf die Tafel mit den Abflügen. Geht noch ein Flieger vor Mitternacht? Ein letzter Flug nach Aşgabat in Turkmenistan ist für 22:30  Uhr angekündigt. Da taucht der Vorgesetzte auf:

* „Caucasian“ wird im englischsprachigen Raum auch als Sammelbezeichnung für „Weiße“ und damit als Abgrenzung z. B. zu „Schwarzen“ verwendet (Anm. d. Übers. J. P.).

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2. Baki – Baku

„Ihr Visum ist heute noch nicht gültig, Sir.“ „Das verstehe ich nicht. Ihre Visa-Abteilung hatte doch meine Flug­ tickets vorliegen.“ „Ihr Visum gilt erst morgen, nicht heute. Warten Sie hier.“ „Ja, ich weiß. Aber es wurde doch bereits abgestempelt.“ Die Beamten rücken enger zusammen und schauen sich konsterniert an. Einer zeigt auf mich, ein anderer Richtung Ausgang. Meine Augen folgen seiner Geste, und meine Hoffnung bekommt neue Nahrung. Einige Diplomaten verabschieden einen meiner Kollegen und warten an der Schranke. Ich habe das Glück, dass ich auf meinen Auslandsreisen auf diplomatische Unterstützung zählen kann, wofür ich in der Regel mit einer „Triff den Autor“-Veranstaltung bezahle. Und da ich gleich zwei Pässe besitze, kann ich mir sogar aussuchen, auf wessen Hilfe ich Anspruch erhebe. Ich hoffe, das dort könnte das Begrüßungskomitee sein, das mir in Aussicht gestellt wurde. Die Beamten spazieren gerade heran, um ihr Urteil zu sprechen, als zu meinem Erstaunen der Botschafter persönlich herbeieilt. „Guten Abend, meine Herren. Dieser Passagier ist mein Gast. Kann ich Ihnen helfen?“ „Guten Abend, Exzellenz. Das Visum dieses Herrn ist erst ab morgen gültig.“ „Sie haben recht, Officer. Sehr vorbildlich, dass Sie das bemerkt haben. Würden Sie womöglich meine persönliche Garantie annehmen, dass dieser Herr sich in den nächsten Stunden tadellos verhalten wird?“ Die Tür öffnet sich für mich. Genauso gut hätte ich nach Turkmenistan abgeschoben werden können. Der Botschafter teilt mir wenig später mit, dass ein Treffen mit dem Präsidenten zwar unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen ist. „Falls es dazu kommt“, fährt er fort, „ruft Sie jemand an, und wir melden uns innerhalb einer Stunde beim Palast.“ Mein erster nächtlicher Eindruck aus einer Airport-Limousine heraus: Baku scheint eine altmodische orientalische Stadt zu sein, die sich in den Geburtswehen einer ungemein beschleunigten Modernisierung befindet. Es sind mehr neue SUVs auf der Straße als alte Ladas, die auf baumbestandenen Boulevards an schicken Boutiquen vorbeiziehen und sich an nicht recht ins Bild passenden Londoner Cabs vorbeidrängeln. Bauten aus der russischen Zarenzeit reihen sich an islamische Fassaden, Minarette, Metrostationen und Hochhäuser. Die drei brandneuen, auf Hügeln platzier86

Flame Towers im Land des Feuers

ten, neonbeleuchteten Wolkenkratzer aus Glas, die kurvenreichen „Flame Towers“, prägen die Skyline. Ich kann sie vom Balkon meines Innenstadthotels aus sehen. Hier bin ich in einem komfortablen Raum mit Perser­ teppichen auf dem Boden und einer reich bestickten Überdecke auf dem Bett untergekommen. Über dem Waschbecken informiert ein großes blaues Schild: das wasser kann ohne bedenken getrunken werden. Am nächsten Morgen begebe ich mich auf einen Orientierungsrundgang. Die steilen Straßen der Innenstadt, der İçəri Şəhər, werden noch immer von Festungsmauern bewacht, die einen Irrgarten aus Kopfsteinpflasterstraßen, überhängenden Balkonen, Moscheen, Märkten und Museen umgeben. Der robuste, runde Jungfrauenturm Qız Qalası aus dem 12. Jahrhundert, erbaut aus perfekt aufeinanderpassenden Kalksteinen, überragt die Bucht. Der nahe gelegene Palast der Schirwanschahs hingegen wurde nur durch Reparaturen vor dem Verfall bewahrt. Der Herrschaftssitz einer Dynastie vom 15. bis ins 18. Jahrhundert würde in einer Tabelle islamischer Architektur nicht sonderlich weit oben rangieren. Unter den religiösen Gebäuden ist die Dschuma-Moschee die schönste, die Mohammed-Moschee aus dem 11. Jahrhundert die älteste. Letztere wurde 1723 durch eine russische Kanonenkugel zur Hälfte zerstört. Wie das Faltblatt zur Moschee aber ergänzt, ging die angreifende Flotte kurz darauf in einem Sturm unter. Souvenirstände und Antiquitätenhändler gibt es an jeder Ecke. Käufer finden sich hingegen nur wenige; die Händler dösen in ihren Stühlen, und ihre Waren wirken verloren. Flitterkram und Postkarten hängen an Schnüren herab; Teppiche sind zu Stapeln aufgetürmt; seidene Schals bauschen sich im Windhauch auf und handgemachte Kupfertabletts bedecken das Pflaster. Mützen, Helme, Epauletten und Orden der Roten Armee sind billig zu haben; Repliken der spitz zulaufenden „Tatarenmütze“, wie sie auch die Soldaten der Bolschewiki getragen haben, gibt es an jeder Ecke. Mein einziger Fund war eine gerahmte Papieraktie aus dem Jahr 1919, säuberlich auf grün-weißes Papier gedruckt. Das in London ausgestellte Zertifikat dürfte siebzig Jahre oder noch länger auf irgendeinem Dachboden herumgelegen haben. Steigt man den Hügel über die Treppen hinab, stößt man auf Bakus größte Durchgangsstraße, den Neftçilar Prospekti, also den „Boulevard der Ölmänner“. Die acht Spuren mit heranrasendem und hupendem Verkehr überwindet man durch eine marmorne Unterführung, die an der Küstenpromenade endet. 1910 als Domäne der russischen Adelselite fertiggestellt, ist der Bulvar heute Nationalpark und beliebter Spazierweg für jedermann. Drei parallel verlaufende Gartenanlagen erstrecken sich über Dutzende 87

2. Baki – Baku

Kilometer entlang der Bucht, von einem riesigen Fahnenmast bis zu den weit entfernten Hafenkränen. Die Parkanlagen sind vollgestopft mit subtropischen Blumenbeeten, Kakteenanlagen und importierten, seltenen Bäumen: Kirsche, Magnolie, Palmen und Baobabs, in deren Schatten die Menschen promenieren und sich vom Ozon aufweichen lassen. Wir entdecken Wasserspiele zu Musik, kommen am Fähranleger vorbei, dem Puppentheater und dem Teppichmuseum, bis wir das zentral gelegene aserbaidschanische Regierungsgebäude erreichen. Das in der Stalin-Zeit zwischen 1936 und 1952 im pseudo-marokkanischen Stil erbaute, überdimensionierte Gebäude war früher das Dom Sowjetski, die sowjetische Machtzentrale, gekrönt von einer schon lange verschwundenen Lenin-Statue. Das 2012 fertiggestellte Kulturzentrum Heydər Əliyev Merkezi der irakisch-britischen Architektin Zaha Hadid liegt etwas hinter der Uferpromenade. Die blendend weiße Keramik- und Glashülle der fließenden Gebäudeformen ist ein Wunder der „extremen Architektur“. Zusammen mit den Flame Towers, der Eurovision Crystal Hall und dem Olympia-Stadion gehört das Kulturzentrum zu den beeindruckenden Gebäuden, die die Stadt innerhalb eines Jahres hinzugewonnen hat. Mich führt eine junge Universitätsabsolventin mit Namen Nazaket, was sich mit „Freude“ übersetzen lässt. Sie hat rabenschwarzes Haar, raben88

Flame Towers im Land des Feuers

schwarze Augenbrauen, rabenschwarze Augen, rabenschwarze Wimpern, gute Englischkenntnisse und eine beunruhigend unterwürfige Haltung. „Ich habe Ihren Bruder im Flugzeug getroffen“, versuche ich einen unangebrachten Witz, der keinerlei Wirkung zeigt. „Was möchten Sie sehen?“, erkundigt sie sich wiederholt, als sei ich derjenige mit der Ortskenntnis. Etwa gegen Mittag antworte ich schließlich „ein Restaurant“. Wir setzen uns in einen offenen, achteckigen Innenhof, und von unserem Tisch in einer schattigen Ecke aus blicken wir auf den Springbrunnen in der Mitte. „Was möchten Sie essen?“, möchte Nazaket wissen. „Alles, außer Fleisch.“ Ich bekomme einen ganzen, gefüllten, kalten Hecht serviert, dessen Kopf und Schwanz über den Tisch hinausragen. Nazaket möchte nichts abhaben, also mache ich mich alleine über etwa ein Viertel des Fisches her. Ein abendlicher Spaziergang ohne Begleitung stellt sich als weniger anstrengend heraus. Der goldene Mond taucht wieder auf und erhellt die kurvenreichen Straßen der Kasbah. Streunende Katzen wimmern, Großmütter schauen von Balkonen herab, und die Wäsche schaukelt über ihnen. Man dreht Runde um Runde, auf und ab, bis sich die Festungsmauer abzeichnet. Durch einen engen Durchgang betritt man das 21.  Jahrhundert. Im Philharmonischen Garten wird bei einem Open Air-Kino ein russischer Liebesfilm gezeigt. Junge Pärchen trotzen den Regeln und sitzen Händchen haltend nebeneinander. Andere lehnen sich an Bäume, nippen an Obstsäften und betrachten die wirbelnden, farbigen Lichter der Flame Towers in der Skyline. Es ist warm, aber auch windig; und zwar nicht wie bei einer übers Meer aufkommenden Brise, sondern es ist ein kräftiger, drückender Wind, dessen Böen die Äste schaukeln lassen. Mein Reiseführer schreibt dazu, der mittelalterlich-persische Name der Stadt sei Badkube gewesen, „Windhieb“. Der „Springbrunnen-Platz“ am Rande der Innenstadt ist tagsüber Bakus beliebtester Treffpunkt und nachts als bester Ort für ein Rendezvous bekannt. Der früher Parapet genannte Platz wird abends von flanierenden Grüppchen und Einzelgängern bevölkert, die die von Dutzenden Wasserfontänen verteilte kühle Luft suchen: Für einen männlichen Besucher, der zum ersten Mal in Baku ist, kann es überraschend sein, eine Viertelstunde auf dem Springbrunnen-Platz zu sitzen. Nicht nur, weil aserbaidschanische Frauen unglaublich schön sind, sondern auch weil viele junge Frauen so gekleidet spazieren gehen, wie es 89

2. Baki – Baku

auch in Europa üblich wäre. Sogar die Präsidenten-Gattin, Mehriban Alijew, liebt es, sich als Femme fatale der 1960er-Jahre zu zeigen. … In Aserbaidschan sind die traditionellen Werte nicht vollständig verschwunden. … Viele Frauen leben bei ihren Eltern und müssen beim abendlichen Ausgang strenge Regeln beachten. … [Außerhalb der Städte] stößt man auf deutlich konservativere Lebensformen und womöglich sogar auf einige Formen islamischer Tradition. … Hochzeiten werden meist von den Familien arrangiert, und in ländlichen Gegenden ist das Kidnapping von heiratsfähigen Frauen nicht unüblich.6

Das Nachtleben konzentriert sich auf die nahe gelegene Ali-Zadeh-Straße, und die Reiseführer warnen eindringlich vor im Untergeschoss gelegenen, euphemistisch „Disco Clubs“ genannten Etablissements. Die Chevalier Bar im Grand Europe Hotel ist ein höherpreisiges Äquivalent. Die aktuelle Ausgabe der Wochenzeitung Azernews – „Aserbaidschans führende Zeitung“  – macht mit abgedroschenen Phrasen des präsidentschaftlichen Engagements und des Krieges mit Armenien auf: Präsident Iham Alijew und seine Frau Mehriban Alijew … nahmen an der Einweihung der Genozid-Gedenkstätte in der Stadt Quba teil, um die in diesem Gebiet 1918 bei von armenischen und bolschewistischen Einheiten verübten Massakern getöteten Opfer zu ehren.

Die Aserbaidschaner lassen sich keinesfalls von den lauten armenischen Anklagen des Genozids übertönen: Zehntausende Muslime und einige ortsansässige Juden wurden zwischen März und September 1918 … in Baku und anderen Gebieten, darunter Quba, Şamaxı, Göyçay, Karabach und Lənkəran getötet. Rund 167 Dörfer wurden allein in der Region um Quba zerstört. Der Denkmalkomplex wurde in der Nähe eines Massengrabs errichtet … das während der Baumaßnahmen für ein Stadion 2007 entdeckt worden war. … Präsident Alijew und seine Frau pflanzten Apfelbäume an der Gedenkstätte. … Präsident Alijew erklärte, dass die Armenier vor nur zwanzig Jahren erneut ähnliche Verbrechen begangen haben. Sie zerstörten während des Krieges von 1991 bis 1994 alles, darunter Moscheen und andere historische Gebäude. „Diejenigen, die damals diese Verbrechen begingen, stellen sich heute als zivilisierte Menschen dar“, fuhr der Präsident fort. Er warnte davor, dass Aserbaidschan Gewalt einsetzen werde, um die Kontrolle über sein Territorium zurückzuerlangen, sollte 90

Flame Towers im Land des Feuers

Armenien die Besetzung fortsetzen. „Heute sind wir stark genug.“ … „Heute verfügt Aserbaidschan über die schlagkräftigste Armee im gesamten Kaukasus. … Aserbaidschans Militärausgaben übersteigen den armenischen Gesamthaushalt um 30 bis 50 Prozent.“7

Ein zweiter Artikel beschreibt die Vorbereitungen für den „ÖlarbeiterTag“ am 20.  September. An diesem Tag wird der Unterzeichnung des „Deal des Jahrhunderts“ 1994 gedacht, mit dem ein Konsortium aus 13 internationalen Ölfirmen insgesamt 57 Milliarden US-Dollar in Aserbaidschans Offshore-Öl- und -Gasfelder investierte. Offizielle Quellen erwähnen allerdings nicht, dass „der Deal“ eng mit der Einstellung der Kämpfe mit Armenien um Bergkarabach verknüpft war: Das Konsortium hatte sich geweigert zu investieren, solange die Kämpfe andauerten. Daher stimmte Aserbaidschan, obwohl es sich in einer nachteiligen militärischen Lage befand, einem Waffenstillstand zu, um das Geschäft zu retten. Zwanzig Jahre später kann der Präsident damit prahlen, dass die staatlichen Öleinkünfte für die ehemals fehlende militärische Überlegenheit gesorgt haben; das BIP hat sich mehr als verdreifacht.8 Außerdem hat sich Aserbaidschan Zugang zu internationalen Pipelines gesichert, um seine Produkte zu Terminals an See-Häfen zu transportieren. Die eine, die 2006 eröffnete BTC (Baku-Tiflis-Ceyhan-Pipeline), bringt Öl zu einem Mittelmeerhafen in der Türkei. Die in Bau befindliche TAP (Trans-AdriaPipeline) soll Gas auf dem Südlichen Gaskorridor über Griechenland, Albanien und Italien in die Europäische Union transportieren. Seit der Unabhängigkeit hat die staatliche Ölgesellschaft SOCAR rund 60 Milliarden US-Dollar investiert. Ein dritter Zeitungsartikel feiert die Errungenschaften des aserbaidschanischen Dichters Seyyed Mohammad Hossein Behjat-Tabrizi (1906– 1988), auch bekannt unter dem Namen Schahriar. Sein bekanntestes Gedicht, Heydar Babaya Salam („Sei gegrüßt, Heydar Baba“) erzählt von seiner idyllischen Kindheit auf dem Lande in der Nähe des iranischen Täbris. Möchte man es für werbliche Zwecke nutzen, kann man es auch als vorteilhafte Referenz auf den starken Mann in der Aserbaidschanischen Sowjetrepublik lesen, Geidar Alijewitsch Alijew. Nach der Veröffentlichung des Epos 1954 wurde es schnell auf beiden Seiten der Grenze populär. „Schahriar“ war iranischer Aserbaidschaner, der auch auf Farsi schrieb, und dass er noch immer derart bei der offiziellen Bürokratie beliebt ist, zeigt, wie sehr das postsowjetische Aserbaidschan die kulturellen Bezüge zu Irans starker aserbaidschanischen Bevölkerung wertschätzte. Auf eine mögliche 91

2. Baki – Baku

Vereinigung mit dem (iranischen) „Südlichen Aserbaidschan“ wird immer wieder angespielt. Angemessen skeptisch vor der dubiosen Natur der offiziellen Information, führte mich mein nächster Ausflug auf die Landspitze, auf der die Flame Towers errichtet wurden und die einen Panoramablick über die Bucht bietet. Mein Londoner Taxi fuhr mich röhrend die Haarnadelkurven nach oben und setzte mich, oben angekommen, für die exorbitante Summe von 2 Aserbaidschan-Manat und 54 Qäpik (etwa 1,30 Euro) neben einer neu gebauten Moschee ab. Hier konzentrieren sich Bakus heilige Stätten. Auf der einen Seite, hinter dem Parlament, befindet sich der Shehidler Khiyabani Friedhof, zu dem eine im Sowjetstil gehaltene Ehrenstraße mit dem Mausoleum für den verstorbenen Präsidenten Geidar Alijew gehört. Weiter unten am Hang hat man drei lange Alleen erbaut – eine für die Toten des Massakers der Roten Armee 1990, eine zweite für die gefallenen Soldaten im Armenien-Krieg 1987–1994 und eine dritte für die Gefallenen der Islamischen Armee aus dem Jahr 1918. Blumenschmuck und Porträts der Gestorbenen wohin man blickt. Es findet sich sogar ein neues britisches Denkmal für die Toten des Ersten Weltkriegs. Ein schlanker islamischer Turm erhebt sich über der Ewigen Flamme des Gedenkens. Nichts erinnert mehr an das, was vor zwanzig Jahren hier noch stand. Nämlich eine überlebensgroße Heldenstatue von Sergei Mironowitsch Kirow, jenem Bolschewisten, der zwischen 1921 und 1926 die kommunistische Partei Aserbaidschans leitete und später nach Leningrad befördert wurde. Die Ermordung von Kirow war der Auslöser für Stalins Säuberungsaktionen 1934. Um sein Verbrechen zu verschleiern, förderte Stalin schamlos den Kult um Kirwos keineswegs sehr appetitliche Persönlichkeit.9 In ähnlicher Weise deutet nichts auf den Verbleib des Denkmals für die „Sechsundzwanzig Kommissare“ hin, die Gründungsmärtyrer des sowjetischen Aserbaidschans, das bis zu seiner Zerstörung 2006 einen prominenten Platz eingenommen hatte. Die Technik des selektiven Gedenkens, das die Sowjets perfektioniert hatten, wird heutzutage gegen sie verwendet. Dennoch lassen sich immer Spuren der Vergangenheit finden. Denn auch wenn das Kirow-Denkmal verschwunden ist, so sind einige der begleitenden Statuen übrig geblieben. Klettert man einen Felsvorsprung über einen schmalen Pfad neben der Ewigen Flamme hinab, stößt man auf eine Sandsteinbüste Lenins. Entstellt, aber intakt. Da ich mit jedem Ausflug immer besser gerüstet war zu verstehen, was mich umgab, war ich nun bereit, die 10 Manat für eine Führung durch das Milli Azerbaycan Tarixi Muzeyi (Nationales Geschichtsmuseum) auszu92

Flame Towers im Land des Feuers

geben. Untergebracht in der Taghiyev-Villa aus dem 19.  Jahrhundert, ist die Ausstellung eine modifizierte Version ihres sowjetischen Vorgängers und führt den Besucher auf einer unbarmherzigen Tour von den Dinosauriern bis in die Gegenwart. Dieses Mal war Ilaha meine Führerin, und sie war auf den vollen Marathon der gesamten Geschichte ihres Heimatlands vorbereitet. Ihrem Gesicht war die Enttäuschung abzulesen, als ich ihre schwärmerische Beschreibung von Aserbaidschans ältestem Baumfossil unterbrach und mich erkundigte, ob wir uns nicht schneller in Richtung moderner Zeiten bewegen könnten. Taktvoll verlagerte sie die Führung und ließ mir damit genügend Energie, um die zwanzig Räume im Ober­ geschoss zu genießen, die sich der schriftlich festgehaltenen Geschichte widmen. Der Schwerpunkt liegt auf der klassischen Epoche des sogenannten kaukasischen Albanien (mehr dazu später), dem örtlichen mittelalterlichen Khanat und dem Ölboom gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Einige Räume von Taghiyevs opulenter Villa sind im Originalzustand belassen worden, um die kapitalistische Dekadenz anschaulich zu machen, auch wenn die Philanthropie der Familie nicht verschwiegen wird. In der schwierig zu durchschauenden Zeit nach dem Zusammenbruch des zaristischen Russlands wird die erste demokratische Republik Aserbaidschan herausgestellt, im Gegensatz zur bolschewistischen Republik oder den britischen Gegnern. Es findet sich in der Ausstellung kein Bild von Bakus Bolschewiki wie Stalin oder Kirow.10 Als Nächstes auf der Liste: Das staatliche Nezami-Museum für aserbaidschanische Literatur, der selbst ernannte „Tempel der Welt“, bietet eine surreale Erfahrung. Für den Preis von 10 Manat und einem verpflichtenden Paar Gummischuhe unternimmt man einen personalisierten Rundgang durch einen exotisch-orientalischen Palast ohne jeglichen weiteren Besucher. Während man von Saal zu Saal spaziert, setzen sich weibliche Aufpasserinnen in Gang und schalten das Licht ein, sobald man den Raum betritt, und das Licht wieder aus, sobald man ihn verlässt: eine Reise von der Dunkelheit ins Licht und retour, und zwar 50 Mal. Der Palast wurde in Vorbereitung auf den 800. Geburtstag des großen aserbaidschanischen Dichters Nezami von Gandscha (1141–1209) gebaut und 1945 zeitgleich mit der sowjetischen Siegesparade eröffnet. Aserbaidschans literarische Geschichte reicht zurück bis zur Avesta, dem heiligen Buch der zoroastrischen Religion, und im Zeitraum von dreitausend Jahren lebten viertausend Dichter, von denen jeder einzelne Belobigungen wie „groß“, „berühmt“ oder „außergewöhnlich“ verdient zu haben scheint. Originalkunstwerke im heroischen Sowjetstil wurden in Auftrag gegeben, um jeden dieser Schritte zu illustrie93

2. Baki – Baku

ren. Eines davon zeigt Nezami in Begleitung seiner Kollegen  – Virgil, Dante, Shakespeare, Goethe, Victor Hugo, Puschkin, Tolstoi und Gorki. Das Handbuch erläutert: „Dies ist ein heiliger Ort. Alle Unsterblichen, auf die wir stolz sind, sind hier versammelt.“11 Die Tatsache, dass Nezami auf Persisch schrieb, wird übergangen. Und man sollte aufpassen, ihn nicht mit seinem berühmten Landsmann, Sayyid Imad ad-Dīn Nasimi (1369–1417) zu verwechseln, der in Aleppo bei lebendigem Leib gehäutet wurde, weil er der falschen Doktrin des Hurufismus folgte. Den Umständen entsprechend ist auch der Museumsführer aus Sowjet­ zeiten noch erhältlich. Hier ist zu lesen: „Die Sammlung des Museums spiegelt Lenins Worte wider und erzählt uns in bunten Farben vom jahrhundertelangen Weg des aserbaidschanischen Volks hin zu seiner Hochkultur der Gegenwart.“ Hat Lenin jemals etwas über Aserbaidschan gesagt?12 Aber keine Sorge. Der Museumsführer liefert dafür ausführliche Informationen über verschiedene Autoren wie etwa den herausragenden J.  Jabarli (1899–1934), der in der Zwischenzeit in Ungnade gefallen ist. Wahrscheinlich haben sie ihn im Keller untergebracht. Nach drei Tagen in Baku fühlte ich mich dann ausreichend vorbereitet auf einen Abend in Begleitung von vier aserbaidschanischen Hochschullehrern, die von der Botschaft eingeladen worden waren. Wir trafen uns in einem Dachgarten-Restaurant in der Nähe des Jungfrauenturms, hinter den dicken Fensterscheiben glitzerte der See. Dr. Gulshan Pashayeva war Berater des Präsidenten in strategischen Fragen. Sie hatte Belfast besucht, um Ideen für eine Lösung der Bergkarabach-Frage zu finden. „Funktioniert das St-Andrews-Abkommen wirklich?“, lautete ihre erste Testfrage. Professor Farda Asadov war Mediävist an der Chazar Universität und fungierte, wo nötig, als brillanter Übersetzer und Mediator bei unserem dreisprachigen Austausch. Dr. Arum Bati war Rechtsanwalt mit britisch-indischen Wurzeln und nun in Baku ansässig. Doch der Star des Abends war zweifellos Professor Jamil Hasanli – nach russischer Schreibweise Dzhamil Gassanly –, der führende Historiker des Landes für das 21. Jahrhundert. Er kam geradewegs von einer TV-Debatte über die anstehenden Präsidentschaftswahlen und sprach am liebsten Russisch  – ein überzeugender Redner und geübter Legenden-Zerstörer. Ihm gelang es, in nur einer halben Stunde sowohl ein deftiges Abendessen zu verspeisen als auch mir die komplexen Machtverschiebungen in Baku zwischen dem Sturz des Zaren im März 1917 und dem Einmarsch der Sowjets 1920 zu entflechten. Es sei ziemlich falsch, erklärte Hasanli ungefragt, dass die 26 Kommissare von den Briten ermordet worden seien. Der 94

Flame Towers im Land des Feuers

tapfere Professor hielt sich keineswegs zurück. Kurz zuvor hatte er bei einer Rede im Londoner Chatham House das Versagen des Präsidenten bei der Einlösung von Versprechungen kritisiert und ihn in aller Öffentlichkeit der Korruption bezichtigt. Das Volk wolle keine spektakulären Flame Towers und Kulturzentren, sondern „Gerechtigkeit, ein besseres Gesundheitssystem und eine gerechtere Verteilung des Einkommens“. Als Hasanli uns verlassen hatte, erklärte mir der Botschafter: „Er hat sich für die Präsidentschaftswahlen aufstellen lassen, als AntiKorruptions-Kandidat.“ Einer der anderen Gäste fügte hinzu: „Er ist ein mutiger Mann.“ Am nächsten Tag suchte ich in einer Universitätsbuchhandlung nach Hasanlis Büchern. Ich fand eines über die sowjetisch-türkischen Beziehungen, eines über die sowjetisch-iranischen Bezeichnungen, ein drittes über die Politik der aserbaidschanischen Sowjetrepublik und ein viertes über die sowjetische Iran-Politik zwischen 1941 und 1946.13 Seine Bibliografie umfasst 28 Bücher – auf Aserbaidschanisch, Russisch, Farsi, Türkisch und Englisch. Porträts der beiden Alijew-Präsidenten, von Vater und Sohn, finden sich überall. Genau wie ihre Maxime: „Bildung, Bildung, Bildung“. Ich war überrascht, an der brandneuen ADA Universität, der ehemaligen Diplomaten-Akademie, an der ausschließlich auf Englisch unterrichtet wird, zahlreiche Oxbridge-Absolventen anzutreffen, die in ihrem Heimatland eine Stelle angetreten hatten. An der Universität für Slawische Sprachen durfte ich zu meiner großen Freude mit hundert Polnisch-Studierenden sprechen. Und an der Universität für Fremdsprachen, dem wichtigsten Trainingsplatz des Landes für internationale Beziehungen, hielt mir der Rektor bei einer Tasse Kaffee einen ausführlichen Vortrag über die strategischen Schwierigkeiten Aserbaidschans. „Wir stehen unter enormem Druck“, sagte er, ohne Namen zu nennen. „Und zwar sowohl aus dem Süden wie auch aus dem Norden.“ „Süden“ meint Iran, „Norden“ meint Russland. Nach Ansicht von Menschenrechtsorganisationen stehen auch die Aserbaidschaner selbst unter enormem Druck. Die US-Organisation Freedom House stuft Aserbaidschan, genau wie Russland, als „nicht frei“ ein, wohingegen die Nachbarländer Armenien und Georgien als „teilweise frei“ gelten.14 Nach dem Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International rangiert Aserbaidschan auf Platz 152 von 180  Ländern  – und befindet sich damit zum Beispiel deutlich hinter Russland und Weißrussland.15 2011 verlieh Amnesty International einen Preis an den aserbaid95

2. Baki – Baku

schanischen Journalisten Eynulla Fatullayev, der von seinem Kampf für Redefreiheit in einem Land berichtete, in dem die Presse immer wieder geknebelt wird.16 Demonstranten, die 2012 während des Eurovision Song Contest auf die Straße gingen, wurden gewaltsam auseinandergetrieben, und über die Wahl Bakus zum Gastgeber für ein Internet Freedom Forum wurde gespottet. „Aserbaidschans herrschende Elite hat ihren Reichtum genutzt, um ein repressives Regime zu installieren, bei dem die Polizei unablässig das Volk überwacht … und friedliche Proteste gewaltsam unterdrückt werden“, schrieb der Guardian.17 Vor nicht allzu langer Zeit machte ein grotesker Vorfall deutlich, welche Zustände hier herrschen: Ein aserbaidschanischer Soldat, Leutnant Ramil Safirev, der zu einer NATO-Konferenz nach Ungarn delegiert worden war, erhielt dort eine lebenslange Haftstrafe, nachdem er einen armenischen Kollegen mit einer Axt ermordet hatte. Er wurde nach Aserbaidschan ausgeliefert, um hier seine Freiheitsstrafe abzusitzen. Doch seine Rückkehr wurde zu einer Gelegenheit für eine nationale Feierlichkeit: Der Präsident begnadigte und beförderte ihn, Safirev wurden acht Jahre Lohnnachzahlung gewährt und eine Wohnung zugeteilt. Das Gerücht machte die Runde, der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán habe der Auslieferung nur gegen die Zahlung von mehreren Millionen Dollar zugestimmt.18 All das spielte eine Rolle bei den anstehenden Präsidentschaftswahlen. Beobachter hatten eine sonderbare Situation festgestellt: Keiner der beiden führenden Kandidaten machte Wahlkampf. Ein Sprecher des amtierenden Präsidenten erklärte: „Der Präsident muss keinen Wahlkampf führen; er bewirbt sich mit seinen Leistungen.“ Der Chef der oppositionellen REALPartei, Ilgar Mammadov, war kurz zuvor wegen des Vorwurfs der Aufstachlung zur Gewalt ins Gefängnis geworfen worden, und einem anderen Oppositionskandidaten wurde die Zulassung verweigert, da er sowohl die aserbaidschanische als auch die russische Staatsbürgerschaft besaß. Daher hatte Professor Hasanli seinen Hut in den Ring geworfen. Er sei, so der Botschafter, „ein Wal in all dem Plankton“. Um ihm einen Strich durch die Rechnung zu machen, sorgte der „Präsidentenapparat“ für eine Fülle von Pseudo-Oppositionskandidaten im Wahlkampf und überzeugte das Gremium der kaukasischen Muslime, sich von Hasanli zu trennen.19 Ich habe immer wieder vom „Präsidentenapparat“ reden hören. Gemeint ist damit die allumfassende Maschinerie politischer Kontrolle. Die Partei des Präsidenten etwa, die Partei Neues Aserbaidschan, verfügt derzeit über 69 der 125 Sitze im Parlament, stets über die Mehrheit sowie den Würgegriff 96

Flame Towers im Land des Feuers

über die Legislative. Verwandte und Freunde des Präsidenten haben ein fast völliges Monopol über die Aufsichtsratsposten und deren Besetzung – genau wie zur Zeit der kommunistischen Nomenklatura. Alle Behörden der öffentlichen Hand – Armee, Polizei und Sicherheitsdienste – operieren auf Geheiß des Präsidenten. Wie in der früheren UdSSR verbirgt eine demokratische Fassade eine brutale Diktatur. Kein heute lebender Aserbaidschaner hat je etwas anderes kennengelernt. Als bloßer Besucher rechnete ich nicht damit, mit dem „Präsidentenapparat“ Bekanntschaft zu machen. Doch eines Tages, ich verließ gerade das Literaturmuseum, lief ich durch eine völlig verstopfte Einbahnstraße. Ein großer schwarzer SUV mit Zivilfahndern erzwang sich seinen Weg in der falschen Richtung durch die Straße. Offenbar wollte jemand zeigen, wer hier der Boss ist. Das Standardwerk zur Geschichte Aserbaidschans, auf Russisch von der Aserbaidschanischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben, ist eindeutig eine bearbeitete Version einer früheren sowjetischen Veröffentlichung. Es umfasst den ganzen Schwung, von der Steinzeit bis zum Anbruch des Sowjetzeitalters, greift auf das gegenwärtige Staatsterritorium als Bühne für alle Ereignisse zurück und hat einen Großteil des marxistischen Vokabulars übernommen. So beginnt Teil  III über die „Feudale Gesellschaft“ genau mit dem Jahr 226 n. Chr. und der Ankunft der persischen Sassaniden-Dynastie und endet mit der russischen Machtübernahme 1828. Aber man hat auch deutliche Eingriffe in den Text vorgenommen: Obwohl die Februarrevolution im März 1917 noch immer als „bürgerlich-demokratische Revolution“ bezeichnet wird, wurden die Ereignisse im Oktober 1917 zu einem perevorot, einem „politischen Coup“, herabgestuft. Es mag ein Zufall sein, aber der allgemeine Herausgeber der Reihe ist der Wissenschaftler Igrar Alijew.20 (Anscheinend heißt halb Aserbaidschan Alijew, beziehungsweise „Verwandter von Ali“, des Schwiegersohns des Propheten und wichtigsten Heiligen für die Schiiten.) Nur nebenbei wird eine römische Inschrift erwähnt, die 1948 bei Qobustan (Gobustan), ungefähr 65 Kilometer südlich von Baku, gefunden wurde: IMPDOMITIANO CAESARE AUG[USTO] GERMANIC[O] L-IULIUS MAXIMUS LEG XII FUL Als Domitianus Caesar Aug[ustus] Germani[cus] herrschte, [stellte] L[ucius] Julius Maximus, [Zenturio der] XII. Fulminata Legion, [dieses Denkmal auf].21 97

2. Baki – Baku

In einer nationalistischen Denkweise sind ausländische Inschriften in der Geschichte eines Landes nur nebensächlich. Und dennoch dient diese römische Inschrift, die weiter östlich gefunden wurde als jede andere bekannte, als wichtiger Wegweiser in Raum und Zeit. Was auch immer der Auftrag des Zenturio gewesen sein mag, er wurde ihm zur Zeit der persischen Kriege des Kaisers Domitian zwischen 84 und 96 n. Chr. erteilt. Aus dem Lager der XII. Legion in Phasis, heute Poti, am Schwarzen Meer kommend, hatte Julius Maximus rund 720  Kilometer zurückgelegt, um das damals „Albania“ genannte Gebiet zu erreichen. Vermutlich sollte er Erkundungen machen oder war als Verbindungsoffizier zu den örtlichen Herrschern entsandt worden. Mit großer Wahrscheinlichkeit hat er die Feuertempel des Zoroastrismus kennengelernt, sicher aber weder Aserbaidschaner noch Muslime. Die frühe Geschichte der Region ist eng verbunden mit dem Kommen und Gehen der Meder, Perser, Parther und der alten Griechen. Die Eroberung durch Alexander den Großen 33 v. Chr. gilt dabei als Schlüsselmoment. Einer der von Alexander Besiegten in der Schlacht von Gaugamela (der mit Darius verbündete Perser Atropates, übersetzt „der von Feuer Beschützte“) herrschte wenig später über ein als Media Atropatene bekanntes Reich. Die hellenistische Zivilisation dürfte noch vorherrschend gewesen sein, als der Zenturio sich dort aufhielt. Zoroaster oder „Zarathustra“ war ein Philosoph des 2. oder 1. Jahrtausends v. Chr. (seine Lebensdaten sind unbekannt) und Gründer jener Religion, die in Persien bis zur Ankunft des Islam dominierte. Seine Lehre geht von einem dualistischen Weltbild aus, in dem Licht gegen die Dunkelheit kämpft, und das sowohl eine etablierte Staatskirche ins Leben rief als auch eine Reihe von Feuertempeln.22 Dank des natürlichen Vorkommens von Erdgas hat die Gegend rund ums Kaspische Meer schon immer FeuerAnbeter angezogen. Die Etymologie des Wortes Aserbaidschan geht dann ebenfalls auf „das Land des Feuers“ zurück. Das antike kaukasische Königreich Albania erstreckte sich westlich des Kaspischen Meeres und war im 1. Jahrtausend n. Chr. ein Vasallenstaat des Perserreichs. Im Altpersischen war es auch als Arran bekannt – ein Name, der auch nach dem Untergang des Königreichs weitergetragen wurde. Die Staatssprache gehörte zu den lesgischen Sprachen und besaß ein eigenes Alphabet, ähnlich dem Georgischen. Seine Herrscher nahmen früh das aus Armenien herüberkommende Christentum an, und die albanischorthodoxe Kirche konnte ihren autokephalen Status zwischen 313 und 705 n. Chr. bewahren.23 Eine Handvoll Kirchen aus dem 6. oder 7. Jahrhundert sind bis in unsere Tage erhalten geblieben. Das Gebiet Albanias 98

Flame Towers im Land des Feuers

umfasste Teile des heutigen armenischen Staatsgebiets; die Hauptstadt war Partaw (Barda), und vor allem die Chasaren übten Einfluss auf das Reich aus.24 Heutige aserbaidschanische Nationalisten bezeichnen das kaukasische Albania als Vorläufer ihres modernen Staates, ohne dies historisch überzeugend zu begründen. Die Bewohner von kaukasisch Albania lebten in einer Zeit, in der zahlreiche Regionalmächte aufstiegen und untergingen  – die Sassaniden, die Araber und die Seldschuken –, und gelten als die wahren Gründer jener Siedlung, die später Baku heißen sollte. Von seinem Ursprung, dem Iran im 3. Jahrhundert, breitete sich das Sassanidenreich – manchmal auch als „Neupersisches Reich“ bezeichnet – so weit aus, bis es einen großen Teil des modernen Nahen und Mittleren Ostens eingenommen hatte, vom Mittelmeer bis nach Afghanistan. Die arabischen Armeen des Propheten, die 633 n. Chr. die Sassaniden besiegten, führten den Islam dann in genau denselben Gebieten ein und schufen damit das erste Kalifat. Es dürfte wenig überraschen, dass sowohl die Christen als auch die Anhänger Zarathustras Widerstand leisteten und der Islam sich folglich nur nach und nach durchsetzte. (Die Muslime kamen zur gleichen Zeit wie die halbnomadischen türkischen Chasaren, deren ähnlich großes Reich sich nördlich des Kaspischen Meeres erstreckte.) Was die Seldschuken angeht, so geht diese Dynastie zurück auf einen türkischen Kriegsführer mit Namen Seldschuk (gestorben 1036), der seine Laufbahn als chasarischer Gouverneur begann und dessen Nachfolger an der Spitze der Oghusen die östliche arabische Welt überrannten und sich zur Schutzmacht des Kalifats von Bagdad machten. Das Reich der Großseldschuken blühte unter 18 aufeinanderfolgenden Sultanen, bevor es um 1300 zerbrach. Die Herausbildung einer aserbaidschanisch sprechenden Gemeinschaft bekam während dieser seldschukischen Phase ihren entscheidenden Schub, als Turkstämme aus der Altai-Region in Zentralasien nach Westen zogen und ihre westliche beziehungsweise oghusische Version der TurksprachenFamilie mitbrachten. Die Turkifizierung zog sich hin, genau wie die Islamisierung. Genetisch haben die modernen Aserbaidschaner mehr mit ihren Nachbarn in Georgien und Armenien gemein als mit den Türken oder Iranern; doch in religiöser Hinsicht wurden sie durch die arabische Invasion in die muslimische Welt gezogen. Die etwas später stattfindenden Wanderungsbewegungen brachten sie dann in Kontakt mit der linguistischen Welt der Turksprachen. Diese komplexe Nationenbildung war schon weit vorangeschritten, als das Land in der Moderne zwischen Persien und Russland aufgeteilt wurde. 99

2. Baki – Baku

Boyuk Shor

Baku

ADA Universität Khazar Universität Nizami Museum Mohamed-Moschee Fexri Xiyaban Friedhof Flame Towers

0

1

2 km

Olympiastadion

Heydar Aliyev International Flughafen

Heydar Aliyev Kulturzentrum

N

Regierungshaus

Nationales Museum für Geschichte

S

Qız Qalası

Kaspisches Meer Bakı Kristal Zalı

Die kurze, aber dafür umso heftigere Erschütterung durch den Einfall der Mongolen im 13. Jahrhundert beschleunigte den Zerfall des Seldschukenreichs, das in zahlreiche kleine Khanate zerbrach. Baku wurde zum Mittelpunkt des Khanats von Schirwan. Dem wirtschaftlichen Aufschwung tat dies keinen Abbruch. Das mittelalterliche Baku war eine befestigte Stadt von etwa 1,5 Quadratkilometern Fläche, die von zwei Reihen Stadtmauer umgeben war. Der am Hügel gelegene Palast des Schirwan-Schahs, des „Herrscher von Schirwan“, und der Jungfrauenturm überragten einen Hafen mit vielen vor Anker liegenden Schiffen. Es dürfte sich wenig geändert haben bis zu der Zeit, in der der deutsche Reisende (und Absolvent der Jagiellonen-Universität von Krakau) Engelbert Kaempfer Ende des 17. Jahrhunderts seinen berühmten Stich „Panorama von Baku“ anfertigte.25 Mit der Safawiden-Dynastie und ihrer Herrschaft über das wiederbelebte Perserreich zwischen 1501 und 1736 kehrte eine Phase relativer politischer Stabilität zurück. Die Safawiden stammten aus Ardabil im Nordwest­ iran, leiteten einen Sufi-Orden und erlangten die Herrschaft über das gesamte Reich. Sie waren Schiiten und verantwortlich für die erzwungene Bekehrung ihrer Untertanen zu diesem Zweig des Islam, dem sie bis heute angehören. Die Sprache an ihrem Hof war Aserbaidschanisch; sie machten Isfahan zu ihrer Hauptstadt; ihr architektonisches Erbe gilt als unübertroffen. „Isfahan ist die Hälfte der Welt“, sagt noch heute ein Sprichwort.26 100

Flame Towers im Land des Feuers

Der Schatten einer russischen Invasion hatte über der Region am Kaspischen Meer gelegen, seit Iwan der Schreckliche Mitte des 16. Jahrhunderts Astrachan, die frühere Hauptstadt des Chasarenreichs, erobert hatte. Doch es war dann Peter der Große, der die russische Flotte im Kaspischen Meer gründete und 1722–23 den ersten russisch-persischen Krieg begann. Peters Angriff wurde jedoch abgewehrt und zurückgeschlagen, und erst Anfang des 19. Jahrhunderts wurde der nächste Versuch gestartet. Im Frieden von Turkmantschai zwang Russland Persien 1828, die nördlichsten Territorien, darunter Baku, abzutreten. Die Benennung der Provinzen war immer fließend, aber mit der Zeit etablierten die russischen Behörden drei Gouvernements: das von Schirwan oder Baku, das von Jelisawetpol für das Inland Karabach und das westlich gelegene Gouvernement Jerewan. Den Namen Aserbaidschan behielt man sich für die persische Provinz rund um Täbris südlich der neuen Grenze vor. Die Provinz Baku spielte im Zarenreich vor der Entdeckung der Ölvorkommen eine eher unbedeutende Rolle. Sie war Teil der kaiserlichen Transkaukasus-Region, und die unterschiedlichen Nationen lebten hier wesentlich stärker vermischt als heutzutage. Zum Zeitpunkt der russischen Machtübernahme besaß Jerewan, die spätere Hauptstadt Armeniens, vor allem eine muslimisch-aserbaidschanische Bevölkerung, wohingegen die Einwohner Bakus zum Großteil christliche Armenier und Taten waren beziehungsweise „transkaukasische Perser“. Ein seit 1847 betriebenes Erdölbohrloch bei Bibi-Heybat in der Nähe von Baku gibt an, das älteste weltweit zu sein. 1872 herausgegebene Anordnungen boten durch Auktionen zu erstehende staatliche Landzuteilungen an und stellten steuerfreie Investitionen in Aussicht. Ein Ölrausch brach aus, der die Ölfelder bei Baku zum Ende des Jahrhunderts zum weltgrößten Erdölproduzenten beförderte.27 Die „Ära der Ölbarone“ wurde von Herrschaften angeführt, die dabei ein Vermögen machten. Einige von ihnen, wie Azadullajew oder Mejlamow, stammten aus der Umgebung und gehörten zu den Ersten, die ihre muslimischen Familiennamen russifizierten. Andere, wie die schwedischen Nobel-Brüder Robert und Ludwig oder die französischen de Rothschilds, Edmond und Alphonse, stammten aus dem Ausland. 1876 gegründet, als man die Ölfässer noch mit Eselskarren zum Hafen fuhr, wählte die Firma Branobel – ein Akronym für „Nobel-Brüder“ – einen Feuertempel als Firmenlogo. Und zwei Jahre später fuhr der weltweit erste Öltanker, die SS Zoroaster, im Dienste der Branobel zwischen Baku und dem Bahnanschluss Astrachan. Als die Moskauer Handelskammer zu Emanuel Nobels 101

2. Baki – Baku

Wladikawkas

N

Machatschkala

SOWJETRUSSL AND ( DAGESTAN )

S

Schwarzes Meer

GEO RGI E N

Batumi

Tiflis

Kaspisches Meer Kars

A R M E N I E N

AS E R BA I DS C HA N

Baku

Jerewan

OSMANISCHES REICH

NACHITSCHEWAN

PERSIEN

Transkaukasische Demokratisch-Föderative Republik, April – Mai 1918

0

50

100 km

Geburtstag im Jahr 1909 ihm eine silberne und diamantenverzierte FabergéUhr schenkte, hatte das Unternehmen bereits Filialen und Lager in ganz Russland. Die Familie lebte in ihrer großen Villa Petrolea, ihre Arbeiter waren in dem Modelldorf Petrolea untergebracht.28 Keiner der Baku-Barone war jedoch annähernd so berühmt wie Hadschi Zeynalabdin Taghiyev (1823–1924). Als Sohn eines armen Schuhmachers in der Altstadt von Baku geboren, machte er nie einen Schulabschluss und verdiente als Beinahe-Analphabet sein Geld mit Maurerarbeiten. 1873 kaufte er als Teilhaber ein Grundstück auf der Abşeron-Halbinsel. Nach anfänglichen Misserfolgen verkauften seine Geschäftspartner ihm ihre Anteile. Kurz darauf war er alleiniger Besitzer eines der größten Erdöl­ felder am Kaspischen Meer und stieg zu einem Magnaten à la John D.  Rockefeller oder Clint Murchison Senior auf. Doch Taghiyevs Ruhm basiert weniger auf der Art und Weise, wie er sein Vermögen machte, sondern vor allem darauf, wie er es ausgab. Er wurde zu Bakus größtem Philanthropen. Er ließ die Straße zwischen Baku und Bibi-Heybat befestigen und das Theater- und Opernhaus der Stadt bauen. Er gründete die städtische Straßenbahn, die Wasserwerke, die Feuerwehr, Firmen, eine Druckerei und die führende Zeitung mit Namen Kaspy. Auch in die Erziehung und Bildung investierte er: Hunderte junger Menschen wurden zum Studium an Russlands beste Universitäten geschickt; er legte den Grundstein für die erste muslimische Mädchenschule und ließ, trotz des Wider102

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stands des Klerus, den Koran ins Aserbaidschanische übersetzen.29 Aber Taghiyevs Groß­zügigkeit blieb nicht auf sein Heimatland beschränkt. Seine größte Spende ging an die Madreseh-Schule in Teheran. Er gab Geld für armenische Waisenhäuser, orthodoxe Kirchen, die muslimische Wohlfahrtsgesellschaft in St.  Petersburg und die Reparatur der Moschee von Astrachan. „Meine ganze Arbeit hatte ausschließlich das Ziel“, erklärte Taghiyev, „dass meine Nation glücklich wird.“30 Es sprossen zahlreiche Legenden um Taghiyev. Eine erzählt davon, wie Fischer durch das Ausbleiben von Fischen vor dem Aus standen. Taghiyev ging hinunter zum Hafen, zog einen wertvollen Ring vom Finger, legte ihn auf den Schwanz eines Fisches und warf ihn dann ins Meer. Am nächsten Tag waren die Gewässer vor Baku überreich mit Fischen gefüllt. Baku war zu seiner Hochphase, wie etwa San Francisco nach dem Goldrausch, eine boomende Stadt, die Unternehmer, Fachleute und Glücks­ sucher aus allen Ecken und Enden des Reiches anzog. Die Stadt verfügte über eine ausgezeichnete Anbindung über die Schiene und zu Wasser und konnte neben Ölraffinerien auch Tabak-, Chemie- und Textilfabriken vorweisen. Russische Beamte wachten über eine kosmopolitische Bevölkerung aus Aserbaidschanern, Armeniern, Polen, Juden, Taten und Georgiern sowie über eine winzige Plutokratie, eine wachsende Bourgeoisie und ein großes, unruhiges Proletariat. Großindustrielle saßen an der Spitze der sozialen Pyramide. Polen, wie etwa der Ingenieur Zrębicki, ein Pionier der Offshore-Förderung, oder der Architekt Józef Gosławski gehörten zu den bekanntesten Fachleuten ihres Gebiets. Die Ölarbeiter selbst waren großteils lose beschäftigte Wanderarbeiter aus dem gesamten Transkaukasus. 1904–05 brachen Unruhen aus, und Raffinerien wurden in Brand gesteckt; Muslime und Christen bekämpften sich, und Kosakentruppen stellten die öffentliche Ordnung mit großer Brutalität wieder her. Wegen des erheb­ lichen Industrieproletariats war Baku einer der wenigen Orte im zaristischen Russland, in dem der revolutionäre Sozialismus Sinn ergab. Nach 1905 wurde es immer brenzliger, und die im Geheimen operierenden Bolschewiki waren eine der Gruppen, die die Lage weiter anheizten. Das sogenannte „Kaukasus-Trio“, Anastas Mikojan, Stalin und Grigori Ordschonikidse, war ebenfalls hier aktiv. In Baku starb Stalins erste Frau, Ketewan Swanidse, vergiftet durch Umweltverschmutzung, so hieß es. „Baku war der Ort“, sollte Stalin später zugeben, „an dem ich alle meine menschlichen Regungen verlor.“31 Während des Ersten Weltkriegs befand sich Baku im Hinterland der russisch-osmanischen Feldzüge im Kaukasus, doch als sich 1917 die russi103

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sche Armee auflöste, geriet die Stadt in den Fokus mehrerer konkurrierender Truppen, die es auf ihren Reichtum abgesehen hatten. Es standen nun loyale Anhänger des Zaren, die „Weißen“, den Bolschewiki und anderen sozialistischen „Roten“ gegenüber, außerdem bekriegten sich Türken, ­islamische Fundamentalisten, aserbaidschanische Unabhängigkeitskämpfer, sozialistische Daschnaken, also Anhänger der Armenischen Revolutionären Föderation, und Briten, die aus Mesopotamien heranrückten. Das Ergebnis war ein langwieriges politisches Bäumchen-wechsel-dich-Spiel. Populärwissenschaftliche Geschichtsbücher erwecken oft den falschen Eindruck, dass die Bolschewiki den Zar abgesetzt hätten oder die Sowjetunion durch die Oktoberrevolution 1917 entstanden wäre. Tatsächlich war die Lage deutlich komplexer. Zum einen wurde das Zarentum im Februar 1917 von einem Zusammenschluss politischer Gegner abgeschafft, die anschließend eine konstitutionelle, republikanische und mit den Alliierten verbündete Regierung unter dem demokratischen Sozialisten Alexander Kerenski schufen. Zum anderen begannen im selben Sommer, die gegen die Deutschen im Westen und die Osmanen im Osten kämpfenden russischen Armeen auseinanderzubrechen, was eine gefährliche Lage erzeugte. Zuletzt setzten im Oktober 1917 die Bolschewiki Kerenskis Regierung in Petrograd ab und gründeten die RSFSR, die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik, oder kurz: „Sowjetrussland“. Da Sowjetrussland aber von einem Großteil des untergegangenen Reichs nicht anerkannt wurde, entstand eine Reihe regionaler und nationaler Republiken. Um ihre Macht zu sichern, waren die Bolschewiki daher bald gezwungen, eine lange Serie von Feldzügen gegen die sich abwendenden Staaten zu führen, anfangs im sogenannten Russischen Bürgerkrieg von 1918–19, anschließend von 1919 bis 1923 in jeder der ehemaligen nicht russischen Regionen des Zarenreichs. In einigen dieser Fälle – so in Finnland, Polen und den Baltischen Staaten – wurden sie geschlagen. Überall sonst – in der Ukraine, Zentral­ asien und im Kaukasus – errangen sie Siege. Doch vor der zweiten Hälfte des Jahres 1922 war nicht an die Gründung einer Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (der UdSSR) zu denken, die offiziell erst am 1. Januar 1923 ins Leben gerufen wurde. Diese sechs turbulenten Jahre zwischen 1917 und 1922 zu verstehen, ist entscheidend für eine umfassende Einsicht in die frühe Sowjet-Geschichte. Die Ereignisse in Aserbaidschan illustrieren auf ihre Weise die politischen Verwicklungen dieser Zeit. 1917 gehörte die Provinz Baku seit fast 100  Jahren zum Zarenreich, und alle, die nach dem Zaren an die Macht strebten, schielten auf ihren Ölreichtum. Nicht nur die Bolschewiki sahen 104

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sie als Preis von unschätzbarem Wert. „Ohne das Öl Bakus kann der sowjetische Staat nicht überleben“, sagte Lenin. Und doch zeigten nur wenig Aserbaidschaner Engagement für die bolschewistische Sache oder schlossen sich der kommunistisch dominierten Baku-Kommune an, dem ­Bak-Sow, der im Herbst 1917 gegründet wurde.32 Die politische Macht wurde von zahlreichen Interessenten beansprucht, darunter kaukasische Föderalisten, aserbaidschanische Nationalisten, islamische Fundamentalisten, konservative armenische Christen, pan-türkische Idealisten, reaktionäre ExGeneräle des Zaren, einige nicht marxistische Sozialisten und Gewerkschaftler sowie die kleine britische „Dunsterforce“ des Generals Lionel Dunsterville (1865–1946), der sich aus Bagdad aufgemacht hatte, um Baku vor den „Deutsch-Türken“ zu schützen. Der charismatische Dunsterville, ein persönlicher Freund Rudyard Kiplings, war das Vorbild für dessen Roman Stalky & Co. In Dunstervilles Augen waren alle Russen und prorussisch eingestellten Menschen, mit Ausnahme der Bolschewiki, als Freunde anzusehen.33 Die provisorische Regierung Kerenskis in Petrograd hatte im März 1917 für die Region Autonomie vorgesehen und ein Transkaukasisches Spezialkomitee eingerichtet. Aber Kerenski verfolgte auch die unbeliebte Idee, Russland weiter im Weltkrieg zu halten. Deshalb wurde später im Jahr das Spezialkomitee von einem sogenannten Transkaukasischen Kommissariat abgelöst, das in Tbilissi / Tiflis saß und georgische, armenische und aserbaidschanische Vertreter umfasste, die sich alle von russischer Kontrolle zu distanzieren suchten. Im Dezember bestätigte das Kommissariat einen Waffenstillstand mit dem Osmanischen Reich und erklärte am 24. Februar 1918 seine Unabhängigkeit durch die Bildung der Transkaukasischen Demokratisch-Föderativen Republik (TDFR). Mit dem Friedensvertrag von Brest-Litowsk endeten kurz darauf die Kämpfe sowohl an der europäischen Ostfront als auch im Kaukasus. Der Vertrag übertrug zahlreiche Städte, darunter das georgische Batumi, an das Osmanische Reich. Er veranlasste zudem eine Friedenskonferenz in Trabzon, an der ebenfalls eine Delegation der TDFR teilnahm. Das Chaos in Baku konnte allerdings auch sie nicht beenden. Die Bolschewiki des Bak-Sow und ihre Regierung aus diktatorisch herrschenden Kommissaren wollten nichts mit der TDFR und noch weniger mit dem immer stärker werdenden osmanisch-muslimischen Einfluss zu tun haben. Sie strebten eine Einheit mit Sowjetrussland an, von dem sie inzwischen abgeschnitten waren.34 Doch die Ereignisse entwickelten sich für sie nicht wie erhofft, und in ihrer Verzweiflung begannen sie im März 105

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1918 mit einer Welle des „roten Terrors“. Unterstützt von armenischen Nationalisten ermordeten sie mehr als 10 000 aserbaidschanische Muslime, bevor sie die kommunistisch geführte Bak-Sow-Kommune ausriefen. Das Blutvergießen der Opfer dieser „März-Ereignisse“ war der Auslöser für das, was heute als Aserbaidschans eigene Unabhängigkeitsbewegung angesehen wird. Ende Mai 1918 fiel die Transkaukasische Föderation auseinander, die Interessen der drei teilnehmenden Länder waren unvereinbar miteinander gewesen. Die christlichen Georgier und Armenier verweigerten die Annäherung an das Osmanische Reich, wohingegen die Aserbaidschaner die Unterstützung der Osmanen gegen die Bak-Sow-Kommune suchten. Nachdem Georgien und Armenien sich abgespalten hatten, kündigte die aserbaidschanische Führung am 28. Mai 1918 die Gründung der Demokratischen Republik Aserbaidschan (ADR) an, zog von Tbilissi nach Jelisawetpol (Gandscha) und bereitete Pläne für einen Angriff auf Baku vor. Ein Freundschaftsvertrag zwischen der ADR und den Osmanen bereitete den Weg für die sogenannte Armee des Islam, die von Nuri Killigil kommandiert und in Gandscha durch den Zusammenschluss zweier osmanischer Divisionen, dem örtlichen muslimischen Corps und Freiwilligen aus Dagestan gebildet wurde. Eines hatten alle Krieg führenden Parteien gemein, nicht zuletzt die Briten und US-Amerikaner: Sie hofften, Bakus Öl erobern zu können.35 Die Osmanen planten heimlich, einen Landstrich im südlichen Georgien zu übernehmen, um dann eine Eisenbahnlinie für den Öltransport bauen zu können; die Aserbaidschaner mussten sich weiterhin an die Osmanen halten, da Batumi, die beabsichtigte Endstation der neuen Eisenbahn, sich in osmanischen Händen befand. Die Bolschewiki in Baku versprachen ihren Meistern in Moskau, das Öl könne dauerhaft gesichert werden, wenn sie mehr Unterstützung bekämen. Die Sowjetregierung schlug Deutschland daher sogar ein Geschäft vor, bei dem 25 Prozent des Öls aus Baku Deutschland zukommen würde, sollte es dabei helfen, die Ölfelder für die Bolschewiki zu gewinnen. Doch das Lager der Bolschewiki war innerlich gespalten. Die Kameraden in Baku baten Stalin, inzwischen ihr Kommissar in Zarizyn (Wolgograd), um Nahrung und Truppen. Als er sich weigerte, protestierten sie bei Lenin persönlich – vergeblich. Die Schlacht um Baku entwickelte sich zu einem Dreikampf. Bolschewistische Einheiten verließen Baku für Scharmützel in der Nähe von Gandscha und brannten unterwegs muslimische Dörfer nieder. Die Armee des Islam begann einen Gegenangriff. Und die Dunsterforce bewegte sich aus dem nördlichen Persien auf die Hafenstadt Bandar Anzali am Kaspischen 106

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Meer zu. Die Briten, die aus Bagdad aufgebrochen waren, bevor der Aufstieg des unabhängigen Aserbaidschan begonnen hatte, wussten, wie schnell sich die Dinge ändern können. Doch niemand hatte die nächste Wendung kommen sehen. Am 26. Juli wurde der Bak-Sow von einer Gruppe Sozialrevolutionäre, Menschewiki und Armeniern abgesetzt. Die sich nun stellende Frage war, ob man im Kampf gegen die Osmanen um britischen Beistand bitten sollte oder nicht. Die Bolschewiki, die nie die vollständige Kontrolle im Rat erlangt hatten, verloren die Diskussion und gaben auf. Ihre Nachfolger errichteten ein Regime mit Namen „Zentralkaspische Diktatur“. Die Führungsriege war neu, doch die Truppen, die ihr unter General Dokuchaev zur Verfügung standen, waren die alten. Sie bestanden aus 6000 Infanteristen der sogenannten Baku-Bataillone, vor allem Armeniern, einem Kosakenkontingent und einer Artillerieeinheit mit 40  Gewehren. Unglücklicherweise hatten sich die bolschewistischen Kommissare aus Angst vor der Verhaftung aus dem Staub gemacht und dabei den Großteil des städtischen Arsenals mitgenommen. Das Verschwinden der Bolschewiki riss zugleich die letzten Barrieren ein, die den interreligiösen und interethnischen Streit verhinderten. Auch wenn die atheistischen Bolschewiki skrupellos und repressiv gehandelt hatten, so hatten sie doch dafür gesorgt, dass religiöse Konflikte auf ein Minimum beschränkt blieben. Doch nun war die Armee des Islam da, um die Opfer der „März-Ereignisse“ zu rächen. Und unter den Armeniern gab es nicht wenige militante Christen. So gesehen mag man die letzte Schlacht an der Kaukasusfront des Großen Kriegs als erste Salve im langwierigen aserbaidschanisch-armenischen Konflikt verstehen. Die Armee des Islam positionierte sich auf den Hügeln rings um Baku, kaum war die Zentralkaspische Diktatur vier Tage alt. Allerdings hatte sie keine Eile, den entscheidenden Vorstoß zu beginnen, und in dieser Pause erreichten die ersten Schiffe mit britischen Soldaten aus Persien die Bucht. Die Ende August aufgestellte Dunsterforce verstärkte die Feuerkraft der Verteidiger  – mit einer Batterie Feldartillerie, einer MaschinengewehrSektion, drei gepanzerten Fahrzeugen und zwei Martinsyde-Aufklärungsflugzeugen –, brachte allerdings nur zusätzliche 1000 Mann mit: zwei britische Infanterie-Bataillone (von den Warwicks und North Staffordshires), dazu einige Inder, Australier und Neuseeländer. Es dauerte zwei bis drei Wochen, bis man die Festung verstärkt hatte und irreguläre lokale Truppen trainiert waren. Die einsitzigen Doppeldecker der Royal Air Force, auch „Elephants“ genannt, kreisten unablässig über der Stadt. 107

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Baku fiel in zwei Etappen. Ein massiver Angriff am 13. August konnte unter schweren Verlusten abgewehrt werden. Eine zweite Welle führte die Armee des Islam in der folgenden Nacht bis ins Stadtzentrum. Nachdem er fast 200 seiner Männer und Offiziere verloren hatte (deren Gräber sich nun auf dem Fexri Xiyaban Friedhof befinden), blies General Dunsterville zum Rückzug. Die Reste seiner Truppe kletterten auf die Boote und kehrten dorthin zurück, woher sie gekommen waren – Persien.36 Die örtliche armenische Bevölkerung hingegen konnte nicht fliehen. Voller Panik und ins Hafengebiet gedrängt, gerieten sie in die Hände der muslimischen Soldaten, denen man die traditionellen zwei Tage zur Plünderung gewährt hatte. Als die osmanischen Herrscher die Ordnung wiederhergestellt hatten, waren zwischen 10 000 und 20 000 Armenier tot. Die „September-Ereignisse“ hatten die „März-Ereignisse“ mehr als wettgemacht. Die Einnahme von Baku besiegelte auch das Schicksal der geflüchteten Bolschewiki-Kommissare. Sie hatten ihr Ziel, das von Bolschewiki gehaltene Astrachan, nie erreicht. Ihr Schiff war von feindlichen Elementen beschlagnahmt und sie selbst waren der Gnade der russischen „Weißen“ in Port-Petrowsk ausgeliefert worden. Von hier aus wurden die Gefangenen über das Kaspische Meer zurück nach Krasnowodsk gebracht und alle, bis auf einen, auf Befehl eines antibolschewistischen Komitees zum Tode verurteilt. Am 20. September wurden die „26 Kommissare“ an einem Eisenbahndamm vor Krasnowodsk erschossen. Ihre Hinrichtung war der Ausgangspunkt für die bolschewistische Propaganda, die den britischen Offizier Captain Teague-Jones für die Ermordung verantwortlich machte.37 Nur eine der bolschewistischen Entscheidungen von 1918 blieb bestehen. Im Juli erklärte der Armenische Nationalrat in Bergkarabach seine Unabhängigkeit und wollte sich Armenien anschließen, was auch die Bolschewiki unterstützten. Die Entscheidung wurde sowohl vom Bak-Sow als auch von Stalin in seiner Funktion als Volkskommissar für Nationalitätenfragen genehmigt. In diesem Augenblick, der Hochphase der ADR, konnte sie nicht umgesetzt werden, sollte aber noch langfristige Nachwirkungen zeigen.38 Auf dem Papier war die Demokratische Republik Aserbaidschan, die ihre Hauptstadt Ende September 1918 nach Baku verlegte, einer der liberalsten und fortschrittlichsten Staaten der Erde. Sie sprach von sich selbst als erster Demokratie in der muslimischen Welt; man setze sich für eine allgemeine Bildung ein und war in Fragen des Frauenwahlrechts Ländern wie Großbritannien oder den Vereinigten Staaten ein gutes Stück voraus. Es gab ein 108

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breites Spektrum politischer Parteien, man strebte die Versöhnung der unterschiedlichen Ethnien an, hielt schon früh Parlamentswahlen ab und veröffentlichte eine Verfassung. Das Parlament trat im Dezember zusammen und bestätigte die erste verfassungsgemäße Regierung. Der Anwalt und ehemalige Abgeordnete der russischen Staatsduma Fatali Chan Choiski (1875–1920) war von 1918–19 der erste Premierminister des Landes.39 Choiskis Regierung unternahm große Anstrengungen, um international anerkannt zu werden. Das Land blieb im russischen Bürgerkrieg zwischen den „Roten“ und „Weißen“ neutral und entsandte eine Delegation zur Pariser Friedenskonferenz, wo es im Januar 1920 nachträglich de facto von den Entente-Mächten anerkannte wurde. Auch von mehreren post-russischen Staaten wie Polen, der Ukraine und Finnland wurde es de jure anerkannt. Um persische Widerstände gegen den Namen „Aserbaidschan“ auszuräumen, nannte sich die ADR auf internationalem Parkett „Kaukasus-Aserbaidschan“.40 Dennoch, und trotz aller Erfolge gerade im Bereich der Bildung, etwa durch die Gründung der Universität von Baku und zahlreicher neuer Schulen, hatte die ADR in den 23 Monaten ihrer Existenz schwer zu kämpfen. Zwischen der winzigen politischen Elite, die zum Großteil in Moskau oder St. Petersburg ausgebildet worden war, und den strenggläubigen Massen, zum Großteil Analphabeten, tat sich ein tiefer kultureller Spalt auf, und die „Idee eines aserbaidschanischen Nationalstaates schlug keine Wurzeln“.41 Gebietsstreitigkeiten mit Armenien über Bergkarabach und Nachitschewan und mit Georgien über Balakan und Zaqatala setzten sich fort. Der ins Stocken geratene Ölhandel kam nicht wieder richtig in Gang. Und gewalttätige soziale Unruhen brachen aus, vor allem im Süden in der Stadt Lənkəran / Länkäran. Doch am schlimmsten war, dass die beiden Großmächte Großbritannien und Russland ihre imperialistischen Finger nicht aus dem Spiel lassen konnten. Keine zwei Monate nach General Dunstervilles hastigem Rückzug landete eine britische Streitmacht mit mehr als 5000 Soldaten der Indischen Armee unter dem Kommando von Lieutenant-General William Thomson in Baku. Die Truppen waren nach dem Waffenstillstand von Moudros entsandt worden, mit dem unter anderem die Feindseligkeiten zwischen dem Osmanischen Reich und Großbritannien in Mesopotamien beendet wurden oder auch vereinbart worden war, alle osmanischen Einheiten in der Armee des Islam aus Baku abzuziehen. General Thomson tat so, als gäbe es die ADR nicht, weder bekämpfte noch unterstützte er sie. Er ließ die aserbaidschanische Flagge einholen und den Union Jack aufziehen, nannte sich 109

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selbst Militärgouverneur und rief das Kriegsrecht aus. Hätte man die Briten gefragt, was sie hier taten, hätten sie wohl geantwortet, dass sie treuhänderisch für ihren Kriegsverbündeten Russland handelten. „Die Verbündeten können nicht nach Hause zurückkehren“, erklärte General Thomson, „ohne die Ordnung in Russland wiederhergestellt und es in die Lage [versetzt] zu haben, seinen Platz unter den Nationen der Erde erneut einzunehmen.“42 Der General war ganz offensichtlich der Meinung, sich in Russland zu befinden. Diese zweite britische Expedition hatte zwei Ziele, einmal abgesehen davon, die Bolschewiki von Baku fernzuhalten. Zum einen sollte sie Verstärkung für die aserbaidschanischen Truppen in Bergkarabach entsenden, wo der Gouverneur und ADR-Verteidigungsminister, Major-General Kosrow Sultanow, von armenischen Separatisten unter Druck gesetzt wurde. Zum zweiten sollten die britischen Soldaten Anschluss an ihre Kameraden im georgischen Batumi suchen und damit die Eisenbahnverbindung zwischen Baku und Batumi sichern. General Cooke-Collis traf kurze Zeit nach General Thomsons Ankunft in Baku selbst in Batumi ein. Gemeinsam bemühten sie sich, den Ölhandel bis zum Ende des russischen Bürgerkriegs neu zu beleben und zu schützen. General Thomsons Truppen – die in den allgemeinen Erzählungen zur Landesgeschichte nur selten auftauchen – blieben von November 1918 bis August 1919 in Baku. In dieser Zeit unterhielt er nur inoffizielle Kontakte zu ADR und musste bestürzt mitansehen, wie die „Roten“ im russischen Bürgerkrieg immer mehr die Oberhand gewannen. Trotzkis Rote Armee rückte immer weiter an den Kaukasus heran. Das unabhängige Armenien begann einen Krieg gegen die Türkei, das unabhängige und von Menschewiki regierte Georgien hatte vorsichtig den heiklen Weg der Neutralität zwischen Istanbul und Moskau eingeschlagen. Darüber hinaus entwickelte sich in den Ruinen des Osmanischen Reiches eine starke türkische Nationalbewegung. Der isolierte britische Außenposten im Kaukasus wurde zunehmend untragbar. General Thomsons Männer, die im unruhigen Irak dringend benötigt wurden, kehrten ordnungsgemäß nach Mesopotamien zurück. Sobald die Briten Baku den Rücken zugekehrt hatten, geriet die ADR, in bestem Lenin’schen Stil, „von außen und von innen“ unter Druck. Anders als Georgien oder Armenien bestand hier immer die latente Gefahr einer Invasion von See aus – wie die Briten zwei Mal bewiesen hatten –, und die Bolschewiki gewannen im Norden des Kaspischen Meeres schnell an Stärke hinzu. 1919 setzten sich die roten Kämpfer in Zarizyn fest, wo sich Stalin 110

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einen Namen machte, und verschafften sich erneut Geltung über die untere Wolga. Sergei Kirow schlug einen Arbeiteraufstand in Astrachan nieder, dem Heimathafen der Kaspischen Flotte, und die „Weißen“ wurden aus Port-Petrowsk (Machatschkala) an der Küste Dagestans vertrieben. Ein dessant oder amphibische Landung aus dieser Richtung wurde immer wahrscheinlicher. Moskau rief die Führung der ADR immer wieder zur Zusammenarbeit auf und drohte bei Nichtbeachtung mit Vergeltung. Agitationen, Streiks und Proteste nahmen in Baku zu, da die aserbaidschanische Kommunistische Partei die demokratischen Überzeugungen der politischen Führung immer weiter unterminierte. In den ersten Monaten des Jahres 1920 geriet die größere bolschewistische Sache in eine überschwängliche Euphorie. Lenin überzeugte sich selbst, dass die Zeit gekommen war, die Russische Revolution nach außen zu tragen und die europäischen Zentren des Kapitalismus zu erobern. Bolschewistische Theoretiker hatten schon lange die Meinung vertreten, die Revolution im rückschrittlichen Russland könne nicht überleben, wenn sie nicht von den Arbeitern in den fortschrittlicheren, industrialisierten Staaten Europas unterstützt würde; sie gingen schon immer davon aus, dass die Rote Armee gen Westen marschieren würde, sobald Russland einmal stabilisiert sei. Trotzki, der Volkskommissar für Kriegswesen, war sich der Mängel der Roten Armee sehr bewusst und entwickelte einen alternativen Plan. „Die Straße nach Berlin führt über Kalkutta“, erklärte er. Seine Einwände wurden von Lenin übergangen, und eine millionenstarke „Westliche Armee“ sollte sich in der Berezina konzentrieren. Der junge Michail Tuchatschewski, der begabteste Kommandeur der Roten Armee, wurde für die Übernahme dieser Aufgabe ausgewählt.43 Doch zuvor musste er noch für Trotzki eine Aufgabe übernehmen – die Eroberung von Baku. Tuchatschewskis Operationen am Kaspischen Meer im April 1920 standen später im Schatten seiner sensationellen Feldzüge im Westen, doch auch sie wurden mit Umsicht und Erfolg durchgeführt. Drei Schritte wurden in Angriff genommen: Zuerst sprengte ein politischer Coup in Baku die Regierung der ADR; dann begann eine Invasion aus dem Norden über Land durch die 12. Rote Armee; und drittens führte er einen dessant durch, um die Ölfelder zu sichern. Der Plan wurde am 21. April fertiggestellt. Die Führung der ADR war über den unmittelbar bevorstehenden Angriff entsetzt, der Herausforderung aber nicht gewachsen. Die wenigen Einheiten unter ihrem Kommando waren fast alle an der armenischen Grenze stationiert, und ihre Passivität wurde durch die Unfähigkeit verschlimmert, kommunistische Verschwörer in ihren eigenen Reihen aufzuhalten. 111

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Weder Mirsa Dawud Gusejnow (1894–1938), Vorsitzender des Sowjetischen Revolutionären Komitees und Schwiegersohn des früheren Premierministers Choiski, noch sein Kamerad Nariman Narimanow (1870–1925), von einem Stipendium Taghiyevs gefördert, galten ihr als gefährlich. Als das Parlament über die Frage diskutierte, ob die Rote Armee willkommen geheißen werden sollte oder nicht, verabschiedete es eine unsinnige Resolution, mit der die „völlige Unabhängigkeit Aserbaidschans unter sowjetischer Führung“ gefordert wurde. Ein unvoreingenommener Historiker bezeichnete dies als einen „Akt der Abdankung“. Der „Sturz der Republik war verblüffend einfach.“44 Die Konsequenzen zeigten sich schon rasch. Tuchatschewski traf am 28.  April in einem gepanzerten Zug in Baku ein, ohne dass Gegenwehr geleistet wurde. Die Minister der Regierung wurden von der Tscheka eingesammelt. Man beschlagnahmte 4 Millionen Tonnen Öl, und alle führenden Beamten und Firmeneigentümer wurden verhaftet. Das wiedererrichtete Sowrevkom (Sowjetische Revolutionäre Komitee) lud die „Arbeiter“ dazu ein, die Häuser der „blutsaugenden Bourgeoisie“ zu plündern. Als die Bolschewiki 1918 schon einmal die Macht innegehabt hatten, wurden private Ölfirmen von sogenannten Arbeiterräten mehr schlecht als recht überwacht; dieses Mal wurden sie ganz geschlossen. Am 30. April 1920 ging die Aserbaidschanische Sozialistische Sowjetrepublik in Betrieb. Eine Zeugin, die sich lebhaft an die sowjetische Machtübernahme erinnerte, war die 1914 geborene Zuleykha Asadullayeva, die Tochter eines Ölbarons, die bis dahin ein bequemes Leben mit Dienerschaft und Gouvernanten in ihrem Haus in der Samad-Vurgun-Straße verbrachte hatte (in dem heute die Irakische Botschaft untergebracht ist). Die Familie sprach Russisch, und nicht Aserbaidschanisch, und keine der Frauen trug einen Schleier oder Tschador: Ich war sechs Jahre alt, als die Rote Armee in Baku einmarschierte. Nur wenige Leute wussten, dass [sie] kommt; alle gingen davon aus, dass es die Türken sein würden. … Die Regierungsführung wollte keine Panik auslösen. Das Parlament beriet sich drei Tage lang. … Dann haben sie sich schließlich ergeben, nachdem ihnen versprochen worden war, die Bolschewiki würden niemandem etwas antun. … Was für eine Fehleinschätzung! Ich werde den Augenblick nie vergessen. … Meine Mutter und mein Vater [Khalef Meymalov] standen im Esszimmer und blickten aus dem Fenster. … Die Straßen waren voll mit groben, schmutzigen Soldaten der 112

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Roten Armee. Mein Vater drehte sich traurig zu meiner Mutter um. „Wir sind am Ende“, sagte er. Wir bereiteten alles für einen sofortigen Aufbruch vor. Um sechs Uhr an diesem Nachmittag brachten uns zwei Wagen zu einem Freund, wo wir eine Woche blieben und dann zu unserem Landsitz fuhren. … Meine beiden Eltern wurden verhaftet. Meine Mutter wurde später wieder freigelassen, aber mein Vater blieb zwölf Monate in Haft. [Die Tscheka] erschoss jeden Tag 50 Menschen. … Er wurde vermutlich auch erschossen. Wir wissen aber nicht, was wirklich mit ihm geschah.45

Die Mutter und ihre Kinder konnten eines Tages fliehen, nachdem sie russische Funktionäre bestochen hatten. All ihrer Besitztümer an der Grenze beraubt, kamen sie in der Türkei unter. Zuleykha emigrierte später in die Vereinigten Staaten. Ihre Schwägerin Leyla, eine Taghiyev, beging Selbstmord. Ihr Ehemann, Ali Asadullayev, schlug sich auf die Seiten der russischen Faschisten. Die Sowjetherrschaft dauerte in Aserbaidschan von April 1920 bis Dezember 1991 – fast 72 Jahre. Von Anfang an wurde ein russisch gesteuertes, diktatorisches System aufgebaut, ohne Aserbaidschan jedoch direkt in Sowjetrussland einzugliedern. Auch wenn die äußere Form der staatlichen Institutionen mehrfach umgestaltet wurde, blieb das Zentrum des gesamten Systems unangetastet, die sogenannte „Diktatur des Proletariats“, die Unterordnung aller politischen und administrativen Körperschaften unter die eiserne Kontrolle der herrschenden Kommunistischen Partei  – der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (Bolschewiki) oder abgekürzt SDAPR(B). Jede Entscheidung über Aserbaidschan wurde auf Befehl des Kreml in Moskau getroffen. Nach einer Anfangsphase, in der die Rote Armee nicht nur Aserbaidschan eroberte, sondern auch die benachbarten Länder Armenien und Georgien, verschmolzen die Bolschewiki die drei besiegten Staaten 1922 zur Transkaukasischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik. Sie übten ihre Macht durch das Kaukasische Büro aus, dessen wichtigster Mann Josef Stalin als Volkskommissar für Nationalitätenfragen agierte. Stalin verurteilte alle Gegner des föderativen Systems als „nationalistische Abweichler“ und unterdrückte sie gnadenlos. Konfrontiert mit andauernden ethnischen Auseinandersetzungen, war eine seiner wichtigsten Aufgaben die Durchsetzung einer Reihe von Siedlungsbeschlüssen. Bolschewistische Planer entwickelten zwei territoriale Enklaven in Aserbaidschan. Die eine, Nachi113

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tschewan, im Südwesten, war von armenischem Gebiet umschlossen, aber hauptsächlich von Aserbaidschanern bewohnt und stand daher auch unter aserbaidschanischer Kontrolle. Doch das mehrheitlich von Armenien bewohnte und geführte Bergkarabach  /  Arzach wurde zur Autonomen Oblast Bergkarabach, das offiziell ebenfalls nicht zu Armenien, sondern wiederum zu Aserbaidschan gehörte. Dieses bösartige Arrangement sorgte für anhaltende Spannungen zwischen Armenien und Aserbaidschan, bei denen sich Moskau als ewiger Schlichter gerieren konnte.46 Bei der politischen Namensgebung ging es mit den Verantwortlichen durch. Die Hauptstadt der Autonomen Sowjetrepublik, die auf Aserbaidschanisch Xankändi und auf Armenisch Vararakn hieß, wurde offiziell in Stepanakert umbenannt – zu Ehren von Stepan Schahumjan, einem der ermordeten Kommissare. 1922, als Stalin Lenins Nachfolge als Generalsekretär der Kommunistischen Partei angetreten und ein Großteil des früheren Zarenreichs sich der bolschewistischen Herrschaft ergeben hatte, konnten die Vorbereitungen für die Gründung der Sowjetunion beginnen. Zusammen mit der Russischen, Ukrainischen und Weißrussischen Sowjetrepublik war die Transkaukasische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik eines ihrer vier Gründungsmitglieder. Aus gesundheitlichen Gründen hielt sich der beliebte russische Dichter Sergei Jessenin (1895–1925) in den 1920er-Jahren lange in Baku auf, zusammen mit seiner skandalträchtigen Frau, der amerikanischstämmigen ­Tänzerin Isadora Duncan, die 18  Jahre älter war als Jessenin. Sei es aus Überzeugung oder der Konformität halber, der Dichter schrieb die propagandistische und offiziell gelobte Ballade der Sechsundzwanzig: Ich erinnere mich, wie die Briten unsere Männer aus Baku erschossen, Jene sechsundzwanzig tapferen und edlen Männer … .47

Seitdem drängte man Frischvermählte und Schulkinder in Baku zur Lektüre dieses Gedichts und zu einer Fotosession neben dem monumentalen Denkmal für die toten Kommissare. Von Anfang an, so erfährt man aus populärwissenschaftlichen Texten, „wurden alle privaten Ölfirmen verstaatlicht“ und die Ölindustrie des Landes geriet unter die Kontrolle des staatlich-sowjetischen Monopolisten, Azerineft. Es mag daher überraschen zu erfahren, dass mehrere der angeblich aufgelösten Unternehmen im Ausland noch jahrzehntelang Geschäfte machten und einige gar das Ende der Sowjetunion überlebten. 114

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So operierte etwa BAKU CONSOLIDATED OILFIELDS LTD (BCO) – zu deren stolzen Besitzern einer wertlosen Papieraktie ich mich zählen durfte – seit 1908 in ihren Büros in 48, Canon Street, London EC4. Als die bolschewistische Gefahr immer größer wurde, verschmolz die Firma 1919 mit der Russian Imperial Petrol Ltd. Man schätzt, dass die BCO rund 85 Millionen Pfund in Baku investierte, und damit deutlich mehr als beispielsweise die Rothschild Bank mit ihren 25 Millionen Pfund oder Royal Dutch Shell mit 20 Millionen Pfund. Wegen der politisch instabilen Lage konnten die Vorschriften der Bolschewiki in Baku erst nach der Ankunft von Tuchatschewski und seiner 12. Roten Armee durchgesetzt werden. Und selbst danach konnte man zwar die physischen Besitztümer der Firma  – die Ölfelder, die Öllager, die Gebäude, Schiffe und Ausrüstung  – konfiszieren, aber das Unternehmen selbst sowie sein immenses Finanzkapitel lagen weit außerhalb der Reichweite der Bolschewiki. Die BCO konnte jenseits der UdSSR ihren Geschäften weiter nachgehen und gab ihre Bemühungen um eine Kompensation der Verluste nie auf. Verblüffenderweise löste sich die Firma dann am 21.  August 1997 auf. Aber damit hatte sie Lenin, Stalin, Chruschtschow, Breschnew und sogar Gorbatschow überlebt. Auch Branobel führte ein postrevolutionäres Leben: Gegründet 1876, wurde die Firma erst 1959 abgewickelt – nach 83 Jahren. BCO hatte es sogar auf 89 Jahre gebracht. Man schätzt die Vermögenswerte von Branobel im Jahr 1914 auf 30 Millionen Rubel, und die Firma wurde vor dem drohenden Ruin Anfang Mai 1920 durch einen Deal zwischen Ludwig Nobel und J.  R.  Rockefeller Junior, dem Eigentümer der Standard Oil (New Jersey) gerettet, als Letzterer angeblich die Hälfte des Unternehmens kaufte. Der Verkäufer wollte seine Anteile möglichst schnell loswerden, bevor die bolschewistische Axt niedersauste; der Käufer wollte sie gern übernehmen, da er fälschlicherweise davon ausging, dass „antiimperialistische“ amerikanische Unternehmer bei den Bolschewiki willkommen sein würden. Der verbliebene Rest von Branobel bemühte sich 40 Jahre lang um eine Liquidation unter günstigen Umständen. Er wurde schließlich von seinem letzten Präsidenten, Ludwig Nobels Enkel Nils Nobel-Oleinikow, zur Zeit der Sputniks aufgelöst.48 Die Auswirkungen der bolschewistischen Beschlagnahmung des aserbaidschanischen Öls zeigten sich in mehreren Phasen – einige von ihnen positiv, andere eher negativ. So zielte beispielsweise das im April 1921 geschlossene englisch-sowjetische Handelsabkommen, eine Idee des Premierministers David Lloyd George, auf die Beendigung der Blockade Sow115

2. Baki – Baku

jetrusslands und die Wiederaufnahme normaler Beziehungen. Das Abkommen entstand zeitgleich mit Lenins Neuer Ökonomischer Politik, die einige seiner extremen ideologischen Doktrinen etwas zurücknahm, und basierte auf dem Missverständnis, dass die Bolschewiki, sobald man sie vernünftig behandelte, auch vernünftig reagieren würden. Bei dieser Gelegenheit wurde übrigens die Sowjetregierung zum ersten Mal von einer Großmacht offiziell anerkannt.49 Und doch konnte der Vertrag nicht ohne Klauseln zu vielversprechenden Verhandlungen über Rückzahlungen von Schulden durch die Sowjetunion unterzeichnet werden. Ein Teil dieser Schulden stammte aus Krediten, die der Regierung des Zaren gewährt worden waren; ein anderer aus der Beschlagnahmung von britischem Besitz, darunter die verstaatlichten Ölvermögenswerte. Die Bolschewiki waren zu jedem Gespräch bereit, allerdings nicht zur Rückzahlung auch nur eines einzigen Penny. Die Geschichte der Verhandlungen über die sowjetischen Schulden ist eine der Intrigen und reinen Täuschungsmanöver; in über einem Dutzend Jahren führten die Gespräche nirgendwohin. Sobald sie begannen, erhob das sowjetische Verhandlungsteam astronomische Gegenforderungen für angebliche Kosten durch sogenannte „Interventionen der Alliierten“: also für die britische Unterstützung ihrer Kriegsverbündeten, die von den Bolschewiki beseitigt worden waren. Komplikationen entstanden durch Manöver amerikanischer Geschäftsleute wie etwa Harry Ford Sinclair, der, noch bevor er wegen Korruption verurteilt wurde, einen unilateralen Vertrag mit Stalin plante, zu dem auch große Investitionen in Baku gehörten.50 1923 dann drohten die Gespräche zu scheitern, da Lord Curzon die sofortige Freilassung von Pater Budkiewicz verlangte, einem inhaftierten katholischen Priester.51 Und 1927, nach einer Razzia in London, bei der die britische Polizei auf der Suche nach Beweisen für einen Umsturzversuch gegen die All-Russian Co-operative Society vorgegangen war, wurden die britisch-sowjetischen diplomatischen Beziehungen für zwei Jahre eingefroren.52 Im Dezember 1932 versuchte ein britischer Parlamentsabgeordneter noch immer herauszufinden, was in dieser Angelegenheit getan wurde, falls überhaupt etwas getan wurde: SIR WILLIAM DAVISON erkundigte sich beim Außenminister, welche Maßnahmen vonseiten der Regierung Seiner Majestät ergriffen worden waren im Fall der kompensationslosen Beschlagnahmung durch die russisch-sowjetische Regierung von Grundstücken, Ausrüstung, der Fabrik und dem Erdöl, die dem britischen Unternehmen 116

Flame Towers im Land des Feuers

„Baku ­Consolidated Oil Ltd.“ gehört hatten und die auf 4 000 000 Pfund geschätzt werden. MR. EDEN. Die Umstände, unter denen die britisch-sowjetischen Verhandlungen über Schulden und Forderungen am 27. Januar abge­ brochen worden sind, wurden dem Parlament bereits dargelegt. … Darüber hinaus sind keine weiteren Maßnahmen ergriffen worden.53

Sowjetaserbaidschan blieb bis 1936 Teil der Transkaukasischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik; von da an und bis 1991 war die Aserbaidschanische SSR eine der fünfzehn konstitutiven Republiken der UdSSR. Aber es war kein freies Land. Ende der 1930er-Jahre litt Aserbaidschan fürchterlich unter Stalins Säuberungen und dem Großen Terror, bei dem etwa 80 000 Aserbaidschaner, darunter Kommunisten, ermordet wurden. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, wurde die Stadt Gandscha in Kirowabad umbenannt. Das Öl Bakus war dann während des Zweiten Weltkriegs wieder heiß umkämpft. Dank des Hitler-Stalin-Pakts versorgte Öl aus Baku die deutsche Luftwaffe bei der Luftschlacht über England, und die RAF war kurz davor, kaspische Ölfelder zu bombardieren. Doch mit der Operation Barbarossa ab Juni 1941 änderte sich alles. 1942–43 galt Baku als wichtigstes Ziel der Wehrmacht im Osten. Einige Generale servierten Hitler zu seinem Geburtstag eine Eistorte, auf die man eine Karte des Nahen Ostens aufgebracht hatte: Der Mittelpunkt, an dem man das Messer für den ersten Schnitt ansetzte, war Baku. Nach der Schlacht um Stalingrad war diese Gefahr allerdings behoben. Dass es den Deutschen nicht gelungen war, die Ölfelder zu erobern, sollte sich als Katastrophe für sie erweisen. Da er die Machenschaften eines pro-deutschen Schahs fürchtete, hatte Stalin sich im August 1941 zur Errichtung eines britisch-sowjetischen Protektorats über den Iran bereit erklärt, das die Rote Armee schließlich nach „Südaserbaidschan“ führte und den Amerikanern eine Route, einen „persischen Korridor“, eröffnete, über die sie große Mengen militärischer Hilfsgüter transportieren konnten. Stalin rief dann 1945–46 eine Schein-Volksrepublik Täbris aus, womöglich um einer Annexion zuvorzukommen, ließ die Idee dann aber fallen, womöglich auf amerikanischen Druck hin.54 Genau in dieser Zeit verdiente sich ein junger sowjetischer Sicherheits­ offizier aus Nachitschewan, Heydar Alijew (1923–2003), seine ersten Sporen in „Südaserbaidschan“. Er sollte später zum Chef des KGB in Baku, zum Vorsitzenden der aserbaidschanischen Kommunistischen Partei und von 1969 bis 1982 einer der sehr wenigen Muslime, beziehungsweise Ex-Muslime, wer117

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den, die es je in das sowjetische Politbüro brachten. (Damals wurde sein muslimischer Hintergrund verschwiegen oder verleugnet.) Zahlreiche Passagen seiner autorisierten Biografie, die derzeit verkauft wird, widmen sich Schuldzuweisungen an Präsident Gorbatschow, der ihn entlassen hatte.55 In den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu massivem Bevölkerungsaustausch, wie Stalin ihn auch in anderen Teilen der UdSSR befahl. Mindestens 100 000 Aserbaidschaner wurden von Armenien nach Aserbaidschan umgesiedelt und eine vergleichbare Zahl Armenier aus Aserbaidschan nach Armenien. Diese Zwangsmaßnahmen steigerten zwangs­ läufig die ethnischen Konflikte, die später ausbrechen sollten. Trotz des wirtschaftlichen Missmanagements und Phasen der grausamen Unterdrückung, brachte die Sowjet-Herrschaft auch Fortschritt. Die allgemeine Schulpflicht für Jungen und Mädchen wurde eingeführt, ein säkularer Staat ausgerufen und die aserbaidschanische Sprache anerkannt, die nacheinander arabische, kyrillische und lateinische Buchstaben für die Schrift nutzte. Islamische Autoritäten wurden unterdrückt und eingeschüchtert, aber nicht wie der orthodoxe Klerus in Russland dezimiert. In einem beliebten Handbuch aus den 1960er-Jahren findet sich eine dieser typischen, öden Beschreibungen: Aserbaidschan, ein Land, das das östliche Transkaukasien und Nordwestpersien umfasst … ist im Norden und Süden gebirgig, während sich in der Mitte die Kura-Niederung befindet. … Es finden sich große Lagerstätten mit Öl, aber auch Eisen, Kupfer, Blei und Zink. … Größe 86 600 Quadratkilometer; Bevölkerung (1959) 3 698 000 (48 Prozent davon in Städten), hauptsächlich turksprachige Aserbaidschaner (67 Prozent), Russen (14 Prozent) und Armenier (12 Prozent). Aserbaidschan verfügt über die drittgrößte Ölindustrie der UdSSR, aber auch über eine Textil- und Lebensmittelindustrie sowie Maschinenbau. Es wird Baumwolle angebaut; man betreibt Seidenraupenzucht, Garten- und Weinbau und zieht Schafe, Büffel und Pferde groß; auch alte Handwerksberufe (Seide und Teppiche) werden noch gepflegt. Wichtigste Städte: Baku (Hauptstadt), Kirowabad und Sumgait …56

Das Handbuch erwähnt keines der zahlreichen Verbrechen Stalins. Und ein Besucher im heutigen Baku dürfte sich wundern, warum so viele der unzähligen Gedenktafeln mit dem nicht weiter erklärten Datum 1938 enden. 118

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Einer, der Aserbaidschans Fortschritt mit Interesse beobachtet haben dürfte, war Anastas Mikojan (1895–1978). In Armenien geboren, war er einer von Stalins ursprünglichen Vertrauten und gehörte jahrzehntelang zur obersten Führungsriege der Sowjetpolitiker; so war er 1964–65 als Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets das Staatsoberhaupt. (Sein jüngerer Bruder gehörte zu den Entwicklern der MiG-Kampfflugzeuge.) Er galt als hervorragender politischer Entfesselungskünstler: „Mikojan konnte mitten im Sturm über den Roten Platz spazieren und dabei allen Regentropfen ausweichen“, hieß es über ihn. Geheimnisvollerweise war er der einzige der Kommissare aus Baku, der nicht hingerichtet worden war, und er war es auch, der im April 1920 den gepanzerten Zug mit Tuchatschewski kommandierte. Als Außenhandelsminister in den 1930er-Jahren ließ er amerikanische Eiscreme nach Russland importieren; Stalin kommentierte dies unheilvoll: „Anastas Iwanowitsch liebt Eis inniger als den Kommunismus.“ Aber er ließ ihn in Frieden. Er und Mikojan sollen sich regelmäßig zugeprostet haben: „Zur Hölle mit all den Russen.“57 1987, also während Gorbatschows „Glasnost“-Phase, brach der sieben Jahrzehnte festgefrorene Konflikt in Bergkarabach wieder aus. Demonstranten in Stepanakert forderten die Vereinigung mit Armenien. Die Regierung in Baku bemühte sich, ihre unmittelbare Macht durchzusetzen, sah sich aber mit einem Referendum konfrontiert, das das autonome Gebiet von Bergkarabach in eine unabhängige, aber nicht anerkannte, von Armenien unterstützte Republik verwandelte. Moskaus Zögern war verhängnisvoll. Ein militärischer Konflikt war unausweichlich.58 Einige der schlimmsten Grausamkeiten wurden verübt, als die UdSSR noch existierte und Gorbatschow an der Macht war. Besonders vereinzelt liegende armenische Siedlungen waren gefährdet. Das „Pogrom in Sumgait“ vom Februar 1988 löste auch an anderen Orten Übergriffe aus,59 darunter das „Pogrom in Kirowabad“ im November und das „Pogrom in Baku“ vom Januar 1990, dem ein armenischer Exodus vorausgegangen war. In Kirowabad wurden aserbaidschanische Truppen dabei fotografiert, wie sie christliche Friedhöfe zerstörten, woraufhin Vorwürfe der kulturellen „Säuberung“ erhoben wurden.60 Die erneuten Auseinandersetzungen zwischen Aserbaidschan und Armenien bewiesen, dass das sowjetische System vor dem Zusammenbruch stand. Und genau wie die erste aserbaidschanische Republik durch den Kollaps des zaristischen Russland entstanden war, so entwickelte sich die zweite unabhängige Republik durch den Kollaps der Sowjetunion. Niemand war darauf vorbereitet. Zwischen 1989–90 stiegen die Spannungen immer weiter. Es bil119

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dete sich die Volksfront-Partei, die nach nationaler Unabhängigkeit und sogar der Vereinigung mit den Aserbaidschanern im Iran verlangte. Gleichzeitig verschlechterten sich die Zustände in Bergkarabach immer weiter. Präsident Gorbatschow, dessen Verständnis der Nationalitätenfrage nur schwach ausgebildet war, entsandte die Rote Armee und sah zu, wie sie am 19. Januar 1990 ein Massaker an Demonstranten verübte. Rückblickend gab er zu, der „Schwarze Januar“ sei sein „größter Fehler“ gewesen. Im September 1991 erklärte Aserbaidschan seine Unabhängigkeit, zu einem Zeitpunkt also, an dem die UdSSR theoretisch noch existierte. Die Angelegenheiten Aserbaidschans stürzten daraufhin ins Chaos ab. Der erste Präsident, der ehemalige Vorsitzende des Ministerrats der Aserbaidschanischen Sozialistischen Sowjetrepublik Ajas Mutalibow, versuchte 1991–92 diktatorische Vollmachten zu erlangen, allerdings fehlte es ihm dazu an Unterstützung. In seine Präsidentschaft fiel der Ausbruch eines offenen Krieges mit Armenien. Sein Nachfolger, Abulfas Eltschibei, ein früherer Dissident und Chef der Volksfront, regierte von 1992 bis 1993 und konnte eine demokratische Anhängerschaft für sich gewinnen, doch dann handelte er sowohl in Wirtschaftsfragen als auch im Armenien-Krieg falsch, bis er vor rebellierenden Truppenteilen floh. Die militärischen Operationen zwischen 1991 und 1994 können nur als „schmutziger Krieg“ bezeichnet werden. Der armenischen Seite wurde durch russische Panzer, Artillerie und Söldner der Rücken gestärkt. Die aserbaidschanischen Kräfte wiederum wurden durch afghanische und tschetschenische Mudschahedin unterstützt. Und beide Seiten griffen auf ethnische Säuberungen zurück, wie sie auch im Jugoslawien-Krieg vorgekommen waren. Die aserbaidschanische Bevölkerung verschwand aus Karabach, die armenische aus großen Teilen Aserbaidschans. Dörfer wurden in Brand gesteckt und Landminen vergraben. Zehntausende Menschen kamen ums Leben, rund eine halbe Million war auf der Flucht. Doch die Armenier siegten: Als im Mai 1994 der Waffenstillstand unterzeichnet wurde, kontrollierten sie ganz Bergkarabach und zudem sieben angrenzende Bezirke.61 In all den Jahren hatte Heydar Alijew sich bedeckt gehalten, und nun startete er mit perfektem Timing sein Comeback. Seit 1988 regierte er seinen Heimatbezirk Nachitschewan, jetzt kehrte er auf Einladung von Präsident Eltschibei nach Baku zurück, übernahm die Rolle des Parlamentssprechers und erklärte mit kühler, konstitutioneller Präzision, dass der abwesende Präsident Eltschibei sein Amt verwirkt habe. Dieses meisterhafte Manöver dürfte seine KGB-Kumpane mit größtem Stolz erfüllt haben, 120

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und er wurde durch ein landesweites Referendum bestätigt. 1993 gewann er bei den inszenierten Präsidentschaftswahlen 99 Prozent der Stimmen. In den folgenden zehn Jahren war er an allem beteiligt, was Aserbaidschan seitdem erreichte, darunter der „Deal des Jahrhunderts“, mit dem die Öl­industrie des Landes wieder in Schwung gebracht wurde. Heydar Alijews offizielle Biografie legt großen Wert auf seinen kometenhaften Aufstieg beim KGB. Den Bildern seiner bescheidenen Herkunft aus Nachitschewan stehen Fotos gegenüber, auf denen er als KGB-Hauptmann, dann als Oberst und schließlich als Generalmajor zu sehen ist. Die Aufnahmen aus seiner Zeit als Präsident zeigen ihn mit dem Papst, George Bush Junior und Wladimir Putin. Die abschließenden Passagen überraschen dann allerdings doch bei einem Mann, der fünfzig Jahre lang dem atheistischen Kommunismus diente. „Er starb in der Überzeugung, dass er seine von Allah für ihn vorgesehene Mission erfüllt hatte“, heißt es da und weiter: „In seiner Freizeit las er liebend gern diese Zeilen von [dem aserbaidschanischen Sowjet-Dichter] Samed Wurgun“: Der Tod hat keinen Grund zur Freude! Niemals wird er Jene fassen, die ihr Heimatland so lieben. Und die, die voller Liebe lebten und geliebt von andren starben, Werden, wie es üblich ist, auch von der Welt geehrt.62

Heydar Alijews Sohn Ilham (geboren 1961) begann als Spieler, Playboy und Beamter des Sicherheitsapparats, übernahm dann aber recht geschmeidig die Amtsgeschäfte seines Vaters und polierte den allgegenwärtigen Personenkult um Heydars Person auf. Der Personenkult um Ilhalm selbst begann kurze Zeit später. Kritiker bemängeln, dass er verschwenderisch von geheimen ausländischen Bankkonten lebt, seine Besitztümer unter dem Namen seines Sohnes verbirgt und in einem Schloss in Dubai Hof hält. Es ist schwer einzuschätzen, ob diese Anschuldigungen auf Tatsachen beruhen oder nicht. In Bergkarabach hat sich seit dem Waffenstillstand von 1994 nicht viel verändert, auch die gegenseitigen Anschuldigungen gehen weiter. Aserbaidschan behauptet, dass 20 Prozent seines Territoriums „besetzt“ seien, verlangt den bedingungslosen Abzug Armeniens und das Recht der Flüchtlinge auf Rückkehr. Vier UN-Resolutionen hat es dazu bereits erwirkt. Doch die abtrünnige Republik Arzach existiert weiterhin, und die Vereinigten Staaten empfehlen, auch auf Druck einer lautstarken armenischen Lobby, ein Referendum zu dieser Frage. Hin und wieder 121

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treffen sich Delegierte unter dem Dach der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), der „Minsker Gruppe“ und deren „Prager Prozess“, wo Hoffnung, Vertrauen und Fortschritt ungefähr noch genauso stark vorhanden sind wie nach dreißig Jahren israelisch-palästinensischem Stillstand. Die prachtvolle Uferpromenade in Baku erzählt daher nur die halbe Geschichte. Aserbaidschan ist ein Land, dessen beachtlicher wirtschaft­ licher Erfolg auf eine trostlose Politik trifft. Der andauernde, formal noch nicht beendete Krieg mit Armenien dient als Argument für die „harte Hand“, mit der durchgegriffen wird, und dem repressiven Regime droht von seiner eigenen Bevölkerung und von anderen Staaten, die vom Öl Aserbaidschans profitieren, nur wenig Ärger. Der bewundernswerte Professor Hasanli wirkt da wie ein einsamer Rufer in der Wüste. Aserbaidschan schreckt nicht davor zurück, Geld in die Hand zu nehmen, um seine Interessen zu sichern und sein Image aufzupolieren. Es bezahlt die britische Regierung für das Training seiner Sicherheitsdienste durch die britische Sondereinheit SAS.63 Es gibt viel Geld für Werbespots zur besten Sendezeit auf CNN aus. Es investierte Unsummen in die Durchführung des Eurovision Song Contest 2012 und hat sich inzwischen einen Weg in den internationalen Top-Fußball gebahnt, wo die Spieler von Atletico Madrid mit unpassenden Shirts und dem Werbespruch „Land of Fire“ auf der Brust herumrennen.64 Und dennoch ist es nicht einfach mit Aserbaidschans neu gefundener Identität. Der Marxismus-Leninismus wurde als Leitideologie von einem engstirnigen Nationalismus abgelöst, der eine ganze Reihe von Exzessen, von ethnischer Vereinheitlichung bis hin zu historischen Fantasien, beflügelt. Im letzten Jahrhundert hat man die Namensänderung von Menschen und Orten immer wieder erzwungen, und auch heute setzt sich dieser Trend fort.65 Kürzlich wurde im Parlament vorgeschlagen, die Russifizierung der Familiennamen solle rückgängig gemacht und Endungen wie -ew und -ow müssten gestrichen werden; aus Präsident Alijew würde „Präsident Ali“.66 Nach einer anderen Idee sollte der Name des Staates in „Nord­ aserbaidschan“ geändert werden, was impliziert, das „Südaserbaidschan“ illegal vom Iran besetzt gehalten wird.67 Angesichts der Beschäftigung mit derartigen Fragen zeigt das Regime wenig Neigung, in die dringend benötigte soziale Entwicklung zu investieren. Die weitverbreitete Armut konnte zurückgedrängt werden, vor allem in den ländlichen Gebieten, und Prestigeprojekte sind reichlich realisiert worden, doch hinter der hübschen Fassade ist nur wenig Substanz. Die 122

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Geschäfte sind so leer wie das Nationale Literaturmuseum. Trostlose, verfallende Wohnblöcke aus Sowjetzeiten dominieren die Außenbezirke, in den Seitenstraßen tummeln sich die Bettler. Wohlhabende Aserbaidschaner lassen sich im Iran medizinisch versorgen, zur gleichen Zeit sind die Flüchtlingslager noch immer gut gefüllt. Die Kluft zwischen Arm und Reich wird immer größer. Darüber hinaus ist auf internationaler Ebene Aserbaidschans Manövrierfähigkeit stark eingeschränkt.68 Man fürchtet, die iranischen Ayatollahs könnten die traditionell säkulare Haltung des Landes unterminieren wollen, und sperrt aserbaidschanische Geistliche ein, die für religiöse Studien nach Ghom oder Isfahan gereist sind. Was die Kaukasusregion angeht, so zeigt Aserbaidschan nur wenig Solidarität mit seinen armenischen oder georgischen Nachbarn.69 Die Beziehungen zur Türkei sind weniger intensiv, als Heydar Alijew es sich einst erträumte, als er von „einer Nation, zwei Staaten“ sprach. Die Wirtschaftsbeziehungen blühen, doch das Langzeitprojekt eines Turk-Rates kommt kaum in Schwung, und der gegenseitige Beistandspakt wurde erst im Jahr 2010 unterzeichnet. Moskau zieht weiterhin gleichzeitig an vielen Fäden und sorgt damit für die Verstetigung des Stillstands in Bergkarabach. Auf der einen Seite unterstützt es Armenien, verkauft auf der anderen Seite allerdings unbekümmert Waffen an Aserbaidschan. Insgesamt ähnelt Alijews Regime ziemlich genau jenem fiktionalen Land Tazbekistan, wie es in der Comedy Show Ambassadors karikiert wurde.70 Für einen Staat mit derart hohem Einkommen ist Aserbaidschans Ergebnis im Good Country Index, der den „Beitrag zum allgemeinen Wohlergehen der Menschheit“ misst, unterirdisch: Unter 153 Ländern erreicht es Platz 110 und steht damit noch hinter Ländern wie Ruanda, Burkina Faso, Pakistan oder der Mongolei.71 Wladimir Putins Besuch in Baku im August 2013 wurde als „Arbeitstreffen“ beschrieben. Flankiert von Außenminister Sergei Lawrow und den Vorstandsvorsitzenden von Rosneft und Lukoil traf er auf zwei Kriegsschiffen der gerade umgerüsteten russischen Flotte im Kaspischen Meer ein. Nach dem fünfstündigen Gespräch mit Präsident Alijew kündigte man ein Abkommen über die gemeinsame Nutzung von Pipelines an. Putin sagte, Russlands Vermittlungshilfe sei immer verfügbar. Alijew sagte, Russlands Waffen seien „die besten der Welt“.72 Zwei Jahre später wurden russische Cruise Missiles vom Kaspischen Meer aus auf Syrien gefeuert. Nach allem, was wir wissen, könnte Präsident Putin seinem Kollegen auch einen Rat in Bezug auf das Wahlmanagement gegeben haben. Denn die aserbaidschanische Wahlkommission veröffentlichte versehentlich schon vor der Schließung der Wahllokale das Endergebnis, nach dem 123

2. Baki – Baku

­ lijew mit 74,8 Prozent der Stimmen gewonnen habe. Schlussendlich siegte A er dann sogar mit 84,6 Prozent, während der glücklose Hasanli 5,5 Prozent der Stimmen bekam. Wahlbeobachter der OSZE nannten die Wahlen „stark fehlerbehaftet“.73 Später wurde bekannt, dass der Präsident der Vereinigten Staaten mit Irans neuem Präsidenten telefoniert habe, nach drei Jahrzehnten des Schweigens zwischen den Führern der beiden Staaten. Man feierte einen wichtigen Durchbruch. Im August 2016 kehrte Wladimir Putin dann nach Baku, zu Dreiergesprächen mit den Präsidenten von Aserbaidschan und dem Iran, zurück.74 Die internationale Wetterfahne hatte sich bewegt. Der Wind in Baku drehte erneut. Am Vorabend meiner Abreise wurde ich eingeladen, an der hiesigen Geburtstagsfeier für Königin Elizabeth II. teilzunehmen; für alle britischen Auslandsbotschaften ein regelmäßig wiederkehrender Termin im Kalender, weniger üblich für umherziehende Historiker. Gefeiert wurde im großen Ballsaal des Fairmont Hotel im Flame Towers-Komplex. Tausend Gäste stiegen aus ihren Limousinen und passierten die Sicherheitskontrollen, um dann dem britischen Botschafter, zusammen mit Lady Penelope und dem scharlachrot livrierten Militärattaché, vorgestellt zu werden. Anschließend begaben wir uns in einen leuchtenden, mit roten, weißen und blauen Luftballons dekorierten Saal, den man mit zwei riesigen Leinwänden ausgestattet hatte. Große Plakate stimmten auf das Thema des Abends ein: „This is GREAT Britain.“ Ich betrat den Raum zusammen mit einem britisch-indischen Rechtsanwalt, den ich vor einigen Tagen kennengelernt hatte. „Was passiert mit dem Wort ‚Great‘, wenn das Referendum in Schottland verloren geht?“, wollte er wissen. Der Chor der britischen Schule stimmte die britische und aserbaidschanische Nationalhymne an. Dann wurden Reden gehalten, während hungrige Horden die Tische mit Essen belagerten. Aus Lautsprechern tönten Crown Imperial und Händels Zadok the Priest, dann wurde ein Film über die Krönung der Königin 1953 gezeigt. Um den Smalltalk mit einem US-Marine-Colonel am Tisch in Schwung zu halten, erklärte ich ihm: „Das habe ich alles live gesehen. Die erste Fernsehsendung meines Lebens.“ Die wichtigsten Gäste drehten im Saal ihre Runden. Der israelische Botschafter, Mr. Harpaz, drückte mir die Hände. „Haben Sie auch mein Land schon bereist?“, erkundigt er sich hoffnungsvoll. 124

Flame Towers im Land des Feuers

Israel und Aserbaidschan stehen sich erstaunlich nahe. Sie fürchten beide den Iran. Dann ergreift der Manager des Fairmont Hotels das Wort. „Wir veranstalten Geburtstagspartys wie diese hier regelmäßig. Besonders für einjährige Jungs.“ „Beschneidungsfeiern“, erklärt eine Stimme. „Genau 220 Dollar pro Kopf.“ Ein Mann aus Yorkshire liegt mir in den Ohren. Er ist der Manager der Firma, die ganz Baku mit Londoner Taxis füllt. „Es war die Idee des Präsidenten“, sagt er, „aber wir unterbieten die örtlichen Fahrer: 16 Manat für die Fahrt zum Flughafen statt 30.“ Er hat bereits 1000 Fahrzeuge auf der Straße, möchte eines Tages aber 3000 haben. Sie sind alle violett lackiert. „Die Menschen hier nennen sie badimçan, Auberginen“, erläutert er uns. Ein russischer Admiral in schlecht sitzender Uniform begrüßt den USColonel mit demonstrativ falscher Fröhlichkeit. Als er geht, frage ich den Amerikaner: „Ist heutzutage alles in Ordnung mit den Ruskies?“ „Wir tun unser Bestes“, grinst er. „Aber sie denken nicht wie wir.“ Das kann man laut sagen. Nicht bei jedem herrscht die Vorstellung, dass die früheren Sowjetrepubliken Opfer von Imperialismus und Kolonialismus sein könnten, doch genau das sind sie. Sie wurden alle erobert, die meisten sogar gleich zwei Mal – erst vom Zaren, dann von den Bolschewiki. Sie wurden von fremden Armeen, Beamten und Siedlern überrannt; ihre Eliten zwang man zur Kollaboration; ihre Kultur wurde unterdrückt, und ihre Wirtschaft wurde so gefördert, dass sie den Interessen einer ausländischen Macht diente.75 Mit diesem verschandelten Erbe kämpfen sie nun alle. Ein Hauch dieses Erbes umwehte mich, als ich Aserbaidschan verließ. Ich gelangte durch zwei Kontrollpunkte am Flughafen, scheiterte aber beinahe an der dritten Hürde. Eine Kontrolleurin mit schicker grüner Uniform, langen goldenen Dauerwellenlocken, einer spitzen Mütze und zahlreichen Abzeichen an ihrem großen Busen saß in einem Glaskäfig. Sie kontrollierte meinen Reisepass, bat mich, in die Kamera zu blicken, und reichte mir gerade meine Dokumente zurück, als ihr Blick auf die Zahl 22 fiel. Ihr Gesicht verzog sich in einer Mischung aus Schrecken und Hochgefühl: „Sie verlassen Aserbaidschan vorzeitig, Sir. Warum?“ „Ich glaube nicht. Mein Flugticket war schon immer für heute ausgestellt, den 30.“ 125

2. Baki – Baku

„Sie sind am 22. angekommen. Ihr Visum gilt für neun Tage. Warten Sie hier.“ „Nein, das tut mir leid; meine Pläne haben sich nicht geändert. Meine Tickets wurden bereits überprüft.“ Sie zählte es an ihren Fingern ab, bevor sie, tief besorgt dreinblickend, einen Kollegen zurate zog. Besucher mit einem Neun-Tages-Visum verlassen das Land nach neun Tagen. Ich konnte ja nicht zugeben, dass ich eigentlich schon am 21. angekommen war. Ich biss mir auf die Lippen. „Sie verlassen das Land vorzeitig“, fasste sie zusammen. „Das ist nicht erlaubt. Sie fliegen morgen. Warten Sie hier.“ „Das verstehe ich nicht. Ich bin Gast des britischen Botschafters.“ „Der Botschafter müsste es wissen: Sie reisen am 31. ab, nicht am 30.!“ Ihre Augen wurden zu Schlitzen. Ihre Finger klapperten auf dem Schalter. Was sie auf ihrem Bildschirm sah, passte nicht zu den Angaben in ­meinem Pass. Entweder war der Computer gehackt oder der Stempel gefälscht worden. Oder beides. Aber warum sollte jemand Aserbaidschan vorzeitig verlassen wollen, wenn er nicht ein Spion, oder ein Armenier, war? Und würde diese verfrühte Abreise Ärger bedeuten? Es war eine enge Angelegenheit. „Dieses Mal dürfen Sie gehen“, sagte sie ernst. „Aber beim nächsten Mal ist es verboten!“

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3. Al-Imarat: Berge von Geld und tankerweise Missverständnisse

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3. Al-Imarat

Um von Aserbaidschan in die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) zu gelangen, braucht es nicht viel: einen Steinwurf von Baku nach Teheran, dann einen Katzensprung über die Berge und Wüsten Irans und schließlich einen kleinen Hopser über den Persischen Golf – und schon ist man da. Mit einem Direktflug von Azerbaijani Air oder Emirates schafft man die Strecke in unter drei Stunden. Es geht in Richtung Südsüdost, das Ziel ist entweder Abu Dhabi oder Dubai. Man fliegt kaum mehr als tausend Meilen, und doch ist es eine kleine Weltreise: von der zentral- und vorderasiatischen Welt der Turksprachen in die Welt Arabiens; aus dem Reich des schiitischen in das Reich des sunnitischen Islam.* Schon während des Fluges fiel mir auf, welch hohe Bedeutung die emiratische Regierung jeglicher Form von Bildung, vor allem aber der Hochschulbildung beimisst  – und insbesondere Studenten aus dem Ausland möchte man für ein Studium am Golf begeistern. Im Bordmagazin meiner Fluggesellschaft werden die Universitäten von Abu Dhabi in den höchsten Tönen gelobt: „Das überaus diverse studentische Leben in Abu Dhabi“, säuselt es da, „spielt in einer ganz eigenen Liga.“1 Fünf Bildungseinrichtungen werden namentlich genannt, die meisten davon Ableger westlicher Universitäten: University of Abu Dhabi: Luftfahrttechnik, Luftfahrt-Management, Architektur Paris-Sorbonne Abu Dhabi University: Sprachen, Marketing, Wirtschaftswissenschaften New York Film Academy, Abu Dhabi: Kurzfilm- und Schauspielkurse Alliance Française, Abu Dhabi: Französischkurse auf allen Niveaus New York University, Abu Dhabi: Geistes- und Sozialwissenschaften

Und dabei ist Abu Dhabi ja nur eines von insgesamt sieben Emiraten, in denen insgesamt noch hundert weitere Universitäten und sonstige Hochschulen wachsen und gedeihen.2 Die Strategie ist nicht schwer zu durchschauen: Man überzeugt Projektpartner mit internationalem Renommee und einem glanzvollen Namen (die Sorbonne! die NYU!) am Persischen

* Schon seit dem ersten Jahrhundert der islamischen Ära ist die islamische Welt in Sunniten und Schiiten gespalten. Beide Zweige berufen sich auf ihre Herkunft vom Propheten Mohammed: Der zugrundeliegende Streitpunkt ist nicht so sehr dogmatischer, sondern vielmehr legitimativer Natur. Global gesehen, sind die Sunniten in der Mehrheit; die Schiiten, deren kopfstärkster Vertreter Iran ist, befinden sich in der Minderheit.

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Berge von Geld und tankerweise Missverständnisse

Golf eine Zweigstelle zu eröffnen, für die man dann zahlende, studierende Kundschaft aus der ganzen Welt anwirbt, die mit den hier erworbenen Hochschulabschlüssen fit gemacht werden soll für den bekanntlich ja „immer globaleren Arbeitsmarkt“. Zum Gelingen dieses Geschäftsmodells sollen beitragen: Lehrveranstaltungen in englischer Sprache, ein „multinationales Umfeld“, unschlagbare Preise sowie „maßgeschneiderte, innovative Kursinhalte“. Na dann. Beim Landeanflug auf Dubai ist die Sonne schon untergegangen, und die Gasfackeln der Ölbohrinseln draußen im Golf flackern über das Wasser. Den Fluggästen an den Fensterplätzen hat man aber bereits empfohlen, auch noch nach etwas anderem Ausschau zu halten. Und so taucht, als das Flugzeug gerade zum Landeanflug übergeht, tief unter uns ein riesiger Stachel in der Landschaft auf, der in der Dämmerung grün-golden angestrahlt wird. Selbst bei unserem Überflug über Dubai-Stadt – der Pilot zieht eine Schleife, um den Flughafen vom Landesinneren her anfliegen zu können – liegt der Burdsch Chalifa, das seit 2008 höchste Gebäude der Welt, noch weiter unter uns. Nach der Landung freilich erhebt sich dieser „ChalifaTurm“, der nach dem Emir von Abu Dhabi, Scheich Chalifa bin Zayid alNahyan, benannt wurde und nur wenige Kilometer vom Flughafen entfernt in den Himmel ragt, hoch über unseren Köpfen. Und doch hat ein anderer Anblick der letzten Minuten einen sogar noch stärkeren Eindruck hinterlassen: Als das Flugzeug die Innenstadt zum ersten Mal im Sinkflug passiert, sinken wir durch einen wahren Feuerzauber aus gleißenden Lichtern hinab, nur um gleich darauf wieder in absolute Finsternis einzutauchen. Drei oder vier Minuten lang, während der Pilot seine Schleife zieht, gleiten wir über einem bodenlosen, unfassbar stillen Abgrund dahin. Keine Straße, kein einziges Licht stören diese brutale Verdunklung, dieses völlige Aussetzen der visuellen Wahrnehmung. Wie der Inbegriff der reinen Leere erstreckt sich die Wüste unter uns bis ins Unermessliche; die funkelnde Metropole direkt daneben nimmt sich nun wie ein fragiler Vorposten der Zivilisation aus. Die Wüste ist am Golf nie weit entfernt. Das Abfertigungsgebäude des Flughafens von Dubai ist riesig, eine schier endlose, verwirrende Höhle mit marmornen Fußböden. Es gibt zwei getrennte Ankunftshallen: Durch Halle A wogt eine Masse von ihrer Reise erschöpfter Männer; in Halle B schieben sich Männer und Frauen, zumeist Europäer, in langen Schlangen Schritt für Schritt auf die gläsernen Kabinen mit den Einwanderungsbeamten zu. Ohne weitere Nachfrage winkt man mich direkt in Richtung der Halle B. Der bärtige Grenzbeamte – makellos gebügeltes Gewand und blütenweiße ghotra – begrüßt mich auf Arabisch. 129

3. Al-Imarat

Vereinigte Arabische Emirate S

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KATAR

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Persischer Golf

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VEREINIGTE ARABISCHE EMIRATE ABU

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Al Ain

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nicht definierte Grenze

0

50

100 km

Ich präsentiere mein Einladungsschreiben und erhalte auf der Stelle den nötigen Visumsstempel. Keine Spur von dem Quatsch in Baku. Da mich ein Fahrer abholen soll, verlasse ich das Gebäude durch die Drehtüren mit dem Hinweisschild „Exit“. Mit dem Schritt nach draußen laufe ich gegen eine Wand aus glühend heißer Wüstenluft, von dem Gedränge unzähliger Menschen ganz zu schweigen, die einander zwischen ganzen Stapeln und Haufen von Koffern, Kisten, Taschen und Truhen umherzuschieben scheinen. Ich ziehe mich schleunig in das klimatisierte Innere des Gebäudes zurück, wo der Fahrer mich schließlich findet. Dieses Land besteht aus einer Vielzahl fein säuberlich voneinander getrennter Abteilungen, die zumeist unsichtbar sind, und man muss sehr genau wissen, wohin man gehört. „Willkommen in den Emiraten!“, sagt der Fahrer und fügt etwas verwundert hinzu: „Warum sind Sie denn nach draußen gegangen?“ Die Nachtfahrt zum Hotel führt uns aus Dubai-Stadt hinaus in die umgebende Wüste. Die Limousine rast an Hinweisschildern vorbei, die solche Aufschriften wie „International City“ oder „Academic City“ tragen. Ersteres ist ein Billigbauprojekt, ganz einfache Wohnungen. „Die leiden ganz schön unter dem Klärwerk“, sagt der Fahrer und hält sich demonstrativ die Nase zu. Academic City, noch nicht ganz fertiggestellt, soll einmal als „Super-Campus“ für eine ganze Reihe universitärer Partnerinstitutionen 130

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aus dem Ausland dienen, darunter die American University, die British University und die Mahatma Gandhi University. „Bald“, sagt der Fahrer, „gibt’s da 40 000 Studenten.“ Der Mond scheint hell und die Sterne funkeln am klaren Nachthimmel. Der Wüstenwind bläst Sand über die völlig verwaiste Straße. Wir passieren Polizeistationen, die wie Grenzposten aussehen. Am Horizont erscheint eine Reihe von Lichtern, die mit hoher Geschwindigkeit davoneilen und sich dabei rhythmisch auf und ab bewegen. „Was ist denn das?“, frage ich. „Rennkamele“, sagt der Fahrer. „Die trainieren nachts, wenn es kühl ist.“ Mein äußerst luxuriöses Hotel ist wie eine Oase gestaltet. In der Mitte befindet sich eine große, glasüberdachte Empfangshalle, in der ausgewachsene Palmen mit imposanten Wasserfontänen konkurrieren. Ringsum erhebt sich der kreisrunde Hotelkomplex mit seinen zwanzig Stockwerken, Zimmern, Suiten und Konferenzräumen. Die arabischen Hotelgäste versammeln sich drinnen, wo sie es sich in schweren Ledersesseln gemütlich machen, Kaffee schlürfen und die von den Springbrunnen ausgehende Kühle genießen; die „Westler“ unter den Gästen liegen draußen in der drückenden Hitze neben einem von mehreren Pools, die, aufgereiht wie Perlen an einer Schnur, auf dem Gelände verteilt sind. Die Araber, Männer wie Frauen, halten sich von Kopf bis Fuß bedeckt, die Männer in Weiß, die Frauen – stets zwei Schritte hinter ihnen – in Schwarz. Für die Söhne des Westens scheint es nur zwei Alternativen zu geben: Geschäftsanzug oder Bademode, dazwischen existiert nichts. So wandern sie also in BermudaShorts und mit freiem Oberkörper – die Damen wahlweise im Bikini und mit Flipflops – durch die Lobby, während ihre arabischen Gastgeber so tun, als würden sie nichts bemerken. Die Kopfbedeckung der arabischen Männer ist nicht einfach nur ein Modestatement, sondern ein Ausdruck der persönlichen Identität. Die kufiya oder ghutra, eine Art von Kopftuch, wird über einer eng anliegenden weißen Kappe getragen, der taqiyah, und mit einer dicken schwarzen Wollkordel, aqal genannt, an Ort und Stelle gehalten. Emiratis und Saudis bevorzugen bei der kufiya ein rot-weißes Karomuster, obwohl manche sich auch für ein reinweißes Tuch entscheiden. Bei den Palästinensern ist die kufiya traditionell schwarz-weiß kariert  – das berühmte „Palästinensertuch“ –, und Jordanier erkennt man an ihrer Vorliebe für Fransen. Bei den Frauen ist der hidschab („Schirm“ oder „Schleier“) verpflichtend, der Kopf und Oberkörper bedeckt, aber das Gesicht vollkommen frei lässt; ergänzt wird er durch die abaya, ein bodenlanges schwarzes Gewand. Unter den 131

3. Al-Imarat

Araberinnen der Emirate ist es nur eine kleine Minderheit, die den niqab (Gesichtsschleier) nach saudischer Art trägt. Das Essen im Hotelrestaurant spiegelt die vielfältige Herkunft der Gäste und Hotelbediensteten wider. Das Büffet, das in eine nahöstliche, eine euroamerikanische, eine indische, eine fernöstliche und schließlich eine afrikanische Abteilung gegliedert ist, biegt sich unter den Köstlichkeiten dieser Erde. Bei den Bedienungen und ihren Vorgesetzten kann man eine ähnliche Vielfalt beobachten. Die lächelnde Schönheit im Sari, die mich an meinen Platz geleitet, ist Filipina, die Auszubildende im Hotelfach eine junge Frau aus Glasgow. Über die nächsten Tage hinweg bedienen mich nacheinander ein Afghane, eine Nepalesin, eine Singhalesin, ein Sudaner, eine Kolumbianerin, ein Iraner, eine Ukrainerin, ein Mongole, ein Madagasse und ein Mauritier – und keine dieser Nationalitäten kommt doppelt vor! Vielleicht will man so einem Aufstand des Servicepersonals vorbeugen? Das TV-Angebot des Hotels dominieren internationale Sender. Auf CNN sehe ich ein weiteres aufwendig produziertes Stück Werbefernsehen für den örtlichen Bildungssektor, diesmal für die technische Hochschule der Emirate, die Higher Colleges of Technology. Stapel von Büchern schleppende, aber dennoch zügig ausschreitende Studierende halten zielstrebig auf ultramoderne Gebäude der Sorte „Weiß mit Glas“ zu. Bei der Selbstdarstellung der HCT auf deren Internetseite werden ebenfalls alle Register gezogen: Seit ihrer Gründung per Föderaldekret im Jahr 1988 genießen die Higher Colleges … einen ausgezeichneten Ruf, was innovatives Potenzial in der Lehre angeht. Mehr als 18 000 Studierende besuchen heute 17 moderne Campus für Männer beziehungsweise Frauen in Abu Dhabi, Al-Ain, Dubai, Fudschaira, Madinat Zayed, Ras al-Chaima, Ruwais und Schardscha. … Die Studierenden studieren in einem hoch entwickelten E-Learning-Environment, in dem das selbstständige und lebenslange Lernen im Mittelpunkt steht.3

Man mag mich radikal nennen, aber getrennte Campus für Männer und Frauen klingen in meinen Ohren nicht sonderlich „innovativ“. Manchen Quellen zufolge leitet sich der Name „Dubai“ von einem arabischen Wort ab, das mit „Heuschrecken“ zu tun hat. Die allgegenwärtigen Plakate versprechen jedoch Sonne, Sand und Shopping, und für meinen Geschmack gibt es hier von allen diesen Dingen eindeutig zu viel. Mittags brennt die Sonne auf uns herunter, was im Sommer regelmäßig zu 132

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T ­ emperaturen von unerträglichen 40 bis 50 °C führt; der 2002 aufgestellte Rekord liegt bei 52,2  °C. Bei dem vielbeworbenen Sand handelt es sich nicht um die Sorte, auf der man sich bequem ausstrecken könnte, sondern vielmehr um ein hartes und grobkörniges Granulat, das sich unnachgiebig in den Haaren, zwischen den Zähnen, in Ohren, Kleidung und Schuhen festsetzt. Und was schließlich das Shopping betrifft, so hat man natur­ gemäß kaum eine andere Wahl, da die riesigen klimatisierten Einkaufs­ zentren den konkurrenzlos besten Zufluchtsort vor der sengenden Hitze bieten. Es ist grotesk und hat in seiner Widernatürlichkeit etwas beinahe Unanständiges, wie dort in einer vollkommen artifiziellen Umgebung haufen-, ja bergeweise Waren feilgeboten werden. Importiert werden ­ sowohl die Schnäppchen als auch die Schnäppchenjäger, die zwischen ihnen umherwuseln. Internationale, sogenannte Luxusmarken leeren die Taschen der Gehirngewaschenen und spülen den Überschuss in die Schatulle der herrschenden Scheichs. Aus nächster Nähe ist der Burdsch Chalifa so groß, dass man ihn erst fotografieren kann, wenn man ein Stück aufs Meer hinausfährt oder zu diesem Zweck einen Helikopter chartert. Manche Besucher lieben die Fahrstühle, die mit der magenumdrehenden Geschwindigkeit von zehn Metern pro Sekunde in Richtung Spitze rasen; anderen reichen auch die Einkaufsmöglichkeiten in den niederen Stockwerken. Dort kann man über endlose Marmorfußböden spazieren, ziellos auf hochglanzpolierten Rolltreppen umherfahren, tief die aufbereitete Klimaanlagen-Luft einatmen oder Stechrochen und Haien hinterherglotzen, die in einem Aquarium hinter der weltgrößten Plexiglasscheibe ihre Bahnen ziehen. Oder man versucht – womit dann der Gipfel der Absurdität erreicht wäre – sein Glück auf der hauseigenen Kunstschneepiste.4 Aber ganz egal, was man tut: Man leistet auf jeden Fall einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur globalen Erwärmung. Die schicksten und teuersten Übernachtungsmöglichkeiten in Dubai sind das Burj Al-Arab Hotel 5 und das Palm Island Resort. Ersteres besitzt seinen eigenen Hubschrauberlandeplatz und nennt sich selbst wenig bescheiden „das luxuriöseste Hotel der Welt“; das Letztere hat man in den Jahren 2001 bis 2006 dem Meer abgerungen, indem in einer künstlichen Lagune hinter einem Wellenbrecher kleine Inseln in Form von Palmwedeln aufgeschüttet wurden.6 Wem ein bisschen Hitze nichts ausmacht, der kann auch lohnendere Sehenswürdigkeiten finden. Die immerhin vierzig Jahre alte Moschee im Stadtteil Dschumeirah beispielsweise soll die meistfotografierte Sehenswürdigkeit von ganz Dubai sein – und ganz gewiss ist sie eine der wenigen 133

3. Al-Imarat

Moscheen im Land, die auch „Ungläubige“ betreten dürfen. Mit ihrem blassgelb-grauen Stein, ihren beachtlichen Kuppeln und schlank aufragenden Minaretten, die sich gleichermaßen plastisch vor dem sattblauen Himmel abheben, fordert sie den Fotografen geradezu heraus, ein paar gelungene Schnappschüsse zu machen.7 Ganz in der Nähe erinnert eine Gedenkstätte mit einem enormen Fahnenmast an jenen Rundbau, in dem die versammelten Scheichs am 2. Dezember 1971 beschlossen, ihre Herrschaftsgebiete zusammenzuschließen  – die Geburtsstunde der Vereinigten Arabischen Emirate. Auch indische und iranische Viertel gibt es, die überaus lebendig sind. Die alte Festung Al-Fahidi, einst Residenz der Herrscherfamilie und heute Sitz des städtischen Museums, veranschaulicht wie kein zweiter Ort den scharfen Kontrast zwischen Gestern und Heute. Die zinnenbewehrten Mauern und runden Türme der Festung, die im späten 18.  Jahrhundert aus Lehmziegeln und Korallenblöcken erbaut wurde, kontrastieren mit einem uralten zweimastigen Segelschiff, einer arabischen Dhau, die mit ihrem typischen hohen Bug nun auf einem noch höheren Sockel thront. Allem Anschein zum Trotz ist die „gute alte Zeit“ hier aber noch gar nicht lange vergangen. Bevor in den frühen 1960er-Jahren das Öl zu sprudeln begann, lebten die wenigen Bewohner der Gegend verstreut und unter einfachsten Bedingungen entlang der sandigen Grenze zwischen Wüste und Meer. Kaum fünfzig Jahre ist es her, da gab es hier keine befestigten Straßen, keine Elektrizität, keine Trinkwasserversorgung, keine weltlichen Schulen, ja noch nicht einmal eine Erfassung der Geburten und Sterbefälle in einer Bevölkerung, die kaum 5 Prozent der heutigen Einwohnerzahl erreichte. Die alte Festung wachte mit ihren eher noch älteren Kanonen über einen winzigen Hafen; elegante Dhaus zogen auf den blauen Fluten des Golfs ihre Bahn; vielleicht hockten Fischer und Perlentaucher vor ihren Schilfhütten in der Sonne; vielleicht versteckten sie sich aber auch vor den Piraten, die in der Gegend zahlreich waren. Beduinenstämme aus dem Landesinneren kamen auf ihren Dromedaren an die Küste geritten; ab und an ging ein britisches Kriegsschiff vor Anker, und auch die Royal Air Force unterhielt eine Reihe von Flugplätzen, die, zur Kette gereiht, ein Teilstück der britisch-imperialen Luftfahrtroute von Irak nach Indien bildeten. Nordöstlich von Dubai drängen sich fünf kleinere Emirate auf der annähernd dreieckigen Landspitze, mit der die Arabische Halbinsel dort in die Straße von Hormus hineinragt, mit Iran am gegenüberliegenden Ufer. Dies ist der „Flaschenhals“ für den Schiffsverkehr im Persischen Golf; 20 Prozent der weltweiten Ölfördermenge werden durch die Straße von Hormus 134

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transportiert. (Der äußerste Vorsprung dieser Spitze, das gebirgige Kap Musandam, ist eine Exklave des östlichen Nachbarn der VAE, des Sultanats Oman.) Das Emirat Schardscha ist für seinen religiösen Konservatismus bekannt; Adschman, das von Schardscha ganz umschlossen wird, ist das kleinste der Emirate. Das weiter nördlich gelegene Emirat Umm alQaiwain ist am dünnsten besiedelt, beherbergt mit dem Dreamland Aquapark jedoch eine große Touristenattraktion. Ras al-Chaimah (was „Spitze des Zeltes“ bedeutet) besitzt ergiebige Eisenerzvorkommen.8 Das gebirgige Fudschaira schließlich, Heimat des Araberstammes der Asch-Scharqi, liegt an der Ostküste der Arabischen Halbinsel, am Golf von Oman. Das Emirat Schardscha (oder Asch-Schariqa) bietet einen reizvollen Kontrast zu Dubai: Es ist weniger überfüllt, weniger kommerziell, weniger protzig und hat ganz eigene Sitten. Und da Schardscha-Stadt nur eine kurze Taxifahrt vom internationalen Flughafen Dubai entfernt liegt, ist es tatsächlich ein idealer Zufluchtsort. Am ersten Verkehrskreisel auf der Einfahrt nach Schardscha weisen Verkehrsschilder auf islamische Institutionen wie den Obersten Familienrat oder die Islamische Bank von Schardscha hin. Das Hotel Al-Hamra, in dem ich als Nächstes unterkomme, liegt vielleicht ein oder zwei Güteklassen unter meiner vorherigen Luxusherberge, ist aber angenehm schlicht und wirkt gastfreundlich. (Sein Name bedeutet „das Rote [Haus]“ und entspricht genau demjenigen der berühmten Alhambra von Granada.) Ein Großteil der Empfangshalle wird von einem kastanienbraunen Beduinenzelt in Anspruch genommen, das mit Teppichen, Vorhängen und Kissen üppig ausgestattet ist. Über dem Rezeptionstresen hängt ein großes Porträt des Herrn „Scheich Dr. Sultan“, also von Seiner Hoheit Scheich Dr. Sultan bin Mohammed Al-Qasimi, dem Herrscher von Schardscha. Ein Hinweisschild im Aufzug bittet darum, „anständige Kleidung“ zu tragen; nackte Knie und nackte Schultern sind hier nicht erlaubt. Der Pool ist von den beiden Geschlechtern nur getrennt zu benutzen; jeden Tag gibt es zwei Nutzungszeiten für Männer und eine für Frauen. Durch ein winziges Fenster erspähe ich einen kleinen öffentlichen Park mit Rasenflächen und Blumenbeeten, dazu die ebenfalls eher kleine Moschee des Viertels, eine Palme sowie ein Geschäft mit dem vielversprechenden Namen Al-Britannya Grocery Store. In meinem Zimmer nimmt ein großer grüner Pfeil mit der Beschriftung Qibla etwa die Hälfte des Schminktisches ein. (Qibla bedeutet „Richtung“, und gemeint ist die Gebetsrichtung nach Mekka, die gläubige Muslime fünfmal am Tag einnehmen müssen, wie es der Pflicht zum salāt, zum muslimischen Ritualgebet, entspricht. 135

3. Al-Imarat

In den Lokalzeitungen sind täglich die genauen Gebetszeiten abgedruckt. Von Emirat zu Emirat variieren sie leicht, was mit kleinen Abweichungen in der Sonnenauf- und ‑untergangszeit zusammenhängt: c

Fadschr (Morgendämmerung)

Zuhr (Mittag)

Asr (Nachmittag)

Maghrib (Sonnen­ untergang)

Ischā (Abend)

Abu Dhabi

05:14

12:07

15:19

17:37

19:07

Al-Ain

05:09

12:02

15:14

17:32

19:02

Dubai

05:09

12:02

15:14

17:32

19:02

Fudschaira

05:05

11:58

15:10

17:28

18:58

R. A. K.*

05:05

11:58

15:10

17:28

18:589

c

Im Hotelzimmer liegt auch ein Faltblatt mit einer Gebetsanleitung bereit. Nach der vorgeschriebenen rituellen Waschung stellt sich der treue „Diener Gottes“ mit dem Gesicht in Richtung Mekka auf und verharrt einen Moment in stiller Reflexion. Dann folgt eine Sequenz genau vorgeschriebener Gesten und Bewegungen, die jeweils von der Rezitation eines rakat oder „heiligen Textes“ begleitet werden (manchmal wird auch die Kombination von Gesten und Texten zusammen als rakat bezeichnet). An erster Stelle steht die feierliche Verkündigung von Gottes Größe, „Allahu Akbar“, wozu die offenen Hände zu beiden Seiten des Kopfes erhoben werden; dann, zweitens, ein Eröffnungsgebet, das mit verschränkten Armen gesprochen wird; drittens ruft der Beter Allah an, wozu er sich tief verneigt und die Hände auf die Knie legt; als Viertes folgt ein längeres Gebet, das in aufrechter Haltung gesprochen wird, fünftens, sechstens und siebtens das dreimalige Niederwerfen vor der Allmacht Gottes in der Haltung, die als sudschūd oder sadschda bezeichnet wird und in der die Stirn des Gläubigen den Boden berührt; achtens setzt man sich aufrecht auf die Unterschenkel und Fersen; neuntens und zehntens dreht man den Kopf nach rechts, um die Engel zu grüßen, beziehungsweise nach links, um den Teufeln zu widersagen. Jeder Gebetszyklus dauert etwa fünf bis zehn Minuten, wodurch man mit den Pflichtgebeten mindestens eine halbe Stunde pro Tag zubringt.

* Die übliche Abkürzung für Ras al­‐Chaima, nach der englischen Transkription Ras al­‐Khaimah (Anm. d. Übers. T. G.).

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Das Frühstück im Hotel Al-Hamra ist anders als erwartet. Auf einem Fernseher läuft ein russisches Programm, wohl zugunsten einer lärmenden Reisegruppe aus Moskau: Ein orthodoxer Patriarch feiert einen Gedenkgottesdienst und verurteilt mit leidenschaftlichen Worten propaganda protiv Boga, „Propaganda gegen Gott“. Die Uhrzeit auf dem Bildschirm erinnert daran, dass Moskau in derselben Zeitzone liegt wie Dubai, weshalb denn auch die Russen den „Nahen Osten“ der westlichen Welt viel eher als ihren „Nahen Süden“ wahrnehmen. An einem anderen Tisch sitzt eine Gruppe von Spielern und Funktionären des Fußballclubs Al-Yarmouk aus Kuwait. (Der Name ihres Vereins erinnert an eine Schlacht zwischen arabischen Muslimen und byzantinischen Christen im 7. Jahrhundert unserer Zeitrechnung.) Die Fußballprofis wie auch die fidelen Moskowiter setzen sich beherzt über die örtlichen Gepflogenheiten hinweg, indem sie schamlos ihre nackten Knie zur Schau stellen. Eine saudische Familie, die ebenfalls beim Frühstück sitzt  – die Mutter trägt eine Vollverschleierung aus abaya und niqab –, schaut diskret zur Seite. Auf einer großen Landkarte an der Wand wird der Persische Golf als „Arabischer Golf“ bezeichnet. Schardscha liegt an einem Fluss, der in den Golf mündet. Sein ganzer Stolz ist die Corniche, eine lange Promenade, die sich über einige Kilometer – vom Jachthafen bis zur Al-Seef-Moschee – am Flussufer entlangzieht. Gesäumt von Bäumen, blühenden Sträuchern und schattigen Ruhebänken, ist hier der ideale Ort für einen Morgen- oder Abendspaziergang, zum Sehen und – Schleier hin oder her – Gesehen-Werden. Hier treffen Saris und Turbane auf abayas, dischdaschas und thabs (die letzteren zwei sind die üblichen Varianten des langärmeligen, knöchellangen Gewandes, das von so gut wie allen erwachsenen arabischen Männern getragen wird). Aber immerhin gibt es keine Religionspolizei, die kontrolliert, dass alle korrekt gekleidet sind – schließlich sind wir nicht in Saudi-Arabien. Auf einer schattigen Bank an der Corniche kann man ausgezeichnet die Morgenzeitungen durchsehen. In englischer Sprache stehen zwei Blätter zur Auswahl: Gulf News und The Gulf Today. Erstere Zeitung kommt aus Dubai, die zweite erscheint in Schardscha selbst. Beide leisten eine umfassende Berichterstattung über das Geschehen in der Welt, schlagen dabei aber einen spürbar vorsichtigen Ton an. In beiden Zeitungen ist das Datum doppelt angegeben: Sonntag, 15. Januar 2014 / Rabi Al-Awwal 17, 1435. Die Blattlinie ist eindeutig. Iran stößt, als schiitisches Land, auf Misstrauen. Die ägyptische Militärregierung, die gerade die Muslimbruderschaft unterdrückt hat, erntet damit Lob; Israel hingegen wird scharf verurteilt. In einem Beitrag auf der Titelseite von The Gulf Today sind die Glückwünsche 137

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der VAE an „das ägyptische Volk“ festgehalten.10 Bei Gulf News lautet die Schlagzeile: Keine Beziehungen zu Israel ohne Friedensabkommen.11 Ausführlich werden die Widersprüche in der amerikanischen Außenpolitik analysiert. Und noch ausführlicher ist nur die Berichterstattung zur englischen Premier League mit den aktuellen Spielen des FC Arsenal (der von Dubais Staatsfluglinie Emirates gesponsert wird) und von Manchester City (gesponsert von der Konkurrenz-Airline Etihad mit Sitz in Abu Dhabi). Wo immer von der Regierungspolitik der VAE die Rede ist, wird eine geradezu unterwürfige Ehrerbietung spürbar. Über den Bürgerkrieg in Syrien, der seit 2011, also inzwischen seit neun Jahren im Gange ist, erfährt man so gut wie nichts. Auch zu den Aktivitäten ihres exzentrischen Nachbarn Katar schweigen die emiratischen Zeitungen. In der internationalen Presse ist – im Unterschied zu den einheimischen Zeitungen  – mehrfach davon die Rede, dass mehrere Golfstaaten, darunter die VAE, in Syrien regierungsfeindliche Kräfte unterstützen. Dieses Vorgehen speist sich zum einen aus einer Abneigung gegen das Assad-Regime, zum anderen aus der Solidarität mit den syrischen Sunniten, und teils wohl auch aus der Hoffnung, die Stabilität in Syrien wiederherstellen zu können. Bei den Konflikten in Libyen und Jemen scheinen die Emirate inzwischen eine ganz ähnliche Strategie zu verfolgen. Man darf wohl vermuten, dass in allen drei Fällen genau der entgegengesetzte Effekt eintritt.12 Spätestens um 11 Uhr vormittags treibt die Hitze alle nach drinnen. Das prachtvolle „Museum der islamischen Zivilisation“ direkt an der Corniche bietet kühle, wohltuende Zuflucht. Das 2008 eröffnete Museum ist in einem langgestreckten, eleganten Gebäude aus Honigstein untergebracht, über dem eine goldene Kuppel thront. Hier sollen nicht nur die weltweiten Errungenschaften der islamischen Kultur präsentiert werden, sondern  – was vielleicht noch ambitionierter ist – auch die Grundlagen des Islam in einer ausgewogenen und keineswegs triumphalistischen Form. Überall tragen zweisprachige Beschriftungen – auf Arabisch und in einem hervorragend übersetzten Englisch  – zum weiteren Ansteigen meiner ohnehin schon steilen Lernkurve bei. So bedeutet das Wort „Islam“ beispielsweise „Unterwerfung unter Gott“. In einer Abteilung, die sich den „fünf Säulen des Islam“ widmet, ist von der „am schnellsten wachsenden Religion weltweit“ die Rede; im Einzelnen wird der Besucher mit den Grundlagen des islamischen Glaubens vertraut gemacht: der schahāda (dem „Glauben an den einen Gott und Seinen Propheten“); dem salāt (dem fünfmal-täglichen Gebet) und zakat (der Pflicht zum Almosengeben); dem saum (Fasten 138

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­ ährend des Ramadan) und schließlich der hadsch, der Pilgerfahrt nach w Mekka. Dazu gibt es eine Ausstellung mit wirklich wunderschön handgeschriebenen Exemplaren des Koran sowie große Modelle der prachtvollsten Moscheen dieser Welt, von Marokko bis Jakarta. Eine andere Abteilung präsentiert einen Überblick über die Wissenschaft und Technik des islamischen Mittelalters, deren stupende Fortschritte in Astronomie, Mathematik, Chemie, Kartografie, Medizin und Ackerbau in der Forschung inzwischen außer Frage stehen. Die Museumsbesucher können selbst Hand anlegen und voll funktionsfähige Modelle von Astrolabien, Schneckenpumpen, Gerätschaften zur Papierherstellung oder zur Destillation von Rosenwasser ausprobieren (Letzteres eine eindrucksvolle Apparatur aus Kupfer und Glas). Es gibt so viel zu sehen und zu erleben, dass die Stunden wie im Flug vergehen, dabei warten im Obergeschoss noch vier riesige Ausstellungssäle mit Keramik, Teppichen und anderen Textilien, Metallarbeiten, Waffen und Musikinstrumenten. „Wer sich auf den Weg macht, um nach Wissen zu suchen“, sagt der Prophet Mohammed einmal, „dem ebnet Gott einen Weg zum Paradies.“* Wenn man das „Museum der islamischen Zivilisation“ verlässt, schwirrt einem der Kopf vor so vielen schönen Eindrücken und offengebliebenen Fragen – aber es fällt auch auf, dass es sich bei fast allen nicht religiösen Ausstellungsstücken, die mit dem „Goldenen Zeitalter der islamischen Zivilisation“ zusammenhängen (also den fünf Jahrhunderten nach dem Tod des Propheten), um Repliken gehandelt hat. Mehr als tausend Jahre lang haben die Anhänger des Islam ihr kulturelles Erbe also, wie es scheint, entweder vernachlässigt oder sogar vorsätzlich zerstört. Heute sprudeln glücklicherweise die Erdöleinnahmen, und so können viele Kulturstätten, die lange dem Verfall preisgegeben waren, endlich gerettet oder rekonstruiert werden. So wurde beispielsweise die alte Stadtmauer von Schardscha mitsamt ihren Toren und Türmen nachgebaut und umschließt nun ein eigenes „Kulturviertel“ innerhalb der Stadt. Und die Restaurierungsarbeiten an der ehemaligen Festung der Emire von Schardscha schreiten ebenfalls voran – in einer Straße, die zu beiden Seiten von Wolkenkratzern gesäumt wird. Das Kalligrafiemuseum von Schardscha ist eine weitere Perle, die von dem gegenwärtig wiederauflebenden Interesse an der islamischen Kultur profitiert. Bei meinem Besuch hatte ich es ganz für mich – wenn man von * Zit. nach der Ausgabe des Hadith von Adel Th. Koury (Lizenzausgabe WBG 2008), Bd. 1, S. 39.

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dem Aufsicht führenden Kustos einmal absieht, der mich zu einem Eintrag in das bereitliegende Gästebuch drängte. Kalligrafie  – dieses griechische Wort bedeutet wörtlich „schöne Schrift“ oder „Schön-Schreibung“ – heißt auf Arabisch khatt, „Gestaltung“. Ihre große Bedeutung in der islamischen Kultur verdankt sich dem strengen Bilderverbot im Islam. Vor allem im Mittelalter hat die islamische Welt einige heftige Phasen dessen erlebt, was in der christlichen Tradition als „Ikonoklasmus“  – wörtlich: „BilderBruch“ – oder „Bildersturm“ aufgetreten ist (etwa im Gefolge der Reformation). Also flossen die kreativen und dekorativen Impulse im Islam in das aufwendige Kalligrafieren religiöser Texte, vor allem des Koran. Dabei gibt es zwei grundlegende Schrifttypen: eine eher „eckige“ Schrift, die ursprünglich für Inschriften verwendet wurde, und eine „fließende“ oder Kursivschrift. Die erstere Variante ist die ältere von beiden; sie entstand bereits im 7. Jahrhundert und wird nach der heute irakischen Stadt Kufa die „kufische Schrift“ genannt. Die zweite Variante, die ab dem 10. Jahrhundert Verbreitung fand, tritt in vier Untervarianten auf, die thuluth, naschī, reqā und muhaqqaq heißen. In Persien, am osmanischen Hof und im westlichen China entwickelten sich ausgeprägte regionale Spielarten dieser Schriften. Allen gemein ist, dass sie mit einem „Schreibrohr“ oder qalam aus Schilf auf Papier oder Pergament geschrieben werden, aber auch auf Kacheln, Textilien und Münzen zum Einsatz kommen. „Die Kalligrafie“, heißt es, „ist die Blüte der menschlichen Seele.“ Glücklicherweise braucht es keine großen Fach- oder gar Arabischkenntnisse, um die Schönheit der islamischen Kalligrafie zu würdigen, ganz egal, ob es sich um die elegante Strenge der kufischen Schrift handelt oder um den verspielten Einfallsreichtum der kursiven Varianten. Schon bald hat man gelernt, die basmala zu erkennen, die Anrufungsformel „Im Namen Allahs, des Barmherzigen und Gnädigen“, die im arabischen Original vier Worte umfasst und in Tausenden von kalligrafischen Varianten gestaltet werden kann, von denen eine einfallsreicher und plastischer ist als die nächste. Außerdem ist die islamische Kalligrafie eine höchst lebendige Kunstform; zahlreiche Ausstellungsstücke des Museums sind das Werk von Gegenwartskünstlern aus allen Teilen der Erde. In allen großen Basaren und Einkaufszentren findet man professionelle Kalligrafen, die für ein Honorar kunstvolle „Maßanfertigungen“ zu Papier bringen – durchaus auch als ein herrliches Souvenir für Touristen. Einer von diesen Profis ist Amir Hossein Golshani im Suk (Basar) Chan Murdschan in Dubai, ein anderer der irakische Künstler Uday al-Aradschi, der seine Werke und die dahinterstehende Philosophie auf seiner Internetseite 140

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wie folgt beschreibt: „Uday Aradschi versteht die arabische Kalligrafie als eine Kunst, die mit Formen, Farben, Raumgestaltung, dem Goldenen Schnitt und vielem mehr zu tun hat. [Er] nutzt alle Elemente dieser Kunstform, um visuelle Schönheit erfahrbar zu machen, [und] beherrscht sämtliche Formen der arabischen Kalligrafie. … Alle [seine] Werke entstehen in Handarbeit … auf speziellem Papier.“13 Das islamische Banken- und Finanzwesen ist ein weiteres Thema, das die nähere Beschäftigung lohnt. Im Ausland stößt es oft auf Ablehnung, weil dort die Scharia – das islamische Rechtssystem – ganz unfairerweise oft als ein barbarischer Verhaltenskodex gilt, der außer Enthauptungen für Abtrünnige und Steinigung bei Ehebruch nicht viel zu sagen hat. Dabei ist es nach dem skandalösen Verhalten vieler westlicher Bankmanager in den letzten Jahrzehnten doch einmal sehr erfrischend, wenn ein Finanzsystem ganz augenscheinlich auf ethischen Prinzipien beruht. Im islamischen Wirtschaftsverständnis ist ein freier Markt nicht vorgesehen; Spekulation ist ebenso verpönt wie allzu hohe Zinsen. Stattdessen gilt ein Ethos der finanziellen Fairness, das die Starken davon abhalten soll, die Schwachen auszubeuten, und wodurch das Risiko von Kreditgebern und Kreditnehmern gemeinsam getragen wird. In den Vereinigten Arabischen Emiraten hat die „Islamische Bank von Schardscha“, die 1975 als Nationalbank von Schardscha gegründet wurde, diesen Sektor entscheidend geprägt. Wer in Schardscha shoppen gehen möchte, sollte dies am besten in der Kühle des Abends tun. Die Betreiber der Marktstände in den Suks helfen einer Touristin genauso gern, eine rundum züchtige schwarze abaya zu finden, wie ihrem Begleiter, der eine blütenweiße, bodenlange dischdascha sucht. Anders als die vom Erfolg verdorbenen Ladenbesitzer in den klimatisierten Einkaufszentren von Dubai haben sie Zeit, mit ihren Kunden zu plaudern und ihnen mit ihrer Aufmerksamkeit zu schmeicheln. Einer erwischte mich, als ich gerade im Schatten vor dem Suk Al-Arsa eine Zigarettenpause einlegte. Gestenreich lud er mich ein, seine Waren zu begutachten, und führte mich am Arm in das Innere des Ladens, wo er umständlich und unter allerlei Scherzen seine Kollektion von dischdaschas ausbreitete, deren Größe und vor allem Länge er dabei genauestens prüfte. Zur Sicherheit kaufte ich gleich auch noch eine rot-weiße kufiyah samt dem passenden agal zur Befestigung und einer taqiyah-Kappe als Fundament – vermutlich alles Made in China. Den schönen Abendspaziergang über die Corniche sollte man sich jedenfalls nicht entgehen lassen. Auf dem Fluss wetteifern Dhaus mit Motorbooten, Paare schlendern über die Promenade, und selbst die Kinder müssen 141

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noch nicht ins Bett. Die untergehende Sonne taucht die Minarette der ­Al-Seef-Moschee in ein rosiges Licht, bis die Beleuchtung angeht und den Bau in lebhafte Violett- und Grüntöne hüllt. Mein Tag endet mit einem Bad im Pool auf dem Hoteldach, den ich ganz für mich habe. Auf dem Wasser spiegelt sich das Mondlicht. Abu Dhabi, rund 120  Küstenkilometer westlich von Dubai und etwa 160 Kilometer von Schardscha entfernt gelegen, ist sowohl die Hauptstadt der VAE als auch der Sitz des gleichnamigen Emirats, das mit fast 90 Prozent den Löwenanteil an der Gesamtfläche der Föderation ausmacht. Die geläufigste Übersetzung seines Namens lautet „reich an Gazellen“, was vielleicht mit einem altehrwürdigen Wasserloch oder einer Tränke zu tun hat. Über mehrere Jahrzehnte hinweg hat Abu Dhabi sich eher im Hintergrund gehalten, während man in Dubai Pionierarbeit leistete, was den Einsatz von Erdöleinnahmen zur Anbahnung internationaler Kontakte und Partnerschaften anging. So wurden dort Innovation, Expansion und Investitionen aus dem Ausland gleichermaßen gefördert, und das mit geradezu halsbrecherischer Geschwindigkeit: „zwei oder drei Manhattans in einem Viertel der Zeit“, so hat jemand einmal das explosionsartige Wachstum von Dubai beschrieben. In den ersten zehn Jahren des 21. Jahrhunderts hat der vom Gulf Co-operation Council (GCC) vertretene Handelsblock ausländische Investitionen in Höhe von mehr als 30  Milliarden US-Dollar eingeworben.14 Doch während der großen Rezession von 2008 sprang die Wundermaschine von Dubai beinahe aus dem Gleis: Gleich mehrere Staatsunternehmen hatten Schuldenberge angehäuft, die sie nicht mehr zurückzahlen konnten – doch Rettung nahte, und sie kam aus Abu Dhabi. Das Bauvorhaben für den Burdsch Chalifa beispielsweise, der ursprünglich Burdsch Dubai heißen sollte, wurde von Abu Dhabi vor dem drohenden Zahlungsausfall gerettet; als Gegenleistung kam es zu der Namensänderung, sodass der fertige Wolkenkratzer nach dem Emir von Abu Dhabi benannt wurde. In der internationalen Presse war viel von dem „spektakulären Absturz Dubais“ die Rede, in letzter Zeit dann auch davon, dass das Emirat sich wieder „auf dem Weg der Besserung“ befinde.15 Dubais Strategie zur Wirtschaftsförderung wurde überarbeitet.16 Inzwischen hatte Abu Dhabi seinen eigenen schwindelerregenden Aufstieg begonnen. Die Ölreserven des Emirats werden auf 97,8  Milliarden Barrel geschätzt, das sind umgerechnet mehr als 15,5 Billionen Liter, beziehungsweise die Fördermenge eines ganzen Jahrhunderts. Die Fluglinie ­Etihad aus Abu Dhabi wurde zwar erst 2003 gegründet, ist inzwischen aber 142

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eine ernsthafte Konkurrentin der traditionsreichen Emirates aus Dubai. Auch in anderen Bereichen holt das traditionell einflussreichere Emirat Abu Dhabi inzwischen auf – etwa in der High-Tech-Rüstungsproduktion und bei der Atomenergieerzeugung. Über kurz oder lang wird wohl Abu Dhabi, das aktuell etwa 40 Prozent des Gesamt-Bruttoinlandsprodukts der VAE erwirtschaftet, mehr als die Hälfte erzielen. Die Kernpunkte der auf dieses Ziel gerichteten Ambitionen lassen sich einem Planungspapier namens Abu Dhabi Vision 2030 entnehmen, das neben der Vorhersage eines atemberaubenden Wirtschaftswachstums vier konkrete Großprojekte entwirft.17 Eines davon, der Khalifa Port („Chalifa-Hafen“), der auf einer dem Meer abgerungenen Insel vor der Küste entstehen soll, tritt nun schon langsam in die Bauphase ein.18 Das zweite Projekt, ein gigantisches Industriegebiet namens Khalifa Industrial Zone (KIZAD), soll auf einer Fläche von 417 Quadratkilometern Küstenland entstehen und damit eines der größten Industriegebiete der Welt werden.19 Das dritte Projekt ist auf der Insel Saadiyat vor dem Hafen von Abu Dhabi angesiedelt20 und umfasst Koopera­ tionen mit Kultureinrichtungen wie dem Guggenheim-Museum in New York, dem Louvre in Paris und dem Britischen Museum in London; das vierte, Masdar City, entsteht in der Wüste jenseits des Flughafens von Abu Dhabi und soll in den Jahren 2020–2025 fertiggestellt werden. Ein Selbst­ bewusstsein von solchem Format muss man sich erst einmal leisten können. Der spektakuläre Jachthafen auf der Insel Yas ist seit 2009 Austragungsort von Rennen der Formel 1 („Großer Preis von Abu Dhabi“). Masdar City wird als ein „arkologisches Projekt“ beschrieben. Wie sich herausstellt, ist „Arkologie“ ein Kunstwort, das die Verschmelzung von Architektur und Ökologie ausdrücken soll und von dem visionären italienischen Architekten und Stadtplaner Paolo Soleri (1919–2013) geprägt wurde. In den 1970er-Jahren wurde auf Soleris Planung und Betreiben die Experimentalstadt Arcosanti in der Wüste von Arizona (USA) erbaut.21 Masdar City orientiert sich eng an dem Vorbild von Arcosanti, nur dass die Planung dieses Mal von einer anderen Architektenlegende, Sir Norman Foster, verantwortet wurde. Mit Masdar City soll eine autarke urbane Umgebung geschaffen werden, die ihrer lebensfeindlichen Umwelt nicht nur trotzt, sondern sogar Nutzen daraus zieht. Eine äußere Ringmauer wird den Wüstenwind abhalten, während ein gigantisches Luftkühlungssystem die Temperaturen auf den Straßen von Masdar City um 15 bis 20 °C absenken soll; die dafür – und für alles andere – benötigte Energie liefern 88 000 Solarmodule. Schon bald sollen hier Forschungsinstitute, Unternehmen und bis zu 50 000 sorglose Einwohner angesiedelt werden, die sich „sauberen Technologien“ 143

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und alternativen Energiequellen verbunden fühlen. Es wird keine Autos geben, keine Wolkenkratzer, keine Zersiedelung des Umlandes, keinen Kohlendioxid-Ausstoß und keinerlei Luftverschmutzung.22 Die Bundesregierung der VAE hat übrigens einige noch ambitioniertere Projekte angekündigt. Dazu gehören ein „Regenmacherberg“, der aufgeschüttet werden soll, um für mehr Niederschläge zu sorgen, vier Atomkraftwerke und eine unbemannte Marsmission, die von 2021 an die Atmosphäre des Wüstenplaneten untersuchen soll.23 Abu Dhabis stolzestes Monument ist jedoch bereits gebaut: die gewaltige Scheich-Zayid-Moschee, ohne deren Besuch man wohl weder das geistige Umfeld der wirtschaftlichen Expansion am Golf noch die Rolle des sogenannten „gemäßigten Islam“ wirklich verstehen kann. Das prachtvolle Bauwerk, das im Ramadan 2008 eröffnet wurde, soll als religiöses Glanzstück all die profanen Wolkenkratzer, Einkaufszentren und Paläste überstrahlen. Seine Abmessungen sind enorm; den Boden im großen Gebetssaal bedeckt der größte am Stück gefertigte Teppich der Welt. Dennoch wirken die geschwungenen Linien seiner Kuppeln, Minarette und Innenhöfe warm und elegant, und die allgegenwärtigen Blumenmuster im Inneren der Moschee haben etwas Frisch-Einladendes, beinahe Kindliches. Nach Einbruch der Dunkelheit, wenn die hoch aufragende Moschee sich im zartgrünen Licht der Scheinwerfer vom dunklen Nachthimmel abhebt – Grün ist schließlich die Farbe des Propheten –, strahlt sie eine rätselhafte Spiritualität aus. Dennoch wirkt sie weder triumphal noch bedrohlich. Auch Nichtgläubige sind hier jederzeit willkommen. Die Besucher kommen und gehen, und selbst an diesem heiligen Ort tragen Frauen zwar die abaya und bedecken ihre Köpfe, verhüllen jedoch nicht ihr Gesicht. Mit ihren Freunden und Familien fahren sie vor, lachen und schwatzen, schelten auch einmal ihre Ehemänner und fahren zuletzt selbst wieder vom Parkplatz. Der Mann, nach dem die Scheich-Zayid-Moschee benannt ist, Scheich Zayid bin Sultan al-Nahyan (1918–2004), war der Gründervater der Vereinigten Arabischen Emirate. (Scheich bedeutet eigentlich „Ältester“ und ist der übliche Ehrentitel für beduinische Stammesführer, oft verwendet man es auch anstelle des formelleren Emir, das heißt „Fürst“; bin Sultan heißt „Sohn des Sultan“ und ist ein sogenanntes Patronym (Vatersname); und al-Nahyan ist der Name des Stammes, der Abu Dhabi in seiner ganzen jüngeren Geschichte regiert hat.) Zayid, der nach arabischen Begriffen noch in der Vormoderne geboren wurde, wuchs größtenteils in der Wüste auf, zwischen den Zelten seines Clans. Seine Erziehung beschränkte sich weitgehend auf die traditionellen Fertigkeiten der Beduinen, auf das 144

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Überleben in der Wüste. Sowohl sein Vater, Scheich Sultan, als auch dessen Nachfolger als Herrscher über Abu Dhabi, Scheich Saqr, fielen Atten­ taten zum Opfer. Über Jahrzehnte lebte Zayid im Schatten eines älteren Bruders, bevor er 1966, gerade rechtzeitig zu Beginn des großen Ölbooms, selbst auf den Thron kam. In die vierzigjährige Herrschaft Scheich Zayids fielen drei große Errungenschaften, für die der Herrscher heute berühmt ist: erstens die Schaffung der VAE nach fünf Jahren zäher Verhandlungen mit den Briten, zweitens seine Strategie einer „Begrünung der Wüste“ durch ölfinanzierte Wohlfahrts- und Entwicklungsprojekte sowie drittens eine beispiellose Ära inneren wie äußeren Friedens. Zayid war beileibe kein Liberaler, sondern ein frommer Muslim mit vier Frauen, und ein Despot, der keinen Widerspruch duldete. Als die New York Times ihn einmal nach der Aussicht der VAE auf ein demokratisches Parlament fragte, antwortete er: „Warum soll man ein System einführen, das nur zu Meinungsverschiedenheit und Konfrontationen führt?“ Aber er war auch ein geschickter Vermittler, ein großzügiger Wohltäter und ein aktiver Verteidiger der Stabilität in der Region. Nachdem ihn die anderen Scheichs 1971 zum ersten Präsidenten der VAE gewählt hatten, blieb er in diesem Amt bis zu seinem Tod im Jahr 2004.24 Im Gegensatz zur Scheich-Zayid-Moschee gibt sich das mit sieben Sternen ausgezeichnete Emirates Palace Hotel in Abu Dhabi ganz ungeniert als Tempel des Mammon. Als Normalsterblicher kann man seine umwerfende Opulenz kaum begreifen. Eine Penthouse-Suite mit Blick auf den Golf ­kostet schlappe 11 000 Dollar pro Nacht; im Restaurant steht eine Flasche Saint-Émilion Grand Cru für 17 500 Dollar auf der Weinkarte; und auf dem Hotelflur findet sich ein „Gold-to-go“-Automat, der für 5000  Dollar das Stück Miniatur-Goldbarren ausgibt. Hoch über den Köpfen der staunenden Besucher bringen Arbeiter an der Decke zwischen ausladenden Swarowski-Kronleuchtern Applikationen aus Blattgold an, während sich Touristen heimlich auf die Toiletten schleichen, um deren Pracht mit eigenen Augen zu sehen. David Beckham, der englische Fußballstar, hat hier übernachtet, als er zum Kauf einer Villa auf der „Palmeninsel“ Palm Jumeirah in Dubai war; die restlichen Häuser waren Berichten zufolge binnen einer Woche ausverkauft. Aber das Emirates Palace ruht sich keineswegs auf seinen Lorbeeren aus. Eine ständige Ausstellung im Untergeschoss des Hotels umfasst spektakuläre Dioramen der geplanten Kulturquartiers auf der Insel Saadiyat, einschließlich futuristischer, maßstabsgetreuer Modelle des künftigen ZayidNationalmuseums, des Guggenheim AD und des Louvre AD, die allesamt 145

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von Meerwasser umgeben sein werden. Das Nationalmuseum aber wird die absolute Hauptattraktion sein. Aus fünf Edelstahl-Türmen soll es bestehen, die die Form von Bienenflügeln haben werden. Ein wenig wie die Flame Towers von Baku sehen sie aus, und diese Form soll – im Sinne einer sogenannten „solaren Klimatisierung“  – als eine Art natürlicher Klima­ anlage wirken. Der Entwurf für die Guggenheim-Dependance sieht eine ganz ähnliche Ansammlung asymmetrischer Formen vor, die nun allerdings in Beton ausgeführt werden. Als Verbindungselemente zwischen den Gebäuden dienen gewaltige Röhren aus Milchglas. Der Louvre-Komplex (Eröffnung war im November 2017) besteht aus vielen kleinen Gebäuden und Palmengärten, über denen ein freistehendes „UFO-Dach“ zu schweben scheint. Und diese Zukunft, die in dem Plan für eine Vision 2030 entworfen wird, soll in knapp einem Jahrzehnt schon Wirklichkeit geworden sein. „Wenn der Mensch Pläne schmiedet“, sagt jedoch ein arabisches Sprichwort, „kann Gott nur schmunzeln.“ Die wagemutige Architektur der Abu Dhabi Vision 2030 ist von Fachleuten durchweg gelobt worden. Die Motive jedoch, die dahinterstehen, haben nicht selten für Stirnrunzeln gesorgt. Manche halten das Vorhaben für den Ausdruck einer massiven, vom Öl-Reichtum befeuerten Eitelkeit; andere können darin nichts anderes als tätige, leidenschaftliche Vaterlandsliebe erkennen, einen Beitrag zur andauernden „Staatswerdung“ der VAE: Seit Menschengedenken waren die Emiratis und ihre Vorfahren Nomaden, die in der Wüste umherzogen. Jetzt muss man sie erst einmal davon überzeugen, dass ihr raketengleicher Flug in die Zivilisation der Gegenwart mehr gewesen ist als nur eine Fata Morgana. Ähnliche Vorhaben gibt es auch im benachbarten Katar, dem reichsten Land der Erde, und nach Ansicht der New York Times besteht der Sinn der Übung in beiden Fällen darin, „die nationale Identität neu zu definieren“, „das angeschlagene arabische Image aufzupolieren“ und „eine Balance zwischen Modernisierung und islamischer Tradition zu finden. „Scheich Chalifa [der Präsident der VAE] und seine Regierung wollen erreichen, dass eine junge Generation von Emiratis stolz ist auf ihre Nation; zugleich wollen sie ihnen aber auch das nötige intellektuelle wie psychologische Handwerkszeug vermitteln, um in der Weltgesellschaft von heute bestehen zu können.“25 In seiner heutigen Gemütslage zeigt Abu Dhabi also mehr Interesse an der Zukunft als an der Vergangenheit. Die historische Festungsanlage der Stadt ist weit weniger bedeutend als die von Dubai; und das bescheidene Museumsdorf, mit dem weit draußen am Jachthafen die vielfältigen Unterschiede zwischen gestern und heute greifbar gemacht werden sollen, 146

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übersieht man leicht. Vor dem Eingang lungern Jugendliche in traditioneller arabischer Kleidung auf der Ufermauer herum – wobei sie unweigerlich ihre makellos weißen Gewänder beschmutzen – und feuern ihre Kameraden an, die mit Rennboten durch das Hafenbecken pflügen. Man setzt sich einfach auf eine nahe gelegene Bank, lässt den Blick über das Wasser schweifen, wo protzige Wolkenkratzer über der Abu-Dhabi-Variante einer Corniche emporragen, und sinnt darüber nach, dass hier noch vor einigen Jahrzehnten nichts war als nur ein menschenleerer Strand. Wer die Oase Al-Ain besuchen will – der Name bedeutet entweder „das Auge“ oder „die Quelle“ –, muss sich auf eine zweistündige Autofahrt über die leere, sandüberwehte Schnellstraße gefasst machen, die von Abu Dhabi aus in Richtung Süden führt. Auf dem Weg fährt man ein Stück am Be­grenzungszaun des Luftwaffenstützpunkts Al-Dhafra entlang, wo neben den F16-Kampfjets der emiratischen Streitkräfte auch amerikanische Truppen stationiert sind. Früher war Al-Ain „nur“ eine von Saudi-Arabien beanspruchte Oase; heute ist es zu einer beachtlichen Stadt herangewachsen, die mehrere Universitäten, Forschungsinstitute und produzierende Unternehmen beherbergt. Auch diese Siedlung hat jedoch überraschend weit zurückreichende Wurzeln. In der Hitze des Tages bin ich der einzige Besucher am archäologischen Freilichtmuseum von Hili. Der überaus motivierte Fremdenführer holt sofort zu einem im wahrsten Sinne des Wortes erschöpfenden Rundumschlag aus: Wir besichtigen alle und sämtliche prähistorischen Grabhügel, Hügelgräber und Grabkammern in der näheren Umgebung. Mein australischer Buschhut kann einen Sonnenstich gerade so abhalten. „Mad dogs and Englishmen …“, murmele ich vor mich hin.* Es ist kaum zu glauben: Schon während der Bronzezeit, vor 7000 Jahren, lebten hier Menschen. Das Basrelief eines Löwen, das sich seit 5000 v. Chr. auf einer Steinplatte der großen Grabkammer findet, regt die Vorstellungskraft an, genauso wie die Erzählungen von prähistorischen Kupferminen, von Kamelkarawanen, die die Arabische Halbinsel durchqueren, und vom Seehandel mit dem alten Mesopotamien. Mein Besuch im Archäologiepark war auf jeden Fall die bessere Wahl im Vergleich mit der benachbarten Hili Fun City.

* In dem sprichwörtlich gewordenen Refrain des 1931 von Noël Coward veröffentlichten

Chansons Mad Dogs and Englishmen heißt es: Mad dogs and Englishmen go out in the midday sun – „[nur] tolle Hunde und Engländer gehen in der Mittagssonne spazieren“ (Anm. d. Übers. T. G.).

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Im Herzen der Oase gibt es ein ausgedehntes Netz von antiken Bewässerungskanälen und dazu willkommenen Schatten. Mehr als 100 000 Dattelpalmen gedeihen hier prächtig  – dem faladsch-Bewässerungssystem sei Dank. Diese uralten Wasserkanäle fließen in der Oase über eine Reihe gestufter Ebenen hinab und versorgen so eine Fläche von mehr als zwölf Quadratkilometern mit dem kostbaren Nass. Für die Beduinen – und nicht nur für sie – sind der Geschmack saftiger Datteln und das leise Plätschern fließenden Wassers ein wahrer Balsam für die Seele. Das Prunkstück von Al-Ain ist jedoch zweifellos das Fort Al-Dschahili – eine wuchtige Festung wie aus einem alten Abenteuerfilm, halb Indiana Jones, halb Lawrence von Arabien. Rund um die hellen Lehmmauern erstreckt sich ein Meer von Dünen bis ins Unermessliche. Wenn man das Tor durchschreitet, kommt man in einen Innenhof, auf dessen Steinpflaster eine Handvoll mit Kalk weiß getünchter, niedriger Gebäude verteilt sind. Heute beherbergen sie das Stadtmuseum, aber früher einmal war dieses Fort die Residenz des Provinzgouverneurs sowie das Hauptquartier der Trucial Oman Scouts (siehe unten). Ein betagter Kellner  – ein Relikt des britischen Empire ganz wie ich selbst – gießt mir aus der schnabelartigen Tülle einer reich punzierten Bronzekanne süßen arabischen Kaffee ein. „Die TOS-Piloten“, beginnt er, „haben das Fort als Flugplatz genutzt. Mit ihren Doppeldeckern sind sie direkt vor den Mauern auf dem Sand gelandet und geradewegs hier hereinspaziert, um sich einen Drink zu genehmigen.“ Meine größte Überraschung stand mir allerdings noch bevor. Als ich meinen Kopf in einen Ausstellungsraum des Stadtmuseums stecke, stellt sich heraus, dass dieser dem britischen Schriftsteller und Forschungsreisenden Sir Wilfred Thesiger (1910–2003) gewidmet ist. Ein bisschen etwas wusste ich über ihn. Er hatte am Magdalen College in Oxford studiert, wie ich selbst; auch sein Buch Arabian Sands (dt. Die Brunnen der Wüste), ein Klassiker der Reiseliteratur, war mir bekannt. Ich hatte ihn immer für einen typischen Spätviktorianer gehalten, einen eigenwilligen Exzentriker vom Schlag eines Richard Burton oder eines Charles M. Doughty. In diesem Ausstellungsraum nun füllte ein herrliches Foto von ihm eine ganze Wand aus: Hoch auf einem Felsen stehend und in die traditionelle Tracht der Beduinen gekleidet, trägt Thesiger darauf einen Karabiner nebst einem Gewirr von Patronengurten und dem dazu passenden, ein wenig hochmütigen Lächeln. Der Mann auf dem Foto ist schmutzig, sonnenverbrannt und bärtig wie ein Bär – so gar nicht der viktorianische Schöngeist, den ich im Sinn gehabt hatte. Neben ihm stehen die beiden jungen Beduinen, die ihn über fünf Jahre hinweg auf seinen Reisen durch die Rub al-Chali, das 148

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„Leere Viertel“ von Arabien, begleitet haben. Am meisten überraschte mich jedoch die Jahreszahl, mit der das Foto datiert war. Nachdem er die Arabische Halbinsel zu Fuß durchquert hatte, tauchte Thesiger eines Tages aus den Weiten der Wüste auf und gelangte nach Al-Ain – im Jahr 1959! Dabei sahen das ganze Foto und insbesondere Thesigers Erscheinungsbild eher nach 1859 aus. Auf der Rückfahrt an die Küste führt die untere Straße von Al-Ain direkt durch die Oase Al-Wathba, das Mekka des Kamelrennsports, das Newmarket oder Ascot aller Kamelliebhaber. Jedes Jahr findet hier der ScheichZayid-Grand Prix statt, bei dem während fünf Tagen im Januar etwa 10 000 Kamele (oder vielmehr deren Eigentümer) um üppige Preisgelder konkurrieren. In der Nebensaison finden hier auch Rad- und Pferderennen statt. Für Uneingeweihte ist Camelus dromedarius ein eher hässliches, plumpes und übelriechendes Tier. Sein Gesicht zieren drei Paar Augenlider und übertrieben lange Wimpern; sein Rücken wird durch einen seltsamen Höcker verunstaltet; beim Wiederkäuen macht es laute, abstoßende Geräusche wie eine Kuh und bekommt dann ebenso heftige wie unschöne Blähungen; wenn man es ärgert, dann spuckt es voller Bosheit;* sein Urin hat eine sirupartige Konsistenz und es paart sich – ein Unikum im Tierreich – in sitzender Haltung. Für den Beduinen jedoch ist so ein Dromedar ein Lebensretter: ein zähes Lasttier; das beste Transportmittel für die Reise in der Wüste; dazu noch eine Quelle von Fleisch, Milch, Leder, Fell und Brennstoff in Form von Dung; für die Emiratis von heute schließlich ist das Dromedar die Verkörperung ihres kulturellen Erbes. Sie lieben ihre Dromedare, wie viele Europäer Pferde lieben. Wenn sie zum Kamelrennen gehen, dann nehmen sie Tuchfühlung mit ihrer Vergangenheit auf. Außerdem kann so ein Dromedar – trotz seiner Spreizfüße und ungelenk wirkenden Beine  – ein durchschnittliches Rennpferd problemlos überholen und selbst über lange Distanzen eine Reisegeschwindigkeit von 40 km/h beibehalten. Um ein Dromedar zu reiten, benötigt man einen speziellen Sattel, der oben auf dem Höcker festgeschnallt wird; die Jockeys müssen natürlich möglichst klein und leicht sein, meist sind sie noch halbe oder sogar ganze Kinder. Mit ihren Knien klammern sie sich mehr schlecht als recht fest – und nicht selten kommt es zu Unfällen: Da sie doppelt so hoch sitzen wie ein Pferdejockey, können sie auch doppelt so tief fallen und verletzen sich dabei schwer. * Bei der vermeintlichen „Kamelspucke“ handelt es sich jedoch nicht tatsächlich um Speichel, sondern um halbverdauten Nahrungsbrei aus dem obersten Vormagen des Tieres.

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Das Glücksspiel ist im Islam verboten; es ist die „vierzehnte schwere Sünde“ und „das Werk Satans“. Die Scharia sieht harte Strafen vor, darunter Peitschenhiebe. In den VAE gibt es keine Lotterie und keine Wettbüros. Zum Glück hat der Prophet jedoch entschieden, dass Wetten bei Bogenschieß-Wettbewerben, Pferde- und Kamelrennen zulässig sind. „Selbst die Engel gehen zum Kamelrennen“, heißt es hier. Entsprechend fehlt es rund um den Rennbetrieb nicht an Geld. Die besten Dromedare kosten bis zu 500 000 Dollar. Reiche Emiratis setzen unerhörte Summen und waschen ihr Gewissen dann mithilfe eines anderen islamischen Gebots wieder rein: Sie spenden großzügig für wohltätige Zwecke. Aber in den Rennställen, wo die Jockey-Jungen leben und schuften müssen, kommen die Engel anscheinend nicht sehr oft vorbei. Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch sind Gewalt und Ausbeutung dort an der Tagesordnung. Die meisten der Jungen sind eigentlich moderne Sklaven, die in Indien oder Pakistan angekauft und dann heimlich an den Golf geschmuggelt werden, ohne dass irgendjemand Fragen stellt. Wenn sie aus Verletzungsgründen – oder weil sie schlicht zu groß geworden sind – nicht mehr reiten können, lässt man sie rücksichtslos fallen. Zwar gilt in den VAE seit 2002 ein Gesetz, das den Import solcher „Jockeysklaven“ verbietet, und man hat sogar Robo-Jockeys als Ersatz eingeführt, aber hinter den Kulissen gehen die Menschenrechtsverstöße weiter. Auch die Organisation Anti-Slavery International hat sich der minderjährigen Jockeys vom Golf angenommen.26 Auch die drakonischen Gesetze gegen Homosexualität, die unter bestimmten Umständen sogar die Todesstrafe vorsehen, sind von Menschenrechtsorganisationen scharf verurteilt worden.27 Die weibliche Genitalverstümmelung grassiert vor allem in den traditionellen Stammesgemeinschaften, wo die staatlichen Verbote in dieser Sache schlicht ignoriert werden.28 Das Gefängnis von Al-Wathba liegt zwar abseits der üblichen Touristenpfade, aber im Jahr 2011 hat es doch für weltweite Schlagzeilen gesorgt – als nämlich eine Australierin öffentlich machte, wie sie dort misshandelt worden war. Ohne Gerichtsverfahren hatte man Yvonne Randall eingesperrt, unter dem Vorwand, sie hätte ihre Hotelrechnung nicht bezahlt. Ihrer Darstellung zufolge war die Rechnung nicht gezahlt worden, weil ihr Arbeitgeber ihr die Kreditkarte gestohlen hatte, als sie versuchte, ihr Arbeitsverhältnis zu beenden.29 Alle diese Dinge scheinen so überhaupt nicht zu einer weiteren Attraktion der Oase zu passen: dem Feuchtschutzgebiet Al-Wathba. Süßwasserseen sind in den Golfstaaten eine große Seltenheit, und ein Flamingo150

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Reservat ist wohl noch viel seltener. Im Allgemeinen fühlen die Emiratis sich den Tieren der Wüste jedoch sehr verbunden. Insbesondere die Weiße oder Arabische Oryx-Antilope (Oryx leucoryx) hat es ihnen angetan. Diese herrlichen, schneeweißen Tiere mit den langen, leicht gebogenen Hörnern befanden sich lange am Rand der Ausrottung, aber mittlerweile haben sich die Bestände erholt  – nicht zuletzt dank intensiver Schutzmaßnahmen  – und die Oryx sind zum emiratischen Nationalsymbol avanciert. Die Antilopen können monatelang ohne Wasser auskommen, und die Beduinen glauben, dass die Tiere, die sie al-Maha nennen, nur dem Geräusch unterirdischer Wasserläufe folgen müssten, um stets eine Quelle zu finden. Bei den alten Ägyptern waren sie ein ganz besonderes Opfertier, und für Aristoteles waren sie es, die hinter den Berichten über angebliche Einhörner steckten. Vor der Gründung der VAE waren die Oryx-Antilopen durch intensive Bejagung beinahe ausgerottet, doch dann hat ihr Bestand sich dank dem leidenschaftlichen Einsatz von Tierschützern wieder erholt. Im Jahr 1968 hat man die letzten vier frei lebenden Exemplare eingefangen und als Zuchtherde auf eine Insel gebracht, die sich im Privatbesitz des Emirs, Scheich Zayid, befand. Heute gibt es wieder 500 Tiere, Tendenz steigend. Am besten kann man sie im Al-Maha-Reservat von Dubai oder im Wildpark von Sir Bani Yas beobachten. Die Weiße Oryx ist tatsächlich eine Tierart, die „von den Toten auferstanden“ ist. Als „Geschichte“ im Sinne einer Erzählung gibt die Geschichte der Südküste des Persischen Golfs leider nicht viel her. Schuld daran sind das extreme Klima und die nur sehr spärliche Besiedlung der Region. Erzählen kann man nur vom Aufstieg und Niedergang größerer oder kleinerer Scheichtümer, von Handelsrivalitäten und den Beziehungen zwischen lokalen und regionalen Machthabern. Im 19. und im frühen 20. Jahrhundert waren die Scheichtümer unbedeutend und harmlos. Zwischen dem Osmanischen Reich im Norden und dem Sultanat Oman im Süden positioniert, fürchteten die sunnitischen Scheichs zwar am meisten das schiitische Persien auf der anderen Seite des Golfs, legten jedoch durchaus Wert auf ihre Unabhängigkeit von den osmanischen Sultanen, deren Herrschaftsgebiet von Mesopotamien bis zu der Felsenküste von Al-Katr (Katar) reichte. Insofern gründete die „Zusammenarbeit“ der Scheichs vom Golf mit dem britischen Weltreich, die im frühen 19. Jahrhundert ihren Anfang nahm, auf einem beiderseitigen Interesse. Der entsprechende Vertrag von 1820, durch den ein lose gebundenes politisches Gebilde namens Trucial Coast („Vertragsküste“) ins Leben gerufen wurde, richtete sich nominell 151

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gegen die in den Gewässern vor dieser Küste grassierende Seeräuberei  – weshalb viel häufiger von der „Piratenküste“ die Rede ist –, zielte tatsächlich jedoch auf eine Zementierung des Status quo. Die Briten wollten ihren Seeweg nach Indien schützen, und die Scheichs wollten Schutz vor äußerer Einmischung. Ein 1853 mit den „Vertragsscheichtümern“ geschlossener „Ewiger Seefrieden“ (Perpetual Maritime Truce) räumte der Royal Navy die Seehoheit im Persischen Golf ein; dazu wurde in Buschehr an der persischen Golfküste eine britische Residentur eingerichtet.30 Mit einem weiteren Vertrag wurde 1892 aus der eher locker gefassten „Vertragsküste“ der deutlich klarer verfasste „Vertragsoman“ (auf Englisch Trucial States). Dabei behielten die Scheichs in inneren Belangen freie Hand, traten ihre außenpolitische Vertretung jedoch an Großbritannien ab. Falls nötig, trat der britische Resident auch einmal als Vermittler zwischen den Scheichs auf; zur Durchsetzung etwaiger Sanktionen standen ihm jedoch nur sehr begrenzte (Streit-)Kräfte zur Verfügung.31 Die Herrscherfamilien der heutigen VAE stammen alle „aus altem Geschlecht“, und alle stehen in einem Abstammungs- oder sonstigen Verwandtschaftsverhältnis zu noch größeren Clans oder Stämmen. Gemeinhin ist von den „zehn Familien“ die Rede, womit die Clans gemeint sind, die in den unabhängigen arabischen Staaten am Persischen Golf seit deren Gründung an der Macht gewesen sind: die Al-Sabah aus Kuwait

die Al-Nuaimi in Adschman

die Al-Chalifa aus Bahrain

die Al-Scharki in Fudschaira

die Al-Thani aus Katar

die Al-Nahyan in Abu Dhabi

die Al-Maktum in Dubai

die Al-Said in Oman und in Sansibar

die Al-Qasimi in Schardscha

die Al-Mu’alla in Ras al-Chaima und    Umm al-Qaiwain

Sowohl die Familie Al-Nahyan als auch die Familie Al-Maktum stammt von demselben Beduinenstamm ab: den Bani Yas, eigentlich eine Föderation verschiedener Beduinenstämme aus dem Landesinneren. Die AlNahyan herrschen in Abu Dhabi schon seit 1761; die Al-Maktum sind in Dubai 1833 an die Macht gekommen, achthundert Stammeskrieger der Bani Yas eroberten damals die Küste. Die Familie Al-Nuaimi aus Adschman bezeichnet sich selbst als Quraischi, das heißt als direkte Nachfahren des Propheten. Die Al-Qasimi aus Schardscha begnügen sich mit einer Abstammung von Mohammeds Schwiegersohn, dem Imam Ali. Einer 152

Berge von Geld und tankerweise Missverständnisse

ihrer Söhne, Sultan bin Muhammad Al-Qasimi, war es, dessen Porträt über dem Rezeptionstresen meines Hotels gehangen hatte; ein anderer, Saud bin Saqr Al-Qasimi, ist der gegenwärtige Emir von Ras al-Chaima. Ihre Vorfahren waren die Anführer jener Piraten, die im 18. Jahrhundert den Persischen Golf unsicher machten und so in Konflikt mit den Omanis und später auch mit den Briten gerieten. Den Seekrieg zwischen diesen Seeräuberclans und den Briten beendete schließlich der Vertrag von 1820. Die Frage, ob die Trucial States jemals ein echter Bestandteil des britischen Weltreiches waren, bleibt strittig. Die Briten betrachteten ihr Protektorat am Persischen Golf durchaus als Teil ihres imperialen Netzwerks, wenn auch als einen eher lose assoziierten Teil. Die Scheichs sahen sich selbst vermutlich als Verbündete Großbritanniens und nicht als britische Kolonialuntertanen. Aber weder in der Encyclopædia Britannica von 1910/11 noch in Onkel Normans Briefmarkenalbum aus derselben Zeit findet sich ein Eintrag für die Trucial States. Das Lexikon behandelt die Region als Teil seines umfangreichen Artikels über „Arabien“; die dort abgedruckte Karte weist das Gebiet zweifelsfrei als Teil von Oman aus. Nur drei Orte sind überhaupt bezeichnet: Abu Dhabi, Schardscha und „Birema“ (Al-Ain). Entlang der Piratenküste ist der Name „Jewasimi“ geschrieben, was sich fraglos auf das Territorium der Al-Qasimi bezieht.32 Der Artikel der Encyclopædia Britannica über Oman wiederholt die Behauptung, „das Al-Katr-Gebirge in der osmanischen Provinz El-Hasa“ bilde die nördliche Grenze des Sultanats.33 Anscheinend waren die Informationen der Redaktion ein wenig veraltet. Das wirtschaftliche Potenzial der Region wurde bereits in der Zwischenkriegszeit erkannt, aber noch nicht ausgeschöpft. 1932 wurde bei Schardscha eigens ein Fort errichtet, um eine dort befindliche Landebahn der British Imperial Airways zu schützen, und eine Tochtergesellschaft der Iraq Petroleum Company, die Petroleum Concessions Ltd. (PCL) wurde gegründet, um sich alle Optionen für eine zukünftige Erschließung der Region zu sichern. Alle betreffenden Konzessionen wurden von den örtlichen Machthabern vergeben und bestätigt, was deren Einfluss und Bedeutung stark ansteigen ließ.34 Mit der Erfindung der Zuchtperlen in Japan in den 1920erJahren brach die traditionelle Perlenfischerei im Persischen Golf zusammen – eine wirtschaftliche Katastrophe für die Region. Von den Kampfhandlungen des Zweiten Weltkriegs blieben die Trucial States verschont. Allerdings kam es zu Störungen im Handel und auch zu akuten Knappheiten. Wer damals Kind war, erinnert sich noch heute an diese schlimme Zeit: 153

3. Al-Imarat

Meine Großeltern lebten in Al-Hamriyah, nahe dem Meer. Während [des Krieges] blieben die Schiffe aus, die sonst aus Indien und anderen Ländern kamen, und so mussten die Leute hungern. Mein Großvater fing Fische, und meine Großmutter zerteilte den Fisch in Stücke und verkaufte ihn in der Gegend. Später zogen sie nach Dhaid, im Landesinneren, wo sie Landwirtschaft betrieben. Es gab weder Geschäfte noch Märkte dort, und so mussten sie mit dem Kamel bis nach Schardscha, um Zucker und ähnliche Vorräte zu kaufen. Eine Tagesreise nach Schardscha – und eine Tagesreise zurück. Als ich klein war, ging ich mit meinem Großvater oft auf seinen Hof, wo er die Kamele molk. Die Milch war schaumig – „echte Kamel-Eiskrem“, scherzte mein Großvater. Wir nahmen die Milch, gaben frischgebackenes ragag hinein [ein dünnes, crêpeartiges Fladenbrot] und gossen Honig darüber. Das fanden wir köstlich.35

Die Erziehung dieser Kriegskinder beschränkte sich noch immer auf drei oder vier Jahre in einer mutawwa, einer „Lehrerschule“. Die Schüler saßen unter einem Sonnensegel im Sand und lauschten der Rezitation des Lehrmeisters mit dem Turban, der ihnen die heiligen Texte des Koran und die Hadithe (Aussprüche des Propheten Mohammed) vortrug. Die wichtigsten Passagen mussten sie auswendig lernen, dazu auch die Anleitung zu den islamischen Ritualen, und wenn sie Glück hatten, bekamen sie auch ein wenig Schreib- und Kalligrafieunterricht. Mathematik oder Naturwissenschaften standen nicht auf dem Lehrplan, von Englischunterricht ganz zu schweigen.36 Mit dem Verlust des indischen Kolonialreiches 1947 verlor Großbritannien zugleich die strategische Existenzberechtigung für sein Protektorat am Persischen Golf. „Rückzug aus den Gebieten östlich des Sueskanals“, lautete nun die Devise. 1946 wurde die britische Residentur von der iranischen Hafenstadt Buschehr nach Bahrain verlegt. Und doch blieb an der „Vertragsküste“ ein geschlagenes Vierteljahrhundert lang alles beim Alten, bevor dann endlich doch ein politischer Wandel einsetzte, während die nahöstliche Ölindustrie bereits ihren unaufhaltsamen Expansionskurs eingeschlagen hatte. In den Tagen vor dem großen Ölboom verirrten sich nur wenige auswärtige Besucher in die Emirate am Persischen Golf; entsprechend rar sind auch die Reiseberichte und Schilderungen der damaligen Lage. Einer der wenigen, der seine Erinnerungen an diese Zeit mitgeteilt hat – die Zeit vor dem Öl und vor der Unabhängigkeit –, ist Munir Al-Kaloti, ein arabischer 154

Berge von Geld und tankerweise Missverständnisse

Geschäftsmann, der im Laufe seines Lebens zu einem der reichsten Männer in den Emiraten aufgestiegen ist: [Mein] Visum … hatte ich vom britischen Konsulat in Amman in Jordanien. Von den VAE war damals ja noch überhaupt keine Rede. Zwischen Abu Dhabi und Dubai konnte man nicht frei reisen. … Es gab keine asphaltierten Straßen, kein Haus mit mehr als einem Stockwerk … Alles stand noch ganz am Anfang. Das Erste, was ich [nach meiner Ankunft in den Emiraten] fand, waren überaus freundliche Menschen, sehr gastfreundlich, sehr arm … Sie hatten nichts. Es gab keinerlei Stromversorgung. Ich wohnte bei Freunden, die hatten einen Generator für die Glühbirnen … Ab und an fuhr ich nach Zabeel [ein Stadtteil von Dubai] zu einer Audienz bei Scheich Raschid [dem damaligen Emir von Dubai]. Er setzte sich immer vor seinen Palast, und jeder, der eine Frage oder eine Bitte oder ein Problem hatte, konnte zu ihm kommen, einer nach dem anderen. Und der Emir saß dort auf seinem Holzschemel, rauchte seine berühmte Pfeife … und empfing wirklich jeden. Wenn der Ramadan kam, kaufte Scheich Raschid jedes Jahr riesige Mengen Fleisch für seine Leute, für das Fastenbrechen am Abend und für das Eid-Fest am Ende der Fastenzeit. Und dann stellten die Leute sich vor dem Palast in die Schlange und baten um eine bestimmte Menge Vieh, und dann schloss der Scheich mit [mir] einen Handel, damit ich die benötigten Tiere importierte. … Ziegen liebt man hier besonders, … weil das Fleisch so mager ist; in der Hitze kann man nicht so fett essen … Neben dem Scheich saß ein Beamter [namens] Kamal Hamza. Der sagte dann zu mir: „Gut, du wirst also das Vieh [kaufen].“ Und dann fingen wir an zu feilschen.37

Offizielle Aufgabe der 1951 gegründeten Trucial Oman Scouts war es, entlang der Grenzen zu patrouillieren und dabei ein besonders wachsames Auge auf die Beduinen zu werfen, die immer wieder ohne Vorwarnung aus dem nahe gelegenen Leeren Viertel herüberkamen.* Inoffiziell sollten sie jedoch den in der Region noch immer grassierenden Sklavenhandel unterbinden und saudische Infiltrationsversuche abwehren. Im Jahr 1957 zählten die Scouts 150 britische Offiziere, die rund 1000 arabische Soldaten befeh* Bei ihrer Gründung hieß die paramilitärische Truppe noch Trucial Oman Levies, also etwa

„Aufgebot des Vertragsoman“, ab 1956 dann Trucial Oman Scouts („Spähtruppe des Vertragsoman“).

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3. Al-Imarat

ligten; Letztere rekrutierten sich teils aus der vormaligen „Arabischen Legion“ des Königreiches Jordanien, teils aus den desertionsanfälligen Aufgeboten lokaler Machthaber. Ein Veteran eines Lufttransportgeschwaders der Royal Air Force erinnert sich an Gegebenheiten seines Militärdienstes am Golf wie folgt: Im Jahr 1961 wurde ich als scharwisch (Feldwebel) zu den Trucial Oman Scouts abgestellt. … Eine Zeitlang haben wir Patrouillen in das ‚Leere Viertel‘ geschickt [und] ich wurde zu deren Versorgung abkommandiert. … Man gab mir ein Flugzeug – eine Twin Pioneer –, als Piloten einen Unteroffizier, der gern auch mal einen über den Durst trank, und dazu noch einen Navigator. Der Pilot bezeichnete seine übliche Vorgehensweise als „Dünenhüpfen“ – das heißt, er flog in etwa sechzig Metern Höhe über die Wüste, in der einen Hand eine Thermoskanne Kaffee (mit Schuss), die andere am Steuerknüppel. … Wir transportierten alle möglichen Versorgungsgüter: Benzin, Öl, Schmierstoffe und so weiter, oft auch Ziegen. Dann wurde ich doch wirklich gefragt, ob ich diesen ganzen Kram nicht [während des Fluges] abwerfen könne, [die Landung] sei so schwierig! Also erklärte ich – mit der gebotenen Höflichkeit, versteht sich –, dass der Abwurf lebendiger Ziegen aus sechzig Metern Höhe in der Folge zu gewissen Problemen führen könnte … [Nachdem wir wieder einmal Benzin, Öl, Schmierstoffe und so weiter geladen hatten], legte ich den verbliebenen Laderaum mit einer großen Plane aus. Dann wurden die Ziegen angeliefert und der Pilot, der Navigator und ich begannen, sie ordnungsgemäß festzubinden. Schließlich flogen wir los, [aber] nach ungefähr einer Stunde Flugzeit gelang es acht der Ziegen, sich loszumachen. Der Pilot und der Navigator schlossen sich im Cockpit ein und überließen mich meinem Schicksal. Ich verbrachte die nächsten anderthalb Stunden mit dem Versuch, die widerspenstigen Tiere wieder einzufangen, die selbstverständlich überall hinpinkelten und das gesamte Flugzeug vollkackten. … Und das „Dünenhüpfen“ war in dieser Situation auch nicht gerade hilfreich. Wir landeten und die Frachtluke wurde von außen geöffnet. Vierzehn Ziegen, die schier außer sich waren vor Angst, rannten in die Wüste davon, gefolgt von einem schwer traumatisierten Feldwebel, der haargenau so aussah – und auch so roch – wie sie. Es dauerte zwei Wochen und erforderte einiges an Seife und Schrubberei, bis die Kameraden sich wieder auf weniger als zwanzig Meter an mich heranwagten … Wie heißt es doch so schön: nil sine labore – nichts ohne Mühen.38 156

Berge von Geld und tankerweise Missverständnisse

Wilfred Thesiger kam gerade noch rechtzeitig, um die traditionelle Lebensweise der Menschen in dieser Region festzuhalten, bevor sie für immer verschwand. Seine Darstellung ist zu Recht berühmt für die tiefe Empathie, mit der Thesiger den vormodernen Gesellschaften begegnet, die er besucht, allen voran die Marsch-Araber im Süden des Irak und die Beduinen des Leeren Viertels. Auf seiner ersten Reise an die Ränder dieser Wüste hatte er gelernt, „[sich] den Sitten der Bedu und ihrem Lebensrhythmus anzupassen“. Die allmorgendlichen Rituale in einem Beduinenlager mitten in der Wüste waren seit Jahrhunderten die gleichen geblieben: Meine Gefährten waren stets wach und auf den Beinen, sobald es hell wurde. Ich glaube, dass die Kälte sie nur in kurzen Zeitspannen schlummern ließ, hatten sie doch außer den Kleidern, die sie auf dem Leib trugen, kaum etwas, um sich zu bedecken. … Im Halbschlaf hörte ich sie frühmorgens die Kamele aufwecken. Die Kamele brüllten und röhrten, als man sie fortführte, und die Männer schrien einander mit ihren harten, weittragenden Stimmen an. Die Kamele stolperten an meinem Lagerplatz vorbei. Ihre Vorderbeine waren zusammengebunden, damit sie nicht fortlaufen konnten, ihr Atem stand weiß in der kalten Luft. Ein Knabe trieb sie zu den nächsten Büschen. Dann rief irgendeiner zum Gebet: Gott ist groß. Ich bezeuge, dass es keinen Gott außer Gott gibt. Ich bezeuge, dass Mohammed der Prophet Gottes ist. Kommt zum Gebet! Kommt zur Erlösung! Beten ist besser denn schlafen. Gott ist groß. Es gibt keinen Gott außer dem einen Gott. Jede Zeile mit Ausnahme der letzten wurde zweimal wiederholt. Der langgezogene Wohllaut der Worte … schwebte über dem schweigenden Lager. Ich sah zu, wie der alte Tamtaim, der in meiner Nähe schlief, sich vor dem Gebet wusch. … Er wusch sein Gesicht, die Hände, die Füße, zog Wasser durch die Nase auf, säuberte die Ohren mit nassen Fingern und fuhr sich mit den nassen Händen über den Kopf. … [Er] kehrte den Boden vor sich, legte sein Gewehr darauf und betete dann, nach Mekka gewandt. Er stellte sich gerade hin, beugte sich, die Hände auf die Knie gelegt, nach vorn, kniete nieder und neigte den Kopf, bis seine Stirn den Boden berührte. Die rituellen Bewegungen wiederholte er mehrmals langsam 157

3. Al-Imarat

und eindrucksvoll, während er das vorgegebene Gebet sprach. Manchmal stimmte er lange Abschnitte aus dem Koran an, wenn er sein Gebet beendet hatte, und schon allein der Klang der Worte vermittelte die Schönheit einer großen Dichtung. [Und doch kannten] viele jener Bedu … nur die [erste] Sure des Korans: Im Namen Gottes, des Allerbarmers, des Allbarmherzigen, Preis sei Gott, dem Herrn der Welten, Dem Allerbarmer, dem Allbarmherzigen, Dem Herrscher am Tage des Weltgerichts. … Kurz nach dem Morgengebet konnte ich dann metallisches Klingen vernehmen: Der Kaffee wurde in Messingmörsern zerstampft, und der Mann, der ihn zerstampfte, tat dies stets so, dass eine Art Melodie dabei entstand. Nun erhob ich mich. In der Wüste schliefen wir in unsern [sic] Kleidern, so dass ich nichts weiter zu tun hatte, als mein Kopftuch zu richten, mir ein wenig Wasser über die Hände zu gießen, mein Gesicht zu benetzen, ans Lagerfeuer zu treten und die Araber, die darum herum saßen, zu begrüßen: ‚Salam Alaikum!‘ (Friede sei mit euch.) Die Araber standen dann auf und antworteten: ‚Alaikum as-Salam!‘ (Mit dir sei der Friede.) Die Bedu erhoben sich immer, wenn sie einen Gruß erwiderten. Hatten wir keine Eile, dann buken wir das Frühstücksbrot, sonst aber aßen wir die Reste vom letzten Abendessen. Wir tranken süßen schwarzen Tee und dann Kaffee, der bitter, schwarz und sehr stark war. Das Kaffeetrinken verlief zeremoniell und durfte nicht hastig absolviert werden. Der Kaffeeausschenker goss im Stehen winzige Mengen in eine kleine Porzellantasse, die kaum größer war als ein Eierbecher, und reichte einem jeden von uns unter Verneigungen die Tasse. Jedem wurde die volle Tasse so oft gereicht, bis er sie beim Zurückgeben ein wenig schüttelte, was bedeutete, daß er nun genug habe. Es war nicht üblich, mehr als drei Tassen zu trinken. … Die Kamele, die von diesen Bedu geritten wurden, waren Stuten. Im Sudan hatte ich stets Kamelbullen geritten, da man dort, wie in den anderen Teilen der Sahara, die ich bereist hatte, die weiblichen Tiere niemals zum Reiten verwandte, sondern [ausschließlich] wegen ihrer Milch hielt. In ganz Arabien jedoch reitet man mit Vorliebe Kamelstuten. Die Stämme, die sie für Lastentransporte vermieten, benutzen Bullen als Lasttiere, aber die Bait Kathir schlachten fast alle männlichen Kälber … Daher sind Kamelbullen zum Decken Mangelware. Als ich später in Hadramaut reiste, 158

Berge von Geld und tankerweise Missverständnisse

begleitete mich ein Mann, der einen Kamelbullen ritt. Wir wurden unentwegt von Leuten mit weiblichen Tieren verfolgt, die gedeckt werden sollten. Wir hatten eine lange Reise vor uns, und die fortwährenden Anstrengungen erschöpften das Reittier meines Gefährten merklich. Aber er konnte nicht ablehnen. Es war ein alter Brauch, dass dieses Kamel so viele weibliche Tiere decken musste, wie ihm zugeführt wurden. Man holte dazu nicht einmal die Erlaubnis des Besitzers ein. Die Stute wurde einfach gebracht, man ließ sie decken und nahm sie wieder mit.39

Thesigers Bekanntheit rührt auch von der Offenherzigkeit her, mit der er über die Zuneigung zu seinen männlichen Reisegefährten schrieb. In den 1950er-Jahren war das Thema noch tabu; heute füllt es ganze Forschungs­ bibliotheken: In Arabien suchte sich Thesiger zwei besonders enge Gefährten. Der eine war ein fünfzehnjähriger Ziegenhirte namens Salin bin Kabina. „Wir tränkten gerade die Kamele in einem Wadi, und ich erinnere mich, dass er in einem roten Lendenschurz und … diesen langen Haaren auf uns zukam. Er fragte, ob er mit mir kommen könne. Ich fragte die Scheichs, und die sagten: ‚Ja, wenn er ein Gewehr und ein Kamel bekommt.‘“ Thesiger betrachtete Kabina als seinen Assistenten. … „Dass Bin Kabina als bezahlter Diener mit mir reiste, kam gar nicht infrage! Unter solchen Bedingungen hätte er bestimmt nicht sein Leben für mich riskiert. Das Letzte, was ich wollte, war eine Herr-und-Diener-Beziehung mit den Bedu.“ … Thesigers Fotos zeigen einen schlanken, aber kräftigen jungen Mann mit feinen Zügen und schulterlangem Haar … Thesigers anderer enger Gefährte in Arabien war Salim bin Ghabaischa, ein Cousin Bin Kabinas. „Er war höchstens fünfzehn oder sechzehn, mit einer auffällig heiseren Stimme und jener schlanken, geradlinigen, beinahe femininen Statur, die Thesiger so bewunderte. Seine Anmut und seine ruhige Würde kontrastierten mit dem stets übermütigen, energischen Bin Kabina, aber sie gaben ihm auch einen festeren, ernsteren und rücksichtsloseren Charakter. In Arabian Sands [Die Brunnen der Wüste] lässt Thesiger sich ausführlich über seine äußere Erscheinung aus und vergleicht ihn mit dem jungen Antinoos in jenem Augenblick, als Kaiser Hadrian ihn zum ersten Mal in den Wäldern Phrygiens erblickte.“40

Man könnte meinen, die Briten hätten einen groben Fehler begangen, als sie ausgerechnet um jene Zeit aus der Golfregion abzogen, als die Öl- und Gasförderung dort so richtig Fahrt aufnahm. Aus Londoner Sicht stellte 159

3. Al-Imarat

sich die Sache damals jedoch anders dar. Zum einen hatte die erste, 1950 in Ras Sadr nahe Abu Dhabi erfolgte Probebohrung keinen einzigen Tropfen Öl zutage gefördert; die Größenordnung des späterhin folgenden Ölbooms konnte man daraus keineswegs ablesen. Zum anderen behielten die Londoner Ministerien sehr wohl ihre Finger im Spiel und bauten darauf, dass britische Firmen bei allen zukünftigen Unternehmungen zur Exploration und Ölförderung beteiligt sein würden, ganz egal, wie diese im Einzelnen verlaufen würden. Großbritannien hoffte also, seine laufenden Kosten zu reduzieren, ohne sich etwaige ökonomische Gewinne entgehen zu lassen. Mitte der 1960er-Jahre, als die Prozesse zur politischen Umgestaltung der Region bereits in Gang waren, stieg das Volumen der Erdölförderung binnen Kurzem dramatisch an: Der relativ gesehen stärkste Anstieg erfolgte in den Jahren 1962–1964, als das Ölexportterminal im Frachthafen von Dschebel Dhanna den Betrieb aufnahm. Dennoch hielt das Wachstum in den Emiraten einem Vergleich mit Saudi-Arabien oder Iran (die beide einen gewissen Vorsprung in diesen Dingen hatten) vorerst nicht stand; allerdings war der Umfang der emiratischen Ölreserven auch noch nicht vollständig bekannt.41 Im Jahr 1968 jedoch gab die britische Regierung ihre Absicht bekannt, sich binnen drei Jahren vollkommen aus der Golfregion zurückzuziehen. Diese Nachricht löste, wie es in der Literatur heißt, „fieberhafte Verhandlungen“ aus  – nicht nur zwischen den herrschenden Scheichs und der britischen Regierung, sondern auch Verhandlungen der Scheichs untereinander.42 Von britischer Seite favorisierte man die Schaffung eines Einheitsstaates. Die im  Trucial Council, dem „Vertragsrat“ der „Vertragsküste“, vertretenen Scheichs zeigten sich äußerst vorsichtig. Von 1968 bis zum Sommer 1971 nahmen an den Verhandlungen auch Bahrain und Katar teil; allein Bedenken in letzter Sekunde verhinderten, dass auch sie der in Gründung befindlichen Föderation von Emiraten beitraten. Die Gründungsakte der VAE wurde am 2. Dezember 1971 im Dubai Guest House unterzeichnet, das seitdem Union House heißt.43 Der neue Staat der Daulat al-Imarat al-Arabiya al Muttahida oder kurz Al-Imarat („die Emirate“) war geboren. Quasi über Nacht wurde aus der „politischen Vertretung“ Großbritanniens am Golf die britische Botschaft in den VAE. Die politischen Veränderungen haben sich seitdem in engen Grenzen gehalten  – ganz im Gegensatz zum wirtschaftlichen, finanziellen und demografischen Wandel, der immens gewesen ist. Die Rohölförderung ist beständig angestiegen, von 1146 Millionen Barrel am Tag im Jahr 1984 auf 2804 Millionen im Jahr 2012 (ein Barrel entspricht rund 160 Litern).44 Das 160

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Wachstum der emiratischen Staatsfonds hat alle Grenzen gesprengt. Die 1976 gegründete staatliche Investmentgesellschaft Abu Dhabi Investment Authority (ADIA) hält inzwischen ein Portfolio im Wert von 773 Milliarden Dollar  – das zweitüppigste der Welt nach dem Staatlichen Pensionsfonds von Norwegen –, was einem Kapitalanteil von 839 305 Dollar pro Kopf der Bevölkerung entspricht. Damit stellt ADIA sowohl den Staatsfonds von Dubai als auch die gemeinsame Federal Investment Authority der VAE in den Schatten.45 Die Zahl privatwirtschaftlicher wie staatlicher Unternehmensgründungen hat sich jahrelang geradezu exponentiell vergrößert, und die Bevölkerungszahl ist auf vergleichbare Weise in die Höhe geschossen. Bei Staatsgründung 1971 betrug die (nicht genau erfasste) Bevölkerung der VAE wohl um die 100 000, die aktuelle Schätzung beläuft sich auf 9479 Millionen Menschen. Sowohl Abu Dhabi als auch Dubai waren früher verschlafene Hafenstädte mit jeweils 20 000 bis 30 000 Einwohnern; heute leben dort 603 000 beziehungsweise 1 137 000 Menschen. Selbst Schardscha-Stadt hat inzwischen mehr als eine halbe Million Einwohner.46 Bei solchen schwindelerregenden Entwicklungen sind Probleme unausweichlich. Was ihr Territorium betrifft, sind die VAE lange Zeit durch Grenzverletzungen Saudi-Arabiens belästigt worden; immer wieder drangen saudische Truppen in grenznahe Oasen ein. Auch die Besetzung dreier Inseln im Persischen Golf durch Iran sorgt für diplomatische Verstimmungen. Diese Inseln – Abu Musa und die beiden Tunb-Inseln – liegen mitten in der Straße von Hormus und damit unmittelbar an der internationalen Schifffahrtsroute. Ohne sich um die Meinung seiner Nachbarn zu kümmern, hat Iran inzwischen auf der Großen Tunb-Insel einen Flugplatz errichtet.47 In politischer Hinsicht sind  – wie Scheich Zayid nur zu gut wusste  – absolute Regimes anfällig für Konflikte innerhalb des Herrscherhauses, und insbesondere Schardscha hat wiederholt mit derartigen Turbulenzen zu kämpfen gehabt: 1972 wurde Scheich Khalid von einem Vetter getötet und Khalids jüngerer Bruder, Sultan, bestieg den Thron inmitten eines blutigen Stammeskrieges. Aber die feindselige Stimmung dauerte an, und im Juni 1987 wurde Sultan seinerseits abgesetzt, als er sich gerade außer Landes befand. Der Verantwortliche? Ein älterer Bruder, der fünfzehn Jahre zuvor übergangen worden war. Dieser Usurpator war Scheich Abdul Aziz, seines Zeichens Kommandeur der Nationalgarde. Seine Söldner aus Balutschistan riegelten den Flughafen ab, nahmen Journalisten fest und verbarrikadierten sich im Gebäude des Königlichen Justizpalastes. Scheich Abdul klagte über finanzielle Misswirtschaft. Drei oder vier Tage lang sah 161

3. Al-Imarat Mashhad Mossul

Teheran

Der Persische Golf

Herat

Große Salzwüste

Kermanschah

A F G H A N I S TA N Wüste Lut

Bagdad

Farah

Isfahan

IRAK

Kandahar

IRAN Basra

Abadan

KUWAIT

Kerman

Schiras

Kuwait-Stadt Persischer Golf

N

Manama

S

Bandar-Abbas Straße von Hormus

BAHRAIN K ATA R

Riad

Golf von Oman Maskat

Dubai Doha Abu Dhabi

VAE

(Vereinigte Arabische Emirate)

SAUDI-ARABIEN 0

200

PA K I S TA N

OMAN

Arabisches Meer

400 km

es so aus, als wäre sein Coup geglückt; einzig und allein der Emir von Dubai hatte einen öffentlichen Protest eingelegt. Aber dann votierte der Rat der VAE dafür, Scheich Sultan wieder in Amt und Würden zu setzen. Abdul Aziz gab nach und akzeptierte den Rang eines Kronprinzen und Vizeherrschers.48 Im Jahr 1991 wurden die VAE von der Zwangsliquidation der in Groß­ britannien ansässigen Bank of Credit and Commerce International (BCCI, „Internationale Kredit- und Handelsbank“) erschüttert. Die Regierung von Abu Dhabi hatte einen Anteil von 77 Prozent an dieser Bank gehalten, deren Gründung auf die Initiative eines pakistanischen Finanziers namens Agha Hasan Abed zurückgegangen war. Er hatte sie zur siebtgrößten Bank der Welt gemacht, mit einer Bilanzsumme von 20 Milliarden Dollar. Oberflächlich betrachtet schien alles respektabel: Der Hauptsitz der Bank in London war von den Wirtschaftsprüfern von PricewaterhouseCoopers kontrolliert worden; die Bank von England war als Regulierungsbehörde ebenfalls im Spiel. Aber dann brachten Nachforschungen in den Vereinigten Staaten über das Geschäftsgebaren einer BCCI-Tochter, der First ­American Bank, 162

Berge von Geld und tankerweise Missverständnisse

ein riesiges Betrugsnetz ans Licht. Zu den Kunden der BCCI gehörten der irakische Diktator Saddam Hussein, der panamaische Machthaber Manuel Noriega, der palästinensische Terrorist Abu Nidal sowie der zwielichtige CIA-Mann Oliver North. Der sogenannte Sandstorm-Report kam zu dem Schluss, dass die Geschäftsbeziehungen der BCCI von Geheimhaltung, absichtlicher Vertuschung, Bestechung, Waffenschmuggel und Drogenhandel geprägt gewesen waren. Gleichzeitig kamen auch die internationalen Regulierungsinstanzen in Bewegung; die BCCI wurde zum Konkurs gebracht und ihre Manager wurden in London vor Gericht gestellt, wo sie sich schuldig bekannten. Abu Dhabi blieb nichts anderes übrig, als die Bank von England zu verklagen; das Vorhaben war aussichtslos, zog sich aber dennoch bis 2005 hin. Die Insolvenzverwalter, die nach eigenen Angaben 45 Prozent der von den Gläubigern der BCCI verlorenen Gelder gerettet haben, konnten ihre Bücher sogar erst 2012 schließen.49 Auf dem vormals blütenweißen thawb, dem guten Ruf der VAE hat der BCCI-Skandal unschöne Flecken hinterlassen. Einem Anti-GeldwäscheGesetz aus dem Jahr 2002 zum Trotz reißen die Gerüchte nicht ab, dass gewisse emiratische Banken – und vor allem gewisse Banken in Dubai – weiterhin genau dieselben zwielichtigen Geschäftspraktiken verfolgen, welche die BCCI damals zu Fall brachten. Dabei sollten Schlagzeilen wie „Dreckiges Geld versteckt sich in Dubai“ oder „Internationale Finanzaufsicht nimmt Dubais dunkle Schattenseite ins Visier“ eigentlich nicht gern gesehen sein.50 Es heißt, Dubai diene dem Iran dazu, die gegen ihn verhängten Sanktionen zu unterlaufen, das Beutegeld somalischer Piraten reinzuwaschen und russische Mafiabosse zu decken. Noch immer kann man hier ein Konto eröffnen, ohne dass allzu viele Fragen gestellt werden, Aufenthaltsgenehmigungen sind käuflich und der Transaktion auch größerer Summen werden keinerlei Schranken gesetzt. Es geht also, wie eine britische Journalistin es formuliert hat, um „Russen, die mit Koffern voller Bargeld Appartements kaufen, in denen sie dann nie einziehen“.51 Die französisch-norwegische Juristin Eva Joly, deren Spezialgebiet als Richterin und Europaabgebordnete die Bekämpfung der internationalen Wirtschaftskriminalität gewesen ist, hat eindringlich darauf hingewiesen, dass Dubai das „Weltzentrum“ der Geldwäsche sei. Sie hat das Emirat nicht nur mit französischen Wirtschaftsskandalen wie der Affaire Elf-Aquitaine in Verbindung gebracht, sondern auch mit dem Fall Sergej Magnitski in Moskau und dem Skandal um die afghanische Kabul Bank, wo über die Jahre fast eine Milliarde Dollar an amerikanischen Hilfsgeldern verschwunden waren.52 163

3. Al-Imarat

Mehr über diesen etwas unappetitlichen Aspekt der VAE kann man auch aus der undurchsichtigen Karriere des indischen Geschäftsmannes Naresh Kumar Jain, alias „Patel“, ablesen, der als „internationaler HawalaKönig“ bekannt wurde und zwanzig Jahre lang von Dubai aus sein Unwesen trieb. (Eine hawala ist eine Agentur für internationale Geldanweisungen.) Jains Firma diente angeblich nur als Fassade für illegale Geldtransfers im Umfang von bis zu zwei Milliarden Dollar am Tag. Mithilfe der sogenannten „Mehrschicht-Technik“, bei der illegale Transaktionen durch legale Transaktionen „gedeckt“ werden, soll Jain mit internationalen Drogenschmugglern, Menschenhändlern und – dem Vernehmen nach – auch mit Terrororganisationen wie Al-Qaida Geschäfte gemacht haben. Jain, der alle Vorwürfe bestreitet, floh 2007 in die Vereinigten Staaten, setzte sich 2009 aus Dubai ab, wo er gegen Kaution freigekommen war, und konnte schließlich in Delhi festgenommen werden. Verurteilt wurde er jedoch nie.53 Das soll nun aber nicht heißen, dass alles, was in den VAE glänzt, gleich kriminell wäre. Die glasklare Karriere eines anderen Geschäftsmannes aus Dubai, des bereits erwähnten Munir Al-Kaloti, zeigt das genaue Gegenteil. Al-Kaloti, ein Palästinenser aus Jerusalem, kam 1968 auf der Flucht vor dem arabisch-israelischen Konflikt nach Abu Dhabi. Nach verschiedenen Unternehmungen im Lebensmittelhandel  – er war der Mann, der für Scheich Raschid insgesamt rund 20 000 Ziegen einkaufte – kam er auf die Idee, das von den Erdölsuchern zurückgelassene Altmetall einzusammeln und zum Verkauf einzuschmelzen. Anschließend handelte er mit Schmuck aus zweiter Hand. „Dubai war viel offener als die Nachbarländer“, erinnert er sich, „keine Steuern, keine Kontrolle und Flugverbindungen in alle Welt. Es dauerte nicht lange, da stiegen Leute mit Bruchgold aus Afrika oder Asien aus dem Flieger und fragten: ‚Wer kann das abwickeln?‘“ Den Anfang machte Al-Kaloti mit einem Kilobarren Gold, den er für 40 000 Deutsche Mark kaufte. Dann eröffnete er ein Prüflabor für Materialproben, eine auf Gold spezialisierte Gießerei und Schmiede sowie eine Reihe exklusiver Schmuckläden. Seine erste Barrengießerei in Schardscha gibt es heute noch; jedes Jahr produziert sie Goldbarren im Wert von 30 Milliarden Dollar. Die Firma Kaloti International unterhält Niederlassungen in Hong Kong, Singapur und Surinam. Als 2015 vor den Toren von Dubai eine neue Raffinerie eröffnet wurde, wurde eine Verdreifachung von Kalotis Umsatz erwartet.54 Herr Al-Kaloti selbst hat sich seinen Spitz­ namen  – „der Alchemist“  – redlich verdient: „Wo sonst als in den VAE 164

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kann man als Schrotthändler anfangen und es am Ende zum Besitzer einer Goldfabrik bringen?“ Ein noch größeres Unternehmen aus den VAE, die Al Ghurair Group, geht auf ähnlich bescheidene Anfänge zurück. Ahmad Al-Ghurair und sein Sohn Saif stammten aus einer Dubaier Familie von Perlentauchern, die um 1960 schließlich so viel Vermögen angespart hatten, dass sie es irgendwie anlegen wollten. Also bauten sie die erste Zuckerfabrik in den Emiraten, das erste Zementwerk, das erste Stahlwerk und das erste Einkaufs­ zentrum. Dazu kamen später noch die größte Bank des Landes, Mashreq (vormals Bank of Oman) sowie eine Vielzahl von anderen Unternehmen. Als mehrfache Milliardäre stehen die Al-Ghurairs heute auf der ForbesListe der Superreichen. Die Bundesverfassung der VAE war ursprünglich als ein Provisorium gedacht, dem nach Beitrittsverhandlungen mit weiteren Mitgliedern eine endgültige Version folgen sollte; irgendwann wurde sie dann aber doch „entfristet“. Ihre 151 Artikel versprechen die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz, allgemeine Schulbildung, eine Zoll- und Währungsunion, eine Bundesarmee sowie ein „in umfassender Weise demokratisch gestaltetes Regiment“ für eine „arabische und islamische Gesellschaft“. Die emiratische Bundesflagge zeigt drei horizontale Streifen in Grün, Weiß und Schwarz, an die linker Hand ein roter Streifen anschließt. Das Staatswappen zeigt einen stilisierten Falken. Die Währung der VAE ist der dirham; ein VAE-Dirham (AED) ist gegenwärtig etwa 0,25 € wert, das heißt für einen Euro erhält man rund vier Dirham. Staatsreligion ist der Islam, Arabisch die einzige Amtssprache und der 2. Dezember Nationalfeiertag. Die Nationalversammlung, die lediglich beratende Funktion hat, setzt sich aus Vertretern der einzelnen Teilstaaten zusammen; entscheidend ist deren proportionaler Anteil an der Gesamtbevölkerung. Im Obersten Herrscherrat der VAE sitzen die sieben Scheichs der sieben Emirate. Die Herrscher von Abu Dhabi und von Dubai besitzen ein Vetorecht; die fünf anderen  – die Emire von Schardscha, Adscham, Ras al-Chaima, Umm al-Qaiwain und Fudschaira – haben kein solches Recht. Die Mitglieder des Herrscherrates wählen aus ihrer Mitte einen Präsidenten sowie einen Vizepräsidenten und ernennen zudem einen Premierminister, der die Geschäfte der Bundesregierung führt. Seine eigenen Entscheidungskompetenzen hält der Herrscherrat auf ein Minimum beschränkt, damit die traditionell unbeschränkte Herrschaft der einzelnen Emire in ihren Territorien erhalten bleibt.55 Wie auch in den vier Golfstaaten, die den VAE nicht angehören  – Kuwait, Bahrain, Katar und Oman –, bleibt die politische Macht in den 165

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Emiraten in den Händen einiger weniger Herrscherfamilien; dieses System wird aufrechterhalten durch aufwendige Vorschriften, eine mitunter drakonische Strafverfolgung sowie eine tief verwurzelte Kultur der Unterwürfigkeit. Zwar haben wir es hier mit Monarchen und Konstitutionen zu tun, aber von einer konstitutionellen Monarchie sind die VAE noch meilenweit entfernt – von dem „in umfassender Weise demokratisch gestalteten Regiment“, das die Bundesverfassung verspricht, ganz zu schweigen.56 Innerhalb ihrer Scheichtümer können die Scheichs schalten und walten, wie sie wollen; dies ermöglicht eine Willkürherrschaft bis zur Despotie. Als Föderation sind die Emirate, die ja auf einen Konsens der Scheichs untereinander angewiesen sind, äußerst schwach. Sämtliche Entscheidungen werden per Dekret gefällt. Die Gerichte und die Polizei, die über­ wiegend mit Söldnern aus dem Ausland besetzt ist, sind der Staatsspitze unmittelbar unterstellt. Versammlungsfreiheit gibt es nicht, Zensur findet sowohl formell als auch informell statt, und die traditionelle Vorstellung, dass offene Kritik mit Aufruhr gleichzusetzen sei, wird lediglich durch den ebenso traditionellen Brauch etwas abgemildert, mit dem die Scheichs auch einmal Gnade gewähren. Und doch: Eine geradezu kriecherische Unterwürfigkeit den Herrschenden gegenüber ist allgegenwärtig. Ganz wie der feine Wüstensand findet sie den Weg noch in die kleinsten Ritzen und Verästelungen sämtlicher gesellschaftlicher Gruppen und Institutionen. Jeglicher staatliche Erfolg muss auf das persönliche Genie des jeweils passenden Emirs zurückgeführt werden; bei keiner Gelegenheit dürfen Dankes- und Lobesworte an seine Adresse fehlen. So zum Beispiel, als die VAE im Dezember 2011 unter dem Motto Der Geist der Einheit ihr vierzigjähriges Bestehen feierten. Bei einem festlichen Galakonzert spielte das Royal Oman Symphony Orchestra unter der Leitung des britischen Dirigenten Neil Thomson. Den Abend eröffnete die Ouvertüre zur Verdi-Oper La forza del destino – Die Macht des Schicksals, vielleicht eine naheliegende Wahl. Im Geleitwort zu der Jubiläumsfestschrift, die an jenem Abend verteilt wurde, waren als Gründe für das Gelingen des Konzerts jedoch die „allergnädigste Unterweisung“ und der „erlesene Musikgeschmack“ Seiner Hoheit des omanischen Sultans Qabus ibn Said genannt. Jeder einzelne der sieben Männer, die über die VAE herrschen, hat zugleich die direkte Kontrolle sämtlicher finanzieller und wirtschaftlicher Organe inne, die seinen Reichtum verwalten. In den Worten ihrer eigenen, unfreien Presse: Sie sind „die Titanen von Staat und Geschäft“. Der bei Weitem Einflussreichste unter ihnen, der inzwischen 71-jährige Scheich Chalifa 166

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bin Zayid al-Nahyan, herrscht zugleich als Emir über Abu Dhabi, amtiert als Vorsitzender der ADIA und als Präsident der VAE. Der zweite Mann in der Hackordnung, Scheich Mohammed bin Raschid al-Maktum, ist zugleich Emir von Dubai, Vorsitzender der Dubai Holding sowie Vizepräsident und Premierminister der VAE. Die einzigen politischen Schranken, mit denen solche Männer rechnen müssen, setzen ihnen die zahlreichen Mitglieder ihrer Familienclans. Denn vor allem anderen sind sie schließlich – Stammeschefs. Sie sind Väter vieler Söhne, die alle (in der Regel mehrere) Frauen und mit diesen Frauen ihrerseits zahlreiche Kinder haben. Ihr Geburtsrecht auf den Thron verdanken die Emire den ungeschriebenen Gesetzen der Thronfolge, für deren Geltung frühere Monarchen, Lieblingsfrauen und ehrgeizige Mütter gesorgt haben. Diese Familienpolitik wird im Geheimen gemacht, hinter den geschlossenen Türklappen der Stammeszelte, und wird in der Öffentlichkeit niemals erklärt oder gerechtfertigt. Infolgedessen ist in der emiratischen Politik jedes beliebige „Entscheidungsfindungsverfahren“  – wie Politologen vielleicht sagen würden  – maximal undurchsichtig. Jeder Plan oder Vorschlag, jede auch nur provisorische Regelung muss der Herrscherfamilie zur Bestätigung vorgelegt werden – stets mit unsicherem Ausgang. Diplomaten und Geschäftsleute mit Erfahrung in der Region sprechen von einem „schwarzen Loch“ oder einer „black box“, in die kein Einblick möglich ist. Gemeint sind damit die Privat- und Geheimsphäre, innerhalb deren sämtliche Regierungsentscheidungen getroffen werden. Wenig hat sich geändert seit den Zeiten, in denen Bittsteller ihr Anliegen durch einen Spalt des herrscherlichen Zeltes flüsterten und untertänigst auf Antwort hofften. Bei einem solchen System überrascht es kaum, dass die Vetternwirtschaft auf allen Ebenen grassiert, ja, selbst zu einem tragenden Element des Systems und seiner Institutionen wird. Der Vorgänger des jetzigen Emirs von Abu Dhabi, Scheich Zayid, hatte dreizehn Söhne, die alle erwarten durften, eines Tages einen Posten zu erhalten, der ihrer edlen Abstammung entsprach. Der aktuelle Kronprinz beispielsweise, General Scheich Mohammed bin Zayid bin Sultan al-Nahyan, ist ein Halbbruder des gegenwärtigen Emirs; er ist zudem der stellvertretende Oberbefehlshaber der Streitkräfte der VAE und Vorstandsvorsitzender von Mubadala, der wichtigsten Investmentgesellschaft der VAE. Außenminister ist Scheich Zayids vierter, Innenminister sein sechster Sohn. Der Geschäftsführer von Mubadala hingegen, der 45-jährige Chaldun Chalifa al-Mubarak, gehört zur jüngeren Generation der Familie. Nebenbei ist er übrigens auch noch Vorsitzender 167

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von Manchester City. Die Schwestern dieser Männer können sich nur selten durchsetzen. In dieser Hinsicht ist Fatima al-Dschaber, die operative Geschäftsführerin der Al-Jaber Group und erstes weibliches Mitglied, das in die Handelskammer von Abu Dhabi gewählt wurde, eine absolute Ausnahme. (Ihr Titel – „nur“ operative Geschäftsführerin, nicht CEO, sondern COO – lässt dabei vermuten, dass sie ihre Arbeit dennoch unter männlicher Aufsicht verrichtet.) In gesellschaftlicher Hinsicht ist die Ungleichheit beinahe so ausgeprägt wie in der Politik. Kaum 20  Prozent der Bevölkerung sind emiratische Staatsangehörige (und haben also eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung); die übergroße Mehrheit sind ausländische Wander- und Zeitarbeiter. In die letzte Kategorie fallen durchaus auch gut bezahlte Berater und Wirtschaftsmanager; aber sehr viel größer ist die Zahl der Hausbediensteten, Sachbearbeiter, Taxifahrer und ungelernten Arbeiter. Keiner von ihnen hat irgendwelche Rechte, die über ihren Arbeitsvertrag oder ihr Visum hinausgingen, und keiner von ihnen hat eine Chance, die emiratische Staatsangehörigkeit zu erwerben – außer durch Heirat. Jedwede Organisation oder Einrichtung in den VAE muss einen emiratischen Staatsangehörigen zum Direktor haben, und jedes Unternehmen ist gesetzlich verpflichtet, mindestens 51  Prozent der Firmenanteile in emiratischer Hand zu belassen. In der Folge hat sich keinerlei Sinn für bürgerliche Gleichheit entwickeln können. Auf den Straßen drängen sich zwar die Luxuskarossen sowie Menschen aus allen Erdteilen, und dieser Multikulti-Mix kann durchaus den Eindruck eines wohlhabenden und friedlichen Landes erwecken. Aber jeder einzelne dieser Menschen muss doch seinen Platz kennen, und noch immer gibt es tiefsitzende Vorurteile en masse. Der Sklavenhandel wurde erst in den 1960er-Jahren abgeschafft, und das uralte Konzept eines „Kopfgeldes“, nachdem unterschiedlichen Menschen und Menschengruppen ein je unterschiedlicher (monetärer) Wert zukommt, feiert hier fröhliche Urständ. Europäer können hier mit breiter Brust auf einen Zebrastreifen zumarschieren, immer in dem Wissen, dass ihr Leben für 200 000 Dirham oder mehr versichert ist; Asiaten oder Afrikaner dagegen sind gerade einmal 40 000 Dirham pro Kopf wert. Diese Mentalität verändert sich nur sehr, sehr langsam. In allen inneren Belangen genießen emiratische Staatsangehörige gegenüber Ausländern eine Vorzugsbehandlung. Sie allein haben vollumfängliche Eigentumsrechte. Von der Wiege bis zur Bahre steht ihnen die staatliche Gesundheitsversorgung zur Verfügung, dazu subventionierter Wohnraum, Vorrechte auf dem Arbeitsmarkt, überaus günstige Darlehen 168

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für junge Familien sowie – nicht zuletzt – ein kostenloses Bildungssystem. (Die ersten modernen Lehrpläne, auf denen nun auch Mathematik und Englisch standen, gab es in den 1970er-Jahren; nach der Unabhängigkeit folgte dann in den 1980er-Jahren das volle Programm von Schulbüchern und staatlichen Prüfungen.) Wenn man sich diese umfassenden staatlichen Fürsorgeleistungen vor Augen führt, erscheint die offizielle Statistik, der zufolge das durchschnittliche emiratische Jahreseinkommen bei gerade einmal 48 000 Dollar pro Kopf liegt, als vollkommener Unsinn. Am anderen Ende der Skala steht das harte Los der Wanderarbeiter – dabei stellen sie die größte Bevölkerungsgruppe dar. Meist sind es junge Männer vom indischen Subkontinent, die ihre Familien zurücklassen mussten – sie dürfen sie nicht mit an den Golf bringen – und nun in armseligen Baracken hausen, wo nicht selten sechs oder acht von ihnen sich ein Zimmer teilen. Da sie kein Arabisch sprechen, sind sie skrupellosen Arbeitgebern, Bauunternehmen und Mittelsmännern vollkommen ausgeliefert. Sie arbeiten auf dem Bau, nicht selten in extremer Hitze und erhalten – für emiratische Verhältnisse – einen Hungerlohn. Ihren Arbeitgeber dürfen sie nicht wechseln, über ihre Bezahlung oder die Arbeitsbedingungen keine Verhandlungen führen. Ihr einziger Wunsch ist es, ihren Frauen oder Eltern ein wenig Geld in die Heimat schicken zu können. Um sie nicht zu enttäuschen, unterdrücken die Arbeiter jeden Gedanken an eine Beschwerde, von Protest gar nicht erst zu reden. Nach Beobachtungen von internationalen Menschenrechtsorganisationen kommt es zu vielerlei Missständen. Wie auch in Bahrain und Katar verschulden sich viele der armen Arbeitsmigranten in den VAE bei erbarmungslosen Kredithaien – und bei den Vermittlern, die sie überhaupt erst angeworben haben. Bei ihrer Ankunft legt man ihnen nicht selten Knebelverträge vor, die sie nicht lesen können und allein deshalb schon unterschreiben, weil sie Angst haben, sonst wieder nach Hause geschickt zu werden. Am Ende haben sie sich so unrettbar verschuldet, dass sie von früh bis spät schuften müssen wie Sklaven oder zumindest Schuldknechte. Im Jahr 2006 leitete die indische Regierung eine Untersuchung ein, weil so auffällig viele indische Staatsangehörige in den VAE Selbstmord begangen hatten. Auf der Baustelle des Burdsch Chalifa in Dubai kam es zu einer Revolte der Arbeiter, woraufhin andere auf dem Flughafen Dubai in einen Solidaritätsstreik traten. 2007 wurden rund 4000 Streikende festgenommen.57 2010 machten Arbeiter von der Baustelle des NYU-Abu DhabiCampus die amerikanischen Behörden auf Missstände aufmerksam.58 Inzwischen nimmt der internationale Druck auf die VAE zu, diverse 169

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internationale Menschen- und Arbeitsrechtskonventionen zu unterzeichnen, darunter die UN-Antifolterkonvention. Natürlich zieht eine gesellschaftliche Misere meist andere nach sich. Der ausgeprägte Überschuss an ledigen Männern in der Gesamtbevölkerung hat zu einem Anstieg von Prostitution, Menschenhandel und Sextourismus geführt, vor allem in Dubai. Frauen aus Russland und Äthiopien, heißt es, seien dort besonders gefragt, und Menschenhändlerbanden aus dem Ausland können dank geschickt platzierter Bestechungsgelder ungestört ihren Geschäften nachgehen. Der immense wirtschaftliche Aufstieg der VAE ist also mit erheblichen gesellschaftlichen Missständen erkauft worden, unter denen vor allem Migranten zu leiden haben. Im Grunde lebt jede der drei großen Bevölkerungsgruppen in den VAE in ihrem eigenen Kokon: Die einheimischen Emiratis haben weder mit den Scharen von Wanderarbeitern, deren Zahl die der Einheimischen weit übersteigt, noch mit den „Expats“ aus dem Westen, auf deren Arbeit viele Unternehmen und staatliche Institutionen angewiesen sind, viel gemein. Gelegenheitsbesucher aus dem Westen, wie ich selbst einer bin, werden automatisch in die Gesellschaft anderer Westler geschleust. Schwer zu sagen, wie diese statistisch gesehen reiche Gesellschaft, die jedoch auf einer Form von Rassentrennung beruht, sich künftig weiterentwickeln soll, wenn dabei nicht ein erheblich größeres Maß an Gleichheit und Grundrechten ins Spiel kommt. Dass 80 Prozent der Bevölkerung sich quälen und leiden, damit 20 Prozent bequem leben können, ist auf lange Sicht kein tragfähiges Gesellschaftsmodell. Man denkt unwillkürlich an das vorrevolutionäre Frankreich. In Dubai wurde ich von einem Paar herumgeführt, das dort seit zwanzig Jahren als Englischlehrer arbeitete, in Abu Dhabi von einem talentierten jungen Programmierer aus Polen. Auch zu Diplomatenempfängen wurde ich eingeladen. Aber weder mit den Wanderarbeitern, die man überall sieht, noch mit ganz normalen Emiratis bin ich in Kontakt gekommen. Um auch ihre Perspektive kennenzulernen, habe ich auf die Erfahrungen von anderen zurückgegriffen, die abenteuerlustiger gewesen sind als ich selbst. So hat etwa ein Reisender aus Neuseeland von seinem Gespräch mit den Matrosen berichtet, die auf dem Khor Dubai eine Fähre bedienen: Ich blieb stehen, um ein paar Worte mit der pakistanischen Mannschaft zu wechseln. … Ihr Leben war so anders als meines: absolut anders, aber wenn man sich gegenseitig Fotos von seinen Kindern zeigt, hat man sofort eine Verbindung, die überall gültig ist. [Sie waren] so freundlich, und 170

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ganz offensichtlich machte es ihnen großen Spaß mit einem „Kiwi“ zu plaudern, weil Neuseeland ja so viele berühmte [Cricketspieler] hervorgebracht hatte … Immer wieder habe ich mit Männern gesprochen, die ihre Söhne und Töchter schon ein Jahr nicht mehr gesehen hatten – oder schon drei Jahre nicht mehr. Unter verschiedenen Arten von Lohnfesseln hatten sie die freie Wahl gehabt. Ihre sporadischen Besuche in der Heimat machten ihr Heimweh [nur] noch schlimmer …59

Eine in den Emiraten ansässige britische Journalistin hat andererseits recherchiert, warum Expats und Emiratis nicht in Kontakt treten: „Die Realität in Dubai ist ganz einfach, dass die meisten von uns in einer ‚ExpatBlase‘ leben. Ja, unsere Freunde hier kommen aus 200 verschiedenen Ländern – aber haben wir auch einheimische Freunde? Unwahrscheinlich.“60 Eine andere Journalistin hat die emiratische Seite des Problems untersucht. Ihr erster Interviewpartner war der Autor Abdel Khalek Abdullah. „Die Emiratis verlieren zunehmend ihre Identität“, sagte der, „die Anwesenheit von so vielen Expats führt immer öfter zu inakzeptablem Verhalten, das unseren Traditionen zuwiderläuft.“61 Ganz oben in der langen Chronik des „inakzeptablen Verhaltens“ muss wohl der Fall jenes britischen Pärchens genannt werden, das 2008 ausgewiesen wurde, nachdem es am helllichten Tag und an einem öffentlichen Strand Sex gehabt hatte. Aber auch allzu freizügige Kleidung bei den ausländischen Damen und übermäßiger Alkoholgenuss führen dazu, dass die Einheimischen sich immer stärker von der westlichen Präsenz in ihrem Land gestört fühlen  – und das wiederum befeuert die Tendenz, sich in exklusive Wohnanlagen am Stadtrand zurückzuziehen. Eine Politologin von der staatlichen Universität der VAE, Professor Ibtisam al-Ketbi, hat sich in dieser Frage besonders freimütig geäußert: „Wir sind zu einer Minderheit [in unserem eigenen Land] geworden“, klagte sie, „und Arabisch ist schon nicht mehr die wichtigste Sprache. Wir sind von Ausländern umgeben und leben in ständiger Angst um unsere Kinder wegen einer Schwemme von Drogen und der steigenden Kriminalität. … Wir leben praktisch schon jetzt in Reservaten. … In zwanzig Jahren wird es uns gehen wie den Indianern in Amerika.“62 Religiöse Spannungen heizen die ohnehin gereizte Stimmung weiter an. Seit Langem gelten die VAE als der moderateste Staat in der ganzen Region, und ganz gewiss fallen sie nicht in dieselbe Kategorie von repressivem Regime wie das benachbarte Saudi-Arabien mit seinem fundamentalistischharten Wahhabismus. Scheich Zayid hat seinerzeit sogar Kritik vonseiten 171

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konservativer Emiratis einstecken müssen, weil er darauf bestand, dass alle „Völker des Buches“ oder „Schriftbesitzer“ – wie Juden und Christen in der islamischen Tradition genannt werden – in seinem Staat sollten Gottesdienst halten dürfen. So kommt es, dass in den Emiraten eine Vielzahl christlicher Kirchen vertreten sind und toleriert werden  – Katholiken, Protestanten, Orthodoxe und Kopten –, während einige kleinere Gruppierungen wie etwa Mormonen oder Pfingstler ebenfalls ohne Einschränkung tätig sein können. Und doch kann man solche westlichen Konzepte wie „Toleranz“ und „Religionsfreiheit ohne Einschränkungen“ im emiratischen Kontext kaum eng genug interpretieren. Weder Buddhisten noch Hindus noch Sikhs dürfen in den VAE Tempel errichten, und Missionare aus dem Ausland sind nicht willkommen. Zuzugeben, dass der Islam selbst eine Vielzahl unterschiedlicher Spielarten umfasst, fällt den emiratischen Behörden schon schwer genug. Staatliche Zensoren überwachen den Inhalt der in den Moscheen gehaltenen Predigten, und in dem größten Teil des emiratischen Rechtssystems kommt die Scharia zur Anwendung, besonders im Familien- und Strafrecht. Zwar kann man überall (außer in Schardscha) Al­kohol und Schweinefleisch kaufen, aber die in der Scharia vorgesehenen Strafen gelten für Muslime und Nichtmuslime gleichermaßen. Auspeitschungen sind an der Tagesordnung, und die vorherrschenden Ansichten in Sachen Ehebruch und häusliche Gewalt müssen auswärtigen Beobachtern geradezu vorsintflutlich erscheinen. Muslimische Männer dürfen Frauen „des Buches“ heiraten (also Christinnen oder Jüdinnen), aber muslimische Frauen dürfen ausschließlich Muslime heiraten. Der Emir von Adschman hat Geldpreise für jeden Strafgefangenen ausgelobt, der in der Zeit seiner Haft den Koran auswendig lernt. Die Schiiten sitzen ganz besonders in der Falle. Zwar sind sie als Muslime anerkannt, machen 15 Prozent der emiratischen Staatsangehörigen aus (und sogar 40 Prozent der Bevölkerung), aber in den Institutionen, die das muslimische Leben in den VAE bestimmen, haben sie keinerlei Mitspracherecht. Ihre Moscheen müssen sie als private Vereine organisieren. Zudem werden sie politisch unter Generalverdacht gestellt; oft unterstellt man ihnen, sie seien die fünfte Kolonne Irans oder unterstützten die Hisbollah. In den Jahren 2013 und 2014 wurden rund 4000 Schiiten kurzerhand aus den VAE ausgewiesen, nachdem man ihnen ohne Vorwarnung die Arbeitserlaubnis entzogen hatte. Die Regierung Pakistans war die einzige, die gegen dieses Vorgehen protestierte.63 Unter den Schiiten geht es der Gemeinschaft der Ismailiten noch vergleichsweise gut. Ihr religiöses Oberhaupt, der Aga Khan, ist ein Freund 172

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des Scheichs von Dubai, und 2008 wurde dort ein elegantes Ismailitisches Zentrum eröffnet, um gute Beziehungen zwischen Ismailiten und anderen Muslimen zu fördern. Schreiende Ungleichheit besteht hingegen mit Blick auf jenes andere „Volk des Buches“, das die abrahamitische Tradition überhaupt erst begründet hat: Eigentlich sollten Juden in den VAE dieselben Rechte zukommen wie Christen. Und doch gibt es keine einzige öffentliche Synagoge. Das Problem wird auch im Internet diskutiert: „Gibt es nun eine Synagoge oder nicht?“  – „Ja, gibt es: Den jüdischen Gebetsraum auf der Queen Elizabeth II [die als Hotel- und Museumsschiff im Hafen von Dubai festgemacht ist].“ Noch schwieriger wird die Situation durch die oft ablehnende Haltung der Einheimischen gegenüber Israel. Ihre Vorbehalte dem Judentum gegenüber rechtfertigen Emiratis nicht selten unter Verweis auf die schlechte Behandlung der Palästinenser durch den israelischen Staat. Scheich Zayid hat versucht, die Lage zu bessern, aber die Ergebnisse seiner Bemühungen müssen ihn entmutigt haben. So hat er in Abu Dhabi das Zayed Center for Coordination and Follow-Up gegründet (etwa: „ZayidZentrum für Koordination und dauernde Gesprächsbereitschaft“), das als Ideenschmiede und als Forum für den interreligiösen Dialog dienen sollte.64 Auch hat er dem renommierten theologischen Seminar der Harvard University eine große Summe gespendet, damit dort ein Lehrstuhl für islamische Theologie errichtet werde.65 Beide Initiativen sind gescheitert. Das Zayed Center hatte zwar illustre Gäste wie die früheren US-Präsidenten Clinton und Carter, wurde dann aber zur Zielscheibe heftiger Kritik; unter anderem wurde den Verantwortlichen vorgeworfen, sie hätten der Leugnung des Holocaust Vorschub geleistet. Und in Harvard nannten Demonstranten Scheich Zayid einen Sklavenhalter und Geldgeber antisemitischer Umtriebe. Das Zayed Center wurde 2003 geschlossen, die Spende an Harvard zurückgezogen. Die Fülle an Universitäten in den Emiraten passt also nicht so ganz zu ihrer politischen Landschaft, die strenge, ja diktatorische Züge trägt, noch zu ihrer gesellschaftlichen und intellektuellen Landschaft, die trostlos, um nicht zu sagen öde ist. Allein in Dubai mit seinen Wolkenkratzern und Metro-Stationen gibt es 79 Universitäten und andere Hochschulen – verglichen mit 109 Universitäten in ganz Großbritannien. Drei dieser Einrichtungen tragen das Wort American in ihrem Namen, andere sind „britisch“, „kanadisch“, „französisch“ oder „russisch“. Die Studiengebühren für einen ersten Studienabschluss liegen zwischen 22 000 und 90 000  Dirham im Jahr, das entspricht etwa 5000 bis 22 000 Euro. Wer eine Business School 173

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besuchen möchte, muss mit Kursgebühren von mehr als 100 000 Dirham rechnen (etwa 25 000 Euro); Medizin oder Zahnmedizin schlagen mit bis zu 250 000  Dirham zu Buche (rund 63 000  Euro). An Eltern, die solche Summen bereitwillig zahlen, mangelt es nicht. Aber wie nur sollen sie die guten Schulen von den eher zwielichtigen unterscheiden? Vielleicht gehen sie einfach einmal die Liste im Internet durch und verlassen sich auf ihren Instinkt: Aga Khan University, Atlanta University, Bharathiar University, Calicut, Duke, Exter, Fuqua, Griggs, Herriot-Watt, Indira Gandhi National, Jazeera, Kidville, London Business, Murdoch, Nottingham, Online, Philippine, Quaid I. Azam, Richford, Strathclyde, University of Dubai, Vellore, Wollongong, Zayed International … Alle diese Hochschulen machen Werbung im Internet, und alle haben ein glaubwürdiges Auftreten: Die University of Jazeera reagiert auf Veränderungen in den nationalen, regionalen und internationalen Anforderungen, indem sie Diversität begrüßt und Innovationen in den Bereichen Lernen, Lehre, Forschung und Ehrenamt fördert. Die UOJ hat es sich zum Ziel gesetzt, aus einer Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden heraus ethisches Verhalten und sicheres Wissen in die Gesellschaft der VAE und der ganzen Welt zu tragen.66

Aber auch hier gilt natürlich das alte Sprichwort: caveat emptor – „Augen auf beim Eierkauf!“ Die Kidville University beispielsweise gehört zu einer internationalen Kindergarten-Kette. Und fraglos gibt es auch PhantomUniversitäten, die nur zu gern Anzahlungen entgegennehmen, über ihre Website hinaus aber nichts zu bieten haben. Dennoch ist eines klar: Die Scheichs vom Golf setzen große Stücke auf den Hochschulsektor. Die großzügige Spende Scheich Zayids an die London School of Economics mag man als Ausdruck seines guten Willens auffassen.67 Viel ist von einer „wissensbasierten Ökonomie“ die Rede, und dieses Schlagwort fällt besonders häufig, wenn emiratische Politiker oder Beamte ihre Pläne für die „Zeit nach dem Öl“ darlegen; schon jetzt wird die starke Abhängigkeit der VAE vom Ölexport als problematisch empfunden. Aber das Streben nach Wissen lässt sich schwerlich rein wirtschaftlich begründen. Der Sinn und Zweck des Wissenserwerbs an sich muss in jedem Bildungsverständnis, das auf eine tatsächliche Bildung des Individuums abzielt, zentral sein. Die Verantwortlichen in den Emiraten haben weder Kosten noch Mühen gescheut und sich hierüber ihre Gedanken gemacht. Zumindest auf dem Papier scheinen ihre Prioritäten dabei klar zu sein: 174

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Die VAE bieten heute Schülern und Studenten beiderlei Geschlechts eine umfassende Erziehung vom Kindergarten bis zur Universität; [diese ist] für emiratische Staatsangehörige auf allen ihren Ebenen kostenfrei. … Viel ist bereits erreicht worden, aber es herrscht Einstimmigkeit darüber, dass noch vieles zu tun bleibt. … Die emiratische Regierung wird Bildungsfragen auch weiterhin oberste Priorität einräumen, [dazu werden] 21 Prozent des Bundeshaushalts für 2014 aufgewandt, das sind 9,8 Milliarden Dirham [etwa 2,45 Milliarden Euro]; [davon] werden allein 3,8 Milliarden Dirham [etwa 950 Millionen Euro] in akademische Exzellenzinitiativen für die lokalen Universitäten investiert. Um diese politische Linie erfolgreich umzusetzen, hat das Erziehungsministerium der VAE … eine Reihe von ambitionierten Fünfjahresplänen entworfen, die eine signifikante qualitative Verbesserung erzielen sollen …, insbesondere mit Blick auf das methodische Vorgehen der Lehrenden und Lernenden.68

Die entscheidenden Formulierungen sind „akademische Exzellenzinitiativen“ und „signifikante qualitative Verbesserung“. Zur Erreichung beider Zwecke wurde das Emirates College for Advanced Education gegründet. „Wir sind wie jene, die einen Berg bestiegen haben und nun auf dem Gipfel angelangt sind,“ hat Scheich Zayid einmal gesagt, „wenn wir nach unten schauen, wollen wir immer noch höher hinaus.“ Mein Vortrag in Al-Ain hat mir eine Kostprobe von diesem hochgelobten Bildungssystem verschafft. Der Kanzler der Hochschule, ein freundlicher, weißhaariger Kanadier, sprach ein paar einführende Worte und stellte mich vor; man hatte ihn aus dem Ruhestand zurückgeholt, um die Verwaltung dieser Universität zu übernehmen. Auch die Rektorin der Hochschule, eine würdige, etwas ernste ältere Dame in schwarzem Gewand, saß im Publikum, was ich als eine besondere Ehre auffasste. Der Hörsaal verfügte über die neueste Technik: elektrische Verdunklungsrollos, dimmbare Beleuchtung, Kameras und Mikrofone zur Aufzeichnung von Vorlesungen, Beamer und Leinwand für Präsentationen. Die roten Plüschsessel hätten in einem Opernhaus nicht fehl am Platz gewirkt. Geräuschlos wehte eine fein justierte kühle Brise aus den Belüftungsschlitzen an der Decke des Saales. Dreißig oder vierzig Angehörige des Lehrkörpers, die allermeisten von ihnen Europäer, saßen gemeinsam in der Mitte des Auditoriums. Drei Studentinnen in schwarzen abayas saßen am äußersten rechten Rand des Zuschauerblocks; nicht einmal die dringliche Bitte des Kanzlers konnte sie dazu bewegen, in die Mitte der Sitzreihe durchzurücken. 175

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Nach meinem Vortrag wurden Tee und feines Gebäck gereicht. Als ich gerade mit einer Gruppe von Englischdozenten plauderte, kam der Kanzler und scheuchte die drei mutigen Studentinnen in meine Richtung. Ihre Köpfe waren bedeckt, aber sie waren nicht verschleiert. Nur eine von den dreien war unverkrampft genug, mit mir ein paar Worte zu wechseln, bat aber darum, dass wir Französisch sprächen. Sie kam aus Algerien, und der zweiminütige Austausch von Höflichkeiten, der sich nun anschloss, war auch schon mein ganzer Kontakt mit der örtlichen Studentenschaft. Ganz so, wie Geschäftsleute sich mit einem „schwarzen Loch“ konfrontiert sehen, stehen Kurzzeit-Besucher nicht selten vor einer „gläsernen Wand“, die einen ungezwungenen Austausch mit den Einheimischen zumindest erschwert. Anschließend bot man mir eine Tour über den äußerst sonnigen Campus. Mein weißgewandeter Betreuer fuhr mich in einem elektrischen Golfwagen von einem prachtvollen Gebäude zum nächsten. Vom Giebel eines halbmondförmigen Verwaltungsgebäudes strahlte uns als Wandgemälde ein riesiges Porträt von Scheich Zayid entgegen. Gegenüber dem Sport­ zentrum mit seinem wettkampftauglichen 50-Meter-Becken standen schmucke Studentenwohnheime und Laborgebäude aufgereiht, die aus makellosem roten Backstein gerade erst neu erbaut worden waren. In den Regalen der riesenhaften neuen Universitätsbibliothek standen noch kaum Bücher, aber die technisch voll ausgestatteten Einzelleseräume waren geräumig und licht; auch die zentrale Buchausgabe genügte, was die Computertechnik anging, höchsten Ansprüchen. Uniformierte Bibliotheksmitarbeiter warteten nur darauf, jemandem behilflich sein zu können. Erst nach einer Weile wurde mir klar, was hier fehlte. Im Schwimmbecken waren keine Schwimmer, in den Labors keine Forscher, keine Leserinnen und Leser in der Bibliothek. Alle diese prachtvollen Einrichtungen waren vollkommen menschenleer. Es war Donnerstagnachmittag; alle Studenten, sagte man mir, seien mit Bussen in die Stadt zurückgefahren worden, um dort mit ihren Familien das muslimische Wochenende – Freitag und Samstag – zu verbringen. „Was ich ihnen gerade gezeigt habe“, sagte mein kundiger Führer, „ist der Frauencampus. Wir haben hier einen Frauenanteil an der Studentenschaft von gut 80 Prozent, aber da jetzt ja niemand hier ist, kann ich problemlos mit Ihnen herumfahren. Der Männercampus ist auf der anderen Seite des ‚Halbmondes‘.“ Er erklärte mir auch, wie die Bibliothek funktioniert: Männer und Frauen haben getrennte Eingänge auf gegenüberliegenden Seiten des Gebäudes; sie holen ihre Bücher von getrennten Theken ab 176

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und lesen sie in getrennten Lesesälen. Die strikte Trennung der Geschlechter – und die Vormundschaft der Männer über die Frauen – erscheinen als unveränderliche Prinzipien der emiratischen Gesellschaft. An meinem letzten Abend laden mich drei freundliche US-Akademiker zum Essen ein. Hier in den VAE arbeiten sie alle im Edubiz, wie sie es nennen, also im Bildungswesen. Zwei von ihnen sind in der Qualitätssicherung tätig, oder genauer: in quality assessment and analysis („Qualitätsprüfung und -analyse“). Alle sind sie Spitzenverdiener und geben offen zu, dass sie hier deutlich höhere Monatsgehälter erzielen, als man ihnen zu Hause in den Vereinigten Staaten gezahlt hatte. Unser Gespräch beginnt mit Politik. „Gibt es hier eigentlich irgendwelche Regimekritiker?“, frage ich gleich als Erstes. „Aber klar!“, antwortet einer. „Viele Tausend sogar. Das Problem ist nur: Wer hier offen seine Meinung sagt, bekommt so heftig eins über den Schädel, dass alle anderen gleich eine Todesangst bekommen.“ Erst vor Kurzem hatten fünf Emiratis in einem Brief vorzuschlagen gewagt, die Mitglieder der Nationalversammlung sollten zumindest teilweise gewählt werden. Die Unterzeichner des Briefes wurden sofort festgenommen, man drohte ihnen ein Strafverfahren wegen Aufwiegelung der Öffentlichkeit an. „Aufwiegelung, meine Güte“, fuhr mein Gesprächspartner fort, „das ist ja praktisch Landesverrat.“ „Mich erinnert es an die Kommunisten in Osteuropa“, sage ich. „Die konnten auch nicht zwischen konstruktiver Kritik und bewaffnetem Aufstand unterscheiden. Und dann haben sie eben abgewartet, bis alles um sie herum zusammengebrochen ist.“ „Ja, das trifft’s genau“, kommt die Antwort. „Diese Kerle hier sind zwar zügellos liberal, wenn man sie mit den Nachbarn in Saudi-Arabien vergleicht; aber sie glauben ja trotzdem, dass sie ihre Autorität direkt von Allah bekommen haben.“ „Emire von Gottes Gnaden?“, werfe ich ein. „Haargenau – und mit Allah führt man keine politische Debatte!“ „Und was ist mit den Islamisten?“, frage ich weiter. „Ein islamisches Land ohne Islamisten ist ja kaum vorstellbar.“ „Natürlich nicht. Die gibt’s hier haufenweise, und zwar in zig Varianten. Aber das Problem ist genau dasselbe wie bei den säkularen Dissidenten: Die Behörden können nicht zwischen harmlosen Spinnern und gefährlichen Extremisten unterscheiden. Es gibt zum Beispiel eine Gruppierung namens 177

3. Al-Imarat

Al-Islah, das heißt ‚Reform‘. Einer ihrer Köpfe, eine Jemenitin, hat sogar den Friedensnobelpreis bekommen.* Aber die Regierung behandelt sie alle ohne Unterschied als Subversive und wirft ihnen vor, einen gewaltsamen Umsturz zu planen.“ Im Sommer 2013 fand in Abu Dhabi der Prozess gegen 94 Mitglieder von Al-Islah statt. Die Angeklagten wurden als Mitglieder der Muslimbruderschaft beschimpft – zu einer Zeit, als Mohammed Mursi, ebenfalls ein Muslimbruder, gerade noch als der erste demokratisch gewählte Präsident Ägyptens amtierte. Zudem waren die Verbindungen zwischen Al-Islah und der Muslimbruderschaft kein Geheimnis und gehen auf Ägypter zurück, die in den 1970er-Jahren auf der Flucht vor dem Nasser-Regime ins Ausland gingen. In den VAE erhielten nun 56 der Angeklagten Gefängnisstrafen; acht wurden in Abwesenheit verurteilt; und sechs wurden freigesprochen.69 „Werden die Scheichs also weiter den Deckel draufhalten?“, frage ich. „Puh, keine Ahnung. Versuchen tun sie es, und wie. Gerade geht es sehr darum, das Internet zu kontrollieren.“ Der emiratische Hauptserver ETISAT blockiert unliebsame Websites automatisch, überwacht sämtliche Tweets und Facebook-Einträge. Und auch als unsere Unterhaltung sich in Richtung Bildungssystem bewegte, hat mich die Offenheit meiner Gesprächspartner verblüfft. Keiner dieser Profis hatte auch nur den geringsten Zweifel daran, dass in dem System, in dem sie alle arbeiteten, gehörig etwas faul war. Dabei machten sie der Regierung keine Vorwürfe – auch wenn sie sich über die „black box“ beschwerten –, und auch ihren Expat-Kollegen gaben sie keine Schuld (auch wenn sie hier und da auf ein schwarzes Schaf zu sprechen kamen): Was ihnen wirklich gegen den Strich ging, war die tief verwurzelte emiratische Art, mit Lehren und Lernen umzugehen. „Das größte Hindernis“, sagte einer, „ist der sture, vollkommen statische Wissensbegriff, den die hier haben. Wissen hat für die mit Denken scheinbar gar nichts zu tun.“ „Alles, was die Dozenten wollen“, sagte ein anderer, „ist eine Powerpoint-Präsentation, mit der sie eine Zusammenfassung von einem beliebigen Thema abliefern, und die Studenten plappern es dann nach.“ „Selbst denken? Fehlanzeige!“ „Von Spitzenforschung haben die noch nie gehört.“ * Tawwakul Karman, die Gründerin der Vereinigung Women Journalists without Chains

(WJWC, „Journalistinnen ohne Ketten“), ist 2011 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden.

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Berge von Geld und tankerweise Missverständnisse

Dann nehmen sie das „absolut bizarre Geschlechterverhältnis“ aufs Korn. „Frauen studieren hier hauptsächlich, damit sie mal die Überwachung durch ihre Männer und Brüder loswerden.“ Viele bekommen schon vor Studienbeginn die ersten Kinder, wie es scheint, und die Mehrzahl der Studentinnen wird sich gleich nach Studienabschluss auf ihre Rolle als Hausfrau und Mutter konzentrieren. Nur relativ wenigen gelingt es, eine akademische oder berufliche Karriere einzuschlagen. Ein größeres Hindernis als die äußeren Umstände scheinen dabei die inneren Einstellungen zu sein. „Emiratis zu einer Promotion bewegen zu wollen, ist ein absoluter Albtraum“, sagt der dritte Universitätsmensch. „Die verstehen gar nicht, was das soll, haben keinerlei Begriff davon, ‚wissenschaftliches Neuland zu betreten‘ oder ‚bahnbrechende Entdeckungen‘ zu machen. Man hört ja manchmal, die seien einfach faul. Das glaube ich aber nicht. Es liegt an etwas anderem: Wenn wir Forschungsprogramme damit bewerben, dass dort ein ‚eigener Beitrag zum Wissen der Menschheit‘ geleistet werden soll, dann sehen die Menschen hier einen inneren Widerspruch – und schreiben sich nicht ein.“ Das hat schwerwiegende Folgen. Seit zwanzig Jahren versucht man, das emiratische Hochschulsystem mit einheimischen Kräften zu „emiratisieren“  – bislang ohne Erfolg. Dabei ist das Ziel, Wissenschaftler aus dem Inland heranzuziehen, um die „importierten“ Professoren nach und nach zu ersetzen. „Aber wir können doch niemandem einen Lehrstuhl geben, der noch keine Doktorarbeit geschrieben hat!“ Amerikaner und Europäer kritisieren zwar gern, sollten aber nicht vergessen, dass auch die westlichen Bildungssysteme keineswegs perfekt sind – und außerdem Jahrhunderte gebraucht haben, um ihren heutigen, modernen Entwicklungsstand zu erreichen. Noch dazu ist ein eher statischer Wissensbegriff, historisch gesehen, ja kein alleiniger Makel der islamischen Welt. Noch Jahre nachdem Francis Bacon seinen 1605 erschienenen Klassiker The Advancement of Learning (Über den Fortschritt der Wissenschaften) geschrieben hatte, war sein Zeitgenosse Galileo Galilei ins Gefängnis geworfen worden, weil er das Weltbild der römischen Kirche infrage gestellt hatte. Das ist jetzt vierhundert Jahre her. Die VAE wollen dieselbe Entwicklung von Galileo bis heute innerhalb weniger Jahrzehnte aufholen. Wie jedes Kind weiß, ist das Aufstellen von Hochschul-Ranglisten keine exakte Wissenschaft. Englischsprachige Universitäten, auf die dieser Brauch ja letztlich zurückgeht, haben dabei einen gewissen Startvorteil. 179

3. Al-Imarat

Zum Zeitpunkt meines Besuches in den VAE waren die sechs in diesem Sinne „besten“ Universitäten der Welt die folgenden: 1. California Institute of Technology (Caltech) 2. Harvard 3. Stanford 4. Oxford 5. Princeton 6. Cambridge

Aber selbst, wenn man diese Dominanz angelsächsischer Institutionen mit einer gewissen Vorsicht bewertet, waren die schlechten Platzierungen arabischer Universitäten regelrecht beschämend. Trotz üppigster finanzieller Mittel haben es nur vier (!) von ihnen unter die eintausend besten Universitäten der Welt geschafft. Viele der Probleme, die in den VAE zu beobachten sind, betreffen den gesamten arabischen Raum. Die beste emiratische Hochschule, die Universität der VAE in Al-Ain, belegt zwar im innerarabischen Hochschulvergleich den achten Platz, steht weltweit jedoch nur auf Rang 1157. Die Universität Schardscha findet sich auf Rang 1694 wieder, die Amerikanische Universität von Schardscha sogar nur auf Rang 1922, und die hochgelobte technische Hochschule der Emirate, die Higher Colleges of Technology, bei denen ja „das selbstständige und lebenslange Lernen im Mittelpunkt steht“, liegen weit abgeschlagen auf Rang 2074.70 Manche sind der Ansicht, die arabische Hochschulwelt leide an einer Art „religiösem Kater“ – den schlimmen Nachwirkungen der lange Zeit dominanten religiösen Erziehung; dort stehen nämlich das Auswendiglernen und die stark ritualisierte Berufung auf theologische Autoritäten im Vordergrund. Andere verweisen eher auf den schädlichen Einfluss despotischer politischer Regimes, die jegliches kritische Denken unterdrücken. Von diesen Punkten einmal ganz abgesehen, sollten die Emiratis sich ­fragen, ob Spitzenforschung und Hochschulbildung wirklich nur Waren oder Handelsgüter sind wie andere auch. Glauben sie wirklich, Wissen und Bildung könne man einfach so für Geld importieren? Ihre amerikanischen Freunde würden diese Frage vielleicht mit „ja“ beantworten, auch wenn vielen bewusst ist, dass die Sache eigentlich komplizierter ist. Hohe Bildungsstandards sind zum Teil das Werk von guten Lehrern, Dozenten und Professoren, die man ja durchaus ausbilden oder „einkaufen“ kann; aber zu einem größeren Teil sind sie das Ergebnis eines produktiven Austauschs zwischen Lehrenden und Lernenden. Wenn die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an 180

Berge von Geld und tankerweise Missverständnisse

einer Lehrveranstaltung schlecht vorbereitet oder unmotiviert sind, wäre selbst ein Albert Einstein als Lehrer auf verlorenem Posten. Die Bodenqualität ist mindestens genauso entscheidend wie die Qualität des Saatguts. Vielleicht braucht das Ganze einfach Zeit. Bildung ist wie eine mächtige Eiche, die über Generationen langsam heranwächst. Niemand kann sie zu einem Wachstum zwingen, das ihre grundlegenden natürlichen Rhythmen übersteigt – vor allem nicht damit, dass man sie mit einer goldenen Gießkanne gießt. Bildung ist ein grundlegender Übertragungsmechanismus von Kultur – und Kultur ist, auf lange Sicht, stärker als Geld. Fairerweise muss man sagen, dass viele bemühte Lehrer und Dozenten in der islamischen Welt sich der beschriebenen Problematik durchaus bewusst sind. Sie alle berufen sich auf ein Wort des Propheten Mohammed, der gesagt hat: „Das Streben nach Wissen ist Pflicht für jede Muslimin und jeden Muslim“, und wiederholen die Frage des Koran: „Sind etwa diejenigen, die wissen, und diejenigen, die nicht wissen, gleich?“* Sie verweisen auf die Tradition, der zufolge Mohammeds Frau Aischa eine gebildete Person gewesen sei, und trösten sich mit der Tatsache, dass in vielen – wenn auch nicht allen – islamischen Ländern immer mehr Mädchen zur Schule gehen. In dieser Hinsicht gehören die VAE – wie auch etwa Iran – zu den absoluten Vorreitern, während Länder wie Jemen, Jordanien oder Sudan unter die Schlusslichter fallen. Wenn diese muslimischen Pädagogen nun ein neues Interesse an den kulturellen und wissenschaftlichen Errungenschaften des islamischen Mittelalters schöpfen, dann muss ihnen die relative Rückständigkeit ihrer Länder in der modernen Welt nur umso stärker ins Auge stechen – wie könnten sie den Riss nicht beklagen, der die religiöse und die weltliche Bildung inzwischen voneinander getrennt hat? Kurz gesagt, würden sie fraglos das Konzept einer „großen Divergenz“ akzeptieren, mit dem Kenneth Pomeranz die heutigen großen Unterschiede zwischen den „westlichen“ Ländern und dem Rest der Welt zu erfassen versucht hat. Und natürlich wollen sie, dass diese Lücke, diese „große Divergenz“, so schnell wie möglich geschlossen wird.71 Nicht alle Emiratis sind begeistert von dem drastischen, noch immer nicht vollkommenen Wandel in ihrem Land. Von der Besorgnis über Wanderarbeiter und Expats einmal ganz abgesehen, empfinden gerade ältere Menschen, die den radikalen Wandel vom Beduinenzelt zum klimatisierten

* Zit. nach der Ausgabe des Hadith von Adel Th. Koury (Lizenzausgabe WBG 2008), Bd. 1, S. 38.

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3. Al-Imarat

Wolkenkratzer am eigenen Leib erfahren haben, keine geringe Nostalgie, wenn sie an die „gute alte Zeit“ von (Stammes-)Gemeinschaft und Solidarität denken: Wir haben alles zusammen gemacht. Wir haben zusammen gewaschen, wir haben zusammen gefischt, wir haben zusammen gearbeitet [sic]. Wir haben unser Essen geteilt. … Unsere Kinder waren nicht nur die Kinder ihrer Eltern, sie waren die Kinder der ganzen Gruppe, der ganzen Nachbarschaft. Nach der Arbeit haben wir gemeinsam gesungen. Wir haben kaum etwas je alleine gemacht. Das Leben war härter damals, aber es war … ein schönes Leben. Es war einfach, und alle haben zusammengehalten. Heute sind alle verstreut … und kümmern sich nur um ihre eigenen Angelegenheiten.72

Dass die Emirate mit nennenswerten kolonialen Altlasten zu kämpfen hätten, lässt sich wohl kaum behaupten. Zwar kann man den Briten durchaus vorwerfen, weite Teile der arabischen Welt für ihre eigenen politischen Zwecke ausgenutzt zu haben, nur um sich dann aus dem Staub zu machen, bevor in den betreffenden Ländern eine stabile Demokratie etabliert werden konnte. Aber im Gegensatz etwa zu Palästina oder Irak hat es in den Trucial States keinerlei Bestrebungen gegeben, eine tatsächlich imperiale Herrschaft zu errichten. Die schlimmsten Auswirkungen der britischen Protektoratsherrschaft am Persischen Golf waren wohl, dass sie ein antiquiert-patriarchales Gesellschaftssystem konserviert, das Gottesgnadentum der Scheichs legitimiert und letztlich ihren Beitrag geleistet hat, den „frischen Wind des Wandels“ von den Emiraten fernzuhalten. Während ich mich für die Abreise fertig machte, ging mir daher der Wert „80  Prozent“ im Kopf herum: Rund 80 Prozent der emiratischen Bevölkerung werden grundlegende Bürgerrechte vorenthalten und sie erhalten dabei Löhne, die mindestens 80 Prozent unter dem Durchschnittsverdienst liegen; 80  Prozent der Hochschulabsolventen  – nämlich die -absolventinnen – haben keine Aussicht darauf, ihr späteres Leben selbstbestimmt und gleichberechtigt führen zu können. Selbst unter den wohlhabenden Einheimischen regt sich Unmut. Das alles scheint mir eine gesellschaftspolitische Zeitbombe – und vielleicht liegt die Wahrscheinlichkeit ja schon jetzt bei 80 Prozent, dass sie demnächst hochgeht. Anders als Cornwall oder Aserbaidschan oder viele andere Länder, die ich auf meiner Reise besucht habe, haben die Vereinigten Arabischen ­Emirate nur wenig wirklich tiefes historisches Wurzelwerk. Sie sind ein 182

Berge von Geld und tankerweise Missverständnisse

Geschöpf der letzten paar Jahrzehnte, ein Laboratorium und Musterbeispiel für den schwindelerregenden Wandel unserer gegenwärtigen Welt. Dabei verdankt sich das Gewimmel auf den Straßen von Dubai oder Abu Dhabi einzig und allein Immigranten und Neuankömmlingen: Auch jene angeblich „Eingeborenen“, die ortsansässigen Araber nämlich, die Kinder und Enkel jener Bedu-Nomaden, die Wilfred Thesiger beschreibt, sind vor gerade einmal zwei oder drei Generationen aus der angrenzenden Wüste hierhergekommen. Die Menschen in dem multinationalen Heer von billigen Arbeitskräften, die zahlenmäßig das Land inzwischen dominieren, sind Nutznießer und zugleich Opfer einer sich zunehmend aggressiv globalisierenden Weltwirtschaft. Und die kleinere Söldnertruppe der Expats ist ein Produkt des Jet-Zeitalters. Ihre Lage ist ebenso beneidenswert wie bemitleidenswert. Man fragt sich unweigerlich, ob dieser Boom nicht eines Tages  – gleich einer Fata Morgana  – genauso plötzlich wieder aufhören wird, wie er einst begonnen hat.

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4. Dilli – Delhi: Dalits, Tempel und Salutschüsse

185

4. Dilli – Delhi

Die Distanz zwischen Dubai und Delhi entspricht etwa der zwischen Baku und Dubai, auch wenn die Richtung, in die man dabei fliegt, den Reisenden leicht verwirren kann. Der Emirates Flug 380 startet über den Golf, überquert die Straße von Hormus und folgt dann einem stabilen Ost-NordostKurs über Pakistan hinweg. Man vergisst oft, dass Nordindien sich weit in den Himalaya hineinzieht und die indische Hauptstadt folglich auf einem höheren Breitengrad als die Straße von Hormus oder Karachi liegt. Links von ihr finden sich die nordwestliche Grenze und der Chaiber-Pass, rechts die Provinz Sindh und die Wüsten von Rajasthan. In kaum drei Stunden bewältigt der Flug den Übergang von einer der wichtigsten Regionen Asiens zu einer anderen, vom Mittleren Osten zum Subkontinent. „Die Inder“, erklärt mir der Botschafter nachdrücklich, als wir in seiner Limousine von Delhis Flughafen losgefahren sind, „zeigen überhaupt kein Interesse an Europa. Sie werden dazu auch nicht ermutigt. Sie schauen nach Amerika, sie fürchten China immer mehr, und sie sind paranoid, was Pakistan angeht. Die Europäische Union findet einfach nicht statt.“ „Vermutlich nicht, Eure Exzellenz.“ „Und dabei“, fährt er fort, „gelten die europäischen Nationen hier alle etwas, vor allem die Briten. Doch sie verhalten sich untereinander wie Wettbewerber, wie Rivalen; sie zeigen keine Solidarität; sie stellen sich nicht als Europäer dar.“ Tatsächlich treffen hier immer wieder Regierungschefs ein, große Wirtschaftsdelegationen im Schlepptau. Handelsminister landen ebenfalls in Delhi, umschwärmt von Geschäftsleuten. Industriebosse drehen ihre Runden, um Autos, Flugzeuge oder Schiffe zu verkaufen. „Die Briten, die Deutschen, die Franzosen, sogar die Belgier  – alle machen es so“, erläutert der Botschafter. „Sie stoßen die anderen beiseite und wetteifern um Waffengeschäfte, Investmentprojekte und politische Gefälligkeiten. Und das bemerken auch die Inder.“ Wir setzen unser Gespräch an dieser Stelle am nächsten Morgen während des Frühstücks fort. „Allerdings, Eure Exzellenz, hat die EU doch inzwischen einen eigenen Botschafter hier in Indien, der an allen gemeinsamen Handelsgesprächen beteiligt ist.“ „Das stimmt. Der EU-Botschafter ist ein Portugiese mit einem Doktortitel aus Oxford.“ „Und die Handelsgespräche? Ich dachte, es wäre ein Handelsabkommen in Aussicht?“ 186

Dalits, Tempel und Salutschüsse

„Die Gespräche dazu ziehen sich schon seit Jahren hin. Möchten Sie Porridge? Ich bin sicher, unser indischer Koch kann Ihnen da entgegenkommen. Übrigens habe ich für Sie ein Interview mit Vickram Bahl arrangiert, dem TV-Moderator. Er ist sehr angenehm im Umgang.“ Sich-Beiseitestoßen, ganz gleich ob auf diplomatischer Ebene oder tatsächlich körperlich gemeint, fasst das Lebensgefühl Delhis gut zusammen. „Man vermutet, dass Delhi 16 Millionen Einwohner hat“, erklärt mir der Butler später, „aber niemand kann sie wirklich zählen.“ Mumbai und Kalkutta sind noch größer. In Delhi fühlt es sich an, als seien alle 16 Millionen gleichzeitig auf den Straßen unterwegs. Wagt sich der Botschafter von seinem Gelände, fährt er in einem Konvoi: Die Autos reihen sich hintereinander auf, die Fahrer nehmen Platz, die Passagiere schnallen sich für den Take-off an. Die Fahne auf der Kühlerhaube flattert, der indische Soldat am Tor salutiert und die Metallgitter schwingen auf. Draußen sind die meisten Autos kleine, flinke Japaner – Toyotas, Nissans und Martui Suzukis. Das beliebteste Motorrad, eine schwarz lackierte 250er Kubik, trägt den Namen Passion. Die in die Jahre gekommenen Taxis sind schwarz, grün und gelb lackiert: das Modell Ambassador, die viel geliebte indische Kopie des Morris Oxford, wie ihn mein Vater in den 1950er-Jahren fuhr. Doch die wahren Herrscher der Straßen sind die allgegenwärtigen Motorroller-Rikschas, die Tuk-Tuks, die allein durch ihre Anzahl alles dominieren; Delhi soll 100 000 von ihnen haben. Sie kantern eher, als dass sie rasen: Sie wechseln ohne jede Vorankündigung die Spur und ziehen eine lange Schlange von Fahrzeugen hinter sich her, die versuchen, sie zu überholen. In Delhi sind sie hellgrün und tragen einen gelben Hut; in Mumbai sind sie schwarz. Auf der Rückseite findet sich ein viereckiges Nummernschild, das mit DL anfängt. Im Übrigen weisen die Buchstaben CNG auf Gasbetrieb hin, und eine Reihe von Warnungen informieren die Drängler unter anderem mit stop, abstand halten oder starke bremse. Heute bahnt uns ein weiß lackiertes Auto am Anfang des Konvois den Weg durchs Getümmel, stürzt sich in den Schwarm und drängt dabei ein paar junge Fische beiseite. Es fühlt sich beinahe so an, als sei ich kopfüber in das Aquarium von Delhi gesprungen  – dichte Schwärme von großen und kleinen Fischen um uns, die im immer gleichen Tempo ziellos ihre Kreise ziehen, dabei manchmal vor etwas zurückzucken, aber kaum einmal zusammenstoßen. Das Fahrzeug des Botschafters hängt wie eine Klette an unserer hinteren Stoßstange; die weiteren Autos haben trotz ihrer CDPlakette Schwierigkeiten, die Verbindung nicht abreißen zu lassen. Der Blick aus dem Seitenfenster erinnert an die Luke eines Unterseeboots, das 187

4. Dilli – Delhi

an einem Riff vorübergleitet. Die bewegliche Masse besteht aus Motorrollern, Motorrädern und Tuk-Tuks, durchsetzt mit Taxis, Privatautos und bunt bemalten Lastwagen. Die roten Busse der Delhi Transport Corporation, die sich rücksichtslos in den Verkehr schieben, wirken da wie die angstlosen Haie. Firmenfahrzeuge sind vorne, hinten und an den Seiten mit Werbung ausstaffiert. Ein Van der All-Asian Services Corp zieht an uns vorüber; zu den von ihr angepriesenen Diensten gehört auch ein kühlschrank für leichen. Die Kunst, in Delhi Auto zu fahren, besteht darin, zwischen jedem Fahrzeug eine Lücke von nur wenigen Zentimetern zu lassen und ausgiebig zu hupen, wenn es so wirkt, als würde die Lücke auf Null schrumpfen. Der Höllenlärm der Hupen bildet den Kontrapunkt zum Kreischen der Bremsen und dem Dröhnen der heißen Reifen. Wir überholen einen staunend dreinblickenden Motorroller-Fahrer, der sich tief über seinen Lenker beugt, die grauhaarige Oma in ihrem orangefarbenen Sari seitwärts auf den hinteren Sitz gequetscht. Sein aschfahles Gesicht mit den halb geschlossenen Augen schaukelt um Haaresbreite an meinem Fenster vorbei. Unser Fahrer hupt. Die All-Asia Services Corp kommt ihrem nächsten Kunden immer näher. Delhis Straßenschilder öffnen die Augen für Indiens alles verschlingende Sprachenszene. Verkehrsschilder wie „Einbahnstraße“ oder „Einfahrt verboten“ nutzen von den Briten abgeschaute visuelle Symbole. Doch Richtungshinweise und Straßennamen sind viersprachig gehalten. Verlässt man den Highway, wird die Shanti Path, die „Friedensstraße“ mit vier ­Zeilen Text auf einem Schild angekündigt: Hindi-Name (in Devanagari-Schrift) SHANTI PATH (in lateinischen Großbuchstaben) Panjabi-Name (in Gurmukhi-Schrift) Urdu-Name (in perso-arabischer Schrift)*

Angeblich hat Indien insgesamt 122 Haupt- und 1599 Nebensprachen. Rund 75 Prozent der Inder sprechen eine indoarische Sprache, etwa 20 Prozent eine dravidische Sprache wie Tamil oder Telugu.1 Die Verfassung erkennt * Hindi, Punjabi und Urdu sind miteinander verwandte Sprachen der nördlichen indo­

arischen Sprachgruppe, nutzen aber unterschiedliche Alphabete. Hindi und Urdu sind Varianten des Hindustani, die sich seit der Teilung Indiens 1947 auseinanderentwickeln. Devanagari und Gurmukhi sind Varianten einer alten Brahmanen-Schrift und sich erkennbar ähnlich. Persisch war die Sprache am Hofe der Mogul-Herrscher. Und Englisch wurde durch die East India Company 1830 eingeführt.

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Modernes Indien

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Dalits, Tempel und Salutschüsse

Aksai Chin

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KASCHMIR HIMACHAL PRADESH

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HARYANA UTTARAKHAND

Delhi

RAJASTHAN

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NEPAL

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INDIEN

ASSAM NAGALAND 1

BIHAR

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JHARKHAND

WESTBENGALEN

MANIPUR 2

MIZORAM

Kolkata

ORISSA (ODISHA)

MAHARASHTRA

Thimphu

Darjeeling

MADHYA PRADESH CHHATTISGARH

Nagpur Mumbai

ARUNACHAL PRADESH

Kathmandu UTTAR PRADESH

Varanasi

GUJARAT

BHUTAN SIKKIM

BANGLADESCH MYANMAR (Birma)

Poona

(Bombay)

TELANGANA

Hyderabad

Arabisches Meer G O A

Golf von Bengalen

ANDHRA PRADESH

KARNATAKA

Bangalore

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Chennai

Andamanen

(Madras)

TAMIL NADU KERALA

Cochin

SRI LANKA MALEDIVEN

(indisch)

Indischer Ozean Nikobaren (indisch)

Umstrittene Gebiete und Grenzen 0

300

600 km

1 MEGHALAYA 2 TRIPURA

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4. Dilli – Delhi

18  „reguläre Sprachen“ an, die von den Regionalregierungen verwendet werden, sowie sechs „klassische Sprachen“, darunter Sanskrit. Die „Nationalsprachen“ sind Standard-Hindi und Englisch. Ein 1963 verabschiedetes Gesetz, mit dem Englisch über einen Zeitraum von 15  Jahren hinweg zurückgedrängt werden sollte, wurde nie umgesetzt. Die britische Botschaft liegt in der Nähe des Regierungsviertels von NeuDelhi. Wir entkommen dem dichten Verkehr und schiffen uns auf eine Rundfahrt durch jene Gegend der Hauptstadt ein, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Paradestück des British Empire entworfen wurde. Der Architekt, Sir Edwin Lutyens (1869–1944), war für seine Stilmischungen bekannt; in Indien entwickelte er eine Kombination aus klassischem und orientalischem Stil und führte ihn in dem in der Stadt allgegenwärtigen roten Sandstein aus.2 Die Gebäude, ebenso harmonisch wie gigantisch, sind über ein großes Gelände mit Grünflächen, Alleen und blumenbestandenen Gärten verteilt. Das größte von ihnen, die kuppelgekrönte Residenz des Vizekönigs (heute der Rashtrapati Bhavan oder Präsidentenpalast), wurde auf einer Erhöhung errichtet. Die sie umgebende Anhäufung von Ministerien ist mit ähnlichen Kuppeln, Säulen und Portikus versehen und wird von beeindruckenden Eisenzäunen und steinernen Elefanten bewacht. Weitere offizielle Residenzen finden sich auf den Hängen der Umgebung und bilden zusammen das früher als Lutyens Bungalow Zone oder „LBZ“ bekannte Ensemble. Unterhalb befindet sich das India Gate, eine vergrößerte Reminiszenz an den Arc de Triomphe, das als Gegenstück zu Lutyens Ehrengrab in London gedacht war und den 90 000 im Ersten Weltkrieg gefallenen indischen Soldaten gewidmet ist. Die Pläne für Indiens neue Hauptstadt verkündete König Georg V. beim Delhi Durbar (dem „Hoftag zu Delhi“) im Jahr 1911; umgesetzt waren die mit astronomischen Kosten verbundenen Arbeiten 1931. Als sich das Empire rund 16 Jahre später in Luft auflöste, bekam die Indische Republik Lutyens Meisterwerk umsonst – ein anmutiger Ruhepol inmitten all des Gedränges. Die Ernennung Georgs zum Kaiser von Indien erfolgte beim KrönungsDurbar vom 7. bis 16. Dezember 1911 und markierte den Höhepunkt britischer Herrschaft in Indien. Eine Woche lang huldigten alle indischen Prinzen bei einer extravaganten Zeremonie König Georg und Königin Maria, die beide in exotische Insignien gekleidet auf einem erhabenen Thron saßen. Juwelenbehängte Elefanten zogen in Paraden an dem Kaiserpaar vorüber; maßloser Reichtum wurde offen zur Schau gestellt. Farbenprächtige Turbane waren mit Rubinen und Saphiren geschmückt, diamantene Diademe funkelten in der Sonne. Schirmherrschaft wurde gegen Speichelleckertum 190

Dalits, Tempel und Salutschüsse

Dehli St. James’ Church

Rotes Fort

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Sri Digambar Jain Lal Mandir

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Bangla Sahib

Jama Masjid

Connaught Place

Kathedrale der Erlösung Buddha Jayanti Park

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Nationales Eisenbahnmuseum

Indira Gandhi International Airport

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HumayunMausoleum

Lotustempel Qutub Minar 0

1

2

3

4

5 km

getauscht. Nicht weniger als 28 702 Gold- und Silbergedenkmünzen wurden geprägt. Und unablässig spielte man God Save the King. Einer der Edelleute, der unglaublich reiche Gaekwad von Baroda, zeigte einen symbolischen Akt des Trotzes: In eine einfache Tunika gekleidet, ohne jedes Abzeichen, verbeugte er sich tief vor dem Königspaar, bevor er sich umdrehte und ihnen den Rücken zuwandte – eine unübersehbare Beleidigung.3 In dieser Woche, genauer gesagt am 11. Dezember 1911, komponierte der bengalische Philosoph und Poet Rabindranath Tagore (1861–1941) ein patriotisches Lied, das Jana Gana Mana, das er als Alternative zu God Save the King anbot: Jana-Gana-Mana-Adhinaayaka, Jaya He! Bhaarata – Bhaagya – Vidhaata Punjab, Sindhu, Gujarata, Maratha, Draavida Utkala Banga, Vindhya Himaachala Yamuna Ganga … 191

4. Dilli – Delhi

Herrscher über den Geist des Volkes, Heil Dir, Indiens Schicksalslenker! Punjab, Sindh, Gujarat, Maratha, Dravida, Utkal und Bengalen, das Vindhya-Gebirge, der Himalaya, die Yamuna, der Ganges, die hohen Wogen des Ozeans, erwachen durch deinen glückverheißenden Namen, erbitten deinen glückverheißenden Segen, singen dein Siegeslied. Glückbringer des Volkes, Heil Dir, Indiens Schicksalslenker! Heil Dir! Heil Dir! Heil Dir! Heil, Heil, Heil, Heil Dir!4

Die Worte sind zweideutig: Einige verstanden das Wort „Herrscher“ als Bezug zur Mutter Indien, andere hielten es für eine Referenz auf Georg V. Und diese Zweideutigkeit wurde genutzt. Das Lied wurde rasch vom Indischen Nationalkongress aufgegriffen, der 1885 zwar als loyalistisches Forum für den Dialog mit den Briten gegründet worden war, sich dann aber in eine politische Bewegung für die Selbstverwaltung und später die Unabhängigkeit wandelte. 1950 machte man das Lied zur Nationalhymne. Unterhalb des Präsidentenpalastes, am Fuß des Hanges, befindet sich das große, runde Gebäude des Sansad Bhavan, das Parlament Indiens, ein weiteres Gebäude nach einem Lutyens-Entwurf, eröffnet 1927. Es umfasst zwei Kammern: das Lok Sabha, das Haus des Volkes, mit 545 Abgeordneten, und das Rajya Sabha, das Haus der Staaten, mit 250 Vertretern der Regionen. Heute ist das Sansad Bhavan nicht nur von Palmen, sondern auch von Maschinengewehr-Stellungen umgeben. Vor dem Parlament steht eine überlebensgroße Statue von Bhagat Singh (1907–1931), einem marxistischen Sikh, der eine Bombe im Gebäude zur Explosion brachte und dabei rief: „Inquilab Zindabad“, „Lang lebe die Revolution!“ Bei dem Anschlag kam niemand ums Leben, der Attentäter wurde aber wegen eines zuvor begangenen Mordes gehängt. Um das Bild etwas ausgeglichener zu gestalten, stellte man ihm 2015 eine Statue von Gandhi an die Seite. Über der Kuppel des Parlaments weht stolz die indische Fahne im Wind. Neben dem Pfau, der Lotusblume und dem „unsterblichen“ Feigenbaum ist die Tiranga („Drei Farben“) eines der am meisten geschätzten National­ embleme. In der Mitte der drei horizontalen Streifen in Safran, Weiß und 192

Dalits, Tempel und Salutschüsse

Grün ist ein Rad mit 24 Speichen, die Chakra, abgebildet, ein altes Symbol, das man vom Löwenkapitell des Kaisers Ashoka aus der heiligen Stadt ­Sarnath übernommen hat.5 Vom zur Legende gewordenen, „sorglosen“ und zum Buddhismus übergetretenen Herrscher Ashoka (er herrschte von 268 bis 232 v. Chr.) heißt es, er habe den gesamten Subkontinent im Geist von Toleranz, Gewaltlosigkeit und Harmonie regiert.6 Mit solchen Mythen ausgestattet, erblickte das neue Indien vor rund 70  Jahren das Licht der Welt. Die Realität sieht so manches Mal etwas anders aus. Wir verlassen Neu-Delhi für eine Podiumsdiskussion zum Thema „Demokratie und Kultur“ im Indian International Council. Der wichtigste Stifter des Council, Syed Haider Raza (1922–2016), ein muslimischer Künstler, der den Großteil seines Lebens in Paris gewohnt hat, sitzt in seinem Rollstuhl ganz vorne. Der Council-Vorsitzende, der Dichter Ashish, hat gerade eine Anthologie polnischer Dichtung ins Hindi übersetzt, ohne Polnisch zu können; er spricht über „die Krise der indischen Demokratie“ und erklärt, zu einer Demokratie gehöre viel mehr als nur eine Wahl. Der Künstler Aluk fügt an, die Künste seien „ein Vehikel für die demokratische Überzeugung“. Ich wage es, den Namen Winston Churchill ins Spiel zu bringen und seine Feststellung: „Die Demokratie ist das schlechteste aller Regierungssysteme  – abgesehen von allen anderen.“ Der letzte Redner, Rajiv, ein eloquenter Akademiker, schimpft über eine Palette gegenwärtiger Übel. Am nächsten Tag findet sich in der Times of India die Überschrift: „Ist Indien jetzt eine illiberale Demokratie?“ Meine Ankunft in Delhi traf zeitlich mit den jährlichen Gedenkfeiern für den Sozialreformer B.  R.  Ambedkar (1891–1956) zusammen. Ganz­seitige Anzeigen des Informationsministeriums erschienen in der Presse, Poster mit seinem Porträt hingen in den Straßen. Ich hatte bis dahin keine Ahnung, was für ein beeindruckender Mann er gewesen war. Der auch unter seinem Ehrennamen Babasaheb bekannte Bhimrao Ramji Ambedkar, kurz B. R. A., war der erste „unberührbare“ Inder, der ein Hochschulstudium abschließen und eine prominente gesellschaftliche Stellung erreichen konnte. Als einer der „Väter der Nation“ reicht seine Beliebtheit an die Gandhis heran; bei einer Umfrage 2012 wurde er direkt nach diesem zum „Größten Inder“ gewählt. Zwar hatten seine Eltern für die britische Armee gearbeitet; ihm aber war es nicht erlaubt, zusammen mit anderen Schülern in einem Klassenzimmer zu sitzen, weshalb er dem Unterricht draußen vor dem Fenster folgte. Er konnte nur dann etwas trinken, wenn ihm Wasser vom Balkon aus in sein Glas gegossen wurde. Dennoch gelang es ihm, nach Abschluss der Schule ein Jurastudium an der 193

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Universität Bombay aufzunehmen. Ein Stipendium des aufsässigen Gaekwad von Baroda ermöglichte ihm ein Studium an der Columbia Law School in New York und an der London School of Economics, wo er 1922 seinen Doktortitel erwarb. Vier Jahre später verteidigte er als Anwalt erfolgreich drei Professoren, die für ihre Kritik am Kastensystem angeklagt worden waren. Anschließend begann er, für den Zugang der Unberührbaren zur öffentlichen Wasserversorgung zu werben, was dafür sorgte, dass er neben Mohandas Gandhi ins Rampenlicht geriet. Sein revolutionäres Buch Annihilation of Caste (dt. Aufhebung der Kaste) erschien 1935.7 B. R. A. trennte sich später von Gandhi, als dieser seine Forderung nach der Zulassung der Unberührbaren zu den Wahlen nicht unterstützte. Nur mühsam gelang den beiden später wieder die Versöhnung. (Gandhi wollte zwar durchaus Ungleichheiten abschaffen, hielt die Kasten aber für eine Quelle der sozialen Ordnung.) 1947 wurde Babasaheb der erste indische Justizminister und spielte eine entscheidende Rolle als Vorsitzender des Verfassungskomitees. Kurz vor Ende seines Lebens trat er zum Buddhismus über, dessen Anhänger ihm den Status eines Buddruati oder „Heiligen“ verliehen hatten, und nahm eine Brahmanin zur zweiten Frau. Seine Karriere zeigt, wie eng der Kampf um die nationale Unabhängigkeit mit der sozialen Befreiungsbewegung verknüpft war. Das Kastenwesen, das Chaturvarnya, gegen das B. R. A. so hartnäckig kämpfte, ist vor vielen Jahrhunderten als Hierarchie des Handels entstanden – Priester und Gelehrte an der Spitze, darunter Krieger und Gouverneure, Händler und Handwerker in der Mitte und Arbeiter ganz unten. Doch es ist viel mehr als nur ein altes System der sozialen Ordnung. Von Anfang an wurde es von dem mystischen Hindu-Prinzip des Karma gestützt, nach dem die aktuelle Notlage eines Menschen durch Handlungen aus der Vergangenheit verursacht ist, darunter auch von solchen, die man in einem früheren Leben, also vor der Reinkarnation, begangen hat. Damit wird die fragwürdige Idee unterstützt, ein hoher sozialer Status sei das Ergebnis einer angeborenen Tugend und weniger privilegierte Menschen hätten ihr Unglück verdient. Darüber hinaus kommen noch irrationale Annahmen über Reinheit und Verschmutzung hinzu, nach denen die oberen sozialen Schichten als „rein“ und die unteren als „verunreinigt“ angesehen werden. Da niemand weiß, welch löbliche Taten oder verachtenswerte Handlungen er oder sie in seiner oder ihrer früheren Inkarnation begangen hat, werden alle dazu erzogen, ihr Schicksal mit fatalistischer Demut hinzunehmen. Im Alltag bedeutet dies, dass die oberen 194

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Schichten dazu tendieren, ihr Vermögen mit übermäßigem Stolz zu betrachten und es notfalls bis aufs Messer zu verteidigen, während sie zugleich voller Geringschätzung auf die weniger Vermögenden herabsehen. Zur Zeit der britischen Herrschaft verfestigte sich das Kastenwesen in eine strenge und universelle Hierarchie, bei der die vier Varnas (Kastengruppen) den sozialen Status aller Inder vorherbestimmten und vergleichbare Klassen vom hinduistischen System auf Muslime, Buddhisten und Sikhs übertragen wurden.8 Die Brahmana oder Brahmanen waren die „Erleuchteten“; die Kshatriyas oder „Beschützer“ nahmen die höheren Ränge im Militär oder in der Verwaltung ein; die Vaishyas, wörtlich „die Siedler“, arbeiteten in der Wirtschaft als Händler, Bauern, Handwerker oder Geldverleiher; und die Shudras, die „Diener“, mussten all die Aufgaben übernehmen, mit denen die Bedürfnisse der Höhergestellten befriedigt werden konnten. Die oberen Kasten – die Brahmana, die Kshatriyas und die Vaishyas – betrachteten sich selbst als von den Göttern besonders bevorzugt und gingen davon aus, Dvija, also Zweimalgeborene, zu sein. Um ihre spirituelle Wiedergeburt anzuzeigen, die ihre körperliche Wiedergeburt begleite, unterzog man sie als Kinder der Zeremonie des „heiligen Fadens“, der um ihren Körper gewickelt wurde. Damit durften sie (und nur sie) das Studium der Veda, der heiligen Texte beginnen. Alle anderen Menschen waren ihnen untergeordnet. Diese grobe Einteilung war allerdings erst der Anfang. Jede der drei Varnas ist in Jatis, Untergruppen, aufgegliedert, und jede Jati in Unteruntergruppen. Zu den Untergruppen der Vaishyas gehören beispielsweise die Agraharis, die Barnwals, die Gahois, die Kasuadhans, die Khandewals, die Maheshwaris und viele andere. Die Brahmanen bildeten nur eine von etwa 100 Untergruppen. Die gesamte „Liste der Kasten“ umfasste daher auch 4000 Gruppen.9 Auch in den unteren Kasten herrschte eine große Vielfalt. Die Shudras, die Varna mit den meisten Angehörigen, wurden aufgeteilt in ­Sat-Shudra, die man als „rein“ auffasste, und die Ati-Shudra, die man verachtete, weil sie es nicht waren. Letztere wurden im Englischen zum Beispiel als „outcastes“ und im Deutschen als „Unberührbare“ bezeichnet, obwohl man eigentlich noch einmal zwischen den „Unnahbaren“, den „Unberührbaren“ und den „Unsichtbaren“ unterschied, wobei Letztere eben nicht einmal von anderen gesehen werden sollten. Im imperialen Sprachgebrauch war von ihnen als „niedrige Klassen“ die Rede. Laut Gandhis Terminologie hießen sie Harijan, oder „Kinder Gottes“. Man begegnet aber auch der Bezeichnung Panchama, was so viel wie „der fünfte Zustand“ heißt. Sie selbst nennen sich, inspiriert von Ambedkar, die Dalit, die „Unterdrückten“.10 195

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B. R. A. gehörte zu einer Untergruppe mit Namen Mahar, den Nachkommen der ursprünglichen Bewohner von Maharashtra. Im Laufe der Zeit bekamen die Mahar von der abergläubischen Bevölkerung das Etikett „verunreinigt“ verpasst und durften daher keinen Hindu-Tempel mehr betreten. Sie mussten einen Spucknapf um ihren Hals tragen, damit sie nicht auf den Boden spuckten, und hatten einen Besen bei sich zu haben, um ihre Fußabdrücke auswischen zu können.11 In Südindien, vor allem in der Region Madras, bildete die Paraiyar-Kaste – von der sich das Wort „Paria“ ableitet – eine große Untergruppe, deren einstmals mittlerer Status so weit abgesenkt worden war, dass die Kastenangehörigen schließlich die Untersten der Untersten bildeten. Ihr Name leitet sich von einer Trommel ab, doch nachdem sie ihre ehemals übliche Tätigkeit als Unterhalter am Hof verloren hatten, wurden sie Dienstboten, Totengräber, Straßenkehrer und Sklaven.12 Um die Sache weiter zu verkomplizieren, gehörten viele Inder nicht nur einer vorherbestimmten Kaste an, sondern stammen auch noch von bestimmten genealogischen Clans ab, den sogenannten Gotra. Jeder Gotra geht auf ein einzigen Stammvater zurück; und auch diese hatten ihre Senior- und Junior-Linien. Kurz gesagt: Jeder Mensch in Indien war von Geburt an in eine Reihe von sozialen Schubladen abgelegt, aus denen es im Grunde unmöglich war zu entkommen.* Heute ist die von den früheren Kasten ausgehende Diskriminierung gesetzlich verboten, und in der Theorie hat jeder, der eine Person aus einer niedrigeren oder verachteten Gruppe misshandelt, mit schweren Strafen zu rechnen. Die großen sozialen Gruppen, die im gegenwärtigen Indien wirken, und dort nicht zuletzt als Wählergruppe interessant sind, basieren entweder auf religiösen Gemeinschaften, Einkommensklassen, regionalen Identitäten oder weitverzweigten Familienbündnissen. Die Zeit ist vorbei, in der die niedrigeren Gruppen vor unüberwindbaren Hindernissen standen, die ihnen den Aufstieg verwehrten. Der erste Unberührbare, der dieses Tabu durchbrach, war K. R. Narayanan (1920–2005), der zunächst Botschafter in Thailand, der Türkei und China war, bevor er von 1997 bis 2002 Präsident der Republik wurde. * Dazu kommen übrigens auch noch regionale Unterschiede. In Südindien waren beispiels-

weise nur drei statt vier Varnas anerkannt: die Brahmanen, die Nicht-Brahmanen und die Unberührbaren. Eine mächtige Verwandtschaftsgruppe mit Namen Reddy, angeführt von Kriegern und Landbesitzern, war über diese Kastengrenzen hinweg angesiedelt und spielt noch heute eine wichtige Rolle im Bundesstaat Andhra Pradesh. In Bengalen wurde die einflussreiche Baidya-Kaste, wörtlich die „Ärzte“, nur zum Teil als Brahmanen anerkannt, zum anderen Teil nicht.

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Seit den 1950er-Jahren hat sich jede indische Regierung für eine Politik der positiven Diskriminierung eingesetzt. Dazu wurde ein offizieller Katalog der Scheduled Castes (dt. „gelistete Kasten“, SC) und der Scheduled Tribes (dt. „gelistete Stammesgemeinschaften“, ST) aufgestellt, ergänzt durch eine Kategorie, die die Bürokratie mit ihrem unnachahmlichen Sprachgebrauch als Other Backward Classes (dt. „andere zurückgebliebene Klassen“, OBC) bezeichnet. Sie repräsentieren etwa 40 Prozent der Gesamtbevölkerung.13 Diese Regeln sehen Quoten für die Beschäftigung von benachteiligten Gruppen vor. Der Oberste Gerichtshof urteilte, dass alle Bildungseinrichtungen ein Viertel ihrer Plätze für benachteiligte Bewerber freihalten müssen. Es muss nicht betont werden, dass „benachteiligt“ sich häufig als Umschreibung für die Dalit herausstellt und die Prinzipien der Gleichheit und Leistungsgesellschaft, denen sich das neue Indien verschrieben hat, oft genug gebrochen werden. Und tatsächlich ist das gesamte Kasten-Thema weiterhin sensibel. Zum einen, weil indische Familiennamen häufig mit der ehemaligen Kaste der Familie in Verbindung stehen. Sharma etwa, was so viel heißt wie „Priester“, verweist eindeutig auf einen Brahmanen-Hintergrund, ähnlich wie Jha oder Chakravarti. Gupta, der „Herrscher“, ist ein Kshatriya-Name, wohingegen Bazigar, der „Zigeuner-Akrobat“, und Nat, „Tänzer“, eher von Dalits herrühren. Inder werden immer versuchen herauszufinden, was der Kasten-Hintergrund einer Person sein könnte, vor allem wenn sich der Name auf ein Handwerk oder einen Beruf zurückführen lässt: Achari = Zimmermann Dubashi = Übersetzer

Bania = Händler

Darzi = Schneider

Gandhi = Parfum-­ Verkäufer

Majumdar = Schreiber

Desai = Grundbesitzer

Nehru = Kanalbewohner

Patel = Dorfvorsteher

Sirkiband = Korbflechter Chamar = Gerber

Mochi = Schuhmacher

(Agrawal, Bahl und Mittal wiederum sind Namen, die nicht auf Kasten, sondern auf Clans verweisen.) Menschen, die ihre Kasten-Identität verbergen möchten, greifen oft auf den künstlichen Nachnamen Kumar zurück, was dann erst recht verdächtig wirkt. B. R. A. ging noch ein weiteres Phänomen der sozialen Symptomatik an, nämlich die schlechte Behandlung der Scheduled Tribes. Die Regierungsliste, die „Schedule“, solcher Volksgruppen enthält nicht weniger als 461 Gemeinschaften mit 83 Millionen Menschen, darunter auch indigene 197

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Völker wie die Muncha, Karbi und Naga, die kurz vor dem Aussterben ­stehen.14 (Der langwierige Konflikt zwischen den Kräften der Zentralregierung und dem „indigenen“ Volk in Nagaland an der Grenze zu Myanmar etwa ist noch lange nicht gelöst.) Mit Indien verbindet man in der Regel keine rassistischen Ausschreitungen oder Missbrauch der Ureinwohner, und doch kommt es zu Zwischenfällen.15 Die dunkelhäutigen Draviden aus Südindien werden häufiger mit den Dalits verwechselt. Einige der Paraiyan haben daher den stolzen Titel Adi-Dravida, die „ursprünglichen Draviden“, angenommen.16 Strenge Kritiker bleiben jedoch bei ihrer Auffassung, dass das „Kastenwesen“ und andere Formen der kollektiven Diskriminierung noch immer gültig sind. „Die Demokratie hat das Kastensystem nicht ausgelöscht, sie hat es fest verwurzelt und modernisiert“, schreibt die Autorin Arundhati Roy. Sie zitiert Amebdkar, dessen Werke sie herausgegeben hat, und stellt fest: „Für die Unberührbaren ist der Hinduismus eine Kammer des Schreckens.“ Dann führt sie die Statistiken an, die ein schlechtes Licht auf die Angelegenheit werfen: Die ehemaligen Brahmanen, die nur 3,5 Prozent der indischen Bevölkerung ausmachen, nehmen 70  Prozent aller höheren Regierungsposten ein. Die früheren Vaishyas beherrschen das Wirtschaftsleben auf ähnliche Weise. Neun der zehn reichsten Männer Indiens gehören der traditionellen Bania-Kaufmannskaste an. (Die Ambani-Familie, deren Patriarch 2002 verstarb, gehörte zu den drei reichsten Familien der Welt.) Neun von zehn Straßenkehrern und Abwasserarbeitern, die der Staat beschäftigt, sind hingegen Dalit. Roys Artikel zu diesem Thema trägt den Titel: India’s Shame (dt. „Indiens Schande“).17 Noch himmelschreiender ist der niedrige Status und die tief verwurzelte Misshandlung von Frauen, vor allem von Frauen aus niederen Kasten. Der Mord an weiblichen Säuglingen soll in ländlichen Gegenden weitverbreitet sein, und der illegale Handel mit Mädchen, die man dann wahlweise zur Prostitution, zu Dienstmädchentätigkeiten oder zur Heirat zwingt, hat es auch international zu Schlagzeilen gebracht. Nepal ist eines der Hauptherkunftsländer und Delhi einer der größten Umschlagplätze. Das Verhältnis der Geschlechter bei der Geburtenrate in Indien ist in starke Schieflage geraten, vor allem auch, weil weiterhin Aberglaube vorherrscht: „Zwei Mädchen sind ein Zeichen der Sünde“ oder „ein Junge ist ein Gewinn, ein Mädchen eine Belastung“, heißt es da. Die unangenehmsten Arbeiten werden fast ausschließlich von Frauen ausgeführt. Tausende und Abertausende von ihnen transportieren Tag für Tag Körbe mit menschlichen Ausscheidungen auf den Köpfen, denn sie sind es, die in ländlichen Gebieten 198

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Indiens die Dorflatrinen leeren. Dalit-Frauen sind doppelt verwundbar. Der Bundesstaat Haryana, der an Delhi grenzt und dessen Name „Gottes Wohnstätte“ bedeutet, hält den wenig beneidenswerten Rekord an sexuellen Gewalttaten.18 Auch Männer haben Probleme. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie eine Frau finden, sinkt immer weiter; eine Braut kann auch schon einmal 15 000  Rupien und mehr kosten; Jugendliche werden in eine Kultur der Geringschätzung und der Massenvergewaltigung hineingezogen. Presse­ berichte bezeichnen die Opfer einer Vergewaltigung in der Regel als „unterprivilegierte Frauen“. Dieser Euphemismus soll ein paar sehr hässliche Realitäten überspielen. Denn das Wort Dalit bedeutet nicht „unberührbar“, wie die höheren Kasten sie gerne nennen; wortwörtlich heißt es so viel wie „unterdrückt“ und hat dabei einen Unterton von „zertrümmert“ oder „gebrochen“, was auf eine fortdauernde und weitverbreitete Praxis der systematischen Belästigung und Verfolgung verweist. Die indische Regierung verabschiedete 1989 ein Gesetz mit dem bemerkenswerten Titel „The Scheduled Castes and Scheduled Tribes (Prevention of Atrocities) Act“ (dt. „Gesetz zu Scheduled Castes und Scheduled Tribes (Prävention von Gräueltaten)“). Unter den Grausamkeiten, die das Gesetz verhindern sollte, gehört das Verbot, Angehörige der Dalit zum Essen oder Trinken widerlicher Substanzen (etwa Urin und Fäkalien) zu zwingen, Dalit-Frauen zu überfallen, eine dominante Stellung zum sexuellen Missbrauch einer DalitFrau auszunutzen oder die Wasserversorgung eines Dalit-Dorfes zu ver­ seuchen. Offenbar kommen solche Widerlichkeiten noch immer vor. Jede Woche werden 13  Dalit-Frauen ermordet, fünf Dalit-Häuser niedergebrannt, sechs Dalit-Frauen entführt und 21  Dalit-Frauen vergewaltigt.19 Auch wenn durchschnittlich alle 18  Minuten ein Verbrechen gegen die Dalit verübt wird, weigern sich viele Offizielle, die Gesetze zu verschärfen. Laut einer internationalen Studie wird in 28 Prozent aller Dörfer im länd­ lichen Indien Dalit der Zugang zur Polizeiwache untersagt, in 33 Prozent aller Dörfer weigern sich die Mitarbeiter der Gesundheitsdienste, DalitHäuser zu betreten, in 77 Prozent der Dörfer dürfen Dalit nicht am gleichen Tisch essen wie Nicht-Dalit, und 48  Prozent aller Dalit-Dörfer verfügen nicht über eine eigene Wasserversorgung. Wer kann da noch behaupten, die Kasten seien in Indien abgeschafft worden? Laut des International Dalit Solidarity Network erleiden „Dalit-Frauen eine dreifache Diskriminierung aufgrund ihrer Kaste, ihrer wirtschaftlichen Situation und ihres Geschlechts.“ Außerdem wird „Gewalt … als sozialer Mechanismus für die Erniedrigung ganzer Dalit-Gemeinschaften“ eingesetzt.20 199

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Die Brutalität, die den Dalit entgegenschlägt, lässt sich beispielhaft am tragischen Fall von Surekha Bhotmange und ihrer Familie aus dem Jahr 2006 verdeutlichen. Die gebildete Buddhistin und mit einem Mann ohne Schulbildung verheiratete Dalit hatte in dem Teil des Dorfes Khairlanji (in der Nähe von Nagpur) ein Stück Land gekauft, in dem die oberen Kasten lebten. Der Dorfrat untersagte Surekha wiederholt den Bau eines Steinhauses auf dem Grund, und dann erzürnte die Frau ihre Nachbarn noch, als sie der Polizei Informationen über ein vor Ort verübtes Verbrechen weitergab. Am 29. September 2006 wurden Surekha Bhotmange (45), ihre Tochter Priyanka (17) und ihre beiden Söhne Roshan (21) und Sudhir (23) bei einem geplanten Angriff einer Gruppe Nicht-Dalit auf brutale Art und Weise ermordet. … [Der Vater] war unterwegs. … Die vier Opfer wurden ins Zentrum des Dorfes geschleift, an einen Ochsenkarren gefesselt, ausgezogen, nackt herumgeführt, gefoltert und verstümmelt, mit Fahrradketten, Äxten, Messern und Stöcken angegriffen. … Männer aus dem gesamten Dorf mit etwa 150 Familien versammelten sich … sogar dann noch, als ihre Frauen zuschauten. … Sie [versuchten] die Schwester und einen ihrer Brüder zum Geschlechtsverkehr zu zwingen, und als das scheiterte, verstümmelten sie Sudhirs Genitalien. Dann vergewaltigten sie in der Gruppe Ms. Priyanka und bohrten Stöcke in sie. Zunächst versteckten sie die Leichen in Häusern, dann warfen sie [sie] in den Kanal. Man feierte das Ereignis wie ein Fest. Später wurde eine Dorfversammlung einberufen, und jedem Anwesenden wurde befohlen, das Massaker keinem Außenstehenden zu verraten.21

Nach langen Untersuchungen entkamen die Täter schließlich der Todesstrafe.22 Doch die Behandlung von Dalit ist nur eine Seite des Problems. 1988 verbot die indische Regierung auch das Devadasi-System. Die Devadasi oder Joginis, wörtlich „Gottes Dienerinnen“, haben noch eine Reihe anderer Namen und werden in der Regel recht grob als „Tempel-Prostituierte“ übersetzt. Schon seit Urzeiten wurden Babys an Hindu-Tempel verkauft. Sie durchlaufen nach der Pubertät ein aufwendiges Ritual und leisten anschließend eine ganze Reihe von zeremoniellen, künstlerischen und sexuellen Diensten. In der Praxis sind sie Sklavinnen und werden, sofern sie fliehen konnten, als nicht verheiratbare Abtrünnige betrachtet. Auch wenn dies vor allem in Südindien vorkommt, so gibt es auch in Delhi genug von ihnen, hier schätzt man ihre Zahl auf 50 000 bis 60 000.23 200

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Die wachsende Beachtung von Frauenrechten löste eine Suche nach der ersten Inderin aus, die ihre Vergewaltigung öffentlich machte. Man stieß auf Mathura, eine Waise aus dem Volk der Ghand, die am 26. März 1972 in einer dörflichen Polizeistation im Bundesstaat Maharashtra missbraucht worden war. Ihr Leidensweg begann, als ihr Bruder sie mit auf die Wache nahm, um sich über einen Nachbarn zu beschweren, der sie zur Heirat zwingen wollte. Die Polizei kam zur Überzeugung, das Mädchen habe den Streit selbst verursacht und sperrte sie ein, dann vergingen sich die Polizisten an ihr. Die vorgesetzte Stelle beschloss in der Folge allerdings, der Sache nachzugehen, und der Rechtsstreit zog sich über sechs Jahre hin. Die Polizisten wurden zunächst freigesprochen, nach einer Berufung verurteilt und im nächsten Prozess erneut freigesprochen. Der Berufungsrichter erklärte, Mathura habe ihrem Schicksal zugestimmt. Ihr widerfuhr keine Gerechtigkeit. Doch ihr Fall regte sowohl die Aufmerksamkeit der Presse als auch von öffentlichen Protesten an. 40 Jahre später verkaufte sie Körbe in ihrem Heimatdorf und zeigte sich verblüfft, als ein CNN-Nachrichtenteam sie aufsuchte.24 Einige Monate, nachdem ich Indien verlassen hatte, wurde Delhi Schauplatz eines furchtbaren Verbrechens, das weltweit Aufsehen erregte.25 Eine junge Physiotherapeutin in Ausbildung spazierte nach einem Kinobesuch mit ihrem Freund eine Hauptstraße entlang. Sie kletterten in einen Bus, den sie für einen Linienbus hielten, waren aber in eine Falle geraten: Ein halbes Dutzend Männer griff die beiden an, schlug den Mann bewusstlos und drängte die Frau in den hinteren Teil des Fahrzeugs, wo sie mehrfach vergewaltigt wurde. Doch es kam noch schlimmer. Die Männer penetrierten die junge Frau mit einer Eisenstange und derartiger Gewalt, dass Teile ihrer inneren Organe aus dem Körper gerissen wurden. Die sechs Männer warfen ihre Opfer schließlich aus dem Bus. Der Mann überlebte den Überfall, die Frau starb, trotz aller ärztlicher Bemühungen. Die Presse nannte sie nach einer Filmheldin Damini, „Blitz“. Es wurde spekuliert, ob sie eine Dalit gewesen sei; sie war es nicht. Im März 2013 begann der Prozess gegen die Täter: So dringen auch solche Aspekte des indischen Lebens ins Bewusstsein, die einem Touristen meist verborgen bleiben, die aber auch ein jüngst gefälltes Urteil bestätigen über das Land „und seine Widersprüche“.26 Bis jetzt hatte ich den Großteil meiner Zeit in Delhi am oberen Ende der sozialen Leiter verbracht: Ich plauderte mit Diplomaten, aß in sich drehenden Restaurants, trank Tee im Jugendstilhotel Imperial und klapperte die touristischen Sehenswürdigkeiten ab. Einen Einblick in die „andere Seite“ bekam 201

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ich an jenem Tag, an dem ich das Rote Fort besichtigte. Nachdem ich mich ein wenig ausgeruht hatte, um die Mittagshitze abzuwarten, kletterte ich in eine Rikscha, die mich durch das benachbarte Viertel von Alt-Delhi fahren sollte. Es war kein motorisiertes Tuk-Tuk, und Alt-Delhi ist nicht Neu-Delhi. Sobald man sich in das wuchernde Durcheinander von Straßen westlich des Roten Forts gewagt hat, springt man von der Ersten Welt in die Dritte Welt. Das Gedrängel schwitzender Menschen ist beklemmend. Der vor Anstrengung keuchende Rikscha-Fahrer steht auf seinen Pedalen, um Schwung zu bekommen; in schwierigen Momenten steigt er ab und schiebt. Er hat keine Gangschaltung, keine Klingel und nur eine rudimentäre Bremse. Ununterbrochen ruft er etwas, um sich den Weg freizumachen. Denn der Verkehrsschwarm ist hier dicht gepackt wie Sardinen und zu Fuß und auf Rädern unterwegs. Wir schlängeln und drücken und schrammen und bugsieren uns vorwärts. Gegen den Strom zu schwimmen, wäre unmöglich. Wenn wir wegen eines Schlaglochs, einer Flasche oder eines räudigen Hundes ein wenig langsamer werden, stößt augenblicklich jemand hinten an uns an. Die Fahrräder vor oder neben uns sind mit Baumwollballen oder Ölkanistern oder Bauholz beladen und verschnürt. Junge Männer und Frauen mit Kisten auf den Köpfen eilen hin und her und hüpfen über die faulig riechende Wasserrinne; ein verkrüppelter und staubbedeckter Bettler kriecht auf allen Vieren und mit ängstlich aufgerissenen Augen über die Straße und sorgte damit für noch mehr Chaos. Zwischen den Häusern baumeln, auf Kopfhöhe über uns, dicke Bündel alter Stromkabel. Ohne Isolierung hängen sie durch und drohen, jeden Augenblick Funken zu sprühen. Magere alte Frauen blinzeln zwischen ihrer Wäsche von den Balkonen herab. Menschen allen Alters und aller Größen sitzen, stehen und streunen umher, so gut es auf den vermüllten Gehwegen eben möglich ist. Offene Buden dienen als Läden, Werkstätten oder Essstände. Unbeteiligte starren vor sich hin und warten, dass die Flutwelle abebbt. In einer dunklen Ecke liegt eine bettelarme Familie im Dreck; ein Mädchen mit verkeimten Haarklammern hängt an ihrer ins Nichts starrenden Mutter; ein nackter, mit Ausschlag bedeckter Säugling krabbelt über seinen ausgestreckten Vater … Ich mache dem Rikscha-Fahrer gegenüber eine Bemerkung zu dem Film Slumdog Millionaire und treffe einen wunden Punkt. „Das hier“, versichert er mir, indem er entrüstet über die Schulter schreit, „ist kein Slum; das ist ein respektables Viertel, das gerade harte Zeiten durchmacht. Nein, kein Slum. In einem Slum finden Sie keine Bettler.“ Alt-Delhi ist eine Stufe über den Jhuggi Jhopris, den Barackenlagern oder Slums. 202

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„Die sind völlig anders“, fährt er fort. „Sie sind woanders. Sie können eine Tour dorthin unternehmen, wenn Sie möchten.“ Sie liegen unten am Yamuna Pushta, am Flussbett. Was bedeutet: Wellblechhütten, Baracken, offene Kanalisation, Berge vergammelnden Drecks sowie Gangs von wilden Kindern, die wahren Slumdogs, die über die Halden stromern. „Alt-Delhi hat einfach nur zu viele Menschen“, erklärt der Fahrer. Hier ist menschliches Leben dicht auf dicht gedrängt, ohne Luft zum Atmen. Indiens Bevölkerung wächst jedes Jahr um 18 Millionen Menschen. Premierminister Rajiv Gandhi schlug vor seiner Ermordung 1991 vor, Massensterilisierungen durchzuführen. „Zu viele Menschen“, fasst der Rikscha-Fahrer es noch einmal zusammen. Eine Zeitung bringt einen Artikel über „Delhis unendliche Suche nach Wasser“.27 Der Yamuna ist tot. Der Wassernachschub, der aus den Staubecken für die Stromgewinnung vom nahe gelegenen Himachal Pradesh kommt, reicht nicht aus. Kein einziger Tropfen der jährlichen Monsunniederschläge wird aufgefangen. Und der „Delhi Jal Board’s Master Plan“ kommt nicht in die Gänge. Überall herrscht Durst. An diesem Abend war ich mit einem Freund aus der britischen Botschaft zu einem Essen eingeladen, an dem auch einer der Hochschuldozenten teilnahm, den wir bei dem Demokratie-Seminar kennengelernt hatten. Unser Gastgeber war ein prominentes Mitglied der liberalen indischen Elite und lebte in einem bewachten Wohngebiet. Er ist aktiver Säkularist und wendet sich überzeugt gegen die Vermischung von Religion und Politik, außerdem weiß er sehr viel über die Misshandlung von Minderheiten auf der Welt. Er verwöhnte uns mit Details über die Politik der Bulgarischen Kommunistischen Partei, schließlich hatte er in den 1980er-Jahren miterlebt, wie sie die Türken zwang, ihren Namen eine slawische Form zu geben. Die indische Politik ist nichts für Feiglinge. Da der Professor gut mit Osteuropa vertraut war, lag es nahe, ihn zu Indiens Haltung zum Kommunismus und der langjährigen Verbindung zur Sowjetunion zu befragen. „In den Jahren vor der Unabhängigkeit“, vermutete ich, „dürfte der Kommunismus hier doch einige Anhänger gehabt haben, gerade unter den Kämpfern gegen Kolonialismus, Armut und das Kastenwesen.“ „Das hatte er in der Tat“, erwiderte er, „doch der Kommunismus konnte nie wirklich Wurzeln schlagen; die Genossen stritten sich, und heute haben wir Dutzende von kommunistischen Parteien.“ Nach 1947 war die Annäherung Indiens an die UdSSR eher der Angst vor China geschuldet und nicht der Liebe zum Kommunismus. „Die Inder übernehmen keine fremden Ideologien.“ 203

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Eine Unmenge von Parteien wetteifert um die Gunst der Wähler, fast alle basieren auf Ethnie, Religion, Kaste oder Volksgruppe. Der einzige mir bekannte kommunistische Inder war M. N. Roy (1887–1954), ein mit einer Kalifornierin verheirateter Brahmane. Zu diesem Zeitpunkt regierte die Mitte-links zu verortende United Progressive Alliance Indien schon rund ein Jahrzehnt. „Zur Zeit finden sich nicht Einzelparteien, sondern Mehrparteienbündnisse ganz oben wieder“, erklärte der Professor. Nehrus Kongresspartei, die jahrzehntelang an der Macht gewesen war, hat sich in einander bekämpfende Fraktionen aufgesplittert, und ihre in Oxford ausgebildeten, aus der Oberklasse stammenden Führer, darunter vor allem die Gandhi-Dynastie, wirkten immer mehr wie aus der Zeit gefallen.* Nach den Wahlen 2004 übergab Sonia Gandhi das Amt der Premier­ ministerin an einen freundlichen, turbantragenden Sikh, an Manmohan Singh, einen lang gedienten Verwaltungsbeamten. „Das Entscheidende an unserem Premier ist“, erläuterte der Professor, „dass er nicht zu einer der früheren Machtcliquen gehört und dass er niemanden beleidigt.“ Die Damen am Tisch unterhielten sich inzwischen über die Welle von Gruppenvergewaltigungen, unter der Indien zu diesem Zeitpunkt litt. „Die Dalit-Frauen sind am meisten gefährdet“, sagte eine. „Niemand hilft ihnen.“ „In den Dörfern auf dem Land gibt es keine Toiletten und kein fließendes Wasser. Traditionell gehen Frauen nach Einbruch der Dunkelheit auf die Felder, um sich zu erleichtern, und da schlagen die Gangs dann zu“, ergänzte eine zweite. „Kommen diese Verbrechen wirklich häufig vor“, wollte jemand am Tisch wissen, „oder sind die Frauen einfach weniger zurückhaltend beim Protest dagegen?“ Die parlamentarische Opposition wurde zu diesem Zeitpunkt von einem anderen Parteienbündnis angeführt, der rechts-konservativen

* Auch wenn Pandit Nehru zweifellos brahmanischer Abstammung war, so gab es über seine Nachfolger doch immer wieder Zweifel. Indira Nehru, Pandits Tochter, heiratete Feroze Gandhi, einen Farsi-Zoroastrier, ganz gegen den Brahmanen-Kodex. Streng genommen sind daher weder Sanjay Gandhi, die bei einem Flugzeugabsturz 1980 ums Leben kam, noch Rajiv Gandhi, der 1991 ermordet wurde, noch Rajivs in Italien geborene Witwe Sonia Brahmanen.

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National Democratic Alliance. Die tonangebende Partei ist die Hindu nationalistische Bharatiya Janata Party (BJP), deren zentrales Konzept Hindutva mal als „integraler Humanismus“ oder mal als „kultureller Nationalismus“ übersetzt wird; ihre Gegner werfen ihr jedoch eine Neigung zur Gewalt vor. Bei ethnischen Ausschreitungen im Bundesstaat Gujarat 2002 kamen mehr als 2000 Menschen ums Leben und viele, vor allem Muslime, wurden vertrieben. Es gab Untersuchungen gegen Gujarats Regierungschef Narendra Modi, der jedoch gerichtlich freigesprochen wurde und seinem Bundesstaat zu neuer Blüte verhalf. „Modi macht sich für die nationale Bühne bereit“, sagte man uns, „und er stammt aus den Other Backward Classes.“ Bei den Parlamentswahlen im Mai 2014 landete Narendra Modi in der Tat einen landesweiten Erfolg. Dank der absoluten Mehrheit konnte seine Partei ohne Koalitionspartner regieren. Die Drähte der Agenturen liefen heiß. Einige sagten, Modi sei ein hervorragender Manager und werde Indien ebenso effizient regieren, wie er es bereits in Gujarat getan habe. Andere hielten ihn für einen kaum verhohlenen Hindu-Aufwiegler, der nur auf den Moment warte, um Indien in Brand zu stecken. Aber alle erwähnten seine Herkunft aus der Unterkaste der Ghanchi, einer der OBCs. Dies war in etwa so wichtig, wie es in Großbritannien von Bedeutung war, welche Bildung ein Politiker genossen hat. Die Ghanchi, wörtlich die „Verkäufer von Pflanzenöl“, stehen nicht ganz am unteren Ende der Kastenliste, aber sie sind auch lange noch nicht an der Spitze in der unteren Hälfte. Modis Vater hatte einen Tee-Stand in einem Bahnhof und brachte seinem Sohn bei, wie man Getränke ausschenkt und Becher abwäscht. Als er die offizielle Residenz in der Nr. 7 Race Course Road betrat, war der neue Premierminister der Erste seiner Art, der die Schwelle übertrat.28 Das größte Geheimnis von Modis Vergangenheit wurde allerdings bekannt, als Details seiner Wählerregistrierung veröffentlicht wurden. Fünfzig Jahre lang hatte Modi sich selbst als unverheiratet dargestellt und, der Tradition hinduistischer Asketen folgend, die Vorzüge des Singlelebens gepriesen. Auf Druck der Medien musste er nun eingestehen, dass er nicht nur verheiratet war, sondern auch, dass seine Frau noch lebte. Er und Jashodaben Chimanlal waren als Teenager von ihren Familien zur Heirat gezwungen worden. Drei Jahre später trennten sich die beiden; er schloss sich einer Hindu-Sekte an, sie wurde Grundschullehrerin. Jashodaben bestätigte diese Angaben: Sie lebte in einer Einzimmerwohnung in einem Dorf, ohne Badezimmer. Und sie war glücklich mit ihrer Rolle als Klassenlehrerin – vor allem von muslimischen Mädchen.29 205

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Kurz vor Modris Wahl bestätigte der Oberste Gerichtshof die Todesstrafen für vier Männer, die der Vergewaltigung und des Mordes von Damini für schuldig erklärt worden waren. (Einer der Verdächtigen hatte sich bereits im Gefängnis das Leben genommen.) Als er die Urteile rechtfertigte, erläuterte der Richter, ganz offensichtlich an der Realität vorbei, dass in diesem Fall „das seltenste der seltenen Verbrechen“ verübt worden sei. Dank des unüberhörbaren Aufschreis 2013–2014 war ein Berg bislang nicht angezeigter Verbrechen öffentlich geworden. Auch gingen immer mehr Hinweise auf die Untätigkeit der Polizei oder sogar ihre Mittäterschaft ein. Nicht weniger als 70 Polizisten wurden allein in Delhi wegen Vergewaltigungen angeklagt.30 Doch kurz nach der Wahl machte ein weiterer schrecklicher Fall einer Gruppenvergewaltigung Schlagzeilen. Zwei Cousinen, 14 und 16 Jahre alt, die im Dunkeln unterwegs gewesen waren, wurden in Katra, einem Städtchen in Uttar Pradesh, vergewaltigt, erwürgt und aufgehängt – man fand ihre Körper am nächsten Morgen an einem Mangobaum hängend.31 Ihr grauenvolles Schicksal machte ein weiteres Mal deutlich, dass die Misshandlung indischer Frauen nicht nur von sexueller Gewalt begleitet wird, sondern auch (wie schon bei Damini) von einem verkommenen Sadismus. Die Kasten-Problematik lauert hinter beinahe jedem Thema. Nach unserem Essen erzählte die in Punjab geborene Frau des Professors lachend, wie sie gelernt habe, „falsche Signale zu setzen“, um damit ihre soziale Herkunft zu verschleiern. Und wurde sie direkt darauf angesprochen, konterte sie mit der Gegenfrage: „Was glauben Sie denn, was mein Background ist?“ Der Wichtigtuer lag dann immer falsch. Der Professor musste zugeben, dass solch verwirrende Signale auch zu Ärger führen konnten. Er kleidete sich normalerweise im nationalen Dress einer Kurta und des Pajama, trug aber auch noch immer den getrimmten Bart, den er sich zu seiner Studienzeit in Europa hatte wachsen lassen. Seine Kleidung signalisiert „Hindu“, sein Bart widerspricht dem. Alles er eines Tages Verwandten einen Tempel zeigen wollte, wollte ihn ein Angestellter hinauswerfen. „Verlassen Sie den Tempel“, rief er, „Sie sind ein Muslim.“ „Ich versichere Ihnen, mein Bester, das bin ich nicht.“ „Doch, das sind Sie; Sie tragen einen Bart! Sie sind ein Muslim.“ Da musste der Professor den Aufseher ernstlich korrigieren: „SCHWACHSINN!“, brüllte er. „SCHWACHSINN. ICH BIN BRAHMANE.“ Jeder Reiseführer erwähnt die sieben aufeinanderfolgenden Städte, aus denen Delhi entstanden ist. Es ist mindestens ebenso aufschlussreich, sie 206

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als sieben aufeinanderfolgende Religionen oder Zivilisationen zu verstehen. Um die riesige Diversität von Indiens Hauptstadt zu erfassen, kann es eine sinnvolle Strategie sein, diese Religionen zu erkunden – eine für jeden Tag der Woche. Der Hinduismus ist so alt wie Indien selbst. Sein europäischer Name wurde im 18. Jahrhundert erfunden, um eine große und unterschiedliche Anzahl von Traditionen und Glaubensrichtungen zusammenzufassen. Die meisten Inder sprechen meist nicht von Hinduismus, sondern vom Sanatana Dharma, den „alten Lehren“, die übervoll mit zahllosen Göttern und Göttinnen, Legenden, Doktrinen, Ritualen, Festen und den heiligen Sanskrit-Schriften sind. In der Regel werden vier Strömungen unterschieden: Shivaismus (für die Verehrer des Gottes Shiva), Vishnuismus (die Verehrer Vishnus), Shaktismus (für die Verehrer Shaktis) und die Smarta-Tradition (für diejenigen, deren oberste Gottheit der abstrakte, aber omnipräsente Brahma ist). Einige Hindus verehren eine göttliche „Dreieinigkeit“ – Shiva, Vishnu und Brahma. Andere sind überzeugt, dass jeder Gott einen anderen Weg zum selben Ziel zeigt. Die Hindu-Schriften umfassen sowohl die Shruti, als göttlich „offenbarte Texte“, als auch die Smriti, „erinnerte Texte“: Zu den Ersten gehören der Veda und die Upanishaden, zum Letzteren die heiligen Erzählungen Mahabharata und Ramayana.32 Eine Vielzahl von Büchern und Webseiten versucht, gern auch einmal ungemein ausführlich, die Prinzipien der „ältesten Religion der Welt“ darzulegen. Auch auf die Gefahr hin, zu sehr zu vereinfachen, könnte man sich zusammenfassend dabei auf den einen Gott Shiva konzentrieren, dessen Schrein in den meisten Tempeln zu finden ist, und auf die „Neun Überzeugungen“, die die meisten Hindus teilen. Shiva, der mit Tod, Untergang und Zerstörung droht, muss besänftigt werden. Die folgenden neun zentralen Glaubenssätze bilden daher einen „festen Bund“ mit ihm: 1. Es existiert ein allgegenwärtiger Schöpfer, der Herr über das Sichtbare und das Unsichtbare. 2. Die vier Vedas sind göttlicher Abstammung. 3. Das Universum durchläuft einen endlosen Kreislauf von Entstehung, Wachstum und Auflösung. 4. Karma, das Gesetz von Ursache und Wirkung, verknüpft das Schicksal des Menschen mit seinen Taten. 5. Die Seele wird immer wiedergeboren, bis sie die Moksha oder „Befreiung“ erreicht hat. 207

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6. Gebete im Tempel ermöglichen es, mit der unsichtbaren Welt in Kontakt zu treten. 7. Die Hilfe eines Satguru oder „Meisters“ ist entscheidend dafür, die Absolute Transzendenz zu erfahren. 8. Alles Leben ist heilig und verlangt daher die Anwendung von Ahimsa, „Gewaltlosigkeit“. 9. Alle Religionen der Welt führen zum selben Göttlichen Licht.

Viele Touristen in Delhi werden zum 2005 gegründeten Swaminarayan Akshardham geführt, dem modernsten Tempel der Hauptstadt. Das am Yamuna Fluss gelegene riesige Gebäude ist eine bunte Mischung aus pinkem Sandstein und weißem Marmor und mit Blumen, Tieren, Musikern, Tänzern und Gottheiten verziert. Er enthält rund 20  000 Statuen, 234  lebensgroße Steinelefanten, mehrere IMAX-Leinwände sowie einen Brunnen mit Musik und findet sich im Guiness Buch der Rekorde als „größter umfassender Hindu-Tempel“.33 Man empfahl mir jedoch, den Akshardham zu meiden. Es gibt zahllose kleinere, authentischere Tempel in Delhi. Also steige ich mit einem Fremdenführer in ein Taxi, das uns durch den Verkehr drängelt, bis es inmitten einer Kakophonie von Hupen in der Mitte eines Kreisverkehrs kreischend hält, wo der von uns gewählte Tempel seinen schlecht zugänglichen Platz hat. Die Farben sind grell. Besucher müssen ihre Schuhe, mitunter auch ihre Socken ausziehen. Ein Labyrinth aus Treppen und Tunneln führt uns auf einem Hindernisparcours durch Höhlen, Keller und Nebenkapellen, die mit glänzenden Göttern und fantastischen Tierwesen gefüllt sind. Der symbolische Shiva Lingam, also Shivas Stein, liegt in einem zentralen Raum. Wir läuten die Messingglocke, um unsere Ankunft anzukündigen, überreichen dem Priester eine Opfergabe und erhalten dafür einen Fleck mit heiligem Öl auf unsere Stirn, ein rotes Gebetsmantra auf das Handgelenk und einen Teelöffel Wasser zu trinken. (Westler mit Angst vor Bakterien können sich das Wasser auch über die Haare gießen.) Ein Priester sitzt mit überkreuzten Beinen hinter einer Glasscheibe und liest über ein Mikrofon heilige Texte vor. Der Jainismus ist aus dem Hinduismus hervorgegangen. Von seinen Anhängern auch Jaina Dharma genannt, entstand er im 2.  Jahrtausend v. Chr., als die Veda-Tradition bereits uralt war. Wann genau Rishaba, der erste Tirthankara, oder „Verbreiter des Glaubens“, lebte, lässt sich nicht sagen, der zweite, Parshva, gehört ins 9. Jahrhundert v. Chr., der dritte und wichtigste, Mahavira, lebte im 6.  Jahrhundert v.  Chr. Mahaviras Jünger 208

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gaben ihm den Namen Jina, „der Eroberer“, was sich auf die Eroberungen des Selbst bezieht.34 Die sich aus den älteren hinduistischen Doktrinen entwickelnden Doktrinen des Jainismus betonen nachdrücklich das Ahimsa und Karma. Die Jainas warfen den Hindus Laxheit vor und etablierten ein System von Gelübden, das den Grad der Selbstkontrolle steigert, den Anhänger erreichen können. Gewöhnliche Menschen legen die sogenannten „Kleinen Gelübde“ ab, Mönche und Asketen verpflichten sich den fünf „Großen Gelübden“: 1. Ahimsa, „Gewaltlosigkeit“, die das Töten oder Verletzen jeglichen Lebens untersagt 2. Satya, „Wahrheit“: Sprich immer die Wahrheit, es sei denn, dies würde zu Gewalt führen. 3. Asteya, „Selbstverleugnung“, die das Bereichern als Form des Diebstahls versteht 4. Brahmacharya, „Abstinenz“, vor allem sexuelle Abstinenz 5. Aparigraha, „Loslösung“, zu der der Verzicht auf Eigentum und Familie gehört.

Die jainistische Interpretation des Karma brachte sie zu einem ganz eigenen Verständnis der Seele. In ihrem reinen Zustand ist die Seele demnach zu unendlichem Wissen, unendlicher Glückseligkeit und unendlicher Energie in der Lage. In der Wirklichkeit ist die Seele jedoch voller Unreinheiten, wie es auch Gold ist, weshalb die Lebensaufgabe der Jainas darin besteht, die „Gefangenschaft“ ihrer Seele in der gleichen Weise zu lösen wie Gold veredelt wird. Die Theorie und Praxis des Jainismus verlangt folglich ein hingebungsvolles Studium. Dennoch lassen sich einige ihrer Vorstellungen leicht begreifen. Eine ist ihre strenge Verpflichtung zu einer vegetarischen und milchfreien Ernährung. In ihren Augen verlangt die Zubereitung von Fleisch, Milch, Käse oder sogar Wurzelgemüse unangemessen große Gewalt. Die Jaina kultivieren darüber hinaus ein spezielles Verständnis der menschlichen Begrenzungen. Ihr Konzept des Anekantavada, oder auch „Pluralismus“, geht beispielsweise davon aus, dass kein einzelner Standpunkt jemals die gesamte Wahrheit ausrücken kann, weshalb sie stets eine Vielfalt von Meinungen verlangen. Sie erzählen zur Verdeutlichung die Geschichte von drei blinden Männern und einem Elefanten: Ein Mann befühlt den Rüssel des Tiers, ein zweiter sein Ohr, der dritte einen Fuß. Die 209

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einzige Möglichkeit für sie, das gesamte Tier zu verstehen, besteht darin, all ihre Perspektiven zu vereinen. Jeder, der nach Delhi kommt, sollte den Tempel der Jaina besuchen, den Sri Digambar Jain Lal Mandir, der im Zentrum des Chandni Chowk Distrikts steht. 1656 von einem muslimischen Herrscher als Zeichen der Ehr­ erbietung an seine jainistischen Finanziers erbaut, ist er unter dem Namen Lal Mandir, der Rote Tempel, bekannt und sofort an seinen drei aufragenden, mitraförmigen Türmen aus leuchtend roten Backsteinen zu erkennen. Wer ihn betreten möchte, kommt an einer großen Manastambha-Ehrensäule vorbei. Im Eingangsbereich geben Besucher nicht nur ihre Schuhe, sondern alle Ledergegenstände ab: Handtaschen, Gürtel, Uhrarmbänder und Kamerahüllen. (Leder ist für die Jaina der Überrest eines ermordeten Tieres.) Anschließend überquert man den Hof und steigt die Treppen zum Heiligtum hinauf. Der Hauptaltar ist Mahavira gewidmet, der sich im Lotussitz zeigt und von Statuen der Tirthankaras, der „weniger Erleuchteten“, umgeben ist. Die jainistische Kunst ist reich an Symbolen, zu denen die Swastika und das Rad gehören, aber auch viele stehende nackte Männer sind zu sehen, was auf die prähistorische Kultur des Indus-Tals zurückgeht. Die ruhige Stimmung unterscheidet sich stark vom Trubel eines hinduistischen Tempels. Menschen kommen und gehen, bringen Opfergaben aus Obst, Körnern, Reis und Kerzen mit, und in ihren Gesichtern spiegelt sich das warme Licht, das von den vergoldeten Gemälden und Butterlampen ausgeht. In vielerlei Hinsicht kann der Buddhismus als Partner des Jainismus gelten. Buddha, der Meister der Perfektion, war ein Zeitgenosse Mahaviras und dürfte von ihm gehört haben. Beide waren sie edle Prinzen, die ihr Erbe ausschlugen; beide verkündeten tief philosophische Reflexionen und beide gewannen eine Anhängerschaft, die 2500 Jahre gedieh. Etwa im Jahr 563 v. Chr. geboren, wuchs Siddhartha Gautama in einem adligen Herrschergeschlecht im heutigen Nepal auf. Als er im Alter von 29 Jahren bemerkte, dass Luxus und Reichtum kein Glück garantieren, konzentrierte er sich auf das Studium der Religion und erklärte, er habe den „mittleren Weg“ zwischen Askese und Luxus gefunden und sei dadurch erleuchtet. Fragte man ihn, wer er sei, so antwortete er, „Ich bin erwacht“ – Buddha heißt „Erwachen“; und diese Selbstbezeichnung blieb hängen. Aus ihr folgt, dass sein früherer Bewusstseinszustand einem tiefen Schlaf ähnelte. Wie Jesus Christus, so hinterließ auch er keine schriftlichen Zeugnisse. Zudem wählte Siddhartha oft „die edle Stille“, womit er die Bemühungen seiner Schüler durchkreuzte, die erfahren wollten, was er dachte. 210

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Die ihm selbst zugeschriebenen Ideen und Aussprüche wurden Jahrhunderte nach seinem Tod aufgezeichnet und in der unter dem Namen Tripitaka bekannten dreiteiligen Sammlung festgehalten. Sie besteht aus der Sutra (den Lehrreden von Buddha selbst), der Vinayapitaka (den Ordens­ regeln) und der Abhidhammapitaka (über Psychologie und Philosophie). In der Folge entstanden zwei Hauptrichtungen des Buddhismus. Eine, die Hinayana, das „mindere Fahrzeug“, entwickelte ihren Schwerpunkt in Ceylon, Birma und Indochina und betonte die individuelle Selbstperfektion; die andere, die Mahayana, beziehungsweise das „große Fahrzeug“, die sich in Tibet, China und Japan ausbreitete, betont das Mitleid und den Dienst an anderen.35 Die deutlichste Zusammenfassung von Buddhas Lehren finden sich in den Berichten über seine Predigt, die er nach dem Ende seiner sechsjährigen Askese im Wald hielt und in der er von seiner Erleuchtung erzählt. Sie enthält zahlreiche bekannte Aussprüche wie etwa „Seid euer eigenes Licht“, was dazu auffordert, sich keiner externen Autorität zu unterwerfen, oder „Alles, was wir sind, ist ein Resultat dessen, was wir gedacht haben.“ Hier finden sich auch die drei „edlen Weisheiten“ und der „Achtfache Pfad“ zur Selbstentfaltung. Die erste Wahrheit ist die Unvermeidbarkeit von Dukkha, was gewöhnlich mit „Leiden“ oder „Widrigkeit“ übersetzt wird. Die zweite, Tanha, verurteilt das übermäßige Streben nach privaten Begierden, das dieses Leiden verursacht. Die dritte Wahrheit, Nirodha, erklärt die Notwendigkeit, die eigenen Sehnsüchte und Wünsche zu überwinden, um das Leiden aufzuheben. Die vierte Wahrheit, der „Achtfache Pfad“, erläutert dann systematisch die Möglichkeiten, nach denen ein Gläubiger das Nirwana erreichen kann, den perfekten geistigen Zustand. Dazu gehören rechte Einsicht, rechte Gesinnung, rechte Rede, rechtes Handeln, rechter Lebenserwerb, rechtes Streben, rechte Achtsamkeit und rechte Sammlung. Die letzten beiden verweisen auf Raja Yoga, die „königliche Straße“ der Meditation, die Menschen über ihren Alltag hinaushebt. Anders als der Hinduismus oder der Jainismus breitete sich der Buddhismus weit über Indien hinaus aus. Von Nepal und Bhutan ausgehend (wo er heute Staatsreligion ist), überquerte er den Himalaya in Richtung Nordostasien, gelangte aber auch in den Südosten des Kontinents, bis ins heutige Indonesien. Mit seiner Konzentration auf das Innenleben der Menschen missachtet er bestehende Kulturen, soziale Normen oder politische Systeme und zielt auf weltweite Achtung. Es überrascht daher nicht, dass Delhi zahllose Buddha-Tempel, -Schulen und -Studienzentren besitzt. Alle wichtigen, internationalen Verzweigun211

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gen des Glaubens – tibetische, chinesische, Zen und andere – sind hier vertreten. Aus Angst vor einer Tempel-Erschöpfung flanierte ich in einem Vorort von Neu-Delhi zufrieden durch den Buddha Jayanti Park, der zum 2500.  Jahrestag der Erleuchtung des Meisters geschaffen und 1993 vom 14. Dalai Lama eröffnet wurde. Ein Ort, an dem man sich wirklich erwacht fühlen kann. Ein eleganter goldener Buddha sitzt unter einem Baldachin aus Stein auf einer kleinen Insel im Teich, umgeben von Seerosen und Goldfischen. Ein Ableger des Bodhibaums, einer Pappelfeige, findet sich ganz in der Nähe. Gartenvögel huschen von Busch zu Busch. Die warme Frühlingssonne flutet den Park. Womöglich ist Buddha das für Asien, was der heilige Franziskus von Assisi für Europa ist, nur in verstärktem Maße. Die Stadt Delhi, ursprünglich Dillika genannt, wurde zur Zeit der Rajputen gegründet, die vom 8. bis zum 9. Jahrhundert herrschten. Die frühesten Überreste der Siedlung finden sich im heutigen Stadtteil Mehrauli. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Hinduismus keinen ernsthaften Herausforderer: Der Jainismus war nach einem frühen Höhepunkt wieder im Rückgang begriffen, und der Buddhismus war die wichtigste Alternative. In Europa erreichte das Byzantinische Reich seinen Höhepunkt, während das kurzlebige Frankenreich von Karl dem Großen den Westen des Kontinents dominierte. In Kürze würde die Welt der Hindus, genau wie die der Christen, von einer neuen und militanten Religion durcheinandergeworfen werden, die der Sandwüste Arabiens entsprang. Nach einigen kleineren Einbrüchen erreichte der Islam gegen Ende des 12. Jahrhunderts den Subkontinent. Dies war die letzte in einer Reihe mehrerer derartiger zivilisatorischer Invasionen, und der Islam kam in den Satteltaschen wilder Volksstämme aus Persien und Afghanistan heran, die in die üppigen Täler des Indus und Ganges geritten kamen und alles unterwarfen, was sich ihnen in den Weg stellte. Hier präsentierte sich eine Religion mit einer Mission: die Unbesiegbarkeit von Allah und Seinem Propheten zu proklamieren, die Worte des Heiligen Koran zu verbreiten und die Ungläubigen in die Knie zu zwingen. Schon seit einem halben Jahrtausend verfolgten Muslime diese Ziele und kontrollierten bereits einen breiten Streifen der Erde, von Spanien bis Zentralasien und noch weiter über Ostafrika und bis nach Süd- und Südostasien. Ihre strengen, kriegerischen Grundsätze boten nur wenig Anschluss an die bequem eingerichteten Zivilisationen, denen sie nun gegenüberstanden, und die turbantragenden Reiter dürften bei ihrer ersten Begegnung mit einem Shiva-Tempel oder einer vergoldeten Buddha-Statue mit weit aufgerissenen Augen dagestanden haben. Ebenso kratzte sich der Hindu-Guru oder buddhistische Mönch 212

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vermutlich verwundert den Kopf, als er von den Neuankömmlingen erfuhr, dass es nur einen Gott gibt. Meist schreibt man dem aus Nordwest-Afghanistan stammenden Sultan Muhammad von Ghur (1150–1206) den entscheidenden Anteil am muslimischen Vormarsch in Indien zu. Offiziell dem Abbasiden-Kalifen in Bagdad unterstellt, bekriegten er und seine Vorfahren sich fast ein ganzes Jahrhundert mit ihren Turk-Nachbarn im Osten, den Herrschern von Ghazni. Im Zuge dieser Auseinandersetzungen brannten sie die Stadt Ghazni nieder, womit sie sich den Beinamen Jahansuz oder „Weltenverbrenner“ verdienten; sie wurden auch in einen Streit über den Distrikt von Multan in Punjab verwickelt. Muhammad von Ghur stellte eine Armee aus 120 000 Mamlukken-Sklaven zusammen, führte 1175 die erste von vier Expeditionen nach „Hindustan“ an und konnte 1192 bei der Zweiten Schlacht von Tarain den entscheidenden Sieg erringen. Dem Kommandeur des Sultans, Qutb-udDin, einem ehemaligen Kiptschak-Kumanen-Sklaven, gelang die Eroberung Delhis, wo er fortan als Stellvertreter Muhammads fungierte. Da Muhammad keine leiblichen Kinder hatte, bereitete er seine SklavenKommandeure darauf vor, seine Nachfolge anzutreten. So wurde Muham­ mads Reich nach seiner Ermordung unter diesen aufgeteilt, und Qutb-udDin, auch Aibak genannt, nahm den Titel Sultan an, womit er das erste unabhängige Reich der Sklavendynastie der Sultane von Delhi begründete. Auf diese Art vermischte sich die Bevölkerung des entlegenen Sultanats mit der ihrer Eroberer, was zur bereichernden Fusion von hinduistischen und muslimischen Elemente in der Hybrid-Zivilisation der folgenden Jahrhunderte führte.36 Die zweite Delhi-Stadt, heute in den westlichen Vororten gelegen, wurde von den nachfolgenden Herrschern der Sklavendynastie Anfang des 13.  Jahrhunderts gegründet. Ihr Kernstück bildet der erstaunliche Qutb Minar, das Minarett von Qutb-ud-Din. Der aus massivem, rotem Sandstein errichtete und mit feinen, abstrakten Verzierungen versehene Turm war zur Zeit seiner Erbauung mit 73  Metern das höchste Gebäude der Welt. Hier verbrachte ich einen unvergesslichen Nachmittag, als ich mich unter die örtlichen Ausflügler mischte und durch die weiten Ausläufer der indischen Geschichte schlenderte. Ein offizieller Touristenführer mit breitkrempigem, hellgelbem Sonnenhut erläuterte mir in einer blumigen Variante des subkontinentalen Englisch die Sehenswürdigkeiten der Anlage. Ich saß mit meinem Teleobjektiv im Schatten der Ruinen und fotografierte die Details der Steinmetzarbeiten vor dem Hintergrund eines wolkenlosen, blauen Himmels. Dann fiel mir ein noch bunteres Motiv ins 213

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Auge. Die anderen Besucher stellten sich in langen Reihen auf, Familie um Familie, um Gruppenfotos von sich vor den exotischsten Teilen der Ruinen zu machen. Ich rückte ein wenig in den Hintergrund und fotografierte die Fotografierenden. Die Inder sind ohnehin ein gutaussehendes Volk, doch wenn sie sich in entspannter Stimmung vor den Zeugnissen ihres uralten Erbes versammeln, erscheinen sie noch einmal besonders fotogen. Die Saris, Turbane und Sonnenschirme strahlten in allen möglichen Farben, zusammen mit den Baseball-Caps, Sonnenbrillen, Jeans, Turnschuhen und rabenschwarzen Haaren. Stolze Eltern hielten ihre Kinder vor die Linse oder das iPhone. Ehrwürdige Alte richteten sich neben ihren Enkeln und Urenkeln auf und erzählten ihnen zweifellos von Sultan Muhammad und den Erbauern des Minaretts. In jedem Gesicht stand ein Lachen. Das Sultanat von Delhi konnte sich fünf Dynastien lang, bis 1526, halten, als es von einer neuen muslimischen Invasion aus Afghanistan besiegt wurde. Die neuen Mogul-Herrscher ließen sich in Agra nieder. Als sie 1648 ihre Hauptstadt nach Delhi verlegten, erwartete sie hier bereits die für diesen Anlass neu erbaute Stadt Shahjahanabad am Fluss Yamuna. In deren Zentrum hatte man das Lal Qila, das Rote Fort, errichtet, ein weiteres beeindruckendes Sandsteingebäude. Es verlieh der heutigen Stadt ihren Namen: Dieser stammt vom alten Hindustani-Wort dehali ab, dem Wort für „Eingang“, das „Dilli“ ausgesprochen wird (die Einwohner Delhis sind „Dilli-Wallahs“, also Kerle aus Dilli). Man reiht sich neben dem Burggraben auf, durchläuft den Sicherheits-Check – Männer und Frauen getrennt –, um dann die Stufen zur Festung hinaufzusteigen. Die Mittagshitze lässt einen schwindelig werden, die sonnenbeschienenen Steine reflektieren die Hitze wie in einem glühenden Ofen. Ich hätte zusammen mit vielen anderen die schon fast obligatorische ­Pilgerfahrt zum Taj Mahal in Agra unternehmen können, entschied mich dann aber dafür, in Delhi zu bleiben und ein weiteres, faszinierendes Mogul-Mausoleum zu besuchen. Humayun war von 1530 bis 1556 der zweite Herrscher des Großmogulreiches, und sein Nachfolger Akbar baute ihm die Grabanlage. Es war dann Akbars Nachfolger, der von 1628 bis 1658 regierende Shah Jahan, der das Taj Mahal in Auftrag gab. Humayuns Grabanlage vermengt persische und indische Elemente und bot die Vorlage für den Bau des größeren Taj Mahal. Ihr solider, orangerötlicher Sandstein wird durch die vielen zusätzlichen Elemente aus weißem Marmor noch betont. Die Vorderseite wird im untersten Geschoss durch eine Reihe kleiner wabenförmiger Arkaden dominiert, auf denen sich in der mittleren Ebene hübsche orientalische Bögen aufbauen, über die 214

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sich schließlich eine wunderschön geformte, weiß geflieste Kuppel erhebt. Der 160  Hektar große Park ist mit Kanälen versehen, und zwischen den zahlreichen Zypressen finden sich weitere Gräber von Adligen der MogulHerrschaft. Auch wenn das Humayun-Mausoleum nicht mit der Romanze zwischen Jahan und Mumtaz Mahal in Agra mithalten kann, so hat auch dieser Ort seine besondere Geschichte: Humayun, „dem Glücklichen“, gehörte einst der Koh-i-Noor-Diamant, dessen Name „Berg des Lichts“ bedeutet. 300 Jahre nach Humayuns Tod versteckte sich der letzte MogulHerrscher, Bahdadur Shah II., der von 1837 bis 1857 herrschte, vor den Briten im Mausoleum. Doch damit endete sein Glück. Der galante Captain Hodson nahm ihn hier in Gewahrsam, womit auch die Geschichte der Moguln endete. (Bahdadurs Absetzung führte zu einem politischen Vakuum, das Disraeli dafür nutzte, Königin Victoria zur Kaiserin von Indien zu machen.) In Delhi finden sich reichlich Moscheen, sowohl sunnitische wie schiitische, wobei rund ein Drittel der Muslime Schiiten sind. Die Quwwat-ulIslam-Moschee („Macht des Islam“) aus dem Jahr 1193 gilt dabei als die älteste. Die Jama Masjid (von 1650) ist mit einer Kapazität von 25 000 Gläubigen die größte, sie überragt damit auch die benachbarte Shia Jama Masjid. Die in Bara Bazaar gelegene Lal Masjid, die Rote Moschee, aus dem Jahr 1754, dürfte die lebhafteste sein. Doch keine reicht an die großartige ScheichZayid-Moschee in Abu Dhabi heran. Häufig wird der Sikhismus als Synthese verschiedener Religionen verstanden, der Elemente aus dem Hinduismus, Buddhismus und Islam in sich vereint. Daran mag etwas Wahres sein, und doch unterschätzt diese Beschreibung die Originalität und Energie der Bewegung, die während des 15. Jahrhunderts in Punjab entstand und ihre endgültige Form im 18. Jahrhundert fand. Gegründet wurde sie von Guru Nanak (1469–1539), der aus einer Hindu-Familie stammte und fünf große Reisen unternahm, darunter eine nach Tibet und eine nach Mekka, um später mit dem Gurmat Sikki, dem „Weg des Guru“, die Grundlagen der Sikh-Religion zu legen. Zu seinen berühmtesten Aussprüchen gehört der Satz: „Es gibt keine Hindus, es gibt keine Muslime, es gibt nur Geschöpfe Gottes.“ Er vertrat den Glauben an einen allmächtigen Gott, und mit ihm begann die lange Sikh-Tradition der sozialen Gerechtigkeit, in der Arbeit, Gebet und Barmherzigkeit die drei Säulen eines guten Lebens bilden. Das Wort Sikh bedeutet denn auch „Schüler“, und Sikkhi, die Religion, ist „das Studium“.37 Die Doktrine und die Religionsausübung richten sich nach den Lehren der Zehn Gurus – von denen Guru Nanak der erste war – sowie nach dem 215

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Text des heiligen Adi Granth, des „Ur-Buchs“, an dem alle Zehn Gurus mitgewirkt haben. Nanaks Nachfolger, der Gelehrte Guru Angad Dev (gestorben 1552), vereinheitlichte die einzigartige Gurmukhi-Schrift, in der alle Sikh-Texte geschrieben sind. Guru Amar Das (gestorben 1574) sorgte für die organisatorischen Strukturen der Gemeinschaft, schuf damit das Manji-System mit „Pfarrbezirken“ und „Diözesen“ und legte Zeremonien für Geburt, Hochzeit und Tod fest. Guru Ram Das (gestorben 1581) machte Amritsar zur heiligen Stadt der Sikhs und den Goldenen Tempel zu ihrem heiligsten Schrein; auch geht auf ihn das Vererbungsprinzip zurück, weshalb alle nachfolgenden Gurus direkt von ihm abstammten. Guru Arjan Dev (gestorben 1606) wurde von den Moguln verfolgt und zu Tode gefoltert, was die Sikhs zu ihrem Kampfgeist inspirierte; außerdem überwachte er die Zusammenstellung der frühesten Version des Adi Granth. Guru Har Gobind (gestorben 1644) formalisierte den Exekutivrat der Sikhs, den Akal Takht, den „zeitlosen Thron“, sowie die Institution der verbindlichen Dekrete, der Gurmata (der „Vorsatz des Guru“). Die Leistungen von Guru Har Rai (gestorben 1661) sind mir entfallen, und der junge Har Krishan (gestorben 1664) starb noch als Kind. Guru Tegh Bahadur (gestorben 1675) wurde vom Mogul-Herrscher hingerichtet, da er Hindus vor der gewaltsamen Bekehrung schützen wollte. Guru Gobind Singh (gestorben 1708) war der einflussreichste aller Gurus: Er vollendete die Schriften, organisierte die Khalsa, die „Armee Gottes“, errichtete ein Sikh-Reich im nördlichen Indien und gab bekannt, der letzte menschliche Guru zu sein. Nach ihrer Fertigstellung nannte man die heiligen Schriften der Sikhs Guru Granth Sahib, das „Buch der Guru-Meister“, doch häufig spricht man von ihnen auch als dem „Elften Guru“ oder einfach als „dem Granth“. Sie sind in Gurmukhi verfasst, einer antiquierten Mischung aus Hindi und Punjabi mit eigenen Schriftzeichen: Mehr als 5000  Gedichte, Hymnen, Aphorismen und Geschichten sind in 31 Ragas, also Kapitel, unterteilt. In ihnen findet sich nicht nur der Verstand und die Weisheit der Zehn Gurus, sondern auch die von 15 Bhagats, „weisen Männern“, von Namdev bis Kabir; es finden sich viele Bezüge zur volkstümlichen Punjabi-Musik und auf die Notwendigkeit, voller Freude zu singen. Die ersten Verse sind die von Guru Nanaks Mul Mantra, das alle Sikhs auswendig lernen: Ik oangkar sat nam karta purkh nirbha’u nirvair akal murat ajuni saibhan gur prasad. Gott ist Eins ohne Gegensatz, Er ist der Schöpfer, wahr ist sein Name, der Schöpfer von allem, was ist, Er ist ohne Furcht, ohne Feindschaft, zeitlos 216

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ist seine Form, jenseits von Geburt und Tod, aus sich selbst heraus seiend, verstanden durch die Gnade des Guru.38

Nichtsdestoweniger wirken die Sikhs heutzutage wie höchst praktisch veranlagte und ordentliche Menschen. Immer an ihren Bräuchen und dem Kleidungsstil, vor allem dem Turban der Männer, zu erkennen, beachten sie sieben Verbote: 1. Schneide nicht deine Kopfhaare. 2. Halte dich von Alkohol, Tabak und Drogen fern. 3. Begehe keinen Ehebruch. 4. Kümmere dich nicht um materiellen Besitz. 5. Befolge keine abergläubischen Rituale, kein Fasten, keinen Schleier, keine Pilgerfahrt und keine Beschneidung. 6. Opfere keine Tiere. 7. Ahme keine Yogis, Mönche, Bettler oder Ledige nach.

Während sie einfachen, positiven Grundsätzen folgen, gelten Sikhs als offen für andere Meinungen und Kulturen. Ihre Vorschrift, sich eine Arbeit suchen zu müssen, hat viele feine Handwerker und Ingenieure hervorgebracht. Die Vorschrift zum Gottesdienst führt dazu, dass sie regelmäßig den Gurdwara oder Tempel (wörtlich „Durchgang zu Gott“) aufsuchen und Granth und Panth gut kennen. Und die Vorschrift zur Barmherzigkeit führt dazu, dass sie immer wieder Essen für Hungernde spenden, sich um Kranke kümmern und den Armen helfen. Man bringt ihnen bei, sich mit dem Konzept des Chardi Kala, der „optimistischen Ausdauer“, dem Leben zu stellen. Alle männlichen Sikhs tragen den Nachnamen Singh, was übersetzt „Löwe“ bedeutet, alle Frauen heißen Kaur, was sich mit „Prinz“ [sic] übersetzen lässt. Frauen haben die gleichen Rechte wie Männer und dürfen die örtlichen Gebete leiten. Männer werden gedrängt, ein würdevolles, kriegerisches Verhalten an den Tag zu legen und den „Soldaten-Heiligen“ nachzueifern. Und sowohl Männer als auch Frauen sollen die „Fünf Ks“ beachten: Kesh, Kangha, Kara, Kirpan und Kachera. Was bedeutet, sie sollen ihr Haar nicht schneiden, einen Holzkamm bei sich haben, einen eisernen Armreif tragen, einen Dolch mitführen und spezielle Unterwäsche anziehen. Man sollte die Möglichkeit, einen Sikh-Tempel zu besuchen, nicht ungenutzt verstreichen lassen, und Delhis wichtigster Tempel, der Gurdwara von Bangla Sahib, ist da sehr verlockend. In der Mitte des 1783 aus weißem Marmor errichteten Tempels ragt ein hoher Turm mit goldener Kuppel 217

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empor; umgeben wird die ganze Anlage von einem künstlichen See. Mich begleitet ein Mitarbeiter der Konsularabteilung der Britischen Botschaft, der über den Sikhismus promoviert hat. Wir legen Schuhe und Strümpfe in nummerierte Fächer am Eingang und gehen barfuß durch das reinigende Wasser. Als wir die mit Teppichen geschmückten Stufen auf eine höhere Ebene geschafft haben, begrüßt uns ein großer, lächelnder und bärtiger Sikh in weißem Gewand und leuchtend rotem Turban. Er steht unter einem Baldachin, fordert uns auf, uns wie zu Hause zu fühlen und Fragen zu stellen. Dann bietet er uns als Willkommensgeste auf einem silbernen Tablett kleine Kuchen an und reicht uns Tücher, um unsere Köpfe zu bedecken. Es gebe noch mehr zu essen, sagt er uns, in der Langar-Halle. (Langar, der Brauch der Gastfreundschaft, die sowohl den Sikhs als auch Nicht-Sikhs gewährt wird, geht auf Guru Nanak zurück.) Nun sind wir frei, uns den zahlreichen Männern und Frauen anzuschließen, die im Uhrzeigersinn um den zentralen, verhüllten Schrein laufen. Das heilige Buch, das Granth, liegt mit einem edelsteinverzierten Umschlag aufgeschlagen in einem erhöhten Glaskasten unter einem Aufbau aus poliertem Gold. Drei turbantragende Diener lesen mit einem Mikrofon abwechselnd aus den Schriften vor. Einige Menschen sitzen mit überkreuzten Beinen auf den Teppichen und wiederholen die Texte im Flüsterton, andere rezitieren „den heiligen Namen“ oder kauern in Familiengruppen zusammen, wieder andere lehnen sich an eine Säule, doch die meisten schlendern einfach herum und saugen die Atmosphäre in sich auf. Es gibt keinen vorbereiteten Gottesdienst, keine Kollekte, keine Stühle oder Kirchenbänke, und man verspürt überhaupt kein Gefühl eines Zwangs. Nach einer Weile kehren wir in den Sonnenschein zurück und blicken von einem Balkon aus auf eine zweite Menschenmenge, die in der Kühle und Ruhe der Anlage den See umkreisen, bevor sie in den Lärm und das Gedränge aus Mopeds, Verkaufsständen, Rauch und fliegenden Händlern vor dem Ausgang zurückkehren. Ein Bild von Guru Nanak ist für diesen Tag ein passendes Souvenir. Das Christentum macht etwa zwei Prozent der indischen Bevölkerung aus. Es erreichte im 5. Jahrhundert mit dem Nestorianismus den Süden des Landes, wurde dann von den Portugiesen im 16. Jahrhundert noch einmal in Goa eingeführt und breitete sich später durch britische Missionare aus, die sich auf die Bekehrung der unteren Kasten konzentrierten. Arundhati Roy, als Christin im Bundesstaat Kerala geboren, erzählte von ihrer Dorfkirche, in der „Paraiyar-Priester vor einer Gemeinde aus Unberührbaren predigten“.39 Protestanten und Katholiken missionierten gegeneinander. Die meisten Inder ließen diese Bemühungen ziemlich unbeteiligt, auch 218

Dalits, Tempel und Salutschüsse

wenn die weißen Sahibs und Memsahibs in ihren Landauern zu den Kirchen gefahren wurden, wo sie Gott für das Empire dankten. Die Wahrzeichen dieser Zeit finden sich noch heute in Delhi, und etwa ein halbes Dutzend Kirchen werden noch für den Gottesdienst genutzt. Die Central Baptist Church (1814) ist die älteste; St.  Stephen’s (1862), von der SPCK (Society for Promoting Christian Knowledge; deutsch: Gesellschaft zur Förderung des christlichen Wissens) gegründet, dürfte die schönste sein, wohingegen St. James’s als die architektonisch ambitioniertere gilt. Henry Medd entwarf zwei Kathedralen, die das Regierungsviertel in Neu-Delhi mit spirituellem Schmuck versehen sollten. Die Cathedral Church of the Redemption (1927) ist anglikanisch, die Sacred Heart Cathedral (1929), heute geschmückt von einem großen Porträt Papst Johannes Pauls II. (der Delhi 1986 und 1999 besuchte) ist katholisch. Einige der Missionen, Klosterschulen und Krankenhausstiftungen sind noch immer aktiv.40 Nichts duftet mehr nach den vergangenen Tagen des Ruhms als die Cathedral Church of the Redemption; dies dürfte einer der wenigen Orten in Delhi sein, wo man sich möglicherweise sogar erkälten kann. Von außen massig und prahlerisch, ist sie innen dafür düster, feucht und trostlos. Einst unter der Schirmherrschaft des Vizekönigs stehend, dient sie nun als Zentrale der Anglican Church of North India, deren wenige, ausschließlich indische Angestellte an Tischen in einer Ecke der Apsis sitzen. Die Stühle im Hauptschiff sehen verlassen aus, und es muss wohl Jahrzehnte her sein, dass zwischen diesen Mauern der Klang von Orgel, Chor und Gemeinde unter einem „Nun danket alle Gott, mit Herzen, Mund und Händen“ ertönte. Auf der Suche nach Gläubigen aus früheren Zeiten schlich ich durchs Kirchenschiff. Das Aktuellste, das ich finden konnte, war eine Gedenktafel für einen RAF-Offizier, der 1940 ums Leben gekommen war. Das Bahaitum gibt ebenso viele Gläubige in Indien an wie die christlichen Kirchen, ist im Alltag von Delhi aber deutlich präsenter. Wie viele andere Religionen verdankt diese ihren Ursprung den Offenbarungen eines Mannes, der der Verfolgung widerstand und eine Schar Anhänger um sich versammeln konnte. Dieser Mann war Mirza Husain-Ali Nuri (1817–1892), ein aus Teheran stammender Perser aus angesehenem Hause. Bestürzt von der konfessionellen Aufspaltung des Islam, bei der sich Sunniten gegen Schiiten wandten, und von einer zeitgenössischen häretischen Strömung namens Babismus angezogen, bemühte er sich um einen universellen Glauben, der alle Menschen vereinen sollte. Er nannte sich fortan „Bahaʾullah“, die „Herrlichkeit Gottes“, stieß sein Vermögen ab, erregte durch seine öffentlichen Erklärungen 1844 in Shiraz den Ärger der Behörden in seinem 219

4. Dilli – Delhi

Heimatland Persien (vor allem, dass er ihnen „die Pest auf beide Häuser“ herabwünschte), sodass er ein Leben im Exil verbringen musste.41 Laut einer früheren Version der offiziellen Bahai-Webseite ist Einheit die zentrale Idee der Religion – die Einheit des einen Gottes, die Einheit aller Religionen sowie die Einheit aller Menschen. „Alle Religionen“, hieß es dort, „repräsentieren unterschiedliche Stadien der Offenbarung von Gottes Willen und Absichten für die gesamte Menschheit.“ Weiter: „Damit eine globale Gesellschaft erblühen kann, muss sie auf einigen grundsätzlichen Prinzipien aufbauen, zu denen gehören: die Beseitigung von Vorurteilen, die volle Gleichberechtigung der Geschlechter, die Anerkennung der grundsätzlichen Einheit aller Religionen, die Beseitigung der extremen Armut und des extremen Reichtums, universelle Bildung, die Harmonie von Wissenschaft und Religion, eine nachhaltige Balance zwischen Natur und Technologie, die Errichtung eines weltweiten föderalen Systems, das auf kollektiver Sicherheit und der Einheit der Menschheit basiert.“ Auch auf der aktuellen Webseite finden sich ganz ähnliche Formulierungen.42 Mögen diese Prinzipien auch unwahrscheinlich utopisch sein, so wurden sie doch im wunderschönen Lotustempel in Delhis südlichem Stadtteil in einem Gebäude verwirklicht. Der 1986 eröffnete „Lotus“ ist genauer gesagt das Gebetshaus der Bahai, poetisch gesagt der „Morgenröte-Ort der Erwähnung Gottes“. Wie alle Bahai-Tempel liegt dem Bau ein Neuneck zugrunde, aus dem 27 mit Marmor verkleidete Blütenblätter sich in drei Lagen elegant nach oben recken. Unter der Mittagshitze glänzen die Blütenblätter leuchtend weiß, vor einem blutroten Sonnenuntergang erscheinen sie schwarz, und die Beleuchtung nachts lässt sie silbrig wirken. Im Innern ist der offene Raum unterhalb der Blütenblätter völlig aufgeräumt: keine Statuen, keine Bilder, keine Kanzel, kein Altar. Es ist kein Zufall, dass der Lotus zu einem der Orte mit den meisten Besuchern weltweit gehört. Unter anderem wurde er zu einem Anziehungspunkt für alle Anhänger der Hindu-Göttin Durga. Und schließlich ist der Tempel ein sensationelles architektonisches Meisterwerk, das ungemein passend für seine indische Umgebung ist. Ein letztes Heiligtum erwartete mich noch. Ich, der nur einen Steinwurf von dem Ort entfernt geboren wurde, an dem George Stephensons Rocket die Geschichte der Eisenbahn prägte, und der ich im Zeitalter von Dampf und dem Train-Spotting aufgewachsen war, wusste von vorneherein, dass Delhis Eisenbahn-Museum für mich zu einem Mekka werden sollte. Und ich wurde nicht enttäuscht. Wie alle anderen Orte der religiösen Verehrung verdiente auch dieser eher eine Woche Betrachtung als nur einen halben 220

Dalits, Tempel und Salutschüsse

Tag, und beim post-imperialistischen britischen Besucher sorgt das Museum für das Gefühl einer Art von Ausgleichszahlung. Britische Eisenbahn-Ingenieure ließen unseren Namen in dem guten Licht erscheinen, das die viktorianischen Missionare nicht entzünden konnten. Wann immer man über das Thema Eisenbahn auf dem Subkontinent spricht, muss auch die klassische Studie dazu erwähnt werden: The Development of Indian Railways von Nalinaksha Sanyal aus dem Jahr 1930.43 Das an der London School of Economics als Promotion begonnene Buch enthält alle Fakten, Karten, Statistiken, Kostentabellen und Geschichten, die man sich nur wünschen kann. Der Autor beschreibt zunächst den Zustand des Überlandtransports zu Beginn des 19.  Jahrhunderts: „Niemand transportierte Waren über Tausende von Meilen mithilfe von Wagen mit Rädern“, schreibt er, „und Handelsgüter konnten nur … auf Büffeln, Kamelen und beladenen Ochsen ins Inland gebracht werden, was enorme Kosten verursachte (von 6d. bis 1s. pro Tonne und Meile).“ Und er zählt die Hindernisse auf, die der Generalgouverneur 1845 überwinden musste, als die East India Company ihre ersten Eisenbahnpläne vorlegte: 1. Regelmäßige Regenschauer und Überschwemmungen 2. Das andauernde Einwirken starker Winde und einer senkrecht stehenden Sonne 3. Die Bedrohungen durch Insekten und giftige Tiere 4. Die zerstörerische Kraft der ungebändigten Vegetation auf Erde und Ziegelwerk 5. Die Schwierigkeiten und Kosten, um die Arbeit kompetenter Ingeni­ eure sicherzustellen 6. Das offene und ungeschützte Land, durch das die Eisenbahn führen wird 7. Die Angst, dass über weite Strecken nicht genug Passagieraufkommen zu erwarten sein dürfte.44

Trotz allem eröffnete die Great Indian Peninsula Railway am 16. April 1853 ihre erste, 20 Meilen lange Strecke in der Nähe von Bombay von Boree Bunder nach Thane. Sie wuchs dann exponentiell auf über 71 000 Meilen (rund 115 000 Kilometer) und über 7500 Bahnhöfe. Das National Rail Museum lässt dem Besucher eine Wahl. Das mit Klimaanlage versehene Hauptgebäude bietet ein fantastisches Wirrwarr an Fotografien, Karten, Artefakten und Eisenbahn-Utensilien. Der drückend heiße Park davor verfügt über vermutlich Hunderte alter Dampflokomo221

4. Dilli – Delhi

tiven in unterschiedlichsten Zuständen der Pracht und des Zerfalls. Instinktiv entschied ich mich für die Lokomotiven; sie gehören zu der Art von Geschichte, die man sehen, riechen und berühren kann. Mein altes Herz raste und meine Beine konnten mich gar nicht schnell genug tragen. Die Kamera schoss Foto um Foto. Jeder nur denkbare Typ und jedes Design, jede nur vorstellbare Lackierung in Unternehmensfarben und alle Nummern einst stolzer, heute untergegangener Gesellschaften waren hier zu finden. Eine kleine, blau-schwarz-weiß-rot lackierte 0-6-0-Tenderlokomotive aus den 1890er-Jahren zeigte ihren sich verjüngenden Schlot und den knollen­artigen Kupferventilkasten. Neben ihr ragte ein riesiger, schwarzer 4-8-2-Express aus den 1930er-Jahren auf, mit frontmontiertem Scheinwerfer, einem achtzackigen Stern an der Wasserkesseltür und einem abgerundeten, vergitterten Kuhfänger. Man konnte auf die Fangplatten oder Puffer klettern, ohne dass man daran gehindert wurde. Die bombay, baroda and central india und die rajputana-malwa drängten sich neben der kohilkhund and kumaon, es fanden sich die bengal-nagpur, die ­southern maharatta, die darjeeling-himalaya sowie die delhi-umballa-kalka – magische Bilder für das Auge und zauberhafte Klänge für das Ohr. Und dann fiel mir eine kleine Metallplatte auf, versteckt hinter den Kolben eines ausrangierten Monsters: l&yr – horwich – 1891. Genau durch dieses Horwich, vor den Toren von Bolton, bin ich in meinen Kindertagen auf dem Weg in die schönen Moorlandschaften gekommen. Buddha würde mir sicher recht geben: Hier liegt der Weg ins Nirwana.45 Der Besuch bei Indiens goldenem Zeitalter der Dampfmaschinen rief bei mir die Erinnerung an Britisch-Indien wach, wie es in Onkel Normans Briefmarkenalbum präsentiert wurde. Zu dieser Zeit gab es im Subkontinent zwei getrennte und parallele politische Systeme: eines, das seit 1860 direkt der indischen Regierung unterstand und 13 große Provinzen umfasste; ein zweites, in Händen von Erbmonarchien, das Hunderte, große und kleine, quer über die Halbinsel verteilte Fürstenstaaten umfasste. Das World Postage Stamp Album spiegelt diese Aufteilung wider. Auf den Seiten 22 und 23 findet sich das britische empire  – indien; die Seiten 24 bis 29 sind dem britischen empire  – fürstenstaaten und fürstentümer gewidmet. Letztere Abteilung umfasst sechs ganze Seiten, womit sie die fünfseitige Abteilung grossbritannien übertrifft. Über jeder dieser Seiten prangen Bilder mit Briefmarken aus der Zeit Victorias oder Edwards, darunter eine Liste mit den Namen der entsprechenden Staaten: von alwar bis wadhan. Nicht weniger als 222

Dalits, Tempel und Salutschüsse

42 „Fürstenstaaten“, wie die Briten sie nannten, verfügten über ihren eigenen, privaten Postdienst. Die aus diesen Fürstenstaaten kommende Post wurde jedoch in zwei Kategorien unterteilt  – die „konventionelle“ und die „feudale“. Erstere wurde von den Staaten herausgegeben, die eine Postkonvention mit dem britischen Empire abgeschlossen hatten, was es ihnen erlaubte, Briefe mit ihren Briefmarken durch ganz Indien zu transportieren. Letztere war ausschließlich für den Briefverkehr im eigenen Gebiet zugelassen. Es gab nur sechs Staaten, die eine solche Vereinbarung getroffen hatten: chamba gwalior nabha patiala faridkot jind Es gab deutlich mehr Lehnsstaaten. Ihre exotischen, häufig honigsüßen und sinnträchtigen Namen verzaubern noch heute:

alwar dhar morvi bamra hyderabad nepaul idar nowanuggur barwani bhopal indore orchha bhor jaipur poonch bijawar jammu rajasthan bundi jasdan rajpeepla bussahur jhalawar scinde cashmere kashmir sirmur charkari kishangarh soruth cochin las bela wadhwan „Chimborazo, Cotopaxi“, so heißt es in W. J. Turners berühmter Romance, „hat mir die Seele geraubt.“ Das trifft auch auf Bijawar, Kishangar und Travancore zu.46 Die 42 im Briefmarkenalbum aufgeführten indischen Fürstenstaaten bildeten zusammen jedoch weniger als 10 Prozent der 575 Fürstenstaaten, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts innerhalb von Britisch-Indien existierten. In dieser Zeit zeigte die Karte des Subkontinents ein irres Patchwork von Territorien, innerhalb derer die 13 unter direkter britischer Verwaltung stehenden Provinzen mit einer Vielzahl von kleinen und großen Fürstenstaaten durchsetzt waren. Die Fürsten verfügten über ein großes Maß an Autonomie unter der Führung eines britischen Offiziers vor Ort. Die große 223

4. Dilli – Delhi

Mehrheit dieser Mini-Staaten nutzte den britischen Postdienst. Doch ihre Verteilung war ungleichmäßig. So umfasste Punjab beispielsweise zahlreiche Fürstenstaaten. In anderen Gebieten, in Bengal oder Madras etwa, dominierten die britischen Provinzen und es gab vergleichsweise wenige Fürstenstaaten.47 In Onkel Normans Briefmarkensammlung waren die indischen Fürstenstaaten nicht sonderlich prominent vertreten. Er besaß fünf Marken aus Gwalior, vier aus Indore, vier aus Jind, drei aus Travancore, zwei aus Cochin und eine einzelne aus Chamba – eine „3 Pies grau“. Und doch kann man sich seine Begeisterung vorstellen, als er dieses Einzelstück aus dem Fürstenstaat Chamba in die linke obere Ecke auf Seite  26 einsortierte. Ob er wohl wusste, wo Chamba liegt? Auf welch fantastischem Weg – Ochsenkarren, Zug und Handelsschiff – diese „3 Pies grau“ es wohl nach Bolton geschafft hat? Und was wusste er von einer Währung, bei der man glauben konnte, sie würde in Fleischkuchen* gerechnet? Sein Briefmarkenalbum verrät nicht, welche Währung in den Fürstenstaaten genutzt wurde. Onkel Norman wusste also nicht – oder vielleicht doch –, dass 12 Pies = 1 Anna waren und 16 Annas = 1 Rupie. Die Marke aus Chamba wurde 1911 gedruckt, dem Jahr des Delhi Durbar, und war der kleinste Wert der indischen Serie zur Zeit König Georgs V. Oben ist india postage zu lesen, abgebildet ist das linke Profil des bärtigen Königs und Kaisers, der, in einem von Laub umrankten ovalen Rahmen, seine Krönungskrone und eine Hermelin-Stola trägt. Der Nominalwert von drei pies war auf Englisch darunter festgehalten und in numerischer Form von „3 p“ an den beiden Seiten wiederholt worden. Das Grau ist ein angenehmer Mittelton, weder wie Kohle noch wie Popeline. Als die Marke 1913 in Umlauf gebracht wurde, bekam sie noch einen schwarzen Aufdruck, der in Großbuchstaben chamba state festhält. Das Exemplar, das es bis in das Haus meines Onkels in The Haulgh, Bolton, geschafft hat, wurde nicht gestempelt, hat aber seine Gummierung verloren und gilt deshalb als „leicht genutzt“; es sieht aus, als wäre sie von einem Umschlag abgelöst worden, der der Entwertung entgangen ist. Sie war eine würdige Botschafterin des Friedens und der Ordnung, derer sich Chamba erfreute. Es hätten noch weitere Informationen zur Verfügung gestanden, wenn Onkel Norman sich für sie interessiert hätte. Etwa zu der Zeit, als er mit der Philatelie begann, erschien die wunderbare 11. Ausgabe der Encyclopædia * pie – englisch für Kuchen (Anm. d. Übers. J. P.). 224

Wo die Zitronen blühn

1. (oben) Eine „Schule des Sehens“: Goethe geht in seiner Italienischen Reise (1816/17) auch auf den Wert des Reisens überhaupt ein. 2. (links) Dante und Vergil ­treffen auf den Geist des Odysseus (Inferno, Canto 26). Dantes groß­ artige Göttliche Komödie (Divina Commedia) beschreibt eine Seelen­ reise von der Hölle über das Fegefeuer in den Him­ mel bzw. das Paradies.

Kerno

3. (oben) Marcus Quonimorus Rex: Ein nachrömischer, keltischer Herr­ scher über Cornwall – und möglicherweise auch die Bretagne. 4. (rechts) Der „Tristan-Stein“ in Menabilly bei Fowey an der Südküste von Cornwall: Der Grabstein aus dem 6. Jahrhundert wurde einst über dem Grab des Marcus Quonimo­ rus und seines Sohnes „Tristan“ errichtet. 5. (unten) Die Alpenkrähe (Pyrrhocorax ­pyrrhocorax), der kornische Nationalvogel mit dem leuchtend roten Schnabel. Sie galt einst als ausgestorben, ist aber nun nach Cornwall zurückgekehrt.

Kerno

6. (oben links) „Bringt ihr Trelawny um?“ Der Bischof Sir Jonathan Trelawny (1650–1721), der Held des „Liedes von den Männern im Westen“. 7. (oben rechts) Die Schriftstellerin Daphne du Maurier (1907–1989) hatte sowohl kornische als auch bretonische Vorfahren und lebte über Jahrzehnte in Menabilly. 8. (links) „Dolly“ Pentraeth, eine Fischver­käuferin aus Mousehole, soll die letzte überlebende Muttersprach­ lerin des Kornischen gewesen sein (um 1775).

Baki – Baku

9. (oben) Stadtansicht von Baccu, 1683: ein Stich des kaspischen Hafens aus der Zeit der persischen Safawiden-Herrschaft. 10. (unten links) Bakus berühmte Flame Towers, 2012 fertiggestellt: die Architek­ tur-Fantasie eines ölreichen Staates. 11. (unten rechts) Die Alijews, Vater und Sohn, etwa 2010: die postkommunisti­ schen Diktatoren Aserbaidschans.

Baki – Baku

12. (oben) Die Hinrichtung der sechsundzwanzig Kommissare, September 1918: ein hervorragendes Beispiel für die Propaganda der Bolschewiki. 13. (unten) Die britische Dunsterforce, einer der zahlreichen Bewerber um die ­ ontrolle der kaspischen Ölfelder, marschiert im August 1918 in Baku ein. K

Al-Imarat

14. (oben) Wilfred Thesiger im Jahr 1948: ein Abenteurer vom alten Schlag und ­Verfasser des Buches Die Brunnen der Wüste.

15. (Mitte) Der Strand von Abu Dhabi im Jahr 1948: einige Perlen­ fischer, hier und da eine Dhau – und keinerlei moderne Infra­ struktur. 16. (rechts) An der Hafenprome­ nade von Abu Dhabi, 2012: Jugend­ liche treffen sich an der Ufermauer, im Hintergrund die atemberau­ bende Skyline des Emirats.

Al-Imarat

17. (oben) Die beeindruckende Scheich-Zayid-Moschee von Abu Dhabi, 2012: „strahlt eine rätselhafte Spiritualität aus“. 18. (links) Dubai: „Zwei oder drei Manhattans in einem Viertel der Zeit“ – ein wahrer Bauboom mitten in der Wüste. 19. (rechts) Gold to go: Goldbarrenverkaufsautomat im Emirates Palace Hotel in Abu Dhabi.

Dilli – Delhi

20. (rechts) Hindu-Tempel, Delhi: dem Gott Vishnu und der Göttin Lakshmi gewidmet. 21. (Mitte) Jama Masjid, die „Moschee, die die Welt zeigt“ (1658), Delhi, erbaut vom Mogulherrscher Shah Jahan. 22. (unten) Lotustempel (1986), Delhi, errichtet aus 27 frei stehenden „Blü­ tenblättern“ und angeblich der Schrein mit den weltweit meisten Besuchern.

Dilli – Delhi

23. (oben links) Delhi Durbar, 1911: Kaiser, Kaiserin und kleine Maharadschas, die Herrscherelite von Britisch-Indien. 24. (oben rechts) Unberührbare, 1890: die Untersten der Unteren im indischen ­ astensystem und ein wunder Punkt, der bis heute Schmerzen verursacht. K 25. (links) B. R. Ambedkar, der „ehrenwerte Meister“, Indiens populärster Politiker und der erste Unberührbare, der ein hohes Staatsamt bekleidete.

26. (rechts) Bundesstaat Chamba, eine 3 Pies grau (1911). Der Raja von Chamba, auf Platz 63 in der Adels-Rang­ ordnung, hatte das Anrecht auf elf Salutschüsse.

Melayu

27. (oben) Der Durbar (Staatsrat) von Malaya, 1897: Sultane aus den „föderierten“ und „nichtföderierten“ Staaten der britischen Kronkolonie Straits Settlements. 28. (rechts) Sir Frank Swettenham, Gouver­ neur der Straits Settlements und Autor zahl­ reicher Bücher. 29. (Mitte) 32-CentBriefmarke der Straits Settlements von 1867 in rosa mit Aufdruck THREE CENTS und Poststempel aus Malakka von 1885. 30. (unten) Der Amoklauf (1864): angeb­liches National­leiden der Malaien.

Melayu

31. (oben) Eine typische Szene aus dem „Malaiischen Notstand“ (Bürgerkrieg), 1949: chinesischer Verdächtiger, britischer Offizier, malaiischer Soldat. Es sollten die „Herzen und Köpfe“ der Einheimischen gewonnen werden. 32. (links) „Der Tunku“: Sir Tunku Abdul Rahman, Sohn des 24. Sul­tans von Kedah und Vater des modernen Malaysia. 33. (unten) Tugu Negara: Das „Nationaldenk­ mal“ von Malaysia erinnert stark an das Iwo-Jima-Denkmal der US-Marine-Infanterie.

Singapura

34. (oben) Der Hafen von Singapur um 1900: das „Anhängsel einer rückständigen Kolonie“. 35. (unten) Die heutige Skyline von Singapur: „das drittreichste Land der Welt“.

Singapura

36. (links) Sir Stamford Raffles, 1817: Botaniker, Linguist, Historiker, Bediensteter der Britischen Ostindien-Kompanie, Gouverneur von Java und Gründer von Singapur. 37. (Mitte) Das Raffles Hotel, Heimat des Singapore Sling, Schauplatz imperialer Pracht­ entfaltung und von japanischem hara-kiri. 38. (unten) Der britische Generalleutnant Arthur Percival und sein Stab marschieren zu ihrer ­Kapitulation, 15. Februar 1942: eine „schwere und folgenschwere militärische Niederlage“.

Oriens

39. Regina Europa, „Königin Europa“ (1628), Holzschnitt von Sebastian Münster, Basel.

Oriens

40. (oben) Der arabische Maghreb oder „Westen“: eine osmanische Miniatur aus dem 16. Jahrhundert. 41. (unten) Die Kleeblatt-Karte: Europa, Afrika und Asien. Holzschnitt aus dem Itinerarium Sacrae Scipturae von Heinrich Bünting, Magdeburg, 1581.

Oriens

42. (oben links) Hasekura Tsunenga (1571–1622), japanischer Diplomat, Weltreisender in östlicher Richtung und römischer Edelmann. 43. (oben rechts) Alexander Blok (1880–1921), russischer Dichter und Verfasser von Skythen. 44. (unten) Burke und Wills, die verhinderten Australien-Reisenden, wie sie ihren Weg verlieren.

Dalits, Tempel und Salutschüsse

NORDWESTLICHE GRENZPROVINZ

Britisch-Indien 1909

Kabul

KASCHMIR

EN

AFGHANISTAN

Srinagar

PERSI

PUNJAB

GARHWAL

Lahore

Hi

1 BAHAWALPUR KALAT

Karatschi

N

AHMEDABAD

2

Jodhpur 3 Hyderabad

RAJPUTANA

SIND

4

ZENTRALPROVINZEN

HYDERABAD

500 km

BHUTAN

7

ASSAM 9 MANIPUR

BENGALEN

BIRMA

Kalkutta ORISSA

Yandabo

TRIPURA ANGUL

Rangun

Golf von Bengalen

Britisch-Indien um 1909 Indische Fürstentümer britische Schutzstaaten Durand-Linie 1893 Mac Mahon-Linie 1914 1 2 3 4 5 6

PATIALA KHAIRPUR AJMERMERWARA GWALIOR PANCHMAHAL CENTRAL INDIEN AGENCY 7 COOCH BEHAR 8 RAJSHAHI 9 KHASI

SIAM

Gôa

G O A (port.)

MADRAS MYSORE

JAMKHANDI

Bangalore

COCHIN 250

Mt. Everest

8

BASTAR

BOMBAY KOLHAPUR JATH

Lhasa

a SIKKIM

BIHAR

Nagpur

Mahé

0

VEREINIGTE PROVINZEN

Ahmedabad 5

Bombay

Arabisches Meer

TIBET laj

Kathmandu

6

D I U (port.) D A M A N (port.)

ma

NEPAL

Delhi

GUJARAT

S

CHINA

CHAMBA

Kandahar CHAGAI

Madras Pondichéry PUDUKKOTTAI

TRAVANCORE CEYLON

Indischer Ozean

Andamanen

Nikobaren

Britannica, in der sich auch substanzielle Einträge zu den indischen Staaten finden lassen. Die Schulbibliothek in Bolton dürfte vermutlich dieses Lexikon besessen haben: CHAMBA, ein Fürstenstaat in Indien, innerhalb von Punjab, liegt im Himalaja und grenzt an die Südgrenze von Kaschmir. Er hat eine Fläche von 3216 Quadratmeilen und eine Bevölkerung (1901) von 127 834. … Chamba ist durchgängig bergig; im Osten und Norden sowie in der Mitte befinden sich verschneite Gegenden. Die Täler im Westen und Süden sind fruchtbar. Die wichtigsten Flüsse sind der Chandra und Ravi. … Die wichtigsten landwirtschaftlichen Güter sind Reis, Mais und Hirse. Es kommen mineralische Erze vor, die allerdings nicht abgebaut werden. Handel wird vor allem mit Holzprodukten getrieben. Die Hauptstadt des Staates ist Chamba (Bevölkerung 6000), die oberhalb der Ravi-Schlucht liegt. Die Anbindung nach außen erfolgt ausschließlich über Straßen. Der Staat wurde im 6. Jahrhundert gegründet und blieb [später], trotz seiner Tributpflicht an das Mogulreich, praktisch immer unabhängig. Seine Chroniken werden in einer Reihe von Inschriften aufbewahrt, die vor allem in Kupfertafeln eingraviert wurden. 1846 geriet Chamba unter britischen Einfluss, als es sich von Kaschmir unabhängig erklärte. Die Reihe der Rajas von Chamba wurde im 6. Jahrhundert n. Chr. von Marut gegründet, der aus einer alten Familie von Rajputs stammte. 1904 über225

4. Dilli – Delhi

nahm Bhuri Singh, Knight Commander und Companion des Order of the Star of India, ein aufgeklärter und fähiger Herrscher, den Thron.48

Der von 1904 bis 1919 regierende Bhuri Singh dürfte also schon eine Weile auf dem Thron gesessen haben, als Onkel Norman die Briefmarke aus seinem Reich in das Album einsortierte. Das uralte Herrscherhaus von Chamba verfügte über eine ununterbrochene Linie von 67 Rajas, oder Prinzen, die von 500 n. Chr., als Raju Maru oder Marut die Dynastie begründete, bis 1948, als das Fürstentum in der Republik Indien aufging, über die ererbten Gebiete regierten. Diese Herrschaftslinie stellt, was die Herrschaftsdauer angeht, das Haus SachsenCoburg und Gotha von Königin Victoria (später: die Windsors) vollständig in den Schatten. Durchschnittlich regierte jeder Raja 22  Jahre lang. Ursprünglich residierten sie in Bharmour, doch 920 n. Chr. ließen sie eine neue Hauptstadt bauen und benannten sie nach Raja Sahila Vermas Tochter Champavati. Der Staat war traditionell in fünf Mandalas oder Distrikte aufgeteilt – Chamba, Bharmour, Bhatti, Churah und Pangi. Er blieb in ­seiner Himalaja-Hochburg für 1400 Jahre bestehen und überdauerte alle Reiche, die sich in der Region abwechselten – die Afghanen, Moguln, Sikh und Briten.49 Von 1846 an, seit der britischen Herrschaft, diente Chamba während der Sikh-Kriege als Basis für die britische Indische Armee und blühte in der Folge als Protektorat des Empire auf. Das Postamt, in dem Onkel Normans Briefmarke vermutlich aufgegeben worden war, stammt aus dem Jahr 1863. Raja Sri Sham Bahadur, der von 1873 bis 1904 regierte, ließ Straßen bauen, eröffnete Schulen, unterstützte eine eindrucksvolle Scottish Presbyterian Church und errichtete einen grandiosen Palast. Da sie so abgelegen sind, genossen die Hindu-Tempel von Chamba während der jahrhundertelangen muslimischen Vormachtstellung über Indien besondere Verehrung und locken auch heute noch große Pilgerströme an. Der der zur Göttin gewordenen Raja-Tochter geweihte Champavati-Tempel ist ein Zentrum des Hindu-Shaktismus, dem Kult der weiblichen Gottheiten. Der Lakshmi-Narayan-Tempel wird von der Vishnuismus-Sekte betrieben. Während der zwei jährlichen Feste, dem Suhi Mata Mela und dem Minjar Mela im August, wird die Stadt vor einer wahren Flut von Händlern, Schnäppchenjägern und Touristen überwältigt. Seine Exzellenz Raja Sir Sri Bhuri Singh Bahadur übernahm die Amts­ geschäfte im Jahr 1904, als sein älterer Bruder abdankte. Ein Foto zeigt ihn bei der Amtsübernahme mit einem hohen weißen Turban, einem dicken 226

Dalits, Tempel und Salutschüsse

ZANSKAR RUKSHU

Chamba, 1911 Darwas Kilar

JAMMU Degri Koti

Shaor Baundal

Odapur Chanju

JAMMU

CHAMBA Dalhousie Baldoh

Ravi

Triloknath

Chamba

LAHAL Tandi

Ravi

Barma

Ch ena b

Chanota

N

GURDASPUR

0

10

20

30 km

Dharmsala

Kangra

KANGRA

S

schwarzen Schnurrbart und vielen Medaillen und Abzeichen. Unter anderem war er Knight Commander des Order of the Indian Empire. Er vergab zahlreiche öffentliche Aufträge, erweiterte Straßen, gründete ein Museum und bezahlte Indiens erste Wasserkraft-Unternehmungen, die Delhi zugutekamen. Ihm folgten sein Sohn Sri Ram Singh, der von 1919 bis 1935 herrschte, und dann sein Enkel Major Sri Lakshman Singh, der von 1935 bis 1971 regierte, auf dem Thron. Heute bildet Chamba einen Teil des indischen Bundesstaat Himachal Pradesh. Die Nachkommen der früheren Rajas sind heutzutage Privatleute und haben all ihre politische Autorität verloren. Und die Pilger besuchen die Tempel inzwischen mit Hubschraubern  – welche in genau dem Jahr erfunden wurden, in dem Onkel Normans Bristol-Flugzeug abstürzte.50 Gemeinsam mit ihren Edelleuten waren die Rajas von Chamba Teil des außergewöhnlichen Rangordnungssystems in Britisch-Indien, das auf der Anzahl von Salutschüssen basierte, mit der man begrüßt werden durfte. Die Hackordnung war streng reglementiert durch eine „Offizielle Liste der Gewehr-Salute“. Ganz oben standen der Nizam von Hyderabad, der Gaekwar von Baroda und das Maharadscha von Mysore, denen 21 Salutschüsse 227

4. Dilli – Delhi

zustanden. 1917 wurden, als Anerkennung für geleistete Dienste während des Krieges, die Maharadscha von Gwalior, von Jammu und Kaschmir ebenfalls in die oberste Kategorie befördert. Zur zweiten Gruppe, mit 19  Salutschüssen, gehörten die Maharadscha von Indore und Travancore sowie der Maharana von Udaipur. Der dritten und größten Gruppe von Herrschern mittleren Rangs gestand man zwischen 11 und 17 Schüssen zu. Innerhalb dieser Gruppe gab es Untergruppen, die angeführt wurden vom Maharao von Kotah (17 Salutschüsse), dem Maharadscha von Dholpur (15), dem Maharadscha Raol Sahib von Bhavnagar (13) und dem Nawab von Janjira (11). Die vierte Klasse, die mit 9 Schüssen Salut begrüßt wurde, führte der Maharadscha von Baria an. Ganz am Ende der Offiziellen Liste fand sich der Raja von Bashahr, dem ebenfalls 9 Gewehre zustanden, allerdings nur auf seinem Privatgrundstück. Für die britische Bürokratie gab es eine ähnliche Rangordnung: 13 Gewehre: Consuls-General, Rear Admirals, Major Generals, Air Vice-Marshals 15 Gewehre: Lieutenant Governors, Vice-Admirals, Lieutenant Generals, RAF Marshals 17 Gewehre: Provincial Governors, Generals, Admirals, RAF Air Chief Marshals 19 Gewehre: Botschafter, Field Marshals, Flotten-Admiräle usw. 31 Gewehre: Vizekönig und Mitglieder der königlichen Familie 101 Gewehre: der König und Kaiser

Die Details dieser Hierarchie änderten sich ständig, doch als die indische Unabhängigkeit erstritten war, fand sich der Raja von Chamba auf dem 63.  Platz wieder, bei 122 sogenannten „Salutstaaten“  – eingeklemmt zwischen Nummer  62, dem Pathan Nawab von Cambay, und Nummer  64, dem Maharadscha von Charkhari. Als Herrscher, der in der Mitte der Tabelle aufgeführt wurde, musste man ihn mit „Hoheit“ ansprechen und mit 11 Salutschüssen begrüßen; er genoss den gleichen Status wie Geschäftsträger, Brigadiergenerale, Kommodore und Brigadegenerale. Damit war er zwar offensichtlich weit von den obersten Rängen des kaiserlichen Indien entfernt, doch konnte er sich damit beruhigen, dass er nicht zu den 443 Herrschen von „Nicht-Salutstaaten“ klassifiziert worden war, die nicht einen einzigen Schuss zur Begrüßung bekamen.51 Nach der Unabhängigkeit 1947 wurde die Offizielle Liste der GewehrSalute für formale Anlässe und als soziales Schmiermittel beim Übergang 228

Dalits, Tempel und Salutschüsse

zwischen Empire und Republik beibehalten. Der Nizam von Hyderabad, der Muslim war und die Republik nicht anerkannte, wurde von der Spitze der Rangfolge abgesetzt und zurückgestuft, außerdem strich man ihm die ehrende Anrede „erhabene Hoheit“; der Hindu-Maharadscha von Udaipur ersetzte ihn. Das ganze System endete 1971, in genau dem Jahr, in dem der letzte Raja von Chamba verstarb. Nun, da die Maharadscha und ihre Salutschüsse verschwunden sind, ist auch eine der vielen Säulen abgebrochen worden, auf denen sich eine gemeinsame indische Identität hätte aufbauen lassen. Seitdem kämpft Indien, wie so viele Staaten mit einer inhomogenen Bevölkerung, mit dem Problem, wie sich der Glauben an eine nationale Einheit erzeugen und stärken lässt. 1782 übernahmen die Vereinigten Staaten das alte, in der österreichisch-ungarischen Monarchie häufig verwendete lateinische Motto E pluribus unum. „Aus vielen eines“. Die USA hatten damit Erfolg. Österreich-Ungarn ist schließlich untergegangen. Welche Chance hat Indien? Wie Rabindranath Tagore es vor beinahe einhundert Jahren einmal ausdrückte: „Indien ist viele Länder, in ein geografisches Gefäß gestopft.“ Als sie 1947 das British Empire abgeschüttelt und sich von Pakistan getrennt hatten, hielten viele Inder es für ausreichend zu denken, sie seien nun nicht mehr länger Briten. Doch negative Definitionen reichen kaum aus, und die Führer der jungen Republik, allen voran Pandit Nehru, gingen die Aufgabe an, einen „säkularen Nationalismus“ zu formen, der auf einem gemeinsamen Verständnis der Vergangenheit, gemeinsamen bürgerlichen Werten und einer Vielzahl nationaler Symbole beruht, angefangen von der Flagge, der Nationalhymne und dem Nationalemblem bis hin zum Vogel, der Blume, dem Baum, dem Fluss und sogar dem „Nationalobst“  – der Mango – und dem „nationalen Meerestier“ – dem Delfin.52 Nehrus Vorstellungen enthielten eine starke Prise der britischen Fabian Society und ihrem Sozialismus, was sich in seinem, in Haft entstandenen Buch Entdeckung Indiens (1946) zusammengefasst finden lässt.53 Diese Ideen dominierten die ersten beiden Jahrzehnte der Unabhängigkeit. Der besondere, von Nehru und seiner Entourage geförderte Blick auf die Vergangenheit stellte fast ausschließlich das Sanskrit-Erbe in den Mittelpunkt, also jene Sprache, in der die klassischen Texte des Hinduismus, Jainismus und Buddhismus verfasst wurden. Man förderte eine gebildete und gelehrte, aber eben auch elitäre Kultur, die den vielen Analphabeten der Gesellschaft völlig unzugänglich blieb – vergleichbar mit einer auf Latein basierenden klassischen Bildung in Europa. Dieser Kult war derart stark, 229

4. Dilli – Delhi

dass das 1931 vom Indischen Nationalkongress als „Nationallied“ verabschiedete Stück, das Tangores auf Bengali verfasste Jana-Gana-Mana Konkurrenz machen sollte, in Sanskrit verfasst wurde: Vande Mataram! Sujalam, suphalam, malayaja shitalam, Shasyashyamalam, Mataram! Vande Mataram! . . . Ich verneige mich vor dir, oh Mutter! Reich an Wasser, reich an Früchten Gekühlt von den Winden des Südens, oh Mutter! Ihre Nächte erfreuen sich in mondhellem Ruhm, ihr Land ist geschmückt mit blühenden Bäumen, süßes Lachen, süßes Reden, Mutter! Quelle des Segens, Spenderin des Glücks.54

Indische Patrioten singen Vande Mataram auf Sanskrit ganz ähnlich, wie europäische Studenten Floreat Etona oder Gaudeamus igitur anstimmen. Von Anfang an wurde dieses exklusive Konzept des Indientums von unten durch eine ganze Reihe populistischer Gegner angegangen. Eine Gruppe, die sogenannten „Hindi-Wallahs“, also „Hindi-Kerle“, versuchte ein nationales Bewusstsein durch die Betonung des Hindi zu erreichen. Ihre Bemühungen schienen Früchte zu tragen, doch dann brachen 1951 im Süden des Landes, vor allem in Tamil Nadu, Sprachaufstände los, die die gegenteilige Politik einer linguistischen Pluralität, inklusive des Englischen, bestätigte. Eine andere, aggressivere Gruppe namens Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS), die Nationale Patriotische Gesellschaft, entwickelte die Konzepte des Hindutva, des „Hinduismus“, und der Hindu Rashtra, die „Hindu-Nation“. Einer ihrer Anhänger brachte seine Ansichten folgendermaßen auf den Punkt: „Indien gehört den Hindus, es ist Hindustan.“ Die 1925 gegründete RSS gilt als einer der Wegbereiter von Premierminister Modis Bharatiya Janata Party (BJP) und ist bereits mehrfach verboten worden, sowohl von den Briten als auch von Regierungen nach der Unabhängigkeit. Die paramilitärischen Freiwilligen der RSS machten mit Aktionen gegen Muslime, Christen und Säkulare von sich reden, bemühen sich um auf religiösen Werten basierende Erziehung, verunstalten ihnen nicht genehme Straßenschilder, attackieren heilige Stätten der mehr als 200 Millionen Nicht-Hindus im Land und drängen auf einen Krieg gegen Pakistan. 230

Dalits, Tempel und Salutschüsse

Einer ihrer ersten Führer, M.  S.  Golwalkar, verehrte sowohl das „Dritte Reich“ als auch den Staat Israel. Ein anderer, Nathuram Godse, ermordete Mahatma Gandhi am 30. Januar 1948. Die ehemaligen „Freiwilligen“ Atal Bihari Vajpayee (geboren 1924) und Narendra Modi (geboren 1950) wurden zu Indiens 10. beziehungsweise 14. Premierminister gewählt.55 Dieses von den Nationalisten bevorzugte Geschichtsbild dreht sich um die Vorstellung der erlittenen Unterdrückung, sowohl politisch wie auch sozial.56 Ihr Narrativ bezieht sich auf „1200 Jahre Sklaverei“, worunter sie zwei Jahrhunderte britische Herrschaft verstehen, denen 1000 Jahre muslimische Herrschaft vorangingen. In dieser Konstruktion begann Indiens Unterordnung mit der Invasion der Armee des Umayyaden-Kalifats im Jahr  711 und endete mit der Annahme der republikanischen Verfassung 1950. Die weitverbreitete Armut und das Kastensystem werden als Nebenprodukt aus den Zeiten dieser fremden Herrscher verstanden. Der Oberschicht, den im Ausland gebildeten Politikern wie die Nehrus und Gandhis, steht man mit großem Groll gegenüber, und andere Interpretationen der Geschichte werden wütend kritisiert. Das Buch einer amerikanischen Autorin, das indische Vergangenheit unter einem inklusiven Ansatz betrachtete, nämlich Wendy Donigers Buch The Hindus: An Alternative History (2009), wurde nach Drohungen und Verhandlungen vor indischen Gerichten vom Verlag zurückgezogen.57 Die Nationalisten stehen Vielfalt und Pluralismus sowohl in der Vergangenheit wie auch in der Gegenwart feindlich gegenüber. Zurück in der Residenz des Botschafters ruhte ich mich in einem Sessel aus und las die Times of India. Sie wird noch immer in der von ihrer Mutter­ ausgabe in London erfundenen Schriftart gedruckt. Die erste Seite konzentriert sich auf die Innenpolitik. Internationale Angelegenheiten spart man sich für den Innenteil auf. Delhis Blick auf die Welt ist jedoch weit entrückt von dem Londons. Gandhis Grundsätzen zum Trotz ist Indien inzwischen eine Atommacht, die sich weigert, den Atomwaffensperrvertrag zu unterzeichnen, aber von sich behauptet, die Waffe nicht als Erstes einsetzen zu wollen. Seine erste Atombombe erhielt 1974 den Code-Namen „Der Lächelnde Buddha“.58 Indiens größte Sorgen gelten seinen beiden unmittelbaren Nachbarn: Pakistan und China. Genau wie Indien besitzen die beiden Länder Nuklearwaffen, beide werden in Neu-Delhi als unveränderlich unfreundlich angesehen und beide sind in der Lage, gemeinsam gegen indische Interessen zu ­handeln. Ein halb-kriegerischer Zustand zwischen Indien und Pakistan 231

4. Dilli – Delhi

schwebt seit 1947 über Kaschmir. Auch mit China herrscht ein nicht offiziell erklärter Kriegszustand wegen Streitigkeiten um das Gebiet von Arunachal Pradesh, von dem China als „Südtibet“ spricht. Weitere Spannungen entstanden durch die Ereignisse in Nepal, wo das Königshaus vor einiger Zeit durch maoistische Rebellen abgesetzt wurde. Jeder in Delhi ist davon überzeugt, dass die Maoisten von Chinas kommunistischem Regime dabei unterstützt wurden. Die Beziehungen zu Pakistan wurden durch die Terrorangriffe auf Mumbai vom November 2008 ernsthaft gestört. Die Inder weigerten sich zu glauben, dass die Terroristen der militanten Lashkar-e Taiba-Bewegung nicht ebenfalls mit dem pakistanischen Geheimdienst in Verbindung standen. Präsident Manmohan Singh, selbst in Gah, dem heutigen Pakistan geboren, bemühte sich dann um Versöhnung und die beiden Staaten begannen eine friedlichere Phase. Doch der Kaschmir-Konflikt gärt weiter, ebenso wie Komplikationen mit Bangladesch. Im Dezember 2015 blieb der indische Premierminister Modi über Nacht in Lahore; sein Gegenüber servierte ihm ein vegetarisches Essen, das von Tee aus Kaschmir begleitet wurde.59 Die Beziehungen zu China haben sich indes verschlechtert. Am 19. April 2012 testete Indien seine Agni-V Interkontinentalrakete, die vom Wheeler Island (heute Abdul-Kalam-Insel) im Golf von Bengalen in Richtung Südlicher Ozean gestartet ist und zwischen Neuseeland und Madagaskar ins Meer stürzte. (Agni ist der Gott des Feuers.) Ganz Indien war von Stolz erfüllt. „Am Donnerstagmorgen“, schrieb The Times of India, „kam [der Gott des Feuers] zu seinem Recht, als ein mächtiger Feuerball mit zwanzigfacher Schallgeschwindigkeit über den Indischen Ozean schoss.“ Der Leitartikel hob erfreut hervor, Indien sei damit das sechste Mitglied des „superexklusiven Clubs der Länder mit Interkontinentalraketen“. Die chinesische Presse zeigte sich weniger beeindruckt. „Delhi sollte nicht derart arrogant sein …“, kommentierte The People’s Daily aus Peking. „Indien hat im nuklearen Wettrüsten keine Chance.“ Chinas Außenministerium sprach weiterhin von Indien als „Kooperationspartner, nicht als Rivale“, doch an anderer Stelle in Peking wurde die Agni-V als „politische Rakete“ verurteilt. Es kam heraus, dass das Team von 300 Wissenschaftlern, die an der Erforschung und Entwicklung beteiligt sind, von einer Frau geleitet wird. Ms Tessy Thomas, eine 40-jährige Katholiken aus Kerala, ist studierte Ingenieurin, mit einem Marine-Offizier verheiratet und Mutter eines Sohnes. Sie wurde mit dem Satz zitiert: „Wissenschaft hat kein Geschlecht.“ Die indische Presse verpasste ihr dennoch den Namen Agniputri, die „Tochter des Feuers“.60 Nach dem Raketentest besuchten sich Präsident Xi und 232

Dalits, Tempel und Salutschüsse

­Premierminister Modi gegenseitig, doch diese Beruhigung der Lage wird durch Pekings Pläne für eine „Maritime Seidenstraße“ durch den Indischen Ozean infrage gestellt.61 Die Beziehung Indiens zu Russland ist weniger kumpelhaft, als sie es noch zu Sowjetzeiten war. Doch eine grundsätzliche Sympathie ist bestehen geblieben, vor allem bei linksgerichteten Indern und solchen, die mit dem indischen Militär in Verbindung stehen, schließlich ist dieses in großem Maße von russischen Waffenlieferungen abhängig. Russland und Indien haben keine gemeinsame Grenze und folglich auch keine langwierigen Dispute. Aber sie haben auch keinen triftigen Grund, für eine noch engere Bindung. Delhi und Moskau lächeln einander aus gewissem Abstand zu, ohne dass sie sich einander in die Arme fallen würden.62 Waren die Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Indien während des Kalten Kriegs nur lauwarm, wandelt sich dies langsam: Die gegenseitige Wertschätzung wurde nicht zuletzt durch den Besuch von George W.  Bush 2006 in Delhi gestärkt, der bei dieser Gelegenheit eine „strategische Partnerschaft“ zwischen den USA und Indien ankündigte. Die US-Amerikaner loben die „größte Demokratie der Welt“; die Inder danken dieser amerikanischen Rhetorik mit der Bereitschaft, sich dem Aufstieg Chinas entgegenzustemmen. Allerdings müssen die Vereinigten Staaten einen Drahtseilakt zwischen Indien und Pakistan vollführen, während China die indisch-amerikanische Annäherung mit Sorge betrachtet. Da Delhi sich bei Washington einschmeichelt, hat Peking nur Hohn und Spott übrig für die westliche „Anti-China-Politik der Eindämmung“. Die meisten Inder mochten Präsident Obama, vor allem da Obama, der drei Mal in Delhi zu Gast war, Indien mochte. Premierminister Modi war bislang zwei Mal in Washington.63 Wird der Populist Modi demnächst dem Populisten Trump Aug in Aug gegenüberstehen? * Der Moderator traf mit seinem dreiköpfigen Kamerateam, einem breiten Lächeln und einem verstauchten Knöchel ein. „Ich möchte mit Ihnen über Europa sprechen“, erklärte er mir, als er humpelnd hereingekommen war. Vickram Bahl ist ein sehr beliebter TVInterviewer und Chefredakteur von ITMN; seine Sendung Insight lockt rund 20 Millionen Zuschauer vor die Bildschirme, und das bereits seit Jahren.64 Sein genaues, kurzgefasstes Englisch verrät eine Studienzeit in England. Kürzlich erst interviewte er Präsident Putin. Unser heutiges Gespräch 233

4. Dilli – Delhi

ist für 11 Uhr angesetzt und soll im Gartenzimmer der Botschaft stattfinden. Vor den großen, runden Fenstern wird der perfekt gepflegte Rasen von Beeten mit hohen gelben Steppenkerzen begrenzt. Gärtner auf Leitern trimmen die Hecken. Rote Sandsteinelefanten schmücken einen Fischteich, ein Pfau stolziert über einen von Palmen, Feigenbäumen und Eukalyptus gesäumten Pfad, und ein Affe schaukelt in den herabhängenden Ästen. In einen tiefen Sessel niedergelassen und mit einem Lächeln auf dem kahlen Gesicht, hebt Bahl an. „Ich möchte mit Ihnen über Europa sprechen“, wiederholt er. „Wir haben erfahren, dass Sie sich für die weniger ausgetretenen Pfade interessieren. Was halten Sie von der aktuellen Euro-Krise? Ist sie ein ernsthaftes Problem, oder ist das nur Panikmache der Medien?“ „Ich bin Historiker“, protestiere ich schwach, „kein Wahrsager.“ Mein Gesprächspartner bleibt hartnäckig: „Natürlich nicht, aber Historiker können auch in die Zukunft blicken.“ Ich gebe nach und lasse mich eine halbe Stunde lang in dieser unpassenden Umgebung über die zahlreichen europäischen Krisen aus. „Oh nein! Das tut mir fruchtbar leid, ich habe Ihnen noch gar keinen Tee eingeschenkt. Bitte entschuldigen Sie. War es nicht Walter Scott, der fragte: ‚Was würde die Welt nur ohne Tee machen?‘?“ „Oder Mr Gladstone. Er sagte, er sei froh, nicht in einer Zeit vor dem Tee geboren worden zu sein.“ „Ja, aber wissen Sie auch, woher der Tee kommt?“ „Aus China vielleicht?“ „Nun, er kommt aus dem Land Buddhas. Er schlief eines Tages beim Meditieren ein und riss sich dann seine Augenlider aus, um wach zu bleiben. Die Lider fielen auf den Boden, bekamen Wurzeln und wuchsen zum ersten Teebusch heran.“ Das ist eine beruhigende Zusammenfassung der vielfältigen, verwirrenden, überwältigenden Erfahrungen in Indien.

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5. Melayu: Amok oder amuk an der „schlammigen Mündung“

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5. Melayu

Früher, in den Tagen der Segelschifffahrt, hielten die Schiffe, die Indien in Richtung Ost zu Süd verließen, sich erst einmal dicht an der Küste des Golfs von Bengalen und fuhren so drei oder vier Wochen, bis sie die Spitze der Malaiischen Halbinsel umrundet hatten, woraufhin sie entweder nach Nordost in Richtung China drehten oder geraden Kurs auf die „Gewürzinseln“ – die Molukken – hielten. Nachdem sie in Kalkutta (heute Kolkata) auf 22 Grad nördlicher Breite losgesegelt waren und das Mündungsdelta des Ganges über einen seiner schiffbaren Arme, den Hugli, verlassen hatten, liefen sie nacheinander die Häfen von Chittagong, Rangun, Jung Ceylon (heute Phuket) und Malakka an und segelten dabei an den Küsten von (nach heutiger Zählung) fünf verschiedenen Ländern vorbei  – Bangladesch, Myanmar (Birma), Thailand, Malaysia und Singapur  –, bevor sie schließlich am Äquator den entscheidenden Punkt ihrer Reise erreichten. Wenn sie dann im Tanah Melayu einstweilen vor Anker gingen  – im „Land der Malaien“, wie man damals sagte –, dann hatten sie bereits über 2500  Seemeilen zurückgelegt, waren mehr als 4600  Kilometer über den Ozean gefahren. Heutzutage kann man dieselbe Entfernung über das offene Meer mit jedem beliebigen Linienflug in fünf oder sechs Stunden zurücklegen. Dennoch staunt man, wenn man sich die riesigen Weiten einmal vor Augen führt, um die es sich dabei doch tatsächlich handelt. Von Delhi nach Kuala Lumpur beispielsweise fliegt man nicht weniger als 2384  Meilen (rund 3836 Kilometer). Das ist eine viel größere Entfernung als die zwischen London und Moskau oder zwischen Los Angeles und Miami an den beiden Küsten der Vereinigten Staaten! Der Flug von Delhi nach Kuala Lumpur verläuft zwar nur zu einem winzigen Anteil über der Landmasse des größten Kontinents unserer Erde – aber wenn man am Ziel anlangt, stößt man auf eine radikal andere Kultur, auf ganz andere Menschen, als man sie noch wenige Stunden zuvor erlebt hatte. Die Malaiische Halbinsel liegt qualitativ wie quantitativ sehr, sehr weit von Indien entfernt. Der Kuala Lumpur International Airport (KUL) ist ein Paradebeispiel für hypermoderne Architektur: lichtdurchflutet, mit großzügigen Hallen aus blassblauem Glas. Irgendwie erinnert er an einen künstlichen Dschungel, dessen Blätterdach von grazil emporragenden Ästen und Zweigen aus Stahl getragen wird. Von Terminal zu Terminal sausen die Passagiere in einer ebenfalls hochmodernen Luftkissenbahn wie aus einem Science-­ fiction-Film. Der kaum zwanzig Jahre alte Megaflughafen verkörpert eine deutliche Botschaft: Malaysia ist wohlhabend, hoch innovativ und ein attraktives Ziel für Menschen aus aller Welt. Über dem Eingangsportal 236

Amok oder amuk an der „schlammigen Mündung“

steht in großen Buchstaben Lapangan Terban Antarabangsa Kuala Lumpur. Eines von diesen Wörtern bedeutet vermutlich „Flughafen“.1 KUL (oder eben LTAKL) liegt ein ganzes Stück außerhalb von Kuala Lumpur. Wie London-Gatwick oder London-Stansted, die eigentlich näher an Brighton beziehungsweise an Cambridge liegen als an der Londoner Innenstadt, wurde der „Flughafen von Kuala Lumpur“ augenscheinlich für die Bedürfnisse einer politischen und wirtschaftlichen Elite entworfen, denn er liegt wesentlich näher an Putrajaya, der brandneuen, erst 1995 gegründeten Hauptstadt der Malaiischen Föderation, sowie an der supermodernen High-Tech-Metropole Cyberjaya. Nahe der Küste am südlichen Rand eines riesigen Ballungsraumes gelegen, der sich entlang des Flusses Klang ausgebreitet hat, ist der Flughafen auch von der alten Stadt Malakka nicht allzu weit entfernt. Nur, um nach Kuala Lumpur zu kommen, müssen Reisende eine Fahrt von 72 Kilometern auf sich nehmen. LTAKL ist außerdem das Hauptdrehkreuz der nationalen Fluggesellschaft Malaysia Airlines: Das Firmenlogo mit dem traditionellen „Monddrachen“ (wau bulan), eine rot-blau-weiße Farbgestaltung und schicke Fluguniformen sind allgegenwärtig. Noch 2013 konnte Malaysia Airlines im prestigeträchtigen Skytrax-Ranking der besten Fluglinien der Welt die bestmögliche Bewertung von fünf Sternen vorweisen – als eine von nur sieben Fluggesellschaften weltweit, die zu diesem illustren Kreis gehören. Und in fast siebzig Jahren Flugbetrieb hatte sie eine beinahe makellose Sicherheitsbilanz vorzuweisen: nur zwei Vorfälle mit Todesopfern, eine davon eine Flugzeugentführung. 2014 jedoch wurde für Malaysia Airlines zu einem Schreckensjahr, wie die Airline noch keines erlebt hatte. Im März verließ der Flug MH370 den Flughafen LTAKL mit Ziel Peking  – bevor er unerklärlicherweise in der Nacht verschwand. Und im Juli desselben Jahres wurde der Malaysia-Airlines-Flug MH17, der in Kuala Lumpur mit dem Ziel Amsterdam gestartet war, durch eine Boden-Luft-Rakete über der östlichen Ukraine abgeschossen. Bei den beiden Ereignissen kamen insgesamt 537  Menschen ums Leben. Dann war jedoch auch die Pressearbeit der Airline ein einziges Desaster, die Buchungszahlen gingen in den Keller, der Aktienkurs von Malaysia Airlines ebenfalls, und das Image der Fluglinie brach vollkommen zusammen. Im August 2014 stimmte die Geschäftsführung einer erneuten Verstaatlichung des früheren Staatsunternehmens zu, um die angeschlagene Airline zu retten.2 Da die geplante Einschienenbahn vom Flughafen zum Stadtzentrum von Kuala Lumpur nie gebaut wurde, nimmt man eben den Bus. Es herrscht 237

5. Melayu

Linksverkehr; klar, dass die Briten dahinterstecken. Die sechsspurige Schnellstraße ist so gut wie leer. Gesäumt wird sie von Akazienbäumen, Palmenhainen und dichtem Dschungel. Die Aufschriften auf den grüngrundigen Verkehrsschildern verwenden zwar das lateinische Alphabet, sind jedoch einsprachig malaiisch gehalten, weshalb sie für die Nicht-Einheimischen ähnlich rätselhaft bleiben wie etwa in Estland oder auf Malta. Während der Busfahrt hat man aber genügend Zeit, sich über die mögliche Bedeutung von ikut kiri oder tamat oder kecemesan seine Gedanken zu machen. Als der Busfahrer den Motor startet, steigt ein Herr mit schon etwas schütterem Haar an Bord, der neben einem blassgrünen Hemd mit Palmen-Motivdruck auch ein vollkommen künstlich wirkendes Lächeln trägt. Durch das Bordmikrofon behauptet er, für eine gewisse Luxury Travel Corporation zu arbeiten. Dann verteilt er kleine Pakete mit Snacks und setzt schließlich zu einer launigen Rede an. „Wer seine Bordkarte verliert“, raunt er in einem Ton, der nichts Gutes verheißt, „kann richtig Ärger bekommen.“ Er schleicht sich an meinen Sitznachbarn heran. „Und Sie, Sir, wo kommen Sie her?“, fragt er. „Ägypten? Ah, ein sehr schönes Land. Ich kann Ihre Fragen beantworten“, fügt er mit gespielter Schüchternheit hinzu, „aber ich darf nicht über Politik reden.“ Keiner hatte versucht, mit ihm über Politik zu reden. Nach etwa einer Stunde hält der Bus für einen Zwischenstopp am Lucky Garden Ristoran. Vom Bus bis zu den automatischen Schiebetüren des Einkaufszentrums, in dem sich das Restaurant befindet, sind es nur dreißig Meter – aber wir müssen uns durch eine wahre Hitzewand arbeiten. Ich kaufe einen Reiseführer in englischer Sprache und ein paar lokale Zeitungen – eine auf Chinesisch, eine auf Malaiisch. Der Kioskbesitzer zuckt mit den Schultern. Vermutlich hat er sich schon gedacht, dass ich sie sowieso nicht lesen kann. tandas bedeutet offenbar „Toiletten“. Aber heißt perempuan nun „Herren“ und lelaki „Damen“ – oder umgekehrt? Zurück im Bus blättere ich die Zeitungen durch und schaue mir dann das Lunchpaket aus Reiswaffeln, Mixed Pickles und tropischen Früchten genauer an. Auf dem Karton steht: „Haltbar bis 12:31“. Und wenn man es erst um 12:32 isst, was passiert dann? Die farbenfrohe Zeitung in chinesischer Sprache, die Sin Chew Daily, ist voller Bilder und kunstvoll geschwungener Schriftzeichen. Oben auf der Titelseite prangt ein Foto, auf dem schwer bewaffnete Polizisten zu sehen sind, die ein mehrsprachiges Transparent tragen: 238

Amok oder amuk an der „schlammigen Mündung“

bersurai! kalau tidak kami tembak Dismiss! if not we shoot. gehen sie nach hause! wenn nicht, schiessen wir.3

Darunter befindet sich eine Anzeige der Schweizer Uhrenmarke Rado mit dem Tennisspieler Sir Andy Murray. Die Zeitung in malaiischer Sprache heißt Utusan, und Selasa muss wohl „Dienstag“ heißen, da es neben dem heutigen Datum steht. Andere Wörter, die ich enträtseln kann, sind beispielsweise status, sentral, konflik, parlimen, presiden sowie – aller Wahrscheinlichkeit nach – kapsul. Die Hauptschlagzeile lautet: „10 syarikat dilupus – Najib“. Aus dem beistehenden Foto kann ich schließen, dass es sich bei Najib um einen Mann handelt – aber was er im Schilde führt, entzieht sich meiner Kenntnis. Außerdem findet sich auf der Titelseite das farbige Porträtfoto einer gut aussehenden Frau, die zu einem langärmligen Gewand ein knallrosa Kopftuch mit silberfarbenen Stickereien sowie ein hintergründiges Lächeln trägt, das mich ein wenig an die Mona Lisa erinnert. Ihr Name ist wohl Sri Wani Choo Abdullah. Im Inneren der Zeitung wird der geografische Horizont der Berichterstattung deutlich: Ich finde illustrierte Meldungen und Berichte aus Vietnam, Taiwan, den Philippinen, Myanmar, dem Sudan, China, Australien und Frankreich – nicht jedoch aus Großbritannien.4 Der Reiseführer, der ein umfangreiches Kapitel zu „Werten und Weltbild“ Malaysias enthält, ist da schon aufschlussreicher. „Konformität und Harmonie“, „Respekt und Ehrerbietung“, „Konsens“, „Gesichtswahrung“ und „Höflichkeit“ werden alle mit eigenen Abschnitten behandelt. „In Malaysia“, führt der Verfasser aus, „werden die Interessen des Individuums in der Regel den Bedürfnissen der gesellschaftlichen Gruppe untergeordnet“; dies führe dazu, dass „eine Abweichung von sozialen Normen eher schwierig“ sei. Im selben Zusammenhang heißt es, „Hierarchie oder Ungleichheit“ sei „ein gesellschaftliches Prinzip“ und „die damit zusammenhängenden Einstellungen in puncto Respekt und Ehrerbietung“ seien „überall zu spüren“. Es folgt eine Warnung an den Besucher aus dem Ausland: „Das entscheidende Prinzip bei der Anpassung an die malaysische Kultur ist es, peinliche Situationen in der Öffentlichkeit zu vermeiden. Eine 239

5. Melayu

allzu offene Mitteilung der eigenen Gedanken oder Gefühle wird nicht gern gesehen.“5 Der Morgen in Kuala Lumpur beginnt mit dem Muezzinruf von einer nahe gelegenen Moschee. Die Gläubigen ruft er zum Gebet – und alle anderen werden durch die per Lautsprecher verstärkte Stimme daran erinnert, dass es sich bei Malaysia um ein mehrheitlich muslimisches Land handelt. Es ist Viertel vor sechs und noch vollkommen dunkel. Da wir uns kaum einen Breitengrad nördlich des Äquators befinden, sind Tage und Nächte hier annähernd gleich lang; eine Morgen- oder Abenddämmerung gibt es so gut wie nicht. Die Ungläubigen drehen sich noch einmal um. Schon nach kurzer Zeit bricht jedoch das morgendliche Vogelkonzert über die Stadt herein, und das ist kaum leiser als der Muezzin; aus voller Kehle wird da gekrächzt, geklackt und gepfiffen. Um halb sieben ist der Tag dann ganz entschieden angebrochen: Die Tropensonne fällt durch die halb geöffneten Jalousien, und jeder weitere Versuch eines erholsamen Dösens wird durch den Morgen­appell auf dem Hof der benachbarten chinesischen Schule schnell und wirksam unterbunden. Mit einem Megafon bewaffnet – und mit geradezu militärischer Präzision in der Stimme  – verliest eine Lehrerin die Namen der Schülerinnen und Schüler, die wie Dreiersalven über den Schulhof hallen: „Chang Lim Wei! Eins-zwei-drei! Chong Khoo Hi! Chung Bai Lo! …“ In Malaysia beginnt der Unterricht sehr früh, um der Mittagshitze auszuweichen. Nach dem Frühstück breche ich auf, um mich ein wenig zu orientieren. Das Stadtzentrum von Kuala Lumpur erinnert an eine amerikanische Großstadt aus der zweiten Reihe, Atlanta vielleicht oder St. Louis: viel zu viel Beton in einem wahren Dickicht von Wolkenkratzern, Hochstraßen und modernen Wohnhochhäusern. Die Hitze zwingt einen dazu, sich ­vorzugsweise im klimatisierten Mietwagen oder Taxi durch die Stadt zu bewegen. Mein erster Taxifahrer sagt, Kuala heiße „Delta“ und Lumpur „schlammig“. Ein paar Taxifahrten später hat sich „Delta“ in „Mündung“ verwandelt und „Mündung“ schließlich in „Zusammenfluss“. „Schlammige Mündung“ oder besser noch „schlammiger Zusammenfluss“ – das ist also die Bedeutung von „Kuala Lumpur“. Wie ich erfahre, wurde die Stadt 1862 von einer Gruppe Zinnsucher gegründet, die im Tal des Flusses Klang ihr Lager aufschlugen. Die meisten von ihnen starben, aber die Überlebenden schlugen sich durch. Als Hauptstadt des Sultanats Selangor gelangte die Stadt zu einiger Bedeutung. Der Ehrentitel dieses Sultanats, das heute ein malaysischer Bundesstaat ist, lautet Darul Ehsan – „Heimstatt der Aufrichtigkeit“.6 Was für ein romantisches Reich, und es ist noch nicht einmal verschwunden! 240

Amok oder amuk an der „schlammigen Mündung“

Phnom Penh

Malaysia

PHILIPPINEN

Ho-Chi-Minh-Stadt

(Saigon)

Golf von Thailand

Palawan

VIETNAM

Sulusee

THAILAND

Südchinesisches Meer

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Kota Kinabalu

BRUNEI

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Kuala Lumpur ak

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Putrajaya Cyberjaya Malakka

SAR AWAK Kuching

SINGAPUR

INDONESIEN

(zu Indonesien)

Borneo

INDONESIEN K A LI MA NTA N

Sumatra

0

250

500 km

Auf den Straßen von Kuala Lumpur drängen sich Menschen aus drei Ethnien, die auf den ersten Blick zu unterscheiden sind. Die Malaien, eher klein und stämmig, mit hellbraunem Teint, machen den größten Teil der malaysischen Bevölkerung aus. Sie sind Muslime. Die Männer tragen weite Hemden ohne Kragen, die batik genannt werden, und dazu manchmal eine schwarze Kopfbedeckung, die einem Fes ähnelt und songkok heißt; das ­traditionelle Accessoire ist der sampin, ein Sarong (Wickelrock), der um die Hüfte geschlungen wird. Bei den Frauen sieht man Kopftücher und Schals, knielange Blusen namens baju kuning und Seidenoberteile. Allen gemein ist eine Vorliebe für einfache, kräftige Farben. Die Chinesen stellen die größte Bevölkerungsminderheit im Land. Sie tragen oft schlichte Kleidung nach westlicher Art. Bei den Chinesinnen ist aber auch der cheongsam sehr beliebt, ein einteiliges Kleid mit hochgeschlossenem Kragen. Unter den Indern Malaysias überwiegen die dunkelhäutigen Tamilen. Wie auch in Indien tragen sie die kurta aus Baumwolle mit der dazugehörigen Hose (pajama). Die Inderinnen tragen elegante, farbenfrohe Saris. So sieht jeder auf den ersten Blick, mit wem er es zu tun hat. Die Zwillingstürme der Petronas Towers üben eine unwiderstehliche Anziehung auf jeden aus, der eine Kamera im Reisegepäck hat. Bevor sie 2004 vom Taipei Financial Center („Taipeh 101“) überholt wurden, waren die Petronas Towers das höchste Gebäude der Welt. Und doch machen sie noch immer einen sympathischeren Eindruck als ihr taiwanesischer 241

5. Melayu

Kuala Lumpur

Jalan Tun

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Technische Universität von Malaya

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Petronas Towers Kl

Nationaldenkmal

Sri Maha Mariamman Tempel

Masjid Negara Muzium Negara

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Thean Hou Tempel 0

500

1000 m

Konkurrent. Die rund 450 Meter hohen Türme, die in den 1990er-Jahren von dem größten Ölkonzern Malaysias errichtet wurden, sind etwa auf halber Höhe durch eine Fußgängerbrücke verbunden; ihr runder Querschnitt wird durch starke horizontale Linien auf jedem Stockwerk aufgebrochen, was die Türme wie hoch aufragende Säulen aus aufeinandergestapelten Silberringen erscheinen lässt. Sie sind wirklich sehr fotogen, vor allem, wenn man sie von einem nahe gelegenen Park aus knipst, wo üppig blühende Palisanderholzbäume den Bildvordergrund schmücken.7 Inzwischen habe ich ortskundige Unterstützung bekommen: Karolina, eine junge Frau aus Europa, die zum Arbeiten nach Malaysia gekommen 242

Amok oder amuk an der „schlammigen Mündung“

ist, genauer gesagt für irgendeine Art von Praktikum. Karolina ist bestens informiert, steckt voller Energie und hat ein Talent dafür, mir die Schwierigkeiten auseinanderzusetzen, mit denen sie selbst nach ihrer Ankunft in Kuala Lumpur konfrontiert war. Zunächst einmal nimmt sie mich mit in eine indische Teestube. Der Kellner fragt: „Mit Milch und Zucker?“ „Keine Milch, keinen Zucker“, sage ich. Einige Minuten später kommt er mit einem Becher Tee zurück, der zwar keine Milch, dafür aber umso mehr Zucker enthält. Vielleicht liegt’s an meinem Lancashire-Akzent … Außerhalb des kosmopolitischen Stadtzentrums gliedert sich Kuala Lumpur in verschiedene Stadtviertel, die jeweils von einer bestimmten Ethnie geprägt sind. Moscheen zeigen an, dass man sich in einem Malaienviertel befindet; mehrere Chinatowns beherbergen buddhistische Schreine. Ein „Klein-Korea“ gibt es ebenso wie ein „Klein-Indien“; einige der eher heruntergekommenen Bezirke werden von Wanderarbeitern bewohnt, die oft aus Bangladesch stammen. Auf unserer Fahrt durch die Außenbezirke von Kuala Lumpur machen wir auch an dem auf einer Anhöhe gelegenen buddhistischen Schrein Thean Hou Halt (der Name bedeutet „Himmelskönigin“).8 Nach einem Aufstieg von mehreren Hundert Stufen ziehen wir unsere Schuhe aus und treten in das Innere des Schreins, wo ein riesiger, goldener Buddha uns bereits erwartet. Ein rätselhaftes Lächeln scheint um seine Lippen zu spielen, wie er da inmitten kräftiger Gelb- und Blautöne thront, in die sich auch ein sattes Violett und ein leuchtendes Grün mischen. Wir entzünden eine Duftkerze und steigen wieder zum Parkplatz hinunter, wo uns das Standbild eines jovial wirkenden Konfuzius empfängt. Mit Blick auf die ethnische Dreiteilung Malaysias sollten wir nun wirklich auch noch der Nationalmoschee Masjid Negara9 und dem Hindutempel Sri Mahamariamman10 einen Besuch abstatten. Zu Zeiten der britischen Kolonialherrschaft sahen die Malaien sich als die geknechteten Opfer imperialistischer Unterdrückung, aber heute sind sie es, die den Ton angeben. Das übliche Wort für „Malaie“ in der malaiischen Sprache ist Melayu, und man trifft durchaus auf den Slogan Ketuanan Melayu, was so viel heißt wie „malaiische Vorherrschaft“ oder sinngemäß „Malaysia den Malaien“.11 Da diese Ethnie und ihre Sprache jedoch auch jenseits der Malaiischen Halbinsel ein großes Verbreitungsgebiet haben – unter anderem das östliche Sumatra und die Nordküste von Borneo –, hat der malaysische Staat in den vergangenen Jahrzehnten eher dem 243

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Schlagwort Bumiputra den Vorzug gegeben, das nationalistischer ist und so viel wie „Sohn des Landes“ bedeutet. Die Chinesen haben über Jahrhunderte das Geschäftsleben in der Region dominiert; schon im 15. Jahrhundert kamen sie langsam nach Süden gewandert. Den größten Zustrom gab es jedoch im Gefolge der Opiumkriege um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Ihre Muttersprachen sind nicht Mandarinoder Hochchinesisch – die Grundlage des modernen Standardchinesisch –, sondern die südchinesischen Dialekte Hokkien, Kantonesisch und Hakka. Diese unterscheiden sich teils beträchtlich voneinander, was dazu führt, dass Chinesen unterschiedlicher Herkunft in Malaysia oft auf Englisch miteinander kommunizieren. Die Inder sind erst vor vergleichsweise kurzer Zeit nach Malaysia gekommen. Während der britischen Kolonialherrschaft wurden sie in Südindien und Sri Lanka (damals noch Ceylon) als Vertragsarbeiter angeworben und wanderten also von einem Teil des Empire in einen anderen. Sie sprechen meist Tamilisch oder Telugu und stehen auf der untersten Stufe der gesellschaftlichen Hackordnung. Es ist Zeit für einen Haarschnitt. Meine Friseurin, eine zierliche junge ­Chinesin, trägt zur geblümten Bluse eine eng anliegende schwarze Hose. Als ich sage: „Trim, please – nur die Spitzen, bitte“, zögert sie einen Augenblick und antwortet dann: „Tim, yes.“ Binnen Sekunden hat sie einen großen Teil meines seitlichen Deckhaares – das ich sorgsam etwas länger trage, um meine großen Ohren zu verbergen – radikal gekürzt. „Wunderbar“, sage ich beim Hinausgehen, noch immer ganz verdutzt. Was habe ich nur falsch gemacht? Am nächsten Tag treffe ich mich wieder mit Karolina und gemeinsam nehmen wir ein Taxi zur Universität von Malaya, deren Campus sich in einem Außenbezirk von Kuala Lumpur befindet. „Wie lange etwa?“, fragt sie. „Ungefähr dreißig Minuten“, antwortet der Fahrer. „Wissen Sie, wo das ist?“, fragt sie noch einmal nach – wohl, weil sie sich mit einem erfahrenen Chauffeur wohler fühlen würde. „Ja, ja“, sagt er, „ya ya“, und fährt mit laut aufheulendem Motor los. Nach einer Dreiviertelstunde kommen wir zum dritten oder vierten Mal an denselben Verkehrskreiseln vorbei. Als wir am Campus ankommen, ist es der einer vollkommen anderen Universität. Unser Fahrer sieht ganz nieder­ geschlagen aus. Da rettet Karolina die Lage, indem sie einen Stadtplan hervorholt, auf dem wir unsere aktuelle Position und die korrekte Route bestimmen können. 244

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„Wie viel?“, frage ich den Taxifahrer bei unserer Ankunft. „Nichts“, sagt er, bevor er wegfährt, „nichts!“ „Was war da denn los?“, frage ich Karolina. „Das war jetzt aber kein Verständigungsproblem, oder?“ „Nein“, antwortet sie, „war es nicht, überhaupt nicht  – das war eher typisch malaiisch: Man will seinen Respekt bezeugen, die guten Manieren wahren – und vor allem nicht sein Gesicht verlieren.“ Mir kommt wieder die Formulierung meines Reiseführers in den Sinn, die sozialen Normen meines Gastlandes seien „überall zu spüren“. Der Kellner in der Teestube hat mein „keine Milch, keinen Zucker“ wahrscheinlich durchaus verstanden; aber ein wenig knauserig kam er sich dann wohl doch vor, als er einem weit gereisten, fremden Gast den Tee so ganz ohne Beigabe servieren sollte – und so rührte er sicherheitshalber eben den Zucker hinein. Und meiner Friseurin war es möglicherweise peinlich, dass sie mit dem Wort trim nichts anfangen konnte, also hat sie einfach drauflosgeschnitten. Da ihre Aufgabe ja war, Haare zu schneiden, wird sie sich wohl gedacht haben, dass dem Kunden desto besser gedient sein würde, je mehr sie abschnitte. Der Taxifahrer schließlich schreckte vielleicht davor zurück, seine Fahrgäste noch einmal nach einem Ziel zu fragen, das er nicht ganz verstanden hatte. Also fuhr er los und hoffte, die Sache unterwegs schon irgendwie lösen zu können. Dreimal fuhr er am Stadtrand um den Block, weil er sich nicht zwischen der Universität von Malaya und der Technischen Universität von Malaya entscheiden konnte. Indem er auf die falsche Möglichkeit setzte, bedeckte er sich mit Schande und konnte folglich auch kein Geld von uns annehmen. Scheinbar sagte hier jeder „Ja“, selbst wenn er „Nein“ meinte – aus reiner Höflichkeit. Dank unserer Taxi-Odyssee durch Kuala Lumpur war ich ernsthaft verspätet, als wir dann endlich an der richtigen Universität ankamen. „Keine Sorge“, sagte Karolina, „die Leute hier haben eine ziemlich flexible Vorstellung von Pünktlichkeit. Sie nennen es ‚Gummizeit‘.“ Meine Gastvorlesung brachte dann eine weitere Überraschung mit sich. In Baku, Abu Dhabi und noch kürzlich in Delhi hatte man meinen Vortrag ohne Einspruch angehört. Nun jedoch sah ich mich einer temperamentvollen Opponentin gegenüber, einer jungen Frau mit einem weinroten Kopftuch, die ein makelloses Englisch sprach. „Wir sind noch immer sehr wütend über das Verhalten der Imperialisten“, setzte sie an. Auch die Art, wie ich „deren Schuld heruntergespielt“ hatte, gefiel ihr ganz und gar nicht. Nachdem diese Tirade einige Minuten 245

5. Melayu

gedauert hatte, fragte der verantwortliche Veranstalter, ob sie ihrerseits eine Frage habe. „Was hat der Professor zu seiner Verteidigung zu sagen?“, fragte sie. Also versuchte ich mein Bestes. (Mir war ja kein spezifischer, sondern eher ein allgemeiner Vorwurf gemacht worden, der, wie ich glaube, von einem Widerwillen getrieben war, die Leiden von Europäern sowie die Leiden, die Europäer Nicht-Europäern angetan hatten, als prinzipiell vergleichbar anzusehen. Ohne es zu wollen, war ich unversehens auf das tückische Feld der „kulturellen Aneignung“ geraten, auf dem ich mich „nicht klar positioniert“ hatte.) „Ich bin der Ansicht, dass wir jegliches unmenschliche Verhalten verurteilen sollten“, antwortete ich also, „und indem ich Ungerechtigkeiten beschreibe, die irgendwo anders passiert sind, schmälere ich keineswegs die Ungerechtigkeiten, die Afrika oder Asien gegenüber verübt wurden. Das Vergleichen gehört eben zum Geschäft des Historikers, und um historische Phänomene präzise beurteilen zu können, müssen wir sie eben vergleichen.“ Damit musste meine kritische Zuhörerin sich wohl oder übel zufriedengeben. Aber mir fiel auf, dass sie sich nicht wie eine Einheimische verhalten hatte; den wichtigsten Ratschlag meines Reiseführers – nämlich unter allen Umständen „peinliche Situationen in der Öffentlichkeit zu vermeiden“  – schien sie jedenfalls nicht zu beherzigen. Kam sie vielleicht gar nicht aus Malaysia, sondern aus Brixton oder Bradford?* Im Anschluss an meinen Vortrag lud mich einer meiner Gastgeber, ein Professor der Universität, zu Gebäck und Tee ein; nebenbei gab es einen Kompaktkurs „Malaysische Politik für Anfänger“. „Ist Malaysia eine Demokratie?“, eröffnete ich das Gespräch einigermaßen naiv. Er verzog das Gesicht. „Was ich meine, ist: Sind die demokratischen Strukturen nur Fassade? Als ich vor ein paar Tagen ins Land kam, hatte ich das ungute Gefühl, ich beträte einen Polizeistaat.“ „Hm“, machte der Professor nachdenklich. „Das Unterhaus des Par­ laments wird nach dem allgemeinen Wahlrecht gewählt, und auch unser ‚König‘ wird gewählt; die neun Sultane der neun Bundesstaaten bestimmen ihn für eine Amtszeit von vier Jahren.“ Das war zweifellos ein Anfang. * Londoner Stadtteil bzw. eine Stadt in Nordengland, die jeweils für ihren hohen Migranten-

anteil bekannt sind; in Brixton: Karibik  /  Afrika; in Bradford: Südasien, v. a. Pakistan (Anm. d. Übers. T. G.).

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„Aber in der Praxis“, fuhr er fort, „haben wir doch einen Einparteienstaat, und das Oberhaus wird ernannt. Formal gesehen ist es keine Diktatur, aber die malaiische Bevölkerungsmehrheit stimmt stets geschlossen für dieselbe Partei [die nationalkonservative United Malays National Organisation, kurz UMNO]. So können sie ihre zahlenmäßige Überlegenheit immer auch in eine politische Vormachtstellung ummünzen.“ Das politische Prinzip des Ketuanan Melayu wird also, mit anderen Worten, durch eine „Tyrannei der Mehrheit“ aufrechterhalten. „Könnte man das nicht eine ‚Ethnokratie‘ nennen?“, fragte ich. „Nun, ich denke schon“, antwortete mein Gastgeber. „Die Opposition, die mehrheitlich von den Parteien des chinesischen Bevölkerungsanteils gestellt wird, ist sehr schwach, und das Parlament als Ganzes stellt sich repressiven Maßnahmen nur sehr selten in den Weg.“ Vielleicht war das der Schlüssel zum Verständnis. Wenn eine Legislative sich ganz überwiegend aus Abgeordneten rekrutiert, die man von frühester Kindheit an auf Ehrerbietung und Fügsamkeit hin erzogen hatte, dann kann die Exekutive natürlich tun und lassen, was sie will. Wie ich erfuhr, war das Gesetz Nummer 179, das eine Festnahme im Schnellverfahren und eine unbegrenzte Inhaftierung politisch Verdächtiger ermöglichte – die Briten hatten es in den frühen 1950er-Jahren eingeführt, um gegen kommunistische Guerillakämpfer vorzugehen –, nie aufgehoben worden. Zwar wurde es 2011 ausgesetzt, könnte aber jederzeit wieder in Kraft treten. Von einem malaysischen Parlamentsabgeordneten die Ablehnung eines Gesetzesvorhabens der Regierung zu verlangen, so schien mir nun, war nicht viel anders, als wenn man einen malaysischen Kellner um Tee ohne Zucker bat. Wir sprachen auch über die schon seit Langem problematische Sprachfrage. Unter der britischen Kolonialherrschaft war in allen weiterführenden Schulen Englisch die Unterrichtssprache gewesen, und doch ging nach der Unabhängigkeit Malaysias im Jahr 1957 fast jeder stillschweigend davon aus, dass Englisch ersetzt werden würde. Die schwierige Frage war nur – ersetzt durch was? Die malaiischen Nationalisten  – „Malaysia den Malaien!“ – gingen davon aus, dass ihre Sprache, die Sprache der Bevölkerungsmehrheit, die alleinige und für alle staatlichen Belange verbindliche Amtssprache werden würde. Dummerweise sprachen aber weder die einheimischen Chinesen noch die Inder Malaiisch. Die Verfechter einer obligatorischen „Malaiisierung“ konnten ihren Kurs 1969 dennoch durchsetzen, nach Jahren gewaltsamer Proteste und blutiger Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen. 247

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Mein Informant beschrieb mir, wie das Fiasko an der Universität von Malaya im akademischen Jahr 1970/71 seinen Lauf genommen hatte. Ohne Vorwarnung ordneten die Behörden an, dass die Lehrveranstaltungen ab sofort in malaiischer Sprache stattzufinden hätten  – ganz egal, ob es die entsprechenden Studienmaterialien gab, die nötigen Bücher in der Bibliothek standen oder Lehrkräfte mit den erforderlichen Sprachkenntnissen verfügbar waren. Also ließ man die alten, englischsprachigen Lehrbücher in aller Eile von Amateuren in die neue Amtssprache übersetzen und Professoren, die kein Wort Malaiisch sprachen, hielten in den Hörsälen Vorlesungen vom Blatt, deren Skripte ihre Studenten für sie vorbereitet hatten. Zwangsläufig endete das Experiment im absoluten Kollaps des Lehrbetriebs, mit Ärger und Verbitterung. Die meisten nicht-malaiischen Angehörigen des Lehrkörpers verließen die staatlichen Universitäten, um private Hochschulen mit Englisch als Unterrichtssprache zu gründen. Diese florieren seitdem, während das Ansehen der staatlichen Einrichtungen in gleichem Maße gesunken ist. Das bevorzugte Idiom vieler Malaysier ist indes weder ein reines Malaiisch noch ein lupenreines Englisch, sondern vielmehr eine ganz außergewöhnliche linguistische Mixtur, bei der sämtliche Landessprachen in einen großen Kessel geworfen werden und deren Zusammensetzung sich von Sprecher zu Sprecher beträchtlich unterscheiden kann. Auf Malaiisch heißt diese Mischung Bahasa Rojak, das heißt wörtlich „gemischte Sprache“, aber im Alltag wird sie meist Manglish genannt, was auf mangled English zurückgeht, „verhunztes Englisch“. Auch die Begriffe Slanga und Fusion Talk sind gebräuchlich. Die Wörterbuchdefinition von Manglish als „einer auf dem Englischen basierenden Pidgin- oder Kreolsprache“ stellt mich nicht ganz zufrieden, weil die wirklich verblüffende, geradezu quecksilbrige Fluidität seiner Verwendung damit nicht hinreichend erfasst ist. Manglish begegnet in Popmusik und Kinofilmen, aber auch in Alltagsgesprächen. Eines seiner Merkmale ist das sogenannte „Code-Switching“; damit bezeichnet man in der Sprachwissenschaft den ständigen Wechsel zwischen zwei oder mehr Basissprachen, oft innerhalb ein und desselben Satzes. Es wäre also gar nicht ungewöhnlich, wenn der erste Teil eines Satzes die Basissprache Englisch verwenden würde – unter Umständen mit ein paar chinesischen, tamilischen oder malaiischen Einsprengseln versehen  –, die zweite Hälfte dann aber auf dem Chinesischen oder Malaiischen basieren würde (wobei natürlich einige englische Wörter eingestreut werden können). Derartige Kunststückchen machen die große Faszination des Manglish aus. Die Sprachwissenschaft unterscheidet 248

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d ­ ennoch ein Manglish I (auf Grundlage des Englischen) von einem Manglish II (in dem das malaiische Element überwiegt).12 Wer Englisch als seine Muttersprache spricht, darf nicht erwarten, von Manglish allzu viel zu verstehen. Wo englische Wörter vorkommen, werden sie in der Regel sehr eigenwillig ausgesprochen; sogar Manglish I ist weit von jeder Form der englischen Sprache entfernt, die man etwa in Großbritannien oder den Vereinigten Staaten zu hören bekommt. So werden beispielsweise Gesprächspartner oft als Boss angesprochen – ganz so, wie man im Londoner Cockney-Dialekt jedermann Guv nennen kann (von governor). Im Manglish sticht das Wörtchen Got heraus; es bedeutet so viel wie „es gibt …“. Ähnlich ist es mit den allgegenwärtigen Can („ja“ oder „gewiss“) und No Can („leider nein“ oder „nicht möglich“). Dem ­Suffix -­lah, das gefühlt an jeden zweiten Satz gehängt wird, kann man genauso wenig entgehen. Lah bedeutet eigentlich nichts Bestimmtes, aber es verleiht dem Vorangegangenen eine gewisse, entspannte Färbung. Let’s go yum cha heißt „Lass uns Tee trinken gehen“, aber Let’s go yum cha lah müsste man etwa mit „Ein Tee wär’ jetzt super, oder?“ übersetzen. That’s why lah ist eine verbreitete Manglish-Wendung, die so viel bedeutet wie „Ach, so ist das …“. Mit Blick auf die tiefen ethnischen Gräben, die sich durch die malaysische Gesellschaft ziehen, überrascht es vielleicht nicht, dass es zahlreiche Schimpfwörter für die Angehörigen der jeweils anderen Ethnien gibt. Das aus Indien importierte „P-Wort“ – „Paria“, damit sind die „Ausgestoßenen“ oder „Unberührbaren“ des indischen Kastensystems gemeint  – ist sogar offiziell verboten, und es gibt inzwischen ähnliche Bestrebungen, auch die aus dem Arabischen entlehnte, abfällige Bezeichnung für NichtMalaien kafir („Ungläubiger“) ächten zu lassen. Das politisch inkorrekte „K-Wort“ für einen Inder im Malaiischen lautet keling oder kling, das heißt etwa „Schwarzhäuter“. Und die malaysischen Inder nennen Chinesen schon einmal manjatholi („Gelbhäuter“) und Malaien valiangkati („Faulenzer“).13 Natürlich muss man damit rechnen, dass Nationaldenkmäler und Nationalmuseen mehr als nur ein bisschen nationalistisch sind. Aber mein Besuch im Heritage Park („Denkmalpark“) von Kuala Lumpur, der auf einem hügeligen Areal am westlichen Stadtrand liegt, gibt doch einen t­ iefen Einblick in die von der malaysischen Regierung zurzeit propagierte Version von nationaler Identität. Das Tugu Negara („Nationaldenkmal“) ist 1966 errichtet worden und setzt sich aus einem ganzen Komplex miteinander verbundener Bauten und Denkmäler zusammen: einem Ehrengrabmal, 249

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einem eleganten Kreis orientalisch anmutender Pavillons, einer riesigen Bronzestatue sowie einem großzügig angelegten Wasserbecken, in dem sich die übrigen Elemente effektvoll spiegeln. Das Bronzedenkmal erinnert deutlich an das Iwo-Jima-Denkmal der US-Marineinfanterie. Es zeigt eine Gruppe von Soldaten mit eigentlich typisch australischen Schlapphüten, die auf einem eroberten Berggipfel ihre Fahne aufpflanzen. An der linken Seite findet sich eine Widmung in englischer Sprache: the heroic fighters in the cause of freedom – may the blessing of allah be upon them („Den heldenhaften Kämpfern für die Sache der Freiheit – Möge der Segen Allahs auf ihnen ruhen“). Auf der rechten Seite ist eine arabische Inschrift angebracht. Ein Infoblatt erklärt, dass mit diesem Denkmal an all jene erinnert werden solle, „die in zwei Weltkriegen und während des Notstandes“ ihr Leben ließen; verschwiegen wird freilich, dass die meisten der so Geehrten in der britischen Armee gedient hatten.14 Das nahe gelegene Muzium Negara („Nationalmuseum“) ist in der Form eines traditionellen Langhauses erbaut worden. Neben einigen hübschen Springbrunnen vor dem Gebäude sowie einem großen Wandbild aus Keramik, das verschiedene Handwerke zeigt, wird der Zugang zum Museum von einem farbigen, lebensgroßen Porträt des malaysischen Königspaares beherrscht, das erst vor Kurzem den Thron bestiegen hat. Der Titel, der in den westlichen Sprachen in der Regel als „König“ wiedergegeben wird, lautet eigentlich Yang di-Pertuan Agong, wörtlich „Er, der zum Herrscher gemacht wurde“. Auf dem fraglichen Porträt trägt „Er“ einen schwarz-­ goldenen Anzug, eine exotisch anmutende Kopfbedeckung sowie eine funkelnde Schärpe samt Bruststern. Neben ihm steht seine „Königin“, die zur blassgoldenen Robe ein Diadem trägt. Sein Name ist Abdul Halim Mu’adzam Schah, 84 Jahre alt, als Erbe seines Vaters rechtmäßiger Sultan von Kedah, der zum Zeitpunkt meines Besuchs gerade die vierzehnte Fünf-Jahres-Periode in Malaysias einzigartiger „Rotationsmonarchie“ eröffnet hatte. Der König ist ein bekennender Jazzfan, der in Oxford ­studiert hat; außerdem ist er ein wichtiges Symbol der nationalen Einheit und der bislang einzige unter den Sultanen Malaysias, der zum zweiten Mal König sein darf.* Die ständige Ausstellung des Nationalmuseums ist in vier Säle eingeteilt, einer für jede der vier Hauptperioden der malaiischen (und später dann auch malaysischen) Geschichte: * Zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung dieses Buches Ende 2017 war Abdul Halim, der inzwischen verstorben war, bereits von Sultan Muhammad V. von Kelantan abgelöst worden.

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I. Geologie und Vorgeschichte II. Die malaiischen Königreiche des Mittelalters III. Die Kolonialära (1511–1957) IV. Das unabhängige Malaysia (seit 1957)

Beim Bestücken der Vitrinen mit antiken Musikinstrumenten, erlesenen historischen Gewändern sowie Modellen und Rekonstruktionen, die durch hervorragende Karten und zweisprachige Übersichtstafeln ergänzt werden, wurden erkennbar weder Kosten noch Mühen gescheut. In der Galerie II befindet sich ein maßstabsgetreues Diorama jener Begegnung im Jahr 1415, bei der arabische Gesandte den Sultan von Malakka (Melaka) zum Islam bekehrten. Die Galerie III stellt die Ankunft des portugiesischen Abenteurers Diogo Lopes de Sequeira im Jahr 1509 in den Mittelpunkt, Galerie IV den Abzug der Briten 1957 und das Hissen der malaysischen Flagge durch den ersten Premierminister des nun unabhängigen Landes, Tunku Abdul Rahman. Dennoch nehmen die viktorianische Epoche (1837–1901) sowie die Zeit Eduards  VII. (1901–1910) insgesamt den meisten Raum ein. Auf nostalgischen Fotografien wird das koloniale Georgetown, ein Stützpunkt der Britischen Ostindien-Kompanie, in seiner ganzen Pracht gezeigt; auch die riesigen Schlachtschiffe der Royal Navy, die in der Bucht vor Anker liegen. Die britischen Touristen von heute sind nur ein müder Abklatsch jener selbstbewussten Gentlemen mit ihren Bowlerhüten und Gamaschen, jener Ladies mit Wespentaille, Reifrock und Sonnenschirm.15 Im Hinterkopf trägt man dabei stets die Frage nach der „alternativen“ oder „kontrafaktischen“ Geschichte – „was wäre gewesen, wenn …“ –, durch die man ein besseres Gespür für die Kontingenz von Geschichte gewinnen kann. Zahlreiche historische Erfahrungen haben beispielsweise die Vorfahren der Menschen in den heutigen Staaten Malaysia und Indonesien geteilt, und so kann man sich durchaus vorstellen, dass auch ein vereinter „Malaienstaat“ hätte entstehen können. Schließlich basieren die offiziellen Sprachformen des Malaiischen in den beiden Ländern, Bahasa Malaysia („Malaysische Sprache“) und Bahasa Indonesia („Indonesische Sprache“) auf einer gemeinsamen Grundlage; bis heute können sich die Sprecher beider Varietäten problemlos miteinander verständigen. Und auch die Lebensweise in den beiden Ländern, die gleichermaßen vom Islam und vom Seehandel geprägt worden war, ähnelte sich sehr. Die lange Geschichte der Malaiischen Halbinsel ist eine Geschichte von Austausch und Interaktion mit diversen Nachbarn, vor allem mit den Nachbarinseln Sumatra, Java und Borneo. Die heutige Unterscheidung von Malaysia einerseits, Indonesien 251

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andererseits war alles andere als unausweichlich; ihr einziger Grund besteht in der 160-jährigen britischen Herrschaft über Malaysia und der insgesamt 400-jährigen Beziehung zwischen den Niederlanden und Indonesien.16 Wie so viele andere müssen auch Historiker ihren Gegenstand am besten von Anfang an durchdenken. Ein Thema, das im Nationalmuseum keine sehr große Rolle spielt, ist die Geschichte der indigenen Orang Asli, der „ursprünglichen Leute“ von Malaysia. Irgendwo außerhalb von Kuala Lumpur gibt es wohl ein Museum, das ihnen gewidmet ist, aber man muss schon danach suchen, um es zu finden. Dennoch: Die lange Zeit vernachlässigten Ureinwohner der Halbinsel  – kaum 150 000 dürften es sein  – erhalten inzwischen immer mehr Aufmerksamkeit. Sie gliedern sich in 18  offizielle Stämme, die gemeinhin in drei Stammesgruppen eingeteilt werden: die Semang oder „Negritos“, die Senoi und die Proto-Malaien. Die Negritos gelten als die ältesten Bewohner des Landes; sie leben im Norden. Die Senoi, die am zahlreichsten sind, betreiben Landwirtschaft und siedeln in der Landesmitte. Die Proto-Malaien gelten als die Vorfahren der heutigen Bevölkerungsmehrheit; sie leben im Süden. Allen drei Gruppen ist gemein, dass sie in abgelegenen Bergregionen ansässig sind, wo sie seit alters her ihre animistischen Religionen praktizieren und den Kontakt zur Außenwelt eher scheuen. In früheren Jahrhunderten waren sie nicht selten Opfer von Sklavenjägern, in jüngerer Vergangenheit die Zielgruppe von christlichen und muslimischen Missionaren. Seit 1950 gibt es ein Ministerium für indigene Angelegenheiten, das für sie zuständig ist.17 Nun könnte man meinen, dass eine junge Nation ganz besonders sensibel auf die Bedürfnisse und Probleme gefährdeter Minderheiten eingehen würde. Dies ist jedoch keineswegs zwingend der Fall. Es ist noch nicht allzu lange her, da konnte ein malaysischer Premierminister seinen Protest gegen die  – vermeintlichen  – Privilegien der Orang Asli äußern: „Selbst wenn sie die Ureinwohner sind“, schrieb er damals, „stehen ihnen nicht mehr Rechte zu als den Malaien.“ Erst vor relativ kurzer Zeit hat der damalige Premierminister Najib Razak mit seiner Kampagne One Malaysia das Konzept eines „geeinten Malaysia“ in die öffentliche Debatte eingeführt; er sprach sich dafür aus, die indigenen Völker nicht mehr als Orang Asli, ­sondern als Orang Kita zu bezeichnen  – „unsere Leute“.18 Allerdings ist Vorsicht geboten: Wenn man nur weit genug zurückgeht, kamen alle vermeintlichen Ureinwohner von irgendwo anders her. Schließlich waren auch die Malaien selbst einst Migranten. Ihre Sprache, das Malaiische, gehört zur austronesischen Sprachfamilie, deren 252

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Zweige sich bis nach Madagaskar und Polynesien erstrecken, und man geht heute allgemein davon aus, dass sie irgendwann zwischen 2500 und 1500 v. Chr. in mehreren Wellen auf die Halbinsel gelangt sind, die heute ihren Namen trägt. Strittiger ist ihre Herkunft: Einer Theorie zufolge kamen sie aus Yunnan, eine andere bevorzugt Neuguinea, eine dritte das prächinesische Taiwan.19 Die lange Periode der antiken malaiischen Reiche umfasst also zwei oder drei Jahrtausende und betrifft eine Region, die um ein Vielfaches größer ist als die Malaiische Halbinsel. Verschwundene Reiche ähneln oft den faszinierenden russischen Matroschkas, bei denen eine unscheinbare Holzpuppe in ihrem Inneren viele andere birgt. In Südostasien hatte sich so, gleichsam im Inneren besser erforschter historischer Reiche wie dem Majapahit-Reich oder dem Sultanat von Malakka, lange Zeit ein noch älteres, noch ehrwürdigeres Staatsgebilde verborgen, bis es durch die Bemühungen der modernen Forschung wieder ans Licht gelangte. Die Rede ist vom Seereich von Srivijaya – sein Sanskrit-Name bedeutet so viel wie „glücklich und glorreich“ oder „strahlender Sieg“ –, dessen Zentrum im südlichen Sumatra lag und das vom 7. bis zum späten 14. Jahrhundert unserer Zeitrechnung bestand. Dem französischen Orientalisten Georges Coedès (1886–1969), der nach dem Ersten Weltkrieg als Direktor der thailändischen Nationalbibliothek amtierte, werden zwei bahnbrechende Erkenntnisse zugeschrieben: zum einen seine Theorie über die „Hinduisierung“ der frühen südostasiatischen Reiche, zum anderen die „Wiederentdeckung“ von Srivijaya.20 Vor Coedès hatte Verwirrung geherrscht, was die politische Ordnung Südostasiens in der Zeit etwa von 500 bis 1000 n. Chr. betraf. Die Forschung war wie in einem Nebel einander widersprechender Namen und Daten umhergeirrt: Bei den Chinesen war von einem Land namens „San Fo Qi“ (Sanfotsi) die Rede, die Sanskritquellen sprachen von „Yavadesh“ und arabische Dokumente derselben Zeit von „Zabag“. Coedès fiel auf, wie stark diese Namen der Begrifflichkeit in den malaiischsprachigen Quellen ähnelte. Also stellte er die vollkommen neue These auf, dass all diese Namen ein und dasselbe Reich bezeichneten, dessen Zentrum sich in Palembang auf Sumatra befunden haben musste. In den Jahren seit Coedès’ Entdeckung ist das rätselhafte Puzzle von Srivijaya nach und nach zusammengesetzt worden. Archäologen, Epigrafiker und Mediävisten aus vielen unterschiedlichen Ländern haben dazu beigetragen. Sowohl die schriftliche als auch die materielle Überlieferung zu Srivijaya ist ausgesprochen dürftig; es gibt nur sehr wenige direkte Belege oder greifbare Überreste. Coedès’ Vermutung, bei der Hauptstadt des Reiches 253

5. Melayu

Srivijaya, 10. Jahrhundert

N Chaiya

Südchinesisches Meer

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Kedah

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Borneo

Sumatra Muaro Jambi Palembang

Javasee

Java Seegebiet unter Kontrolle von Srivijaya Ausdehnung der territorialen Kontrolle

0

Borobudur Kalasan

250

500 km

müsse es sich um das heutige Palembang gehandelt haben, konnte sogar erst 1993 abschließend bestätigt werden.21 Wie in der sogenannten Inschrift von Kedukan Bukit festgehalten ist, die aus dem Saka-Jahr 605* (also aus dem Jahr 683 n. Chr.) datiert, wurde das Reich von Srivijaya von einem lokalen Machthaber und Heerführer gegrün* Im Saka-­Kalender (als „Indischer Nationalkalender“ auch die offizielle Zeitrechnung der Republik Indien) werden die Jahre nach der „Saka­‐Ära“ gezählt, die aus der Sicht des westlichen (Gregorianischen) Kalenders im Jahr 78 begonnen hat.

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Amok oder amuk an der „schlammigen Mündung“

det, der mit 20 000 Soldaten anrückte, um das Land rings um die Mündung des Flusses Musi zu besetzen. Man errichtete einen Hafen, von dem aus Schiffe die nahe gelegene Meerenge zwischen der Malaiischen Halbinsel und Sumatra, die Straße von Malakka, kontrollieren konnten. Reiche Goldvorkommen führten zu einem lebhaften Handel, vor allem in Richtung China. Weitere Nachrichten über die Frühgeschichte von Srivijaya finden sich im Reisebericht des Yi Jing, eines buddhistischen Mönchs aus China, der das gerade aufblühende Reich in den Jahren 688 bis 695 besuchte und dort intensive Studien betrieb. In den vierzig Kapiteln, die Yi Jing uns hinter­ lassen hat, geht es hauptsächlich um die buddhistische Lehre, aber ganz nebenbei transportiert der Text auch viele „weltliche“ Details, darunter die geografische Terminologie seiner Zeit. Man darf das, was Yi Jing Nan Hai nennt – die „Inseln des Südlichen Meeres“ –, auf keinen Fall mit dem verwechseln, „was wir heute unter einer Südseeinsel verstehen“, wie der moderne Herausgeber seines Textes erklärt: Mit dem Begriff Nan Hai [‚Südmeer‘] meint [Yi Jing] das Südchinesische Meer sowie den Bereich des Malaiischen Archipels … In diesem Gebiet gab es, wie er berichtet, mehr als zehn verschiedene Reiche, und alle standen sie unter buddhistischem Einfluss. … [Das Land Mo-lo-yu (Malayu), auch bekannt als Shih-li-fo-shih (Sribhoga) war das zweite dieser zehn Reiche.] … Wie es scheint, war Sribhoga zur Zeit unseres Autors ein florierendes Gemeinwesen; zwei Mal reiste [Yi Jing] dorthin und verbrachte 688–695 ganze sieben Jahre dort, um die Originaltexte [des Buddhismus] in deren Ursprachen Sanskrit und Pali zu studieren und sie ins Chinesische zu übersetzen. In seinen Werken verwendet er die Bezeichnungen „Bhoga“ und „Sribhoga“ ohne Unterschied. … Als das Reich groß und mächtig wurde und sich schließlich bis nach Malayu erstreckte … nannte man dieses ganze Gebiet „Sribhoga“ … Diese Übertragung des Namens muss sich unmittelbar vor der Zeit des Yi Jing ereignet haben.22

Kurz gesagt: Noch war Srivijaya nicht Srivijaya. Aber es lassen sich weitere Details erschließen: – Bhoga, die am gleichnamigen Fluss gelegene Hauptstadt, war der wichtigste Hafen für den Handel mit China. – Die Überfahrt aus dem (südchinesischen) Guangdong (Kanton) nach Bhoga dauerte rund drei Wochen, wenn der Wind günstig war, sonst konnten es auch vier sein. 255

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– Malayu lag weitere zwei Wochen von Bhoga entfernt. – Der König besaß Schiffe, die zwischen Bhoga und Indien verkehrten. – Die Hauptstadt war ein Zentrum der buddhistischen Gelehrsamkeit, in dem mehr als eintausend Priester lebten. – Die dort vertretene Spielart des Buddhismus entsprach zumeist der sogenannten Hinayana-Schule, genauer gesagt dem Mulasarvastivada. – Gold gab es anscheinend im Überfluss. Als Opfergabe für den Buddha brachten die Gläubigen aus Gold geformte Blumen dar. – Zu den anderen Erzeugnissen des Landes gehörten pinlang (Betelnüsse), Muskat, Nelken und Kampfer. Die Bewohner verwendeten zur Körperpflege wohlriechende Öle. Durch das Einkochen von Früchten und anderen Pflanzenteilen stellten sie „Zuckerbälle“ her. – In dem Land Sribhoga wirft ein stehender Mann im achten Monat sowie in der Mitte des Frühlings zur Mittagszeit keinen Schatten. – Die einheimische Sprache wurde „Kun-lun“ genannt; damit ist allerdings Malaiisch gemeint, nicht etwa ein Dialekt der Insel Côn Lôn, die heute zu Vietnam gehört.23

Irgendwann vor dem Ende des 7. Jahrhunderts führte ein Herrscher von Srivijaya namens Darpunta Hyang Sri Jayanasa einen Feldzug ins westliche Java und überrannte anschließend zahlreiche angrenzende Küstenregionen. Dass er die militärischen Mittel oder auch nur die Absicht gehabt hätte, auch das Landesinnere zu erobern, erscheint hingegen zweifelhaft. Jenseits der Straße von Malakka wurden dem Reich große Teile von Thailand einverleibt, namentlich das Königreich Pan Pan, das vom Handel über den Isthmus von Kra lebte (das ist die Landenge, durch welche die Malaiische Halbinsel mit dem asiatischen Festland verbunden ist). Durch diese Taktik der Herrscher von Srivijaya, rivalisierende Handelsnetze einfach zu annektieren, ragte ihr Reich also schließlich bis nach Indochina hinauf. Im frühen 9.  Jahrhundert wurde gar eine Expedition über den Indischen Ozean geschickt, um Madagaskar zu besiedeln. (Die madagassische Sprache, das Malagassi, hat die Sprachwissenschaft lange vor ein Rätsel gestellt, aber inzwischen sind ihre malaiischen Wurzeln eindeutig nachgewiesen; wie zudem DNA-Tests ergeben haben, kann ein Großteil der Bevölkerung von Madagaskar direkt auf die dreißig „Gründermütter von Srivijaya“ zurückgeführt werden.)24 Die Verbindungen Srivijayas zu anderen, teils weit entfernten Regionen wie Vietnam und Madagaskar belegen eindrucksvoll, dass die Vorherrschaft auf dem Meer sowie der damit eng verbundene Seehandel ein zentraler 256

Amok oder amuk an der „schlammigen Mündung“

Stützpfeiler des „glücklich-glorreichen Reiches“ gewesen sein muss. Sie erklären zudem, wie es in der Folge zu Rivalitäten mit ebenso weit entfernten Konkurrenzmächten wie China und Indien kommen konnte. In dieser Frühzeit Srivijayas pflegten seine Herrscher enge Beziehungen zu der Sailendra-Dynastie aus dem zentraljavanischen Hochland (Sailendra ist Sanskrit und bedeutet „Herrscher der Berge“); vermutlich kam es in diesem Zusammenhang auch zur Gründung eines gemeinsamen Reiches. Ganz sicher wissen wir von mehreren dynastischen Heiraten, die wohl die Verbindung zwischen den beiden Herrscherhäusern festigen sollten. So heiratete Dewi Tara, die Tochter von Dharmasetu, dem Sohn Jayanasas, den Sailendra-König Samaratunga, dem es diese Heirat ermöglichte, um  792 den Thron von Srivijaya zu besteigen. Es besteht daher Grund zu der Annahme, dass die monumentale buddhistische Tempelanlage von Borobudur, die gemeinhin als das größte buddhistische Heiligtum der Welt gilt, während der Regierungszeit Samaratungas erbaut wurde. Candi Borobudur, der Tempel von Borobudur, erhebt sich über einer Anhöhe, die zwischen zwei Vulkanen in Zentraljava gelegen ist. Vermutlich wurde der Tempelbezirk um das Jahr 800 herum angelegt. Die Anlage „kolossal“ zu nennen, wäre noch untertrieben: 55 000  Kubikmeter Stein aus einem nahe gelegenen Steinbruch lieferten das nötige Baumaterial. Kenner vergleichen die Anlage mit den ungleich berühmteren Tempeln von Angkor Wat in Kambodscha. Auf insgesamt neun Ebenen, sechs quadratischen und drei kreisförmigen Terrassen, ziehen die Pilger in immer engeren Runden vom Fuß der Tempelpyramide zur chattra hinauf, dem zentralen „Schirm“ auf ihrer Spitze. Jede einzelne der neun Terrassen wird von zahlreichen Reliefs und Buddha-Statuen gesäumt. Auf den riesigen Bildtafeln – insgesamt 2672 Stück – sind Szenen sowohl des Alltagslebens als auch der buddhistischen Mythologie dargestellt; Statuen gibt es  504. Überall auf den Steinblöcken finden sich Inschriften in altmalaiischer und altjavanischer Sprache, aber auch auf Sanskrit. Eine der berühmtesten Tafeln zeigt das eindrucksvolle Bild eines Segelschiffs aus dem 8. Jahrhundert, einen Dreimaster mit hohem Bug und zwei Auslegern. Hier scheint die Seemacht des Srivijaya-Reiches zum Greifen nah. Die spätere Geschichte von Borobudur liegt im Dunkeln. Gleich mehrmals wurde das Areal unter dem Ascheregen mächtiger Vulkanausbrüche begraben; die genauen Umstände seines Niedergangs sind jedoch unbekannt. Der britische Forscher und Kolonialbeamte Sir Stamford Raffles entdeckte die Tempelanlage 1814 wieder, als er Gouverneur von Java war. 257

5. Melayu

Bereits 1835 wurde Borobudur wieder vollkommen freigelegt und später restauriert; heute ist es die größte Touristenattraktion Indonesiens.25 Als die Glanzzeit Srivijayas wird für gewöhnlich das 10.  Jahrhundert unserer Zeitrechnung angesehen: Das verfeindete Königreich Medang im Osten Javas war besiegt, und der Einfluss Srivijayas reichte bis nach Manila. Angeblich zahlte sogar das mächtige Reich der Khmer, dessen Schwerpunkt im Bereich des heutigen Kambodscha lag, einen Tribut. Die Beziehungen der Herrscher von Srivijaya in das China der Tang- und SongDynastien waren besonders gut, aber auch mit dem Kalifenhof von Bagdad hielten sie Kontakt. In einer zeitgenössischen arabischen Quelle heißt es, der Machtbereich Srivijayas sei so immens, dass selbst das schnellste Schiff mindestens zwei Jahre brauchen würde, um ihn einmal zu umsegeln. Die Kunst und Kultur Srivijayas standen in engem Zusammenhang mit der Verbreitung des dort gepflegten Vajrayana-Buddhismus. Die Tempelarchitektur erlebte offenbar eine Blütezeit, auch wenn nur wenige Beispiele wirklich gut erhalten geblieben sind. Auf Sumatra erbaute man die Tempel aus roten Ziegeln, wie man es noch heute an solchen beeindruckenden Anlagen wie denen von Muaro Jambi oder Biaro Bahal sehen kann. Auf Java hingegen – wie die Tempelanlagen von Kalasan oder Borobudur veranschaulichen – wurde in Stein gebaut. Auch in Chaiya im Süden Thailands hat sich eine herrliche Pagode im Srivijaya-Stil erhalten. Bei Aus­ grabungen sind zahlreiche künstlerisch herausragende Buddha-Statuen gefunden worden, sowohl aus Bronze wie auch aus Stein. Nicht umsonst war Srivijaya über lange Zeit ein Zentrum buddhistischer Gelehrsamkeit, das Pilger und Besucher aus nah und fern anzog. Der bengalische pandit (Gelehrte) Atisha war im 10. Jahrhundert ein später Nachfolger des Yi Jing. Er kam nach Srivijaya, um unter einem dortigen Meister zu studieren. Nachdem ihn ein König von Tibet in sein Reich gerufen hatte, spielte Atisha eine entscheidende Rolle in der weiteren Entwicklung des tibetischen Buddhismus. Die Verkehrssprache des Srivijaya-Reiches war Malaiisch, oder besser gesagt: Altmalaiisch, die gemeinsame Vorläuferin der heutigen Amtssprachen von Malaysia und Indonesien. Entlang der Handelsrouten breitete sich diese Sprache im gesamten indopazifischen Raum aus, wo sie in zahlreichen Inschriften belegt ist – einmalige Quellen für die heutige Sprachwissenschaft. Ab dem frühen 11. Jahrhundert setzte dann der Niedergang von Srivijaya ein, der vor allem auf die verheerenden Raubzüge von Rajendra Chola I. zurückzuführen ist, dem „Gottkönig“ von der Koromandelküste 258

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im Südosten Indiens. Entweder 1017 oder 1025 brach sein Heer über die Stadt Kadaram (das heutige Kedah im Nordwesten Malaysias) herein, machte dort reiche Beute – darunter das juwelenbesetzte „Kriegstor“ (vidyadhara-torana) der Stadt – und besetzte einen Teil der Malaiischen Halbinsel. Der Handel kam zum Erliegen, die Piraterie nahm zu. Nachdem der Fluss Musi durch Schlammablagerungen so stark verlandet war, dass der Hafen von Bhoga (dem heutigen Palembang) nicht mehr angelaufen werden konnte, wurde Jambi die neue Hauptstadt. Durch religiöse Konflikte gerieten das nördliche Sumatra und das östliche Java aus dem Einflussbereich von Srivijaya: Die Provinz Aceh auf Sumatra ging vom Buddhismus zum Islam über; auf Java kehrte der einflussreiche Maharadscha von Kediri zum Hinduismus zurück, wodurch ein neues Machtzentrum entstand, das schon bald die östlichen Teile des Archipels bis hinüber nach Timor und Neuguinea an sich zog. Aber noch schleppte das angeschlagene Seereich sich weiter, immerhin war seine Wirtschaftskraft weniger stark getroffen worden als seine politische Bedeutung. Das wirkliche Ende von Srivijaya kam erst im Jahr 1288, als ein javanisches Expeditionsheer unter der Führung Singharasis (das die Vorherrschaft von Kediri übernommen hatte) das südliche Sumatra eroberte, was Jambi und Palembang auch noch den letzten Rest an Einfluss raubte. Binnen fünf Jahren hatte sich – seinerseits in der Nachfolge Singharasis  – das Königreich Majapahit als die vorherrschende Macht in der Region etabliert und hatte begonnen, sich eine politische und ökonomische Einflusssphäre aufzubauen. Bei den heutigen Nationalisten in Malaysia und Indonesien macht das Erbe von Srivijaya keinen Eindruck; ihre Kriterien für nationale Identität sind ganz andere. Und doch hat das zwischenzeitlich verschwundene Seereich Srivijaya, dieses erstaunliche politische Gebilde, dessen Geschichte erst Georges Coedès mit seinen paläografischen Studien dem Vergessen entrissen hat, einen beträchtlichen Einfluss auf die weitere Entwicklung ausgeübt. So war es, um nur ein Beispiel zu nennen, im Wesentlichen Srivijaya, das die heutige weite Verbreitung der malaiischen Sprachfamilie bewirkt und auf diese Weise einen zentralen Aspekt im kulturellen Gepräge der gesamten Region bestimmt hat. Srivijaya war es auch, das den Gewürzhandel in Gang gebracht und die regionale Wirtschaft damit auf Jahrhunderte geprägt hat. Wann immer man in Europa solch aromatische Namen wie Kampfer, Gewürznelken, Muskatnuss, Sandelholz und Kardamom hört, sollte man zugleich immer voll Dankbarkeit an jenes lang verschwundene Reich denken, das all diese Gewürze erstmals nach Europa gesandt hat. 259

5. Melayu

Letztlich brachte der Untergang von Srivijaya eine ganze Reihe von lokalen Fürsten und Kleinkönigen hervor, die über lange Zeit in Konkurrenz zu dem mächtigen Majapahit standen. Einer von ihnen, der 1347 gestorbene Sang Nila Utama, setzte von Sumatra auf die strategisch günstig gelegene Insel Temasek über, wo er einen Handelsstützpunkt gründete – das heutige Singapur. Wie zuvor Srivijaya breitete auch das Reich von Majapahit (1293–ca. 1500) sich mit großer Geschwindigkeit und weit jenseits seiner Ursprünge aus, wobei es sich – ebenfalls ganz wie Srivijaya – auf seine Seemacht im Allgemeinen und die Kontrolle der Straße von Malakka im Besonderen stützte.26 Die politische Gründerfigur dieses neuen Seereiches war Raden Wijaya, ein javanischer Machthaber, der (nach dem westlichen Kalender) am 10. November 1293 in Trowulan gekrönt wurde, nachdem er eine Strafexpedition des chinesischen Kaisers Kublai Khan überlistet und besiegt hatte. Einer seiner Nachfolger, Rajasanagara Hayam Wuruk, der von 1350 bis 1389 regierte, führte das expandierende Reich in sein goldenes Zeitalter: Neben Java herrschten die Könige von Majapahit nun auch über Sumatra, die Malaiische Halbinsel, Teile von Borneo, Sulawesi und der Molukken sowie Neuguineas und der heutigen Philippinen. Der aus Oberitalien stammende Franziskanermönch und Weltreisende Odorich von Pordenone zeigt sich in seinem Reisebericht zutiefst beeindruckt: Dem Herrscher auf Java unterstehen sieben gekrönte Könige. Die Insel ist sehr dicht besiedelt. Und sie ist die beste Insel, die es gibt. Auf ihr wachsen Kampfer, Kubebe-Pfeffer, Kardamom, Muskatnüsse und viele andere wertvolle Gewürze, und es gibt dort eine große Menge von Lebensmitteln, ausgenommen Wein. Der König dieser Insel besitzt einen wunderbaren Palast; er ist riesig, seine Treppen sind groß, hoch und breit. Von den Stufen ist abwechselnd eine aus Gold und eine aus Silber; der Fußboden besteht aus goldenen und silbernen Kacheln, die einander abwechseln. Die Mauern des Palastes aber sind an ihrer Innenseite zur Gänze mit Goldplatten verkleidet, auf denen Reiter aus purem Gold dargestellt sind; um den Kopf haben diese einen großen goldenen Reif, gerade so wie unsere Heiligen; dort aber ist die Aura völlig mit Edelsteinen besetzt. Obendrein besteht auch das Dach des Palastes ganz aus reinstem Gold. Um es aber in aller Kürze zu sagen und um zu einem Ende zu kommen: dieser Palast ist reicher und prächtiger als jeder andere in der Welt. Der Khan von Cathay [d. i. China] lag viele Mal im Krieg mit diesem König. Dieser aber behielt immer die Oberhand …27 260

Amok oder amuk an der „schlammigen Mündung“

Majapahit, 14. Jahrhundert Palawan

Sulusee

Mindanao (Philippinen)

Pazifischer Ozean

Südchinesisches Meer Celebessee

Malaiische Halbinsel

Pa p u a Borneo

Mo l u k k e n Seram

Sulawesi (Celebes)

Sumatra

Javasee

Indischer Ozean Kerngebiet von Majapahit Vasallenstaaten von Majapahit Seegebiet unter dem Einfluss von Majapahit Gebiet der Seeoperationen von Majapahit

N

Floressee

Majapahit

Jav a

Bandasee

S Flores

Bali

Ti m o r

Timorsee 0

250

500 km

Am Hof von Majapahit wurde Javanisch gesprochen, aber die Sprache der Gelehrten und der Religion blieb Sanskrit. Hinduismus und Buddhismus wurden gleichberechtigt nebeneinander praktiziert. Die Verwaltung des Reiches ging von den zwölf Provinzen des Negara Agung oder „Kernstaaten“ aus, um die sich die Nusantara oder „Vasallenreiche“, die Mancanegara oder „Tributstaaten“ sowie die Mitreka Satata oder „verbündeten Staaten“ gruppierten. An seinen äußersten Rändern erstreckte dieses Netz einer gestaffelten Zugehörigkeit sich bis nach Myanmar (Birma), Siam (Thailand), Kambodscha und Annam (auf dem Gebiet des heutigen Vietnam). Man hat das Herrschaftssystem von Majapahit oft als das „Mandala-Modell“ bezeichnet, was auf das Sanskritwort für „Kreis“ zurückgeht. Gemeint ist, dass sich um den inneren Kern des Negara Agung eine Reihe von peripheren Ringen legte, deren Bindung an das Machtzentrum nach außen hin immer schwächer wurde. Ab dem späten 14.  Jahrhundert setzte dann allerdings ein Niedergang ein, der durch bürgerkriegsähnliche Konflikte im Inneren noch beschleunigt wurde. Gegenüber den aufstrebenden muslimischen Sultanaten – und insbesondere in der Konkurrenz mit dem Sultanat von Malakka – erwies Majapahit sich als machtlos. Ein stark geschrumpfter Rest des vormaligen Großreiches hielt sich auf Java, bis dessen letzter Herrscher im Jahr 1527 durch den Sultan von Demak besiegt wurde. Dennoch ist die Geschichte von Majapahit umfassend bekannt, was unter anderem auf eine Fülle lokaler Quellen zurückzuführen ist – darun261

5. Melayu

ter etwa die Chronik Pararaton („Buch der Könige“) –, teils aber auch auf die Forschungen niederländischer Historiker, die ein starkes Interesse an den Ursprüngen ihrer ostindischen Kolonie zeigten.28 Wenn auch Majapahit unterging – sein Erbe und die Erinnerung an seine einstige Größe blieben lebendig. So handelt es sich beispielsweise bei der modernen indonesischen Flagge, der rot-weißen Dwiwarna („die Zweifarbige“), um das exakte Ebenbild der Königsstandarte von Majapahit. Das Sultanat von Malakka wurde 1402 von einem Hindufürsten namens Parameswara gegründet, einem Urenkel des Sang Nila Utama von Temasek. Unter Parameswaras Erben und Nachfolgern blühte und gedieh Ma­lakka, bis es 1511 von den Portugiesen erobert wurde.29 Parameswara selbst entstammte einer Herrscherdynastie, deren Reich als Sri Tri Buana bezeichnet wurde – das „Reich der drei Welten“, womit Palembang auf Sumatra, die Insel Bintan sowie Temasek (Singapur) gemeint waren. Er sah sich als letzter Maharadscha von Temasek, hatte jedoch nach einem Überfall, den Majapahit-Kräfte von Sumatra aus unternahmen, über die Straße von ­Malakka nach Westen fliehen müssen. Hier ruhte sich Parameswara der Legende nach unter einem Amlabaum aus (der auf Malaiisch melaka heißt), als er einen winzigen Kantschil erblickte, den einer seiner Jagdhunde am Meeresrand gestellt hatte.* Anstatt sich jedoch dem Hund kampflos zu ergeben, kämpfte der Kantschil tapfer um sein Leben und drängte den Hund schließlich so beherzt in die Brandung, dass dieser kopfüber ins Wasser stürzte. In diesem äußerst ungewöhnlichen Schauspiel sah Parameswara ein günstiges Omen und beschloss auf der Stelle, an diesem Platz ein Fort zu errichten. Er nannte es „Melaka“, nach dem Baum, unter dem er gelegen hatte, aber die Tamilen führen den Namen auf ein Wort zurück, das „kopfüber“ bedeutet, weil der Kantschil den Hund auf diese Weise ins Wasser befördert hatte. Der furchtlose Kantschil hat noch heute einen Ehrenplatz im Wappen der Stadt Malakka. Parameswaras Reich wuchs und gedieh, nicht zuletzt, weil sein Herrscher den Islam annahm, nebst passendem Titel (Sultan) und neuem Namen (Iskandar Schah). Damit wurde das Sultanat von Malakka eines von mehreren ähnlichen Reichen, mit denen sich die islamische Einflusssphäre weiter nach Osten ausdehnte. Außerdem schloss Malakka ein enges Bündnis mit den chinesischen Kaisern der Ming-Dynastie, wodurch seine * Die Kantschile, eine Gattung von Paarhufern en miniature, sind in Südostasien mit mehreren Arten vertreten. Wenn man sich eine etwa kniehohe Mischung aus Hirschkuh und Hase vorstellt, liegt man nicht ganz falsch (Anm. d. Übers. T. G.).

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Bedrohung durch expansionslustige Nachbarn in Thailand und Vietnam eingedämmt wurde. Und drittens brachte das Sultanat die interkontinentale Handelsroute zu den Molukken unter seine Kontrolle, den „Gewürz­ inseln“, die auf halbem Weg zwischen Sulawesi und Neuguinea liegen. Einer der portugiesischen Abenteurer, die Malakka schließlich unterwerfen sollten, hat diese Dominanz im Gewürzhandel so ausgedrückt: „Wer über Malakka herrscht, der hat seine Hand an der Kehle Venedigs.“30 Mehr als ein Jahrhundert lang füllte Malakka seine wirtschaftliche und politische Machtstellung mit Effizienz aus; eine leistungsfähige Verwaltung und zweckmäßige Handelsstrukturen trugen ihren Teil dazu bei. Die Sultane waren zwar absolute Herrscher, orientierten sich aber dennoch an zwei Sammlungen von Gesetzestexten, deren eine, die Undang-Undang Melaka („Gesetze von Malakka“), nach heutigen Begriffen das Zivilrecht behandelte, während die andere, die Undang-Undang Laut („Gesetze des Meeres“), das See- und Handelsrecht zum Gegenstand hatte. Über 128 Jahre hinweg regierten nacheinander zehn Sultane: 1400–1414 1414–1424 1424–1444 1444–1446 1446–1459 1459–1477 1477–1488 1488–1511 1511–1513 1513–1528

Parameswara (Iskandar Schah) Megat Iskandar Schah Muhammad Schah Abu Syahid Schah Muzaffar Schah Mansur Schah Alauddin Riayat Schah Mahmud Schah Ahmad Schah Mahmud Schah (erneut)

Die maßgeblichen Ämter in der Regierung und Verwaltung des Sultanats wurden an Männer aus allen Gesellschaftsschichten vergeben, wobei jedoch zwischen zivilen und militärischen Posten unterschieden wurde. Der bendahara war so etwas wie der oberste Ratgeber des Sultans, während der laksamana („Admiral“) die Flotte befehligte und die Verteidigung des Territoriums organisierte. Der legendäre Krieger und Kampfkunst-Meister Hang Tuah, der im späten 15. Jahrhundert lebte, war der berühmteste laksamana von allen. Ein Bronzeporträt von ihm steht im Nationalmuseum. Hang Tuah wird ein trotziger Schlachtruf zugeschrieben, der bei malaysischen Nationalisten noch immer großen Anklang findet: Takkan Melayu Hilang di Dunia („Die Malaien werden niemals von dieser Erde verschwinden!“).31 263

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Die Allianz zwischen Malakka und China führte zu einer Reihe von Gesandtschaften und mindestens einer dynastischen Heirat sowie zu der Niederschrift einer unschätzbaren Beschreibung des Sultanats zu seiner Blütezeit. Berühmt ist auch der Staatsbesuch Parameswaras in China, wo er einen offiziellen Freundschaftsbrief des Kaisers erhielt; der muslimisch-chinesische Admiral Zheng He (Cheng Ho) unternahm mehrere Gegen­besuche in Malakka. Zwischen dem Sultan Mansur Schah und der Ming-Prinzessin Hang Li Po wurde eine Ehe arrangiert. Die erwähnte Beschreibung des Sultanats Malakka findet sich in der Schrift Xingcha Shenglan („Das Sternenfloß“) des chinesischen Reiseschriftstellers Fei Xin, der den Admiral Zheng He auf seinen Fahrten als Dolmetscher begleitet hatte.32 Sein Text lässt erkennen, dass die Malaien, „deren Haut schwarzer Lackarbeit gleicht“ und die ihr Haar „in hammerkopfförmigen Knoten frisiert tragen“, von den Chinesen als exotische Fremde gesehen wurden. Aber er offenbart ein ebenso starkes Interesse am Zinnabbau und am Fernhandelspotenzial des Sultanats. Die eigentümliche Währung von Malakka bestand in Zinnbarren, die mit dem Siegel des Sultans gestempelt waren. Zehn Barren ergaben ein „kleines Bündel“, vierzig ein „großes Bündel“. Im Verlauf des 15.  Jahrhunderts, zu dessen Beginn das Herrscherhaus von Malakka den muslimischen Glauben angenommen hatte, tat die Bevölkerung es ihren Sultanen gleich  – bisweilen notgedrungen: Hinduismus, Buddhismus und die diversen animistischen Glaubensvorstellungen der Bergvölker wurden allesamt unterdrückt. Dieser Prozess ging mit Sicherheit rasch, mitunter wohl auch rücksichtslos vonstatten: Die muslimischen Herrscher, Sufis und Ulama [Religions- und Rechtsgelehrten] Südostasiens begegneten den „Ungläubigen“ aller Wahrscheinlichkeit nach mit einer größeren Intoleranz, als dies etwa in Indien der Fall war. Dies lag daran, dass die schafiitische Rechtsschule, der sie anhingen, für Polytheisten nur die Alternative von Bekehrung zum Islam oder Tod vorsieht, [während] die in Indien praktizierte Hurufi-Auslegung der religiösen Vorschriften ihnen den großzügigeren Status von dhimmi (nicht-muslimischen „Schutzbefohlenen“) einräumt. … Nach schafiitischer Lehre haben die Ungläubigen genau vier Monate, um zum Islam zu konvertieren; andere Schulen gestehen ihnen bis zu einem Jahr Bedenkzeit zu. … Das Sultanat von Malakka bestand nur etwa ein Jahrhundert lang. Daher lässt sich mit einiger Wahrscheinlichkeit annehmen, dass bei der Konvertierung der hinduistischen, buddhistischen und animistischen „Ungläubigen“ auf der Malaiischen Halbinsel, den Inseln Indonesiens und den Philippinen ein verhältnismäßig größerer Druck ausgeübt wurde.33 264

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Im Jahr 1509 kamen die Portugiesen. Der Admiral Diogo Lopes de Sequeira setzte ein freundliches Gesicht auf und lud den Sultan ein, der Vertreter Portugals für die Gebiete östlich von Goa zu werden. Dann jedoch kam es zu Spannungen zwischen den Katholiken und den Muslimen; einige Portugiesen wurden getötet und man versuchte, ihre Schiffe zu kapern. Also verließ zwei Jahre darauf eine portugiesische Flotte unter dem Befehl Afonso de Albuquerques erneut den Hafen von Goa, um Malakka mit Gewalt einzunehmen. Es folgten siebzehn Jahre Krieg. Zwar wurden der Hafen und die Festung Malakka von den Portugiesen im Sturm erobert, und der Sultan musste zunächst nach Pahang, dann nach Bintan und schließlich bis nach Sumatra fliehen; aber die Scharmützel zwischen den Portugiesen und den Truppen des Sultans hielten an, bis schließlich 1526 deren Hauptquartier auf der Insel Bintan dem Erdboden gleichgemacht wurde. Kurz darauf starb der letzte Sultan von Malakka im Exil. Einer seiner beiden Söhne ging nach Norden und gründete dort das Sultanat Perak; der andere ging nach Süden und gründete das Sultanat Johor. Malakka blieb in portugiesischem Besitz, bis es 1641 von den Niederländern erobert wurde; 1824 folgten auf die Niederländer die Briten. Man hat also nicht den Eindruck, dass die Erinnerung an das Sultanat von Malakka schon verblasst wäre – im Gegenteil: Sowohl Perak als auch Johor bestehen als Bundesstaaten des heutigen Malaysia fort; und beide gedenken ihres gemeinsamen Vorläufersultanats voller Bewunderung. Auf diesen Punkt legt das Nationalmuseum in Kuala Lumpur ganz besonderes Gewicht, wenn es das Sultanat von Malakka als den „ersten malaiischen Nationalstaat“ bezeichnet. Nach der portugiesischen Personalunion mit Spanien im Jahr 1580 setzten die Niederländer alles daran, die Vorherrschaft Portugals in Ostindien zu schwächen. Gegen Spanien befanden sie sich ja bereits im Aufstand; nun betrachteten sie auch die portugiesischen Besitzungen in der Region als Feindesland und potenzielle Beute. Im Jahr 1595 segelte eine niederländische Flotte nach den „Gewürzinseln“; 1602 wurde die Niederländische Ostindien-Kompanie (Vereenigde Oostindische Compagnie, kurz VOC) gegründet. Durch die Übermacht der Niederländer zur See wurden die Portugiesen nach und nach zurückgedrängt. Im Jahr 1619 wurde in Jayakarta (Batavia) auf der Insel Java das ostindische Hauptquartier der VOC eingerichtet; eine Kette von befestigten Handelsposten sollte den Seeweg von dort nach Europa sichern. In den frühen 1640er-Jahren, die Portugiesen waren gerade durch ihren eigenen Restaurationskrieg gegen die spanische Vorherrschaft in Anspruch genommen, annektierten die Niederländer kurzerhand ­Malakka. 265

5. Melayu

Die niederländische Herrschaft auf der Malaiischen Halbinsel zeichnete sich durch die unbedingte Absicht aus, keine andere europäische Macht zum Zug kommen zu lassen. Den lokalen Herrschern ließen die Niederländer allerdings freie Hand; es ging ihnen lediglich um die nominelle, indirekte Oberherrschaft in der Region. Ab der Mitte des 18.  Jahrhunderts geriet die niederländische Position dann aber in dem Maß unter Druck, in dem die Briten den indischen Subkontinent eroberten und die Royal Navy ihren Einflussbereich ausdehnte. Die niederländische Einflusssphäre kollabierte mit der Besetzung der Republik der Vereinigten Niederlande durch die Truppen des revolutionären Frankreich im Jahr 1795.34 Der britische Einfluss auf der Malaiischen Halbinsel baute sich über einen Zeitraum von etwa vierzig Jahren langsam auf. Alles begann im Jahr 1786, als der Sultan von Kedah die Insel Penang an einen Ableger der Britischen Ostindien-Kompanie verpachtete. Während der Napoleonischen Kriege nahm dieser Einfluss dann beträchtlich zu; Großbritannien erwarb die Dinding-Inseln, besetzte Malakka und gründete auf der Insel Temasek die Kolonie Singapur. Dieses Sammelsurium von kleineren Besitzungen konsolidierte die Britische Ostindien-Kompanie in den 1820er-Jahren zu einer Verwaltungseinheit mit dem Namen Straits Settlements, also etwa „Niederlassungen an der Meerenge [von Malakka]“. An mehreren Orten dieses Territoriums, dessen unterschiedliche Teile nur auf dem Seeweg miteinander verbunden waren, richteten die Briten Strafkolonien ein, weshalb schon bald von der „ostindischen Botany Bay“ die Rede war (der Spitzname spielte auf die Botany Bay bei Sydney und die berüchtigten australischen Sträflingskolonien an). Als Hauptort der Straits Settlements wurde auf Penang (jetzt „Prince of Wales Island“ genannt) die Siedlung George Town gegründet. Nachdem die Straits Settlements 1867 zur britischen Kronkolonie erklärt worden waren, unterstanden sie einem Gouverneur und einem Legislativrat, die beide in George Town residierten. (Um dieselbe Zeit wurden auch die ersten viktorianischen Briefmarken der Straits Settlements ausgegeben.) 1874 gab die Kronkolonie die Dinding-Inseln an den Sultan von Perak zurück, dazu noch einen Streifen Land an der Küste der Malaiischen Halbinsel, der von den Briten als ihre „Wellesley-Provinz“ bezeichnet wurde. (Heutzutage beherbergt der größte Hafen der Inselgruppe, der inzwischen in „Majong“ umbenannt wurde, den Hauptstützpunkt der Königlich Malaysischen Marine). Dennoch ging die britische Expansion weiter. Nach und nach wurden die unabhängigen Sultane der Halbinsel dazu überredet, gedrängt oder sonst wie dazu gebracht, einen britischen „Residenten“ bei 266

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Britisch-Malaya, 1922

Singora

SIAM

Südchinesisches Meer Kota Bharu

P E R L I S Alor Star

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Kuala Terengganu

K E L A NTAN P E R A K

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Sumatra SINGAPUR

NIEDERLÄNDISCH-INDIEN

Föderierte Malaiische Staaten Nichtföderierte Malaiische Staaten Straits Settlements

0

50

100 km

267

5. Melayu

sich willkommen zu heißen – das waren im Grunde diplomatische „Aufpasser“, die dafür sorgen sollten, dass die britischen Interessen in der Region gewahrt blieben. Vier Sultanate – Negri Sembilan, Perak, Pehang und Selangor – schlossen sich als „Föderierte Malaiische Staaten“ zusammen, während fünf andere  – Perlis, Kedah, Kelantan, Terengganu und Johor  – eigenständige, jedoch ebenfalls unter britischer „Protektion“ stehende, „nichtföderierte Staaten“ blieben. Im Jahr 1895 wurden all diese Sultanate den Straits Settlements angegliedert, wodurch ein Gebilde entstand, das gemeinhin als „Britisch-Malaya“ bezeichnet wurde.35 Die Art und Weise, in der die Briten die Sultane unter ihre Kontrolle brachten, lässt sich anhand der Beispiele von Selangor und Perak geradezu mustergültig veranschaulichen. In den 1860er-Jahren wurden die Bezirke im Inneren der Malaiischen Halbinsel von Bandenkriegen erschüttert. Zwei chinesische Geheimgesellschaften, die Hai San und die Ghee Hin, kämpften miteinander um die Kontrolle über den florierenden Zinnbergbau. Es ging um viel Geld. Im chinesischen Mutterland und in Singapur wurden Tausende von Rekruten und Söldnern angeworben, und schon bald hatte die Brutalität des Konflikts eine Intensität erreicht, mit der die Sultane der betroffenen Staaten heillos überfordert waren. Infolgedessen riefen sie am Ende des vierten sogenannten „Larut-Krieges“ die Briten zu Hilfe, damit diese die Ordnung wiederherstellten; als Teil der dazu geschlossenen Abmachung akzeptierten die Sultane von Selangor und Perak 1874 die Entsendung von Residenten. Eine zentrale Rolle bei den beschriebenen Ereignissen spielte der junge britische Kolonialbeamte Frank Athelstane Swettenham (1850–1846), der aus der Kleinstadt Belper in Derbyshire stammte. Nach bescheidenen Anfängen als Bürogehilfe in Singapur erklomm Swettenham in geradezu atemberaubender Geschwindigkeit die koloniale Karriereleiter, wurde zunächst der erste britische Resident in Perak, später dann Resident in Selangor. Dass Großbritannien das Vertrauen und das Wohlwollen der Sultane gewinnen und so den Grundstein für die spätere Vereinigung der malaiischen Staaten legen konnte, war ganz maßgeblich sein Verdienst. In den Jahren 1901 bis 1904 war Swettenham – inzwischen Sir Frank – auf dem Zenith seiner Karriere angelangt: als Gouverneur der nun stark vergrößerten Straits Settlements und Oberbefehlshaber der dort stationierten britischen Truppen.36 Swettenham war jedoch mehr als ein bloßer Verwaltungsfachmann. Er besaß ein großes Talent für fremde Sprachen, betätigte sich als ein Autor und Amateurfotograf, der uns in seinem Werk immer wieder eindrückliche 268

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Bilder vom Britisch-Malaya seiner Zeit hinterlassen hat. Sein Vocabulary of the English and Malay Languages (1882) bahnte den Weg für alle späteren Wörterbücher der malaiischen Sprache, und seine Bücher – Malay Sketches („Malaiische Skizzen“, 1895), The Real Malay („Der echte Malaie“, 1900) und British Malaya (1907) – sind unverzichtbare Quellen für die Zeit ihrer Entstehung.37 Dennoch waren Swettenhams Ansichten eingefärbt von den unsäglichen Vorurteilen, mit denen ein eingefleischter Imperialist seines Schlages aus großer Höhe auf die „Kolonialuntertanen“ des britischen Empire hinabblickte. „Das Hauptmerkmal des Malaien, gleich welcher Schicht,“ teilt er uns beispielsweise mit, „ist ein ausgeprägter Widerwille körperlicher Arbeit gegenüber.“ Das war, zugegebenermaßen, nur eine etwas umständlichere Art, „Valiangkati!“ zu zischeln: „Faulenzer!“ Trotzdem konnte Swettenham durchaus packend schreiben, und in den Zeilen des Residenten Seiner Majestät lernte die restliche Welt das Volk der Malaien erstmals kennen: Man stelle sich vor, plötzlich in ein Land des ewigen Sommers versetzt zu sein, auf die Goldene Halbinsel zwischen Hindustan und dem fernen Cathay …, in ein Land, in dem Mutter Natur sich von ihrer besten und üppigsten Seite zeigt, wo Pflanzen und Tiere … von einem hitzigen Verlangen nach Wachstum und Fortpflanzung beseelt scheinen, als ob die Morgenröte der Schöpfung noch immer über ihnen glühte. Und der Mensch? Ja, auch er ist da. Von der Welt vergessen, im Wettlauf der Zivilisation weit zurückgefallen, ist er hier in seinen ureigenen Wäldern geblieben und an den Ufern seiner heißgeliebten Ströme und Bäche, nichts suchend und von niemandem gesucht. … [Und doch] ist dies das Land einer Rasse, die sich über ein weiteres Gebiet ausgebreitet hat als jedes andere Volk des Ostens. Malaya, du Land von Piraterie und amok, deine Geheimnisse sind gut gewahrt geblieben, aber bald … wird der unwiderstehliche Götze Fortschritt in deine innersten Dschungelfesten vordringen; er wird deine Tiere töten und deine Wälder roden, deine Bewohner „zivilisieren“ und sie in fremdartige Kleider stecken, ihnen das Brandmal einer höheren Sittlichkeit aufdrücken.38

Wie viele Menschen seiner Generation glaubte Swettenham, dass jedes Volk der Erde sich durch bestimmte, unveränderliche Eigenheiten auszeichne. In diesem Sinne zeichnete er ein Bild des „echten Malaien“, das in gleichen Teilen wohlwollend und kritisch daherkommt: 269

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Der echte Malaie ist ein kleingewachsener und stämmiger, aber durchaus stattlicher Mann mit glattem schwarzem Haar und dunkelbrauner Hautfarbe, mit einer breiten Nase, wulstig aufgeworfenen Lippen und wachen, verständigen Augen. Sein Benehmen ist ungezwungen und höflich. Nie ist er unterwürfig, sondern tritt Fremden zunächst reserviert, ja sogar misstrauisch gegenüber. … Er ist mutig und verlässlich …, neigt aber zur Ausschweifung und leiht sich Geld lieber, als dass er es zurückzahlt. Er ist ein guter Redner und spricht oft in Gleichnissen, zitiert auch Sprichwörter und alte Weisheiten. Er besitzt einen ausgeprägten Sinn für Humor und weiß einen guten Witz zu schätzen. Für seinen Nachbarn hegt er reges Interesse und neigt daher zu Klatsch und Gerede. Er ist ein Mohammedaner und ein Fatalist. … Nie trinkt er geistige Getränke und raucht nur selten Opium; aber er liebt das Glücksspiel, den Hahnenkampf und ähnliche Zeitvertreibe, [denn er ist] ein geborener Sportsmann und Spieler, der Elefanten zähmt und sich in einem Boot ganz wie zu Hause fühlt. Vor allem ist er einigermaßen konservativ …, hält seine alten Gebräuche und Traditionen in Ehren, fürchtet seine Rajahs und hat gehörigen Respekt vor der rechtmäßigen Obrigkeit. … Dabei ist er allerdings auch ziemlich faul, [lässt es] an Ordnung und Methode in jeglicher Form [mangeln] und misst Zeit und Pünktlichkeit keinerlei Bedeutung zu. Sein Haus ist unordentlich, ja schmutzig, aber er selbst badet zweimal am Tag und liebt es sehr, sich in eleganter Kleidung herauszuputzen. … Ein Malaie duldet keine Beleidigung oder Kränkung. … Über einen tatsächlichen oder auch nur eingebildeten Flecken auf seiner Ehre wird er brüten, bis ihn das Verlangen nach Rache ganz erfüllt. Wenn er den Übeltäter nicht [bestrafen] kann, so richtet sich sein Zorn gegen den ersten Besten, der ihm über den Weg läuft. [Das ist dann] ein Zustand blinder Raserei … der amok [genannt wird]. Aber auch der Stammesgeist ist stark bei ihm. Den Befehlen seines ererbten Stammeshäuptlings … wird er zwangsläufig Folge leisten; seine eigenen Verwandten jedoch verteidigt er um jeden Preis …39

Swettenhams entzückende Charakterstudie widmet sich auch den malaiischen Jungen und Mädchen, bevor ihr Verfasser dann zu einer Beschreibung der „echten Malaienfrau“ anhebt: Nach der Heirat erhält die Frau ein beträchtliches Maß an Freiheit, was sie naturgemäß zu schätzen weiß. In Perak betrachtet man einen Mann, der seine Weibspersonen einsperrt oder ihnen den Umgang mit anderen 270

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sowie die Teilnahme an den Festen und Vergnügungen der Malaien­ gemeinschaft untersagt, als einen groben und schlechten Menschen … Kennzeichen der Malaiin – vor allem der vornehmen Malaienfrau – sind gemeinhin die folgenden: eine Fähigkeit zur geistreichen Unterhaltung, Schlagfertigkeit, ein ausgeprägter Sinn für Humor und die sofortige Auffassung – will sagen: ein Verständnis für die wahre Bedeutung – all jener hintersinnigen Redeweisen, die in der Rede der Malaien kaum je fehlen … In der Regel sind sie Frauen von liebenswürdigem Charakter, durchaus eifersüchtig – manchmal nur leicht, manchmal mit Heftigkeit –, oft auch verschwendungssüchtig und mit einer stets noch zunehmenden Vorliebe für Schmuck und Geschmeide. … In jüngerer Zeit haben sie auch an Pferden, Kutschen und derlei mehr Gefallen gefunden, solange es nur nach außen Prunk und Aufwand zur Schau stellt; in ihren Häusern jedoch herrscht noch immer eine primitive Einfachheit und Unordnung, die jeden Sinn für Struktur vermissen lässt.40

Swettenhams Bestehen auf der „typisch malaiischen“ Unordentlichkeit passt nicht so ganz zu seinen sonstigen Betrachtungen über mutige Elefantenbändiger und freundliche, aber freiheitsliebende Gesellschaftsdamen. Zudem ist es, im wahrsten Sinne des Wortes, unbegründet, ja haltlos. Aus heutiger Sicht erkennen wir darin ein Zeichen jener rassistischen Denkweise, die kolonisierte Völker reflexhaft abwertet, um so im Gegenzug die Kolonialherrschaft zu rechtfertigen. Von der postkolonialen Soziologie ist ein solches Denken zu Recht abgelehnt worden, etwa von dem malaysischen Soziologen Syed Hussein Alatas (1928–2007), dessen bahnbrechende Studie The Myth of the Lazy Native („Der Mythos vom faulen Eingeborenen“, 1977) nicht zuletzt wegen ihres berechtigten Tadels an Swettenhams unberechtigtem Tadel berühmt wurde.41 Ein Element der malaiischen Kultur, das nur wenige auswärtige Besucher erleben, das von Swettenham jedoch beschrieben wird, ist das berühmt-berüchtigte Phänomen des „Amoklaufs“. Nach alter Überlieferung wird es durch die Seele eines Tigers verursacht, die unpassenderweise im Körper eines Menschen eingesperrt war und sich nun Bahn bricht. Fragt man die moderne Sozialpsychologie, könnte es sich auch um eine Nebenwirkung des strengen Selbstmordverbots im Islam handeln. (Natürlich ist das Phänomen nicht auf die Malaiische Halbinsel beschränkt. Das Konzept einer geradezu „berserkerhaften“ Raserei beispielsweise ist auch aus Nordeuropa bekannt und leider immer noch gegenwärtig; man denke 271

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nur an den schrecklichen Massenmord auf der norwegischen Insel Utøya im Sommer 2011. Und auch in den Vereinigten Staaten kommt es als Konsequenz einer unseligen Schusswaffen-„Kultur“ mit deprimierender Regelmäßigkeit zu vollkommen willkürlichen „Massenschießereien“ und „Schulmassakern“.) Kapitän James Cook beschrieb aus Polynesien ein ähnliches Phänomen, das heute als cafard bezeichnet wird. Und in Indonesien spricht man vom „dunklen Auge“. Wie das Oxford English Dictionary vermerkt, ist der Ausdruck amuck – auch amock oder amok, vom malaiischen amoq, „wild und wahllos töten“  – im Englischen erstmals 1663 belegt.42 Das Bemerkenswerte hieran ist dabei nicht so sehr, dass ein malaiisches Wort in die englische Sprache übernommen wurde, sondern dass dies bereits Mitte des 17. Jahrhunderts geschah – mehr als hundert Jahre vor der Gründung der Straits Settlements!* Einen spezifischen Vorfall in Perak beschreibt Swettenham in allen Einzelheiten: Am Abend des 11. Februar 1891, kurz vor Sonnenuntergang, kam ein Malaie namens Imam Mamat (das heißt „Mamat der Priester“) still und heimlich in das Haus seines Schwagers in Pasir Garam am Fluss Perak. Bei sich hatte er einen Speer und ein golok, das ist ein großes Buschmesser mit einer schweren, spitz zulaufenden Klinge. Der Imam ging also zu seinem Schwager, nahm seine Hand und bat ihn um Verzeihung. Dann trat er zu seiner Ehefrau, die auch anwesend war, bat sie auf ähnliche Weise um Verzeihung und stach ihr unvermittelt mit dem golok in den Bauch. Sie stürzte zu Boden und der Hausherr, der seiner Schwester zu Hilfe eilen wollte, erhielt einen tödlichen Stich ins Herz. Der Frau des Schwagers … gelang die Flucht … Nachdem er im Haus zwei weitere Speere an sich genommen hatte, nahm der Mörder nun die Verfolgung der Fliehenden und ihrer kleinen Kinder auf – und machte kurzen Prozess mit ihnen. Ein Mädchen von kaum vier Jahren und ein siebenjähriger Junge wurden getötet, während das dritte Kind – durch einen Hieb auf den Rücken schwer verletzt – wie durch ein Wunder überlebte. Ein Stoß mit dem Speer setzte dem Leben der Mutter ein Ende. All dies geschah keine hundert Meter vom Haus des Schwagers entfernt.

* Der Duden verzeichnet das Substantiv „Amok, der“ – „in einem Zustand krankhafter Verwirrung [mit einer Waffe] umherlaufen und blindwütig töten“, vom malaiischen amuk, „wütend, rasend“ – seit 1973 (Anm. d. Übers. T. G.).

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Der Imam ging nun am Ufer des Flusses entlang, wo sich ihm ein Freund namens Uda Madschid in den Weg stellte; dieser war leichtsinnig genug zu glauben, [er] könnte dem Wahnsinn des anderen Einhalt gebieten. Er grüßte den Imam mit dem gebührenden Respekt und sagte, „Du erkennst mich doch – ich will keinen Streit!“, woraufhin der Imam entgegnete: „Es stimmt, ich kenne dich – aber mein Speer kennt dich nicht!“, und ohne weiteres Zögern zweimal auf ihn einstach. Obgleich schwer verwundet, gelang es Uda Madschid, dem Imam den Speer zu entwinden, doch dieser stach noch zwei weitere Male zu, wobei er die Lunge und die Luftröhre des Unglücklichen traf, der daraufhin zu Boden stürzte. Ein Mann kam herbeigelaufen, um Uda Madschid zu helfen, also ging der Imam auf den Neuankömmling los und setzte ihm, als dieser sich zur Flucht wandte, nach. Als er jedoch sah, dass Uda Madschid tatsächlich noch einmal auf die Beine gekommen war und gerade davonwanken wollte, kam er zurück und tötete ihn mit zwei weiteren Stichen in den Rücken. … Danach wurde der Mörder dabei beobachtet, wie er am Flussufer entlangeilte, zwei Mal ins Wasser hinauswatete, aber beide Male wieder zurückkam. Dann verlor man ihn aus den Augen … Zwei Tage lang führten nicht weniger als zweihundert Bewaffnete unter dem Befehl der Dorfältesten eine ebenso rast- wie erfolglose Suche nach dem Flüchtigen durch. Dann erschien plötzlich, es war abends gegen sechs Uhr, Imam Mamat vor dem Haus eines Mannes namens Lasam, dem kaum genug Zeit blieb, dem Mörder die Tür ins Gesicht zu schlagen und fest zu verschließen. Im Haus befanden sich zu diesem Zeitpunkt drei Männer, fünf Frauen und sieben Kinder, aber nur ein einziger Speer. Lasam fragte den Imam, was er denn wolle; dieser antwortete, er wolle bitte in dem Haus übernachten. Man sagte ihm, das dürfe er, [wenn] er nur seine Waffen wegwerfe. Darauf antwortete der Imam, indem er mit einem Speer durch das Fenster nach Lasam stach, diesen jedoch verfehlte. Mit der Hilfe seines Sohnes gelang es Lasam, den Speer festzuhalten und dem Imam abzunehmen …, dabei erhielt er jedoch einen Schlag mit dem golok mitten in sein Gesicht. Im Verlauf dieses Ringens hatte der Imam sich schon halb durch das Fenster gezwängt, und so nahm Lasam seinen eigenen Speer und stach ihn dem Mörder tief in den Schenkel, woraufhin dieser zu Boden fiel. Durch den Sturz brach der hölzerne Schaft des Speeres ab; die Spitze aber blieb in der Wunde stecken. Inzwischen war es stockdunkel geworden und einer der Männer verließ das Haus durch eine Hintertür, um den Dorfvorsteher zu Hilfe zu holen. Als dieser am Ort des Geschehens eintraf, sah er im Licht der Fackel den Imam auf dem Boden liegen, seine Waffen außer Reichweite. Also stürzte 273

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der Dorfvorsteher sich beherzt auf ihn und fesselte ihn. Der Imam wurde ordnungsgemäß an die Polizei übergeben und nach Teluk Anson gebracht, wo er binnen vierundzwanzig Stunden an Blutverlust starb. … Es folgt die Aufstellung der Toten und Verwundeten: getötet Alang Rasak, Ehefrau des Imam Mamat, Alter 33 Jahre Bilal Abu, Schwager des Imam Mamat, Alter 35 Jahre Ngah Intan, Ehefrau des Bilal Abu, Alter 32 Jahre Puteh, Tochter des Bilal Abu, Alter 4 Jahre Mumum, Sohn des Bilal Abu, Alter 7 Jahre Uda Madschid, Alter 35 Jahre verwundet Kasim, Sohn des Bilal Abu, Alter 14 Jahre Teh, Tochter des Bilal Abu, Alter 6 Jahre Mat Sah, Alter 45 Jahre Lasam, Alter 45 Jahre Wie man schrecklicherweise hinzufügen muss, waren die getöteten Frauen beide hochschwanger. Imam Mamat war ein Mann von über vierzig Jahren, und nie ist mir auch nur der geringste Hinweis darauf zu Ohren gekommen, wie dieser durchaus schon etwas ältere, dem Vernehmen nach ruhige und fromme Mann … ganz plötzlich und ohne erkennbaren Grund von einem derart unmenschlichen Tötungstrieb befallen werden konnte, dass er seine nächsten Angehörigen und Freunde brutal ermordete.43

Solchen verstörenden Episoden zum Trotz: Die Leistungen von Swettenhams Zeitgenossen bei der wirtschaftlichen Organisation der Malaiischen Halbinsel waren unbestreitbar.44 Weil die britische Kolonialherrschaft indirekt blieb, waren die Verwaltungskosten niedrig, die Profite aus dem Zinnabbau und der Kautschukproduktion jedoch extrem hoch. Um Investoren anzulocken, entwickelten die Briten ein System zur Vergabe von Landnutzungsrechten, das viele Einheimische dazu brachte, ihr Land zur Verfügung zu stellen  – zum immensen Vorteil Londoner Handelsgesellschaften. Sodann machten sie sich daran, den Zustrom von abhängigen Kontraktarbeitern – anfangs meist Indern aus der südostindischen Präsidentschaft Madras, später dann von Chinesen – in geregelte Bahnen zu 274

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l­enken. Sowohl der Zinn- als auch der Kautschukpreis waren für ihre starken Schwankungen berüchtigt, und derartige ökonomischen Fluktuationen führten zu sozialen Spannungen; nicht umsonst wurde Britisch-Malaya von der Weltwirtschaftskrise der 1920er- und 1930er-Jahre besonders hart getroffen. Durch das beschriebene Vorgehen war die britische Kolonialverwaltung letztlich nicht nur für die ethnische Zusammensetzung der heutigen Bevölkerung von Malaysia verantwortlich, sondern schuf auch die Bedingungen, unter denen es schließlich zu einer Radikalisierung der Arbeiterschaft und zum Aufstieg einer kommunistischen Bewegung kommen konnte.45 *** Sowohl die Weihnachtsinsel als auch – noch weiter draußen – die Keelingoder Kokosinseln liegen im Indischen Ozean, jenseits von Sumatra. Auf der Weihnachtsinsel gab es wertvolle Guano-Vorkommen; die Kokosinseln waren der Privatbesitz der aus Schottland stammenden Familie CluniesRoss. Obwohl es auf den Inseln eine britische Militärpräsenz gab, waren sie doch, was ihre Verwaltung betraf, unabhängig – zumindest bis 1886, als sie offiziell dem Gouverneur von Singapur unterstellt und somit eine „Zweigstelle“ der Straits Settlements wurden. Vor der Wende zum 20. Jahrhundert besaß Britisch-Malaya auch keine direkte Verbindung zu der Nachbarinsel Borneo, der drittgrößten Insel der Welt. Auf Borneo gab es immerhin die Hafenstadt Labuan, die seit 1848 eine britische Kronkolonie gewesen war. Sabah wiederum gehörte zu dem britischen Protektorat Nordborneo, während Sarawak im Jahr 1841 in den Privatbesitz der Familie Brooke gelangt war  – der „weißen Rajahs“  – und somit einen Sonderweg eingeschlagen hatte.46 1906 jedoch wandten sich die unzufriedenen Kolonisten aus dem benachbarten Labuan an die britische Regierung mit der Bitte, auch sie der Verwaltung der Straits Settlements zu unterstellen. Dem Gesuch wurde stattgegeben, und die Expansionsbewegung der Straits Settlements hatte ihren endgültigen Zustand erreicht.47 In Onkel Normans Briefmarkensammlung befanden sich mehr Marken der Straits Settlements als aus Britisch-Indien: neunzehn aus der Regierungszeit Königin Victorias, acht aus der Zeit Eduards VII. und fünf aus den ersten Regierungsjahren Georgs V. – insgesamt genug, um eine ganze Seite zu füllen. Der bei Weitem seltenste Markensatz der Straits Settlements war jedoch  – wenig überraschend  – nicht darunter: neun Marken aus 275

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Indien mit der Aufschrift east india postage, die jedoch 1867 mit einer Krone und einem neuen Nennwert in Cents überdruckt worden waren.48 Bei den Poststempeln hatte mein Onkel leider nicht viel Glück gehabt. Auf vielen der Marken ist lediglich ein Teilstempel zu sehen – -inga, pen-, -pore oder -nang. Nur eine einzige trägt einen beinahe mustergültigen Vollstempel: eine rosafarbene, viktorianische Marke von 1867 zum Nennwert von 32 Cents, die 1885 mit dem Aufdruck three cents – einer Portoerhöhung  – sowie einem dicken Balken versehen wurde. Der kreisrunde Poststempel trägt die Aufschrift „malacca“, „a“ (für das Hauptpostamt) und das Datum „dec 19“. Lediglich das Jahr fehlt, aber es muss zwischen 1885 und 1892 gewesen sein, als die Kolonie eine neue Serie mit dem Konterfei der Königin herausgab. Onkel Norman wuchs, wie ich selbst auch, in einer Zeit auf, in der die Kinder noch Erdkunde büffeln mussten, und „die Straße von Malakka“ war nur einer von vielen Namen und Orten, die wir auswendig zu lernen hatten. Wie Kap Hoorn, das die Seewege in den Pazifik überragt, oder das Kap der Guten Hoffnung, an dem sich der Atlantische und der Indische Ozean verbinden, oder die Straße von Hormus zwischen dem Persischen Golf und dem Arabischen Meer stellte die Straße von Malakka ein wichtiges „Nadelöhr“ für den Welthandel dar. (Der Straße von Hormus kam freilich erst später, im Zeitalter des Erdöls, eine ähnliche Bedeutung zu.) Über die verschiedenen Völker und Kulturen in der Region brachte man uns nichts bei; aber als Kinder des britischen Weltreichs hatten wir neben der Schule – und selbst ohne Internet – auch noch weitere Informationsquellen: MALACCA, Stadt an der Westküste der Malaiischen Halbinsel, bei 2° 14’ N und 102° 12’ O, die, zusammen mit dem sie unmittelbar umgebenden Territorium, eines der Straits Settlements bildet und ihren Namen auch der angrenzenden Meerenge (Straße von M.) gegeben hat, die Sumatra von der Malaiischen Halbinsel trennt. Ihr Name, der richtiger melaku wiedergegeben werden sollte, ist der einer Urwaldfrucht; auch der kleine Fluß, an deren rechtem Ufer die einst von den Holländern errichtete Altstadt liegt, trägt diesen Namen. Dieses Kolonialviertel ist durch eine Brücke mit dem Geschäftsviertel am linken Flussufer verbunden, das … von Chinesen, Europäern und Malaien bewohnt wird. Malacca, inzwischen eine verschlafene kleine Stadt [und] der bevorzugte Ruhesitz wohlhabender Chinesen …, wird von wenigen Schiffen angelaufen und ist die unbedeutendste unter den drei britischen Kolonien an der Meerenge. … Es kann jedoch auf eine bemerkenswerte 276

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Geschichte zurückblicken. Der genaue Zeitpunkt seiner Gründung lässt sich nicht mehr feststellen, aber … der junge Römer Ludowigo Barthema soll irgendwann vor 1503 der erste Europäer gewesen sein, der M. besucht hat …49

Soweit die Encyclopædia Britannica, 11. Auflage (London, 1910–11).* In den 120 Jahren zwischen 1826 und 1946 hatten die Straits Settlements insgesamt 27 Gouverneure; vier bis fünf Jahre war jeder von ihnen durchschnittlich im Amt. In den ersten Jahren waren die Gouverneure der Britischen Ost­ indien-Kompanie unterstellt, ab 1867 dann dem britischen Kolonialministerium, dem Colonial Office. Etliche der Gouverneure waren Schotten, viele auch frühere Offiziere und Soldaten, nicht wenige die Söhne anglikanischer Geistlicher. So gut wie alle brachten in Malaya nur eine vergleichsweise kurze Zeit zwischen ihren Einsätzen an anderen, entlegenen Vorposten des britischen Empire zu. Der erste Gouverneur, Robert Fullerton (1773–1831), ein Schotte, hatte seine Laufbahn in Indien begonnen und war zuvor Gouverneur von Penang gewesen. Der letzte, Sir Shenton Thomas (1879–1962), hatte als Gouverneur des britischen Protektorats Nyasaland (heute Malawi), dann der Kronkolonie Goldküste (Teil des heutigen Ghana) amtiert, bevor er 1934 die Segel in Richtung Malaya setzte. Im Dezember 1941 landeten an der Küste von Kelantan Soldaten der Kaiserlich Japanischen Armee. Binnen Kurzem hatten sie die gesamte Malaiische Halbinsel sowie auch Singapur besetzt. Während der nun folgenden fünf Jahre unter japanischer Besatzung wurde die chinesische Bevölkerung der Halbinsel brutal unterdrückt, während man den Malaien zu verstehen gab, dass sie nun aus der britischen Knechtschaft befreit seien. Das malaiische Nationalgefühl erfuhr eine kräftige Stärkung, und gegen Ende des Zweiten Weltkriegs hörte man bereits zahlreiche Variationen des Slogans, Malaya sei „weder britisch noch japanisch!“ Doch dann brach 1945 das „Kaiserreich Großjapan“ in sich zusammen.50 * In der 5. Auflage von Meyers Konversations-Lexikon (Leipzig 1893–97) heißt es unter dem­ selben Stichwort: „Malakka, zu den Straits Settlements (s.  d.) gehörige engl. Kolonie an der Westküste der Halbinsel gleichen Namens …, 1839  qkm … groß mit … 92.170  Einw. (¾ Malaien, dann Chinesen, Indier, Engländer etc.). Die Berge enthalten Zinn und etwas Gold; Reis, Pfeffer, Sago, Muskatnüsse sind die vornehmsten Bodenprodukte. Die Hauptstadt M. an der Mündung des gleichnamigen Flusses … hat 20.000 Einw. und besteht aus der alten, von den Holländern angelegten europäischen und der von Malaien und Chinesen bewohnten Stadt.“ (Anm. d. Übers. T. G.).

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Im September 1945 legte die Regierung Seiner Majestät erste Pläne für eine „Malaiische Union“ vor, die im April des folgenden Jahres gegründet werden sollte. Das war nur ein Teil der britischen Strategie zur Neuordnung des wiedererlangten Kolonialbesitzes in Südostasien. Durch ihre Trennung von Singapur und Nordborneo sollte die Malaiische Union ein modernes, effizientes und vor allem selbstverwaltetes Mitglied des britischen Commonwealth werden. Indem jedoch die Sultane in den vorzeitigen Ruhestand geschickt wurden und noch dazu ethnische Chinesen und Inder gleiche Bürgerrechte erhielten, verscherzten die Planer aus dem Kolonialministerium es sich mit der malaiischen Bevölkerungsmehrheit. Es kam zu wütenden Protesten, und die von der britischen Regierung beauftragten Experten, die sich plötzlich mit dem Widerstand von Kommunisten und Nationalisten zugleich konfrontiert sahen, mussten sich wohl oder übel noch einmal ans Reißbrett setzen. Den allgegenwärtigen, radikalen Bewusstseinswandel, der sich auch aus den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs speiste, hatten sie sträflich unterschätzt.51 Das politische Klima im Malaya jener Jahre war ebenso schwer durchschaubar wie aufgeheizt. Die malaiisch-nationalistische UMNO-Partei (United Malays National Organisation), die mit solchen Parolen wie „Briten raus!“ oder eben „Ketuanan Melayu!“ durch die Straßen marschierte, tat alles, um sich gegen eine Reihe von anderen Gruppierungen durchzusetzen: gegen die Traditionalisten (die eine Rückkehr zu den Strukturen und Normen der Vorkriegszeit befürworteten), gegen die Kommunisten (die starke Unterstützung aus China erhielten), nicht zuletzt auch gegen eine pan-malaiische Bewegung, die die Vereinigung von Malaya und Indonesien propagierte. Der Ausgang dieses Wettstreits war lange Zeit nicht abzusehen. Nach ihrer offiziellen Errichtung am 1. April 1946 bestand die Malaiische Union gerade einmal zwanzig Monate lang. Sie bestand aus den vormaligen „föderierten“ und den „nichtföderierten“ Staaten; die Hauptstadt sollte Kuala Lumpur sein. Unter den vierzig einflussreichen Kolonialbeamten, die sich gegen die Gründung dieses neuen Staates ausgesprochen hatten, war auch Frank Swettenham. Auch viele Malaien waren dagegen, und überall sah man weiße Armbinden als Sympathiebekundung für die „gedemütigten“ Sultane. Am 31. Dezember 1947 wurde die Malaiische Union, die als aussichtsloses Vorhaben begonnen hatte, still und heimlich beerdigt. Als Nächstes folgte ihr die „Föderation Malaya“ (1948–1967), deren Errichtung anlässlich einer britisch-malaiischen Konferenz zur Zeit der unglückseligen Union beschlossen worden war. Das Territorium der neuen 278

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Föderation umfasste nun auch Sabah und Sarawak (beide auf Borneo), nicht jedoch Singapur; und für Kuala Lumpur wurde – nach dem Vorbild des australischen Hauptstadtterritoriums rund um Canberra – ein eigenes „Bundesterritorium“ errichtet. Das Regierungssystem der Föderation stellte einen Kompromiss zwischen dem britischen Modell und jenem der Sultane dar. Einem britischen Hochkommissar standen ein Exekutivrat und ein Legislativrat zur Seite, die beide auf der föderalen Ebene angesiedelt waren. Die Sultane jedoch erhielten ihre frühere politische Verantwortung für das Innere der einzelnen Bundesstaaten zurück. Mit Blick auf die Staatsbürgerschaft der neu geschaffenen Föderation wurden strenge Kriterien vereinbart. Über mehr als zehn Jahre hinweg – mehr als zwei Drittel ihrer gesamten Existenz  – wurde die Föderation von dem sogenannten „Notstand“ erschüttert. Bei diesem Malayan Emergency handelte es sich tatsächlich um einen ausgedehnten Guerillakrieg zwischen der britischen Armee und bewaffneten kommunistischen Aufständischen. Beim Kampf gegen die Japaner während des Zweiten Weltkriegs hatten kommunistische Partisanen sich besonders hervorgetan; die Rückkehr der Briten schien ihnen ein Rückschritt auf dem Weg zu einer klassenlosen Gesellschaft. Starken Auftrieb erhielten sie nach dem Sieg der chinesischen Kommunisten unter Mao Tse-tung im Jahr 1949. Da sie den dichten Dschungel als Rückzugsgebiet nutzten, war ihnen – aus britischer Sicht – nur mit äußerster politischer wie militärischer Mühe beizukommen. Der letztendliche Erfolg der britischen Strategie galt später als vorbildlich für diese Art der asymmetrischen Kriegführung.52 Als „Notstand“ (Emergency) wurde der Konflikt hauptsächlich deshalb bezeichnet, um die Versicherungsgesellschaften milde zu stimmen, die für Kriegsschäden nämlich nicht aufgekommen wären. Auf die Ermordung von Beamten, Plantagen- und Minenbesitzern durch die Malaiische Volksbefreiungsarmee (Malaya People’s Liberation Army, MPLA) antworteten die Briten mit Flächenbombardierungen, Entlaubungskampagnen  – hier kam erstmals das später im Vietnamkrieg berüchtigte Agent Orange zum Einsatz – und Folter sowie dem Niederbrennen ganzer Dörfer, deren Bevölkerung vertrieben wurde, aber paradoxerweise eben auch mit unermüdlichen Bestrebungen, die Loyalität der Malaien zu stärken. Federführend für das britische Vorgehen war der Feldmarschall Sir Gerald Templer (1898– 1979), der „beste General“ des Empire und Urheber (oder zumindest ein früher Popularisator) der Phrase, man müsse die hearts and minds, die „Herzen und Köpfe“ der örtlichen Bevölkerung gewinnen.53 279

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In dieselbe Zeit fällt auch der Aufstieg des führenden politischen Kopfes der Föderation Malaya, Tunku Abdul Rahman (1903–1990), auch bekannt als Sir Tunku Abdul Rahman Putra Al-Hadsch ibni Almerhum Sultan Abdul Hamid Halim Schah. Geboren wurde „der Tunku“ – ein malaiischer Fürstentitel  – als Sohn des 24.  Sultans von Kedah; nach einem Jurastudium in Cambridge war er noch vor dem Zweiten Weltkrieg als Beamter in die Verwaltung der Straits Settlements eingetreten. Als er 1939 aus England nach Malaya zurückkehrte, übernahm er zunächst eine Stelle in einem lokalen Verwaltungsposten, den er auch unter der japanischen Besatzung weiter leitete. Nach Kriegsende jedoch warf er sich in die nationale Politik, wo er sich für eine malaiisch-muslimische Identität genauso einsetzte wie für einen säkularen Staatsbegriff. Ab 1951 war er Vorsitzender der United Malays National Organisation (UMNO), späterhin die dominierende Partei des unabhängigen Malaysia. Als Koordinator der sogenannten „Allianzpartei“ – eigentlich eine Koalition der UMNO mit Parteien der chinesischen und indischen Minderheiten – war Tunku Abdul Rahman zudem für gleich mehrere Wahlsiege in Folge verantwortlich. Als Ministerpräsident der Föderation Malaya in den Jahren 1955 bis 1957 führte er das Land in Richtung Unabhängigkeit – und es hätte für diese Aufgabe wohl keinen besseren Kandidaten geben können. Vom Volk verehrt, wurde ihm später der Beiname „Vater der Unabhängigkeit“ zuteil.54 Unglücklicherweise wurde die Entwicklung der Föderation von Anfang an durch diverse tief sitzende Probleme gehemmt, die ethnischer, regionaler und internationaler Natur waren. Die „ethnische Frage“ eines Interessenausgleichs zwischen Malaien und Nicht-Malaien wurde durch Konflikte zwischen Militanten und Moderaten innerhalb des malaiischen Lagers verschärft, aber auch durch die anhaltende Unsicherheit der Minderheiten und das Eintreten der britischen Regierung für die bürgerliche Gleichberechtigung aller Ethnien. Nordborneo war 1945 mit Singapur zusammengeschlossen worden, aber auch diese Lösung erwies sich als instabil: Manche der dortigen Interessengruppen plädierten für eine Vereinigung mit Indonesien, andere strebten eine Annäherung an die Föderation Malaya an. Singapur war in der Krise und hielt verzweifelt Ausschau nach einer neuen Lösung. Indonesien hatte 1949 die vollständige Unabhängigkeit von den Niederlanden erlangt und sah sich selbst als die wichtigste antikoloniale Kraft in der Region. Als solche lehnte es eine Wiederherstellung der britischen Kolonialherrschaft auf der Malaiischen Halbinsel grundsätzlich ab; auf die 280

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Föderation wie auch auf Singapur blickten die Indonesier daher voller Argwohn. Aufgrund des indonesischen Territoriums im Süden Borneos, Kalimantan, war es ihnen ein Leichtes, sich auch in die Angelegenheiten Nordborneos einzumischen. Und doch gelang es den Anführern der maßgeblichen ethnischen Gruppen auf der Malaiischen Halbinsel, in den 1950er-Jahren einen politischen Konsens zu schmieden, der belastbar genug war, um radikale Veränderungen anzustreben. Das politische Vehikel für diese Ambitionen war ein Wahlbündnis, das als „Allianzpartei“ bekannt wurde. Neben Tunku Abdul Rahmans UNMO beteiligten sich daran die chinesische MCA (Malaysian Chinese Association) und der indische MIC (Malaysian Indian Congress). Gemeinsam mit den Briten schufen diese Parteien eine neue Verfassungsordnung, in der neben einer Wahlmonarchie auch gleiche Bürgerrechte für alle vorgesehen waren, dazu Malaiisch als Amtssprache und ein parlamentarisches System, das  – mitsamt seiner Regierung  – auf dem Verhältniswahlrecht basieren sollte. Als diese Lösung gefunden war, gaben die Briten ihren Rückzug von der Malaiischen Halbinsel bekannt. Am 31. August 1957 erklärte der Tunku die Unabhängigkeit der Föderation Malaya und übernahm selbst das Amt des Premierministers. Einer der letzten britischen Kolonialbeamten, die den Weg Malaysias in die Unabhängigkeit aus nächster Nähe miterlebten – und zugleich ein Mann, mit dessen Auftauchen in diesem Zusammenhang man vielleicht nicht eben gerechnet hätte  –, war der Schriftsteller und Komponist Anthony Burgess (1917–1993).* Von 1954 bis 1962 war er Lehrer und Fachleiter für Englisch am Malay College Kuala Kangsar, einem renommierten Internat im Bundesstaat Perak; später war er in ähnlicher Funktion in Brunei tätig. Burgess hat einmal gesagt, dass er lieber als ein „Musiker, der Romane schreibt“ in Erinnerung bleiben wolle denn als „ein Romancier, der nebenher auch noch komponiert“. Nach eigener Aussage hat er sogar eine Sinfoni Melayu geschrieben, in der sich die musikalischen Traditionen von West und Ost vermischten (die Partitur ist leider nicht erhalten). Zudem eignete sich Burgess hervorragende Kenntnisse der malaiischen Sprache an, einschließlich der traditionellen, auf dem arabischen Alphabet beruhenden * Während seines Studiums an der Universität Manchester war Burgess (wie ich selbst später in Oxford) Student des Historikers A.  J.  P.  Taylor. Unter einen von Burgess’ Essays soll ­Taylor angeblich geschrieben haben: „Viele kluge Ideen, aber leider nicht genug, um die Wissens­lücken zu verdecken.“

281

5. Melayu

Jawi-Schrift, in der das Malaiische früher einmal geschrieben wurde. Und nicht zuletzt schrieb er in Malaya seinen ersten Roman, Time for a Tiger (1956; dt. Jetzt ein Tiger, 2018). Einer seiner Biografen berichtet von einem Vorfall in einem Restaurant, bei dem Burgess auf Malaiisch eine Kellnerin herunterputzte, die aber offenkundig kein Wort von dem verstand, was er ihr wütend entgegenschleuderte. Seine britischen Begleiter interpretierten dies feixend als Beweis dafür, dass Burgess wohl doch nicht so gut Malaiisch sprach, wie er immer behauptete. Darauf erklärte Burgess, dass die Kellnerin Chinesin sei – und er habe ihr gerade in deutlichen Worten zu verstehen gegeben, dass, wenn ein Bursche aus Manchester es hinbekäme, Malaiisch zu lernen, sie das doch wohl auch könne! Burgess und seine Frau waren bekannt dafür, sich nicht um die Konventionen der arroganten britischen Kolonialelite zu kümmern. „Der Kolonialismus“, schrieb er in einem seiner späteren Romane, „[ist] die unter Zwang ausgebreitete Herrschaft der Vernunft. Doch wer soll sie unter den Kolonisatoren verbreiten?“55 Nach acht Jahren Tätigkeit in Südostasien wurde Burgess aus gesundheitlichen Gründen zurück nach Großbritannien beordert, wo er mit der Arbeit an seinem wohl berühmtesten Roman A Clockwork Orange (Uhrwerk Orange, 1962) begann. An seinem Mitgefühl für die Malaien hat dieser Abschied jedoch nichts geändert. „Sir“, sagt ein Malaie in Time for a Tiger, „wir müssen nur deshalb Schuhe tragen, weil die Briten Straßen gebaut haben, die unseren Füßen wehtun.“56 Geschickt schöpft Burgess das Potenzial des spätkolonialen Malaya für bitterböse Komik aus. Seine Figuren, vor allem die Briten unter ihnen, sind gefangen in einem zerfallenden System, das keiner mehr ernst nimmt. Der zweite Teil seiner „Malayischen Trilogie“, The Enemy in the Blanket („Der Feind in der Decke“), beginnt auf dem Rollfeld des Flughafens von Dahaga. Aber noch vor das erste Kapitel hat der Autor einen Hinweis gesetzt: „Der malaiische Bundesstaat Dahaga, seine Städte, Dörfer und Menschen, existiert nicht wirklich.“ Dann heißt es: Der chinesische Flugkapitän und sein Kopilot, ein Malaie, arbeiteten stumpf die Checkliste ab. „Gurte, Rauchverbot?“ „Sudah.“ (Erledigt.) „Manuelle Hydraulik?“ „Tutup.“ (Ist zu.) „Vergasertemperatur?“ „Sejuk.“ (Kalt.) 282

Amok oder amuk an der „schlammigen Mündung“

Es war das chinesische Neujahrsfest, der erste Tag im Jahr des Affen. Die Passagiere waren durch die schon am Morgen heiße Stadt zum Flughafen gefahren, wobei sie der Löwentanz, der durch die Straßen wogte, immer wieder ins Schritttempo oder sogar zum Anhalten gezwungen hatte. Schmalhüftige junge Leute aus dem Chinesenviertel hatten Gongs geschlagen, wobei sie mit ihren ausladenden Hüten wie Mexikaner aussahen; und der flinke, unter dem Löwenkopf schwitzende Tänzer war gesprungen und gerannt, hatte sich verbeugt und vorgewagt und wieder zurückgezogen … In das offene Maul des Löwen hatten die Leute hong bao gestopft, kleine rote Päckchen mit Geld, das brachte Glück … In Victor Crabbes Mund schien ebenfalls etwas hineingestopft wie ein solches Neujahrspäckchen, und das war eine Zunge, die sich eher bao als hong anfühlte. In seinem Kopf drehte sich ein polternder Löwentanz zu lauten Gongschlägen. Gestern Abend war er mit chinesischer Neujahrsgastlichkeit beinahe erstickt worden: Schwalbennester- und Haifischflossensuppe, Spanferkel und Salzente, Bambus- und auch Bohnensprossen, riesige Fische mit Glupschaugen und Garnelen süß-sauer, gefüllter Kürbis, knusprig gebratener Reis und Hühnerflügel. Und Whisky. Ein Glas Whisky nach dem anderen, pur, ohne Eis. Gōngxǐ fācái. „Prosit Neujahr!“, hieß das in etwa. Man musste sein Gesicht wahren, man konnte nicht einfach sagen: „Danke, für mich keinen Whisky mehr.“ … Mit geschlossenen Augen ließ er sich tief in seinen Sitz rutschen, womit er zugleich Augen und Ohren vor dem leisen Schluchzen seiner Frau verschloss. Fenella Crabbe schniefte in ihr Taschentuch, was ihrem Sitznachbarn von der anderen Seite des Ganges, einem Sikh, ein teilnahmsvolles Lächeln entlockte. Natürlich fiel es schwer, alte Freunde zurückzulassen, ein liebgewonnenes Haus, eine vertraute Stadt. Aber Dienst war Dienst. Wohin man Briten schickte, da gingen Briten hin. So hatten sie ein ganzes Weltreich aufgebaut, ein Weltreich, das ihnen nun um die Ohren flog …57

Diese fast schon prophetisch zu nennenden Worte schrieb Burgess, als die Briten sich gerade anschickten, Malaya für immer zu verlassen. *** Die malaiische Führungsspitze hingegen blickte erwartungsvoll in die Zukunft. Die wirtschaftliche Entwicklung der Föderation wurde über die Dauer von zwei Fünfjahresplänen (1956–1960 und 1961–1965) erfolgreich vorangetrieben: Die Preise für Kautschuk, Zinn, Palmöl und Eisenerz 283

5. Melayu

­atten sich allesamt erholt, denn diese Produkte waren nun gefragte h Exportgüter, die regelmäßig einen Haushaltsüberschuss erwirtschafteten. Dem reibungslosen Aufstieg der frühen 1960er-Jahre kam jedoch die internationale Politik in die Quere. Als der Tunku die Möglichkeit einer Vereinigung der Föderation Malaya mit Nordborneo und Singapur in den Raum stellte, verurteilte der indonesische Präsident Sukarno das Vorhaben als eine „neokoloniale Verschwörung“. Auch die Regierung der Philippinen erhob Einspruch. Indonesische Provokateure stifteten Aufruhr im Bundesstaat Sarawak, wo ein zweiter Notstand, der nun Konfrontasi genannt wurde, nur mit Mühe eingedämmt werden konnte.58 Von allen Seiten bedrängt, beschloss der Tunku also, die weitere Vereinigung der Föderation durch die Schaffung eines neuen, vergrößerten Staatswesens namens „Malaysia“ voranzutreiben. Nachdem eine Unzahl von Kommissionen und Untersuchungsausschüssen ihre Arbeit getan sowie etliche Volksabstimmungen stattgefunden hatten, konnte der Plan schließlich am 16. September 1963 Wirklichkeit werden: Malaysia war geboren. Schon in den Jahren 1963–1965 folgte jedoch auf die hastige Zwangsheirat von Singapur und Malaysia beinahe ebenso rasch eine hässliche Scheidung, die von erheblichen politischen Turbulenzen begleitet wurde. Obwohl 70  Prozent der Singapurer für den Zusammenschluss gestimmt hatten, machte sich nach zwei Jahren des Zusammenlebens auf allen Seiten Ernüchterung breit. Wieder kam es zu kommunistisch angezettelten Unruhen, diesmal auf der Insel Singapur. Auch neue Sprachgesetze sorgten für Unmut, 1964 brachen darüber Rassenunruhen aus. Gesetzesvorschläge, die von singapurischen Abgeordneten in das Parlament in Kuala Lumpur eingebracht wurden, wurden systematisch torpediert, und im Sommer 1965 stimmte das Parlament mit 134 zu null Stimmen für den Ausschluss Singapurs aus dem jungen malaysischen Staat. Mit großer Erleichterung wurde die Republik Singapur ein unabhängiger Staat im Rahmen des Commonwealth of Nations (siehe Kapitel 6). Das heutige Malaysia verdankt seine endgültige Gestalt also dem Ausschluss Singapurs. Die drei Provinzen im Norden Borneos, die durch die Union von 1963 zu Malaysia gekommen waren, sowie die Verfassung von 1957 blieben jedoch erhalten. Auch normalisierten sich die Beziehungen Malaysias zu Singapur schon bald wieder. Beide sahen ein, dass sie von einem guten Verhältnis zu ihren Nachbarn nur profitieren konnten, solange die Unabhängigkeit beider Seiten gewahrt blieb. Zu dieser Annäherung trug freilich auch der indonesische Bürgerkrieg bei, der in den späten 1960er-Jahren ausbrach.59 284

Amok oder amuk an der „schlammigen Mündung“

Seither hat es in der malaysischen Politik keine größeren Umbrüche mehr gegeben. Bis dato 16 Wahlkönige haben das Land regiert, die natürlich alle aus demselben Kreis von erblichen Sultanen stammten, aus dem der Yang di-Pertuan Agong erwählt wird: Regierungszeit

Herrscher

Bundesstaat / Sultanat

1957–1960

Tunku Abdul Rahman

Negri Sembilan

1960

Sultan Hisamuddin Alam Schah

Selangor

1960–1965

Tunku Syed Putra

Perlis

1965–1970

Sultan Ismail Nasiruddin Schah

Terengganu

1970–1975

Tunku Abdul Halim

Kedah

1975–1979

Sultan Yahya Petra

Kelantan

1979–1984

Sultan Ahmad Schah Al-Mustain

Pahang Billah

1984–1989

Sultan Iskandar

Johor

1989–1994

Sultan Azlan Muhibuddin Schah

Perak

1994–1999

Tunku Jaafa

Negri Sembilan

1999–2001

Sultan Salahuddin Abdul Aziz

Selangor

2001–2006

Tunku Syed Sirajuddin

Perlis

2006–2011

Tunku Mizan Zainal Abidin

Terengganu

2011–2016

Tunku Abdul Halim

Kedah

2016–2019

Muhammad V.

Kelantan

2019–

Sultan Abdullah Schah

Pahang

Diese gewählten Monarchen kultivieren ein modernes und einheitsstiftendes Image, das scharf mit dem unnahbaren Auftreten der Erbmonarchie im Nachbarland Thailand kontrastiert. Dort ist die Tradition freilich auch sehr viel älter. Unter den 16  Wahlkönigen Malaysias haben insgesamt sieben Premierminister – stets Vertreter der von Malaien dominierten UMNO-Allianz  – die Regierungsgeschäfte geführt. Das Staatsoberhaupt ernennt den Premierminister, orientiert sich dabei aber an den Wünschen der parlamentarischen Mehrheit. Auch die Ernennung der Minister überwacht der Monarch. Nachdem „der Tunku“ Abdul Rahman das Ende seiner Regentschaft als erster Wahlkönig von Malaysia erreicht hatte, verlängerte er sein politisches Engagement um eine dritte, ausgesprochen lange Amtszeit als Premierminister, die von 1960 bis 1970 dauerte und auch den Übergang von der Föderation 285

5. Melayu

Malaya zur föderal-konstitutionellen Wahlmonarchie Malaysia umfasste. Das einzige Problem, das vor dem Abzug der Briten nicht mehr hatte gelöst werden können – die heikle Frage nach der Unterrichtssprache an den staatlichen Schulen nämlich –, blieb weiterhin kontrovers. Zur einzigen wirklich traumatischen Episode in diesem Streit kam es jedoch im Mai 1969, als bei Rassenunruhen in Kuala Lumpur etliche Tote zu beklagen waren. Der Funke, der die Ausschreitungen in Gang brachte, war ein umstrittener Wahlausgang im Bundesstaat Selangor. Sowohl die UMNO als auch die Opposition veranstalteten Siegesparaden, was neben bewaffneten Zusammenstößen und Brandstiftungen leider auch zu regelrechten Massakern führte. Offiziellen Berichten zufolge gab es insgesamt 198 Tote, aber andere Quellen sprechen von bis zu 600, meist ethnische Chinesen. Binnen weniger Tage hatten Armee und Polizei die öffentliche Ordnung wiederher­ gestellt, aber dennoch wurde ein nationaler Notstand ausgerufen und das Parlament für 18 Monate suspendiert. Während dieser Zeit wurde Malaysia von einem selbst ernannten „Notstandsrat“ oder „Nationalem Operationsrat“ regiert, der 1970 ein Dokument veröffentlichte, das inzwischen unter dem Titel Rukun negara bekannt ist, das heißt in etwa „Erklärung zu den nationalen Prinzipien“. Seitdem ist die regelmäßige Verlesung dieses Textes in allen Schulen und öffentlichen Versammlungen verpflichtend. Die besagten „Nationalprinzipien“ sind die folgenden: der „Glaube an Gott“, die „Loyalität zu König und Vaterland“, die „Souveränität der Verfassung“, die „Herrschaft des Rechts“ sowie „Höflichkeit und Sittlichkeit“.60 Nach dem altersbedingten Rückzug des Tunku haben sich seine Nachfolger bis heute an eine Mischung aus Dialog und Diktat gehalten: Sie geben sich gesprächsbereit, drohen aber bedarfsweise mit der eisernen Faust. Nach außen zeigt die malaysische Regierung ein mildes, maßvolles Gesicht, aber ihre Menschenbilanz lässt doch sehr zu wünschen übrig. Den vier Regierungschefs, die Malaysia im vergangenen halben Jahrhundert geprägt haben, waren Kontinuität und Stabilität – an denen es in der ersten Nachkriegszeit gemangelt hatte – im Zweifelsfall wichtiger als alles andere: Tunku Abdul Rahman Abdul Razak Hussein Hussein Onn Tun Mahathir bin Mohamad Abdullah Ahmad Badawi Najib Abdul Razak Tun Mahathir bin Mohamad (zweite Amtszeit) 286

1957–1970 1970–1976 1976–1981 1981–2003 2003–2009 2009–2018 2018–

Amok oder amuk an der „schlammigen Mündung“

Trotz dieser Vorliebe für den Ausgleich ist der nationalistische Ton in der malaysischen Politik nach 1970 beständig lauter geworden. Das nativistische Schlagwort Bumiputra – „Sohn des Landes“ –, das der Tunku noch abgelehnt hatte, wurde hoffähig, und unter dem Banner einer „Neuen Ökonomischen Politik“ verband sich wirtschaftliche Modernisierung mit der positiven Diskriminierung „einheimischer“ Ethnien. Die staatliche Melde­ behörde National Registration Department bestand darauf, dass die ethnische Zugehörigkeit aller malaysischen Bürger auf deren Ausweis vermerkt sein müsse, wodurch „Nicht-Bumis“  – also „Fremde“, „Nicht-Malaien“  – lebenslangen Nachteilen ausgesetzt wurden. Unter dem inzwischen 94-jährigen Rekord-Premierminister Mahathir bin Mohamad hat der malaiische Nationalismus eine deutliche islamische Note erhalten. Auch sind die Beziehungen Malaysias zu seinen westlichen Verbündeten merklich abgekühlt, und der Anführer der Opposition, Anwar Ibrahim, wurde unter dem fadenscheinigen Vorwurf der „Sodomie“ vor Gericht gestellt. Der zwischenzeitliche Premierminister Najib Razak, ein Sohn des zweiten Amtsinhabers und Neffe des dritten, hat den Vorwurf der Vetternwirtschaft innerhalb der Regierungspartei auf sich gezogen. Auch ist seine Regierung immer wieder von Korruptionsskandalen erschüttert worden.61 Das Auftreten Malaysias auf der Bühne der internationalen Politik muss man heute wohl als „gut bis mittelprächtig“ bewerten. Einst ein Stützpfeiler des antikommunistischen Blocks, hat Malaysia inzwischen einiges von seinem Glanz verloren  – zumindest in den Augen Washingtons. Das liegt nicht zuletzt an der malaysischen Weigerung, den Staat Israel anzuerkennen. Mit ihren Nachbarn haben die Malaysier im Großen und Ganzen Frieden gehalten; zu kleinlichen Gebietsstreitigkeiten mit Thailand, Indonesien und Singapur kommt es aber immer wieder. Malaysia beherbergt das regionale Antiterrorismus-Trainingszentrum SEARCCT (Southeast Asia Regional Centre for Counter-Terrorism),62 musste jedoch durch die Enthüllungen des Whistleblowers Edward Snowden erfahren, dass seine eigene politische Führung von den Geheimdiensten Australiens und der Vereinigten Staaten überwacht wird.63 Premierminister Najib Razak amtierte als Generalsekretär der Vereinigung Südostasiatischer Staaten (ASEAN) für das Jahr 2015.64 Der Name Najib Razak kommt mir bekannt vor. Das gibt’s doch nicht! Er war der Mann auf der Titelseite der Zeitung, die ich auf der Busfahrt vom Flughafen in die Stadt zu entziffern versucht habe. Die anzügliche Geschichte, die dort über ihn verbreitet wurde, kann man fast schon „klassisch“ nennen: „Wenn der Minister mit der Schauspielerin …“65 Immerhin 287

5. Melayu

ein Zeichen dafür, dass die malaysische Presse nicht ganz und gar geknebelt ist. Und „Sri Wani  (37)“, die Dame mit dem knallrosa Kopftuch, ist nicht einfach irgendeine Schauspielerin, wie es scheint. Meine Güte! Sie war in der Zeitung, weil ihr Mann gerade ihretwegen ein Scharia-Scheidungsgericht angerufen hatte. Der Grund? Er verdächtige sie, in Wirklichkeit ein Mann zu sein. Frühstücksradio ist wohl überall auf der Welt beliebt. In Großbritannien gibt es die allmorgendliche Sendung „Today“ auf BBC Radio  4, in Polen gibt es Radio TOK FM und in Malaysia hört man „The Morning Run“ auf BFM 89.9. Der Sender bezeichnet sich selbst als „unabhängig“, „unzensiert“ und „auf Business-News und aktuelle Nachrichten fokussiert“. Seit 2008 ist er jetzt auf Sendung, sein Gründer, ein Malaysier, hat früher einmal bei Capital Radio in London gearbeitet. Karolina, die den Berufsverkehr ebenso meiden möchte wie orientierungslose Taxifahrer, hat auf einen frühen Aufbruch gedrängt, also setzen wir uns in Bewegung, sobald der Muezzin verstummt ist, und erreichen die Trabantenstadt Petaling Jaya mit einem üppigen Zeitpolster. Mein Interview ist für 7:20  Uhr angesetzt. Der Sendeleiter bietet uns Kaffee an. Er hatte einen Artikel gesehen, den ich für die Financial Times schreiben durfte, und hat auch meine Verschwundenen Reiche gelesen – und so bin ich jetzt hier gelandet. Auch andere Radio-Mitarbeiter gesellen sich zu unserer Plauderrunde vor dem Interview. Mit Eifer erzählen sie uns, dass der Sender BFM zwar unabhängig ist, aber doch strengen staatlichen Regeln gehorchen muss und „vom Ministerium“ genauestens überwacht wird. Von Zensur ist zwar nicht direkt die Rede, aber doch davon, dass sie regelmäßig ermahnt werden, sich ja vorzusehen. Unser 25-minütiges Gespräch verläuft ohne besondere Vorkommnisse. Wieder befragt man mich zur Geschichte als Wegweiserin in die Zukunft sowie zu den weiteren Aussichten für das Fortbestehen (oder auch nicht …) der Europäischen Union. Mein Interviewer, ein Finanzjournalist namens Khoo Hsu Chuang, scheint von mir eine düstere Prophezeiung über die Zukunft Chinas hören zu wollen.66 An meinem letzten Abend bin ich zu einem Essen mit einigen Studenten eingeladen, die ihre Studien gern in Großbritannien fortsetzen würden. Auf die Frage, wo ich denn gern essen gehen würde, antworte ich nur: „Fusion.“ Wenn die Fusionsküche in irgendeinem Land florieren sollte, dann hier. Aber viele der chinesischen und indischen Restaurants sehen 288

Amok oder amuk an der „schlammigen Mündung“

genauso aus wie in London. Nonya-Baba, sagt man mir, sei die Lösung: ein Kochstil, der von den „alten Chinesen“ entwickelt wurde – also von denjenigen Einwanderern aus China, die ihre südchinesische Heimat schon vor vielen Generationen verlassen haben. Ihre Küche verbindet, wie es sich für Malaysia gehört, kantonesische Elemente mit malaiischen und indischen Einflüssen. Wir beginnen mit laksa, dickflüssiger Nudelsuppe in einer großen Schüssel. Die Suppe enthält Kokosmilch und als Beilage gibt es sauren Fisch; das alles wäre schon eine Mahlzeit für sich. Alle essen mit Stäbchen. Als Nächstes wird eine Auswahl kleiner indischer Fladenbrote serviert, die roti heißen und in einer Vielzahl von Größen und Formen zubereitet werden; dazu gibt es eine ebenso vielfältige Auswahl verschiedener Soßen. Man wählt erst solch einen Fladen und dann eine Soße. Am besten hat mir roti canai geschmeckt, ein hauchdünner Brotfladen, der in Linsencurry getunkt wird und in Malaysia meist als Frühstück dient. Dieses ganze üppige Mahl spülen wir mit einem ungewöhnlich schaumigen Tee hinunter, der sehr viel Kondensmilch enthält und teh tarik genannt wird. Irgendwo im Hintergrund rülpst jemand. In Malaysia gelten Schlürfen und Rülpsen als Ausdruck höchster Wertschätzung. Die Gäste essen den Reis mit den Fingern, und ständig eilen Kellner mit kleinen Handtüchern und Warmwasser-Schälchen durch die Gegend. Gegen Ende der Mahlzeit gesellt sich ein Professor von einer der privaten Universitäten Kuala Lumpurs zu uns. Er ist Chinese und mit einem sonnigen Gemüt gesegnet. Er hat die Welt gesehen, auch in Europa gearbeitet, und ist Innovationsexperte – in Theorie und Praxis. „Malaysia wird es weiter gutgehen“, erklärt er, „alles bestens.“ Wir hören von Cyberjaya oder Cyber City, dem „Silicon Valley des Fernen Ostens“, das auf Betreiben der malaysischen Regierung in den 1990erJahren in die Welt gesetzt wurde. Das Ziel war, die malaysische Wirtschaft zu diversifizieren und das ganze Land bis 2020 in die Reihen der „voll entwickelten Länder“ aufsteigen zu lassen. Mehrere führende High-Tech-Firmen, darunter Dell, IBM und Hewlett-Packard, ließen sich zu Investments bewegen; auch eine neue Multimedia-Universität wurde gegründet. Diese Strategie werde, so hoffte man, eine Kohorte einheimischer TechnologieExperten heranzüchten, die dann wiederum innovative  – und vor allem einheimische – High-Tech-Unternehmen gründen würden. Aus unerfindlichen Gründen hat diese letzte Stufe des Vorhabens bislang noch nicht die erhofften Resultate gezeitigt, obwohl Malaysia inzwischen seine eigene Raumfahrtbehörde hat – sie heißt Angkasa – und auch über einen florierenden Militärtechniksektor verfügt.67 289

5. Melayu

Freescale Malaysia war – als Tochter des inzwischen durch den niederländischen Halbleiterhersteller NXP aufgekauften Freescale-Konzerns  – eines der Vorzeigeprojekte unter den westlichen High-Tech-Investitionen im Land. Das Hauptquartier von NXP Malaysia befindet sich in Petaling Jaya, ganz in der Nähe des Radiosenders BFM. Vor Kurzem wurde das 40-jährige Bestehen der malaysischen Zweigfirma gefeiert. Der Website zufolge handelt es sich um „eine moderne Halbleiter-Produktionsstätte zur Herstellung und Prüfung integrierter Schaltkreise (IC’s)“, was bedeutet, das dort „Mikroprozessoren, Mikrocontroller, digitale Signalprozessoren und Radiofrequenz-IC’s“ produziert werden.68 2014 geriet die Firma in die Schlagzeilen, weil sie hartnäckigen Gerüchten zufolge in einem geheimen Projekt an der Herstellung von sogenannter „Tarnkappentechnik“ für Militärflugzeuge arbeitete, also an technischen Lösungen, die Flugobjekte für das feindliche Radar unsichtbar machen. Der Professor jedoch macht sich über solche Meldungen nur lustig und erzählt stattdessen lieber noch ein paar Anekdoten. Von dem Ratschlag meines Reiseführers, man solle „mit ethnischen oder politischen Scherzen sehr vorsichtig sein“, scheint er noch nie gehört zu haben. „Kennen Sie den mit der malaysischen Weltraummission?“, fragt er. „Nein“ – alle schütteln die Köpfe. „Nun“, sagt er, „der Premierminister von Malaysia sucht einen Freiwilligen, der eine Rakete zum Mond fliegt. Erst fragt er einen Inder, aber der verlangt eine Million für diese heikle Aufgabe. ‚No can‘, sagt der Premier, ‚no can.‘ Dann fragt er einen Malaien, aber der will sogar zwei Millionen – und wieder: ‚No can, no can.‘ Schließlich fragt er einen Chinesen, und der verlangt drei Millionen und keinen sen weniger. ‚No can‘, sagt der Premier, ‚no can, das ist absolut unverschämt!‘ – ‚Aber eine Million ist doch für Sie, Herr Premierminister‘, sagt da der Chinese. – ‚Und die restlichen zwei ­Millionen, die wollen Sie behalten?‘ – ‚Aber nein, nein, nein, Herr Premierminister, Sie verstehen nicht: Eine Million für Sie, eine Million für mich – und eine Million für den Inder, der die Rakete fliegt.‘“ Wenn ich komfortabel nach Singapur weiterreisen wolle, hatte man mir gesagt, bräuchte ich nur den Zug zu nehmen  – aber leider fährt der nur zweimal pro Woche. Also kam wohl nur eine weitere Busfahrt infrage. Für die 324 Kilometer von Kuala Lumpur nach Singapur braucht der Bus sechs Stunden: Man sieht dieselben grünen Verkehrsschilder, dieselben einsprachigen Aufschriften, dieselben makellosen Schnellstraßen und haargenau dasselbe zusammengewürfelte Grüppchen ausländischer Reisender wie 290

Amok oder amuk an der „schlammigen Mündung“

schon zuvor im Flughafenbus. Mir war bewusst, dass ich nun gewissermaßen in den Spuren der japanischen Panzer fuhr, die 1942 auf diesem Weg vorrückten. Damals gab es natürlich die heutige Schnellstraße noch nicht. Aber die japanischen Kommandeure hatten die brillante Idee gehabt, dass man die britischen Verteidigungsstellungen doch einfach umgehen könne, wenn man mit voller Fahrt einfach mitten durch den Dschungel bretterte (siehe S. 319ff.). Wie das Schicksal es wollte, wurde unser Bus länger aufgehalten als die Japaner damals. Als wir die Zollstation vor der Linkedua erreicht hatten (das ist die Brücke, auch Second Link genannt, die die Insel Singapur mit der Malaiischen Halbinsel verbindet) und zur Überprüfung unserer Personalien aus dem Bus gestiegen waren, entdeckten die Beamten in unserer Mitte eine angeblich verdächtige Person. Es handelte sich um einen jungen Mann von nahöstlichem Aussehen, der zur weiteren Befragung abgeführt wurde, während alle anderen warten mussten. Mehrere Stunden lang. Da wir aber nicht im Bus warten durften, standen wir in der drückenden Hitze herum. Meine Mitreisenden spekulierten, ob der junge Mann nun wohl Araber, Türke oder vielleicht Grieche sei. Wie sich später herausstellte, war er Iraner. Als unsere müde Kolonne dann endlich in Richtung der singapurischen Einreisekontrolle trottete, fiel mir auf, dass das Schild mit der Aufschrift please wait at the yellow line („Bitte warten Sie an der gelben Linie“) rein englisch beschriftet war – zumindest ursprünglich: Mit blauem Kugelschreiber hatte jemand die malaiische Übersetzung darüber gekritzelt. Und darunter hatte jemand denselben Arbeitsgang für die chinesische Fassung übernommen  – aber offenbar nur einen roten Kugelschreiber zur Hand gehabt. Als wir dann singapurisches Hoheitsgebiet betraten, stach sofort ein Warnhinweis ins Auge, für den wegen seiner Dringlichkeit nur dicke rote Großbuchstaben infrage kamen: warning: death for drug traffickers under singapore law („Sie betreten die Republik Singapur  – Achtung: Drogenschmuggel bei Todesstrafe verboten!“). Der singapurische Grenzposten erinnert an eine grimmige Festung. Beim Warten in der Schlange vor den Sicherheitsschleusen wuseln Spürhunde zwischen unseren Koffern umher. Bei den Grenzbeamtinnen, die unsere Pässe noch einmal überprüfen, stand Lächeln heute offenbar nicht auf dem Tagesbefehl. Mehr als nur ein Hauch von „Ost-Berliner Luft“ weht mich an: Bin ich etwa in der alten DDR gelandet? Irgendwie wirkt es so: Alles ist effizient, aber nicht gerade freundlich – und ganz gewiss nicht so, wie man sich die Postkartenwelt der Tourismuskampagne Malaysia, Truly Asia vorgestellt hatte. 291

5. Melayu

Tatsächlich ist Malaysia in mancherlei Hinsicht „weder Fisch noch Fleisch“: Es ist bunt, verhältnismäßig dynamisch und wohlhabend; sein Bruttoinlandsprodukt liegt höher als das von Nachbarstaaten wie Thailand, Vietnam, Indonesien oder China, und doch spielt es nicht ganz in derselben Liga wie die sogenannten „Tigerstaaten“ (Südkorea, Taiwan, Singapur und Hongkong).69 Es behauptet von sich selbst, ein Land der multiethnischen Harmonie zu sein, aber dann kann sich seine malaiische Bevölkerungsmehrheit doch nicht dazu durchringen, die Macht im Staat auch einmal zu teilen. Es ist eine relativ stabile Demokratie, aber das Vorgehen seiner Dauerregierungspartei, die nun seit über sechzig Jahren an der Macht gewesen ist, hat dafür gesorgt, dass die politischen Beobachter von Freedom House Malaysia noch immer nicht in ihre höchste Kategorie „gänzlich freier“ Staaten einstufen.70 Sein problematisches Verhältnis zu Singapur scheint inzwischen geklärt, aber so ganz hat es noch immer nicht in einen neuen, entspannteren Lebens- und Regierungsmodus hineingefunden. Es verfolgt eine ambitionierte Strategie hoch technologischer Investitionen, bleibt hinter diesen Ambitionen bislang aber zurück. Und unter innerer Belastung kommt derselbe Zwiespalt eines „Ja, aber nicht ganz …“ auch in der malaysischen Psyche zum Vorschein. Als der Malaysia-Airlines-Flug MH370 verschwand, konnten die malaysischen Behörden ihre Hemmungen eben nicht ganz überwinden, konnten der Welt nicht alles mitteilen, was sie wussten. Und so kam ich selbst bei meinem Versuch, mir über meine eigenen Beobachtungen und Ansichten klar zu werden, an den zwiespältigen Punkt, dass mir Malaysia nicht ganz verständlich geworden war. Ich kam mir vor wie der Taxifahrer, der einfach losgefahren war, immer in der Hoffnung, irgendwo unterwegs schon Gewissheit zu finden, was ihm ja leider nicht ganz gelang. That’s why lah – ach, so ist das.

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6. Singapura: Inselstadt der Tiger und Löwen

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6. Singapura

Singapur wird oft als „Stadtstaat“ bezeichnet, aber vielleicht wäre „Inselstaat“ richtiger. Es ist nämlich nicht wie Manhattan, wo nahezu die gesamte Landfläche bebaut worden ist. In Singapur ist es vielmehr so, dass die eigentliche Stadt etwa die Hälfte der Inselfläche in Anspruch nimmt, während der Rest mit Parks, Naturschutzgebieten, Golfplätzen, Truppenübungsplätzen, Stadtwald, kleinen Dschungelresten, Stauseen, Überresten von Dörfern und den Resultaten planloser Zersiedelung angefüllt ist. Die Insel Singapur liegt direkt vor der äußersten Spitze der Malaiischen Halbinsel und wird von dieser lediglich durch eine schmale Meerenge, die Straße von Johor, getrennt. Die Gesamtfläche von Singapur, zu dem neben der Hauptinsel auch noch sechzig kleinere Inselchen gehören, beträgt 716 Quadratkilometer und ist damit um einiges kleiner als die Fläche von Hongkong (1106  Quadratkilometer). Die Einwohnerzahl von Singapur betrug im Jahr 2016 5,7 Millionen verglichen mit den 7,4 Millionen Einwohnern von Hongkong und den 1,8  Millionen Einwohnern von Kuala Lumpur.1 Der noch immer genutzte, etwa einen Kilometer lange Fahrdamm zwischen Singapur und dem malaysischen Bundesstaat Johor, der Johor Causeway, wurde 1923 von der britischen Kolonialmacht erbaut, als beide Enden des Damms im Gebiet der Kronkolonie der Straits Settlements lagen. Das unabhängige Singapur feierte 2015 sein fünfzigjähriges Bestehen.2 Bei meiner eigenen Ankunft fahre ich jedoch nicht über den JohorDamm, sondern über die Linkedua, die „Brückenverbindung Nummer Zwei“, die in den 1990er-Jahren errichtet wurde, um den Verkehr über den Damm zu entlasten, der nicht selten von Staus verstopft war. Diese neue Brücke verbindet die nordwestliche Ecke der Insel Singapur mit Malaysia. Unser Reisebus rollt aus dem schwer befestigten Gebäudekomplex für Zoll, Einreisekontrolle und Quarantäne und fährt dann die Rampe auf eine geschwungene, gut zwei Kilometer lange und sechs Spuren breite Hochstraße hinauf, die auf mächtigen Ständern über die Meerenge verläuft. Der atemberaubende Ausblick auf das glitzernde Wasser in der Straße von Johor wird noch einmal gesteigert, wenn man sich die geografische Bedeutsamkeit unserer Fahrt vor Augen führt: Wir verlassen jetzt die allerletzte Spitze jener gewaltigen und zusammenhängenden eurasischen Landmasse, auf der man von hier bis nach Indien, in die Bretagne oder nach Norwegen fahren oder laufen könnte, bis in die russische Arktis, in die Mongolei oder nach China, bis in den äußersten Zipfel Sibiriens. Vor uns jedoch, in Richtung Süd und Ost, liegt nichts als Wasser, Ozeane und Meere mit unzähligen Inseln darin, von denen Singapur die allererste ist. Inseln im endlosen 294

Inselstadt der Tiger und Löwen

Singapur Woodlands Simpang

Lim Chu Kang

Zoo von Singapur

SeletarStausee Peirce-Stausee

Yew Tee Bukit Panjang

Linkedua Causeway

S I N G A P U R Jurong West Tuas Jurong Insel

M A L AYS I A

Straße von Johor

Johor Causeway

Bukit Timah

Clementi Queens Town

1

2

3

4

5 km

International Airport

Changi Bedok

N

Kallang S

Marina Bay

Sentosa Insel

St

0

Pasir Ris

Geylang

Orchard Bugis Bukit Merah

Bukom Insel

Sengkang Paya Lebar

Mac RitchieStausee

North Eastern Is.

Ubin Insel

Seletar

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ße

vo

n

Si

ng

ap

ur

INDONESIEN

Meer: Das ist alles zwischen hier und Ecuador. Einige Augenblicke lang scheint es, als schwebten wir schwerelos zwischen dem kontinentalen Festland und jener Welt aus Wasser. Dann rumpelt der Bus aber auch schon über den Ayer Rajah Expressway, um seine Passagiere am Rand der Innenstadt abzusetzen: Der Busbahnhof an der Golden Mile ist unser Ziel. Eine fünfminütige Taxifahrt später bin ich schon in meinem Hotel, dem Raffles Town Club. Binnen einer Stunde nach Grenzübertritt überreicht mir eine freundliche Rezeptionistin den Schlüssel zu Zimmer 301. Die Republik Singapur ist mittlerweile das drittreichste Land der Welt – eines der Wirtschaftswunder unserer Zeit. Mit einem Bruttoinlandsprodukt von 51 855 US-Dollar pro Kopf (2015) hat es sein früheres „Mutterland“ Großbritannien in dieser Hinsicht deutlich überholt (dort lag der entsprechende Wert 2015 bei 44 305 US-Dollar pro Kopf).3 Gerade einmal 75 Jahre ist es her, da war Singapur das Anhängsel einer rückständigen Kolonie, deren ganze Existenz einzig und allein den Interessen einer auswärtigen Macht diente – und noch dazu Schauplatz von Großbritanniens schmachvollster Niederlage im Zweiten Weltkrieg. Es war schlecht verwaltet und von Verbrechen heimgesucht  – angeblich war die Stadt damals voll von Gangmitgliedern, Dieben, Prostituierten und Tagedieben. Das Hafenviertel war ein Slum, obwohl der Frachthafen gegenüber von Sentosa Island ­florierte und die britische Royal Navy hier das größte Trockendock des 295

6. Singapura

g­ anzen Empire unterhielt. Aber Singapur hatte sein Selbstvertrauen, seinen Stolz verloren. Es war nur noch ein Anlegeplatz für Horden von Matrosen, die sich auf dem Landgang amüsierten und sich hinterher an nichts mehr erinnern konnten. In diesen Zusammenhang gehört auch ein besonderes Kuriosum der spätkolonialen Epoche, und zwar eine originelle Bezeichnung aus einem oft schamhaft beschwiegenen Bereich der menschlichen Existenz. Die „Liebesdienerinnen“ des Singapurer Hafenviertels – und von denen gab es viele – hatten eine spezielle Technik entwickelt, die ihnen bei ihrer Kundschaft beispiellosen Ruhm eingebracht hatte. Die Rede ist von einer ganz besonderen Fertigkeit aus dem intimen Reich der Vaginalgymnastik: Durch das Anspannen gewisser Muskeln, von denen die meisten Frauen noch nicht einmal wissen, dass sie sie haben, konnten diese Damen ihren Freiern ungeahnte Wonnen zuteilwerden lassen. Dieser „Würgegriff von Singapur“ war im ganzen Empire berühmt.4 Der Name „Singapur“ hat mit der neueren Geschichte der Stadt so gut wie gar nichts zu tun. Er geht auf die beiden Sanskrit-Wörter singha und pura zurück und bedeutet daher in etwa „Stadt des Löwen“. Schon im späten 13. Jahrhundert trug die erste, winzige Ansiedlung auf der Insel diesen Namen. Zur damaligen Zeit war Sanskrit die hauptsächliche Gerichtsund Amtssprache des Srivijaya-Reiches, und der Legende nach ist es ein Fürst von Srivijaya namens Sang Nila Utama gewesen, der während eines Jagdausflugs auf die Insel kam und dort ein Fort gründete (siehe Kapitel 5). Als der Fürst dann auf einer Lichtung im Dschungel eine prächtige, schwarz-orange gemusterte Raubkatze gesehen hatte, sagte man ihm  – fälschlicherweise –, dass das ein Löwe sei. Mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit hat es sich dabei aber um einen der vielen Tiger gehandelt, die bis vor gar nicht allzu langer Zeit noch über die Insel streiften. Von diesen Tigern weiß man, dass sie ausdauernde Schwimmer waren; mühelos überquerten sie die Meerenge zwischen dem Festland und der Insel, wo sie sich an den Wildschweinen und anderen Wildtieren gütlich taten, von denen der unberührte Regenwald nur so wimmelte. Noch Mitte des 19.  Jahrhunderts waren hier Tiger, die Menschen töteten und fraßen, so häufig, dass die Regierung ein Kopfgeld von 100  Dollar für jedes abgelieferte Tigerfell zahlte. Der allerletzte Tiger von Singapur wurde 1902 von einem Balkon des Raffles Hotel aus erschossen.5 Genau wie die malaysische Bevölkerung ist die Bevölkerung von Singapur ethnisch gemischt, allerdings ist das „Mischungsverhältnis“ der drei beteiligten Ethnien ein anderes. In Singapur machen die Chinesen beinahe 75 Prozent der Einwohnerschaft aus, die Malaien 13 Prozent und die Inder 296

Inselstadt der Tiger und Löwen

weniger als 10 Prozent. Betrachtet man die Verteilung der Religionen, so sind 33 Prozent der Einwohner Buddhisten, 18 Prozent Christen, 13 Prozent Muslime, 5 Prozent Hindus und der Rest wohl nicht sonderlich interessiert. Mit dem rasanten Wirtschaftswachstum der letzten Jahrzehnte ist ein entsprechender Anstieg der Gesamtbevölkerungszahl einhergegangen, der auf einem demografischen Wachstum im Inneren und einer stetigen Zuwanderung von außen beruht. Seit mehr als fünfzig Jahren ist die singapurische Zuwanderungspolitik überaus streng gewesen. Zunächst waren die entsprechenden Beschränkungen sogar derart strikt, dass der Anteil von Ausländern an der Bevölkerung im Jahr 1965 beispielsweise nur 2,9  Prozent betrug. Ab den 1980erJahren haben sich die Zahlen jedoch beständig erhöht, sodass der Ausländeranteil sich bis zum Jahr 2010 mit 25,7 Prozent beinahe verzehnfacht hatte. Trotzdem sehen sich gerade gering qualifizierte Einwanderer, die hier noch als „Fremdarbeiter“ bezeichnet werden, erheblichen Barrieren gegenüber, die für höher qualifizierte Bewerber („fremde Talente“) oder ausländische Studierende nicht gelten. Die Fremdarbeiter müssen sich einem strengen Arbeitserlaubnisverfahren unterziehen und eine Kaution von 5000 Dollar hinterlegen; die singapurische Staatsbürgerschaft können sie nicht erlangen. Außerdem achten die Behörden darauf, dass das bestehende ethnische Gefüge nicht allzu sehr verschoben wird: Die allermeisten Arbeitsmigranten sind Chinesen, die entweder aus Malaysia oder aus China nach Singapur kommen; ein sehr viel kleinerer Anteil kommt aus Indien.6 Die Angehörigen von Singapurs chinesischer Bevölkerungsmehrheit gehören zum Großteil zur Gruppe der Hokkien-Sprecher; ihre Vorfahren sind im 19. und frühen 20. Jahrhundert aus der Provinz Fujian im Südosten Chinas ausgewandert.7 Mit den Taiwanesen verbindet sie eine enge kulturelle Verwandtschaft, mit den Kantonesen aus Kanton und Hongkong schon weniger – und mit den Han-Chinesen aus Peking und dem Norden Chinas fühlen sie sich am wenigsten verbunden. Dennoch hat die Anwesenheit von anderen hakka- und kantonesisch-sprachigen Minderheiten in Singapur dazu geführt, dass inzwischen – ganz wie im Mutterland – das Hochchinesische („Mandarin“) als Lingua franca der unterschiedlichen chinesischen Gruppen dient. Ganz offenkundig bilden die Chinesen von Singapur eine selbstbewusste Gemeinschaft, die stolz auf ihre Eigenständigkeit ist. Zugleich ist ihnen aber bewusst, dass sie zur 50  Millionen Menschen starken Diaspora der Auslandschinesen gehören, und wie die meisten von diesen haben sie natürlich auch noch Sympathien für das 297

6. Singapura

chinesische Mutterland. Das verbindet sie mit ihren Landsleuten in Thailand, Malaysia, Indonesien und auf den Philippinen, denen sie sich unter Umständen enger verbunden fühlen als ihren indischen und malaiischen Mitbürgern in Singapur. Die Auslandschinesen sind stets Kaufleute, Händler und Finanziers gewesen. Kritische Stimmen merken an, dass ihre kollektive Solidarität, ihre Fokussierung auf zentrale Berufe und Geschäftsbereiche ihnen einen politischen Einfluss verschafft habe, der ihren tatsächlichen Anteil an der Bevölkerung sogar noch übersteige.8 Die sprachliche und kulturelle Landschaft Singapurs ist also kompliziert, sie gleicht einem Kaleidoskop. Hinter verschlossenen Türen wird eine Vielzahl von chinesischen, indischen und südostasiatischen Regional- und Lokalsprachen gesprochen, während vier große Amtssprachen den öffentlichen Raum ausfüllen. Von diesen ist Englisch weiterhin die wichtigste, weil es die Kommunikation der verschiedenen Ethnien untereinander ermöglicht; aber Chinesisch (Mandarin), Tamil und Malaiisch sind ihm offiziell gleichgestellt. Für einen ausländischen Besucher ist die übergroße Vielfalt der Straßenschilder, Alphabete und Stimmen geradezu schwindelerregend, und die geläufigste lokale Mundart – Singlish, die singapurische Antwort auf das malaysische Manglish  – ist mir zumindest vollkommen unverständlich.9 Die Entschlossenheit Singapurs, allen seinen Ethnien eine gesellschaftliche Gleichberechtigung zu garantieren, war letztlich wohl der Hauptgrund für den Bruch mit Malaysia. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg hat man diverse politische Kombinationen ausprobiert, aber die Vereinigung von Singapur mit der „Föderation Malaya“ hielt gerade einmal zwei kurze Jahre lang, von 1963 bis 1965. Nach herrschender Meinung war dieses Experiment ein absolutes Debakel. Unmittelbar darauf wurde Singapur, vormals britische Kronkolonie, vollkommen unabhängig. Um einen reibungslosen Übergang zu gewährleisten und insbesondere eine Wiederholung früherer gewaltsamer Ausschreitungen zu verhindern, unterhielt die britische Regierung aber noch bis 1972 einen Militärstützpunkt auf der Insel. Allerorten trifft man auf die Spuren der britischen Kolonialzeit: Es herrscht Linksverkehr auf der Tropeninsel, und würden die Doppeldeckerbusse nicht zwischen üppig blühenden Azaleen und anderen exotischen Gewächsen umherfahren, könnte man glatt meinen, man wäre in London; selbst die Stecker an den Elektrogeräten haben haargenau dieselben drei eckigen Stifte wie zu Hause. Und die Straßennamen erst! Inzwischen haben die meisten Straßen in Singapur zwar einen einheimischen Namen – aber es sind doch noch genug von den alten Namen übrig geblieben, dass einem 298

Inselstadt der Tiger und Löwen

durchaus nostalgisch zumute werden kann: Orchard Road, Fort Canning, Queensway, Cross Street (genau wie in Manchester), Marymount Road, Marine Parade und Normanton Park. Wer seinen Blick über den Streckenplan des singapurischen Metro-Netzes MRT schweifen lässt, entdeckt dort die U-Bahn-Stationen Lavender, Redhill, Dover und Lakeside (allesamt auf der „Grünen Linie“, die von Ost nach West verläuft); auf der „Roten Linie“ von Nord nach Süd gibt es Admiralty und Somerset; und die „Violette Linie“ im Nordosten der Stadt hält unter anderem an den Stationen Woodleigh, Clarke Quay und Harbourfront.10 Auf einer Liste der „Zehn besten Bordelle“ von Singapur, über die ich zufällig gestolpert bin, konkurriert das bekannte Rotlicht-Zentrum Orchard Towers mit dem Crazy Horse, dem Naughty Girl und dem Blue Banana.11 (Die Prostitution durch offiziell registrierte sex workers ist in Singapur legal; ob in den genannten Etablissements der berühmte „Würgegriff“ noch immer praktiziert wird, habe ich nicht herausfinden können.) Und in Singapurs Fußball-Profiliga, der 1904 gegründeten S  League, tritt Geylang International gegen Courts Young Lions  F.  C., die Tampine Rovers oder den Warriors  F.  C. an. Der letztgenannte Verein, dessen früherer Name Singapore Armed Forces Football Club (SAFFC) seine militärischen Wurzeln noch deutlicher erkennen ließ, ist der erfolgreichste Club und mit bislang neun Titelgewinnen der Rekordmeister der singapurischen Liga. Interessanterweise heißt selbst das chinesische Viertel noch immer Chinatown. Früher oder später muss jedem Besucher die beinahe zwanghafte Vorliebe der Singapurer für dreibuchstabige Abkürzungen auffallen. Immer wieder stößt man auf das Bankenviertel CBD (Central Business District), die U-BahnLinie DTL (Downtown Metro Line), die Stadtplanungsbehörde URA (Urban Redevelopment Authority), die Fluglinie SIA (Singapore International Airlines) und die staatliche Hochschule NUS (National University of Singapore). Ebenso rasch erfährt man aber, dass die Singapurer diese Marotte nur zu gern selbst auf die Schippe nehmen. So ist das Kürzel der offenbar geldgierigen Regierungspartei PAP inoffiziell als „Pay and Pay“ gedeutet worden, das des öffentlichen Versorgungsbetriebs PUB gar als „Pay Until Bankrupt“, und das Singapore General Hospital – kurz: SGH – wird schon einmal, wenig vertrauenerweckend, als Sure Go to Heaven veralbert. Eine andere singapurische Spezialität, die das Image des Landes in der Welt geprägt hat, ist das Verhängen von drakonischen Strafen für geringfügige Vergehen. Ein so beliebter wie subversiver T-Shirt-Aufdruck bringt die Sache auf den Punkt. Auf der Vorderseite liest man den zunächst schmeichelhaften Slogan singapore is a fine city („Singapur ist eine schöne 299

6. Singapura

Stadt“). Doch dann entdeckt man auf der Rückseite des Shirts eine lange Liste von Geldstrafen (fines), die von der hiesigen Polizei alle regelmäßig verhängt werden – und die in einer grausamen Pointe gipfeln:*

Rauchen verboten $ 1000

Bei Rot über die Ampel $ 500 Wasserverschwendung $ 1000

Kaugummikauen verboten $ 1000

Affen füttern verboten $ 1000

Vögel füttern verboten $ 1000

Homosexuelle Handlungen 2 Jahre Gefängnis

Toilette nicht gespült Abfall einfach weggeworfen $ 1000 $ 1000

Fremdes WLAN benutzt Auf den Boden gespuckt Schuttabladen verboten $ 5000 $ 1000 $ 500 Essen und Trinken verboten Brennbare Stoffe verboten Blumenpflücken verboten $ 500 $ 500 $ 1000

Besitz von Drogen TODESSTRAFE

Nicht umsonst ist der Singapurer Bußgeldkatalog, der für scheinbar jedes denkbare Vergehen eine passende Strafe bereithält, legendär. Eine Vorschrift, die wohl vor allem die Herren der Schöpfung betrifft, verbietet das Urinieren im Stehen nach 23 Uhr, selbst in der eigenen Wohnung. Im Sinne der geltenden Lärmverordnung – die Nachbarn sollen ja nicht gestört werden – müssen alle gesetzestreuen Bürger zwischen diesem Zeitpunkt und sechs Uhr morgens im Sitzen pinkeln. Wer Wände oder öffentliche Verkehrsmittel mit Graffiti verunziert, bekommt Schläge mit dem Rohrstock – zwingend. Eine „erhebliche Verschmutzung des öffentlichen Raums“ wird mit Sozialstunden geahndet, während deren der Übeltäter eine spezielle Jacke in grellen Farben tragen muss, damit alle sehen, was er angestellt hat. Kaugummi ist dermaßen verpönt, dass man ein ärztliches Rezept benötigt, um es überhaupt kaufen zu können. Und der ekelhaften Unsitte, seinem Harn- oder gar Stuhldrang in öffentlichen Fahrstühlen Erleichterung zu verschaffen, versucht man durch Alarmsirenen und raffinierte Geruchs­ detektoren – Urine Detection Devices oder „UDD’s“ – Herr zu werden. * Für deutsche Touristen müsste man natürlich ein neues Wortspiel erfinden: „Singapur  – unbezahlbar schön“ gäbe in etwa die Stoßrichtung des englischen Slogans wieder (Anm. d. Übers. T. G.).

300

Das U-Bahn-Netz des Mass Rapid Transit (MRT)

Inselstadt der Tiger und Löwen

301

6. Singapura

Zum Glück lachen die Singapurer gern über sich selbst. So erzählt man sich hier den Witz von den zwei Männern, die gemeinsam mit einer Frau auf einer einsamen Insel stranden: Wenn es Amerikaner sind, erschießt einer den anderen und schnappt sich die Frau. Wenn es Franzosen sind, machen sie alle zusammen Liebe. Wenn es Thais sind, vermietet der eine die Frau für Geld an seinen Kumpel. Wenn es Briten sind, sagt die Frau den beiden, sie sollten doch ohne sie Sex haben. Wenn es Malaysier sind, beschuldigt die Frau beide Männer, sie betrogen zu haben. Wenn es Inder sind, halten sie sich an den Händen und meditieren. Wenn es Chinesen sind, legen sie gemeinsam ein Reisfeld an. Wenn es Indonesier sind, hissen sie eine Fahne und beanspruchen die Insel für Indonesien. Wenn es Singapurer sind, nehmen sie Platz und warten auf weitere Anweisungen.12

Das singapurische Regierungssystem, das mit der Unabhängigkeit von Großbritannien eingeführt wurde, verdankt vieles dem britischen Vorbild und Rat. Singapur ist eine parlamentarisch-konstitutionelle, demokratisch verfasste Republik, in der auf allen Ebenen des politischen Lebens regelmäßig Wahlen stattfinden. Und doch scheint es bei den einheimischen Wählern beliebter zu sein als bei internationalen politischen Beobachtern und Ranglisten-Erstellern, die nämlich dazu neigen, das Land als „autoritär“ oder „semi-demokratisch“ zu bezeichnen oder es sogar  – zusammen mit Malaysia – in die Kategorie nur „halbfreier“ Staaten einzuordnen. Seit der Gewährung der inneren Autonomie durch die britische Regierung im Jahr 1959 ist die von Lee Kuan Yew und anderen gegründete People’s Action Party (PAP, etwa „Volkspartei der Tat“) an der Macht geblieben – einen Wechsel zwischen Regierungspartei und Opposition hat es in Singapur also noch nie gegeben. Wenig überraschend sind deshalb Vorwürfe gegen den vermeintlichen „Einparteienstaat“ laut geworden. Dennoch hat es in Singapur nur sehr sporadisch Hinweise auf Unregelmäßigkeiten bei nationalen Wahlen gegeben, und auf dem internationalen Korruptionsindex nimmt das Land einen vorbildlichen Platz ein. Es scheint vielmehr, dass die – zugegebenermaßen paternalistische – 302

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politische Kultur von Singapur nicht nur den Herrschenden, sondern auch dem größten Teil der Wähler ganz einfach zusagt. Von einem repressiven Regime, das der Bevölkerung mit Gewalt seinen Willen aufzwängt, kann gar keine Rede sein. Gewiss: Die Wahrung der öffentlichen Ordnung nimmt im politischen Handeln eine zentrale Stelle ein, hierher gehören auch die weitreichenden Befugnisse der singapurischen Polizei und das Insistieren auf der sozialen Verantwortlichkeit des Individuums. Auf triviale Vergehen stehen drakonische (Geld-)Strafen, die bürgerlichen Freiheiten entsprechen nicht in allen Punkten europäischen Vorstellungen und so etwas wie ein Sozialstaatsprinzip nach westlichem Verständnis hat sich hier nie durchsetzen können. Von der Wiege bis zur Bahre müssen die Singapurer ihre Gesundheitsvorsorge und medizinische Versorgung selbst organisieren und auch selbst bezahlen. Als direkte Konsequenz hat sich ein erstklassiges Gesundheitssystem entwickelt. Das Eingreifen der Regierung beschränkt sich darauf, stabile Rahmenbedingungen für die Privatwirtschaft und das Privatleben ihrer Bürger zu sichern. Eine Sache, die aber durchaus etwas mehr Regulierung vertragen könnte, ist das Wetter: Das ganze Jahr über herrschen heiße 32  °C und eine Luftfeuchtigkeit, die einem den Atem raubt. Aber selbst daran arbeiten die Stadtplaner bereits. Bald sollen auch die Straßen und die U-Bahn sowie einige glasüberdachte Plätze klimatisiert werden. Staatsoberhaupt von Singapur ist ein gewählter Präsident, seit 2017 mit Halimah Yacob eine Präsidentin. Anders als das Parlament und die Regierung hat das Amt des Präsidenten einige Turbulenzen erlebt. Seit einer Verfassungsänderung 1991 wird der Präsident oder die Präsidentin direkt gewählt. Die Teilnahme an dieser Wahl ist für alle Bürger Singapurs verpflichtend. Inzwischen kommen dem Präsidentenamt einige Vetorechte zu, die es über seine frühere, rein zeremonielle Rolle hinaus bedeutsam machen. Die Präsidentin bestätigt Gesetze, die das Parlament verabschiedet hat, leitet die Antikorruptionsbehörde CPIB (Corrupt Practices Investigation Bureau) und überwacht die Umsetzung des Internal Security and Religious Harmony Act, eines Gesetzes, das durch die Wahrung des interreligiösen Friedens die innere Sicherheit gewährleisten soll. Außerdem hat sie ein Mitspracherecht bei der Verwendung finanzieller Reserven und ernennt hohe Regierungsbeamte. Vorgänger der heutigen Präsidentin, einer studierten Juristin malaiisch-indischer Abstammung, war Tony Tan Keng Yam, ein ethnischer Chinese, früherer Mathematikdozent, Finanz- und Bildungsminister. Die offizielle Residenz des singapurischen Präsidenten ist der Istana (malaiisch für „Palast“), ein prachtvolles Bauwerk inmitten großzügiger 303

6. Singapura

Parkanlagen. Der heutige Präsidentenpalast wurde 1869 auf dem Gelände einer Muskatnussplantage errichtet – damals noch als Government House, als Residenz des Gouverneurs der Straits Settlements. Eine Statue von Königin Victoria steht noch heute auf dem Gelände.13 In Sachen Zensur hat Singapur leider keine gute Bilanz. Eine Regierungsbehörde mit dem euphemistischen Namen Media Development Agency (MDA, „Agentur für Medienentwicklung“) vergibt Lizenzen, die für alle Veröffentlichungen und öffentlichen Aufführungen, ob in der Presse, im Theater, bei Konzerten, in Ton- und Filmstudios, im Internet oder in Computerspielen, zwingend vorgeschrieben sind. Als Gegenstück zur MDA versieht „Media Corp“ dieselbe Aufgabe mit Blick auf Radio und Fernsehen. Im Allgemeinen kann man sagen, dass alles, was auch nur im Geringsten mit Sex, Gewalt, ethnischen Zugehörigkeiten, Drogen oder Politik zu tun hat, starken Einschränkungen unterliegt. Berüchtigterweise hat die MDA einst den Folksong Puff, the Magic Dragon verboten, weil er angeblich zum Marihuana-Konsum auffordere. Auch die Prüfung und Klassifizierung von Filmen zum Schutz vor allem junger Zuschauer obliegt den Behörden. Die Filme aus der höchsten Jugendschutz-Kategorie „Restricted 21+“ dürfen nur in ausgewählten Kinos in der Innenstadt gezeigt werden. Pornografie, selbst sogenannte „Softpornos“, sind verboten.14 Wie es scheint, trägt eine konservative Bevölkerung das strikte Vorgehen ihrer Regierung ohne Beschwerde mit. Die strengen Moralvorstellungen der Kolonialzeit sind hier nie infrage gestellt worden.15 Der Misuse of Drugs Act, das 1969 erlassene Anti-Drogen-Gesetz Singapurs, ist das juristische Flaggschiff einer weiteren innenpolitischen Linie, deren Strenge berüchtigt ist. In diesem Gesetz werden nicht nur Drogen und drogenbezogene Utensilien bis ins kleinste Detail beschrieben (was man ja noch kurios finden könnte); es enthält zudem Bestimmungen über die Festnahme von Verdächtigen ohne Haftbefehl und unabhängig von ihren Absichten (Konsum oder Handel) – zudem ermöglicht es, im Sinne einer kollektiven Verantwortung ganze Gruppen von Menschen festzunehmen, wenn Einzelne aus dieser Gruppe Drogen mit sich führen. Für den bloßen Besitz von Drogen werden Sanktionen fällig, die von Schlägen mit dem Rohrstock bis zu lebenslangen Haftstrafen reichen; auf Drogenschmuggel steht zwingend die Todesstrafe (das war auf dem T-Shirt gemeint). Die Suchbemühungen der Polizei in den Häfen und auf den Flughäfen von Singapur sind gründlich und erfolgen – im Sinne der Vorbeugung – auch ohne bestehende Verdachtsmomente. Regelmäßig werden Reisende aus aller Welt wegen Drogenvergehen festgenommen.16 304

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Dass Singapur an der Todesstrafe festhält, hat wiederholt Amnesty International auf den Plan gerufen.17 Bevor es in der letzten Zeit zu einigen Gesetzesänderungen kam, hatte Singapur die zweithöchste Hinrichtungsrate der Welt nach Turkmenistan. Zum Tode verurteilt werden kann man nicht nur wegen Drogenschmuggels, sondern auch in Fällen von Mord, Landesverrat oder Menschenraub. Gegen das Todesurteil darf genau einmal Berufung eingelegt werden, und die Verurteilten haben zudem das Recht, den Staatspräsidenten um eine Begnadigung zu bitten. Die Hinrichtungen – durch den Strang – finden freitagmorgens bei Tagesanbruch statt; der Galgen steht im Gefängnis von Changi. Der langjährige Chefhenker der Republik Singapur, Darshan Singh, hat seinen Dienst 1959 noch unter der britischen Kolonialregierung angetreten; 2006 ist er in Rente gegangen. Im Jahr zuvor hatte die australische Presse die internationale Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet, dies geschah im Zusammenhang mit Protesten gegen die bevorstehende Hinrichtung eines vietnamesisch-australischen Heroindealers. Wie aus den Berichten hervorging, verabschiedete Darshan Singh die Verurteilten auf dem Schafott stets mit denselben Worten: „Ich sende dich jetzt an einen besseren Ort. Gott segne dich.“ Das 2010 in Malaysia erschienene Buch eines britischen Autors über Darshan Singh und den Fall, dem er seine plötzliche Berühmtheit verdankte, wurde in Singapur jedoch verboten.18 Wie die singapurische Regierung verlautbaren lässt, bleibt die Todesstrafe „sehr schwerwiegenden Verbrechen“ vorbehalten. Außerdem, unterstreichen die Behörden, sei Singapur „eines der sichersten Länder der Welt“. Diese letzte Aussage ist zweifellos wahr; die Kriminalitätsrate von Singapur ist äußerst niedrig. Nach Angaben der internationalen Statistikdatenbank Numbeo belegt Singapur in Sachen Kriminalität und Sicherheit Platz 119 – in einer Liste mit 120 Ländern. Allein Südkorea kann noch bessere Statistiken vorweisen.19 Die beschriebenen autoritären und sozialkonservativen Tendenzen stehen neben dem unzweifelhaft beeindruckenden wirtschaftlichen Erfolg Singapurs, der umso bemerkenswerter ist, als die Insel über keine nennenswerten Bodenschätze oder sonstige Ressourcen verfügt. Es gibt weder Öl noch Gas, keine wertvollen Hölzer oder Erze, keinen großen Binnenmarkt und viel zu wenig an fruchtbarem Land oder nutzbaren Gewässern. So gut wie alle Rohstoffe und Waren des täglichen Bedarfs müssen importiert werden; (re-)exportiert werden lediglich Fertigerzeugnisse. Als Singapur quasi über Nacht unabhängig wurde, musste der Frachthafen der Insel daher drastisch vergrößert werden. Dazu waren folgenreiche strategische Entscheidungen nötig; auch musste eine große, professionelle Arbeiterschaft rekrutiert 305

6. Singapura

­ erden. Das sogenannte „Singapurer Modell“ verband in der Folge eine w freie Marktwirtschaft mit Elementen zentraler Planung, die von der Wirtschaftsbehörde EDB (Economic Development Board) vorgenommen wurde. Dazu kamen niedrige Steuersätze, die Singapur für auswärtige Investoren attraktiv machten. Die High-Tech-Industrie des Landes wurde zur Ausweitung der Handelsbeziehungen herangezogen, und mehrere hoch spezialisierte Sektoren wie etwa die Erdölraffinierung, Service- und Reparaturdienstleistungen für Schiffe und die biomedizinische Industrie wurden gezielt gestärkt. Seit dem Beginn dieser Wirtschaftsförderungspolitik haben rund 10 000 Firmen Niederlassungen in Singapur eröffnet, die meisten von ihnen aus den Vereinigten Staaten, der Europäischen Union und Japan, in jüngster Vergangenheit auch aus Indien und China. Die singapurische Regierung behält jedoch alle größeren Unternehmungen fest im Griff. Der Staatsfonds Temasek Holdings, der ein Vermögen von rund 375 Milliarden Dollar verwaltet, untersteht zu hundert Prozent dem Finanzministerium. Temasek hält eine Mehrheitsbeteiligung an zahlreichen führenden Wirtschaftsunternehmen, darunter Singtel, ST  Engineering, Mediacorp und Singapore Airlines. Ein weiterer Staatsfonds, die GIC Private Limited (früher Government of Singapore Investment Corporation) verwaltet Auslandsbeteiligungen und Devisenreserven in Höhe von über 400 Milliarden Dollar. Die Ergebnisse sprechen für sich. Singapur ist der stärkste unter den vier „Tigerstaaten“; es beherbergt das viertgrößte Finanzzentrum der Welt und den Hafen mit dem weltweit fünftgrößten Umschlag. Kein Land dieser Erde hat prozentual mehr Dollarmillionäre aufzuweisen als Singapur: 15,5  Prozent der Bevölkerung. Das jährliche Wirtschaftswachstum hat zwischen 1960 und 1999 bei durchschnittlich 8 Prozent im Jahr gelegen.20 Seit 1967 hat Singapur seine eigene Währung, den Singapur-Dollar (SGD), der von der Zentralbank und Finanzkontrollbehörde MAS (Monetary Authority of Singapore) reguliert wird. Anfänglich war der Kurs des Singapur-Dollars an das britische Pfund und an den malaysischen ringgit geknüpft, aber inzwischen hat er sich stufenweise „befreit“ und wird seit den 1980er-Jahren in einem (einigermaßen) frei schwebenden Regime gehandelt. Eine Besonderheit ist seine Kopplung  – und seine praktische Austauschbarkeit – gegenüber dem Brunei-Dollar. Im Herbst 2019 lag der Wechselkurs für den Singapur-Dollar bei etwa 0,66 Euro.21 Seit der Unabhängigkeit hat eine planvolle Sozialpolitik sich bemüht, mit der florierenden Wirtschaft Schritt zu halten. Im sozialen Wohnungsbau beispielsweise sind immense Anstrengungen unternommen worden. Die 1960 gegründete Bau- und Planungsbehörde HDB (Housing and Development 306

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Board) hat in einer Reihe von Fünfjahresplänen die Sanierung bestehender Slums und die Befriedigung des rapide ansteigenden Wohnraumbedarfs unternommen. Die alte britische Strategie, die verschiedenen Ethnien in ihren jeweiligen Vierteln voneinander getrennt zu halten, wurde aufgegeben, und bei der Vergabe von Wohnungen in den großen Neubaublöcken im Stadtzentrum wurde strengstens auf eine gewisse ethnische Durchmischung geachtet. Gleichzeitig ermöglichte der staatlich garantierte Central Provident Fund (CPF) es den Bürgern, Hypotheken für subventionierte Kredite aufzunehmen, die wiederum an einen verpflichtenden Sozialversicherungssparplan geknüpft waren. Die ursprüngliche Schätzung der HDB sah den Bau von jährlich 147 000 Wohneinheiten vor – ein Ziel, das durchaus erreicht wurde, sowohl durch große Wohnblöcke in der Innenstadt als auch durch Planstädte und Wohnquartiere mit hoher baulicher Dichte  – Queenstown, Woodlands und andere –, die in den Außenbezirken und am Stadtrand errichtet wurden. Neue U-Bahn-Linien wurden gebaut und zusätzliche Stationen eröffnet, um dem stark anwachsenden Bedarf der Pendler gerecht zu werden. Ab den 1970er-Jahren verschob sich der Schwerpunkt von den Wohnblocks der Anfangsjahre in Richtung einer abwechslungsreicheren Bebauung, mit der Wohnraum für die verschiedensten Bedürfnisse und Einkommensgruppen geschaffen werden sollte. Auch die Wohnviertel wurden kleinteiliger, bürgerfreundlicher und autarker; man nannte sie jetzt precincts, „Stadtbezirke“. Als das 21. Jahrhundert anbrach, waren nicht weniger als 23 Planstädte und Neubauquartiere entstanden, die jeweils neun oder zehn einzelne Viertel umfassen, von denen jedes noch einmal in mehrere Stadtbezirke zerfällt. Heute beruht das singapurische Gesundheitssystem auf zwei Prinzipien: 1. Alle Leistungen werden von den Patienten selbst gezahlt, und 2. durch staatliche Bezuschussung werden private Krankenversicherungen bezahlbar gehalten. Auf diese Weise gelingt es Singapur, zwei Extreme zu vermeiden: das der Vereinigten Staaten, wo sich vor 2011 beinahe die Hälfte der Bevölkerung keine Gesundheitsvorsorge leisten konnte, und das Großbritanniens, wo die aus dem Ruder laufenden Kosten des National Health Service (NHS) sich zu einer bald nicht mehr tragbaren Finanzlast auftürmen.22 Die wirkliche Geheimwaffe im singapurischen Arsenal scheint jedoch etwas anderes zu sein: ein erstklassiges Bildungssystem. Man hat das nicht über allen Dächern herumposaunt wie in Großbritannien, wo der damalige Premierminister Tony Blair immer wieder sein Mantra für mehr „Bildung, Bildung, Bildung“ angestimmt hat. Aber als 1995 die weltweite Schulleistungsuntersuchung TIMSS durchgeführt wurde, belegte Singapur sowohl 307

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bei den Mathematikkenntnissen als auch in den Naturwissenschaften den ersten Platz; Großbritannien kam damals auf Platz 25 beziehungsweise 10, die Vereinigten Staaten auf Platz 28 beziehungsweise 17.23 Da Englisch ohnehin die vorherrschende Unterrichtssprache ist, positioniert sich Singapur immer stärker auch auf dem internationalen Bildungsmarkt und möchte langfristig zur „Schule der Welt“ werden. Auch hier ist der wirtschaftliche Aspekt nicht zu vernachlässigen, denn der globale Bildungsmarkt hat ein geschätztes Volumen von 2 Billionen US-Dollar.24 In diesem Bereich sind die Aussichten Singapurs wesentlich besser als die der Vereinigten Arabischen Emirate. Wie es dem internationalen Rang entspricht, den Singapur inzwischen erreicht hat, ist auch die wichtigste Universität des Landes, die National University of Singapore (NUS), eine in Wissenschaftskreisen bestens bekannte und erfolgreiche Hochschule. Als sie 2015 im weltweiten Hochschulranking Platz 12 belegte,25 konnte sie sich damit besser platzieren als alle anderen asiatischen Universitäten  – und damit besser als sämtliche Hochschulen weltweit, die nicht in Großbritannien oder den Vereinigten Staaten beheimatet sind. Vor vierzig Jahren erhielt die Mehrheit der Singapurer überhaupt keine Hochschulbildung. Die NUS, zuvor eine Zweigstelle der Universität von Malaya, ging erst aus der Fusion mit einer kleinen, von Großbritannien finanzierten medizinischen Hochschule und dem geisteswissenschaftlich orientierten Raffles College hervor. Wer studieren wollte, musste meist ins Ausland gehen, und überwiegend nach Großbritannien. Nach der Unabhängigkeit Singapurs wurde der Hochschulsektor jedoch mit Vorrang gefördert: Die Regierung erkannte, dass Forschung, technologische und wirtschaftliche Entwicklung zusammenhingen, und seitdem ist die NUS so stark gewachsen, dass man ihre bescheidenen Anfänge kaum noch begreifen kann. Mittlerweile hat sie 30 000 Studierende, die sich auf zwei Campus verteilen: den alten an der Bukit Timah Road und einen neuen in Kent Ridge, mit Ausblick auf den Hafen. Rund 80 Prozent der Studienanfänger sind Einheimische, aber 80 Prozent der Einschreibungen in den Aufbau- und Promotionsstudiengängen entfallen auf Ausländer; 60 Prozent der Dozenten haben ihre Qualifikationen im Ausland erworben. Früher lag der Schwerpunkt der NUS ganz klar auf den angewandten Wissenschaften; aber im 21.  Jahrhundert hat die NUS sich zu einer Forschungseinrichtung internationalen Formats entwickelt, die ein umfassendes Kursprogramm in allen einschlägigen Disziplinen anbietet.26 Im Anschluss an meinen Gastvortrag über die so ganz unterschiedlichen Vorstellungen von „europäischer Geschichte“ wurde mir eine schwierige 308

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Frage gestellt: „Ist es nicht so“, meinte eine Zuhörerin nachdenklich, „dass der Erfolg dieser Stadt auf britischen Fundamenten ruht?“ „Nun, ich bin immer davon ausgegangen“, antwortete ich, „dass Singapur nur deshalb derart aufblühen konnte, weil die Briten irgendwann auch wieder gegangen sind.“ Wer jene schwierige Frage beantworten will, kommt an einem Mann nicht vorbei: Lee Kuan Yew (1923–2015), auch bekannt als Harry Lee, dem Gründervater des modernen Singapur, der im politischen Leben der Republik mehr als fünfzig Jahre lang eine führende Rolle gespielt hat. Wer seine Lebensleistung kritisch würdigt – und dabei all die bereits angesprochenen Problembereiche nicht aus dem Blick lässt –, der ist einem tieferen Verständnis Singapurs schon ein gutes Stück nähergekommen. Lee Kuan Yew war der Sohn eines Ladenbesitzers und Singapurer in vierter Generation; er entstammte einer englischsprachigen Familie mit hakka-chinesischen Wurzeln. Nach dem Studium am Raffles College, für das er sich ein Stipendium erarbeitet hatte, ging Harry Lee – wie er sich damals noch nannte – nach Großbritannien. In Cambridge schloss er ein Jurastudium am Fitzwilliam College mit Auszeichnung ab und praktizierte im London der unmittelbaren Nachkriegsjahre als Anwalt. Nach seiner Rückkehr nach Singapur im Jahr 1950 eröffnete er zusammen mit seinem Bruder Dennis eine Kanzlei, die sich vor allem mit arbeits- und gewerkschaftsrechtlichen Belangen befasste. Japanisch beherrschte er schon früher; erst jetzt lernte er auch noch Mandarin. In den 1950er-Jahren nahm die politische Karriere des Mannes, den alle nur „LKY“ nannten, Fahrt auf. Durch Kontakte zur britischen LabourPartei hatten seine Überzeugungen an Reife gewonnen. Labour war damals sehr breit aufgestellt und vereinte eine Vielzahl unterschiedlicher Strömungen; einer stärker nach links orientierten Parteispitze, deren Mitglieder zumeist der Mittelschicht entstammten, stand dabei die breite Mehrheit der Parteimitglieder gegenüber. Die People’s Action Party (PAP), die LKY im November 1954 mitbegründete, orientierte sich an diesem Muster. Sie nannte sich zwar „sozialistisch“, wurde jedoch – in Lees eigenen Worten  – von „Biersäufern aus dem Bürgertum“ geführt, die unter den chinesischen Arbeitern dennoch rasch eine große Anhängerschaft gewinnen konnten. Um in Wahlen bestehen zu können, benötigte die ­Parteiführung die Unterstützung der Gewerkschaften  – und militante Gewerkschafter, die oft eher mit den Kommunisten sympathisierten, benötigten im Gegenzug Leute wie LKY, um ihren wahren Absichten eine „bürgerliche Maske“ vorzuhalten. 1957 war das Jahr der Entscheidung. Die 309

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Militanten brachten die PAP unter ihre Kontrolle, indem sie auf einem Parteikongress die Abstimmungsergebnisse manipulierten; LKY wurde abgesetzt. Zu seinem Glück hatten die britischen Behörden nicht vor, einen kommunistischen Infiltrationsversuch – von dem sie hier ausgehen mussten  – einfach zu tolerieren. Also wurden Lees politische Gegner festgenommen und er selbst wurde in seinen alten Posten als Generalsekretär der PAP wiedereingesetzt. Seinen linken Ursprüngen hat er danach abgeschworen und es augenscheinlich nie bereut.27 In den folgenden Jahren nahm Lee die Zügel in die Hand, nicht nur in der herrschenden Partei, sondern auch in der jungen Republik Singapur. Im Jahr 1961 – er war bereits Premierminister – führte er eine Kampagne zur Vereinigung Singapurs mit der benachbarten Föderation Malaya; das schien ihm ein probates Mittel, um den britischen Einfluss vollends abzuschütteln. Als diese Vereinigung erfolgt war, wechselte er jedoch seinen Kurs und stellte sich insbesondere gegen die malaiische Dominanz innerhalb der Föderation. Trotz seiner aufrichtigen Kompromissbereitschaft sah er sich von der Regierung in Kuala Lumpur wie ein Abtrünniger behandelt. Als er am 7. August 1965 in einer Fernsehansprache die erneute Unabhängigkeit Singapurs verkündete, hatte er mit den Tränen zu kämpfen: „Jedes Mal, wenn wir zukünftig an diesen Augenblick zurückdenken …, wird die Erinnerung schmerzvoll sein. Für mich ist dies ein schmerzvoller Moment, weil ich mein ganzes Leben lang – mein ganzes Erwachsenenleben lang, nicht wahr – an die Verbindung und die Vereinigung dieser beiden Territorien geglaubt habe.“28 Weder Lee noch sein Land, dem zur Staatwerdung sowohl die Erfahrung als auch die Ausstattung fehlten, waren bereit für diese Unabhängigkeit, die ihnen so unsanft aufgezwungen wurde. Die missliche Lage Singapurs – und damit auch die Herausforderung, vor der LKY stand – waren fast einmalig: Sämtliche Aspekte der Staatsund Nationswerdung mussten von Grund auf neu gestaltet werden – und zwar unter der Aufsicht und Leitung eines einzigen Mannes, der zwei Generationen lang am Ruder blieb. Dass die Erscheinung der Republik am Ende dieser langen Regierungszeit die Prinzipien und persönlichen Vorlieben des langjährigen Landesvaters widerspiegeln würde, war wohl unvermeidlich. Als Premierminister amtierte LKY von 1959 bis 1990 – ein Weltrekord –, als hochrangiger Minister von 1990 bis 2004 und als „Mentor“ der Regierung noch von 2004 bis 2011. Was genau diese Prinzipien und persönlichen Vorlieben ausmachte, ist in zahlreichen Biografien und Einzelstudien untersucht worden.29 Von seiner beträchtlichen Intelligenz einmal abgesehen, besaß Lee Kuan Yew sowohl Durchhaltevermögen als 310

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auch strategische Weitsicht. Auf seine Art war er zweifellos ein Demokrat, der den Konsens suchte, den ärgsten Extremen instinktiv aus dem Weg ging und in der Innen- wie in der Außenpolitik nicht selten einen milden, versöhnlichen und einen harten, unversöhnlichen Kurs einander bedarfsweise abwechseln ließ. Und er hatte einen ausgeprägten Sinn für das Gemeinwohl, der in seinem Einsatz für den multikulturellen Charakter Singapurs und für ein gerechtes, ausgewogenes Zusammenleben seiner verschiedenen Ethnien verankert war. Dennoch wäre es töricht, zu leugnen, dass LKY – ganz wie Tunku Abdul Rahman in Malaysia – auch eine ausgeprägte Neigung zum Paternalismus besaß, dass er Recht und Gesetz mit Füßen trat, wo es ihm angebracht erschien, und dass er seine politischen Gegner mitunter sehr hässlich anging. Sein Leben lang hat er sich, beispielsweise, auch für die Beibehaltung der gefürchteten Körperstrafen eingesetzt, mit denen er im Klassenzimmer seiner ersten, unter englischer Leitung stehenden Schule schon früh persönliche Bekanntschaft gemacht hat. Und er hatte auch keine Skrupel, in kontroversen Fragen persönlich zu intervenieren, so etwa bei staatlichen Regelungen zur Empfängnisverhütung oder im Ehe- und Scheidungsrecht. Als in späteren Jahren den Menschenrechten größere Aufmerksamkeit geschenkt wurde, wurde Lee sogar von eher liberalen Konservativen kritisiert. Und er wurde streitsüchtig beziehungsweise  – schließlich hatte er Jura studiert  – prozessfreudig: Wann immer Journalisten im In- oder Ausland ihn der Korruption oder der Vetternwirtschaft bezichtigten, ließ er Anklage erheben. Dennoch steht der Rang des von ihm Erreichten außer Zweifel. Was die Kraft und Nachhaltigkeit angeht, mit der er „seinem“ Land Singapur seinen ganz persönlichen Stempel aufgedrückt hat, kann es wohl kein anderer Politiker der neueren Zeit mit ihm aufnehmen. Auch über die vielfältigen Umbrüche, die LKY im Verlauf seines langen politischen Lebens nicht nur erduldet, sondern auch gestaltet hat, kann man nur staunen. Er begann seine Laufbahn als ein Englisch sprechendes Kind des britischen Kolonialreichs, dessen imperiale Erfolgsleiter er Sprosse um Sprosse hinaufkletterte. Früh in seiner öffentlichen Laufbahn betätigte er sich als Regionalpolitiker, dessen ganze Energie auf die Vereinigung von Singapur und Malaya gerichtet war. Aber von der Mitte seines Lebens an bis ins hohe Alter hat er den wilden, unabhängigen „Tiger“ Singapur ganz allein geritten, und das mit Geschick und Erfolg. In seinen Memoiren brüstet er sich damit, in seinem Leben vier Nationalhymnen gelernt zu haben. Die erste war God Save the King, die zweite die japanische Kimigayo, die dritte – zwischen 1963 und 1965 – die malaysische Negaraku und die vierte 311

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die gegenwärtige Hymne Majulah Singapura („Vorwärts, Singapur“). Nach der singapurischen Verfassung soll diese Hymne, die Majulah, stets in ihrer malaiischen Originalfassung gesungen werden, obwohl es natürlich offizielle Übersetzungen ins Englische, Chinesische und Tamilische gibt.30 Komponiert und geschrieben wurde sie bereits in den 1950er-Jahren, in Erwartung der bevorstehenden Selbstverwaltung: Mari kita rakyat Singapura Sama-sama menuju bahagia Cita-cita kita yang mulia Berjaya Singapura Marilah kita bersatu Dengan semangat yang baru Semua kita berseru Majulah Singapura Majulah Singapura!

Lasst uns, Volk von Singapur, weiter unser Glück anstreben, dass Singapur durch unser Tun weiter wird erfolgreich leben. Kommt, wir wollen zusammen wirken, in vereintem, neuem Geist, laut und klar vereint verkünden: Vorwärts, Singapur! Vorwärts, Singapur!

Die vier Hymnen, von denen LKY spricht, repräsentieren die vier Haupt­ perioden der neueren singapurischen Geschichte: die Kolonialzeit, die japanische Besatzung, die Nachkriegsjahre und schließlich das unabhängige Singapur. Jede dieser Zeiten, jede dieser Hymnen hat ihre ganz eigene Ausstrahlung.31 Die Kolonialzeit dauerte von der Neugründung der Stadt im Jahr 1819 bis zur japanischen Invasion im Februar 1942 – 123 Jahre lang. Sie begann unter mehr als ungewöhnlichen Umständen, die letztlich auf die Napoleonischen Kriege zurückzuführen waren und die von dem britischen Kolo312

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nialbeamten Sir Thomas Stamford Raffles (1781–1826), der ebenfalls eine reichlich ungewöhnliche Persönlichkeit war, zum Vorteil des Empire ausgenutzt wurden. Stamford Raffles, der einer Kaufmannsfamilie aus Yorkshire entstammte und an Bord eines Schiffes nach Jamaika zur Welt gekommen war, widmete ab dem Alter von vierzehn Jahren sein ganzes weiteres Leben der Britischen Ostindien-Kompanie. Eine Universität besuchte er zwar nie, besaß jedoch einen unstillbaren Wissensdurst, vor allem in Sachen Botanik, Zoologie, Völkerkunde, Geschichte und Sprachen. Seinen ersten Posten übernahm er 1805 in Penang, wo er Malaiisch lernte, bevor er als britischer Agent in das unter niederländischer Oberhoheit stehende Sultanat von Malakka geschickt wurde. Er war also bereits vor Ort, als die Royal Navy begann, die niederländischen Kolonialbesitzungen nach und nach unter ihre Kontrolle zu bringen. So wollten die Briten verhindern, dass nach der Besetzung der Niederlande durch die Truppen des revolutionären Frankreich 1795 auch noch diese Überseegebiete in französische Hände fielen. Raffles’ entscheidende Beförderung erfolgte im Jahr 1811, als er zum stellvertretenden Gouverneur der gerade eroberten Insel Java ernannt wurde. Einen Großteil seiner Zeit verbrachte er auf Expeditionen, er sammelte botanische Proben und stellte Handelskontakte zu den Einheimischen her, wodurch er das Handelsnetz der Niederländer Stück für Stück durch ein britisches ersetzte. So wurde er zu einem allseits geachteten Experten für die Flora und Fauna des tropischen Südostasien und schließlich sogar Mitglied der Royal Society.32 Zudem veröffentlichte er historische Studien und schrieb zum Beispiel die erste Geschichte Javas in englischer Sprache. Auf dem Rückweg nach London, wo er sich gegen bösartige Anschuldigungen verteidigen und seinen Ruf retten wollte, machte er 1815 auch Halt auf St.  Helena, wo er den gefangenen Napoleon Bonaparte besuchte; diesen beschreibt er in seinen Aufzeichnungen als „vulgär“ und „herrschsüchtig“. Die Kompanie ließ ihn nicht fallen, und so kehrte Raffles 1818 bis 1826 zu einer zweiten Amtszeit als Gouverneur in den Fernen Osten zurück, diesmal nach Bencoolen (heute Bengkulu) an der Westküste von Sumatra. Über die Jahre hatte er viel zu erdulden: Seine erste Frau starb auf Java, die zweite auf Sumatra. Sein Trost lag in der naturwissenschaftlichen Arbeit und in der Erforschung der Sprachen und Kulturen des Ostens. Im Jahr 1819 bot die Insel Singapura [sic] Raffles seine – wie seine Bio­ grafen es nennen  – „goldene Gelegenheit“. Die Insel war zu jener Zeit zwar nicht unbewohnt, war von den lokalen Herrschern aber seit Langem unbeachtet geblieben. Die Niederländer hatten niemals Anspruch darauf 313

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erhoben, und obgleich die Insel nominell dem Sultan von Johor unterstand, war dessen herrschaftliche Kontrolle faktisch gleich Null. Noch nicht einmal Raffles selbst hatte sich für dieses Eiland interessiert, bevor er es nicht selbst besucht und die dort schlummernden Möglichkeiten mit eigenen Augen gesehen hatte. Von seiner Basis Bencoolen auf Sumatra aus hatte er schon lange Zeit die umliegenden Meerengen nach einem günstigen Standort für einen neuen Marinestützpunkt abgesucht; bislang hatte er für diesen Zweck die nahe gelegenen Riau-Inseln favorisiert. Aber Anfang des Jahres 1819 ergriff er die Initiative. Er bediente sich eines gewissen Hussein Schah, der Anspruch auf den Thron von Johor erhoben hatte und für seine Mitwirkung bei Raffles’ Komplott nun zumindest fürstlich entlohnt wurde. Beschwörungen aus London, sich doch in Gottes Namen zurückzuhalten, schlug Raffles in den Wind. Er setzte einen fadenscheinigen Abtretungsvertrag auf und beanspruchte am 6. Februar die Insel im Namen der Britischen Ostindien-Kompanie. Der Union Jack wurde gehisst. Eine Erklärung wurde verlesen  – nicht nur auf Englisch, sondern sicherheitshalber auch noch in niederländischer, französischer, chinesischer und malaiischer Sprache. Und ein kleiner Trupp Soldaten ging an Land, die dort bleiben und ein Fort errichten sollten. Raffles selbst reiste umgehend wieder ab, hinterließ aber noch die Anweisung, dass in der Straße von Malakka allen Schiffen freie Durchfahrt gewährt werden solle. Raffles’ Überlegungen in dieser Sache gehen aus einem Brief hervor, den er keine zwei Wochen später an einen Verwandten in England schrieb: In Singapur schienen mir die Bedingungen weit vorteilhafter als in Rhio* und … Du wirst leicht erkennen, welchen Wert das nun Erreichte besitzt. Man muss nur einen flüchtigen Blick auf die Karte der Meerengen von Singapur werfen …, wo man ja sieht, dass wir gleich auf St. John’s Island noch einen weiteren Hafen haben, bei dem der ganze China-Handel direkt vorbeilaufen muss; das wird Dich überzeugen, dass unsere neue Station die [Stützpunkte an der] Straße von Malakka vollkommen übertrifft … Außerdem habe ich das gute Glück gehabt, einen der sichersten und größten Naturhäfen in den Gewässern dieser Weltgegend zu entdecken, wo alles ideal scheint, um den Seeverkehr auch in Kriegszeiten usw. auf das Beste zu schützen. Kurz gesagt: Singapur ist alles, was wir uns hätten wünschen können. … Es wird schon bald eine gewichtige Rolle spielen,

* Gemeint sind die Riau-Inseln.

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denn ich will alles unternehmen, um dem Mynheer* seine Pläne zu durchkreuzen; damit ist der holländische Zauber aus; und sie sind nicht mehr die alleinigen Herren auf den Meeren des Ostens.33

Nur wenige Tage darauf gab Raffles der Herzogin von Somerset brieflich einige Fingerzeige, wie sie die neu erworbene Insel auf einer Karte finden könne: Folgen Sie mir von Kalkutta über die Nikobaren und die Andamanen bis zur Prince-of-Wales-Insel,** sodann begleiten sie mich die Straße von Malakka hinunter, an der Stadt Malakka selbst vorüber und um die Südwestspitze der [Malaiischen] Halbinsel herum. Hier kommen Euer Gnaden nun in die sogenannte Straße von Singapur hinein, und auf Marsdens Karte von Sumatra werden Sie im nördlichen Teil dieser Meerenge eine Insel erblicken, die Singapura heißt; dies ist der Platz, ehemals die Stätte des wichtigsten Hafens der Malaien, und darin die Mauern jener Festung, die vor nicht weniger als sechs Jahrhunderten errichtet wurde und auf deren Zinnen ich die britische Flagge aufgepflanzt habe, wo sie ganz bestimmt noch lange und glorreich wehen wird.34

Nach ihrer Gründung dehnte sich die rasch wachsende Stadt entsprechend dem Jackson Plan von 1822 aus, den ein bereits ortsansässiger Ingenieur gleichen Namens entworfen hatte. Raffles selbst verfasste eine Stadtverordnung. Schulen und Kirchen wurden gebaut, Straßen angelegt und christliche Missionare eingeladen. In der ersten Phase seiner modernen Existenz, bis 1858, stellte Singapur das alleröstlichste Glied in der Kette von Besitzungen dar, welche die Britische Ostindien-Kompanie ihr Eigen nannte. Es lag äußerst isoliert: Von Großbritannien aus dauerte die Anreise drei Monate; aus Indien segelte man immer noch vier Wochen. Wichtige Meilensteine der Stadtgeschichte waren der Britisch-Niederländische Vertrag von 1824, der die Grenzen zwischen den Kolonialreichen der Briten und der Niederländer endgültig festlegte; dann im Jahr 1826 die Errichtung der Kolonie der Straits Settlements, der Singapur zugeteilt wurde; die Eröffnung eines Reparaturdocks der Royal Navy im Jahr 1836; und die erstmalige Verpachtung Hongkongs an Großbritannien 1842, die Singapurs Bedeutung als * Mit Mynheer sind die Verantwortlichen der Niederländischen Ostindien-Kompanie gemeint. ** Gemeint ist die Insel Penang in der Straße von Malakka, die früher auch als Prince of Wales Island bekannt war (Anm. d. Übers. T. G.).

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Knotenpunkt für Kommunikation und Transport entscheidend verstärkte. Erster britischer Resident und Stadtkommandant von Singapur wurde der Generalmajor William Farquhar, vormals Raffles’ leitender Ingenieur. Nach vierzig Jahren hatte die Einwohnerzahl 50 000 bereits überstiegen. Der Wasserspeicher von Fort Canning lieferte Trinkwasser für die Stadt und den Marinestützpunkt; die jährlichen Gesamteinkünfte wuchsen bis auf 12 Millionen Pfund Sterling an. In der zweiten Phase, von 1858 bis 1867, wurden die Straits Settlements einschließlich Singapurs der direkten Verwaltung durch das Londoner India Office unterstellt (siehe Kapitel 5). In der dritten und längsten Phase, die von 1867 bis 1942 dauerte, erblühte Singapur unter der Verwaltung des Colonial Office zu einem bedeutenden Handels- und Industriezentrum. Die Eröffnung des Sueskanals 1869 verringerte die Segelzeit von London nach Singapur auf nur noch vierzig Tage und eröffnete zudem eine ganz neue Route von London – über Aden und Singapur – nach Australien und Neuseeland. Die Einrichtung einer elektrischen Telegrafenleitung – das Kabel verlief über Bombay und Penang  – ermöglichte es im Jahr 1871, dass die Verantwortlichen in London fortan in direkten Kontakt mit dem damaligen Gouverneur, Generalmajor Sir Harry St. George Ord, und allen seinen Nachfolgern treten konnten. Und das Eintreffen einer Ladung Kautschukschösslinge aus Brasilien 1877 – nur 22 der empfindlichen Pflänzchen überlebten die weite Reise  – reichte aus, um den Startschuss für einen Kautschukboom in ganz Malaya zu geben. Auch die Zinnverhüttung kam nun in Gang, und zahlreiche Arbeitskräfte wurden ins Land geholt, die meisten von ihnen aus dem südlichen China. Von dieser Zeit an erlangte Singapur nach und nach all die Attribute einer modernen Großstadt: ein Rathaus, einen Bahnhof, Befestigungen und 1922 sogar einen Flughafen. Viele Ecken des alten Singapur, wie etwa der berüchtigte Bugis Precinct, waren ausgesprochen zwielichtig. Aber für die reichen und privilegierten Angehörigen der britischen Oberschicht am Ort hielt das Leben in Singapur viel Schönes bereit. Eine der Letzten, die dieses koloniale Luxusleben im Herbst 1941 noch genießen konnten, war die Society-Lady Diana Cooper, die ihren Ehemann, den Politiker und Diplomaten Duff Cooper auf einer Mission begleitete, bei der er die Verteidigungsbereitschaft der Singapurer Stadtbefestigungen überprüfen sollte. Lady Dianas Biograf webt ihre übermütig-indiskreten Erinnerungen in seine eigene Darstellung ein: Es war die Stadt ihrer Träume: ‚keine Straßenbahnen … oder Rauchschwaden, kein Hafenelend.‘ Singapur schien ihr voller Charakter und 316

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Charme, mit endlosen, endlos faszinierenden Straßenzügen unbestimmten Alters, die vor ihren Augen gerade zu bröckeln begannen. Die Garküchen auf den Straßen ‚rochen besser als Prunier’s‘ *, dort gab es saftigknusprige Krebse und andere Köstlichkeiten, die in blutroten chinesischen Keramikschalen serviert wurden. Was die Atmosphäre betraf, so war Singapur ein chinesisches Monte Carlo mit einem Hauch Venedig, ‚alles ganz morsch, auch ziemlich vulgär: Bauernbarock mit Pomp und Prostitution. Überall gehen die Chinamänner auf der Straße ihrer Arbeit nach: zimmern Särge, bemalen Lampions – es wird auch kolossal viel rasiert. Wenn ich so herumstreife und schaue und koste, wird mir nicht langweilig.‘ Sie machte sich daran, Malaiisch zu lernen, um mit den Bediensteten kommunizieren zu können, aber da die meisten der Hausdiener Inder oder Chinesen waren, blieb die Lernbereitschaft doch in engen Grenzen. Ah-hem, die amah [Amme], konnte nicht mit dem Koch reden, der wiederum hatte keine Sprache mit dem Gärtner gemein. Der Chauffeur, ein Polizist namens George, der wie Dschingis Khan aussah und an dessen Uniform ein rotes Abzeichen signalisierte, dass er Englisch sprach, war der einzige Mittler zur Kommunikation mit dem Personal. Sen Toy, der Butler, war eine besonders harte Nuss: Einmal hatte Duff nach seinem Fahrer verlangt, dann jedoch eine Flasche Minzlikör gebracht bekommen. Diana ließ elegante Lampions mit chinesischen Schriftzeichen bemalen und hängte sie in ihrem Schlafzimmer auf, hatte dabei jedoch keine Ahnung, ob sie ‚Bruchbänder oder Liebestränke feilbot oder – was weiß denn ich! – den Preis für eine schnelle Nummer annoncierte.‘ Das Haus war ein Traum, eine Villa in windoffener Lage mit einem üppig wuchernden Garten voller blühender Tropenbäume zwischen akkurat geschnittenen Zypressen- und Hibiskushecken. Sämtliche Wände im Haus, schien es beinahe, ließen sich nach Bedarf verschieben, und an Möbeln besaßen sie nur das Nötigste. Um die Ausstattung abzurunden, kaufte Diana einen jadegrünen Papagei mit scharlachroten Wangen und roter Stirn. Sie pflegte den Ring seiner Fußkette an einem langen Hibiskuszweig festzumachen und stellte diesen dann in eine Vase, über welcher der Papagei wie ein grünrotes Juwel funkelte. Eines unheimlichen Abends ließ sich ein Wechselkuckuck, dessen besondere Spezialität das wiederholte Hervorstoßen eines einzigen, gespenstischen Tons im Abstand von wenigen Sekunden ist, auf dem * Ein namhaftes französisches Restaurant in London, das von 1934 bis 1976 bestand (Anm. d. Übers. T. G.).

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Baum vor dem Schlafzimmerfenster nieder. Duff war schon nach wenigen Augenblicken außer sich vor Zorn – und Diana den Tränen nahe, weil sie ihren Ehemann unter Flehen davon abzubringen suchte, ihre liebevoll zusammengetragene Sammlung von Ming-Keramik als Wurfgeschosse in die Dunkelheit zu schleudern … Ein Abstecher über die Meerenge nach Johor erschien angebracht, endete aber beinahe in einer Katastrophe, als der kleine Elefant des Sultans seinen Rüssel ausstreckte und versuchte, Dianas Rock herunterzureißen. Bei Duffs Exkursion nach Java in einem Hudson-Bomber sah die Sache allerdings anders aus: ‚„Das ist kein Ort für Damen“, sagte [der RAFGeneralleutnant] mit Nachdruck …‘ Diana glaubte nicht, dass Singapur nach ihrer Abreise noch lange standhalten würde. ‚Bei den Deutschen sieht es gar nicht gut aus‘, sagte sie [zu ihrem Sohn], ‚und um die Itaker machen wir uns schon gar keine Sorgen, aber diese schlitzäugigen Zwerge aus Japan sind eine echte Plage.‘ Die Bewohner von Singapur, war sie sich sicher, würden bei der ersten sich bietenden Gelegenheit das Weite suchen.35

Für die Briten wird der Name Singapur wohl auf ewig mit einer der größten Katastrophen ihrer imperialen Geschichte verbunden bleiben. Schließlich war es in Singapur, im Februar 1942, dass dem mächtigen Britannien ein großer Teil seines Weltreiches aus dem Griff geriet – um nicht zu sagen aus dem „Würgegriff“. Und dabei gab Frau Britannia eine derart erbärmlichlächerliche Figur ab, dass auch ihr Anspruch auf den Rest ihres Reiches ernstlich Schaden nahm. Die Insel Singapur war laut und deutlich zur „uneinnehmbaren Festung“ erklärt worden, sie war „das Gibraltar des Ostens“, der Knotenpunkt aller wichtigen Seewege des Empire. In den Zwischenkriegsjahren hatte Singapur die astronomische Summe von ­ 63 000 000  Pfund Sterling erhalten, um seine Verteidigungsanlagen zu modernisieren. Beschützt wurde es von der Army of Malaya mit über 100 000  Soldaten, zahlreichen Geschwadern der Royal Air Force und der Royal Australian Air Force sowie der Ostasienflotte der Royal Navy. Ende 1941 wurde die Garnison von Singapur noch durch die Ankunft zweier mächtiger Kriegsschiffe verstärkt: des 35 000-Tonnen-Schlachtschiffs HMS Prince of Wales sowie des Schlachtkreuzers HMS Repulse mit 27 000 Tonnen. Die britisch-australische Militärpräsenz in Singapur stand im Zusammenhang des noch viel größeren alliierten Oberkommandos der Briten, Niederländer und Amerikaner im Pazifik (American-British-Dutch-Australian Command, ABDACOM). Das ABDACOM-Hauptquartier befand 318

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sich auf Java; verantwortlicher Oberbefehlshaber war der britische General (und spätere Feldmarschall) Sir Archibald Wavell. Doch allen diesen Vorkehrungen zum Trotz: Als Singapur die Probe aufs Exempel machte, brach seine Vereidigung zusammen wie eine morsche Bambushütte.36 Der Malaya-Feldzug von 1941/42 war ein Blitzkrieg von weniger als zwei Monaten Dauer, ähnlich dem Frankreichfeldzug der deutschen Wehrmacht 1940. Und der Grund für diesen rasanten Verlauf war haargenau derselbe wie in Frankreich: Niemand hatte den Angreifern – hier den Japanern, dort den Deutschen – gesagt, dass sie doch bitte keine moderne Technik und Taktik einsetzen und erst recht nicht durch eklatante Lücken in den strategischen Verteidigungslinien vorstoßen sollten. Die Verteidigung Singapurs wurde von einem inkompetenten Haufen von Dandys und überheblichen Aristokraten befehligt, deren „Leistung“ man später charakterisiert hat als eine „militärische Stümperei sondergleichen, dazu Unfähigkeit in der Verwaltung, unnötige Grabenkämpfe zwischen den Verantwortlichen der einzelnen Teilstreitkräfte, und letztlich [einen] Ausdruck völliger Ignoranz“.37 Ein amerikanischer Historiker hat das Geschehen in Anlehnung an eine berühmte Rede von Winston Churchill – „This was their finest hour …“ – als Großbritanniens „lausigste Stunde“ bezeichnet.38 Als die japanische Armee am 7. und 8. Dezember 1941 – also zeitgleich mit dem Angriff auf Pearl Harbor  – an der nordöstlichen Küste von Malaya landete, etwa 600 Kilometer von Singapur entfernt, konnte sich das britische Oberkommando noch nicht vorstellen, dass von dieser Landeoperation eine tödliche Gefahr ausgehen sollte. Nachdem Generalleutnant Arthur Percival, der kommandierende Offizier für Malaya, dem Gouverneur von Singapur, General Sir Shenton Thomas, über die Vorkommnisse Bericht erstattet hatte, sagte der Gouverneur nur zu seinem Stab: „Nun, dann denke ich doch, dass sie die Männlein ins Meer zurücktreiben werden!“39 In Wirklichkeit hatten die Invasoren jeden erdenklichen Vorteil auf ihrer Seite – mit der einzigen Ausnahme einer zahlenmäßigen Überlegenheit. Binnen einer Woche hatten sie die Briten zum Rückzug aus Penang an der Westküste gezwungen, was für die Bevölkerung ein grausames Schicksal bedeutete. In Sachen Panzer, schwere Bomber, moderne Jagdflugzeuge und Landungsboote hatten die Japaner ein Monopol; bei der Panzerartillerie waren sie zumindest stark überlegen. Ihr Können im Bereich komplexer Operationen, an denen verschiedene Truppenteile und -gattungen beteiligt waren, war auf einem äußerst hohen Niveau angelangt; insbesondere für die Kriegführung im Dschungel hatten sie sogar 319

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völlig neue Taktiken entwickelt. Alles in allem legte der japanische Planungsstab denselben Wagemut und Unternehmungseifer an den Tag, der den deutschen Blitzkrieg in Europa befeuert hatte. Bis die ersten britischen Gegenmaßnahmen ins Rollen kamen, hatten die Japaner ihre Landungszonen bereits verlassen. Für die behäbige britische Infanterie waren die japanischen Stoßtruppen, die ohne nennenswerte Gegenwehr über Nebenstraßen und Dschungelpfade vorrückten, schlicht zu schnell und zu beweglich. Wiederholt wurden britische Vorposten in kleineren Städten und an Eisenbahnknotenpunkten geradezu überrumpelt. Eine aufschlussreiche Szene hat der britische Offizier Freddie Spencer-Chapman festgehalten: Die Mehrzahl [der Japaner] kam auf Fahrrädern daher, in Trupps von vierzig oder fünfzig Soldaten, immer drei oder vier Mann nebeneinander in einer Reihe. Sie schwatzten und lachten, als wären sie auf dem Weg zu einem Fußballspiel. Tatsächlich trugen viele von ihnen Fußballtrikots; wie es schien, hatten sie überhaupt keine einheitliche Uniform oder Ausrüstung, sondern führten auf ihrem Marsch nur das Allernötigste mit, um nicht zu schwer beladen zu sein. … All das stand im krassen Gegensatz zu unseren eigenen Soldaten an der Front, die bepackt waren wie die Weihnachtsmänner – mit schweren Stiefeln und Beuteln und Tornistern, Feldflaschen, Decken und Unterlegplanen, ja sogar mit Übermänteln und Gasmasken –, sodass sie kaum mehr Luft zum Atmen hatten, geschweige denn zum Kämpfen.40

Der britische Befehlshaber, Generalleutnant Percival, ein „bleiches Grinsegesicht“, lehnte es ab, die Küstenbefestigungen der Insel Singapur zu verstärken, weil „dies der Kampfmoral im Inneren schaden würde“. Gleichzeitig gab er zu, dass „sowohl unsere Offiziere als auch die Mannschaften … vollkommen erschöpft“ waren. Und „zu ihrer körperlichen Erschöpfung kam noch eine psychische, die von der völligen Übermacht des Feindes zur See und in der Luft, aber auch von einem allgemeinen Gefühl der Aussichtslosigkeit verursacht war.“41 Innerhalb eines Monats nach der Landung der Japaner näherte sich die Front der Spitze der Malaiischen Halbinsel. Die peinliche Lage der britischen Armee an Land wurde durch die Niederlage der Royal Navy auf See noch verschlimmert. Am 8. Dezember 1941 verließ eine Flottille von fünf Kriegsschiffen den Hafen von Singapur. An Bord des Flaggschiffs HMS Prince of Wales war der Kommandeur des Geschwaders, der gerade erst zum Konteradmiral beförderte Sir Thomas Phillips, den seine Matrosen aufgrund seiner geringen Körpergröße von 320

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gerade einmal 1,62 Metern nur Tom Thumb nannten (den „kleinen Däumling“). Der Codename des Kampfverbandes war „Force Z“, und sein Ziel waren die japanischen Brückenköpfe an der Küste des nördlichen Malaya, die Phillips mit einem Überraschungsangriff neutralisieren wollte. (Eigentlich hätte auch der gerade erst in Dienst gestellte Flugzeugträger HMS Indomitable Teil dieses Geschwaders sein sollen, aber obwohl er der ostasiatischen Flotte bereits zugeteilt worden war, befand er sich zu letzten Wartungsarbeiten noch immer in einem Hafen in Großbritannien.) Ein verständnisvoller Marinehistoriker hat das Dilemma, in dem Phillips sich befand, wie folgt beschrieben: Sollte er mit voller Kraft in den Golf von Siam eilen und seine Schiffe damit einem Luftangriff von Indochina her aussetzen, nur weil er hoffte, auf diese Weise die Kommunikation der feindlichen Landungstruppen mit ihrer Zentrale abzuschneiden? Er ging das Risiko ein. Wenn die britische Luftwaffe und Armee um ihr Leben kämpften, konnte die britische Marine mit ihrer stolzen Tradition nicht tatenlos vor Anker liegen.42

Unglücklicherweise hatte der „Kampfverband Z“ den schützenden Hafen bereits verlassen, als Phillips erfuhr, dass er keine Luftunterstützung vom Festland her würde bekommen können. Und erst mitten im Südchinesischen Meer bemerkte er, dass sein Geschwader die Aufmerksamkeit japanischer U-Boote und Aufklärungsflugzeuge geweckt hatte. Phillips beschloss, umzukehren und auf dem Rückweg nach Singapur wenigstens noch der weiter südlich gelegenen japanischen Landezone bei Kuantan einen Besuch abzustatten. Tragischerweise unterließ er es jedoch – weil er absolute Funkstille halten wollte –, die genaue Position seiner Schiffe durchzugeben und wenigstens den Schutz der RAF-Jagdstaffel 453 anzufordern, die sich für solche Fälle in Bereitschaft hielt. Um 11:25 Uhr am Vormittag des 10.  Dezember konnte sich deshalb ein aus 34  Höhenbombern und 51 Torpedobombern bestehender Kampfverband der japanischen Luftwaffe ungehindert seiner Beute nähern. Unter der ersten Angriffswelle brach im Hangar der Prince of Wales ein Feuer aus. Die zweite Welle setzte ihre Schiffsschrauben außer Gefecht und machte sie manövrierunfähig, riss zudem gewaltige Krater in das Deck der Repulse und blockierte ihr Ruder. Innerhalb von Minuten kenterte die Repulse und sank mit feuernden Geschützen. 508  Seeleute verloren ihr Leben. Drei weitere TorpedoAngriffe brachten dem Flaggschiff mehrere Treffer bei; die gewaltige Prince of Wales war kaum mehr als eine dahintreibende Rauchfackel. In einem 321

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Akt von Barmherzigkeit gaben die japanischen Kampfpiloten den britischen Zerstörern per Funk zu verstehen, dass man sie bei der Suche nach Überlebenden nicht weiter angreifen werde. Um 13:30 Uhr explodierte die Prince of Wales und sank innerhalb von Sekunden, wobei sie Konteradmiral Phillips und 326 weitere Besatzungsmitglieder mit in die Tiefe riss. Als schließlich doch Jagdflugzeuge der Royal Air Force am Ort des Geschehens eintrafen, konnten sie nur noch zusehen, wie die Besatzungen der Zerstörer Überlebende und Leichen aus dem ölverseuchten Meer zogen.43 Das Ausmaß dieses militärischen Desasters kann man wohl nur mit der Seeschlacht von Tsushima vergleichen, bei der die Japaner 37 Jahre zuvor eine russische Flotte vernichtet und so erstmals ihr volles militärische Potenzial unter Beweis gestellt hatten.44 Aber die RAF schlug sich kaum besser als die Royal Navy. Ihr oberster Befehlshaber, der Generalleutnant Robert Brooke-Popham, ein Mann von kaum zu überbietender Selbstgefälligkeit, hatte eine Weile zuvor einen Schlachtplan unter dem Titel „Operation Matador“ zur Begutachtung und Genehmigung nach London geschickt. In diesem Papier ging BrookePopham davon aus, dass in Malaya überhaupt keine Kampfhandlungen stattfinden würden, da sich ein japanischer Angriff – sofern er denn überhaupt käme – zwingend gegen Thailand richten müsse. Auch hatte BrookePopham eine bereits zugesagte Lieferung moderner Torpedobomber des Modells Bristol 152 Beaufort noch immer nicht erhalten. Die beiden in Singapur stationierten Kampfstaffeln der RAF – Nr. 36 und Nr. 100 – waren mit veralteten Doppeldeckern vom Typ Vickers Vildebeest mit offenem Cockpit ausgestattet, von denen Brooke-Popham einmal gesagt hatte, sie seien „für Malaya noch gut genug“. Das malaiische Motto der Staffel 100 lautete Sarang tebuan jangan dijolok („Stich nie in ein Hornissennest“). Mit dem Heroismus der Battle of Britain, der Luftschlacht um England in den Jahren 1940/41, hatte das alles nichts zu tun. Schon Mitte Januar 1942 machte sich der britische Premierminister, Winston Churchill, seine Gedanken über die unmittelbar bevorstehende Kapitulation Malayas sowie die Belagerung von Singapur, die wohl darauf folgen würde. „Es ist unbedingt notwendig“, sagte Churchill damals dem britischen Oberbefehlshaber in der Region, „dass die Verteidigung der Insel [Singapur] bis zum absolut letzten möglichen Moment aufrechterhalten wird.“ Man mag sich daher Churchills Erstaunen vorstellen, als Feldmarschall Wavell ihm bereits am 19. Januar mitteilte, dass es nicht möglich sein werde, Singapur noch sehr viel länger zu halten. „Alle Pläne beruhten auf dem Zurückschlagen eines Angriffs von See her“, so Wavells müde 322

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Erklärung. „Kaum etwas wurde für den Bau von Verteidigungsanlagen am nördlichen Ufer getan [oder] um ein Übersetzen von Johor her zu verhindern.“ Churchill war, so seine eigene Formulierung, „entsetzt“. In seiner Antwort wies er unter anderem darauf hin, dass man unter „Festung“ gemeinhin einen „rundum von Verteidigungsanlagen umgebenen Zufluchtsort“ verstehe, und entwarf sodann einen Zehn-Punkte-Plan, mithilfe dessen Singapur „BIS ZUM TODE“ verteidigt werden sollte.45 Gleich am nächsten Tag musste ein wutentbrannter Winston Churchill den strategischen Implikationen seines Vorhabens ins Auge sehen: Was war für das Empire wesentlicher, Singapur oder Birma? Am Ende gab der Premierminister Birma, dem heutigen Myanmar, den Vorzug. „Unter strategischen Gesichtspunkten“, schrieb Churchill, halte ich die Sicherung der Burma Road [nach China] für wichtiger als den Erhalt Singapurs.“ Als erste Hinweise auf diese Überlegungen Canberra erreichten, konnten sich die Australier ausmalen, dass man sie nun wohl bald ebenfalls ihrem Schicksal überlassen würde – was dann ja auch geschah. Ein wütendes Schreiben des australischen Premierministers John Curtin fand seinen Weg nach London: „Nach all den Versicherungen, die man uns gegeben hat“, so Curtin mit deutlichem Zorn, „würde die Evakuierung Singapurs hierzulande als ein unverzeihlicher Akt des Verrats aufgefasst werden. Singapur ist eine wesentliche Festung im Verteidigungssystem des ganzen Empire, und gerade für die regionale Verteidigung von entscheidender Bedeutung. Man hat uns versichert, dass es ‚uneinnehmbar‘ gemacht werden sollte; ganz bestimmt jedoch sollte es eine ganze Weile ausharren können, und zwar mindestens so lange, bis die Hauptflotte [der Royal Navy im Pazifik] eingetroffen wäre“.46 Unterdessen wurden die Kampfverbände der RAF erheblich dezimiert. Zu Beginn des Jahres 1942 waren ihre Kräfte in Palembang auf Sumatra konzentriert gewesen, wo die Bombergruppe 225 (hauptsächlich Flugzeuge der Typen Hudson und Blenheim) und die Jagdgruppe 226 (hauptsächlich Maschinen des Modells Hurricane) zusammengezogen waren. BrookePopham, der sich schließlich am Rande des Nervenzusammenbruchs befunden hatte, war inzwischen nach Hause geschickt und durch einen Nachfolger ersetzt worden. Kurz darauf landeten die Japaner auch auf Sumatra und begannen einen heftigen Angriff auf Palembang selbst. Am 26. Januar wurden die Kampfstaffeln  36 und 100 bei Endau im Bundesstaat Johor in Gefechte verwickelt und beinahe völlig aufgerieben. Elf von zwanzig Vilde­ beest-Maschinen wurden abgeschossen, die beiden Staffelführer kamen ums Leben. Die Überreste dieser Einheiten traten den Rückzug nach Java 323

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an. Singapur, das bereits den wichtigsten Teil seiner Verteidigungskräfte zur See verloren hatte, büßte so auch fast seine gesamte Luftwaffe ein. Dann war da die Frage der bereits angeforderten Verstärkungen. Wenn Singapur tatsächlich aufgegeben werden sollte, dann verlangte eigentlich der gesunde Menschenverstand, dass sämtliche Verstärkungskonvois, die vom Sueskanal aus nach Osten unterwegs waren, eben nicht Singapur ansteuern sollten, sondern umgeleitet werden müssten. Das wurden sie aber nicht. Am 22. Januar landete die 44. Infanteriebrigade mit 7000 Soldaten, zwei Tage später noch ein australisches Bataillon von 2000 Mann. Mit Ausnahme einer kampferprobten Abteilung australischer MG-Schützen handelte es sich bei den Neuankömmlingen um unerfahrene Rekruten, die noch nicht einmal ihre Grundausbildung hinter sich hatten. „Es wäre besser gewesen“, merkt ein Historiker an, „wenn diese beiden Konvois niemals aufgebrochen wären.“47 Am 1.  Februar kamen sämtliche regulären Kampfhandlungen auf der Malaiischen Halbinsel zum Erliegen. Der Generalmajor David MurrayLyon von der 11.  Indischen Division war seines Kommandos entbunden worden. Der Brigadegeneral Gordon Painter (22.  Indische Infanteriebrigade) hatte kapituliert. Der Generalmajor Arthur Barstow, bekannt unter dem Spitznamen Bustling Bill („der emsige Bill“ oder „Hans Dampf“), Kommandeur der 9. Indischen Infanteriedivision, war gefallen. Der Hauptmann Patrick Heenan, ein gebürtiger Neuseeländer, der in der Britischen Indienarmee diente, war wegen Hochverrats vor ein Kriegsgericht gestellt worden – er hatte für die Japaner spioniert – und wurde kurz darauf von seinen Wärtern erschossen. Schwere Ausrüstung wurde unbrauchbar gemacht, damit sie den Japanern nicht in die Hände fiel. Eine strategisch wichtige Brücke, die für den Rückzug noch gebraucht worden wäre, wurde allzu früh gesprengt. Telegrafenleitungen wurden unnötigerweise durchtrennt. Unglücksraben wie etwa die Soldaten der 22.  Indischen Brigade wurden von ihren Kameraden abgeschnitten. Andere, wie die 27. Australische Infanteriebrigade, stürmten dem vorrückenden Feind mit aufgepflanztem Bajonett mutig entgegen  – mussten dann aber ebenfalls den Rückzug antreten. Oberstleutnant Charles Anderson, ein Australier, der den kämpfenden Rückzug der sogenannten Muar Force organisiert hatte, wurde mit dem Victoria Cross ausgezeichnet, dem höchsten britischen Kriegsorden.48 Zu diesem Zeitpunkt waren annähernd 50 000 Soldaten des britischen Commonwealth getötet oder gefangen genommen worden. Es begann ein Wettlauf zum Johor-Damm, bevor diese einzige Straßenverbindung nach Singapur auch noch gesprengt würde. Dem 3.  Korps 324

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gelang der Übermarsch von Johor Bahru noch unversehrt. Doch am 2. Februar um 8  Uhr morgens führten zwei Dudelsackspieler der Argyll and Sutherland Highlanders den letzten Nachhuttrupp an, der sich von der Halbinsel auf die Insel zurückzog; sie spielten die schottische Volksweise Hielan’ Laddie. Als das Pfeifen der Dudelsäcke verstummt war, wurden die bereits am Damm angebrachten Dynamitladungen gezündet und das Meerwasser strömte durch die Breschen. Große Teile der Infrastruktur waren jedoch intakt geblieben. Von Anfang an schienen die Chancen für die verbliebenen Verteidiger Singapurs schlecht zu stehen. Die Lebensmittelrationen waren absolut unzureichend. Auch die Vorräte an Munition und Treibstoff gingen rascher zur Neige als geplant, nachdem mehrere große Depots durch Feindeinwirkung zerstört worden waren. Es waren keine Panzergräben ausgehoben worden und inzwischen fehlten auch die Arbeitskräfte, um dies noch nachzuholen. Am schlimmsten war jedoch der Trinkwassermangel, jetzt wo das festländische Ende der Pipeline unter dem JohorDamm in japanische Hand gefallen war. Die großen Geschütztürme der seewärtigen Befestigungsanlagen von Singapur hatten einen Feuerradius, der es nicht erlaubte, Ziele auf dem Festland unter Beschuss zu nehmen. Ohnehin konnten sie nur panzerbrechende Granaten verschießen, die zum Einsatz gegen Schiffe gedacht waren. Die britische Radarerfassung war auf einen Minimalbereich geschrumpft, und lediglich eine einzige, armselige Staffel von Buffalo- und Hurricane-Jagdflugzeugen war übrig geblieben, um herannahenden japanischen Bombern Paroli zu bieten. Unter dem Mörserbeschuss, den die Japaner von in der Meerenge festgemachten Lastkähnen aus auf die Stadt richteten, brach nach und nach auch das Telefonnetz zusammen. Räumungsarbeiten und Evakuierungsmaßnahmen mussten unter der ständigen Bedrohung immer weiterer Luftangriffe durchgeführt werden. Jeden Tag starben in der Stadt zweitausend Menschen. Bewaffnete Plünderer zogen durch die Straßen. Das größte Schwimmdock des britischen Empire wurde versenkt, die Hafenkräne wurden untauglich gemacht und die Hafenarbeiter nach Ceylon eingeschifft. Um zu verhindern, dass sich die schrecklichen Szenen des japanischen Einmarschs in Hongkong wiederholten – dort hatte es Massenvergewaltigungen und Massaker gegeben –, schickte man alle weiblichen Bediensteten von Militär und Kolonialverwaltung nach Sumatra. Eine Armada von beinahe einhundert kleinen Schiffen und Booten verließ den Hafen. Eines von ihnen, eine Motorbarkasse mit dem Konteradmiral Ernest John Spooner an Bord, strandete unterwegs auf einer kleinen 325

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Insel, wo die Hälfte seiner Passagiere, darunter auch der Admiral, an Hunger und Durst zugrunde ging. In der Nacht vom 8. auf den 9.  Februar überquerten Teile der japanischen 5. und 8. Infanteriedivision im Schutz der Dunkelheit die Straße von Johor. Sie wurden von Kampfschwimmern begleitet, die ihre Ausrüstung und Gewehre über den Köpfen hielten, sowie von Dutzenden riesiger Pontons mit Panzern, Lastwagen, Treibstoff und Munition. Als Erstes sabotierten sie die britischen Suchscheinwerfer. Als der Morgen anbrach, hatten die Invasoren am Nord- und am Westufer der Insel bereits 23 000  Mann an Land gebracht. Es folgte ein heftiges Trommelfeuer der japanischen Artillerie: Mit großkalibrigen Fernkampfgeschützen beschossen die Angreifer – noch vom Festland aus – Ziele in 20 bis 25 Kilometern Entfernung. Entgegen den Anweisungen der britischen Stadtkommandantur waren am inselseitigen Brückenkopf des Johor-Dammes keine Verteidigungsstellungen eingerichtet worden, und es gelang den Japanern sehr bald, die zur Verteidigung gedachte „Jurong-Linie“ zu durchbrechen. Der eine verbliebene Flugplatz der Insel, in Kallang nahe der großen Stadt, wurde zum vorgeschobenen Landestreifen herabgestuft, nachdem auch die letzten dort stationierten Maschinen nach Sumatra abgezogen worden waren. Wavell, immerhin der amtierende Oberbefehlshaber, kam zu einem Blitzbesuch vorbei und bekam bei dieser Gelegenheit eine typische ChurchillBotschaft ausgehändigt: „Die Schlacht muss bis zum bitteren Ende und um jeden Preis geführt werden“, hieß es da. „Von den Kommandierenden und den höheren Offizieren wird erwartet, dass sie an der Seite ihrer Männer sterben. Die Ehre des britischen Empire und des britischen Soldaten steht auf dem Spiel … Das ganze Ansehen unseres Landes und unserer Rasse ist hiervon betroffen.“49 Bei seiner Abreise musste sich Wavell einige Stufen im Dunkeln zu seinem wartenden Flugboot hinab vortasten. Er stolperte und stürzte so schwer, dass er das Bewusstsein verlor und sich mehrere Rückenwirbel brach. Dieses Unglück sollte sich als ein düsteres Vorzeichen erweisen. Am 12. und 13. Februar gerieten auch die inneren Verteidigungslinien in Auflösung. An der Spitze der japanischen Stoßtrupps rückten Panzer vor. Der Vorort Bukit Panjang, eher noch ein Dorf, fiel als Erstes in japanische Hand; Bukit Timah folgte. Damit lag der Weg nach Singapur hinein offen. General Percival befahl seinen verbliebenen Truppen, sich entlang eines engeren Verteidigungsperimeters neu zu gruppieren. Als er sich zum Gouverneurspalast fahren ließ, um dort über das weitere Vorgehen zu beraten, fand er diesen von japanischem Artilleriebeschuss verwüstet und völlig 326

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verlassen vor. Bei dem Bombardement waren sämtliche Geldreserven verbrannt, der Sendemast des Radiosenders umgerissen worden. Was jedoch am schlimmsten war: Die Hauptleitung des MacRitchie-Stausees war beschädigt worden, wodurch viele Tausend Liter kostbares Trinkwasser verloren gingen. Der verantwortliche Ingenieur schätzte, dass die Reserven binnen 24 bis 48 Stunden erschöpft sein würden. Am Samstag, dem 14.  Februar leisteten die Bürgerwehr des Singapore Volunteer Corps und die Soldaten der 1.  Malaya-Brigade den Invasoren erbitterten Widerstand. Beide Einheiten rekrutierten sich aus ortsansässigen Chinesen, wurden jedoch von britischen Offizieren befehligt. Alle hatten sie von den Gräueltaten gehört, die von den Japanern in China bereits verübt worden waren. Dennoch verlor ihr Heldenmut beinahe minütlich an Sinn. Inzwischen waren sowohl die Trinkwasserreservoirs als auch die zentralen Lebensmitteldepots von den Japanern erobert worden. Ein australischer General namens H. Gordon Bennett kabelte an seinen Premierminister – nicht jedoch an seine unmittelbaren Vorgesetzten –, dass er zu kapitulieren gedenke, und verbot dann seinen Männern die Flucht, bevor er sich selbst absetzte. Im Durcheinander des Untergangs verließen noch einmal zahlreiche kleine Schiffe und Boote mit Fliehenden und Möchtegern-Davongekommenen den Hafen von Singapur. Die meisten dieser Fahrzeuge wurden von japanischen Patrouillenbooten abgefangen, viele auch versenkt. Ein Schiff, das bis zum Rand mit australischen Krankenschwestern besetzte Kanonenboot SS Vyner Brooke, erreichte die Küste von Sumatra – nur um dort festzustellen, dass auf Sumatra tags zuvor japanische Fallschirmjäger gelandet waren. Die Krankenschwestern mussten am Strand in einer Reihe Aufstellung nehmen und wurden mit vorgehaltenen Bajonetten rückwärts zurück ins Wasser getrieben; als sie hüfttief in der Brandung standen, mähte man sie mit Maschinengewehrsalven nieder. Nur eine von ihnen, Schwester Vivian Bullwinkel, überlebte schwer verletzt, weil die Japaner sie für tot gehalten hatten.50 Am Morgen des 15. Februar, als um 9:30 Uhr die letzte Stabsbesprechung in Fort Canning begann, war der „Schwarze Sonntag“ von Singapur angebrochen. General Percival war der Meinung, dass eine weitere Gegenwehr in der Defensive sinnlos sei; entweder solle man einen Gegenangriff improvisieren oder sich gleich ergeben. Seine Kollegen hielten dagegen, dass ein Gegenangriff – selbst ein improvisierter – vollkommen unmöglich sei. So fasste man also den Beschluss zur Kapitulation. Dreizehn Tage hatte die Belagerung von Singapur gedauert. 327

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Die Briten schickten eine Delegation nach Bukit Timah, um mit dem japanischen General Tomoyuki Yamashita über die Bedingungen einer Kapitulation zu verhandeln. Als die Unterhändler dort eintrafen, ließ Yamashita sie jedoch wissen, dass er eine offizielle Kapitulation ausschließlich von General Percival persönlich entgegennehmen werde. Außerdem solle auf dem Cathay Building, dem höchsten Gebäude Singapurs, die japanische Kriegsflagge gehisst werden, die „Flagge der aufgehenden Sonne“. Obwohl bereits mehrere Massaker geschehen waren, versprach der japanische General seine Garantie für Leib und Leben der Briten und Australier, Zivilisten wie Soldaten und sonstige Militärangehörige. Punkt 20:30  Uhr sollte das Feuer eingestellt werden. Aber zuvor wollte man die Vertreter des britischen Weltreiches noch einer rituellen Demütigung unterziehen: Eine Gruppe britischer Offiziere wurde von einer bewaffneten japanischen Eskorte nach Bukit Timah gebracht. Dieser Marsch der Besiegten wurde auch gefilmt: Zu sehen sind die geschlagenen Briten, die von zwei wesentlich kleiner gewachsenen Japanern bewacht werden. Die Briten schreiten zielstrebig aus in ihren Standard-Tropenuniformen: Stahlhelme mit Kinngurt, kurzärmelige Khakihemden mit Schulterklappen, knielange Hosen zu Kniestrümpfen. General Percival marschiert in der vordersten Reihe ganz links außen, die Augen geradeaus. In der Mitte trägt ein Offizier einen großen Union Jack an einer langen Fahnenstange; neben ihm trägt ein anderer die weiße Fahne der Kapitulation. Um 20 Uhr am selben Abend unterzeichneten die Generäle Percival und Yamashita die Kapitulationsurkunde. In Percivals Kriegserinnerungen wird die Szene der britischen Kapitulation mit einem Gestus der Selbstentlastung und -rechtfertigung geschildert, der für den Verfasser charakteristisch ist: Ich glaube, dass meine Leser von mir keine detaillierte Wiedergabe [jener] qualvollen Geschehnisse verlangen werden … Das Treffen mit General Yamashita fand in der Automobilfabrik der Firma Ford statt … Es gab wenig Spielraum für Verhandlungen, aber ich tat, was ich konnte, um die Sicherheit von Soldaten und Zivilisten gleichermaßen zu gewährleisten. … Meine Erklärung, dass sich keine [britischen] Schiffe oder Flugzeuge mehr auf Singapurer Gebiet befänden und dass alle schwereren Waffen, militärische Ausrüstung und geheime Dokumente auf mein Geheiß hin zerstört worden seien, nahm [Yamashita] mit größerem Gleichmut auf als erwartet. Ich hatte in diesem Moment ja noch keine Ahnung, dass ich später in demselben Krieg auch bei der Kapitulation General Yamashitas zugegen sein würde – aber genau so sollte es kommen.51 328

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In einem abschließenden Kapitel, das „Rückblick“ überschrieben ist, behauptet Percival, die japanischen Invasionstruppen seien fünfmal so zahlreich gewesen wie gemeinhin angenommen. Außerdem lässt er sich über die „verbreitete britische Unsitte“ aus, nach jedem Unglück auf „eine Jagd nach Sündenböcken“ zu gehen.52 Eine japanische Nachrichtenagentur brachte ihre eigene Version der Geschehnisse in Umlauf, und japanische Zeitungen druckten auf dieser Grundlage die angeblich ungekürzte Mitschrift einer insgesamt 49-minütigen Unterhaltung zwischen dem britischen und dem japanischen Oberbefehlshaber: Yamashita (TY): Ich werde einzig und allein eine bedingungslose Kapitulation akzeptieren. Percival (AEP): Ja. TY: Sind irgendwelche japanischen Soldaten gefangen genommen worden? AEP: Nein, kein Einziger. TY: Ich will jetzt hören, ob Sie [bedingungslos] kapitulieren werden oder nicht. AEP: Geben Sie mir Bedenkzeit bis morgen früh? TY: Morgen? Ich kann nicht warten. AEP: Aber vielleicht bis 23:30 Uhr Tokioter Zeit? TY: Wenn das so ist, werden unsere Truppen wohl wieder angreifen müssen. Sagen Sie jetzt ja oder nein? AEP: (keine Antwort) TY: Ich will eine endgültige Antwort hören und ich bestehe auf einer bedingungslosen Kapitulation. Also, was sagen Sie? AEP: Ja … TY: Vertrauen sie dem bushidō [‚Weg des Kriegers‘, japanische Kampf­ ethik]53

Die schlechte Behandlung, der sowohl Zivilisten als auch Kriegsgefangene von japanischer Seite ausgesetzt waren, nachdem die Garnison von Singapur sich schließlich ergeben hatte, spottet jeder Beschreibung. In den ersten paar Tagen wurden 5000  Chinesen ermordet  – die ersten von rund 50 000 Todesopfern bis zum Ende des Krieges. Von den in der Stadt verbliebenen Frauen wurden zahlreiche zu Opfern von Massenvergewaltigungen, bevor man sie zum „Dienst“ in japanischen Armeebordellen zwang. Mehr als 80 000 britische, australische und indische Soldaten wurden gefangen genommen, von denen jeder Dritte an Hunger, Überanstrengung bei der 329

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Zwangsarbeit, Misshandlungen oder Krankheiten starb.54 Das Gefangenenlager von Changi bei Singapur war eines der tödlichsten und gefürchtetsten des ganzen Pazifikkrieges.55 Auch Gouverneur Thomas, der bis zum bitteren Ende darauf bestanden hatte, dass die Herren zum Dinner im Smoking erschienen, fand sich nun unter den Kriegsgefangenen wieder. Und in dieser tiefsten Not bewies er dann doch Anstand: „Was mit uns geschieht, ist egal“, sagte er, „leid tun mir vielmehr die Leute. Es ist ja ihr Land, und wir haben sie im Stich gelassen.“56 Die Konsequenzen dieses „größten Debakels der britischen Militärgeschichte“ sind nicht schwer zu erkennen. Erstens hatten die Briten, obgleich sie 1945 für eine kurze Reprise als Kolonialherren zurückkehrten, in den Augen ihrer früheren Untertanen unwiederbringlich ihr Gesicht verloren. „Der prächtige Bau des kolonialen Singapur, den der Abenteurer Stamford Raffles auf der Grundlage eines schlammigen Tropendorfes errichtet hatte“,57 war dem Untergang geweiht. Mit dem „imperialen Geist“, den Raffles verkörpert hatte und der über Jahrhunderte gepflegt wurde, war es ganz ähnlich. Zweitens waren die Asiaten ermutigt worden, im Sinne einer allgemeinen Revolte gegen den europäischen Imperialismus ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Mochte auch, wie ein Autor schreibt, der britische Imperialismus seinem japanischen Gegenstück „himmelweit vorzuziehen“ sein – die Illusion, dass Europäer zum Herrschen geboren seien, Asiaten aber zum Dienen, war für immer zerschlagen. „Es war nur eine Frage der Zeit, bis dieser hektische, schwüle und üppige Hafen … nicht mehr als ‚Europas Tor zum Osten‘ bekannt sein würde, sondern vielmehr als ‚Asiens Tor zum Westen‘.“58 Drittens machte der tiefe Fall der unglückseligen Briten überhaupt erst den Weg frei für den Einfluss der Amerikaner als neuer Weltmacht in der Region. Während die eine Sorte von Angelsachsen den Rückzug antrat, kam eine andere, vielleicht die forschere und kräftigere, gerade erst in Fahrt. Hier wie auch anderswo dauerte es eine Weile, bis dieser „Übergabeprozess“ abgeschlossen war. Aber mit dem Aufstieg der Volksrepublik China aus den Trümmern von Teilen des japanischen Großreichs erschienen die Vereinigten Staaten als einzig verbliebene Schutzmacht aller „freien Nationen“ in Südostasien und dem pazifischen Raum. Kein Land hat diesen Startschuss einer neuen Ära mit wacheren Ohren vernommen als Australien. In seiner Neujahrsansprache für 1942 nahm der australische Premierminister John Curtin kein Blatt vor den Mund, was diese Machtverlagerung betraf: 330

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Was wir brauchen, ist eine stabile und unüberwindbare Sperre … zum Schutz gegen die drei Achsenmächte, und wir wehren uns dagegen, dass der Krieg im Pazifik als ein nachrangiger Nebenschauplatz des allgemeinen Konflikts betrachtet wird. … Ohne jede Zurückhaltung will ich offen aussprechen, dass Australien nach Amerika blickt, ohne deshalb ein schlechtes Gewissen zu empfinden wegen unserer alten Verbundenheit, ja Verwandtschaft mit dem Vereinigten Königreich … Wir werden deshalb all unsere Energie auf die Entwicklung eines neuen [strategischen] Plans verwenden, eines Plans, in dem den Vereinigten Staaten eine tragende Rolle zukommt.59

Das also war die erste Frucht jenes „unverzeihlichen Verrats“, als den Curtin in einem Telegramm an Churchill die britische Aufgabe Singapurs bezeichnete. Winston Churchill war sich dieser Verschiebung des Machtgefüges von Anfang an sehr wohl bewusst. Am 15. Februar 1942, dem Tag, an dem Singapur fiel, hielt er eine seiner sporadischen „weltweiten Rundfunkansprachen“. Nachdem er seine Sicht auf die Ereignisse seit der Unterzeichnung der Atlantik-Charta im vorangegangenen August ausgeführt, die russische Verteidigung gegen den deutschen Überfall gelobt und den „verbrecherischen Wahnsinn“ des japanischen Vorgehens angeprangert hatte, kündigte Churchill zwei große Ereignisse an. Das erste war, „dass die Vereinigten Staaten nun gemeinsam mit uns, mit allen Kräften am Kriege teilnehmen … [und ich] kann … nicht glauben, … dass irgendein Faktum in der ganzen Welt sich damit vergleichen lässt.“ Dann erst verkündete der britische Premier seinen Zuhörern das zweite Ereignis: Ich spreche zu Ihnen allen unter dem Eindruck einer schweren und folgenschweren militärischen Niederlage. Es ist eine Niederlage Großbritanniens und des Empires. Singapur ist gefallen. Die gesamte Halbinsel Malaya ist überrannt worden. … [Doch] bisher haben wir nicht versagt. Wir werden auch nicht versagen. Wir wollen gemeinsam standhaft in den Sturm hinein und durch den Sturm hindurch schreiten.60

Die japanische Besatzung von 1942 bis 1945 hätte wohl wesentlich länger gedauert, hätten nicht die Amerikaner im Pazifik gesiegt. In der frühen Phase des Konflikts jedoch, vor den entscheidenden Seeschlachten im Korallenmeer und um die Midway-Inseln, waren die Alliierten in arger Bedrängnis. Die siegestrunkenen Japaner wollten Singapur zum südlichen Aushängeschild ihres frisch eroberten Reiches machen und gaben ihm den 331

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neuen Namen Syonan-to, „Licht des Südens“. Sie inhaftierten alle britischen Soldaten, Verwaltungsleute und Zivilisten am Ort in Lagern und begannen, nicht nur eine rabiate Militärgesetzgebung durchzusetzen, sondern auch ein umfassendes, systematisches Programm der „Japanisierung“ Singapurs: Englisch, so wollten es die neuen Herren, sollte als Lingua franca ausgedient haben; stattdessen wurden die japanische Sprache, Kultur und Bildung eingeführt  – unter Zwang, versteht sich. Die Uhren wurden auf Tokioter Zeit umgestellt und der „kaiserliche“ japanische Kalender eingeführt, sodass aus dem Jahr 1942 von heute auf morgen das Jahr 2062 wurde. Auch setzten die Japaner die chinesische Gemeinde von Singapur grausamen Repressalien aus, obwohl sie selbst behaupteten, durch ihre Ideologie des Nippon Seishin, des „japanischen Geistes“, alle Asiaten gegen den westlichen Imperialismus einen zu wollen. In seiner allerersten Ansprache nach Eroberung der Stadt legte General Yamashita am Nachmittag des 15. Februar 1942 seine Absichten dar: Wir hoffen, die britischen Elemente mit ihrer Arroganz und Verworfenheit hinwegzufegen, und teilen Freude und Leid mit allen Völkern [Asiens] im Geist eines ‚Gebens und Nehmens‘ … Wir hoffen auch, in ganz Ostasien eine Sphäre gemeinsamen Wohlstands zu errichten, auf deren Grundlage und durch den ‚Großen Geist der Kosmokratie‘ eine Neue Rechtsordnung erreicht werden muss.61

Drei Jahre später signalisierte der Oberkommandierende der japanischen 7. Armee, General Itagaki, auf den Kapitulationsbefehl seines Kaisers hin Folgebereitschaft, obwohl er noch immer 70 000 Bewaffnete unter seinem Kommando hatte. Am Abend des 3. September 1945 hielten 300 seiner Offiziere letztes Sake-Gelage im vormaligen Raffles Hotel, bevor sie sich schließlich allesamt in ihre Schwerter stürzten, um „zu ihren Ahnen zu gehen“. Am folgenden Tag unterschrieb Itagaki an Bord der HMS Sussex, die in der Bucht vor Anker gegangen war, die japanische Kapitulation. Und am 12. September fand, unter der Federführung von Lord Louis Mountbatten, eine weitere, rituelle Kapitulationszeremonie im Rathaus von Singapur statt, wodurch nun der Feind gedemütigt wurde, der einst die Alliierten gedemütigt hatte. Hoch über dem Rathaus wehte – als deutlichstes Symbol dieser Revanche – just jene britische Fahne, die General Percival im Jahr 1942 zu seiner Kapitulation nach Bukit Timah begleitet hatte. General Percival war inzwischen aus einem Kriegsgefangenenlager in der Mandschurei entlassen worden und hatte es gerade noch rechtzeitig 332

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nach Tokio geschafft, um dort an der Seite General Douglas MacArthurs der entscheidenden Kapitulation des japanischen Kaiserreiches beizuwohnen, die am 2. September 1945 an Bord der USS Missouri stattfand. Er wurde dann nach Kiangan auf den Philippinen geflogen, um dort auch bei der Kapitulation der japanischen 14. Armee dabei zu sein, deren Kommandeur kein Geringerer war als sein alter Widersacher aus Singapur, General Yamashita. Percival weigerte sich, ihm die Hand zu reichen. Dem unglücklichen Yamashita stand ein wenig beneidenswertes Ende bevor. Er wurde als Kriegsverbrecher vor Gericht gestellt, wegen der Gräueltaten, die seine Truppen in Singapur, vor allem aber in Manila verübt hatten. Obwohl sein Verteidiger, ein brillanter amerikanischer Militäranwalt, argumentierte, dass kein Offizier für Taten seiner Untergebenen verantwortlich gemacht werden könne, die ohne sein Mitwissen oder gar gegen seinen ausdrücklichen Befehl begangen worden waren, wurde Yamashita schuldig gesprochen und hingerichtet. Mit seinem Tod schuf er den einschlägigen Präzedenzfall für den heute nach ihm so genannten „Yamashita-Standard“ der Vorgesetztenverantwortlichkeit, der besagt, dass militärische Befehlshaber und andere Verantwortliche in solchen Fällen durchaus zur Rechenschaft gezogen werden können – ein völkerrechtliches Prinzip, das, etwa vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, bis heute Beachtung findet. Der Wiederaufbau und die allgemeine „Genesung“ Singapurs nach dem Zweiten Weltkrieg waren kein einfacher Prozess. Die Briten hatten bei ihrer Rückkehr viel von ihrem einstigen Ansehen eingebüßt, und nach der Unabhängigkeitserklärung Indiens im Jahr 1947 rechnete man allgemein damit, dass sich „so etwas“ nun häufiger ereignen würde. Die Wirtschaft kam zwar schon bald wieder in Gang, jedoch wurden die Vorbereitungen für die erhoffte Selbstverwaltung von territorialen Komplikationen geplagt. In ihrer großen Weisheit hatten die Beamten des britischen Colonial Office Singapur 1945 nämlich nicht der Malaiischen Union zugeschlagen, sondern es den britischen Kolonien Nordborneo und Sarawak zugeordnet. Das hatte zur Folge, dass die Freizügigkeit der Singapurer stark eingeschränkt war. Erst 1957 wurde Singapur zudem die Verantwortung für die Weihnachtsinsel und die Kokosinseln los. Einer der Gründe dafür, dass Singapur 1963 der Föderation Malaya beitrat, lag in dem Wunsch, solche politischen und wirtschaftlichen Belastungen in der Region auf mehrere Schultern zu verteilen. 1964 brachen Rassenunruhen zwischen Malaien und ethnischen Chinesen aus, die von den innenpolitischen Spannungen in der Föderation noch weiter angefacht wurden. In diesem Licht erscheint die Entscheidung, 333

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Singapur aus der Föderation auszuschließen, als ein regelrechter Segen. Nordborneo und Sarawak verblieben in der Föderation; Singapur ging fortan seinen eigenen Weg. Seine Unabhängigkeit erlangte Singapur also unter nicht gerade idealen Bedingungen. Es waren nur spärliche Vorbereitungen getroffen worden, und dabei wurde die Region gerade vom Bürgerkrieg in Indonesien sowie der Kulturrevolution in China erschüttert. Die Gründerväter Singapurs müssen sich unter solchen Umständen sehr verletzlich gefühlt haben – zu ihnen gehörten neben „LKY“ auch noch weitere ethnische Chinesen wie Goh Keng Swee (1918–2010) sowie Singapurer indischer Abstammung wie Devan Nair (1923–2005) und S. R. Nathan (1924–2016), außerdem der Respekt einflößende David Marshall (1908–1995), dessen jüdische Familie aus Bagdad stammte. Und doch  – trotz aller Unwägbarkeiten  – schritten sie munter und ohne größere Rückschläge voran, wobei sie stets darauf achteten, sich den Rat (und die finanzielle Unterstützung) anderer kleiner (und finanzstarker) Länder zu sichern: Zur Regulierung des singapurischen Bankenwesens holte man sich Experten aus der Schweiz, die Stadt- und Raumplanung übernahmen niederländische Berater, die Landesverteidigung und die Sicherheitsbehörden plante man in Rücksprache mit der israelischen Armee und dem Mossad (dessen Agenten sich bei der Einreise als Mexikaner ausgaben). Das Konzept einer „totalen Verteidigung“  – die neben der militärischen auch noch zivilgesellschaftliche, wirtschaftliche und psychologische Komponenten umfassen sollte – übernahm Singapur aus Österreich. Eine nationale Wehrpflicht wurde eingeführt (die singapurische Armee unterhält noch heute ein permanentes Reservoir von rund 400 000 ausgebildeten Reservisten), und vor allem suchte Singapur stets eine enge Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten, die in den späten 1960er-Jahren zustande kam und seitdem fortgeführt wird.62 Zwar gibt es kein offizielles Bündnis, aber eine Reihe von strategischen Vereinbarungen, auf denen ein großes Maß von gegenseitigem Einverständnis beruht. Singapur kauft hoch entwickelte amerikanische Rüstungsgüter und profitiert davon, US-Basen und militärische Ausbildungsprogramme mitnutzen zu können. Dafür dürfen die US-Streitkräfte ihrerseits Einrichtungen in Singapur nutzen. Kampfstaffeln der US-Luftwaffe sind turnusmäßig auf dem Luftwaffenstützpunkt Paya Lebar stationiert, und die Marinewerft von Changi übernimmt Wartungsarbeiten auch für amerikanische Flugzeugträger. Im Jahr 2012 besaß die singapurische Luftwaffe sage und schreibe siebzig Stück des Mehrzweckkampfflugzeugs Lockheed Martin F-16, die meisten davon halten sich auf Basen in Nordamerika in Bereitschaft. „Holz334

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auge sei wachsam“, heißt die Devise, obwohl man den Feind nicht genauer benennt. Jedes Jahr am 15. Februar – dem Jahrestag der Kapitulation von 1942  – ist Total Defence Day  – „Totalverteidigungs-Tag“: Sirenen heulen. Reden werden gehalten. Das öffentliche Frühwarnsystem PWS (Public Warning System) sendet eine „Dringende Mitteilung“ im Radio und im Fernsehen. Zivilschutzeinheiten werden zusammengerufen. Und alle Bürger von Singapur werden zur Vorsicht aufgerufen: Sie sollen nicht in jenen Sumpf aus Selbstzufriedenheit und Bequemlichkeit geraten, der die Briten einst ruiniert hat. Auf Geschäftsreisen oder bei Zwischenlandungen verbringen die meisten Besucher höchstens ein paar Tage in Singapur, mehr Zeit können sie nicht erübrigen. Dabei täten sie gut daran, ihren Aufenthalt ein wenig auszudehnen. So wie es ist, hängt ihre Taktik maßgeblich davon ab, ob sie der Hitze im Freien trotzen oder in den klimatisierten Museen und Galerien der Stadt Zuflucht suchen wollen. Wenn Ersteres der Fall ist, stehen ihnen einige großartige Optionen für einen Ausflug unter freiem Himmel offen, darunter der Botanische Garten, der Nationale Orchideengarten oder der Nationalpark von Sungei Buloh, einem Feuchtgebiet mit tropischen Mangrovenwäldern. Sollten sie ihre Zeit lieber im Kühlen verbringen wollen, hätten sie sich zwischen dem hervorragenden Museum der asiatischen Kulturen, dem Nationalmuseum, dem Historischen Museum von Singapur oder vielleicht noch der neuen Nationalgalerie im alten Rathaus zu entscheiden, deren Fokus auf zeitgenössischer asiatischer Kunst liegt. Wer sich – wie ich in Delhi – dafür entscheidet, das religiöse Leben der Stadt zu erkunden, der kann mit dem buddhistischen „Zahntempel“ beginnen, wo als Reliquie ein Zahn des Buddhas aufbewahrt wird (Buddha Tooth Relic Temple and Museum), dann mit dem Hinduschrein Sri Mariamman und der Malabar-Moschee weitermachen und sich schließlich bis zur St.Andrew-Kathedrale vorarbeiten. Wer es säkularer, aber dennoch multikulturell mag, den zieht es ins Chinatown Heritage Centre, dann nach „Little India“, in das malaiische Viertel Kampong Glam („kleines Dorf“) oder zu den sensationellen, ultramodernen und direkt am Wasser gelegenen Neubauten von Marina Bay.63 „BBB“ steht für Bras Basah Bugis, was auf Englisch meist verkürzt als „Bugis Street“ wiedergegeben wird – oder gleich als Boogie. Benannt ist sie ursprünglich nach den Bugis, einer malaiischen Volksgruppe von der indonesischen Insel Sulawesi, die sich im Mittelalter vor allem als Seeräuber hervorgetan haben. Die in Singapur nach ihnen benannte Straße liegt nahe dem Hauptarm der Marina Bay und war früher das Herzstück des 335

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Rotlichtviertels von Singapur. Hier gab es Spielhöllen, Matrosenkneipen, Wahrsager, Nackttänzerinnen, Damen mit Würgegriff-Erfahrung, Transvestiten – kurz, es war die Antwort des Ostens auf die Pariser Place Pigalle oder die Hamburger Reeperbahn. In den 1980er-Jahren jedoch wurden die heruntergekommenen Straßenzüge abgerissen, die Bewohner des Slums umgesiedelt, und heute widmet sich dieser ganze Stadtbezirk „der Kunst, dem traditionellen Handwerk und dem Shopping“. Wer auch nur im Geringsten historisch interessiert ist, wird natürlich die Orte aufsuchen, wo in Singapur Geschichte gemacht worden ist. Der Landungsplatz am Singapore River inmitten des Bankenviertels CBD (Central Business District) etwa bietet sich als Ausgangspunkt an. Wenn man sich so von Wolkenkratzern, Motorbooten und hübsch angepflanzten Palmen umgeben sieht, muss man die Augen schon schließen, um sich die Szene vorzustellen, als hier vor beinahe zweihundert Jahren die erste britische Expedition an Land ging. Im Roman ist das ganz einfach: Die Stadt Singapur entstand nicht, wie Städte sonst meist, allmählich durch natürliche Ablagerungen des Geschäftslebens an den Ufern eines Flusses oder am Schnittpunkt alter Handelsstraßen. Sie wurde schlicht und einfach erfunden, eines Morgens im frühen neunzehnten Jahrhundert, von einem Mann, der auf eine Landkarte blickte. ‚Hier‘, sagte er sich, ‚brauchen wir eine Stadt, auf halbem Wege zwischen Indien und China. Das wird der große Haltepunkt auf der Route in den Fernen Osten. Wohlgemerkt, den Holländern wird es nicht gefallen und Penang wird sich nicht freuen, gar nicht zu reden von Malakka.‘ Der Name dieses Mannes war Sir Thomas Stamford Raffles …64

An einer schattigen Stelle am Fluss steht heute ein Standbild des großen Mannes, das aus weißem Marmor gefertigt ist. Ganz in der Nähe liegen der Finanzdistrikt am Raffles Place, das Raffles Hospital und der Wolkenkratzerkomplex Raffles City. Die ehemalige Autofabrik der Firma Ford an der Upper Bulkit Timah Road verströmt ein ähnlich starkes Aroma von Geschichte. Dort befindet sich der Raum, in dem General Percival am 15. Februar 1942 die britische Kapitulation unterzeichnete. Heute beherbergt das Gebäude eine historische Ausstellung mit Fotos und Dokumenten aus dem Nationalarchiv. Dass der Raum an sich eher schmucklos ist – ein Fabrikgebäude eben –, lässt die Tragweite des historischen Geschehens noch deutlicher hervortreten. Ein großer Teil der Ausstellung widmet sich den „Syonan-Jahren“, also Singapur 336

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unter der japanischen Besatzung.65 Als Gedenkort für die daraus hervorgegangene Tragödie der alliierten Kriegsgefangenen dienen eine Kapelle und ein Museum im einstigen Lager von Changi.66 Für japanische Touristen wird auf weitere Orte hingewiesen, die für sie von Interesse sind. Die Kühle eines Kinosaals bietet einen weiteren Ausweg aus der Tropenhitze – vor allem, wenn man bei dieser Gelegenheit das bewegende Drama 15 (2003) des singapurischen Filmemachers Royston Tan zu sehen bekommt. Der Film führt uns geradewegs in die bedrückende Welt jugendlicher Schulabbrecher. Die Selbstmordrate unter Jugendlichen ist in Singapur, wie es scheint, leider allzu hoch.67 Wem es nur um die Klimaanlage geht, der kann jedoch auch eine ausgedehnte Fahrt mit der unglaublich geschwinden, geräuscharmen und beruhigenden U-Bahn in Singapurs Metronetz MRT unternehmen; das entspannt, kühlt heiße Glieder – und Leute beobachten kann man auch. Eines ist sicher: Sightseeing macht hungrig, und in den Küchen Singapurs ist für jeden Geschmack etwas dabei. Zwar gibt es jede Menge erstklassige Restaurants, aber ein kulinarisches Erlebnis, das man sich wirklich nicht entgehen lassen sollte, bieten die allgegenwärtigen „Hawker-Centres“ oder „Food-Courts“, große Garküchen, bei denen zwanzig oder dreißig verschiedene Essensstände um einen gemeinsamen Sitz- und Essbereich gruppiert sind. Man sucht sich seinen Favoriten aus, holt das Essen am Stand und nimmt dann in der Mitte Platz. (Dieses Konzept ist inzwischen auch in Australien sehr beliebt.) Jeder der Stände bietet eine andere Spezialitätenküche, ob nun chinesische, malaiische, indische oder westliche Speisen, und der hungrige Gast kann durchaus auch von Bude zu Bude schlendern und sich eine Auswahl von allem zusammenstellen, was seinen Appetit an- und seine Neugier erregt. Die Kombinationsmöglichkeiten der verschiedenen Speisen sind schier endlos, und ein einheimischer Guide kann sehr hilfreich sein, um die gastronomische Sprachbarriere zu überwinden. Aber am schnellsten lernt man, wenn man sich einfach ins Getümmel stürzt und sich von seiner Lust und Laune lenken lässt. Fisch und Meeresfrüchte sind in Hülle und Fülle vorhanden; sehr beliebt ist zum Beispiel Stachelrochen vom Grill, der auf einem Bananenblatt mit der scharfen Würzsauce Sambal Oelek serviert wird. Beim Umherschlendern kann man sich so ein ganzes Menü zusammenstellen. Auf eine Schale bak kut teh, einer allgegenwärtigen Suppe mit Schweinerippchen, könnte etwa chai tau kueh (Rettichkuchen) folgen, den es in den Varianten „schwarz“ und „weiß“ gibt: entweder mit schwarzer Sojasauce oder ohne. Wer unerschrocken ist, kann zum Dessert Bekanntschaft mit durian pendek machen, dem „König der Früchte“. Das weiche 337

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Fruchtfleisch isst sich ganz angenehm, aber der Duft – ihre Gegner sagen: der Gestank – der Durianfrucht ist so durchdringend, dass ihr Transport in Bussen und Flugzeugen in ganz Südostasien untersagt ist. Mit der „Drachenfrucht“ rambutan trifft man eine weniger riskante Wahl. Die ganze köstliche Mahlzeit spült man am besten mit einem Glas Sojamilch oder vielleicht Tiger Beer hinunter. Das einzige, was man nicht finden wird, sind „Singapurnudeln“ (Singapore Noodles), gebratene Reisnudeln, die mit Currypulver bestreut werden. Das ist eine kulinarische Erfindung, die sich in den Chinarestaurants der Vereinigten Staaten festgesetzt hat, in Singapur selbst jedoch vollkommen unbekannt ist.68 Eine gastronomische Besonderheit, die es aber sehr wohl (noch) gibt, ist die alte britische Kolonialgewohnheit, asiatische Speisen mit exzentrischen Zutaten aus der Heimat zu kombinieren. Ein gutes Beispiel hierfür ist ein beliebtes Gericht, bei dem ein Schweinekotelett chinesische Art auf dickflüssige Tomatensauce mit grünen Tiefkühlerbsen trifft. Fish and Chips gibt es hier nicht selten mit Frühlingsrollen oder Chop Suey. Und ein Horlicks Dinosaur, bei dem das klassisch-britische Malzmilchpulver der Marke Horlicks nicht nur als Grundlage einer Art Milchshake dient, sondern auch noch großzügig darauf gestreut wird, hätte bei meiner Tante Doris selig wohl Verzückungszustände ausgelöst. Aber die absolute Krönung, die vor allem von australischen Besuchern heiß geliebt wird, ist frittierter Krebs mit einer Sauce aus der (legendär gewöhnungsbedürftigen) Hefepaste Marmite. Bei der Bestellung von Tee oder Kaffee ist höchste Vorsicht geboten. Wer schlicht Teh oder Kopi ordert, dessen Getränk wird – nach bester britischer Kolonialmanier – mit reichlich Kondensmilch „veredelt“. Wer Teh-C oder Kopi-C sagt, bekommt ebenfalls Tee oder Kaffee mit Dosenmilch (das C steht für „Carnation“, eine bekannte Kondensmilchmarke  – die „Bärenmarke“ der englischsprachigen Welt). Um ein schlichtes Tässchen oder Käffchen ohne jede Zugabe genießen zu können, muss man auf Teh-Okosong oder Kopi-O-kosong bestehen; das malaiische Wort kosong bedeutet „leer“ oder „ohne“. Dieses ganze Vokabular stammt noch aus der Zeit, als die Briten viele Lebensmittel einführen ließen und eine Dose Carnation Milk – noch vor der Erfindung des Kühlschranks – in den Tropen ein wertvolles Gut war.69 Ein Fünf-Uhr-Tee im Raffles Hotel liegt am anderen Ende der Luxusskala, meilenweit entfernt von einem Teh-C aus der Garküche. Das 1887 eröffnete Haus wurde in der Kolonialzeit legendär. Seine prachtvolle, weiß gestrichene Fassade ähnelt derjenigen des Istana, des früheren Gouver338

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neurs- und heutigen Präsidentenpalastes. Einst boten die Hotelzimmer einen direkten Meerblick, der aber heute durch das Fortschreiten der Neulandgewinnung verloren ist: Das Hotel ist gewissermaßen ins Landesinnere gewandert. Der Tiffin Room des Raffles Hotel soll Singapurs ältestes ErsteKlasse-Restaurant sein. In der Long Bar des Hauses ist jedenfalls der berühmte Cocktail Singapore Sling erfunden worden  – und hier war es auch, dass am 14. Februar 1942 ein letztes Mal und aus voller Kehle der patriotische Schlager There’ll Always Be an England angestimmt wurde, den die unvergessene – und im Alter von 102 Jahren noch immer quicklebendige – Vera Lynn damals populär gemacht hatte. Die Liste früherer Gäste des Raffles Hotel liest sich wie ein Verzeichnis der bedeutendsten Künstler und Staatsmänner der Belle Époque. Als Rudyard Kipling hier im Jahr 1889 ein Zimmer bezog, war er ein kaum bekannter, nicht gerade wohlhabender Nachwuchsautor. „Die Vorsehung hat mich an einen Ort namens Raffles Hotel geführt“, schreibt Kipling in Von Ozean zu Ozean (1899), „wo das Essen so hervorragend wie die Zimmer gut sind. Alle Reisenden aufgepasst: Speist bei Raffles, schlaft bei Raffles!“ Dieses Zitat hat das Hotel seitdem für seinen Werbeauftritt verwendet.* In den 1930er-Jahren gingen die Eigentümer des Hotels jedoch pleite, und während der Besatzungszeit von 1942 bis 1945 verwandelte man das Gebäude in ein traditionelles japanisches Gasthaus. Im Jahr 1987 wurde das Raffles dann jedoch zum Nationalen Baudenkmal erklärt und anschließend von Grund auf saniert. In den 1990er-Jahren konnte man – wie ich von einem früheren Besuch her weiß – den Nachmittagstee noch immer in der Lobby einnehmen, wo ein hochgewachsener Kellner, ein Sikh in blütenweißer Jacke und feuerrotem Turban, die Sahnetörtchen auf dem sprichwörtlichen Silbertablett servierte. Die Gäste konnten sich mit ihrem Pink Garden (Grüntee mit Rosenblüten) oder ihrem Tibetan Secret (Grüntee mit Zitronengras) in tiefe geblümte Sofas sinken lassen, die Teakholzböden und handgeknüpften Teppiche bewundern und zusehen, wie draußen ein Hotel­angestellter den Bürgersteig mit dem Staubsauger reinigte.70 * Offenbar ist der Autor hier leider auf einen falschen Hinweis hereingefallen: In Wirklichkeit

lautet das Zitat nämlich wie folgt: „Die Vorsehung führte mich den Strand entlang … bis zu einem Ort namens Raffles Hotel, wo das Essen so gut ist, wie die Zimmer schlecht sind. Der Reisende sollte sich dies merken. Speisen Sie im Raffles und schlafen Sie im Hotel L’Europe. Ich hätte es so gemacht, wenn ich nicht auf zwei korpulente, geschmackvoll in Schlafröcke gekleidete Damen gestoßen wäre, die dasaßen und die Füße auf einen Sessel hochlegten. Dieser Joseph ergriff die Flucht …“ – zitiert aus der dt. Fassung Von Ozean zu Ozean, übers. v. Alexander Pechmann (Hamburg 2015), S. 334 (Anm. d. Übers. T. G.).

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In jüngerer Vergangenheit hat ein Staatsfonds aus der Golfregion das Raffles Hotel erworben, was letztlich dazu geführt hat, dass sich Normal­ sterbliche die Dienste des traditionsreichen Hauses kaum mehr leisten können. Ein Steak im Hotelrestaurant kostet nun 200 Dollar; den Tee nimmt man jetzt im renovierten Writer’s Room. Aber in dem kleinen Hotel­ museum im dritten Stock kann man den alten Glanz noch immer Revue passieren lassen. Unter anderem erfährt man dort, dass der Barkeeper, der um 1910 herum den Singapore Sling erfunden hat, von der südchinesischen Insel Hainan stammte und Ngiam Tong Boon hieß. Und dass sein streng gehütetes Rezept, das lange Zeit im Safe des Hotels aufbewahrt worden sein soll, zehn Zutaten verlangte: 30 ml Gin 15 ml Heering Cherry Liqueur (Kirschlikör) 120 ml Ananassaft 15 ml Limettensaft 7,5 ml Cointreau (Orangenlikör) 7,5 ml Dom Benedictine (Kräuterlikör) 10 ml Grenadinesirup einen Spritzer Angosturabitter Als Garnitur ein Stück Ananas und eine Cocktailkirsche.

Wenn er dann in einem Longdrinkglas vor einem steht, sollte der hellrote Klassiker in aller Stille genossen werden – am besten mit einer guten Lektüre aus den Werken solcher früheren Raffles-Gäste wie Ernest Hemingway, W. Somerset Maugham oder eben Rudyard Kipling.71 Wenn man heute so um die Welt reist, mit sehr viel höherer Geschwindigkeit und größerem Komfort, als es Raffles oder Kipling möglich war, vergisst man leicht die vielfältigen Globalisierungsprozesse, die diese Art zu reisen überhaupt erst möglich gemacht haben. Die meisten Menschen nehmen sie einfach als selbstverständlich hin. Ein Besuch in Singapur, das im aktuellen „KOF-Index der Globalisierung“ von 2017 den ersten Platz im Bereich der wirtschaftlichen Globalisierung belegt, sollte den Globetrotter jedoch zum Innehalten und Nachdenken bringen.72 Schließlich fällt der atemberaubende Aufstieg Singapurs beinahe vollkommen in eins mit den letzten paar Jahrzehnten seit etwa 1970, in denen die Globalisierung sich merklich beschleunigt hat, was ja inzwischen, vor allem in Europa und Amerika, ein gewisses Nachspiel gehabt hat. Singapur ist bestimmt einer 340

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der größten Nutznießer gewesen. Der Rust Belt, der „Rostgürtel“ im Mittleren Westen der USA, oder die einstigen Zentren der Textilindustrie in meiner nordenglischen Heimat zählen zu den offensichtlichsten Verlierern. Die meisten einschneidenden politischen Ereignisse der letzten Jahrzehnte  – vom Zusammenbruch des Sowjetblocks in den Jahren 1989 bis 1991 und dem Aufstieg Chinas bis zu den politischen Erdbeben des BrexitReferendums und dem unerwarteten Wahlerfolg Donald Trumps 2016  – hängen, in verschiedener Hinsicht, eng zusammen. Das Wort globalization ist zu neu, als dass es in meiner veralteten Ausgabe des Oxford English Dictionary zu finden wäre. Eine verbreitete Definition von „Globalisierung“ besagt aber, dass diese ein „Prozess der internationalen Integration“ sei, der sich „aus dem wechselseitigen Austausch von Weltanschauungen, Produkten, Ideen und anderen Aspekten von Kultur“ ergebe. Insoweit man Globalisierung messen kann, bemisst sich ihr Grad nach dem Verhältnis zwischen dem Bruttoinlandsprodukt eines Landes einerseits und seinem Anteil am Welthandel andererseits. Tatsächlich hat sich das Phänomen der Globalisierung schon mein ganzes Erwachsenenleben über kräftig bemerkbar gemacht. Vorangetrieben wird es von wirklich erstaunlichen Fortschritten im Transport- und Kommunikationswesen, aber seine Auswirkungen betreffen – nach einer häufig verwendeten Einteilung – Wirtschaft, Kultur und Politik gleichermaßen.73 Und die wirtschaft­ liche Globalisierung ist eben jener Bereich, in dem Singapur sich ganz be­sonders hervorgetan hat. Dazu gehören eine enorme Ausdehnung des Welthandels, die Vormachtstellung riesiger, internationaler Konzerne sowie die breite Rezeption neoliberaler Wirtschaftstheoretiker wie etwa Friedrich August von Hayek oder Milton Friedman. Zu den tiefer liegenden Voraussetzungen der Globalisierung zählen unter anderem die moderne Luftfahrt, die fortschreitende Computerisierung von Handels- und Finanztransaktionen, die explosionsartige Zunahme des internationalen Rohstoff- und Warenhandels (des Ölhandels vor allem) sowie das Internet und der allgemeine Abbau von Schranken, die dem ungehinderten Umlauf von Kapital, Arbeitskräften und Wissen zuvor Grenzen setzten. Länder, die, wie Singapur, vom Seehandel abhängig sind, verdanken vieles der Einführung international genormter Frachtcontainer im Jahr 1956, denen 1960 die ersten Super-Öltanker und modernen Containerschiffe folgten. Das längste Schiff aller Zeiten, der 1981 in Japan vom Stapel gelaufene Öltanker Jahre Viking, verbrachte einen wichtigen Teil seiner reichlich ungewöhnlichen Laufbahn in Singapur. (Im Laufe seines langen Lebens trug er noch mehrere andere Namen, darunter Oppama und Knock Nevis.) Mit einer Gesamt-Tragfähig341

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keit von 564 763 Tonnen war der Riesentanker der höchsten Größenklasse ULCC (für Ultra-large crude carrier, „übergroßer Rohöltanker“) mehr als zehn Mal so groß wie die Titanic. Während des Ersten Golfkriegs zwischen Iran und Irak wurde die Seawise Giant (wie sie damals hieß) im Persischen Golf von Saddam Husseins Luftwaffe schwer beschädigt und beinahe versenkt. Sie konnte jedoch geborgen werden und wurde zu Reparatur und Umbau nach Singapur geschleppt. Zwei Jahre später stach sie als Happy Giant wieder in See, wurde noch mehrfach verkauft und umbenannt. Gerade aufgrund ihrer Größe erwies sie sich jedoch als vollkommen unpraktisches, wenig wirtschaftliches Schiff: Für die wichtigsten Kanäle und Meerengen der Weltschifffahrt war sie schlicht zu groß  – und ihr Bremsweg betrug nicht weniger als acht bis zehn Kilometer. Als Relikt und Mahnmal eines blindwütigen Globalisierungswahns wurde sie 2010 in den Abwrackwerften von Alang und Sosiya im norwestindischen Bundesstaat Gujarat zerlegt – ein Heer von 18 000 Arbeitern war an den Arbeiten beteiligt.74 Auch heute bleibt die Globalisierung ein mächtiger Faktor in der Welt. Dabei herrscht wohl Einigkeit darüber, dass sie sowohl Gutes wie auch Schlechtes bewirkt hat. Man schätzt, dass sie rund 300  Millionen Menschen aus der Armut befreit hat, viele davon in China – während eine ähnliche Anzahl an anderen Orten durch die Auswirkungen der Globalisierung arm gemacht wurde. Die durchschnittlichen Wachstumsraten sind in den entwickelten wie in den Entwicklungsländern angestiegen, aber gleichzeitig haben sich soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten auf schädliche Weise verschärft. Die aufgeblähten Einkünfte einer kleinen internationalen Elite ähneln in ihrer Höhe den aberwitzigen Dimensionen der Jahre Viking – dasselbe gilt aber auch von den wachsenden Bergen an Staats- und Privatschulden. Wirtschaftsministerien in aller Welt fahren einen harten Sparkurs im Sinne der „Austerität“, der jedoch gerade den schwächsten Teilen ihrer jeweiligen Gesellschaften eher schadet als nützt. Und über alldem wächst eine zunehmend lautstarke Unzufriedenheit. Die liberale Demokratie als solche, heißt es, sei in Gefahr. Es wäre also höchste Zeit, die Auswirkungen der Globalisierung noch einmal neu zu bewerten und ihren schlimmsten Exzessen endlich einen Riegel vorzuschieben. So hat etwa der britische Ökonom Jim O’Neill, früherer Chefvolkswirt von Goldman Sachs und Staatssekretär im Finanzministerium, der die Akronyme BRIC und MINT geprägt hat* und inzwischen als The Lord O’Neill of Gatley im briti* Für die Schwellenländer Brasilien, Russland, Indien und China beziehungsweise Mexiko, Indonesien, Nigeria und die Türkei (Anm. d. Übers. T. G.).

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schen Oberhaus sitzt, dafür plädiert, eine „Reparatur der Globalisierungsmaschinerie“ zur obersten Priorität zu machen.75 Für die Singapurer, die ihr eigenes Wirtschaftswunder mithilfe der Globalisierung ins Werk gesetzt haben, dürfte die oberste Priorität eher darin bestehen, die gegenwärtigen Globalisierungsprozesse am Laufen zu halten. Über die Zukunft machen sie sich kaum weniger Gedanken als über die Vergangenheit – und in der Tat hängt das weitere Überleben ihrer Republik vom Erfolg einer Reihe von gigantischen Infrastrukturprojekten ab. Die Neulandgewinnung, beispielsweise, ist von entscheidender Bedeutung. Sie geht zwar langsam vonstatten, hat jedoch die Landfläche der Republik Singapur über die vergangenen fünfzig Jahre hinweg um mehr als 20 Prozent vergrößert. Bei einem solchen Vorhaben nahe dem Haupthafen wurden durch das gezielte Abladen von Erdreich ins Meer sieben bestehende Inselchen zu der neuen Insel Jurong vereint. Diese beherbergt heute ein Industriegebiet, dessen petrochemische Erzeugnisse ein gutes Drittel der singapurischen Einnahmen im Produktionssektor ausmachen. Schon bald soll hier die weltgrößte Unterwasseranlage zur Öllagerung entstehen.76 Bei der Sicherung der nationalen Trinkwasservorräte ist Singapur auf ähnlich langfristige Projekte angewiesen. Vor vierzig Jahren schon hat die staatliche Wasser- und Versorgungsbehörde PUB (Public Utility Board) einen Plan aufgelegt, der unter dem Schlagwort „Vier Quellen der nationalen Versorgung“ bis Mitte des 21.  Jahrhunderts eine hundertprozentige Selbstversorgung Singapurs mit Trinkwasser erreichen soll. (Im Jahr 2061 wird der Vertrag, auf dessen Grundlage momentan noch Wasser aus Ma­laysia importiert wird, auslaufen.) Schon heute wird ein großer Teil des singapurischen Trinkwasserbedarfs durch insgesamt siebzehn Regenwasserauffanganlagen mit großen Speicherzisternen gedeckt. Die erste Meerwasserentsalzungsanlage, SingSpring, wurde 2005 eröffnet. Fünf Jahre ­später folgte eine weitere hochmoderne Anlage zur sogenannten Umkehrosmose, die Tuaspring heißt und 10 Prozent des Gesamtbedarfs an Trinkwasser deckt. Der heutige Tagesdurchsatz dieser Anlagen von 135 000 Kubikmetern Wasser wird sich über kurz oder lang wohl verdreifachen müssen, und fünf mögliche Standorte für weitere Entsalzungsanlagen sind bereits ermittelt worden.77 Auch bei NEWater – so heißt ganz modern das revolutionäre singapurische Projekt zur Verbesserung der Abwasserrückgewinnung  – hat es bereits große Fortschritte gegeben. Über die letzten fünfzehn Jahre sind fünf neue Kläranlagen in Betrieb gegangen, die mittels keimtötender UV-Bestrahlung und hochmoderner Filtertechnologie aus Abwässern reinstes Trinkwasser bereiten. Ob nun aber das NEWater 343

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„trinkbarer“ ist als ein Horlicks Dinosaur – darüber gehen die Meinungen im Land auseinander.78 An meinem letzten Abend bin ich zum Abendessen in den gut ausgestatteten Universitätsclub eingeladen. Meine Gastgeber sind ein Professor, gebürtiger Neuseeländer, und seine singapurische Ehefrau. Der Professor gibt sich als „Kiwi“ in sechster Generation zu erkennen. Seine Vorfahren sind einst den Zinnminen von Cornwall entflohen, um am anderen Ende der Welt, in Neuseeland, bei einem Goldrausch ihr Glück zu suchen. Seine Frau ist die Tochter chinesischer Einwanderer von der Malaiischen Halbinsel, die dort in der britischen Kolonialverwaltung beschäftigt gewesen waren. Da die Heimatsprachen ihres Vaters und ihrer Mutter derart verschieden waren, dass sie einander nicht verstehen konnten, hatte die ganze Familie stets Englisch miteinander gesprochen. Damit fielen sie (wie etwa auch die Familie von „LKY“) in die Kategorie der sogenannten Queen’s Chinese – der „Chinesen Ihrer Majestät“. Kennengelernt hatte sich mein GastgeberPaar in Singapur, danach eine Weile im neuseeländischen Auckland gelebt, aber jetzt waren sie wieder nach Singapur zurückgekehrt, weil er den Posten des Generalsekretärs der Association of Pacific Rim Universities (APRU, „Vereinigung der Universitäten im pazifischen Raum“) übernommen hat. – Auf der Speisekarte steht Fisch: Eingangs gibt es Hummercremesuppe und als Hauptgang chilenischen Kabeljau, der ja ganz offenkundig auch einen „Migrationshintergrund“ hat. Die Tatsache, dass eine internationale Organisation wie die APRU ihr Hauptquartier in Singapur hat – gleich neben dem Kent-Ridge-Campus der National University –, sagt einiges über Singapurs geopolitische Lage aus. Ein weit gespanntes Netzwerk von beinahe fünfzig Bildungseinrichtungen, die zum Teil weit voneinander entfernt liegen – in Kalifornien, Mittel- und Südamerika, Australasien und Fernost – akzeptiert ganz selbstverständlich Singapur als seinen gewissermaßen „natürlichen“ Mittelpunkt. Wie auch ihre ältere Partnerorganisation APEC (Asia-Pacific Economic Cooperation, „Asiatisch-pazifische Wirtschaftsgemeinschaft“) geht die APRU auf eine US-amerikanische Initiative zurück; sie ist ein Symptom der „pazifischen Wende“ in der US-Außenpolitik.79 In einer globalisierten Welt müssen wirtschaftliche Interessen mit denen von Wissenschaft, Forschung und Bildung verzahnt werden. Wer in diesem Zusammenhang vom pazifischen Raum spricht, muss sich zwangsläufig über die strategische Lage Singapurs Gedanken machen – und über die Pax Americana, jene regionale und globale Friedensordnung, 344

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die auf die ältere Pax Britannica gefolgt ist. Seit ihrem Sieg über die Japaner im Jahr 1945 haben die Amerikaner ihren Einfluss in der Pazifikregion weiter ausgebaut und sich dazu aller verfügbaren Mittel bedient: militärischer, politischer und ökonomischer. Der solcherart ausgeübte Imperialismus mag weniger direkt daherkommen als sein britisches Pendant, ist aber kaum weniger effektiv. Zwei Mal haben die Vereinigten Staaten nach 1945 im pazifischen Raum Krieg geführt, um ihre Interessen zu verteidigen: einmal im Auftrag der Vereinten Nationen, das war 1950 bis 1953 in Korea; ein zweites Mal 1960 bis 1975 in Vietnam und den angrenzenden Ländern. Sie haben demokratische Regimes installiert und Länder wie etwa die Philippinen in die Unabhängigkeit entlassen; sie haben das Wachstum von Volkswirtschaften als freien Marktwirtschaften begünstigt und gefördert, die sogenannte „Entkolonialisierung“ vorangetrieben und internationale Organisationen wie den 1967 gegründeten „Verband südostasiatischer Natio­nen“ (ASEAN) unterstützt. Das alles geschah (und geschieht) jedoch nur unter der Bedingung, dass die zahlreichen Stützpunkte der ameri­ kanischen Marine, Luftwaffe und Marineinfanterie, die in der ganzen Pazifik­region verteilt liegen, nicht angetastet werden. Singapur ist einer der Hauptnutznießer dieses Systems. Im Gegenzug für sein Akzeptieren der amerikanischen Hegemonie wird ihm ein Grad an Sicherheit zuteil, den es allein ganz bestimmt nicht gewährleisten könnte. Eine auffällige Eigenheit des US-amerikanischen Imperialismus im Pazifikraum ist seine ausgeprägte Vorliebe für Inseln. Während die Kolonisatoren und Imperialisten alter Schule am liebsten möglichst große Landmassen besetzten, um sie auszubeuten, haben die Amerikaner sich damit begnügt, eine Reihe relativ kleiner Insel-Territorien unter ihre direkte oder indirekte Kontrolle zu bringen. Von dort spielen sie ihre militärische Überlegenheit aus, sowohl in der Luft wie auch zur See. Die „Eroberung des Pazifik“ vonseiten der USA begann eigentlich schon mit dem Erwerb der Aleuten – einer Inselgruppe im Nordpazifik, die heute zum USBundestaat Alaska gehört – sowie dem Sturz des hawaiianischen Königshauses in den Jahren 1893 bis 1900. Ausgedehnt wurde die amerikanische Herrschaft in der Region durch den Spanisch-Amerikanischen Krieg von 1898, durch den die Philippinen und Guam unter amerikanische Kontrolle kamen, sowie die Aufteilung Samoas zwischen den USA und dem Deutschen Reich im Jahr 1899. Verfestigt wurde der Einfluss mit Eröffnung des Panamakanals im Jahr 1914. Das alles geschah zu einer Zeit, als China machtpolitisch keine Rolle spielte und allein Japan überhaupt daran denken konnte, den amerikanischen Einfluss in der Region infrage zu stellen. 345

6. Singapura

Japans verzweifelter Befreiungsschlag von 1941 sollte sich letztlich jedoch als verhängnisvoll erweisen. Nach 1945 wurde der amerikanische Einfluss durch Militärstützpunkte in Japan und Südkorea gestärkt, dazu kamen das US-Abkommen mit Taiwan sowie Gebietserwerbungen im Bereich der Marshallinseln und anderswo.80 Guam gibt das vielleicht beste Beispiel für die amerikanische Vorgehensweise ab. Die Insel, die etwas kleiner ist als Singapur, gehört zum mikronesischen Archipel der Marianen im Westpazifik. Guam, das 1521 von Ferdinand Magellan entdeckt wurde, war über mehr als drei Jahrhunderte hinweg der wichtigste Zwischenhalt für die spanischen Galeonen auf der Fahrt von und nach Manila. Während der mittlerweile seit immerhin elf Jahrzehnte andauernden US-Herrschaft über Guam hat sich dieses zu einem „organisierten, nichtinkorportierten Territorium“ der Vereinigten Staaten entwickelt. Die Angehörigen des ursprünglich dort ansässigen Volkes der Chamorros sind so zur Minderheit in ihrem eigenen Land geworden. Die Bevölkerungsmehrheit stellen, wie auch in Singapur, Immigranten aus den Ländern Asiens, vor allem von den Philippinen, deren Stimmverhalten bei Wahlen dafür sorgt, dass der Status quo auf demokratische Weise aufrechterhalten wird. Die amerikanische Marinebasis Sumay sowie ein riesiger Stützpunkt der US-Luftwaffe garantieren ebenfalls den Bestand der herrschenden Ordnung. Die amerikanischen Gouverneure von Guam treten mit ebenso viel Selbstbewusstsein auf wie ihre einstigen britischen Pendants in Singapur: fern von ihrer Heimat, aber voller Vertrauen in die eigene Militärmacht, ja sogar in eine erhoffte Unbesiegbarkeit.81 In der Nachkriegszeit ist die Stabilität in der Region vor allem dadurch gesichert worden, dass es keinen ernsthaften Herausforderer gab, der die amerikanische Vormachtstellung hätte infrage stellen können. Die Volksrepublik China entstand 1949 in einem Land, das aus jahrzehntelangem Bürgerkrieg und japanischer Besatzungszeit stark geschwächt hervorgegangen war. Jenseits ihrer Grenzen mischte sie sich nur selten ein, und wenn, dann durch die heimliche Unterstützung kommunistischer Umsturzbewegungen. (Der Vorstoß der chinesischen Volksbefreiungsarmee nach Korea im Jahr 1951 war ein absoluter Einzelfall.) Im 21. Jahrhundert jedoch sieht alles danach aus, dass China bald zur größten Wirtschaftsmacht der Welt aufsteigen wird, und es scheint kaum vorstellbar, dass der damit einhergehende Ausbau der chinesischen Militärmacht nicht auch einmal zu einem Einsatz dieser Macht führen wird – das gilt vor allem mit Blick auf die chinesischen Seestreitkräfte. Womöglich lassen die gegenwärtigen Streitigkeiten Chinas mit seinen Nachbarn um unbewohnte Inseln im Südchinesischen Meer 346

Inselstadt der Tiger und Löwen

bereits erahnen, welche ernsteren Konflikte es in Zukunft geben könnte. Der Status Taiwans ist niemals abschließend geklärt worden, und die Unruhe, die ein paranoider Trabant Chinas in Nordkorea stiftet, könnte der chinesischen Führung durchaus in die Hände spielen. Jedenfalls scheint es seit der 2012 erfolgten Erklärung des amerikanischen Präsidenten Barack Obama, der Schwerpunkt der amerikanischen Sicherheitspolitik werde sich in Zukunft auf den pazifischen Raum verlagern, so gut wie ausgeschlossen, dass Uncle Sam diesem Schauplatz allzu bald den Rücken kehren wird.82 In diesem Zusammenhang sind die strategischen Optionen Singapurs überschaubar. Im Horizont panchinesischer Überlegungen nimmt es eine besondere Position ein, und obwohl es ganz offensichtlich im Schatten des amerikanischen Schutzschirms lebt, kann es sich doch unmöglich um eine Verstärkung des amerikanischen Einflusses bemühen. Die Beziehungen Singapurs zu seinen Nachbarn Malaysia und Indonesien sind kühl, aber korrekt. So bleibt also nur ein einziges Land, mit dem es eine künftig engere Partnerschaft anstreben könnte: Was Australien und Singapur verbindet, ist der Schrecken, mit dem beide Länder an das Ende der Pax Britannica zurückdenken. Außerdem haben beide das Fünf-Mächte-Abkommen ANZUK unterzeichnet, das die Briten 1971 zurückgelassen haben, und beide verfügen über eine florierende Wirtschaft, die mit dem jeweils anderen Partner zudem eng vernetzt ist. Da erscheint es nur folgerichtig, das Singapurer und Australier immer größere Stücke aufeinander setzen, was Beistand und Hilfe angeht.83 Seit Anbruch der Brexit-Ära in Großbritannien haben durchgeknallte Brexiteers immer wieder behauptet, ihr Land könne durch den Austritt aus der Europäischen Union zu einem „zweiten Singapur“ werden. Sie träumen von einem Land, das, befreit von lästiger Bürokratie, zu einem neuen Zentrum des internationalen Freihandels werden würde, das seine Grenzen, seine Gesetze und sein Geld endlich wieder in die eigene Hand nehmen könnte. Darauf könnte man antworten wie Mahatma Gandhi auf die Frage, was er denn von der westlichen Zivilisation halte: „Ich denke, das wäre eine sehr gute Idee.“ Zwar stimmt es natürlich, dass der sensationelle Aufstieg Singapurs zu seiner heutigen Position sich – unter anderem – auch einem stetigen Bevölkerungszuwachs verdankt, der durch ein bewundernswert effizientes Zuwanderungssystem gesteuert wird. Aber wenn man alle Dimensionen der Wirklichkeit berücksichtigt, unterscheiden sich die beiden Länder doch so stark, was ihre gesellschaftlichen Traditionen und kollektive Psyche, ihre politische Kultur und historischen Hintergründe, ihre 347

6. Singapura

staatlichen Institutionen, Bildungseinrichtungen, wirtschaftliche Produktivität, Schuldenlast, Größe und geografische Lage betrifft, dass alle Versprechungen, man könne Großbritannien nach der „Singapur-Methode“ kurieren, wohl eher von einem Wolkenkuckucksheim ausgehen als von dem realen europäischen Staat, der diesen Namen trägt.84 Ich habe einmal angefangen, einen Roman zu schreiben, dessen Eröffnungsszene am Flughafen Changi in Singapur spielte. Es war ein typischer Identitätsthriller, dessen beide Hauptfiguren, ein Russe und eine Amerikanerin, sich zufällig begegnen, ohne zu ahnen, dass sie miteinander verwandt sind. Der Erzähler, eine Art Sherlock-Holmes-Figur, scheint sein amerikanisches Gegenüber zuerst zu verfolgen, aber dann stellt sich heraus, dass er seiner eigenen verworrenen Herkunft auf der Spur ist. Die Idee hatte Potenzial, aber die schwindelerregenden Purzelbäume der verschiedenen Handlungsstränge ließen schon bald jegliche Plausibilität vermissen, und so verließ ihren Verfasser letztlich die Geduld. Die Eröffnungsszene in der großen Empfangshalle von Changi war dennoch gut gemacht. Ich beschrieb darin das Kommen und Gehen von Tausenden Passagieren aus aller Herren Länder: Menschen aller Hautfarben und Altersgruppen, Männer wie Frauen aus zahllosen unterschiedlichen Kulturen. Nach allen Seiten eilen sie durch die große Halle, stehen geduldig in langen Schlangen an oder schlendern ziellos umher; beinahe sekündlich ereignen sich Zusammenstöße und Beinahe-Zusammenstöße. Der Erzähler betrachtet das alles ganz genau und versucht dann, die Beweggründe für die jeweiligen Reisen zu erraten, die Lebensgeschichten hinter den so verschiedenen Gesichtern. Er kommt zu dem Schluss, dass Singapur eine ganze Welt im Kleinen ist: ein globaler Mikrokosmos, dass es „die Asiaten“ nur als Fiktion überhaupt gibt und dass das Leben eine Lotterie ist, die durch willkürliche Zusammenstöße und unbemerkte Beinahe-Zusammenstöße bestimmt wird. Eine Gruppe jedoch sticht aus der großen Menschenmasse heraus – das sind die Australier. Ihre Kleidung ist genauso eigen wie ihre kräftigen Stimmen, ihr unverkennbarer Zungenschlag, ihre Gesten und ihre gesunde Bräune. Zu Tausenden strömen sie jeden Tag nach Changi, wo sie auf ihrer Reise in alle Teile der Welt den ersten Zwischenstopp einlegen. Und auf dem Rückweg machen sie hier wieder Halt, legen eine Atempause ein auf der letzten Etappe in Richtung Heimat. Für sie, wie auch für mich auf meiner eigenen Reise, ist Singapur bereits ein „Vorposten von Down Under“.

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Intermezzo Oriens: Richtung Sonnenaufgang

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Es gibt von allem eine Geschichte. Was auch immer es sein mag, konkret oder abstrakt, Objekt oder Idee, es hat eine Vergangenheit, von der ausgehend sich ein historisches Narrativ konstruieren lässt. Die tägliche Aufgabe, „sich zurechtzufinden“, ist da keine Ausnahme. Es gibt eine Geschichte des „Sich-Zurechtfindens“, mit anderen Worten: der Orientierung (inklusive all der Techniken und Hilfsmittel, die einem dabei zur Verfügung stehen), sowie eine des „Sich-Verlierens“, also der Desorientierung. Beides sind essenzielle Eigenschaften des menschlichen Befindens. Auch Historiker müssen ihren Weg finden. Ganz gleich was ihr Fach­ gebiet ist oder welche Epoche sie erforschen, sie müssen durch Raum und Zeit navigieren, herausfinden, was zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort geschah, und daraus eine chronologische Erzählung gestalten. Um ihre Leser auf die Wendungen der Reise aufmerksam zu machen, nutzen sie die unterschiedlichsten Arten von Werkzeugen, angefangen bei Karten, Diagrammen und Kalendern über Zeitstrahlen bis hin zu Ortsnamen. Aber wie alle anderen, können auch Historiker sich verirren. Bei der Vorbereitung zu Europe: A History, meinem Überblicksbuch über die Vergangenheit Europas, entschied ich mich, von der Konvention, die Karten nach Norden hin auszurichten, abzuweichen. Anstatt den Norden oben auf der Karte zu belassen, drehte ich die Karten um 90 Grad im Uhrzeigersinn, sodass der Westen oben zu liegen kam und damit der Osten unten, der Süden links und der Norden rechts zu finden waren. Dank dieser sowohl spielerischen wie ernst gemeinten Entscheidung verschwand der uns so vertraute Anblick der europäischen Halbinsel und ein seltsam vertikales Profil nahm seine Stelle ein. Die Iberische Halbinsel ragte wie ein menschlicher Kopf empor, Italien wirkte wie ein ausgestreckter Arm; Nordeuropa tauchte rechts auf und die großen Gebiete von Mittel- und Osteuropa bedeckten die untere Hälfte der Seite. Ohne dass ich mir der gesamten Auswirkung im Klaren gewesen wäre, forderte ich eine Gewohnheit heraus, die Menschen hilft zu wissen, wo sie sich befinden, und das Vertrauen in ihren Platz in dieser Welt stärkt. Natürlich war diese Idee alles andere als originell. Ein Druck der „Europa Regina“ aus dem 16. Jahrhundert, der in der Cosmographia des deutsch-schweizerischen Geografen und Linguisten Sebastian Münster (1488–1552) zum ersten Mal auftauchte, ist ein gut bekannter Vorläufer.1 Der Druck zeigt die „Königin Europa“ stehend und mit einem bekrönten Haupt, das mit HISPANIA bezeichnet ist – der bedeutendsten Macht zu dieser Zeit – und deren weites, fließendes Kleid bis zum pontu eux, dem 350

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„Schwarzen Meer“, reicht. Auf ihrer Brust prangt das Wort gallia, auf ihrer Taille germania, darunter, in einem von Bäumen umstandenen kreisförmigen Gebiet, ist bohemia zu lesen. Ihr goldener Reichs­apfel, sicilia, wird am Ende des ausgestreckten italienischen Arms gehalten, wohingegen das Zepter, dania, in ihrer linken Hand ruht. ungaria und sclavonia umfassen die rechte Hüfte der Königin, denen polonia und lithuania auf der linken Seite gegenüberstehen. Der Saum ihres Kleides wird eingenommen von morea, grÆcia, bulgaria, scythia (Ukraine) und tartaria. moscovia nimmt nur einen winzigen Streifen zwischen scythia und livonia ein. Die drei Königreiche der britischen Inseln, anglia, scotia und hib[ernia] sind auf geistreiche Art und Weise am oberen Ende des Zepters befestigt, doch ebenso braun eingefärbt wie africa, asia und scandia (Schweden), womit implizit gezeigt wird, dass diese Gegenden nicht wirklich zu Europa gehören. Und dennoch ist das Verhältnis der einzelnen Teile zum Ganzen akkurat festgehalten. Genau wie ich auch beabsichtigte Münster mit dieser Darstellung, die Aufmerksamkeit der Leser auf den Gesamtaufbau Europas zu lenken. Mir ging es zudem darum, die doch recht weit verbreitete Tendenz zu demaskieren, Westeuropa sei der einzige Teil des Kontinents, der Beachtung verdiene. Unsere mentalen Geschichts- und Geografie-Karten sind häufig von Stereotypen und Vorurteilen geprägt, und es ist in den letzten Jahrhunderten im Westen üblich geworden, den östlichen Teil unseres Kontinents fast völlig außen vor zu lassen. Natürlich wollte ich durch mein Beharren auf der Einbindung des Ostens kein Urteil über ihn fällen. Ich wollte nur betonen, dass die Nationen Osteuropas existieren, dass sie eine lange Geschichte haben und Teil jeder umfassenden Beschreibung sein müssen. Um das zu erreichen, war diese ungewöhnliche Perspektive, die die Betrachter zur Neubestimmung ihrer Annahmen zwingt, nicht unvernünftig. Ein Großteil der Kritiken und Rezensionen über Europe: A History fand mein kartografisches Experiment einleuchtend. Zusammen mit den „Kapseln“ des Buches, die eine Vielzahl fachspezifischer Themen in den Text einfügten, war dies einer der am häufigsten erwähnten Punkte in den Besprechungen. Einigen, vor allem amerikanischen Kritikern, leuchtete diese Darstellung hingegen keineswegs ein. Dabei beschränkten sie sich nicht auf die Äußerung von Zweifeln an dieser Idee. Sie schienen vielmehr empört und beleidigt, dass es jemand gewagt hatte, Europas etablierte Orientierung umzuwerfen. Sie reagierten, als hätten meine Landkarten auf eine bestimmte Art und Weise den wahren Kern der westlichen Zivilisation unterminiert, als hätten sie Intoleranz und Chaos Tür und Tor geöffnet. Diese Reaktionen 351

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machten mir deutlich, dass jenes eifrige Festhalten am „Westen“, und damit auch an einer westlichen Perspektive auf die Welt, nicht nur eine mentale Gewohnheit ist. Es rührt von tiefen emotionalen Bindungen her, die auf die Wurzeln der amerikanischen Identität und Sicherheit zurückgehen. Für viele US-Amerikaner ist „der Westen“ nicht nur eine Himmelsrichtung. Er ist eine politische und moralische Einheit, die ihre Überlegenheit in der gegenwärtigen Welt bestätigt. Zu meiner großen Überraschung stammte eine der schärfsten Kritiken von einem Historiker-Kollegen, mit dem mich eine Reihe von Begegnungen, sowohl negativer wie auch positiver Art, verband. Er nannte die Karten in meinem Buch „albern“ und rückte ihren Verfasser in die Nähe eines kleinen Tieres aus Der Wind in den Weiden. Er war sogar der Meinung, die Karte von Europa sei absichtlich so gedreht worden, um „Polen in den Mittelpunkt zu stellen“. Oh mein Gott! Man kann eine Europa-Karte auf den Kopf hängen, von vorne nach hinten drehen oder ein paar Mal im Kreis, man mag Polen lieben oder hassen, aber eines kann man nicht, nämlich leugnen, dass die Heimat von Chopin und Johannes Paul II. in der Mitte Europas liegt. Dies war ein trivialer, aber verräterischer Vorfall, ein Beispiel für uralte Vorurteile.2 Aber er bestätigt noch etwas Weiteres: Dass die natürliche Folge aus der Vergötterung des „Westens“ die Abwertung des „Ostens“ ist. Sich in der Welt zurechtzufinden, verlangte in den Zeiten vor der Landkarte und dem Kompass ein Minimum an astronomischem Wissen. Der wichtigste Richtungsanzeiger war die Sonne, deren scheinbare Bewegung durch die Drehung der Erde verursacht wird und deren erneuter Anblick an jedem Ort der Erde einen neuen Tag einleitet. Auch wenn die meisten Menschen vor Kopernikus’ Lebzeiten (1473–1543) davon ausgingen, es sei die Sonne, die die Erde umkreise, und nicht umgekehrt. Doch selbst diese Fehleinschätzung änderte nichts an der Tatsache, dass die Sonne jeden Morgen über demselben Bereich des Horizonts aufgeht und abends am gegenüberliegenden Ende wieder versinkt. Weshalb viele Sprachen auch dasselbe Wort nutzen, um „Sonnenaufgang“ und „Osten“ zu bezeichnen. Im Englischen und Deutschen ist es nicht so, dafür im Lateinischen und bei mehreren slawischen Sprachen. Das lateinische Substantiv oriens, gebildet aus dem Partizip  I von oriri, „sich erheben“, bedeutet „der Osten“, „der Sonnenaufgang“, „der Orient“, womit die Länder im Osten gemeint sind. Zudem bezieht es sich auf einen römischen Sonnengott. Für Christen steht es als Synonym für Christus, 352

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„den (Tages-)Anfang“, der als „das aufgehende Licht aus der Höhe“ denen erscheint, „die sitzen in Finsternis und Schatten des Todes“ (Lukas 1,78–79). Hat man einmal den Osten festgelegt, stehen auch die anderen Himmelsrichtungen automatisch fest. Blickt man gen Sonnenaufgang, weist der ausgestreckte linke Arm nach Norden, der rechte Arm gen Süden; der Westen befindet sich dann im Rücken. Der Süden ist jener Punkt, an dem die Sonne am Mittag steht; der Westen ist die Richtung des abendlichen Sonnenuntergangs. Aus diesem Grund steht häufig ein Wort sowohl für „Süden“ als auch für „Mittag“. Zwar nicht im Deutschen, dafür aber etwa im Französischen (le Midi / le midi) und im Italienischen (il mezzogiorno). Die schon seit den Urzeiten bekannten Himmelsrichtungen liefern die grundlegenden Informationen, auf denen jede Fahrt und Reise beruhte, und eine Reihe von technischen Hilfsmitteln, wie etwa das Astrolabium, der Quadrant oder das Global Positioning System (GPS), erleichterte die Schwierigkeiten aller Navigatoren. Die Erfindung des Astrolabiums (wörtlich „der Sternen-Nehmer“) wird Hipparchos von Nicäa (etwa 190–120 v. Chr.) zugeschrieben, dem „Vater der Trigonometrie“. Das GPS wurde vom US-Militär in den 1970er-Jahren ersonnen. Und einen weiteren wichtigen Fortschritt verdanken wir dem antiken China, wo man das Magnetfeld der Erde erkannte. Die Chinesen entwickelten während der Han-Dynastie (2. Jahrhundert v. Chr.) ein Gerät mit einem Magnetzeiger, erkannten dessen Möglichkeiten bei der Navigation aber lange Zeit nicht. Die Araber griffen den Einsatz des natürlichen Magneten auf und brachten ihn etwa im 11. Jahrhundert in den Westen. Der transportable Kompass konnte bei Nacht und bei Tag, auf See wie an Land, bei schönem wie bei stürmischem Wetter eingesetzt werden. Damit war eines der entscheidenden Werkzeuge für die später sogenannte Zeit der Entdeckungen etabliert. Da der Magnetzeiger immer in etwa zum Norden zeigt, dürfte er die Anregung dafür geliefert zu haben, bei Karten den Norden oben einzuzeichnen. Die Kartografie hat eine ähnlich lange Historie. Die älteste bekannte Karte stammt aus dem 9. Jahrhundert v. Chr. und wurde in Babylon angefertigt. Anaximander von Milet (etwa 610–545 v. Chr.) soll die erste heute noch bekannte Karte Europas gestaltet haben, auf welcher Griechenland im Zentrum der Welt liegt, umgeben von den drei Kontinenten europa, asien und libyien (Afrika). Auch in China und Indien erstellte man zu diesem Zeitpunkt vergleichbare Karten. Doch ein wirklicher Fortschritt ließ lange auf sich warten. So wurde Ptolemäus’ Ecumene, eine Abbildung der „bekannten Welt“ aus dem 2. Jahrhundert n. Chr., noch im 15. Jahrhundert genutzt. In der Zwischenzeit waren im mittelalterlichen Europa 353

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mehr als tausend mappae mundi gestaltet worden. Die häufig kopierten TO-Karten,* die auf der Etymologiae des Isidor von Sevilla (560–636) basierten, dem „letzten Gelehrten der alten Welt“, platzierten den Osten oben. Diese Anordnung findet sich auch auf der herrlichen mappa mundi der Hereford-Karte aus dem Jahr 1300. Der Portugiese Diego Ribeiro (etwa 1475–1533) wird häufig als der erste wissenschaftliche Kartograf bezeichnet. Dem genialen Gerard de Kremer, Gerhard Mercator (1512–1594), dessen Nationalität ungeklärt ist, verdanken wir die Erfindung der Projektion. Er hatte erkannt, dass alle Karten unausweichlich verzerrt darstellen. Sowohl die Padrón real (1527) von Ribeiro als auch die Weltkarte von Mercator (1569) zeigen die Arktis oben und die Antarktis unten auf dem Blatt.3 Karten wären um ein Vielfaches ärmer, würden sie keine Ortsnamen tragen, die ebenfalls eine reiche Geschichte haben. Doch die systematische Untersuchung geografischer Namen – die Toponomastik, auf Deutsch auch die Ortsnamenskunde, die sich als ungemein fruchtbar auch für Fantasten erwiesen hat  – war ein Spätentwickler. Als ihr Begründer wird meist der Danziger Professor Ernst Förstemann (1822–1906) aufgeführt.4 In den meisten europäischen Ländern fand Förstemann Nachahmer, so etwa Walter Skeat in England, William Watson in Schottland sowie Auguste Longnon und Alber Dauzat in Frankreich. In den Vereinigten Staaten gab es einige sehr frühe, von der Kultur der Native Americans begeisterte Namenskundler-Pioniere, zum Beispiel Henry Rowe Schoolcraft (1793–1864).5 Die ersten Toponomastiker konzentrierten sich auf die Herleitung von Ortsnamen in ihren eigenen Herkunftsländern. Die globale Perspektive auf die Topo­ nomastik ist wesentlich jünger: Sie wird etwa vom Amerikaner George ­Stewart (1895–1980) vertreten, Autor von Names on the Globe (1975), oder dem Australier Marcel Aurousseau (1891–1983), der den wichtigen Ausdruck Exonym einführte, „der Name für einen Ort, der von Fremden geprägt wurde“.6 (Ein offensichtliches Beispiel wäre „Wales“, ein Land mit dem indigenen Namen Cymru.) Das Antonym zu Exonym ist Endonym.** Es gibt nichts, was unseren Sinn für Orientierung derart schärft wie das Reisen rund um die Welt. Unsere gesamte Sprache der Lokalisierung – also jene Ausdrücke, mit denen wir beschreiben, wo sich Orte befinden  – ist relativ und nicht absolut. In meinem Fall bedeutete dies: Ich ging davon * TO-Karten haben ihren Namen von der T-förmigen Dreiteilung der Kontinente in einer kreisrunden (O-förmigen) Karte. ** Einige Wissenschaftler nutzen anstelle von Exonym lieber Xenonym und bevorzugen Auto­ nym statt Endonym.

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aus, England in Richtung „Mittlerem Osten“ zu verlassen, um später dann in den „Fernen Osten“ zu gelangen, von wo aus ich auf „die andere Seite der Welt“ reisen würde, nach Australien und Neuseeland. Denn so war es mir in der Schule beigebracht worden. In mir war festgeschrieben, dass ich in Neuseeland die „Hälfte der Reise“ hinter mir haben würde, denn würde ich weiter ostwärts reisen, wäre ich schon wieder auf dem Heimweg. So war es eine bewusstseinserweiternde Erfahrung, die Internationale Datumsgrenze zu überschreiten und zu erkennen, dass unser Konzept von „einem Tag“ höchst subjektiv und künstlich ist. Dank der Reise erkannte ich, dass meine Denkweise über die Orientierung peinlich engstirnig war. Im Fernen Osten angekommen, verstand ich sehr schnell, dass für die Menschen dort der Ferne Osten solche Länder umfasste, die für einen Europäer als „Ferner Westen“ gelten könnten  – zum Beispiel Kalifornien oder auch Mexiko. Überlegt man es sich recht, ist jeder Punkt auf der Erde östlich von einem anderen und westlich von vielen weiteren. Deshalb gibt es so etwas wie ein „östliches Land“ gar nicht, außer in der Vorstellung seiner Bewohner oder seiner Nachbarn. Ortskonzepte sind aus dem ganz einfachen Grund mobil, da die Erde selbst rund und mobil ist. Wie jeder weiß, oder wissen sollte, nennen die Chinesen ihr Land nicht „China“. Die Koreaner sprechen nicht von „Korea“ wie die Japaner nicht von „Japan“. All diese Bezeichnungen sind Exonyme. In den letzten tausend Jahren oder mehr bezeichneten die Chinesen ihr Heimatland als Zhong Guo (中国), als das „Reich der Mitte“, manchmal auch als Zhong Hua, die „Nation der Mitte“. Nun stellt sich natürlich die Frage, von was genau China die Mitte war und wann diese Begriffe geprägt wurden. Kurz gesagt: Es ging um die Mitte der (den antiken Chinesen damals) „bekannten Welt“. Sie wussten von den Griechen und Römern in der einen Richtung und den westlichen Pazifikinseln in der anderen. Aber sie waren keine Abenteurer und entdeckten weder Amerika noch Australien. Ihre „sieben großen Reisen“ zu Beginn des 15. Jahrhunderts waren keine Erkundungsfahrten, sondern Zeichen der Stärke entlang der gut bekannten Routen nach Indien und Arabien. Ein weiterer Name, den die Chinesen jahrhundertelang nutzten, lautete Tian Chao (天朝), das „Himmlische Reich“. Wie die Römer unterschieden auch sie streng zwischen einer zivilisierten Welt, in deren Zentrum sie sich befanden, und den Barbaren jenseits davon, gegen die sie ihre große Mauer bauten. Das chinesische Schriftzeichen für Osten, dong, hat viele wichtige Konnotationen. In seiner modernen, vereinfachten Form, 东, ist es nicht sehr 355

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ausdrucksstark; doch in seiner traditionellen Schreibweise, 東, kann man noch die Sonne 日 erkennen, die durch den Baum 木 hindurchscheint – mit anderen Worten: den Sonnenaufgang. Das Gegenteil, xi (西), das „Westen“ bedeutet, lässt sich als versinkende Sonne identifizieren  – also den Sonnenuntergang. Dong und xi finden sich häufig in engem Zusammenhang. Guangdong (Kanton) bedeutet „östliche Provinz“, sein Nachbar an der Grenze zu Vietnam ist Guangxi, die „westliche Provinz“. Im nahe gelegenen Perlflussdelta stehen sich Xi Jiang, das „Westufer“, und Dong Jiang, das „Ostufer“, einander gegenüber. Das Chinesische bezieht sich immer wieder auf Teile der Welt als „Ozean“. Daher wird Dongyang, wörtlich der „östliche Ozean“, normalerweise als „Ostasien“ übersetzt, und Nanyang, der „südliche Ozean“, als „Südostasien“. Xiyang, der „westliche Ozean“ bezog sich einst auf Indien und Arabien, erweiterte seine Bedeutung später aber ganz allgemein auf die „westliche Welt“. Entsprechend der politischen Umstände nennen Koreaner ihr Land entweder Hankuk oder Choson. Beide alternative Endonyme haben eine altehrwürdige Herkunft, und beide dienen heute aktuellen Zwecken. Hankuk, ausschließlich von den Bewohnern Südkoreas genutzt, bedeutet etwas wie „große Länderei“; Choson, von den Nordkoreaner verwendet, stammt vom Namen einer Dynastie des 14. Jahrhunderts ab und erhielt dank eines 1885 erschienenen Buches die hübsche, aber zweifelhafte Übersetzung „Morgenstille“.7 Sobald die Vertreter Süd- und Nordkoreas miteinander verhandeln, nehmen sie die Bezeichnungen Namhan und Bukhan, also „Südstaat“ und „Nordstaat“, in den Mund. Die koreanischen Exonyme für die Nachbarn Koreas lauten Jungguk (China), Daeman (Taiwan) und Libon (Japan). Je nach Kontext nennen die Japaner ihr Land entweder Nippon oder Nihon, was der berühmten Übersetzung „Land der aufgehenden Sonne“ entspricht. Doch dieses wunderschöne, poetische Bild wirft eine Frage auf: Wo muss man sich auf den japanischen Inseln befinden, um sie zusammen mit dem Sonnenaufgang sehen zu können? Die Antwort liegt nicht in Japan selbst, sondern auf dem Festland im Westen, von dem aus man auf die Inseln schaut. Hier findet sich auch der Schlüssel zu dem Namen; er kann nur entweder von den antiken Chinesen oder den Vorfahren der Japaner erfunden worden sein, bevor sie vom Festland hinübersegelten. In der sowohl in China als auch in Japan verwendeten Schriftsprache mit ihren Logogrammen, den Kanji, stehen die beiden wichtigen Zeichen, 日 本, für „Sonne“ und „Herkunft“. In der gesprochenen Sprache würden Sprecher des Mandarin diese Zeichen als Ri-ben aussprechen, wohingegen 356

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Japanisch-Sprecher sie als Ni-hon lesen beziehungsweise formeller als ­Ni-pon. Japaner ergänzen dazu häufig noch ein drittes Wort, Koku, was „Staat“ oder „Nation“ heißt, wodurch sie auf Ni Hon Koku, wörtlich den „Sonnen-Aufstieg-Staat“ kommen. Die japanische Flagge, entweder als ­Ni-Shoki, das „Sonnenzeichen“, oder als Hinomaru, „Kreis der Sonne“, bekannt, stammt ebenfalls aus diesen alten Zeiten. Wann und wie genau sich die japanische Nation bildete und ihren berühmten Namen annahm, ist höchst umstritten. Die Inseln waren seit der Steinzeit bewohnt, und zwei indigene, aber ethnisch nicht miteinander verbundene Völker, die Ainu und die Yamon, haben ihre Spuren hinterlassen. Im 3. Jahrhundert v. Chr. wanderte eine dritte Gruppe, die Yayoi, vom Festland her ein und brachte den Reis-Anbau und die Bronze-Verarbeitung mit. National-japanische Historiker machten später zumeist diese Yayoi zu ihren Vorfahren. Ursprünglich stammten sie wohl entweder aus Zentralchina, südlich des Jangtsekiang, oder aus dem südlichen Korea. Gegen Ende der Konfun-Zeit (250–700 n. Chr.) hatte die Yayoi-Kultur ihre Vorgänger verdrängt. Die Chinesen kannten das Land als Wo (in der Bedeutung: „das Volk, das sich verbeugt“); es war in fünf Krieg führende Königreiche aufgeteilt. Im 8.  Jahrhundert entstand schließlich ein starker Einheitsstaat mit einem Kaiser, der seine Hauptstadt in Nara hatte. Die Ursprünge der heute herrschenden Dynastie Japans gehen auf diese Zeiten zurück.8 Genau wie das Gedicht, auf dem die Nationalhymne, die Kimigayo, basiert: Kimi ga yo wa Chiyo ni, Yachiyo ni Sazare-ishi no Iwao to narite Koke no musu made Möge Eure Herrschaft währen tausend Generationen oder mehr, bis ein Steinchen zum Felsen wird auf dem Moos sprießt.

Sowohl Chinesen wie auch Koreaner und Japaner lehnen die eurozentristische Idee ab, im „Fernen Osten“ zu leben. Und doch bemerkten Europäer 357

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und Amerikaner erst vor Kurzem, wie unangemessen, ja im Grunde gar lächerlich ihre Wortwahl ist. Allerdings sollte man auch nicht zu überrascht sein, dass ein Label, das auf das 12.  Jahrhundert zurückgeht, eine Weile braucht, um außer Gebrauch zu kommen. Einen vernünftigen Vorschlag machten zwei Professoren aus Harvard im Jahr 1960: Als die Europäer nach Osten reisten, um nach Cathay, Indien und Japan zu gelangen, gaben sie diesen weit entfernten Regionen ganz selbstverständlich den Namen „Ferner Osten“. … Für die dort lebenden Menschen ist die Region jedoch weder „Osten“ noch „Westen“ und ganz sicher nicht „fern“. Eine akzeptablere Beschreibung für diese Region wäre „Ostasien“, was geografisch präziser wäre und nicht impliziert, … dass Europa das Zentrum der zivilisierten Welt sei.9

Und Ostasien ist trotz allem noch am meisten geografisch herausgefordert. Dabei war es nicht nur der Westen, der eigen-zentristische Konzepte pflegte. Jahrhundertelang wurde Chinesen und Japanern beigebracht, von Europa als Taixi, also dem „extremen Westen“, zu denken. Im Japanischen Taisei ausgesprochen, bezog sich der Ausdruck ursprünglich auf die an das Reich der Mitte angrenzenden Länder, doch auf Anregung der jesuitischen Mission des Matteo Ricci Ende des 16. Jahrhunderts wurde er fortan für den weiter entfernten christlichen und europäischen „Westen“ verwendet. Die Jesuiten unterschieden zwischen dem „Kleinen Westen“ in Indien und dem „Großen Westen“ in Europa. Am anderen Ende Eurasiens, mehr als 8000 Kilometer entfernt, sind die Küstenlinien des Kontinents eher gen Westen als gen Osten gerichtet. Doch genau wie die Inseln der aufgehenden Sonne vor der Küste des Reichs der Mitte lagen, gab es eine Inselgruppe in vergleichbarer Größe (Japan ist etwas größer) vor der Küste des Römischen Reiches. Die Römer hatten die Meerenge, die sie Oceanus nannten, gegen Ende der Republik überquert. Doch im Jahr 43 n. Chr. – oder wie sie es wohl gerechnet hätten, im Jahr 796 ab urbe condita – errichteten sie ihre Provinz Britannia im Süden der größten Insel. Die Inselbewohner, die sie vorfanden, die Hibernier und Britonen, waren Kelten. Etwa in dem Zeitraum, in dem die Yayoi ihr Reich der aufgehenden Sonne bereits konsolidierten, machte sich ein anderes Volk mit ähnlichen maritimen Ansprüchen daran, ein vergleichbares Vorhaben zu starten: Die Angeln lebten ursprünglich auf der kontinentalen Halbinsel Jütland, in einem Gebiet, das noch heute den Namen Angeln trägt. Sie waren nur eines von mehreren germanischen Völkern, die regelmäßig mit 358

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ihren Langbooten die Küsten des Mare Germanicum entlangfuhren und verwundbare Siedlungen an der Küste Britanniens überfielen. Sie und ihre Verbündeten sind in den Geschichtsbüchern unter der Bezeichnung „Angelsachsen“ oder als „Angeln, Sachsen und Jüten“ aufgeführt, obwohl zu ihrer Gemeinschaft sicherlich auch Friesen, Bataver und gemischte Seeräubergruppen gehört haben dürften. Im 4. Jahrhundert n. Chr. begannen sie, nicht nur Überfälle durchzuführen, sondern sich auch vor Ort niederzulassen. Vor dem Abzug der Römer gelang es ihnen, an der „Sachsenküste“ Fuß zu fassen, von wo aus sie im 5. Jahrhundert ins Landesinnere vordrangen, um die hier beheimateten Kelten entweder zu verdrängen oder zu dominieren. Damit nahmen die Eroberungen ihren Anfang, die nach und nach zur Bildung von „England“ führten.10 Die Entfernung übers Meer, die die jütländische Heimat der Invasoren in Germania Barbarica von Britannien trennte, ist in etwa so groß wie die, welche die Proto-Japaner von ihrem Ziel in Nippon trennte: etwa 200 Kilometer. Der große Unterschied ist die Richtung. Die von ihrem zukünftigen Heimatland träumenden Proto-Japaner blickten in den Sonnenaufgang; die Proto-Engländer in den Sonnenuntergang. Viele Jahrhunderte später segelten die aufstrebenden Engländer in Richtung Sonnenuntergang, um Irland zu erobern, marschierten in den Sonnenuntergang, um Wales einzunehmen, und machten sich als Pilgerväter gen Sonnenuntergang auf, um jenseits des Ozeans Nordamerika zu besiedeln. Nicht nur zu Zeiten der angelsächsischen Eroberungen, sondern auch noch viele Jahrhunderte später war Latein als Schriftsprache die einzige Lingua franca in Westeuropa, weshalb das grundlegende Richtungsvokabular in Europa vom Lateinischen abstammt. Oriens hat mit Occidens einen Zwillingsbruder, der „untergehende Sonne“ und daraus erweitert „der Westen“ bedeutet. Das Verb occidere heißt so viel wie „versinken“ oder „untergehen“, aber auch „verschwinden“. (Das Bild der im eigenen Blut sterbenden Sonne war eine verbreitete poetische Metapher.) Im Jahr 285 n. Chr. (oder 1038 ab urbe condita) teilte der römische Kaiser Diokletian sein Reich in zwei Hälften, erhob ein Jahr später seinen Mitherrscher Maximian in den Rang eines Augustus und setzte ihn als „Kaiser des Westens“ ein, während er den bevölkerungsreicheren und wohlhabenderen Osten für sich selbst behielt. Mehr als ein Jahrhundert lang funktionierten zwei miteinander verbundene Römischen Reiche parallel: das noch immer um Rom konzentrierte Imperium Romanum Occidentale sowie das Imperium Romanum Orientale mit der neuen Hauptstadt Konstantinopel. 395 n. Chr. teilte Kaiser Theodosius das gesamte Reich auf eine ganz neue 359

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Art auf und schuf die vier großen Prätorianischen Präfekturen von Gallien, Italien, Illyrien und Oriens. Die Präfektur Oriens, mit dem Zentrum Konstantinopel, war die östlichste der vier und noch einmal in fünf dioceses oder „Verwaltungseinheiten“ aufgeteilt, von denen eine ebenfalls Oriens hieß. Die Diözese von Oriens, dessen Gouverneur, der Comes Orientis („Fürst des Ostens“), im kleinasiatischen Antiochia residierte, bestand aus 15 Provinzen, die sich von Kleinasien und der Insel Zypern bis nach Mesopotamien, Palästina und Ägypten erstreckten. Nach 476, als Westrom kollabierte, Rom aufgegeben wurde und die Präfekturen Gallien, Italien und Illyrien verschwanden, blieben die Präfektur und die Diözesen von Oriens bestehen und wurden zum Zentrum dessen, was die Historiker später als das „byzantinische Reich“ neu erfinden sollten. Da in diesem byzantinischen Kontext der Bezugspunkt Rom verschwunden war, veränderte sich auch die Bedeutung von Oriens ein weiteres Mal. Der Name Oriens passte nicht länger zu dem „Ostreich“ als Ganzem, sondern bezeichnete fortan die östlichen Provinzen von Byzanz, die es von den früheren Diözesen übernommen hatte und die ab dem 7. Jahrhundert zum Schlachtfeld zwischen dem christlichen Byzanz und dem expandierenden Islam wurden. Dieses Etikett blieb mehr als ein Jahrtausend haften: Es bildeten sich in Europa eine Reihe von landestypischen Entsprechungen, darunter im Deutschen der „Orient“, dem üblichen mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Begriff für die Region, die man heute als „Nahen“ oder „Mittleren Osten“ bezeichnet. Ab 1883 verkehrte eine berühmt gewordene Eisenbahnlinie zwischen Paris und Konstantinopel (Istanbul) – der Orient-Express. Dass sich der Schwerpunkt des Römischen Reiches gen Konstantinopel verlagerte, führte noch zu einer weiteren wichtigen Veränderung: Das Griechische verdrängte Latein als wichtigste Sprache des Imperiums. So fanden mit einem Mal griechische Bezeichnungen ihren Weg auf die Karten. Eine davon lautet Anatoli, was zur Standardbezeichnung für die Halbinsel wurde, die die Römer noch Asia minor genannt hatten. Anatoli, Konstantinopel jenseits des Bosporus genau gegenüberliegend, bedeutet „Dämmerung“ oder „Sonnenaufgang“. Die osmanischen Türken übernahmen diese Bezeichnung, als sie im 12. und 13.  Jahrhundert einwanderten, und es tauchte als das türkische Anadolu wieder auf – noch ein „Land der aufgehenden Sonne“. Vom Westen latinisiert, wurde es zu Anatolien und bildet das Herz der heutigen türkischen Republik. Die Griechen besaßen eine lange Tradition darin, mit Geringschätzung gen Osten zu blicken. Sie grenzten ihre eigene Welt üblicherweise von jener der „Barbaren“ ab, mit anderen Worten von den primitiven Völkern, die 360

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nur „bla-bla-bla“ machten, anstatt Griechisch zu sprechen. Als sie im 5.  Jahrhundert v.  Chr. von den Persern bedrängt wurden, fügten sie die hochzivilisierten Perser kurzerhand ihrer Liste mit Barbaren hinzu. Barbarisch war also nicht nur das Attribut einer linguistischen Differenz, sondern sollte die grundlegende Unterschiedlichkeit deutlich machen.11 Als die Venezianer zu gegebener Zeit die Kontrolle über den europäischen Handel mit dem Orient erlangt hatten, führten sie die italienische Lehnübersetzung von Oriens ein, il levante: ein neuer Begriff, dem ebenfalls ein langes Leben beschieden ist. Er taucht in einer Vielzahl von sprachlichen Versionen auf – le levant auf Französisch, the levant auf Englisch, die Levante auf Deutsch – und war ein häufig verwendeter Partnerbegriff für den Orient und eine geografische Variante, um direkt über das Osmanische Reich zu sprechen. Das entsprechende Adjektiv „levantinisch“ bezog sich ursprünglich auf jeden „Bewohner der Levante“, erhielt dann aber die speziellere Bedeutung des „lateinischen Ritus der Christen, die unter osmanischer Herrschaft leben“. In den Jahren vor 1914 eröffneten mehrere europäische Mächte eigene Zweige ihrer nationalen Post im Osmanischen Reich, dessen Briefmarken deutlich mit LEVANT überdruckt wurden. Eine eher wenig subtile Art und Weise mitzuteilen, dass die Souveränität des Osmanischen Reiches, des „kranken Mann am Bosporus“, verletzt wurde. In der Zwischenzeit hatte, von den meisten Westlern übersehen, der Niedergang des byzantinischen Reiches noch weitreichendere Konsequenzen. Er legitimierte den Aufstieg Russlands zu Europas neuem politischen „Osten“. Nachdem Konstantinopel von den muslimischen Türken geschluckt worden war, beanspruchte Moskau die Führung der besiegten orthodoxen Christen, und Moskowiter Ideologen ernannten ihren Zaren, also ihren „Caesar“, zum Herrscher des „dritten Rom“ – folglich zum Nachfolger von Augustus und Konstantin. Dadurch stellten sich die Russen als dauerhafte Rivalen der osmanischen Türken auf, gegen die sie endlose Kriege um die Kontrolle des Schwarzen Meeres und des Balkans führten. Moskau setzt sich bis heute für die christlichen Slawen auf dem Balkan ein, etwa die Serben und Bulgaren. Und es schuf damit eine dauerhafte Antithese zwischen Russland und dem „Westen“. Generationen von Russen wurde eingetrichtert, insbesondere durch ihren Ableger der orthodoxen Kirche, dass sie über all die Tugenden verfügten, die den „dekadenten Westlern“ fehlen: Kraft, reine Herzen und Loyalität gegenüber dem wahren Glauben. Auch die moderne russische Kultur ist von diesen Ideen weiter beeinflusst. Ein tiefer Riss herrscht zwischen den sogenannten „Verwestlichern“, die überzeugt sind, Russland sollte dem europäischen Weg der 361

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Entwicklung folgen, und den sogenannten „Ostländlern“ oder „Eurasiern“, die vom Gegenteil überzeugt sind, nämlich dass Europa der Erbfeind sei, die Quelle von Feindseligkeit, Betrug und Korruption. Nirgends findet sich die Meinung dieser „Ostler“ machtvoller ausgedrückt als in den Gedichten von Alexander Blok (1880–1921), dem führenden Poeten der Revolutionszeit. Blok verbarg die Tatsache, dass er in Warschau, dem dekadenten Westen, aufgewachsen war, und machte lieber seine Verachtung für die verräterischen Westmächte deutlich, die vermutlich der Revolution feindlich gesinnt waren. „Ihr seid Millionen“, höhnte er, „aber wir sind тьмы, и тьмы, и тьмы – i T’my, i T’my, i T’my – Horden und Horden und Horden“: Ihr seid Millionen. Wir – ein Meer, ein Meer. Versucht es nur, das Schwert zu zücken! Ja, Skythen! Asiaten! Das sind wir, Mit gierigen und schrägen Blicken! […] Jahrhunderte habt ihr geschaut nach Ost, Und ließt von Perlen euch verwöhnen. Und spöttisch habt ihr nur gezählt die Frist, Bis die Kanonenschlünde dröhnen. […] O alte Welt! Solange du noch bist, Und du dich quälst im süßen Bösen, Verweile doch, wie Oedipus, mit List Den Rätselspruch der Sphinx zu lösen! Rußland – die Sphinx. Mit Jubel und mit Pein, Ganz überströmt von schwarzem Blute, Schaut sie, und schaut, und schaut in dich hinein, Mit Haß erfüllt, und auch mit Güte. Ja, so wie unser Blut zu lieben liebt, War keinem von euch je geheuer. Ihr habt vergessen, daß es Liebe gibt, Welche zerstört und sengt wie Feuer. […] Wir schlagen Schneisen durch das Walddickicht, Schaffen Europa weite Plätze, Du Prächtiges! Wir wenden uns an dich Mit unsrer Asiatenfratze! […] 362

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Wir selbst jedoch sind euch nicht mehr ein Schild, Wir wolln im Kampfe nichts mehr nützen. Wir schaun nur zu dem Todeskampfe wild Mit unsren schmalen Augenschlitzen. […] Zum letzenmal – besinn dich, alte Welt! Zum Brudermahl, zur Friedensfeier, Zum letzenmal zum lichten Gastmahl schallt Der Aufruf der Barbarenleier!12

Nach der bolschewistischen Revolution von 1917 wurden diese „eurasischen“ Gedanken in der emigrierten Gemeinschaft der „Weißen“ bewahrt, bis sie in Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 wieder auftauchten. In der Zwischenzeit wurden sie durch akademische Überlegungen verstärkt und radikalisiert. Einflussreich war beispielsweise Prinz Nikolai Trubetzkoy (1890–1938), ein Philologe aus der Prager Schule, mit seiner Behauptung, die Phonologie und tonalen Muster des Russischen stammten, anders als dessen indoeuropäische Grammatik, von den Sprachmustern der nicht-slawischen Völker in Zentralasien ab. Diese Überlegungen wurden von seinem Kollegen Roman Jakobson entwickelt. Dreißig Jahre später formulierte ein weiterer Orientalist, Lew Gumiljow (1912–1992), eine faszinierende Theorie, für die er ökologische, anthropologische und psychologische Elemente verknüpfte, um die zentralasiatischen Ursprünge des russischen „Super-Ethnos“ zu erklären. Der Sohn der Dissidenten-Dichter Anna Achmatowa und Nikolai Gumiljow verbrachte 14 Jahre im Gulag, wo er durch die Beobachtung des Verhaltens seiner Mithäftlinge seine wichtigsten Konzepte entwickelte, darunter die Passionarnost, die „Passionarität“. Das von ihm in den 1970er-Jahren verfasste, sensationelle Buch Ethnogenese und die Biosphäre der Erde 13 harrte Jahrzehnte im Untergrund aus, während er ­obskure akademische Arbeiten zu den Steppenvölkern wie den Chasaren oder den Xiongnu schrieb, wobei man Letztere eine Weile für die Vorfahren der Hunnen hielt. Doch seine Zeit sollte noch kommen. Um die Jahrtausendwende beeinflussten Gumiljows Arbeiten einen wichtigen Flügel der russischen Neonationalisten rund um Alexander Dugins Eurasien-Partei, in der man den Slogan „Umarme deine innere Mongolei“ hochhielt. Es gibt auch Hinweise darauf, dass ein nicht unbedeutender Teil von Wladimir Putins Ideologie von Gumiljow geprägt sein könnte.14 Doch der Eurasismus, Yevraziystvo, fand nicht nur in Russland An­hänger, sondern wurde auch in den post-sowjetischen Diktaturen 363

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Zentralasiens populär, vor allem in Kasachstan. 2014 wurde die Eurasische Wirtschaftsunion gegründet, eine Unterorganisation der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) und Nachfolgerin der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft.15 In Nur-Sultan, ehemals Astana, der Hauptstadt Kasachstans, benannte man die „Eurasische Nationale Universität“ 1996 nach L. N. Gumiljow.16 Nach Osten anstatt nach Westen zu segeln, ist immer eine Option gewesen. Doch die ersten Weltumsegler entschieden sich dafür, Europa gen Westen zu verlassen. Dieser Entschluss war zum Großteil durch die Tatsache bestimmt, dass die europäischen Kapitäne im 16. Jahrhundert kaum nennenswert nach Osten gelangen konnten, wenn sie nicht die gesamte Länge Afrikas entlangsegelten und dann das weit entfernte Kap der Guten Hoffnung umschifften. Die Pläne des Portugiesen Fernão de Magalhães, besser bekannt unter dem Namen Ferdinand Magellan, im Jahr 1519 gen Westen aufzubrechen, basierten sicher auf vernünftigen Überlegungen. Denn dank seines Vorgängers Vasco da Gama, der dreißig Jahre zuvor die Reise nach Indien über das Kap gewagt hatte, dürfte er gewusst haben, dass es möglich war, von Indien aus ostwärts zu segeln, um eine Weltumrundung zu versuchen. Er verwarf diese Möglichkeit jedoch, zum Teil wegen des untragbar langen ersten Teils der Reise und zum Teil, weil er – wie sich herausstellte: zu Recht – glaubte und hoffte, dass eine ähnliche Route auch um Südamerika herum möglich sein müsste. Magellan selbst starb, bevor er die Weltumseglung vollenden konnte, und die Lorbeeren für die erste vollständige Umrundung gebühren somit entweder seinem Stellvertreter, Juan Sebastián Elcano, der die Victoria sicher wieder nach Hause brachte, oder vielleicht doch eher Magellans malaiischem Sklaven, Enrique Melaka, der meist aus der Geschichte gelöscht wird.* Auch Francis Drake wählte die westliche Route und steuerte sein Gefährt zwischen 1577 und 1580 einmal rund um den Globus. Die Annalen der nach Osten verlaufenden Navigation sind, wenn auch weniger bekannt, so doch nicht weniger bemerkenswert. Zu ihnen gehören erinnerungswürdige Leistungen von Männern und Frauen von unter* Enrique Melaka stammte aus Indonesien, war mehrere Jahre lang Magellans Diener und hatte bereits einmal die Reise von Südostasien nach Europa zurückgelegt, bevor er mit der Expedition von 1518 bis 1521 aufbrach. Nach Magellans Tod auf den Philippinen nahm er noch deutlich vor Elcanos Abreise ein Schiff nach Malaysia. Nimmt man an, dass er es ohne Schiffbruch nach Melaka (Sumatra) zurückgeschafft hat, dürfte er eine vollständige Weltumrundung bewältigt haben – mindestens ein Jahr, bevor Elcano so weit war.

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schiedlichen Kontinenten. Einer der großen Pioniere war ein Berber aus Tanger, Ibn Battuta (1304–1368), dessen Reisen die seines berühmten Zeitgenossen Marco Polo fast schwerfällig erscheinen lassen. Battuta umrundete zwar nicht den Erdball, doch die bei seinen zahlreichen Reisen zurückgelegten Kilometer dürften leicht das Vielfache des Erdumfangs erreicht haben. Er reiste kreuz und quer durch den Nahen und Mittleren Osten sowie durch Zentralasien, segelte nach Ostafrika, besuchte China, Indien und Südostasien. Der Bericht über seine Reise, der schlicht mit Rihla, „Reise“, betitelt wird, war im Westen bis ins 19. Jahrhundert unbekannt.17 Die erste Weltumrundung in östlicher Richtung wird meist dem spanischen Franziskaner Martín Ignacio de Loyola (etwa 1550–1606) zugeschrieben, einem engen Verwandten des Gründers der Jesuiten. Der unerschrockene Mönch hatte bereits eine Weltumsegelung westwärts hinter sich, als er diese Heldentat zwischen 1584 und 1589 in der Gegenrichtung wiederholte. Er legte die Strecke in drei Abschnitten zurück und segelte zunächst von Spanien nach China, dann von China nach Mexiko und schließlich von Mexiko nach Spanien. Zu seinen Lebzeiten dürfte niemand weiter herumgekommen sein als er.18 Wie alle, die in seiner Nachfolge heutzutage mit großem Komfort unterwegs sind, möchte ich ihm meinen Respekt zollen. Hasekura Tsunenaga (1571–1622) kann, wie Ibn Battuta, nicht als Weltumsegler bezeichnet werden, doch auch er hat einen Platz in der Chronik der weltweit Reisenden verdient. Der japanische Samurai war zwischen 1613 und 1620 Botschafter beim Vatikan, überquerte den Pazifik, um nach Mexiko zu gelangen, und schließlich den Atlantik. Er wurde in Spanien getauft und nahm den Namen Francisco Felipe Faxicura an. Das wichtigste handelspolitische Ziel seiner Reise, die Etablierung stabiler Wirtschaftsbeziehungen, gelang jedoch nicht. Er war der einzige japanische Emissär, der Europa vor dem späten 19. Jahrhundert betrat.19 Obwohl sie ebenfalls die Erde nicht umrundete, hinterließ Aphra Behn (1640–1689), eine außergewöhnliche Engländerin aus der Zeit der StuartRestauration, als Spionin, Autorin und erfahrene Reisende bleibenden Eindruck. Sie kam viel in der Welt herum, doch wird sie für andere Leistungen noch weit mehr bewundert als für ihre Reisen. Die in Kent geborene Tochter eines Baders und einer Amme wuchs vermutlich unter dem Namen Anne Johnson auf, wurde später jedoch mit „Ann Behn“, „Mrs  Bean“, „Agent  106“ oder „Astrea“ angesprochen. Ihre internationale Karriere begann nach der Hochzeit mit einem niederländischen Kaufmann namens Behn, den sie in die Niederlande begleitete. Dank ihrer Sprachkenntnisse wurde sie während der Englisch-Niederländischen Seekriege wertvoll für 365

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die englische Regierung und arbeitete in Antwerpen als Spionin. Glaubt man ihren eigenen Aussagen, dann segelte sie sowohl nach Surinam als auch nach Niederländisch-Indien (heute Indonesien). Als sie Mitte der 1670er-Jahre nach England zurückkehrte, etablierte sie sich mit ihren zahlreichen Dramen, Romanen und Gedichten im Kreise der gewagten Restaurations-Literatur. Zu Lebzeiten für ihre geistreichen und obszönen Verse bekannt, geriet sie später in Vergessenheit und erlebte erst spät ein Comeback als literarische Ikone des Feminismus: Ihre weichen Lippen trafen seine die Körper wie die Seeln verbunden in tiefem Austausch eng verbunden ausgestreckt auf einem Bett aus Moos. Cloris lag halbtot und atemlos, die Augen war’n wie flüssig Licht das da scheidet Tag von Nacht oder es vom Stern her scheint, der stirbt. Und sie zeigt nun keine Regung mehr als was in kurzem Stöhnen kommt und geht.20

Sollte Karl  II. darüber nachgedacht haben, einen „Bad Sex Prize“ auszu­ loben  – denn etwas in dieser Art dürfte ihm durchaus gefallen haben –, wäre Behn sicherlich in die engere Auswahl gekommen. Der Roman Oroonoko oder Der königliche Sklave gilt als ihr Meisterwerk.21 Padre Pedro Cubero (1645–1697), ein katholischer Missionar aus Aragon, hinterließ zu dem Zeitpunkt erste Spuren auf dem Globus, an dem Aphra Behn als Autorin reüssierte. Cuberos Reise von 1670 bis 1679 begann in Venedig. Er reiste über Land nach Warschau, Moskau und Isfahan an den Persischen Golf, wo er ein Schiff nach Indien bestieg. Von Goa aus segelte er nach Colombo, Malakka, Manila und Kanton. Dann durchquerte er China bis nach Peking, von wo aus er auf die Philippinen zurückkehrte. 1678 bestieg er die hier einmal jährlich ablegende Manila-Galeone nach Acapulco. Nachdem er Mexiko zu Fuß durchquert hatte, fuhr er über Kuba zurück in seine Heimat. Sein Peregrinación del Mundo (1680) gilt als eines der besten Reisebücher. Es erzählt von Cuberos Gefangennahme durch Piraten aus Malabar, seiner Versklavung auf den Malediven, seiner Haftzeit im niederländisch beherrschten Malakka (die er sich wegen der Verbreitung des Katholizismus eingehandelt hatte) und seinem knappen Überleben beim großen Erdbeben auf den Philippinen im Jahr 1677. Er soll einer 366

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der ganz wenigen Überlebenden an Bord der Manila-Galeone gewesen sein. Das Frontispiz seiner Peregrinación enthält ein Sonett, das ihn als „Missionario Apostolico“ (apostolischen Missionar), „Sol que resplandece“ (leuchtende Sonne), „Explorador de tanta gloria“ (Erforscher großer Ehre) und „Luz al error“ (Licht gegen den Fehler) beschreibt.22 Giovanni Gemelli Careri (1651–1725), ein weiterer Weltreisender und Spion des Vatikan, folgte im Großen und Ganzen Cuberos Route, allerdings erreichte er Persien über Ägypten und Armenien. Als scharfsinniger Geschäftsmann machte er 300  Prozent Gewinn, als er in Südostasien Quecksilber kaufte und es in Mexiko wieder verkaufte. Seine sechsbändige, mit feinen Karten und Gravuren versehene Giro del Mondo (1699) ist ein Schatz an Informationen. Das Werk erzählt unter anderem von seinen Besuchen am Hof der Moguln in Indien, der chinesischen Mauer und den Azteken-Ruinen von Teotihuacan. Er hielt die chinesische Mauer für „lächerlich“, da sie über steile, hohe Gebirge führt, die „weder Vogel noch tatarisches Pferd je erklimmen können“.23 Im 18. Jahrhundert wurden Weltumrundungsreisen durch etablierte Routen zur „Routine“. Im 19. Jahrhundert beschleunigten sich die Reisen um die Welt durch die Entwicklung von Dampfschiffen und im 20.  Jahrhundert mithilfe von Flugzeugen. Doch noch immer gab es „erste Male“. 1889/90 umkreiste die von der New York World gesponserte Journalistin Nellie Bly (Elizabeth Jane Cochran) in östlicher Richtung die Welt in 72 Tagen. Bekleidet mit einer karierten Tweed-Mütze und einem knöchellangen Tweed-Mantel trug sie nichts anderes bei sich als eine kleine Gladstone-Tasche. Sie unterbrach ihre Reise in Paris, um Jules Verne zu treffen, den Autor von In 80 Tagen um die Welt, bevor sie über Italien, den Sueskanal, Singapur, Japan und San Francisco weiterreiste. Auf der letzten Etappe durch die Vereinigten Staaten fuhr sie in einem Privatzug, der sicherstellte, dass sie die 80 TageDeadline auch einhielt. Bei ihrer Rückkehr erklärte sie: „Mit an der richtigen Stelle eingesetzter Energie kann man alles erreichen.“24 Der „Nahe Osten“ und der „Mittlere Osten“ überlappen sich, sind aber nicht identisch und haben unterschiedliche Ursprünge. Erstere Bezeichnung breitete sich ab dem späten 18. Jahrhundert aus, zunächst neben, später dann anstelle von „Orient“ oder „Levante“. Der Begriff war das Werk von Europäern, die sich keine Gedanken darüber machten, dass sie damit anderen ihre eigene Perspektive aufzwangen. Denn „Osten“ meint in diesem Zusammenhang eindeutig „östlich von Europa“, und da Europa im Westen keine angrenzende Landmasse hat, wurde das Gegenstück, der „Nahe Westen“, nicht formuliert. Es muss nicht weiter ausgeführt werden, 367

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dass die Idee, erhebliche Regionen der Erde durch den Bezug zur eigenen Herkunft zu definieren, äußerst bevormundend ist. Erst in jüngster Zeit wurden Formulierungen wie „die arabische Welt“ oder „westliches Asien“ entwickelt. Der „Nahe Osten“ wurde zur Zeit von Napoleons Ägyptenfeldzug 1799– 1800 in Form des französischen Proche-Orient populär. Besonders in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts nutzte man diesen Ausdruck häufig, womit man implizit festhielt, dass es einen „Größeren Orient“ noch etwas weiter entfernt gab. Immer wieder sprach man zudem von L’Asie Antérieure, dem „vorhergehenden Asien“. Dessen unzureichend definierter Partner, der „Ferne Osten“, bezog sich mal auf Indien, mal auf Südostasien, mal auf China, Korea und Japan. Diese Unterscheidung wurde auch dadurch begünstigt, dass 1869 der Sueskanal öffnete und europäische Schiffe fortan in nur wenigen Tagen durch das Mittelmeer in den Nahen Osten kommen konnten, wohingegen die Reise in den Fernen Osten wochen- und monatelang dauerte. Dass man Orte aufeinander bezieht, indem man sie entweder als „nahe vom“ oder „weit vom“ Bezugspunkt entfernt beschreibt, ist sehr alt. Die Griechen zur Zeit Alexanders des Großen sprachen von „Indien auf der nahe gelegenen Seite des Ganges“ und von „Indien jenseits des Ganges“. Die Römer nannten Norditalien Gallia Cisalpina, also „Gallien diesseits der Alpen“, und kannten ein Gallia Transalpina, ein „Gallien jenseits der Alpen“. Das Lateinische war dabei eng mit der Machtausübung der Römer verbunden: Sprach man von einer Gegend oder Region als „nahe“, hatte dies oft eine Konnotation von „etwas, das wir kontrollieren“. Ein als „weit“ beschriebener Ort konnte bedeuten, dass er sich „jenseits unserer Kontrolle“ befand. Unter Wladimir Putin haben die Russen diesem uralten Konzept eine neue Wendung gegeben. Durch die Verwendung der Formulierung blischneje sarubeschje , „Nahes Ausland“, machen sie deutlich, dass ihrer Auffassung nach fremde Länder in zwei Gruppen aufgeteilt werden können: zum einen in solche, deren Souveränität anerkannt wird, und zum anderen in solche, die näher an der Heimat liegen, deren Unabhängigkeit also fragwürdig ist. So spricht Putin regelmäßig von den früheren Sowjetrepubliken als zur „russischen Einflusssphäre gehörend“. Die Ukraine beispielsweise ist seit 1991 ein unabhängiger Staat und Mitglied der Vereinten Nationen; ihre Grenzen sind international garantiert. Aber sie gehört auch zum Kern dieses „Nahen Auslands“ und ist damit für Putin „nicht einmal ein Staat“.25 Wenn Moskau dies wünscht, kann es also in das Gebiet der 368

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Ukraine einmarschieren, deren Provinzen, wie bei der Krim geschehen, ausplündern und die dortige Führung als Faschisten und Hochstapler beschimpfen. Die Entstehungsgeschichte des Konzepts „Mittlerer Osten“ lässt sich recht genau auf das Jahr 1902 bestimmen. Britische Quellen berichten vom Artikel eines britischen Autors, der nach einem geopolitischen Ausdruck für das Gebiet zwischen Osmanischem Reich und Britisch-Indien suchte; amerikanische Quellen führen den strategischen Autoren Alfred T. Mahan an, der im selben Jahr den Ausdruck für das Gebiet „zwischen Arabien und Indien“ verwendete.26 Die dazugehörigen Länder, die beide im Kopf hatten, umfassten Persien, Afghanistan, Arabien und die Trucial States, Länder an der Südküste des Persischen Golfs – die alle nicht zum osmanischen Territorium gehörten. So lag der „Mittlere Osten“ ein paar Jahrzehnte lang recht bequem neben seinem älteren Nachbarn, dem „Nahen Osten“. Doch als 1920 das Osmanische Reich auseinanderfiel, zerbrachen auch die politischen Argumente, die das Konzept des „Nahen Ostens“ getragen hatten. Daraufhin breitete sich das zuvor geografisch eher begrenzte Konzept des „Mittleren Ostens“ rasch aus und füllte das entstandene Vakuum. Fortan wurden alle neuen, ehemaligen osmanischen Staaten – die türkische Republik, Syrien, Libanon, Palästina, Transjordanien, Irak, zusammen mit dem britischen Protektorat Ägypten und dem sich entwickelnden Königreich Saudi-Arabien  – zum erweiterten Mittleren Osten gezählt. Pakistan und Israel, die beide 1948 das Licht der Welt erblickten, wurden nach dem Zweiten Weltkrieg ebenfalls hinzugenommen, und nach der Auflösung der Sowjetunion 1991 tauchten Fragen auf, ob die fünf zentralasiatischen Republiken nicht ebenfalls dazugezählt werden sollten. All diese Länder waren in der Folge ungemein vom dramatischen Aufstieg der Ölindustrie betroffen, die zu dem Zeitpunkt, als das Konzept des Mittleren Ostens entwickelt wurde, noch überhaupt nicht vorstellbar war, heute dafür aber mit den Vorstellungen über die vitalen strategischen Interessen der Westmächte eng verbunden ist. Reist man in den Mittleren Osten, erkennt man schnell, dass seine Bewohner extrem unterschiedlich sind – was Sprache, Religion, Geschichte und Politik angeht. Die Turkvölker, die iranischen Gruppen und die Araber verfügen über keinerlei gemeinsame Identität. Sie leben zufällig in derselben Nachbarschaft, aber sie gehören nicht zum selben „Freundes- und Familienkreis“, interagieren nicht ungezwungen miteinander und zeigen nur äußert selten Solidarität mit den anderen. Wie es der Bürgerkrieg in Syrien und die jüngsten Ereignisse an der türkisch-syrischen Grenze w ­ ieder 369

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unter Beweis gestellt haben, sind zudem eine ganze Reihe ethnischer Minderheiten, wie beispielsweise Kurden, Assyrer und Jesiden, in diesem allgemeinen Gewühl gefangen. Der Mittlere Osten hat die drei großen monotheistischen Religionen hervorgebracht – Judentum, Christentum, Islam. Alle drei sind hier heute noch präsent, doch keine zeigt irgendein Anzeichen von Verbundenheit mit den anderen, geschweige denn, dass eine Kooperation zu erkennen wäre. Die israelische Gesellschaft ist durch den Aufstieg und die politische Schlagkraft der Ultraorthodoxen gespalten. Die christlichen Bezeichnungen schweben zwar noch über den heiligen Stätten, doch christliche Minderheiten, wie etwa die Koptische Kirche in Ägypten, leiden weiterhin unter Verfolgungen. In der muslimischen Welt wird der Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten ebenso verbittert ausgetragen wie der Kampf gegen die Ungläubigen. Kürzlich aufgeflammte Gewalttaten haben der Welt vor Augen geführt, dass es in dieser Region noch eine Reihe vorher kaum bekannter religiöser Minderheiten gibt, darunter die Syrischen Christen, die Alawiten und die Drusen. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, hat eine Reihe sich abwechselnder Großmächte – die Osmanen, die Perser, die Briten, die Franzosen und die Russen – den Mittleren Osten als Spielplatz betrachtet und ein jeweils ganz eigenes Erbe hinterlassen. Im 20. Jahrhundert waren die US-Amerikaner dann in der Lage, eine weitreichende (wenn auch unvollständige) Hegemonie zu errichten – und zwar aus dem einfachen Grund, dass kein vereinter Widerstand organisiert werden konnte. Hinzu kommt, dass vermutlich keiner der sogenannten „Mittleren Ostler“ sich als solcher versteht. Die nationalen Identitäten von Türken, Iranern und Arabern – und ebenso sicher die der Syrer, Iraker und Ägypter sowie jene von Sekten und Fraktionen innerhalb größerer Gruppen – sind stärker als jede gemeinsame regionale Gefolgschaft. Besonders die arabische Welt ist notorisch zerstritten, und der Pan-Arabismus hat sich als wenig erfolgreich herausgestellt. Die in den späten 1950er-Jahren von Gamal Abdel Nasser ins Leben gerufene Vereinigte Arabische Republik, die Ägypten und Syrien vereinte, überdauerte ganze drei Jahre. Dabei verfügen die Araber über einen eigenen mentalen Rahmen für geografische Orte. Traditionell stellen sie dabei Ägypten ins Zentrum, ihr „Reich der Mitte“, und gehen dabei davon aus, dass „der Westen“ aus den westlichen Nachbarn Ägyptens und „der Osten“ aus den östlichen Nachbarn Ägyptens besteht. Zu diesem Zweck nutzen sie die ihnen eigene ­Terminologie. Ägypten ist seit sechs oder sieben Jahrtausenden das zivi­ 370

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lisatorische Herzstück der Region und war somit 1945 der natürliche Ort, um die Arabische Liga zu gründen. Auch wenn es nicht immer arabisch gewesen ist und die heutigen Ägypter ihr Land nicht „Ägypten“ nennen. Zu den Zeiten der Pharaonen sprach man im antiken Ägypten eine semitische Sprache, die nur in der Liturgie der Koptischen Kirche überlebt hat. Seine Religion war eine verblüffende Mischung aus polytheistischen Glaubenselementen und Ritualen, deren Überreste heute Millionen faszinierter Touristen zu den Tempeln in Theben oder in das Tal der Könige mit seinen Gräbern locken. In den sich anschließenden hellenistischen und römischen Epochen sprach die ägyptische Elite Griechisch, und zur wichtigsten Religion wurde nach der Konversion zu römischen Zeiten das Christentum. Zwischen dem 4. und 6. Jahrhundert entwickelte sich Alexandria zu einem der wichtigsten Zentren der christlichen Zivilisation. Das Arabische erreichte das Land zusammen mit dem Islam erst im 7. Jahrhundert, und seit dieser Zeit haben sich keine entscheidenden Änderungen mehr ergeben. Der pharaonische Name für das spätere Ägypten lautete Kemet, was „schwarze Erde“ (des Nils) bedeutet; die Griechen nannten das Land Aegyptos, woraus im Lateinischen Aegyptus und im Deutschen Ägypten wurde; der arabische Name wird entweder mit Misr oder Masr transkribiert. Es gibt mehrere Möglichkeiten, dieses Wort zu übersetzen, am passendsten scheint „Grenzland“ zu sein. Diese linguistischen Veränderungen belegen, wie wechselhaft Kulturen und Zivilisationen sind. Al-Maghrib, der arabische Ausdruck für „der Westen“, bezeichnet jenen Raum, den die meisten Europäer als „Nordafrika“ kennen. Die dortigen Bewohner, die Maghrebiner, waren der Ursprung des französischen Wortes Maures, der Englischen Moors und der Deutschen Mauren. Al-Maghrib ist das Produkt der blitzschnellen Eroberungen des Islam im 7. Jahrhundert, die sich von der arabischen Halbinsel bis zum Atlantik erstreckten. Traditionell wird der Begriff auf die Küstenzonen von Libyen, Tunesien, Algerien und Marokko bezogen, auch wenn er seit der Gründung der Union des Arabischen Maghreb 1989 um Mauretanien und die Westsahara erweitert wurde. Die indigenen Berber lehnen diese Bezeichnung für sich ab, da sie sich als die ursprüngliche Bevölkerung der Region verstehen und sich selbst als Tamazgha bezeichnen. Al-Masriq oder auch Maschrek, der arabische Ausdruck für „der Osten“, ist das Gegenstück zum Maghreb. Auch er entwickelte sich mit den frühen Eroberungen des Islam und umfasste zum Zeitpunkt seiner größten Ausdehnung alle arabischen Länder zwischen Ägypten und dem Iran, das heißt Palästina und Israel, Jordanien, Libanon, Syrien, Irak, Saudi-Arabien, 371

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Jemen und die fünf Golfstaaten. Der Maschrek kann auch so verstanden werden, dass er den Sudan und sogar Somalia überspannt, doch in der Regel assoziiert man ihn mit dem sogenannten „fruchtbaren Halbmond“, dem langgezogenen Bogen von der südlichen Levante bis nach Mesopotamien. Mit Asien jenseits des Golfes hat er jedoch nichts zu tun, und aus politischen wie kulturellen Gründen zählt man Israel ebenfalls nicht dazu. Spricht man über den Maschrek, stößt man vermutlich auch bald auf den Namen Bilad asch-Scham, was in der Regel mit „Großsyrien“ oder auch als „von Damaskus aus beherrschtes Land“ übersetzt wird. Diesen Namen erhielt die ehemalige byzantinische Diözese Oriens von den siegreichen Arabern. Wörtlich übersetzt bedeutet er „Land der linken Hand“, so wie Jemen das Land der „rechten Hand“ ist. Eine in Mekka stehende Person, die dem Koran folgend gen Osten blickt, weist mit der linken Hand in Richtung Syrien und mit der rechten Hand in Richtung Jemen. Damit sind diese Benennungen perfekt zur natürlichen Orientierung geeignet. Tatsächlich passen nur wenige westliche Ausdrücke genau zu ihren arabischen Äquivalenten oder den im Mittleren Osten gebräuchlichen Begriffen. Beispielsweise nannten im Jahre 1921, als die Briten das Emirat Transjordanien aus der Taufe hoben, die Einheimischen den neuen Staat Sharq al-Urdun, wörtlich „östlich des Jordan“  – eine präzise Beschreibung der Lage des Emirats innerhalb des Mandatsgebiets Palästina. Als das Emirat dann aber unabhängig wurde, erhielt es den Namen Jordaniya, ein mehrdeutiger Begriff, aus dem sich Gebietsansprüche in der Region West Bank und im Osten ableiten lassen. Die mittelalterlichen Araber waren die Pioniere der Geschichte der geografischen Konzepte. Der im 10. Jahrhundert wirkende Geschichtsschreiber und Geograf Abu Al-Hasan Al-Masudi etwa verfasste eine lange Abhandlung, die unter dem Namen Murudsch adh-dhahab („Die Gold­ wiesen und Edelsteingruben“) in 365 Kapiteln und 3661 Paragrafen die vollständige Geschichte der Erde und aller Völker umfassen sollte. Der 896 in Bagdad geborene Al-Masudi vollendete sein Traktat 958 kurz vor seinem Tod in Kairo, nachdem er sein ganzes Leben mit ausgedehnten Reisen und Forschungen verbracht hatte. Sein Vorwort enthält eine Warnung: Wir gaben dem vorliegenden Werk den Titel Die Goldwiesen und Edelsteingruben …, um die Neugierde auf das Buch sowie den Wunsch zu verstärken, es zu lesen, und um den Geist vorzubereiten, sich mit Geschichte vertraut zu machen. … Es gibt keinen Bereich der Wissenschaft und kein Thema von Interesse, von dem wir nicht berichten, so wie es 372

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auch keine bedeutende Tatsache gibt, die wir verschweigen. … Wer auch immer die Bedeutung [dieses Werkes] verfälscht, … verdirbt den Glanz seiner Informationen, und wer auch immer eine Änderung vornimmt oder es einem anderen Autoren zuschreibt, soll den Zorn Gottes zu spüren bekommen.27

Al-Masudi war mit der griechischen Philosophie, der persischen Literatur, der indischen Mathematik und zahlreichen Sprachen vertraut, in denen er alles Wissenschaftliche las, was er von Astronomie bis zur Medizin finden konnte. Sein bedeutendes Werk, 1841 teilweise ins Englische und zwischen 1861 und 1877 vollständig ins Französische übersetzt,28 ist ein bemerkenswertes Kompendium an Informationen über Europa, Asien und Afrika. Er hatte im Westen von Britannia gehört und eine Liste der französischen Könige von Chlodwig I. bis zu seinen Lebzeiten gefunden. Seine Beschreibungen des Maghreb umfassen auch Córdoba, Granada und Sevilla. Er kannte zahlreiche Details aus dem byzantinische Leben, da er sich mit dem zum Islam konvertierten Leo von Tripoli in Syrien angefreundet hatte. Auch wusste er über die heidnischen Rus und ihre Handelsaktivitäten am Schwarzen Meer Bescheid. Im Süden war er bis nach Ceylon und Ostafrika gekommen, führte in seinem Buch die westafrikanischen Königreiche Zaghawa und Ghana auf und schätzte, dass die Quellen des Nil etwa 1000 Farsang* südlich von Assuan liegen müssten. Auch in den Norden hatte er zahlreiche Reisen unternommen, vor allem durch Persien und Armenien, sodass er in der Lage war, viele Turkvölker zu beschreiben, nomadische wie sesshafte, und all die großen antiken Zivilisationen zu unterscheiden, angefangen bei den Babyloniern über die Assyrer bis hin zu den Reichen von Kyros dem Großen und Alexander. Was den Osten angeht, so lässt er sich ausführlich über Indien und China aus, die er womöglich ebenfalls besucht hat, sagt aber nur wenig über Japan. Jenseits des „Chinesischen Meeres ist nichts“, so schreibt er. Er ging davon aus, dass die Fläche zwischen China und dem „Westlichen Meer“ (dem Atlantik) ununterbrochen von Wasser gefüllt sei. Besonders erstaunlich ist, dass sich Al-Masudi, 500 Jahre vor Kopernikus, bewusst war, auf einem sich drehenden Globus zu leben, und eine Vorstellung von Längen- und Breitengraden besaß. Er wagte sich gar an einige * Ein Farsang oder Parasang war eine antike, ursprünglich aus Persien stammende Maßeinheit, die Herodot zum ersten Mal erwähnte. Sie wird häufig mit der europäischen „Meile“ gleichgesetzt, doch ihre tatsächliche Länge variiert beträchtlich.

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grundlegende Berechnungen und berichtete davon, dass Menschen auf dem Äquator „Tage und Nächte von gleicher Länge“ haben. Die Erde, so schätzte er, seit 37  Mal so groß wie der Mond, ihr Durchmesser betrage 12 100 Farsang und der Umfang 27 000 Meilen. „Das kultivierte Land von den Glücklichen Inseln bis zum Rande Chinas“ beträgt nach seinen Berechnungen 13 500,5 Meilen und sei „die Hälfte des Erdumfangs“. Die Entfernung zwischen Erde und Sonne liege demnach bei 4 820 000 Meilen.* Die Goldwiesen und Edelsteingruben würdigt die Meere und Ozeane sehr ausgiebig – ihre Lage, Größe und Eigenschaften. Al-Masudi verstand sogar, dass „Meere ihren Platz ändern“, da er beobachtet hatte, dass Kontinente, die heute aus Festland bestehen, einst unter Wasser gelegen hatten. Das „größte [Meer] der bewohnten Welt“ sei das „abyssinische Meer“ (der Indische Ozean): Ich fuhr im Jahre 304 d. h. [917 n. Chr.] auf dem Schiff der Brüder Ahmad und Abd es-Samed von der Insel Qanbalu nach Oman. … Ich kam an jenem Ort vorbei, an dem später diese beiden mitsamt ihren Schiffen und Mannschaften untergegangen sind. Meine erste Reise auf diesem Meer erfolgte zur Zeit, als Ahmad Ben Helal Ben Okht el-Kattal über den Oman regierte. Ich habe zwar schon viele Meere befahren, etwa das Chinesische Meer, das Mittelmeer, das Kaspische Meer, das Rote Meer und das Meer von Jemen, und habe auf ihnen unzählige schreckliche Dinge erlebt, aber keines war schrecklicher als das erwähnte Meer vor Sansibar … das gefährlichste aller Meere.29

Al-Masudi hatte darüber hinaus vor, alle großen, aber auch die weniger bedeutenden Herrscher der Welt, seien sie nun aus der Vergangenheit oder Gegenwart, aufzuführen und dort, wo möglich, eine kurze Skizze ihrer Persönlichkeit und Politik zu ergänzen. Er handelte die römischen und byzantinischen Herrscher, die Könige von Persien und die Kaiser von China ab sowie viele neben und zwischen ihnen. Je näher er seiner eigenen Gegenwart kam, umso mehr Gewicht legte er auf das islamische Kalifat, das, nach dem Tod des Propheten errichtet, größer als das Römische Reich geworden war und seit dem Jahr 750 von den Abbasiden beherrscht wurde:

* Mit den Glücklichen Inseln sind womöglich die Kanaren gemeint. Heutige Berechnungen

kommen auf eine Äquatorlänge von 24 902 Meilen (40 075 Kilometer) und einen mittleren Erde-Sonne-Abstand von 92 955 807 Meilen (rund 149 600 000 Kilometer).

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Abu Dschaʿfar Abd Allah ibn Muhammad ibn Ali … bekannt als ­„al-Mansur“, wurde auf seinem Weg nach Mekka zum Kalifen ernannt. Sein Onkel, Isa ibn Ali, erhielt den Treueeid … am Sonntag, den 12. des Dhu l-Hiddscha, 136 d. h. 754 n. Chr. Al-Mansur war damals 41 Jahre alt. … Seine Mutter war eine Berber-Sklavin mit Namen Sallama. Er starb am Samstag, den 6. des Dhu l-Hiddscha 158 d. h. 775 n. Chr. nach 22 Jahren weniger 9 Tage Herrschaft. Er war wiederum auf der Pilgerfahrt [nach Mekka], als der Tod ihn an einem Platz mit dem Namen „Der Garten von Bani Amir“ auf einer Hochstraße durch Irak ereilte. Er war zu diesem Zeitpunkt 63 Jahre alt. Man setzte ihn in Mekka bei, ohne ihn mit Erde zu bedecken, denn er trug den Ihram* … Man erzählt sich, seine Mutter Sallama habe gesagt: „Als ich mit al-Man­ sur schwanger war, erblickte ich in meinen Träumen einen Löwen, der aus meiner Seite kam und sich duckte, brüllte und mit dem Schwanz auf den Boden schlug, während von überall her [andere] Löwen erschienen, sich um ihn versammelten und vor ihm ihre Köpfe bis zum Boden neigten.“30

Der Bericht ist gespickt mit bunten Anekdoten, die Skeptiker für apokryph halten mögen, die jedoch auf gewisse Weise auch den Zeitgeist reflektieren: Laut Ibn Ayyash, bekannt als „al-Mantuf“, „der, der an seinem Bart zupft“, saß al-Mansur eines Tages in seiner Audienzhalle am Khurasan Tor in der von ihm neu erbauten Stadt, die seinen Namen trug: Madinat al-Mansur, also Bagdad, und blickte über den Tigris. … [Plötzlich] sauste ein Pfeil aus dem Nichts heran und landete vor seinen Füßen. Al-Mansur erschrak. Er nahm den Pfeil auf und drehte ihn zwischen den Händen. Zwischen den zwei Federn las er die Zeilen:

Glaubst du, bis zum Jüngsten Gericht zu leben? Glaubst du, es gibt keine letzte Abrechnung? Man wird dich nach deinen Sünden fragen – und sich nach dem Zustand der Gläubigen erkundigen. 31

Den Pfeil war im Auftrag eines Mannes abgeschossen worden, der zu Unrecht von einem der Beamten des Kalifen inhaftiert worden war. Der Mann wurde begnadigt. * Der Ihram besteht aus zwei weißen, um den Körper geschlungenen Baumwolltüchern, die jeder männliche Pilger bei seiner Hadsch trägt.

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An einer anderen Stelle im Buch spricht al-Mansur von seinen Vorgängern, den Umayyaden-Kalifen, die er und sein jüngerer Bruder, Abul Abbas, abgesetzt hatten. Al-Mansur sagt: Abd al-Malik war ein arroganter Tyrann. … Sulaimans einzige Sorgen waren sein Bauch und seine Eier. Umar ibn Abd al-Aziz war wie ein Einäugiger unter Blinden. Der einzige große Mann der Dynastie war Hischam. Wenn ihr Verhalten … nicht niederträchtig war, führten die Umayyaden die Regierung mit strenger Hand. … Doch dann wechselte die Macht zu ihren weibischen Söhnen … die Vergnügungen nachjagten, welche der Allmächtige verboten hat. Sie wussten nicht, dass Gott langsam arbeitet und glaubten sich sicher vor Seinen Fallstricken. … Dann nahm Gott ihnen ihre Macht, bedeckte sie mit Schande und entriss ihnen ihre weltlichen Güter. 32

Anders als die Umayyaden, die vergleichsweise kurz die Herrschaft innehatten, lenkten die Abbasiden mehr als siebeneinhalb Jahrhunderte lang das Geschick des Kalifats, zunächst von Bagdad, nach 1517 von Kairo aus. Ihre Nachfolger, die Osmanen, wählten Istanbul als Sitz, wo bis zum Ende des Kalifats im Jahr 1924 dessen schwarze Flagge wehte. Für sie und ihre Nachfolger war der Kalif Gottes Stellvertreter auf Erden, der Nachfolger des Propheten und „geistige Führer der Gläubigen“. Es hätte sie befremdet zu hören, sie würden im „Mittleren Osten“ leben. Aus russischer Perspektive ist  – wie schon erwähnt  – der „Mittlere Osten“ eher der Nahe Süden, und die Rolle der Russen bei der Festlegung globaler Orientierungssysteme sollte nicht unterschätzt werden. Schließlich haben sie seit dem 12. Jahrhundert, und von dem abgelegenen, völlig von Festland umgebenen Fürstentum Moskau ausgehend, ihre Herrschaft über Eurasien energischer als irgendjemand sonst vorangetrieben. Die Kosaken, die von Zar Fjodor  I. 1585 über den Ural hinweg gen Sibirien geschickt wurden, ritten dem Sonnenaufgang entgegen, und sie sowie ihre Nachkommen setzten dies über Taiga und Tundra hinweg fort, bis sie rund 60  Jahre später und nach rund 10 800  Kilometern den Pazifik erreicht ­hatten. Der Hafen von Wladiwostok, was übersetzt in etwa „Beherrsche den Osten“ bedeutet, wurde 1648 gegründet, also 55 Jahre bevor man mit St. Petersburg einen dauerhaften Stützpunkt an der Ostsee errichtete. Infolgedessen strömten russische Händler, Abenteurer, Siedler, Strafgefangene und Militärexpeditionen nach Sibirien, beanspruchten das Land für sich, unterdrückten die Einheimischen und halfen beim Aufbau des größten 376

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zusammenhängenden Reichs der Weltgeschichte. Indem sie sich über Land ausbreiteten, erreichten die Russen, was den anderen imperialen europäischen Mächten durch ihre Flotten möglich wurde. Es war Zarin Katharina die Große, die dem Rat eines schwedischen Vermessers in ihren Diensten folgte und 1775 die Grenze zwischen Europa und Asien auf dem Ural festlegte. Unter ihrer Herrschaft wurde 1784 die erste russische Siedlung in Alaska, auf der anderen Seite der Beringstraße, gegründet. Und sie blieben dort nicht stehen. 1812 errichtete man einen russischen Außenposten in Fort Ross, nur etwa 150  Kilometer nördlich von San Francisco in Kali­ fornien. Zu diesem Zeitpunkt erstreckte sich das Reich des Zaren von Ost­ europa über ganz Asien hinweg bis in den Nordwesten Nordamerikas  – eine Entfernung von mehr als 14 000  Kilometern. Eine Reise über Land, von Moskau aus gen Osten bis nach Fort Ross ist beinahe zwei Mal so lange wie die gleiche Reise von Moskau aus gen Westen nach Fort Ross. Die russische Nomenklatur ist ganz selbstverständlich von den russischen Erfahrungen geprägt. Im Russischen bezog sich Dal’nii Vostok, der „Ferne Osten“, lange Zeit weder auf China noch auf Japan, sondern auf die riesige russisch beherrschte Landmasse zwischen dem Baikalsee und der Pazifikküste. Bis 1867, als es für 4,74 Dollar pro Quadratkilometer an die Vereinigten Staaten von Amerika verkauft wurde, zählte auch Alaska zu dieser Region. (Wie auch Fort Ross, das 1846, drei Jahre vor dem Goldrausch in Kalifornien, aufgegeben wurde.) Für eine sehr lange Zeit unterschied man jedoch nicht deutlich zwischen Sibirien und dem Fernen Osten. Die Angelegenheit wurde erst im Jahr 2000 geklärt, als man einen Föderationskreis Ferner Osten gründete, der auf rund sieben Millionen Quadratkilometern inzwischen elf untergeordnete Föderationssubjekte umfasst. Im Gegensatz zu anderen bezeichnen die Russen mit „Ferner Osten“ daher nicht China, Japan oder Korea. Vielmehr haben sie einen ganz eigenen Begriff geprägt: Der nicht-russische „Ferne Osten“ wird nunmehr als „ATR“, als „Asiatisch-Pazifische Region“ bezeichnet (Азиатско-тихоокеанский регион). In der Vergangenheit waren die Russen auch unübertroffen darin, geografische Namen aus politischen Gründen auszutauschen. Im Laufe der Jahrhunderte haben sie, wo immer sie eine Stadt oder ein Land annektierten, die örtlichen und historisch gewachsenen Namen ersetzt und dabei traditionelle Verknüpfungen durchtrennt. Dieses Thema ist so weit wie Russland selbst, doch ein treffendes Beispiel dürfte die Erfindung der „Kleinen Kurilen“ sein, um die Übernahme von vier der japanischen HokkaidoInseln 1945 zu verbergen. Diese Inseln hatten nie zuvor zur Kuril-Kette 377

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gehört, doch nur wenige Beobachter bemerkten das toponymische Kunststück, mit dem dieser Landraub vertuscht werden sollte.33 In der Moderne erhielt die westlich orientierte Sprache der Geografie vor allem durch den wachsenden Einfluss der zum Großteil aus Europa stammenden US-Amerikaner Gewicht. Sie sprechen und verbreiten die universelle Lingua franca, das Englische, und wagen zudem den letzten Versuch, die „westliche Zivilisation“ zu verteidigen. Ihre eurozentristische Haltung wurde durch die Tatsache geprägt, dass die ursprünglich 13 Kolonien ihren Ortssinn fast zwei Jahrhunderte lang mit dem Blick auf die Seeverbindung nach Europa entwickelten und dem Landesinneren ihres Kontinents den Rücken zukehrten. Möglichkeiten, sich der inländischen „Grenze“ (Frontier) in großem Stile zuzuwenden, wurden bis zum Louisiana Purchase („Louisiana-Kauf“) von 1803 nicht genutzt. Die entscheidende Expedition von Meriwether Lewis und William Clark, die den Weg über Land bis an die Pazifikküste wagten, fand erst zwischen 1804 und 1806 statt. Daher war der berühmt gewordene Befehl, „Go West, my Boy“ fast gänzlich ein Phänomen des 19. Jahrhunderts. Zumeist mit dem kalifornischen Goldrausch in Verbindung gebracht, so symbolisiert er doch vor allem eine grundlegende Veränderung im amerikanischen Denken. Zehntausende Männer und Frauen kletterten in ihre Kutschen, um in den endlosen Prärien hinter dem Sonnenuntergang ihr Glück zu suchen. Frühe Pioniere hatten bereits von Virginia und Carolina aus die Appalachen überquert. Nun aber ergoss sich eine menschliche Welle über alle Ausläufer der Frontier in das Land, das bis dahin eine Domäne von Indianer-Stämmen und Büffeln gewesen war. Es waren diese Pioniere, die die zentralen kontinentalen Gebiete im großen Mississippi-Missouri-Ohio-Bassin erreichten, die ihre neue Heimat als im „Mittleren Westen“ gelegen betrachteten. Sie dachten gar nicht daran, die Gegend „Mittleres Amerika“ zu nennen. Alles, was sie im Sinn hatten, war ihre eigene Reise, die sie auf halber Strecke zwischen der alten kolonialen Basis an der Atlantikküste bis hin zum Land of Promise im Westen gebracht hatte. So wie die Dinge derzeit liegen, verharren die Amerikaner noch immer im Schatten ihrer eurozentristischen Vergangenheit. In der US-Presse ist weiterhin vom „Mittleren Osten“ zu lesen und auch, was noch merkwürdiger ist, aber auch seltener vorkommt, vom „Fernen Osten“. Die Amerikaner haben noch nicht alle Konsequenzen daraus gezogen, auf einem neuen Kontinent zu leben, dessen Logik ein anderes Vokabular verlangt: Eine amerikazentrierte Sprache würde von China und Japan als dem „Fernen Westen“ und von Europa als dem transatlantischen „Osten“ sprechen. 378

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Es ist aber nicht unvorstellbar, dass sich die US-amerikanische Denkweise ändert. Präsident Obama kündete 2012 an, der Schwerpunkt der strategischen US-Präsenz werde sich vom Atlantik weg und zum Pazifik hin verlagern; und sollte ein derartiger geopolitischer Wechsel vollzogen werden, könnte dies weitreichende Konsequenzen haben. Zum ersten Mal, seit die Vereinigten Staaten ihre Militärmacht rund um den Globus ausüben, nähme Europa in den Überlegungen der Amerikaner keinen Ehrenplatz mehr ein, und der von Magellan „entdeckte“ „Große Ozean“ würde noch etwas größer werden. Die Aussicht auf zukünftige Konflikte im Südchinesischen Meer oder zwischen den beiden koreanischen Staaten zieht das amerikanische Interesse unweigerlich in den Westen Richtung „Ferner Osten“. Chinas Ambitionen, im westlichen Pazifik die militärische Über­ legenheit zu erlangen – auf Meeren, die die Führung in Peking als heimatliche Gewässer ansieht –, fordern die US-amerikanische Hegemonie heraus, zum ersten Mal seit der Niederlage der Japaner 1945. Barack Obama selbst, in Hawaii geboren und in Indonesien zur Schule gegangen, gehört zu einer Minderheit von Amerikanern, die den sich drehenden Globus realistischer sehen. Auch der Besuch der Law School in Harward, in den Vororten von Boston, dürfte seine Skepsis gegenüber dem „Ostküsten-Establishment“ nur vergrößert haben, weshalb er offen über den Anachronismus sprach, dass die Hauptstadt des Landes an der Atlantikküste liegt. Washington und der District of Columbia wurden Mitte der 1780erJahre ausgewählt, als sich das Territorium der 13 Kolonien von Norden nach Süden an der Atlantikküste erstreckte und der Fluss Potomac die halbe Strecke zwischen den südlichen und den nördliche Staaten markierte. Dass diese Entscheidung etwas verschroben war, wird seither immer deutlicher. Man hätte sich durchaus vorstellen können, dass Obama vor dem Ausscheiden aus dem Amt 2017 noch zwei Ankündigungen macht. Zum einen hätte er aus strategischen Überlegungen heraus weniger von seinen Sorgen über den „Fernen Osten“ als vielmehr von denen über den „Westpazifischen Rand“ sprechen können. Zum anderen hätte er eine Kommission einrichten können, die einen möglichen Umzug der Hauptstadt von Washington in eine zentraler gelegene Stadt durchdenkt. Bei der Erläuterung seines Plans hätte er von der Notwendigkeit sprechen können, nicht dem „Mittleren Westen“, sondern dem „Kernland der Nation“, dem „strategischen Dreh- und Angelpunkt“ und Amerikas „totem Zentrum“ mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Beim Nachdenken über den Osten und den Orient landet man wie von selbst bei Reflexionen über den Orientalismus. Der ursprünglich neutrale, 379

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wertfreie Begriff „Orientalismus“ bezog sich auf die Arbeiten europäischer bildender Künstler und Schriftsteller, auf Orientalisten, die das Thema ihrer Werke im Orient fanden. Als Beispiele für diese Arbeiten könnte man im Bereich Architektur den im indischen Stil errichteten Royal Pavilion (1787) in Brighton anführen, im Bereich der Lyrik Robert Southeys Epos The Curse of Kehama (1810), Byrons wunderbares Gedicht „Die Vernichtung des Sennacherib“ (1815) oder Thomas Moores Lalla Rookh (1817), als Roman-Beispiel Flauberts Salambo (1862) und aus dem Gebiet der Musik Verdis Aida (1871) oder Borodins Polowetzer Tänze (1887–1890). In der Wissenschaft führt der lange Stammbaum des Orientalismus zurück bis zu den frühen Studien des Hebräischen, des Sanskrit, Mandarin, Persischen und Arabischen. Ein Großteil der Literatur war mit einem idealisierten Geist der Verehrung und Freude durchzogen: Kennt ihr das Land, wo Cypressen und Myrten Embleme der Thaten, die dorten geschehn, Wo die Sinne, die haß- und liebeverwirrten, Jetzt lodern in Wuth, jetzt in Sehnsucht vergehn? Wo die Ceder ragt, wo die Reben glühn, Wo die Blumen ewig im Lichte blühn; Wo des Zephyrs duftige Schwinge leicht Durch die Gärten Gül’s, die lachenden, streicht; Wo Citron’ und Olive im Laub erblinkt, Und immer der Nachtigall Lied erklingt; Wo der Erde Tinten, der Wolken Flaum Wetteifern in leuchtendem Schönheitstraum, Und wie Purpur glänzet des Meeres Saum; Wo die Mädchen sanft wie die Rosen sind, Und nur Uebles der Geist des Mannes spinnt? ’S ist des Ostens Flur, ’s ist der Sonne Land – Kann sie lächeln auf Thaten, wie dort ihr bekannt? O, wild wie der Liebenden letzt Ade Sind die Herzen dort und ihr Loos voll Weh.34 In jüngerer Zeit hingegen bekam der Orientalismus eine eher wertende Konnotation. Dank des einflussreichen Buchs des verstorbenen Edward Said35 wurde die hinter dem Orientalismus verborgene, abwertende oder auch herablassende Haltung vieler westlicher Beobachter deutlich, die die orientalische Kultur mit einer gewissen Geringschätzung behandeln. Laut 380

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Said und seinen zahlreichen Fürsprechern steht im Zentrum dieser Betrachtungen die Absicht, ein falsches Bild der orientalischen Kultur als statisch und rückwärtsgewandt zu erzeugen, wohingegen die westliche Kultur dann als dynamisch, progressiv, flexibel und überlegen erscheint. In dieser Interpretation erscheint der bunte, aber primitive Orient als Strohmann, der nur die westliche Überlegenheit verdeutlichen soll. Doch neben Zustimmung wurde auch Kritik an Saids These deutlich. In seinem Buch For Lust of Knowing führt der Arabist und Autor Robert Irwin nicht nur faktische Fehler Saids auf, sondern bemängelt auch dessen grundsätzliche Haltung. „[Said] hasst das Mittelalter [und] kann die Vergangenheit nicht ausstehen“, schimpft Irwin; „er ist nicht in der Lage, sich in die Geisteshaltung anderer Epochen einzudenken“. An anderer Stelle merkt er an: „[Orientalismus] ist eine lange und ausdauernde Polemik …, die viel zu schnell und ohne ausreichende Sorgfalt verfasst wurde.“36 Doch auch diese Kritik wirkte nicht vernichtend. Sie zerstörte einige Mauern, konnte jedoch nicht das gesamte Gebäude zum Einsturz bringen. „Die meisten [von Orientalismus] inspirierten und nachdenklich stimmenden Arbeiten haben Saids Vorschläge nicht blind übernommen, sondern sie ausgeweitet und modifiziert“, schrieb eine Rezensentin.37 In dem Jahrzehnt, in dem Saids Hauptwerk erschien, wurde eine weitere einflussreiche Studie veröffentlicht, die die Art und Weise untersuchte, wie Forscher aus einem Teil der Welt andere Kulturen und Zivilisationen beurteilen. Talal Asads Anthropology and the Colonial Encounter (1973) konzentrierte sich weniger auf eine Region, wie Saids Orientalismus, vertiefte sich dafür mehr in die Interaktion von „Machtstrukturen“ und „der Produktion von Wissen“. Der in Saudi-Arabien geborene amerikanische Anthropologe, Sohn des bekannten Gelehrten Muhammad Asad, der vom Judentum zum Islam konvertierte, zerstörte alle westlichen Annahmen über die „Mission zur Zivilisation“ der imperialen Mächte und die angebliche Objektivität von Studien, die sie hervorgebracht hatte. Mit diesem Werk war ein wichtiger Schritt in Richtung Postmoderne gelungen.38 Jeder, der sich einmal mit westlichen Studien über Osteuropa beschäftigt hat, wird auch auf diesem Forschungsfeld auf ähnliche „orientalistische“ Einstellungen stoßen. Das sicherlich extremste Beispiel dafür sind die Pseudoforschungen zu Osteuropa, die die Nationalsozialisten in speziell dafür eingerichteten Zentren betrieben. Sie suchten nach akademischen Belegen für ihre These, dass die slawischen Völker ebenso wie die Juden „Untermenschen“ seien, gerade gut genug für die Vertreibung oder Vernichtung. Solch rassistischer Schwachsinn lag Hitlers Politik des „Lebensraums im 381

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Osten“ zugrunde.39 Doch war das keineswegs originell. Deutsche Nationalisten hatten bereits im 19.  Jahrhundert die Überlegenheit der deutschen Kultur betont, zu der in der Folge die Unterlegenheit aller nicht-deutschen Kulturen gehört. Ähnlich kultivierte man in Großbritannien und Frankreich vergleichbare Auffassungen, nämlich dass die englische und französische Kultur zu jener erstklassigen, „historischen“ Kategorie gehörten. Dies beeinflusste auch amerikanische Zeitgenossen, die eine Formulierung der Konstituenten einer westlichen Zivilisation versuchten, der sie aus tiefstem Herzen angehören wollten. Allzu häufig war das Ergebnis ein höchst selektiver Mischmasch, der die Errungenschaften des imperialen Westeuropas idealisierte, während er zugleich die Kulturen Osteuropas entweder ignorierte oder zumindest marginalisierte.40 Als ich zu diesem Phänomen forschte, prägte ich den Slogan „West is best, East is Beast“ [„Der Westen ist das Beste, der Osten ein Monster“].41 Modernisierte Haltungen von Juden waren einer vergleichbaren Art von Trend ausgesetzt. Im späten 19. Jahrhundert wanderten Juden aus Osteuropa nach Berlin, Breslau und Wien aus, wo sie sich Bildung und sozialen Aufstieg erhofften. Den Erfolgreichen unter ihnen dürfte das Kaiserreich wie das gelobte Land der Toleranz, der Freiheit und des Wohlstands erschienen sein, und nicht wenige der emanzipierten deutschen Juden öffneten sich voll und ganz der deutschen Kultur, was mitunter so weit ging, dass sie abschätzig über die religiösen Gemeinschaften der „Ostjuden“ sprachen, die sie gerade verlassen hatten.42 Die von Theodor Herzl 1895 angestoßene zionistische Bewegung entwickelte ihr eigenes Set an orientalistischen Einstellungen. Das Hauptziel der Zionisten war es, europäische Juden in großer Zahl zur Auswanderung aus ihren Heimatländern  – vor allem unter russischer oder österreichischer Herrschaft im damaligen Gebiet von Polen-Litauen  – in Richtung ihres biblischen Kernlandes Eretz Israel in Palästina zu überzeugen. Dazu durften sie auf keinen Fall zugestehen, dass das Leben für viele Juden in Osteuropa durchaus erträglich war oder dass es vielfältige Gründe für ethnische Auseinandersetzungen gab. Im Gegenteil, die Zionisten hatten, trotz der Gefahr von Pogromen und Deportationen, ein natürliches Interesse daran, den vorherrschenden Antisemitismus zu übertreiben und ihre Ansichten über die Feindseligkeit der Ortsansässigen publik werden zu lassen. Ihre scharfen Verurteilungen, vor 1939 nicht sonderlich effektiv, erfuhren im Zusammenhang mit dem Holocaust eine deutliche Bestätigung. Nur wenige hielten anschließend inne und erwähnten, dass die nationalsozialistischen Anstifter zum Holocaust keine Osteuropäer, sondern 382

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angeblich hoch kultivierte Deutsche gewesen waren. Besonders das unabhängige Polen, in dem lange Zeit die weltweit größte jüdische Bevölkerung ihre Heimat gefunden hatte, wurde angegriffen.43 Und diese verallgemeinernden Anschuldigungen endeten nicht mit dem Jahr 1945. Ein in Polen geborener israelischer Premierminister verstieg sich gar zur Aussage: „Polen saugen den Antisemitismus mit der Muttermilch auf.“44 Über Deutsche oder Russen sprach er niemals derart. Zionistische Hardliner machen keinen Hehl aus ihrer Überzeugung, dass aus Polen noch nie etwas Gutes gekommen sei. Schließlich sollten auch die negativen Auswirkungen des Kalten Krieges nicht vergessen werden. Zwischen 1948 und 1989 war die Welt brutal in West und Ost geschieden. Für zwei ganze Generationen war diese Spaltung nicht nur physisch, in Form des Eisernen Vorhangs oder der Berliner Mauer, greifbar, sondern auch zutiefst politisch, kulturell und psychologisch spürbar. Die Führer des Westens, die Vereinigten Staaten von Amerika, waren fest davon überzeugt, ihr System sei das Beste; den Führern des „Ostens“, in Moskau, hatte man beigebracht zu glauben, der überlegene Kommunismus werde eines Tages triumphieren. Im Westen war man schnell dabei, alte Stereotypen über einen armen, gottverlassenen Osten neu aufzugreifen, wohingegen viele im Osten Gefangene Amerika idealisierten und von ihrer „Rückkehr nach Europa“ träumten. – Der Ost-WestKonflikt ist vorüber, die Vorurteile bleiben bestehen. Dabei muss die Bedeutung von irrationalen und emotionalen Faktoren unterstrichen werden: Macht, Neugier, Prestige und Vorurteile gehören dazu. Wer bei einer Zusammenkunft im Zentrum stehen darf, besetzt folglich einen Ehrenplatz; wer am Rand Platz nehmen muss, versteht sich als unerwünschter Gast. Ähnliches geschieht symbolisch bei Platzierungen auf einer geistigen Karte: Wäre man Bismarck oder durch und durch ein Germanophiler, hielte man das Konzept eines von Deutschland dominierten Mitteleuropas hoch und hoffte, dieses Konzept würde zu neuem Leben erwachen. Ist man jedoch ein europäischer Orientalist und reagiert sensibel auf die Empfindungen angeblich unterlegener Völker Osteuropas, hielte man eine derart zentrale Position für einen Vertreter, der die westliche Zivilisation am wenigsten vertreten dürfte, für falsch. Dabei musste Polen im Vergleich zu anderen Ländern die größten Demütigungen aushalten. Dank der sogenannten aufgeklärten Despoten wurde es zerstört, zerstückelt und von der europäischen Landkarte gänzlich getilgt. Während des 19.  Jahrhunderts, als sich viele der heute bekannten Eigenarten Europas entwickelten, existierte Polen gar nicht und wurde dennoch geschmäht. 383

Intermezzo

Kurz gesagt: Karten sind geografische Schöpfungen, aber nicht nur geo­ grafische Schöpfungen. Glücklicherweise haben die Polen ihre eigenen Perspektiven. Trotz der 2015 an die Macht gekommenen populistischen Regierung ist das Land vergleichsweise sicher und sowohl der NATO als auch der Europäischen Union beigetreten. Auch wenn die offizielle Propaganda anderes behauptet, so haben die meisten Polen den Deutschen vergeben, die sie zu NS-Zeiten zusammen mit den Juden als „Untermenschen“ klassifizierten. Sie werden von russischen Politikern angegriffen, die, vermutlich irrtümlich, im Verdacht stehen, Polen als „Nahes Ausland“ zu betrachten. Und sie sind sowohl verwirrt wie verletzt durch die noch immer existente Meinung, Polen sei nicht das größte Opfer des „Dritten Reichs“ gewesen, sondern ein unheilbarer Mittäter bei den Grausamkeiten. Und sie haben ihre eigenen Stereotypen, mit denen sie gegen die der anderen vorgehen. Hier sagt man: Polska jest pimpkiem swiata („Polen ist, wie das Orakel von Delphi, der Nabel der Welt“). Doch jetzt ist es Australien, das am Horizont auftaucht. Im Verlauf des 20.  Jahrhunderts machte Australien einen tief greifenden Wandel seiner ortsbezogenen Vorstellungen durch. Es begann sein Leben als britische Strafgefangenenkolonie, deren Bewohner davon überzeugt werden sollten, sie seien nur eine etwas größere und heißere Version der Isle of Wight, angekettet irgendwo vor Englands Südküste. Man verfolgte eine Einwanderungspolitik nur für Weiße, die alle Nicht-Europäer außen vor ließ. Die Kinder lasen in ihren Geschichtsbüchern von den Königen und Königinnen von England und über die mittelalterlichen Kriege mit Frankreich, wenn sie ihren Shakespeare studierten. Niemand machte sich die Mühe, ihnen von der tatsächlichen Lage Australiens zu erzählen, von der Geschichte und den Kulturen der benachbarten asiatischen Länder oder den einheimischen Aborigines. Ein erstes Anzeichen dafür, dass sich dies ändert, war am Vorabend des Zweiten Weltkriegs zu erkennen. Der australische Premierminister Robert Menzies sprach in seiner ersten Radioansprache von der geopolitischen Situation des Landes. „Was Großbritannien den Fernen Osten nennt, ist für uns der Nahe Norden; und Australien muss sich im Pazifik als sein eigener Chef verstehen.“45 Damit sprach er sich nicht nur gegen die Untertänigkeit gegenüber Großbritannien aus, sondern auch gegen den Denkprozess, der diese Untertänigkeit begründete. Weniger als drei Jahre später, nach dem Fall Singapurs 1942, rebellierte Australien gegen die britische Kontrolle, begrüßte den Aufstieg der USA als Regionalmacht und begann den langen Prozess zur Neupositionierung des eigenen Platzes in der Welt. 384

Oriens: Richtung Sonnenaufgang

In jüngster Zeit fand dieser Prozess nicht mehr nur in den Bereichen Verteidigung und Außenpolitik statt. In den 1970er-Jahren gab man die traditionelle Politik des „White Australia“ auf. Asiatische Einwanderer wurden in großer Zahl zugelassen, und radikal neue Bildungspläne machten die Bürger auf die menschliche Vielfalt und die benachbarten asiatischen Zivilisationen aufmerksam. Australien bleibt ein wichtiges Mitglied des politischen „Westens“, hat sich in vielen Beziehungen aber bewusst dem „Osten“ angenähert.46 Nicht wenige Kapitel in Australiens Vergangenheit handeln von „der Geschichte des Sich-Verlierens“. Das gilt etwa für die Geschichte des Niederländers, der im frühen 17. Jahrhundert glaubte, er habe das große Südland entdeckt, dabei aber in Brasilien gelandet war. Und ebenso gilt es für die vielen Schiffe, die vor der Westküste Australiens durch die Winde der „Roaring Forties“ vom Kurs abgebracht wurden und Schiffbruch erlitten.47 Vor allem aber berichtet auch die tragische Geschichte von Robert Burke und William Wills, die bei ihrem Versuch, Australien über Land zu durchqueren, starben, von den Gefahren der Desorientierung. Burke und Wills brachen im August 1861 in Melbourne auf, und es lässt sich nicht so recht behaupten, sie hätten sich in den folgenden Wochen „verirrt“. Schließlich verriet die erbarmungslose australische Sonne ihnen jeden Morgen die allgemeine Marschrichtung  – genau nach Norden beim Hin-, genau nach Süden beim Rückweg. Nach sechs Monaten erreichten sie das Küstengebiet in der Nähe des Golfs von Carpentaria. Dann allerdings verloren sie zunehmend ernstlich die Orientierung, unterschätzten immer wieder die Entfernungen und mussten durch unbekanntes Terrain  – sie reisten sowohl in sommerlicher Hitze als auch in tropischen Stürmen, verfügten zugleich aber nur über wenig Erfahrung darin, sich vor Ort selbst zu versorgen. Ihr größter Fehler war es jedoch, die Hilfe der Aborigines abzulehnen, die Burke für „unterlegen“ hielt. Zu einem bestimmten Zeitpunkt, und zwar als sie schon ernsthaft in Schwierigkeiten steckten, feuerte er seine Pistole auf einige neugierige Einheimische, die daraufhin flohen – was in etwa so ist, als würde ein Bergsteiger in Not auf die Rettungswacht schießen. Die letzten Expeditionsteilnehmer verendeten Ende Juni 1862 kurz vor einer abgelegenen Vieh-Ranch, die – wie symbolisch – am Mount Hopeless lag. Man könnte sagen, die Männer hatten sich „kulturell verirrt“: Moderne Forschungen legen nahe, dass sie weniger aus schlichter Erschöpfung oder Dehydrierung ums Leben gekommen waren, sondern vielmehr einem akuten Vitaminmangel erlegen waren, der auf die giftigen Auswirkungen falsch zubereiteter Mahlzeiten mit der Nundroo-Pflanze zurückzuführen 385

Intermezzo

ist. Der einzige Überlebende der Expedition war der Kameltreiber und ­Ex-Soldat John King, den ein Stamm des Yandruwandha-Volks fand und versorgte.48 Nichts davon ändert die Tatsache, dass Australien, genau wie Griechenland oder Kalifornien, von einem unvergleichlichen Sonnenlicht gesegnet ist, das die Ränder scharf hervorstechen und Farben aufleuchten lässt. So ist ein Sonnenaufgang in Australien fast unvermeidlich etwas, das man nie vergisst: Der Morgenstern verblasst nun langsam, das Kreuz des Südens über’m Meer, Wohin der tiefe Schatten reicht, da wirbeln die Gezeiten auf und ab. Das glänzend Purpur-Schwarz der sanften Nacht Australiens Verblasst im schummrigen Erwachen, von dem das neue Licht nun kündet. Noch immer in der düstren Dunkelheit, im trüben Walde noch Hängt an jedem langen Ast der feucht-glänzend Morgentau, Und bis die Sonne übers Wasser aufsteigt, rot im kalten Meeresnebel, die Kalksteinränder trifft und funkelnd schon Baumspitzen küsst. Dann entschwindet schnell der feurige Skorpion, der Elstern-Laut ertönt, Im Winde schwingt der Kängurubaum, das Geißblatt rührt sich. Der zarte, goldne Dunst steigt auf vom Fluss; Aus dem rissigen Nest steigt nun der Eisvogel herauf; Rohrkolben und Röhricht verschieben noch ihr blasses Grau Und färben dieses Morgenlicht mit ihrem trüben Karmin.49

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Im Jahr 1642 erhielt der niederländische Segelkapitän Abel Janszoon Tasman den Auftrag, nach dem bis dato unbekannten Südland zu suchen, der Terra Australis Incognita. Tasman war zu jener Zeit in Batavia auf der Insel Java stationiert, dem Hauptstützpunkt der Niederländischen OstindienKompanie. Europäische Seefahrer unterschieden damals – immerhin mehr als ein Jahrhundert nach Kolumbus  – noch immer zwischen dem alten „Ostindien“, das sie über den Indischen Ozean erreichten, und dem neuen „Westindien“ in der Karibik, wohin sie über den Atlantik gelangten. Die zunächst „englische“, ab 1707 dann Britische Ostindien-Kompanie war im Jahr 1600 als Company of merchants of London trading to the East-Indies gegründet worden – als „Kompanie der Londoner Kaufleute im Ostindienhandel“. Ihre erste Handelsniederlassung hatte sie in Banten gegründet, das ebenfalls auf Java liegt, etwa 80 Kilometer von Batavia entfernt. Kapitän Tasmans Arbeitgeber, die Niederländische Ostindien-Kompanie war einige Jahre nach der englischen als „Vereinigte Ostindische Kompanie“ gegründet worden (Vereenigde Oostindische Compagnie, kurz VOC). In den Jahrzehnten vor Tasmans Erkundungsfahrt hatte die VOC nach und nach den Handel mit den „Gewürzinseln“ unter ihre Kontrolle gebracht, während der Schwerpunkt der britischen Interessen in dieser Weltgegend sich in Richtung des indischen Subkontinents verlagerte.* Nach heutigem Kenntnisstand hätte man vielleicht erwartet, dass Abel Tasman zur Erfüllung seines Auftrags die Segel in Richtung Süden setzen würde. Immerhin liegt, wie wir heute – im Gegensatz zu Tasman – wissen, die nächstgelegene australische Küste nur 800 bis 900 Seemeilen entfernt, genau südlich von der Ostspitze Javas. Unter günstigen Winden wäre seine Expedition nach gut einer Woche am Ziel gewesen. Allerdings segelte damals keines von den europäischen Schiffen, die nach „Ostindien“ gekommen waren, jemals stracks nach Süden; das taten nur einheimische Fischer. Tatsächlich haben Ausgrabungen an der nordwestaustralischen Küste erst vor Kurzem belegt, dass javanische Seeleute regelmäßig über das Meer dorthin kamen, und das schon seit sehr langer Zeit. Sie kamen, um an den Küstenklippen Guano zu ernten, und schlugen vor der Heimreise ihre Lager an den Stränden der heutigen Kimberley-Region auf.1

* In der Sprache der damaligen Zeit war auch von „Vorderindien“ die Rede, womit der indische Subkontinent mit dem heutigen Indien gemeint war; die Malaiische Halbinsel und die Molukken („Gewürzinseln“) wurden dagegen als „Hinterindien“ bezeichnet. Mit der Zeit fasste man das niederländisch kontrollierte Hinterindien – das Gebiet des heutigen Indonesien – als das „eigentliche Ostindien“ auf.

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Im Land der Kreolen und Dodos

Für Tasmans europäische Zeitgenossen gab es jedoch keinerlei Anreiz, dem Beispiel der javanischen Guanosammler zu folgen. Die Seekarte Indiae quae Orientalis dicitur des niederländischen Kartografen Willem Blaeu, die 1635 (also nur wenige Jahre vor Tasmans Fahrt) im Auftrag der VOC veröffentlicht wurde, gibt eine ausgezeichnete Momentaufnahme vom geografischen Wissensstand der damaligen Zeit wieder.2 Sie erstreckt sich von „Indostan“ bis nach „Corea“ und „Iapon“, vom nördlichen China bis nach „Iava“ und „Timor“. In der Mitte der Karte sind die Malaiische Halbinsel, Borneo und die Philippinen mit bemerkenswerter Genauigkeit erfasst. Singapur fehlt natürlich – das gab es ja damals noch nicht. Auch die Inseln, die unterhalb des Äquators wie Perlen an einer Kette aufgereiht liegen – Sumatra, Java, Bali, Flores und Timor – fallen ins Auge. Weiter im Osten war es den damaligen Experten allerdings noch nicht möglich, die genauen Umrisse der Insel Neuguinea ganz abzubilden. Auch eine Reihe verstreuter Landungsplätze, die in den 1620er-Jahren entdeckt worden waren, konnten die Kartografen nicht ganz korrekt verorten (man glaubt heute, dass sie eigentlich in den Golf von Carpentaria gehören). Und am unteren Rand der Karte, südlich von „Ostindien“, findet man nicht etwa Australien, sondern lediglich eine endlose Wasserwüste. Selbst eine solche Wasserwüste wird die erfahrenen Kapitäne der damaligen Zeit aber kaum abgeschreckt haben. Tasman selbst war, um nach Ostindien zu gelangen, bereits viele Tausend Seemeilen über den offenen Ozean gefahren, hatte den Atlantik und das Kap der Guten Hoffnung hinter sich gelassen. Vor Java galt es, eine problematische Zone häufiger Flauten zu durchqueren, den äquatorialen „Kalmengürtel“, der auch im Atlantik berüchtigt war. In diesem Bereich konnten die Besatzungen der Segelschiffe nicht mit vorhersehbaren, regelmäßigen Winden rechnen  – nicht selten gerieten sie sogar in eine völlige Windstille. In der modernen Geografie ist in diesem Zusammenhang von der „innertropischen Konvergenzzone“ (ITC) die Rede, wo schwache Winde, heftige Gewitter und starke Bewölkung das Wetter bestimmen. Der letzte Punkt erschwert zudem die Navigation nach der Sonne und den anderen Gestirnen. Und insbesondere die Timorsee, die den Abschnitt der ITC zwischen Indonesien und Australien einnimmt, wird regelmäßig von verheerenden Wirbelstürmen heimgesucht.3 Kapitän Tasman griff daher zu einem Manöver, das in der Atlantikschifffahrt des 17. Jahrhunderts gang und gäbe war. Um die schnellstmög­ liche Fahrt von Europa in das südliche Afrika sicherzustellen, überquerten die Segelschiffe den Nordatlantik, indem sie Kurs auf Venezuela oder 389

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­ rasilien nahmen, um die karibische Kalmenzone zu umfahren; danach B wechselten sie den Kurs in Richtung des Kaps der Guten Hoffnung und überquerten den südlichen Atlantik. Diese Taktik eines Giro del mar, einer wahren Atlantikrundfahrt, war im Mittelalter von den Portugiesen entdeckt worden (weshalb dafür auch die portugiesische Bezeichnung Volta do Mar gebräuchlich ist). Durch sie erhöhte sich zwar die Anzahl der zurückgelegten Seemeilen enorm – aber gleichzeitig auch die Chance, das angestrebte Ziel innerhalb der gesetzten Zeit zu erreichen. Wie Abel Tasman und seine Auftraggeber erkannt hatten, gab es eine äquivalente Taktik auch für die Fahrt von Java aus nach Süden: Zuerst musste man den Indischen Ozean auf Kurs Südwest – also Richtung Afrika – queren, dann jedoch auf einem höheren Breitengrad nach Osten zurückschwenken. Tasman war überzeugt, dass die Terra Australis existieren musste – irgendwo zwischen dem Indischen und dem Pazifischen Ozean –, aber von ihrer genauen Lage oder ihren Ausmaßen hatte er keinerlei Vorstellung. Er beschloss jedoch, sich der betreffenden Region unter Ausnutzung der zwischen dem 40. und dem 50. Breitengrad Süd vorherrschenden Westwinde zu nähern, der sogenannten Roaring Forties, die zu beiden Seiten der Südspitze Afrikas blasen. Nachdem er aus Batavia losgesegelt war, musste Tasman sich deshalb zunächst in eine günstige Position für die alles entscheidende (Rück-)Fahrt nach Südosten begeben. Dazu wollte er eine tief im Westen gelegene Insel anlaufen, die in niederländischem Besitz war und seinen Leuten als Versorgungs- und Erholungspunkt auf der langen, anstrengenden Reise dienen sollte. Wie sich herausstellte, waren seine Berechnungen einigermaßen genau gewesen, und im November des Jahres 1642 erreichte er mit seiner Mannschaft schließlich – nach 11 000 beschwerlichen Seemeilen – jene schöne Insel, die heute nach ihm benannt ist. Danach war Australasien für die Europäer keine terra incognita mehr. In den Augen moderner Reisender mag Tasmans Route exzentrisch, ja sogar absurd erscheinen – ganz gewiss verläuft sie ganz anders als jede Reiseroute, die man heute üblicherweise von Südostasien nach Australien nimmt. Heute steigt man ganz einfach in Singapur oder Jakarta (wie das frühere Batavia inzwischen heißt) in ein Flugzeug und fliegt direkt nach Melbourne oder Sydney. Wer jedoch ein echtes Gespür dafür entwickeln möchte, wie sehr sich die Welt seit 1642 verändert hat, der täte gut daran, sich auf die Spuren der alten Segelkapitäne und Entdecker zu begeben und deren Reiseerfahrungen zumindest im Ansatz nachzuerleben. Wenn man die Zeit – und die Geduld – hat, der alten Rundroute zu folgen, dann muss 390

Im Land der Kreolen und Dodos

man Singapur zuerst in Richtung Mauritius verlassen, um dann von Mauritius nach Westaustralien weiterzureisen. Zur Zeit Abel Tasmans war Mauritius ein gerade erst gegründeter, schrecklich abgelegener, aber dennoch unverzichtbarer Stützpunkt des niederländischen Handelsimperiums. Mit seiner Fläche von gerade einmal 2040 Quadratkilometern – 64 Kilometer lang, 48 Kilometer breit – war es ein Staubkorn im endlosen Ozean und nahezu unbewohnt. Erst 1638 hatte Mauritius, das mehr als eintausend Seemeilen von der Küste Afrikas entfernt lag, seine erste permanente Ansiedlung und seinen ersten Hafen bekommen. Bevor jedoch die nahe gelegene Île de Bourbon (Réunion) besiedelt und das ferne Kapstadt gegründet wurden (1642 beziehungsweise 1652), kam Mauritius eine absolute Ausnahmestellung für den Schiffsverkehr im Indischen Ozean zu. Dazu kam, dass Mauritius mit reichen Niederschlägen gesegnet war und seine Bergbäche und -seen deshalb zu allen Zeiten kostbares Trinkwasser lieferten. Europäische Segelschiffe gingen damals oft in der Tafelbucht an der Südspitze Afrikas vor Anker und warteten auf günstiges Wetter, um das Kap der Guten Hoffnung sicher umrunden zu können. Aber eine gründliche Aufstockung ihrer Vorräte oder gar Reparaturen – das bekamen sie erst in Mauritius. Trotz seiner großen Bedeutung war Mauritius auf der geläufigsten Seekarte der damaligen Zeit, der Africae Nova Descriptio („Neue Beschreibung Afrikas“), noch nicht mit seinem heute geläufigen Namen verzeichnet. Diese ebenfalls von Willem Blaeu gestochene Karte wurde zwar in demselben Atlas veröffentlicht wie seine bereits erwähnte Ostindien-Karte, stammte jedoch schon aus dem Jahr 1617 und verwendet daher den älteren Namen „I(sla) do Mascarenas“, der auf einen der portugiesischen Pioniere der Mauritius-Route zurückgeht. Den Namen „Mauritius“, den die Niederländer der Insel zu Ehren des langjährigen Statthalters von Holland und Seeland, Moritz von Oranien (Maurits van Oranje) gegeben hatten, scheint die Africae Nova Descriptio noch nicht zu kennen – vielleicht, weil Moritz erst 1618, im Jahr nach dem Erscheinen der Karte, auch den höchsten Titel seines Herrscherhauses erbte und seinem Bruder Philipp Wilhelm als Fürst von Oranien nachfolgte.4 Auch von einem „Indischen Ozean“ ist auf Blaeus Karte nicht die Rede. Zwar findet sich dort in unmittelbarer Nähe des indischen Subkontinents ein Mare Indicum („Indisches Meer“); aber die große Wasserfläche östlich von Afrika nennt Blaeu den Oceanus Orientalis, den „östlichen Ozean“. All diese geografischen Bezeichnungen für Meere und Ozeane befanden sich damals noch „im Fluss“, waren fluide und instabil wie die Wellen des Ozeans selbst. 391

7. Moris

Aus den Aufzeichnungen Abel Tasmans lassen sich die Daten, Reise­ zeiten und Geschwindigkeiten seiner großen Entdeckungsfahrt präzise rekonstruieren.5 Er verließ Batavia am 14. August 1642 und erreichte Mauritius drei Wochen später, am 5. September. Seine Durchschnittsgeschwindigkeit über diese Entfernung von 3445 Seemeilen belief sich demnach auf rund 10,5 km/h oder etwas mehr als 5 Knoten – was wirklich erstaunlich ist. Bei der Ankunft befanden sich seine beiden Schiffe, die Heemskerck und die Zeehaen allerdings in keinem guten Zustand mehr, weshalb Tasman und seine Mannschaften den nächsten Monat für Reparaturarbeiten an Spieren und Takelage aufwenden mussten. Am 8. Oktober 1642 lichteten sie erneut die Anker; die Order lautete, von Mauritius aus bis auf 52 Grad südlicher Breite zu segeln und erst dann auf die lange Gerade nach Osten einzuschwenken. Durch eine Laune des Schicksals  – die wilden Westwinde machten es unmöglich, den vorgesehenen Südkurs lange zu halten – beschloss Tasman aber schon viel früher, Kurs nach Osten zu setzen und dem 44. (nicht erst dem 52.) Breitengrad zu folgen. Damit hatte er großes Glück. Wenn er seinem ursprünglichen Plan gefolgt wäre, hätte er 392

Im Land der Kreolen und Dodos

Australien vollkommen verfehlt und vor dem fernen Feuerland an der Spitze Südamerikas keine Küste erreicht. Wie der Zufall es nun aber wollte, erreichte er sie nach 47  Tagen auf See, am 24.  November 1642, nahe bei 42 Grad südlicher Breite. Der südlichste Zipfel jener Insel, die heute seinen Namen trägt (und die selbst den südlichsten Zipfel Australiens darstellt), liegt bei 43,6 Grad südlicher Breite. Noch über die nächsten zwei Jahrhunderte hinweg bildete Mauritius einen bedeutenden Knotenpunkt der Seewege zwischen den Kontinenten: Vor der Eröffnung des Sueskanals im Jahr 1869 musste jedes europäische Schiff auf der Fahrt nach Indien, Ostindien oder Australien um das Kap der Guten Hoffnung herumfahren, um sich dann den beinahe endlosen Weiten des Indischen Ozeans zu stellen. Die Matrosen, die wochenlang auf winzigen, schlingernden Schiffen verbracht hatten, müssen sich geradezu unbändig darauf gefreut haben, im Grand-Port von Mauritius vor Anker gehen zu können, sich an den Sandstränden der Insel die Beine zu vertreten und endlich wieder frisches Wasser trinken zu können, bevor sie sich auf die letzte Etappe ihrer langen Reise begaben. Dasselbe galt also auch während der ersten sieben oder acht Jahrzehnte nach der Besiedelung Australiens durch die Europäer im späten 18. Jahrhundert. Die australische „Erste Flotte“ (First Fleet), die in den Jahren 1787/88 zur Botany Bay segelte, entschied sich zwar für einen Zwischenstopp im damals noch niederländischen Kapstadt, anstatt das inzwischen französische Mauritius anzulaufen; aber für alle, die von West nach Ost um die Welt reisten, folgte die Fahrt nach Verlassen des afrikanischen Kontinents einem weitgehend ähnlichen Muster. Ein führender australischer Historiker hat es einmal so formuliert: „Vor ihnen erstreckte sich die furchterregende, endlose Einsamkeit des Indischen Ozeans und der Südsee – und dahinter ein unvorstellbares Nichts.“6 Über ein bestimmtes Detail von Abel Tasmans Aufenthalt auf Mauritius können wir allerdings nur mutmaßen: Hat er den berühmten Dodo gesehen? Mit Sicherheit lässt sich nur sagen, dass dieser flugunfähige Wundervogel zur damaligen Zeit noch wild und frei über die Insel streifte, und es scheint schwer vorstellbar, dass nicht auch Tasman und seine Männer auf ihn stießen. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden sie sogar Jagd auf ihn gemacht haben, wie es damals zum Zeitvertreib und zur Proviantbeschaffung üblich war. Mit gleicher Sicherheit lässt sich jedenfalls festhalten, dass der Dodo, den es nur auf Mauritius gegeben hatte, schon ausgestorben war, als 150 Jahre später die First Fleet an der Insel vorbeisegelte. 393

7. Moris

Der Flug von Singapur nach Mauritius dauert länger als der von New York nach London. Anders als Abel Tasmans damalige Route folgt er jedoch einer schnurgeraden Linie, und wenn man erst einmal die Küste von Sumatra hinter sich gelassen hat, gibt es sieben Stunden nichts anderes mehr zu sehen als Himmel, Wolken und Ozean. Dennoch wechselt das Dröhnen der Motoren irgendwann die Tonart und die Boeing 777 der Air Mauritius geht mit einer Drehbewegung in einen steilen Sinkflug über, der zwischen Vulkangipfeln und hoch aufragenden Gewitterwolken zu den Palmenhainen an der südöstlichen Küste der Insel hinunterführt. Nach der Landung und dem Ausrollen halten wir vor dem Flughafengebäude des Sir Seewoosagur Ramgoolam International Airport an. Der nasse Asphalt dampft noch von einem tropischen Regenschauer, der gerade erst aufgehört haben kann. Über der Ankunftshalle weht eine Flagge mit vier horizontalen Streifen: rot, blau, gelb und grün. Einer Broschüre zufolge steht der rote Streifen für das Blut, das zu Zeiten von Sklaverei und Kolonialherrschaft vergossen wurde; der blaue Streifen für den endlosen Ozean, der die Insel umgibt; der gelbe Streifen für den mauritischen Sonnenschein (der am Tag meiner Ankunft zunächst Betriebspause hatte); und der grüne Streifen für die üppige Vegetation der Insel. Binnen einer Stunde hatte ich es mir in meinem Hotel direkt am Flughafen bequem gemacht. Ich zog die Vorhänge weit auf, um die Sonne über dem bläulich-violetten Gipfel des Mont du Lion versinken zu sehen, der sich über einem schmalen Sandstrand und wogenden Zuckerrohrfeldern erhebt. Rouj, Ble, Jon e Vet. Les Quatre Bandes. Se vre! Wenn man Französisch kann, ist zwar die Schreibung seltsam, aber die Bedeutung doch unmittelbar klar. Und es gibt noch eine andere Deutung der mauritischen Nationalfarben. Wie mir ein einheimischer Informant mitteilte – er hatte diese Interpretation vor vielen Jahren von seinem eigenen Vater gehört –, steht Rot für die Inder, Blau für die Afrikaner und Europäer auf der Insel, Gelb für die Chinesen und Grün (die Farbe des Propheten) für die mauritischen Muslime. Im frühen 21. Jahrhundert befindet sich Mauritius mitten auf dem Weg nach Nirgendwo; seinen Status als bedeutender Hafen und Knotenpunkt der Seefahrt hat es jedenfalls verloren. Es gehört zu einem von drei Archipelen, die vor der Ostküste des südlichen Afrika im Indischen Ozean liegen. Der erste ist Madagaskar, der zweite sind die Seychellen und die dritte Inselgruppe sind die Maskarenen (Réunion, Rodrigues und Mauritius). Trotz seiner Verlockungen  – als Tropenparadies mit dem Charme der Alten Welt – ist Mauritius doch beinah ein Geheimtipp geblieben, den nur 394

Im Land der Kreolen und Dodos

Mauritius

Île Ronde

Cap Malheureux

Grand Baie

Pointe aux Cannoniers

Grand Gaube

Île D’Ambre

Indischer Ozean Pamplemousses

Port Louis N

Le Pouce Moka

S

Trou d’Eau Douce

Mauritius Vacoas

Truo aux Cerfs

Curepipe

Mont du Lion Piton de la Petite Revière Noire Grand Bassin

Le Morne

Souillac 0

5

Grand Port

Mahébourg

SSR International Airport

Indischer Ozean

10 km

eine vergleichsweise kleine, anspruchsvolle Minderheit unter den Reisenden überhaupt besucht: französischsprachige Touristen, Liebhaber von Extremsportarten wie Kitesurfing oder Vulkanlauf – und natürlich jene unermüdlichen Weltenbummler aus aller Welt, die sonst schon alles ge­sehen haben. 395

7. Moris

Nachdem ich mich einen Tag lang von den Strapazen der Reise erholt und auf ein Nachlassen des Regens gewartet hatte – die „Regenzeit“ sollte alles in allem zwei Tage andauern –, war die Zeit für eine erste Exkursion in das nächstgelegene Dorf gekommen  – Plaine Magnien. Die örtliche Buslinie wird von der Noisy Travel Corporation betrieben – also etwa der „Lärm-Reisen GmbH“. Die Haltestelle liegt gleich am Ende der Hotelauffahrt; eine Fahrt kostet zwei Rupien, und der Schaffner leiert vergnügt unsere Fahrkarten aus einem altehrwürdigen Automaten. Der Fahrer muss schon brüllen, um die schwatzenden Fahrgäste zu übertönen und sie daran zu erinnern, sich ja gut festzuhalten, während er um die engen Kurven der gewundenen Landstraße rast. Inmitten einer langen Reihe von Geschäften bremst er quietschend ab und kommt mit einem Ruck zum Stehen. Links erwartet uns die pharmacie dodo („Dodo-Apotheke“), gegenüber die quincaillerie kashmir, eine Eisenwarenhandlung, deren Besitzer (oder ihre Vorfahren) offenbar vom indischen Subkontinent hierher eingewandert sind. Tatsächlich erinnern die Gesichter mit dem dunklen Teint allesamt an Indien  – nicht jedoch die Stimmen. Vor den eher unaufgeräumt wirkenden Ladengeschäften stapeln sich die Obst- und Gemüsekisten. Im Inneren werden Dienstleistungen aller Art angeboten: Neben der Hähnchenbraterei liegt die Damenschneiderei, ein Geschäft für gebrauchte Fahrräder neben der Werkstatt für Schuhreparaturen. Am Ende der Ladenzeile steht ein Hindutempel, dessen Gebälk mit geheimnisvoll anmutenden Swastikas verziert ist. Auf einem Plakat wirft ein Strichmännchen seinen Müll auf vorbildliche Weise in den bereitstehenden Eimer und fordert die Bevölkerung auf, es ihm gleichzutun: fer com mwa! Die Bushaltestelle jedoch ist unmissverständlich auf Englisch beschildert, und auch ein Polizist, der vorbeikommt, trägt zu seinem beeindruckenden Revolver eine ziemlich britisch wirkende Uniform. Endlich kommt der klapprige Bus für unseren Anschluss nach Mahébourg, die nahe gelegene Stadt. Diesmal heißt das Transportunternehmen La Perle du Sud – „Perle des Südens“. Über drei oder vier Meilen hinweg verläuft die Straße als Hohlweg, der sich zwischen Zuckerrohrfeldern hindurchwindet, bevor plötzlich eine lange, gelb angestrichene Brücke in unserem – nun geweiteten – Blickfeld erscheint. Die Brücke führt über einen breiten Fluss; unter den Bäumen an der Brückenauffahrt liegt eine einfache, grün gestrichene Moschee wie hingeduckt; in Pastellfarben gehaltene Häuser spiegeln sich im Wasser des Flusses. Das also ist Mahébourg, benannt nach einem einstigen Gouverneur der Insel, dem Franzosen Bertrand-François Mahé de La Bourdonnais 396

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(1699–1753).* Dem Anschein nach könnte diese Stadt durchaus im südlichen Indien liegen: Kokospalmen wiegen sich in einer leichten Brise, und die vielen Menschen auf der Straße tragen blütenweiße Baumwollhemden und Saris in leuchtenden Farben. Der ganze Stolz des Städtchens ist seine prachtvolle Strandpromenade, an deren einem Ende der ursprüngliche Hafen der Insel in der Grand Port Bay liegt. Nun hat der Regen aufgehört. Die Wolken um den Mont du Lion verflüchtigen sich und ein warmes, samtiges Lüftchen weht. An der Pointe du Canon, wo früher einmal die Kanonen zur Bewachung der Hafeneinfahrt postiert waren, steht inzwischen ein modernes Kulturzentrum und dahinter ein hoher Obelisk aus schwarzem Granit, den Flammenbäume mit leuchtend gelben Blüten umgeben. Der Obelisk trägt die Inschrift „1835–1935“; die Briten haben ihn errichtet, um an die Abschaffung der Sklaverei in ihrem Reich hundert Jahre zuvor zu erinnern. Ein Stückchen weiter, dort, wo die Bucht auf die Promenade trifft, erwartet den Besucher ein weiteres Denkmal, dessen Inschrift auf das Jahr 1910 verweist. Hinter einem Gedenkstein findet man dort eine halbrunde Bildkarte aus Keramik, auf der hübsche kleine Segelschiffe dekorative Breitseiten abfeuern. Diese Gedenkstätte erinnert an die Seeschlacht der Royal Navy gegen die Franzosen 1810 vor Grand Port, die der britischen Eroberung von Mauritius vorausging. Aber die Version von Geschichte, die hier präsentiert wird, ist doch allzu saft- und kraftlos. In Wirklichkeit waren Seeschlachten zur Zeit Napoleons alles andere als harmlos. Die Kriegsschiffe fuhren nah aneinander heran – bis sie in Kernschussweite waren. Dann brachen eiserne Kanonenkugeln mit einem ohrenbetäubenden Krachen durch mächtige Planken, während tödliche Kartätschensalven auf die Decks einprasselten. Die idyllische Stille von Grand Port muss damals von einem lauten Getöse zerrissen worden sein, als die Takelage von den geborstenen Masten herabstürzte und die Feuer zu knistern begannen, und von den Schreien der Verstümmelten und der Sterbenden, die Brest oder Portsmouth niemals wiedersehen würden. Die Promenade von Mahébourg verströmt den einstigen kolonialen Glanz nur noch in Spuren – sie hat eindeutig bessere Zeiten gesehen. Der elegant gepflasterte Spaziersteig jedenfalls dürfte sich kaum verändert haben, selbst wenn die Damen in Reifröcken und Wespentaille, die Herren * Nicht zu verwechseln mit seinem Enkel Louis-Charles Mahé de La Bourdonnais (1795–1840), der es als herausragender Schachspieler zu Ruhm und Ehre brachte, bevor er vollkommen mittellos in London starb, wo er auf dem Friedhof von Kensal Green begraben liegt.

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in Gehrock und Zylinder heute nicht mehr darüber schreiten. Eine Reihe viktorianischer Logierhäuser hat die Jahre ebenfalls überdauert; noch immer können Gäste sich hier einquartieren. Aber die eigentliche Attraktion am angesagten North End der Promenade ist inzwischen ein über und über vergoldeter buddhistischer Tempel, neben dem sich ein überlebensgroßer Buddha erhebt, der aus kleinen Steinchen zusammengesetzt wurde. Eine Gruppe von Mönchen in safrangelben Gewändern legt die Hände zum Friedensgruß zusammen. Ein paar Schritte weiter drängt sich dann aber doch das 20. Jahrhundert ins Bewusstsein, mit Hotelkästen, Restaurant-Terrassen und einem modernen Erholungspark. Erreicht man schließlich das South End, so ist man im 21. Jahrhundert angekommen, denn hier befindet sich das abgeschottete, pseudo-spartanische Ferienareal von Preskil (presqu’île, „Halbinsel“), wo betuchte Weltreisende dazu gebracht werden, in Grashütten zu übernachten. Dahinter liegt noch ein Jachthafen, dessen Anlegeplätze jedoch überwiegend leer sind. An seinem einen Ende stößt man auf eine Plakette mit der englischsprachigen Widmung to the father and mother of god („Dem Vater und der Mutter Gottes“), am anderen Ende des Hafenbeckens steht eine winzige, erkennbar alte Kapelle, ein katholischer Schrein, der auf den Felsblöcken am Ufer gerade so einen Halt zu finden scheint. Leuchtend blau ist er angestrichen und trägt ein hübsches kleines Dach; geweiht ist er der Muttergottes, La Vierge, der Jungfrau Maria, gegen deren mütterlich-weiblichen Anspruch die nahe gelegene Plakette gerichtet scheint. Das schiefe Eisenkreuz auf dem Dach wirkt wie ein trotziges Beharren: „Wir sind auch noch da, und wir bleiben hier!“ Wer sich über die Geschichte von Mauritius informieren möchte, liegt mit Wikipedia nicht ganz falsch – vor allem ein Vergleich der englisch- und französischsprachigen Artikel zum Thema ist höchst aufschlussreich. Der französische Artikel ist nicht nur umfangreicher, sondern lässt auch eine klare Tendenz erkennen.7 Genauer gesagt wertet er die frühen Kolonisierungsversuche der Niederländer ab, vermutlich, damit die späteren französischen Erfolge umso strahlender dastehen. Bei der Charakterisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse im Mauritius der Kolonialzeit  – zu denen immerhin auch die von den Franzosen im 18.  Jahrhundert eingeführte Sklaverei gehörte – zeigt er sich nachsichtig. Auch die Briten, die den Franzosen Anfang des 19. Jahrhunderts nachfolgten, kommen überraschend gut weg. Der Hauptautor des Artikels, dieser Eindruck drängt sich rasch auf, scheint ein eher konservatives Weltbild zu pflegen; wahrscheinlich handelt es sich um einen gebürtigen Mauritier, der die Erschütterungen der Fran398

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zösischen Revolution noch immer nicht verwunden hat. Andernorts mangelt es nicht an kritischeren Stimmen aus der Geschichtswissenschaft, die einem derart verknöcherten Konservatismus entgegentreten.8 Bei der ersten dokumentierten Geburt eines menschlichen Babys auf Mauritius kam am 14. November 1639 in Grand Port der kleine Simon van der Stel zur Welt. Das war dreizehn Jahre vor der Gründung Kapstadts, und Mauritius bot zu jener Zeit noch immer den einzigen sicheren Hafen am südlichen Ende der Segelrouten um das Kap. Der Vater des Jungen war ein hoher Beamter der Niederländischen Ostindien-Kompanie, seine Mutter war Javanerin. Der kleine Simon war also ein métis, ein „Mischling“, dessen Eltern unterschiedlichen Ethnien angehörten, was schon bald auf Mauritius die Norm werden sollte.9 Als Erwachsener brachte Simon van der Stel es bis zum Gouverneur der Kapkolonie; er starb 1712 in Kapstadt. Die niederländische Kolonialherrschaft auf Mauritius dauerte von 1598 bis 1710. Sie nahm einen schlechten Anfang und fand ein böses Ende. Im Gegensatz zu der wesentlich größeren Insel Madagaskar hatte Mauritius zu Beginn seiner Kolonialepoche keine angestammten Bewohner. Eine Gruppe afrikanischer Sklaven, die der Admiral Wybrand van Warwyck 1598 nach Mauritius „lieferte“, riss umgehend aus und schlug sich in den Busch, wodurch die ersten niederländischen Siedler ganz plötzlich ohne ausreichende Arbeitskräfte dastanden. Auch spätere Versuche, auf Mauritius eine Kolonie zu etablieren, schlugen fehl; erst 1638 gelang eine Besiedlung auf Dauer. Und obwohl sie den Hafen von Grand Port befestigt und ausgebaut hatten, machten die Niederländer keinerlei ernsthafte Anstalten, auch den Rest der Insel zu erschließen. Nach dem rasanten Aufstieg ihres Stützpunktes Kaapstad an der Südspitze Afrikas, der sich jedoch einer weitaus dynamischeren Kolonie verdankte, war die Niederländische Ostindien-Kompanie nicht bereit, eine vergleichbare Menge an Ressourcen auch für Mauritius aufzuwenden, und so setzte auf der Insel bald der Niedergang ein. Im Jahr 1710, inmitten des Spanischen Erbfolgekrieges, sahen sich die niederländischen Siedler von Mauritius mit plündernden Piraten, ausbleibenden Nachschublieferungen, einer Rattenplage sowie mehreren schweren Tropenstürmen konfrontiert. Da packten sie ihre Sachen und setzten die Segel. Auch die Franzosen herrschten für rund einhundert Jahre über die Insel. Nach dem Rückzug der Niederländer warteten sie  – obgleich bereits seit 1642 auf der Nachbarinsel Île de Bourbon (dem heutigen Réunion) eine französische Kolonie bestand  – auch nach dem Frieden von Utrecht 1713 weiter ab, bevor sie schließlich am 20. September 1715 eine Expedition nach 399

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Mauritius entsandten. Deren Befehlshaber, Guillaume Dufresne d’Arsel, nahm die Insel im Namen Ludwigs XIV. in Besitz: Étant pleinement informé, qu’il n’y a personne dans l’île, nous déclarons en vertu et l’ordre de Sa Majesté prendre possession de l’Île de Mauritius et islots, et lui donnons suivant l’intention [du Roi] le nom de „Île de France“. Nachdem wir nunmehr vollkommen versichert sind, dass sich niemand mehr auf der Insel befindet, erklären wir kraft der Weisung Seiner Majestät unsere Besitznahme der Insel Mauritius sowie der dazugehörigen Eilande, und gemäß dem Willen Seiner Majestät haben wir ihr den Namen „Île de France“ gegeben.10

Fünfundneunzig Jahre lang wurden die Île de Bourbon und die Île de France als eine Einheit verwaltet. Im Gegensatz zu den Niederländern vor ihnen gaben sich die Franzosen jede Mühe, ihre Neuerwerbung nach Kräften zu kultivieren. An der Westküste von Mauritius gründeten sie die Hafen- und heutige Hauptstadt Port Louis, um die Verbindung nach der Île de Bourbon zu erleichtern, und 1723 legten sie ein umfangreiches Programm zur Vergabe von Landparzellen an prospektive Siedler auf, das freilich ohne die damit verbundene Sklaverei nicht denkbar gewesen wäre. Das Leben von Sklaven und Sklavenhaltern in den neuen französischen Kolonien verlief nach Maßgabe von Ludwigs XIV. Code Noir, der seit 1685 die Beziehungen zwischen diesen Gruppen regelte – zumindest in der Theorie. Die Franzosen, die 1715 von der Île de Bourbon nach Mauritius kamen, brachten madagassische Frauen und afrikanische Sklaven mit. Das war die erste Welle dauerhafter Siedler, aus der schon nach kurzer Zeit eine franko-mauritische Oberschicht kolonialer Grundbesitzer hervorging. Zu ihnen gesellte sich bald – ab 1723 – eine größere Gruppe von concessionaires, die aus Frankreich eingewandert waren, um von den Landzuteilungen durch die französische Krone zu profitieren und die mauritische Zuckerwirtschaft aufzubauen. Größere Zuteilungen ab 1000  Arpent (etwa 400 Hektar) ergingen üblicherweise an adlige Familien wie jene des Sieur Chazal de Chamaret oder der Herzogin von La Marque. Kleinere Parzellen wurden an Soldaten und Staatsbedienstete vergeben. Insgesamt wurden zwei Drittel der Landfläche von Mauritius auf diese Weise verteilt. Die Ausweitung des Zuckerrohranbaus führte zum massenhaften Import von Arbeitskräften, wobei es sich ganz überwiegend um Sklaven 400

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afrikanischer Herkunft handelte, die aus Madagaskar oder dem Senegal eingeführt wurden. Schon bald stellten diese Sklaven die Bevölkerungsmehrheit, aber nach dem Code Noir war ihnen der Landbesitz verboten. Dennoch führten zahlreiche Mischehen und „wilde Ehen“ zwischen Mauritiern europäischer und solchen afrikanischer Abstammung – zusammen mit der immer häufigeren Freilassung von Sklaven  – schnell dazu, dass man die Land besitzende Elite von Mauritius schon bald nicht mehr einfach als „weiß“ bezeichnen konnte. Menschen gemischter ethnischer Herkunft waren in der mauritischen Gesellschaft allgegenwärtig. Und binnen Kurzem wurde die Bezeichnung Créole sowohl auf die métis als Gruppe als auch auf deren Sprache angewandt. Im Jahr 1766 übernahm die französische Krone die direkte Kontrolle über die Insel, die bis dahin der Compagnie des Indes unterstanden hatte. Zur selben Zeit wurde auch die gesetzliche Aufteilung der mauritischen Gesellschaft in „Weiße“ und „Schwarze“ (d. h. Sklaven) um eine dritte Kategorie erweitert: die der libres oder „Freien“. 1789, am Vorabend der Französischen Revolution, betrug die Bevölkerung von Mauritius rund 40 000 Menschen; davon waren 10 Prozent (weiße) Sklavenhalter, 85 Prozent waren (schwarze) Sklaven und 5 Prozent waren libres, also meist freigelassene Sklaven. Das Leben auf der Insel drehte sich ganz um die großen Zuckerrohrplantagen sowie um die Handelsaktivitäten einer Handvoll von Küstenstädten. Die Nachricht von der Revolution erreichte Port-Louis am 31.  Januar 1790, als das Paquebôt numéro  4 in den Hafen einlief, das zehn Wochen zuvor Bordeaux verlassen hatte. Der Kapitän des Schiffs, Gabriel de Coriolis, hatte den Sturm auf die Bastille als Augenzeuge miterlebt und angeordnet, am Mast die Trikolore der Revolution zu hissen. Am Kai wurden blauweiß-rote Kokarden verteilt. Mit dem nächsten Schiff, der Stanislas, kam im April die Anweisung, die Kolonie Mauritius solle ihre eigene gesetzgebende Versammlung und zudem in jedem Verwaltungsbezirk der Insel selbstverwaltete Kommunen mit gewählten Vertretern einrichten. 1792 stimmte, ganz im Einklang mit der Entwicklung im französischen Mutterland, die Versammlung von Mauritius für die Abschaffung des Adels und 1794 auch für die Abschaffung der Sklaverei. Port-Louis wurde in „Port-Nord-Ouest“ umbenannt, Mahébourg in „Port-Sud-Est“. Eine heftige Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Die herrschende Schicht weigerte sich, die Revolutionsdekrete umzusetzen, und so kam es zu schweren, gewaltsamen Ausschreitungen. Mehrere Jahre lang konnten 401

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weder die Adligen genau wissen, ob sie eigentlich noch adlig, noch die Sklaven, ob sie eigentlich inzwischen frei oder noch immer versklavt waren. Diese Zwickmühle wurde 1799 beseitigt, als Napoleon Bonaparte als Erster Konsul die Macht an sich nahm. „Je ferai ce que la majorité des habintants désire“, erklärte er: „Ich werde tun, was die Mehrheit der Einwohner wünscht.“ Das konnte also heißen: „J’abolirai l’esclavage à Saint-Domingue, et je le rétablirai à l’Île de France – Ich werde die Sklaverei in Santo Domingo [dem heutigen Haiti] abschaffen und sie auf Mauritius wieder einführen.“ Die Logik des Konsuls war einigermaßen zweifelhaft: Wenn Napoleon von der „Mehrheit der Einwohner“ sprach, kann er damit offensichtlich nur die Mehrheit der französischen Kolonisten gemeint haben. Jedenfalls geschah – zur großen Erleichterung der weißen Grundherren – sein Wille. Aus PortNord-Ouest wurde „Port Napoléon“, aus Port-Sud-Est wurde „Port Impérial“ – und aus der ganzen Île de France wurde L’Île Bonaparte. Dennoch hatten die Franzosen der britischen Royal Navy in den Jahren nach der Seeschlacht von Trafalgar 1805 nichts entgegenzusetzen – auch dann nicht, als im Dritten Koalitionskrieg die militärischen Auseinandersetzungen in den Kolonien an Bedeutung gewannen. 1809 landeten die Briten auf Rodrigues und bauten es in der Folge zum Brückenkopf für ein großes Invasionsvorhaben im folgenden Jahr aus. Die entscheidende Seeschlacht wurde in der Bucht von Grand-Port geschlagen (woran ja noch immer das Denkmal an der Promenade erinnert) und trug entscheidend zu dem überlegenen Sieg der Briten in dieser Kampagne bei. Am 3. Dezember 1810 schrieb General Abercrombie an den Generalgouverneur von Indien, um ihm mitzuteilen, dass die Île Bonaparte sich ergeben hatte. In der Folge kehrte die Insel zu ihrem ursprünglichen, niederländischen Namen zurück – Mauritius. Die britische Herrschaft auf Mauritius dauerte von 1810 bis 1968. Ihre formale Grundlage bildete der Erste Pariser Frieden von 1814, in dem die britische Oberhoheit über Mauritius festgeschrieben wurde, während Ré­union an Frankreich zurückfiel. Gleich zu Beginn bekräftigten die neuen Herren ihren Vorsatz, die örtlichen Gepflogenheiten und etablierten Strukturen unangetastet zu lassen; manche behaupteten, bis auf das Hissen des Union Jack habe sich durch den Machtwechsel nichts verändert. Und doch führten die Briten im Laufe der Jahrzehnte einige radikale Reformen durch. So etwa 1835, als ihnen mit der Abschaffung der Sklaverei etwas gelang, woran das revolutionäre Frankreich gescheitert war. Die Zuckerwirtschaft wurde neu organisiert und ein groß angelegtes Bauprogramm für Straßen, Eisenbahnen und Hafenanlagen ins Werk gesetzt. Als Ersatz für die freige402

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lassenen Sklaven – und um den immer noch wachsenden Arbeitskräftebedarf in der Zuckerwirtschaft zu befriedigen  – holte man vermehrt Kontraktarbeiter aus Indien ins Land. (Deren Arbeitsbedingungen waren manchmal kaum besser als die vorherige Sklaverei.) Eine kleine ständige Garnison bezog eine Kaserne in Vacoas, südlich von Port Louis, und entlang den Küsten wurden Forts errichtet. Eine Handvoll Kolonialbeamter verwaltete Mauritius vom Hôtel du Gouvernement in Port Louis aus; die meisten von ihnen waren sogenannte „weiße Kreolen“, das heißt „assimilierte“ Mauritier kreolischer Herkunft. Sie unterstanden dem Colonial Office in London. Die legislative Versammlung blieb bestehen, geriet jedoch vollkommen unter die Knute der Zuckerbarone. Bis 1894, als vor dem Sitz der Kolonialverwaltung im Government House eine Statue von Königin Victoria aufgestellt wurde, hatte sich Mauritius nach allgemeinem Dafürhalten zu einer wahren Musterkolonie entwickelt. In der britischen Kolonialzeit schritt die Vermischung der unterschiedlichen Ethnien auf der Insel rasch voran. Das Londoner Kolonialministerium wollte weitere Landnahmen nach Möglichkeit verhindern und zeigte auch deshalb wenig Interesse daran, zusätzliche britische Siedler anzuwerben. Allerdings hatte die Abschaffung der Sklaverei weitreichende Konsequenzen. Die freigelassenen Sklaven verließen die Zuckerrohrplantagen in Massen, wodurch ein Arbeitskräftevakuum entstand, das einzig und allein durch den steten Zustrom von Kontraktarbeitern aus Britisch-Indien gestillt werden konnte. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts überstieg die Zahl der indischen Einwanderer irgendwann sogar die Gesamtzahl der bisherigen Einwohner; so kam zu der kulturellen und ethnischen Melange der mauritischen Bevölkerung ein wichtiges neues Element hinzu. Da die Neuankömmlinge in der Mehrzahl Männer waren, suchten sie sich zudem ihre Partnerinnen unter den freien schwarzen Frauen der Insel. Aus dieser Begegnung ging der heute auf Mauritius vorherrschende, attraktive Phänotypus hervor, der sich dieser Vermischung afrikanischer und dravidischer (d. h. südindischer) Einflüsse verdankt.11 Viele der indischen Immigranten gehörten niederen Kasten an, denen der Landbesitz in Indien traditionell verboten war. Für sie eröffnete die Auswanderung nach Mauritius ganz neue Perspektiven. Manche kehrten nach Indien zurück, nachdem sie sich durch die Arbeit auf Mauritius einen bescheidenen Notgroschen zusammengespart hatten. Andere eröffneten nach dem Ablauf ihrer vertraglich vereinbarten Arbeitszeit kleine Geschäfte oder Handelsunternehmen. Einige wenige landeten den ganz großen Wurf, wurden Pflanzer, Raffineriebetreiber, Zuckerbarone – und begründeten so die mauritischen 403

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Familiendynastien der Nalletamby, Arlanda und Motou. Irgendwann stellten die indischen Hindus, von denen viele Tamilen aus Südindien waren, die absolute Mehrheit auf der Insel. Die Wurzeln der heutigen chinesischen Gemeinschaft von Mauritius reichen ähnlich tief. Die Chinatown von Port Louis gibt es seit 1780; damals ging hier eine Gruppe chinesischer Seeleute an Land, die auf Sumatra zwangsrekrutiert worden waren. Danach nahm die Zahl der chinesischen Siedler beständig zu, obwohl sie kein Land erwerben durften, und gerade spätere Generationen waren und sind hochgradig assimiliert. Die meisten sprechen Morisyen, das mauritische Kreolisch, sind zum Katholizismus konvertiert und tragen Namen, die von britischen Kolonialbeamten übel zugerichtet worden sind: „Beinahe alle sino-mauritischen Familien haben witzige oder zumindest bizarre Namen“, schreibt Dr. Edourd Leung Shing, einer der führenden Vertreter der chinesischen Gemeinde. „Wenn wir Leute aus China treffen, lachen die sich kaputt.“12 Dem wirtschaftlichen Erfolg der Chinesen von Mauritius hat das jedoch nicht geschadet. Obwohl sie weniger als 5  Prozent der Bevölkerung stellen, üben sie auf der Insel einen beträchtlichen Einfluss aus. So sind beispielsweise zehn der fünfzig größten Unternehmen von Mauritius in chinesisch-mauritischer Hand. In den Annalen der Postgeschichte nimmt Mauritius einen ganz besonderen Platz ein. Im Jahr 1840 legte Großbritannien mit der Penny Black eine absolute Weltneuheit vor: die erste Briefmarke! Im Verlauf der nächsten zehn Jahre zogen zahlreiche Länder nach: Brasilien 1843, die Vereinigten Staaten 1847, Frankreich und Belgien beide 1849, Österreich, Preußen und die Schweiz im Jahr 1850. Fortan wurden „Postwertzeichen“ auf Briefen und Postkarten zu einem selbstverständlichen Bestandteil des Alltags, und die Philatelie, das „Briefmarkensammeln“, zu einem weitverbreiteten Hobby, das Generationen von Sammlern ein erstes Wissen über die geografische und politische Struktur unserer Welt vermittelt hat. Es war wohl eher Zufall als Absicht, dass ausgerechnet Mauritius sich durch die Ausgabe der ersten Briefmarken des britischen Empire außerhalb Großbritanniens hervorgetan hat. Im Jahr 1847 stach der in Port-Louis ansässige Graveur Joseph Osmond Barnard, der wenige Jahre zuvor als blinder Passagier nach Mauritius gekommen war, zwei denkwürdige Motive. Das eine wurde als OnePenny-Marke in orangeroter, das andere als Two-Pence-Marke in tiefblauer Farbe gedruckt. Auf beiden Marken war ein charmant unbeholfenes Porträt der jungen Königin Victoria im Profil zu sehen, mit Diadem und Halskette. Zusätzlich zu ihrem Nennwert trugen beide Marken noch die Aufschrift mauritius, postage und post office. Lediglich je 500 dieser 404

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Marken wurden gedruckt, wobei jeweils eine einzige Druckplatte zum Einsatz kam. Am 21. September 1847 kamen sie in Umlauf. Nur 27 von ihnen sind nach heutiger Kenntnis noch erhalten; zwei davon kann man im Nationalen Postmuseum von Mauritius an der Hafenpromenade von Port Louis bewundern.13 Philatelisten waren von der großen Seltenheit der „Roten Mauritius“ und der „Blauen Mauritius“ schon immer fasziniert, aber was ihre Begeisterung noch steigerte, war die – erst kürzlich als falsch widerlegte – Auffassung, die Aufschrift post office sei in Wahrheit ein Fehler gewesen. Dafür schien zu sprechen, dass für die zweite mauritische Briefmarkenserie, die schon 1848 ausgegeben wurde, die Worte post office durch den Vermerk post paid ersetzt wurden; auch das Standardwerk zur mauritischen Postgeschichte schien jene Auffassung zu untermauern.14 Barnard, hieß es, habe diesen Fehler gemacht, weil er von der Frau des Gouverneurs bedrängt worden sei, die einen großen Ball veranstalten wollte und deshalb darauf pochte, ihre Einladungen so früh wie nur irgend möglich in die Post geben zu können. Jedenfalls schossen die Preise für die begehrten Raritäten in dem Maß in die Höhe, in dem die führenden Sammler der internationalen Philatelistenszene um das schrumpfende Kontingent der beiden „Mauritius“, das auf dem Markt verfügbar war, konkurrierten. Im Jahr 1904 zahlte der Prince of Wales (der spätere König Georg V.), der weithin als der eifrigste Briefmarkensammler des britischen Königshauses bekannt war, bei einer Auktion den Rekordpreis von 1450  Pfund Sterling für ein postfrisches Exemplar der „Blauen Mauritius“. Man erzählt sich, einer der Sekretäre des Prinzen habe sich bei der Lektüre der Morgenzeitung verwundert darüber geäußert, dass „irgend so ein verdammter Narr“ für eine einzige Briefmarke „eine horrende Summe“ gezahlt hatte. „Dieser verdammte Narr“, entgegnete der Prinz, „bin ich.“15 Das bei Weitem berühmteste Stück in der Postgeschichte von Mauritius ist jedoch der sogenannte „Bordeaux-Brief“, der erst Jahrzehnte nach seiner Versendung in der Familie des Adressaten, eines Weinhändlers aus Bordeaux namens Borchard, wiederentdeckt wurde. Der vergilbte Umschlag trägt zwei Adresszeilen, in der linken oberen Ecke den Lenkungsvermerk „via england“  – und in der gegenüberliegenden Ecke rechts oben zwei bildschöne, gestempelte, aber wunderbar erhaltene Marken: die orangerote One-Penny- und die tiefblaue Two-Pence­­-Mauritius, eine neben der anderen. Dieser Brief gilt als das absolute Glanzstück der gesamten Philatelie, noch vor der Penny Black, dem schwedischen Tre-Skilling-Fehldruck in Gelb von 1855, den hawaiianischen Missionars-Marken von 1851 oder den 405

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dreieckigen Marken vom Kap der Guten Hoffnung. Bei seinem letzten öffentlichen Verkauf brachte der „Bordeaux-Brief“ 1993 die Rekordsumme von 6 123 750 Schweizer Franken ein. Aber die Geschichte bleibt nicht stehen, und die Jagd auf eine immer noch teurere „teuerste Briefmarke aller Zeiten“ geht weiter. Im Jahr 2014 stellte der Verkauf einer magentafarbenen Ein-Cent-Marke aus BritischGuiana für 9,5  Millionen US-Dollar alle vorherigen Rekorde ein.16 Der Auktionator von Sotheby’s in New York sagte anlässlich der Versteigerung, nun komme der „Heilige Gral“ der Philatelie unter den Hammer. Und Heilige Grale sind natürlich noch seltener als absolute Glanzstücke. Erst kurz zuvor war die gelbe Tre-Skilling-Marke, ein Einzelstück, das kurzzeitig die Rekordliste angeführt hatte, als eine philatelistische „Mona Lisa“ bezeichnet worden. Das ist also die Antwort: Nicht allein die Marke ist es, die potenzielle Bieter ihre Brieftasche zücken lässt – sondern auch (vielleicht sogar vor allem) die kreative Übertreibungskunst der Verkäufer. Wenn die gegenwärtigen Besitzer des „Bordeaux-Briefes“ dereinst für einen neuen Auktionsrekord sorgen wollen, wissen sie also hoffentlich, was zu tun ist: Sie müssen ganz einfach „den Dodo unter den Postwertzeichen“ zum Verkauf anbieten. Während eines großen Teils der britischen Kolonialzeit von Mauritius erstreckte sich der Herrschaftsbereich der Insel weit über deren unmittelbaren Archipel hinaus. Ursprünglich wurden sowohl die Seychellen (genau 1077 Seemeilen Luftlinien nördlich gelegen) als auch der Chagos-Archipel (1339 Seemeilen im Nordosten gelegen) von Mauritius aus verwaltet. Zusammen bildeten diese Territorien ein lang gezogenes Dreieck, das eine Fläche von rund 6 Millionen Quadratkilometern Ozean einschloss. Mauritius und die Seychellen gingen ab 1895 getrennte Wege als zwei einzelne Kolonien, aber die Chagos-Inseln blieben bis zuletzt an Mauritius gebunden. Trotzdem blieb die britische Kolonialherrschaft lange Zeit mehr oder minder ungestört bestehen – bis dann irgendwann ein heftiger Kampf um die mauritische Selbstverwaltung ausbrach. In den späteren Phasen dieser Auseinandersetzung – also in der Epoche der Entkolonialisierung nach 1945 – sahen sich die Briten mit einer Vielzahl unterschiedlicher Demokratiebewegungen, Gewerkschaften und radikalen politischen Parteien konfrontiert. Die Verhandlungen dieser Gruppen mit der Kolonialmacht Großbritannien begannen nach der Lancaster-House-Konferenz von 1965. Eine neue Verfassung wurde verabschiedet, und mit dem Mauritian Independence Act („Gesetz über die mauritische Unabhängigkeit [von 406

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Großbritannien]“) machte die Insel am 12. März 1968 endlich den ersehnten Schritt in die Freiheit. Fortan war Mauritius ein souveränes Mitglied des Commonwealth of Nations. Königin Elisabeth II. blieb das Staatsoberhaupt; der erste nicht-britische Generalgouverneur wurde Sir Abdool Raman Osman und der erste Premierminister Dr. Sir Seewoosagur Ramgoolam (1900–1985), dessen nicht ganz einfacher Name ja auch den internationalen Flughafen von Mauritius ziert, im alltäglichen Sprachgebrauch jedoch Anlass zu dem Kürzel „SSR“ gegeben hat. Der Weg von „SSR“ zum Erfolg ist durchaus aufschlussreich. Als Sohn eines aus Indien eingewanderten Analphabeten profitierte er sowohl von den sich verbessernden Bedingungen in der Kolonie als auch von den Möglichkeiten, die ihm das britische Weltreich bot. Als junger Mann studierte er am University College der Universität London Medizin und legte dort sein Examen als Arzt ab; aber er kam auch mit der britischen Labour-Partei und mit den Ideen Mahatma Gandhis in Berührung. Nach seiner Rückkehr nach Mauritius schloss er sich dem politischen Kampf um ein besseres Arbeitsrecht, Rentenansprüche, allgemeine Schulbildung und ein kostenloses Gesundheitswesen an. Dazu kam schon bald – ganz nach dem Vorbild Indiens – die Forderung nach Unabhängigkeit. Später verlieh man ihm den Ehrentitel „Vater der Nation“. Sein Sohn, der 1947 geborene Dr.  Navinchandra Ramgoolam, hat seine Ausbildung in Irland und an der renommierten London School of Economics absolviert. Er hat als Vorsitzender der mauritischen Labour-Partei sowie zweimal als Premierminister von Mauritius amtiert (von 1995 bis 2000 und von 2005 bis 2014), musste dann jedoch zurücktreten, nachdem man ihm Geldwäsche und andere finstere Machenschaften vorgeworfen hatte. Das politische System von Mauritius ist im Grunde ein Erbstück aus der späten Kolonialzeit; es beruht auf einer parlamentarischen Demokratie nach britischem Vorbild, mit allgemeinem Wahlrecht, einem Einkammerparlament und rechtsstaatlichen Prinzipien. Alle größeren Parteien, darunter die Labour-Partei, das Militant Socialist Movement (MSM), das Mauritian Militant Movement (MMM) und der Parti Mauricien Social Démocrate (PMSD), stehen klar links von der politischen Mitte. Die bei Weitem dominanteste Persönlichkeit in der mauritischen Politik der vergangenen vierzig Jahre ist wohl der Sehr Ehrenwerte Sir Anerood Jug­ nauth (*  1930), Anführer des MSM, sechsmaliger Premierminister und fast zehn Jahre lang Präsident des Inselstaats. Königin Elisabeth II. blieb das Staatsoberhaupt, bis auf Mauritius 1992 die Republik ausgerufen wurde. Folgt man dem Demokratieindex der Zeitschrift The Economist, 407

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dann ist Mauritius die einzige „vollständige Demokratie“ in ganz Afrika.17 „Die demokratische Kultur der Insel“, hat der auf Mauritius geborene Ideenhistoriker Sudhir Hazareesingh festgestellt, „stellt einen ihrer größten Erfolge dar.“18 Leider ist aber auch zu berichten, dass die mauritische Unabhängigkeit mit einem der schmutzigsten Deals in der Geschichte des Spätimperialismus einherging. Im Jahr 1965 zahlte die britische Regierung an Mauritius 3 Millionen Pfund Sterling für die Abtretung des Chagos-Archipels, dazu noch weitere 650 000 Pfund für die größte Handelsgesellschaft des Archipels. Daraufhin schuf man in London ein neues rechtliches Gebilde namens British Indian Ocean Territory (BIOT), dessen Hauptinsel das Atoll Diego Garcia war. Schon 1966 wurde das BIOT an das amerikanische Verteidigungsministerium verpachtet, das dort eine Militärbasis bauen wollte. Der ursprüngliche Pachtvertrag lief über fünfzig Jahre; das Pentagon hat ihn inzwischen verlängert. Im Jahr 1971 wurde die gesamte Bevölkerung der Chagos-Inseln zwangsdeportiert und weitere große Summen wurden an Mauritius und die Seychellen gezahlt, damit diese die Deportierten aufnähmen. 1973 begann das US-Militär auf dem nunmehr einsamen Atoll Diego Garcia mit dem Bau eines gigantischen Stützpunktes  – einer der größten Militärbasen weltweit. Dazu gehören heute eine große Marinefunkstelle, ein ebenso großes Wartungs- und Versorgungszentrum der USMarine sowie ein Luftwaffenstützpunkt mit fünf Start- und Landebahnen. Der Weltöffentlichkeit wurde damals weisgemacht, aus der Verpachtung an die Vereinigten Staaten ziehe Großbritannien keinen besonderen finanziellen Vorteil. Erst Jahrzehnte später wurde publik, dass die britische Regierung im Gegenzug für die Verpachtung von Diego Garcia einen Rabatt von 14 Milliarden US-Dollar auf den Kauf von Polaris-U-Booten aus amerikanischer Produktion erhalten hatte.19 Noch 2016, ein halbes Jahrhundert, nachdem der Skandal seinen Lauf genommen hatte, entschied der Oberste Gerichtshof des Vereinigten Königreichs, dass die vertriebenen Einwohner der Chagos-Inseln keinen Anspruch darauf hätten, in ihre Heimat zurückzukehren.20 Aber auch das unabhängige Mauritius selbst erfreute sich keineswegs immer derselben politischen Stabilität. Schon bald nach der Erlangung der Unabhängigkeit trat das Mauritian Militant Movement (MMM) auf den Plan und erklärte, auch nach der Loslösung vom britischen Kolonialreich hätten die alten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ungleichheiten weiterhin Bestand; bis die eigenen Forderungen erfüllt seien, werde man den neuen Staat deshalb pausenlos sabotieren. Eine vom MMM 1982/83 408

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gestellte Regierung zerbrach aufgrund interner Querelen, aber der ungestüme Einfluss der Militanten ließ sich erst bändigen, als 1992 die „Republik Mauritius“ ausgerufen wurde. Seitdem hat die Dreierrivalität zwischen Labour-Partei, MSM und MMM die mauritische Politik bestimmt. Jede dieser Gruppierungen hat schon einmal Wahlen gewonnen und Regierungen gestellt. Paul Bérenger (* 1945), ein Absolvent der Universität von Wales und Mitbegründer des MMM, hat sechs Wahlperioden lang als Oppositionsführer im mauritischen Parlament amtiert und einmal, von 2003 bis 2005, als Premierminister. Bérenger, ein Christ franko-mauritischer Abstammung, ist der bislang einzige Nicht-Hindu, der an der Spitze der mauritischen Politik gestanden hat. Diese Tatsache unterstreicht die tiefere Wahrheit, dass die Demokratisierung von Mauritius seit dessen Unabhängigkeit der indischstämmigen Bevölkerungsmehrheit der Insel mehr Gewicht verschafft hat. Heutzutage hört man oft von einer mauritischen „Hindu-Renaissance“, ja sogar von einem „Hindu-Wunder“. Die Artikel zum Thema betonen sowohl das Wiederaufleben der Hindureligion, die auf Mauritius lange Zeit eher ein Schattendasein führte, als auch den zunehmenden Stolz und das wachsende Selbstvertrauen einer vergleichsweise wohlhabenden Gemeinschaft, deren Vorfahren schutz- und mittellose Immigranten waren.21 Die räumliche Abgelegenheit der Insel Mauritius hat deren Charakter und Entwicklung nachhaltig geprägt. Trotz der Tatsache, dass das benachbarte Madagaskar schon in vorgeschichtlicher Zeit von Migranten aus dem fernen Melanesien besiedelt worden war, fanden die ersten Europäer, die Mauritius erreichten – die Portugiesen im Jahr 1507 –, keinerlei Hinweise auf eine frühere Anwesenheit von Menschen auf der Insel. Entsprechend sind alle ethnischen Gruppierungen innerhalb der heutigen mauritischen Bevölkerung – Europäer, Afrikaner, Inder und Chinesen – gewissermaßen „Neuankömmlinge“. Und weil die Insel eben über lange Zeit so völlig von der Außenwelt abgeschnitten war, gab es in der einheimischen Fauna vor der Ankunft der Europäer keinerlei Säugetiere und keine Fleischfresser, noch nicht einmal fleisch- oder insektenfressende Reptilien. Hunde, Katzen, Mäuse, Ratten und Affen gelangten samt und sonders mit europäischen Schiffen nach Mauritius. Und so, wie es auf Madagaskar die einzigartigen Lemuren gibt, die ihre evolutionäre Lücke besetzten, bevor es den heutigen Kontinent Afrika überhaupt gab, hatte auch Mauritius seine endemischen Spezies von Pflanzen und Vögeln, die auf der ganzen Welt keine bekannten Pendants haben. Zu ihnen zählen etwa der Maskarenen-Flughund, der 409

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Mauritius-Brillenvogel, die Kielschuppenboa, bei den Fischen bestimmte Gundelarten (bichique) sowie die weltweit berühmten Riesenschildkröten, die auf Mauritius seit dem späten 18. Jahrhundert ausgestorben waren, vor Kurzem aber aus auf der Insel Réunion erhaltenen Beständen wieder angesiedelt wurden. Dreihundert endemische Arten blühender Tropenbäume und -sträucher haben sich erhalten, wobei sich das Verbreitungsgebiet der mauritischen Nationalblume, das Malvengewächs Trochetia boutoniana (boucle d’oreille, „Ohrring“) inzwischen auf eine einzige Bergflanke beschränkt. Es ist also keineswegs ein Zufall, dass Mauritius auch die Heimat des Dodo war.22 Der wissenschaftliche Name jener ausgestorbenen Berühmtheit lautet Raphus cucullatus. (Weil er so schlecht an die Lebensumstände seiner Gegenwart angepasst schien, hat Carl von Linné, der Vater der modernen Taxonomie, dem Dodo ursprünglich sogar den Namen Didus ineptus verpasst  – „tollpatschiger Dodo“.) Sein Trivialname „Dodo“ (im Deutschen auch „Dronte“) geht möglicherweise auf ein altes niederländisches Wort zurück, dodars, das so viel wie „plumper Hintern“ bedeutet. (Der lateinische Artname cucullatus heißt in etwa „kapuzen-“ oder „kappentragend“ und bezieht sich auf den charakteristischen Kopf des Dodos). Der flugunfähige Vogel, der regelmäßig mehr als zwanzig Kilogramm auf die Waage brachte, hatte keine natürlichen Feinde und besaß daher auch keinerlei Scheu oder Gefühl für Gefahr, weshalb er hungrigen Seeleuten und den Horden verwilderter Hausschweine, die sie auf die Insel brachten, nur allzu leicht zum Opfer fiel. Einige Zeichnungen und Beschreibungen sind aus dem 17. Jahrhundert überliefert, und ein paar wenige Dodos wurden sogar nach Europa gebracht, um sie von Experten untersuchen zu lassen. Die letzte glaubwürdige Sichtung eines lebendigen Dodos ereignete sich 1662 auf Abmer Island vor der Nordostküste von Mauritius. Sehr zum Glück für den (literarischen) Nachruhm des Dodos kam eines der ausgestopften Exemplare in die naturgeschichtliche Abteilung des Oxforder Ashmolean Museum. Dort weckte der seltsame Vogel die Aufmerksamkeit von Reverend Charles Lutwidge Dodgson, besser bekannt als „Lewis Carroll“, der den Dodo in sein Herz schloss und ihn durch einen entscheidenden Auftritt in seinem Buch Alice im Wunderland unsterblich machte. Dodgson stotterte stark, weshalb ihn seine Freunde liebevoll „DoDo-Dodgson“ nannten. Der britische Schriftsteller französischer Herkunft Hilaire Belloc hat ebenfalls versucht, dem Dodo zu literarischen Weihen zu verhelfen. Dabei kam der folgende, inzwischen weithin berüchtigte Knittelvers heraus: 410

Im Land der Kreolen und Dodos

The Dodo used to walk around And take the sun and air. The sun yet warms his native ground – The Dodo is not there. The voice which once did squawk and squeak Is now forever dumb – Yet you may see his bones and beak All in the Mu-se-um.

In Wind und Sonne munter lief Der Dodo einst umher. Die Sonne wärmt sein Felsenriff – Der Dodo ist nicht mehr! Die Stimme, die quiekquakend schwoll, Sie ist für immer stumm – Nur sein Gerippe, würdevoll, Steht noch im Mu-se-um.23

Solche lyrischen Holpereien hätten es, im Gegensatz zu dem armen Dodo, sehr wohl verdient auszusterben … Zur Zeit Ludwigs XIV. besaß die katholische Kirche ein Monopol auf der damaligen Île de France. „La religion du Roi“, hieß es, „est la religion du peuple“ – der Glaube des Königs war auch der seines Volkes. Im Code Noir war festgelegt, dass alle Sklaven getauft werden mussten, christliche Namen anzunehmen und regelmäßig an der Heiligen Messe teilzunehmen hatten: Artikel I. Alle Sklaven, die sich auf der Île de Bourbon [d. i. Réunion] und der Île de France [d. i. Mauritius] vorfinden, sollen in der katholischen, apostolischen und römischen Religion unterrichtet werden.24

In der Praxis war es jedoch so, dass aufgrund eines Mangels an Priestern nicht alle Sklaven getauft wurden. Einen christlichen (Vor-)Namen erhielten sie jedoch in der Regel schon an ihrem Verkaufsort auf dem Sklavenmarkt. Oft wurden diese Rufnamen mit einem weiteren Namen kombiniert, der auf die Herkunft ihres Trägers oder ihrer Trägerin verwies. 411

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Ganz egal, also, wie sie in ihrer Heimat geheißen hatten: Auf Mauritius waren sie nun „Anna de Bengale“, „Simon de Malabar“, „Pierre de Bali“ oder „Paul de Timor“. Gleichzeitig wurde mit der Aufhebung des Edikts von Nantes (1685) die Ausübung des protestantischen Glaubens in allen Ländern der französischen Krone verboten; auf Mauritius konnten sich die Hugenotten also auch nicht niederlassen. (Eine kleine Gruppe von Hugenotten, die in den 1690er-Jahren auf Rodrigues landeten, um dort eine protestantische Kolonie zu gründen, musste ihren Plan schon nach kurzer Zeit aufgeben.) In der Theorie beteten also alle Bewohner der Insel zu demselben Gott, und sie taten dies – ebenfalls theoretisch – nach den Prinzipien derselben, gallokatholischen Tradition. Die Kathedrale Saint-Louis in Port-Louis war (und ist) die Bischofskirche eines römisch-katholischen Bistums, und der Bischof war  – angeblich  – die einzige und uneingeschränkte Autorität in allen geistlichen Belangen. Tatsächlich war die religiöse Konformität der Inselbewohner oft nur oberflächlich, denn viele der nach Mauritius verschleppten Afrikaner, beispielsweise, praktizierten weiterhin ihre traditionellen, animistischen Kulte und Rituale. Die Briten übernahmen die Herrschaft über Mauritius zu einer Zeit, als in Großbritannien noch die sogenannte „Uniformitätsakte“ (Act of Uniformity) zur Sicherung der anglikanischen Orthodoxie in Kraft war. Jedoch sah der Erste Pariser Frieden, durch den die Franzosen die Insel 1814 abtraten, vor, dass alle auf Mauritius bestehenden „Bräuche und Traditionen“ geschützt werden sollten. Mit anderen Worten war der religiöse Pluralismus in der britischen Kolonie Mauritius von Anfang an gegeben, während er im Mutterland erst 1829 möglich wurde. Eine anglikanische Diözese wurde errichtet und die prächtige St.-James-Kathedrale gebaut, aber der Bischof und seine Geistlichen dienten lediglich als Seelsorger für eine Handvoll von britischen Verwaltungsleuten und deren Familien. Die Vormachtstellung des Katholizismus auf der Insel wurde durch diese Entwicklung nur unwesentlich beeinträchtigt. Die irischen Katholiken, britischen Nonkonformisten und die Juden, die nach Mauritius kamen, erfuhren keinerlei Benachteiligung, und das Spektrum christlicher Konfessionen ähnelte schon bald dem des viktorianischen Großbritannien. Durch den Zustrom von Einwanderern aus Indien wurde die religiöse Vielfalt von Mauritius entschieden erweitert. Vor allem Hindus und Muslime kamen in großer Zahl; durch kleinere Einwanderergruppen aus Birma (dem heutigen Myanmar) und von der Malaiischen Halbinsel wurde auch der Buddhismus auf der Insel heimisch. Binnen weniger Jahrzehnte hatte 412

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jede nennenswerte Siedlung auf Mauritius ihre eigene Moschee sowie diverse Tempelbauten neben katholischen und protestantischen Kirchen. Ob durch Zufall oder mit Absicht – manche würden sagen: aufgrund weiser Führung – hat man auf Mauritius ein Klima der Toleranz und Vielfalt kultiviert. Der Hindutempel am Seeufer des Grand Bassin ist eine der großen Touristenattraktionen. Die sunnitische Hauptmoschee Dschamid Masdschid („Freitagsmoschee“) steht seit 1853 an der Rue Royale in Port Louis. Die höchste Dichte an buddhistischen Schreinen findet man im chinesischen Viertel von Port Louis. Eine Handvoll von gurdwaras – Sikh-Tempeln – deutet darauf hin, dass es noch eine weitere religiöse Minderheit im Land gibt. Die malerischste unter den vielen christlichen Kirchen von Mauritius steht zweifellos am Cap Malheureux, der äußersten Nordspitze der Insel. Von hier öffnet sich der Blick auf den schier endlosen Indischen Ozean, als ob man schon einmal in die Unendlichkeit des Jenseits schauen könnte. (Das „Kap des Missgeschicks“ wurde 1810 von den Franzosen so benannt, weil an dieser Stelle die Landungstruppen der britischen Eroberer an Land gingen.) Die inbrünstige Frömmigkeit, die bei den zahlreichen religiösen Festen auf der Insel zutage tritt, wird wohl kaum einen Besucher ganz kalt lassen. Bei den Katholiken ist das größte Spektakel die Fête du Père Laval, eine alljährliche Pilgerfahrt und Prozession zum Todes- und Gedenktag des seliggesprochenen Priesters am 9. September. Jacques-Desiré Laval (1803–1864) war ein Arzt und Missionar, der aus der Normandie stammte und sein Leben den Armen von Mauritius widmete. Er war berühmt für seine extreme Genügsamkeit bis zur Selbstkasteiung, so schlief er etwa in einer hölzernen Packkiste. Sein Ziel war es, die landwirtschaftlichen Methoden auf der Insel zu verbessern; auch für sauberes Trinkwasser, für eine bessere sanitäre und medizinische Versorgung setzte er sich ein. Nach seinem Tod sprach man von ihm schon bald als dem „Apostel von Mauritius“ oder als l’Apôtre des Noirs (dem „Apostel der Schwarzen“). Im Jahr 1979 wurde er von Papst Johannes Paul II. seliggesprochen.25 Bei meinem Besuch wurde Lavals Grabstätte in der Kirche Sainte-Croix in Port Louis gerade renoviert, als Teil der Vorbereitungen für die Feier zu seinem 150. Todestag. Wenn sein jour de fête am 9. September anbricht, tanzen die Gläubigen auf den Straßen und singen dem seligen Père Laval ein Lied in einer eigentümlichen Mischung aus Französisch und Créole: A cause Père Laval combien miracle fine arrive A cause Père Laval combien la misère fine soulazer 413

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Tombeau Père Laval li pas difficile po nous aller A cause Père Laval li bien tranquille po nous prier. Wie viele Wunder hat nicht Vater Laval gewirkt! Wie viele Leiden hat nicht Vater Laval gelindert! Zum Grab von Vater Laval, da kommen auch wir ganz leicht. Dank Vater Laval können wir dort ganz in Frieden beten.26

Die größten Menschenmengen sind jedoch während des neuntägigen Maha-Shivaratri-Festes im Februar auf den Straßen; schließlich sind beinahe die Hälfte der Einwohner von Mauritius Hindus. Tausende Anhänger der Göttin Shiva strömen dann zu ihrem Tempel am Grand Bassin, fasten und beten dort, bis schließlich eine lange Nachtwache den „Tag des Großen Lichtes“ einleitet. Es haben sich jedoch auch Spuren von Glaubenssysteme erhalten, die auf Mauritius schon viel länger verwurzelt sind. Der Voodoo beispielsweise mit seiner „schwarzen Magie“ ist in vielen Teilen der Welt verbreitet, in die Menschen aus Afrika eingewandert sind oder verschleppt wurden, von Madagaskar und Haiti bis nach New Orleans, der Heimat der legendären Voodoopriesterin Marie Laveau.27 Die eigentümliche Form von „FusionsVoodoo“, die auf Mauritius zwar eigentlich verboten ist, aber allem Anschein nach dennoch floriert, kombiniert nach Aussagen von Experten „Elemente von Hinduismus, madagassischer Hexerei und Satanismus“, ist aber auch als le fléau, „die Geißel“ der Insel bezeichnet worden. Zwar ist Voodoo nicht die Art von Attraktion, mit der Touristen zwangsläufig in Kontakt kommen werden, aber vielleicht stoßen sie ja einmal auf ein paar Fetischpuppen oder brennende Kerzen, die – in einer Kokosschale als Kerzenhalter  – unter einem Baum am Wegesrand zurückgelassen wurden. Und die loganistes oder „Hexer“ gehen ihrem Gewerbe zweifellos nach, genauso wie die noch etwas unheimlicheren daines, die „Priesterinnen“, von denen es heißt, ihre magischen Kräfte speisten sich aus der rituellen Opferung unschuldiger Kinder. Ihre Klienten wenden sich an sie, um an esoterischen Ritualen teilzunehmen oder ein breites Spektrum an Heilungszaubern, Flüchen, Wundertränken und Bannsprüchen für sich zu nutzen, die Krankheiten, Unglücksfälle oder den „bösen Blick“ abwehren sollen. Die prominente Voodoo-Priesterin Shan (vormals Catherine), die im Süden der Insel praktiziert, empfängt Tag für Tag bis zu vierzig Klienten, wobei sie zwischen 25 000 und 50 000 Rupien pro Sitzung in Rechnung 414

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stellt, das sind immerhin zwischen 600 und 1200 Euro! „Je ne fais que du bien“, beteuert sie, „jamais du mal“ – sie tue stets nur Gutes, Böses nie. Um sich tiefer in die Materie einzuarbeiten, empfehlen sich die zahlreichen Veröffentlichungen eines ortsansässigen Autors namens Pierre Manoury. Oder man vereinbart einfach selbst eine Online-Konsultation mit der virtuellen Voodoo-Priesterin „Joséphine de l’Île Maurice“, „Grande Daine Mauricienne“, die in Paris lebt.28 Derlei alter Aberglaube ist aber keineswegs die gesellschaftliche Norm. Das moderne Mauritius ist zu Recht berühmt für sein großzügiges und effektives Bildungssystem. Nach der Unabhängigkeit von Großbritannien 1968 wurde ein umfassendes Schulwesen mit allgemeiner Schulpflicht und kostenlosem Unterricht für alle, Jungen wie Mädchen, eingeführt, das seitdem beeindruckende Resultate geliefert hat. Unter anderem sind inzwischen 95  Prozent der mauritischen Bevölkerung alphabetisiert. Bewerber aus Mauritius stehen bei den Schul- und Hochschulaufnahmeprüfungen, die von der Universität Cambridge in aller Welt organisiert werden, regelmäßig auf den ersten Rängen.29 Der Hauptcampus der Universität von Mauritius, der 1972 eröffnet wurde, befindet sich im Bezirk Moka, außerhalb von Port Louis.30 Auch kann die „große mauritische Voodo-Priesterin“ aus Paris nicht als typische Vertreterin der mauritischen Diaspora gelten. In Großbritannien, Frankreich, Südafrika und Australien gibt es ansehnliche Gemeinden von Auslands-Mauritiern, denen ihre jeweiligen Gastländer wichtige Beiträge zu ihrem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben verdanken.31 Zahlreiche Veranstalter bieten Rundfahrten über die Insel an, deren relativ kleine Fläche zudem Ausflüge begünstigt. Mit seinen 2000  Quadratkilometern ist Mauritius gerade dreimal so groß wie Singapur, und weil es so kompakt geformt ist, liegen zwei beliebige Punkte auf der Insel niemals weiter als 80 Kilometer voneinander entfernt. Der Reisende hat die Wahl unter drei verschiedenen Zielen: die Stadt, das Hochland oder die Küste. Jede dieser Möglichkeiten hat ihre spezifischen Vorzüge, und innerhalb einer guten Woche kann man sie alle kennenlernen. Port Louis ist die einzige wirkliche Großstadt auf Mauritius.32 Es wird von seinem Hafen dominiert, der aufgrund seiner weitläufigen Anlagen, Docks und Lagerhallen als der größte im ganzen Indischen Ozean beworben wird. Rund um die Stadt erhebt sich eine Kette steiler Hügel, von denen man einen hervorragenden Ausblick genießt. Die besseren Vororte erkennt man an ihren eleganten Villen zwischen hohen Bäumen, die weniger 415

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begehrten Viertel an den dicht gedrängten, einfachen Behausungen der Hafenarbeiter. Im Stadtzentrum gibt es etliche große Kirchen und öffent­ liche Gebäude – und auch den einen oder anderen Verkehrsstau. Die herausragende – wenn auch nur zurückhaltend beworbene – Sehenswürdigkeit dürfte wohl das Château de Labourdonnais sein: eine zauberhafte Mischung aus edlem Wohnpalast, kolonialem Lustgarten, gut bestücktem Museum und französischem Spitzenrestaurant.33 Das mauritische Hochland erstreckt sich von einem Vorgebirge, das mit dichtem Dschungel bedeckt ist, über ein erhabenes Zentralplateau hinauf zu einer Reihe dramatisch zerklüfteter Vulkangipfel. Einer dieser Gipfel, der inzwischen erloschene Vulkan Le Pouce („Der Daumen“), ragt mit seinen 812 Metern Höhe hoch über Port Louis; der mit 828 Metern höchste Berg der Insel, Le Piton de la Petite Rivière Noire („Schwarzflüsschenspitze“), liegt im südwestlichen Viertel von Mauritius. Der Black-RiverGorges-Nationalpark ist eine wahre Schatzkammer der Natur- und Erdgeschichte. Der Krater des Trou aux Cerfs, nahe Curepipe in der Mitte der Insel gelegen, gehört zu einem bloß „schlafenden“ Vulkan; und natürlich wird seine Anziehungskraft durch Gerüchte, mit diesem „Schlaf“ könne es jeden Moment vorbei sein, nur weiter gesteigert. Mehr als zwei Drittel der mauritischen Küste nehmen Strände mit einem feinen, weißen Korallensand ein, die meergrüne Lagunen säumen. Manche traumhaft schönen Stellen sind durch den modernen Massentourismus verunstaltet worden, aber noch gibt es genug bezaubernde Plätzchen, die diesem Schicksal entgangen sind, und einsame Wanderer, Schwimmer oder Strandläufer zum Genießen einladen. Dutzende unbewohnter Inselchen harren ihrer Entdeckung durch Segler und Kajakfahrer. Manche Urlaubszentren wie etwa Grand Baie im Norden der Insel – das die alten Niederländer einmal die bogt zonder eynt genannt haben, „die Bucht ohne Ende“ – sind heute mit protzigen Hotelklötzen und barbarischen Basaren zugestellt, mit Betonfassaden direkt am Wasser übersät und mit aufdringlichen Tourenvermittlern überlaufen. An ihren westlichen Ausläufern jedoch, in Richtung der Pointe aux Canonniers, ist selbst diese Vorhölle der Tourismusindustrie noch weitgehend unberührt. Und ein ruhigeres Dorf wie etwa Souillac im Süden von Mauritius schafft es noch heute, einen beinahe zeitlosen Charme auf das Schönste mit modernen Vergnügungen wie dem Surfen oder dem Hochseeangeln zu verbinden.34 Keine Beschreibung der facettenreichen Insel wäre vollständig, ohne dass die schwarzen Landzungen aus Vulkangestein Erwähnung gefunden hätten, die allerorten in den Ozean hinausstoßen und die mauritische 416

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Küste so in eine Reihe abgeschlossener Buchten und Strände unterteilen. Eines dieser Kaps birgt ein ganz besonderes Stück Kulturerbe: Die Land­ spitze von Le Morne liegt im äußersten Südwesten der Insel und sieht aus der Luft betrachtet wie eine riesige Echse aus, die an der Lagune ihren Durst stillt. Kommt man näher heran, so erkennt man schließlich ein bald ungeheuer aufragendes, bald wieder jäh abfallendes Durcheinander von Felsblöcken und Geröll, das durch ein Labyrinth von Höhlen und Klüften vollends unzugänglich wird. In den Tagen der Sklaverei war diese schroffe Halbinsel ein bevorzugter Zufluchtsort für entlaufene Sklaven, die sogenannten marrons (oder englisch: maroons). Anfang des 19.  Jahrhunderts gab es hier sogar eine regelrechte République des Marrons, deren Bewohner sich mithilfe einer Reihe von Rückzugsnestern und Forts, die sie zu ihrer Verteidigung errichtet hatten, erfolgreich gegen den Zorn der Obrigkeit zur Wehr setzten. Tatsächlich handelt es sich hier um ein Paradebeispiel für die sogenante Grand Marronage, also die dauerhafte und erfolgreiche Flucht zumindest einiger Sklaven von ihren Plantagen, denn der „Zufluchtshafen“ von Le Morne blieb bestehen, bis die Sklaverei schließlich selbst abgeschafft wurde.35 Seit 2005 gehört dieser bedeutende Erinnerungsort dem UNESCOWeltkulturerbe an. Die sprachliche Landschaft von Mauritius spiegelt die Vielfalt seiner multiethnischen Gesellschaft wider. Dabei entspricht sie jedoch überhaupt nicht dem, was man von einem Land, das über zweihundert Jahre lang dem britischen Weltreich und dann dem Commonwealth angehört hat, vermuten würde. Englisch ist zwar im Grunde die hauptsächliche Sprache in Politik und Verwaltung, hat über diese öffentliche Funktion hinaus jedoch kaum Wurzeln geschlagen. Französisch ist und bleibt das bevorzugte Idiom der alteingesessenen gesellschaftlichen Elite. So werden selbst Hollywoodfilme in der Regel auf Französisch neu synchronisiert.36 Die Lingua franca von Mauritius ist eine französischbasierte Kreolsprache, das Morisyen, das seit der Unabhängigkeit ganz auf Augenhöhe mit dem Englischen steht. In einzelnen Gemeinschaften wird darüber hinaus eine breite Vielfalt von indischen Sprachen gesprochen. Offiziell anerkannt sind insgesamt dreizehn Sprachen, die neun verschiedene Alphabete verwenden: Englisch, Fran­ zösisch, Morisyen, Hindi, Tamilisch, Telugu, Marathi, Urdu, Gujarati, ­Bhojpuri, Sindi, Tarnul sowie Chinesisch (Hakka). Französischbasierte Kreolsprachen finden sich in vielen Teilen der Welt. Zumindest eine von ihnen, das Haitianische, hat mehr als 10  Millionen Sprecher und ist in Haiti die erste Amtssprache. Andere ähnliche Sprachen, 417

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wie etwa die von Guadeloupe oder Neukaledonien oder das Pale-Neg in Louisiana, haben wesentlich weniger Sprecher, und manche, wie etwa das Tây Bôi in Vietnam, sind vom Aussterben bedroht oder sogar schon ausgestorben. Trotz ihrer räumlichen Nähe sind sich übrigens die Kreolsprachen von Mauritius und Réunion nicht besonders ähnlich. Der Unterschied zwischen Pidgin- und Kreolsprachen ist ein wunder Punkt in der linguistischen Forschung. Beide Arten von Kontaktsprachen entstehen aus dem Bemühen von Nicht-Muttersprachlern, sich eine be­stimmte, gut etablierte Sprache anzueignen; und in beiden Fällen kommt es dabei zu weitreichenden Vereinfachungen, was Vokabular, Grammatik, Morphologie und Rechtschreibung betrifft. Kreolsprachen gelten jedoch gemeinhin als die Weiterentwicklung eines Pidgin, in der bereits wieder eine gewisse Stabilisierung der sprachlichen Formen eingesetzt hat.37 Alle Kreolsprachen sind, mit anderen Worten, aus Pidginsprachen entstanden; aber bei Weitem nicht alle Pidgins werden irgendwann auch zur Kreolsprache. Das mauritische kreol gehört zu einer sprachlichen Unterfamilie, deren Mitglieder aus historischen Gründen als die Creoles Bourbonnais bekannt sind. Dazu gehören das Agalega-Kreolische (von einer Inselgruppe nördlich von Mauritius), das Tschagos-Kreolische (vom Chagos-Archipel), das Réyoné von Réunion, das Rodriguais von Rodrigues sowie Seselwa auf den Seychellen. Das Morisyen verwendet ein sehr einfaches, phonetisches Alphabet – die Rechtschreibung ist sehr viel regelmäßiger als im Französischen – für einen Wortschatz, der im Kern französischer Herkunft ist. Mit einem passablen Schulfranzösisch kann man es durchaus nach ein paar Stunden verstehen, wenn man am Strand ein wenig Zeit mit einem einheimischen Guide verbracht oder das „Nützliche-Phrasen“-Kapitel in seinem Reiseführer überflogen hat.38 Das Wort napli beispielsweise sorgt zunächst für Stirnrunzeln  – bis der Groschen fällt und man versteht, dass es sich schlicht um eine abweichende Schreibung von non plus („nicht mehr“) handelt. Der Satz Dodo napli existe ist für einen Morisyen-Lerner gar kein schlechter Ausgangspunkt. Das Wort Moris bedeutet „Mauritius“ und ist natürlich auch eine sehr wichtige Vokabel. Einige grundlegende Eigenschaften des Morisyen hat man schnell begriffen. Obwohl auf dem Weg zur Kreolsprache die französischen Artikel irgendwann abhandengekommen sind, wurden viele Wörter doch dauerhaft mit ihrem vormals eigenständigen Artikel verschmolzen. So heißt etwa letan „die Zeit“ (le temps), lerat „die Ratte“ (le rat), latet „der Kopf“ (la tête), lavi „das Leben“ (la vie), later „die Erde“ (la terre), ler „die Stunde“ (l’heure), lide „die Idee“ (l’idée) und loto „das Auto“ (l’auto). Abgesehen von 418

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diesen und ähnlichen Beispielen mit ihren „verwachsenen“ Artikeln gibt es aber auch Kreolwörter, die auf wundersame Weise mit noch anderen Wörtern oder Sprachbestandteilen verschmolzen sind. So ist das Wort für „Gott“ beispielsweise Bondye (le bon Dieu), „Brot“ heißt dipin (du pain) und „Wein“ divin (du vin). Außerdem ist es, da die korrekte Angleichung von Substantiven und Adjektiven hinsichtlich ihres grammatischen Geschlechts nicht mehr beachtet werden muss (höre ich da etwa das erleichterte Seufzen der Englischsprecher?), vollkommen in Ordnung, zu sagen gros vas („eine fette Kuh“) oder zoli fam („eine hübsche Frau“). Um ein Adjektiv zu steigern, stellt man einfach byen-byen („sehr“, von bien) voran: byen-byen zoli fam. Und da die Wortstellung in Fragesätzen auf keinen Fall mehr umgedreht wird, kann man ganz ungeniert aus einer Aussage eine Frage machen, indem man eski voranstellt, das natürlich auf est-ce que …? zurückgeht. (Frage: Eski Dodo napli existe? Antwort: Pa existe, alas.) Auf den ersten Blick sehen die kreolischen Verbformen nicht allzu abschreckend aus; zumindest die Infinitive wird man leicht wiedererkennen: fer entspricht faire, dormi entspricht dormir, alle entspricht aller, vini entspricht venir und bwar entspricht boire. Aber dann wird die Sache doch noch etwas komplizierter. Da sämtliche Beugungs- und Endungsmöglichkeiten weggefallen sind, müssen solche sprachlichen Kategorien wie Tempus, Modus und Aspekt entweder durch Adverbien oder Verbalphrasen angezeigt werden oder jedoch  – dieses ist am typischsten  – durch Signalwörter, die unmittelbar neben dem auf seinen Stamm verknappten Verb platziert werden. Unter den Adverbien, die zur Zeitangabe dienen, trifft man auf tulezur, „andauernd“ oder „immer“ (von tous les jours, das „z“ zeigt einen stimmhaften Zischlaut an); zordi, „jetzt“ oder „zur Zeit“ (von aujourd’hui) und kitfwa, „ab und an“ oder „sporadisch“ (von quelquefois). Häufige Verbalphrasen sind etwa bizin (von besoin), das so viel heißt wie „man muss“; devet (von devoir), das „man sollte“ bedeutet; oder dommage, das für „es ist bedauernswert, dass …“ steht. Auf einer Linguistik-Seite im Internet ist mir ein ungewöhnliches Verwendungsbeispiel für das zuletzt genannte Wort ins Auge gesprungen: Dommage Stalin fine alle fer marguerites pousse: 39 „Schade, dass Stalin gestorben ist“ – wörtlich: „Es ist bedauernswert, dass Stalin gegangen ist, um die Gänseblümchen hochzudrücken.“* * Auf Deutsch würde man vielleicht sagen: „… um die Radieschen von unten zu betrachten.“ Interessanterweise scheinen sich in dem kreolischen Satz die englischen und französischen Spracheinflüsse auf der Insel zu vermischen. Zwar heißt das französische pousser im Grunde tatsächlich „drücken“ oder „schieben“  – wir haben es also mit einer wörtlichen Entspre-

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Von den Signalwörtern, mit denen ausnahmslos jeder kreolische Text auf Mauritius gesprenkelt ist, sind fünf ganz besonders wichtig: ti (abgeleitet von était) zeigt an, dass eine Handlung in der Vergangenheit liegt. pu (abgeleitet von pour) zeigt an, dass von etwas Künftigem die Rede ist. a (abgeleitet von va) drückt eine Art modus indefinitus aus. ‘n (abgeleitet von finir) markiert die Abgeschlossenheit eines Vorgangs. pe (abgeleitet von après) macht dagegen deutlich, dass ein Vorgang noch nicht abgeschlossen ist. Mo fer heißt „ich tue“, mo ti fer „ich tat“. „Die Königin von England wird Mauritius besuchen“ wird zu Larenn Langleter pu visit Moris. (Tatsächlich hat Elisabeth II. diese Reise schon einmal gemacht: im März 1972.)40 Die Grammatik des mauritischen Kreolisch ist folglich nichts für schwache Nerven  – und entgegen dem ersten Anschein auch nichts, was man sich, womöglich noch unter Zeitnot, „mal eben so“ vollständig beibringen könnte. Das Morisyen taucht jedoch häufig auf, wenn in der Forschung über Kreolsprachen diskutiert wird. Einer aktuellen Studie zufolge kann „überhaupt kein Zweifel“ daran bestehen, dass es sich bei „MC“ (Mauritian Creole) um eine absolut typische, voll entwickelte Kreolsprache handelt.41 Als Standardbeispiel für die Charakteristika einer solchen Sprache wird, weil es ein Text ist, der in so gut wie jeder Sprache vorliegt, häufig das Vaterunser herangezogen – oder, wie es auf Morisyen heißt, das Nou Papa: Nou Papa ki dan lesiel Fer rekonet ki to nom sin Fer ki to regn vini Fer to volonte akonpli Lor later kouma dan lesiel. Donn nou azordi



chung des englischen Idioms to be pushing (up) daisies zu tun, d. h. „sich das Gras (oder die Radieschen oder anderes Wurzelwerk) von unten ansehen; tot sein“. Andererseits bedeutet faire pousser (das kreolische fer … pousse), wenn es auf Pflanzen bezogen ist, ganz einfach „anpflanzen“, „hegen“ oder „gedeihen lassen“. Der Gedanke liegt also nahe, dass das reichlich bizarre englische Sprachbild auf die – absichtlich allzu wörtliche – Übersetzung einer französischen Formulierung zurückgeht. Auf Französisch verleiht man demselben Gedanken übrigens – wie könnte es anders sein? – eine besonders kulinarische Note: manger les pissenlits par la racine – „den Löwenzahn von der Wurzel her (fr)essen“ (Anm. d. Übers. T. G.).

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Im Land der Kreolen und Dodos

Dipin ki nou bizin. Pardonn nou, nou bann ofans Kouma nou osi Pardonn lezot ki Finn ofans nou. Pa les nou tom Dan tantation Me tir nou depi lemal.42

Und zum Vergleich auf Französisch und auf Deutsch: Notre Père qui es aux cieux! Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name. Que ton nom soit sanctifié; Dein Reich komme. que ton règne vienne; Dein Wille geschehe, que ta volonté soit faite sur la terre comme au ciel. wie im Himmel, so auf Erden. Donne-nous aujourd’hui Unser tägliches Brot gib uns heute. notre pain quotidien; pardonne-nous nos offences, Und vergib uns unsere Schuld, comme nous aussi nous pardonnons wie auch wir vergeben à ceux qui unsern nous ont offensés; Schuldigern. ne nous induis pas Und führe uns nicht en tentation, in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen … mais délivre-nous du malin.

Nach offizieller Auffassung ist Mauritius eine Insel der Dichter und Denker, „ein Land der Poeten, Schriftsteller und Künstler“.43 In der Tat verströmt es ein kreatives Flair, das überaus anregend wirkt. Der franko-bretonisch-mauritische Autor J. M. G. (Jean-Marie Gustave) Le Clézio, 1940 in Nizza geborener Sohn mauritischer Eltern und Literaturnobelpreisträger von 2008, nennt Mauritius seine petite patrie, sein „kleines Heimatland“. „Schreiben ist für mich wie reisen“, hat er einmal gesagt. „Schreiben bedeutet, von mir selbst wegzukommen  – aus mir herauszugehen und ein anderes – vielleicht ein besseres – Leben zu führen.“44 Der Mainstream der mauritischen Literatur gliedert sich in die beiden Teilströme der Francophonie und der Créolie und hat jede Menge theoretischer Reflexion hervorgebracht. Der mauritische Schriftsteller Camille de Rauville (1910–1986) hat das Schlagwort vom Indianocéanisme geprägt, womit er 421

7. Moris

die spezifische Lebensart und Erfahrungswelt der Menschen vom Indischen Ozean meinte. Sein jüngerer Landsmann Khal Thorabully (* 1956) hat das Konzept einer transkulturellen coolitude erfunden, mit dem der eher abwertenden Kategorie des coolie – des Kontraktarbeiters oder Tagelöhners – auf selbstbewusste Weise eine neue coolness und Gelassenheit eingehaucht wird. Über lange Zeit ist das Französische, als die Sprache der meisten Gebildeten im Land, das bevorzugte Ausdrucksmittel der mauritischen Literatur gewesen, und zwar in der Lyrik wie auch in erzählenden Texten. Die Zahl der mauritischen Autorinnen und Autoren ist groß, und ein oder zwei von ihnen haben sogar Eingang in den Kanon der französischsprachigen Literatur gefunden. Robert Edward Hart (1891–1954) beispielsweise, dessen Haus in Souillac heute als ein intimes kleines Literaturmuseum dient, ist für die Eleganz und die emotionale Prägnanz seiner Gedichte aus der Vorkriegszeit immer wieder hochgelobt worden. Man wird ihn wohl einen Lokalpatrioten nennen müssen: Terre des Morts et des Vivants (1925) Rien n’est doux à mon Cœur autant que cette terre Où j’ai vécu. Rien n’est plus haut que le ciel. Rien N’est plus sûr que la Mer Indienne où mes pères Ont arrêté l’élan de leur nef. Tout est bien Puisque, triste comme Jason en deuil des Toisons d’Or, J’ai retrouvé du moins le cœur de la patrie Où repose mon Cœur dont la fièvre s’endort Au rhythme familier des choses tant chéries. Ici je puis encore évoquer mon enfance, Parmi le paysage où sommeillent mes morts, Et, penché sur le sol, écouter clairs et forts Les conseils maternels de mon Île de France. Ici je suis moi-même et tel que je me veux. Farouche et tendre, libre et doux, triste et joyeux Terroir qui m’a nourri, je te donne un poète, Et si je te dois mieux pour te payer ma dette Voici tout mon amour, mon bel amour d’hier: Un peu de cendre, hélas, dans le creux de ma main. Je mêle cette cendre à ton sol riche et fier. Puisse-t-elle fleurir une rose demain. 422

Im Land der Kreolen und Dodos

Nichts andres scheint mir süß, so süß wie dieses Land, wo ich gelebt hab. Nichts höher als sein Himmel, keins sichrer als das Indische Meer, wo meiner Väter Hand das Drängen ihrer Schiffe anhielt. Gut ist’s daheim, denn wie einst Jason gram, trauernd um Goldne Vliese, hab’ ich doch schließlich noch der Heimat Herz entdeckt, wo mein Herz ruhen kann vom Fieber in der Süße, dem altvertrauten Rhythmus, der in den Dingen steckt. Hier kann, heute wie damals, noch einmal Kind ich sein, inmitten einer Landschaft, da meine Toten ruhn, und erdwärts gebeugt hören – laut spricht’s, mit klarem Ton –, was Mutter Île de France mir rät, mir einzig und allein. Hier bin ich ich, kann sein, was ich zu sein begehre. O wildes, sanftes Land, süß, frei, doch voller Schwere wo fröhlich du mich nährtest, ich gebe mich dir hin – als Dichter, wenn du willst. Wenn ich zu wenig bin zur Tilgung meiner Schuld, nimm auch noch meine Liebe, all meine schöne Liebe aus schöner, alter Zeit – ein Häuflein Asche, ach!, mir in die Hand gestreut. Die Asche misch ich deiner so stolzen Erde ein – Soll morgen reich sie blühn als Ros’ im Sonnenschein.45

Die Créolie ist für den Fremden aus Europa dagegen weniger leicht zugänglich. Ihre Wurzeln liegen in den mündlichen Traditionen der Sklaven, die ja allermeist Analphabeten waren. Erst in den letzten Jahren sind diese Traditionen verstärkt in das allgemeine Bewusstsein getreten. Und man kann sie (wie ja das meiste im Internetzeitalter) ganz einfach online kennenlernen – oder anders gesagt: kapav ekoute onnlainn. Einer der führenden Vertreter der Créolie ist der frühere Maoist, einstige Student der Universität Edinburgh und langjährige MMM-Politiker Dev Virahsawmy (* 1942), der unter anderem Shakespeare und den Struwwelpeter ins Morisyen übersetzt und sich auch als Dichter einen Namen gemacht hat. Sein erklärtes Ziel ist es, auf dem Weg der Sprache und der Literatur zur Stärkung des nationalen Gemeinschaftsgefühls auf Mauritius beizutragen. Schaut er auf seine Heimat, dann sieht er weniger die historische Bedeutung der Franko-Mauritier (die er als „Eurokreolen“ tituliert), sondern vielmehr die Entwicklungen der Gegenwart: Mo pei li pa zis enn tapi karo kann Zis kristal fangourin ek parfin tamarin; 423

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Li pas zis enn choue pu sef roulman ravann Zis kadans saurian bann transink kas lerin …

Mit diesen Zeilen müssen meine geneigten Leserinnen und Leser wohl – so gut es geht – allein zurechtkommen … In vieler Hinsicht der ursprünglichste und aufregendste Zweig der mauritischen Kultur hört auf den Namen séga, das ist eine einzigartige Kombination von Gesang und Tanz, die während der Sklavenzeit entstanden ist und als Ausdrucksform der Armen und Unterdrückten auch sehr viel später noch den Unmut der britischen Kolonialbehörden auf sich gezogen hat. Die Lieder dieser spezifisch mauritischen Kunstform  – die aus historischen Gründen vielleicht mit dem Blues und Gospel der Sklaven in den amerikanischen Südstaaten vergleichbar ist – werden natürlich auf Morisyen gesungen. Die Instrumente, die zu ihrer Begleitung aufspielen, stammen aus Afrika: der bobre (ein Musikbogen mit hölzernem Resonanzkörper), die ravanne (eine straff mit Ziegenhaut bespannte Rahmentrommel) und die maravanne (eine flache, rechteckige Rassel aus Holz und Zuckerrohrmatten, die mit Reis oder Bohnen gefüllt ist), dazu die bescheidene Triangel. Der Séga-Rhythmus ist schwer und geradezu hypnotisch. Und der dazugehörige Tanz, dessen Wurzeln wohl in den magischen Ritualen traditioneller afrikanischer Stammesreligionen zu finden sind, versetzt die Beteiligten mit seinen erotischen Bewegungen in eine Art von Trance. Unter den vielen großen Namen der Séga-Tradition stechen zwei besonders hervor: Der eine, Ti Frère („Kleiner Bruder“), war eigentlich ein Künstlername, unter dem Jean Alphonse Ravaton (1900–1992), der unangefochtene Anführer des gegenwärtigen Séga-Revivals, auftrat. Bei einem Musikfestival, das 1964 vor der symbolträchtigen Kulisse von Le Morne stattfand, wurde er zum „König der Séga“ gekrönt. Der andere Name, Kaya, war gleichfalls ein „Deckname“ und gehört zu Joseph Reginald Topize (1960–1999), der trotz seines frühen Todes dadurch unsterblich geworden ist, dass er – inspiriert durch sein Idol Bob Marley – die traditionelle séga mit jamaikanischen Reggae-Rhythmen kombiniert und auf diese Weise einen neuen Musikstil erfunden hat: seggae. In die politische Geschichte von Mauritius ist er leider eher durch die schweren Unruhen eingegangen, die im Februar 1999 ausbrachen, nachdem Kaya wegen Drogenbesitzes festgenommen und – unter reichlich dubiosen Umständen – im Polizeigewahrsam zu Tode gekommen war. Eigentlich hatte er gerade auf Kaution freigelassen werden sollen. Aber dann lag er am Morgen des 424

Im Land der Kreolen und Dodos

21. Februar, es war ein Sonntag, plötzlich tot in seiner Zelle. Angeblich war er im Wahn des Drogenentzugs immer wieder gegen die Zellenwände gerannt und hatte sich dabei eine tödliche Schädelfraktur zugezogen (was ein unabhängiger Gerichtsmediziner jedoch anzweifelte). Als die Nachricht von seinem Tod in Port Louis die Runde machte, war in der Stadt die Hölle los. Kayas Schicksal erinnerte viele nur allzu sehr an jenes dunkle Erbe von Unterdrückung und Ausbeutung, zu dessen Linderung die séga einst erfunden worden war. Dennoch geht der Tanz weiter. Und zwar praktisch genauso, wie ihn frühe französische Augenzeugen im späten 18.  Jahrhundert beschrieben haben. Sie staunten damals vor allem über die ungeheure Vitalität der Darbietungen: Die Tänzer machen kleine Schritte zur Seite, die von einem Schütteln der Hüften begleitet werden. Sie tanzen in Paaren, wobei der Mann die Frau anschaut und die Frau den Mann. Manchmal dreht er sich um sie herum oder entfernt sich, bis er sie fast verloren zu haben scheint; doch dann nähern sie sich einander wieder an, bis sie sich streifen, jedoch niemals anfassen. Manchmal tritt ein zweiter Mann zwischen sie; dies nennt man „Schneiden“. Die Frau tanzt dann mit ihm, bis sie wiederum „abgeschnitten“ wird. In gewissen Abständen hockt das tanzende Paar sich einander gegenüber auf den Boden, wobei ihrer beider Becken andauernd vor und zurück wackeln. … Und dann beugen sie sich im Wechsel übereinander, wobei der jeweils Zweite sich nach hinten biegt, bis er den Boden berührt; dann kehrt sich die Bewegung um und geht in die entgegengesetzte Richtung. Dieser Tanzschritt, der „en bas en bas“ oder „ter a ter“ genannt wird, symbolisiert den Geschlechtsakt, der hier jedoch sublimiert und gleichsam transzendiert wird, da ihre Körper sich niemals tatsächlich berühren. Musiker und Tänzer stehen in einem ständigen Austausch. Die intensive Erregung des Tanzes wird durch dessen Rhythmus noch gesteigert, aber auch durch die Lautmalerei [der gesungenen Texte] sowie durch die knappen, schneidigen Einwürfe [des Publikums]: alalaila! Mo vini! Bouze to le reins! und en bas en bas! …46

Amen, Amen. Bouze to le reins! Bliebe noch das Essen. „Eine mauritische Küche gibt es nicht“, hat einer der besten Köche der Insel, Nizam Peeroo, einmal gesagt, „sondern es gibt viele mauritische Küchen. Mauritius ist der einzige Ort auf der Welt, wo die 425

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indische, die chinesische und die französische Kochkunst gleichberechtigt nebeneinanderstehen.“ Als Maître Peeroo diesen Ausspruch tat, war er gerade als eine Art „kulinarischer Reisebegleiter“ mit einem englischen Kollegen, dem Spitzen­ gastronom Henry Dimbleby, unterwegs. Dimbleby gehört in Großbritannien eine Restaurantkette namens „Leon Restaurants“; außerdem schreibt er eine Gastro-Kolumne für den Guardian. Nizam Peeroo seinerseits entstammt in fünfter Generation einer Familie, deren Ahnen als Plantagenarbeiter von Indien nach Mauritius gekommen sind, und er ist stolz auf seine Herkunft. Den Erkundungsgang mit seinen Gästen begann er frühmorgens auf dem zentralen Großmarkt von Port Louis: Die Stände biegen sich unter … Zucchini, Knoblauch und den kleinen Tomaten, die sie hier pommes d’amour nennen, „Liebesäpfel“. Tamarinden und frische Kurkumawurzeln liegen dicht gedrängt neben Bündeln von Bockshornklee und Curryblättern. Sträußchen aus Kürbisblättern, Karottenkraut, Kohl, Sellerie und Rüben werden als Grundlage für eine würzige Gemüsebrühe feilgeboten. Am südlichen Ende des Marktes haben sich die Spezialisten versammelt. … Eine von ihnen verkauft ticheviatta: getrocknete, ein wenig streng riechende Süßwasserkrebse, die mit Chilischoten und Knoblauch zu einer Würzpaste namens mazaravou verarbeitet werden, einer häufigen Beigabe zu Reisgerichten. Ein anderer hat ausschließlich Chilis im Angebot; auf Mauritius gibt es acht verschiedene Sorten … [und jede] hat ihren eigenen kreolischen Namen, der den Grad ihrer Schärfe bezeichnet, von der kleinen grünen petard („Knall­ fröschlein“) bis zur hochexplosiven roquette („Rakete“) …

Mit einem lehrreichen Bummel die Corderie Street hinunter in Richtung Hafen und Promenade wird die Exkursion fortgesetzt: Mauritius kennt viele Küchen – aber irgendwie auch nur eine einzige. … Man bekommt scharfe Currys aus Süd- und milde aus Nordindien, chinesisches Dim Sum, ein typisch französisches bœuf bourguignon oder etwas Pikantes aus der kreolischen Küche – und das alles in ein und demselben Restaurant! Und wenn man das große Glück hat, an einem Sonntagmittag zu einem traditionellen mauritischen Familienessen eingeladen zu werden, zu dem jedes Familienmitglied etwas anderes mitbringt, kann es durchaus passieren, dass einem all diese Spezialitäten sogar als Bestandteile einer und derselben Mahlzeit serviert werden. 426

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Wie Henry, von dem diese Zeilen stammen, mir später erzählte, hatte er selbst dieses „große Glück“. Seine Reisebegleiter und er waren nämlich zum Mittagessen in die Strandvilla eines örtlichen Parlamentsabgeordneten eingeladen und hofften schon vorher, dass sie dort all die Köstlichkeiten würden probieren können, von denen Nizam ihnen vorgeschwärmt hatte: achard (ein Salat aus eingelegten Gemüsen), vindaye ourite (ein scharfes Tintenfisch-Vindaloo), dholl puri (kleine Pfannkuchen aus Linsenmehl) – oder vielleicht doch ein Curry mit einer eher ungewöhnlichen Fleischeinlage, wie etwa carri sauve-souris (Fledermaus-Curry) oder carri tangue (als Curry zubereiteter mauritischer Igel mit Reis): Zwanzig Familienmitglieder sind zum Essen gekommen … und vor uns wird die ganze Palette der mauritischen Kochkunst aufgebaut. Die Schwiegermutter [der Gastgeberin], die in einer Schale fette mauritische Oliven eingelegt hat – köstlich! –, erzählt uns von der Zeit vor der Unabhängigkeit [1968] … „Hat sich viel verändert zwischen damals und heute, zwischen dem alten und dem neuen Mauritius?“, fragt [Henry]. „Ich liebe sie beide“, sagt die alte Frau, „ich liebe sie beide genau gleich.“47

Als ich einen mauritischen Kollegen auf Henrys enthusiastische Ausführungen anspreche, stoße ich auf Skepsis. Das entscheidende Wort in der eingangs zitierten Aussage Nizam Peeroos ist, wie es scheint „nebeneinanderstehen“ – man darf nicht erwarten, dass die drei großen Küchentraditionen von Mauritius vollkommen miteinander verschmolzen wären. In der Regel, sagte man mir, mögen die Chinesen keine Currys, und die Inder halten sich von chinesischen Gerichten fern – angeblich aus der (unbegründeten) Angst heraus, ihnen könnte Hundefleisch vorgesetzt werden. Und natürlich würde kein anständiger Hindu ein bœuf bourgoignon – diese heilige Kuh der französischen Küche – auch nur anrühren! Doch dann stand auch schon unser Aufbruch bevor. Jetzt war es an der Zeit, „Bye“ und „Orewar“ zu sagen und an eine Bemerkung zu denken, die oftmals Mark Twain zugeschrieben wird: „Gott hat zuerst Mauritius erschaffen – und nach dessen Vorbild dann das Paradies.“ Ob Twain das bei seinem (verbürgten!) Besuch auf der Insel 1896 wirklich so gesagt hat? Wer weiß. Unter Twain-Experten hält man den Satz für ein ordinäres Fehlzitat. Aber selbst, wenn: Er ist vermutlich inspirierender als alles, was Mark Twain in Sachen Mauritius tatsächlich von sich gegeben hat. Und mäkelige Pedanterie würde wohl nur dafür sorgen, dass unsere süßen Erinnerungen an diese wahrhaft paradiesische Insel mit ihren intensiven Farben und 427

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ihrer Kultur einer ebenso intensiven métissage im Nachhinein noch einen bitteren Nachgeschmack bekämen … Zweimal wöchentlich fliegt Air Mauritius nach Perth im Westen Australiens. Der Flug MK440 hebt dienstags und donnerstags um 22:10  Uhr ab, landet – fünf Zeitzonen weiter – um 9:10 Uhr morgens und kehrt am nächsten Tag als MK441 wieder nach Mauritius zurück. Anders als einst Abel Tasman weiß der Flugkapitän genau, wohin die Reise geht, und er bringt sein Luftfahrzeug – das gut einhundert Mal schneller unterwegs ist als Tasmans Segelschiff – sicher ans Ziel. Als ich jedoch über jenen Teil des Indischen Ozeans flog, den Tasman und seine Leute damals durchqueren mussten, befand sich alle Welt wegen eines anderen Fluges in heller Aufregung: Was war nur aus dem MalaysianAirlines-Flug MH370 geworden? MH370 hätte am 8. März 2014 von Kuala Lumpur nach Peking fliegen sollen und war auch planmäßig kurz nach Mitternacht losgeflogen, mit Kurs Nord-Nord-Ost in die tropische Nacht. An Bord befanden sich 239 Menschen, darunter die zwölf Mitglieder der Crew. Der Kapitän, Zaharie Ahmad Shah, war mit seinen mehr als 18 000 Flugstunden einer der erfahrensten Verkehrspiloten Malaysias. Auch der junge Kopilot, Fariq Abdul Hamid, hatte in seinen rund 3000 Flugstunden schon einiges an Erfahrung gesammelt. Beide Männer waren, was ihre körperliche und geistige Fitness sowie ihr fliegerisches Können betraf, tadellose Profis. Eine Stunde nach dem Start hatte die Maschine ihre Reiseflughöhe von 11 000 Metern erreicht und befand sich bereits über dem Golf von Thailand. Beim Verlassen des malaysischen Luftraums werden wohl die Lichter in der Passagierkabine gedimmt worden sein, und die Passagiere – überwiegend Chinesen – haben sich dann vermutlich bald in ihre Decken gekuschelt und versucht, ein wenig zu schlafen. Routiniert sandte die Stimme eines der Piloten im Cockpit eine Standard-Abschiedsbotschaft an die malaysische Bodenkontrolle: „All right, good night! Malaysian Three-Seven-Zero.“ Das war das Letzte, was man von dieser Stimme jemals hören sollte. In der Folge wurde – unter bislang völlig ungeklärten Umständen – der im Cockpit befindliche Flugfunktransponder von Hand abgeschaltet, was den hauptsächlichen Kommunikations- und Ortungskanal der Maschine unterbrach. Zugleich erfolgte ein Zugriff auf den Bordcomputer, der die Flugroute durch das Einfügen eines neuen Wegpunktes radikal veränderte; dieses Manöver kann nur jemand ausgeführt haben, der die dafür nötige, sehr spezielle Ausbildung erhalten hatte. Ob der Zugriff auf den Bordcomputer von einer Person ausgeführt wurde, die sich im Flugzeug befand, ist unklar. Nach 428

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dieser Manipulation muss der riesige Jumbojet – eine Boeing 777-300ER (für „Extended Range“, „erhöhte Reichweite“) mit einem Gewicht von rund 260 Tonnen und einer Spannweite von rund 65 Metern – einen Wendekreis beschrieben haben, der sie, schräg gestellt zwischen dem Himmel und dem nachtschwarzen Meer, in Richtung der malaysischen Küste zurückführte. Eine Zeitlang war in den Berichten über den Zwischenfall irreführenderweise von einem „Punkt des Verschwindens“ die Rede, wenn es um die Gegend und den Zeitraum ging, in denen dieses Wendemanöver ausgeführt wurde. Tatsächlich war es so – wie die malaysischen Behörden später zugeben mussten –, dass das Flugzeug bei seiner Rückkehr noch immer auf den Radarschirmen der malaysischen Luftwaffe zu sehen war und durchaus beobachtet wurde, als es die Malaiische Halbinsel entlang der thailändischmalaysischen Grenze erneut überquerte, um dann entlang der Straße von Malakka nach Norden zu drehen. Einigen Berichten war zu entnehmen, dass die Maschine dabei ein äußerst seltsames Flugverhalten zeigte, erst sehr hoch, dann wieder ungewöhnlich niedrig flog, und dass ihre automatische Satelliten-Dateneinheit (SDU) erfolglos versucht hatte, einen sogenannten elektronischen handshake („Händedruck“) mit der Bodenstation durchzuführen. Dennoch wurde ein anderes Automatiksystem an Bord, das Aircraft Communications Addressing and Reporting System (ACARS), das in regelmäßigen Abständen nicht-positionsbezogene Daten funkt, hier aber zunächst ausgesetzt hatte, nach einer Weile neu gestartet. Was aber am seltsamsten war: MH370 setzte keinerlei Notruf ab, und vom Boden stiegen keine Abfangjäger auf, um den irregeleiteten Jumbo zu eskortieren. Das malaysische Militär war offenbar zu der Einschätzung gelangt, dass es sich  – bei aller Merkwürdigkeit – nicht um einen „feindseligen Vorfall“ handele. MH370 war also nicht wirklich „verschwunden“, bevor er nicht, irgendwann in den frühen Morgenstunden, die Reichweite der Radarstationen verließ. Die letzte bekannte Position der Maschine war etwa 100 Kilometer nördlich der indonesischen Küste von Aceh auf der Insel Sumatra und gut 1000 Kilometer östlich von Sri Lanka; sie flog mit Kurs West-Nord-West in Richtung der Andamanensee. An diesem Punkt müsste die Boeing 777 (es handelte sich ja um die Langstreckenausführung) noch genug Treibstoff für einen Flug von fünf bis sechs Stunden gehabt haben; und hier war es, dass die ACARS-Signale wieder einsetzten. Auf der Grundlage dieser Funksignale und der verbleibenden Reichweite des Jets haben Satellitentechniker rekonstruiert, wo der Flug von MH370 überall geendet haben könnte. Der Bogen der mutmaßlichen Endpunkte erstreckt sich von Westaustralien bis nach Kasachstan. Um 7:40 Uhr am Morgen nach dem 429

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Start – eine Stunde nach der erwarteten Ankunftszeit in Peking – meldete die malaysische Regierung MH370 schließlich als vermisst.48 Während der ersten paar Tage konzentrierten sich die Suchaktionen auf das Areal zwischen Malaysia und Vietnam und damit auf einen Bereich, von dem zumindest manche der Verantwortlichen auf malaysischer Seite – wenn auch vielleicht nicht deren vorgesetzte Minister  – gewusst haben müssen, dass MH370 dort ganz bestimmt nicht zu finden sein würde. Erst nach einer Weile begann man auch in der Straße von Malakka und der Andamanensee zu suchen, nachdem Inselbewohner von einem großen Flugzeug berichtet hatten, das offenbar in Not gewesen war. Aber erneut blieb die Suche ohne Erfolg. Keine bestätigten Sichtungen, keine Wrackteile, kein Ölteppich, keine Nachricht von etwaigen Entführern, Selbst­ mord­attentätern oder sonstigen Terroristen. Bald war von einem „absoluten Rätsel“ die Rede, und die malaysische Regierung musste wegen ihrer miserablen Informationspolitik harte Kritik einstecken. Eine große Zahl von Angehörigen und Freunden der chinesischen Flugpassagiere sammelte Geld für einen unabhängigen Suchfonds, weil sie glaubten, die Behörden verheimlichten absichtlich, was sie wussten. In der zweiten Woche nach dem Verschwinden von MH370 schossen die Verschwörungstheorien ins Kraut. Angeblich war der Jumbojet sicher auf einer der zu Indien gehörenden Andamaneninseln gelandet und dort versteckt worden. Oder aber er hatte den Himalaya überflogen und war von uigurischen Rebellen nach Westchina entführt worden. Oder der Mossad steckte dahinter. Oder russische Spezialeinheiten hatten das Flugzeug „gestohlen“ und waren damit nach Kasachstan geflogen. Oder aber CIAAgenten hatten es unter ihre Kontrolle gebracht und auf die amerikanische Luftwaffenbasis von Diego Garcia gelotst. (Die letztgenannte Theorie beruhte vielleicht auf dem westlichen Kurs, den die Maschine zum Zeitpunkt ihres Verschwindens eingeschlagen hatte.) Nachdem Behauptungen aufgetaucht waren, denen zufolge das Flugzeug in seinem Laderaum Goldbarren transportiert hatte, unter den chinesischen Passagieren einige hoch qualifizierte Luftfahrtspezialisten gewesen und zwei an Bord befindliche Iraner mit gefälschten Pässen gereist waren, überschlugen sich die Spekulationen noch weiter. Wiederholt meldeten Freunde und Verwandte der Vermissten, beim Anruf auf deren Mobiltelefonen sei noch immer ein „Läuten“ zu hören. Die BBC veröffentlichte auf ihrer Internetseite eine ganze Liste mit solchen Theorien und vermeintlichen Auffälligkeiten. Die verblüffendste unter ihnen behauptete, ein Flugzeug ohne Flugfunktransponder – oder eben mit ausgeschaltetem 430

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Transponder – könne selbst den am besten überwachten Luftraum unentdeckt durchqueren, wenn man es dazu in den Radarschatten eines vorbeifliegenden anderen Flugzeugs lenke. Und tatsächlich hatte just zur fraglichen Zeit der Singapore-Airlines-Flug SIA68 – ebenfalls eine Boeing 777 – die wahre „Zone des Verschwindens“ von MH370 überflogen.49 In der dritten Woche drehte sich plötzlich alles um neue Informationen, die aus Satellitendaten stammten. Die Chinesen veröffentlichten Aufnahmen von mutmaßlichen Trümmerteilen, die 2500  Kilometer südwestlich von Perth (Westaustralien) im südlichen Indischen Ozean trieben. Das größte Einzelstück war, dem Vernehmen nach, 23 Meter lang und ähnelte der Form nach der Tragfläche eines Flugzeugs. Eine britische Firma namens Inmarsat, die Netze für Satellitentelefone betreibt und behauptet hatte, die ACARS-Signale von MH370 empfangen und entschlüsselt zu haben, bestätigte daraufhin ein zuvor vermutetes Flugmuster, das ungefähr in derselben Gegend endete. Bei einer Pressekonferenz gab der malaysische Premierminister mit zitternder Stimme bekannt, der verhängnisvolle Flug habe „im südlichen Indischen Ozean geendet“. Noch einmal verschob sich also der Schwerpunkt der Suchbemühungen, und auf dem Stützpunkt der australischen Luftwaffe im westaustralischen Pearce fand sich eine ganze Armada von Suchflugzeugen und – in den nahe gelegenen Häfen – von Suchschiffen ein. Aber außer jeder Menge „Meeresmüll“ wurde nichts gefunden. In der vierten Woche verschob sich der Fokus der Suche noch einmal auf einen anderen Bereich des Ozeans und die Chinesen verkündeten, eines ihrer Schiffe habe tief im Meer einen „Ping“ entdeckt, dessen Profil zu den Signalen eines Flugdatenschreibers („Blackbox“) passte. Dann trafen Schiffe der 7. US-Flotte mit hochsensiblen Schleppsonar-Geräten ein, die mit ihren Mikrofonen dicht über den Meeresgrund gezogen werden können. Die HMS Echo, ein hydrografisches Vermessungsschiff der britischen Marine, war ebenfalls im Einsatz und steuerte Bergungsgerät für den Tiefseeeinsatz bei. Die Australier machten ein Mini-U-Boot bereit, dessen Kameras noch 4500 Meter unter der Meeresoberfläche Fotos machen können. (Zum Vergleich: Das Wrack der Titanic liegt in 3800 Metern Tiefe.) Der australische Premierminister Tony Abbott gab zu Protokoll, er sei „sehr zuversichtlich“, was einen baldigen Durchbruch bei der Suche angehe. Spätestens zu diesem Zeitpunkt, so viel war klar, mussten die Batterien der Flugschreiber von MH370 zur Neige gehen, und obwohl im Laufe der Zeit vier „akustische Vorfälle“ registriert worden waren, hatte keiner von ihnen zu einem signifikanten Fund geführt. Den Suchenden lief die Zeit davon, aber selbst die besten Ozeanologen konnten nicht mehr tun, als 431

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einer ungeduldigen Öffentlichkeit immer wieder die ungeheuerliche Grö­ ßenordnung ihres Suchvorhabens zu veranschaulichen. Einer drückte es so aus: „Wir suchen die Nadel im Heuhaufen, aber den Heuhaufen haben wir leider noch nicht gefunden.“ Ein anderer wies darauf hin, dass selbst die Mondoberfläche inzwischen besser kartiert sei als der Grund des Indischen Ozeans. Noch das reduzierte Suchgebiet entsprach in seiner Größe etwa der Fläche Polens, und die verfügbaren Suchinstrumente arbeiteten nur im Schneckentempo. Ein Unterwassergebirge des fraglichen Gebiets, die ­Broken Ridge, bildet ein vergleichsweise flaches Plateau, aber das sogenannte Diamantinatief, das am Fuß einer riesigen Bruchkante ebenfalls innerhalb des Suchgebiets liegt, reicht bis auf 8047 Meter Meerestiefe hinab – das ist der tiefste Punkt im ganzen Indischen Ozean. In diesem gigantischen Abgrund könnte man problemlos den Mont Blanc versenken, und es schien keineswegs ausgeschlossen, dass die Trümmer von MH370 irgendwo auf der Flanke eines Tiefsee-Eiger zu liegen gekommen oder am kohlrabenschwarzen Grund eines ozeanischen Grand-Canyon-Zwillings zermalmt worden waren. In 6000 Metern Tiefe beträgt der Wasserdruck rund 60 Megapascal, das entspricht einem Gewicht von 611 Kilogramm pro Quadratzentimeter. Unter solchen Bedingungen hat nur hochgradig spezialisiertes Tiefseegerät überhaupt eine Chance. An dem Tag, an dem ich – aus genau 3711 Metern Höhe – selbst einen kurzen Blick auf das Suchgebiet werfen konnte, wurden die Flugschreiber von MH370 offiziell für „tot“ erklärt. Mit einer Hand schirmte ich meine Augen vor der blendenden Sonne und spähte nach unten, immer in der Hoffnung, noch etwas anderes zu entdecken als Wolken und Wellen. Aber ich sah nichts. Absolut nichts. Der Flugkapitän machte irgendeine langweilige Durchsage, während die Stewardessen in den Gängen Plastikbecher mit Wasser verteilten; die meisten Passagiere hatten die Blenden an ihren Fenstern geschlossen und dösten oder schlummerten – von der Welt außerhalb des Flugzeugs nahmen sie nichts wahr. Ich hatte reichlich Zeit, über die Faktenlage im Fall MH370 – soweit sie mir bekannt war – noch einmal gründlich nachzudenken, und kam zu dem Schluss, dass die andauernde Suche vor der Küste von Westaustralien wohl am ehesten mit dem Fehlen plausibler Alternativen zu erklären war. Die Annahme, das Flugzeug sei ausgerechnet dort in den Ozean gestürzt, schien mir zweifelhaft (und sie scheint es mir noch heute). Irgendwie hatte ich das Gefühl, MH370 müsse irgendwo anders geendet sein. Noch während ich den Ozean überflog, schloss ich mit mir selbst eine Wette ab: Ich wettete, dass das Schicksal von MH370 nicht gelüftet sein würde, bevor dieses Buch hier veröffentlicht war. 432

8. Tassie: Das „Down Under“ von „Down Under“

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8. Tassie

Indem sie Abel Tasman auf die Suche nach dem „Südland“ schickten, bemühten sich die Herren der Niederländischen Ostindien-Kompanie (Vereenigde Oostindische Compagnie, VOC) um eine Kategorie des Wissens, die der große Erkenntnistheoretiker Donald Rumsfeld als das „bekannte Unbekannte“ bezeichnet hätte. Sie waren sich bewusst, dass sie nicht genau wussten, wo das Südland liegt oder wie groß es war, aber sie wussten, dass dort irgendetwas auf seine Entdeckung wartet. Ihre Zuversicht basierte auf zwei Annahmen, einer zutreffenden und einer falschen. Die falsche war die Existenz eines Landes mit Namen Beach oder Beoach, das frühe Kartografen, wie etwa Abraham Ortelius es 1570 getan hatte, auf Karten von Südostasien verzeichneten. Der Irrtum entstand durch eine fehlerhafte Interpretation von Marco Polos Il Milione. (Zu Tasmans Befehlen gehörte daher auch, Beoach als mögliches Ziel zu erkunden.) Die zutreffende Annahme basierte auf der verifizierten Existenz von mehreren Küstenabschnitten, weit jenseits von Java, die von niederländischen Vorgängern Tasmans, vor allem von Thijsz, van Colster, Hartog und Janszoon, besucht und beschrieben worden waren. All diese Seefahrer gehören zum Kollektiv der „Entdecker“ Australiens.1 1627 segelte Frans Thijsz (auch François Thijssen, gestorben 1638?) auf einem Schiff mit dem wunderschönen Namen ’t  Gulden Zeepaerdt (Das goldene Seepferd) vom Kap der Guten Hoffnung nach Batavia. Vom Kurs abgekommen, landete er zufällig an einer völlig unerwarteten Landmasse. Er betrat sie nicht nur, sondern kartografierte auch sorgfältig mehr als 1500  Kilometer der nach Süden weisenden Küstenlinie und gab ihr den Namen des mitreisenden VOC-Kollegen Pieter Nuyts. Doch die Leistungen des Frans Thijsz sind längst vergessen. Nur wenige dürften von Nuytsland gehört haben, das heute an der trockenen Küste Südaustraliens liegt, noch weniger vermutlich vom Nuyts Archipel. Allerdings griff ein Jahrhundert später Jonathan Swift den Namen auf: In Gullivers Reisen (1726– 1735) ist Nuytsland die Gegend, in der er das Land Liliput vermutet. Bereits 1622 erblickte die Besatzung des niederländischen Schiffs Leeuwin (Löwin) Land an der südwestlichsten Ecke Südlands und kartografierte ein paar Meilen der umgebenden Küste. Im Übrigen ist wenig über die Reise bekannt. Nur der Name Kap Leeuwin tauchte noch vor Ende des Jahrzehnts auf niederländischen Karten auf. Auch 1623 war es ein niederländischer Kapitän, Willem van Colster, der von den südostasiatischen Inseln aus auf seinem Schiff Arnhem gen Süden segelte und dabei ähnliche Absichten wie Tasman verfolgte. Kurz zuvor hatte die VOC eine Niederlassung auf der Insel Sulawesi, jenseits von Java, 434

Das „Down Under“ von „Down Under“

Niederländische Expeditionen nach Australien, 1605 –1642 Borneo

Pazifischer Ozean

Sulawesi (Celebes)

Batavia

Makassar

Papua

Java Timor

Araf ura s e e

Tim o rsee

Indischer Ozean

Kap Keerweer

ARNHEM LAND (1623)

Kap-YorkHalbinsel (1606)

Ko ral l e nm e e r

N

Shark Bay

S

(1616)

Perth

A N D (1627) TSL Y NU Nuy t s Archi p el

Kap Leeuwin

Südlicher Ozean Van Diemen’s Land (1642) Tasmans Route 0

500

1000 km

gegründet und von den dortigen Händlern aus Makassar erfahren, dass sie, wie auch die javanischen Fischer weiter westwärts, das Südmeer überfuhren – in ihrem Fall auf der Suche nach Seegurken, die als Aphrodisiakum galten. Nachdem van Colster den Kontakt mit seinem Schwesterschiff, der Pera, verloren hatte, folgte er den Routen der Händler aus Makassar und stieß auf eine nach Norden weisende Küstenlinie, die er Arnhem Land taufte. Er glaubte, eine Halbinsel von Papua erreicht zu haben, war in Wirklichkeit aber an den Ausläufern Nordaustraliens gelandet. 435

8. Tassie

Kapitän Dirk Hartog (1580–1621) aus Amsterdam wurde von Westwinden im Indischen Ozean vom Kurs abgebracht und steuerte bereits 1616 sein Schiff Eendracht (Eintracht) an die Westküste von Südland. Er ging in der heutigen „Shark Bay“ an Land, wo die Landemannschaft eine beschriftete Hartzinntafel an einem Pfosten befestigte, welcher wiederum an der Spitze eines Kliffs aufgestellt wurde – in der Hoffnung, die Botschaft würde von nachfolgenden Entdeckern gefunden. Tatsächlich fand man die Hartog-Plakette rund 60  Jahre später wieder; heute ist sie im Amsterdamer Rijksmuseum zu besichtigen. Auf ihr steht zu lesen: 1616 den 25s Octoberis hier aengecomen het schip de EENDRACHT van Amsterdam de Opperkoopman Gillis Mibais van Luick. Schipper Dirck Hatichs van Amsterdam de 27 dito te seil geghn na Bantum, de Onder­ kopman Jan Stins, de Opperstivierman Pietr Dooke van Bill. Hier landete am 25. Oktober 1616 das Schiff EINTRACHT aus Amsterdam: Der erste Kaufmann [war] Gillis Mibais aus Luik [Lüttich]. Kapitän Dirk Hartog aus Amsterdam setzte am 27. desselben Monats die Segel, um nach Bantam [Banten] zu segeln, der Unter-Kaufmann [war] Jan Stins, der erste Steuermann Pietr Dooke aus Bill.2

Und auch Hartog dürfte nicht der erste Europäer gewesen sein, der die schwer zu fassende Terra Australis zu sehen bekam. Vortritt hatte vermutlich Willem Janszoon (auch Jansz oder Janssen geschrieben, etwa 1570–1630), ein erfahrener Ostindien-Kaufmann, der die Niederlande schon vor der Gründung der VOC verlassen hatte und später zum Admiral und Kolonial-Gouverneur aufstieg. Im Verlaufe seiner dritten Reise befehligte Janszoon von 1603 bis 1606 die Pinasse Duyfken (Täubchen), mit dem Auftrag, auf den zahlreichen Inseln östlich von Java neue Handelsmöglichkeiten aufzuspüren. Nachdem er die Arafurasee durchquert hatte, ging er am 26. Februar 1606 an einer Flussmündung der Westküste einer langen Halbinsel an Land. (Genau wie van Colster glaubte er, er sei auf Papua gelandet.) Er ließ Karten von der Küste zwischen dem 5. und 14. südlichen Breitengrad anfertigen, gründete eine Siedlung und nannte das Gebiet Nieu Zelandt (Neu-Seeland). Nachdem er zehn Männer seiner Besatzung in Auseinandersetzungen mit Aborigines verloren hatte, entschloss sich Janszoon zum Rückzug. Der Landspitze, an der er seine Rückkehr begann, gab er den Namen Kaap Keerweer (Kap Kehrwieder). Zu diesem Zeitpunkt muss sich Janszoons Leistung wie eine Niederlage angefühlt haben. Das von ihm entdeckte Gebiet besaß keinerlei kommerzi436

Das „Down Under“ von „Down Under“

ellen Wert. Der von ihm ausgewählte Name wurde nicht offiziell anerkannt und für eine spätere Verwendung aussortiert. Alles, was er erreicht zu haben schien, war eine kleine Ergänzung zu den Karten seiner Zeit. Doch glücklicherweise überdauerte Janszoons Tagebuch lange genug, damit Abschriften von ihm angefertigt werden konnten. Janszoons Bestürzung war offensichtlich: Große Gebiete waren fast völlig unkultiviert, und einige Gegenden von wilden, grausamen schwarzen Barbaren bewohnt, die einige unserer Matrosen abschlachteten, sodass wir keinerlei Informationen darüber einholen konnten, wo genau das Land lag und wie es um die verfügbaren und gewünschten Wirtschaftsgüter bestellt war.3

Die tödlichen Auseinandersetzungen mit den Aborigines wurden womöglich von der Gewohnheit der Seeleute angefacht, den Frauen der Eingeborenen nachzustellen. Erstaunlicherweise haben sich Erinnerungen an diesen kurzen Besuch der späteren Kap-York-Halbinsel (Queensland) in der mündlichen Überlieferung der Wik-Mungan erhalten. Etwa 400 Jahre später schrieb ein australischer Anthropologe die Erinnerungen der Aborigines an diese Episode nieder: Die Europäer kamen von Übersee und bauten ein Gebäude am Cape Keerweer. Sie sagten, sie wollten eine Stadt [gründen]. Nun, die Leute von Keerweer sagten, das sei in Ordnung. Sie erlaubten ihnen, einen Brunnen zu bohren und Hütten [zu errichten]. Am Anfang waren die Beziehungen gut. Die Europäer gaben ihnen Tabak, [den] sie behielten. [Sie] gaben ihnen Mehl … und Seife, [die] sie wegwarfen. Die Leute von Keerweer blieben bei ihrem Essen aus dem Busch.4

Solch flüchtige Begegnungen machen die Tatsache sehr augenfällig, dass eine geografische Entdeckung, wie fast alle wissenschaftliche Forschung, schrittweise und Zug um Zug verläuft, nicht auf einen Schlag. Bevor er Batavia im August 1642 verließ, dürfte Abel Tasman sich das gesicherte Wissen seiner Zeit angeeignet und sich mit den neusten Karten und Atlanten vertraut gemacht haben. Während seiner Fahrt ostwärts von Mauritius blickte er vermutlich erwartungsvoll über die Reling seiner Schiffe, der Heemskerk (Heimatkirche) und der Zeehaen (Knurrhahn), und zermarterte sich das Gehirn, wie aus den vielen unzusammenhängenden 437

8. Tassie

Informations-Häppchen ein kohärentes Bild zu formen sei. Tasman dürfte die Berichte über Arnhem Land, das Kap Keerweer und das Kap Leeuwin gelesen haben, konnte aber nicht sagen, ob sie durch Festland oder offenes Meer miteinander verbunden sind. (Wie wir, im Gegensatz zu ihm, heute wissen, sind sie durch mehr als 4800 Kilometer kontinentale Landmasse miteinander verbunden.) Und was nur füllte die Lücke zwischen Hartogs Shark Bay und dem Nuytsland von Thijsz? Womöglich wusste Tasman von den Gerüchten über frühere portugiesische Expeditionen und erwog auch die alte Theorie, nach der die Stabilität der Erde nur dann erklärt werden könne, wenn es einen großen südlichen Kontinent gebe.5 Als Tasman schließlich auf eine gen Westen gerichtete Küste stieß und sie nach dem damaligen Gouverneur von Batavia Van-Diemens-Land nannte, berechnete er ihre Lage auf 43 Grad und 10 Minuten unterhalb des Äquators. (Heute geht man davon aus, dass er in der Nähe des heutigen Macquarie Harbour gelandet sein dürfte.) Er konnte allerdings nicht sicher sein, ob er tatsächlich auf kontinentales Festland gestoßen war. Er fuhr die Küste gen Norden und Süden ab und umfuhr einige größere Vorsprünge, bevor er in die besonders komplizierte Bucht der „Storm Bay“ einfuhr, in der es von Riffen und Inseln nur so wimmelt. Als er sich mühsam wieder in den offenen Ozean zurückgekämpft hatte, wandte er sich erneut nach Osten, bevor er an der Landspitze der wunderschönen Halbinsel drehte, die heute seinen Namen trägt. Er, der wochenlang von Stürmen geplagt worden war, dürfte sich erfreut in den ruhigen Gewässern gesonnt haben, die sich im Windschatten der hoch aufragenden, grünen und braunen Kliffs befanden. Vielleicht lauschte er erstaunt der schäumenden Brandung an den leeren Stränden zu Füßen der Felsvorsprünge. Bei der Suche nach einem Ankerplatz sah er womöglich zuerst den schmalen Strand von Eaglehawk Neck, von dem aus man in die Storm Bay zurückschauen kann, und dann, rund 15 Kilometer weiter, eine zweite tief liegende Sandbank, die die eingeschlossene Bucht vom Ozean trennt. Während er sich noch bemühte, eine Zufahrt zu der heute als Blackman’s Bay bekannten Bucht zu finden, sprang der Zimmermann seines Schiffs über Bord, schwamm durch die Brandung und hisste an Land eine niederländische Flagge. Nur wenige Besucher machen sich heute die Mühe, am kleinen FischerPier von Dunalley in der Blackman’s Bay zu halten. Die Touristenbusse rauschen zumeist zu den besser beworbenen Sehenswürdigkeiten im nahe gelegenen Port Arthur. Aber die historische Stätte ist durchaus markiert. Ein einfaches, grün gestrichenes Holzschild verkündet: abel tasman 438

Das „Down Under“ von „Down Under“

expedition 1642. Und neben dem hüttenartigen Restaurant des Dorfes trägt eine schwarze Metallplatte, festgeschraubt am Betonsockel eines kleinen Denkmals, neben den Umrissen Tasmaniens folgende Inschrift: dieses denkmal wurde vom couverneur tasmaniens 1942 zur erinnerung an den 300. jahrestag der entdeckung dieser insel 1642 durch den ehrenwerten abel jans tasman errichtet. vom ersten steuermann visscher befehligte beiboote legten am 3. dezember 1642 in dieser bucht an.

Die Bass-Straße, die Festland Australien von seinen Inseln trennt, kommt durch löchrige Wolken in Sicht. Auf der Karte sieht sie wie der Ärmelkanal aus, doch in Wirklichkeit ist sie fast zehn Mal so breit; und ihr schnell fließendes Wasser ist notorisch rau. Sehr lange Zeit war sie unpassierbar, weshalb Tasmanien vollständig von ausgedehnten Phasen der Ur- und Frühgeschichte abgeschnitten war. Folglich weisen die natürliche Fauna und die einheimischen Menschen ganz besondere Eigenheiten auf. Die Autofähre zwischen Melbourne und Devonport an der Nordküste der Insel braucht zwischen neun und zehn Stunden, weshalb nur wenige Touristen sie nutzen. Aus 11 000 Metern durch ein Flugzeugfenster betrachtet, leuchtet das Meer in einem perfekten Blau, mit kleinen grünen Flecken versetzt. Es sind keine verräterischen Schiffswellen zu erkennen. Die leeren Inseln in der Straße – Flinders, King und Cape Barren Island – ziehen wie treibendes Strandgut vorüber. Hier ist Robinson Crusoe-Land. Ich könnte über die Inseln wandern, ohne einer einzigen Menschenseele zu begegnen, denke ich. Dann verschlucken uns die Wolken. Bevor wir landen, blicke ich noch einmal auf die Karte und stelle fest, dass die Ortsnamen der Insel unerschütterlich britisch sind. launceston liegt in der Nähe von exeter, derby bei st helens und swansea. Auf der Straße vom Flughafen weisen Schilder nach cambridge und glenorchy sowie lindisfarne. Ein Weg führt nach sandy bay, ein anderer nach port arthur. Es gibt Städte mit Namen wie penguin und flowerpot. Ein niedliches Städtchen nook k­ onkurriert mit snug und paradise sowie 439

8. Tassie

Tasmanien

King Island

Flinders Island

Cape Barren Island

Bass-Straße

Smithton Burnie

Penguin

George Town

Devonport Nook Paradise

Exeter

Derby

Dilston

St. Helens

Launceston Deloraine

Cradleberg Berg Gould

Strahan Macquar r ie Harbour

Bicheno

Marion-See

Sarah Island

Horseshoe/Russell Wasserfälle

Hobart

N

Gordon-See

Swansea

Ta s m a n i e n

New Norfolk

Great Oyster Bay

FreycinetHalbinsel

Maria Island

Richmond Bridge

Dunalley Wellingtonberg

TasmanHalbinsel

S Por t Davey

Tasman Arch Port Arthur

Storm Bay

Snug

Bruny Island Louisa Island

0

440

50

100 km

Das „Down Under“ von „Down Under“

dem Dorf nowhere else. Nichts weist darauf hin, dass die Tasmanier ihr Heimatland tassie und das australische Festland north island nennen. Auf diesem Teil der Reise begleitet mich meine Frau. Wir wissen nicht genau, was uns erwartet, aber Tasmanien eilt ein Ruf voraus. „Unsere Assoziationen mit Tasmanien ähneln denen mit Großbritannien“, erklärte uns ein australischer Freund: „sehr abgelegen, sehr feucht und voller altmodischer Typen.“ Doch da ist noch mehr. Australier erzählen geschmacklose Witze über „Taswegians“, genau wie es die Engländer über die Iren, die Franzosen über die Belgier oder die Amerikaner über die Polen tun. Laut dem Historiker Manning Clark, der eine sechsbändige Geschichte Australiens schrieb, verbindet Tasmanien „eine in der Luft liegende Heiterkeit“ mit „den dunklen Geheimnissen der menschlichen Seele“.6 An moderne Kunst hatten wir nicht gedacht. Auf einen Spaziergang am Strand oder eine Fahrt hinauf zum Mount Wellington hatten wir uns gefreut. Doch Regen prasselte auf uns nieder, und unsere Gastgeberin bestand darauf. Sie gab uns zu verstehen, das MONA, „The Museum of Old and New Art“, sei der Höhepunkt der Stadt.7 Also legten wir im Hotel nur schnell unsere Taschen ab und eilten durch den Regen nach Berriedale. Die meisten Besucher kommen mit der Fähre zum Museum. Der fantastische Komplex aus zeitgenössischen Gebäuden – ungewöhnlich geformt und vollständig aus Glas, Stahl und Beton – liegt neben einem schmalen Streifen offenen Wassers, im Hintergrund bewaldete Hügel, deren Gipfel von Wolken verborgen werden. „Das ist das Werk eines Einheimischen, eines Online-Poker-Spielers“, erklärt man uns. „Er hat sich ein Vermögen erspielt und dann seine Sammlung für das Publikum geöffnet.“ Für Tasmanier ist der Eintritt frei, alle anderen Erwachsenen zahlen 30 Dollar. Eine Dame reicht uns Kopfhörer sowie einen ferngesteuerten, an ein iPhone erinnernden Audioguide. „Wenn Sie neben einem Ausstellungsstück den roten Knopf drücken, leuchtet der Bildschirm auf, und Sie erhalten Informationen über den Künstler und das Konzept“, führt sie dazu aus. Ein Mann mittleren Alters und mit langen, strähnigen grauen Haaren geht vorüber. „Das ist Mr Walsh – Walshie“, erklärt man uns, ein Ausstellungsstück in seiner eigenen Ausstellung. „Die Steuer ist ihm auf den Fersen.“ Dann folgen die Warnungen. Die gesamte Ausstellung ist in tiefen Kellerräumen untergebracht. Die Werke sind weder beschriftet, noch werden sie in einer 441

8. Tassie

bestimmten Anordnung präsentiert. Die Desorientierung ist ein Teil der Übung. Antike Gegenstände, wie eine griechische Säule oder eine Vase aus der Ming-Dynastie, stehen direkt neben modernsten, pseudokünstlerischen Vorrichtungen – um auszuprobieren, ob sie auf einer Wellenlänge liegen. Der Fahrstuhl bringt uns in die Dunkelheit des dritten Untergeschosses. Ein ägyptischer Mumien-Sarg, bedeckt mit Hieroglyphen und begleitet vom Gesicht eines verstorbenen Arztes aus der 25. Dynastie, steht im Licht eines Strahlers. Wer möchte, kann sich zusammen mit ihm fotografieren lassen. Über die Wand der Galerie hinweg blickt man in einen düsteren Abgrund. An der gegenüberliegenden Steinbruch-Wand wird ein riesiges Display mit schätzungsweise 1000 bemalten Tafeln ausgeleuchtet, die zusammen eine Welle ergeben. Der Audioguide kündet The Snake (1972) von Sidney Nolan an. Dieses „Meisterwerk“, das vierzig Jahre lang im Lager verbracht hatte, werde bald wieder dorthin zurückkehren, woher es kam. Nichts soll hier Beständigkeit ausstrahlen. Etwas weiter liegen in einem Wandschaukasten einige wunderbare römische Goldmünzen – aurei aus der Zeit des Augustus. Daneben wird der Besucher mit einem metallisch ausgekleideten Modell des menschlichen Gehirns konfrontiert. Durch Luken schauen wir in das Gehirn hinein und erblicken ein dichtes Netzwerk elektrischer Verbindungen, die durch Lichtimpulse illuminiert werden. An jeder Kreuzung der Verknüpfungen öffnet und schließt sich ein kleines Buch, wobei ein winziger Vogel herausund hineinhuscht. Der Angriff auf die Sinne verstärkt sich. Der Eindruck einer Obsession mit Tod, Sex und Fäulnis schleicht sich ein. Von massiven Fleischerhaken an einem Stahlgerüst hängen Spulen mit Seilen herab. „Hier hing rohes Fleisch“, erläutert uns unsere Führerin, „bis es zu stinken anfing.“ Hinter der nächsten Ecke ist eine ganze Wand von einer kolossalen Grafik bedeckt, die dem Betrachter die hervorgehobenen Genitalien eines weiblichen Torso auf Augenhöhe präsentiert; die leuchtend roten Lippen sind eine Reminiszenz an Andy Warhols Porträt von Marilyn Monroe. Rohes Fleisch, erneut. Dann stehen wir vor der „Euthanasie-Couch“, auf der man an einem Computerbildschirm herumspielt, um seinen Selbstmord zu simulieren. Und es gibt, abgesenkt in der Tiefe, eine gewollt künstlerische Maschine, die die menschliche Verdauung nachahmt und künst­ liche Fäkalien produziert. „Kunst in ihrem alten Sinne ist passé“, vertraut uns die Hostess an. „Hier ist alles konzeptionell.“ 442

Das „Down Under“ von „Down Under“

Wir schneiden Grimassen, als wir uns die Köpfe stoßen am Durchgang in eine lange Bibliothek, in der alle Bücher vollständig weiß sind und nur leere Seiten enthalten. „Man muss sich vorstellen, was in ihnen stehen könnte.“ Keine gute Neuigkeit für einen Autor. Unbarmherzig wird der Angriff fortgesetzt, bis man sich nach dem Fahrstuhl und der Flucht an die frische Luft Tasmaniens sehnt. Beim letzten Stopp muss ein Knopf gedrückt werden, der die Zufriedenheit des Museumsbesuchers misst und die Wahl zwischen „Liebe“ und „Hass“ lässt. Drückt man „Liebe“, wird eine sehr große Zahl eingeblendet, etwa 16.707.234; was der Anzahl an Besuchern entspricht, die das eigene Gefühl der Zufriedenheit ebenfalls empfunden haben. Drückt man „Hass“, ertönt die eisige Botschaft: „Drei Prozent der Besucher teilen Ihre negativen Gefühle.“ Besucher, die also womöglich lieber für sich selbst gedacht hätten, erhalten die Nachricht: Jeder, der es wagt, die Verlockung von verfaulendem Fleisch oder leuchtend roten Vaginas infrage zu stellen, gehört zu einer seltsamen und marginalen Minderheit. Sobald man der Pressesprecherin des MONA entkommen ist, gehen die Meinungen noch weiter auseinander. Im Internet können Besucher ungezwungen schreiben, was sie denken. Einige halten es für ein „großartiges und interessantes Museum“ beziehungsweise für „exzentrisch, humorvoll und grotesk“. Doch die Meinung der Mehrheit kann zusammengefasst werden in einem „Was für eine Zumutung!“ „Kam auf Empfehlung ins Museum. Suchte eine tiefere Bedeutung, verließ es [aber] abgestoßen und irgendwie traumatisiert. … Ich bin nicht prüde, ich würde sagen, ich bin eher offen, aber diese Sammlung will nur herausfinden, wozu der unbeaufsichtigte menschliche Geist in der Lage ist.“ „MONA ist das Ergebnis, wenn man einer ganzen Generation sagt, es gebe keine falschen Antworten.“ „Besuchen Sie den Mount Wellington, besuchen Sie den Salamance Place … meinetwegen besuchen Sie die Cascade Brauerei. Aber lassen Sie das MONA links liegen.“8

Man kann dieses Missverständnis sehr schnell ausräumen, das aufkommt, wenn man das MONA für eine Kunstgalerie hält: Es ist vielmehr ein postmoderner Spielplatz, ein Vergnügungspark für Intellektuelle, der sich bemüht, einen so zum Schreien zu bringen, wie es früher der Geisterbahn gelang. Das MONA ist zudem ein Tempel der nihilistischen Gehirnwäsche, in dem die stumpfsinnige Masse überredet werden soll, das Konzept 443

8. Tassie

von Büchern mit leeren Seiten als Thrill zu empfinden. Man kann hinter dem MONA auch Kunst als Therapie vermuten, die Frage ist nur: Therapie für was? Die Streiche eines Joseph Beuys, einem der Pioniere der Aktionskunst, der seine Theorien über das Gesamtkunstwerk auch schon einmal einem toten Hasen darlegte, sind im Kontext des traumatisierten Nachkriegs-Deutschlands verständlich.9 Doch warum nur muss man dem im wunderschönen Tasmanien nacheifern? Vielleicht weil das „wunderschöne Tasmanien“ selbst einige Traumata zu überwinden hat, jene „dunklen Geheimnisse“, auf die Manning Clark hingewiesen hat. An diesem Abend servierte unsere Gastgeberin uns eine Platte mit Kängurufleisch; es fühlte sich wie eine Fortsetzung des MONA-Besuchs an. Man lässt uns wissen: „Es ist äußerst nahrhaft und hat nur wenig Fett.“ Oh Gott! Wir sind zurück am Tisch im Elternhaus: „Du furchtbar undankbares Kind! Es gibt Millionen armer Kinder auf der Welt, die hungern müssen.“ Die Stücke dunkel gegrillten Fleischs liegen auf einem Bett aus Couscous; die grünen Bohnen und die Rote Bete fügen Farbtupfer hinzu. Doch Essen ist etwas äußerst Subjektives. Alles, was ich vor mir sehe, sind reizende Pelzgeschöpfe, die fröhlich über den Rasen hoppeln. Ein heller Morgen bricht an. Der Regen hat aufgehört. Ein Kaktus streckt seine Dornen am Fenster entlang, und die Sonne wirft ein strahlendes Licht über die Bucht. Ein Kanute paddelt über die im Sonnenlicht funkelnden Wellen, und Jachten richten sich nach dem Wind aus. Alle Gedanken an Mumien und totes Fleisch lösen sich auf. Die Salamanca Fair in Hobart bildet das perfekte Gegenstück zur Kammer des Schreckens am Vortag. Sie passt zu den Gegebenheiten ihrer Umgebung. An den Ständen werden alle Arten lokaler Künste und Kunsthandwerk ausgestellt – in Holz, Wolle, Metall und Stein. Viktorianischer Plunder findet sich überall: Beefeater-Tassen, Teller mit Willow-Muster und Wedgwood-Schachteln. Busch-Hüte und Blusen im Folk-Stil hängen neben Landschafts-Drucken und von Amateuren gestalteten Gemälden mit Kräutern und Blumen. Schottische Dudelsäcke spielen Highland-Klagelieder, unterbrochen von einer Jazztrompete, einem Wohltätigkeitschor und zwei Gitarristen. Die verstärkten Akkorde von Cary Lewincamps siebensaitiger Gitarre spielen „Salamanca Saturdays“ und wirken wie ein Magnet.10 Die Menschenmenge zieht vorbei, plaudert, lacht und kauft: Die Antipoden-Version von Thomas Hardys Am grünen Rand der Welt und Tasmaniens positives Gesicht. 444

Das „Down Under“ von „Down Under“

Die Geschichte der Menschheit reicht auf Tasmanien 40 000  Jahre und mehr in die Vergangenheit. Die Aborigines, die die Insel als Erste besiedelten, blieben bis vor rund 10 000 Jahren mit den Bewohnern des Festlands in Kontakt, bis der Meeresspiegel in der Bass-Straße stieg und eine Überquerung aus praktischen Gründen unmöglich wurde. 400 Generationen lang blieben sie unter sich. Die erste Gruppe nicht-indigener Siedler legte im September 1803 an. Sie kamen aus der Strafgefangenenkolonie von Botany Bay in New South Wales und segelten unter dem Kommando des 23-jährigen Lieutenant der Royal Navy John Bowen auf der Lady Nelson und dem Walfangschiff Albion. Es waren insgesamt 42  Personen – drei Offizielle, acht Soldaten, sechs Siedler und 25 in Ketten gelegte Häftlinge; ihr Befehl lautete, eine Tochterkolonie zu gründen, um so der Überbevölkerung in Australien entgegenzuwirken. Das ungeschriebene Ziel war es, einem möglichen französischen Eindringen zuvorzukommen, schließlich befand sich Großbritannien im Krieg mit Frankreich. Wie vom Entdecker George Bass empfohlen, der kurz zuvor bewiesen hatte, dass das Van-Diemens-Land eine Insel ist,11 landeten sie in der Risdon Bay auf dem rechten Ufer des später Derwent getauften Flusses. Das war die falsche Wahl; der Boden war unfruchtbar und sauberes Trinkwasser schwer aufzutreiben. Vier Jahre lang lebte John Bowen mit der Verurteilten Martha Hayes zusammen, die ihm zwei Töchter gebar. Im Februar 1804 traf ein zweites Schiff mit Siedlern unter der Leitung von Colonel David Collins ein. Die aus 15  Soldaten und 42  Sträflingen bestehende Gruppe ließ sich am gegenüberliegenden Ufer des Derwent nieder. Sie hatten Botany Bay zur selben Zeit wie Bowen verlassen, dann aber fünf Monate lang vergeblich versucht, auf dem Festland in der Nähe der Mündung der Phillip Bay eine Siedlung zu etablieren. Ihre neue Niederlassung nannten sie nach dem Kolonialminister Großbritanniens, Lord Hobart, und waren dieses Mal mit ihrer neuen Heimat zufrieden. Noch vor Ablauf des Jahres zog die Gruppe von Lieutenant Bowen über die Flussmündung zu ihnen herüber. Nach der Geburt von Martha Hayes’ ­erstem Kind war die Bevölkerung der entstehenden Kolonie auf genau 100 Personen angewachsen. Der Grabstein von Colonel Collins, der zum Gouverneur gemacht worden war, befindet sich noch heute im St David’s Park in Hobart, dem Platz der ersten Kirche der Stadt, an deren Altar sich der Gedenkstein ursprünglich befunden hatte: Dem heiligen Andenken des wohlgeborenen david collins 445

8. Tassie

vizegouverneur dieser kolonie und lt-colonel der royal marine forces. Bei der Gründung der Kolonie von New South Wales wurde er Deputy Judge Advocate* Und im Jahr 1803 Übertrug ihm die Regierung Seiner Majestät Das Kommando einer Expedition Die an der Südküste von New Holland Eine Siedlung in Port Phillip gründen sollte Welche dann später in das Van-Diemens-Land Verlegt wurde. Unter seiner Führung als Lt-Gouverneur Entschied man sich für die Lage dieser Stadt, Und der Grundstein für das erste Gebäude Wurde 1804 gelegt. Hier starb er am 28. März 1810 Im Alter von 56 Jahren.

Die europäische Siedlung stand den Bräuchen und Besitzansprüchen der einheimischen Aborigines unvermeidlich im Wege. Hobart wurde auf dem Sommerweideland der Mouheneenner errichtet, einem der Stämme des Parlevar-Volks,** der regelmäßig während der Wintermonate von der Küste ins Inland wanderte. Die Vorfahren der Parlevar dürften vor etwa 30 000 bis 40 000  Jahren vom Festland herübergekommen sein, als ihr zukünftiges Heimatland noch über eine Landzunge mit Australien verbunden war. Als dann der Meeresspiegel anstieg und die Landbrücke überschwemmt wurde, waren sie vom Rest der Menschheit abgeschnitten. Sie verharrten in der Zeit und steinzeitlicher Isolation; sie waren nicht kriegerisch, besaßen keine ozeangängigen Schiffe oder die dazu benötigten Fähigkeiten und hatten niemals einen Ausländer gesehen, bevor die frühen europäischen Entdecker und Walfänger bei ihnen landeten. (Tasman berichtete nach seinem kurzen Aufenthalt 1642 nichts von Einheimischen, wobei es aber doch wahrscheinlich sein dürfte, dass er selbst beobachtet wurde.) Was die Europäer „Entdeckung“ nannten, betrachteten sie als „Invasion“. Ihr wenig beneidenswertes

* Justizbeamter in New South Wales mit richterlichen Befugnissen (Anm. d. Übers. J. P.). ** Palawa – oder auch Parlevar – ist die Sammelbezeichnung für die Aborigines Tasmaniens. Im Allgemeinen wird damit ein „Volk“ gemeint, das in rund 50 Clans oder „Stämme“ unterteilt ist. 446

Das „Down Under“ von „Down Under“

Schicksal wurde, zumindest in der Encyclopædia Britannica (1911) ausschließlich mit rassischen Begriffen erklärt: Die Schwierigkeiten der Siedler erhöhten sich noch durch die Feindseligkeit der Schwarzen. Der erste Zusammenstoß ereignete sich wenige Tage nach der Landung von Lt. Bowens Expedition, und an diesem waren allein die weißen Siedler schuld. Zwischen 1802 und 1830 nahmen die Feindseligkeiten zwischen den Rassen weiter zu. Im Jahr 1830 wurde der Versuch unternommen, die Eingeborenen in eine Ecke der Insel zu treiben, was jedoch erfolglos blieb. Im Jahr darauf überredete Mr. George Robinson die Reste der Schwarzen, das Festland zu verlassen und zunächst auf South Bruni [die Insel Süd-Bruny] und dann später auf Flinders Island Zuflucht zu suchen, denn ihre Zahl hatte sich von einst 5000 – die ursprünglich geschätzte Zahl der Aborigine-Bevölkerung – auf 203 verringert. 1842 lebten nur noch 44 von ihnen, 1854 war die Anzahl auf 16 zurückgegangen, und die letzte vollblütige Tasmanierin starb 1876 im Alter von 76 Jahren.12

Wie wir sehen werden, ist diese Zusammenfassung falsch. Die Entfernungen und Räume in den Antipodenstaaten täuschen leicht. Alles ist größer, als ein Europäer glauben mag. In den Augen eines Engländers mag Australiens zweite Kolonie auf einer Karte wie eine kleine Insel aussehen, vielleicht in der Größe der Isle of Wight oder eventuell noch Maltas. In Wirklichkeit entsprechen die 68 400  Quadratkilometer etwa der Größe Irlands, weshalb die Aufgabe für die ersten, winzigen Siedlergruppen enorm war. Es dauerte mehr als ein halbes Jahrhundert, bis die wichtigsten Distrikte kolonialisiert waren. Und auch das gelang erst, nachdem man zwei große Beleidigungen erfahren hatte – „der Fleck“ und „das Stigma“. Der führende Historiker Tasmaniens beginnt seine Geschichte allerdings nicht mit den Strapazen der Siedler, sondern mit der „völligen Verblüffung“ der Aborigines, die sie eintreffen sahen. Die Aborigines hatten kein Konzept einer größeren Welt. Sie konnten die Bass-Straße nicht überqueren. Und das Festland lag außerhalb der Sichtweite: Sie lebten vom Rest der Welt isoliert, seit die Bass-Straße 8000 Jahre zuvor überflutet worden war. Einige Erinnerungen an die Einwanderung vom weit entfernten Festland waren in Legenden übrig geblieben, doch für mehr als 300 Generationen bestand ihre allumfassende Welt aus Tasmani447

8. Tassie

en, waren die Bewohner der benachbarten Insel die einzigen ihnen bekannten Bewohner des Universums und stellte ihre Art das altehrwürdige Muster für die gesamte Menschheit dar.13

Zwischen 1772 und 1803 erreichten elf europäische Expeditionen das „VanDiemens-Land“; sie waren die ersten Fremden, die die einheimische Bevölkerung jemals zu Gesicht bekamen. Einer dieser Fremden, François Peron, beobachtete die geistige Verwirrung der Ureinwohner: Wir sehen Menschen zu einem Zeitpunkt, zu dem alle Möglichkeiten ihres Daseins vergrößert sind. Unsere Schiffe, der Lärm unserer Gewehre und ihre furchtbaren Auswirkungen, die Farbe unserer Haut, unsere Kleidung, unsere Gestalt, unsere Geschenke, unser gesamter Besitz, alles, was uns umgibt, unser Gang, unsere Handlungen sind für sie solche Wunder.14

Nachdem einige Aborigines später etwas Englisch gelernt hatten, sollten sie sich noch an diese ersten Begegnungen erinnern. Einer unter ihnen, unter dem Namen Black Tom bekannt geworden, hatte als Kind gesehen, wie das erste europäische Schiff in Maria Island ankam, und erzählte, wie „all seine Clan-Mitglieder erschraken und von der Küste davonrannten. Das Schiff sah aus wie eine kleine Insel, aber sie konnten nicht sagen, was es tatsächlich war … [Sie] konnten sich nicht vorstellen, wie die weißen Männer hierhergekommen waren“.15 Moderne Autoren versuchten, diesen Moment in Worte zu fassen: Die Verwandten mit Gewehren tauchten auf dem Meer auf vom Tode ausgespült und ihrer Haut entrissen. Sie schwankten zurück durch die Täler, schwer beladen mit ihrem neuen Besitz. Die Verwandten mit Speeren, die sie begrüßten, lachten seltsam über deren blasses Vergessen.16

Ein anderer Historiker betonte zudem die Isolation der Ureinwohner untereinander. Die grundlegende soziale Einheit war die Familie oder „HerdGruppe“. Mehrere solcher Familien schlossen sich zu einer Gruppe von 70 bis 80 Personen zusammen, die einen kollektiven Namen besaß und zusammen lebte, jagte und kämpfte. Größere, locker verbundene Einheiten von 448

Das „Down Under“ von „Down Under“

verbündeten Gruppen nannte man, etwas fragwürdig, dann „Stämme“. Dabei hatte jeder „Stamm“ sein eigenes Territorium, seinen eigenen Lebensraum – an der Küste, auf den Bergen oder am Fluss – sowie eigene Bräuche, eigene Methoden der Nahrungsmittelbeschaffung und meist auch seine eigene Sprache. Folglich waren die Möglichkeiten der Kommunikation zwischen den einzelnen Stämmen begrenzt: Die Gruppe A (ganz gleich, ob wir sie nun „Stamm“ nennen oder nicht) konnte die Sprache der benachbarten Gruppe B verstehen oder zumindest mit ihr zurechtkommen. Mitglieder der Gruppe B wiederum kommunizierten auf bestimmte Art und Weise mit Gruppe C – doch die Gruppe A konnte Gruppe C im Allgemeinen nicht verstehen. Die einzigen Gelegenheiten, bei denen Gruppe A auf Gruppe C stieß, waren Anlässe wie der Abbau von Ocker oder eventuell das Einsammeln von Eiern …17

Als Nomaden mieden die Aborigines permanente Behausungen, sondern schliefen und kochten typischerweise unter Dächern aus Palmenblättern oder hinter geflochtenen Windfängen. Sie aßen halb gegartes Essen, das sie über offenem Feuer grillten, und tranken ausschließlich Wasser aus Muschelschalen. Sie zogen jeden Tag umher, trugen Speere und Feuerstäbe mit sich, mit denen sie regelmäßig den Busch in Brand steckten, um Tiere herauszutreiben und das Wachstum von saftigen Sprösslingen anzukurbeln. Im Winter zogen sie zu festen Orten an der Küste, im Sommer in die höher gelegenen Gegenden. Sie kannten keine Metalle, sondern stellten alles, was sie benötigten, aus Holz, Knochen, Stein und pflanzlichen Materialien her: Vom Erscheinungsbild waren die Aborigines dunkelhäutig, was von einem dunklen Schwarz bis hin zu „rot“ reichte. Ihre Statur … soll „durchschnittlich“ gewesen sein, so die Einschätzungen von Quellen Ende des 18. Jahrhunderts. … Sie besaßen wenige, manchmal gar keine Kleidung. Die Frauen trugen am Oberkörper Känguruhäute, die sie auch für das Tragen der Kleinkinder und einige wenige Ausrüstungsgegenstände nutzten. Die Männer gingen meist nackt, wobei beide Geschlechter Fellstreifen und Muschelketten trugen. Wer die Pubertät hinter sich gelassen hatte, wurde häufig mit Narben gekennzeichnet; dabei wurde die Haut aufgeschnitten und dann durch das Einbringen von Holzkohle in gemusterten Linien aufgeraut. … Das auffallendste Merkmal der Aborigines war ihr besonders eng gekräuseltes Kopfhaar. Die Frauen schnitten es häufig kurz, einige von ihnen 449

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trugen tonsurartige Haarschnitte. Männer hingegen verklebten sich die Haare häufig mit einer Mischung aus rotem Ocker und Fett, sodass sie einem Mopp ähnelten (oder, wie ein zeitgenössischer Beobachter ironisch anmerkte, der Perücke modebewusster französischer Ladys). Frauen verzierten sich zudem mit Holzkohle und Ocker, was sogar bis zum Schamhaar reichte. Säuglinge wurden hin und wieder mit Ocker auf der Stirn und den Wangen gezeichnet.18

Die übliche Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern in der AborigineGesellschaft könnte weitreichende Konsequenzen gehabt haben. Seit Urzeiten lehrte man die Jungen der Aborigines zu jagen, wohingegen die Mädchen die Kunst des Nahrungssammelns aus dem Meer erlernten, darunter das Tauchen nach Krabben und Aalen sowie das Ablösen von Muscheln von Unterwasserfelsen. Was dazu führte, dass AboriginesFrauen hervorragende Schwimmerinnen waren, ganz im Gegensatz zu ihren Männern. Den ersten Europäern blieb das nicht verborgen. Musste eine Gruppe oder ein Stamm einen Fluss überqueren, saßen die Männer auf Flößen und die Frauen trieben vom Wasser aus die Gefährte an. Als Robben- und Walfänger auf der Insel landeten und für Angelegenheiten an den Booten oder am Strand Hilfe suchten, erkannten sie rasch, dass die Frauen der Eingeborenen hilfreicher waren als ihre Männer. So entwickelte sich bald die Praxis, dass ein Stamm Frauen zeitweilig als Arbeiterinnen (und Sexpartnerinnen) verlieh und dafür mit Hunden bezahlt wurde – eine bis dahin unbekannte und besonders begehrte Ware. Für die britischen Pioniere war 1807 ein besonders schwieriges Jahr. Die erwarteten Nachschubschiffe blieben aus, Kämpfe mit den Aborigines wurden häufiger, und eine Hungersnot zeichnete sich ab. Bis dahin konnte man eine Reihe „erster Male“ verzeichnen: die erste Meuterei von Soldaten (1804), die erste Tötung von Aborigines (1804), der erste Gottesdienst (1804), die erste Neugründung einer Siedlung (George Town im Norden, 1804), das erste Gouverneurshaus (eine Holzhütte, 1805), die erste Walfangstation (in Ralph’s Bay, 1805), die erste Landpacht (zugunsten des anglikanischen Pfarrers Reverend Robert Knopwood, 1805), die erste Durchquerung der Insel zu Fuß (1807), die Lieutenant Thomas Laycock in neun Tagen gelang. Der Name Tasmanien tauchte zum ersten Mal in einem 1808 in London publizierten Atlas auf und sollte Van-DiemensLand verdrängen. 450

Das „Down Under“ von „Down Under“

Das außergewöhnliche Leben, und Sterben, einiger dieser ersten Pioniere ist auf den vier Seiten eines Familiengrabsteins in St  David’s Park, Hobart, festgehalten: Dem heiligen Andenken an elizabeth kelly, Ehefrau von james kelly lotse dieses hafens, verliess dieses leben am 2. Juli 1831, im Alter von 33 Jahren 11 Monaten & 15 Tagen (sowie dem ihrer Söhne und Töchter) – elizabeth jane kelly, verstorben am 30. Oktober 1828, im Alter von 14 Jahren & 6 Monaten – harriet kelly, verstorben am 9. Juni 1817, im Alter von 2 Tagen – eliza kelly, verstorben am 17. Februar 1823, im Alter von 1 Monat und 11 Tagen – george kelly, verstorben am 3. Februar 1828, im Alter von 5 Monaten und 15 Tagen – john kelly, verstorben am 6. Januar 1831, im Alter von 1 Tag In Erinnerung an Thomas dritter sohn von james und elisabeth kelly, ertrunken beim kentern eines bootes im derwent fluss am 18. tag des oktobers 1842 im alter von 16 jahren und 8 monaten in erinnerung an james bruni ältester sohn von james und elizabeth kelly getötet vom stoss eines wals am 16. august 1841 als er auf einer walfangfahrt von diesem hafen aus war an bord der bark „william the fourth“, kapitän s. lindsay, im alter von 21 jahren. dem andenken von james kelly der dieses leben am 20. tag des aprils 1859 verliess Im 66. Jahr seines Lebens. geboren in der stadt parramatta, new south wales, AM 24. Tag des Monats Dezember 1791, 451

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der den grossteil seines lebens im van-diemens-land verbracht hat, das heute tasmanien heisst.

Nach dieser Aufzählung hat James Kelly, einer der ersten in Australien geborenen Bewohner, seine Frau und all seine Kinder überlebt, wobei er zwei ältere Söhne bei Unfällen zur See, zwei Söhne und zwei Töchter im Kindesalter und eine weitere Tochter als Jugendliche verloren hat. Sie gehörten zu einer Generation, die unerschütterlich an Gottes Willen glaubte. Als sie die gefährlichsten Jahre überstanden hatten, drängten die Kolonisten weiter vor. Viele weitere freie Siedler wurden herbeigebracht, und man überschrieb ihnen Standardgrundstücke von rund 2,6 Quadratkilometern zur Rodung und Kultivierung, wobei man ihnen Strafgefangene für diese ermüdende Arbeit zuteilte. (Da die verurteilten Häftlinge als „Rechtmäßige“ bezeichnet wurden – um sie von den geflohenen zu unterscheiden –, gab man den freien Siedlern die merkwürdige Bezeichnung „Unrechtmäßige“.) Man schlug zusätzliche Straßen durch die Wälder. Neue Städte und Dörfer wurden gegründet. Launceston, die zweite Stadt, entstand 1806. New Norfolk, rund 50 Kilometer nordwestlich von Hobart, wurde 1808 durch eine Gruppe von 554 Ex-Häftlingen angelegt, die vom einsamen und als „unrentabel“ bezeichneten Außenposten Norfolk Island, vor New South Wales, hierher transferiert worden waren. Viele dieser hart arbeitenden Farmer waren „First Fleeters“, also bereits zwanzig Jahre zuvor nach Australien gesegelt, und hatten dort längst ihre Fähigkeiten als Pioniere unter Beweis gestellt. In New Norfolk kann man noch heute den Grabstein von Betty King (1767–1856) betrachten, der sie aufführt als „erste weiße Frau, die australischen Boden betreten hat“; hier steht auch Tasmaniens älteste Steinkirche, St  Matthew’s (1810), sowie Australiens ältestes Hotel, das Bush Inn (1814). Frischer Nachschub an Verurteilten sorgte für ausreichend Arbeitskraft. Ab 1817, als die Botany Bay schiffbarer wurde, landeten Boote aus Britannien oder Irland direkt in Tasmanien an. Das Van-Diemens-Land wurde im selben Jahrzehnt formell gegründet, in dem Irland dem Vereinigten Königreich hinzugefügt wurde, und irische Männer und Frauen bildeten folglich einen immer größer werdenden Anteil an der erbärmlichen Fracht der Transportschiffe. So ist es kein Zufall, dass die vom frühen Van-Diemens-Land aufgewühlten Emotionen sich am besten in melancholischen irischen Balladen erhalten haben: 452

Das „Down Under“ von „Down Under“

Kommt, all ihr tapfren Wilderer Ihr unbesorgten Herumtreiber, Die ihr in mondbeschienener Nacht Mit Hund, Gewehr und Falle auszieht. Harmlose Hasen und Fasane Stehen unter eurem Befehl, Ihr denkt nicht an euren letztlichen Werdegang Hier im Van-Diemens-Land. Noch am Tag, an dem wir landeten Auf diesem schicksalsträchtgen Land, Umringten uns die Farmer Zu vierzigst oder mehr. Sie zerrten an uns wie an Pferden Und verkauften uns sogleich Und trieben uns mutige Kerle zum Pflug Hier im Van-Diemens-Land. Gott segne unsre Frauen und Töchter Genau wie das glückliche Land, Die Insel des süßen Behagens, Die wir nie wieder erblicken werden. Und was die elenden Frauen angeht, So reichen wir ihnen nur selten die Hand, Denn es kommen 14 Männer auf jedes Mädchen Hier im Van-Diemens-Land.19

Der letzte Vers weist womöglich darauf hin, wo „die dunklen Geheimnisse“ verborgen sein mögen. Zwischen 1807 und 1853 wurden unvermindert britische Strafgefangene auf die Insel gebracht. Bis zu 2000 pro Jahr landeten an, bis es insgesamt mehr als 75 000 waren. Die Straflager wuchsen entsprechend. In der Anfangszeit konnten Aufmüpfige noch zu einer Strafe von 50 bis 100 Peitschenhieben oder zum „Waterboarding“ in sargähnlichen „Tauchkisten“ verurteilt werden, in extremen Fällen wurde die Todesstrafe verhängt. 1823 eröffnete man ein abgelegenes Straflager auf Sarah Island vor der Westküste, 1830 entstand das berüchtigte Port Arthur-Gefängnis aus der Tasman-Halbinsel. Vergleichbares zu diesen beiden Höllenlöchern gab es im gesamten British Empire nicht. Anfang der 1830er-Jahre stattete William 453

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Ullathorne, der Generalvikar von New South Wales, ihnen einen Besuch ab und war entsetzt von dem, was er sah: Fünfzigtausend Seelen verfaulen angekettet [auf den britischen Antipoden]. … Wir haben einen großen Teil von Gottes Erde in Besitz genommen und ihn zu einer Jauchegrube gemacht; wir haben die Ozeane … die den Erdball umgürten, in Besitz genommen und sie zu Rinnen eines Spülsteins gemacht; wir haben Abschaum um Abschaum hinuntergespült und den Bodensatz dieses Abschaums der Menschheit hinterhergeworfen, und als dieser sich verhärtete … ein Volk von Verbrechern geformt, das, wenn nicht in größter Eile etwas geschieht, eine Geißel und eine Plage bleibt und zum Inbegriff für alle Völker der Erde wird.20

Rund 90 Prozent aller Häftlinge waren wegen irgendeiner Form des Diebstahls nach Tasmanien gebracht worden. George Smith hatte einem vierjährigen Kind ein Taschentuch gestohlen, Thomas Morgan einen Schinken aus einer Speisekammer mitgehen lassen. Eliza Bailey wurde verurteilt, da sie 2000  Pfund gestohlenes Geld angenommen hatte, und John Buck für die Unterschlagung von 1900 Pfund. John Adcock, ein Wildhüter, war von Lord Stafford, seinem Arbeitgeber, wegen des Diebstahls von drei Pfauen verklagt worden; was sein fünftes Vergehen war. Andere nennenswerte Gruppen von Verurteilten waren politische Agitatoren, insbesondere aus Irland, sowie Soldaten oder Matrosen, die wegen Aufruhr, Desertion oder der Missachtung von Befehlen bestraft wurden. Thomas McBrain erhielt eine lebenslängliche Freiheitsstrafe, da er sich für einen einzigen Tag vom Dienst entfernt hatte. Nur fünf Prozent der Gefangenen waren wegen schwerwiegender Verbrechen wie Entführung, Brandstiftung, Mord, Vergewaltigung oder Verrat exiliert worden; denn in der Regel wurden diese Täter umgehend in Britannien hingerichtet. Sexualstraftaten, darunter Bigamie, Inzest, Sodomie und „Unzucht mit Tieren“, wurden besonders scharf geahndet. (Homosexualität war in Großbritannien noch bis 1967 strafbar.) Als der 23-jährige John Demer 1843 wegen „Unzucht“ schuldig gesprochen wurde, verurteilte ihn der Richter zu einer boshaften Strafe, die dessen Abscheu deutlich machte: Lebenslang fortzuschaffen & nach Port Arthur zu bringen und unter schwerer körperlicher Arbeit zu bewahren, ohne Erlaubnis, sich irgendeiner Arbeitskolonne anzuschließen & seine Mahlzeiten alleine einzunehmen & in einem separaten Raum zu schlafen … & zu jeder Zeit unter unmittelbarer Beobachtung durch Wachen zu halten …21 454

Das „Down Under“ von „Down Under“

Die meisten Häftlinge kamen aus der Arbeiterklasse oder der Schicht der Armen, auch wenn einige wenige als „Ladies“ oder „Gentlemen“ bezeichnet wurden. Etwa ein Fünftel aller Strafgefangenen war weiblich; ihnen wurde nach der Ankunft häufig die Freilassung in Aussicht gestellt, sollten sie heiraten. Und viele waren erschreckend jung. Der neunjährige James Lynch wurde 1844 zu sieben Jahren Haft verurteilt, da er Spielzeug gestohlen hatte. Der älteste Häftling in den Aufzeichnungen war 86.22 Da die große Mehrheit der Strafgefangenen Analphabeten waren, konnten sie keine Tagebücher oder Erinnerungen verfassen. Henry Savery, Sohn eines Bankers, bildete eine Ausnahme. 1824 für die Fälschung einer Rechnung zu lebenslanger Haft verurteilt, verbrachte er die Überfahrt im Quartier eines Offiziers, wurde von seiner Frau im Exil begleitet und durfte als Regierungsangestellter in Hobart arbeiten. Als er sich verschuldete, wurde er schließlich doch eingekerkert, wo er eine Aufsatzsammlung mit dem Titel The Hermit on Van Diemen’s Land (Der Eremit im Van-Diemens-Land, 1829) und den Roman Quintus Servinton (1831) verfasste. Er beklagte sich bitterlich darüber, dass ihn der örtliche Adel mied.23 Während der Überfahrt von England nach Australien lebten die Gefangenen unter lebensgefährlichen Bedingungen und strenger militärischer Disziplin. Die meiste Zeit unter Deck gehalten, konnten sie sich kaum bewegen und wurden rasch Opfer von Übelkeit, Krankheiten und Depression. Und es kam immer wieder zu Katastrophen. Die George III, die 1834 mit 220 männlichen Häftlingen aus England in See stach, verlor unterwegs zwölf ihrer Passagiere durch Skorbut, weitere 60 erkrankten ernsthaft. Als das Schiff die Küste des Van-Diemens-Lands erreicht hatte, fuhr sie auf ein Riff auf und schlug leck. Soldaten feuerten von der Ladeluke aus auf die Verurteilten, um sie an der Flucht zu hindern. Insgesamt kamen 133 Menschen ums Leben.24 Wer sich auf der Überfahrt gut benahm, konnte auf eine Empfehlung des Aufsicht führenden Arztes hoffen und an Land angekommen zur Arbeit auf einer Farm oder in einem Privathaushalt herangezogen werden, anstatt ins Gefängnis zu wandern. William Booth, „verbannt wegen eines unnatürlichen Verbrechens mit einer Stute“, war einer der Nutznießer dieser Regelung; der Arzt attestierte ihm, sein Verhalten sei „konstant gut“ gewesen und er „als Lehrer nützlich“; er habe „durch den Glauben an das Evangelium seinen Weg zu Gott“ gefunden.25 Die Glücklichen, die eine solche Arbeit „übertragen“ bekamen, hatten eine recht gute Chance auf ein akzeptables Leben. Natürlich wurden auch hier manche entsetzlich misshandelt und litten unter allen möglichen 455

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Arten des Missbrauchs; schon kleinste Vergehen konnten mit Auspeitschung oder einer weiteren Verurteilung durch die örtlichen Richter geahndet werden. Andere hingegen fanden empathische Herrinnen und Herren. Der gebildete und wegen politischer Vergehen inhaftierte Ire John Martin schrieb 1854 einen Abschiedsbrief, in dem er seine Dankbarkeit ausdrückte: Die Regeln der britischen Gesetzgebung und öffentlichen Meinung führten dazu, dass meine Kameraden und ich als „Verbrecher“ und „Verräter“ bezeichnet wurden. … Und doch habe ich Gastfreundschaft und freundliche Aufmerksamkeit von fast allen respektablen Familien in der Nachbarschaft erfahren, in der ich festgehalten wurde. Meine Bekannten und Freunde stammten ursprünglich aus England, Schottland, Wales und Irland: unter ihnen sowohl Protestanten wie Katholiken. Von Menschen aller Rassen, Sekten, Parteien und Klassen … wurde mir Höflichkeit oder zumindest doch Zuvorkommenheit entgegengebracht. … Dankbar spüre ich noch jetzt die beruhigende Höflichkeit meiner sehr vielen Freunde.26

Einmal im Strafvollzug angekommen, war es kein Leichtes, dem wieder zu entrinnen. Da die Lebenserwartung nur rund 40 Jahre betrug, starben viele noch, während sie ihre Strafe verbüßten. Man konnte nach Verbüßung der halben Strafe um eine Freilassung auf Bewährung bitten, vorausgesetzt man verhielt sich gut und stellte sich regelmäßig bei einer Polizeistation vor. Oder man bat um eine bedingte Begnadigung, bei der man versprechen musste, nie wieder nach Großbritannien zurückzukehren. „Bewährung“ oder völlige Begnadigungen wurden recht häufig den Gefangenen gewährt, die sich mit den Behörden gutgestellt hatten. Anschließend konnten sie meist eine Stelle als Besatzungsmitglied eines amerikanischen Walfängers finden oder sie reisten günstig nach New South Wales oder Neuseeland. Von den Überlebenden blieb weniger als die Hälfte in Van-Diemens-Land. Und überhaupt nur eine Handvoll kehrte jemals nach Großbritannien zurück. Die Flucht eines Häftlings war immer eine Sensation, und vor allem ein Fall fand Eingang in die Annalen der Insel: Alexander Pearce (1790–1826), wegen des Diebstahls von sechs Paar Schuhen aus Armagh (Nordirland) verbannt, gelang zwei Mal die Flucht, und er wurde zwei Mal wieder eingefangen. Nach dem ersten Ausbruch prahlte er damit, seine Komplizen aufgegessen zu haben, was ihm jedoch niemand glaubte. Nach dem zweiten Ausbruch wurden die Überreste des mit ihm geflohenen Häftlings gefunden, weshalb es dieses Mal keinen Zweifel gab. Er gestand, den anderen 456

Das „Down Under“ von „Down Under“

Mann getötet zu haben, als sie auf der Flucht einen Fluss erreichten und sein Begleiter erklärte, nicht schwimmen zu können. Noch beim Schwurgerichtsprozess 1826 in Hobart, der ihn zum Tode verurteilte, war Pearce aufsässig. „Menschenfleisch“, erklärte er den Richtern, „schmeckt besser als Rind oder Schwein.“27 Drei Jahre später meuterten Häftlinge auf der Cyprus, die sie zur Strafkolonie Macquarie Harbour an der rauen Westküste bringen sollte. Die Aufständischen setzten zunächst all jene aus, die sich ihnen nicht anschließen wollten, segelten dann nach China und gaben sich dort als schiffbrüchige britische Matrosen aus. Zurück in Großbritannien mussten sie bestürzt zusehen, wie sie von einem der Ausgesetzten begrüßt wurden: John Popjoy hatte sich einen winzigen Kahn gebaut und war von einem vorbeifahrenden Schiff aufgenommen, nach Hobart gebracht und dort begnadigt worden. Popjoys Aussage vor einem königlichen Gericht besiegelte die Hinrichtung der Entführer. Nur William Swallow, der beschwor, genötigt worden zu sein, entging der Exekution und wurde zu einem berühmten Balladen-Helden: Armer Tom Brown aus Nottingham, Jack Williams und auch Joe, Sie war’n drei tapfre Wilderer, wie man in ihrer Heimat weiß, Und laut Gesetz zur Jagd im Wald, wie du verstehst, Verbannte man sie für vierzehn Jahr ins Van-Diemens-Land. [...] Vor Hobart sammelten sie uns, an Bord der Cyprus-Brigg, Das Toppsegel gehisst, der Anker eingeholt. Der Wind blies Nordnordwest, und wir steuerten drauf zu, Bis wir sie zum Ankern brachten in der Recherche Bay. In ein düstres Loch gesperrt, ersannen die Kerls nen Plan Um die Brigg zu übernehmen oder alle umzubringen. Sie waren sich einig, ihr wisst’s, und gingen zu Bett Um früh am Morgen den Sturm zu beginnen. Mit seinen Kameraden tritt der mutige Jack Muldemon vor, Schnell die Wache entwaffnet, da liegt sie in ihrem Blut. Freiheit, oh Freiheit! Wir sehnen uns nach dir. Her mit den Waffen, Jungs, oder ihr findet im Meer euer Grab. Bald sind Soldaten, der Käpt’n und die Mannschaft an Land. Drei Mal brüllen wir Freiheit und sagen dann Lebwohl. 457

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William Swallow wurde bestimmt, unser neuer Käpt’n zu sein, drei Mal brüllten wir Freiheit und segelten kühn übers Meer. Spielt auf euren goldnen Trompeten, Jungs, und lasst was Lustiges hör’n. Die Cyprus treibt über’n Ozean, und Gerechtigkeit bringt sie voran.28

Ebenfalls in diesem Jahrzehnt fassten zwei Gruppen freier Männer einen ganz anderen und legitimen Plan, um von der Insel zu kommen. Sie waren beide in Launceston untergebracht und hatten beide vor, eine Expedition zu beginnen, um die Phillip Bay auf dem Festland zu rekolonialisieren. Eine Gruppe wurde von John Batman (1801–1839) geführt, einem Viehzüchter und Kopfgeldjäger, der mit der Phillip Bay Associtation ein Syndikat gründete, um Geld für den Kauf von Land einzusammeln. Die von John Pascoe Fawkner (1792–1869) geleitete Gruppe kaufte ein paar Schoner und wollte unabhängig von Batman lossegeln. Batman brach als Erster auf. Im Mai und Juni 1835 untersuchte er die Küste der Phillip Bay, bis er einen Fleck am Yarra-Fluss als idealen Ort für die Gründung eines „zukünftigen Dorfes“ (das er „Batmania“ nannte) identifizierte. Daraufhin schloss er einen Kaufvertrag mit dem dort ansässigen Kulin-Stamm. Zu seinem Entsetzen erklärte der Gouverneur von New South Wales den Vertrag augenblicklich für null und nichtig, da die Regierung Seiner Majestät die Ansprüche der Eingeborenen auf den Besitz des Landes nicht anerkannte. Das war John Fawkners Chance. Vor 30  Jahren, als er zehn Jahre alt gewesen war, hatte er seinen verurteilten Vater auf der Fahrt nach Australien begleitet und war 1804 unter Colonel Collins in Hobart eingetroffen, nachdem dieser den ersten Anlauf aufgegeben hatte, Port Phillip zu besiedeln. Nach der Begnadigung seines Vaters arbeitete Fawkner zunächst auf dem Land, bevor er eine Lehre als Handwerker begann. 1822 heiratete er die Ex-Strafgefangene Eliza Cobb, und das junge Paar belud einen Wagen, zog gen Norden nach Launceston und gründete dort eine Reihe von Unternehmungen, die sich in den folgenden Jahren als sehr erfolgreich herausstellen sollten. Ihnen gehörten eine Bäckerei, ein Buchladen, eine Zeitung, ein Holzlagerplatz und ein Hotel. Doch Fawkner sehnte sich noch immer danach, jene wunderschöne, abgeschlossene Bucht zu erschließen, in der er kurzzeitig als Junge verweilt hatte. Und inzwischen hatte er die Mittel dazu. Sein Schoner, die Enterprize, stach mit einem Vorauskommando von George Town aus in See und erreichte am 15. August 1835 die bis dahin noch ungetaufte Bucht an den Ufern des Yarra River. Heute gilt dies als Gründungsakt von Australiens erster Hauptstadt. Zwei Monate später taten sich 458

Das „Down Under“ von „Down Under“

die Fawkners mit Batman zusammen und beanspruchten gemeinsam ihre Position als Gründer der Stadt. 1837, im Jahr der Thronbesteigung von Königin Victoria, wurde die Siedlung nach ihrem Premierminister, Lord Melbourne, und die Bucht nach Gouverneur Phillip benannt. Fawkners Erfolg weist darauf hin: Seine Generation hatte mehr erreicht, als dass sie sich nur um ihr Überleben sorgen musste. Die Kolonisatoren schlugen Wurzeln in einem Land, das sie als das rechtmäßig ihre betrachteten. Als Melbourne gegründet wurde, war Tasmanien zu einem Großteil bereits in Distrikte, Unterbezirke und Gemeinden aufgeteilt, und die Kolonie hatte von New South Wales ihre administrativen Zuständigkeiten zugeteilt bekommen. 1825 hob man einen Exekutivrat, ein vollständig entwickeltes Justizsystem und eine Legislative aus der Taufe. Die Nachrichten über die in Großbritannien geführten Diskussionen über eine Parlamentsreform dürfte am anderen Ende der Welt den Bemühungen um eine repräsentative Regierung neuen Aufschwung gegeben haben. Entscheidend blieb jedoch die Landfrage – die Conditio sine qua non aller weiteren Entwicklung. Oder in den Worten eines Historikers: Der für sich genommen wichtigste Einzelbestandteil der britischen Aneignung von Aborigines-Land war der Glaube, Australien sei 1788 eine terra nullius, ein Land ohne Eigentümer gewesen. Das führte bei den Siedlern zur Überzeugung, sie hätten ein legales und moralisches Recht auf das Land, da Australien nie tatsächlich im Besitz der hier lebenden Aborigines gewesen sei. In der ersten Generation der Besiedlung wurde diese Vorstellung zur akzeptierten legalen Doktrin, die darüber hinaus seitdem eine zentrale Rolle in der Beziehung zwischen den schwarzen und weißen Australiern spielt.29

Batmans Vertrag von 1835 war, auch wenn er vermutlich die Aborigines täuschen wollte, ein entscheidender Testfall in dieser Angelegenheit. Die Entscheidung des Gouverneurs, die Einheimischen hätten keinen Anspruch auf das Land, wurde so lange wiederholt, bis sie 1889 die letztendliche Zustimmung des höchsten Berufungsgerichts des Empire, des Privy Council, erhielt. Der entscheidende Satz des Urteils lautete, Australien sei „praktisch unbesetzt, ohne niedergelassene Einwohner“ gewesen. Die Kronräte sagten damit zwar nicht, dass es keine Aborigines gegeben hätte, aber dass sie, als Nomaden, keinen festgeschriebenen Anspruch auf Besitz hätten. Heute sind wir da anderer Ansicht. Dennoch sollte man zugestehen, dass viele Kolonisatoren mit guten Absichten aufbrachen. Die Befehle, die 459

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­ izegouverneur Collins 1804 mitnahm, trugen ihm auf, freundschaftliche V Beziehungen zu den Eingeborenen zu etablieren: „Bemühen Sie sich nach allen Kräften, ein Verhältnis zu den Eingeborenen zu entwickeln und ihnen mit Wohlwollen zu begegnen, damit alle Menschen in Ihrem Gouvernement in Freundschaft und Freundlichkeit zusammenleben können ...“30 Vizegouverneur Arthur ließ später Tafeln aufstellen, die erklärten, dass Verbrechen von Siedlern genauso bestraft würden wie solche von Einheimischen. Zu einem bestimmten Zeitpunkt versuchte er auch, eine Aufteilung von Land zwischen kolonialen und Aborigines-Gebieten zu erzielen. Und in seinem Ruhestand bedauerte er, keinen solchen Vertrag abgeschlossen zu haben, wie er 1840 in Neuseeland gelang (vgl. dazu Kapitel 9). Im Alltag jedoch wuchsen neue Probleme schneller heran, als die alten gelöst werden konnten: der Kampf um die Ressourcen, die Ungleichheit der Bevölkerungsanteile und, vor allem, die Unfähigkeit miteinander zu kommunizieren. Nach den ersten Begegnungen dürfte sich eine anfängliche und von beiden Seiten verständliche Form des Kauderwelschs entwickelt haben. Europäische Seefahrer waren mit den sogenannten „Südseejargons“ vertraut und stellten Frauen an, die genug aufgeschnappt hatten, um ihre Aufgaben zu erledigen.31 Und dennoch wurde die Sprachbarriere nicht wirklich überquert. Untersuchungen von George Robinsons Tagebuch zeigten, dass seine Behauptung, er spreche die Sprache der Aborigines, eine grobe Übertreibung war. Seine Notizen für eine Predigt in einer Unterkunft der Aborigines auf Bruny Island, die er „in der Sprache der Aborigines“ gehalten haben will, belegen zwar ein Minimum an Vokabular-Kenntnissen, aber keinerlei Verständnis für Satzstrukturen oder Syntax: motti (ein) nyrae (guter) palerdi (Gott) novilly (böser) ­raegewropper (Teufel) parledi (Gott) maggerer (anhalten) warren-gelly (Himmel) ­raegewropper (Teufel) maggerer (anhalten) toogenner (unten) uenee (Feuer) . . . novilly (schlechte) parlevar (Einheimische) loggerner (tot) taggerer (gehen) teeny (Straße) toogenner (unten) ­raegewropper (Teufel), uenee (Feuer) ­maggerer (anhalten) uenee (Feuer)32

Für die versammelten Zuhörer dürfte sich die Höllenfeuer-Botschaft wie Geschwafel angehört haben. Es gibt auch keinerlei Belege dafür, dass das seit den 1820er-Jahren langsam entstehende Kreol über die allergrundlegendsten Formen hinausging. 460

Das „Down Under“ von „Down Under“

Die Worte eines sterbenden Mannes auf Flinders Island, die ein Missionar 1837 niederschrieb, belegen dies: Ich sagte zu Hector „Du bist sehr krank“. Hector, Ja ich viel menaty [krank]. Du coethee [liebst] Gott? Hector, Ja, ich coethee viel. ... Du sehr krank, du krakabuka [stirbst] langsam? Ja, ich talbeete werthickathe [?] zu Gott …33

Hector hatte rudimentäre Kenntnisse vom Christentum, konnte aber keinen Satz zusammensetzen, ohne Worte seiner eigenen Sprache einzubauen. Diese frühen Jahre – die 1820er- und 1830er-Jahre – waren die Blütezeit für Buschranger. Große Gebiete mit unerschlossenem Wald bildeten das ideale Versteck für Gesetzlose, Ex-Häftlinge und Deserteure, die abgelegene Farmen überfielen. Der Bekannteste unter ihnen war der aus Manchester stammende Matthew Brady (1799–1826), gefürchtet als „Gentleman Bushranger“. Als Gouverneur Arthur Fahndungsplakate zu seiner Festnahme in Umlauf brachte, revanchierte sich Brady und brachte Plakate mit dem Aufruf zur Festnahme des Gouverneurs in Umlauf. Verwundet und gefangen genommen, wurde Brady in Hobart gehängt – in einem Jahr, das hundert andere solcher Hinrichtungen erlebte. Martin Cash (1808–1877) war einer der wenigen Buschranger, der in ­seinem eigenen Bett verstarb, obwohl er zweifacher Mörder und mehr­ facher Ausbrecher war. Im County Wexford geboren, kam er im Alter von 19 Jahren auf einem Sträflingsschiff nach Sydney, wo er sich prompt aus dem Staub machte und nach Van-Diemens-Land floh. Hier verhaftete man ihn allerdings wegen weiterer Vergehen erneut. In Port Arthur inhaftiert, gelang es ihm zwei Mal, in die Freiheit zu schwimmen, und seine „Cash & Co“ genannte Gang verübte 1842–43 eine Reihe von Überfällen und Gewaltdelikten. Da er einen der Polizisten, die ihn gestellt hatten, erschoss, wurde er zum Tode verurteilt, bevor seine Strafe umgewandelt wurde und er schließlich eine Bewährungsstrafe erhielt. In der Folge nahm er die unterschiedlichsten Stellungen an, etwa als Bordell-Aufseher in Wellington, Neuseeland, und als Wärter in den Royal Botanical Gardens von Hobart. Die unter Europäern vorherrschende Gewalttätigkeit übertrug sich auch auf die Beziehung zu den Aborigines. In einer Strafkolonie am Ende der Welt war der Tod omnipräsent, und die Urinstinkte des Überlebens brachen immer wieder an die Oberfläche durch. Leider sind sich die Historiker nicht einig, was das Schicksal der Aborigines im Van-Diemens-Land 461

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angeht, zumindest nicht, wenn es um das Narrativ ihres Aussterbens geht. Manche nennen es schlicht rassischen Genozid, die Quelle eines „unauslöschlichen Makels“. Andere sind eher geneigt, eingeschleppte Krankheiten als Hauptschuldigen zu sehen. Es gibt auch eine Gegenstimme, die die ganze Angelegenheit für eine Fälschung hält.34 Doch in der Mehrzahl scheint man an eine Kombination aus Massakern und Epidemien zu glauben. Sicher ist, dass Mitte des Jahrhunderts nur wenige ursprüngliche ­Aborigines überlebt hatten, wobei man von einer Ausgangsbevölkerung zwischen 5000 und 15 000 ausgeht. Dieses Aussterben ging in drei Phasen vor sich. Zwischen 1804 und 1828 verschlimmerten sich die Auseinandersetzungen zwischen den Bevölkerungsgruppen. Zwischen 1828 und 1834 tobte ein radikaler „Black War“ zwischen den Kolonisatoren und den Aborigines. Nach 1835, als man die größte Gruppe an einheimischen Überlebenden zu ihrer eigenen Sicherheit fortgebracht hatte, geriet ihr Schicksal in der Kolonie außer Blick und damit außer Beachtung. Die Konfrontation zwischen Europäern aus dem 19.  Jahrhundert und paläolithischen Stammeskriegern war niemals ein Konflikt auf Augenhöhe. Es mag naheliegend sein, die mit Musketen, Pistolen und Kanonen ausgestattete Partei für objektiv völlig ungefährdet durch Nachbarn zu halten, die nur mit Speeren anrückten. Blutige Auseinandersetzungen entwickelten sich an der rücksichtslosen Jagd auf Kängurus, der Zerstörung alter Wälder und vor allem am Raub und der Vergewaltigung von einheimischen Frauen durch sexuell ausgehungerte Kolonisatoren und Strafgefangene. Dabei empörten sich die Aborigines nicht zuvorderst an der Behandlung ihrer Frauen – sie selbst raubten und vergewaltigten. Doch die durch Bräuche übliche Vergeltung führte in diesen Fällen nicht zu kleineren, begrenzten Scharmützeln zwischen unterschiedlichen Stämmen, sondern zu umfangreichem Blutvergießen zwischen Kolonisatoren und Aborigines. Dabei waren nicht allein die Morde für den katastrophalen Rückgang der Aborigines verantwortlich. Hinzu kamen noch einige weitere Faktoren. Eine Möglichkeit ist, dass ansteckende Krankheiten aus Europa in großem Ausmaß zu höherer Sterblichkeit, der Schwächung, zu Unfruchtbarkeit und einem dramatischen Rückgang der Geburtenrate aufseiten der Aborigine-Bevölkerung führte. Gegen Ende der 1820er-Jahre überfielen Aborigines eine Reihe von abgelegenen Farmen, wobei es auch zu Morden kam. In gewissem Sinne waren dies Verzweiflungstaten, die von den Siedlern jedoch als Kriegserklärung aufgefasst wurden. Der Herausgeber der Colonial Times, einer Zeitung in Hobart, verlangte ein Handeln von offizieller Seite: 462

Das „Down Under“ von „Down Under“

Wir werden hier nicht wichtigtuerisch von Philanthropie reden. Wir sagen unmissverständlich: Selbstverteidigung ist das erste Gesetz der Natur. Die Regierung muss die Eingeborenen fortbringen. Falls nicht, werden wir sie jagen und vernichten.35

Seiner Auffassung nach lag das Problem in dem trägen und nomadischen Lebensstil der Aborigines: Zwingen wir sie doch dazu, Kartoffeln anzubauen … und Robben und Fische zu fangen, und nach und nach werden sie ihre Veranlagung zum Umherziehen verlieren. Dann erarbeiten sie sich die ersten industriellen Gewohnheiten, was der erste Schritt in Richtung Zivilisation sein wird.36

Die Stimmung unter den Siedlern kippte. Ob zu Recht oder Unrecht, sie redeten sich ein, dass sie die Aborigines töten müssten, wollten sie nicht selbst getötet werden. Mit etwas Verzögerung und nach Rücksprache mit London fühlte sich Gouverneur Arthur im November 1828 dazu verpflichtet, das Kriegsrecht auszurufen. Bewaffnete Patrouillen oder „umherstreifende Trupps“ erhielten die Erlaubnis, alle Siedlungen zu verteidigen. 1830 wurden Kopfgeldzahlungen von 5 Pfund pro Kopf (und 2 Pfund pro Kind) für jeden Aborigine angeboten, der den Behörden übergeben wurde. Verwirrung entstand, als der Gouverneur verspätet hinzufügte, dass die Gefangenen lebend erwartet würden. Die größte Operation wurde „Schwarze Linie“ genannt: Tausende Soldaten und Freiwillige bildeten eine Menschenkette, als wären sie Treiber bei einer Fasanenjagd, um im Busch versteckte Aborigines herauszutreiben. Monatelang bewegten sie sich auf die Tasman-Halbinsel zu, wo sie die gesamte Aborigine-Bevölkerung einzufangen hofften. Zu ihrer Enttäuschung trieben sie nur Hunderte, nicht Tausende zusammen. 1833 gründete man auf Flinders Island das Wybalenna Aboriginal Reserve, um die übrig gebliebenen Eingeborenen aufzunehmen. Offiziell hatten nur 214 Personen überlebt, die nun dorthin verbracht wurden. Doch anstatt im Reservat wieder zu wachsen, sank die Anzahl der Aborigines weiter. Die Pocken wüteten unter ihnen, und nach vier Jahrzehnten wurde die Gemeinschaft der Aborigines offiziell für ausgestorben erklärt. Als Charles Darwin auf der HMS Beagle im Februar 1846 anlegte, formulierte er eine Meinung, die für die kommenden mindestens 100 Jahre akzeptiert wurde: „Die einheimischen Schwarzen sind alle fortgebracht worden und werden (in Wirklichkeit als Gefangene) erhalten. … Ich glaube, dass dieser 463

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grausame Schritt nicht zu vermeiden war, auch wenn das Fehlverhalten der Weißen ihn überhaupt erst nötig gemacht hat.“37 John Batman – der Mitbegründer Melbournes – war an diesen Ereignissen aktiv beteiligt. In Parramatta (New South Wales) geboren, wird er oft als der archetypische Macho-Grenzbewohner verstanden. Er war der Kopfgeldjäger, der Matthew Brady fasste, wofür er ein großes Stück Land zugesprochen bekam, nutzte „Sydney Blacks“ zum Aufspüren seiner Opfer und führte während des Black War einen der aggressivsten „umherstreifenden Trupps“. Er wurde überallhin von einem Aborigine-Jungen begleitet, dessen Eltern er getötet hatte und den er mit nach Melbourne nahm.38 George Augustus Robinson (1791–1866), bekannt als „der Schlichter“, war Batmans Gegenspieler und Antithese. Er kam 1824 als freier Siedler aus England nach Hobart und erlangte im Black War eine gewisse Berühmtheit, als er sich gegen die Zwangsmaßnahmen aussprach und stattdessen eine freiwillige Umsiedlung bevorzugte. Er war einer der Verantwortlichen für die Errichtung des Reservats in Wybalenna auf Flinders Island. Ohne Angst oder Waffen betrat er die Lager der Aborigines, in der Hoffnung, sie zur Aufgabe ihres Widerstands überreden zu können, und prahlte damit, die Sprache der Eingeborenen zu sprechen. Als er, wie Batman und Fawkner, nach Melbourne gezogen war, arbeitete er in den 1840er-Jahren im Auftrag der Regierung als Schutzchef der Aborigines. Heutzutage wird er, womöglich unfairerweise, dafür kritisiert, seine Aufgaben auf Flinders aufgegeben und Teile von menschlichen Körpern an das Natural History Museum in London geschickt zu haben.39 In jüngerer Zeit wurde aus der schwelenden Kontroverse über das Schicksal der tasmanischen Eingeborenen ein handfester Konflikt, der auch als „Aboriginal History War“ bezeichnet wurde. Das 1981 veröffentlichte Buch The Aboriginal Tasmanians wartete mit der gewagten These auf, dass es nie zum Aussterben der Aborigines gekommen ist; der „Mythos des Aussterbens“ sei von rassistischen Kolonisatoren erfunden worden, um die Machtübernahme durch die Siedler zu rechtfertigen. Lyndall Ryan argumentierte, die dramatische Zurschaustellung des Skeletts des „letzten Aborigines“ in Hobarts Natural History Museum sei bewusst so gestaltet worden, um von der Tatsache abzulenken, dass in Wirklichkeit noch andere Aborigines überlebt haben. Verfechter der Kolonisierung hätten, so Ryan, angeblich moderne statistische Methoden genutzt, um zu zeigen, dass es nie mehr als 2000  Ureinwohner gegeben habe und diese bereits vor der Gründung der Kolonie unausweichlich zum Aussterben verurteilt gewesen seien. Diese Art von spitzfindiger Argumentation impliziere, dass das 464

Das „Down Under“ von „Down Under“

Schicksal der Aborigines durch deren eigene Schwäche entschieden worden sei und die Siedler folglich nicht für deren Aussterben verantwortlich gemacht werden könnten.40 Wie es bei akademischen Querelen häufig der Fall ist, wurde Professor Ryan – sie war zuvor Assistentin des berühmten Historikers Manning Clark gewesen – von engstirnigen Kritikern böse angegangen. Wie üblich ohne Argumente vorzulegen, wurde ihr vorgeworfen, Tatsachen erfunden und bei Fußnoten geschwindelt zu haben. Auf lange Sicht gesehen bestand sie jedoch gegen die Anfeindungen. Ihr erweiterter und verbesserter Bericht über die Geschichte der Aborigines ist heute das Standardwerk zum Thema.41 Neben zahlreichen Belegstellen für Gewalttaten enthält ihr Buch bahnbrechende Kapitel über Episoden wie die „Kreol-Gesellschaft, 1808–1829“ oder die Gemeinschaft der „Oyster Cove, 1847–1905“ und kommt zur triumphierenden Feststellung, „die Auslöschung ist ein Mythos“. „Ihr Text … ist mit Leidenschaft und Eloquenz verfasst“, erklärte Henry Reynolds, „und informiert und rührt jeden, der sich für die australische Geschichte interessiert.“ In seiner eigenen Zusammenfassung des Themas fügte Reynolds nun ein Fragezeichen hinter die entsprechende Kapitelüberschrift ein – „Ein unauslöschlicher Makel?“42 Die 1840er-Jahre waren das letzte Jahrzehnt, in dem noch viele britische Verurteilte nach Tasmanien gebracht wurden. Mit 5329 Neuankömmlingen bildete das Jahr 1842 einen Höhepunkt, nachdem der Transport nach New South Wales zu Ende gegangen war. Im selben Jahr kam eine erste Bevölkerungszählung auf 57 471 Bewohner. Es gingen zwei Bischöfe, ein anglikanischer und ein katholischer, an Land; eine Synagoge wurde eröffnet. Und der Widerstand gegen die Transporte wuchs. Van-Diemens-Land war nun die letzte Strafkolonie des Empire. Die 1850er-Jahre werden häufig als jene Zeit angesehen, in der die Kolonie erwachsen wurde. 1853 endeten die Überführungen von Strafgefangenen, doch zuvor brachten große Schiffsladungen noch irische Politiker wie William Smith O’Brian an Land. Man prägte Medaillen und sang jubelnd Hymnen: Singt, denn die Stunde ist da! Singt für unser glückliches Heim. Unser Land ist frei. Zerstört sind Tasmaniens Ketten, Fortgespült ist all der Hass; Beendet der Zank und Schmerz! Gesegnete Jubelfeier!43 465

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Neben den ernannten gab es auch gewählte Mitglieder des Legislativrats, und nun veranstaltete man Wahlen für dieses Gremium; der erste Präsident der Kolonie, Thomas Horne, trat sein Amt 1856 an. Im selben Jahr änderte man den Namen der Kolonie offiziell in Tasmanien, nachdem zuvor ein für diese Epoche ungemein wichtiges Statussymbol gedruckt worden war: eine eigene Briefmarke. Die blaue 1d von 1853 zeigt das rechte Profil von Königin Victoria, umgeben von der kreisrunden Inschrift van diemen’s land one penny, ein wertvolles Stück. Einen Brief an einen Empfänger in England zu schicken, konnte bis zu 18 Monate dauern. Die 1850er-Jahre waren auch die Zeit des viktorianischen Goldrauschs, der in vielerlei Hinsicht seinem kalifornischen Vorgänger ähnelte. So war es ein kalifornischer Schürfer, Mr E. Hargraves, der im Februar 1851 den ersten „Fund“ am Summerhill Creek in der Nähe von Bathurst, Victoria, machte. Später im Jahr entdeckte man weitere Vorkommen in Benigo, am Anderson’s Creek bei Melbourne und vor allem bei Ballarat. Das Goldfieber brach aus. Massen von erregten „Goldgräbern“ kamen aus Europa, Nordamerika, China und Neuseeland herüber. Jede Woche landeten 2000 Menschen in Melbourne, und die Bevölkerung von Victoria verdoppelte sich innerhalb von zwölf Monaten. In Tasmanien begann eine Phase der wirtschaftlichen Prosperität, und im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts kam es zu einer raschen Modernisierung. 1871 wurde mit der Strecke zwischen Launceston und Deloraine die erste Eisenbahnverbindung Tasmaniens eingeweiht. Ab 1872 verband ein interkontinentales Unterseekabel Hobart mit London, was der uralten Isolation der Insel ein Ende machte. Wertvolle Mineralien wie Zinn, Silber und Kupfer wurden entdeckt und halfen beim industriellen Aufbruch. Auch der Export von Agrargütern boomte, vor allem bei Wolle und Weizen, und tasmanische Obstbauern waren die Ersten, die den Export von Äpfeln über die weite Strecke bis nach Europa wagten. 1885 führte die Kolonie die allgemeine Schulpflicht ein, und die Straßen von Hobart waren die ersten auf der Südhalbkugel, die nachts mit elektrischen Lampen erhellt wurden. Man legte die Grundlagen für Sport, Erholung und Tourismus. Schließlich war Hobart 1895 Gastgeber der ersten Konferenz der föderalistischen Bewegung Australiens. 1900 stimmten die Tasmanier mit überwältigender Mehrheit für eine Föderation. Ein Jahr später markierte die Ernennung zum Staat im Australischen Bund einen wichtigen Meilenstein. Trotz alledem litt der junge Staat unter schweren psychologischen Komplexen. Weit davon entfernt, sich zu seiner Vergangenheit zu bekennen und nach vorne zu schauen, bemühte sich die tasmanische Gesellschaft, alles 466

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Wissen über ihre Geschichte als Strafkolonie zu verleugnen. Sie verbarg zudem die Wahrheit über das Schicksal der Aborigines, indem diese Themen in der Öffentlichkeit tabuisiert waren. Das im isolierten Tasmanien stärker als in New South Wales ausgeprägte „Große Stigma“ entstand aus dem Bewusstsein heraus, dass das Mutterland mit Geringschätzung auf seine weit entfernten australischen Kolonien blickte. Es bildete sich das Gefühl einer provinziellen Unterlegenheit heraus, das durch den Schmerz der stets gleichbleibenden, immer wiederholten Stereotype von Kriminalität, Homosexualität und Kannibalismus verstärkt wurde. Die Figur des aus Australien geflohenen Häftlings Magwitch aus Charles Dickens’ ungemein beliebtem Roman Große Erwartungen (1861) half nicht dabei, die Wahrnehmung zu verschieben. Der ernste viktorianische Roman The Broad Arrow (1859) von Caroline Leakey, der in Tasmanien zur Zeit der Sträflingskolonie spielt, konnte in London erscheinen, aber nicht in Hobart.44 Es entwickelten sich bestimmte sprachliche Codes, in denen man über die eigene Familiengeschichte sprach. Einen ehemaligen Gefangenen nannte man in diesem Zusammenhang „Old Hand“ – und fragte man danach, was „ihn hierher gebracht hatte“, erkundigte man sich eigentlich nach „seinem Verbrechen“. Soziale Spannungen, die ihre Ursache in den gegenseitigen Verdächtigungen von Verurteilten und Freien hatten, setzten sich in der Klassenbeziehung fort: Landbesitzer und wohlhabende Mittelschichtsfamilien gaben vor, ausschließlich von aufrechten, untadeligen Vorfahren abzustammen, womit sie darauf anspielten, dass in ihren Augen die Arbeiterklasse zum Großteil von den Deportierten abstamme. Ganz gleich, an welchem Punkt man sich im Leben befand, alle sehnten sich nach Ehrbarkeit. Dabei schloss einen die Herkunft von einst Eingesperrten keineswegs vom sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg aus. Es gibt unzählige Beispiele dafür, dass „Old Hands“ ein erfolgreiches Leben meisterten. Etwa Charles Davis (1824–1914), der in London für den Diebstahl von seidenen Taschentüchern verurteilt worden war und 18-jährig nach Tasmanien verbannt wurde. Nach fünf Jahren auf Bewährung freigelassen, eröffnete er in Hobart als Kaufmann und Blechschmied gemeinsam mit dem befreundeten Ex-Häftling John Semple die Firma „Davis & Semple“. Er heiratete eine ehemalige Gefangene, Emma Hurst, trat der Congregational Church bei und gründete eine Familie. Sein Unternehmen, bekannt dafür, dass es auch ehemalige Strafgefangene einstellte, nahm in den 1850er- und 1860erJahren Fahrt auf, als es sich auf Gasleitungen spezialisierte. Im Folgenden kamen Herstellung, Import und der Verkauf in allen wichtigen Städten des Landes hinzu. Die Firmenzentrale in Hobart war Teil des größten 467

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Warenhauses der Stadt. Gegen Ende seines Lebens zählte Davis zu den bekanntesten Persönlichkeiten der Kolonie. Er heiratete fünf Mal, wurde zwölf Mal Vater und finanzierte zahlreiche städtische Projekte, unter anderem den YMCA: Charles Davis starb 1914 im Alter von 90 Jahren. Die Zeitungen druckten stattliche Nachrufe. … Seine Beisetzung war gewaltig. Dem „wunderschön violett und schwarz geschmückten“ Leichenwagen folgte eine lange Prozession. Auf dem Friedhof bildete [eine Menge] trauernder Angestellter ein Spalier neben dem Weg und formte einen Kreis …, als der Leichnam … in seine ewige Ruhestätte hinabgesenkt wurde. … Charles Davis’ Vergangenheit wurde dabei nicht erwähnt, wie auch er selbst sie nicht angesprochen hatte und selbst seine Nachkommen sie mehr als 100 Jahre lang nicht thematisierten.45

In dem Jahr, in dem Davis starb, brach der Erste Weltkrieg aus. Tasmanien widmete sich den Kriegsanstrengungen in einem Maße, das ein Historiker einst die „Dampfwalze eines dementen Hurrapatriotismus“ nannte. Bei einer Bevölkerung von 200 000 Menschen zogen 12 000 in den Krieg, also etwa jeder Achte, und 2500 von ihnen, rund 21 Prozent der Soldaten, starben im Krieg. Eine Weiße-Feder-Liga verfolgte „Abschaum“ und „Drückeberger“ nun mit dem gleichen Eifer, mit dem man einst Buschranger verfolgt hatte. Es begann eine Hexenjagd auf Siedler mit deutschem Ursprung, und die Bewohner der Bismarck Township bei Hobart wurden interniert. Man verbrannte Bildnisse des deutschen Kaisers. Nachdem sich die Ereignisse des Osteraufstands in Dublin 1916 herumgesprochen hatten, bildeten sich Treue-Ligen, und protestantische Patrioten schikanierten Katholiken. Die Arbeitslosigkeit nahm zu, vor allem in den Bergbaugebieten, da der Handel mit Deutschland, Tasmaniens größtem Handelspartner vor dem Krieg, ausgesetzt war. Sowohl der Pazifismus wie der Sozialismus gewannen neue Anhänger, was die Patrioten nur noch weiter aufbrachte. Im Vorfeld der anstehenden Gedenktage zum 100. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs fand im Frühjahr 2014 im Parliament House, Hobart, ein gemeinsames akademisch-parlamentarisches Seminar statt.46 Ich durfte zur allgemeinen Einführung die Ursachen und Auswirkungen des Ersten Weltkriegs vorstellen, bevor ein halbes Dutzend australischer Historiker Gedanken zu spezifischen Aspekten präsentierten. Die Analysen über Tasmanien zu Kriegszeiten waren besonders erhellend. 468

Das „Down Under“ von „Down Under“

Henry Reynolds fasste das Protokoll hervorragend zusammen. Zwischen 1914 und 1918 verschwanden 40 Männer aus dem winzigen Postkarten-idyllischen Dorf Richmond, in dem er selbst heute lebt, darunter drei Brüder aus dem Haus, das heute sein Zuhause ist. Zwei Freiwillige von der Universität von Tasmanien wurden für ihre Heldentaten mit der höchsten Kriegsauszeichnung, dem Victoria-Kreuz, belohnt. Großbritannien zählte wie selbstverständlich auf all seine Dominions, um Nachschub an loyalen Kämpfern zu bekommen, deren Einsatzbereitschaft schlicht als gegeben angesehen wurde. Reynolds stellte zunächst eine einfache Frage: Wofür kämpften diese Männer? Die Antwort lautete: „Für König und Vaterland“. Seine zweite Frage war dann schon schwieriger: Welches Land haben sie als ihr Vaterland angesehen – Britannien oder Australien? Glaubt man den Broschüren der Reiseanbieter, so ist Australiens südlichste Insel ein Garten Eden. Die Superlative stürzen von den Seiten wie das Wasser der Nelson Falls – „behutsamer Lebensstil“, „unberührte Wildnis“, „spektakuläre Kontraste“, „Kulturerbe im Übermaß“, „Ozeanstrände“, „Bergfeste“ und „geheime Kanäle“ massenweise. Im Gegensatz zum Festland ist Tasmanien grün und üppig; im Gegensatz zu Sydney oder Melbourne ist es nicht voller Menschen und deutlich entspannter; und das Ozeanklima ist mild. Eine Brise weht, die Sonne scheint und der Nebel klart immer auf. Doch die Landschaft ist nichts weiter als ein lebloses Bild, wird sie nicht auf irgendeine Art und Weise mit menschlichen Gedanken, Gefühlen und Erfahrungen verknüpft. Exakt in der Zeit, in der das Van-Diemens-Land besiedelt wurde, entdeckten romantische Dichter den Mechanismus, bei dem der Anblick einer Naturschönheit uns nicht nur zum staunenden Bewundern führt, sondern auch zum Nachdenken über tiefere Dinge. Der Genuss der Natur eröffnete einen Weg zu den nicht greifbaren, aber doch tiefgehendsten Schichten, die der Mensch erreichen kann. Die klassischen Texte dieses Genres sind William Wordsworths Präludium (1805), Alphonse de Lamartines Le Lac (1820) und Giacomo Leopardis Das Unendliche (1819). Wie alle anderen auch, profitieren Historiker von diesen Texten. Sie schauen sich die gegenwärtige Realität an, aber sie sehen auch die nicht länger existente Vergangenheit; und dann vergleichen sie, um zu sehen, was sich verändert hat: E come il vento Odo stormir tra queste piante, io quello Infinito silenzio a questa voce. 469

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Vo comparando: e mi sovvien l’eterno, E le morte stagioni, e la presente e viva. Und wie ich den Wind rauschen höre in diesen Büschen, vergleich ich jene unendliche Stille mit dieser Stimme, und in den Sinn kommen mir die Ewigkeit und die vergangenen Zeiten und die lebendige Gegenwart und ihr Klang.47

Im Falle Tasmaniens läuft man über die Strände und erklimmt die Gipfel, und ist dabei inspiriert durch den Wunsch, jene Menschen zu verstehen, die früher hierhergekommen sind: die Aborigines, die Kolonisatoren, die Buschranger, die Sträflinge. Man vergleicht die „vergangenen Zeiten“ mit der „lebendigen Gegenwart“. Es ist ein Gefühl, das einem auch in den schottischen Highlands begegnet. Man betrachtet die leere Großartigkeit der Lochs und Glens, und dann fällt einem ein, dass vor nicht allzu langer Zeit dieses Land von den Gälen bewohnt war, die durch die Clearances vertrieben wurden, damit Schafe die Menschen ersetzen konnten. Die violette Heide und das Mitleid sind untrennbar miteinander verbunden. Doch da ist noch mehr. Jeder mit ein wenig romantischer Veranlagung wird erkennen, dass das Werk der Natur sublim ist, wohingegen das Werk der Menschheit mangelhaft, entstellend und dekadent ist. Besonders in Tasmanien ist dieser Kontrast augenfällig. Die idyllische Szenerie, die seit Urzeiten in völliger Isolation aufblühte, betont die menschliche Schwäche nur umso stärker.48 Für jeden, der Zugriff auf ein Boot hat, ist es verführerisch, Tasmaniens sensationelle Inseln anzusteuern. Manche, wie etwa Bruny Island in der Storm Bay, sind beliebte Ziele für Tagesausflüge ab Hobart. Die bergige Maria Island, eine ehemalige Sträflingskolonie, liegt vor der Ostküste. Schouten Island ist der letzte Apostroph am Ende der großartigen Freycinet Peninsula. King Island liegt weit draußen in der BassStraße. Und Macquarie Island scheint schon fast in der Antarktis zu sein. Landratten dürften hingegen vermutlich eher Tasmaniens einzigartige Sammlung von geschützten Nationalparks erkunden, die nicht weniger als 40  Prozent der gesamten Landfläche einnehmen. Man hat dabei 17 zur Auswahl. Rocky Cape Park bietet Ausblicke über die Bass-Straße. Narawntapu ist besonders für seinen Tierreichtum und seltene Pflanzen bekannt. Zum Tasmanian Wilderness Park gehören Cradle Mountain, Lake St Clair und die Walls of Jerusalem. Im Ben Lomond Park liegen die wichtigsten 470

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Skigebiete der Insel. Und die langen, weißen, halbmondförmigen Strände der Great Oyster Bay sind unvergleichlich. Der Cradle Mountain ist eine der ikonischsten Sehenswürdigkeiten überhaupt. Das raue Bergmassiv mit der Doppelspitze, getragen von Diabassäulen, überragt majestätisch einen Gletschersee, den Dove Lake. Während man vorsichtig auf dem Weg den See umkreist, versteckt sich die Bergspitze abwechselnd hinter Wolken oder zeigt sich in dramatischen Spiegelungen im Wasser; die Farben ändern sich stündlich. Am Morgen, unter einem drohenden Himmel, ist der Berg schwarz. Zur Mittagszeit, wenn sich das Wetter bessert, wirkt er grau-braun. Im Sonnenschein des Nachmittags heben sich seine grünen Hänge vom blauen Himmel ab und zeigen uns eine glänzende, vierspitzige Reflexion. Man sagt, es regnet am Cradle an 360 Tagen im Jahr. Wir erwischten ihn an einem der fünf Tage, an denen es nicht so ist. Die Wanderung zu den Horseshoe Falls im Mount Field National Park dürfte knapp dahinter auf dem zweiten Platz landen. Den feuchten Winden völlig ausgesetzt, ist der kurvige Steilhang von dichtem, Dschungel ähnlichem Unterwuchs bestanden und bietet Platz für die größten Bäume der Südhalbkugel. Der Eucalyptus regnans, auch prosaisch als „Tall Tree“ oder „Riesen-Eukalyptus“ bekannt, macht den kalifornischen Mammutbäumen Konkurrenz, und neben 100  Metern schnurgeradem Baumstamm fühlt sich der vorüberstolpernde Wanderer ziemlich winzig. Ein Tag in Penguin an der Nordküste bietet erschöpften Beinen willkommene Erholung. Die Pinguin-Kolonie, die der Stadt ihren Namen gab, bewohnt noch immer die Landspitze. Eine kurvenreiche, blumengesäumte Promenade verläuft parallel zum breiten Strand. Ein altmodisches Denkmal steht, begleitet von einem riesigen Pinguin, mitten auf ihr: dieses denkmal wurde von der öffentlichkeit errichtet in erinnerung an die troopers thomas william barker und geoffrey brown aus penguin die 1900 in südafrika starben in edler ausübung ihrer pflicht für königin und empire. trooper barker … starb in bloemfontein an typhus. trooper brown von den 471

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1st imperial bushmen starb durch wunden, die ihm in warmbaths zugefügt wurden.

Die hübscheste Sehenswürdigkeit ist der viktorianische Bahnhof, der gepflegt wurde, obwohl schon lange keine Züge mehr fahren. Die verwitterten Bretter sind in beige und grau neu gestrichen worden. Flachglas­ fenster wurden eingepasst, um einen Blick auf die Straße zu ermöglichen, und das Gebäude gehört heute der Penguin History Group, Inc. Die TicketHalle wurde zu einem bequemen, von treuen Anhängern gepflegten Geschichtsraum: „Jeden Mittwoch geöffnet, von 10  Uhr bis Mittag. Auskünfte unter 6437 2582“. Meine Bitte um Auskunft wäre: „Kann ich bitte dem Verein beitreten?“ Port Arthur ist unübersehbar der Ort, an dem man die Beschäftigung mit der Geschichte der Strafgefangenen beginnen sollte. Doch vor Ort hat das Angst einflößende Gefängnis viel von seiner Bedrohlichkeit verloren: Es befindet sich inmitten einer wunderschönen Küstenlandschaft mit üppigen Wiesen, schattigen Bäumen und Blumenbeeten im Zentrum eines großen Freiluftmuseums. Es werden Gegenstände gezeigt, und Informationstafeln liefern Hintergründe. Dies war der Ort, an dem Menschen töteten, nur um am Galgen Erlösung zu finden. Doch der eindrücklichste Aspekt dürfte der Kontrast zwischen der grausamen Realität und den utopischen Idealen sein, der die Schöpfer dieser Anlagen bewegte. Einen Gutteil des Idealismus trug der utilitaristische Philosoph Jeremy Bentham (1748–1832) und sein Konzept eines Panopticons bei: eine Strafanstalt, die so gebaut wurde, dass alle Insassen theoretisch von einem einzigen Wächter kontrolliert werden können. Bentham und seine Anhänger wollten die Peitsche und neunschwänzige Katze überflüssig machen, mit der Gefangene üblicherweise bestraft wurden, und stattdessen ein schmerzloses System einführen, das eher die Köpfe als die Körper der Gefangenen kontrollierte. Die Strafgefangenen in Port Arthur wurden voneinander getrennt und unter unablässiger Beobachtung gehalten; sie bekamen Essen als Belohnung für gutes Benehmen und mussten zur Strafe hungern. Wer aufmüpfig war, bekam eine Kapuze auf und wurde in totaler Stille eingesperrt. Die verheerende Analyse von Michel Foucault zeigte, wie fehlgeleitet diese Methoden waren.49 Zahlreiche Insassen wurden wahnsinnig und in eine Irrenanstalt verlegt. Frauen und Jungen hatten ihre eigenen Blocks. Und jeden Tag blickten sie übers Meer auf die Isle of the Dead, wohin die Toten gebracht wurden, um in namenlosen Massengräbern verscharrt zu werden.50 Die Cascade „Female Factory“ („Frauen-Fabrik“) in South Hobart, die zwi472

Das „Down Under“ von „Down Under“

schen 1818 und 1877 arbeitete, funktionierte nach demselben Schema: Mehr als 1000 Frauen wurden in einer sogenannten „Besserungsanstalt“ gehalten. Der moderne Besucher zuckt beim Anblick der hohen Steinwände zusammen, die jeden Blick auf das umgebene Grün verhindern, genau wie jede Hoffnung auf eine intellektuelle Reform. Das Aborigine-Erbe Tasmaniens ist noch schwerer aufzuspüren. In den letzten Jahren wurden große Anstrengungen unternommen, die Aborigine-Vergangenheit anzuerkennen und der Öffentlichkeit wieder neu davon zu berichten. Gesetze wurden verabschiedet, Entschuldigungen ausgesprochen und Wohlfahrtsprogramme gestartet, die die Gemeinschaft der Ureinwohner unterstützen sollen, die offenbar doch nicht ausgestorben sind. Für den interessierten Besucher sind jedoch nur wenige Stellen zugänglich. Es gibt eine kommerzielle Galerie für Kunst der Aborigines, die ArtMob, an der Uferpromenade von Hobart. Das Tasmanian Museum hat den Angelegenheiten der Ureinwohner einen kleinen Saal gewidmet, dessen großer Titel „Ningina Tunapri“ übersetzt „Wissen und Verständnis vermitteln“ heißt und dessen großer Ausstellungsgegenstand die Nachbildung eines Rindenkanus ist. Das Tiagarra Museum an der Nordküste des Landes bewahrt eine prähistorische Fundstelle mit Höhlenzeichnungen. Jener große Teil der Ausstellung, der den Mythos der Auslöschung darstellte, ist entfernt worden. Das Skelett von Truganini (1812–1876), der letzten tasmanischen Aborigine, das zwischen 1876 und 1947 schändlicherweise im Tasmanian Museum zu sehen war, ist vor langer Zeit auf See bestattet worden. Das Grab ihres männlichen Gegenparts, William Lanne (1835–1869), dass sich ursprünglich auf dem St  David’s Cemetery befand, wurde ebenfalls aufgelöst. Ganz in der Nähe findet sich eine Tafel mit ­folgender rührender Erläuterung: William Lanne, der letzte im Stamm geborene tasmanische AborigineMann, wurde hier begraben, nachdem er an der bei einem Walfang zugezogenen Cholera-Erkrankung gestorben war. Seine freundliche Art machte ihn beliebt, und er wurde im Beisein seiner Kameraden vom Schiff mit einer großen Zeremonie beigesetzt. In der Nacht seines Todes gruben zwei führende Chirurgen seinen Körper wieder aus, um sein Skelett für wissenschaftliche Untersuchungen sicherzustellen. Sein Körper wurde nie wieder zurückgebracht, und die Angst vor einer ähnlichen Verstümmelung quälte Truganinis letzte Lebensjahre. 473

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Und doch begegnen einem noch immer Reste der alten Vorurteile. Der Glaube an den Mythos der Auslöschung konnte nicht zerstört werden. Und Geschichtsstunden verursachen noch immer Verlegenheit: Der letzte tasmanische Aborigine starb 1876 Eine Hand schnellt hoch Aber, Herr Lehrer, ich bin ein Aborigine Wie kannst du das sein Aber, Herr Lehrer, ich bin’s, ich bin’s Mutter und Vater erzählten es mir Nein, bist du nicht und damit Schluss Ein Mund geht nach unten Augen glänzen und füllen sich langsam Doch, Herr Lehrer Wieder eine Lektion gelernt Was historische Ungenauigkeit angeht Engstirnigkeit und weiße Gleichgültigkeit.51

Forscher, die sich nicht allzu schnell den Schneid abkaufen lassen, könnten einmal das Internet zurate ziehen. Nützliche Begriffe für eine Suchmaschine könnten beispielsweise „parlevar“, „truganini“ oder „aboriginality“ sein. Man wird bemerken, dass die meisten der dabei auftauchenden Organisationen sich um die Unterstützung von Tasmaniern mit Aborigines-Herkunft bemühen und dass ihre Aktivitäten höchst umstritten sind. Kritiker bemängeln, dass von politischer Korrektheit besessene Aktivisten Regierungsgelder kontrollierten und andere, die ein Eigeninteresse an der Sache haben, die wichtigen Zertifikate zur Bestätigung der ­Aborigines-Zugehörigkeit manipulierten.52 Ein Aboriginal Land Council (ALCT) managt zwölf den Aborigines vorbehaltene Grundstücke. Der Tasmanian Aboriginal Land and Sea Council (TALSC) konzentriert sich auf kulturelle Projekte. Das Aboriginal Heritage Office wird vom TourismusMinisterium betrieben. Und das Tasmanian Aboriginal Center (TAC) bemüht sich darum, Überreste und Artefakte der Aborigines, die von Europäern geplündert wurden, wieder herzustellen.53 Die Arbeit all dieser Körperschaften wurde 1983 durch die Annullierung der Doktrin der terra nullius deutlich erleichtert, und auch die offizielle Entschuldigung des staatlichen Parlaments half dabei: 474

Das „Down Under“ von „Down Under“

ANGENOMMEN nemine contradicente – Dass dieses Haus … tiefes und ernst gemeintes Bedauern über die von seiner früheren Politik verursachten Schmerzen und Leiden ausdrückt, durch die Aborigine-Kinder ihren Eltern weggenommen und aus ihrem Haus vertrieben wurden: Wir bitten das Volk der Aborigines um Verzeihung für diese Taten der Vergangenheit und bestätigen den Wunsch nach Aussöhnung zwischen allen Australiern.54

Die unter der Oberfläche brodelnde Kontroverse kam 2013 unerwartet bei einem australischen Boxkampf im Mittelgewicht ans Tageslicht. Der Titelinhaber, Daniel Geale, präsentierte sich als tasmanischer Aborigine. Sein Herausforderer, der ehemalige Rugbyspieler Anthony Mundine, stammte vom Bundjalung-Volk aus New South Wales. Vor dem Kampf äußerte er sich in einer Art, wie es nur ein Ureinwohner wagen würde: „Ich dachte, sie haben all die Aborigines aus Tasmanien ausgelöscht“, erklärte er ungerührt. „Er hat eine weiße Frau und weiße Kinder.“55 Den anschließenden Kampf verlor er. Die Mythologie der Aborigines bietet eine alternative Annäherung an das Thema. Die Parlevar glaubten an Himmelsgeister, die das Schicksal der Menschheit bestimmten: Parlevar war der erste Aborigine. Um ihn zu erschaffen, nahm Moihernee etwas Erde mit in den Himmel und formte einen Mann mit einem langen Schwanz, wie ein Känguru, und Beinen ohne Kniegelenke. Das hieß, Parlevar konnte sich nicht hinlegen und musste im Stehen schlafen. Als Dromerdeener, der Geist des großen Sterns, dies erblickte, entschloss er sich zu helfen. Er schnitt den Schwanz ab, gab [ihm] Kniegelenke und rieb Fett in die Wunden. Als Parlevar sich nun zum ersten Mal setzte, sagte er Nyrarae – „es ist gut“.56

Jeder, der diese Schöpfungsgeschichte für sich selbst erleben möchte, muss den South Coast Track im Schatten der Ironbound Mountains mehr als 80  Kilometer entlangwandern und jenseits der Louisa Island eine breite Bucht durchqueren, die heute Cox Bight genannt wird. Hier findet sich ein kolossaler Felsbrocken. Mehr ist von Moihernee nicht übrig geblieben, als er vom Himmel fiel. Regionale Akzente sind im australischen Englisch nicht sehr stark ausgeprägt, und man braucht schon ein sehr feines Ohr, um die Nuancen unter475

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scheiden zu können. Von Tasmaniern, wie von den Bewohnern Melbournes, sagt man, sie sprächen langsam – „Walcome to Malbourne“; sie sprechen Vokale in gewisser Hinsicht wie Neuseeländer aus; typischerweise sagen sie „G’day, Cock“ anstatt „G’day, Cobber“ [austral.  /  neuseel. für „Kumpel“, „Freund“]. Aus irgendeinem Grund essen sie eher „Eier und Speck“ statt „Speck und Eier“. Englisch sprechende Besucher werden daher eher Dinge bemerken, die sie andernorts in Australien überraschen würden. Sie werden seltsame Worte und Phrasen hören wie etwa Sheila für „eine Frau“, dinkum für „sehr hübsch“ oder Strine für „australische Sprache“. Sie werden auch Sprecher bemerken, die „Breites“ sprechen, also Diphthonge übertreiben wie Barrie Humphries, und andere, die „Kultiviertes“ sprechen, als würden sie für die BBC arbeiten. Linguisten teilen die australischen Akzente allgemein in das „Breite“, das „Kultivierte“ und das „Allgemeine“ auf.57 Die in Wales geborene Julia Gillard war zum Zeitpunkt unseres Aufenthalts Australiens Premierministerin, und ihre unnachahmliche Stimme ließ sich weder als „kultiviert“ noch als „allgemein“ klassifizieren. Sie wäre eine gute Kandidatin für einen Preis im Namen Winston Churchills, der das „Strine“, das Australische, als „die brutalste Misshandlung, die jemals der Muttersprache der großen englischsprachigen Nationen zugefügt wurde“, empfand.58 Churchills Bemerkung mag eher nicht sehr dinkum sein, aber man muss zugeben, dass die Australier zu charaktervollen Wortgestaltungen in der Lage sind: arvo back o’bourke bludger bushbash chook dilly drongo dunny eskie garbo journo milko mozzie postie salvo 476

afternoon (Nachmittag) the back of beyond (das Ende der Welt) lazy person (Faulenzer) outback trip (Trip ins Outback) chicken (Hühnchen) handy bag (praktischer Tragebeutel) a no-hoper (eine Nullnummer) latrine (Latrine) ice-box oder refrigerator (Kühlschrank) refuse collector (Müllmann) journalist (Journalist) milkman (Milchmann) mosquito (Stechmücke) postman (Postbote) the Salvation Army (die Heilsarmee)

Das „Down Under“ von „Down Under“

strides thingo truckie yobbo Oz

trousers (Hosen) thingamajig (Dingsbums) lorry driver (Lkw-Fahrer) oaf (Depp) Australia (Australien).59

Ausländer dürften auch eine Weile brauchen, um sich an die farbigen Bezeichnungen zu gewöhnen, mit denen Australier die Bewohner der verschiedenen Teile des Landes benennen: Bananabenders aus Queensland Croweaters aus South Australia Sandgropers „Westralier“ Mexicans aus Victoria (von Sydney aus gesehen) Bewohner von New South Wales (von Victoria aus Cockroaches gesehen) Top Enders Bewohner der Northern Territories Apple Eaters oder Taswegians Tasmanier

Und niemand, der des Englischen ausreichend mächtig ist, sollte Australien verlassen, ohne das Buch Genesis in der Strine-Fassung gelesen zu haben: Da war diese Sheila, die einer Schlange-im-Gras begegnete, die über alle Gerissenheit eines Trickbetrügers verfügte. Die Schlange fragt sie, warum sie sich ihr Mittagessen nicht einfach vom Baum pflücke. Die Sheila sagte, Gott habe ihr erklärt, sie sei totes Fleisch, sollte ihr Obstsalat von genau diesem Baum stammen. Aber die Schlange erwiderte, sie würde nicht sterben. Sie nahm den Baum noch mal in Augenschein, dann einen Biss und gab die Frucht an ihren Macker weiter. Genau hier und jetzt wurde ihnen klar, was sie getan hatten, und sie fühlten sich splitterfasernackt.60

Auch die Strine-Fassung des Neuen Testaments hat etwas ganz Eigenes: Da machte sich Joe auf den Weg von Nazareth (in Galiläa-Shire) nach Bethlehem (in Judäa-Shire), schließlich war das der Busch, aus dem König David stammte. … Er war mit seiner Verlobten Mary unterwegs, die zu dem Zeitpunkt schon ziemlich nah dran war an den neun Monaten. Als 477

8. Tassie

sie angekommen waren, bekam sie einen kleinen Jungen. Sie wickelte ihn in eine Häschendecke und verstaute ihn in einer Futterrinne im Hinterhaus, weil der Pub vorne bis zum Bersten gefüllt war.61

Womöglich klingt auch „tasmanische Küche“ in einigen Ohren wie ein Oxymoron; schließlich ist es nicht allzu lange her, dass die britische Tradition von Fish&Chips und Gerichte wie „Fleisch, Bratensoße & Gemüse­ beilage“ als das Nonplusultra galten. Doch in den letzten Jahrzehnten hat Australien sehr viele Fortschritte gemacht. Mit der Ankunft von Migranten aus dem Mittelmeerraum und Asien wuchs die kulinarische Vielfalt und die Tasmanier waren in der Lage, viele Bestandteile dieser neuen Zutaten liefern zu können. Die kristallklaren Gewässer sind mit unglaublich guten Krebsen und wilden Seeohren gesegnet, und gezüchteter atlantischer Lachs ist ein wichtiges Exportgut geworden. Neben den traditionellen Erzeugnissen wie Äpfeln, Molkereiprodukten und Honig haben sich die tasmanischen Landwirte inzwischen auf allen Gebieten des ökologischen Landbaus etabliert. Und in den Wäldern lassen sich vielerorts schwarze Trüffel finden. Die besten Weine können mit denen aus Neuseeland oder Victoria mithalten. Tasmaniens erste Weinstraße führt durch das Tamar Valley, nördlich von Launceston. An den Straßenrändern findet man immer wieder Selbstbedienungsstände, die allerlei Obst – Aprikosen, Himbeeren, Blaubeeren – feilbieten, eine „Kasse des Vertrauens“ daneben. In der Regel steht ein Schild dabei, das zum Beispiel davor warnt: „Wenn Sie mein Obst klauen, hoffe ich, dass Sie daran ersticken!“ Das staatlich verordnete Destillierverbot, das 1838 erlassen wurde, galt bis 1992. Doch 2014 erhielt ein Tassie-Whisky, der ­Sullivans Cove, die Auszeichnung als „weltbester Single Malt“.62 Am Vorabend unserer Abreise gönnte ich mir selbst, da meine viel beschäftigte Frau anderweitig unterwegs war, ein Meeresfrüchte-Dinner bei Mures Upper Deck im alten Hafen von Hobart. Ich saß an einem Fenster im ersten Stock, von wo aus ich Fischern beim Ausbessern ihrer Netze zuschauen konnte, die Schreie der Möwen vernahm und die Manöver eines Kreuzfahrtschiffs draußen in der Bucht beobachtete. Ich begann mit einer dicken Fischsuppe, die randvoll mit herrlich frischen Garnelen, Muscheln und Meeresforelle war und zu der neben einer Knoblauch-Krustade auch Sauerteigbrot gehörte. Das Hauptgericht war ein mit der Angel gefangener Wildfisch, serviert mit gerösteten jungen Rüben, einem cremigen Risotto, Grana Padano und knackigem Basilikum; als Beilage gab es marinierte tasmanische Oliven mit Spinat. All das spülte ich mit einer Flasche Bay of Fires Riesling 2011 hinunter, wie immer gefolgt von einem einfachen 478

Das „Down Under“ von „Down Under“

Espresso. Die Mahlzeit war nicht teuer, wurde mir gut gelaunt serviert und war weit entfernt von Fish&Chips. Das Thema „dunkle Geheimnisse“ verlangte noch nach Aufklärung, bevor wir Tasmanien wieder verließen. Es ist eine heikle Angelegenheit, zu der eine indirekte Hinführung am besten passen dürfte. Ich erinnere mich an einen Vortrag, mit dem sich ein Bewerber (letztendlich erfolglos) um eine Dozentenstelle an der London University bewarb; die Vorlesung trug den Titel „Sex und Sibirien“, und ich hielt sie für eher gelungen. Trotz des provokativen Titels ging es bei dem Vortrag um die entsetzlichen sozialen und psychologischen Konsequenzen aus der Exilierung einer großen Anzahl misshandelter Männer in einem abgelegenen Landstrich, in dem sie kaum Chancen auf den Aufbau einer normalen, stabilen Partnerschaft hatten. Vergewaltigungen, kriminelle Sex-Ringe, unbehandelte Geschlechtskrankheiten und unkontrollierte Prostitution standen ganz oben auf einer Liste übler Erscheinungen, die bis zu Inzest, Inzucht, angeborenen Missbildungen, der Entführung von Frauen der Einheimischen, Kindesmissbrauch und Wahnsinn reichte. Und dieses Problem dürfte nicht exklusiv auf Sachalin oder Kamtschatka zutreffen. Ich nehme also das Internet zu Hilfe. Die beiden Suchbegriffe „Tasmanien“ und „Manning Clark“ liefern Hinweise darauf, dass der berühmte Historiker in 1,  Tasmania Circle, Canberra, lebte, wo sein ehemaliges Wohnhaus inzwischen ein Museum ist. Diese Belanglosigkeit wirft kein neues Licht auf die Geschichte Tasmaniens. Die Kombination aus „Manning Clark“ und „dunkle Geheimnisse“ führt zu einer weiteren interessanten Bagatelle. Der so hochgelobte Historiker war, so könnte sich herausstellen, nicht nur Marxist und pro-kommunistischer Sympathisant – was durchaus üblich war in seiner Generation –, sondern womöglich auch ein Sowjetspion, durch verborgene sexuelle Praktiken erpressbar geworden und vom tschechoslowakischen Geheimdienst angeworben. Ein kürzlich erschienenes Buch, das Manning als den „Gequälten Mythen-Erschaffer“ darstellt, führt einige entsprechende Zitate auf. So schrieb er: „Vielleicht könnte ein siegreiches und geläutertes Russland ein reinigendes Feuer in Australien entzünden.“ Und an anderer Stelle: „Russland füllte das Vakuum, das Gott hinterlassen hat, mit Kultur.“63 Leider erreichte das reinigende Feuer Sowjetrusslands nie Tasmanien, und Clark dürfte die Parallele mit Sibirien auch nie erkannt haben. Ich stöberte weiter und gab in der Suchmaschine „Tasmanien“ und „übernatürlich“ ein, ohne wirklich Erhellendes zu finden. „Tasmanien ist von allen australischen Bundesstaaten der, in dem es am meisten spukt“, 479

8. Tassie

erfahre ich auf einer Webseite, auf der sich auch das Foto der von Geistern heimgesuchten Addington Lodge in New Norfolk findet. „Tasmanien hat mehr Geister pro Quadratkilometer als jeder andere Staat im Commonwealth“, lese ich auf einer anderen Seite. Schnell stellt sich heraus, dass Geistergeschichten ein Schwerpunkt der tasmanischen Literatur sind.64 Die bekanntesten Legenden konzentrieren sich um Richmond Bridge, eine hübsche alte Stadt im Südosten. Hier spukt in nebligen Nächten der Geist von George Grover, einem Gefängniswärter aus Port Arthur, der leidenschaftlich gern Menschen auspeitschte und, wenig überraschend, von den Menschen ermordet wurde, die er ausgepeitscht hatte. Wenn ich „Tasmanien“ und „Image“ eingebe, stoße ich auf Texte darüber, dass die Hälfte der weltweiten Produktion an Schlafmohn auf dieser Insel angebaut wird. „Genetisch veränderter Schlafmohn“, so empört sich ein zorniger Umweltschützer, „bedroht das Image Tasmaniens und seiner grünen, sauberen Landwirtschaft.“65 „Tasmanien“ und „Reputation“ ist da schon deutlich ergiebiger, nicht zuletzt weil hier Tasmaniens „schlechte Reputation“ erläutert wird, die auf „verurteilte Schwerverbrecher, schlechtes Wetter und den Tasmanischen Teufel“ zurückgeführt wird. Eine historisch ausgerichtete Internetseite betrachtet die Bemühungen, Mitte des 19. Jahrhunderts vom Label Van-Diemens-Land fortzukommen.66 „Schon allein der Name Van-Diemens-Land konnte einem einen Schauder über den Rücken jagen“, heißt es dort. Man verband den Namen nicht nur mit einem brutalen Strafvollzug, sondern auch mit grausamen Fällen von Serienmördern, die die Kolonie in der Anfangszeit heimsuchten. Alexander Pearce war bei Weitem nicht der einzige. Thomas Jeffries – ein Sadist, Sexualstraftäter, Kannibale und Babymörder, der 1826 gehängt wurde – war ein weiterer; Charles Routley, gehängt 1830, ein dritter.67 Routley, der vor seiner im heimatlichen Devon ausgesprochenen Todesstrafe geflüchtet war, beging seine schlimmsten Taten als auf Bewährung freigelasser Ex-Häftling. Er hatte sowohl die linke Seite seines Kiefers als auch einen halben Arm verloren, an dessen Stumpf man ihm einen Eisenhaken befestigte. Doch trotz dieser Einschränkungen verringerten sich seine Fähigkeiten als bewaffneter Räuber nicht. Als der Hobart Town Courier von seiner Hinrichtung berichtete, beschrieb er ihn als „eines der abscheulichsten und blutdurstigsten Monster, die jemals den Annalen der Menschheit Schande bereitet haben“. Nach einer langen Reihe von Überfällen und Morden wurde er schließlich für den sorgfältig geplanten Mord eines Opfers verurteilt, dass er lebendig röstete, vermutlich, um es zu essen. Ort des Geschehens war 480

Das „Down Under“ von „Down Under“

Pitt Water, das heute ein wunderschönes Naturreservat in der Nähe des Flughafens von Hobart ist. Einen Durchbruch erzielte ich, als ich „Reputation“ durch „Andeutung“ ersetzte. Ein Eintrag mit der Überschrift „Ist in Tasmanien Inzest legal?“ tauchte auf. Er stammte aus dem „Frage & Antwort“-Portal von Yahoo: FRAGE: „Ich habe gehört, es sei okay, mit deinem Cousin ersten Grades rumzumachen, solange man nicht heiratet. Ist in Tasmanien wirklich jeder mit jedem verwandt?“ BESTE ANTWORT: „Gähn. Hier kommt ja schon wieder jemand mit dieser verrückten Andeutung auf Inzest. Vielleicht glaubt ihr ja, dass Tasmanier zwei Köpfe haben, aber ich bin sicher, dass man bei den Leuten vom Festland nicht mal einen einzelnen, wirklich kreativen Gedanken findet.“

Hier wurde das Tabu also endlich aus seinem Versteck hervorgescheucht. Der offensichtliche Groll der Tasmanier gegenüber den Menschen vom Festland dürfte durch die Menge und Beiläufigkeit der niederträchtigen Vorwürfe befeuert worden sein. Eine kurze Suche mit „Inzest“, „zwei Köpfe“ oder „Inzucht“ bringt eine Unmenge von Schmutzkampagnen, Sticheleien, geschmacklosen Witzen, kruden Zeichnungen und dubiosen Geschichten hervor, alle auf Kosten der Tasmanier. Viele Australier scheinen dem Mythos anzuhängen, dass inzestuöse Beziehungen ein etablierter Teil einer verborgenen tasmanischen Kultur seien, dass nach der SchafSchur gleich der „Schaf-Fick“ komme, dass die Häufigkeit von angeborenen Missbildungen außergewöhnlich hoch sei und man alle Arten der Perversion auf die Vergangenheit der Insel als Strafkolonie zurückführen könne. Ein damit verbundener Mythos, nicht selten mit weiblichen Geschlechtsteilen illustriert, ist, dass „alle tasmanischen Frauen eine Karte der Insel auf ihrem Körper tragen.“ Die Schmutzkampagnen greifen häufig auf einen zweideutigen Slang zurück, zu dem Ausdrücke wie „mudbloods“ („Schlammblut“), „Tasmaniacs“ (von „maniac“: „wahnsinnige Tasmanier“), „bogans“ („Assis“) oder „underbelly baddies“ („Bösewichter von der Schattenseite“) gehören. Und nur ganz selten verzichten sie darauf, auf ein außergewöhnliches, auch in Tasmanien vorkommendes und wirklich existierendes Tier hinzuweisen, den Ameisenigel. Man mag es glauben oder nicht, aber der Echidna ist ein langschnabliger, eierlegender, termitenessender und stachelige Igel, der den Ruf genießt, das Tier mit dem „weltweit seltsamsten Hochzeits-Gehänge“ zu sein, einem Penis mit vier Spitzen.68 Was die Sache schlimmer macht: 481

8. Tassie

Klassisch gebildete Zoologen mit schelmischem Humor haben dieses völlig harmlose tasmanische Säugetier nach der griechischen Sagenfigur Echidna benannt, die halb Mädchen, halb Schlange ist sowie „die Mutter aller Ungeheuer“. Und um dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen, gebar die mythologische Echidna sowohl den zweiköpfigen Hund Orthos sowie den dreiköpfigen Kerberos, der den Eingang zum Hades bewacht.69 Und nun sollte man diese Passage aus Manning Clarks Autobiografie einmal in Gänze lesen: Ich besuchte Tasmanien Ende 1933. Hier, an einem goldenen Tag am Derwent, in der Nähe von New Norfolk, unter einem sanfteren Himmel als ich ihn in Melbourne oder Sydney kennengelernt hatte, und mit dem Mount Wellington als schauerlicher, majestätischer Kulisse … spürte ich, dass hier eine Gesellschaft lebte, die von Geistern der Vergangenheit heimgesucht wird – ein Volk, in dem noch viel von dem weiterlebte, was die Toten ihnen hinterlassen hatten. Ich spürte eine Art Widerspruch zwischen der in der Luft liegende Heiterkeit und den dunklen Geheimnissen der menschlichen Seele.70

Als Clark Tasmanien bereiste, wurde Australien gerade von sensationsheischenden Presseberichten über eine Razzia von Sozialarbeitern auf einer Farm in Black Bobs, im tasmanischen Derwent Valley, erschüttert. Bei diesem Einsatz befreite man mehrere missgebildete Kinder, die auf der Farm an Holzpfosten festgebunden worden waren. Dies hielt man für den unwiderlegbaren Beweis dafür, dass an den dauerhaften Gerüchten etwas Wahres sei. Und man entdeckte noch weitere Grausamkeiten. So gab es in den 1940er-Jahren furchtbare Geschichten über rebellierende Mädchen in einer Psychiatrie, in den 1980er-Jahren rund um eine Serie von masochistischen Morden. Doch am schlimmsten wurde es 1996, als ein verrückt gewordener Tasmanier ausrastete und 35 Männer, Frauen und Kinder ermordete – ausgerechnet an der historischen Stätte Port Arthur, was der Tat noch eine entsetzliche Symbolik verlieh. Der Mörder, Martin Bryant, wurde zu 35 Mal lebenslänglich und zusätzlichen 1035  Jahren Haft ohne Möglichkeit der vorzeitigen Entlassung verurteilt und sitzt die Strafe ab.71 Viele nachdenkliche Tasmanier akzeptieren, dass dieses „dunkle Erbe“ den Hintergrund, wenn nicht sogar die direkte Ursache für die gegenwärtigen sozialen und ökonomischen Herausforderungen der Insel sind. Tasmanien ist Australiens am schwächsten entwickelter und am stärksten kriselnder Bundesstaat. Es kämpft mit einem niedrigen Bildungsstand, hohen 482

Das „Down Under“ von „Down Under“

Analphabetenzahlen, Teenager-Schwangerschaften sowie hoher Arbeits­ losigkeit, starker Abhängigkeit vom Sozialstaat und einem aufgeblähten Staatssektor. Am unangenehmsten dabei ist, dass die Zahl der nachgewiesenen Fälle von Kindesmissbrauch 2010/2011 in Tasmanien 56 Prozent über dem Landesdurchschnitt lag. Solche Statistiken verlangen Eingriffe von außen: Tasmaniens eigentliches Problem ist einfach zu benennen, aber schwer zu lösen. Es hat eine Art zu leben, einen Weg Dinge zu tun, eine Kultur und eine damit verbundene Wirtschaft entwickelt, die in jeder Generation erneut nur schwache Leistungen reproduzieren.72

Politisch lässt sich durch dieses „eigentliche Problem“ erklären, warum Tasmaniens Parlament und Regierung 16 Jahre lang, von 1998 bis 2014, von der für soziale Fragen empfänglichen Australian Labour Party geführt wurden. In den letzten drei dieser Jahre wurde die politische Bühne von der 1972 in Papua-Neuguinea geborenen Larissa Tahireh Giddings beherrscht, der ersten Premierministerin des Landes und zuvor jüngsten Parlamentarierin Australiens. Nachdem die Parlamentswahl weder für die ALP noch für die oppositionelle Liberal Party eine Mehrheit ergeben hatte, war Premierministerin Giddings gezwungen, eine Koalition mit der Green Party einzugehen. Während ihrer Amtszeit stellte die rechte Presse Tasmanien zunehmend als „wirtschaftlichen Pflegefall“ dar. „Australiens Griechenland“ lautete eine der Anspielungen (wobei Western Australia die Rolle von Australiens Deutschland zugeteilt wurde).73 Wenig überraschend verlor Labour die Wahlen im März 2014; „Lara“ Giddings trat daraufhin sowohl als Premierministerin als auch als Parteichefin zurück. Verschwinden war lange Zeit eine Spezialität Tasmaniens. Ein mysteriöses Verschwinden steht im Mittelpunkt des tasmanischen Öko-Thrillers The Hunter, zu dessen Premiere 2011 auch Premierministerin Giddings erschienen war.74 Der Konflikt zwischen internationalen Firmengruppen und lokalen Aktivisten lieferte den Stoff für den Film: Die Hauptfigur ist ein gewinnsüchtiger Söldner, der von einem zweifelhaften Biotech-Unternehmen angeheuert wird, um die DNA des „Tasmanischen Tigers“ aufzutreiben. Der Tasmanische Tiger, der Beutelwolf, ist tatsächlich verschwunden, bis zur Ausrottung gejagt.75 Es ging schon früher los: Seit 1813, als der Schoner Unity, den bewaffnete Sträflinge im Hafen von Hobart gestohlen hatten, auf Nimmerwiedersehen auf dem Meer verloren ging, verschwanden immer wieder Schiffe von ihrem Liegeplatz, in der Nacht entführt von Häftlingen 483

8. Tassie

oder Buschrangern. Sogar George Bass, der Erste, der die Insel umsegelte, verschwand. Womöglich wollte er sich dem Schmuggel widmen, als er im Februar 1803 in Sydney an Bord der Venus ging, um nach Tahiti zu segeln, wo er jedoch nie ankam.76 Ein Jahrhundert später kam es zu einem ganz anderen Verschwinden, in das der Sohn eines Biologie-Professors an der University of Tasmania beteiligt war. Nachdem er zwei Mal der Schule verwiesen wurde, gelang es dem jungen Mann irgendwie, in London einen Abschluss zu machen, bevor er dann als Tabak-Pflanzer in Neuguinea arbeitete, um dann nach England zurückzukehren und Schauspieler zu werden. 1941 kam er nach Hollywood, wo er sich abstruserweise als Ire vorstellte und der verwegene Held von Filmen wie Unter Piratenflagge, Robin Hood, König der Vagabunden und Der Herr der sieben Meere große Erfolge erzielte. Er war der erste Frauenschwarm des Tonfilms. Auch wenn nur wenige Tasmanier es wissen, Errol Flynn (1909–1959), der Enkel von Sträflingen, war einer der Ihren.77 Der Fall von Frederick Valentich (1958–1978) ist noch seltsamer. Der junge Amateurpilot hob am 21.  Oktober 1978 vom Moorabbin Airport in Melbourne ab, nachdem er einen Flugplan für einen Hin- und Rückflug über die Bass-Straße eingereicht hatte. Als seine kleine Cessna 182-L über dem Kanal war, meldete er der Kontrollstation in Melbourne ein „großes, unbekanntes Flugzeug“, „mit vier hellen grünen Landelichtern“, das sich „mit großer Geschwindigkeit“ über ihn hinwegbewege. Minuten später funkte er, es handele sich „nicht um ein Flugzeug“, sondern „schwebe“ und verursache ihm „Motorprobleme“. Dann brach der Kontakt ab. Weder von Valentich noch von seinem Flugzeug fand man je eine Spur, sodass sein Name an prominenter Stelle in vielen UFO-Geschichten auftaucht.78 Was an den Fall der MH370 erinnert und die seltsame Tatsache, dass Tausende Menschen überall auf der Welt glauben, seine Maschine sei von Ufos entführt worden. Ähnliche irrationale Einstellungen verbergen die „dunklen Geheimnisse“ Tasmaniens. Viele im Übrigen besonnene Zeitgenossen wollen die Insel schlicht nicht betreten. „Das ist das Land der Leichenfledderer“, warnte mich ein Freund aus Canberra. „Dort spukt es, das Land ist verwunschen.“ Und doch haben wir zwei glückliche Monate auf „Tassie“ verbracht und kaum die bezaubernde Oberfläche aufgekratzt. Wir überqueren die Bass-Straße erneut in 11 000 Metern Höhe und blicken dieses Mal auf Flinders Island hinab, wo man die Parlevar fälschlicherweise für verschwunden erklärt hat. Dann verschwinden wir selbst, gen Osten, hoch über der Tasmansee.

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9. Aotearoa: Laufvögel im „Land der langen weißen Wolke“

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9. Aotearoa

Australier wie auch Neuseeländer werden vermutlich behaupten, nichts mit den jeweils anderen gemein zu haben. „Oh nein, nein, nein!“, protestierte einer unserer tasmanischen Freunde. „Die Kiwis sind ganz und gar nicht wie wir.“ Das ist, als spräche man mit einem professionellen Gartenbaufachmann, der darauf besteht, dass keine Erbse der anderen ähnele, sich dann aber weigert, sie mit Bohnen zu vergleichen. Außenstehende tendieren zur Ansicht, „Kiwis“ und „Ozzies“ seien, wenn schon nicht ununterscheidbar, dann doch zumindest einander sehr ähnlich. Beide sprechen sie Englisch mit einem vergleichbaren Zungenschlag; beide leben in ehemaligen britischen Antipoden-Kolonien; beide sind füreinander die nächsten Nachbarn; beide haben häufig Verwandte in Großbritannien. Die Beteiligten aber sehen das anders: Sie übersehen die Ähnlichkeiten und konzentrieren sich auf die Unterschiede. Gleich in der Ankunftshalle des Flughafens Wellington stößt man auf die Flagge Neuseelands. Das ungeübte Auge hält sie womöglich für die Fahne, die wir in den Abflughallen von Hobart und Sydney gesehen hatten. Sie ist im selben dunklen Oxford-Blau gehalten: Auch sie hat den Union Jack in der oberen Ecke, auf ihr prangen ebenfalls Sterne, auch wenn sie bei einer herabhängenden Fahne nur schlecht zu sehen sind. Aber etwas an den neuseeländischen Sternen ist doch seltsam: Sie besitzen fünf Zacken, sind rot, haben aber eine silberne Umrisslinie. Wo nur habe ich einen ­solchen Stern zuvor schon einmal gesehen? Vielleicht in Jugoslawien unter Tito. Auf jeden Fall ist dies ein Beispiel dafür, was die Tasmanier „völlig anders“ nennen. Vor der Einreise muss man zunächst den Stiefeltest bestehen. Aus irgendeinem Grund fürchten die neuseeländischen Behörden nicht nur gefähr­ liche Pflanzen und Samen, sondern auch Wanderstiefel. Gerade wenn man denkt, man sei nach der Passkontrolle nun frei zum Aufbruch, taucht eine trichterförmige Einzäunung auf, die mit ihren Pfaden und Hindernissen an einen Trainingsplatz für Hütehunde erinnert. Kurz darauf ist der Reisende wie ein blökendes Mutterschaf in einer Öko-Sicherheitsgasse gefangen, aus der es kein Entrinnen gibt. „Wissen Sie, was sich in Ihrem Koffer befindet?“, lautet die zugespitzte Frage des Officers. Das dürfte das hiesige Äquivalent zur Frage nach einer aktuellen oder ehemaligen Mitgliedschaft in einer kommunistischen Partei bei der Einreise in die USA sei. „Ja“, erwidere ich kraftlos. „Ich denke schon. Zumindest mehr oder weniger.“ 486

Laufvögel im „Land der langen weiSSen Wolke“

Er nimmt Witterung auf. „Überprüfen Sie diesen Koffer“, befiehlt er seinem schicken, jungen Untergebenen. Die Steuerzahler des Landes haben Unsummen für Röntgengeräte ausgegeben, die passgenau auf die Größe und Form von Schuhwerk eingestellt sind. „In dem Koffer sind Stiefel“, bestätigt der Untergebene und schwingt meinen Koffer auf einen Untersuchungstisch. Damit hat er die Konfrontation eingeleitet. „Nein“, widerspreche ich, „ich habe keine Stiefel dabei.“ „Beschreiben Sie uns dann bitte Ihr Schuhwerk.“ „Ein Paar Sandalen, ein Paar Turnschuhe und ein Paar Wanderschuhe.“ „Für was nutzen Sie die?“ „Hauptsächlich fürs Wandern.“ Die Untersuchung beginnt. Der Reißverschluss wird aufgerissen und der Kofferdeckel umgeklappt. Der Untergebene wühlt energisch herum. Sein Gesicht hellt sich auf, als seine Finger eine dicke Sohle berühren, doch die Erwartung bricht in sich zusammen, als das anstößige Objekt sichtbar wird. „Halbschuhe mit Vibram-Sohle“, erklärt er der Mitarbeiterin am Röntgengerät und wirft ihr einen vernichtenden Blick zu. Tödliches Schweigen. „Würden Sie den Koffer wieder einpacken?“, bitte ich ihn. Er zerrt am Reißverschluss, ohne die zerwühlten Kleidungsstücke wieder glattzuziehen, und klemmt dabei meinen neuen Anzug aus Indien ein. „Ach wissen Sie was, ich übernehme es doch selbst“, sage ich. Mürrisch macht er sich davon, ich betrete dankbar die Ankunftshalle. Im 12. oder 13. Jahrhundert, oder vielleicht auch noch etwas früher, als der legendäre polynesische Entdecker Kupe mit seinem Auslegerboot hier anlegte, musste er keine derartige Erniedrigung über sich ergehen lassen. Er trug weder Stiefel, noch hatte er einen Koffer bei sich, und es lagen auch keine Inspektoren auf der Lauer, um seine Früchte und Samen zu kontrollieren. Die von ihm entdeckten, zwei großen, grünen Inseln im Südlichen Ozean waren völlig unbewohnt. Es gab nicht nur keine Menschen, es gab auch keine Säugetiere: nur wunderschöne Vögel und Fische; exotische Bäume und blühende Büsche wuchsen üppig rund um die Berge, Seen und Fjorde. Kupes Volk, später als Maori bekannt geworden, folgte ihm und machte die Inseln zu seiner Heimat, nachdem es mehr als tausend Kilometer über das warme, fischreiche Meer gesegelt war und ohne Widersacher das Land in Besitz genommen hatte, das es Ao-tea-roa, „Das Land der ­langen weißen Wolke“, nannte. 487

9. Aotearoa

Zu diesem Zeitpunkt hatte „Neu-Seeland“ keinerlei Verbindung zu den Antipoden. Es gab allerdings schon mehrere Seelands: Diesen Namen trägt die größte Insel Dänemarks (Sjælland) sowie ein Gebiet im nordwestlichen Teil des Heiligen Römischen Reiches (Zeeland). Zieht man eine gerade Linie von Aotearoa, liegen sie etwa 5000 Meilen voneinander entfernt. Die dortigen Schiffe, ganz gleich ob sie aus Dänemark oder den Niederlanden kamen, hatten europäische Gewässer nie verlassen. Sie pendelten mit ihrer Handelsware wie Kleidung, Wolle und Wein entlang der nördlichen Küsten, überquerten die Nordsee, um Skandinavien und das von den französischen Plantagenets beherrschte England zu erreichen, oder machten sich auf den Weg um die Iberische Halbinsel herum gen Mittelmeer. Doch weder die Menschen in Sjælland noch jene in Zeeland dürften damals etwas von den Kontinenten gewusst haben, die sich jenseits des Bugs ihrer Heringsfänger befanden, und sie wussten genauso viel über die Maori wie die Maori über sie wussten: nämlich absolut nichts. Wellington, die Hauptstadt im Miniaturformat, befindet sich in der südwestlichen Ecke der Nordinsel und blickt auf die Cookstraße und die Fähren, die in drei Stunden die Südinsel erreichen. An einem klaren Tag lässt sich am Horizont sogar die schneebedeckte Bergkette der Kaikoura Ranges erblicken. Das 1839 gegründete Wellington wuchs in einem wunderbar geschützten Hafen heran, der ursprünglich einmal Port Nicholson genannt wurde. Seinen neuen Namen bekam es nach dem Sieger der Schlacht von Waterloo und späteren britischen Premierminister; zur Hauptstadt der Kolonie wurde Wellington dann 1865, als die Regierung fürchten musste, der Norden könne sich vom Süden abspalten. Dank der perfekt gewählten Lage beherrscht die Stadt nicht nur die Cookstraße, sondern auch die Seewege, die sich an der West- und Ostküste der Inseln entlangziehen. Da es jedoch regelmäßig von den „Roaring Forties“, den starken Winden der Zone zwischen 40 und 50 Grad südlicher Breite, getroffen wird, ist es in Wellington unglaublich windig und die Stadt wird häufig von Regen überschüttet. Man nennt sie daher auch „Wellywood“ oder einfach nur „Welly“ (deutsch: Gummistiefel), wohingegen die Maori sie entweder Poneke – eine Form von „Port Nick“ – oder Te Upoko-o-te Ika nennen – eine Anspielung auf den „Fischhaken“ des Gottes Maui, der die Inseln aus dem Ozean fischte.1 In Wellington wurden wir von genau der gleichen Art unbarmherzigen Regenschauer begrüßt, der auch unsere ersten Tage in Hobart bestimmt hatte. Am besten sucht man an solchen Tagen Zuflucht im Museum of New Zealand, dem Te Papa Tongarewa („Der Ort unseres Schatzes“), das sich in 488

Laufvögel im „Land der langen weiSSen Wolke“

einem brandneuen Gebäude an der Waterfront befindet.2 Um das Te PapaProjekt, ähnlich wie das MONA, das Museum of Old and New Art in Hobart, wird seit seiner Eröffnung 1998 unablässig gestritten. Für Außenstehende ist es nicht gleich ersichtlich, warum die Proteste derart lautstark und unnachgiebig vorgetragen werden, und man mag kaum glauben, dass Themen wie Ausgabenüberschuss oder Erdbebenschutz wirklich Anlass für das Ganze waren. Die Projektleiter stellen bei ihrer Arbeit die „vereinten Sammlungen“ heraus, ebenso wie die „Narrative von Kultur und Raum“, die „Idee einer öffentlichen Diskussion“, eine „bikulturelle Partnerschaft“ und betonen „die diversifizierte und multidisziplinäre Zusammenarbeit“  – mit anderen Worten ihre besondere Sicht auf die Identität des Landes. Kritiker bezeichnen das Projekt als „Themenpark“ und als „kulturelles Gegenstück zu einem Fast Food-Outlet“, was darauf hinweist, dass sie es als Propagandaübung für ein Aotearoa-Neuseeland anstelle eines Neuseeland-Aotearoa verstehen. Diese Wortgefechte verbergen mehrere Konflikte in einem einzigen: die ewige Auseinandersetzung zwischen kulturellen Erneuerern und Traditionalisten, den politischen Konflikt zwischen Linken und Konservativen und unterschwellig ein ungenau bestimmtes Unbehagen über den angemessenen Umfang und die Größenordnung der Maori-Präsenz. So, wie sich die Lage im Museum derzeit darstellt, sind die Maori-Anteile alles andere als vorherrschend, und einige der anfänglich umstrittenen Objekte, wie etwa die Statue Virgin Mary with Condom (deutsch: Heilige Jungfrau Maria mit Kondom), sind inzwischen entfernt worden. (Die Statue würde perfekt ins MONA passen.) Etwa drei Viertel der Ausstellungsstücke sind der Kunst der Pakeha gewidmet, also der Nicht-Maori. Doch für die Ewiggestrigen, für die das Erbe der Maori weiterhin in ein kleines Hinterzimmer des alten Kolonialmuseums gehört, ist selbst das letzte Viertel oder Drittel noch „ein Vorgeschmack auf das, was noch kommt“. Besucht man das Te Papa unvoreingenommen, lösen sich die meisten der Kritikpunkte schnell auf. In der Eingangshalle begegnet der Besucher zunächst einem großen, zweisprachigen Hinweis: Haere Kupu Mihi – Begrüßung Haere mai, e te manuhiri tuarangi, haere mai ki tenei marae … Herzlich Willkommen, Besucher, an diesem marae, diesem Treffpunkt …

Im Reiseführer steht dazu: „Dies sind die Worte, die Sie am Eingang zu Te Papas marae hören werden, am Beginn einer powhiri, einer Begrüßungs­ 489

9. Aotearoa

Three Kings Islands

Neuseeland

Cape Reinga

B ay o f Is l a n d s

Rangihoua Kerikeri Russel Waitangi

Great Barrier Islands

Tasmanische See

Auckland

Hamilton

Nordinsel

Tauranga Rotorua Whakatane Gisborne

Lake Taupo

New Plymouth

Mount Tongariro

Mount Taranaki/Mt Egmont

Mount Ruapehu

NEUSEELAND

Haw k e’s B ay

Napier

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ße

N

East Cape

B ay o f P l e nt y

Cook

Picton Nelson Wairau Valley Blenheim

S

Kaikoura

Greymouth

Aoraki/ Mount Cook

Lake Wanaka

Südinsel

Queenstown

Dunedin Invercargill s t Bluff

ux

ra

Oxford

Christchurch Akaroa

Banks-Halbinsel

Timaru

Oamaru Alexandra

Fov ea

Wellington

Balclutha

S ü d p a z i fi s c h e r Ozean

ße

Stewart Island (Rakiura) Bounty Islands

Snares Islands

0

490

100

200 km

Laufvögel im „Land der langen weiSSen Wolke“

zeremonie. Sie sind Teil des karanga-Rufs, der Sie auf den Grund und Boden Ihrer Gastgemeinschaft einlädt. Damit beginnt die Begegnung zwischen dem hier beheimateten Volk und seinen Besuchern.“3 Neben dem Hinweisschild hängt ein großes Foto einer Mischlingsmutter mit teilweise tätowiertem Gesicht, die ihre Nase mit der eines jungen, europäisch aus­ sehenden Mädchens reibt. Darunter steht: „Zwei Menschen hangi (reiben die Nasen), eine verbreitete Form der Begrüßung, bei der sie den ‚Atem des Lebens‘ teilen.“ Spätestens nun hat jeder verstanden, dass man die MaoriKultur nicht erklären kann, ohne Maori-Worte dazu zu nutzen. Anders als von den Schwarzsehern beklagt, ist die Ausstellung keineswegs mit political correctness, Gender-Sprache oder überflüssigen Maori-Themen überfrachtet. Sie entstand aus der Verschmelzung des alten National Museum mit der National Art Gallery und hat sich vor allem dem Prinzip „Etwas für jeden“ verschrieben, womit sie jedes Jahr 1,4  Millionen Besucher anlockt, rund 4000  pro Öffnungstag. Der auf Englisch verfasste Führer verwendet durchgängig den Begriff „New Zealand“ und legt großen Wert auf die Geologie, die Natur und die Meereswelt. Der Bereich über „Die Besiedlung Neuseelands“ räumt den „Fahrten nach Aotearoa“, der britischen „Zweiten Welle“ und dem „Vertrag“ gleich viel Raum ein. Der Abschnitt über „Das Entstehen einer Nation“ betont die Landwirtschaft, den Handel, die wirtschaftliche Unbeständigkeit und die „Fair Go“-Tradition. Der doch beacht­ liche Teil des Museums über „Kunst und Taonga [ideelle Kulturschätze] Maori“ wird durch einen über „Neue Gemeinschaften“ und einen weiteren zum Thema „Lokal und global“ ausgeglichen. Mein erster Gedanke war: Warum gibt es eigentlich in London nichts Vergleichbares? Am nächsten Tag – es goss weiterhin in Strömen – machten wir uns mit Regenschirmen auf den Weg hügelaufwärts zur Victoria University, wo ich vor einer Gruppe von Geschichts-Doktoranden sprechen sollte. Die 1897 gegründete Universität erinnert durch ihre Bauweise an die britischen Universitäten, die im 19. Jahrhundert aus rotem Backstein neu erbaut wurden. Sowohl der Name als auch die Atmosphäre und der heftige Regenguss erinnerten mich an die Victoria University in Manchester.4 Am 9. Mai, einem Donnerstag, hört der Regen endlich auf und die helle Sonne verhilft der Stadt zu neuem Leben. Es ist „Europa-Tag“, und meine wichtigste Aufgabe ist ein Mittagessen in der Residenz des französischen Botschafters, wo ich bei einem kurzen Lunchtime Talk zu den versammelten Diplomaten der Europäischen Union sprechen darf. „La Résidence“ ist eine elegante, weiß gestrichene Villa im Vorstadt-Kolonialstil und umgeben von Palmen, einem tropischen Garten sowie einer sehr hohen Mauer. 491

9. Aotearoa

Ich werde vom lächelnden Botschafter, Monsieur Francis Étienne, begrüßt, der offensichtlich erfreut ist, un anglais vor sich zu haben, der darauf besteht, Französisch zu sprechen. Vor zwanzig Jahren wären wenige französische Diplomaten bereit oder dazu in der Lage gewesen, Englisch zu sprechen, was zu einigen unangenehmen Situationen führte. Heute wird dies mit einem Lächeln und ausladenden Gesten gelöst, und man begleitet mich zum britischen Vertreter, der, da wir uns hier im Commonwealth befinden, den Titel eines High Commissioners trägt. Ich bin entsprechend eingeschüchtert. Der High Commissioner stellt sich als große, robuste Frau mit langen Haaren und orientalischen Zügen heraus. (Ihre Webseite erklärt, sie wurde in Malaysia als Tochter einer Singapur-Chinesin und eines französisch-niederländischen Vaters geboren, der Mitglied der Bürgergemeinschaft von Sri Lanka war.) „Hallo“, begrüßt sie mich, und beruhigt mich damit ungemein, „ich bin Vicki.“ Wenn jemals die richtige Person auf dem richtigen Posten platziert worden ist, dann steht sie in diesem Augenblick vor mit. Für den Ungeübten sind derartige diplomatische Zusammenkünfte ein schwierig zu durchquerendes Gelände. An der Oberfläche glänzt alles perfekt. Man drängt dem Besucher eine berauschende Mixtur aus altem Rotwein, ausgesuchter Höflichkeit und absorbierenden Fragen auf, die einem die Fähigkeit rauben, Hinweise auf die unterschwelligen Tagesgeschäfte wahrzunehmen. Ich wurde als Autor der Oxford History of Europe vorgestellt, und meine kurzen Ausführungen am Mittagstisch drehten sich um die „Trends in der europäischen Geschichte“, womit ich die Gespräche am Laufen hielt. Doch es lag noch etwas anderes im Raum, das ich nur schlecht zu fassen bekam. Es hing offensichtlich mit der Ankunft des ersten Vertreters des neuen Außenbeauftragten der Europäischen Union zusammen, dessen Tätigkeit das Potenzial hatte, die Diplomaten aller Mitgliedsstaaten überflüssig zu machen. Die betreffende Person war zudem so zurückhaltend, dass sie sich fast auflöste. Die anderen versuchten, ihn einzuschätzen, und er machte ihnen dies absichtlich so schwer wie nur möglich. Aber was fingen seine Diplomaten-Kollegen im Raum dann mit ihm an? War er willkommen? War er eine Bedrohung? War er irrelevant? Ich hatte keine Ahnung. Abends besuchten meine Frau und ich, in Begleitung der Diplomaten, den privaten Wellington Club, um dort einen Vortrag zu hören und mit 150 Gästen zu Abend zu essen. Die Rede hielt John Key, Chef der rechts­ konservativen National Party und seit fünf Jahren Premierminister des 492

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Landes; seine Ansprache war so etwas wie eine „Rede zur Lage der Nation“. Ich war Beobachter eines politischen Rituals, das ich erneut nicht zu entziffern vermochte. Der Premierminister, der deutlich jünger als seine 50 Jahre wirkte, war professionell, zu Scherzen aufgelegt und, was den Inhalt seiner Rede anging, völlig farblos. Ich verstand, dass er eine umfassende Tour d’horizon versuchte, bei der er zunächst die Innen- und dann die Außenpolitik abhandelte, doch es gab nur wenige geistige Orientierungspunkte, an denen ich mich festhalten konnte, um zu verstehen, was er in Wirklichkeit sagen wollte oder weggelassen hatte. Nach den Bemerkungen meines Sitznachbarn dürfte John Key recht aalglatt sein. Er betrat die politische Bühne, nachdem er als Währungsbroker Karriere gemacht hatte; wie zwei vorhergehende Premierminister stammt er aus einer jüdischen Familie; und er leitete ein Minderheitenkabinett, das durch eine Koalition aus drei kleineren Fraktionen am Leben gehalten wurde, zu der auch die Maori-Partei gehörte. Er errang 2008 den Sieg über die Labour Party, die drei Legislaturperioden unter seiner Vorgängerin Helen Clark regiert hatte. Doch ob er eher rechts oder links eingestellt war, schien kaum erkennbar. Mir erging es so, wie es ein neuseeländischer Besucher in London erleben könnte: Nachdem Tony Blair den Sozialismus, David Cameron den traditionellen Toryismus und Theresa May die EU verlassen hatten, waren alle grundlegenden politischen Wegweiser ausgerissen worden. Ich schüttelte dem Premier­ minister die Hand und verspürte den verwirrenden Eindruck, zugleich weit weg und doch auf heimischem Boden zu sein. Die Geschichte von Kiwiland kennt drei große Abschnitte. Die längste Zeit wurde sie ausschließlich von den Maori bestimmt, die 600 bis 700 Jahre unangefochten die Inseln beherrschten. Mitte des 19. Jahrhunderts bekam sie eine völlig neue Richtung, als die Pakeha – die „Fremden“ – eintrafen und eine britische Kolonie gründeten, deren Ansprüchen mehr als ein Jahrhundert lang alles andere untergeordnet wurde. Seit dem späten 20.  Jahrhundert bemüht man sich jedoch, die beiden Fäden Maori und Pakeha wieder enger zu verknüpfen und eine vereinte, nationale Gemeinschaft zu entwickeln.5 Auch wenn die vorkolonialen Maori keine Schrift kannten, waren sie sich doch ihrer Ursprünge äußerst bewusst. Sie hinterließen zwar nichts Vergleichbares wie die Anglo-Saxon Chronicle. Aber sie besaßen eine Sprache, ein ausgeklügeltes Mythologie-Korpus sowie eine reiche Tradition an mündlich weitergegebenen Gedichten und Erzählungen, in die ihr Wissen über die Vorzeiten, sowohl mythisches wie auch historisches, eingebunden war.6 493

9. Aotearoa

Während der langen Jahrhunderte ihrer Isolation sind die Maori nie über das Neolithikum hinausgekommen. Sie erreichten die Inseln mit ihrem Wissen über das Feuermachen, Weben, Fischen und die Landwirtschaft, hier insbesondere das Anpflanzen von Kumara, einer Art Süßkartoffel. Sie konnten keine Jäger werden, da es kein Wild auf Aotearoa gab, aber sie sammelten große Erfahrung beim Errichten von Gebäuden, der Seilherstellung, dem Zimmerhandwerk und der Schnitzkunst. Dank ihrer Entdeckung von Nephrit – einem jade-ähnlichen Mischkristall, der unter dem Namen Pouanamu oder „Grünstein“ bekannt wurde  – konnten sie hochwertige Werkzeuge, Waffen und Ornamente herstellen. Reisende, die die Tasmansee überquert haben und sich ein wenig mit Geschichte auskennen, stellen sich womöglich zu Recht zwei Fragen. Die eine lautet: „Warum haben die Maori überlebt, während die Aborigines Tasmaniens so stark dezimiert wurden?“ Die zweite wäre: „Wo stehen die Maori heute in der globalen Tabelle indigener Völker?“ Das Überleben der Maori stellt kein großes Rätsel dar. Zum einen waren sie als streitbare, den Ozean überquerende und erfinderische Polynesier viel weniger verletzlich als ihre isoliert lebenden, introvertierten und technologisch weniger entwickelten „australischen“ Nachbarn. Zum Zweiten bekamen sie es mit einer ganz anderen Gruppe von Invasoren zu tun. Die in Aotearoa ankommenden Europäer waren freie Siedler, Missionare, Händler und Minenarbeiter, deren Sicht auf die Welt wenig gemein hatte mit der der Strafgefangenen, Aufseher und Kolonialbeamten, die Van-Diemens-Land dominierten. Und drittens wurde 1840 durch den Vertrag von Waitangi ein Modus vivendi gefunden, noch bevor die große Masse der Siedler das Land erreichte. Nun lässt sich einwenden, dass der Vertrag ein Schwindel gewesen sei, was in vielerlei Hinsicht auch stimmt; aber ebenso lässt sich nicht abstreiten, dass er viel dazu beitrug, den Ausbruch eines bedrohlichen Krieges zu verhindern, wie er Tasmanien ereilte. Die von den Vereinten Nationen geführte Liste der indigenen Völker umfasst mehr als 8000  Namen von Stämmen, Nationen und ethnischen Gruppen. Sie enthält einige aus den alten europäischen Nationen, wie etwa die Basken oder die Waliser, denen über Jahrhunderte hinweg das Leben schwer gemacht worden war, bis hin zu geheimnisvollen Stämmen aus dem Amazonas-Regenwald, die bislang nur aus der Luft beobachtet, aber noch nie direkt kontaktiert worden sind. Die Maori gehören zu keinem dieser Extreme. Sie gehören in die größte Gruppe, deren Vorfahren in der Moderne von europäischen Migranten überrannt, aber nicht ausgelöscht wurden. Sie leisten dort den „Indianern“ aus Peru oder Mexiko Gesellschaft, den Native 494

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Americans, den indigenen Völkern Afrikas, den Palästinensern und den zahlreichen Minderheitennationalitäten Russlands. Die wichtigste Organisation, die für die Rechte der indigenen Völker kämpft, Survival International,7 spannt einen weiten Bogen an möglichen Bedrohungen für sie. Am einen Ende der Skala steht „Auf absehbare Zeit sicher“, am andere Ende „Unmittelbar bevorstehende Auslöschung“. Auch hier finden sich die Maori weder beim einen noch beim anderen Extrem. Anders als etwa die Tibeter oder, noch aktueller, die Rohingya in Myanmar, sind sie keinen direkten Angriffen ausgesetzt. Gleichzeitig sind sie sich der schlecht versteckten Feindseligkeit einiger Teile der Mehrheitsgesellschaft bewusst sowie der Verwirrung oder Indifferenz einiger Teile ihrer eigenen Gesellschaft. Sicher ist nur: Das Spiel ist noch im Gange. Die Sache der Maori hat eine Art Renaissance erlebt. Die Sprache der Maori genießt heute den gleichen Rang wie das Englische. Die staatlichen Behörden Neuseelands haben in den Bereichen Bildung, Geschichtsunterricht und Museum viele neue inklusive Strategien eingeschlagen. Und eine Handvoll Maori-Persönlichkeiten, etwa Opernsängerinnen oder Rugby-Spieler, sind weltweit zu Ruhm gekommen. Dabei wäre es aber müßig anzunehmen, das durchschnittliche Maori-Kind hätte die gleichen Zukunftsaussichten wie das durchschnitt­ liche Pakeha-Kind oder dass die Maori-Kultur jemals die gleiche Schlagkraft entwickelt könnte wie das global anziehende Englisch und dessen Kultur. In der Theorie ist Aufgeschlossenheit eine feine Sache. In der Praxis ist sie schwer zu erreichen. Dabei kommt einem sogleich die Frage in den Kopf, was die Maori eigentlich mit dem Namen ihres Landes machen; auch der ist eines der Dinge, die ihnen aufgedrängt wurden. Man sollte sich darüber im Klaren sein, dass die meisten Maori sich für „Aotearoa“ entscheiden würden. Doch hier ist noch mehr zu bedenken. Wenn man darüber nachdenkt, ist „New Zealand“ nicht nur für die Maori völlig unangemessen, sondern auch für die große Mehrheit der Bevölkerung mit familiären Wurzeln auf den britischen Inseln. Fast niemand aus Sjælland oder Zeeland ist nach Aotearoa ausgewandert. Warum dann also nicht den Namen ersetzen? Der Status quo, der das schwerfällige „New Zealand  – Aotearoa“ bevorzugt, ist so etwas wie ein Zwischenhalt, dabei gäbe es Alternativen. Besser wäre etwa „Sealand“, als verständliche Übersetzung, oder auch das informelle „Kiwiland“ hat sich bereits weit verbreitet.8 Es ist halb Maori, halb Englisch; es trifft das eta­ blierte Staatssymbol und sein Klang ist unbekümmert und freundlich. Der größte Nachteil ist der, dass der Ausdruck vor allem von Australiern benutzt 495

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wird. So prognostizieren Skeptiker denn auch, dass er sich nie würde durchsetzen können. Für die Optimisten hat er noch eine Zukunft und würde gut zu dem Silberfarn, der Ponga-Pflanze, passen, der nach einer langen Werbekampagne und einem Referendum vor Kurzem doch nicht in die Nationalflagge aufgenommen wurde.9 Wenn das „schönste Land der Welt“ beide annehmen würde, den Namen Kiwiland und als Symbol den Silberfarn, würde man aufhören, es als kleinere Version Australiens zu betrachten. * Die Sprache der Maori wird in der komparativen Linguistik als Mitglied der tahitischen Subgruppe der ostpolynesischen Sprachen geführt. Von seinen Muttersprachlern Te Reo, schlicht „die Sprache“, genannt, wurde sie von den polynesischen Einwanderern mitgebracht und ist selbst einer der wichtigsten Beweise ihrer geografischen und ethnischen Ursprünge. Wer Tahitianisch oder das Rarotongan der Cookinseln spricht, versteht es ebenfalls gut, weniger verständlich ist es für Sprecher des Marquesanischen oder Hawaiianischen. Tupaia, ein Tahitianisch sprechender Matrose auf Captain Cooks Endeavour, hatte keine Schwierigkeiten, sich mit den Maori zu verständigen, als man ihnen 1769/70 zum ersten Mal begegnete. Das Wort Maori selbst heißt so viel wie „gewöhnlicher Mensch“.10 Maorische Ortsnamen, während der Kolonialzeit lange verachtet, sind nun gleichberechtigt und würzen das Leben. Aotearoa war ursprünglich nur der Name der Nordinsel; die Südinsel hieß Te Wai Pounamu, „die Gewässer des Grünsteins“. Überhaupt weisen viele Namen auf Vorfälle oder Entdeckungen während der Großen Migration hin oder auf Hawaiki, die alte und unidentifizierte Heimat. Doch meist bestehen die Bezeichnungen aus einfachen geografischen Beschreibungen wie ao (Wolke), ara (Straße), maunga (Berg), moana (Meer), wai (Wasser), whanga (Bucht) oder roto (See). Aoraki etwa steht für „Himmelswolke“ oder „Wolkenstecher“ und ist der ältere Name für den höchsten Berg des Landes, Mount Cook. Aramoana bedeutet „Straße neben dem Meer“, und Moana-a-Toi, „Meer des [Seemanns] Toi“, ist der Maori-Name für die Bay of Plenty. Der Fluss Waikato stammt vom „Fließenden Wasser“, Whanganui von der „Großen Bucht“ und Rotorua von den „zwei Seen“ her. Taumatawhakatangihangakoauauotamateapokaiwhenuakitanatahu, was bedeutet „Der Gipfel, auf dem Tamatea, der Landreisende, für seine Geliebte die Flöte spielte“, ist die maorische Antwort auf Llanfairpwllgwyngyllgogerychwyrndrobwllllantysiliogogogoch in Wales. 496

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Bis heute ist die Maori-Gesellschaft rund um waka, „Kanus“, iwi, „Stämme“, hapu, „Clans“ und whanau, „erweiterte Familien“, organisiert. Waka ist das übliche Wort für Kanu, kommt aber in vielen Variationen vor, so etwa als waka ama, „Auslegerboot“, waka taua, das schnelle, schlanke „Kriegskanu“, und als waka hourua, das kräftige, durch seinen doppelten Rumpf ozeangängige Boot, das vermutlich bei der Auswanderung eingesetzt wurde. Letztere messen bis zu 40 Meter und fassen zwischen 100 und 200 Passagiere. Laut dem aktuellen Forschungsstand unternahmen sie die Reise von Hawaiki nach Aotearoa nicht in einer großen „Ersten Flotte“, sondern in einer Reihe einzelner Fahrten, die sich über Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte erstreckten. Nach der Ankunft bildeten die Passagiere eine eigene Gemeinschaft, die den Namen des Kanus trug, und beanspruchten ein Stück Land als ihre neue Heimat. Seitdem bewahrten sie und ihre Nachfahren sich eine eigene Identität, und eine große Menge von diesen funktioniert bis heute. Zu diesen Gruppen gehören die Tainui, die Mataatua, die Takitumu, die Horouta, die Kawhia und die Aotea. So landete beispielsweise das Tainui-waka um  1400 und siedelte in der Waikato-Region der Nordinsel. Das „Kanu der großen Tide“ entwickelte sich zu einem dominierenden Element in der Maori-Gesellschaft und stand im 19. Jahrhundert im Mittelpunkt der Kingitanga-Bewegung (zu der wir später noch kommen werden). Der Maori-Historiker Pei Te Hurinui Jones erklärt, sie hätten die ersten 50 Jahre auf der Insel mit dem Kampf gegen die indigene Bevölkerung der Region zugebracht, bis sie diese 1450 in der Schlacht von Atiamuri besiegt hätten. Was zur Frage führt, wer diese „indigene Bevölkerung“ wohl gewesen sein mag – vermutlich die Nachfahren eines schon niedergelassenen waka der Maori, doch diese These ist nicht unumstritten. Heute bilden die Tainui eine Vereinigung aus vier iwi, oder „Stämmen“: die Hauraki, die Ngati Maniapoto, die Ngati Raukawa und die Waikato.11 Um 1500 begab sich eine Gruppe Maori-Stämme auf eine Expedition zu einer kleinen Inselgruppe, die etwa 670 Kilometer südöstlich der Nordinsel liegt. Die Expeditionsteilnehmer ließen sich dort nieder und formten eine Gemeinschaft, aus der sich die polynesische Nation, die Moriori, entwickeln sollte. Sie nannten das Archipel Rekohu, „neblige Sonne“, und lebten drei Jahrhunderte in völliger Isolation. Erst 1791 landete ein britisches Marine­ geschwader und benannte die Inseln um in Chatham Islands. 1835 fiel eine große Gruppe Maori auf den Inseln ein und raubte den Moriori nicht nur ihr Land, sondern tötete zudem die Einwohner. „Das war so üblich“, erklärte ihr Anführer. Nur 10 Prozent der Moriori überlebten den Genozid, eine ähnliche Menge wie die Aborigines, die in Tasmanien überlebten.12 497

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Die übliche Definition eines iwi, was wörtlich „Knochen“ bedeutet, lautet: „eine Gruppe von Menschen, die durch die Abstammung von gemeinsamen Vorfahren miteinander verbunden ist“, was man häufig kurz als „Stamm“ zusammenfasst. Jedes der großen Kanus transportierte rund ein Dutzend Menschen, die dann die Gründer eines Stammes wurden und als Anführer bei der Errichtung eines Stammesterritoriums fungierten. Heute existieren noch mehr als 100 solcher Stämme, bis auf ein Dutzend sämtlich auf der Nordinsel. Der größte unter ihnen, die in der Region Northland ansässigen Ngapuhi, zählt etwa 100 000 Mitglieder und ist ein Ableger des Mataatua-waka. Der kleinste Stamm, die Patukirikiri, umfasst nur 60 Menschen. Etwa die Hälfte aller iwi sind in der Organisation United Tribes registiert und von 1 bis 54 durchnummeriert (wobei die Ngapuhi die Nummer 4 erhalten haben). Die andere Hälfte ist nicht registriert. Alle haben eine Verwaltung organisiert, die Mitglieder betreut, Stammestreffen und Festivals abhält und die Stammesidentität fördert.13 Der hapu  – wörtlich „schwanger“  – wird meist mit „Substamm“ oder „Clan“ übersetzt und ist die Basiseinheit der Maori-Gesellschaft. Kleiner als ein iwi, aber größer als ein whanau, umfasst er zwischen 300 und 500 genealogisch miteinander verbundene Mitglieder, die einen Chef wählen, die Kriegspartei des Clans mit Kriegern versorgt und in der Nähe ihres umzäunten pa, ihres „Forts“, leben. In den Anfangsjahren der Kolonialzeit waren sie bekannt dafür, eher untereinander als gegen die Invasoren zu kämpfen und ihr Land ohne Rücksicht auf die Konsequenzen zu verkaufen. Sie bauten Lein und Kartoffeln an und züchteten Schweine, die sie dann gegen Tücher, Werkzeuge und Musketen tauschten. Ein whanau, wörtlich „Geburt“, umfasst drei bis vier Generationen von Menschen, die alle dieselben Großeltern oder Urgroßeltern haben. Sie ­bilden eine solide Familieneinheit, die in der Regel in einem Haus oder auf einem Gelände zusammenlebt. Ein whanau ist dennoch nicht einfach nur eine Untergruppe eines Clans, da sie durch Vater- und Mutter-Linien höchstwahrscheinlich mit zwei oder mehr hapu verbunden sind. Ihr Lebensstil wird vor allem durch traditionelle Hochzeitsbräuche bestimmt. In früheren Zeiten wurde die Verbindung von minderjährigen Jungs und Mädchen von ihren Verwandten meist schon Jahre im Voraus festgelegt, was nicht selten komplexe, über Clan-Grenzen hinausgehende Land-Deals umfasste, die später für Streit und Konflikte sorgten. Die Maori-Mythologie verbindet kosmogonische Geschichten, die die Ursprünge der Erde und der Menschheit erklären, mit nationalen Legenden über das verlorene Heimatland Hawaiki und die Große Migration 498

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sowie Stammesgeschichten über „bedeutende Schlachten und bedeutende Männer“, die den Besitz von Land und die Autorität der Anführer begründeten.14 Sie ist voller Götter und Halbgötter, von Göttern gezeugter Ahnen und unterscheidet nicht zwischen Ereignissen, die moderne Analysten für rein mythisch halten, und anderen, die plausibel zumindest teilweise historisch sind. Dennoch nimmt die Mythologie womöglich die dreigeteilte Geschichte von Kiwiland voraus, indem sie drei Perioden recht deutlich unterscheidet: Die erste reicht vom Anfang der Welt bis zur Abreise aus Hawaiki, die zweite hängt mit der Entdeckung und Besiedlung von Aotearoa zusammen und die dritte umfasst alles von der Landung auf Aotearoa bis in die Gegenwart. Die Erzählung von der Erschaffung der Menschheit dreht sich vor allem um die göttliche Verbindung von Rangi, dem Himmelsgott, und Papa, der Erdmutter, sowie den Krieg der Götter, der zwischen ihren Nachkommen ausbrach. Nachdem das Ur-Paar zahlreiche männliche Nachfahren bekommen hatte, verharrte es in einer derart innigen Umarmung, dass ihre Söhne, die zwischen den beiden eingeklemmt waren, in Dunkelheit leben mussten, ohne Raum zum Atmen. Der Älteste der Söhne, Tu-matuenga, „wütendes Gesicht“ und daher später auch Gott des Krieges, wollte seine Eltern töten. Seinem jüngeren Bruder Tane, Gott der Wälder, gelang es jedoch, seine Eltern zu trennen: Er legte sich auf den Boden und drückte mit seinen starken Beinen seinen Vater in den Himmel. Dann schmückte er ihn mit Sonne, Mond und Sternen und kehrte zur Erde zurück, wo er Vögel, Fische und Säugetiere schuf. Einige Legenden machen Tu zum Schöpfer der Menschheit und beschreiben, wie er seine Brüder aufaß und so die Herrschaft übernahm. Andere überlassen Tane die Ehre, der aus Erde eine Frau geformt haben soll. Eine übergeordnete Geschichte, die diese Fassungen zu einem kohärenten und universalen Narrativ machen könnte, gibt es nicht. Die Trennung von Rangi und Papa jedoch führte zu lang anhaltenden Qualen. Rangis Tränen fallen als Regen und Schnee auf die Erde, während Papas Drehungen zu Erdbeben führen. Doch am schlimmsten ist, dass sich ihre Söhne nie versöhnten. Tawhirimatea, der Gott des Sturms, sorgte für Verwüstungen, als er sich seinem Vater im Himmel anschloss und von dort aus seine Brüder angriff. Tanes Wälder wurden flach gedrückt. Tangaroa, der Gott des Meeres, sah sich zur Flucht gezwungen. Und Rongo und Haumia, Götter des angebauten Essens beziehungsweise des wilden Essens, blieben untröstlich zurück. Eine weitere wichtige Figur ist Hine-nui-te-po, die „große Göttin der Nacht“. Sie ist die Frau, die Tane formte und dann zur Frau nahm. Als sie 499

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erkannte, dass ihr Ehemann und Liebhaber zugleich auch ihr Vater ist, floh sie in die Unterwelt, deren Herrscherin sie wurde. Es heißt, ihre Vagina sei mit Zähnen aus Obsidian besetzt gewesen, mit denen sie den Halbgott Maui tötete, der sich in einen Wurm verwandelt hatte, um in sie einzudringen und die Quelle des Lebens zu entdecken. Dieser Beinahe-Vergewaltiger wurde damit zur ersten Person, die starb. Jener Maui taucht in einem komplexen Zyklus aus Mythen und Legenden auf, in dem ihm durch Einfallsreichtum und Trickserei übernatür­ liche Kunststücke gelingen. Doch zunächst musste er ein traumatisches Erlebnis bei seiner Geburt überstehen: Seine Mutter hielt den zu früh geborenen Säugling für tot, wickelte ihn in ihren Haarknoten und warf ihn ins Meer – daher auch sein vollständiger Name Maui-tikitiki, „Maui, der Haarknoten“. Eine seiner Heldentaten bestand in der Zähmung der Sonne, die er mit dem Kieferknochen eines Vorfahren so lange schlug, bis sie versprach, langsamer über den Himmel zu ziehen und somit die Tage länger werden zu lassen. Eine andere bestand darin, das Geheimnis des Feuers, das die Menschheit wieder verloren hatte, zurückzuerobern; er trickste die Göttin des Feuers aus, die ihm ihre entzündlichen Fingernägel überließ. Und er erschuf die beiden Inseln, die später zur zweiten Heimat für die Maori werden sollten, indem er die Nordinsel mit seinem Fischhaken aus dem Ozean zog und die Südinsel auf magische Weise aus seinem Kanu formte. Tawhaki ist ein weiterer Halbgott, der meist mit Blitz und Donner assoziiert wird und in zahlreichen Legenden auftaucht. Dem Enkel der kannibalistischen Göttin Whaitiri gelang das Wunder, über eine Rebe, die den „Weg zum Himmel“ bildet, in den Himmel hinaufzuklettern. Beim Aufstieg in den höchsten der zehn Himmel lernte er zahlreiche der Zaubersprüche auswendig, mit denen die Götter sich ihre Herrschaft über die Menschen sicherten. Er verfügte über die Macht, seine Gegner mit einer gewaltigen Flut zu zerstören, und in der Zeit, in der die Maori dem Christentum ausgesetzt waren, verwandelte sich sein Vater Hema in Sem, den Sohn Noahs. Das Maori Tanga, das „kulturelle Erbe der Maori“, wurde durch eine komplexe mündliche Tradition bewahrt, zu der auch das Weitergeben der Geschichten und Mythen gehört. Daneben spielten Poesie, Gesänge, Tänze, Schauspiel, Rituale, Bräuche, Malerei, Skulpturen, Tätowierungen und viele andere Elemente eine wichtige Rolle bei der Verstetigung des Glaubens der Vorfahren und der Festigung der Identität der heranwachsenden Generation. Alle Stämme und Clans verfügen über professionelle 500

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tohunga oder „Schamanen“, Barden und Geschichtenerzähler, die sich das Repertoire einprägen und die Aufführungen bei den regelmäßigen Zusammenkünften leiten. Das Vortragen der königlichen und Stammes-Genealogie ist insbesondere für das Bewahren eines historischen Rahmens bedeutsam und verweist auf die entscheidende Verbindung zwischen Menschen und Göttern. Jede Gemeinschaft verfügt folglich über einen eigenen marae, einen „Zeremonialplatz“, auf dem das wharenui, das „Haus der Begegnung“, einen Ehrenplatz einnimmt. Wie in allen polynesischen Kulturen wird auch hier die Menschheit als integraler Teil der Natur verstanden. Männer und Frauen sind Verwandte der Tiere und Pflanzen und mit einem kräftigen Gefühl für das Heilige durchzogen. Bestimmte Orte oder Individuen werden als tapu oder „göttlich“ bezeichnet  – daher stammt unser Wort „Tabu“ – und dürfen keinesfalls angetastet werden, da sonst eine Vergeltungsstrafe droht. Singen ist eine besonders wirkungsvolle Maori-Tradition und ein universell attraktiver Teil einer Zeremonie. Es hat sich eine Reihe von SingStilen entwickelt, die je nach entsprechender Gelegenheit vorgetragen werden: Ging es eher um eine direkte Behauptung und nicht um eine Beschwerde, wurde das Lied in der Regel in einem rezitativen Stil vorgetragen, ohne melodische Organisation. Diese Lieder waren häufig … mit einer starken sozialen Herausforderung verbunden. Zu ihnen gehörten … Lieder der Ruderer (tuki waka), Tanz-Lieder (haka), Lieder von Frauen gegen Beleidigungen (patere) und Lieder der Wachleute (whakaaraara pa). … Darüber hinaus gibt es drei Liedarten, die vor allem Liebe und Kummer ausdrücken … und eher gesungen als rezitiert wurden, wobei die Melodie in jeder Zeile wiederholt wird. Die als oriori bekannten Lieder sang man für Jungen oder Mädchen, um ihnen die Verhältnisse des Stammes mitzuteilen, die sie geerbt hatten, [zusammen mit den Informationen über] die sie unterstützenden Verwandten. Die zur Unterhaltung angestimmten epigrammatischen Couplets mit dem Namen pao drückten Liebe, Grüße und Kommentare zu örtlichen Ereignissen und Skandalen aus. Die dritte, und mit Abstand die wichtigste Gruppe heißt waiata …, bei der meist öffentliche Klagen und Beschwerden mit Gesang ausgedrückt werden …, um die Gefühle des Dichters auszudrücken, eine Botschaft zu übermitteln und die Gefühle der Zuhörer zu beeinflussen. … Man sang sie sehr langsam und griff auf Melodien zurück, bei denen mit unendlichem Einfallsreichtum nur wenige Töne genutzt wurden.15 501

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Das Genre der waiata kann wiederum in mehrere Untergruppen aufgeteilt werden. Die waiata tangi, oder „Tränen-Lieder“, wurden etwa bei Beerdigungen gesungen oder nach Naturkatastrophen und verlorenen Schlachten. Die waiata aroha, die „Lieder von Liebe und Sehnsucht“, werden von Frauen vorgetragen und sind ein Vehikel für ihre Beschwerden über verlorene Liebhaber oder nachlässige Ehemänner. Die waiata whaiaipo schließlich, die „Lieder für die Liebste“, erzählen von Flirts, unerlaubten Affären oder konfliktreichen Verbindungen. All diese traditionellen Liedarten kann man auch heute noch vor allem bei den öffentlichen Zusammenkünften in den marae hören, meist in der Nacht und bei Mondlicht, häufig auch abwechselnd mit gesprochenen Auftritten, die zu den Spezialitäten der Maori-Männer gehören. Im 19. Jahrhundert allerdings begannen sich die Themen der Lieder deutlich zu ändern. Zum einen gab es nach dem Vertrag von Waitangi deutlich weniger Stammeskriege, was auch für einen Rückgang der Lieder über Triumph oder Niederlage sorgte. Dann tauchten mit dem Christentum mit einem Mal biblische Motive auf, zumeist in Verbindung mit Themen wie Hoffnung und Versöhnung. Und nicht zuletzt machte sich auch der Einfluss der Pakeha-Musik im Allgemeinen und insbesondere der Melodik englischer Kirchenlieder bemerkbar. Im 20. Jahrhundert wuchs das Repertoire weiter, und nun machte man sich das Singen bei Protestbewegungen und vielen Angelegenheiten der Gegenwart zunutze. Es haben sich aber viele der alten Lieder erhalten. Einige wurden von Missionaren aufgeschrieben, andere wurden durch die ständige Wieder­ holung zu Standards. Die Erforschung der Lieder dauert noch an, und sie werden für die Nachwelt aufgezeichnet. Die melancholischen Melodien und Texte haben nichts von ihrer Wirkung verloren: E pa to hau, he wini raro, he homai aroha Kia tangi atu au i konei, he aroha ki te iwi … Der sanfte Wind aus dem Norden bringt die Sehnsucht Und ich weine. Ich sehne mich nach meinem Volk, Das ins ferne Paerau aufbrach. Wer kann es dort finden, Wo sind meine Freunde aus jenen glücklichen Tagen? Es musste so weit kommen; wir sind getrennt, und ich bin einsam.16

Lieder mit christlicher Färbung reflektieren oft die Spannung zwischen alt und neu: 502

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E Hohepa e tangi, kati ra te tangi, Me aha taua i te po inoi, i te po kauwhau? … Du weinst, Hohepa, doch weine nicht mehr. Was sollen wir tun in der Nacht der Gebete, der Nacht der Predigt? Spring in das Wasser des Jordan, Sodass dir das Böse vergeben wird und deine Sünden abgewaschen werden, mein Sohn. Du musst dich auf den Weg zu Turners Haus machen* Und dich in den Worten des Buches unterrichten lassen – Das erste Buch, das Buch Genesis, Und das Evangelium nach Matthäus, damit du lernen kannst, Damit die Augen deines Körpers sehen können, mein Sohn.17

Zur Zeit der Kingitanga-Bewegung komponierte man Lieder, mit denen man die eigenen Könige feierte. Ein Augenzeuge berichtete von einem Ereignis aus dem Jahr 1894 in Waikato, als die Krönung eines neuen Königs gefeiert wurde. Mahutas Band marschierte in das marae und stimmte eine „abgewandelte Version eines bekannten englischen Liedes“ an. Die Menschen erhoben und verbeugten sich, dann sang eine Gruppe Männer und Frauen ein für diesen Anlass komponiertes Lied: Ko Mahuta te kingi, hei kingi hou, Hei kingi tuatoru mo te ao katoa … Mahuta ist König, der neue König, Ein dritter König für die gesamte Welt. Seine Anhänger, das Schönwetter von Matariki, Seine Engel werden über uns hinweg sausen. Wir tragen dich voran. Geh, Mahuta, geh hinaus in die Welt.18

Der weltberühmte haka, oder „Kriegsgesang“, der Maori ist nur ein Beispiel für ein breites Genre, und seine Verwendung durch das multiethnische Rugbyteam All Blacks wird von Puristen verurteilt. Die Krieger stellen sich vor dem Kampf ihrem Gegner und führen unisono eine Reihe von Lauten, * 1823 wurde eine Mission der Wesleyanischen Kirche in Tokerau in Northland gegründet; der Pfarrer war Reverend Nathaniel Turner.

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Grimassen und bedrohlichen Gesten vor. Bei der entscheidenden Passage brüllt der Chor-Führer Ke Mate! Ke Mate! (Ich sterbe! Ich sterbe!), woraufhin die Krieger Ke Ora! Ke Ora! (Ich lebe! Ich lebe!) erwidern. In der MaoriGemeinschaft wird eine Vielzahl von unterschiedlichen haka aufgeführt, von Männern und Frauen, aus zeremoniellen Anlässen oder als Zeichen der Begrüßung. Bei manchen Versionen tanzen die Männer und die Frauen singen. Das spezielle „Ke Mate“, das jeder kennt, gehört zu einer Kategorie von Kriegstänzen mit Namen peruperu. Wie das „Ke Mate“ zeigt, war Gewalt nie tief unter der Oberfläche verborgen. Kommentatoren der Jetztzeit geraten nur allzu leicht in die sentimentale Falle, die Tänze und die Mythologie für nichts anderes als bunte Folklore zu halten. Man muss sich jedoch vergegenwärtigen, dass das Ethos des traditionellen Maori-Lebens nicht mit modernen, westlichen Standards beurteilt werden sollte, und dass dessen grausame und brutale Aspekte als integraler Bestandteil des Ganzen zu verstehen sind. Zudem muss man ebenfalls akzeptieren, dass vielfältige Formen von Grausamkeit und Brutalität, angefangen beim Hängen, über das Strecken und Vierteilen bis hin zur Hexenverfolgung und dem Sklavenhandel in der europäischen, christlichen Gesellschaft bis vor recht Kurzem noch üblich waren. Unter den Maori war Sklaverei weit verbreitet, die Tradition des utu, der „Vendetta“, fest verankert und, wie Captain Cook beobachtete, ein hemmungsloser Kannibalismus keine Seltenheit. Auch stimmt es nicht, wie manchmal behauptet, dass Kannibalismus nur auf Siegesfeiern nach Schlachten beschränkt blieb. Es gab ihn sogar innerhalb von Familien, als etablierte Form der Vergeltung gegen jedes als Missetäter aufgefasste Individuum. Man trank menschliches Blut, schnitt Herzen als Belohnungshappen heraus, verspeiste Gehirne, kochte Augäpfel als Delikatesse und aß mit großem Behagen gegrilltes Menschenfleisch. Für die Maori, die den Menschen als Teil des ungeteilten Tierreichs ansahen, unterschied sich der Verzehr von Menschenfleisch nicht von dem von Fisch oder Geflügel. Die Sklaverei betraf entweder ein Kollektiv oder ein Individuum. Nach einer Niederlage in einem Krieg konnten auch ganze Clans in die Sklaverei verschleppt werden. Ihre Krieger konnten getötet und gegessen werden; ihre heiratsfähigen Frauen sollten das Fortpflanzungspotenzial der Sieger erhöhen, und die Übriggebliebenen mussten den Rest ihres Lebens als Untertanen schuften. Ebenso erwarteten alle rangatira, die „Klasse der hochgeborenen Familien“, innerhalb eines Clans oder Stammes, von mokai, „persönlichen Sklaven“, bedient zu werden, die als Diener, Arbeiter oder 504

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Konkubinen Befehlen zu gehorchen hatten. So erklärt sich auch, weshalb die schlimmste Beleidigung, die man einem Maori ins Gesicht schleudern kann, ein toenga kainga war, übersetzt „Rest des Festessens“: Hiermit beschimpfte man jemanden, der noch nicht einmal gut genug war, verspeist zu werden. Für mich als Historiker war allerdings die Erkenntnis am faszinierendsten, dass sich das traditionelle Zeit-Verständnis der Maori völlig von dem unseren unterscheidet. Europäer neigen dazu, sich selbst in der Gegenwart stehend aufzufassen, den Blick in eine trübe Zukunft gerichtet, die Ver­ gangenheit hinter sich lassend. Die Maori hingegen nahmen die entgegengesetzte (mentale) Haltung ein. Es war, als würden sie mit dem Gesicht gen Vergangenheit blicken, die Taten der Götter und ihrer Vorfahren betrachtend, während sie dem, was noch auf sie zukommen sollte, die kalte Schulter zeigten. Die Vergangenheit ist ngaa raa o mue, „die Tage vor uns“, während die Zukunft kei muri heißt, „was hinter uns liegt“. Ein Anthropologe formulierte es einmal so: Die Maori „marschieren rückwärts in die Zukunft“. Ihr Blick war fest auf das Vergangene gerichtet. Und die Idee eines Fortschritts fehlte völlig.19 Nun stellt sich die Frage: Was ist es, dass uns Westler so überzeugt sein lässt, wir würden mit dem Blick voraus in die Zukunft gehen? Es könnte die Neugier der antiken Griechen oder das Bestreben der Römer gewesen sein, ein Imperium zu errichten, die uns dazu brachten. Doch wahrscheinlicher lag es an der christlichen Abkehr der Sünden aus der Vergangenheit und die Erwartung des Wiederkommens Jesu Christi. 150 Jahre waren die Maori in Kontakt mit den Europäern, ohne dass eine der beiden Seiten tiefer gehend beeinflusst worden wäre. Nachdem er das Van-Diemens-Land hinter sich gelassen hatte, erreichte Abel Tasman im Dezember 1642 die Nordspitze der Südinsel, ohne genau zu wissen, wo er gelandet war. Er nannte den Ort Staten Land, nach den Vereinigten Provinzen der Niederlande. Als einige Männer seiner Crew bei einem Scharmützel an einem Ort ums Leben gekommen waren, den er in der Folge als „Mörderbucht“ bezeichnet, fuhr Tasman weiter. Etwas weiter nördlich entdeckte er einen einladenden Küstenstreifen, ohne zu erkennen, dass er bereits auf einer anderen Insel angekommen war. Doch von nun an wussten europäische Seeleute, dass westlich von Australien ein attraktives Land lag, und unter den Maori schien sich herumzusprechen, dass das Volk der weißen Pakeha große, segelbestückte Kanus habe, die sie über den Ozean nach Aotearoa bringen könnten. Spätere Berichte legen nahe, dass die 505

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Maori die Pakeha-Kapitäne für Götter gehalten haben mögen und die Matrosen für Kobolde, da sie ihre Schiffe rückwärts ruderten. Im 18. Jahrhundert legten niederländische, französische und schließlich auch britische Schiffe häufiger an den Inseln an, ohne jedoch Siedler mit­ zubringen. Ein Meilenstein wurde dann mit Captain James Cooks erster Fahrt mit der Endeavour erreicht (1769–1770), als er die Inseln umfuhr und eine detaillierte Karte von ihnen erstellte. Der französische Forscher MarcJoseph Marion du Fresne wurde von den Maori 1772 in der Bay of Islands getötet und aufgegessen, womit er das nur etwas weniger dramatische Schicksal vorwegnahm, das Cook sieben Jahre später auf Hawaii ereilen sollte. Der in St.  Malo geborene du Fresne hatte zuvor bedeutsame Ent­ deckungen gemacht, darunter etwa, dass Tasmanien keine terra nullius war.20 Ab 1788 wurde „New Zealand“ (wie es Cook aus dem Niederländischen anglisiert hatte) zu den Gebieten der britischen Kolonie von New South Wales gezählt. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts nahmen die britischen Aktivitäten zu, wodurch Walfänger, Händler, Missionare, Flüchtlinge und Regierungsvertreter die Inseln erreichten. James Caddell, ein 16-Jähriger, der 1810 als Einziger einen Maori-Angriff auf ein auf Stewart Island gelandetes britisches Schiff überlebte, gilt als erster dauerhafter Pakeha-Siedler. Er heiratete die Tochter eines örtlichen Chiefs, wurde „ein Einheimischer“ und später sogar selbst Chief und war Jahre später, als man ihm wieder begegnete, als „tätowierter Mann“ kaum noch des Englischen mächtig. Die beiden ersten europäischen Frauen, Charlotte Badger und Catherine Haggerty, waren Strafgefangene auf der Venus aus New South Wales, deren Besatzung 1806 meuterte und sie in die Bay of Islands brachte. Charlotte Badger lebte dort als Konkubine eines Maori-Chiefs des Ngapuhi-Stammes. Das erste von zwei Pakeha-Eltern abstammende Kind der Insel, Thomas King, wurde 1815 als Sohn eines Missionars-Paars geboren. Zwei Städte beanspruchen den Titel als „älteste europäische Siedlung“ auf den Inseln. Der Hafen von Bluff auf der Südinsel, gegründet 1823, behauptet von sich, der „älteste, permanent besiedelte Ort“ zu sein. Mehr als 50 Jahre nach Captain Cooks Expedition dürfte sich die Bevölkerungszahl der Inseln auf etwa 100 000  Menschen belaufen haben, darunter wohl etwa 0,01 Prozent Europäer. Drei wichtige Ereignisse wurden für diese Jahre entscheidend. Zum einen hatten die Maori ab 1807 Zugang zu Musketen, woraufhin eine Reihe blutiger Stammeskriege ausbrach, die mehr als 30 Jahre andauerten. Der tatkräftig bei diesen Musketenkriegen engagierte Ngapuhi-Chief Hongi 506

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Hika (1772–1828) beförderte europäische Siedlungen und reiste 1820 nach England, wo man ihn König Georg IV. vorstellte. Zum anderen kam es im Dezember 1809 zu einem grausamen Massaker, als Maori-Krieger die britische Boyd kaperten und buchstäblich jeden an Bord töteten. Anschließend aßen sie die Opfer in einer Zeremonie. Dieser Vorfall wurde zu einer Lehrstunde für den Clash of Cultures: Der Sohn eines Maori-Chiefs war auf der Boyd von Australien mitgesegelt und unter Verdacht des Diebstahls geraten, weshalb man ihn auspeitschte. Für die Briten war diese Bestrafung mit der Peitsche das übliche Vorgehen, um die Disziplin an Bord eines Schiffes aufrechtzuerhalten. Für die Maori war dies hingegen ein Tabubruch, der eine extreme Reaktion provozierte. Und drittens überquerte Reverend Samuel Marsden (1765–1838), der oberste Geistliche der Anglikanischen Kirche in New South Wales, auf Betreiben von Hongi Hika 1814 die Tasmansee, kaufte für den Preis von 48 Äxten Land bei Kerikeri in Northland, pflanzte Weinreben und führte das Christentum ein. Die geplante Mission, die im Besitz der London Missionary Society war und zunächst den Namen Gloucester Town trug, nahm allerdings erst ein paar Jahre später ihren Dienst auf. Marsden unternahm zudem einige Expeditionen, mit denen die europäische Erkundung der Nordinsel begann. Im Endergebnis sorgte dies dafür, dass die Möglichkeiten für die Kolonialisierung und Christianisierung besser erkannt wurden. Aber eben auch die unbegrenzte gegenseitige Ausnutzung. Das eigentlich zuständige britische Colonial Office geriet aufgrund seines Unvermögens in Verlegenheit. Neuseeland war die wildeste aller wilden Grenzen. Einmal abgesehen von dem Blutvergießen und dem ungezügelten Kannibalismus der Musketenkriege, schlugen viele zwielichtige Europäer über die Stränge. Die Besatzungen von Wal- und Robbenfangschiffen im Südpazifik lebten gewöhnlich mit einheimischen Frauen zusammen. Nun erreichten Berichte London, wonach Maori-Chiefs gleich ganze Gruppen ihrer Frauen zu im Aufbau begriffenen Handelsposten trieben und verlangten, sie sollten sexuelle Leistungen im Austausch für Gewehre und Äxte leisten. Protestantische und katholische Missionare wetteiferten nicht gerade friedlich miteinander und beschwerten sich zudem, Bekehrte würden sich weigern, Polygamie und Kindesmord aufzugeben. Nachdem 1826 ein Teil der Bibel übersetzt worden war, tauchten verrückte, pseudochristliche Praktiken auf: Der Maori-Chief Papahurihia erklärte sich selbst zum Propheten; seine Anhänger nannten sich hurai, oder „Juden“, und hielten Gottesdienste am Samstag ab. Etwa 30  MaoriChiefs baten London um Schutz, und auch selbst ernannte Siedler-Verbände 507

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verlangten eine Intervention der Regierung. Und das Schlimmste war, dass mit einem Mal auch französische Missionare und Kolonialgesellschaften Interesse an den Inseln zeigten. Daher ernannte das Colonial Office im Jahr 1832 einen offiziellen britischen Residenten: Die Amtszeit von James Busby (1801–1871), die von 1832 bis 1840 dauerte, illustriert das herrschende Chaos. Busby hatte zuvor in Australien gelebt und war ein großer Weinbau-Enthusiast. Als er nach New South Wales zurückkehrte, bekam er die unerbittliche Ablehnung des Gouverneurs zu spüren, der mit Busbys Ernennung ganz und gar nicht einverstanden war; er musste sogar seine Überfahrt von Sydney nach Wai­ tangi aus eigener Tasche bezahlen. Theoretisch war Busby mit der vollen Macht seines Amtes ausgestattet, doch in der Praxis hatte er keine Wege, tatsächlich etwas durchzusetzen. Er bettelte beim Colonial Office um Unterstützung durch zwei Polizisten – je einen pro Insel, in einem Gebiet, größer als Großbritannien. Vergeblich. Er vollzog eine Festnahme  – er nahm einen Maori wegen des Mordes an einem Siedler fest – und konnte 1835, nachdem er von den Plänen des französischen Abenteurers Baron de Thierry für einen Siedlungsplan gehört hatte, eine Gruppe von MaoriChiefs zur Unterschrift unter eine Unabhängigkeitserklärung überreden. Diese erhielt tatsächlich die königliche Zustimmung, im Übrigen aber keinerlei Beachtung. Und Busby entwarf eine Flagge für Neuseeland. Zu diesem Zeitpunkt, in den später 1830er-Jahren, sorgten zwei Brüder aus England für den Schwung, der zur erfolgreichen Gründung einer Kolonie führen sollte. Edward Gibbon Wakefield (1796–1862) und sein jüngerer Bruder Colonel William Wakefield (1801–1848) waren mit ihren Unternehmungen so weit gegangen, dass sie in Verruf gerieten. Sie hatten wegen der Entführung einer Erbin drei Jahre im Londoner Newgate-Gefängnis eingesessen. Edward stürzte sich anschließend in die unterschiedlichsten kolonialen Abenteuer, vor allem in Kanada, wohingegen William sich als Söldner in den spanischen Carlistenkriegen verdingte. Edwards theoretische Schriften zum Kolonialismus waren in den Augen seiner Zeitgenossen außergewöhnlich fortschrittlich, an den indigenen Völkern hatte allerdings auch er wenig Interesse. Er lehnte sowohl die Sklavenhaltung in Amerika als auch das Strafgefangenensystem in Australien ab und bevorzugte vielmehr einen geordneten Markt für freie Arbeit und die Schaffung einer Gemeinschaft von Modell-Farmen. Seine Losung lautete: „Wer selbst Grund und Boden besitzt, wird sicher sein.“21 Die von Wakefield inspirierte New Zealand Company verteidigte trotzig ihre Unabhängigkeit vom Colonial Office. Auch wenn es in ihren Anfän508

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gen noch holperte und sie eine Geschichte voller Wechselfälle durchmachte, war sie schlussendlich für die Organisation, Finanzierung und Abfertigung der ersten Flotte mit Emigranten verantwortlich, die Groß­ britannien verließ. 1837, im Jahr von Königin Victorias Amtsantritt, gegründet, führte sie bereits ihre Operationen durch, während die Regierung und das House of Lords noch über die Zukunft der Inseln debattierten. William Wakefield war Kapitän der Tory, die mit der Vorhut am 20. September 1839 in Port Nicholson landete.* Ihr folgte kurz darauf die Cuba mit einer Gruppe Landvermesser. Schließlich erreichte am 22. Januar 1840 die Aurora mit 150 Siedlern das Land, die jene Siedlung Britannia erbauen sollten, aus der sich später Wellington entwickelte. Innerhalb nur eines Jahres folgte ein Dutzend weiterer Schiffe.22 Das von der Initiative der Company aufgeschreckte Colonial Office begann nun eigene Bemühungen. Es ernannte Captain William Hobson (1792–1842) zum Lieutenant-Governor, gab ihm Anweisungen, einen Vertrag mit den einheimischen Chiefs auszuhandeln, und drängte ihn darauf, möglichst schnell aktiv zu werden. Hobson war drei Jahre zuvor einmal in Neuseeland gewesen und hatte einen von den Missionaren stark beeinflussten Bericht über den Einfluss gesetzloser Flüchtlinge aus Australien verfasst. Eine Woche nachdem die Aurora in Port Nicholson vor Anker gegangen war, kam er in der Bay of Islands an. Loyal von Busby unterstützt, jedoch ohne jegliche rechtliche Beratung, entwarf er ein Dokument, das den Chiefs vorgelegt werden sollte, und bereitete ein großes Treffen vor den Toren von Busbys Residenz in Waitangi vor. Vier Tage später stand der Text, einen Tag später hatte der Missionar Henry Williams ihn ins Maori übersetzt. Hobson war in Eile. Nachrichten aus „Britannia“ waren eingetroffen, wonach die New Zealand Company eine eigene Kolonie zu gründen plane. Den versammelten Chiefs wurde kurz die Gelegenheit gegeben, den vorgelegten Vorschlag zu diskutieren. Einige, vor allem die vom französischen katholischen Missionar Bischof Jean-Baptiste Pompallier beeinflussten, lehnten den Text ab. „Wir brauchen keinen Gouverneur, wir Chiefs herrschen über das Land unserer Vorfahren“, erklärten sie. Doch eine Mehrheit der Versammelten stimmte zu. Offenbar wurden sie durch das Argument überzeugt, eine starke Herrschaft durch einen britischen Gouverneur könne die Gesetzlosen und Schnaps-Verkäufer in den Griff bekommen. * Was später Wellington Harbour heißen sollte, wurde 1826 noch Port Nicholson genannt, nach dem Hafenmeister in Sydney.

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Der fertige Vertrag von Waitangi wurde am 6. Februar 1840 in einem auf Busbys Rasen errichteten großen Zelt unterschrieben. Er enthält eine Präambel und drei Artikel: 1. Alle Souveränität wird an die Königin von England [sic] übergeben, in dessen Namen der Gouverneur dient. 2. Es wird garantiert, dass die Maori weiterhin alle Rechte über das Land, die Wälder und Fischereigründe besitzen. 3. Die Maori sollen die gleichen Rechte erhalten wie alle britischen Untertanen. Hobson unterzeichnete als Erster. Jedes Mal, wenn einer der einhundert Chiefs seinen Namen oder sein Zeichen unter das Dokument setzte, wiederholte er den Satz He iwi tahi tatou, „Wir sind nun ein Volk“. Es wurden acht Kopien des Originals angefertigt und in den bewohnten Gegenden verteilt. So erreichte man 400 weitere Maori-Unterschriften. Damit waren allerdings bei Weitem nicht alle Maori-Führer beteiligt, aber die Anzahl reichte aus, sodass Hobson am 21. Mai 1840 eine Erklärung abgeben konnte, dass die britische Krone die Souveränität über ganz Neuseeland besitze, „die Nordinsel aufgrund des Vertrags, die Südinsel aufgrund der Ent­ deckung“. Eine zweite Proklamation sechs Monate später erklärte, dass Neuseeland von New South Wales zu trennen sei. Anschließend verwahrte man den Vertrag, der erst im 20. Jahrhundert wieder ernstlich diskutiert wurde. Man braucht dennoch kein Jura-Studium, um zu verstehen, dass der Vertrag und all seine Inhalte von Anfang an fragwürdig waren. Abgesehen davon, dass Victoria nicht die „Königin von England“ war, ist es sehr offensichtlich, dass Hobsons Gegenüber auf Maori-Seite keine ausreichende Gelegenheit hatten, den Vorschlag zu prüfen oder einen vernünftigen Gegenvorschlag zu unterbreiten. Die britischen Abgesandten standen vereint hinter einem auf Englisch abgefassten Text. Die einheimischen Unterzeichner waren nur eine Versammlung von Individuen, die nicht für die Maori-Nation als solche sprechen konnten, nicht über ausreichende Sprachkenntnisse verfügten, um das Englische zu verstehen, nur wenig Erfahrung mit verschriftlichtem Maori hatten und nur verwirrt sein konnten von der in aller Eile durch einen Amateur verfassten Übersetzung. Die neuere Forschung hat gezeigt, dass alle entscheidenden Begriffe, die sich auf „Regierung“, „Eigentum“ oder „Häuptlingstum“ beziehen, falsch übersetzt worden waren und die englische Version sich deutlich von der Maori-Fassung unterscheidet. Hinzu kommt noch, dass der Vertrag nie offiziell ratifiziert wurde, und im Rahmen eines Gerichtsprozesses beurteilte ein britischer 510

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Richter ihn 1877 als „null und nichtig“. Und dennoch brachte man britischen Kolonialisten bei, ihn als Akt der Großzügigkeit zu betrachten. Sicher ist auch, dass die Maori keine Ahnung davon hatten, dass die Unterschrift unter den Vertrag sie einem Strom von Pakeha-Migranten aussetzen würde, der sie in Kürze zur Minderheit in ihrem eigenen Land machen sollte.23 In den 50 Jahren nach 1831 explodierte die europäische Bevölkerung in Neuseeland auf eine halbe Million. Etwa 400 000 vor allem junge Leute kamen aus Großbritannien und Irland und vermehrten sich vor Ort stark. Für mehr als 100 000 von ihnen hatte das Colonial Office die Überfahrt bezahlt. Eine ähnliche Zahl kam noch einmal während des Goldrauschs, nachdem man 1861 in Otago auf eine Ader gestoßen war. Nicht alle von ihnen blieben, aber die demografische Zunahme war unnachgiebig. Die Maori-Bevölkerung halbierte sich im selben Zeitraum. Von mindestens 100 000, zum Zeitpunkt der Unterschrift unter den Vertrag von Waitangi, fiel sie auf 40 000 am Ende des Jahrhunderts, vor allem aufgrund von zuvor unbekannten europäischen Krankheiten. Die Geschichte der frühen Siedler erfreut sich heute großer Aufmerksamkeit. Es werden Datenbanken erstellt, in denen sich die Namen und Fahrten aller Siedler-Schiffe finden lassen sowie ihre Passagiere und deren Herkunftsländer. Tagebücher aus dieser Zeit gelten als kostbar. So legte beispielsweise die London im Auftrag der New Zealand Company am 10. August 1840 in Gravesend ab und erreichte nach 121 Tagen am 12. Dezember Port Nicholson. Eine Frau an Bord erinnerte sich an die Ankunft: Wir standen bei Sonnenaufgang auf und drängten uns an die Reling des Schiffs, voller Bange, einen ersten Blick auf das Land werfen zu können, das unsere neue Heimat werden sollte. … Das Meer war ruhig, als wir an diesem warmen, sonnigen Dezembermorgen des Jahres 1840 in Port Nicholson eintrafen und wir Hütten entlang des Kais aufgereiht erkennen konnten. … Sogleich paddelten Eingeborene mit ihren Kanus vom Ufer los …, um uns zu begrüßen. Unsere lange Reise von England hierher stand kurz vor ihrem Ende.24

Die systematische Vertreibung von Pachtbauern aus den schottischen Highlands trug dazu bei, dass ein Großteil der Siedler aus Schottland stammte. Ein 1839–40 in Glasgow aufgehängtes Poster der New Zealand Company wirbt mit Schiffspassagen zur ersten schottischen kolonie. Viele Schotten ließen sich auf der Südinsel nieder und führten dort die Schafzucht ein; Ortsnamen wie Dunedin und Invercargill zeugen von 511

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ihrem Einfluss. Es waren auch viele Iren gekommen. Um sie anzu­locken, wurde die junge Kolonie 1841 in drei Provinzen aufgeteilt – „New Ulster“ auf der Nordinsel, „New Munster“ auf der Südinsel und „New Leinster“ für die kleinere Stewart Island. Die Provinzen änderten sich bald wieder, aber die irischen Emigranten kamen weiterhin. Die meisten Ortsnamen sind jedoch auf Englisch, der offiziellen Sprache der Kolonie. Auckland (1840) wurde nach dem Förderer von Gouverneur Hobson benannt, dem Earl of Auckland, als man sich für die Stadt als Hauptstadt der Kolonie entschied. Greytown, Greymouth und der Grey River erinnern an die Leistungen von Sir George Grey (1812–1898), der so lange wie kein anderer als Gouverneur regierte. Canterbury, die größte Region der Südinsel, erhielt ihren Namen nach der Canterbury Association, die für deren Besiedlung verantwortlich war. Christchurch (1848) verdankt seinen Namen der Loyalität eines Verbandsmitglieds, das seine Bildung am Christ Church College in Oxford erhalten hat. Whitby war die Heimatstadt von James Cook. Ignorierte man in den frühen Tagen noch jeglichen Maori-Namen, so wurden jüngst immer wieder geografische Bezugspunkte mit ihrer ursprünglichen Bezeichnung versehen. Schon von Anfang an war die Kontrolle über das Land „Problem Nummer Eins“ der Kolonie. Der Vertrag von Waitangi bestätigte den Landbesitz der Maori, legte aber zugleich fest, dass jeder zukünftige Landkauf über die Krone zu laufen habe. Diese Festlegung stellte sich als schlecht durchdachtes Werkzeug dafür heraus, dass die Krone legale Eigentümerin aller Verkäufe wurde, ganz gleich, welchem Druck zum Verkauf die Maori ausgesetzt waren. Doch sie verärgerte zugleich zwei bedeutende und beteiligte Parteien. Zum einen repräsentiert durch die New Zealand Company und andere Siedler-Vereinigungen, die bereits Land gekauft hatten und erwarteten, nun freie Hand mit ihm zu haben. Und die Festlegung wurde auch von zahlreichen Maori-Stämmen vor allem der Nordinsel nicht akzeptiert, deren Chiefs den Vertrag entweder nicht unterschrieben oder aber unterschrieben und inzwischen ihre Meinung geändert hatten. Ein Konflikt war unausweichlich. Er brach im Sommer 1843 aus und setzte sich mit Unterbrechungen 30 Jahre lang in einer Reihe von Schlachten fort, die ehemals „Maorikriege“ und inzwischen eher „Neuseelandkriege“ („The Land Wars“) genannt werden.25 Die ersten Schüsse fielen im Wairau Valley, im Norden der Südinsel, im April 1843. Eine Gruppe von Vertretern der New Zealand Company, die mit gefälschten Unterlagen Anspruch auf ein Gebiet erheben wollte, betrat das Tal, um sich einen Überblick zu verschaffen und einige unkooperative 512

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Maori-Chiefs zu verhaften. Sie geriet in einen Hinterhalt, bei dem 21 Menschen ums Leben kamen. Die Zeitungen der Siedler schrieben von einem „Massaker“, doch eine Untersuchung von Hobsons Nachfolger im Gouverneursamt, Captain William Fitzroy, ergab, dass die Schuld allein bei den Siedlern zu suchen war. Die nächste Episode ist unter dem Namen „Fahnenmastkrieg“ bekannt geworden und ereignete sich zwischen Juli 1844 und Januar 1846 in der Bay of Islands, auf der Nordinsel. Sie begann mit Hone Heke, einem zum Christentum konvertierten Chief der Ngapuhi, einem Veteranen der Musketenkriege und Unterzeichner des Vertrags, der sich bereits betrogen vorkam. Offenbar beeinflussten ihn amerikanische Walfänger, die von dem erfolgreichen Kampf der Vereinigten Staaten gegen die Briten berichteten. Drei Mal fällten er und seine Verbündeten den Fahnenmast mit dem Union Jack am Nordende von Kororareka (heute Russell) und zerstörten schließlich die Siedlung. Gouverneur George Grey zog reguläre Truppen aus Australien hinzu und es kam zu einer Reihe von Schlachten, die allerdings keine Entscheidung brachten. Wenig später starb Hone Heke an Tuberkulose. Er hatte sich durch seine Widerstandshaltung Anerkennung erworben, und seine Krieger hatten bewiesen, dass sie den Pakeha im Kampf standhalten konnten. Der Aufbau ihres „Revolverhelden pa“, der üblichen Maori-Form einer defensiven Befestigungsanlage, hatte sich als besonders effektiv herausgestellt. Politisch hingegen zeigten die Auseinandersetzungen, dass die Maori-Stämme gespalten waren: Einige waren bereit, die Briten notfalls mit Waffengewalt zu verteidigen, andere hingegen suchten die kriegerische Auseinandersetzung mit der Kolonialmacht.26 In diesem Kontext kam es in den 1850er-Jahren zu einer Koalition von Stämmen, die im wilden Inland der Nordinsel lebten und sich von der Kolonie völlig abwandten, um sich unabhängig selbst zu regieren. Die Kingitanga-Bewegung wurde von einer Form des Maori-Nationalismus inspiriert, die auf die Rückbesinnung auf traditionelle Bräuche drängte, jeden Pakeha, der seinen Fuß auf ihr Territorium setzte, mit dem Tode bedrohte und den Verkauf von Maori-Land grundsätzlich verbot. Im Mittelpunkt standen dabei der Tainui-iwi und dessen Nachbarn, die ein Maori-Königtum etablierten. Auf dem Höhepunkt der Maori-Könige waren ihnen etwa 30 Prozent der Maori-Bevölkerung untertan, und sie bildeten einen Staat im Staate. Potatau, der erste König, regierte von 1858 bis 1860. Der zweite, Tawhiao, regierte von 1860 bis 1894 und hatte ernsthafte Ambitionen, weshalb er Königin Victoria um die Anerkennung einer Maori-Versammlung bat. Sein Sohn Mahuta, der von 1894 bis 1912 regierte, gilt als Vorfahr aller 513

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weiteren Maori-Könige, die bis heute regieren, auch wenn sie nurmehr eine zeremonielle Rolle spielen.27 Die weiteren Schlachten der Neuseelandkriege richteten sich entweder direkt gegen die Kingitanga oder die mit ihnen verbündeten Stämme. Der größte Feldzug, an dem zwischen 1863 und 1865 rund 18 000  königliche Soldaten teilnahmen, hatte die Invasion in das Herzland der Kingitanga in der Waikato-Region zum Ziel. Er endete mit einer großen Strafaktion und der Konfiszierung von Land, bei der den Maori-Stämmen, sowohl den aufständischen als auch den loyalen, mehr als 1,2  Millionen Hektar Land geraubt wurde. Die Ungerechtigkeit dieser Konfiszierungsgesetze blieb ein Zankapfel, der erst in den 1990er-Jahren mit einer Wiedergutmachung beseitigt wurde. Die „Land Wars“ förderten die Bildung kolonialer Militäreinheiten. Eine, die Forest Rangers, spezialisierte sich auf Guerilla-Taktiken, die sie von den Maori übernahmen, und hatte Colonel Leopold von Tempski (1828–1868) als Helden in ihren Reihen: Der Söldner, ein ehemaliger Offizier der preußischen Armee und aus polnischer Familie, strebte nach Ruhm und Ehre, weshalb er eine gut ausgestattete „Revolverhelden pa“ angriff. Er wurde von einem Kugelhagel durchsiebt und ordnungsgemäß verspeist. (Es gibt ein passendes polnisches Sprichwort, das zu Tempskis Schicksal passt: Polak mądry po szkodzie, „Ein Pole wird weise durch seine Verwundungen.“) Neben der Frage des Landbesitzes war die Religion das zweite große Problem. Der viktorianische Imperialismus war eng mit der christlichen Evangelisierung verknüpft, und es gibt gute Argumente für die Behauptung, dass dem Colonial Office die Missionars-Lobby näherstand als die Siedler-Bewegung. So waren die Missionare auch deutlich früher vor Ort aktiv als die Kolonialisten. Als am Weihnachtstag 1814 am Ufer der Bay of Islands der erste christliche Gottesdienst gefeiert wurde, hisste man dazu auch den Union Jack. Reverend Samuel Marsden hielt dabei fest: „Ich sah die englische Flagge im Wind wehen, und ich sah dies als Anbruch der Zivilisation, der Freiheit und Religion in diesem dunklen und umnachteten Land.“ Probleme aller Arten erschwerten die ersten Jahrzehnte. So kritisiert der Bericht des Künstlers August Earle, der 1832 unter dem Titel A Narrative of a Nine Months’ Residence in New Zealand („Geschichte eines neunmonatigen Aufenthalts in Neuseeland“) publiziert wurde, die fehlende Empathie der Missionare für die Bräuche und Sitten der Maori. Zu der Zeit, als der Vertrag von Waitangi geschlossen wurde, waren 42 Missionen auf den Inseln aktiv – anglikanische, methodistisch-wesleyanische und römisch-katholische. 514

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Die Hindernisse auf dem Weg zur Bekehrung waren jedoch beachtlich. Denn obwohl die Maori eine klare Vorstellung vom jenseitigen Leben hatten, fehlte ihnen jegliche Idee von göttlichem Urteil und dem Bedürfnis nach Erlösung. Ihre traditionellen Lehren gingen davon aus, dass Männer und Frauen für ihr Verhalten auf der Erde auch hier belohnt oder bestraft würden; sobald die Seelen der Toten auf die Paradies-Insel mitten im Ozean gewandert waren, mussten sie keinerlei Vergeltung mehr fürchten und hatten daher auch keinen Grund, dem christlichen Gott treue Gefolgschaft zu leisten. Allerdings spielten drei Faktoren den Missionaren in die Hände. Zum einen waren die zahlreichen Maori-Sklaven und die vielen versklavten Stämme offen für die christliche Botschaft, da sich ihnen hier ein Weg aus ihrer Unterdrückung bot. Zum anderen galten die christlichen Missionare sowohl in den Musketenkriegen als auch in den Neuseelandkriegen als Friedensstifter. In den Feldzügen gegen die Kingitanga, die animistische Praktiken wieder neu belebt hatten, waren es vor allem Stämme mit christlichen Chiefs, die am ehesten bereit waren, imperialen Streitkräften zu dienen. Drittens erkannten viele Maori sehr schnell den Wert einer Schulbildung und kamen in Scharen zu den Missionarsschulen. Die Veröffentlichung eines Neuen Testaments in Maori 1837 durch die Church Missionary Society und die der vollständigen Maori-Bibel 1868 waren dabei wichtige Meilensteine. Man schätzt, dass 1850 bereits 60 Prozent der Maori zumindest auf dem Papier Christen waren.28 Trotz dieser Erfolge kam es zu Spannungen, und zwar auch dort, wo man es am wenigsten erwartet hätte. So beschwerte sich Gouverneur Grey beispielsweise 1846 in einem als „Blood and Treasure Despatch“ („Blutund Schatz-Depesche“) bekannten Brief beim britischen Kolonialminister William Ewart Gladstone über die Vorliebe der Missionare zur gewaltsamen Aneignung von Land.29 Daraufhin entließ die Church Missionary Society einen ihrer bekanntesten Verantwortlichen vor Ort, Reverend Henry Williams. Es knirschte auch immer wieder zwischen Protestanten und Katholiken, obwohl die sozialen Werke der katholischen Frauenorden, etwa die der Barmherzigen Schwestern, allgemein geschätzt wurden. Jede der großen Glaubensgemeinschaften war bemüht, ihren territorialen Zugewinn zu sichern. Auf der Südinsel wirkte die Canterbury Association als anglikanische Organisation, wohingegen die Scottish Presbyterians Dunedin aufbauten. Das dritte große Problem war schließlich die Regierung. Heute lässt sich die extreme Isolation der Kolonie in ihren Anfangsjahren kaum noch nachvollziehen. Bevor 1880 der elektrische Telegraf eingeführt wurde, musste 515

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ein Gouverneur auch schon einmal zwölf Monate auf eine Antwort aus London warten, weshalb er sich ohne äußere Hilfe auf sein eigenes Urteilsvermögen verlassen musste. Die ersten Versuche des britischen Parlaments, 1846 eine Verfassung für Neuseeland zu beschließen, scheiterten an Gouverneur Greys Widerstand gegen die Aufteilung der Insel in unterschied­ liche Maori-Bezirke. Erst die zweite Verfassung von 1852 setzte sich durch. Sie teilte das Land in sechs neue Provinzen auf und rief eine gewählte gesetzgebende Versammlung ins Leben; neben dem Gouverneur stand ab 1856 ein Premierminister einem Regierungskabinett vor. In den 1890er-Jahren führte man Gespräche über eine Föderation zwischen Australien und Neuseeland, doch in der alten Heimat lehnte man dieses Konzept ab. Neuseeland wurde 1907 schließlich ein eigenes Dominion des British Empire und erhielt damit den gleichen Status wie Australien oder Kanada.30 Um die landschaftlichen Schönheiten und historischen Stätten Neuseelands zu erkunden, braucht man Wochen, vermutlich wohl eher Monate. Die Nordinsel ist groß, die Südinsel sogar noch größer. Tagesausflügler dürften somit enttäuscht werden. Denn die Gefahr ist gewaltig, dass man zu einer „Tiki Tour“ zusammengeschnürt und dann Stunde um Stunde in einem Bus über enge, kurvige Straßen kutschiert wird, mit nichts als Buschwerk vor den Fenstern, bevor man dann frustrierende 40 Minuten auf einem Weltnaturerbe-Strand abgesetzt wird. Vielmehr muss folgende Regel gelten: Fahren Sie erst gar nicht nach Neuseeland, wenn Sie nicht die Zeit haben, alles mit Muße anzuschauen. Für Geschichts-Freunde dürften zwei Ziele Vorrang besitzen. Das eine, auf der Nordinsel, ist das Gelände, auf dem der Vertrag von Waitangi geschlossen wurde, das Symbol für die heute vorherrschende vernünftige Herangehensweise an die Landes-Historie. Auf der Südinsel liegt das andere Ziel  – für Fans der alternativen Geschichte: das kleine, verschlafene Städtchen Akaroa, das ehemalige Port Louis-Philippe, eine im August 1840, nur sechs Monate nach dem Vertrag von Wai­tangi, errichtete französische Siedlung. Wer Neuseeland in Gänze genießen will, reist von einem Ende ans andere – von der Südspitze der Südinsel bis zur Nordspitze der Nordinsel. Diese Fahrt mit Auto, Zug und Fähre dauert mindestens einen Monat und erstreckt sich über 1600 Kilometer. Belohnt wird man mit Begeisterung.31 Der Startpunkt für die Reise ist der Hafen von Bluff – was auf eine Täuschung anspielt, sich aber auch auf die Klippen bezieht. Neben dem südlichsten Punkt in Südamerika ist Bluff die am weitesten südlich gelegene menschliche Siedlung der Erde. (Hier wäre Tasman gelandet, hätte er sich 516

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an den geplanten Kurs gehalten.) Der Highway 1 endet hier, und die Fähre zu den abgelegenen Stewart Islands (Rakiura) legt an dieser Stelle ab; dahinter kommt nichts mehr als der kalte graue Ozean und die Antarktis. Aus Bluff kommen die besten Austern des Landes. Das Leben kann hier sehr hart sein, um nicht zu sagen – öde. Fred und Myrtle Flutey, die sich in den Zeiten vor Strom oder Telefon hier niedergelassen hatten, kämpften gegen die Eintönigkeit, indem sie die Schalen der Seeohren-Schnecken (in Neuseeland: „Paua“) sammelten und damit jeden Quadratzentimeter ihrer sturmumtosten Hütte tapezierten. Ihr „Paua House“ kann heute im Te Papa Museum bewundert werden.32 Fährt man nun nordwärts auf dem Highway 1 an Invercargill und Balclutha vorbei, kann man den starken schottischen Geruch von Southland wahrnehmen, das auch leicht Sutherland sein könnte. Während man sich durch die Catlins windet, beobachtet man rechter Hand die Brandung des Pazifik auf einsame Strände krachen. Links hingegen erstreckt sich eine ungezähmte Wildnis aus Seen, Wäldern und schroffen Hügeln. Hinter ihnen liegt Fiordland, das Norwegen Neuseelands, fast ebenso groß und nicht minder spektakulär als dieses, mit den größten Nationalparks, Gletschern und grünen Gletscherseen, Weltrekord haltenden Wasserfällen und dunklen „Lochs“. Rund 180 Kilometer von Bluff entfernt liegt Dunedin (der alte keltische Name für Edinburgh), die erste Metropole der Südinsel. Von den schottischen „Wee Frees“ als „New Edinburgh“ gegründet, da sie hier einen Unterschlupf für ihren presbyterianischen Fundamentalismus suchten, wurde die Stadt während des Goldrauschs in den 1860er-Jahren von den Schürfern überrannt, strahlt aber noch heute die Aura des unbezwingbaren viktorianischen Bestrebens aus. Als sei es mit Absicht so gebaut, verlangen viele der unglaublich steilen Straßen von den Bewohnern große Anstrengungen. Die in der schottischen Gotik errichtete University of Otago ist die älteste Universität des Landes. Das Settlers’ Museum (Sieder-Museum), in dem ich im Vorfeld des Jahrestags von 1914 einen Vortrag über „Die Ostfront im Ersten Weltkrieg“ hielt, ist vorbildlich. Das Gerichtsgebäude und vor allem der prachtvolle Bahnhof zeugen vom guten Geschmack, vor allem aber auch von der Willenskraft der Pioniere.33 Der Highcliff Drive rund um die angrenzende Otago-Halbinsel beansprucht einen ganzen Tag. Die Broschüre lotst die Touristen zum Larnach Castle, einem schicken viktorianischen Herrenhaus, doch man sollte besser keine Zeit verlieren und sich sogleich auf den Weg zum Royal Albatross Centre in Tairoa Head aufmachen. Der Albatros beweist aufs Neue die 517

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wunderbare Fähigkeit der Natur zur Anpassung. Neun Wochen alte Albatros-Küken stürzen sich instinktiv von den Klippen, um erst dann die ­Flügel mit der größten Spannweite im Tierreich kennenzulernen, mit denen sie über den Globus schweben und auch den zurückhaltendsten Besucher beeindrucken.34 Nördlich von Dunedin, in Moeraki, ist die Küste mit Geröll wie in einer Mondlandschaft bedeckt. Die Mittagspause verbringt man am besten im hübschen, aber steifen Oamaru. Man biegt dann für eine lange Umleitung in die Berge ab, Richtung Aoraki (Mount Cook), dem „Wolkenstecher“. Er ist von 72 Gletschern umgeben und mit 3724 Metern höher als die meisten Berge in den europäischen Alpen. Der bis 1894 nicht bezwungene Berg diente Edmund Hillary als Trainingsgelände und ist heute von Ski- und Bergwander-Resorts belagert. Wer nicht ganz so mobil ist, muss sich mit Bildern begnügen, auf denen sich die rein weiße Pyramide im tief blau­ grünen Wasser des Laki Pukaki widerspiegelt. Die Canterbury Province, im Herzen der Südinsel, ist so englisch wie Otago schottisch. Die sanft geschwungene, landwirtschaftlich genutzte Landschaft ermöglicht die Schafzucht auf den Hügeln und Agrarwirtschaft in den Tälern. Wir erreichen Oxford und stellen fest, dass es auch hier eine Woodstock Road gibt. Zwei Freiwillige, ein Mann und eine Frau, betreuen das örtliche Museum, das den Wandel des Landlebens dokumentiert. Auf dem Friedhof des Städtchens stößt man auf Gräber von Männern, die 1915 ihr Leben in Gallipoli oder 1944 in Montecassino gelassen haben. Christchurch, Hauptstadt der Canterbury Province und rund 310 Kilometer von Dunedin entfernt, erholt sich noch immer von dem verheerenden Erdbeben von 2011. Zum Zeitpunkt meines Besuchs gab es noch immer viele Ruinen, eine Cardboard Cathedral [eine provisorische „Pappkathedrale“, die die zerstörte Kirche ersetzt, Anm. d. Übers. J. P.], eine Einkaufsstraße, in der aus Containern heraus verkauft wird, und endlose Baustellenbereiche, in denen man die Kanalisation und Wasserversorgung ausbesserte. Die örtliche Zimmervermittlung bot „Zimmer mit Aussicht“, was sich als Blick auf riesige Parkplätze für Kräne und Bulldozer herausstellte. Glücklicherweise blieben die wunderschönen Botanischen Gärten und das nahe gelegene Provinzmuseum von Schäden verschont.35 Christchurch ist jedoch auch das Sprungbrett nach Akaroa / Port LouisPhilipp und die beeindruckende Panoramastraße rund um die Banks Peninsula. Als der französische Kapitän Jean-François Langlois 1838 den ört­ lichen Maori eine Kaution für den Kauf eines Stückes Land in Akaroa übergab, war für die Europäer Neuseeland noch unbeanspruchtes Gebiet. 518

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Als Langlois und seine Mitstreiter weniger als zwei Jahre später zurückkehrten und 63 Siedler mitbrachten, mussten sie den gehissten Union Jack am Strand zur Kenntnis nehmen. Ihr Schiff, die Comte de Paris, legte am 18.  August an. Die britische Britomart unter Royal Navy-Kapitän Owen Stanley war zwei Tage zuvor angekommen. Die Franzosen wurden um Nasenlänge geschlagen oder, wie sie es formulieren würden, „coiffés au poteau“. 36 Doch sie blieben. Anspruchsvolle Reisende nehmen von Christchurch nach Picton den Zug und besteigen den Coastal Pacific Express auf der südlichsten Strecke der KiwiRail, um ihre Reise an ein oder zwei der Zwischenstationen zu unterbrechen. Es geht hier nicht um einen Hochgeschwindigkeitszug à la ICE; er zockelt gemütlich vor sich hin und hält hin und wieder, um zu verschnaufen. Die sanft schwankenden Aussichtswaggons sind jedoch komfortabel, und an einigen Stellen verläuft die Strecke erstaunlich nahe am Ozean. An anderen Stellen fährt der Zug durch Tunnel, nimmt enge Kurven und überquert lange Brücken durch Wälder und kahle Berge. Die Passagiere fühlen sich in die Vergangenheit zurückversetzt.37 Das Resort von Kaikoura gilt als Hauptstadt des Tauchens mit Delfinen und Walen.38 Schnellboote rasen mehrere Kilometer in die Bucht hinaus, wo sie dann schwankend auf die fantastischen Meeressäugetiere warten. Innerhalb von Minuten schwimmen die furchtlosen, in Tauchanzüge gesteckten Touristen inmitten der dunklen Delfine, die neugierig ganz nahe mit ihren Nasen kommen, sich aber immer zu benehmen wissen. Die großen Buckel- und Pottwale wahren in der Regel Abstand, tauchen aber doch regelmäßig an die Oberfläche auf, um ihre Bewunderer mit einem kräftigen Luftstoß zu beeindrucken. Dicht gedrängt liegen Robben auf den küstennahen Inselchen, und ein über Bord geworfener Korb voller Köder lockt eine Meute von Seevögeln an, die um das Futter kämpfen. Wo sonst kann man einen dicht über einen fliegenden Albatros beobachten, der kurz darauf wie ein Wasserflugzeug im Meer landet? Dies ist einer der wenigen Orte, an denen die verhätschelte Spezies „moderner Mensch“ für einen Tag seine ihm angemessene Position unter Gottes Kreaturen einnehmen kann. Der Kopf dreht sich einem noch immer, läuft man anschließend in Richtung Landspitze oder über den riesigen Strand, auf der Suche nach einem edlen Abendessen im Green Dolphin und einem seligen Traum in einem Studio des Anchor Inn im Hafen. Später wandert das Interesse weg von Walen und hin zum Wein, weg von rumpelnden Zügen und hin zu sich rasch wandelnder Industrie. Der Zug hält in Blenheim, der wichtigsten Stadt im Marlborough District, wo man 519

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mindestens eine Woche pausieren muss. Hier bieten 167  Weingüter ihre Produkte an, und es gilt eine bemerkenswerte Geschichte aufzusaugen: In den letzten Jahrhunderten jagten die Maori hier Moas und kultivierten große Kumara-Felder [Süßkartoffeln, Anm. d. Übers. J. P.]. … 1837 pflanzte der schottische Landwirt und Weinbauer David Herd die ersten Reben an. … Heute gilt Marlborough als eine der weltbesten Weinregionen.39

Der Aufstieg der Region ist dramatisch: Erst 1973 eröffnete das erste kommerzielle Weingut in Brancott Estate. 1986 gewann der Hunter’s Fumé Blanc die Goldmedaille beim wichtigen Londoner Vintage Festival  – knappe 13  Jahre eifrigen Anpflanzens, der Weinlese und des Verfeinerns genügten, um die Weltspitze des Weinhandels zu erobern. Der Schlüssel zu diesem Erfolg liegt, neben harter Arbeit und dem mutigen anfänglichen Investment, im unvergleichlichen Sonnenschein, dem fehlenden Frost, seltenen Regenfällen, einem großen Unterschied zwischen Tageshöchst- und Nachttiefsttemperaturen sowie unterschiedlichen Bodenbeschaffenheiten. Rasch breiteten sich Weinberge vom Blenheim Township auf die Richmond Ranges, das Wairau Valley und Cape Campbell aus. Schon 2011 überschritt der Weinexport die Grenze von einer Milliarde Neuseeland-Dollar, womit die Weinwirtschaft zur achtwichtigsten Exportbranche des Landes aufstieg. Die Namen, die man sich merken sollte, lauten Cloudy Bay Sauvignon Blanc, Oyster Bay Sauvignon Blanc und Pinot Noir, Terravin Pinot Noir, Stoneleigh Latitude Chardonnay, Te Whare Ra Gewürztraminer, Cabbage Tree Merlot sowie der Sekt Cellier le Brun.40 Sie sind schuld, wenn mal wieder jemand die Abfahrt des Zuges versäumt. 670  Kilometer von Bluff entfernt, in Picton, endet die Zuglinie und beginnt die Fähre über die Cookstraße. Picton ist in allen Belangen das Gegenteil von Bluff – eine windstille, sonnenverwöhnte und mit Palmen bestandene Bucht. Sie ist das Zentrum der Nordspitze der Südinsel, in der Mitte zwischen den exquisiten bewaldeten Bergrücken von Queen Charlotte Sound und den ebenso schönen Meeresarmen der Marlborough Sounds. Die Stadt verfügt über ein hervorragendes Museum zur Geschichte der frühen Siedler und des Walfangs. Weiter westlich stößt man auf unzählige, reizende Küstenwanderwege, die 1842 gegründete Kleinstadt Nelson und, erstaunlicherweise, auf die Gipfel und Seen der nörd­ lichen Ausläufer der neuseeländischen Alpen. Das Gateway Motel in ­Picton dürfte vermutlich die letzte Ruhestätte meiner geliebten schwarzen, plüschig-samtigen Mütze sein. 520

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Die an ihrer engsten Stelle nur 27  Kilometer breite Cookstraße ist der Ort für all jene, die die Kraft der Natur spüren möchten. Nach einer MaoriLegende wurde sie von Kupe entdeckt, als er einem riesigen Oktopus folgte, den er schließlich im Tory Channel, einem Sund in den Marlborough Sounds, erlegte. 1642 erblickt Abel Tasman die Cookstraße, hielt sie aber fälschlicherweise für eine Einbahnstraße, weshalb er in der nahe gelegenen Murderers’ Bay (heute Golden Bay) ankerte. Erst James Cook kartografiert die Meerenge 1770 korrekt. Anfangs gleitet die Fähre aus Picton über den geschützten Tory Channel. Doch sobald sie das offene Wasser erreicht, wird sie von starken Westwinden und mehreren, gegeneinander laufenden kräftigen Strömungen hin und her gerissen: eine entsteht durch den Wind über der Tasmansee, eine zweite steigt von der Pazifikströmung auf. Im Reiseführer heißt es: „Die Cookstraße ist eine der gefährlichsten Schiffspassagen der Erde.“41 Vielen Immigranten schlug hier zum letzten Mal das Herz bis zum Hals, bevor sie die Wellington Bay erreichten. Wellington ist nicht nur Hauptstadt sowie Dreh- und Angelpunkt der beiden großen Inseln, sondern auch ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt, an dem die drei größten Straßen der Nordinsel zusammenlaufen. Highway 1, dem wir zuletzt in Picton begegnet sind, setzt hier seinen Weg gen Norden, in Richtung Auckland, fort, und durchquert dabei das verworrene und bergige Inselzentrum. Der Highway 2 windet sich die gut entwickelte Ostküste hinauf; Highway 3 folgt der einsamen Westküste. Wie auf der Südinsel ist auch die dem Wind zugewandte Westküste nördlich von Wellington übervoll mit wunderschöner Landschaft, dafür nur unzureichend mit Menschen ausgestattet. New Plymouth besitzt den einzigen Tiefwasserhafen der Tasmansee und ist die Heimat der neuseeländischen Ölindustrie. Der perfekt geformte Vulkankegel des Mount Egmont (Taranaki) dominiert die eher südliche Region, die Coromandel-Halbinsel, einst Drehort eines Goldrauschs, die nördliche. An der leewärtigen Ostküste hingegen reihen sich Städte, Ressorts und Erholungsgebiete aneinander. Hawke’s Bay, einst das beste Weinanbaugebiet, wird von der Bay of Plenty durch das gewaltige Vorgebirge des Ostkaps abgetrennt. Erwähnenswerte Städte sind Napier, Gisborne, Opotiki, Whakatane, Te Puke, Tauranga, Katikati, Waihi und Whangamata: ein Genuss für jeden Etymologen. Der Mount Ruapehu, der immer wieder ausbricht, kommt auf 2797 Meter und ist trotz seines Breitengrads ständig mit Schnee bedeckt. Das Zentrum der Nordinsel wird auch „das echte Neuseeland“ genannt, schließlich reiht sich hier ein Naturwunder an das nächste, und es gilt als das Maori-Land par excellence. Sein ikonisches Herz bildet das Rotorua521

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Seeufer. Hier verschanzten sich die aufständischen Stämme während der Neuseelandkriege, im Tamaki Maori Village bekommen Reisende heute noch einen Eindruck der indigenen Kultur und Bräuche. Die Geysire von Rotorua, die „magischen“ Waitomo-Höhlen, die Emerald Lakes am Tongariro und die Bridal Veil Falls in Raglan, versetzten bereits die ersten Siedler in Begeisterung. Hamilton, die einzige Stadt im Inland Neuseelands, entwickelte sich rund um eine Militärbasis am mächtigen Waikato River. Das rund 50 Kilometer östlich gelegene Hobbiton Movie Set, an dem der Herr der Ringe und der Hobbit gedreht wurden, zieht heute ganze Touristenscharen an.42 Der Regisseur der Filme, Peter Jackson – selbst ein Kiwi –, wählte Central North Island als idealen Ort aus, der Tolkiens Mittelerde darstellen sollte. Auckland, die größte Metropole und wegen der zahlreichen Segelboote auch „City of Sails“ genannt, liegt 490 Kilometer von Wellington entfernt und erstreckt sich über eine enge Landzunge, die den Hauptteil der Nordinsel mit den vulkanischen Ausläufern von Northland verbindet. Ein Zufluss aus der Tasmansee trifft die Stadt von der einen Seite, ein Arm des Pazifik von der anderen. Hier verläuft Neuseelands Zugang zu Melanesien und Polynesien.43 Die Aussicht vom Mount Eden ist der ideale Ausgangspunkt für einen Besuch von Auckland. Obwohl er sich nahe des Stadtzentrums erhebt, überragt der Vulkankegel doch noch die höchsten Wolkenkratzer sowie den Sky Tower und bietet ein Panorama über die spektakuläre Lage der Stadt. Wir kommen an Hinweisschildern mit der Aufschrift PLEASE MIND THE CRATER („Vorsicht am Krater“) vorbei und erreichen dann die runde Orientierungstafel aus Bronze mit einer Auflistung der Entfernung zu den wichtigsten Orten auf Erden. London ist 18 339  Kilometer Richtung Nordwesten entfernt, New York bloß 14 197 gen Nordosten. Zu den Bezugspunkten über den Pazifik hinweg gehören Vancouver mit 11 362 Kilometern, Los Angeles in 10 478 Kilometern und Santiago de Chile in 9861 Kilometern. Auckland selbst ist ein Labyrinth aus kleinen Buchten und Inseln. Links befindet sich der Manukau Harbour, der an der Tasmansee liegt, rechts der Rangitoto Channel, der zum Pazifik führt. Dazwischen lässt sich leicht die schmale Landenge erkennen, auf der die Stadt einst gegründet worden ist und die die beiden Häfen voneinander trennt. Vor dem Vulkanausbruch, der diese Landenge aus geschmolzener Lava formte, war der nördliche Teil eine eigenständige Insel. Die von uralter vulkanischer Tätigkeit zeugenden Stümpfe und Vulkankegel finden sich überall im Landschaftsbild. Die jüngsten Ausbrüche vor etwa 300 bis 522

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400  Jahren, ereigneten sich zur Maori-Zeit und haben Spuren in ihren Legenden hinterlassen. Vermutlich hat man die Explosionen vom gesicherten Maori-Lager an der Spitze des Mount Eden beobachtet (das sie Maungawhau nannten). Das Northland jenseits von Auckland gilt als „Geburtsstätte der Nation“: In Rangihoua wurde 1814 die erste europäische Mission gegründet, in Waitangi der Vertrag zwischen Engländern und Maori geschlossen, und in Russell, ehemals Kororareka, die frühere Hauptstadt errichtet. Eine Zeit lang war Russell der gesetzlose Außenposten der westlichen Zivilisation, unter den Walfängern als „Höllenloch des Pazifik“ bekannt. Dazu passt, dass die älteste christliche Kirche gerade hier steht. In der gesamten, geschützten Bucht, die die ersten Siedler anzog, finden sich über 150 von ihnen; inzwischen hat man sie der Tiefsee-Speerfisch-Fischerei, den Kajakfahrern und Paraglidern überlassen. Das Gelände der „Residenz“ des alten Busby, auf dem der Vertrag von Waitangi unterzeichnet wurde, wurde anlässlich der 100-Jahr-Feier 1940 restauriert, und daneben errichtete man einen schönen Maori-Versammlungsort, ein Te Whare Runanga. Die Besucher erfahren nicht nur etwas über die Umstände, die zu dem Vertrag führten, sondern auch über die zeitgenössischen Bemühungen, ein ausgeglicheneres Narrativ der Geschichte zu erzählen. Von der einstündigen „Maori Culture Show“, zu der neben mitreißendem Singen und Tanzen ein ozeangängiges waka in Originalgröße gehört, wird im ausliegenden Gästebuch nur Positives berichtet. Zum Jahrestag der Vertragsunterzeichnung wird alljährlich ein Reenactment mit Gesangszeremonie aufgeführt.44 Nördlich von Waitangi hätten die Radfahrfanatiker, die auch aus Spaß von Land’s End nach John o’Groats fahren, die Chance, sich auf die Aupouri Peninsula und den Ninety-Mile Beach vorzukämpfen, bis sie am Cape Reinga, wo der Highway 1 zum Leuchtturm und den verlassenen Klippen führt, das Ende der Straße erreichen. Reinga heißt so viel wie „Unterwelt“, und die Mythen der Maori erzählen davon, wie die Geister der Toten von den Klippen springen, um ihre Reise in das Jenseits anzutreten. Das Ufer darunter trägt daher nicht zufällig den Namen „Spirits Beach“. Mit 34 Grad südlicher Breite befindet sich ein Besuch hier auf der gleichen Höhe wie Sydney oder, in der anderen Richtung, Buenos Aires in Argentinien. Er ist dann rund 1000  Kilometer von Neukaledonien entfernt und 1390  Kilo­ meter Krähenflug nördlich von Bluff. Doch niemand kommt Luftlinie von Bluff nach Reinga. Mit dem Auto, dem Zug und der Fähre muss man berauschende 1800 Kilometer zurücklegen. 523

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Meine Vorlesung über europäische Geschichte an der Auckland University richtete sich an Nicht-Europäer. Es war schon beim Betreten des zen­ tralen Campus an der Princes Street nicht zu übersehen, dass die Perspektive hier deutlich weniger europäisch ausgerichtet war als in den anderen Städten des Landes. Die Webseite der Universität versucht, Studenten mit einem ganz eigenen Ranking anzuziehen, und endet mit einer Hymne auf die hohe Lebensqualität der Stadt und einer Betonung der Diversität des Landes: Kiwis sind sehr stolz auf ihr vielschichtiges Erbe, das stark von der indigenen Maori-Kultur, der Vergangenheit als britische Kolonie und zuletzt durch Migranten von den pazifischen Inseln und aus Asien geprägt ist. Neuseeländer sind reisefreudig, an anderen interessiert und bekannt als offenherzige und freundliche Gastgeber.45

Die besonderen Interessen Aucklands zeigen sich auch in der Vielfalt nichteuropäischer Kurse, die an der Fakultät für Kunst angeboten werden. Man sollte nicht übertreiben: Alle für eine englischsprachige Universität typischen, wichtigen Themen sind vertreten. Aber zugleich bietet das Maori Studies Department mit 28 Vordiplom-Kursen mehr an als die Fakultäten für Französisch, Deutsch oder Spanisch, und die Abteilung für asiatische Studien ist sogar noch größer. Jede Sozial- oder Geisteswissenschaft bietet für den asiatisch-pazifischen Raum relevante Kurse an, und man kann unter anderem Chinesisch, Japanisch, Koreanisch, das neuseeländische Maori, das Maori der Cookinseln, Tongaisch und Samoanisch lernen.46 Vor 20 Jahren war noch nichts davon zu erkennen. Das Mittagessen im Jin Hai Wan Seafood Restaurant in der Wakefield Street erlaubt uns einen Einblick in die Gegebenheiten der Gegenwart. Im Eingang leuchtet ein buntes Aquarium, im Raum dahinter stehen 150 Tische in langen Reihen, kaum einer leer. Gruppen von schwarz gekleideten Kellnern eilen herum, durchsetzt von kleinen Kellnerinnen in roten Kleidern mit weißen Schürzen und Halstüchern. Keiner von ihnen spricht ein verständliches Englisch (oder Maori); sie stammen alle aus Festland-China. Man überreicht uns eine Speisekarte mit chinesischen Schriftzeichen, auf der hin und wieder einige englische Worte auftauchen. Preise sehen wir nicht, dafür die Einteilung der Speisen in „klein“, „mittel“ oder „groß“. Noch bevor wir bestellen konnten, platziert eine Kellnerin ein rundes Bambusgefäß mit Schwein und Reis in die Mitte des Tisches. „Wenn Sie wolln“, sagt sie. 524

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„Ja“, erwidere ich und zeige auf die Speisekarte. „Wir möchten gerne bestellen  – einmal Teigtaschen mit Garnelen und einmal Rippe mit Schwarze-Bohnen-Sauce.“ „Wenn Sie wolln.“ „Ja, wollen wir.“ „Wenn Sie wolln.“ Der etwas besorgt dreinblickende Manager tritt an unseren Tisch. „Wie funktioniert es hier bei Ihnen?“, spreche ich ihn an. „Bestellen wir unser Essen oder bringen Sie uns eine Auswahl an Gerichten?“ Seine mit Lächeln und Verbeugungen durchsetzte Antwort enthält keine für mich identifizierbaren Worte, abgesehen von „Löffel“ und zum Abschluss ein „Wenn Sie wolln“. Ein junger Kellner kommt ihm zu Hilfe. Wir zeigen auf der Karte auf die Dumplings und das Fleisch. „Wenn Sie wolln“, erwidert er und eilt in Richtung Küche. Wir machen uns an das inzwischen kalte Schweinefleisch und den Reis. Man serviert uns zwei Portionen Teigtaschen, einmal mit Garnelen, einmal mit Spinat. „Ach, hier sind deine Spinat-Taschen“, sage ich zu meiner Frau. „Wenn Sie wolln.“ Dann taucht eine Schale mit knorpeligem Rindfleisch auf, ohne Sauce. „Reis?“, frage ich einen vorbeieilenden Kellner. „Gekochten Reis?“ Wenig später bekommen wir gebratenen Reis. Die Betriebsamkeit im Restaurant lässt nicht nach, eine Verständigung ist kaum möglich. Es scheint, als sei dieser Teil Aucklands ein Stadtteil der kürzlich zugezogenen Immigranten, geführt von und gedacht für Immigranten. Die städtische Demografie bestätigt unseren Eindruck. Bei einer Gesamtbevölkerung von 1 415 000 (2013) bilden die Einwohner mit europäischen Wurzeln mit 55 Prozent noch knapp die Mehrheit. Doch ihr Anteil sinkt, lag er vor einem Dutzend Jahren doch noch bei 68 Prozent. Dafür hat sich die Zahl der Asiaten im gleichen Zeitraum auf 307 000 (22 Prozent) mehr als verdoppelt. Es leben hier auch immer mehr Menschen von den pazifischen Inseln (14 Prozent) und Maori (10 Prozent). In Auckland leben mehr Polynesier als sonst irgendwo auf der Welt. Das lakonische Motto auf dem Stadtwappen lautet „Fortschritt“.47 Allerdings muss es nicht zwangsläufig asiatisch sein, wenn man in Auckland auswärts essen geht, und es kann dennoch abenteuerlich zugehen. „Treffpunkt 17:30 am Hafen“, hieß es nur. Wir dachten an ein Bistro an der Hafenpromenade oder womöglich ein Restaurant auf der anderen Flussseite. Uns erwartet jedoch ein Katamaran sowie eine 50-minütige Fahrt 525

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zum Waiheke Island am Rande des Pazifik. Wir sitzen auf dem Oberdeck, lassen uns von der Gischt des aufgewühlten Kielwassers besprühen und starren auf die schnell verschwindenden Lichter Aucklands sowie die sich in der Dämmerung am Himmel zusammenziehenden schwarzen Wolken. „Siehst du den Adler mit den gespreizten Flügeln?“, frage ich. In Waiheke angekommen, steigen wir in ein Auto um und werden in Höchstgeschwindigkeit über enge Sträßchen bergauf und bergab gefahren. In seiner Eile verfährt sich der Fahrer. Schließlich taucht aber doch das ­rustikale Schild WHAU LODGE auf. Es ist inzwischen Nacht geworden. Als wir aus dem Auto geklettert sind, verlangen die Sterne des südlichen Himmels unsere Aufmerksamkeit. Sie strahlen, glänzen und sind uns zum Großteil unbekannt. Zwar erkennen wir inzwischen das Kreuz des Südens, aber Orion liegt einsam auf der Seite, die Schwertscheide zeigt nach oben. Unser Gastgeber wartet auf der Veranda. Gene kocht nur für Gruppen von sechs bis acht Gästen zu Abend, und seine Spezialität sind Lebens­ mittel von der Insel und lokale Weine. Wir werden auf den verdunkelten Balkon geführt, um über das Wasser auf die Lichter der Stadt blicken zu können. Da wird uns klar, wie weit weg wir inzwischen sind. „17 Kilometer Luftlinie“, erläutert er uns. „Nur dass eben niemand in der Luftlinie herüberkommen kann.“ Wir nehmen auf einem Sofa vor einem tiefen Tisch Platz, der mit Leckereien gedeckt ist. Gene erklärt: „Die Canapés für heute Abend sind Käsebällchen nach Burgunder Art, Löffel von frischem Lachs auf schwarzen Nudeln sowie Kaviar auf Brotscheiben, die in einer der zwei Handwerksbäckereien der Insel gebacken wurden. Ich empfehle dazu entweder einen Chardonnay von einem Weingut jenseits des Hügels oder einen Waiheke Pinot Noir.“ Nach einer Plauderei über Weingüter leitet Gene zum Hauptgang über. „Ich röste heute Lamm, das nun fast perfekt sein dürfte. Es wird auf einem Bett aus Zwiebeln serviert, begleitet von grünen Erbsen und grünen Bohnen – nicht sehr originell, aber ein wunderbarer Kontrast in der Textur. Bitte geben Sie mir noch eine halbe Stunde.“ Was den Wein angeht, passt natürlich wieder der Pinot Noir, sonst vielleicht auch ein Shiraz. Das Essen ist vorzüglich. Als Nachtisch gibt es Kiwi. Doch der Abend rast dahin. Plötzlich schreckt uns Gene auf: „Wenn Sie den Katamaran noch erwischen möchten, bleibt keine Zeit mehr für einen Kaffee.“ Bevor wir wissen, wie uns geschieht, steigen wir in Auckland schon wieder an Land und fragen uns, wo wir gewesen sind. 526

Laufvögel im „Land der langen weiSSen Wolke“

Neuseeland erfreut sich, genau wie Australien, eines Outdoor-Lebensstils; und man ist versucht zu behaupten, dass Kultur, auch wenn sie nicht auf All Black-Rugby und das Reinweiße-Schafe-Scheren beschränkt ist, sich zumindest doch mit dem begnügt, was man in England unter „Aktivitäten auf dem Lande“ versteht, die da wären: Jagen, Schießen, Fischen aller Arten, Golfen, Rasen-Bowling, Kricket, Wandern, Campen, Segeln, Rudern, Orientierungsläufe, Surfen, Reiten, Hunderennen, Taubenzüchten, Pirschgänge, Hasenjagd, Baumfällen, Holzhacken, Vogelbeobachtung, Blumenpressen, Schmetterlingsfangen, Rafting, Salz- und Süßwasserschwimmen, Sonnenbaden, Höhlenforschung, Klettern, Querfeldeinwandern, Stern­ beobachtung, Strandläufe und Strandurlaub  – ohne im speziellen Falle Neuseelands zu vergessen: das Extrembügeln, Canyon-Durchkreuzen, Base-Jumping, Wasserfallspringen, Whirlpool-Tauchen sowie das VulkanÜberspringen. Was dazu führt, dass man wenig freundlich von den Kiwis behauptet, wie übrigens auch von den „Ozzies“, dass sie nur nach drinnen gehen, wenn sie zur Toilette müssen – und auch das erst seit Kurzem. Leider haben sie keinen Barry Humphries, um mit dieser Belastung fertigzuwerden. „Neuseeland hat 30 Millionen Schafe“, erklärte er in der Rolle des anzüglich grinsenden Kulturattachés Sir Les Patterson, „und 3 Millionen von ihnen glauben, sie seien Menschen.“ Für Kiwis sind solche Sticheleien grausam, vor allem, wenn sie aus Melbourne kommen. In der englischsprachigen Welt kann man nicht weiter am Rand liegen als Neuseeland. Kiwis leben so weit von Stratford-upon-Avon oder der Royal Albert Hall entfernt wie nur möglich; und man entwickelt schnell den Verdacht, dass die in diesen Antipoden ausgeübten Künste nichts weiter als Imitationen oder billiger Abklatsch sind. Doch weit gefehlt. Wie man vor Ort sehr schnell feststellen kann, sind Australier und Neuseeländer, die sich der Hochkultur verschrieben haben, oft entschlossener, leidenschaftlicher und häufig auch begabter als ihre europäischen Pendants. Zum Teil lässt sich dies durch die nicht allzu weit entfernten Zeiten erklären, in denen man sich ohne Radio oder Fernsehen mit Freunden und Familie sein eigenes Unterhaltungsprogramm zusammenstellen musste; zum Teil auch durch das von der Entfernung und den Schmerzen der Emigration verursachte Gefühl der Isolation und Verletzlichkeit. Die ersten Siedler mussten nicht nur um ihr eigenes Überleben kämpfen, sondern auch um das Überleben und die Entwicklung der Kultur, die sie mit sich genommen hatten. So haben, was etwa die Musik angeht, von Anfang an die starke Tradition von Brass Bands und Kirchenchören viel Unterstützung gefunden. 527

9. Aotearoa

Was wiederum die Gründung von städtischen Orchestern, Chor-Gesellschaften und schließlich sogar Opernhäusern erleichterte. Wellingtons Opernhaus wurde 1911 gegründet. Die NZOpera bietet regelmäßige Aufführungen in Wellington, Auckland und Christchurch an. Auf dem Spielplan für 2019 stehen beispielsweise Gioachino Rossinis Barbier von Sevilla oder Benjamin Brittens Die Drehung der Schraube. Es ist kein Zufall, dass aus Neuseeland Opernstars wie Dame Joan Hammond (1912–1996) und Dame Kiri Te Kanawa (geboren 1944) stammen.48 Für Maler mangelt es in Neuseeland nicht an Inspiration  – was nicht zuletzt an dem einzigartigen Licht liegt. Landschaften, Porträts und die Abbildung des Maori-Lebens waren zunächst die dominanten Genres, dabei erreichten einige ein hohes Niveau. Charles Heaphys Bild Mt Egmont from the Southward (1840) und William Allsworths The Emigrants (1844) wurden zu ikonischen Werken. Im 20.  Jahrhundert griffen Rita Angus (1908–1970) und Colin McCahon (1919–1987) auf die Prinzipien des Impressionismus und Expressionismus zurück, um einen ganz eigenen, einheimischen Stil zu prägen.49 Auch das Schauspiel fand seine Gefolgsleute. Im Jahr 1843 eröffnete in Wellington das Theatre Royal und 1844 ein weiteres Haus in Auckland, nur wenige Jahre also nach der Gründung der Kolonie. Eine Liste mit neuseeländischen Bühnendichtern und Dramatikern enthält mehr als 40 Namen. Zu den am häufigsten erwähnten gehören Bruce Mason (1921–1982), Dramatiker, Schauspieler und Kritiker, der Maori- und Pakeha-Themen miteinander verwob, Mervyn Thompson (1935–1992), ein radikaler Dramatiker und Theaterdirektor, sowie Makerita Urale, eine der bekanntesten polynesischen Dramatikerinnen. Die Literatur Neuseelands umfasst alle Aspekte von Belletristik und Sachbuch. Sie wurde einem breiteren Publikum durch Samuel Butlers Erewhon (1872) bekannt; offensichtlich beförderte das Leben auf einer abgelegenen Schafsfarm die Vorstellungskraft des Autors. Zu den Kiwi-Autoren gehören Ngaio Marsh (1895–1982), die als eine der führenden „Queens of Crime“ gilt, Ruth Park (1917–2010) und David Ballantyne (1924–1986), Journalist, Romancier und Sozialkritiker. Zwei Neuseeländer, nämlich Keri Hulme und Eleanor Catton, gewannen den Booker Prize for Fiction (1985 beziehungsweise 2013). Die Poesie Neuseelands begann mit etwas rührseligen, aber offziell geförderten Perlen der patriotischen Dichtkunst, wie etwa Thomas Brackens God Defend New Zealand (1870) und Robert Popes New Zealand, My Homeland (1910): 528

Laufvögel im „Land der langen weiSSen Wolke“

Da ist ein Land, jenseits des Ozeans, Und ich höre, wie es Heimat ruft Es ist meine Heimat, mein Vaterland, Neuseeland, Das ich vermisse, wo immer ich umherwandere. Und meine geliebten Lieder erinnern mich An die mir so vertrauten Menschen und Orte. Bis zum Tag meiner Rückkehr nach Hause Hört ihr mich singen, wo immer ich bin. Me He Manu Rere E Whitu Nga Waka Hoke Mai und Pokarekare Ana. Und ich singe Haere Ra e Hine Waikaremoana Das ist für mich die geliebte Heimat.50

Arthur Henry Adams (1872–1936), der Verfasser von Maoriland and Other Verses (1899), schlug süßlichere Töne an. Und der exzentrische Count Geoffrey Potocki de Montalk (1903–1997), in Auckland geboren und selbst ernannter Anwärter auf den lange erloschenen polnischen Thron, wurde auch international bekannt. In jüngerer Zeit erhielt Hone Tuwhare (1922– 2008), ein englischsprachiger Dichter maorischer Abstammung, größere Aufmerksamkeit: Ich kann hören, wie du kleine Löcher in die Stille machst Regen Wäre ich taub würden sich die Poren meiner Haut für dich öffnen und schließen Und ich würde dich erkennen wenn ich an dir lecke, sollte ich blind sein; der unablässige Trommelwirbel den du machst wenn der Wind fällt 529

9. Aotearoa

dein leicht besonderer Geruch wenn die Sonne den Boden zusammenbackt Doch sollte ich dich weder hören noch riechen noch spüren noch sehen Würdest du mich noch immer begrenzen zerstreuen mich überspülen Regen.51

Es dauerte viel zu lange, bis man sich um eine Versöhnung zwischen Pakeha und Maori bemühte. Im Laufe der Jahrzehnte entwickelte die PakehaGemeinschaft eine Haltung der numerischen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Überlegenheit, die sie nicht wieder aufgeben wollte. Die Maori wiederum reagierten nur langsam auf den untergeordneten Status, den man ihnen zugewiesen hatte. Doch schließlich wurde beiden Lagern deutlich, dass eine engere Zusammenarbeit in beiderseitigem Interesse lag. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts zogen immer mehr Maori aus ihren dörflichen marae in die Städte, erwarben eine Schulbildung, erlangten Zugang zu Berufs- und Wirtschaftskreisen und entwickelten eine aktive Lobby. Eine der archetypischen Figuren war Sir Hugh Kawharu (1927–2006), Sohn eines Ngati Whatua-Stamms, der in Auckland die Schule abschloss und dort auch die Universität besuchte, bevor er in Oxford und Cambridge weitere Abschlüsse machte und in seinem Heimatland eine beachtenswerte akademische Karriere als Anthropologe machte. Er und Menschen wie er hauchten dem erstarrten Maori Council neues Leben ein und übten Druck auf die Regierung aus, ihre Selbstzufriedenheit aufzugeben.52 Der in den 1970er-Jahren begonnene Prozess der Gleichstellung der beiden großen neuseeländischen Völker und Kulturen ist bei Weitem noch nicht abgeschlossen. Seine Ziele sind inzwischen jedoch weitgehend akzeptiert. Der sowohl gesetzgeberisch wie symbolisch entscheidende Moment war dabei 1975 erreicht, als man ein Gesetz zum Vertrag von Waitangi erließ und einen Waitangi-Gerichtshof ins Leben rief. Das Gesetz erkannte formell an, dass viele der 1840 und danach den Maori gegebenen Versprechen nicht gehalten worden waren und dass die zahlreichen Formen der 530

Laufvögel im „Land der langen weiSSen Wolke“

Ungerechtigkeit, die sowohl vonseiten der Regierung, aber auch von Firmen und Individuen begangen wurden, nie genauer untersucht worden waren. Das Tribunal arbeitet unangenehm langsam. So dauerte etwa der Ngai Tahu Claim, der von einem der iwi von der Südinsel 1986 eingebracht worden war, zwölf Jahre, bis 1998. Doch er endete erfolgreich. Der Besitz­ titel für den Mount Cook-Aoraki wurde an die Maori zurückgegeben; es kam zu einer offiziellen Entschuldigung und man zahlte 170  Millionen Neuseeland-Dollar an Entschädigung. Kaum hatte das Gericht seine Entscheidung verkündet, schenkten die Ngai Tahu den Aoraki der ganzen Nation.53 Während der Kolonialzeit und dem Imperialismus nahmen die Neuseeländer die britische Nationalhymne als die Ihre hin. Doch das Eigengewächs God Defend New Zealand bekam immer mehr Anhänger. Die 1876 komponierte Hymne wurde während der 100-Jahr-Feier 1940 als gleichwertige Nationalhymne aufgenommen. Man mag kritisieren, dass die Melodie von J. J. Woods wirkungsvoller sei als die Worte von Thomas Bracken. Doch kaum jemand dürfte leugnen, dass die einfache Phonologie des Maori wunderbar zu der metrischen protestantischen Hymne passt. Und es scheint auch niemanden zu stören, dass der prächtige, 1878 entstandene Maori-Text nicht so ganz dem Original folgt: God of Nations at Thy feet, I Ihowa Atua O nga iwi matou ra In the bonds of love we meet. Hear our voices, we entreat. Ata whakarongona God defend our own free land. Me aroha noa. Guard Pacific’s triple star    Kia hua ko te pai From the shafts of strife and war.    Kia tau to atawhai Make her praises heard afar. Manaakitia mai Aotearoa. God defend New Zealand.

Übersetzung aus dem Maori: Übersetzung des Englischen: Gott der Nationen zu Deinen Füßen, Oh Herr Gott Im Band der Liebe begegnen wir uns, Von allen Stämmen, Höre unsere Stimmen, wir bitten Dich, Höre unsere Stimmen. Gott beschütze unser freies Land.    Halte uns, dein Volk, in   Ehren. Bewache des Pazifiks Dreigestirn, Möge der rechtmäßige Gott   herrschen. 531

9. Aotearoa

Gegen die Schäfte des Streits und Möge dein Segen fließen.   des Krieges, Lasse sein Lob von weit her hören, Möge deine mächtige Hand   beschützen Gott beschütze Neuseeland. Aotearoa.54

Ein Rätsel bleibt jedoch, wie die Mehrheitssprache der Einwohner von Kiwiland ihre unnachahmlichen Besonderheiten anerzogen bekommen hat. Vor allem Australier, die „Feesh and Cheeps“ essen, sind hocherfreut, wenn sie hören, wie Kiwis „Fush und Chups“ und anschließend die „Bull“ verlangen. Aus irgendeinem Grund hat sich das Klima östlich der Tasmansee als unpassend für die kurzen Vokale „a“, „e“ und „i“ herausgestellt sowie die Fähigkeit der Kiwi-Sprecher gelöscht, zwischen ihnen zu unterscheiden. Das Internet ist voll mit Seiten, die Besuchern Tipps im Umgang mit dem neuseeländischen Englisch geben, vor allem wenn man aus Australien kommt und „seinen Ohren nicht traut“. Die Empfehlungen lassen sich in vier Punkten zusammenfassen:

1. Beenden Sie jeden Satz so, als würden Sie eine Frage stellen, vor allem wenn Sie das gar nicht tun. 2. Stellen Sie sicher, dass Sie den „a“-Laut in ein „e“ verwandeln, das „e“ in ein „ee“ und das „i“ in ein „u“. 3. Hüten Sie sich vor Worten, die Ihnen aus dem Englischen bekannt vorkommen, aber doch eine andere Bedeutung haben. 4. Falls Sie Zweifel haben, kürzen Sie ab. Kiwi-Sprecher (genau wie Australier, die das aber natürlich verleugnen würden) lieben nichts mehr als geniale Abkürzungen. Viele Webseiten geben sich nicht damit zufrieden, diese Regeln aufzuführen, sie bieten ihren Lesern auch ein Glossar an, um sie durch das Sprachlabyrinth zu leiten.55 Die wichtigsten Kategorien sind Lehnworte aus dem Maori, Abkürzungen und „falsche Freunde“: Lees’n Suxty-Sux Maori-Lehnworte aroha (Liebe) hamu (Mahlzeit) 532

drongo (Idiot) kai (Lebensmittel)

Haere mai (Komm her!) Kia Ora (Hallo, Guten Tag!)

Laufvögel im „Land der langen weiSSen Wolke“

kumara (Kartoffeln) waka (Auto) whanau (Familie) whanga (Hafen) wopwops (jenseits von allem) Abkürzungen arvie (afternoon – Nachmittag) brekkie (breakfast – Frühstück) chippies (crisps – Chips) dairy (Laden an der Ecke) NZ (New Zealand – Neuseeland) rej (reject – ablehnen)

beanie (Wollmütze) bro (brother – im Sinne von: Freund, Kumpel) cuzzies (Verwandte) hottie (Bettwärmer) pressie (present – Geschenk)

Falsche Freunde arm – kein Arm, sondern so etwas wie „hm“ oder „äh“ beer – kein Bier, sondern ein schwarzes oder braunes, wildes Tier bid – kein Angebot, sondern ein anderer Schlafplatz chuck – kein Wurf, sondern die Nachfahren von Geflügel cud – kein (wiedergekäutes) Futter, sondern Kind, eine junge Ziege Den – Spitzname von Daniel dutch – nicht Niederländisch, sondern freigelegte Grube fen – kein Sumpfland, sondern ein begeisterter Anhänger fest – schnell grup – ein fester Griff guess – keine Vermutung, sondern Dampf jug – keine Kanne, sondern ein irischer Tanz leather – kein Leder, sondern Schaum aus Seife und Wasser led – nicht angeführt, sondern ein junger Kerl lift – nicht losgegangen, sondern verstorben mckennock – ein Autoreparateur men – ein männlicher Mensch – männliche Menschen (Plural) min nut – keine Nuss, sondern eine Nisse oder Mücke pig – kein Schwein, sondern das Aufhängen von Kleidern an einer Leine – keine Grube, sondern ein domestiziertes Tier pit punk – kein Punk, sondern eine Farbe zwischen Rot und Weiß rug – kein Teppich, sondern um dem Meer Öl zu entziehen 533

9. Aotearoa

six – keine Zahl, sondern die Begattung, sonst: seex sucks – nichts Beschissenes, sondern eins mehr als fünf teen – kein Jugendlicher, sondern eins mehr als neun volley – kein Hagel, sondern der Raum zwischen zwei Hügeln, ein velley win – kein Sieg, sondern ein Fragewort in der Art von was / wo / wer? wit – nichts Lustiges, sondern das Gegenteil von trocken wreck – kein Wrack, sondern eher wie das Verb in „sich den Kopf zerbrechen“ zid – wie der Buchstabe bei der Abkürzung des Landes: In Zid

Auch das geografische Vokabular der Kiwisprache hat seinen ganz eigenen Reiz.56 Der volkstümliche Name für die Tasmansee lautet, ganz angemessen, „the Dutch“ („das Niederländische“), mit anderen Worten als „the Ditch“, weshalb jemand, der nach Australien geht, sich auf den Weg „across the Dutch“ macht. Die Südinsel wird meist das „Festland“ genannt. Und wenn man von „den Inseln“ spricht, ist weniger die Rede von „In Zid“, als vielmehr von den pazifischen Inseln als Ganzes. Sie sollten auch mein nächstes Ziel sein.

534

10. Otaheiti: Auf der Jagd nach dem Paradies

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10. Otaheiti

Auf meinem Flug von Auckland in Richtung Südpazifik war mir eines klar: Wenn die Rede von „unendlichen Weiten“ hier auf Erden überhaupt einen Sinn hat, dann würde ich ihn nun kennenlernen. Auf einem Gebiet von rund 161 800 000 Quadratkilometern bedeckt der Pazifische Ozean einen größeren Anteil der Erdoberfläche als alle sieben Kontinente zusammen; darin verstreut liegen bis zu 30 000 einzelne Inseln. Und doch war ich mir, als ich aus dem Flugzeug stundenlang auf die endlos blaugrüne Wasserwüste hinabstaunte, einiger eklatanter Wissenslücken bewusst. Wie wohl die meisten anderen „Westler“ auch konnte ich vor meinem inneren Auge problemlos ein paar banale Szenen mit Kokospalmen, Korallenriffen und braun gebrannten, barbusigen Inselschönheiten heraufbeschwören, aber im Grunde wusste ich doch auch nicht mehr über diese Weltgegend als die ersten europäischen Entdecker, die vor 300 oder 500 Jahren hier entlang­ kamen. Als Kind hatte ich – wie Kapitän Cook vielleicht auch – Robinson Crusoe gelesen und wusste, dass dieses Buch, einer der ersten Romane überhaupt, auf der tatsächlichen Lebensgeschichte eines schiffbrüchigen schottischen Seemanns beruht. Aber um keinen Preis der Welt hätte ich Crusoes Insel auf einer Karte verorten können.* Auch die Schatzinsel von Robert Louis Stevenson hatte ich gelesen – etliche Male sogar –, mir dabei jedoch nie Gedanken darüber gemacht, wo genau diese Geschichte eigentlich spielte. Am meisten hatte mich aber Thor Heyerdahls abenteuerliche Erzählung von seiner Kon-Tiki-Expedition fasziniert. Mit angehaltenem Atem hatte ich die Mühen von Heyerdahls Mannschaft verfolgt, die auf ihrem selbst gebauten Floß aus Balsaholz von Sturmwind und Wellen ­zwischen Leben und Tod umhergeworfen wurde. Heyerdahls Hypothese, Polynesien sei von Südamerika aus besiedelt worden, hatte mich damals restlos überzeugt. Aber das war vor sechzig Jahren gewesen. Ich hatte keine Ahnung, in welche Richtung sich die Debatte um die Frühgeschichte Polynesiens seitdem entwickelt haben mochte. Und dann waren da die Filme. In den späten 1950er-Jahren hatte ich – wie fast alle damals – großen Spaß an der Verfilmung des Musicals South Pacific. Für ihre kontroversen Zwischentöne hatte ich damals kein Gehör; mich beeindruckte vor allem das sorgenfreie Leben der amerikanischen G.I.’s im Film, obwohl diese ja angeblich einen schrecklichen Krieg gegen die Japaner führten. Als einem von vielen im Kinosaal des Bolton Odeon * In den Jahren 1704–1709 verbrachte Alexander Selkirk, ein Matrose auf dem Schiff des Piratenkapitäns William Dampier, beinah fünf Jahre allein auf der Insel Más a Tierra (heute „Isla Robinson Crusoe“) im vor der Küste Chiles gelegenen Juan-Fernández-Archipel.

536

Auf der Jagd nach dem Paradies

wurde mir bei den verführerischen Klängen von Bali Ha’i ganz warm ums Herz: Bali Ha’i may call you, Any night, any day. In your heart you’ll hear it call you: „Come away, come away!“ Bali Ha’i will whisper On the wind of the sea: „Here am I, your special island! Come to me, come to me!“

Bali Ha’i ruft leise, ob bei Tag, bei Nacht, ruft in deinem Herzen: „Mach dich auf, mach dich auf!“ Bali Ha’i, es flüstert im Meereswind so lau: „Ich bin es, deine Herzensinsel Komm zu mir, komm zu mir!“

Aber war dieses „Bali Ha’i“ am Ende nur eine verlockende Fata Morgana? Als Nächstes kam der Spielfilm Meuterei auf der Bounty, in dem 1962 Marlon Brando als Fletcher Christian über das Deck stolzierte, während Trevor Howard den tyrannischen Kapitän Bligh gab. Im Drehbuch fehlt es nicht an starken Gefühlen und Geschehnissen: Hass, Verbrechen, Grausamkeit, Sex, Verrat und Durchhaltevermögen sind nur einige seiner Zutaten. Die Meuterer unter ihrem Anführer Fletcher Christian setzen Käpt’n Bligh in einer winzigen Nussschale mitten im Ozean aus, bevor sie sich selbst  – in Begleitung einer Schar einheimischer Schönheiten  – auf den Weg zur Insel Pitcairn machen. Aber wo genau liegt eigentlich Pitcairn? Und was geschah mit Fletcher Christian, von den einheimischen Schön­ heiten ganz zu schweigen? Der Flug nach Tahiti, sagte man mir, werde fünf bis sechs Stunden dauern und dabei eine Entfernung von 2545 Meilen bewältigen, das sind rund 4000  Kilometer. Ich würde also reichlich Zeit haben, um mir über die komplizierten Verwicklungen Gedanken zu machen, die ich mir mit dem Überqueren der internationalen Datumsgrenze einhandelte: Ich flog in 537

10. Otaheiti

Auckland an einem Montagmorgen los, sollte in Papeete aber am vorhergehenden Sonntagabend eintreffen. Diese Information warf mich völlig aus der Bahn. Ich erlebte gleich zwei Sonntagabende direkt hintereinander, und meine Woche begann nicht – wie gewohnt – mit einem, sondern mit zwei Montagen in Folge. Mein Taschenkalender kam da nicht mehr mit. Mit acht statt sieben Tagen war die Woche übervoll, und so musste ich eigenhändig einen zusätzlichen Kasten auf der Doppelseite einzeichnen, um Raum für die 24 Stunden zu schaffen, die mir so unversehens geschenkt worden waren. Um meine Verwirrung komplett zu machen, schien mir eine Internetseite nahezulegen, dass es so etwas wie eine internationale Datumsgrenze offiziell überhaupt nicht gebe.1 Es gibt lediglich die – gedachte – Linie des 180. Längengrads östlich und westlich von Greenwich, durch welche die Erdkugel in zwei Hemisphären geteilt wird – eine westliche und eine östliche. Und dann gibt es da noch jene weitere Linie, die 1884 durch eine Abmachung unter einigen Handelsdampfschifffahrtsgesellschaften in die Welt gesetzt wurde und die an mehreren Stellen – teils deutlich – von der schnurgeraden Linie des 180. Längengrades abweicht. Diese Linie nennen wir heute die „internationale Datumsgrenze“, aber das ihr zugrunde liegende Abkommen ist von keinem souveränen Staat und von keiner internationalen Autorität jemals ratifiziert worden. Noch wird die sogenannte „IDL“ (International Date Line) – um ein weiteres Beispiel zu nennen – von den weltweit maßgeblichen Rabbinerverbänden anerkannt; die ­nämlich bestehen darauf, die entscheidende Datumsgrenze liege nicht 180 Grad östlich von Greenwich, sondern von Jerusalem.2 Nach Ansicht der jüdischen Religionsgelehrten liegt Tahiti also in der östlichen Hemisphäre. Umberto Eco hat rund um diese Fragen einen ganzen Roman geschrieben.3 Auf dem internationalen Flughafen von Tahiti wird man als Reisender bei seiner Ankunft noch mit allen touristischen Ehren begrüßt. Bei unserem Gang über das Rollfeld bricht unvermittelt eine polynesische Musikgruppe in Gesang aus. Unter einem mit Palmwedeln gedeckten Sonnendach werden Ukulelen geschlagen, Stimmen erheben sich in berückend-harmonischem Terzabstand und eine „dunkle Maid“, deren Kostüm sich auf eine Blumengirlande und eine strategisch platzierte Handvoll gelber Blütenblätter beschränkt, tanzt mit graziöser Drehung. Ihr zur Seite stehen links und rechts zwei Polizeibeamte in adretten Uniformen und blütenweißen Handschuhen, auf dem Kopf die typischen képis der französischen Gendarmen. Die Haut der Tänzerin wie die der Polizisten weist einen tiefen, warmen 538

Auf der Jagd nach dem Paradies

Datumsgrenzen



180°

180° (von Jerusalem)

N

Greenwich Atlantischer Ozean

Pazifischer Ozean

Jerusalem

Tahiti

Indischer Ozean

Auckland

S

Südsee

Internationale Datumsgrenze

Braunton auf. Pfeile lenken die Inhaber von passeports européens nach links, all jene mit autres passeports nach rechts. Die französischsprachige Beschilderung ist schwarz auf weiß oder weiß auf schwarz gehalten, damit man sie schon von Weitem gut lesen kann: police – immigration et douanes – rien à déclarer. Ergänzend gibt es auch Schilder mit einer englischen Übersetzung, die aber aufgrund ihrer Schriftfarbe – ein blasses Beige! – kaum zu entziffern sind. Auf dem Zollformular soll ich cocher les cases, „die Kästchen ankreuzen“. Wären da nicht die Hitze und der üppig blühende Hibiskus, man könnte sich glatt in das Calais der 1950er-Jahre versetzt fühlen. Für mich atmet das alles die pure Nostalgie. Bürger der Europäischen Union benötigen für einen Aufenthalt von bis zu neunzig Tagen kein Visum. „Bonsoir“, begrüßt mich die Taxifahrerin. „Bonsoir, Madame. Hôtel Manava, s’il vous plaît.“ „Très bien, c’est un joli hôtel, tout nouveau.“ Schon gleich vor dem Flughafen kommt das ohnehin dürftige Rinnsal englischer Beschilderung vollends zum Versiegen. vous n’avez pas la ­priorité, ermahnt uns eine Tafel am Eingang des ersten Verkehrskreisels, den wir passieren; die Polynesier sollen sich hüten, auf die hergebrachte ­priorité à droite zu vertrauen! Jedes Anwesen, an dem wir vorbeifahren, ist als eine servitude ausgewiesen. Die Fahrt mit dem Taxi bezahle ich in francs, nicht in Euro: 2200 Franken, um genau zu sein. Mein Wechselgeld 539

10. Otaheiti

bekomme ich in Gestalt schwerer Silbermünzen, die mich an den altehrwürdigen Maria-Theresien-Taler erinnern. Auf der einen Münzseite ist als Verkörperung der Französischen Republik „la Marianne“ abgebildet, die Umschrift lautet entsprechend république franÇaise; auf der anderen Seite ist der markante Gipfel eines Inselberges zu sehen, den die Aufschrift polynésie franÇaise rahmt. Die Reihe von Wanduhren an der Hotelrezeption lässt mich wissen, dass es sowohl auf Tahiti als auch in Paris jetzt sechs Uhr ist: 18 Uhr heute Abend in Papeete und 6 Uhr morgen früh an der Seine. Auf meinem Zimmer bietet der Hotelfernseher eine gewisse Auswahl: zwölf französischsprachige Sender und einen auf Tahitianisch – aber keinen einzigen auf Englisch. Ich lege die Füße hoch und blättere in den bereitliegenden Reisebroschüren. In der Nachttisch-Schublade erwartet mich  – neben einem Exemplar des Nouveau Testament – eine ausgezeichnete Publikation der örtlichen Regierung: das Jahrbuch Annuaire Polynésien 2011.4 Mit zahlreichen Kapiteln, Abschnitten, Unterabschnitten und Unter-Unterabschnitten liegt mir damit ein dickes, farbenfrohes Hochglanz-Handbuch vor, das mehr Informationen enthält, als ein Normalsterblicher jemals aufnehmen könnte. Auf jeder einzelnen der 362 Seiten prangt in einer oberen Ecke die Trikolore im Miniaturformat gemeinsam mit dem Wahlspruch „Liberté  – Égalité  – Fraternité“. Es fehlt wirklich nichts. Wenn man nach dem „großen Häuptling“ sucht, der hier als Hoher Kommissar der Französischen Republik das Sagen hat, so stößt man bald auf Monsieur Richard Didier, geboren am 23. Februar 1961 in Châtou-Yvelines, Absolvent der EliteHochschule École Nationale d’Administration (ENA) in Paris. Seine Adresse ist die folgende: Avenue Pouvana’a a O’opa, BP 115, 98713 Papeete. Seine Telefonnummer lautet 689 46 86 86 und E-Mails empfängt er unter der Adresse [email protected]. Die große Doppelseite in der Mitte des Jahrbuchs nimmt eine prachtvolle, vielfarbige Landkarte von Tahiti ein – oder vielleicht sollte ich besser sagen: eine Seekarte. Die weiten Wasserflächen des Ozeans sind in einem tiefen Blau eingefärbt und mit dünnen weißen Linien in zwanzig rechteckige Felder eingeteilt. Der obere Rand der Karte liegt bei 5 Grad südlicher Breite, der untere Rand bei 25 Grad Süd, dem Wendekreis des Steinbocks. Jeder der fünf Archipele von Französisch-Polynesien ist von einem mittelblauen Bereich umgeben, jede der Hauptinseln von einem schmaleren, hellblauen Rand. Einige wenige Inseln, wie etwa Tahiti oder Bora Bora, sind groß genug, um als gelbe Flächen dargestellt zu werden, aber die allermeisten erscheinen auf der Karte als stecknadelkopfgroße Punkte. 540

Auf der Jagd nach dem Paradies

Tahiti

Pazifischer Ozean Matavai Bay

Moorea

Papeete

Mahina Papeno’o

Arue

N

Faa’a Puna’auia

Pa’ea

Orohena

Hitia’a

(2241 m)

Ta h i t i Papara

S

Tahiti Iti Rooniu

0

10

20 km

Ähnlich winzige rote Flugzeug-Symbole weisen auf Dutzende von Lokalflughäfen und Landepisten hin. Keine einzige der Inseln trägt einen französischen Namen. Tahiti, etwas westlich von der Kartenmitte gelegen, gehört zu einer kleinen Inselgruppe namens Les Îles du Vent („Inseln über dem Winde“, nicht zu verwechseln mit den gleichnamigen Antillen-Inseln in der Karibik). Seine nächsten Nachbarn liegen zwischen 150 und 500  Kilometer weiter westlich: Raiatea, Tahaa, Bora Bora und die anderen Îles du Sous-Vent („Inseln unter dem Winde“). Zusammen bilden sie den Archipel de la Société, die „Gesellschaftsinseln“. Ein wesentlich größerer Archipel, der Tuamotu-Archipel, erstreckt sich östlich von Tahiti zwischen dem 15. und dem 25. Breitengrad. Seine Inseln liegen auf einer Fläche von 20 000 Quadratkilometern verstreut; viele dieser Tausenden von Atollen sind unbewohnt. Die Hauptinsel, Rangiroa (was so viel heißt wie „Riesiger Himmel“) liegt inmitten von etwa 240 Atollen, die unter Wasser durch ein Korallenriff von ungeheuren Ausmaßen miteinander verbunden sind; dort gibt es schwarze Perlen in Hülle und Fülle. Der Archipel des Gambier, auch Les Îles Gambier (Gambierinseln) genannt, bildet eine Art Wurmfortsatz am äußersten östlichen Ende des 541

10. Otaheiti

Tuamotu-Archipels, rund 1600 Kilometer von Tahiti entfernt. Die Gambier-Hauptinsel Mangareva gilt als „die Wiege des Katholizismus im Pazifik“. Nahe dem Äquator gelegen, befindet sich der Archipel des Marquises (ursprünglich Las Islas Marquesas, deutsch „Marquesas-Inseln“) gut 1500 Kilometer nördlich von Tahiti. Wie die Gesellschaftsinseln besteht er aus zwei Teilarchipelen, von denen der eine sich um die gebirgige Insel Nuku Hiva gruppiert, der andere um Hiva Oa. Dem Annuaire zufolge stellen die Marquesas-Inseln „le premier foyer de peuplement dans le Triangle Polynésien“ dar, „den Bevölkerungsschwerpunkt Nummer Eins innerhalb des Polynesischen Dreiecks.“5 Und schließlich gibt es noch, weit im Süden von Tahiti, den Archipel des Australes, die „Austral-Inseln“, die sich zu beiden Seiten des Südlichen Wendekreises verteilen. Ihr vergleichsweise kühles Klima kommt der Landwirtschaft zugute, und ihr äußerster Vorposten, die Insel Rapa, liegt schon auf halbem Weg zur Osterinsel, zu deren mysteriöser, untergegangener Zivilisation sie wohl eine gewisse Verbindung hat. Der vollständige tahitianische Name von Rapa, Rapa Iti („Klein-Rapa“) betont den Unterschied zu Rapa Nui  – „Groß-Rapa“ –, wie die Osterinsel in der Sprache ihrer ursprünglichen Bewohner heißt. Eine Karte des Pazifischen Ozeans zu betrachten, ist ein wenig, wie wenn man in den gestirnten Nachthimmel hinaufblickt: Nach einem anfäng­ lichen Staunen überkommt einen rasch das Gefühl einer gewissen Des­ orientierung. Es gibt im Pazifik schlicht zu viele Inseln, Archipele und Teile von Archipelen, als dass man sich das alles merken könnte – und viel zu wenige wiedererkennbare Formen, Muster und (wenn auch nur mentale) Bezugspunkte. Wie die unzähligen Sterne der Milchstraße, so sind die Inselchen und Atolle Polynesiens in ihrer Vielzahl überwältigend. Erst mit der Zeit gewöhnen sich die Augen an diese große Menge, dieses Meer von Lichtpunkten am Himmel, sodass der Verstand beginnen kann, die Unermesslichkeit all der Galaxien und Sternbilder – zumindest im Ansatz – zu begreifen. Ein amerikanischer Autor hat versucht, das Problem auf seine Weise zu lösen, indem er seinen Lesern nahelegte, Polynesien mit anderen, ihnen wohl besser vertrauten Gebilden zu vergleichen: Französisch-Polynesien erstreckt sich über ein gewaltiges Stück Ozean, in dem entlegene Inseln verstreut liegen, von denen jede einzelne ihren ganz eigenen Zauber hat. Seine 118 Inseln und Atolle verteilen sich über eine 542

Auf der Jagd nach dem Paradies

Wasserfläche achtzehn Mal so groß wie Kalifornien, obwohl … die tatsächliche Landfläche … nur wenig größer ist als Rhode Island.* In diesen weitläufigen Archipelen ist jede Art von ozeanischem Gelände vertreten … Die Korallen-Atolle des Tuamotu-Archipels liegen so flach über dem Wasser, dass der Anstieg des Meeresspiegels ihnen bereits gefährlich wird, während das vulkanische Tahiti bis zu 2241 Meter emporragt.6

Hier herrscht, mit anderen Worten, König Ozean; das wenige und weit verstreute Land ist nur eine unbedeutende Dreingabe. Amerikaner und auch Europäer sind eher das Gegenteil gewohnt: Für sie ist festes Land das eigentlich Wahre und etwaige Meere bilden dazu nur den passenden Rahmen. Und doch entpuppt sich selbst Tahiti, bei genauerer Betrachtung, als größtenteils „auf Wasser gebaut“; die Hauptinsel liegt inmitten einer Lagune im Zentrum einer „Schar von Lagunen umspülter Inseln, die ihrerseits von weiteren Inseln umgeben sind.“ Hierher ohne Boot zu kommen, ist ein ­großer Fehler. Und in der Reiseliteratur ist mit einigem Nachdruck immer wieder von einem „Paradies“ die Rede …7 Der Ankunftstag geht mit einem original tahitianischen Sonnenuntergang zu Ende. Als riesige goldene Kugel sinkt die Sonne dem Horizont entgegen, zwischen einem Fetzen Höhenbewölkung und den dramatisch zerklüfteten Bergspitzen einer weiter draußen gelegenen Insel. Das muss wohl Bali Ha’i sein. Einen Augenblick oder zwei lang wird das zwischen uns und dem Horizont ausgestreckte Wasser der Lagune in ein intensiv orangefarbiges Licht getaucht, während die Berggipfel sich schwarz vor der Röte abheben und hoch am Himmel sich bereits ein silberner und silbrig-blauer Bogen spannt. Dann bricht ganz plötzlich die Nacht über uns herein wie eine Kokosnuss, die mit einem dumpfen Schlag vom Wipfel einer Palme herabplumpst. „Polynesien“ ist kein polynesisches Wort. Es ist noch nicht einmal die Adaption oder Verballhornung eines polynesischen Wortes. Vielmehr wurde es Mitte des 18.  Jahrhunderts von dem französischen philosophe Charles de Brosses geprägt, der an einem Buch über die Geschichte der europäischen Entdeckungsreisen in die „Südsee“ arbeitete und der dank seiner klassi* Das entspräche einer Wasserfläche rund 21 Mal so groß wie die Bundesrepublik Deutschland gegenüber einer Landfläche etwa anderthalb Mal so groß wie das Saarland (Anm. d. Übers. T. G.).

543

10. Otaheiti

schen Bildung ganz einfach aus zwei griechischen Wörtern einen neuen geografischen Namen konstruieren konnte: poly heißt „viel, viele“ und nesos heißt „Insel“. „Poly-Nesien“ ist also das „Viel-Insel-Land“. Obwohl die Europäer zwar schon lange von der Existenz des Pazifik als des größten Weltmeeres gewusst und zumeist auch Ferdinand Magellans Charakterisierung als Mare Pacificum („ruhiges Meer“) übernommen hatten – daher heißt der Pazifik im Deutschen ja auch „Stiller Ozean“ –, war dieses Wissen zuvor noch niemals systematisiert worden. De Brosses selbst gebrauchte seine Kreation, wie es scheint, nicht ganz eindeutig: Manchmal meinte er mit „Polynesien“ ganz einfach „sämtliche Inseln des Pazifik“, zumeist jedoch diejenigen, die in einem der drei „Meere“ versammelt lagen, in die er den Ozean (einigermaßen willkürlich) eingeteilt hatte: Dies waren die Meere von l’Australasie, la Mer Magellanique und schließlich la Polynésie.8 Charles de Brosses (1709–1777), Graf von Tournay und langjähriger Präsident des Parlaments von Dijon, entschiedener Kritiker des Absolutismus und Briefpartner aller führenden Köpfe der französischen Aufklärung, hatte sich selbst die Aufgabe gestellt, das gesamte Wissen seiner Zeit über den Pazifik in einem Buch zu versammeln. Er war ein Mann von kleiner Statur, aber beachtlicher intellektueller Spannweite. Nachdem sie schließlich fertiggestellt war, sollte seine Histoire des Navigations aux Terres Australes – 1756, also zwölf Jahre vor der ersten Reise Kapitän Cooks mit seiner Endeavour, veröffentlicht – die Entdeckungsreisenden der folgenden Jahrzehnte nachhaltig beeinflussen.9 De Brosses muss als der große Vorreiter auf dem Gebiet der Pazifik-Studien gelten. Mit einem seiner Zeitgenossen jedoch verstand er sich leider überhaupt nicht gut: Die Rede ist von Voltaire, der von dem Grafen irgendwann das Schloss von Tournay mitsamt dem dazugehörigen Titel auf Lebenszeit gepachtet hatte. Die beiden Männer überzogen einander mit Vorwürfen und Drohungen. Als die Académie Française de Brosses zur Mitgliedschaft nominierte, verhinderte Voltaire eine tatsächliche Ernennung seines Intimfeindes, indem er androhte, seine eigene Mitgliedschaft aus Protest niederzulegen.10 An der Größe von de Brosses’ Lebenswerk kann dennoch kein Zweifel bestehen – gerade, wenn man die Schwierigkeiten und Beschränkungen in Betracht zieht, mit denen er fertigwerden musste. Keiner der Entdecker, deren Forschungsfahrten er referiert, verfügte über die Mittel, einen prä­ zisen Bericht von seinen jeweiligen Entdeckungen vorzulegen. Sie alle benannten die von ihnen entdeckten Inseln ganz unterschiedlich und ganz einfach in derjenigen Sprache, die ihnen jeweils am nächsten lag. Nur 544

Auf der Jagd nach dem Paradies

Französisch Polynesien N

Vostok

M

Caroline

KIRIBATI

Nuku Hiva Uapou

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Südpa zifi s cher

S

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250

500 km

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Rurutu

Pukapuka

Hikueru Tauere

SCHAFTS-INSELN

AL

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DE R E NT TÄ USC

AM Manihi Ahe O Napuka Takaroa TU Rangiroa -A Fakareva Makemo

INSELN UNTER Motu One DEM WINDE Bora Bora INSELN ÜBER DEM WINDE Tahaa Raiatea Moorea Mehetia G Maiao Tahiti ES

Fatu Hiva

S-IN

Tenarunga Maria

MBIERINSELN Morane

Mangareva

wenige machten sich überhaupt die Mühe, einen halbwegs präzisen und vollständigen Bericht von ihren Fahrten vorzulegen. Die meisten waren durch Verträge mit Monarchen oder Regierungen gebunden, die vom monopolistischen Konzept eines mare clausum, eines „geschlossenen Meeres“, nicht lassen wollten und deshalb sämtliche Informationen, die mit der Seefahrt zu tun hatten, mit höchster Geheimhaltung behandelten. Ihre navigatorischen Messungen und Berechnungen waren oft nur rudimentär oder zumindest ungenau. Dies hatte zur Folge, dass zahlreiche Pazifik­ inseln zuerst entdeckt – und dann wieder „verloren“ worden waren. Unter Historikern wird noch immer darüber gestritten, ob die Spanier nun in den 1540er-Jahren auf Hawaii gewesen sind oder nicht.11 Mit am spannendsten ist manchmal gerade, was die europäischen Seefahrer nicht entdeckten. Als er 1520/21 aus Richtung Südamerika kommend den Pazifik durchquerte, sichtete Magellan gerade einmal zwei Inseln, womit er 99,99  Prozent der möglichen Landsichtungen verpasste. Das Tagebuch seines Reisegenossen Antonio Pigafetta, der zuvor auf den Schiffen der Johanniter von Rhodos zur See gefahren war, hält die Erlebnisse von Magellans Expedition fest: 545

10. Otaheiti

In diesem Zeitraum von drei Monaten und zwanzig Tagen legten wir beinahe viertausend Leghe zurück, auf einem Meer, das wir Mare Pacifico nannten, weil wir während der ganzen Fahrt keinen einzigen Sturm erlebten. … Wir entdeckten auch während dieser Zeit kein Land, ausgenommen zwei unbewohnte Inseln, denen wir den Namen Isole sfortunate gaben [„Unglückliche Inseln“]. Wir bemerkten auf ihnen nur Bäume und Vögel und fanden an ihren Küsten keinen Ankergrund … Diese Inseln sind etwa 200 Leghe voneinander entfernt, die eine liegt unter dem 15., die andere unter dem 9. Grad südlicher Breite.12

Zwei spanische Nachfolger Magellans, die in dieselbe Richtung segelten, erreichten die Fidschi-Inseln und die Salomonen, bevor sie schließlich umkehrten. Die spanischen Manila-Galeonen, die den Pazifik von 1565 bis 1815 jedes Jahr durchquerten, nutzten Guam als Zwischenhalt. Aber zur Suche nach anderen Inseln in der näheren oder ferneren Umgebung ließen sie sich nur selten verlocken. Und vor allem blieben Abel Tasmans bahnbrechende Forschungen nach der Terra Australis Incognita ohne Nachfolger. Noch 1770 konnte ein englischer Autor eine vollkommen aus der Luft gegriffene Beschreibung des „Südlandes“ veröffentlichen, demzufolge dieses eine Küste von 5323 Meilen Länge und eine Bevölkerung von 50 Millionen Menschen besitze.13 Die Antarktis wurde überhaupt erst 1820 zum ersten Mal besucht. Die allerersten europäischen Entdecker im Pazifikraum  – Spanier, die von „Neuspanien“ (Mexiko) aus in den Ozean vorstießen  – litten unter einer entscheidenden Schwierigkeit: Da sie das System der Winde und ­Strömungen, die in dieser Weltgegend vorherrschen, noch nicht restlos durchschaut hatten, wussten sie zwar, wie sie von Osten nach Westen in den Pazifik hinein-, nicht aber, wie sie von Westen nach Osten auch wieder hinaussegeln konnten. Magellan, der große Wegbereiter, blieb dicht an der südamerikanischen Küste, bis er auf die Ostwinde stieß, die den Südäquatorialstrom begleiten. Aber weder ihm noch seinen unmittelbaren Nachfolgern sollte es gelingen, auf derselben Route wieder zurückzukehren, auf der sie gekommen waren. Eine Lösung für dieses Problem wurde schließlich in einem langwierigen Prozess von Versuch und Irrtum gefunden. Im Jahr 1565 übernahm der spanische Augustinermönch, Kapitän und  – nach Enrique von Malakka – zweite Weltumsegler Andrés de Urdaneta die portugiesische Technik der Volta do Mar oder „Meeresrundfahrt“, von der später auch Abel Tasman profitieren sollte. Indem er von den Philippinen aus an Japan vorbei nach Nordosten segelte, gelangte Urdaneta bis zum 546

Auf der Jagd nach dem Paradies

38. Grad nördlicher Breite, bevor er endlich auf westliche Winde und den (ebenfalls) nach Osten gerichteten Nordpazifikstrom stieß. Nach einer von Hunger und Entbehrung geprägten Reise von 130 Tagen und 12 000 Meilen auf See kehrte er mit seinen Leuten schließlich an seinen ursprünglichen Ausgangspunkt nach Acapulco an der mittelamerikanischen Pazifikküste des heutigen Mexiko zurück. In der Zwischenzeit hatte sein vormaliger Befehlshaber Miguel López de Legazpi die Philippinen erobert und Manila gegründet. Fortan nutzte die Flotte der Manila-Galeonen jedes Jahr die „Urdaneta-Route“ (la ruta de Urdaneta), um nach Amerika zurückzukehren. Aber weil sie den Pazifik in seiner Gesamtheit als Teil der spanischen Hoheitssphäre betrachteten, teilten sie ihr Wissen nicht mit anderen. Es überrascht daher nicht, dass Charles de Brosses die Abmessungen und die innere Gliederung des Pazifik nicht eben genau wiedergeben konnte. Letztlich erfand gerade er den Namen „Polynesien“, weil kein vorheriger Kommentator dazu die Notwendigkeit gesehen hatte. Zwei andere Bezeichnungen, die de Brosses einbrachte, erwiesen sich als ähnlich lang­ lebig, obwohl auch sie reichlich schwammig sind: als l’Australasie („Aus­ tralasien“, d. h. „südlich von Asien“) bezeichnete er eine große, aber nicht genauer abgegrenzte Meeresregion südlich des sogenannten „Ostindien“. Die Magellanique („Magellan’sches Meer“) und die damit assoziierte Magellanie bezeichneten jene ozeanische Weite, der sich die Seefahrer auf ihrem Weg nach Westen gegenübersahen, sobald sie die ähnlich benannte Magellanstraße zwischen Südamerika und Feuerland durchquert hatten. Die von de Brosses erstellte „Tabelle der Reisen“ führt insgesamt 63 Entdeckungsfahrten auf. Dreißig davon finden sich unter der Überschrift En Magellanie wieder, von „Americ Vespucce“ im Jahr 1501 bis „Le Hen-Brignon“ im Jahr 1747. Elf weitere Fahrten, die erste 1503 unter der Leitung von Jean Binot Paumier de Gonneville, der Brasilien mit der Terra Australis verwechselte, versammelte de Brosses unter der Überschrift Australasie, weitere 22 klassifizierte er als En Polynésie. Die bahnbrechende Entdeckungsfahrt Magellans selbst beschreibt diese Aufstellung als En Magellanique et en Polynésie. Unter den Polynesienfahrten waren es jene des englischen Freibeuters „François [Francis] Drake“, denen de Brosses’ besondere Hochachtung galt  – nicht allein wegen Drakes navigatorischer Fertigkeiten, sondern auch, weil dieser die spanische Vormacht auf den Weltmeeren hartnäckig herausforderte. Ausführlich zitiert de Brosses aus der Ermahnung, mit der die englische Königin Elisabeth den spanischen Botschafter an ihrem Hof abkanzelte, nachdem dieser gegen Drakes Aktivitäten protestiert hatte: 547

10. Otaheiti

Die Königin antwortete [dem Botschafter dahingehend], dass die Südsee, wie auch der restliche Ozean, der gemeinsame Besitz aller sei … [und] dass die Schenkung, mit welcher der Bischof von Rom ein Land übereignet hatte, das ihm überhaupt nicht gehörte, eine Chimäre sei, ein bloßes Hirngespinst; dass weiterhin die Spanier kein größeres Anrecht als jeder andere auf etwas besaßen, das sie selbst seinen ursprünglichen Besitzern entrissen hätten; und dass man nicht zum Herrn und Eigentümer eines Landes werde, indem man dort ein paar Hütten errichte oder einen Fluss oder eine Landspitze nach einem Heiligen benenne …14

Die Niederländer waren allerdings kaum weniger besitzergreifend als die Spanier. Als 1699 der englische Kapitän William Dampier auf seiner zweiten Fahrt nach Osttimor kam, teilte er dem dortigen Gouverneur mit, dass „auf diesem Schiff Seiner Majestät sich ausschließlich Engländer befinden“: Aber der Gouverneur ließ ihm antworten, dass er strikte Order habe, keine anderen Schiffe mit Vorräten zu versehen als ausschließlich jene ihrer eigenen [d. h. der Niederländischen] Ostindien-Kompanie; auch solle er keinem Europäer erlauben, sich auf die Weise zu nähern, wie wir es getan hatten. … [Und der Gouverneur sagte:] ‚Ich bestehe darauf, dass Sie sich entfernen, und zwar schleunigst!‘15

Ein wenig klingt es so, als hätte der Gouverneur von Osttimor nicht die leiseste Ahnung davon gehabt, dass Wilhelm III. von Oranien zum damaligen Zeitpunkt sowohl Köng von England als auch Statthalter der Niederlande war … Auf de Brosses folgte eine ganze Reihe von Epigonen, die sein Werk teils nur imitierten, es teils aber auch fortführten. Dies geschah vor allem in Großbritannien, dem de Brosses vorgeworfen hatte, es wolle eine monarchie universelle de la mer errichten, eine „maritime Universalmonarchie“ oder „Weltherrschaft auf dem Wasser“. John Callander veröffentlichte 1766 in Edinburgh den ersten Band seines Werks Terra Australis Cognita (etwa: „Das nun doch bekannte Südland“). In weiten Teilen handelte es sich dabei um eine schamlose Raubkopie von de Brosses’ Vorarbeit – ohne freilich den Vorläufer auch nur zu nennen. Dafür fügte Callander in seinen Ausführungen – wohl aus patriotischem Pflichtgefühl – regelmäßig den Namen „England“ ein, wo bei de Brosses noch „Frankreich“ gestanden hatte.16 Der erste Europäer, der das erst später sogenannte Tahiti erreichte war der aus Cornwall stammende Kapitän Samuel Wallis (1728–1795) von der Royal 548

Auf der Jagd nach dem Paradies

Navy, dem als Dreizehntem die Umrundung der Welt gelang. Am 18. Juni 1767 näherte er sich langsam dem Strand von Taiapuru. Kurz nach der Ankunft befahl er, Schrapnell-Ladungen abzufeuern, nachdem sein Schiff, die HMS Dolphin, von einheimischen Kriegern in insgesamt mehr als zweitausend Kanus umringt und mit Steinwürfen angegriffen worden war. Die Inselbewohner, die noch nie zuvor Europäer gesehen hatten, erklärten Wallis kurzerhand zum Halbgott, nahmen bereitwillig den Handel auf und leisteten keinen weiteren Widerstand. Wallis begab sich in die MatavaiBucht an der Nordküste der Insel: Der Leutnant wurde nun mit Bewaffneten in Booten losgeschickt und hatte die Order zur Landung erhalten. … Nachdem dies geschehen war, hisste er einen Wimpel an einer Stange und erklärte, dass er den Ort, den er zugleich auf den Namen „King George III’s Island“ taufte, für seinen Souverän in Besitz nehme. Dann nahm er Rum, vermischte ihn mit Wasser aus einem nahe gelegenen Fluss, und jedermann trank auf das Wohl und die Gesundheit Seiner Majestät.17

Am bemerkenswertesten war jedoch die Reaktion der einheimischen Frauen auf die Ankunft der britischen Matrosen. Sie benahmen sich nämlich, als hätten sie seit Menschengedenken nur auf eines gewartet: auf die Ankunft dieser exotischen Mannsbilder. Die Seeleute ihrerseits waren seit Monaten auf einem winzigen Schiff eingepfercht gewesen. Gemeinsam feierten sie den Anbruch einer neuen Eisenzeit: Die Weiber waren ganz besonders erpicht auf das Anlanden der Matrosen, denen sie die Kleider vom Leibe rissen und mit Fingerzeigen der unanständigsten Art zu Verstehen gaben, wie angenehm ihnen ihre Gesellschaft sein würde … Nun wurde zwischen den Indianerinnen und den Mannschaften ein ganz außergewöhnlicher Handelsverkehr begonnen. Der Preis für die Gunst einer Dame waren ein oder zwei Nägel [aus Eisen]. Aber da die Matrosen nicht ohne Weiteres an Nägel gelangen konnten, so zogen sie sie allerorten aus den Planken ihres Schiffes. … Der dadurch entstandene Schaden konnte nicht gar leicht behoben werden, und die Männer wurden aufgrund ihrer Verbindungen mit den Einheimischen so begierig darauf, selbst zu bestimmen, dass der Kapitän ihnen die Kriegsartikel verlesen ließ, um ihnen wieder Zucht und Gehorsam beizubringen.18 549

10. Otaheiti

Diese Art von euro-polynesischem Sexualverkehr sollte in der Folge zu einem echten Problem werden. Weniger als ein Jahr nachdem Wallis Matavai verlassen hatte, legte auf der gegenüberliegenden Seite der Insel ein französisches Schiff an. Den Franzosen war der vorherige Besuch ihrer britischen Rivalen nicht bewusst. Der französische Kapitän, Louis-Antoine de Bougainville (1729–1811), war zuvor an dem Projekt beteiligt gewesen, Acadiens – französische Siedler aus dem heutigen Ostkanada – auf die Malwinen umzusiedeln, die schon bald in „Falklandinseln“ umbenannt werden sollten. Zu seinem gegenwärtigen Vorhaben hatte ihn de Brosses inspiriert. Seine beiden Schiffe, die Fregatte L’Étoile und sein Versorgungsschiff La Boudeuse waren voll besetzt mit insgesamt mehr als 300 Mann Besatzung und einer voll ausgestatteten naturkundlichen Expedition unter der Leitung des Botanikers Philibert de Commerçon. Ohne dass der Kapitän davon gewusst hätte, hatten sie auch die erste Frau an Bord, die jemals die Welt umrundet hat: Commerçons Geliebte Jeanne Baret, die als (männlicher) Diener verkleidet auf das Schiff geschmuggelt worden war.19 Der junge Comte de La Pérouse, der selbst noch zu einigem Ruhm als Seefahrer und „Geo-Graf“ kommen sollte, diente auf Bougainvilles Expedition als freiwilliger Matrose. Im Frachtraum lagerten die Samen jener brasilianischen Tropenblume, die Commerçon bereits  – zu Ehren seines Kapitäns – „Bougainvillea“ getauft hatte. Am 6. April 1768 gingen die französischen Schiffe in der Bucht von Hitia’a vor Anker und gaben der Insel den Namen La Nouvelle Cythère („Neu-Kythera“).20 Bougainville blieb nur für zwei Wochen, aber als er wieder in See stach, hatte er zwei sensationelle Mitbringsel an Bord. Das eine befand sich in seinem Kopf: Es war die folgenreiche Vorstellung, er habe einen zweiten Garten Eden entdeckt, wo die „Kinder der Natur“ ihren Bedürfnissen und Begierden frönen konnten, ohne dabei durch die Übel der modernen Zivilisation verdorben zu werden. Das andere „Souvenir“ war ein hochgewachsener und überaus gut aussehender junger Mann namens Aoutouro, den er mit nach Frankreich nehmen wollte, um seine Theorie zu belegen. Bougainvilles Reisebericht von seinem Voyage autour du monde (1771, „Reise um die Welt“) sollte zu einem Bestseller seiner Zeit werden. Er trug entscheidend dazu bei, den Mythos vom „edlen Wilden“, den Jean-Jacques Rousseau schon in die Welt gesetzt hatte, weiter zu zementieren. Und für Denis Diderot, der in seiner Schrift Supplément au voyage de Bougainville (1772, „Nachbemerkung zu Bougainvilles Reise“) einen Frontalangriff auf die herrschende Meinung in Sachen Religion und Moral unternahm, lieferte er dafür einen Großteil des Materials.21 550

Auf der Jagd nach dem Paradies

Kapitän James Cook war demnach der dritte europäische Schiffsführer, der auf „King George’s Island“ an Land ging (er nannte die Insel genauso, wie Wallis sie zuvor getauft hatte). Unter den frühen Entdeckern des Pazifikraums war Cook zweifellos der größte: ein hervorragender Seemann, sorgfältiger Kartograf und überaus begabter Menschenführer. Sein Schiff, die Endeavour, ging im April 1769 in der Matavai-Bucht vor Anker, wo zuvor auch schon Wallis’ Dolphin gelegen hatte. Cook liefert eine prägnante „Beschreibung der König-Georg-Insel“: Diese Insel heißt bei den Eingeborenen Otaheite und wurde den 19. Juni 1767 von Kapitän Wallis in dem Schiffe Seiner Majestät, dem Dolphin, zum ersten Male entdeckt, und diesem und seinen Offizieren gebührt das Verdienst, die geografische Länge der Königlichen Bucht* auf ein halbes Grad genau errechnet sowie die ganze Gestalt der Insel nicht schlecht beschrieben zu haben. … Sie liegt zwischen 17 Grad 29 Minuten und 17 Grad 53 Minuten südlicher Breite und zwischen 149 Grad 10 Minuten und 149 Grad 39 Minuten westlicher Länge von Greenwich. Die Küste dieses Landes weist zumeist … eine Vielzahl guter Buchten und Häfen auf, worin selbst die größten Schiffe reichlich Raum und genügend tiefes Wasser vorfinden.22

„Otaheite“ oder „Otaheiti“ hieß, wie Cook auch erfuhr, „fernes Land“. In seinem Bericht fährt er dann mit einer etwas langatmigen Beschreibung der Insel fort, wobei ihre landwirtschaftlichen Erzeugnisse, Tiere, Küche und Bewohner, deren Kleidung, Bräuche, Musik, Behausungen, Kanus, Werkzeuge, Waffen, Religion, Priester, Rituale und Methoden der Zeitberechnung zur Sprache kommen; auch für das Klima und die Charakteristik der örtlichen Magnetfelder hat Cook ein paar Worte übrig. Mit Blick auf jene örtliche „Spezialität“, die sowohl Bougainville als auch die lüsternen Matrosen der Dolphin am meisten interessiert hatte, bleibt Cook auffallend kühl: Ein weiteres Amüsement oder Brauchtum muss ich vermelden, wiewohl ich erwarte, dass man meinen Worten keinen Glauben schenkt, denn es gründet sich auf eine unmenschliche Sitte, die den vornehmsten Prinzipien der menschlichen Natur zuwiderläuft; es ist dies, dass mehr denn eine Hälfte unter den Vornehmeren unter den Einwohnern den Entschluss * „Königliche Bucht“ (in Cooks Original: Royal Bay) ist die wörtliche Übersetzung von „Matavai“ (Anm. d. Übers. T. G.).

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10. Otaheiti

gefasst haben, einer Libertinage in der Liebe anzuhangen, ohne die Last von deren Konsequenzen zu tragen; diese vermischen und verlustieren sich mit der größten Freiheit, und die Kinder, welchen das Unglück widerfährt, auf solche Weise gezeugt zu werden, werden im Augenblick ihrer Geburt erstickt. … Beide Geschlechter geben im Gespräch den unsittlichsten Gedanken Ausdruck, ohne die geringste innere Regung, und solche Reden verschaffen ihnen höchstes Entzücken. Der Keuschheit wird in der Tat geringer Wert beigemessen …; wird ein Weib des Ehebruchs schuldig befunden, so besteht ihre einzige Strafe in Schlägen ihres Gatten; die Männer bieten Fremden mit der größten Bereitwilligkeit junge Frauen und ihre eigenen Töchter an, und eine Ablehnung dünkt ihnen höchst sonderbar …23

Bei seiner Beschreibung des allgegenwärtigen Brauches zu Tätowieren hatte Cook da noch neutraler geklungen: Beide Geschlechter bemalen ihre Körper, Tattow, wie sie es in ihrer Sprache nennen; dies geschieht in der Weise, dass die Farbe Schwarz ihrer Haut eingegeben wird, und zwar so, dass sie sich nicht mehr entfernen lässt. Manche haben schlecht gezeichnete Figuren von Männern, Vögeln oder Hunden, die Frauen haben im Allgemeinen das Zeichen „Z“ an jedem Glied ihrer Finger und Zehen; die Männer haben es in gleicher Weise, und beide haben sie andere verschiedene Figuren, wie Kreise, Halbmonde etc. auf ihren Armen und Beinen. Kurz, es herrscht eine so große Vielfalt bei der Anbringung dieser Figuren, dass ihre Anzahl wie auch ihre Art völlig dem Geschmack jedes Einzelnen überlassen scheinen; doch alle gleichen sie sich darin, dass ihr Hinterteil völlig schwarz ist, darüber haben die meisten Bögen, deren einer über dem anderen gezeichnet ist. Diese Bögen scheinen ihr ganzer Stolz zu sein, denn beide, Männer wie Frauen, zeigen sie mit großer Freude vor.24

Bei seiner ersten Reise (1768–1771) war Cook ursprünglich in den Zentralpazifik geschickt worden, um astronomische Beobachtungen über den Venustransit von 1769 anzustellen. Danach – das entnahm er seiner versiegelten Order erst während der Fahrt  – sollte er nach Hinweisen auf die Terra Australis suchen – fast so, als wenn die Entdeckungen Abel Tasmans nie passiert wären. Das zeigt deutlich, wie unsicher sich die britische Admiralität mit Blick auf die Geografie der Südsee noch immer war. Cook fertigte also zunächst eine sehr präzise Karte von Neuseeland an und konnte 552

Auf der Jagd nach dem Paradies

so beweisen, dass es nicht mit einer weiter südlich gelegenen Landmasse verbunden war. Dann kartierte er die Ostküste Australiens, von einem Ende zum anderen. Im April 1770 landete er in der Botany Bay – die er so benannte – und ließ die Endeavour an einem Strand im heutigen Queensland ausbessern, bevor er über Batavia und das Kap der Guten Hoffnung nach Hause zurückkehrte. Gegenstand von Cooks zweiter Reise (1772–1775) war wieder die Terra Australis. Bei der britischen Admiralität wusste man nun, dass „Neuholland“ (Australien) und Neuseeland zwei getrennte Inseln waren, war jedoch zugleich überzeugt – was ja auch stimmte –, dass weitere große Entdeckungen noch ausstanden. Auf Befehl seiner Vorgesetzten erreichte Cook mit seinem neuen Schiff, der HMS  Resolution, rekordverdächtig weit südlich gelegene Breiten. Mitten im Ozean überquerte er den südlichen Polarkreis, bevor er sich mit seiner Mannschaft zur Erholung nach Otaheiti zurückzog und dort festhielt, dass er zuvor eine Position von 71 Grad und 10 Minuten südlicher Breite erreicht hatte. Wenn er nur 75 Meilen weiter nach Süden gesegelt wäre – eine einzige Tagesreise –, hätte er die Antarktis entdeckt. Das tat er jedoch nicht, sondern kehrte nach England zurück, ohne auch nur die geringste Ahnung von der Existenz des südlichsten Kontinents erlangt zu haben. Die bestehende Annahme, der Südpazifik erstrecke sich über den Südpol hinaus und verschmelze dort mit dem Atlantik, wurde also nicht infrage gestellt. Cooks dritte Reise (1776–1780) richtete sich auf die Erkundung des nördlichen Pazifik und der Nordwestpassage. Zu diesem Zweck unternahm er akribische Vermessungsfahrten nach Hawaii und an der Nordwestküste Nordamerikas. Am 14. Februar 1779 wurde er auf Hawaii bei einer Auseinandersetzung mit Einheimischen getötet.25 Charles Clerke übernahm das Kommando der Expedition, starb jedoch noch auf der Heimreise an Tuberkulose. Unter dem Kommando ihres Kapitäns John Gore kehrten die Schiffe im Oktober 1780 nach England zurück. Der Grund für die auffällige Häufung all dieser Entdeckungsreisen  – von Wallis, Bougainville und Cook – ist neben dem Ende des Siebenjährigen Krieges 1763 auch im Aufkommen wichtiger technischer Neuerungen zu suchen. Auf seine erste Reise war James Cook noch ohne modernes Chronometer aufgebrochen und hatte sich stattdessen zur Längenbestimmung auf die mühsame Monddistanzmethode und die Mondtabellen in seinem Nautical Almanac verlassen müssen. Bei den nötigen Berechnungen unterstützte ihn ein professioneller Astronom, Charles Green, der einer der Richter in dem durch skandalöse Inkompetenz zu trauriger Berühmt553

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heit geratenen Beurteilungsverfahren von John Harrisons bahnbrechendem H4-Chronometer gewesen war. Harrison, ein genialer Londoner Uhrmacher, erhielt sein Preisgeld für die Lösung des Längenproblems erst 1773, obwohl er seine dafür geeignete Uhr bereits 1759 vorgestellt hatte.26 Fortan wurde die Verwendung von Chronometern in der Navigation zur Regel, und die Nautiker konnten sich an die langwierige Aufgabe machen, die Seekarten ihrer Vorgänger zu korrigieren. Manche betrachten Cooks Fahrten als den Abschluss eines Kapitels in der Geschichte der Entdeckungsreisen und als Vorboten einer neuen Ära der Forschung. „Nach Cook“, heißt es in der meistzitierten Quelle zum Thema, „blieb nichts mehr [zu entdecken] als allein die Details.“ Der Schriftsteller Joseph Conrad, der selbst als Matrose und Kapitän zur See gefahren ist, wird ebenfalls oft als Gewährsmann zitiert: Die Fahrten der frühen Entdecker wurden durch … ein Verlangen nach Beute veranlasst, das durch schöne Worte nur mehr oder minder verkleidet werden konnte. Aber die drei Reisen Cooks … gehören [in dieselbe Kategorie wie jene der] unbeirrbaren Väter der „militanten Geografie“, deren Antrieb die Suche nach Wahrheit war.27

Diese Interpretation ist offenkundig nicht korrekt. Trotz seiner großen Leistungen war Cook keineswegs der einzige unter seinen Zeitgenossen, der mit wissenschaftlicher Gründlichkeit nach Wissen und Wahrheit strebte, und er hat viele Probleme ungelöst gelassen. In seiner Lebenszeit waren die Eigenheiten und Grenzen von nur drei Seiten des Pazifik erforscht worden – im Westen, Norden und Osten –, während der Süden weiter rätselhaft blieb. Noch konnte niemand die tatsächliche Größe des Pazifik berechnen. Und schließlich waren auch die Standards der Informationsweitergabe damals noch sehr unsicher. Als Denis Diderot 1772 die Veröffentlichung seiner großen, siebzehnbändigen Encyclopédie abschließt, enthält diese rund 72 000  Artikel zu allen denkbaren Wissensgebieten; kurz darauf erschien als Begleitband noch eine üppige Sammlung von Land- und Seekarten aus aller Welt. James Cook wäre entsetzt gewesen, wenn er gewusst hätte, dass dieser renommierteste Atlas seiner Zeit vor Fehlern, Fantastereien und veralteten Angaben nur so strotzte.28 Da man sich in Frankreich unter keinen Umständen von den Briten überflügeln lassen wollte, entsandte die französische Krone 1785 eine eigene Expedition in den Pazifik; das wissenschaftliche Großvorhaben war ganz 554

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dem Vorbild Cooks verpflichtet. Den Befehl führte ein Karriereoffizier der französischen Marine, der Comte de La Pérouse (1741–1788), der bereits mit Bougainville gesegelt war und nun von Brest aus mit 220  Männern und zwei soliden Schiffen, der Astrolabe und der Boussole, ins Abenteuer aufbrach. Über die nächsten drei Jahre hinweg durchsegelten sie, auf und ab, den gesamten Pazifischen Ozean, kartierten, observierten und notierten, akkumulierten und inventarisierten Proben und Musterstücke der Flora und Fauna von Hawaii, Alaska, Kalifornien, Macao, Manila, Japan, Sachalin, Samoa und schließlich Australien. In der Botany Bay traf La Pérouse zeitgleich mit der britischen First Fleet ein und lernte auch den ersten Gouverneur der Kolonie kennen, Kapitän Arthur Phillip. Sechs Wochen lang blieben die beiden Expeditionen in nächster Nähe zueinander. Die Franzosen feierten die erste katholische Messe auf australischem Boden, richteten das erste Observatorium ein und legten den ersten Garten an. Das Angebot, ihre Reiseaufzeichnungen und Proben an Bord eines britischen Schiffes zurück nach Europa bringen zu lassen, nahmen sie gern an und gewährleisteten dadurch (wie sich herausstellen sollte) deren Überleben.29 Als der (Süd-)Sommer zu Ende geht, im März 1788, lichteten La Pérouses Schiffe in der (erst später sogenannten) Sydney Bay den Anker und setzen die Segel, um auf einem östlichen Kurs nach Frankreich zurückzukehren. Ihr Kapitän hatte den Briten erklärt, welche Route er einzuschlagen gedachte: Durch den Zentralpazifik und um Kap Hoorn herum sollte die Heimreise gehen. Als erwarteter Zeitpunkt für die Ankunft in Frankreich war der Juni 1789 berechnet worden, was bedeutet, dass der Graf und seine Mannschaften pünktlich zum Sturm auf die Bastille im Monat darauf zu Hause gewesen wären. Stattdessen sind sie und ihre Schiffe nie wieder gesehen worden. Nach ihrer Landung auf Otaheiti in den 1760er-Jahren hatten die Europäer dort eine politische Ordnung entdeckt, die strikt lokal begrenzt war und sich auf eine ansässige Stammesgemeinschaft beschränkte. So etwas wie eine „polynesische Föderation“ oder ein Seereich, dem man angehören oder mit dem man kooperieren konnte, gab es nicht. Tahiti hatte zwar einen obersten Häuptling namens Teu Tunuieaiteatua, den manche Außenstehenden als den „König“ von Tahiti bezeichneten. Er war der Kopf einer alteingesessenen Dynastie, innerhalb deren die Oberhäuptlingswürde erblich war; aber sein Einfluss über die anderen Häuptlinge war stark begrenzt, und auf den entlegeneren Inseln der Umgebung war er nur minimal. Außerdem bekämpften die Häuptlinge einander in endlosen Kleinkriegen. 555

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Winzige Stoßtrupps von einigen wenigen Kriegern, die nur mit Speeren, Pfeil und Bogen bewaffnet waren, reichten nicht aus, um die jeweiligen Gegner zu unterwerfen oder eroberte Inseln langfristig zu besetzen. Überfälle und Hinterhalte allein konnten nie zum Sieg führen. In den zwei Jahrzehnten nach dem Aufenthalt Wallis’ auf der Insel führten jedoch zwei bemerkenswerte Entwicklungen dazu, dass dieses Gleichgewicht ins Wanken geriet. Zunächst wurden die Polynesier von tödlichen Seuchen heimgesucht, die auf aus Europa eingeschleppte Krankheiten zurückgingen. Der Beiname Pōmare, den „König“ Teu für sich und seine Nachfahren annahm, verweist auf ein wesentliches Symptom der Tuberkulose oder (wie man damals sagte) „Schwindsucht“; er bedeutet „Nacht-Huster“. Zweitens warfen die Kapitäne der sporadisch eintreffenden Forschungsschiffe jene uralte Stabilität über den Haufen, die sich der militärischen Schwäche aller verdankte – denn sie verkauften Feuerwaffen. Krieger, die mit Musketen bewaffnet waren, konnten Heldentaten vollbringen, von denen ihre Vorfahren nicht zu träumen gewagt hätten, und Häuptlinge, denen eine derart bewaffnete Leibgarde zu Gebote stand, durften endlich darauf hoffen, ihre benachbarten Amtsbrüder ein für alle Mal zu unterwerfen. Das „Königshaus“ von Otaheiti jedenfalls ließ seine Chance nicht verstreichen. In den 1780er-Jahren brachte „Prinz“ Pōmare, ein Sohn des „Königs“ Teu, ganz Tahiti unter seine Kontrolle, dazu die benachbarten Inseln Moorea, Mehetia und Tetiaroa; er war der Herrscher, der 1788 Kapitän William Bligh (1754–1817) empfing, der Cook auf dessen dritter Reise als Navigator an Bord der Resolution gedient hatte und nun, elf Jahre später, als Befehlshaber seiner eigenen Expedition an Bord der HMS Bounty zurückkehrte. Bligh hatte im Dezember 1787 im südenglischen Spithead die Segel gesetzt, noch bevor La Pérouse Australien erreicht hatte, und umfuhr das Kap der Guten Hoffnung gleichsam im Kielwasser der First Fleet. Eines seiner Ziele war es, Setzlinge des polynesischen Brotfruchtbaumes zu sammeln, um sie nach Westindien zu bringen. Die britischen Plantagenbesitzer auf Jamaika und Barbados waren sehr unzufrieden über die Kosten, die sie zur Ernährung ihrer Sklaven aufbringen mussten, und Cooks Beschreibung der Brotfrucht hatte diese als eine ebenso kostengünstige wie nahrhafte Alternative in Aussicht gestellt. Fünf Monate lang lag die Bounty vor der Küste von Otaheiti vor Anker. Sorgfältig wurden geeignete Brotbaumsetzlinge ausgewählt und in Transportschalen umgepflanzt, die im Achterschiff der Bounty gestapelt wurden. Bligh musste seine Kapitänskajüte räumen und zahlreiche Angehörige seiner Mannschaft gingen Beziehungen 556

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mit einheimischen Frauen ein, unter ihnen der Oberbootsmann Fletcher Christian. Ein Seemann namens Churchill wurde von einem anderen Ma­ trosen getötet, den dann wiederum Churchills einheimische Verwandte – nach dem Prinzip der Blutrache – töteten. Die berühmte Meuterei auf der Bounty brach bald nach Beginn der Rückreise im April 1789 aus. Irgendwo auf dem offenen Meer, es muss in der Nähe von Tonga gewesen sein, brachten die Meuterer das Schiff unter ihre Kontrolle, setzten Bligh und eine Handvoll loyaler Besatzungsmitglieder in einer offenen Schaluppe aus und machten kehrt in Richtung Otaheiti, um ihre Frauen wiederzusehen. Mit diesen stachen sie dann wieder in See – auf Nimmerwiedersehen, ganz wie La Pérouse.30 Auch die Spanier wollten um jeden Preis weiter im Spiel bleiben. Der spanische König Karl  III. hatte sich nachdrücklich für die Wissenschaft starkgemacht. Das spanische Budget für Expeditionen und andere Forschungsvorhaben war im europäischen Vergleich ohne Beispiel, und entsprechend verfügte die Malaspina-Expedition, die 1789–1794 während der Herrschaft Karls IV. in See stach, über größere finanzielle Ressourcen als die Expeditionen von Cook oder La Pérouse. Die beiden Korvetten Alessandro Malaspinas, die Descubierta und die Atrevida, verließen Cádiz am 30.  Juli 1789. Ihre weitausgreifende Fahrtroute ähnelte derjenigen von La Pérouse, war jedoch ganz auf die Suche nach der Nordwestpassage ausgerichtet, wofür sich die Spanier viele Monate lang am Nootka Sound von Vancouver Island aufhielten. Sowohl die Briten als auch die Franzosen brachten zwischenzeitlich Suchexpeditionen auf den Weg, die das Schicksal ihrer jeweils verschwundenen Schiffe aufklären sollten. In den Jahren 1790/91 suchte die HMS Pandora von Südengland aus nach der Bounty. Der Anführer des Suchtrupps, Kapitän Edward Edwards, hatte auch einige Matrosen an Bord, denen zuvor mit Bligh zusammen die Rückkehr nach England gelungen war, nachdem sie ihr offenes Boot über mehr als 6000 Seemeilen bis nach Timor navigiert hatten. Ganz auftragsgemäß kam die Pandora in Papeete an, aber von Blighs Schiff fehlte auch dort jede Spur. Edwards’ Männern sollte es jedoch gelingen, auf der Insel einige der Meuterer ausfindig zu machen und festzunehmen. Diese werden in der Folge an Deck der Pandora festgehalten – in einem Käfig, den die Matrosen bald als die „Büchse der Pandora“ (englisch Pandora’s Box) bezeichnen. Auf der Heimreise sah Edwards von der Salomonen-Insel Vanikoro Rauch aufsteigen, ging dem aber nicht nach, weil er glaubte, dass Meuterer und Deserteure es tunlichst vermeiden ­w ürden, auf diese Weise Aufmerksamkeit zu erregen. Kurz darauf lief die 557

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Pandora am Großen Barriereriff (Great Barrier Reef) auf Grund und sank, wobei zahlreiche Matrosen und Gefangene den Tod fanden.31 Binnen einem Monat nach dem Untergang der Pandora verließ Antoine Bruni d’Entrecasteaux den Hafen von Brest mit zwei Schiffen, die überaus passende Namen trugen: der Recherche („Suche“) und der Espérance („Hoffnung“). Sie sollten gründlich nach La Pérouse suchen und nebenbei auch noch ein wenig auf Erkundungs- und Forschungsfahrt gehen. Obwohl der Expedition auf Van-Diemens-Land (Tasmanien) einige bedeutende Entdeckungen gelangen, endete die Reise tragisch. Kapitän Bruni d’Entrecasteaux starb an Skorbut; seine Mannschaft war bald hoffnungslos zerstritten, wobei sich Royalisten und Revolutionäre unversöhnlich gegenüberstanden; und seine beiden Schiffe wurden schließlich in Batavia den Niederländern überlassen.32 Malaspina ging es wenig besser. Auf der Fortsetzung seiner Reise verbrachte er die Jahre 1792/93 in Australien, bevor er ostwärts den Pazifik durchquerte, ganz so, wie La Pérouse es beabsichtigt hatte. Bei seiner Ankunft in Spanien wurde er allerdings festgenommen  – angeblich aus politischen Gründen – und seine Reiseaufzeichnungen wurden beschlagnahmt, was ihre Veröffentlichung zu seinen Lebzeiten verhinderte. Zwar war ihm die bislang genaueste Vermessung des Pazifikraums gelungen, aber für die Generation seiner unmittelbaren Zeitgenossen waren seine Erkenntnisse verloren. Während der Napoleonischen Kriege kam die Forschungs- und Expeditionstätigkeit der europäischen Mächte weitgehend zum Erliegen, aber einige, darunter der Engländer Matthew Flinders (1774–1814) setzten doch die Anstrengungen früherer Entdecker fort. Flinders unternahm ab 1791 drei Reisen, auf denen er durch die Umsegelung von „Neuholland“, „Neusüdwales“ und „Van-Diemens-Land“ endlich bestätigen konnte, dass diese alle zu einem gemeinsamen, in sich jedoch selbstständigen Kontinent gehörten. Während einer sechsjährigen Gefangenschaft auf der französischen Île de France (Mauritius) verfasste er auf der Grundlage seiner Aufzeichnungen einen durchdachten Reisebericht, in dem auch zum ersten Mal vorgeschlagen wurde, den alten Begriff Terra Australis zur Bezeichnung des gerade neu definierten Kontinents zu verwenden. Jetzt erst war das moderne Konzept „Australien“ tatsächlich geboren.33 Im Jahr 1820 sichteten bei 74 Grad südlicher Breite nicht eine, nicht zwei, sondern gleich drei Expeditionen Land – oder jedenfalls etwas, das so aussah wie Land. Keiner konnte sich ganz sicher sein, ob die Eisfläche, die sie dort entdeckt hatten, auf dem Land oder auf dem Wasser lag. Und viele 558

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hegten noch immer die Vermutung, der Südpol könnte – wie der Nordpol ja auch – unter einem gefrorenen Ozean verborgen liegen. Erst nach mehreren Jahrzehnten klärte sich das doppelte Mysterium der in den 1780er-Jahren verschwundenen Schiffe, unabhängig voneinander und ganz durch Zufall. Am 6. Februar 1808 stieß die Topaz, ein amerikanisches Walfangschiff mit dem Heimathafen Boston und einem Kapitän namens Mayhew Folger, auf die Insel Pitcairn, ein isoliert im Südpazifik liegendes Eiland, das die Royal Navy zwar 1767 erstmals entdeckt, dann jedoch wieder „verloren“ hatte. (Cook hatte auf seiner zweiten Reise vergeblich versucht, die Insel wiederzufinden.) Kapitän Folger blieb zwar nur zehn Stunden an Land, bekam während dieser Zeit jedoch eine wahrhaft erstaunliche Geschichte zu hören. Wie so oft bei solchen Gelegenheiten, war ihm bei seiner Ankunft eine Schar einheimischer Kanus entgegen­ gekommen, um ihn willkommen zu heißen. Die Unterhaltung, die dann folgte, war jedoch alles andere als gewöhnlich: Ein Doppelkanu nach Art der auf Otaheite gefertigten kam ihm entgegen, dessen Insassen, ein paar junge Männer, ihn auf Englisch anriefen. Er grüßte zurück und teilte ihnen mit, dass er ein Amerikaner aus Boston sei. „Du bist ein Amerikaner?“, fragten sie ungläubig nach. „Wo ist Amerika? In Irland?“34

Die Burschen hatten braune Haut und sprachen gut Englisch, aber ihre geografischen Kenntnisse waren mangelhaft: Kapitän Folger fragte nach … „Wer seid ihr?“ – „Wir sind Engländer.“ – „Wo seid ihr geboren?“ – „Auf der Insel dort drüben.“ – „Wie kann es dann sein, dass ihr Engländer seid?“ – „Wir sind Engländer, weil unser Vater Engländer ist.“ – „Wer ist euer Vater?“ – „Aleck“ – „Wer ist Aleck?“ – „Du kennst Aleck nicht?“ – „Woher soll ich Aleck kennen?“ – „Nun, hast du vielleicht Kapitän Bligh von der Bounty gekannt?“ …35

Achtzehn Jahre nach der Meuterei auf der Bounty war Kapitän Folger auf die Teenager-Söhne des letzten überlebenden Meuterers gestoßen. Ihr Vater war John Adams (1767–1829), der inzwischen das Pseudonym „Alexander Smith“ verwendete. „Aleck“ hieß seinen Besucher willkommen, rief laut Olde England forever („Alt-England, es soll leben!“), beeindruckte Folger mit seiner tiefen Frömmigkeit und vertraute ihm das Chronometer der Bounty an. Das Schiff selbst war nach seiner Strandung vor Pitcairn von 559

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einem der Meuterer in Brand gesteckt worden; Fletcher Christian war tot und alle seine Gefährten ebenfalls. Sie hatten sich entweder gegenseitig umgebracht oder waren von ihren tahitianischen „Ehefrauen“ ermordet worden. Aleck allein war übriggeblieben und herrschte nun über die Insel als Patriarch eines polynesischen Harems.36 Fast zwanzig Jahre später wurden einem von Martinique stammenden Südseehändler namens Peter Dillon bei einem Halt auf der mitten im Korallenmeer gelegenen Insel Tokapia einige alte Marinesäbel französischer Herkunft zum Kauf angeboten. Als er nach der Herkunft der Waffen fragte, erfuhr er, dass gegen Ende des vorangegangenen Jahrhunderts vor der Nachbarinsel Vanikoro zwei Schiffe havariert waren. Bei einem erneuten Besuch im Jahr 1827 entdeckte Dillon noch Kanonenkugeln, Ketten und Anker, die von La Pérouses Schiffen, der Astrolabe und der Boussole, stammten. Wie sich herausstellte, hatte eine Gruppe von Seeleuten den Schiffbruch überlebt und noch eine Weile auf der Insel gelebt, darunter auch ein „Häuptling“, bei dem es sich womöglich um La Pérouse selbst gehandelt hatte. Mit ziemlicher Sicherheit stammten jedoch die Rauch­ signale, die vom Kapitän der Pandora 1791 ignoriert worden waren, von La Pérouses Leuten.37 Ebenfalls in der nachnapoleonischen Epoche spielte der Franzose Jules Dumont d’Urville (1790–1842), gewissermaßen als La Pérouses rechtmäßiger Erbe, eine entscheidende Rolle bei der praktischen wie theoretischen Verbesserung des geografischen Wissens. Zwei große Reisen unternahm er selbst, eine 1826–1829, die andere 1837–1840. Während der ersten Fahrt gelangen ihm entscheidende Verbesserungen in der Kartografie Neuseelands – und er barg das Wrack von La Pérouses Astrolabe. Während der zweiten suchte er, an Bord der Astrolabe II, nach dem magnetischen Südpol.38 Schon bevor d’Urville zu seiner ersten Reise aufgebrochen war, hatten sich französische Geografen an dem schwierigen Problem weltweiter Einteilungs- und Benennungsfragen abgearbeitet: Wie sollte man die Gegenden des Globus sinnvoll einteilen? Und wie sollten diese Teile dann heißen? Dem Pazifik kam in diesem Zusammenhang eine große Bedeutung zu. So brachte beispielsweise der französisch-dänische Geograf Conrad MalteBrun (1775–1826) in seiner überaus einflussreichen, sechsbändigen Géographie mathématique, physique et politique als Erster das Konzept „Ozeanien“ ins Spiel.39 Anfangs bezeichnete man so noch das gesamte Gebiet zwischen dem asiatischen Festland und den beiden Amerikas. Heute sind gleich mehrere verschiedene Definitionen von „Ozeanien“ im Umlauf. 560

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Nach seiner Rückkehr nach Frankreich machte d’Urville sich daran, die Unterteilung von Ozeanien in verschiedene Teilbereiche genauer zu definieren. Dazu vereinfachte er die Ergebnisse vorangegangener Studien und legte dann eine durchdachte, dreigliedrige Einteilung vor, die letztlich aber auf einer Vielzahl von kulturellen und sprachlichen Kriterien beruhte. In einem Vortrag vor Mitgliedern der Pariser Société de Géography stellte er drei Begriffe vor, die heute allgemein verwendet werden: „Mikronesien“, „Melanesien“ und ein revidiertes „Polynesien“. Mikronesien, wie d’Urville es definiert hat, ist eine Region voller „kleiner Inseln“ – wie der Name besagt –, die von den benachbarten größeren Inseln Borneo, Neuguinea, Sulawesi und den Philippinen getrennt sind. Mikronesien bildet einen länglichen Block im südwestlichen Pazifik, der vier große Archipele umfasst: die Karolinen, die Gilbertinseln, die Marianen und die Marshallinseln, dazu kommen noch Nauru und das WakeAtoll. Lange Zeit wurde Mikronesien von einer Konstellation von Territorien unter spanischer Kolonialherrschaft dominiert, die sich um Guam gruppierten und – zusammen mit den Philippinen – als „Spanisch-Ostindien“ bezeichnet wurden. Die meisten Mikronesier sprechen eine Sprache aus der ozeanischen Untergruppe der austronesischen Sprachen, wobei jedoch Chamorro (die Sprache von Guam) und Kapingamarangi (die Sprache des gleichnamigen Atolls) als polynesische „Ausreißer“ in ihrem unmittelbaren linguistischen Umfeld gelten. Melanesien – wörtlich „schwarze Inseln“ – erhielt seinen Namen wegen seiner dunkelhäutigen Bevölkerung, die französische Forscher mélaniens getauft hatten. Es ist ungefähr so groß wie Mikronesien und umfasst einen weit gespannten Bogen von Archipelen nördlich von Neuguinea (oft ist auch Neuguinea selbst dazugezählt worden). Nach heutiger Auffassung gehören zu Melanesien die Fidschi-Inseln, die Salomonen, Vanuatu, Neukaledonien und Neuguinea. Die Bewohner jener Inseln sprechen eine verblüffende Vielzahl von Sprachen: 1319 erfasste, um genau zu sein. Diese bilden gemeinsam den melanesischen Zweig der austronesischen Sprachfamilie und verschaffen der Region die höchste Dichte an sprachlicher Diversität weltweit. Polynesien stellt also – nach der Definition d’Urvilles und im Gegensatz zu der von de Brosses – die dritte und größte Untereinheit Ozeaniens dar. Es bildet ein riesiges Dreieck, dessen nördliche Spitze auf Hawaii liegt und dessen Unterseite von Neuseeland bis zur Osterinsel (Rapa Nui) verläuft. Im zentralen Gürtel dieses Dreiecks liegen Tuvalu, Tokelau, Wallis und Futuna, Samoa, Tonga und Französisch-Polynesien. Seine Gesamtfläche 561

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Hawa

Zentralpazifik Nördliche Marianeninseln

F Ö D E R I E RT E STA AT E N VO N M I K RO N E S I E N Palau

Mik ron es ie n

Marshallinseln

K I R I BAT I

(Gilbertinseln)

PA P U NEUGUINEA TIMOR

Phönixins

T U VA LU

S A LO M O N E N

Melanesien Korallenmeer

SAMOA

VA N UAT U FIDSCHI

TO N G A

N

Neukaledonien

AUSTRALIEN Kermadecinseln

Tasmansee

Südp Tasmanien

562

NEUSEELAND

Chatham I.

Auf der Jagd nach dem Paradies

aii Inseln

M E X I KO

Oahu Hawaii

Pazifischer Ozean

Weihnachtsinseln

N

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Tahiti

S

TuamotuArchipel

n

s Amerik. Samoa Cookinseln Niue

Marquesas I.

Mangareva

Australinseln

Pitcairn

Osterinsel

Rapa

azifischer Ozean 0

500 1000 1500 km

563

10. Otaheiti

von fast 26 Millionen Quadratkilometern entspricht der anderthalbfachen Fläche Russlands, wobei natürlich das Verhältnis von Land zu Wasser extrem niedrig ausfällt: Nur 0,58 Prozent der Gesamtfläche Polynesiens sind festes Land, und 91 Prozent dieses ohnehin geringen Anteils entfallen auf Neuseeland; entsprechend machen die vielen kleinen Inseln gerade einmal 0,05  Prozent der Gesamtfläche Polynesiens aus. Alle diese Inseln (einschließlich der Inseln Neuseelands) sind durch erodierende Vulkankegel und / oder Korallenriffe entstanden. Interessanterweise ließ d’Urville bei seiner Neueinteilung des pazifischen Raums weite Teile der Region unberücksichtigt. Die höheren Breiten des Nordpazifik etwa, zwischen Japan und Nordamerika oder zwischen Polynesien und Südamerika, haben bis heute keinen eigenen Namen. Einzelne Inseln oder Inselgruppen, die es auch in diesen endlosen Weiten durchaus gibt – etwa die Clipperton-Insel (früher Île de la Passion) oder die Galapagosinseln –, gelten als „isolierte“ Einzelstücke. D’Urvilles zweite Reise in den Jahren 1837–1840 beschloss, zusammen mit den ungefähr gleichzeitig stattfindenden Expeditionen des Amerikaners Charles Wilkes und des Briten James Ross, das große Zeitalter der Entdeckungen in der Seefahrt. Nachdem er vom tasmanischen Hobart aus nach Süden gesegelt war, sah D’Urville sich zunächst zur Umkehr gezwungen. Aber nachdem er im Januar 1840 – mitten im Sommer – ein zweites Mal die Segel in Richtung Süden gesetzt hatte, gelang ihm drei Wochen später die Landung an einer eisbedeckten Küste, die er nach dem Namen seiner Frau Terre Adélie (Adélieland) taufte und sogleich zum Bestandteil eines weiteren, bislang unentdeckten Kontinents erklärte. Wilkes und Ross bestätigten wenig später diese Entdeckung. Sie benannten den neuen Kontinent allerdings als Terra Antarctica – das heißt als ein Land, das der Arktis polar entgegengesetzt ist („Anti-Arktis“).40 So schlossen sie die moderne Grenzziehung zwischen den sieben Kontinenten der Erde ab und belegten zugleich, dass der Atlantik und der Pazifik im Bereich des Südpols nicht ineinanderlaufen. Die Zahl der europäischen Mächte, die in neuerer Zeit über eine genügend starke Flotte verfügten, um den mittleren Pazifik zu erreichen, lässt sich an einer Hand abzählen. Nachdem die Spanier, Portugiesen und Niederländer sich aus der Region zurückgezogen hatten, war da zunächst niemand mehr, der Franzosen und Briten ihre Ansprüche hätte streitig machen können. Amerikaner und Deutsche begannen ihr Engagement im Pazifik erst zu einer Zeit, als die Epoche der europäischen Expansion mit ihren Entdeckungs­ 564

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fahrten und Kolonien schon beinahe zu Ende ging. Überhaupt zeigten die Europäer jedoch jahrzehntelang nur geringes Interesse daran, im Pazifik tatsächlich auch politische Kontrolle auszuüben. Die Inseln brachten kaum wertvolle Rohstoffe oder Erzeugnisse hervor und lagen zudem fern der üblichen Handelswege; große Landflächen, die sich zur Besiedelung durch Kolonisten angeboten hätten, gab es ebenso wenig. Folglich hatte es keine der großen Mächte eilig, Ozeanien unter ihre Kontrolle zu bringen. Dieses Desinteresse öffnete den Interessen der Missionare Tür und Tor. Wie wir bereits gesehen haben, sind die tapferen Streiter der ecclesia militans immer wieder Seite an Seite mit den Soldaten, Händlern und Siedlern des Imperialismus marschiert. Die Bekehrung eingeborener Völker zum Christentum sah man in Europa als ein gleichsam natürliches Gut an, und die Rolle, die katholische Ordensleute in den spanischen, portugiesischen und französischen Kolonialgebieten gespielt haben, war über Jahrhunderte nicht gerade klein. In den protestantischen Ländern Europas war der missionarische Eifer kaum weniger stark ausgeprägt, aber die religiöse Autorität war stärker fragmentiert. Staatskirchen wie die anglikanische Kirche in England oder die Niederländische Reformierte Kirche legten eher selten Wert darauf, die Seelen von Fremden, noch dazu von „Wilden“, zu retten. Die Initiative in diesem Bereich lag fast ausschließlich bei nonkonformistischen oder freikirchlichen Gemeinschaften. In Großbritannien war bereits 1701 eine Society for the Propagation of the Gospel in Foreign Parts (SPG) gegründet worden, eine „Gesellschaft zur Verbreitung des Evangeliums im Auslande“ also. Insbesondere sollte zunächst „die Bekehrung der Heiden und Ungläubigen“ in den amerikanischen Kolonien vorangetrieben werden. Nach der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten vom Mutterland musste man sich bei der SPG jedoch nach neuen Tätigkeitsgebieten umsehen. Die London Missionary Society (LMS) wiederum war 1795 von einer gemischten Gruppe aus Anglikanern und Nonkonformisten gegründet worden, die ihren Teil zur „Evangelisierung des Auslands“ beitragen wollten; auch die British and Foreign Bible Society, gegründet 1804, war nicht konfessionell gebunden, sondern ökumenisch. All diesen Gesellschaften lag Polynesien ganz besonders am Herzen; noch dazu sollten sie – quasi als Dreingabe zu ihrer missionarischen Tätigkeit – eine führende Rolle bei der Etablierung monarchischer Herrschaftsstrukturen auf den dortigen Inseln spielen. Ende des 18.  Jahrhunderts glaubte man, nicht zuletzt aufgrund der Berichte und romantisierenden Beschreibungen von Entdeckern wie etwa Bougainville, die „edlen Wilden“ Polynesiens seien für das Wort Gottes ganz besonders empfänglich. Christliche Missionare drängten deshalb in 565

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Scharen in die Südsee und ließen sich in ihrem Eifer auch von einem Mangel an Unterstützung durch ihre Regierungen nicht entmutigen. Zwei Expeditionen im Besonderen hatten weitreichende Folgen. 1796 entsandte die LMS eine Mission nach Otaheiti in der Hoffnung, dort eine permanente Niederlassung einrichten zu können. Und im Jahr 1801 landete ein französischer Kapitän namens Marquand auf einer der Marquesas-Inseln, gut 1400 Kilometer nordöstlich von Tahiti, benannte den gesamten Archipel in „Les Marquises“ um und beanspruchte ihn für Frankreich. Nach einer ganzen Reihe von lebensbedrohlichen Zwischenfällen gelang es der Mission der LMS schließlich, Wurzeln zu schlagen. Das winzige Schiff der Missionare, die Duff, ging am 5. März 1797 mit achtzehn Mann Besatzung und dreißig Missionaren an Bord auf Tahiti vor Anker. Sein Kapitän, der diese Mission gewissermaßen „ehrenamtlich“ übernommen hatte, kehrte, nachdem seine Passagiere an Land gegangen waren, gleich nach Europa zurück, um dort noch eine zweite Ladung abzuholen. Tragischerweise wurde das Schiff jedoch unterwegs von Piraten aufgebracht, und so bekam die noch kaum etablierte Mission niemals den erhofften Nachschub. Und was noch viel schlimmer war: Nur wenige der Einheimischen erwiesen sich als „edle Wilde“: Die Tahitianer mordeten schon bei der leisesten Provokation. … Kriege und Geschlechtskrankheiten dezimierten die einheimische Bevölkerung. [Krieger] trugen die Haut ihrer getöteten Feinde als Trophäe. Wurde ein Tempel gebaut, so trieb man die Eckpfosten, auf denen das Dach ruhte, durch noch lebende Menschenopfer hindurch. Die Tahitianer brachten den Vulkangöttern, Wassergöttern und den Haien Kinder zum Opfer dar. Die Alten und Schwachen wurden lebendig begraben. Kein Mädchen von über zwölf Jahren war noch Jungfrau. Allein König Pōmare I. soll schätzungsweise bis zu 2000 Männer getötet haben.41

Mehrere Missionare starben, wurden getötet oder suchten das Weite. Nur eine Handvoll harrte weiter aus. Ihr tapferer und beherzter Anführer war ein vormaliger Maurer aus Bristol namens Henry Nott (1774–1844), der ein Höchstmaß an missionarischem Mumm unter Beweis stellte. Selbst nach dem Verlust seiner Ehefrau, die er gerade frisch geheiratet hatte, führte Nott seine Schäfchen durch manche Mühen, freundete sich mit dem Prinzen Pōmare an und machte diesen – nach 22 anstrengenden Jahren – zu seinem ersten Konvertiten. Nott pflanzte den Samen, der die Inseln Polynesiens auf immer verändern sollte:42 566

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Dreißig Personen [wurden] von dem Missionarsschiff Duff hergebracht. Obwohl sie die Gunst Pōmares I. gewinnen konnten (der 1803 starb), [litten] sie doch unter den ständigen Kriegen und flohen schließlich zusammen mit Pōmare [II.] nach Eimeo und dann weiter nach New South Wales. Erst 1812, nachdem Pōmare [II.] sich zum Christentum bekannt hatte, kehrten sie zurück.43

Fortan waren das Schicksal der prosperierenden Mission und das der im Entstehen begriffenen Monarchie von Tahiti eng und unauflöslich miteinander verwoben. Beide riefen die Feindseligkeit der tahitianischen Traditionalisten hervor, die sich niemandem unterwerfen wollten  – weder dem Christentum noch einem Monarchen. Und doch waren die Missionare Pazifisten; sie hatten Anweisungen, sich mit den Einheimischen anzufreunden und durch eine redliche, pragmatische Lebensführung ihr Vertrauen zu gewinnen. Während sie sich also mit Landwirtschaft, Gewerbefleiß und Bildungswesen beschäftigten, war es der neue König, Pōmare II. (reg. 1805–1824), der den Widerständlern gewaltsam entgegentrat. Nach zwei großen Schlachten – eine 1808 bei Te Feipi, die andere bei Feii im November 1815 – ging er als Sieger aus dem Konflikt hervor. Entgegen der herrschenden Tradition ließ er sich jedoch von den Missionaren dazu bewegen, die Besiegten zu begnadigen. Dieses zeitgemäße Handeln ermöglichte eine stabile Versöhnung der verfeindeten Parteien. Jetzt bestand die Möglichkeit, die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Angelegenheiten Tahitis neu zu ordnen. Unter Notts Anleitung verkündete Pōmare II. eine Verfassung für sein Reich, die das Recht auf Leben und Eigentum garantierte, ein Rechtssystem initiierte sowie die Ehe und den Sabbat heiligte. Am 16. Mai 1819 wurde Pōmare in der königlichen Kapelle von Papeete in aller Form getauft; im Verlauf des Taufgottesdienstes predigten gleich drei Missionare der LMS, Henry Bicknell, William Henry und Charles Wilson. Danach begannen die Missionare einen regelrechten Bildungsfeldzug, um den Polynesiern das Lesen beizubringen, sie an europäische Kleidung zu gewöhnen und ihnen grundlegende medizinische Kenntnisse zu vermitteln. Ferner erklärten sie ihnen den Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem Aufschwung und naturwissenschaftlicher Forschung. Binnen weniger Jahre hatten sie eine Zuckerraffinerie, eine Textilmanufaktur und eine Druckerei eröffnet. „Eine Zeitlang machten sie gute Fortschritte  …; aber dann kam der Rückfall in heidnische Praktiken und Sittenlosigkeit.“44 Das Christentum und seine Vertreter traten in Tahiti ganz sicher als Sach567

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walter der Moderne auf; doch der Glaube an die „überlegene Magie“ der neuen Religion kam schon bald ins Taumeln. Und auch die Pōmare-Dynastie taumelte. Während der folgenden sechzig Jahre wurde ihre Autorität zwar von den rivalisierenden Stämmen nicht mehr angefochten, aber das Königshaus wurde vom Unglück geradezu verfolgt und geriet überdies rasch mit den Interessen der europäischen Mächte aneinander. Pōmare II. starb 1824, wie vor ihm schon sein Vater, an den Nachwirkungen eines übermäßigen Alkoholkonsums; sein kleiner Enkel Pōmare III. (reg. 1824–1827) wurde gerade einmal sieben Jahre alt. Die ganze Bürde und alle Probleme der Dynastie gingen daher auf eine Halbschwester Pōmares III. über, die Aimata hieß und sich als eine temperamentvolle und – vor allem – kerngesunde junge Frau entpuppte. Ihr Name, von dem die Europäer fälschlicherweise annahmen, er bedeute so viel wie „Liebling“, lässt sich besser mit „Augapfel-Esserin“ übersetzen; er verweist auf einen alten Brauch, nach dem die tahitianischen Häuptlinge sich an den Augäpfeln – und noch vielen anderen Teilen – ihrer besiegten Feinde gütlich taten. Als Königin gab Aimata sich den Namen Pōmare  IV. und gefiel sich in der Rolle einer Matriarchin ihres Volkes – eine Königin Victoria der Südsee.* Entsprechend führte sie auf Tahiti den ganzen Prunk einer Monarchie nach europäischem Muster ein  – mit einem Königspalast in Papeete, einem Friedhof samt Mausoleum für die verstorbenen Angehörigen ihrer Dynastie in Arue, einem Wappen, einer Nationalflagge und nicht einer, sondern besser gleich zwei Krönungszeremonien. Nichtsdestoweniger sah sich die Königin während ihrer fünfzigjährigen Herrschaft immer wieder mit Krisen konfrontiert. „Im Jahr 1828 kam eine neue Sekte namens ‚Mamaia‘ auf, deren Führer von sich behauptete, er sei der zurückgekehrte Jesus Christus, und seinen Anhängern alle Wonnen des Paradieses schon hier auf Erden versprach.“45 1829 lud die Königin die Bewohner von Pitcairn – Nachfahren der Meuterer von der Bounty – ein, nach Tahiti zurückzukehren. Als sie der Einladung jedoch nachkamen, begannen sogleich Krankheiten unter ihnen zu wüten; die Pitcairner starben wie die Fliegen, und die Überlebenden flehten darum, wieder zurückgeschickt zu werden. Im November 1835 gewährte die Königin dem Kapitän und der Mannschaft eines gerade eingetroffenen Schiffs namens HMS * Tatsächlich ist die Bedeutung ihres ursprünglichen Namens in gewisser Hinsicht gar nicht so weit von der Bedeutung des Namens „Victoria“ entfernt: „die Siegreiche“ (Anm.  d. Übers. T. G.).

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Beagle die Gunst ihres Besuchs. Ein Mitglied der Gruppe, Charles Darwin, brütete gerade über seiner neuartigen Theorie der Evolution. Darwins Blick auf Tahiti hat eine deutlich rosarote Färbung: Bei Tagesanbruch war Tahiti in Sicht, eine Insel, die dem Reisenden in der Südsee auf immer klassisch erscheinen muss. … Die üppige Vegetation der unteren Region war noch nicht zu sehen, [aber] als die Wolken fortzogen, zeigten sich zur Inselmitte hin die wildesten und steilsten Gipfel. Kaum ankerten wir in der Matavaibucht, waren wir von Kanus umringt. Für uns war es Sonntag, auf Tahiti jedoch Montag: Wäre es umgekehrt gewesen, wäre kein einziger Besucher gekommen, denn das Verbot, am Sabbat ein Kanu zu Wasser zu bringen, wird streng befolgt. Nach dem Mahl fuhren wir an Land und genossen all die Freuden [des reizenden Tahiti]. Eine Menge aus Männern, Frauen und Kindern hatte sich … eingefunden, um uns mit lachenden, fröhlichen Gesichtern zu empfangen. Sie geleiteten uns zum Hause Mr. Wilsons, des Missionars dieses Bezirks, der uns schon auf der Straße einen sehr freundlichen Empfang bereitete.46

Und doch breitete sich zwischen den katholischen und den protestantischen Missionen im Pazifik mit der Zeit eine gewisse Feindseligkeit aus; in die daraus erwachsenden Konflikte wurden die europäischen Mächte wohl oder übel mit hineingezogen. Auf Hawaii etwa kam es zu Repressalien gegen Katholiken – auf Befehl eines Herrschers, dessen Ratgeber amerikanische Protestanten waren. Und im Jahr 1841 erhielt der französische Admiral Abel Dupetit-Thouars, seines Zeichens Kommandant der französischen Pazifikflotte, den Befehl, zu den Marquesas-Inseln zu segeln, um deren winzige katholische Mission zu beschützen. Sein Handeln wiederum veranlasste eine offizielle Protestnote des britischen Missionars – und amtierenden Konsuls von Großbritannien auf Tahiti – George Pritchard. Dieser, ein notorischer Katholikenhasser, amtierte überdies auch als der persönliche Berater von Königin Pōmare. Schon vorher hatte er zwei französische Priester ausweisen lassen, die als ungebetene Gäste nach Tahiti gekommen waren, und hatte den britischen Außenminister Lord Palmerston inständig gebeten, ein britisches Protektorat über Tahiti zu errichten – aber es war zu spät: Im November 1843 lief ein französisches Kriegsschiff, die Reine Blanche, in den Hafen von Papeete ein. Über das Fallreep schritt Admiral Dupetit-Thouars, der eine Audienz mit der Königin verlangte und mit einigen knappen Worten verkündete, ihr Reich sei nun in ein französisches 569

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Protektorat umgewandelt worden. Der geschäftsführende britische Konsul wurde bald darauf unter Arrest gestellt und des Landes verwiesen. Aus späteren Aufzeichnungen geht hervor, wie riskant diese ganze ­Episode gewesen war. Glaubt man dem Bericht von Prichards Neffen, war Admiral Dupetit Thouars in den Palast gestürmt, als die Königin gerade dabei war, ein Kind zur Welt zu bringen, und hatte ihr das folgende Ultimatum gestellt: „Unterzeichnen Sie dieses Papier oder zahlen Sie binnen 24 Stunden 10 000 Dollar …, [sonst] lasse ich Papeete ohne weitere Ankündigung unter Beschuss nehmen.“47 Durch einen kuriosen Zufall war das Flaggschiff des Admirals gemeinsam mit einem amerikanischen Walfänger in den Hafen eingelaufen, der Lucy Ann, zu deren Mannschaft kein Geringerer als Herman Melville gehörte, der spätere Autor von Moby Dick. Wie Melvilles Biografen berichten, litt der Kapitän der Lucy Ann so sehr unter einer Geschlechtskrankheit, dass er Papeete angelaufen hatte, weil er hoffte, dort medizinische Hilfe zu erhalten. Nachdem er an Land gegangen war, trat seine Mannschaft in den Streik und der französische Admiral entsandte einen Trupp Marinesoldaten, um die Meuterer festzunehmen und die Ordnung auf der Lucy Ann wiederherzustellen.48 Der „Tahitianische Unabhängigkeitskrieg“, der nun folgte, hätte leicht zu einer gewaltsamen Konfrontation zwischen Großbritannien und Frankreich am anderen Ende der Welt führen können. Die Beziehungen zwischen den beiden Mächten waren bereits auf einem Tiefpunkt angelangt, und dem hitzköpfigen Lord Palmerston wäre es durchaus zuzutrauen gewesen, dass er die unsanfte Behandlung eines britischen Konsuls als Kriegsgrund auffasste. Stammesführer, die Königin Pōmare feindlich gesinnt waren, erhielten französische Unterstützung, woraufhin die Königin gezwungen war, ins Exil zu gehen. Glücklicherweise stand Lord Aberdeen, der in London das Ruder übernahm, mit dem neuen französischen Außenminister (und nachmaligen Premier) François Guizot auf gutem Fuß und erhob daher keinen Einspruch gegen Pōmares Annäherung an die Franzosen; er bestand lediglich darauf, dass Tahiti zu einem (wenigstens nominell) unabhängigen Königreich erklärt werde. In der Korrespondenz zwischen Aberdeen und Guizot zu dieser Frage taucht übrigens zum ersten Mal die Formulierung entente cordiale auf. Obwohl also das Königreich Tahiti und seine Monarchie überlebten, nahm die französische Kolonialverwaltung die Dinge nun fest in den Griff  – und zwar in allen Details. Die französische Marine überwachte fortan den Zugang zum Polynesischen Dreieck. Eine Garnison französi570

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scher Soldaten wurde auf der Insel stationiert. Französische Ordensleute kamen, um eine katholische Gemeinde aufzubauen, deren rasches Wachstum die protestantische Vorherrschaft schon bald infrage stellte. Auch wurde die französische Variante des Namens Otaheiti – Tahiti – zum neuen Standard. Königin Pōmare  IV. starb 1877 eines natürlichen Todes; sie hinterließ zahlreiche Kinder. Ihr Sohn und Erbe Teri’i Tari’a Te-ra-tane, folgte ihr am 17. September auf den Thron nach und wurde – selbstredend als Pōmare V. – zum neuen König von Tahiti gekrönt. Dieser neue (und auch letzte) König hatte gerade erst seine zweite Frau Joanna Marau Salmon geheiratet, die sich die relative Schwäche ihres Ehemannes zunutze machte, um den Königshof nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen. Alle wesentlichen Hebel der Macht blieben jedoch fest in französischer Hand. Nach gerade einmal drei Jahren machten die französischen Behörden dem Marionettenspiel ein Ende. Am 29. Juni 1880 legten sie dem König ein Ultimatum vor; der unterschrieb und verzichtete damit auf die (ohnehin nur nominelle) Souveränität seines Königreiches – im Gegenzug für seine Aufnahme in die französische Ehrenlegion und eine hübsche Rente. Dann folgte er dem alten Brauch seiner Ahnen und soff sich langsam, aber sicher zu Tode. 1891 war es dann so weit. Sein Mausoleum, ein pagodenartiger Pyramidenstumpf aus schwarzem Bruchstein, steht auf dem Friedhof von Arue. Das königliche Geschlecht der „Nacht-Huster“ hatte seinen letzten Atemzug getan. Bedenkt man die hehren missionarischen Ideale, die dem tahitianischen Königtum einst erst auf den Thron verholfen hatten, so kann man das unrühmliche Ende der Dynastie nur als eine herbe Enttäuschung empfinden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schritt die formelle Annexion der pazifischen Inseln durch die großen Seemächte stetig, aber in aller Stille voran. 1853 richteten die Franzosen im melanesischen Neukaledonien eine Strafkolonie ein; nach dem Tod des letzten Königs stuften sie Tahiti zu einer bloßen Kolonie herab. In Paris machten sich die Kolonialbeamten der Dritten Republik daran, dem französischen Expansionsdrang eine politische Form zu geben. Neben Tahiti mussten sie dabei auch noch andere Inselgruppen wie etwa die Marquesas- und die Gambierinseln sowie den Tuamotu-Archipel berücksich­ tigen. Bereits 1885 waren ein Gouverneur und ein Verwaltungskomitee ernannt worden, wodurch ein kolonialer Verwaltungsrahmen mit typisch französischem, stark zentralisierendem Charakter an die Stelle des maroden Institutionengefüges im Reich der Pōmare-Herrscher trat. Für das 571

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neue Territorium führte man die Bezeichnung Établissements de l’Océanie („Siedlungsgebiet Ozeanien“) ein, die 1903 in Établissements Français de l’Océanie abgeändert wurde und einen integrierenden Teil von la France d’Outre-Mer („Übersee-Frankreich“) bildete. Der neue Name fand Verwendung, bis er 1958 durch Polynésie Française (Französisch-Polynesien) abgelöst wurde. Die Briten dagegen waren mit ihren Standbeinen in Australien und Neuseeland vollauf zufrieden  – was sie freilich nicht davon abhielt, 1877 die Fidschi-Inseln und Tokelau zu annektieren, 1892 Tuvalu, im Jahr darauf die Salomonen und die Cookinseln und 1916 schließlich die Gilbert- und Elliceinseln. Das Deutsche Reich, das auf Neuguinea schon seit Langem wirtschaftliche Interessen verfolgte, annektierte die Insel schließlich 1884 als Kolonie. Außerdem kauften die Deutschen 1889 die Karolinen und die Marianen von den Spaniern, und erhielten 1899 Samoa im Tausch gegen die nördlichen Salomonen, die sie an die Briten abtraten. Die Amerikaner, die sich in diesem Wettlauf nicht überflügeln lassen wollten, zwangen Schritt für Schritt Hawaii in die Unterwerfung. Die Hawaiianer, von Seuchen dezimiert und – wie Tahiti auch – unter der Knute einer einheimischen, aber entkräfteten Herrscherdynastie stehend, waren absolut nicht in der Lage, dagegen auch nur den geringsten Widerstand zu leisten. Hilflos mussten sie mitansehen, wie die „Republik Hawaii“, ein amerikanischer Marionettenstaat, im Jahr 1898 in die Vereinigten Staaten integriert wurde, zunächst als ein „Territorium“. Nach ihrem Sieg im Spanisch-Amerikanischen Krieg brachten die USA im selben Jahr auch die Philippinen und Guam unter ihre Kontrolle. Im Samoa-Vertrag von 1899/1900 teilten Großbritannien, das Deutsche Reich und die Vereinigten Staaten die Inseln des Samoa-Archipels unter sich auf. Als ein absoluter Einzelfall blieb Tonga – als einzige Pazifikinsel – von den Begehrlichkeiten der europäischen Imperialisten verschont. Den Tongaern gelang es, einen „Freundschaftsvertrag“ mit den Briten auszuhandeln, anstatt deren „Protektion“ anzunehmen. So blieb das winzige polynesische Königreich souverän, seine Regierung blieb in einheimischer Hand, und ab 1900 residierte in Tonga nicht etwa ein britischer Kolonialgouverneur, sondern bloß ein britischer Konsul. Die tongaische Königin Sālote Tupou III. (1900–1965) war mit ihrer Körpergröße von 1,91 Metern ein kaum zu übersehender Stargast bei der Krönung Elisabeths II. im Jahr 1953. Wann immer ich auf die ausgehende Kolonialzeit zu sprechen komme, fällt mir unweigerlich Onkel Normans Briefmarkenalbum ein. Auf den ersten 572

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Blick scheint es kaum möglich, dass darin tatsächlich Stücke aus Polynesien enthalten sein könnten. Aber dann fällt mir bei einer genaueren Inspektion der Abteilung mit den französischen Kolonialmarken doch tatsächlich eine kleine, arg ramponierte und fleckige Marke ins Auge, eingequetscht zwischen Bildmarken aus Guadeloupe und Martinique. Ihrem erbarmungswürdigen Zustand zum Trotz lässt sie sich einwandfrei identifizieren: Es handelt sich um ein Exemplar der „Ein-Cent schwarz auf blau“ aus der klassischen französischen Dauerserie Paix et Commerce mit den Allegorien von Frieden und Handel darauf, deren Marken ab 1876 ausgegeben wurden und in allen französischen Kolonien in Umlauf waren. Von einem Aufdruck in roter Blockschrift kann ich mit dem Vergrößerungsglas gerade noch die ersten beiden Buchstaben entziffern: „T“ und „A“. Da es nur eine einzige französische Kolonie gegeben hat, deren Name mit diesen Buchstaben anfing, besteht guter Grund zu der Annahme, dass es sich bei den fehlenden Buchstaben um die Folge HITI gehandelt haben dürfte. In seinem Eintrag zu „Französisch-Polynesien“ verrät mir Scott’s American Standard Postage Stamp Catalogue, dass die Ausgabe der Serie, die von 1892 bis 1907 aktuell war, den aufgedruckten Namen der Kolonie „entweder in blauer oder in karmesinroter Farbe“ trage.49 Damit ist die Sache klar. Auf unerklärlichen, verschlungenen Pfaden hat eine einsame, minder-wertige Ein-Cent-Marke ihren Weg um den Erdball von Tahiti bis nach Bolton gefunden. Und sie hat es während jener historisch entscheidenden Phase getan, als das Königreich Tahiti gerade im Verschwinden begriffen war. An dieser unscheinbaren Marke klebt eine leidvolle Geschichte voller Missionare, minderbegabter Monarchen und mannig­ facher Missgeschicke. Die beiden Weltkriege gingen auch an Polynesien nicht vollkommen spurlos vorüber, denn alle Großmächte pressten ihre Kolonien nach Kräften aus, damit diese finanziell, materiell und personell zu den Kriegsanstrengungen beitrugen. Ein Bataillon tahitianischer Soldaten wurde 1914 von den Franzosen an die Westfront geschickt; im September desselben Jahres beschoss ein deutsches Kriegsschiff Papeete. 1918 nahm man den besiegten Deutschen ihre Kolonien weg, wodurch die Zahl der im pazifischen Raum aktiven Kolonialmächte auf drei sank. Während des Zweiten Weltkriegs besetzten die Japaner weite Teile des westlichen Pazifik, nicht jedoch Polynesien. Die französischen Behörden des „Siedlungsgebiets Ozeanien“ hielten dem Vichy-Regime eine Zeit lang die Treue und gaben Briefmarken aus, die das auch beweisen sollten. Bei 573

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einem Referendum im September 1940 erlitten dieselben Behörden jedoch eine vernichtende Niederlage und wurden abgesetzt; stattdessen kamen mit übergroßer Mehrheit Sympathisanten von General de Gaulles France libre in Amt und Würden. Nach der Ankunft des neuen, de Gaulle treu ergebenen Generalgouverneurs wurden die Vertreter des Vichy-Regimes in Neukaledonien interniert. Eine in der Region aufgestellte Militäreinheit, das Bataillon du Pacifique, schloss sich den freifranzösischen Truppen an, die in Nordafrika kämpften, und nahm später auch an der alliierten Invasion in Italien teil. Von 1943 bis 1945 bestand auf Bora Bora eine US-Marine­ basis zur Versorgung der Pazifikflotte mit Treibstoff – manche behaupten, dies sei die Inspiration für „Bali Ha’i“ gewesen. * Der französische Maler Paul Gauguin (1848–1903) kam 1891 nach Tahiti, also in demselben Jahr, in dem der letzte König starb. Gauguin war in die Südsee gereist, weil er „der europäischen Zivilisation sowie allem, das künstlich und konventionell ist, entkommen“ wollte. Damit begann eine entscheidende Phase seiner künstlerischen Entwicklung. Anders betrachtet – etwa hinsichtlich seiner exotisch-erotischen Fixierung auf die einheimische Frauenwelt, seiner Behandlung wegen Syphilis, andauernder Rechtsstreitigkeiten und nicht zuletzt der Tatsache, dass er seine Frau mit den fünf Kindern in Europa zurückgelassen hatte –, flüchtete Gauguin sich bei seinen Aufenthalten auf Tahiti in eine Wahnwelt. Er musste erst sterben, damit seine Kunst  – die sinnlich und visionär war, wohl aber auch einen einseitigen und ausbeuterischen Blick auf das „Südsee­ paradies“ Tahiti repräsentierte – die Anerkennung finden konnte, die ihr gebührt. Anders als viele andere bildende Künstler verstand es Gauguin zudem, mit Worten umzugehen: „Ich schließe meine Augen, um zu sehen“, hat er einmal gesagt, und: „Es ist die Zivilisation, die einen krank macht.“ Aber sein bester Satz dürfte wohl der folgende ein: „Nie können wir erfahren, was Dummheit eigentlich ist, bevor wir sie nicht an uns selbst ausprobiert haben.“50 Robert Louis Stevenson (1850–1894), der Verfasser von Entführt und der Schatzinsel, war ein weiterer Europäer, den sowohl die Flucht vor der westlichen Zivilisation als auch seine angeschlagene Gesundheit in die Südsee führten. In den Jahren 1888 bis 1891, als Pōmare V. gerade langsam von seinem Thron glitt, segelte Stevenson auf einer großen, dreijährigen Rundreise einmal quer durch den Pazifik: nach Hawaii, Tahiti und nach 574

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Samoa, wo er seine letzte Ruhe fand. Es entbehrt nicht einer bitteren Ironie, dass ein Mann, der sein Leben lang von Lungenleiden geplagt worden war, Erholung und Linderung ausgerechnet auf Inseln suchte, die ihrerseits von der Tuberkulose verheert worden waren. Die Eröffnungsszene von Stevensons kurzem Roman Die Ebbe, den er auf seiner letzten Reise verfasste und der 1894 – im Jahr seines Todes – erschienen ist, spielt am Strand von Papetee: Versprengte Männer vieler europäischer Rassen und fast jeden gesellschaftlichen Stands verbreiten überall in der Inselwelt des Pazifik hektische Betriebsamkeit und schleppen Krankheiten ein. Manche kommen zu Wohlstand, manche vegetieren dahin. Manche haben die Stufen von Thronen bestiegen und herrschen über Inseln und Flotten. Wieder andere müssen heiraten, um ihr Leben fristen zu können …, lümmeln sich auf palmblattgedeckten Veranden herum und unterhalten ihr Inselpublikum mit Erinnerungen an die Music Hall. Und schließlich gibt es jene – weniger anpassungsfähig, weniger wendig, weniger glücklich, vielleicht auch nur weniger brutal –, denen es selbst auf diesen Inseln des Überflusses am täglichen Brot mangelt. Drei Männer solchen Schlags saßen am äußersten Rand der Stadt Papeete unter einem Puraobaum am Strand. Es war spät. Längst hatte sich die Musikkapelle zerstreut, nachdem sie musizierend nach Haus marschiert war … Längst waren in der winzigen, heidnischen Stadt Dunkelheit und Schweigen von Haus zu Haus gewandert. Nur die Straßenlaternen brannten und warfen ihren Glühwürmchenschimmer in die schattenschweren Alleen oder zeichneten zitternde Bilder auf die Wasser des Hafens. … Die Männer unter dem Purao konnten freilich nicht an Schlaf denken. Im englischen Sommer wäre die gleiche Temperatur klaglos hingenommen worden; doch für die Südsee war es bitterkalt. … Sie trugen fadenscheinige Baumwollkleider, die gleichen, die sie tagsüber durchgeschwitzt und in denen sie den Spießrutenlauf der tropischen Schauer ertragen hatten; und um ihre elende Lage auf die Spitze zu treiben, hatten sie kein nennenswertes Frühstück zu sich genommen, kaum ein Mittagessen, vom Abendessen ganz zu schweigen. Diese drei Männer waren, um den treffenden Südsee-Ausdruck zu benutzen, gestrandet. … Vor kurzem hatte ein Schiff aus Peru die Grippe eingeschleppt, die nun auf der Insel und besonders in Papeete wütete. Überall in der Umgebung 575

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des Puraos erhob sich das schreckliche Geräusch hustender, beim Husten würgender Männer und erstarb wieder. Die kranken Eingeborenen mit ihrer für die Inselbewohner typischen Fieberanfälligkeit hatten sich aus ihren Häusern geschleppt und kauerten nun, um Kühlung zu finden, an der Wasserlinie oder neben den auf den Strand gezogenen Kanus und warteten schmerzverzerrt auf den neuen Tag. So gleichmäßig, wie nachts Hahnengeschrei von Bauernhof zu Bauernhof durchs Land geht, erhoben sich Hustenanfälle, breiteten sich aus, erstarben in der Ferne und keimten erneut auf. Jeder bemitleidenswerte Zitterer ließ sich von seinem Nachbarn anstecken, wurde einige Minuten von dem grausamen Krampf geschüttelt und sank erschöpft, stimm- und mutlos wieder zurück, wenn der Anfall verebbte. Falls der Mensch Mitleid aufbringen kann, war Papeete in dieser kalten Nacht zu dieser verseuchten Jahreszeit genau der Ort, an dem es am Platze gewesen wäre …51

Mag diese Szene auch erfunden sein: Sie ist bezeichnend. Wie Stevensons fragile Gesundheit, so war auch Tahiti selbst in jenen Tagen „gestrandet“. Noch bevor der Roman erscheinen konnte, meißelte man auf Samoa Stevensons grandioses Gedicht „Requiem“ als Epitaph auf dessen Grabstein ein: Under the wide and starry sky, Dig the grave and let me lie. Glad did I live, and gladly die, And I laid me down with a will. This be the verse you grave for me: ,Here he lies where he longed to be; Home is the sailor, home from the sea, And the hunter home from the hill.‘ Unter dem Himmel im Sternenlicht Schaufelt das Grab und bewacht mich nicht. Das Leben war gut, der Tod kein Verzicht, Ich hab’ mich entschlossen gewandt. Das seien die Worte für mich im Stein: ‚Er liegt, wo er sich sehnte zu sein. Der Seemann kam von den Meeren heim, Der Jäger vom hügligen Land.‘52 576

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Der norwegische Abenteurer und Forscher (von der Universität Oslo) Thor Heyerdahl, ein Held meiner Kindheit, kam im Januar 1937 mit seiner Frau Liv nach Polynesien; die beiden waren frisch verheiratet. Nach einem kurzen Halt auf Tahiti segelten sie weiter nach Fatu Hiva, der südlichsten unter den Marquesas-Inseln. Offizieller Zweck ihrer Expedition war es, Exemplare der dort einheimischen Insekten zu sammeln, um Erkenntnisse über deren Wanderungsbewegungen zu gewinnen. Das tatsächliche Ziel des jungen Paares war es jedoch, den Weg „zurück zur Natur“ einzuschlagen und ein Leben in völliger Abgeschiedenheit zu führen. Selbst ihre Ernährung würde man heute wohl als „Paläo-Diät“ bezeichnen: Auf dem Speiseplan standen ausschließlich Fisch, Beeren und wilde Früchte. Sie bauten sich eine Hütte am Ostrand der Insel, direkt am Strand, und (über-)lebten dort fast achtzehn Monate lang. Sie tollten nackt durch den Wald und badeten in den klaren Bergbächen der Insel. Ihr Kontakt zu den Einheimischen beschränkte sich auf ein Minimum. Einer ihrer wenigen Freunde am Ort war ein Marquesaner mittleren Alters namens Tei Tua, der von sich behauptete, er sei der letzte Kannibale der Insel. Tei Tua zeigte ihnen Höhlen, in denen einst Menschen geopfert worden waren; der Boden war mit Haufen von menschlichen Schädeln übersät. Er erzählte ihnen auch Legenden von den Göttern der Marquesaner und von ihrem mythischen ersten Häuptling Tiki. Heyerdahls Bericht von dieser abenteuerlichen Reise erschien auf Deutsch unter dem Titel Fatu Hiva. Zurück zur Natur.53 Er lieferte den besten Ansporn, noch einmal zurückzukehren. In den 1950er- und frühen 1960er-Jahren blieb Polynesien aufgrund seiner extremen Abgeschiedenheit nur schwer erreichbar. Jedoch sollte diese Abgeschiedenheit, die Heyerdahl so angezogen hatte, schon bald nicht mehr dieselbe sein. 1960 landete der amerikanische Schauspieler Marlon Brando auf Tahiti. Mit seinen ikonischen Rollen in Filmen wie Der Wilde (1953) und Die Faust im Nacken (1954), die ihm 1955 seinen ersten Oscar eingebracht hatten, war Brando zum Topverdiener unter den Hollywoodstars aufgestiegen. Nach Polynesien kam er, um in der Neuverfilmung der Meuterei auf der Bounty den Fletcher Christian am Originalschauplatz zu geben. Die Nachwirkungen von Brandos Besuch jedoch sollten auch dann noch anhalten, als die Schlussklappe schon lange geschlagen war. Seinen Ruf als ein wahrer Titan der Schauspielkunst hatte sich Brando zweifellos verdient, legte dabei aber auch eher unschöne Züge seiner Persönlichkeit an den Tag. Obwohl er mit seiner ersten Frau gerade erst Vater eines neugeborenen Sohnes geworden war – und obwohl er mit seiner zweiten Frau gerade erst frisch verheiratet war –, stellte Brando 577

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unerbittlich seiner polynesischen Filmpartnerin, der achtzehnjährigen Tarita Teriipaia, nach, bis diese schließlich einlenkte und 1962 seine dritte Frau wurde. Ein Ausdruck seiner Vernarrtheit in Tarita war es, dass Brando eine idyllische Gruppe kleiner Inseln kaufte, die etwa dreißig Seemeilen vor Tahiti gelegen war, und dort ein tropisches Luxusresort errichten ließ. Brandos legendäre Schürzenjägerei, die mit einer ganzen Reihe von Ehefrauen und Gespielinnen nach heutigem Kenntnisstand zwölf Kinder hervorgebracht hat, wird oft mit einem Schulterzucken abgetan: So ist das wohl in Hollywood. Sie steht jedoch in diesem Fall zugleich beispielhaft für die missbräuchliche Ausnutzung Polynesiens durch die Europäer – und auch für das bleibende Bild von Tahiti als einem Paradies mit allem, was dazugehört, einschließlich Sünde, Schmerz und Schuld. Brandos lang verlassener Witwe blieb nur, ihre schmerzerfüllten Memoiren zu verfassen: Marlon – meine Liebe, mein Leid.54 Das ganze 20. Jahrhundert hindurch blieben Tahiti und die umgebenden Archipele ein wahrer Magnet für Individualisten und Aussteiger – für Eremiten, Invalide und die Randfiguren der europäischen Gesellschaft. Mitunter passte die merkliche Melancholie der Insel sogar besser zu ihnen als das Tropenklima. Im Jahr 1975 kam, als vorerst letzter in einer langen Reihe von Zivilisationsflüchtlingen, der belgische Chansonnier Jacques Brel (1929–1978), ein Erbe der großen Barden, in die Südsee. Gemeinsam mit seiner Frau ließ er sich auf der Marquesas-Insel Hiva Oa nieder. Brel litt bereits an Lungenkrebs. Wie Stevenson liebte er das Segeln auf dem weiten Ozean und wie er plante er eine dreijährige Reise durch den Pazifik. Er machte eigens den Flugschein für ein kleines Flugzeug (eine Beechcraft 50 Twin Bonanza, die Brel „Jojo“ taufte), damit er zwischen Hiva Oa und Tahiti hin und her fliegen konnte. Zu den herzzerreißenden Chansons, die Brel in Polynesien schrieb, gehören solche Perlen wie Viellir („Alt werden“), Le Bon Dieu („Der liebe Gott“), L’Amour est Mort („Die Liebe ist tot“) und nicht zuletzt Les Marquises („Die Marquesas“): Le rire est dans le cœur, le mot dans le regard Le cœur est voyageur, l’avenir est au hasard. Et passent des cocotiers qui écrivent des chants d’amour, Que les sœurs d’alentours ignorent d’ignorer. Les pirogues s’en vont, les pirogues s’en viennent, Et mes souvenirs deviennent ce que les vieux en font. Veux-tu que je te dise, gémir n’est pas de mise Aux Marquises. 578

Auf der Jagd nach dem Paradies

Das Herz, es lacht, der Blick, er spricht, Das Herz, es reist, die Zukunft kennst du nicht. Kokospalmen ziehen vorbei, die schreiben Liebeslieder, und die Nonnen von nebenan verpassen noch, was sie verpassen. Kanus fahren davon und Kanus kommen wieder, und meine Erinnerungen werden zu dem, was Alte daraus eben machen. Soll ich’s dir etwa sagen? Es schickt sich nicht zu klagen auf den Marquesas.55

Nach dem Abschluss seiner geografischen Erkundungen wandte Charles de Brosses sich neuen Forschungsfeldern zu, was maßgeblich dazu beitragen sollte, eine breitere Öffentlichkeit mit dem Pazifik bekannt zu machen. Ihn faszinierten die fernen Ursprünge des menschlichen Verhaltens, und so stürzte sich de Brosses ohne Furcht in Wissenszusammenhänge, die noch kaum je zuvor erforscht worden waren. Im Jahr 1760 beispielsweise veröffentlichte er seine Schrift Du Culte des Dieux fétiches … (Über den Dienst der Fetischgötter), in der er die religiösen Praktiken der alten Griechen, alten Ägypter sowie der schwarzafrikanischen Eingeborenen seiner Gegenwart miteinander verglich.56 Mit seiner in der Studie geäußerten Vermutung, Religion entspringe den natürlichen Bedürfnissen und Trieben des Menschen, riskierte de Brosses eine ernsthafte Konfrontation mit der katholischen Kirche (weshalb das Buch denn wohl auch anonym veröffentlicht wurde). Aber er schnitt damit ein Thema an, das für die Motivation christlicher Missionare schon bald große Bedeutung erlangen sollte. 1765 folgte sein Traité de la formation mécanique des langues („Über die mechanische Bildung der Sprachen“). In dieser Schrift, die als ein Grundtext der modernen Sprachwissenschaft gilt, vertritt de Brosses eine Theorie, die man heute wohl unter dem Schlagwort der „Klangsymbolik“ einordnen würde: De Brosses untersucht darin die vielfältigen Verbindungen zwischen den Lauten einer Sprache und dem Schriftsystem, in dem sie festgehalten wird  – unter anderem berücksichtigt de Brosses auch die Logogramme (Schriftzeichen) des Chinesischen, die auf einfache Piktogramme (Bildzeichen) zurückgehen. Alle Sprachen der heutigen Welt, so lautete de Brosses’ kühne These, gehen letztlich auf einen einzigen, gemeinsamen sprachlichen Ursprung zurück. Er spekulierte über die Herkunft der keltischen Sprachen und des Sanskrit, nicht jedoch über jene der ostasiatischen Sprachen. Dennoch brachte de Brosses einen Prozess in Gang, der später auch zur Erforschung jener pazifischen Sprachenvielfalt führen sollte, auf die er und seine tapferen Matrosen als erste Europäer gestoßen waren. 579

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Schon Kapitän Cook hatte festgestellt, dass der einheimische Mann, den er in Tahiti an Bord seiner Endeavour genommen hatte, sich ohne größere Probleme mit den Maori im fernen Neuseeland unterhalten konnte (siehe Kapitel 9). Er hielt es deshalb für wahrscheinlich, dass die Polynesier alle einer gemeinsamen Herkunft waren und sich erst vor relativ kurzer Zeit im gesamten pazifischen Raum verstreut hatten. „Wie wohl nun mögen wir es uns erklären“, fragte Cook sich in seinen Aufzeichnungen, „dass diese Nation sich selbst so weit über diesen riesigen Ozean ausgedehnt hat?“ Und in die zweite Auflage von Bougainvilles Reise um die Welt, die 1772 erschien, konnte der Verfasser einige grundlegende Reflexionen philologischer Art einfließen lassen, die sich einem in Paris stattgefundenen Gespräch mit Joseph Banks verdankten – jenem Joseph Banks, der Cook auf seinen Reisen begleitet hatte. In seiner neuen Fassung enthielt Bougainvilles Kapitel über das „Vocabulaire“ von Tahiti nun den folgenden, bahnbrechenden Satz: „Cependant, les Anglois … ont constaté que le langage des habitans de la Nouvelle Zélande est à-peu-près le même que celui des Ta[h]itiens“  – inzwischen hätten „die Engländer … festgestellt, dass die Sprache der Bewohner von Neuseeland jener der Tahitianer fast gänzlich gleicht“.57 Damit war der Stein der vergleichenden Sprachwissenschaft auch für den Pazifikraum ins Rollen gebracht. Die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts war in Großbritannien „das Zeitalter Dr. Johnsons“, der mit seinem berühmten Wörterbuch beispielhaft für eine Epoche steht, in der frühere Forschungen zur Struktur und Herkunft von Sprachen und Wörtern vereinheitlicht und systematisiert wurden, was eine Vielzahl neuer Theorien hervorbrachte. Johnsons Dictionary of the English Language, 1755 erstmals erschienen, enthält Einträge zu den Begriffen Linguist („ein Sprachkundiger“), Philologer / Philologist („ein Grammatiker“) – und einen ziemlich amüsanten zu dem Wort Lexicographer: „ein Verfasser von Wörterbüchern und harmloser Schreiberling“. Sowohl Cook als auch Bougainville stellten in Polynesien einfache Wörterverzeichnisse zusammen.58 Die weiteren Fortschritte auf diesem Gebiet sind mit den Namen des Schotten Lord Monboddo (1714–1799), des Walisers William Jones (1746–1794) sowie des Deutschen Wilhelm von Humboldt (1767–1835) verbunden. Jedoch sollte noch einige Zeit ins Land gehen, bis die Gelehrten sich von den eurozentrischen Wurzeln ihres Fachs frei machen konnten. Monboddo, einer der führenden Köpfe der Schottischen Aufklärung, bemerkte die Fähigkeit von Sprachen, sich zu verändern und sich  – in einem evolutionsartigen Prozess – immer weiterzuentwickeln. Heute gilt er als der „Vater der historischen Sprachwissenschaft“. Der Jurist und Philo580

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loge Sir William Jones, der als Richter in Diensten der Britischen Ost­ indien-Kompanie in Kalkutta Dienst tat – man nannte ihn auch den „Orient-Jones“ –, legte als Erster die gemeinsamen, indogermanischen (oder „indoeuropäischen“) Wurzeln des Altgriechischen, Lateinischen und des Sanskrit frei – und dann auch noch die des Walisischen, Englischen und des Bengalischen. Wilhelm von Humboldt, der ältere Bruder des Naturforschers und Weltreisenden Alexander von Humboldt, war einer der Gründer der Berliner Universität, die heute seinen Namen trägt. Seine Beiträge zum Feld der Sprachtheorie sind kaum zu überschauen. Unter anderem führte er das Prinzip ein, dass es sich bei Sprachen um regelbasierte Systeme handelt, und nicht etwa um zufällige Sammelsurien von Wörtern und Lauten. Zunächst widmete er sich der Erforschung des Baskischen, richtete sein ganzes Interesse jedoch schon bald darauf, die Verbindungen zwischen dem altindischen Sanskrit und jenen asiatischen Sprachen zu erforschen, die östlich von Indien, im Fernen Osten, gesprochen wurden. Sein Werk kulminiert in seiner Abhandlung Über die Kawi-Sprache (1839), in der er die Herkunft des Kawi, der ältesten belegten Sprachstufe des Javanischen, untersucht. Humboldt war der Erste, der die Existenz einer einzigen großen Sprachfamilie vermutet hat, deren Verbreitungsgebiet sich von Madagaskar bis weit in den Pazifik erstreckt.59 Aber trotz dieser vielversprechenden Anfänge geriet das Rätselraten um die Herkunft der Polynesier zu einer der langlebigsten und abenteuerlichsten Wissenschaftssagas der Neuzeit. Die vielen Theorien, die zu diesem Punkt formuliert worden sind, lassen sich grob in zwei Lager einteilen: Auf der einen Seite stehen jene, die den Ursprung der polynesischen Kultur im Westen (also in Asien) vermuten; auf der anderen die, für die er im Osten (also in Amerika) zu suchen ist. Die „Westologen“ unter den Forschern stützten sich dabei sehr stark auf ethnische und ethnologische Erwägungen, insbesondere auf eine vermeintliche Ähnlichkeit zwischen Polynesiern und Malaien, die nach Ansicht der frühen Völkerkunde auf eine „Rassenverwandtschaft“ der beiden Gruppen hindeutete. Dazu kam noch die Überlegung, dass von Asien aus selbst primitive Seefahrer mit einfachen Booten – durch schlichtes „Inselhüpfen“ – in den Pazifik vorstoßen konnten. Die „Ostologen“ dagegen ließen sich von vermeintlichen Ähnlichkeiten zwischen den Polynesiern und den nord- und südamerikanischen Ureinwohnern inspirieren; außerdem fiel ihnen auf, dass sowohl in Polynesien als auch in Peru die Süßkartoffel ein Grundnahrungsmittel darstellte. Jenseits dieser grundlegenden Frage wurde in der Wissenschaft auch über die Rhythmen und Verteilungsmuster bei der Besiedlung Polynesiens 581

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­diskutiert: Erfolgte sie gleichsam auf einen Schlag – oder als eine Folge von mehreren, langwierigen Wanderungsbewegungen? Dabei standen sich drei Hypothesen gegenüber: das sogenannte „Schnellzugmodell“ („express train to Polynesia“ model), das „Verflechtungsmodell“ („entangled bank“ model, eigentlich eine Anspielung auf den Schluss von Darwins Über die Entstehung der Arten) und das „Schipperkahnmodell“ („slow boat to Polynesia“ model).60 Das ganze 19. Jahrhundert hindurch blieb die Kenntnis der Pazifikkulturen im Westen eher dürftig. Insbesondere in der Sprachwissenschaft gab es keine nennenswerten Fortschritte, weil hier ein kohärenter theoretischer Rahmen fehlte. Ein wenig praktische Arbeit wurde auf Tahiti und Hawaii von Missionaren geleistet, die sich damit abmühten, die Bibel in die Sprache der Einheimischen zu übersetzen. Eher waren jedoch wilde Spekulationen in Mode, und wer sich im Bereich der Völkerkunde mit neuen Forschungsergebnissen hervortun wollte, wurde nicht selten durch die vorherrschenden Rassentheorien in die Irre geführt. In Neuseeland beispielsweise nahm Edward Treagar gleich im allerersten Anlauf, die Kultur der Maori in einem weiteren ethnologischen Rahmen zu präsentieren, eine ganz falsche Abzweigung, indem er in seiner Studie The Aryan Maori 1885 annahm, die Polynesier seien indoeuropäischer Abstammung.61 Treagars Ansatz, der sofort auf heftigen Widerspruch stieß, war ein klassischer Fall von „Goropisieren“ oder „Becanisieren“ – mit diesen Begriffen hat der Philosoph und Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz sich im 18.  Jahrhundert über den ­niederländischen Gelehrten Jan van Gorp alias Goropius Becanus lustig gemacht, der 150 Jahre zuvor die biblische Geschichte von der babylonischen Sprachverwirrung allzu wörtlich genommen hatte und daraufhin belegen wollte, dass die Ursprache der Menschheit – ausgerechnet! – der niederländische Dialekt von Brabant gewesen sei. Vergleichbare Fehlurteile überschatteten auch die Erforschung der polynesischen Sprachen.62 D’Urville hatte den ostindischen und den ozeanischen Raum als zwei getrennte Weltgegenden betrachtet – und doch kam ausgerechnet aus Ostindien ein Denkmodell, das auch der weiteren Erforschung des Pazifik neue Wege erschloss. Die Rede ist von einem Ansatz, für den als Schlüsselfigur der britische Naturkundler Alfred Russel Wallace (1823–1913) steht. Wallace formulierte – in vollkommener Unabhängigkeit von den Überlegungen Charles Darwins – seine eigene Theorie der Evolution durch natürliche Selektion und wird heute oft als der „Vater der Biogeografie“ bezeichnet. Wallace’ bahnbrechende, Darwin gewidmete Studie Der Malayische Archipel von 1869 stellte eine wissenschaftliche Glanzleistung dar und 582

Auf der Jagd nach dem Paradies

brachte wichtige Anregungen für die entstehende Ethnologie und die Sprachwissenschaft, aber natürlich auch für die Botanik, Zoologie und Ökologie.63 Was die geografische Nomenklatur in der Region betrifft, so war es Wallace, der entschied, dass das frühere „Ostindien“ fortan besser als das maritime Südostasien betrachtet werden sollte. Ein britischer Missionar namens Robert Henry Codrington (1830–1922) verfolgte ganz ähn­ liche Forschungsinteressen in Melanesien; 1885 veröffentlichte er The Melanesian Languages („Die melanesischen Sprachen“), 1891 eine ethnografische Studie mit dem Titel The Melanesians: Studies in Anthropology and Folklore („Die Melanesier. Anthropologische und völkerkundliche Studien“).64 Trotz der Anregung durch Wallace und andere herrschte im Bereich der Pazifikstudien eine fast absolute Flaute, bis die deutsche Erwerbung von Kolonien auf Neuguinea und auf Samoa dafür sorgte, dass ein beträcht­ liches Aufgebot an Philologen neu in diesen Bereich der Forschung einstieg. Der Gelehrte, der die linguistische und ethnografische Erforschung des Pazifikraums vollends in neue, rationalere Bahnen lenken sollte, war der aus Dortmund stammende Priester Wilhelm Schmidt (1868–1954), ein katholischer Missionar. Schmidt begründete nicht nur die seit 1906 und bis heute erscheinende Fachzeitschrift Anthropos („Internationale Zeitschrift für Völker- und Sprachenkunde“), sondern formulierte auch als Erster die noch immer grundlegende Kategorie der „austronesischen Sprachen“.65 Sein Landsmann Otto Dempwolff (1871–1938), ein Mediziner und Ethnologe, der zunächst als Truppenarzt in deutschen Kolonien in Afrika und im Pazifik, später dann als Professor für Sprachwissenschaft in Hamburg tätig war, trug durch seine Publikationen während des Ersten Weltkriegs entscheidend zur Konsolidierung des noch jungen Fachgebiets bei.66 Etwa zur selben Zeit unternahm der aus Polen gebürtige Ethnologe Bronisław Malinowski, der an der London School of Economics Anthropologie studiert hatte, eine Forschungsreise auf die melanesischen Trobriand-Inseln, wo er an den Ideen feilte, die ihn weit über Fachkreise hinaus berühmt machen sollten, nachdem er sie in seinen berühmten Studien Argonauten des westlichen Pazifik (1922) und Das Geschlechtsleben der Wilden in NordwestMelanesien (1928) publik gemacht hatte. Malinowskis Methode der „teilnehmenden Beobachtung“ erforderte eine intensive Einarbeitung in die Sprache und Kultur der untersuchten Gemeinschaften; sie ist ein Grundpfeiler der modernen Ethnologie geblieben.67 Im Gegensatz zu „Mikronesien“, „Melanesien“ oder „Polynesien“ bezeichnet „Austronesien“  – wörtlich: „Inseln des Südwinds“ oder „südliche Inseln“ – keine bestimmte Inselgruppe und erst recht nicht alle Inseln in 583

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einer bestimmten Gegend. Vielmehr ist es ein rein formal gefasster Zweckbegriff, der all jene Orte auf der Welt bezeichnet, an denen eine Sprache aus der austronesischen Sprachfamilie gesprochen wird  – und wie Wilhelm von Humboldt vollkommen richtig vorhergesehen hat, erstreckt sich das Verbreitungsgebiet jener Sprachfamilie von Madagaskar bis nach Polynesien und umfasst damit gleich mehrere geografische Unterregionen, die zwischen diesen beiden Grenzen liegen. Interessant ist auch der Beitrag der Mormonen zur Erforschung der Pazifiksprachen – wenn auch nur, weil er wieder einmal die mormonische Vorliebe für unüberprüfte Spekulationen unter Beweis stellt. Die LatterDay Saints („Heiligen der Letzten Tage“) kamen früh in den Pazifikraum: Bereits 1850 richteten sie eine Mission auf Hawaii ein, die schon bald zu einer permanenten Ansiedlung heranwuchs. Heute erinnern der Campus der Brigham Young University in Laie auf der hawaiianischen Insel Oahu sowie das eng mit der Universität verbundene Polynesian Cultural Center (PCC, „Polynesisches Kulturzentrum“, gleichfalls eine mormonische Einrichtung) daran, dass die noch heute intensive Beschäftigung der LDS-Kirche mit der polynesischen Kultur auf einer mehr als 150 Jahre zurückreichenden Tradition beruht. Der Grund dafür ist schnell gefunden: Nach Auffassung der Mormonen sind die Polynesier ihre – wenn auch entfernten – Vorfahren. „Für uns Mormonen“, schreibt ein mormonischer Gelehrter, „stellt die Verbindung der Völker Polynesiens zum Haus Israel eine unzweifelhafte Tatsache dar. Diese beruht jedoch auf Glaubensgründen.“ Während des 20. Jahrhunderts schritt die Forschung zu den kniffligsten Problemen der pazifischen Kultur und Geschichte weiter voran, vor allem im Bereich der Sprachwissenschaft. Am Stammbaum der austronesischen Sprachen, der in seinen Grundzügen von Wilhelm Schmidt und Otto Dempwolff entworfen wurde, harren einige Zweige noch immer ihrer Erforschung. Dennoch herrscht in der Sprachwissenschaft inzwischen weitgehende Einigkeit darüber, dass die derzeit aussichtsreichsten Kandidaten auf den Titel der „ältesten austronesischen Untersprachfamilie“ aus Taiwan kommen, oder besser gesagt: dass sie unter den indigenen Sprachen des prächinesischen Taiwan zu finden sein dürften. (Die Han-Chinesen sind erst im 17. Jahrhundert nach Taiwan vorgedrungen.) Heute überleben auf Taiwan nicht weniger als fünfzehn  – allerdings winzige  – austronesische Sprachgemeinschaften, die in der aktuellen Forschung als die linguistischen Vorfahren aller späteren Unterzweige der austronesischen Sprachfamilie angesehen werden.68 Von Taiwan aus sind die ersten Austronesisch-Sprecher dann vor Urzeiten auf den Malaiischen Archipel gewandert – und von 584

Auf der Jagd nach dem Paradies

dort breiteten sich ihre Nachfahren weiter nach Westen über den Indischen sowie weiter nach Osten über den Pazifischen Ozean aus. Auf jeder dieser Stufen entwickelten sich die von der austronesischen Ursprache abstammenden Idiome weiter, waren fruchtbar und mehrten sich, indem sie mit den Sprachen bereits ansässiger Populationen in Wechselwirkung traten. Unterm Strich ist so eine linguistische Großfamilie – ein wahrer Familienclan – entstanden, dem bis zu 3000 Sprachen angehören.69 Die polynesische Untergruppe der austronesischen Sprachfamilie setzt sich aus etwa einem Dutzend enger verwandter Sprachen zusammen, die heute von rund einer Million Menschen gesprochen werden. Die größte unter ihnen ist das Samoanische mit mehr als 300 000 Sprechern, gefolgt vom Tahitianischen (rund 125 000), dem Tongaischen (rund 110 000), der Maori-Sprache (rund 100 000), dem Rarotonganischen, dessen englische Bezeichnung Cook Islands Maori die enge Verbindung zu Neuseeland erkennen lässt, mit rund 14 000  Sprechern, dem Marquesanischen (rund 8700) und dem Hawaiianischen mit 24 000  Sprechern. Die tahitianische Sprache, deren Eigenbezeichnung Reo Mao’hi („tahitianisches Sprechen“) lautet, ist die Leitsprache der tahitianischen Untergruppe, die von der austronesischen Ursprache über die Zwischenstufen mehrerer Zweige abstammt: Zuerst kam das Malayo-Polynesische, dann das Ozeanische, das FidschiPolynesische und die diversen Zweige des sogenannten Kernpolynesischen. Einige polynesische Dialekte, wie etwa das Moriori der zu Neuseeland gehörenden Chathaminseln, sind erst in jüngster Zeit ausgestorben. In der Nachfolge Malinowskis verdoppelten auch die Ethnologen ihre Anstrengungen. Die auf Hawaii beobachteten traditionellen Familienstrukturen fasste man dabei als eine Mustervorlage für ganz Polynesien auf, während Tahiti das Rohmaterial für umfassende Forschungen zum Themenkomplex des „Tabu“ lieferte. Das Standardwerk zu diesem Thema, ein schmales Bändchen aus der Feder des Ethnologen Franz Baermann Steiner, erschien postum 1956 in London.70 Die berühmte Expedition Thor Heyerdahls nach dem Zweiten Weltkrieg kam auf der Grundlage zweier Voraussetzungen zustande: Die erste war das Material, das Heyerdahl noch vor dem Krieg auf Fatu Hiva gesammelt hatte; die zweite bildeten die Ergebnisse seiner späteren Forschungen in Peru. Heyerdahl faszinierten Geschichten, die er dort gehört hatte und die von einem hellhäutigen Volk handelten, das vor den Inka in den Anden ansässig gewesen sei und an den Ufern des Titicacasees rätselhafte, unerklärliche Monumente hinterlassen hatte. Zu Heyerdahls großer Begeisterung fand er heraus, dass der Anführer jenes mysteriösen Volkes „Kon 585

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Tiki“ geheißen haben sollte und schließlich aus den Anden vertrieben worden war, woraufhin er an der Westküste Südamerikas die Segel gesetzt und in den Sonnenuntergang davongefahren sei. Heyerdahls Schlussfolgerungen aus diesem Mythos fasst er in der Einleitung zu seinem hoch spannenden Buch Kon-Tiki (1948) über die gleichnamige Expedition zusammen. Sein Vorhaben sollte beweisen, dass er mit der Vermutung richtiglag, schon steinzeitliche Seefahrer könnten den Pazifik von Osten nach Westen durchquert haben, und dass selbst ein rustikales Floß aus Balsaholz allen Gefahren des Ozeans gewachsen war. Als Heyerdahl mit seiner Kon-Tiki das Ziel der Reise, die Inseln im Zentralpazifik, erreichte, war das eine große Ermunterung für die Vertreter der „Ostologen“-Theorie.71 Und auch die Archäologie spielte eine Rolle. In den 1950er-Jahren wurde an einem Fundort namens Lapita auf der melanesischen Insel Grande Terre in Neukaledonien eine große Menge prähistorischer Keramik gefunden. An den eleganten geometrischen Mustern, mit denen die Gefäße aus rotem und schwarzem Ton verziert waren, ließ sich unschwer erkennen, dass hier die Vertreter einer gut etablierten Kultur am Werk gewesen waren. Auch an zahlreichen weiteren Fundorten, die mitunter mehrere Tausend Kilometer voneinander entfernt lagen, wurde die Keramik der bald so bezeichneten Lapita-Kultur gefunden, von der Vogelkop-Halbinsel auf Neuguinea bis nach Samoa. Nach eingehender Analyse kamen die Forscher dann zu dem Schluss, dass die „Lapita-Spur“ – das geografische und chronologische Verteilungsmuster der Keramik aus dem 2. und dem 1.  Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung  – den Pfad der frühen Polynesier auf ihrem Weg nach Osten markieren musste. Diese Funde lieferten schlagende Argumente für eine Herkunft der Polynesier aus dem Westen; in manchen Kreisen sah man die Debatte damit sogar als erledigt an. Dennoch ließen sie einige entscheidende Fragen unbeantwortet, etwa diese: Wenn die Vertreter der Lapita-Kultur tatsächlich die Ahnen der heutigen Polynesier waren, warum führte die Spur ihrer Keramik dann nicht bis in das innerste polynesische Siedlungsgebiet hinein? In den frühen 1960er-Jahren kam es in der Wissenschaft erneut zu einer hitzigen Debatte über die seefahrerischen Fähigkeiten der frühen Polynesier. Der Neuseeländer Andrew Sharp hatte in seinem Buch Ancient Voyagers in the Pacific (1956, „Pazifikreisende der Urzeit“) das Offensichtliche ausgesprochen und darauf hingewiesen, dass man unmöglich mit Geschick und Genauigkeit segeln konnte, wenn man kein bestimmtes Ziel vor Augen hatte. Zielgerichteten Expeditionen mussten stets erste Erkundungsfahrten vorausgehen. Sharp schloss daraus messerscharf, dass die Polynesier zwei 586

Pangasinesisch

Sprachen des nördlichen Neuguinea

Tagalog/ Filipino

Zentral-Malayo-Polynesisch

Tandia

West-Ozeanisch

Kowiai

Fidschi

Tongaisch Samoanisch

Tahitianisch

Polynesisch

Zentral-Ost-Ozeanisch

Ozeanisch

Ost-Malayo-Polynesisch

Mikronesisch Südost-Salomonisch Neukaledonisch

Irarutu

SumbaSelaru Aru Tetum Flores-­ (Timorisch) Sprachen Sprachen von Süd-Halmahera und West-Neuguinea

Javanisch

MesoMelanesisch

Bahasa Indonesia

Malaiisch

Zentral-Ost-Malayo-Polynesisch

Malayo-Polynesisch

West-Malayo-Polynesisch

Nord-Papua- / D’Entrecasteauxund benachbarte Sprachen

Bahasa Malaysia

Malagasy / Madagassisch

Tau Puyama Rukai (Yami)

Philippinische Sprachen

Tsou

Formosa-Sprachen (Taiwan)

Austronesisch

Schaubild: Die austronesische Sprachfamilie (Auswahl)

Auf der Jagd nach dem Paradies

587

10. Otaheiti

unterschiedliche Arten von Fahrten unternommen haben mussten. Eine auch nur halbwegs organisierte Migration konnte erst stattfinden, nachdem ein brauchbares Ziel für die Umsiedlung gefunden, eine Route dorthin erprobt war und sich bewährt hatte.72 Das 20. Jahrhundert schritt weiter voran, und die „Westologen“ fassten in der Debatte um die Ursprünge der polynesischen Kultur immer größeres Selbstvertrauen, da der Konsens der Forschung sich immer weiter zu ihren Gunsten verschob. Immer wieder sah Heyerdahl sich wegen seiner Thesen schärfster Kritik ausgesetzt. „Die Kon-Tiki-Theorie“, schrieb einer seiner Kritiker, „ist in etwa so plausibel wie der Mythos von Atlantis.“ „Heyerdahl“, meinte ein anderer, „hat die überwältigende Mehrzahl der linguistischen, ethnografischen und ethnobotanischen Indizien ignoriert“, und seine Schlussfolgerungen seien „offenkundig falsch“.73 Doch den K.-o.Schlag für Kon-Tiki brachte erst das Aufkommen moderner DNA-Analysemethoden. In den 1990er-Jahren untersuchte einer der Pioniere auf diesem Gebiet, Professor Brian Sykes vom Wolfson College der Universität Oxford, mitochondriale DNA (mtDNA) von eingeborenen Bewohnern der Cook­ inseln. Wie Sykes bald darauf mitteilen konnte, ergab unter allen von ihm untersuchten Vergleichsproben diejenige von den Molukken (Indonesien) die genaueste Entsprechung.74 Die moderne Analysetechnik bestätigte und präzisierte also die älteren Hypothesen der Sprachwissenschaft, und der Ursprung der Polynesier konnte nicht nur als „irgendwo im Westen“ angegeben werden, sondern ließ sich sogar ziemlich präzise als eine bestimmte Region im maritimen Südostasien bestimmen. Eine weitere Überraschung ergab sich, als genetische Analysen Hinweise auf eine Verbindung zwischen den Melanesiern und den hominiden Denisova-Menschen lieferten, deren Überreste in einer Höhle in Südsibirien gefunden wurden. Zehn bis 25 Prozent der melanesischen DNA sollen auf das Denisova-Genom zurückgehen, was auf ein beträchtliches Maß an genetischer Durchmischung zu einem sehr frühen Zeitpunkt der Evolutionsgeschichte hindeutet. Wo und wann die Proto-Melanesier und die Denisova-Menschen aufeinandertrafen, ist allerdings noch ungeklärt.75 Wer sich auch nur ein wenig mit dem expandierenden Feld der (archäo-) genetischen Erforschung des Pazifikraums beschäftigt, wird schnell ein starkes Déjà-vu-Gefühl erleben: Das Forschungsfeld ist unüberschaubar groß, und die Vorstöße der historischen Genetik ähneln nichts so sehr wie den Reisen der frühen Entdecker, die vorzeiten in die Südsee aufbrachen. Nadelkopfgroße Wissensinseln liegen in einem Ozean der Unwissenheit verstreut. Auch sind die Tücken und Schwierigkeiten der Forschungs588

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„Reise“ nicht zu übersehen: Frühe Studien, die mittels mtDNA-Analyse die mütterlichen Abstammungslinien der untersuchten Populationen rekonstruierten, lieferten deutlich andere Ergebnisse als solche, die auf das Y-Chromosom (und damit die väterliche Abstammungslinie) zurückgriffen. Genauer gesagt schienen diese Studien also zu behaupten – wie es ein neuseeländischer Forscher mit einem Augenzwinkern formuliert hat –, dass die Maori-Männer indonesischer, die Maori-Frauen jedoch taiwanischer Abstammung seien.76 Außerdem war es natürlich absurd anzunehmen, die ganze große Masse der proto-polynesischen Bevölkerung wäre auf einmal in ihre Boote gestiegen und in einem endlosen Konvoi zusammen in den Zentralpazifik gesegelt. Viel wahrscheinlicher ist es, dass sich in der heutigen Bevölkerung Polynesiens mehrere verschiedene Abstammungslinien verschränken und dass aufeinanderfolgende Migrationswellen sich zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten entlang ihrer Route mit den jeweils dort ansässigen Populationen vermischt haben.77 Dieses Modell erlaubt auch die Annahme, dass die erste dieser Wellen vor bis zu 10 000 Jahren ins Rollen kam,78 während die austronesischen Sprachen im Mund späterer Siedler nach Polynesien getragen wurden, die getrennt voneinander Hawaii (um 200 n. Chr.), Otaheiti (um 1000 n. Chr.) und Aotearoa (um 1200 n. Chr.) erreichten. All das bedeutet nun nicht, dass die Suche nach einer historischen Verbindung zwischen Polynesien und den beiden Amerikas völlig aussichtslos geworden wäre. Aber wenn sie doch noch gefunden werden sollte, wird es sich dabei vermutlich um eine von mehreren kleineren Abstammungs­ linien handeln – um nur einen Strang im genetischen Geflecht Polynesiens. Jedenfalls deuten neuere Befunde in diese Richtung. Eine Studie aus dem Jahr 2008 etwa enthält „eindeutige Beweise“ dafür, dass die Einführung von Hühnern nach Südamerika bereits in vorkolumbianischer Zeit geschehen sein muss – „Hinweise“ auf die „wahrscheinliche Herkunft“ der Vögel deuten demzufolge in Richtung Polynesien.79 Hühner können unmöglich 8000  Kilometer über den offenen Ozean schwimmen. Eine andere, 2013 veröffentlichte Studie fand genetische Übereinstimmungen mit polynesischer DNA in den sterblichen Überresten von Botokuden-Indianern aus dem südöstlichen Brasilien.80 Eine dritte Studie basiert auf dem Hinweis, dass im 19. Jahrhundert sowohl Polynesier als auch Madagassen als Sklaven nach Brasilien verschleppt worden seien. Noch müssen die Mormonen also nicht verzweifeln. Tatsächlich kommt es im Umfeld dieser Debatte immer noch oft vor, dass das, was den einen als zweifelsfrei bewiesen gilt, bei anderen auf 589

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Skepsis stößt. So wird beispielsweise die verbreitete Überzeugung infrage gestellt, die Vorfahren der amerikanischen Ureinwohner hätten Asien einzig und allein über eine Landbrücke am Ort der heutigen Beringstraße verlassen können. Stattdessen verteidigt etwa die Polynesian Voyaging Society noch immer das Können der prähistorischen Seefahrer und besteht darauf, dass die Proto-Amerikaner ihre künftige polynesische Heimat durchaus auch mit dem Boot hätten erreichen können.81 Wie dem auch sei: Das Rätsel um die „Pfade der Polynesier“ ist noch keineswegs gelöst.82 Und mit ähn­ licher Sicherheit lässt sich sagen, dass der gute Graf Charles de Brosses sich in seinem Dijoner Lehnstuhl zu Zeiten Ludwigs XV. wohl kaum hätte träumen lassen, was seine Überlegungen dereinst einmal auslösen würden. * Die französischen Atomtests in Polynesien begannen, nachdem mit der Unabhängigkeit Algeriens die früheren Testgebiete in der Sahara nicht länger zur Verfügung standen. Im Jahr 1962 wohnte, 1250 Kilometer südöstlich von Tahiti, der französische Präsident Charles de Gaulle höchstpersönlich einem der ersten Kernwaffentests auf dem Mururoa-Atoll bei. Fanden die Versuche anfangs noch als Atmosphärentests statt – also oberirdisch –, so erschütterten von 1974 bis 1996 unterirdische Explosionen die Südseeidylle. Fast 200  französische Atombomben wurden über die Jahre im Pazifik gezündet, was einen lautstarken internationalen Protest zur Folge hatte (vor allem in Neuseeland). 1985 ereignete sich dann die berüchtigte Opération Satanique, bei der Soldaten einer französischen Spezialeinheit das an den Protesten beteiligte Greenpeace-Schiff Rainbow Warrior im Hafen von Auckland versenkten. Für ganz besondere Empörung sorgte die allerletzte Explosion im Januar 1996, unmittelbar vor der französischen Unterzeichnung des internationalen Kernwaffenteststopp-Vertrages CTBT. Die Kernwaffentests im Pazifik zogen eine Reihe von wichtigen Folgen nach sich. Sie sorgten dafür, dass Polynesien in den Augen der französischen Regierung deutlich an Wert gewann; zugleich bewirkte der Aufenthalt von mehreren Zehntausend Soldaten, Wissenschaftlern und anderen Mitarbeitern des französischen Rüstungsprogramms in Polynesien einen merklichen Aufschwung in der dortigen Wirtschaft sowie für die demografische Entwicklung. Die Atombomben waren es auch, die eine Rechtfertigung für den Bau des internationalen Flughafens von Faa’a auf Tahiti lieferten, und dieser wiederum bildete die Grundlage für das Aufkommen eines modernen Tourismus. Der Zustrom politisch Engagierter aus aller 590

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Welt, die zum Protest gegen die französischen Nukleartests in den Pazifik kamen, hat darüber hinaus das Aufkommen einheimischer politischer und Protestbewegungen begünstigt, die unter anderem auch die Unabhängigkeit Französisch-Polynesiens fordern. In dieselbe Epoche fällt auch die Schaffung eines semidemokratischen politischen Systems, das – im Einklang mit der französischen Verfassung von 1958  – die kolonialen Vorrechte der französischen Regierung einschränkte und ein polynesisches Parlament und eine polynesische Regierung vorsah. Der französische Präsident blieb jedoch weiterhin das Staatsoberhaupt des Territoire d’Outre Mer (TOM) oder „Überseeterritoriums“, das inzwischen zu einer „Überseegemeinschaft“ (Communauté d’Outre Mer, COM) heraufgestuft worden ist. Zwar behält Paris in der Außen- und Verteidigungspolitik sowie in Budgetfragen auch weiterhin die Zügel in der Hand, aber andere wichtige Befugnisse sind einer Regionalregierung übertragen worden, die von den Fraktionen eines Einkammerparlaments gewählt wird. Von Beginn dieser größeren Eigenständigkeit an ist die polynesische Politik von zwei großen Parteien und deren langjährigen Führungspersönlichkeiten geprägt worden. Der eine, Gaston Flosse (* 1931), ein Konservativer, sieht in dem aktuellen politischen Modell das Maximum an tahitianischer Autonomie erreicht. Der andere, Oscar Temaru (* 1944) tritt für die völlige Unabhängigkeit Französisch-Polynesiens vom Mutterland ein. Der Einfluss beider Seiten hält sich in etwa die Waage, und im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts wechselten sich die beiden Rivalen Flosse und Temaru mehrmals im Präsidentenamt ab, ohne dass es zu einer eindeutigen Kurswahl für die tahitianische Politik gekommen wäre. Heißblütige tahitianische Nationalisten riskieren jedoch harte Sanktionen. Ein solcher Hitzkopf, Pouvanaa a Oopa (1895–1977), der in den 1950erJahren eine Kampagne unter dem Slogan „Tahiti den Tahitianern und die Franzosen ins Meer!“ anführte, wurde festgenommen und zu 23 Jahren im Exil verurteilt. Mittlerweile legen französische Präsidenten bei ihren Besuchen Kränze auf seinem Grab nieder, zuletzt François Hollande.83 Überraschenderweise tauchen auch immer wieder Prätendenten auf den Thron des vermeintlich untergegangenen Königreichs Tahiti auf. Der prominenteste unter ihnen, Monsieur Tauatomo Mairau, ein Urenkel Pōmares V., der 2013 gestorben ist, begründete seinen Anspruch auf den (nicht vorhandenen) Thron unter Berufung auf den genauen Wortlaut des Abkommens von 1880, den  – nach Ansicht von Mairaus Anwälten  – die Franzosen nie korrekt umgesetzt haben. Ein Verwandter und Rivale M ­ airaus 591

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namens Joinville Pōmare (*  1951) erklärte sich 2009 unter dem Namen Pōmare XI. zum König; seine Thronbesteigung wurde jedoch von einem Monsieur Leopold Pōmare angefochten, der mit einem gewissen „König Taginuihoe“ identisch zu sein scheint. Letzterer hat sich zum Oberhaupt einer „republikanischen Monarchie“ erklärt und betrachtet die Insel Moorea als unabhängige „Republik Pakumotu“. Nachdem er sämtliche Schulden und Bankdarlehen auf der Insel für getilgt erklärt hatte, wurde er wegen des Verteilens falscher Ausweise und Führerscheine festgenommen. Seine Anhänger haben sich davon aber nicht abschrecken lassen und verwenden weiterhin munter den Patu, die Währung der „königlichen Republik“, was weitere Gerichtsverfahren nach sich gezogen hat.84 Ungeachtet solcher Kuriositäten ist das Bevölkerungswachstum auf Tahiti in die Höhe geschnellt. Einer Volkszählung von 1907 zufolge betrug die Einwohnerzahl von Französisch-Polynesien damals gerade einmal 30 600 – weniger als ein Viertel der Bevölkerung eines durchschnittlichen Arrondissements von Paris. 1939 waren es erst knapp 50 000  Einwohner, 1962, zur Zeit der ersten Atomtests, immerhin 84 551. Und doch hatte sich die Zahl zwanzig Jahre später bereits verdoppelt, bis 2002 sogar verdreifacht. Die Einwohnerzahl von 2016 – 285 735 – steht für ein wirklich bemerkenswertes Wachstum im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte. Der Tourismussektor ist auf wohlhabende Urlauber aus Australien, Japan und aus den Vereinigten Staaten ausgerichtet, insbesondere jedoch auf Franzosen und Frankokanadier aus Québec, die sich auch von langen und teuren Flügen nicht abschrecken lassen. (Air France fliegt mehrmals pro Woche von Paris nach Papeete; je nach Anzahl der Zwischenhalte dauert der Flug zwischen 24 und 30 Stunden.) Wir reden hier von der Sorte Touristen, die sich mit einem Sonnenschirm am Strand und der allabendlichen Hoteldisko noch lange nicht zufriedengibt – da müssen es schon erstklassige Golfplätze, Ausflüge zum Hochseeangeln oder Schnorcheln an Korallenriffen sein oder aufregende Spritztouren mit dem Geländewagen über Vulkankrater, Ponyreiten im Sternenlicht, Tauchfahrten oder fish watching mit dem Aquaskop, Erkundungstrips in Unterwasserhöhlen, Hubschrauberrundflüge und, und, und … Bei einem zufällig mitgehörten Wortwechsel an der Hotelrezeption wird deutlich, dass man es dieser Klientel nur schwer recht machen kann. „Herr im Himmel“, greint da ein Hotelgast, „wir haben 600 Dollar für das Zimmer gezahlt“. Pro Nacht, versteht sich. Nur wenige Besucher bleiben für längere Zeit auf Tahiti. Nur kurz erholen sich die meisten von ihrem anstrengenden Flug, bevor sie in ihre eleganten kleinen Häuschen auf irgendwelchen abgeschiedenen Privatinseln 592

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weiterreisen. Vom Leben der Einheimischen bekommen sie wenig oder gar nichts mit, und sie selbst sieht man dementsprechend auch nicht. Sie sind vielleicht nicht Marlon Brando, aber sie wären es gern. Tahiti ist, wie ganz Französisch-Polynesien, vollkommen zweisprachig, und man muss schon zu einer besonders armseligen Sorte von Touristen gehören, um das einfach zu ignorieren. Rund 98 Prozent der Bevölkerung sprechen entweder fließend Französisch oder verstehen es zumindest ohne Weiteres. Zugleich sprechen die meisten zu Hause aber noch immer Tahitianisch und tragen auch zum Wiederaufleben dieser Sprache in der Öffentlichkeit bei. Mir selbst ist das Französische gut vertraut; wo Französisch gesprochen wird, fühle ich mich sofort sicher und wohl. Das Tahitianische hingegen ist mir vollkommen fremd, und dem Außenstehenden erschließt es sich nur schwer. Seine Silben erscheinen einfach und eintönig, sodass man sie genauso schnell gelernt wie auch wieder vergessen hat. Die Zahlen von 1 bis 100 lernt man im Handumdrehen, in den zehn Minuten vor dem Zubettgehen, falls nötig – aber am nächsten Morgen sind sie wie weggeblasen: 1 2 3 4 5 6 7 8

ho’e 9 iva piti 10 ’ahuru toru 11 ’ahuru ma ho’e maha 20 piti ’ahuru pae 100 hanere ono 200 piti hanere hitu 1000 tautini va’u

Das Wiederaufblühen der tahitianischen Kultur setzte zeitgleich mit dem politischen Erwachen der Insel in den 1970er-Jahren ein. Eine Gruppe von Aktivisten unter der Führung des Dichters Henri Hiro (1944–1990) begann damals, sowohl gegen die französischen Atomtests als auch gegen die Vernachlässigung der tahitianischen Sprache zu protestieren. Sie erreichten schließlich, dass Tahitianisch in den Schulen ein Pflichtfach wurde, was die Sprache vor dem fast schon sicheren Vergessen bewahrte. Außerdem veröffentlichten sie Sammlungen von Liedern und Gedichten, gründeten eine „Tahitianische Akademie“ (auf Tahitianisch: Te Fare Vāna’a) nach dem Vorbild der Academie française und trugen durch ihre Aktivitäten entscheidend dazu bei, dass eine gebildete, zweisprachige Bevölkerungsschicht heranwuchs, deren Angehörigen nicht mehr allein das Französische als Kultur- und Geistessprache tauglich erschien. 593

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Niemand lernt eine Fremdsprache innerhalb weniger Tage oder Wochen, aber schon einzelne Wörter können uns eine Art von spezifischem „Esprit“ vermitteln, der über ihre wörtliche Bedeutung hinausweist. Im Tahitianischen scheint mir das Vokabular für die vielfältigen Wunder der Natur ganz besonders reichhaltig und wohlklingend: anuanua Regenbogen eiya Fisch fetia Stern hiona Schnee ma’a Frucht mahana Sonne manu Vogel ma’o Hai

poe Perle pupu Muschel ra’au Baum reva Himmel tane Mann tiare Blume ua Regen vahine Frau

Viele dieser Alltagswörter tauchen als Bestandteile von Orts- oder Personennamen wieder auf. Obwohl die meisten Tahitianer heute dem christ­ lichen Glauben angehören, haben sich christliche (Tauf-)Namen auf der Insel nicht leicht durchsetzen können. Die traditionellen „heidnischen“ Vornamen sind noch immer sehr beliebt und färben zwangsläufig auch die Identität ihrer Trägerinnen und Träger mit ein: Namen für Männer Namen für Frauen Namen für Männer oder Frauen Aitu Eeva Afa  (Priester)  (aufgehender Stern)  (Wirbelsturm) Hereata Afi Amana  (Herrscher)  (Liebeswolke)  (Feuer) Herenui Akoheho Anapa  (sonniges Meer)  (große Liebe)  (Sturm) Matahina Ahomena Anui  (großes Kanu)  (Göttinnenauge)  (Donner) Meherio Aisea Areiti  (kleine Welle)  (Meerjungfrau)  (Gott rettet) Miri Alipate Ari’i  (Prinz)  (Liebkosung)  (hell, strahlend) Hoanui Orama Amanaki  (großer Freund)  (Flamme)  (Hoffnung) Mana Poenui Aata   (Kraft)  (große Perle)  (Mondkind) 594

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Manuari’i Puaiti Manutea   (königlicher Vogel)   (kleine Blume)   (weißer Vogel) Rahiti Puaura Purotu   (aufgehende Sonne)   (rote Blume)   (schönes Kind) Tahitoa Ra’imere Temaru (königliches  (erster Krieger)  (Himmelsengel)  Morgenrot) Tamahere Ranitea Temoe (Sonnen  (geliebtes Kind)   (heiterer Himmel)   untergang) Teiki Teora Tita   (Königskind)  (Leben)  (Sonnenfrucht) Toanui Vaea Uira  (großer Krieger)  (Frieden)  (Blitz)

Wie so oft führt auch hier der beste Zugang zu einer unbekannten Sprache über deren Lieder. Im vorliegenden Fall waren diese Lieder ein zentraler Bestandteil der traditionellen, mündlichen Kultur der Tahitianer. Während der jahrzehntelangen Unterdrückung ihrer Sprache von offizieller Seite haben die traditionellen Lieder maßgeblich zu deren Überlieferung beigetragen. Liebes- und Klagelieder, Kinderreime und Sprechgesänge, die beim Kanufahren den Takt vorgeben: Alle sind sie populär, denn zwei­ sprachige Menschen lieben ihr zweisprachiges Liedgut – aber der eigent­ liche Motor dieser Lieder ist ihr Rhythmus: A Hoe, A Hoe, A Hoe i te Va’a A Reve’a a Mau i te    Hoe A Hoe I te Va’a Na ni’a I te moana A Hoe i te Va’a.

Rame, Rame Rame la pirogue Ramer, seule solution. Rame la pirogue Rame-la sur l’océan Rame la pirogue.

Zieht, zieht, rudert das Kanu! Rudern ist der einzige Weg! Rudert das Kanu weit über den Ozean! Rudert das Kanu!85

Die beste Gelegenheit, die traditionelle polynesische Kultur aus nächster Nähe zu erleben, bietet das „Lebensfest“ (Heiva), das jedes Jahr im Juli in Papeete stattfindet. Seit 1895 ist es terminlich mit dem französischen Nationalfeiertag am 14. Juli verknüpft, weil die listige französische Kolonialverwaltung auf diese Weise eine Verbindung zwischen der lange Zeit vernachlässigten polynesischen Festkultur einerseits und der Loyalität zum französischen „Mutterland“ andererseits stiften konnte – obwohl sie sich dadurch den Unmut griesgrämiger protestantischer Missionare zuzog, die 595

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derlei „heidnische Ausschweifungen“ auf das Schärfste ablehnten. Das Heiva-Festival beginnt am 14. Juli und dauert eine Woche lang. Zu Beginn gibt es einen großen Festumzug und es wird die Marseillaise gesungen, bevor dann ein tahitianischer Gesangs- und Deklamationswettstreit auf dem Programm steht. Handwerker führen ihre traditionellen Fertigkeiten vor, Feuerläufe finden statt, es wird auf Kokospalmen geklettert – vor allem aber stellen die Kanuten ihre Fähigkeiten bei Langstreckenrennen unter Beweis. Bei dem prestigeträchtigsten dieser Rennen ziehen Boote mit jeweils zehn Mann Besatzung einen Rundkurs, der über eine Distanz von rund 80 Kilometern über die Meerenge zwischen Tahiti und Moorea und einmal um Moorea herum führt, bevor die Boote zum Zieleinlauf nach Papeete zurückkehren. Tätowierungen sind eine polynesische Spezialität. Tatu ist, wie auch tabu, ein polynesisches Wort, das schon Kapitän Cook in seinen Reiseaufzeichnungen festgehalten hat. Aber dann verboten die Missionare das Tätowieren, und der alte Brauch ist erst im Rahmen des kulturellen Revivals der letzten Jahrzehnte wieder aufgegriffen worden. Heutzutage ist er bei Tahitianern und Touristen gleichermaßen beliebt, und an jeder zweiten Straßenecke gibt es ein Tattoo-Studio. Die Tätowierkunst ist der Beitrag Tahitis zur Globalisierung und zur globalisierten Kultur. Wer ein schickes Tattoo im Gesicht, auf dem Rücken, den Armen, Beinen oder sonst wo an seinem Körper trägt, drückt so seine ganz persönliche Individualität aus und erntet bewundernde Blicke – das ist inzwischen bei jungen Leuten auf der ganzen Welt gang und gäbe.86 Nicht jeder und nicht jede weiß jedoch, dass die Tätowierkunst auch an weit weniger öffentlichen Körperstellen zum Einsatz kommen kann. Speziell für Männer – und nur für Männer – soll es eine Art von „beweglichen“ Tätowierungen geben, die als „[tatouages] mobiles“ bezeichnet werden und den Hintergrund eines der schlüpfrigeren Witze darstellen, die mir auf Tahiti untergekommen sind. Zwei junge Damen, heißt es da, teilen sich einen Liebhaber. Sagt die eine zur anderen: „Mensch, hast du Pepes neues mobile gesehen?“ „Klar“, sagt die andere, „steht sein Name drauf: PEPE.“ „Komisch“, wundert sich die Erste, „als ich’s zuletzt gesehen habe, stand da PEPE-PAPUA-PAPEETE.“ Papeete, die Hauptstadt von Tahiti, ist die einzige Großstadt in ganz Polynesien, und selbst da ist die Bezeichnung „Großstadt“ noch mit einem gewissen Maß an Schmeichelei verbunden: Rund 27 000 Menschen lebten 2017 direkt in Papeete, etwa 180 000 im näheren Umland der Stadt, das sind 596

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mehr als 60 Prozent der Gesamtbevölkerung von Französisch-Polynesien. Ein amerikanisches Touristenpaar, das ich im Bus vom Flughafen ins Stadtzentrum belauschte, klang ein wenig enttäuscht: „Schäbig“ und „heruntergekommen“ fanden sie das Stadtbild – man hatte sie um ihren Südseetraum geprellt! Aber wenn sie mit einem schnuckligen, absolut keimfreien Städtchen voller pseudokolonialer Puppenhäuser gerechnet hatten, hatte man sie wohl falsch informiert. Papeete zeichnet sich nämlich, wie so viele französische Städte, in architektonischer Hinsicht gerade dadurch aus, dass hier das Imposante und das absolut Nichtssagende nahezu unvermittelt aufeinanderprallen  – eine wahrlich unnachahmliche Mischung. Es gibt eine Handvoll hübscher öffentlicher Gebäude, die als Miniaturausgaben ihrer Vorbilder in der französischen métropole durchgehen. Abseits des Hafenboulevards sind die Gassen eng und voll mit Leuten. Wo es im Stadtbild offene Flächen gibt, werden diese von dichter Tropenvegetation samt riesigen Urwaldbäumen dominiert. In der drückenden Hitze des Tages suchen die Leute sich jeden Quadratzentimeter Schatten, den sie finden können – und dort sitzen sie dann, hocken oder schnappen nach Luft. Die am häufigsten zu hörende Phrase, entnehme ich meinem Reiseführer, ist Haere maru, das ungefähr so viel bedeutet wie „mach mal langsam“, „entspann dich“ oder „nur die Ruhe“ – also in etwa die polynesische Entsprechung des spanischen mañana darstellt. Der Bus setzt uns in der Nähe von Les Halles ab, der Markthalle oder Mapuru a Paraita. Das eine Ende der Halle nehmen die Marktstände ein, an denen die typischen lokalen Sättigungsbeilagen hoch aufgetürmt liegen: Yams, Wasserbrotwurzel (Taro) und Süßkartoffeln. Am anderen Ende der Halle befindet sich die Textilabteilung. Der biblische Joseph aus dem ersten Buch Mose hätte keinerlei Schwierigkeiten, hier einen würdigen Ersatz für seinen (wie Luther schreibt) „bunten Rock“ zu finden. Für einen Fotografen ist das eine Augenweide und ein wahres Paradies – aber nur, wenn er daran gewöhnt ist, seiner Arbeit in einer Sauna nachzugehen. Der Name „Papeete“ bedeutet „Wasserkorb“, und bei einer solchen Hitze ist es tatsächlich von höchster Wichtigkeit, genügend zu trinken. Klimaanlagen gibt es hier keine, und die feuchtheiße Luft raubt einem geradezu den Atem. Mit ihrer Erlaubnis mache ich einen Schnappschuss von einer Marktfrau an ihrem Stand  – die Dame ist von Kopf bis Fuß in eine Blumengirlande und ein geradezu schockierend grellgelbes Gewand gehüllt – und trete dann schleunigst die Flucht an. Die katholische Kathedrale Notre-Dame de Papeete, seit 1966 Sitz des Erzbistums Papeete, steht auf der anderen Seite des Perlenmarktes. Es 597

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­ andelt sich um ein eher schlichtes Bauwerk in Weiß und Beige, mit einer h roten Turmspitze und einem kleinen Kirchgarten, den ein schmiedeeisernes Zäunchen umgibt. Alle Tore, Türen und Portale des Gotteshauses sind weit geöffnet – wohl in der Hoffnung, auch noch den kleinsten Hauch einer kühlenden Brise einzufangen. Im Inneren versprechen schattige Kirchenbänke eine zeitweilige Erlösung von der Hitze des Tages. Dem römischkatholischen Glauben, dessen Verbreitung von der französischen Obrigkeit einst aktiv vorangetrieben wurde, gehören heute rund 35 Prozent der Bevölkerung an; größer ist noch immer der Anteil jener, die hartnäckig an ihrem protestantischen Glauben festgehalten haben. Überhaupt spielt die christliche Religiosität eine große Rolle auf Tahiti, und Kirchenlieder nehmen im lokalen Volksliedrepertoire einen prominenten Platz ein. Im Jahr 1992 stürmte das Album eines Chors von der etwa 1600 Kilometer südöstlich von Tahiti gelegenen Insel Rapa Iti die Charts weltweit. Der Gesangsstil von Tahitian Choir (so der Titel des Ensembles wie auch seiner Platte) wird himene tarava genannt; die westliche Musikwissenschaft spricht dabei auch von einer „polyphonen Hymnodie“, bei der melodiesatte Kadenzen im abrupten Wechsel mit einem plötzlichen Abfallen der Tonhöhe und Stakkatogrunzen stehen, das wie ein Echo aus lang vergangenen Zeiten klingt.87 Das Stadtzentrum von Papeete beherbergt drei öffentliche Gebäude, die hervorstechen. Das elegante Rathaus, die Mairie, verfügt über gleich mehrere Veranden und ist ein Nachbau des inzwischen abgerissenen Königspalastes. Die hypermoderne Residenz von Monsieur le Haut-commissaire de la République liegt verborgen hinter einem hohen Stahlzaun und noch höherem tropischem Dickicht. Aber das Domizil der „Nationalversammlung“, des Parlaments von Französisch-Polynesien, steht vollkommen frei und für jedermann einsehbar auf einem zentralen Platz, umgeben von hoch aufragenden Palmen und blühenden Farnen. Das Schild neben dem rot angestrichenen Eingangsportal trägt die Aufschrift: –  ASSEMBLÉE DE LA POLYNÉSIE FRANÇAISE  – APOR’ORA’A RAHINO TE FENUA Als ich vorbeischaute, hatten die Parlamentarier gerade Sitzungspause. Es gab kein Besucherzentrum und keine Auskunft; auch von Wachpersonal war nirgends etwas zu sehen. Wie schon bei der Kathedrale standen sämtliche Türen des hochgiebeligen Gebäudes, dessen pseudo-primitiver Stil polynesische Holzbautradition und architektonische Moderne verbindet, weit offen, um jedes kühlende Lüftchen aufzufangen. Deshalb konnte auch 598

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jeder, der wollte, ganz einfach in den halbrunden, holzgetäfelten Sitzungssaal hineinspazieren und auf dem Platz des Parlamentspräsidenten ein Selfie schießen. Am meisten hat mich jedoch eine schematische Karte von Französisch-Polynesien beeindruckt, die im Eingangsbereich des Gebäudes an der Wand hängt: Die diversen Archipele, Inseln und Inselchen sind dort maßstabsgetreu auf die Umrisse Europas montiert. So erstrecken sich die Gesellschaftsinseln etwa von Paris bis nach Südengland, die Marquesas liegen auf der Höhe von Südschweden und die Austral-Inseln bei Sardinien und Sizilien, während sich der Tuamotu-Archipel in Polen und die Gambier­ inseln in der Gegend von Rumänien wiederfinden. Auf den ersten Blick lassen sich die Leute auf der Straße in Polynesier und Europäer einteilen; Letztere werden von den Einheimischen popoa genannt, was der Verwendung des Maori-Wortes pakeha in Neuseeland entspricht. Aber es gibt inzwischen auch eine beträchtliche Anzahl von Menschen, die beide ethnischen Abstammungen in sich vereinen  – die sogenannten Demi (vom Französischen démi-, „halb-“). Auch Asiaten, meist Chinesen, sieht man viele. Alle kleiden sich ausgesprochen leger, meist in T-Shirts, weiten Strandshorts und Flipflops. Am Abend tragen gerade junge Leute oft eine Blume im Haar. Eine Blüte hinter dem linken Ohr signalisiert: „ich bin vergeben“; klemmt sie jedoch hinter dem rechten Ohr, heißt das so viel wie: „Bist du öfter hier?“ An französischen und diversen asiatischen Restaurants mangelt es nicht. Die draußen ausgehängten Speisekarten lassen den Passanten das Wasser im Mund zusammenlaufen. Am ersten Tag – während meiner Eingewöhnungsphase  – entscheide ich mich stattdessen für ein Essen im Freien neben einem der allgegenwärtigen roulottes oder „Imbisswagen“. Ich sitze an einem Holztisch direkt neben der Straße. Ein Teller mit saucisses vom Grill, dazu ein hübsch gebutterter Maiskolben, heruntergespült mit einem Glas Kokoswasser. Das Essen stand vor mir, kaum dass ich bestellt hatte – und beinahe genauso schnell ist es auch wieder weg, denn es war köstlich. Die Imbisswagenbesatzung könnte freundlicher nicht sein: „Tu es français?“, fragt mich der Koch. „Non, je m’excuse,“ antworte ich, „britannique.“ „Sans blague“, meint er  – ohne Witz, ein echter Brite?  – und flüstert ­seiner Frau schnell zu: „C’est un Anglo!“ Am nächsten Tag fährt mein Inselguide in seinem schon etwas ramponierten Peugeot vor, um mich abzuholen. Arnaud Dardet heißt er und ist ein freundlicher junger Mann mit einem großen Lächeln im Gesicht  – der 599

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E-Mail-Freund eines Freundes eines Freundes aus Paris. Er trifft sich gern mit ausländischen Besuchern, fährt mit ihnen umher und zeigt ihnen die Insel. „Heureux de faire ta connaissance“, sagt er – „schön, dich kennenzulernen“ – und verwendet dabei direkt die vertrauliche tu-Form, wie mich ja auch der nette Mann am Grill direkt geduzt hatte. „Ah, c’est comme à Québec!“, sage ich. (In Québec duzen sich auch alle.) „Oui, naturellement“, bekräftigt Arnaud – fügt dann aber vorsichtshalber doch hinzu: „Mais je peux te vouvoyer, si tu le veux – kann dich aber auch siezen, wenn du willst.“ „Non, ça va, ça va.“ Nur wenige Minuten sind vergangen, da erzählt mit Arnaud auch schon alles, was es über ihn zu wissen gibt. Sein Vater, ein Franzose, der in der Résistance gekämpft hatte, war nach dem Zweiten Weltkrieg nach Tahiti gekommen und hatte ein Bauunternehmen gegründet. Seine Mutter hatte teils polynesische, teils chinesische Wurzeln, aber seine Großmutter väterlicherseits, Anna, war eine gebürtige Polin. Sein älterer Bruder, in dessen Wohnung er auch lebt, verdient sehr ordentlich im Immobiliengeschäft und greift ihm, dem Jüngsten, bei seinem Einstieg ins Geschäftsleben unter die Arme: Arnaud möchte sich mit einer Montagefirma für Solaranlagen selbstständig machen. „Pas mal de soleil par ici“, sagt er. „Les panneaux solaires se vendent bien.“ („Sonne haben wir hier immer ordentlich. Da läuft Photovoltaik auch gut.“) Dann wechselt er abrupt das Thema: „Mes copains tahitiens disent que je suis blanc  – Meine tahitianischen Kumpels sagen, ich wär’ weiß.“ „Aber in Frankreich sagen sie das Gegenteil …?“, sinniere ich, halb fragend. „Je m’en fous“, meint Arnaud, „mir doch egal.“ In einer menschenleeren Gasse hinter dem Gebäude der Nationalversammlung stoßen wir urplötzlich auf eine verstörende Szene: Ein offenbar vollkommen betrunkener Mann prügelt hemmungslos auf seine schreiende Frau ein. Ich will ihr zur Hilfe eilen, aber Arnaud hält mich zurück. „Pas la peine“, meint er, „bringt eh nichts. Wenn du da dazwischengehst, verdrischt er sie zu Hause nur noch heftiger.“ Häusliche Gewalt, Alkoholismus, Fettleibigkeit und zu viel pakalolu (die hiesige Marihuana-Sorte, wörtlich „verrückter Tabak“): Das sind die andauernden Probleme im Südseeparadies. „Wenn dich das interessiert“, sagt Arnaud, „kann ich dir ’nen Roman empfehlen, den kennt hier jeder. Heißt Breadfruit.“88 600

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Wir fahren zur Université de la Polynésie Française (UPF), wo ich eigentlich gern den Dekan der Universität kennengelernt hätte. Die Hochschule steht inmitten dichter Tropenvegetation auf einem steilen Hügel hoch über dem Flughafen von Faa’a.89 Weiß gestrichene Gebäude im Kolonialstil drängen sich auf einem kleinen, umzäunten Campus. Weiter hinten trägt ein kleineres Haus mit Wellblechdach die Aufschrift bibliothèque universitaire. Es ist Mittwochnachmittag. Weit und breit sind weder Studenten noch Dozenten in Sicht; auch der Parkplatz ist vollkommen leer. „Ce sont les vacances?“, frage ich, „sind Ferien?“ „Non, pas du tout“, verneint Arnaud, auch er überrascht. Wir klopfen an eine Tür. Eine Sekretärin, die gerade noch unter einem kühlenden Deckenventilator gedöst hatte, erwacht zum Leben und bietet uns Prospekte zu irgendwelchen Abendkursen an, die wir aber dankend ablehnen. „Wäre es vielleicht möglich, mit dem Dekan zu sprechen?“, frage ich. Anscheinend ist es das nicht. „Qu’est-ce qu’elle a, cette UPF?“, frage ich Arnaud etwas verwundert, „was ist denn los mit dieser UPF?“ Wie ich in Erfahrung bringe, ist die Hochschule 1980 als ein Campus der Französischen Universität von Ozeanien gegründet worden; der andere Campus war in Neukaledonien, fast 5000 Kilometer entfernt. Das Experiment scheiterte, die beiden Hochschul-Hälften gingen getrennte Wege, und die „Geister-Uni von Faa’a“ wartet seither auf den Retter, der sie aus ihrem Dornröschenschlaf erweckt. „Tu as fait tes études ici?“, frage ich Arnaud: ob er denn auch hier studiert hat. Er wirft mir einen etwas schrägen Blick zu. „Mon père m’a envoyé en France.“ Sein Vater hatte es vorgezogen, ihn zum Studium in das 16 000 Kilometer weit entfernte Frankreich zu schicken  – lieber am anderen Ende der Welt studieren als hier. Es gibt nur eine einzige Überlandstraße auf Tahiti: eine schmale Schotterpiste von etwa 100 Kilometern Länge, die einmal rund um die Insel läuft. (Im zerklüfteten, vulkanischen Inneren der Insel gibt es weder Siedlungen noch Straßen.) „On va faire le tour de l’île“, verkündet mein persönlicher Reiseleiter, „wir machen jetzt die Inselrundfahrt. Mit Pausen dauert das so drei, vier Stunden.“ 601

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Und dann fährt er los, immer schön gegen den Uhrzeigersinn, damit ich als Beifahrer auf der rechten Seite den unverstellten Blick auf eine spektakuläre Abfolge von smaragdfarbenen Lagunen, gleich am Wasser gelegenen Kokoshainen und gischtbespülten Stränden genießen kann. Hier und da tun sich auf der linken Seite ebenso grandiose Ausblicke auf, wenn wir durch dramatisch ansteigende Felsschluchten und bewaldete Täler einen Blick auf den Mont Orohena erhaschen können, das schwarze, vulkanische Herz der Insel. Unseren ersten Halt machen wir, irgendwo hinter Puna’auia, an einem kleinen, direkt an einer Lagune gelegenen Friedhof, der sich trotz seiner Größe als eine geradezu unerschöpfliche historische Fundgrube entpuppt. Hier liegen die Ahnen dicht unter der Oberfläche einer dünnen Erdschicht, die unter dem Tosen der Brandung erbebt. Die meisten der blendend weißen Grabstätten zieren tropische Blumen. Die Inschriften auf den Grabsteinen sind zweisprachig: A MON ÉPOUX NOTRE PAPA BIEN AIMÉ POUR TOUJOURS TERII „TEMATAHIAPO“ ROY 23.3.1944–4.10.1989 O IEHOVA TOU TIAIA Das zweite Mal halten wir am Musée Gauguin in der Nähe von Pa’ea. Leider ist das Tor fest verschlossen, obwohl ein Schild das Gegenteil behauptet: ouvert tous les jours de 9 à 17 h. „Tant pis, mais il était dégueulasse, ce Gauguin“, sagt Arnaud. („Echt schade, aber dieser Gauguin war schon ein ziemliches Ekel.“) Ein Stück weiter die Westküste entlang, an einem der idyllischsten Fleckchen von ganz Tahiti, steht das Musée de Tahiti et des Îles. Zwei Gebäude im polynesischen Stil umgeben einen schattigen Innenhof. Man hört immer noch das einlullende Rauschen der Wellen, sieht die türkisfarbene Lagune zwischen den Palmen hindurch funkeln und kann kleinen, in allen Farben des Regenbogens leuchtenden Vögeln dabei zusehen, wie sie durch die Sträucher tollen. Wie viele Jahrhunderte bin ich hier aus der Zeit gefallen? Dasselbe ließe sich auch mit Blick auf die Dauerausstellung des Museums fragen, die zunächst etwas altbacken wirkt, dann aber doch einige reizvoll anzusehende Exponate bereithält. Mit ihren zahlreichen Wandkarten, Schaubildern und Dioramen ist sie zudem beeindruckend klar aufgebaut: 602

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Von der Entstehung der Vulkane und Atolle schreitet man zur Ankunft der Europäer, Missionare und Fotografen voran. „Bougainville fut plus culturel que Cook“, verkündet ein Plakat: „Bougainville war ‚kultureller‘ als Cook.“ Nach einer köstlichen Stärkung im Innenhof, der von Vogelgezwitscher erfüllt ist, lockt die Wechselausstellung. Aktuell lautet das Thema Nos Ancêtres de Taiwan, „Unsere Vorfahren aus Taiwan“: Donnerwetter! Wie es scheint, haben die „Westologen“ endgültig den Sieg davongetragen. In der Ausstellung – zu der die Regierung in Taipeh zweifellos ihr Scherflein beigetragen hat – wird die Hypothese vertreten, die Polynesier seien genetisch mit den indigenen Volksgruppen des prächinesischen Taiwan verwandt – den Ami, Atakai, Bunun, Tsu und Kim –,90 die vor Tausenden von Jahren zu weiten Wanderfahrten aufgebrochen seien. Dazu gibt es spektakuläre Farbfotos. Die für mich stärkste Botschaft der Ausstellung ist jedoch die folgende: Migration, Wanderschaft und der Aufbruch ins Unbekannte sind universelle menschliche Erfahrungen. Ganz egal, was wir für unsere „angestammte Heimat“ halten – früher oder später werden wir beim Blick zurück in die Geschichte auf Vorfahren stoßen, die als Migranten von anderswoher gekommen sind. Hinter der Abzweigung nach Tahiti Iti („Klein-Tahiti“), das eine eigenständige Insel sein könnte, wäre da nicht die schmale Landenge, die es mit der Hauptinsel verbindet, weitet sich der Blick, und die Straße verläuft nun durch Felder und über Kuhweiden. An der Ostküste der Insel gibt es keine schützenden Lagunen, und so prallt die Brandung ungehindert auf das Land. Auf dem breiten Küstenstreifen drängen sich niedrige, schlichte Gehöfte um ebenso bescheidene Kirchlein der unterschiedlichsten Konfessionen. Mehrmals blockieren verwilderte Hähne oder räudige Hunde die Piste. Am Trou du Souffleur („Blasloch“), wo das Meer durch ein Loch im Felsen als Fontäne hervorschießt wie aus dem Blasloch eines Wals, halten wir kurz an und stärken uns mit frischen Kokosnüssen und geschmorten Esskastanien, bevor wir uns das gurgelnde Naturschauspiel ansehen. In der Nähe von Papeno’o, wo die Küste an einer Flussmündung in einen breiten Trichter ausläuft, kommen wir an einem erstklassigen Surfstrand vorbei; auf einer Tafel ist die Wellenvorhersage für den heutigen Tag angeschlagen: Sechs bis neun Meter sollen die Brecher hoch sein! Schließlich nähern wir uns auch schon den östlichen Außenbezirken von Papeete mit ihren Tankstellen, Wohnblocks und Hochstraßen. In Arue kann man das Mausoleum der Pōmare-Dynastie besichtigen, was uns aber gerade nicht mehr zum Verweilen reizt. Unsere Rundfahrt endet, als wir wieder auf meinen Hotelparkplatz einbiegen. 603

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„Moi, je vais à la mer“, lässt mich Arnaud wissen, „ich geh’ dann mal schwimmen.“ Und weiter: „Hier auf Tahiti gehen wir früh ins Bett, damit wir morgens zwischen 6 und 9 Uhr die beste Zeit nutzen können; mittags wird es zu heiß. Deshalb schwimmen wir entweder morgens oder spät am Nachmittag.“ Und es stimmt ja: Wir sind am Äquator, von sechs bis sechs wird hier das Licht ausgeschaltet. „Bis später beim Abendessen!“ Essen zu gehen ist auf Tahiti definitiv ein Teil des Abendprogramms – und am besten bleibt man dabei immer in Reichweite der kühlen Meeresbrise. Wir jedenfalls fahren später mit einem Freund Arnauds hinunter zur Marina Taina, dem Jachthafen an der Westküste der Insel, wo wir in einem Freiluftlokal zwischen imposanten Booten unser Essen und den Sternenhimmel genießen. „Mon frère vient d’acheter un voilier“, erzählt Arnaud, dessen Bruder kürzlich ein Segelboot gekauft hat. „Magnifique – wir segeln einfach los, wann immer wir wollen, und wir bleiben so lange draußen, wie wir lustig sind. Wir reden nicht viel; ich lese lieber.“ Die Kellnerin erkundigt sich nach unseren Wünschen für den apéritif. „Für mich einen Ricard, bitte“, sage ich. Pastis mochte ich schon immer. „Tiens, tu connais le Ricard?“ Das hätten sie einem Anglo wohl nicht zu­getraut. „Wird hier eigentlich auch Wein angebaut?“, frage ich. „De Rurataoa, oui, mais très mauvais.“ Auch die Tahitianer bleiben also lieber bei Burgunder und Bordeaux. Die Kellnerin bringt unsere Getränke, vergisst aber, die Bestellung für das Essen aufzunehmen. Arnaud nimmt die Verfolgung auf. „Voilà Tahiti“, sagt er mit einem Seufzen, als er an den Tisch zurückkommt. „Das ist typisch Tahiti: Die bedienen dich nicht, wenn sie es vermeiden können. Haere maru! Qu’est-ce qu’on mange? Was essen wir denn?“ Während wir auf unser Essen warten, setzen über uns die letzten – und dann die allerletzten – Flugzeuge zum Landeanflug auf Faa’a an; der Flughafen verbindet Tahiti mit fünfzig anderen Inseln Polynesiens. Kurz scheinen die Maschinen regungslos am Nachthimmel zu verharren, bevor sie dann doch langsam, aber sicher zu Boden sinken. Fünf Jahre vor meinem Besuch hat es eine von ihnen nicht geschafft: Der Flug 1121 von Air Moorea, eine DHC-6 Twin Otter Turboprop, die als Zubringerflugzeug zwischen Papeete und dem Flugplatz Tema’e auf der nahe gelegenen Insel Moorea verkehrte, stürzte unter mysteriösen Umständen einfach ins Meer.91 Dass 604

Auf der Jagd nach dem Paradies

so etwas selbst im Paradies vorkommt, beunruhigt wohl selbst erfahrene Weltenbummler. Die tahitianische Küche ist berühmt für ihre ernte- oder fangfrischen Zutaten aus nächster Nähe. Sogar eine simple Kokosnuss kann man auf Hunderte verschiedene Arten servieren; alles andere wird im ahima’a zu­bereitet, einer Art unterirdischer Grill-Backofen-Kombination, die dem hawaiianischen Erdofen imu ähnelt. Das „Schwein aus dem Erdofen“ ist eine ganz besondere Spezialität. Ich entscheide mich dennoch für eine Portion poisson cru beziehungsweise ia ota  – roh marinierten Thunfisch, gefolgt von einem Teller Garnelen in einer Kokos-Vanille-Sauce. Zum Dessert gibt es Mango, natürlich aus dem Erdofen, und dazu Eau Royale, aber bitte pétillante. Dann macht Arnaud eine klare Ansage: „Au lit! Tu dois te reposer.“ – Ab ins Bett und etwas Schlaf nachholen! Der Check-in für meinen Flug ist schon um 6 Uhr früh. Aber immerhin: „Air France direct“! Irgendwie hat Tahiti etwas unmissverständlich, unendlich Trauriges – eine Melancholie, wie man sie wohl nur in einem beschmutzten, von allem Unrat unserer Zivilisation verpesteten Paradies findet. Es ist das Erbe von mörderischen Epidemien, von unzähligen treulosen Matrosen, die „geliebt“ haben und dann gegangen sind, von politischem Versagen und  – noch unlängst – einem verbohrten Kolonialismus, dessen radioaktive Hinterlassenschaften ihn lange überdauern werden. Ein Lied erklingt. Te Vahine Tahiti  – „Die Tahitianerin“. Zum Klang der Gitarren schlägt eine to’ereTrommel den Takt, und die neckische Stimme eines jungen Mädchens weht über den Strand: Iorana, Iorana, Iorana e Bonjour! bonjour! et Hallo, hallo, hallo!  bonjour! Te Vahine Tahiti Oui, madame de Tahitianische Maid,  Tahiti. Aue, Aue, te nehe nehe. Hélas, hélas. Mais ach, ach! Doch welche   quelle beauté.  Schönheit!92

„Aue, Aue“ heißt also „ach, ach!“ Aber für englische Ohren klingt es wie „away, away“ – „I’m bound away“, „ich muss nun fort“ – und auch ich muss weiter.

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11. Tejas: Comanchen, Chicanos und Siedler – Freunde und Feinde

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11. Tejas

Die Vereinigten Staaten von Amerika sind ein großes Land, sie umfassen die Hälfte eines Kontinents, 50 Bundesstaaten und vier große Küsten – im Osten, Westen, Süden und in Alaska. Die letztgenannte Küste misst nach manchen Schätzungen bis zu 79 000  Kilometer und ist damit länger als die Küsten aller anderen US-Bundesstaaten zusammen. Aus irgendeinem Grund tun die Amerikaner jedoch so, als hätten sie nur zwei Küsten: Sie sprechen davon, ihr Land erstrecke sich zwischen „den beiden Küsten“ und singen in America the Beautiful, ihrer inoffiziellen zweiten Nationalhymne, es reiche „from sea to shining sea“ – von einem prächtigen Meer zum anderen. Aber ganz wie die Küste von Alaska ist auch die amerikanische Südküste am Golf von Mexiko deutlich länger als die Westküste von Kalifornien bis Kanada, und sie gehört noch dazu dem flächenmäßig größten unter den 48 US-Kernstaaten: Texas. Der George Bush International Airport von Houston ist nach dem älteren der beiden Bush-Präsidenten benannt. Er ist geräumig, auf Effizienz getrimmt und im Übrigen nicht weiter der Rede wert.1 An den Souvenirständen, die Cowboyhüte und -stiefel sowie Sheriffsterne verkaufen, sieht man jedoch gleich, dass wir das Tor zum Lone Star State erreicht haben. Draußen vor dem Terminal ist die Luft schwül und drückend. Die Straße in die Stadt verläuft über 60  Kilometer durch eine Einöde aus Beton und Smog. Mein Hotel ist geräumig, auf Effizienz getrimmt und im Übrigen nicht weiter der Rede wert – genau wie der Flughafen. Die Atmosphäre ist, um es freundlich zu sagen, nicht gerade vielversprechend. Das Houston von heute ist eine absolute Megalopole  – eine von jenen Riesenstädten unserer Gegenwart, deren Proportionen selbst dann noch die menschliche Vorstellungskraft übersteigen, wenn man schon dort ist. Unter all den überlappenden Zonen von Ballung und Zersiedlung lässt sich unmöglich so etwas wie ein tatsächliches Stadtzentrum ausmachen; selbst von der Spitze des höchsten Wolkenkratzers downtown kann man nicht sehen, wo die Stadt endet; und auf dem Stadtplan sind die Straßennamen so klein gedruckt, dass man sie kaum lesen kann, obwohl das gute Stück bestimmt einen halben Quadratmeter groß ist. So ganz spontan war mir das alles unsympathisch. Ich stimme also ganz und gar nicht mit jenem Journalisten überein, der – obwohl er hier mit vorgehaltener Waffe über­ fallen wurde! – Houston als „die nächste große US-Stadt“ bezeichnet hat. „Hier hat jeder eine Schusswaffe“, meint er noch.2 Den Texanern sagt man nach, sie hätten alles immer gern eine Nummer größer. Ihre größte Stadt – allerdings nicht die Hauptstadt des Bundesstaates, das ist Austin – bildet da keine Ausnahme. Die Gegend um Houston 608

Comanchen, Chicanos und Siedler – Freunde und Feinde

wird von einem geradezu monströs riesigen Netz von Hochstraßen auf Betonstelzen überzogen: Schnellstraßen, Autobahnen, Fernstraßen, Umgehungsstraßen und Stadtschnellwege, die in alle Richtungen verlaufen, ausgreifen und vorstoßen. Eine der Hauptdurchgangsstraßen, der Interstate Highway I-10, ist zwanzig Spuren breit – zehn für jede der beiden Fahrtrichtungen, zwischen denen noch eine weitere mehrspurige Mautstraße verläuft. Der Verkehr auf diesem diabolischen Straßennetz setzt sich vor allem aus SUVs, Pick-ups und geräumigen Limousinen zusammen. Gemächlich rollt die Blechlawine von Stau zu Stau – man will ja keine Ausfahrt verpassen, so etwas kann einen leicht 40 bis 50  Kilometer kosten. Jenseits der Schallschutzwände aus Beton sehen die Fahrer keine Landschaft, sondern nur die Dächer von Häusern, Garagen, Tankstellen, ab und an vielleicht noch ein Einkaufszentrum oder einen Wohnblock. Wie Zombies sitzen sie am Lenkrad – erleichtert womöglich, dass sie ihrem vorigen Aufenthaltsort entkommen sind, nun jedoch zu einem sensorischen Fegefeuer verdammt, das sie aushalten müssen, bis sie ihren Zielort erreichen. So fluchen sie und schieben sich von Spur zu Spur, hoffen auf einen kleinen Vorteil, einen winzigen Vorsprung, der ihnen zehn oder fünfzehn Minuten schenkt  – und blicken dabei leicht verwirrt zu den riesigen grünen Hinweistafeln hinauf, deren Aufschriften auf der falschen Annahme beruhen, eine jede Abfahrt führe genau nach Norden, Osten, Süden oder Westen. Ein Resultat dieses ganzen Durcheinanders ist, dass die allermeisten sich ganz auf die Anweisungen ihres Navigationsgerätes verlassen. Daher wohl auch das unnachahmlichste aller Houstoner Verkehrsschilder: OBEY ALL ROADS SIGNS – STATE LAW („Verkehrsschilder beachten  – Landesgesetz“). Trotz aller Qualen sind die Fahrer aber sichtlich stolz auf ihre texanische Heimat. Auf den Stoßstangen prangen große Aufkleber mit Slogans wie etwa: I’M FROM TEXAS. WHAT COUNTRY ARE YOU FROM? Auf den ersten Blick erscheint daher General Samuel „Sam“ Houston (1793–1863) wesentlich interessanter als die Stadt, die heute seinen Namen trägt. Houston, eine der legendären Gestalten der US-Geschichte, wurde in Virginia als fünfter Sohn einer Familie schottisch-irischer Herkunft geboren. Bald darauf zogen die Houstons gen Westen, der immer weiter vor­ rückenden Siedlungsgrenze (Frontier) hinterher. Als junger Bursche lief er von zu Hause weg und lebte mehrere Jahre bei den Cherokee-Indianern. Nach seiner Rückkehr in die „Zivilisation“ stieg er bis zum Gouverneur des Staates Tennessee auf. Doch dann zog er weiter, immer weiter der Frontier nach, und suchte sein Glück in einem riesigen, gesetzlosen Territorium im Südwesten, in das die amerikanischen Siedler mit ihren Planwagen immer 609

11. Tejas

weiter vorstießen, was schließlich einen Konflikt sowohl mit Mexiko als auch mit den dort ansässigen Indianerstämmen auslösen sollte. Houston lebte lange genug, um nicht nur die Verwandlung dieses Territoriums in eine eigenständige Republik mitzuerleben – wozu er als General und Präsident selbst wichtige Beiträge leistete –, sondern er erlebte auch noch, dass die Republik Texas am 29. Dezember 1845 der 28. Bundesstaat der Vereinigten Staaten von Amerika wurde. Jedoch war er kein amerikanischer Chauvinist und hat einmal bemerkt, dass er „die wilde Freiheit des Roten Mannes“ der „Tyrannei seiner Brüder“ stets vorgezogen habe.3 Wer Texas verstehen will, muss seine Geschichte und deren geografischen Rahmen verstehen. Die Küste des Golfs von Mexiko zieht sich über eine Strecke von beinahe 4000 Kilometern in einer weiten Kurve vom südmexikanischen Bundesstaat Yucatán bis zur äußersten Spitze Floridas. Inmitten dieses Bogens liegt das Mississippidelta, das leichten Zugang zum Inneren des nordamerikanischen Kontinents bietet und zugleich Wassermassen aus dessen entlegensten Winkeln seines gigantischen Einzugsgebietes herbeiträgt: von den Rocky Mountains, aus der Gegend der Großen Seen und von den Hängen der Appalachen. Die frühe europäische Besiedlung der Golfküste beschränkte sich auf die beiden Enden des Küstenbogens sowie die Mündung des Mississippi in dessen Mitte. Bereits im 16. Jahrhundert beanspruchte die spanische Krone „Neuspanien“ im Westen und Florida im Osten für sich. Im 17. Jahrhundert gründeten die Franzosen im Mississippidelta die Stadt New Orleans, was zur Sicherung der Kommunikation mit ihren Besitzungen im fernen Kanada diente. Doch weder Spanien noch Frankreich zeigten großes Interesse an der sumpfigen Küste beiderseits des Deltas – und an deren Hinterland, in dem die „Indianer“ das Sagen hatten, erst recht nicht. Die dreizehn Kolonien der Engländer waren weit, weit weg. So konnten die Franzosen ihre Kolonie Louisiana erfolgreich in Richtung Osten erweitern: 1702 gründeten sie dazu das Fort Louis, Keimzelle der heutigen Stadt Mobile in Alabama. Weiter nach Westen konnten sie sich jedoch nicht ausbreiten; das verhinderte das beinahe undurchdringliche Terrain. Die Spanier zeigten sich ob der französischen Expansion zwar beunruhigt, doch weder gelang es ihnen, die unwegsame Küste jenseits der Grenzen von „Neuspanien“ zu erschließen, noch bekamen sie das – immerhin etwas offenere  – Landesinnere unter ihre Kontrolle. Weite Teile des nordamerikanischen Kontinents blieben also vorerst unberührt – zumindest unberührt von Pflug und Egge, und unberührt auch von den Hufen der riesigen Rinderherden, die noch kommen sollten. Stattdessen zogen 610

Comanchen, Chicanos und Siedler – Freunde und Feinde

über die Prärien des Landesinneren riesige Herden von Bisons – und die einheimischen Jäger, die ihnen nachstellten. Die amerikanischen Ureinwohner lebten noch immer gemäß ihren uralten Bräuchen – im Einklang mit Mutter Natur, aber mitunter in Krieg und Zwietracht miteinander. Vor dem Jahr 1800 betrat kaum je ein Weißer die fruchtbaren Hügel und Täler westlich des Mississippi, von vereinzelten Händlern oder Fallenstellern einmal abgesehen. In den Golf von Mexiko ergoss sich ein halbes Dutzend majestätischer Flüsse, die noch keinen europäischen Namen trugen. Und die Seeleute, die entlang der Küste daran vorbeisegelten, schien das auch nicht weiter zu stören: Ihnen war eine Flussmündung, Anlegestelle oder Ankerreede so recht wie die nächste. Jahrhunderte gingen ins Land, bis der Einfluss der europäischen Mächte in der Region nachließ und die noch jungen Vereinigten Staaten von Amerika auf den Plan traten, bevor die Beziehungen zwischen Weißen und Indianern eine entscheidende Wende nahmen und der ursprüngliche Zustand dieses Paradieses auf Erden für immer dahin war.4 Dennoch: In dem Jahr, in dem Sam Houston geboren wurde, gab es so etwas wie „Texas“ noch gar nicht. Der erste Punkt auf meiner To-do-Liste für den Besuch in Houston ist etwas vollkommen Neues – für mich jedenfalls. Wie schon mein Besuch im tasmanischen MONA-Museum gab es auch hier eine etwas verrückte Komponente, aber wie sich herausstellen sollte, wurde ich so doch auf eine ziemlich originelle Weise mit einigen hervorstechenden Eigenheiten und Topoi des amerikanischen Alltags vertraut gemacht: etwa dem Aufstieg „vom Tellerwäscher zum Millionär“, sündhaft teuren medizinischen Behandlungen, lautstarken Meinungsverschiedenheiten und endlosen Gerichtsverfahren. Dank dem beträchtlichen Wohlstand seiner Einwohner  – und wohl auch dank einem typisch texanischen Unternehmergeist – verfügt Houston über die höchste Dichte privater medizinischer Einrichtungen weltweit; Forschungsinstitute, Privatkliniken und Pharmaunternehmen gibt es hier wie Sand am Meer. Wie sich herausgestellt hatte, waren die Eigentümer einer der bekanntesten Kliniken der Stadt schon seit vielen Jahren interessierte Leser meiner Bücher gewesen. Wir hatten korrespondiert, und ich war eingeladen worden, sie zu besuchen und ihre bemerkenswerte Geschichte zu hören. Fünfundvierzig Jahre zuvor war Dr.  Stanisław Burzyński aus Polen in die Vereinigten Staaten gekommen – mit gerade einmal 14 Dollar in der Tasche. (Genauer gesagt hatte er einen 20-Dollar-Schein gehabt, aber davon war dann noch das Taxigeld abgegangen, um vom New Yorker Flughafen 611

11. Tejas

KANADA

Nordamerika, 1802

Oberer See

UNBEANSPRUCHTES TERRITORIUM

Huronsee Ontariosee

N

Eriesee Michigansee

LOUISIANA (KOLONIE)

NORDWESTTERRITORIUM

INDIANATERRITORIUM

S

VEREINIGTE STAATEN VON AMERIKA nicht organisiertes Territorium

Pazifischer Ozean Vereinigte Staaten von Amerika und ihre Territorien Spanisches Territorium Französisches Territorium Britisches Territorium Unbeansprucht

WESTFLORIDA

VIZEKÖNIGREICH NEUSPANIEN

MISSISSIPPITERRITORIUM

Atlantischer Ozean OSTFLORIDA

Golf von Mexiko 0

500

1000 km

zur Wohnung seines Onkels in der Bronx zu gelangen.) Heute ist er ein vielfacher Multimillionär. Sein Werdegang ist ein Musterbeispiel nicht nur für den berühmten „amerikanischen Traum“, sondern auch für die zähen Kämpfe, die seiner Verwirklichung nicht selten im Weg stehen. Dr. Burzyński ist Onkologe, ein Krebsspezialist, und insbesondere arbeitet er an der Entwicklung biochemischer Therapieansätze, mit deren Hilfe bösartige Krebszellen bekämpft werden sollen, ohne das umgebende gesunde Gewebe zu schädigen. Auf der Grundlage der dafür notwendigen Patente und Lizenzen hat er einigen Erfolg bei der Behandlung inoperabler Hirntumoren erzielt, bevor er sich dann ein komplexes Medizin-Unternehmen aufbaute, dessen Geschäftsmodell Elemente aus Krebsbehandlung, medizinischer Forschung, Arzneimittelproduktion und verführerischer Öffentlichkeitsarbeit vereint: In der Burzynski Clinic glauben wir nicht an Einheitslösungen bei der Krebsbehandlung. … Stattdessen lassen wir uns seit mittlerweile 35 Jahren von der alten hippokratischen Weisheit inspirieren: primum nil nocere – „vor allen Dingen nicht schaden“! An diesen weisen Worten ist unsere ganze Behandlungsphilosophie ausgerichtet, denn wir machen uns das natürliche biochemische Abwehrsystem des menschlichen Körpers zunutze, das Krebszellen bekämpfen kann, ohne den gesunden Zellen dabei größere Schäden zuzufügen …5 612

Comanchen, Chicanos und Siedler – Freunde und Feinde

Wie kaum anders zu erwarten, ist Dr. Burzyński für seine ungewöhnlichen Methoden von Anfang an kritisiert worden. Einer seiner prominentesten Kritiker ist Professor David Gorski, seines Zeichens Gründer des „Instituts für Wissenschaft in der Medizin“ (Institute for Science in Medicine, ISM). Gorskis Anhänger scheinen auch für den zutiefst skeptischen WikipediaArtikel über die Burzynski Clinic verantwortlich zu sein. Dieser beginnt mit den folgenden Worten: „Die Burzynski Clinic ist eine Klinik in Texas (USA), die … wissenschaftlich nicht bewiesene Krebsbehandlungen anbietet.“ Und weiter heißt es: „Am bekanntesten ist die Klinik für ihre kontroverse ‚Anti-Neoplastonen-Therapie‘ … Obwohl [diese] Therapie als eine weniger schädliche Alternative zur klassischen Chemotherapie angepriesen wird, handelt es sich doch … um eine Art von Chemotherapie mit erwiesenen Nebenwirkungen …“6 Auch beschweren Burzyńskis Kritiker sich immer wieder über die Marketingmethoden seiner Klinik. Der Laie kann jedoch unter der Überschrift „Die Krebsbehandlung von morgen schon heute“ auf der Klinik-Website nur eine Reihe von einwandfreien Angeboten erkennen: „innovative und personalisierte Krebstherapie nach dem neuesten Stand der Forschung“; „speziell abgestimmte Behandlungsmethoden für über 50 verschiedene Arten von malignen Tumoren“ sowie „medizinische Expertise aus der Erfahrung von mehr als 40 Jahren“. „Kritik“ ist jedoch eigentlich noch untertrieben. Allerorten ist von „Quacksalberei“, „Betrug“, „Schmarotzern“ und der „Ausbeutung verzweifelter Patienten“ die Rede, wenn es um Burzyńskis Methoden geht. Auch sprechen wir hier nicht nur von Zorn und übler Laune, sondern von öffentlichen Anschuldigungen, Angriffen durch Journalisten und eine ganze Reihe von Gerichtsprozessen, die Konkurrenzfirmen, unzufriedene Patienten oder deren Familien, zuletzt aber auch die US-Behörden gegen die Klinik angestrengt haben. Bei meinem Besuch erzählten mir die Burzyńskis jedoch, nach einem fünfzehnjährigen Rechtsstreit sei ihnen der Sieg nun sicher, und dass sie eine Entschädigung von 63  Millionen Dollar erhalten würden. Als die schwarze Stretchlimousine direkt vor dem Eingang zur Lobby meines Hotels anhält, ist die Zufahrt erst einmal blockiert. Heraus springt Dr.  Burzyński junior und lädt mich und meinen ortskundigen Guide zu einer Spritztour ein. Zuerst soll es zu den familieneigenen Labors gehen, danach dann in die Privatklinik. Hinter den getönten Scheiben der Limousine sitzen wir in luxuriösen Ledersesseln einander zugewandt – im „Konferenzmodus“. (So lässt es sich am besten über den Houstoner Freeway ­fahren, denn von der Außenwelt bekommt man überhaupt nichts mit.) In 613

11. Tejas

der Limousinenbar funkeln Karaffen aus schwerem Kristall, ein TV-Bildschirm erwacht flackernd zum Leben und die Fahrt vergeht angenehm und wie im Flug, während vom Bildschirm die Firmenwerbung über mich ­hinwegplätschert. Das Forschungs- und Entwicklungsinstitut des Familienunternehmens beherbergt jede Menge voll automatisierter Produktionseinheiten zur Arzneimittelherstellung – alles auf dem neuesten Stand der Technik. An jeder Einheit befindet sich ein riesiges elektronisches Bedienfeld, das mich ein wenig an die Computerstellwerke in der Londoner U-Bahn erinnert. In den Bau dieser hochmodernen Anlage ist kein Cent an öffentlichen Geldern geflossen. Dann bekommen wir einige der altmodischen Schalter und Verteilerkästen gezeigt, die in den Anfangstagen der Firma noch mühsam von Hand gefertigt werden mussten. Um die Gefahr von Industriespionage zu minimieren, sind so gut wie alle Mitarbeiter  – von der Bioingenieurin bis zum Laborassistenten – aus der polnischen Heimat der Burzyńskis herbeigeholt worden. Die Klinik an der Adresse 9432  Katy Freeway ist ein atemberaubender, vierstöckiger Quader mit schwarz-spiegelnder Glasverkleidung. An der Fassade prangt das erwähnte hippokratische Motto First Do No Harm – „vor allen Dingen nicht schaden“. Der Empfangsbereich wird von einem tropischen Indoor-Garten dominiert: üppiges Blattwerk, Orchideen und Tigerlilien, wohin man schaut. Direkt angrenzend verbirgt sich diskret ein Anwaltsbüro – „täglich rund um die Uhr besetzt“. Uns empfängt Dr. Barbara Burzyńska, die Ehefrau des Eigentümers. Sie ist eine kleine, blonde, quirlige Frau, die Wärme und Selbstvertrauen ausstrahlt. „Hier sind ein paar von meinen Kindern“, sagt sie und zeigt uns Fotos von ehemaligen Patienten. „Der Älteste ist jetzt  36. Er kam als Säugling hierher zu uns, die Ärzte hatte ihn schon aufgegeben.“ Im ersten Stock befinden sich die kleinen, diskreten Sprechzimmer. „Die Promis haben es gern privat“, erläutert Dr. Burzyńska. Überall auf den Fluren und in den Räumen hängen große, gerahmte Bilder. Eines davon, in einem Besprechungszimmer, ist eine Reproduktion von Jacques-Louis Davids heroischem Gemälde Bonaparte beim Überschreiten der Alpen am Großen Sankt Bernhard. Der zweite Stock ist den Behandlungs- und Erholungsräumen vorbehalten. Die Klinik hat keine Stationen im klassischen Sinn; die allermeisten Behandlungen finden ambulant statt, das heißt nur wenige Patienten bleiben über Nacht. Die meisten werden stattdessen an nahe gelegene Gästehäuser verwiesen. Eine junge Patientin – ein Mädchen  – wird im Rollstuhl an uns vorbeigeschoben. Ihr kleines 614

Comanchen, Chicanos und Siedler – Freunde und Feinde

Gesicht ist aufgedunsen, ihre Augen sind geschlossen. In ihrer Nase stecken Beatmungsschläuche. Man stellt uns eine abgespannt wirkende junge Assistenzärztin vor. „Und das ist unsere Tochter Helena“, erklärt Dr. Burzyńska. „Ist ein harter Tag heute, so ist das hier manchmal.“ Zu guter Letzt treffen wir auf einen lächelnden Mitarbeiter der Buchhaltungsabteilung, der aber prompt in einem Aufzug verschwindet. Das oberste Stockwerk bleibt vermutlich den Verwaltungsangestellten und der Familie Burzyński vorbehalten, die dort ein Penthouse bewohnt. Dann erscheint Dr. Burzyński höchstpersönlich, im langen weißen ­Kittel – ein echter „Halbgott in Weiß“. Er ist klein gewachsen, trägt kurze braune Haare und Schnurrbart. Seine gesunde Gesichtsfarbe und die spitzbübisch funkelnden Augen vervollständigen den jovialen Eindruck. Er lächelt, schmunzelt, kichert ohne Unterbrechung. Wie sich herausstellt, ist er ein umfassend belesener Mann, dessen besonderes Interessengebiet die Geschichte ist. Er lädt uns ein, mit seiner Familie und ihm selbst ein schnelles Mittagessen einzunehmen – es gibt „Surf and Turf“ – und erzählt dann von den Ursprüngen des Schwarzen Todes, der großen Pestepidemie im Europa des 14. Jahrhunderts. Seine Frau besteht darauf, dass er zum Essen den weißen Kittel ablegt. „Die nächste große Epidemie wird Leberkrebs“, verkündet er in einem ganz sachlichen Ton. „Wird 30 oder sogar 50  Millionen Tote geben, vor allem in China.“7 Und dann wird wieder die Limousine gerufen. Beim Verlassen des Gebäudes durch eine Drehtür fällt unser Blick auf den zweiten Wahlspruch der Klinik, Where There Is Hope („Wo Hoffnung ist“) – eine Anspielung auf das alte Sprichwort „Wo Leben ist, ist Hoffnung“. Einige Monate nach meinem Besuch konnte man den Medien entnehmen, dass Dr. Burzyński noch immer in Gerichtsverfahren verwickelt war. Sowohl die US-Bundesbehörde FDA (Food and Drug Administration), die unter anderem für die Arzneimittelsicherheit zuständig ist, als auch die texanische Ärztekammer hatten gegen ihn Klage erhoben.8 Eine Dokumentation der investigativen BBC-Reihe Panorama über Dr.  Burzyński trug den Titel „Krebsheiler oder gerissener Geschäftsmann? Wie wehrlosen Patienten ‚Hoffnung‘ verkauft wird“.9 Und dann erhielt, während seine Kritiker ohnehin gerade wieder die Messer wetzten, Dr. Burzyński den – nicht gerade prestigeträchtigen – Pigasus Award, der jedes Jahr am 1. April für „besondere Leistungen“ auf dem Gebiet der Pseudowissenschaft und Bauernfängerei vergeben wird. In der Begründung hieß es: 615

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Die Burzynski Clinic ist eine hoch profitable, aber betrügerische Einrichtung, die ihre Gewinne mit der angeblichen Wunderheilung von Krebskranken erwirtschaftet. Geleitet wird sie von dem gebürtigen Polen „Dr.“ Stanislaw Burzyński – zumindest sagt er, er sei ein Doktor, aber seine ehemalige Uni hält sich in der Sache auffallend bedeckt. … Bekannt geworden ist die Klinik … durch Burzyńskis völlig aus der Luft gegriffene Erfindung der „Anti-Neoplastonen-Therapie“ (ANP), womit er eine Mischung verschiedener Peptide bezeichnet, die durch Extraktion aus menschlichem Urin gewonnen werden. Man könnte also durchaus behaupten: Er pinkelt der seriösen Wissenschaft ans Bein.10

Da kann man ja wohl nur den Kopf schütteln. „Wo, wenn nicht in Amerika …?“, denke ich mir. Und doch – als jemand, der selbst den dunklen Tunnel einer Krebsbehandlung durchschritten hat, zögere ich, mich dem Chor der Kritiker anzuschließen. Krebstherapien können den Erfolg nicht garantieren; aber wenn sie zumindest einigen, die in jenem dunklen Tunnel vorwärtsstolpern, ein wenig Trost und Hoffnung schenken, sind sie doch selbst dann nicht ohne Wert, wenn ihre Wirksamkeit nicht bewiesen werden kann. Als Nächstes steht auf meiner Liste etwas vollkommen anderes: Ein aka­ demischer Vortrag, der als Wohltätigkeitsveranstaltung zugunsten eines Fachbereichs der Universität von Texas angekündigt ist und im noblen Petroleum Club stattfindet.11 Recht kurzfristig hat man mich gebeten, doch auch ein paar Worte zu dem Thema zu sagen; es geht um „Polen, Russland und die Geopolitik der Energie im östlichen Europa“. Der Petroleum Club ist eine der elitärsten, exklusivsten und am besten betuchten Einrichtungen von ganz Houston. Hier tummeln sich Vorstandsvorsitzende, Bankiers und sonstige Vertreter der oberen Zehntausend. Der Club befindet sich im 43. und 44. Stock des ExxonMobil-Hochhauses, eines Wolkenkratzers im Pagodenstil, mitten in der Stadt. Man steigt in einen speziell für diesen Zweck vorgesehenen, mit feinstem Chintz ausgeschlagenen Expressaufzug, der die übrigen 42  Stockwerke ganz einfach überspringt. An den Wänden der Empfangshalle und in den Vorräumen prangen kreuzbrave Ölporträts von ebenso brav dreinschauenden ehemaligen Clubpräsidenten: Alle posieren sie in derselben Sitzhaltung; alle tragen sie die gleichen Anzüge und Krawatten, dieselbe Frisur mit dem makellosen Scheitel, dasselbe verbindliche Lächeln an der Grenze zum Grinsen. In den Bars und Raucherzimmern stehen riesige Ledersessel. Durch die großen Fenster des Speisesaals kann man auf die 616

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Fahnenmasten weniger bedeutender Etablissements hinabschauen. Der Vortrag wird von einem Dinner begleitet. Das Steak ist hervorragend, wenn auch unglaublich dick geschnitten. Und die einleitenden Worte, die Vorstellungen, Anmoderationen und Begrüßungen nehmen kein Ende. Ein Clubmitglied stellt den Chairman vor, der wiederum den Hauptorganisator, welcher die Begrüßung des ersten Gastredners übernimmt. Dieser wird als ein Experte für die Schiefergasförderung vorgestellt. Nach ihm sprechen ein anderes Clubmitglied und ein anderer Chairman, der den zweiten Gastredner vorstellen soll. Das wäre dann ich. Im Publikum scheint eine gewisse Unsicherheit darüber zu bestehen, worauf man sich denn nun konzentrieren solle: das Steak? die Gastredner? oder doch den Sonnenuntergang draußen? Fast drei Stunden lang fließen Wein, Worte und Mineralwasser in Strömen  – dann muss eine dringende Toilettenpause ausgerufen werden. Von der angekündigten Diskussion über geopolitische Fragen ist bislang noch keine Rede gewesen. So muss es sein, wenn bei einem Ölbohrturm der Bohrer außer Kontrolle gerät und der Motor sich nicht mehr abschalten lässt. Dann steht der „Blow-out“ unmittelbar bevor, und das übersprudelnde Öl ergießt sich in einer hohen Fontäne über die gesamte Umgebung. Redner Nummer zwei beschließt, seine Zuhörer mit einer dicken Schicht Rhetorik einzulullen und vertritt dabei auch einige eher fragwürdige Thesen  – dass Wladimir Putin nur ein Papiertiger sei etwa oder die EU-Ostpartnerschaft doch noch zu einem rauschen Erfolg werden könne. Die Ängste im Raum lassen spürbar nach. An Geopolitik denkt jetzt keiner mehr. Die Energiereserven sind aufgebraucht, und spätestens als der Cognac ausgeschenkt wird, befinden sich die meisten wohl gedanklich schon auf dem Heimweg. Wie sagte doch Red Adair, der legendäre Feuerwehrmann und Experte für brennende Ölund Gasfelder: „Lass die Hintertür stets offen!“ Es sollten Spenden gesammelt werden, und es wurden Spenden gesammelt – aber tatsächliche Probleme wurden wohl nur wenige gelöst. Mit rasender Geschwindigkeit bringt der Aufzug uns aus dem 44. Stock nach unten, an die frische Luft. Der Fluchtwagen wartet und kommt auf dem immerhin etwas weniger überfüllten Freeway auch gut voran. Es ist noch nicht allzu lange her, da traf sich im Petroleum Club eine ­Clique, der die reichsten Männer Amerikas angehörten. Die sogenannten „Big Four“ waren die legendärsten unter ihnen: H. Roy Cullen (1881–1957), H. L. Hunt (1889–1974), Sid W. Richardson (1891–1959) und Clint Murchison senior (1895–1969). Zusammen nennt man sie und ihre Familienclans auch the Big Rich, und alle sind sie im texanischen Ölgeschäft zu Geld 617

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gekommen. Die „schwarze Flut“ hatte sie nach oben getragen, ihre Kinder hatten darin schwimmen gelernt und ganze Familien waren auf diese Weise aus einfachsten Verhältnissen zu märchenhaftem Reichtum und großem Einfluss gelangt  – hatten manchmal aber auch Skandale ausgelöst.12 Cullen wurde ein Philantrop und der größte Förderer der Universität Houston. Hunt, ein leidenschaftlicher Pokerspieler, der sich von seinen Gewinnen am Spieltisch sein erstes Ölfeld kaufte, war angeblich das Vorbild für die Figur des J. R. Ewing in der Fernsehserie Dallas.13 Richardson, ein Kunstsammler, war ein Großspender der Republikanischen Partei und förderte insbesondere die politische Karriere des vormaligen Generals und späteren Präsidenten Eisenhower nach dem Zweiten Weltkrieg. Murchison, der ein guter Bekannter des FBI-Chefs J. Edgar Hoover war, unterstützte die Demokraten und finanzierte den Aufstieg eines anderen Texaners namens Lyndon B. Johnson, der in jungen Jahren einmal eine Zeit lang als Lehrer an einer Schule in Houston unterrichtet hat.14 In einem deutlich unheilvolleren Zusammenhang taucht sein Name auf – wie übrigens auch der von H. L. Hunt –, wenn es um eine der zahllosen Verschwörungstheorien rund um die Ermordung John F. Kennedys geht.15 Biografien wie diese machen deutlich, dass die „Ölmänner“ kaum weniger zum Aufstieg und zur Größe von Texas beigetragen haben als die ­Cowboys früherer Generationen. Gerade Houston verdankt seine heutige Bedeutung vor allem dem ersten gusher – Springquell, unkontrolliertem Austreten von Erdöl  – in ganz Texas, der 1901 auf dem nahe gelegenen Ölfeld von Spindletop zu sprudeln begann und damit den texanischen Ölboom auslöste. In den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts verfünffachte sich die Einwohnerzahl der Stadt; Houston hatte damals die weltweit höchste Konzentration von Ölraffinerien und petrochemischen Fabriken.16 Gleich mehrere Weltkonzerne gehen in ihren Ursprüngen auf den texanischen Ölboom zurück. Die Firma Gulf Oil beispielsweise wurde 1901 von einer Gruppe Investoren um den Bankier William Mellon aus Pittsburgh gegründet, die sich zusammengetan hatten, um die Raffination des Spindletop-Rohöls zu finanzieren.17 Der Texaco-Konzern – zunächst bekannt als die Texas Fuel Company  – wurde im selben Jahr gegründet. Noch heute ziert das Texaco-Logo – der Lone Star, das Wahrzeichen von Texas – zahlreiche Tankstellen auf mehreren Kontinenten.18 „Wer es im Leben zu etwas bringen will“, hat der Öl-Tycoon J. Paul Getty einmal gesagt, „muss dreierlei tun: früh aufstehen, hart arbeiten und auf Öl stoßen!“ (Getty kam allerdings nicht aus Texas, sondern aus Minnesota.) 618

Comanchen, Chicanos und Siedler – Freunde und Feinde

Um sich in Houston einigermaßen orientieren zu können, muss man erst einmal einen Punkt finden, von wo aus man mit eigenen Augen nachvollziehen kann, was der riesige Stadtplan vor einem ausbreitet. Ein solcher Punkt ist das San Jacinto Monument, eine gut 173 Meter hohe Säule, die am Ufer der Trinity Bay in den Himmel ragt, vier oder fünf Kilometer östlich des Stadtzentrums von Houston. Abgesehen von dem Denkmal selbst, einem massiven Obelisken, der an die entscheidende Schlacht der sogenannten „texanischen Revolution“ erinnert (siehe unten), kann man hier sehen, dass Houston sich ursprünglich entlang der Ufer des Buffalo Bayou ausgedehnt hat, eines diagonal in die Bucht mündenden Flusses. Wenn man auf die Bucht hinausschaut, hat man die Stadt im Rücken, das Landesinnere zur Linken und die südliche Golfküste – beinahe 80 Kilometer entfernt – zur Rechten. Hinter dem Horizont liegt, vor dem südlichen Eingang der Bucht, Galveston Island, das die Binnengewässer der Region vor der Wucht der Stürme über dem Golf abschirmt. Dort, auf der Insel, befindet sich auch einer der größten Häfen der Region. Früher legten die großen Hochseefrachter im Hafen von Galveston an und ihre Ladung wurde auf Frachtkähne umgeladen, die sie über die Bucht und den Fluss hinauf bis nach Houston beförderten. Die erste europäische Siedlung im heutigen Großraum von Houston, Harrisburg, wurde 1823 gegründet, ebenfalls an den Ufern des Buffalo Bayou. Ein Dutzend Jahre später wurde die Stadt, nachdem sie in den Revolutionswirren niedergebrannt war, einige Meilen flussaufwärts neu gegründet  – und auf den Namen „Houston“ getauft. Seitdem hat sie sich immer weiter ausgedehnt und die Landschaft gefressen; der Fluss ist in einen von Schleusen regulierten Schiffskanal verwandelt worden; und ein kleiner eigener Hafen bildete den Kernpunkt des ursprünglichen Stadtzentrums. Mit Blick auf seine Landseite kann man den Grundriss von Houston, der jeden aus der Fassung bringt, der zum ersten Mal über das Gewirr von Freeways fährt, am besten verstehen, indem man auf der Karte zunächst den Highway 10 ausfindig macht, der wenige Meilen nördlich des Stadtzentrums in ost-westlicher Richtung verläuft. Dieser Highway folgt nämlich der alten Trasse, die einst parallel zur Golfküste von San Antonio (rund 300  Kilometer westlich gelegen) nach Baton Rouge führte, das gute 450  Kilometer weiter im Osten liegt. Die Nord-Süd-Achse des heutigen Houston bildet die Main Street, die vom Stadtzentrum bis zu jenem besagten Highway 10 hinausführt und dabei auch den Buffalo Bayou überquert. Um den Stadtkern verläuft eine innere Ringstraße, zu denen die übrigen Ausfallstraßen wie die Speichen eines riesigen Rades hinführen: nach 619

11. Tejas

­ orden in Richtung Dallas / Fort Worth, nach Süden Richtung Angleton N an der Golfküste, in nordwestlicher Richtung nach Austin, der Hauptstadt des Bundesstaates, nordöstlich nach Nacogdoches, in südwestlicher Richtung nach Corpus Christi und Richtung Südosten nach Galveston. Das Ölfeld Spindletop – „der Ort, an dem die texanische Ölindustrie geboren wurde“ – liegt auf dem Stadtgebiet von Beaumont, rund 130 Kilometer weiter auf dem Highway 10 nach Osten. Bei meinem Besuch lag die 200-Jahr-Feier von Houston noch zwanzig Jahre in der Zukunft, doch die Lokalpresse hatte sich des Themas bereits angenommen – mit stolzgeschwellter Brust, versteht sich. Es war aber ja auch wirklich bemerkenswert, wie eine kleine Ansammlung von Blockhütten, die man dicht gedrängt ans Ufer des Buffalo Bayou gezimmert hatte, schließlich zu der heutigen Mega-Metropole Houston heranwachsen konnte.19 Mit einer Einwohnerzahl von über 6 Millionen in der Metropolregion liegt Houston zwar weit hinter Chicago (9,5 Millionen) und New York City (20  Millionen), aber was seine Fläche angeht  – rund 1500  Quadratkilometer  – kann ihm nur noch Los Angeles das Wasser ­reichen, und selbst das ist mit etwa 1200 Quadratkilometern – zumindest ­flächenmäßig – deutlich „kleiner“. Aber so ist das eben in Texas: Platz ist reichlich vorhanden.20 Mein nächster Termin war ein Abendvortrag an der Rice University, der führenden Privathochschule in der Stadt.21 Drei Dinge erscheinen mit Blick auf diese Universität besonders interessant. Erstens kam es zur Errichtung und 1912 zur Eröffnung ihrer prachtvollen Gebäude, nachdem ihr Gründer ermordet worden war. William Marsh Rice (1816–1900) war ein erfolgreicher Geschäftsmann gewesen, der mit dem Bau von Eisenbahnen, dem Immobiliengeschäft und dem Baumwollhandel ein Vermögen angehäuft hatte. Dann jedoch vergiftete ihn sein Butler, in dem vergeblichen Versuch, das Vermögen seines Dienstherrn in die Taschen eines dubiosen New Yorker Anwalts zu schleusen. Zweitens stand die Universität anfangs nur jungen weißen Männern offen. Drittens geschah es bei einer Rede im Stadion der Rice University, dass Präsident John F. Kennedy im September 1962 die folgenreichen Worte sprach: We choose to go to the moon … – „Wir haben den Mond als Ziel gewählt, nicht weil das leicht zu erreichen wäre, sondern gerade, weil es schwierig ist“  – und weiterhin ankündigte, die Vereinigten Staaten wollten in dem kommenden Jahrzehnt zur „führenden Raumfahrtnation der Welt“ aufsteigen. Was ihnen dann ja auch gelang. 620

Comanchen, Chicanos und Siedler – Freunde und Feinde

Bei all den Terminen und Gesprächen, die sich für mich in Houston aneinanderreihten, fiel mir eine Sache rasch auf: der Texas drawl, diese unnachahmliche Art, das Englische auszusprechen. Der Linguistik zufolge ist das texanische Englisch gewissermaßen ein sprachlicher Ableger der benachbarten Südstaaten, aus denen die meisten englischsprachigen Siedler nach Texas kamen. Aber es hat sich seitdem doch stark weiter- und damit von den Idiomen Louisianas, Alabamas und Mississippis fortentwickelt und besitzt eine ganze Reihe auffälliger Eigenheiten. Eine davon ist die regelmäßige Verwendung der Form y’all (= you all, „ihr alle“) für die Anrede in der zweiten Person Plural. Dann gibt es da ein Phänomen, das die Sprachwissenschaft als das Auftreten von „multiplen Modalverben“ umschreibt, das heißt zwei oder mehr Hilfsverben werden einfach in einen Satz gepackt: I  may should go oder we might supposed to oder they might oughta do it („das dürften sie wohl müssen“, sprich: das sollten sie wohl besser). Eine dritte Eigenart ist die Angewohnheit, Vokale derart weit zu dehnen, dass nicht selten die Grenze zur Selbstparodie überschritten wird. Das Wort America beispielsweise klingt dann nicht selten eher wie Amöhr-cka. Und schließlich gibt dem texanischen Wortschatz, der sich in der englischsprachigen Welt nicht zuletzt aufgrund zahlreicher Westernfilme einer gewissen Bekanntheit erfreut, sein ganz spezieller Mix aus Hinterwäldlerdialekt und mexikanischen Einsprengseln erst die richtige Würze – dabei spiegeln beide Einflüsse die wechselvolle Geschichte des heutigen Texas wider: alrighty – also gut, … jalapeño – eine grüne Chilischote howdy! – Hallo, wie geht’s? lariat (la reata) – ein Lasso arroyo – eine Schlucht fixin’ to – sich bereitmachen,     etwas zu tun ah’ mo – Ich werd’ mal … chaparral – Buschwald, Unterholz blue norther – kalter Nordwind frijoles – Kidneybohnen gully-flusher – starker Regen vaquero – Cowboy maverick – herumstreunendes Kalb chaparejos – Cowboy-Überhosen      ohne Brandzeichen       aus Leder22

Das Schlimmste, was man über einen Texaner sagen kann, ist, dass er all hat and no cattle sei – „großer Hut und keine Herde!“ Und der Literaturnobelpreisträger John Steinbeck hat einmal geschrieben: „Texas ist ein Geisteszustand …, aber ich glaube, es ist mehr als das. Es ist eine [mystische Erfahrung], die einer Religion ähnelt.“23 621

11. Tejas

Oft kann man einiges über ein Land erfahren, wenn man seinen Leuten in die Kochtöpfe schaut: Sage mir, was du isst – und ich sage dir, wer du bist. Wer in Houston essen gehen will, muss sich gewissen Ritualen unterwerfen. Das Restaurant mit dem vielversprechenden Namen A Taste of Texas liegt irgendwo draußen am Beltway, der Ringautobahn um die Stadt.24 Die Gäste zahlen 100 Dollar pro Kopf und werden dafür in eine riesige Scheune gepfercht, wo Gesang und Geschrei und die Aufführung einer familienfreundlich gesäuberten Cowboy-Schnulze uns einen vergnüglichen Abend bescheren sollen. Auf der Speisekarte  – die über­ raschenderweise nicht nur auf Englisch und Spanisch, sondern auch auf Russisch vorliegt – stehen Steak, Steak, Steak oder wahlweise auch Steak: 10 Unzen, 14 Unzen, 18 Unzen oder 24 Unzen – Ribeye, Mittelstück, Porterhouse oder T-Bone. Das mächtige „Cowboy-Steak“ bringt satte 24 Unzen auf die Waage (immerhin rund 680 Gramm) und kann – ein Zugeständnis an die Ortsfremden – auch zu zweit verzehrt werden. Ofenkartoffeln, grüne Bohnen oder Salat sorgen für ein wenig Abwechslung am Rande – und wer hinterher immer noch Hunger leidet, gönnt sich noch ein Dessert  – wie wär’s mit dem Texas Pecan Pie oder dem Texas Tower ­Chocolate Cake? Die Teller sind fast größer als die Tische. Vor dem Essen findet ein Initiationsritus statt. „If y’all are nu te Texus“, verkündet uns der Kellner im besten CowboyDialekt, „we’ve sompt’n for yer“ – für uns Texas-Neulinge hat er genau das Richtige. Da fürchtet der Fremde natürlich, er müsse jetzt gleich vor aller Augen Bier aus einem Cowboyhut saufen oder mindestens The Yellow Rose of Texas a capella zum Besten geben – ohne Stimmgabel. Panik ist jedoch fehl am Platz, denn nachdem die Kellner mit ihrer Ankündigung die Anspannung in die Höhe getrieben haben, knoten sie uns bloß ein rot gemustertes Cowboytuch um den Hals und wünschen einen guten Appetit. Das musikalische Begleitprogramm des Abends – die typischen singing Cowboys, deren Repertoire sämtliche Evergreens des Country-Genres umfasst  – erweist sich als genauso unkompliziert wie die Speisekarte. Aber die Qualität selbst der schlichtesten Melodien entspricht der hohen Qualität unserer Steaks, die wirklich exquisit sind. Und die merkliche Melancholie der Texte gibt ihren Senf dazu, verleiht dem Ganzen erst die richtige Würze: Then come sit by my side if you love me Do not hasten to bid me adieu 622

Comanchen, Chicanos und Siedler – Freunde und Feinde

Just remember the Red River Valley And the cowboy who loved you so true. … As I walked out in the streets of Laredo As I walked out in Laredo one day I spied a young cowboy, wrapped all in white linen Wrapped in white linen as cold as the clay.

Dann setz’ dich doch her, sag’, du liebst mich, nimm dir doch Zeit, eh’ du gehst, vergiss nie das Red River Valley und den liebenden Cowboy, der treu zu dir steht. … Wie ich eines Morgens durch Laredo streifte, durch die Straßen Laredos so schön, sah ich einen Jungen, ’nen Cowboyburschen, ins Grabtuch gepackt, kalt wie Lehm.25

Einzige Alternative zum Steak ist die Tex-Mex-Küche. Entgegen einer verbreiteten Meinung handelt es sich dabei aber nicht einfach um „mexikanische Küche nach texanischer Art“, sondern vielmehr um das Produkt einer echten kulturellen Integration, bei der amerikanische Zutaten und amerikanische Zubereitungsarten mit den Charakteristika der ursprünglichen, spanisch-mexikanischen Gerichte verschmelzen.26 Die Bezeichnung „TexMex“ stammt im Übrigen von der Texas-Mexican Railway, einer Eisenbahnlinie, die 1875 zwischen Corpus Christi und Rancho Banquete eröffnet wurde. Auf den Fahrplänen fand damals die Abkürzung „Tex-Mex“ Verwendung. Das typische Gericht der Tex-Mex-Küche ist Chili con Carne: Als Grundlage werden gut gewürzte Bohnen auf einem Bett aus Tortillas ausgebreitet; darauf kommt dann gebratenes Hackfleisch und zu guter Letzt eine ordentliche Portion geriebener Käse. Manche Restaurants in Houston bezeichnen sich selbst als „Mex-Mex“  – das heißt, es gibt dort original mexikanische Küche –, andere als „Mix-Mex“, was anzeigt, dass sowohl mexikanische als auch „Tex-Mex“-Gerichte auf der Karte stehen. Das älteste Tex-Mex-Restaurant von Houston gehört übrigens zu einer Kette namens Molina’s Cantina.27 Die Tex-Mex-Musik ähnelt der Tex-Mex-Küche, insofern sie nicht ­einfach „aus Mexiko importiert“ wurde, sondern aus der Vermischung spanischer 623

11. Tejas

Texte und lateinamerikanischer Melodien mit jenen Rhythmen, Harmonien und Instrumenten hervorgegangen ist, die Immigranten aus Mittel­ europa im 19. Jahrhundert mit nach Texas gebracht haben. Die böhmische Polka im Zweiviertel- und die süddeutsche Blasmusik im Dreiertakt haben beide ihren Beitrag geleistet, der sich noch immer erkennen lässt. Und das allgegenwärtige Akkordeon muss damals auch im Gepäck gewesen sein. Echte Kenner, denen die spätere Anlagerung von Rock- und Beatelementen in der Tex-Mex-Musik ein Gräuel ist, bestehen auf der traditionellen Bezeichnung Conjunto, was so viel heißt wie „Verschmelzung“ oder „Fusion“. Und die Puristen unter den echten Kennern pochen gar auf Conjunto Puro. Zum Kernrepertoire dieses auch Tejano genannten Genres gehören Songs, wie sie die Sängerin Selena, die Queen of Tejano, bekannt gemacht hat, die 1995 im Alter von nur 23 Jahren kaltblütig ermordet wurde. Auf den unzähligen Tex-Mex-Radiosendern laufen ihre Hits noch immer rauf und runter – das lindert die Langeweile auf dem Freeway zumindest ein bisschen: Este dolor que yo tengo muy dentro de mí És debido a mi terco corazón Mi terco corazón que nunca aprendió El precio que tienes que pagar Cuando cae en las redes del amor. Terco corazón, terco corazón! 28

Dolor heißt „Schmerz“, terco „störrisch“, corazón „Herz“ – und las redes del amor sind „die Netze (oder Verstrickungen) der Liebe“. Die starke Präsenz von Amerikanern mexikanischer Abstammung (die hier wahlweise als Chicanos, Tejanos oder Latinos* bezeichnet werden) verweist bereits auf die Tatsache, dass Texas im Allgemeinen – und Houston * Chicano – eine verkürzte Form des spanischen Wortes mexicano – ist ein Begriff, der

alle US-Bürger mexikanischer Abstammung einschließt. Seine Bedeutung überschneidet sich mit der Bedeutung anderer Bezeichnungen wie etwa Latino oder Hispanic. Früher hatte Chicano einen abwertenden Beigeschmack, aber seit dem Chicano Movement, einer Bürgerrechtsbewegung der 1960er-Jahre, die alle positiven Seiten des chicanismo herausstrich, hat das Wort eine neutralere Bedeutung angenommen. Tejano beziehungsweise – bei Frauen – Tejana bezeichnet dagegen ausschließlich die Angehörigen der mexikanisch-amerikanischen Gemeinschaft in Texas. Zuerst aufgekommen ist die letztere Bezeichnung in der Kolonie Neuspanien; man nannte so die Siedler, die in die neue Provinz im Norden, nach Tejas, zogen. Später wurde Tejano dann zur üblichen Bezeichnung für alle Texaner hispanischer Herkunft.

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Comanchen, Chicanos und Siedler – Freunde und Feinde

im Besonderen  – früher einmal zu Mexiko gehört haben. Die örtlichen Heimatforscher beispielsweise sprechen von einer Ära, die sie als das „mexikanische Texas“ bezeichnen, und die ihrer Ansicht nach von 1821 bis 1836 gedauert hat. Allerdings muss man, um die Ursprünge von Houston und von Texas wirklich verstehen zu können, noch ein ganzes Stück weiter zurückgehen – bis in das frühe 18. Jahrhundert sogar –, und sich dann die genaue Entwicklung jenes riesigen Stücks Niemandsland ansehen, das sich zwischen dem nördlichen Neuspanien (dem heutigen Mexiko) und der damaligen französischen Kolonie Louisiana erstreckte. Die drei Parteien, die am Schicksal jenes vermeintlichen Niemandslands das größte Interesse hatten, waren die einheimischen Stammesgesellschaften (vulgo die „Indianer“); die koloniale Obrigkeit von Neuspanien und deren Nachfolger; schließlich die Pioniere, Siedler und Grenzbewohner, die aus den Südstaaten der USA nach Westen vorstießen, wo die beinahe menschenleere Weite der Frontier lockte. Fürs Erste kamen die wenigsten von ihnen an dem Sperrriegel der französischen Territorien vorbei. Aber ihre Zeit würde kommen. An der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert hatte das riesige, kaum besiedelte Gebiet zwischen dem Rio Grande und dem Mississippi weder einen festen Namen noch einen gesicherten internationalen Status. Seinen allerersten, nur kurzlebigen Namen – Amichel – hatten die frühen spanischen Entdecker der Golfküste und ihres Hinterlandes erfunden; er konnte sich aber nicht durchsetzen. Im 18.  Jahrhundert sprachen die Spanier dann ­entweder von der Comancheria – also der „Komantschei“, dem Land der Komantschen –, wenn von den nördlichen und westlichen Teilen des Gebiets die Rede war; oder sie sprachen von Los Tejas und meinten damit ausschließlich den östlichen Teil. Beiden Bezeichnungen lag ein ähnliches Denkmuster zugrunde. Die Komantschen, die als große Krieger bekannt und wegen ihrer Raubzüge wohl auch gefürchtet waren, hatten erst kurz zuvor ihre angestammten Jagdgründe weit im Norden verlassen und waren nach Süden gezogen, wo sie als „Neuankömmlinge“ auf die Abneigung sowohl der ansässigen Indianerstämme als auch der Spanier stießen. Comantsi bedeutet „Feinde“, und so nannten sie sich natürlich nicht selbst, sondern es war der Name, den ihnen die Einheimischen – genauer gesagt die Ute-Indianer, mit denen sie verfeindet waren  – gegeben hatten. (Die Komantschen nannten sich selbst Numunu, das bedeutet „das Volk“.) Tejas dagegen, was für spanische Ohren wie ein Plural klingt und damals „Teschas“ ausgesprochen wurde, war die bestmögliche Annäherung der 625

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Konquistadoren an das Wort Taysha aus der Sprache der Caddo-Indianer – und das bedeutet „Freund“. „Taysha!“ war der übliche Gruß der CaddoKrieger, wenn sie einem Fremden in friedlicher Absicht begegneten. Hier Comantsi, Tayshas dort  – in mehr als einer Hinsicht hätte man jenes umkämpfte Niemandsland also als ein „Land der Freunde und Feinde“ bezeichnen können. Die erstaunliche kulturelle Vielfalt der amerikanischen Ureinwohner ist den meisten Menschen überhaupt nicht bewusst.29 Ihre verschiedenen Stämme oder „Nationen“, von denen es einst mehrere Tausend gab, hatten keine gemeinsame Sprache, keine gemeinsame Lebensweise und daher auch kein Zusammengehörigkeitsgefühl  – keine unbedingte Solidarität. Von den Inuit in der fernen Arktis bis zu den nomadischen Stämmen der Prärie- und Plainsindianer, von Jägern und Sammlern bis hin zu sesshaften Ackerbauern gab es eine enorme Vielfalt. In der Forschung werden die einzelnen Stämme nach linguistischen, regionalen und ethnologischen Kriterien klassifiziert, wodurch sich komplexe und einander mitunter auch überlappende Gruppierungen ergeben. Allein im „Land der Freunde und Feinde“ lebten nicht weniger als 28 unterschiedliche Volksstämme: Alabama-Coushatta Coahuiltec Pakana Anadarko Delaware Potawatomi Apachen Hasinai Shawnee Arapaho Jumano Tawakoni Bidai Karankawa Tigua Biloxi Kichai Waco Caddo Kickapoo Wichita30 Cherokee Kiowa Cheyenne Komantschen Chickasaw Muskogee (Creek)

Es ist daher eine schlichte Tatsache, dass die indigenen Amerikaner untereinander noch weitaus stärker gespalten waren als die Europäer. Die Angehörigen der von den Briten sogenannten „Fünf zivilisierten Stämme“, die ursprünglich östlich des Mississippi gesiedelt hatten, waren unter der Führung der Cherokee zu einer wenigstens „halbeuropäischen“ Lebensweise übergegangen, hatten sich Blockhütten in festen Siedlungen gebaut. Die Stämme der Caddo, Wichita und Waco hingegen, deren Heimat weiter im Inneren des Kontinents lag, waren halb nomadische „Jäger und Farmer“. 626

Comanchen, Chicanos und Siedler – Freunde und Feinde

Amerikanische Ureinwohner, 1800

PAWNEE ARAPAHO

OSAGE

JIKARILLA

QUAPAW WICHITA

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de ra n oG Ri

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CADDO

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A

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KIOWA

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MISSOURI

KANSA

A NK

WA

ATAKAPA

Golf von Mexiko

400 km

Die Jumano wiederum waren ein sogenanntes Pueblo-Volk, ähnlich den Hopi und den Navajo weiter im Westen. Die Stämme der CoahuiltecGruppe im Süden waren noch immer Jäger und Sammler; die Karankawa an der Küste lebten vom Fischfang. Den wenigsten von ihnen wäre es eingefallen, sich den kriegerischen, Büffel jagenden Apachen oder Komantschen anzuschließen, deren ständige Überfälle und Kriegszüge ihre Nachbarn in Angst und Schrecken versetzten. Im Normalfall hatte man es also mit einem Kaleidoskop zu tun, dessen Stammesloyalitäten und -animositäten, Allianzen und Konfrontationen sich andauernd neu ergaben.31 Von den 22  Gruppen, in die sich die Indianersprachen Nordamerikas damals gliederten, waren drei im „Land der Freunde und Feinde“ vertreten. Die Sprachen der Caddo-Familie wurden auf den Great Plains, der westlich gelegenen Prärie, gesprochen. Die Sprache des eigentlichen CaddoStamms war eng mit der Sprache der Wichita verwandt, aber auch mit der Sprache der Pawnee, die weiter nördlich lebten. Die Sprecher der Na-DenéSprachen gehörten einer weit verstreuten Vielzahl von Stämmen an, die jedoch eine Sache einte: Ihre Eigenbezeichnung war jeweils eine Abwandlung von Na-Dené („das Volk“). Der Verbreitungsschwerpunkt dieser Familie liegt im äußersten Nordwesten des Kontinents, in Alaska und dem nordwestlichen Kanada; einige Forscher vermuten sogar eine Verbindung 627

11. Tejas

zur jakutischen Sprache im Osten Sibiriens. Die südlichste Untergruppe der Na-Dené-Sprachen umfasst die Sprachen der Navajo und der Apache. Die uto-aztekische Sprachfamilie wiederum hat ihren Ursprung in der Sierra Nevada und umfasst heute rund dreißig Sprachen, die sich auf acht Untergruppen verteilen. Zu den nördlichen Vertretern gehören die Sprachen der Ute und der Schoschonen; im Süden ist die Sprachfamilie unter anderem bei den Hopi und den Nachfahren der Azteken im heutigen Mexiko vertreten. Zu den Numic-Sprachen  – einem weiteren Zweig des Uto-Aztekischen  – zählen die Sprachen von etwa einem halben Dutzend Stämmen, deren Eigenbezeichnung jeweils eine Variante von Nu („Person“) ist. Die bedeutendsten unter ihnen sind die Sprachen der Schoschonen und der Komantschen. Diese beiden Stämme leben zwar heute sehr weit voneinander entfernt, sind sprachlich jedoch eng miteinander verwandt.32 Vor dem Beginn des 20. Jahrhunderts war kein Europäer in der Lage, die ganze Komplexität der – und die großen Zusammenhänge zwischen den – indianischen Kulturen zu verstehen. Zwar konnten einzelne Forschungsreisende und Abenteurer, Missionare oder Händler die Sprachen oder Gebräuche bestimmter Stämme erlernen, mit denen sie in Kontakt kamen – aber das große Gesamtbild blieb ihnen doch verborgen. Ohnehin waren die Europäer hauptsächlich daran interessiert, wie die Indianer auf die europäische Präsenz in ihrem Lebensraum reagieren würden. In Texas fanden sie schon bald heraus, dass einige der Ureinwohner – etwa die Angehörigen der Caddo-Konföderation  – vergleichsweise friedlich auf die Eindringlinge zukamen, während die Komantschen beispielsweise eine deutliche – viele hätten damals gesagt: eine angeborene – Feindseligkeit an den Tag legten. Die Caddo-Konföderation war ein politischer Zusammenschluss von Stämmen, deren Sprachen der gleichnamigen Sprachfamilie entstammten. Ihr Gebiet lag in dem Bereich zwischen dem Sabine River und dem Trinity River im Osten des heutigen Texas. Bei ihren ersten Begegnungen mit Franzosen und Spaniern in den 1680er-Jahren zeigten sich die „Hasinai“ (wie die Angehörigen der Konföderation auch genannt wurden) den Besuchern gegenüber nicht feindselig, und diese stellten fest, dass die Indianer über ein ausgefeiltes Herrschaftssystem verfügten. Ein oberster Häuptling, der „Große Xinesi“, fungierte sowohl als politischer Anführer wie auch als religiöses Oberhaupt der Gemeinschaft. Er lebte abgeschottet in einem „Palast“ und stand einem Ältestenrat vor, deren Mitglieder aus den verschiedenen „Kantonen“ der Konföderation stammten. Die Hasinai waren vor allem als Händler tätig; sie waren die Mittelsmänner, die eine Verbindung zwischen den „Zivilisierten Stämmen“ des Ostens und den stärker 628

Caddo

Massachsett Lenape

Illinois

Eastern

Chicasaw

Choctaw

Catawban

Apache

Athabaskan

Na-Dené

Navajo

O’odham

Shoshoni Comanche

Dakotan Winnebago

Crow

Creek

Uto-Aztecan

Northern Southern Eastern

Siouan

Western

Eastern

Muskoger

Western Shushwap

Salishan

Salish

Pawnee

Caddoan

Shawnee

Central

Cree

Arapaho

Cheyenne

Blackfoot

Algic

Algonquian

Cherokee

Plains

Huron

Iroquian

Die Sprachen der nordamerikanischen Ureinwohner (Auswahl)

Comanchen, Chicanos und Siedler – Freunde und Feinde

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11. Tejas

vereinzelt lebenden Gemeinschaften im westlichen Landesinneren herstellten. Zum bitteren Lohn für ihren frühen Kontakt mit den Europäern erhielten die Hasinai auch als Erste Kontakt mit deren Krankheiten: Tödliche Epidemien forderten zahlreiche Opfer.33 Die Komantschen waren im „Land der Freunde und Feinde“ bis 1743 völlig unbekannt. In jenem Jahr erschien eine Gruppe von Komantschenkriegern vor den Toren der spanischen Mission von San Antonio. Sie waren einigen Lipan-Apachen auf den Fersen, mit denen sie verfeindet waren und die sie im Verdacht hatten, mit den Spaniern zu kollaborieren. Fünfzehn Jahre später tauchte vor der Mission von Santa Cruz de San Sabá ein noch wesentlich größerer Kriegstrupp der Komantschen auf, überfiel und plünderte die Mission, die Jesuiten für die Apachen eingerichtet hatten. Einer spanischen Strafexpedition, die zur Verfolgung der Plünderer losgeschickt wurde, fügten diese eine bittere Niederlage zu. Damit war der Rubikon überschritten. Nicht umsonst nannten die Komantschen sich stolz die „Herren der Prärie“. Binnen einem halben Jahrhundert, nachdem sie zum ersten Mal mit Pferden und Schusswaffen in Berührung gekommen waren, hatten sie ihre ganze Lebensweise umgestaltet: Als unaufhaltsame Eroberer kamen sie nun von den Bergen im Nordwesten in die Großen Ebenen heruntergeritten. Auch gelang es ihnen, ihre Nahrungsversorgung deutlich zu verbessern, indem sie sich zu Meistern der berittenen Bisonjagd entwickelten. Und mit mehr Nahrung konnten sie eine größere Anzahl von Stammesmitgliedern ernähren, was wiederum ihre territoriale Reichweite erhöhte. Wie die Spanier – zu ihrem Leidwesen – feststellen mussten, hatten die Komantschen einen Grad von Stärke erreicht, der sie vor einer bewaffneten Auseinandersetzung mit dem „weißen Mann“ nicht mehr ­länger zurückschrecken ließ. Aus dieser frühen Zeit sind mehrere Augenzeugenberichte von der Lebensweise der Komantschen überliefert. Die Beobachter beeindruckten vor allem die außerordentlichen Reitkünste der Indianer. Männer wie Frauen lernten schon von klein auf, mit Pferden umzugehen. Die Komantschen trugen Wild- und Büffelleder. Sie lebten in Tipis oder „Wigwams“, die leicht wieder abgebaut und an einen anderen Ort mitgenommen werden konnten. Ihr Erfolg als Händler beruhte nicht zuletzt auf dem Handel mit Pferden, gestohlenem Vieh und (menschlichen) Gefangenen. Auch stellten die Beobachter fest, dass die Verhaltensweisen innerhalb der einzelnen Komantschengruppen den jeweiligen Gruppenmitgliedern ein hohes Maß an persönlicher Freiheit gestatteten. Jede Gruppe wurde von einer Doppelspitze aus zwei Häuptlingen angeführt: einem für Friedens- und 630

Comanchen, Chicanos und Siedler – Freunde und Feinde

einem für Kriegszeiten. Der Friedenshäuptling führte den Vorsitz bei den regelmäßigen Ratssitzungen der Stammesältesten. Jedoch war keine Entscheidung der Häuptlinge verbindlich, die nicht auf allgemeine Zustimmung in der Gruppe stieß. Dies hatte zur Folge, dass Verhandlungen mit den Komantschen ganz besonders heikel waren: Mitunter willigte eine Gruppe in ein Abkommen ein – und die nächste lehnte es ab! In militärischer Hinsicht waren die Komantschen berühmt dafür, dass ihre Untergruppen sich problemlos – je nach Bedarf – zu größeren Einheiten zusammenschließen oder wieder zerstreuen konnten. Zu den nörd­ lichen Komantschen, die im Landesinneren am weitesten entfernt von der Golfküste umherzogen, gehörten die Kotsoteka oder „Büffelesser“, die Yamparika oder „Wurzelesser“, die Quahadi oder „Antilopen“ und noch andere mehr. Die mittleren Komantschen setzten sich aus den Nokoni („die umkehren“), den Tanima („Leberessern“) und den Tenawa („die unten am Fluss“) zusammen. Unter den südlichen Komantschen dominierten die Penateka, die „Honigesser“. Aufgrund ihrer geografischen Lage waren es auch die Penateka, die den engsten Kontakt mit den Europäern hatten.34 Die ersten europäischen Siedler waren bereits im 16.  Jahrhundert in die Region gekommen, aber die Besiedlung hatte keine großen Fortschritte gemacht. Bei der Ankunft der ersten spanischen Entdecker im Jahr 1527 war ihnen die Gegend wenig attraktiv erschienen: heiß, dunstig-schwül oder ausgedörrt im Wechsel, von Indianerüberfällen bedroht und von ­Tornados heimgesucht. Über viele lange Jahrzehnte hinweg wurden nur lauwarme Versuche unternommen, das Siedlungsgebiet Neuspaniens nach Norden auszudehnen. 1685 versuchten die Franzosen, an der Bucht von Matagorda, im mittleren Bereich der heutigen texanischen Golfküste, ein Fort zu etablieren; dieses wurde jedoch bei einem Indianerüberfall vollkommen zerstört. Fünf Jahre später richteten spanische Mönche an einem Ort, der gut 150 Kilometer vom heutigen Houston entfernt im Landesinneren lag, die Mission von San Francisco de los Tejas ein. Überschwemmungen, die Pocken und Versorgungsprobleme sorgten jedoch dafür, dass die Missionare schon bald wieder den Rückzug antraten. Ab 1718 schnitt jedoch die französische Kolonie Louisianie, die im Bereich des Mississippideltas errichtet und nach König Ludwig XV. benannt worden war, die spanischen Besitzungen am westlichen Ende der Golfküste von jenen im Osten, in Florida, ab. In der Folge wuchs die von den Franzosen gegründete Hafenstadt La Nouvelle-Orléans (New Orleans) rasch zum größten Handels- und Kommunikationsknotenpunkt in der ganzen Region 631

11. Tejas

heran. Als Reaktion hierauf sahen sich die Spanier angehalten, die nördlichen Grenzen Neuspaniens fortan stärker zu sichern. Also gründete man – allerdings schon in demselben Jahr, in dem auch Louisiana gegründet wurde – das Fort von San Antonio de Béxar an dem gleichnamigen Fluss – die Keimzelle der heutigen Stadt San Antonio.35 Rundum verteilt lagen sechs katholische Missionen, durch welche die Indianer christianisiert und damit letztlich zu braven Untertanen der spanischen Krone gemacht werden sollten. Es waren dies die Misión Concepción, Misión San José, Misión San Juan, Misión San Miguel, Misión Espada und die Misión San Antonio de Valero, allgemein bekannt unter dem Namen El Álamo nach der spanischen Bezeichnung für die Zitterpappel, die in der Gegend häufig vorkommt. Weiter östlich lag noch ein gutes Dutzend weiterer Missionen verteilt. Allerdings erwies sich dieses Vorgehen als wenig effektiv. Zudem machten die Franzosen keinerlei Anstalten, den Mississippi in Richtung Westen zu überschreiten; ihr strategisches Ziel war es vielmehr, die Transport- und Kommunikationswege nach Norden, in Richtung Kanada, zu sichern. Nur sehr wenige Europäer kamen in die Gegend, um sich dort anzusiedeln. Es gelang den Spaniern nicht, die sesshaften Indianerstämme vor den Überfällen der Apachen und Komantschen zu schützen; und die Indianer zeigten insgesamt nur ein geringes Interesse am Katholizismus. Schließlich wurden sämtliche Missionen im Osten aufgehoben und die Mission des „Alamo“ in einen militärischen Stützpunkt umgewandelt. Wie es der Zufall wollte, fiel das Geburtsjahr Sam Houstons, 1793, genau in jene Zeit, die dunklen Jahre im Gefolge der Französischen Revolution, als Europa in Krieg und Chaos gestürzt wurde. Mehr als zwei Jahrzehnte lang sollte der „alte Kontinent“ in dieser Krise feststecken, die den Frieden nicht nur in vielen Staaten Europas, sondern auch in deren Kolonien zerstörte. Frankreich war dabei einer der Hauptakteure, zunächst unter dem Revolutionsregime und dann unter Napoleon. Spanien, das von den Truppen Napoleons erobert und besetzt wurde, gehörte zusammen mit seinen Kolonien zu den hauptsächlichen Opfern. Großbritannien wurde durch die Koalitionskriege zwar erschöpft, fand sich bald jedoch  – gemeinsam mit den erst kürzlich unabhängig gewordenen Vereinigten Staaten von Amerika – auf der Gewinnerseite wieder. Die Rivalität zwischen diesen Mächten brachte in schneller Folge drei einschneidende Veränderungen für die verschlafenen Gegenden rund um den Golf von Mexiko. Zuerst zwang Napoleon die Spanier im Dritten Vertrag von San Ildefonso (1800) dazu, einen beträchtlichen Teil ihrer nordamerikanischen Besitzungen an Frankreich zurückzugeben. Im Jahr darauf begann das 632

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spanische Kolonialreich in der „Neuen Welt“ noch weiter zu zerfallen. Als Erstes traf es San Domingo, dann Bolivien, Venezuela, Uruguay, Chile, Peru, Argentinien und Kolumbien.36 Schließlich entschied sich im Jahr 1803 Napoleon, der die Übermacht der britischen Royal Navy fürchtete, die amerikanischen Besitzungen Frankreichs loszuwerden, indem er sie in der sogenannten Louisiana Purchase („Kauf von Louisiana“) an die Vereinigten Staaten verscherbelte. Aus französischer Perspektive war das wohl eher der „Große Ausverkauf von Louisiana“ – wegen Geschäftsaufgabe … Durch diesen außerordentlichen Deal vergrößerte sich die Fläche der Vereinigten Staaten mit einem Schlag auf das Doppelte: 2,14 Millionen Quadratkilometer kamen hinzu, zum Preis von gerade einmal 8 Cent pro Hektar. Damit wurde die südwestliche Grenze der USA bis zum Mississippi vorgeschoben. Der große Zukauf von 1803 regte außerdem die Expedition von Lewis und Clark an, die im Mai 1804 von St. Louis aus nach Westen aufbrachen, um als erste Europäer das Land zwischen dem Mississippi und dem Pazifik zu erkunden und zu vermessen.37 Im Jahr 1812 erklärte das bisherige „Neuspanien“ sich zum unabhängigen „Kaiserreich Mexiko“. Der Bruch mit dem spanischen Mutterland war eine unschöne Angelegenheit.38 Ein langwieriger Bürgerkrieg brach aus, der wegen des hartnäckigen Widerstands spanischer Loyalisten erst 1821 beendet werden konnte. Als eine weitere Folge wurden die nördlichen Gebiete Nordspaniens in den Jahren nach 1812 beinahe völlig vernachlässigt und wurden in den folgenden Jahrzehnten zu einem Niemandsland, auf das nun jedermann Anspruch erhob: räuberische „Indianer“, vor allem die Komantschen; Mexikaner, die nach Norden zogen; vermehrt aber auch englischsprachige Amerikaner, die – teils als geladene, teils als ungeladene Gäste – begannen, nach Westen über den Mississippi zu kommen. Zwischen 1813 und 1815 stieß, gleichsam als Vorgeschmack der Dinge, die noch kommen würden, eine große Zahl von filibusteros  – räuberischen Abenteurern  – von Osten in das umstrittene Gebiet vor und bedrohte ab­gelegene Siedlungen wie Nacogdoches und La Bahía. Unter der Führerschaft von José Bernardo Gutiérrez, einem Anhänger der von Spanien abtrünnigen mexikanischen Rebellen, und August Magee, einem frustrierten Ex-Offizier der amerikanischen Armee, zog das bunt zusammen­ gewürfelte Abenteurerheer bis nach San Antonio, wo es niedergeschlagen wurde; brutale Repressionen und Massenhinrichtungen waren die Folge. Die filibusteros waren weder die Ersten noch die Letzten in einer langen Reihe von Räuberbanden, die in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die Gegend des heutigen Texas unsicher machten.39 633

11. Tejas

Ab 1820 verfolgten die spanischen Verwalter in den Grenzbezirken eine Politik der geregelten Immigration – ein letzter, verzweifelter Versuch, sich der drohenden Anarchie entgegenzustemmen. Bei der Vergabe von abgesteckten Parzellen an die Siedlungswilligen spielte deren Herkunft oder Religion keine Rolle. Mehrere Tausend Mexikaner nahmen das Angebot nur zu gern an – sie waren die ursprünglichen Tejanos –, aber auch eine Handvoll amerikanischer Siedler kam in das Gebiet. Der bekannteste unter ihnen war Moses Austin (1761–1821), der sich als Pionier des Bleibergbaus in West Virginia einen Namen gemacht hatte. 1821 erwarb er das Recht, Kolonisten in die neuspanischen Grenzgebiete zu bringen, starb jedoch, bevor er sein Vorhaben in die Tat umsetzen konnte. Im Jahr 1824 kaufte einer von Austins vormaligen Partnern, John Richardson Harris (1790–1829), 4427 Morgen (etwa 1800 Hektar) Land am Zusammenfluss des Bray Bayou und des Buffalo Bayou, wo er in der Folge die Stadt Harrisburg gründete. (Der US-Bezirk, dessen Verwaltungssitz Houston ist, heißt ihm zu Ehren noch heute Harris County.) Mit dem Bevölkerungswachstum unter den Siedlern ging ein Anstieg der Viehbestände einher. Als eine Folge des politischen Chaos und der Aufgabe abgelegener spanischer Missionen und Viehfarmen entkamen zahlreiche Rinder aus ihren Ställen und Gattern und streiften fortan wild über die offene Prärie. In der Mehrzahl handelte es sich um Longhorns, eine robuste und vielfarbige Rinderrasse iberischer Abstammung, die sich in der ganzen Gegend ausbreiteten und sich in den fruchtbar-wasserreichen Flusstälern bestens vermehrten. In ihrer halb wilden Form wurden sie schon bald zu einem festen Teil des Landschaftsbildes. Anfangs schienen sie den einheimischen Farmern eher lästig, bildeten später jedoch einen Grundstein der texanischen Agrarwirtschaft.40 Unter den Ersten, die vom US-Territorium in das spanisch-mexikanische Niemandsland übersiedelten, ragen drei Namen besonders hervor. Der Scout, Händler und Dolmetscher Jesse Chisholm (1805–1868) wurde als Sohn eines schottisch-loyalistischen Vaters und einer Cherokee-Mutter in Tennessee geboren. Wegen der Indianerfeindlichkeit in den damaligen Südstaaten ging seine Mutter mit dem Knaben in eine Gegend, die lange Zeit schlicht als „das Indianerterritorium“ bekannt war  – in das heutige Oklahoma. Dort konnte der junge Jesse seine Fertigkeiten als Vermittler, der sowohl Europäern als auch Indianern willkommen war, voll ausbilden. Als Erwachsener sollte er bei einer Reihe von wichtigen Entwicklungen der texanischen Geschichte eine entscheidende Rolle spielen.41 Auch Stephen Austin (1793–1836), der bisweilen als der „Vater von Texas“ bezeichnet wird, 634

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war ein Migrant wider Willen. Geboren wurde er in Virginia als Sohn von Moses Austin und erbte später die seinem Vater bereits zugewiesenen Landbesitzrechte. Die Nachricht von der endgültigen Unabhängigkeit Mexikos hörte er in New Orleans, wo er gerade weilte, um Kolonisten anzuwerben. Durch eine Reise nach Mexiko-Stadt konnte er seinen offiziellen Status als empresario oder „Land- und Grundvermittler“ bestätigen lassen, und so gelang es ihm 1825, nach Überwindung zahlloser Schwierigkeiten, zum ersten Mal eine größere Gruppe von amerikanischen Siedlern – die Old Three Hundred oder „alten Dreihundert“ – in einen Bezirk am Brazos River zu geleiten.42 Zur selben Zeit war Sam Houston noch Abgeordneter des amerikanischen Kongresses in Washington,  D.  C., und hatte zudem noch zwei weitere Jahre seiner Amtszeit als Gouverneur von Tennessee vor sich. Als er jedoch 1830 in ein aufreibendes Gerichtsverfahren verwickelt worden war, floh er nach Mexiko. Auf diese Weise – und ohne die geringste Ahnung davon, welche unbeabsichtigten Konsequenzen sein Handeln haben würde – fand Houston sich unversehens in jenem Teil der Erde wieder, wo sein Name dereinst unsterblich werden würde.43 Die Bezeichnung „Texanische Revolution“ ist nicht gerade glücklich gewählt. Wie schon im Fall der Amerikanischen Revolution, deren Begrifflichkeit sie nachahmte, ging es in Texas nicht um die völlige Umwälzung der gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Verhältnisse. Vielmehr handelte es sich im Grunde um eine erfolgreiche Revolte, eine Unabhängigkeitsbewegung, die eine Gruppe von Herrschenden durch eine andere ersetzte. Das gestürzte Regime war jenes des gerade selbst in die Unabhängigkeit entlassenen Mexiko; die neuen politischen Ordnungen, die als Folge der „Revolution“ zum Tragen kamen, waren zunächst, ab 1836, die der Republik Texas und dann, ab 1845, die der Vereinigten Staaten von Amerika.44 Und als ob das nicht genug wäre, haben sich in der englischsprachigen Geschichtswissenschaft kurioserweise zwei verschiedene Wörter eingebürgert: Texian und Texan, je nachdem, ob von der „texianischen“ Geschichte vor 1845 oder der „texanischen“ Geschichte nach 1845 die Rede ist. Konsequenterweise müsste man also eigentlich von der „Texianischen Revolution“ von 1836 sprechen. Die Ursachen für jene Verwerfungen in Texas lagen in der vorangegangenen „Revolution“ in Mexiko, die im August 1821 durch den Vertrag von Córdoba und den Einzug der Rebellenarmee des Generals Agustín de Iturbide in Mexiko-Stadt ihren Abschluss gefunden hatte. Nachdem sie den Abzug der früheren spanischen Machthaber sichergestellt hatten, riefen 635

11. Tejas

Iturbides Anhänger diesen unter dem Namen Agustín I. zum „Kaiser von Mexiko“ aus und errichteten ihrerseits ein repressives, ultrareligiöses Regime.45 Unter anderem legten sie fest, dass fortan nur noch Katholiken nach Mexiko einwandern durften. Die meisten Siedler und angehenden Kolonisten aus den Vereinigten Staaten waren jedoch Protestanten, und so war mit einem Mal fraglich, ob sie in Zukunft überhaupt legal in Mexiko würden siedeln dürfen. Das mexikanische „Kaiserreich“ war nur von kurzer Dauer. Nach gerade einmal zwei Jahren wurde es zugunsten einer säkularen Republik gestürzt, die sich zwar redlich um die Einführung einer modernen Zentralverwaltung bemühte, aber dennoch sehr labil und von internen Machtkämpfen zerrüttet blieb. Das führte so weit, dass schließlich der Spitzname „Republik der Staatsstreiche“ aufkam. Diese Regierungsform, die ein stabiles Regieren unmöglich machte, hat keiner so treffend verkörpert wie die zentrale Figur der ersten mexikanischen Republik, der General Antonio López de Santa Anna (1794–1876), der sage und schreibe acht Mal als Präsident amtierte – nicht zuletzt dank einem ausgeprägten Gespür dafür, woher der politische Wind wehte. Nachdem er auch den allerletzten, schwächlichen Versuch der spanischen Krone zurückgeschlagen hatte, Mexiko zurückzugewinnen, erklärte sich Santa Anna zum „Retter des Vaterlandes“ und ließ sich als „Napoleon des Westens“ feiern; für die Einheit und den Zusammenhalt der angeschlagenen Republik tat er jedoch nur wenig.46 Die mexikanische Verfassung von 1824 zerteilte das Territorium der Republik in eine Vielzahl weitgehend autonomer Bundesstaaten und Grenzregionen. Das im Norden gelegene „Land der Freunde und Feinde“ rund um San Antonio wurde so zum „Bezirk Bexar“ im Bundesstaat ­„Coahuila y Tejas“. Indem es einem vollwertigen Bundesstaat zugeschlagen wurde, behandelte man es anders als andere Regionen an der nördlichen Grenze, etwa das Territorio de Alta California oder das Territorio de Nuevo México, unterwarf es damit aber auch einem höheren Grad an zentraler Kontrolle. Nicht ohne Grund fürchteten die Einwohner von Bexar, dass ihnen schon bald Wehr- und Steuerpflichten auferlegt würden. 1825 erließ der Bundesstaat Coahuila y Tejas ein eigenes Kolonisationsgesetz (zu dessen ersten Nutznießern Stephen Austin gehören sollte). Durch die Ansiedlung von Kolonisten sollte eine Art Pufferzone oder Stoßdämpfer gegen die Angriffe der Apachen und Komantschen errichtet werden. Man entband die Neuankömmlinge von den zuvor geltenden Religionsbestimmungen und erlaubte ihnen die Aufstellung eigener Milizen. Mehr als dreieinhalbtausend Anträge auf Landzuteilung gingen ein, die allermeisten 636

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Mexiko, 1824

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VEREINIGTE STAATEN VON AMERIKA

ALTA CALIFORNIA

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(UND IHRE TERRITORIEN)

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BAJA CALIFORNIA

CHIHUAHUA TAMAULIPAS

ZACATECAS

TABASCO PUEBLA VERACRUZ

GUANA JUATO MICHOACÁN 500

1000 km

SAN LUIS POTOSÍ VERACRUZ QUERÉTARO

JALISCO

0

Golf von Mexiko

NUEVO LEÓN

DURANGO

Pazifischer Ozean

Atlantischer Ozean

COAHUILA Y TEJAS

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SONORA Y SINALOA

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NUEVO MEXICO

YUCATAN

MÉXICO OAXACA

CHIAPAS

davon im Namen englischsprachiger Amerikaner. Binnen einem Jahrzehnt überstieg die Zahl der Anglos, die sich in Coahuila y Tejas ansiedelten, die Marke von 30 000. Im Bundesstaat als Ganzem war das zwar eine Minderheit – aber im Bezirk Bexar machten sie 80 Prozent der Siedler aus. Bald begannen die Anglos von Bexar, sich als Texians – „Texianer“ – zu bezeichnen, im Unterschied zu den Tejanos, die Spanisch sprachen. Zu den Einwanderern aus den Vereinigten Staaten gehörte auch eine beträchtliche Anzahl von Menschen afrikanischer oder gemischt-ethnischer Abstammung, für die es einfacher war, die Grenze nach Mexiko zu überschreiten, als sich mithilfe der Underground Railroad, einem Netzwerk von Fluchthelfern entlang des Weges, in die Nicht-Sklavenstaaten des Nordens durchzuschlagen. Diese Gruppe setzte sich aus freigelassenen und entlaufenen Sklaven sowie Freigeborenen zusammen, die jenseits der Grenze als Farmarbeiter oder Hausbedienstete Arbeit finden konnten. Eine von ihnen, Emily West, eine frei geborene Farbige aus New York, kam als Vertragsarbeiterin im Auftrag eines Landagenten nach Mexiko, wo sie in den Text eines populären Liedes einging: There’s a yellow rose of Texas that I am going to see. No other darky knows her, no darky only me. She cried so when I left her, it liked to broke my heart, And if I ever find her, we nevermore will part. 637

11. Tejas

(Refrain:) She’s the sweetest rose of color this darky ever knew. Her eyes are bright as diamonds, they sparkle like the dew. You may talk about your Dearest May or sing of Rosie Lee, But the yellow rose of Texas is the only girl for me. In Texas blüht ein Röslein gelb, das such ich flehentlich; kein andrer dunkler Knab’ kennt sie, kein Farbiger, bloß ich. Sie weinte, als ich fortging, da brach das Herz mir bald; sollt’ ich sie jemals finden, werden wir zusammen alt. (Refrain:) Die schönste farbige Rose, die ich Dunkler jemals sah! Ihre Augen hell wie Diamant, wie Morgentau fürwahr. Prahl du von deiner Rosi, behalt deine Mae für dich, doch die gelbe Ros’ von Texas ist die Einzige für mich.

Natürlich hatten sich, als der Song im 20.  Jahrhundert zum Hit wurde, die (sprachlichen) Empfindlichkeiten gewandelt. Aus „darky“ wurde also „soldier“ und die „sweetest rose of color“, die „schönste farbige Rose“, wurde zur „little rosebud“, zum „Rosenknösplein“. („Yellow“ war ursprünglich ein amerikanischer Slang-Ausdruck für sehr hellhäutige Mischlinge oder „Mulatten“.)47 Unterschiedliche empresarios gaben ihren jeweiligen Kolonien einen ganz individuellen Charakter. Stephen Austin beispielsweise war ein gesetzestreuer Mann, der die Bewohner seiner Kolonie dazu anhielt, die mexikanischen Gesetze zu respektieren und den Bedingungen ihrer Landzuweisungsverträge nachzukommen. Genau entgegengesetzt verhielt sich Haden Edwards. Er war der Meinung, dass er und seine Siedler im Bezirk Nacogdoches in Osttexas tun und lassen konnten, was sie wollten. Der Name seiner Kolonie, „Fredonia“, sollte eine latinisierte Form von freedom, „Freiheit“, sein – aber letztlich ging es dann doch eher um Anarchie. Nach seiner Ankunft 1825 begann Edwards damit, sowohl Indianer als auch ansässige Tejanos aus der Region zu vertreiben. Als daraufhin seine Landzuteilung annulliert wurde, versuchte er, gemeinsam mit einigen Getreuen im alten Fort von Nacogdoches Widerstand zu leisten. Beim gemeinsamen Eintreffen von Soldaten der mexikanischen Armee und Komantschenkriegern, die Edwards und seine Leute „hinausbegleiten“ wollten, suchten diese jedoch das Weite. „Austins Kolonie“ dagegen wuchs und gedieh. Hier waren in den 1820erJahren auch die Old Three Hundred untergekommen – die erste nennens638

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werte Gruppe amerikanischer Siedler überhaupt. Die Kolonie erstreckte sich zu beiden Seiten des Brazos River, westlich der Trinity Bay, und ihre Hauptstadt war das zentral gelegene San Felipe. Die nördliche Begrenzung der Kolonie bildete die alte Straße nach San Antonio; im Süden reichte sie bis fast an die Golfküste. An den dafür geeigneten Stellen wurden Plantagen errichtet und nach ihren Besitzern benannt: Hunter’s, Foster, Cunningham, Cartwright und Jones. Auch Siedlungen schossen aus dem Boden, die Namen wie „Holland“, „New Kentucky“, „Pine Point“ oder „Fort Settlement“ trugen. Oft lagen sie an Furten oder Fährstellen an den Flüssen der Gegend: dem Lavaca, Navidad, Brazos, Colorado oder San Bernardo River. Wege wurden gebahnt und Straßen gebaut, um Dörfer und abseits gelegene Farmen miteinander zu verbinden; als Befestigungen und Schutzräume gegen mögliche Angriffe der Indianer wurden drei Forts errichtet: Moore’s Fort, Wood’s Fort und Fort Bend. Ab 1830 zog das Dampfschiff Yellowstone, der ganze Stolz der Kolonie, auf dem Brazos River seine Bahnen. Die Y ­ ellowstone transportierte Fahrgäste, Vieh und Baumwollballen. An der Mündung des Brazos River, bei Velasco, bestand leichter Zugang zum Meer; die Trinity Bay konnte zudem über den Buffalo Bayou und Harrisburg erreicht werden.48 Viele der frühen Ansiedlungen bildeten das Kernstück späterer texanischer counties, so etwa Austin, Colorado, Fort Bend, Harris, Fayette und Washington. Im Jahr 1827 befasste sich die Abgeordnetenkammer von Coahuila y Tejas, die im gut 500 Kilometer weiter südlich gelegenen Saltillo tagte, mit der heiklen Frage der Sklaverei. Die öffentliche Meinung in Mexiko befürwortete in der Mehrheit ihre Abschaffung, und auf dem Weg dorthin waren in Mexiko auch schon wichtige Schritte getan worden: Der Sklavenhandel war bereits abgeschafft und Kinder von Sklaven erhielten ihre Freiheit, sobald sie vierzehn Jahre alt wurden. Aber nun sah ein neues Gesetz vor, dass sämtliche aus den Vereinigten Staaten eingeführte Sklaven binnen sechs Monaten freizulassen seien. Das bedeutete einen herben wirtschaftlichen Verlust für eine große Anzahl amerikanischer Baumwollpflanzer, die in den östlichen Gebieten des Bezirks Bexar gerade dabei waren, Plantagen einzurichten, die von Sklaven bewirtschaftet werden sollten. Der Gouverneur des Bundesstaates beantragte daher einen Aufschub. Die Versuche der Republik, den Bezirk Bexar mit militärischen Defensivkräften und Verteidigungsanlagen auszustatten – zur Stärkung gegenüber der mexikanischen Zentralregierung genauso wie gegen illegale ­Eindringlinge  –, erwiesen sich als unzureichend. In Laredo wurde ein Kommandoposten eingerichtet, zwei kleine Garnisonen im Alamo und dem Presidio La Bahía von Goliad. Dazu wurden drei Milizen aufgestellt: 639

11. Tejas

eine in Bexar, eine zweite in Goliad, die dritte in Austins Kolonie. Der letzte dieser drei winzigen Verbände wurde zur Keimzelle für die späteren Texas Rangers. Trotz aller Gefahren und Unsicherheiten, die ein Leben am Rand der Zivilisation mit sich bringt, ging es dem Bezirk Bexar in wirtschaftlicher Hinsicht blendend. Schon in den frühen 1830er-Jahren wurden alljährlich Tausende Tonnen Baumwolle und Tausende Stück Vieh exportiert, vor allem in die Vereinigten Staaten; die Rinderzucht erlebte einen regelrechten zweiten Frühling. Riesige Herden verwilderter Longhorns und Mustangs schienen nur darauf zu warten, in groß angelegten Aktionen zusammengetrieben, mit Brandzeichen versehen und verteilt zu werden. Die alten spanischen vaqueros wurden die neuen Cowboys, die jedoch noch immer  – fast wie zuvor – von lariats, chapajeros und bandanas sprachen – und aus el rancho wurde die Ranch. Zölle und Abgaben waren den Siedlern zuwider: Der Schmuggel florierte. Zwischen 1827 und 1835 wurden die Debatten über die Zukunft des Bezirks Bexar mit zunehmender Schärfe geführt. Zwei Mal bot die amerikanische Regierung an, den Bezirk für eine Million US-Dollar von Mexiko zu kaufen – zwei Mal wurde das Angebot ausgeschlagen. Währenddessen verzweifelten die mexikanischen Behörden schier an der Aufgabe, in dem Bezirk das geltende Recht durchzusetzen. 1830 hoben sie sogar das Kolonisationsgesetz wieder auf  – nur um dann festzustellen, dass die illegale ­Einwanderung entsprechend zunahm. In Anahuac am östlichen Ufer der Trinity Bay kam es zu gewaltsamen Ausschreitungen, nachdem dort eine Zollstelle eingerichtet werden sollte. Einige der Anglos gaben sich trotzig und aufsässig, während ihre führenden Vertreter sich wiederholt um eine für alle Seiten verträgliche Lösung bemühten. Im Jahr 1832 erarbeitete eine Versammlung in San Felipe de los Brazos, an der sowohl Stephen Austin als auch Sam Houston teilnahmen, Vorschläge für eine effizientere politische Gestaltung des Bundesstaates Coahuila y Tejas; 1834 gelang es ihnen schließlich, ein entscheidendes Zugeständnis zu erwirken: Englisch war nun die zweite Amtssprache. Noch im Januar 1835 veröffentlichte Stephen Austin eine Abhandlung mit dem Titel An Explanation to the Public Concerning the Affairs of Texas („Erklärung an die Öffentlichkeit bezüglich der texanischen Angelegenheiten“), in der die Loyalität des Bezirks Bexar zur mexikanischen Republik mit keinem Wort infrage gestellt wurde.49 In der Zwischenzeit hatten östlich des Mississippi die Staaten des tiefen amerikanischen Südens einen harten politischen Kurs eingeschlagen, der in seiner Drastik alle Anrainergebiete des Golfs von Mexiko betreffen 640

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Austin’s Colony, 1830

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sollte. Dabei ging es im Wesentlichen um zwei Dinge: erstens um die Frage der Sklaverei und zweitens um einen Punkt, der als „die Rechte der [US-] Bundesstaaten in Bezug auf die Souveränität der indianischen Nationen“ beschrieben wurde. 1818 verbot Georgia, immerhin einer der ursprünglichen „Dreizehn Kolonien“, die Freilassung von Sklaven. Und 1819 wurde, trotz heftigem Widerstand, der Sklavenhalter-Staat Alabama als 22.  Bundesstaat in die Vereinigten Staaten aufgenommen. Ein Jahr darauf, 1820, sorgte der „Missouri-Kompromiss“ dafür, dass Missouri – wo die Sklaverei ebenfalls legal war  – den USA nur unter der Bedingung beitreten durfte, dass Maine – wo sie nicht erlaubt war – ebenfalls ein US-Bundesstaat wurde. Derselbe Kompromiss sah vor, dass in allen künftig neu hinzukommenden US-Bundesstaaten die Sklaverei nur dann erlaubt sein solle, wenn sie südlich des 36. Breitengrades lägen; in allen Gebieten nördlich dieser compromise line war die Sklavenhaltung verboten. In Louisiana, US-Bundesstaat seit 1812 und direkter Nachbar des Bezirks Bexar, lag mit New Orleans der größte Sklavenmarkt im ganzen Land. Obwohl der Sklavenhandel über das 641

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offene Meer inzwischen untersagt war, florierte er im Tal des Mississippi und entlang der Golfküste.50 Am 28.  Mai 1830 verabschiedete  der amerikanische Kongress – auf Betreiben des US-Präsidenten Andrew Jackson – den Indian Removal Act („Indianer-Umsiedlungsgesetz“), der die Enteignung und Vertreibung von Ur-einwohnern vorsah, deren Gemeinschaften auf Land innerhalb der US-Grenzen lebten, wofür sie mit unbesiedeltem Land westlich des Mississippi „entschädigt“ werden sollten. In der Theorie beruhte die Umsetzung ­dieses Gesetzes auf der freiwilligen Zustimmung der Betroffenen; in der Praxis war sie rücksichtslos, erzwungen und blutig. Nach Ansicht des Präsidenten Jackson war das Gesetz die Frucht „einer menschenfreundlichen Politik“, durch welche „die Indianer vor der Auslöschung bewahrt“ würden. Tatsächlich bedeutete der neue Kurs jedoch eine absolute Abkehr von den politischen Prinzipien der früheren Präsidenten Washington und Jefferson, die den Indianern ihr Land lassen wollten und geplant hatten, sie allmählich in die US-Gesellschaft zu integrieren. Gerade der amerikanische Süden wurde durch diese folgenschwere Wende in der Indianerpolitik für immer verändert.51 Die Deportationen auf der Grundlage des neuen Gesetzes betrafen vor allem die „Fünf zivilisierten Stämme“ – die Chickasaw, Choctaw, Muskogee (Creek), Seminolen und Cherokee – und wurden in mehreren Schritten im Verlauf der 1830er-Jahre durchgeführt. In den US-Südstaaten wurden durch diese Vertreibungen mehr als 10  Millionen Hektar Land (über 100 000 Quadratkilometer) für die weiße Besiedlung erschlossen; mehr als 100 000 Indianer verloren ihre Heimat. 1831 begann die erste Massendeportation, mit der die Choctaw aus dem Inneren Mississippis in eine öde Gegend im Westen verschleppt wurden, die man nun offiziell als das „Indianerterritorium“ bezeichnete (der spätere US-Bundesstaat Oklahoma). Das Vorgehen der US-Behörden bei dieser erzwungenen Umsiedlung war so brutal, dass später von dem „Pfad der Tränen“ die Rede war, auf dem die Indianer nach Westen getrieben wurden. Im selben Jahr verhandelte der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten über eine Klage des Cherokee-Stammes gegen den Bundesstaat Georgia. Das Gericht entschied, dass die Cherokee keine souveräne Körperschaft bildeten und deshalb nicht berechtigt seien, vor dem Gericht Klage zu erheben. Die Seminolen aus Florida, die der US-Armee aktive Gegenwehr leisteten, wurden 1832 deportiert. 1834 folgten die Muskogee (Creek) aus dem nördlichen Alabama, 1837 die Chickasaw aus Missouri. Als die Cherokee 1838 aus dem östlichen 642

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­ ennessee und dem westlichen Georgia vertrieben wurden, starb etwa ein T Viertel der Deportierten an Hunger, Erschöpfung und Krankheiten. Einzelne Indianer erhielten die Erlaubnis, zu bleiben – aber nur, wenn sie auf jegliche Landbesitzansprüche verzichteten.52 Alles in allem erzielte der Indian Removal Act ein sehr effektives Beispiel für das, was man heute „ethnische Säuberung“ nennt. Die offizielle Errichtung des Indianerterritoriums sowie die Ankunft von Indianern, die eine sesshafte Lebensweise gewohnt waren, hatte weitreichende Folgen für den benachbarten mexikanischen Bezirk Bexar. Der bislang freie Handlungsspielraum der Komantschen wurde nun eingeschränkt. Ein neuer Markt für Handelswaren entstand; neue Geschäftsmöglichkeiten ergaben sich an der südlichen Grenze des US-Territoriums. Jesse Chisholm, der 1830 am Bau einer Trasse von Fort Gibson nach Fort Towson mitgewirkt hatte, heiratete 1836 die Tochter eines Händlers und baute sich ein Haus direkt neben dem Handelsposten seines Schwieger­ vaters am Zusammenfluss des Little River und des Canadian River. Er sollte zum wichtigsten Verbindungsmann zwischen Süd und Nord werden. Die wachsende Unzufriedenheit unter den Bewohnern von Bexar war im Grunde auch nicht größer oder kleiner als die von vielen anderen mexikanischen Staatsangehörigen. Sie alle empfanden die Bundesregierung in der fernen Hauptstadt als zu fordernd, zu distanziert, zu wenig mit ihren tatsächlichen Problemen befasst. Und doch hatten sich die Leute – in Bexar wie anderswo – in Geduld geübt. Erst 1835/36 verwandelte sich die Unzufriedenheit dann in offenen Ungehorsam, nachdem der General Santa Anna Schritte unternommen hatte, die Verfassung der mexikanischen Republik außer Kraft zu setzen, an ihrer Stelle eine Militärdiktatur zu errichten und jegliche Opposition mit Gewalt zu unterdrücken. Santa Anna, der sich bei seinem Vorhaben zweifellos von der erst kürzlich erfolgten Julirevolution in Frankreich inspirieren ließ – dort hatte der „Bürgerkönig“ Louis-Philippe  I. die reaktionäre Bourbonen-Monarchie gestürzt –, sah sich selbst als einen Liberalen und Modernisierer. Aber die völlige Trägheit, die eine jede republikanische Regierung aufs Neue an den Tag gelegt hatte – zusammen mit der Unfähigkeit, die Autorität des mexikanischen Staates gegenüber reaktionären Großgrundbesitzern und dem Klerus durchzusetzen –, hatte die Geduld des Generals schließlich zu lange auf die Probe gestellt. Im Mai 1835 ordnete Santa Anna die Auflösung aller lokalen Milizen an und fügte in die Siete Leyes („Sieben Gesetze“) vom Dezember desselben Jahres einen folgenschweren Passus ein, der die Abschaffung des mexikanischen Föderalsystems mit seinen Bundesstaaten 643

11. Tejas

zugunsten eines stärker zentralistisch geprägten Systems nach dem Vorbild der französischen Departments vorsah. Wenig überraschend erklärten die politischen Führer beinahe sämtlicher Bundesstaaten daraufhin  – angesichts ihrer drohenden Entmachtung – ihre Bereitschaft zur Sezession, zur Abspaltung von Mexiko. Auch der Bundesstaat Coahuila y Tejas drohte damit, sich von der Zentralregierung loszusagen, genauso wie Yucatán, Zacatecas und ein Dutzend weitere. Santa Anna ließ sich jedoch nicht beirren und marschierte mit seiner Armee nach Zentralmexiko, wo er die zacatecanischen Rebellen in einer Schlacht besiegte. Im Winter 1835/36 herrschte im Bezirk Bexar das blanke Durcheinander. Auf der einen Seite wurde bei einer politischen Ratsversammlung, die im November in San Felipe abgehalten wurde und an der auch Sam Houston teilnahm, im Namen des gesamten Bezirks der Wunsch kundgetan, Bexar solle bei Mexiko bleiben. Zur selben Zeit begann jedoch – nachdem es im Oktober bei Gonzales zu einem Scharmützel gekommen war, bei dem mexikanische Soldaten versucht hatten, die Artillerie der örtlichen Miliz zu beschlagnahmen  – die Aufstellung einer Bürgerwehr für den ganzen Bezirk. Bestehende mexikanische Garnisonen wurden aus ihren Standorten vertrieben. Eine Division regulärer, besoldeter Truppen wurde dem Befehl Sam Houstons unterstellt, während ein Verband lokaler Milizen sich John Henry Moore zum Obersten wählte. Auch signalisierten irreguläre amerikanische Einheiten wie die New Orleans Greys, die Mississippi Marauders und die Kentucky Mustangs ihre Hilfsbereitschaft. Der Showdown stand unmittelbar bevor. Santa Annas Entscheidung, den Aufständischen von Bexar dieselbe Behandlung zukommen zu lassen wie zuvor den Rebellen von Zacatecas beruhte in der Hauptsache auf seiner Furcht vor einer Intervention der Amerikaner. Der General argwöhnte – ohne dass er es hätte beweisen können –, dass die Texianer in Wirklichkeit nur als fünfte Kolonne der USRegierung agierten. Was ihn dann letztlich zum Handeln brachte, war die Nachricht von der sogenannten Matamoros-Expedition, bei der ein Trupp texianischer Hitzköpfe vorgehabt hatte, die gleichnamige mexikanische Hafenstadt zu besetzen. Wie dem auch im Einzelnen gewesen sei: Die mexikanische Armee marschierte nach Norden und rückte, nachdem sie Ende Februar das Presidio San Antonio de Béxar belagert hatte, schließlich weiter vor, bis sie den abgeschiedenen Außenposten des Alamo erreicht hatte, den sie umzingelte und damit vollkommen isolierte. Während die militärische Situation also in eine kritische Phase eingetreten war, versammelte sich in dem Ort Washington am Brazos River ein 644

Comanchen, Chicanos und Siedler – Freunde und Feinde

„Kongress“ aus gewählten Delegierten. Einige dieser Abgeordneten sprachen sich dafür aus, sich mit dem mexikanischen Bundesstaat Coahuila y Tejas solidarisch zu erklären, da dieser ja gerade die Abspaltung von Mexiko anstrebte. Andere meinten, man solle lieber direkt die eigene Unabhängigkeit erklären. Unter dem Druck des weiteren Vormarschs der mexikanischen Truppen unter dem Befehl Santa Annas fiel schließlich die Entscheidung für die texianische Unabhängigkeit. Am 1. März 1836 wurde die souveräne Republik Texas ausgerufen.53 Die ersten Verteidiger des Alamo hatten den Tod also schon gefunden, als die Unabhängigkeitserklärung erfolgte. Mindestens 189 Männer unter dem Befehl von Oberst William Travis hatten sich dort verschanzt und geschworen, das Fort bis auf den Tod zu verteidigen – die Möglichkeiten, zu fliehen oder sich zu ergeben, verschmähten sie. Am 6. März stürmten, nach dreizehntägiger Belagerung, Santa Annas Soldaten den innersten Bereich des Komplexes und töteten die wenigen noch verbliebenen Verteidiger, darunter Davy Crocett, der legendäre Abenteurer und „König der Trapper“. Kurz darauf wurde im Presidio La Bahía von Goliad eine große Anzahl texianischer Gefangener kaltblütig niedergemetzelt. Diese Ereignisse schufen auf beiden Seiten eine tiefe, lang anhaltende Feindseligkeit. Und sie gaben der jungen Republik Texas den unbedingten Willen, sich weiter durchzuschlagen. Ihr Schlachtruf dabei lautete: Remember the Alamo! – „Vergesst nie das Alamo!“54 * Am Tag ihrer Gründung hatte die Republik keine allgemein akzeptierte Führung, keine Gesetze, kein festes Territorium, keine klaren Pläne für die Zukunft. Ihre Anhänger waren leidenschaftliche Gegner der „Tyrannei“, die sie in der Person des Generals und mexikanischen Präsidenten Santa Anna verkörpert sahen, und wollten sich dementsprechend von Mexiko lösen. Doch die „Freiheit“, die sie nun bejubelten, war alles andere als klar umrissen. Ihr Verhältnis zum Bundesstaat Coahuila y Tejas, dessen Regierung in Santiago de Monclova sich am 2. März ebenfalls von Mexiko losgesagt hatte, war ungeklärt. Ihre Einstellung den Vereinigten Staaten gegenüber war zwiespältig. Und die Tejanos oder die Indianer hatte niemand nach ihrer Meinung gefragt. Viel hing vom Ausgang des Krieges ab, den die Schlacht um das Alamo ausgelöst hatte. Angesichts der relativ kleinen Truppenstärken in riesig weiter Landschaft  – da gab es mehr als genug Spielraum für taktische 645

11. Tejas

Manöver – hätte man leicht davon ausgehen können, dass der Konflikt sich über Monate oder sogar Jahre hinziehen würde. Stattdessen dauerte er gerade einmal sechs Wochen und wurde durch eine Schlacht beendet, die nach nur achtzehn Minuten geschlagen war. Santa Anna rückte langsam von Westen nach Osten vor und durchquerte dabei auch Austins Kolonie. Seine Männer, die ihren texianischen Verfolgern zahlenmäßig weit überlegen waren, plünderten und brandschatzten, machten willkürlich Gefangene oder setzten Exekutionen an. Zahlreiche Kolonisten  – Texians wie Tejanos – flohen Hals über Kopf, was diesen Ereignissen den Spitznamen the Runaway Scrape einbrachte (etwa: „der Knapp-durch-die-LappenGang“). Mitte April erreichte Santa Anna das Umland von Galveston, brannte Harrisburg nieder und schlug anschließend sein Lager an einer nahe gelegenen Landspitze auf – genau an dem Punkt, wo der San Jacinto River in die Trinity Bay mündet. Weil er keine Wachtposten abkommandiert hatte, wurde seine Armee am Nachmittag des 21. April von ihren Verfolgern überrascht. Sam Houston höchstpersönlich führte die texianische Infanterie an, Mirabeau Lamar die Kavallerie. Um den Preis von acht Toten und mehreren Verwundeten (darunter Houston, der in den Knöchel getroffen wurde) gelang es den Anglos, Hunderte auf der Landspitze in die Enge getriebene Mexikaner zu töten und die verbliebenen zur Aufgabe zu bewegen. Santa Anna, der verkleidet entkommen konnte, wurde tags darauf festgenommen. (Der Legende zufolge war sein fataler Mangel an Vorsicht durch ein mehr oder weniger galantes Rendezvous mit Emily Morgan, der Yellow Rose of Texas, verursacht worden, die ihn erfolgreich von seinen militärischen Pflichten abgelenkt hatte.) Was unter den „Texianern“ also bald als die „Schlacht von San Jacinto“ berühmt wurde, nannten die Mexikaner „La Siesta de San Jacinto“ – den „Mittagsschlaf von San Jacinto“.55 Mit dem in der Folge geschlossenen Vertrag von Velasco und seinem geheimen Zusatzprotokoll willigte Santa Anna ein, im Gegenzug für das freie Geleit seiner überlebenden Soldaten sich als Präsident in Mexiko-Stadt für die Anerkennung der jungen Republik Texas einzusetzen und als deren südliche Grenze den Rio Grande festzulegen.56 Entgegen einer verbreiteten Ansicht ist die Republik Texas also nicht 1836 von einem Tag auf den anderen „aus dem Ei gesprungen“ und stand sogleich als souveräne Nation auf der internationalen Bühne. Vielmehr wurde sie von den Vereinigten Staaten im März 1837 und von Frankreich im Jahr 1841 anerkannt, vorerst aber weder von Mexiko noch von irgendwelchen anderen Mächten. Texas befand sich damit in einer ähnlich unsicheren Position wie auch andere abtrünnige Provinzen Mexikos  – wie 646

Comanchen, Chicanos und Siedler – Freunde und Feinde

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Republik Texas, 1837

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VEREINIGTE STAATEN VON AMERIKA

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(UND IHRE TERRITORIEN)

zwischen Mexiko und Texas umstrittenes Gebiet

REPUBLIK TEXAS

Atlantischer Ozean

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MEXIKANISCHE REPUBLIK

Golf von Mexiko

1000 km

Yucatán etwa, Tabasco oder die kurzlebige „Republik Rio Grande“, die es in jenen Jahren auch einmal gegeben hat. Ebenfalls im Frühjahr 1836 machten die Komantschen sich wieder einmal bemerkbar. Eine amerikanische Siedlerfamilie aus Illinois, die Parkers, war tief im Landesinneren, im Quellgebiet des Navasota River, sesshaft geworden. Im Mai machte ein Kriegstrupp der Komantschen die befestige Farm, das „Fort Parker“, dem Erdboden gleich, tötete mehrere Bewohner und verschleppte die Überlebenden in die Gefangenschaft. Unter diesen Gefangenen war auch die damals zehnjährige Cynthia Ann Parker (um 1825–1871), die den Großteil ihres restlichen Lebens bei den Komantschen verbrachte, die Frau eines ihrer Krieger und Mutter eines berühmten Komantschenhäuptlings wurde: Quanah Parker.57 Im September 1836 trat in der Siedlung Columbia (dem heutigen West Columbia südlich von Houston) der Zweite Kongress der Republik Texas zusammen. Die Delegierten stimmten für die Annahme einer Verfassung nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten, die eine Präsidialrepublik mit einem Senat und einem Abgeordnetenhaus, einen Obersten Gerichtshof, eine Flagge und eine Hauptstadt vorsah.58 Sam Houston wurde zum ersten Präsidenten gewählt. Die Flagge zeigte einen einzelnen goldenen Stern auf dunkelblauem Grund. Hauptstadt war zuerst Washington-on-the-Brazos, ab 1837 dann die neue Stadt Houston und ab 1839 die Siedlung Waterloo, 647

11. Tejas

die zu Ehren des kurz zuvor verstorbenen Stephen Austin in „Austin“ umbenannt wurde. Anspruch auf das texanische Bürgerrecht hatten alle Einwohner mit Ausnahme von „Afrikanern und Indianern“. Bei der Festlegung der Grenzen für die neue Republik konnte jedoch keine Einigung erzielt werden. Die eine Partei unter der Führung des Präsidenten Houston plädierte dafür, ganz einfach die Grenzen des bisherigen Bezirks Bexar beizubehalten. Eine andere Gruppe, deren Wortführer Mirabeau Lamar war, sprach davon, Texas bis an den Pazifik auszudehnen! (Ihre Minimalforderung begnügte sich allerdings mit einigen Gebieten jenseits des Rio Grande und dem mexikanischen Territorio de Nuevo México.) Die Rivalität zwischen Houston und Lamar wurde rasch zum bestimmenden Merkmal der texianischen Politik. Houston sprach sich für eine Versöhnung mit Mexiko aus; Lamar blies zum Angriff. Houston schlug eine Reihe von Abkommen mit den Indianern vor; Lamar forderte ihre endgültige Vertreibung auf einem zweiten „Pfad der Tränen“. So ging der Streit immer hin und her, während Houston und Lamar sich auf dem Präsidentenstuhl abwechselten. Dann rückte die Frage der Sklaverei in den Vordergrund. Die „AfroTexianer“ hegten Sympathien für Mexiko, denn dort war die Sklaverei ja bereits abgeschafft. Während der Belagerung des Alamo hatte Oberst Travis einen schwarzen Leibsklaven bei sich gehabt, der seine Befreiung durch die Mexikaner überlebte. Im Gegensatz dazu schlug die junge Republik einen kompromisslos harten Kurs ein. Gleich 1836 wurden alle freien Schwarzen verpflichtet, bei ihren Ortsgerichten eine Aufenthaltsgenehmigung zu beantragen. Im Jahr darauf, 1837, wurde eine Art Apartheid-System eingeführt: Personen afrikanischer Herkunft  – und als eine solche wurde definiert, wer mindestens einen schwarzen Großelternteil hatte  – durften fortan weder wählen noch vor Gericht aussagen, Grund und Boden besitzen oder Weiße heiraten. Auch die Einfuhr schwarzer Sklaven nach Osttexas schritt weiter voran. Gleichzeitig verschlechterten sich die Beziehungen zu den Indianern. 1839 behauptete Präsident Lamar, er hätte eine Vereinbarung mit den Cherokee unterzeichnet, die deren Umsiedlung aus Osttexas in das ArkansasTerritorium vorsehe. Als die Cherokee protestierten und Ausflüchte suchten, wurden sie von texianischen Truppen in der Schlacht am Neches River angegriffen und zwei ihrer Häuptlinge getötet. Nach der Schlacht stellte man fest, dass der getötete Häuptling Di’wali („Chief Bowles“) einen amerikanischen Kavalleriesäbel bei sich getragen hatte  – ein Geschenk von Sam Houston. 648

Comanchen, Chicanos und Siedler – Freunde und Feinde

Die Komantschen, die etwa 30 000 bis 40 000 Köpfe zählten, stellten aus texianischer Sicht das größere Problem dar – zumal nur einer ihrer Stämme, die Penateka, überhaupt gewillt war, Verhandlungen aufzunehmen. Im März 1840 kam eine Gruppe von vierzig Ältesten der Penateka zu Gesprächen in das Ratsgebäude von San Antonio. Als die Indianer jedoch weniger Geiseln stellten, als erwartet worden war, brach ein Tumult aus, in dessen Verlauf sämtliche indianischen Besucher entweder niedergeschossen oder gefangen genommen wurden. Zur Vergeltung unternahm der PenatekaHäuptling Potsunkurahipu (alias Buffalo Hump, „Büffelnacken“), später im selben Jahr einen großen Überfall: Ein Kriegstrupp von 500  PenatekaKriegern ritt den ganzen weiten Weg bis an die Küste und brandschatzte den kleinen Hafenort Linnville. Auf dem Rückweg stellte sich den mit Beute schwer Beladenen bei Plum Creek eine Abteilung der Texas Rangers in den Weg. Mit Artillerie wurde auf den schwerfälligen Tross gefeuert – mit erwartbar blutigen Folgen. Um diese Zeit erreichten die Militärausgaben der Regierung von Präsident Lamar eine Höhe von einhundert Prozent der jährlichen Einnahmen der Republik Texas. Um die Staatskasse zu füllen und die von allen Seiten bedrohte Gemeinschaft der amerikanischen Siedler zu stärken, wurden zudem erste Schritte zur gezielten Förderung der europäischen Einwanderung nach Texas unternommen. Ungefähr zeitgleich mit der Gründung der Republik Texas waren in Deutschland mehrere Vereine gegründet worden, deren Satzungsziel es war, Emigranten nach Nordamerika zu schicken. So kam es zu einer nur folgerichtigen Allianz: Die texianischen Behörden verkauften große Landpakete an deutsche Unternehmer, und die Auswanderungsgesellschaften organisierten den Transport der Emigrationswilligen.59 Der wichtigste Organisator dieses Systems war Prinz Carl zu Solms-Braunfels (1812–1875, genannt „Texas-Carl“), ein Stiefsohn des Königs von Hannover und entfernter Verwandter des britischen Königshauses.60 Und die wichtigste Auswanderungsgesellschaft war der sogenannte „Mainzer Adelsverein“ (eigentlich „Verein zum Schutze deutscher Einwanderer in Texas“), der seinen ersten Landzuteilungsvertrag 1842 unterzeichnete. Der für die Ausschiffung der Einwanderer vorgesehene Hafen war Indianola, das unter den Deutschen bald auch als „Carlshafen“ bekannt werden sollte und in der Matagorda Bay westlich von Houston lag. Die ersten Siedlungen dieser Einwanderer, die in den Jahren 1844/45 gegründet wurden, waren Bettina, Castell und Leiningen im Llano County sowie – andernorts in Texas – Fredericksburg, Nassau,61 New Braunfels, Sisterdale, Tusculum und New Ulm.62 Die angehenden ­Siedler von Fredericksburg, das nach dem Prinzen Friedrich von Preußen 649

11. Tejas

benannt wurde und heute im Gillespie County liegt, zogen geradewegs in die Comancheria, und es bedurfte langwieriger Verhandlungen mit den Penateka, bevor sie den vorgesehenen Ort ihrer Ansiedlung beziehen konnten.63 In seiner zweiten Amtszeit wandte sich Präsident Houston einer ausgewogeneren Politik zu. Er wies seine Rangers an, das unberechtigte Eindringen illegaler Siedler genauso zu bestrafen wie die Übertritte indianischer Raubtrupps; er verwandte viel Energie darauf, mit allen verhandlungsbereiten Indianerstämmen Gespräche zu führen; und er bemühte sich darum, eine klare Grenze zwischen dem texianischen Gebiet und dem Territorium der Indianer festzulegen. Im Jahr 1842 verhandelte er mit den Caddo, 1843 mit den Delaware und den Wichita und schließlich, 1843, mit den Komantschen. Jesse Chisholm fungierte bei diesen Treffen als Vermittler und Dolmetscher. Letztlich bot man den Indianern eine dauerhafte Sicherheit im Gegenzug für ein Ende der Überfälle und Geiselnahmen. Langsam wurde es ruhiger im Grenzland. Dafür machten sich die Entwicklungen außerhalb von Texas nun deutlich bemerkbar und bestimmten fortan das Geschehen. Bei der US-Regierung in Washington hatte sich eine lange Liste von Beschwerden gegen Mexiko angesammelt, und im Februar 1845 wurde im Kongress über einen Gesetzesvorschlag debattiert, der vorsah, Texas kurzerhand zu annektieren – egal ob mit der Einwilligung der Texianer oder ohne sie. Die amerikanische Regierung machte kein Hehl aus ihrer Begierde, möglichst große Teile des ausgedehnten mexikanischen Staatsgebietes an sich zu reißen, und die Texianer waren nicht gerade in der Position, diese Washingtoner Begehrlichkeiten zu zügeln. Stattdessen brachte die US-Regierung sie mit dem Versprechen auf ihre Seite, die beträchtlichen Schulden der Republik Texas in voller Höhe zurückzuzahlen. Daraufhin nahm eine texianische Ratsversammlung die US-Vorschläge mit nur einer Gegenstimme an, und eine Volksabstimmung bestätigte die genauen Bedingungen, zu denen die Republik Texas in den 28. Bundesstaat der Vereinigten Staaten verwandelt werden sollte. Das Prinzip der Sklavenhaltung sollte beibehalten und jegliche Hindernisse des Sklavenhandels sollten beseitigt werden. Die Vereinigten Staaten sollten einen Anspruch auch auf jene Gebiete erhalten, die Texas seinerseits nur für sich beanspruchte, ohne sie tatsächlich zu kontrollieren. Der offizielle Beitritt erfolgte am 29. Dezember 1845. Völkerrechtliche Gepflogenheiten und der Standpunkt der mexikanischen Regierung wurden dabei geflissentlich ignoriert. Nachdem Texas also gesichert war, marschierte die US-Armee mit voller Absicht und Bedacht in Mexiko ein – eine eindeutige Angriffshandlung.64 650

Comanchen, Chicanos und Siedler – Freunde und Feinde

Einen Vorwand für den Krieg lieferte der sogenannte „Thornton-Vorfall“, bei dem im April 1846 eine amerikanische Patrouille am Rio Grande von mexikanischen Truppen unter Beschuss genommen worden war; es hatte mehrere Tote gegeben. Bis zum Jahresende hatten die Amerikaner sowohl Nuevo México als auch Alta California erobert, und 1847 unternahm die US-Armee sogar einen Feldzug nach Mexiko-Stadt. (Die Schlacht von Chapultepec im September 1847 sollte später die erste Zeile in der Hymne der US-Marineinfanterie inspirieren, wo von „Montezumas Hallen“ die Rede ist.) Im Februar 1848 wurde mit dem Vertrag von Guadelupe Hidalgo ein hilfloses Mexiko gezwungen, riesige Gebiete abzutreten, aus denen in der Folge die US-Bundesstaaten Kalifornien, New Mexico und Texas werden sollten.65 Mit dem Federstrich unter diesem Vertrag wurde eine Reihe von Raubzügen legalisiert, auf die die Komantschen stolz gewesen wären. Das politische Verhältnis zwischen Texas und den Vereinigten Staaten wurde in dem sogenannten „Kompromiss von 1850“ abschließend festgeschrieben. Dabei hatten die Texianer genauso wenig Recht zu feilschen wie vor ihnen die Mexikaner. Die US-Regierung zahlte texianische Staatsschulden in Höhe von 10 Millionen Dollar zurück, legte die Grenzen des Bundesstaates Texas so fest, wie sie noch heute bestehen, verleibte sich noch diverse Territorien ein, aus denen später die Bundesstaaten New Mexico, Colorado, Kansas, Oklahoma und Wyoming entstehen sollten, und schloss den Beitrittsprozess des 28. Bundesstaates, Texas, offiziell ab. Damit war die „Texianische Revolution“ abgeschlossen. Nach der Annexion durch die Vereinigten Staaten nahm der Zustrom europäischer Einwanderer nach Texas noch einmal stark zu. Eine entscheidende Episode ereignete sich im Jahr 1854, als ein deutsches Schiff in Galveston anlegte, das Einwanderer aus Schlesien an Bord hatte. Die Bevölkerung der preußischen Provinz Schlesien war – vereinfacht gesagt – entweder deutsch und protestantisch oder polnisch und katholisch. Die polnischen Mitglieder der Gruppe zogen unter der Führung eines Franziskaners namens Leopold Moczygęba weit über das Land, um ihr angestrebtes Ziel im Karnes County bei San Antonio zu erreichen, wo sie die Siedlung Panna Maria (polnisch für „Jungfrau Maria“) gründeten. Sie waren die Speerspitze der polnisch-amerikanischen Gemeinschaft, die schon bald Millionen von Menschen zählen sollte.66 Im selben Jahr traf noch eine andere Gruppe slawischer Immigranten aus Mitteleuropa ein: Sorben aus der Lausitz. Sie traten in die Fußstapfen ihrer polnisch-schlesischen Vorläufer und fügten der wachsenden Vielfalt der texanischen Bevölkerung noch ein weiteres Element hinzu.67 651

11. Tejas

Nordamerika, 1854

BRITISH TERRITORY (KANADA)

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Oberer See

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UTAH-TERRITORIUM

MAINE

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WISCONSIN

NEBRASKATERRITORIUM

VERMONT

KENTUCKY TENNESSEE

NORTH CAROLINA SOUTH CAROLINA

ALABAMA

MISSISSIPPI

GEORGIA

Atlantischer Ozean

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500

1000 km

MEXIKANISCHE REPUBLIK

Golf von Mexiko

Viele Figuren, die in die Geschichte der verschwundenen Republik Texas eingegangen waren, traten nun in neuen Rollen wieder auf. In den 1850erJahren wurde Jesse Chisholm zum Wegbereiter der amerikanischen Viehwirtschaft, indem er die Grundlagen für einen später nach ihm benannten Herdenweg legte, den Chisholm Trail, auf dem Millionen texanischer Rinder zu den Verladebahnhöfen von Kansas im Norden getrieben wurden. Von dort aus brachte man sie in die Schlachthöfe des Mittleren Westens, dessen Wirtschaftsstruktur dadurch grundlegend verändert wurde. 1858 führte der Häuptling Potsunkurahipu die Überlebenden seines Komantschen-Stamms schweren Herzens in das „Indianerterritorium“. Im Jahr 1860 griff eine Patrouille der Texas Rangers eine Komantschen-Squaw mit blauen Augen auf, als die Gruppe, mit der sie unterwegs war, „wegen illegalen Fischens“ verwarnt werden sollte. Wie sich herausstellte, handelte es sich um die frühere Cynthia Ann Parker, die jedoch das Englische völlig verlernt hatte und die, nachdem man sie gewaltsam zu ihren weißen Verwandten zurückgebracht hatte, mehrere Fluchtversuche unternahm. Als 1861 der Amerikanische Bürgerkrieg ausbrach, stellte sich auch Texas auf die Seite der abtrünnigen konföderierten Staaten des Südens. Während des gesamten Jahrzehnts bohrte ein Prospektor namens Lynne Barret an einem Ort in der Nähe von Nacogdoches, der später „Oil Springs“ genannt wurde, nach Öl. Er hatte es nicht eilig: Nach einer Suche von elf Jahren Dauer lieferten seine Bohrlöcher gerade einmal zehn Fässer 652

Comanchen, Chicanos und Siedler – Freunde und Feinde

Öl am Tag – und so gab er schließlich auf. Öl, glaubte Barret nun zu wissen, hatte in dieser Gegend keine große Zukunft. Sam Houston hatte inzwischen zum dritten Mal geheiratet, acht Kinder gezeugt und war – nach einer früheren Konversion zum Katholizismus, um sich in Mexiko niederlassen zu können – auf das Drängen seiner neuen Frau hin wieder zum Methodismus übergetreten. Von seinem herrschaftlichen Anwesen am Ufer der Trinity Bay kehrte er in die Politik zurück, wurde noch einmal in den US-Senat gewählt und amtierte gerade als Gouverneur von Texas, als der Bürgerkrieg ausbrach. Zwar besaß Houston Sklaven und war schon deshalb kein „Abolitionist“ – kein Befürworter der Sklavenbefreiung; aber er blieb doch ein loyaler Anhänger der Union, der die Abspaltung der Südstaaten zumindest missbilligte. Also wurde er von den konföderierten Machthabern seines Amtes als Gouverneur enthoben und zog sich nach Huntsville in Zentraltexas zurück, wo er ein Haus besaß und 1863 starb. Auf Houstons Grabstein sind seine zahlreichen Tugenden aufgelistet: Ein tapferer Soldat – Ein furchtloser Staatsmann Ein mitreißender Redner – Ein reiner Patriot Ein treuer Freund – Ein loyaler Bürger Ein treu sorgender Gatte und Vater Ein unbeirrbarer Christ – Ein ehrlicher Mann68

Zu seinem Vermächtnis zählt auch der folgende Ausspruch: „Sich irgendeiner Form von Zwang zu unterwerfen – das hätte Texas erst noch zu lernen.“ Zum Zeitpunkt von Houstons Tod hatten die Konföderierten Staaten von Amerika nicht nur die Lone Star Flag des Staates Texas für sich übernommen, sondern auch die Hymne The Bonnie Blue Flag („Die hübsche blaue Fahne“), die von ihr inspiriert war. Der exakte Wortlaut dieser Hymne ist genauso umstritten wie die Herkunft der Fahne, und die Texaner sind heute nicht die Einzigen, die Anspruch auf beide erheben. Aber eine bestimmte Textfassung, die im heutigen Texas sehr beliebt ist, stammt doch nachweislich aus der Feder einer Tochter von Sam Houston, „Nettie“ – Antoinette Power Bringhurst (1852–1932) –, und die Vorstellung einer eingeschworenen „Schar von Brüdern“ harmonierte auch hervorragend mit dem Erbe der einstigen „Texianischen Republik“. Zahlreiche weitere Fassungen folgten: We are a band of brothers And native to the soil Fighting for the property 653

11. Tejas

We gained by honest toil. And when our rights were threatened The cry rose near and far: Hoorah – Hoorah – and thousand times Hoorah, Hoorah for the bonnie blue flag that bears a single star.

Wir, die Schar von Brüdern, wir Söhne dieses Lands kämpfen für unsre Güter, die ehrliche Arbeit gewann. Als unser Recht bedroht war, der Ruf klang nah und fern: Hurra – Hurra – und tausend Mal Hurra! Hurra unsrer hübschen Flagge, blau mit dem silbernen Stern!69

Aller Monotonie der Freeways und der Trostlosigkeit der umliegenden Landschaft zum Trotz haben Houston und sein Umland dem Besucher einiges zu bieten. Wer auch nur ein bisschen historisch interessiert ist, hat die Qual der Wahl. Es gibt eine Vielzahl von Museen und Monumenten, eine Fülle an Kulturfestivals und Vorschläge für historische Rundfahrten und Ausflüge im Überfluss. Der Independence Trail beispielsweise, auf dem man die „Route der Unabhängigkeit“ nachfahren kann, wird von der texanischen Highway-Verwaltung empfohlen: Man folgt einem etwa 720 Kilometer langen Rundkurs von Houston nach San Antonio und wieder zurück und besucht dabei in rascher Folge die wenigen wirklichen Highlights  – das Alamo etwa oder Washington-on-the-Brazos, wo die Republik Texas 1836 ihre Unabhängigkeit erklärte – oder man lässt sich hübsch Zeit und fährt entspannt von einer Station zu nächsten, angefangen bei der Gedenkstätte in Gonzales (wo 1836 die ersten Schüsse des Texanischen Unabhängigkeitskrieges fielen), dann zur „Houston-Eiche“ an der Route 361 (unter der Sam Houston einmal Rast gemacht hat) und weiter zum Presidio La Bahía (wo 300 texianische Gefangene massakriert wurden).70 Der noch längere Chisholm Trail ist eher etwas für Langzeit-Urlauber mit mehr Muße. Man beginnt die Tour auf Stillman Mansion in Brownsville, dem Anwesen eines als „Viehbaron“ zu Geld gekommenen ehemaligen Dampfschiffkapitäns auf dem Rio Grande, und verfolgt dann die Spur des legendären Herdenwegs über fast 1500 Kilometer bis nach Abilene in Kansas. Aber dafür 654

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Comanchen, Chicanos und Siedler – Freunde und Feinde

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Golf von Mexiko DURANGO 0

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Brownsville

TAMAULIPAS

gibt es unterwegs auch mehr als fünfzig interessante Haltepunkte – etwa alle 30 Kilometer einen. Zu den Highlights dieser Route zählen die Kleinstadt Goliad (wo auf dem Land der spanischen Misión de Nuestra Señora del Espíritu Santo die erste große Rinderfarm von Texas entstand), die historische Hängebrücke von Waco (über die im Laufe der Jahre Millionen von Rindern Richtung Norden getrieben wurden) und schließlich der Schlachthofbezirk des großen Viehumschlagsplatzes Fort Worth.71 Das Alamo selbst löst gemischte Gefühle aus. Aus britischer Sicht handelt es sich um so etwas wie das amerikanische Äquivalent zur Schlacht von Rorke’s Drift im Zulukrieg von 1879, das nicht zuletzt der Film Zulu ins britische Bewusstsein eingebrannt hat – ein heroisches letztes Gefecht bis auf den Tod. Die Helden des Alamo sind Oberst William Travis, Jim Bowie (der mit dem Messer) und Davy Crocket. Heute ist es mehr als ein Erinnerungsort, eher ein Schrein für eine unbeschämte, typisch amerikanische Form des Patriotismus – und der Gegenstand unzähliger Balladen: In the southern part of Texas, in the town of San Antone, There’s a fortress all in ruins, that the weeds have overgrown. You may look in vain for crosses, and you’ll never see a-one. 655

11. Tejas

But sometimes between the setting and the rising of the sun, You can hear a ghostly bugle, as the men go marching by; You can hear them as they answer to that roll-call in the sky.

Tief in Texas’ Süden, San Anton’ nennt’s der Besucher, stehn die Reste einer Festung, auf der wildes Unkraut wuchert. Kreuze magst du suchen, aber du find’st keine nicht, doch manchmal nachts, bevor im Ost der neue Tag anbricht, bläst ein Geisterhorn zum Antritt, und die Toten marschieren schnell; und du hörst, wie jeder ‚Hier!‘ ruft beim gespenstischen Appell.72

Hey-up, Santa Anna, they’re killing your soldiers below, So the rest of Texas will know And remember the Alamo!

He, Santa Anna, sie töten deine Leute in Massen, denn mit Texas ist nicht zu spaßen, und das Alamo sollt ihr niemals vergessen!73

Das reißt einen schon mit – und man könnte sagen: Die Opfer heiligen die Mittel. Das Einzige, was fehlt, ist ein Moment des Innehaltens und Nachdenkens über die Beweggründe der Mexikaner. Wer nicht mehr über die historischen Hintergründe weiß, könnte ja den Eindruck gewinnen, dass in Wahrheit Santa Anna die Vereinigten Staaten überfallen hätte! Das ähnelt dann der Sichtweise gewisser britischer Patrioten auf die südafrikanischen Zulukriege: Wie konnten es diese niederträchtigen, brutalen Zulus nur wagen, uns anzugreifen? Eine der schlimmsten Nebenwirkungen des Patriotismus ist, dass er blind macht für den Patriotismus der anderen. Der Besuch eines Latino-Festivals könnte sich als ein passendes „Gegengift“ zum Opfertod-Mythos rund um das Alamo erweisen. Und LatinoFestivals gibt es hier und heute jede Menge. Alle großen und größeren Städte in Texas begehen den Cinco de Mayo, einen mexikanischen Feiertag am 5. Mai, und den Día de Muertos („Tag der Toten“) an Allerheiligen, dem 1. November.74 Auch ein Abstecher in ein Indianerreservat würde sich lohnen. Schließlich reicht die bekannte Geschichte der amerikanischen Ureinwohner kaum irgendwo weiter zurück als in dieser Gegend. In Polk County 656

Comanchen, Chicanos und Siedler – Freunde und Feinde

gibt es ein Alabama-Coushatta-Reservat, ein Tigua-Reservat in der Nähe von El Paso und ein Reservat der Kickapoo in Eagle Pass im Maverick County am Rio Grande. Leider ist der Besuch nur mit einer (teuren) Eintrittskarte für das jeweils dort auf Stammesland befindliche Spielcasino möglich.75 In Zentraltexas gibt es eine Kleinstadt namens Comanche, die ein Mekka für alle Freunde der Jagd ist und außerdem über ein Museum zur Geschichte von Comanche County verfügt. Leider zeigt schon ein kurzer Blick auf die Website des Museums, dass es dort rein gar nichts über die Geschichte der Komantschen zu erfahren gibt.76 Manch einer würde sagen, ein Besuch in Texas ohne Rodeo wäre wie ein Besuch in Rom ohne Kolosseum. Sowohl Houston als auch Fort Worth veranstalten jedes Jahr große Rodeos und Rinderschauen, und an zahlreichen kleineren Orten gibt es ebenso viele kleinere Events. Aber die echten Cowboys lebten – und leben – nun einmal im Hinterland, und so überrascht es kaum, dass gerade kleinere Städtchen auf dem Land ihr kulturelles Erbe rund um Rinder, Ranches und Rodeos ganz besonders kultivieren. In Stamford nahe Fort Worth gibt es ein Cowboy Country Museum.77 Sowohl Gatesville als auch Bandera werden als die „Cowboyhauptstadt von Texas“ beworben – dort, heißt es, könne man „seinem inneren Cowboy die Hand reichen“. Wie jeder andere „Touri“ will auch ich etwas erleben – aber dazu muss ich mich erst einmal entscheiden. Mary, eine Dozentin an der Universität von Texas, hat sich freundlicherweise erboten, mich als Fremdenführerin (und -fahrerin) zu begleiten. Mit dabei ist auch Yarek, ein Brite, der seit Jahren in Texas lebt, aber früher in Eton unterrichtet hat. (Sein verstorbener Vater, den ich gut kannte, hat Auschwitz überlebt.) „Was möchten Sie sich denn ansehen?“, fragen die beiden höflich. „Irgendetwas – egal was“, antworte ich, „solange es nur außerhalb von Houston liegt und der Freeway außer Sichtweite ist.“ Dann trifft mich ein Geistesblitz. „Gibt es noch irgendwelche Spuren der Old Three Hundred oder von Fort Bend?“, frage ich. Mary breitet eine große Faltkarte aus, auf der wir recht schnell Fort Bend County finden, das rund 50  Kilometer südwestlich von Houston liegt. Inzwischen hat Yarek schon auf seinem Tablet in Erfahrung gebracht, dass das County sein eigenes historisches Museum hat. Auf geht’s also in Marys klimatisierter Limousine – auf der Suche nach den allerersten „Texianern“. Wie sich herausstellt, ist Richmond die Hauptstadt des Bezirks. Die Stadt liegt noch ein Stück hinter Sugar Land, wo einst die erste Zuckerraffinerie 657

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von ganz Texas gebaut wurde; aus Richtung Houston nähert man sich auf dem Highway 69. Nach beinahe zwei Stunden haben wir uns vollkommen verfahren und haben Richmond  – aus verschiedenen Richtungen kommend  – schon mehrmals umkreist. Wiederholtes Nachfragen bei einer bunten Mischung von Kirchen und Tankstellen hilft uns auch nicht weiter, sondern vergrößert eher noch unsere Verwirrung. Doch dann taucht direkt vor uns ein einsamer, verlassener Wegweiser auf: richmond city center – 5  Kilometer. Und Verkehrsschilder, so viel habe ich inzwischen gelernt, müssen beachtet werden. Das ist ein Landesgesetz. Als dann ein zweites, schon nicht mehr ganz so einsames Hinweisschild auf der Jackson Street uns in Richtung fort bend museum lotst, sind wir schon fast euphorisch. Links. Rechts. Wieder links  – stop, einbahnstrasse, vorbei am Neuen Gericht, links, rechts, vorbei am Alten Gericht, links, rechts, hydrant. Und dann steht es plötzlich vor uns: ein lang gezogenes, niedriges Gebäude gegenüber der First Baptist Church (oder vielleicht ist es auch die Second Baptist Church). „Wenn man diese ganzen Kirchen sieht“, ruft Mary aus, „müsste das ja eigentlich ein frommes, gottesfürchtiges Land sein hier …“ Schnell laufen wir zum Museumseingang. Doch da schlägt das Verhängnis zu. „Ach, stimmt“, stößt Yarek hervor und fügt noch ein ganz und gar unfrommes, wenig gottesfürchtiges Wort hinzu, „heute ist ja Montag, da haben in Texas die Museen geschlossen!“ Aus der Blamage des Moments schöpft Mary den Mut zur Beharrlichkeit: Kaum hat sie an der Museumstür eine Telefonnummer entdeckt, ruft sie auf ihrem Handy auch schon bei der Stadtverwaltung von Richmond an. „Ja, guten Tag, hier spricht Mary“, verkündet sie mit einer gewissen Dringlichkeit. „Ich habe hier ein paar Gäste bei mir und das Museum ist zu. Könnte bei Ihnen vielleicht irgendjemand ein paar Minuten erübrigen? Für eine kurze historische Stadtführung?“ Glen Gilmore, der Leiter der Stadtverwaltung, ist ein Gentleman alter Schule. Im blassrosa Hemd mit offenem Kragen und elastischen Hosenträgern kommt er aus dem Rathaus herüberspaziert, schlohweiß das Haar und braun gebrannt das sonnengegerbte, von vielen kleinen Fältchen durchrunzelte Gesicht. Wie eine Walnuss, denke ich bei mir. „Ich will schon eine ganze Weile in Rente gehen“, begrüßt er uns, „aber mein Sohn macht keine Anstalten, sein Studium abzuschließen. Ist an der UT. Also hänge ich hier fest, aber ich hab’ ja Zeit. Ist ’ne Schlafstadt hier, nur 11 000 Leute.“ 658

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Wir klettern in die Kabine von Mr. Gilmores monströsem, achtsitzigem Pick-up und donnern los  – eine unvergessliche halbe Stunde steht uns bevor. Das absolut gleichförmige Netz von Richmonds vielleicht zwanzig Straßen bietet eine ganz außerordentliche Mischung von Stilen, Gebäudetypen und Epochen: alte folgen auf neue, elegante auf brachliegende Blocks. Denkmalgeschützte Schmuckstücke stehen neben Supermärkten und Apartmenthäusern. „Jane Long,* die ‚Mutter von Texas‘ hatte da drüben ein Gästehaus“, sagt Mr. Gilmore und zeigt auf ein Stück ausgedörrten Lehmboden. „Also, so eine Art Gästehaus – Sie wissen schon …“ „Santa Anna hat hier auf dem Weg nach San Jacinto Halt gemacht“, erzählt er dann. „Sam Houston hat seine Truppen auf der Yellowstone über den Fluss gebracht, das war so ein Dampfschiff … Und das da ist immer noch der ursprüngliche Bahnhof von Richmond; den haben wir ein bisschen renoviert.“ Wir warten ab, bis ein schier endlos langer Güterzug der Union Pacific vorbeigefahren ist. Etwa hundert Kieswaggons später geht die Rundfahrt weiter. „Präsident Lamar, das erste Oberhaupt unserer Republik [hier irrte Mr.  Gilmore], liegt auf dem Friedhof dort begraben.“ Bei einem kurzen Rundgang über den Morton Cemetery entdecken wir gleich mehrere solcher Pioniergräber, die jeweils mit einer texanischen Flagge und einer biografischen Infotafel markiert sind. „Richmond ist auch die Heimatstadt von Carrie Nation, y’all know?“, erzählt Mr.  Gilmore weiter und macht dabei einen gehörigen zeitlichen Sprung nach vorn. „Unsere Carrie hat den Gegnern der Prohibition ordentlich zugesetzt – mit der Axt!“ Steven Spielberg hat hier seinen ersten Kinofilm gedreht. „Der hieß Sugarland Express“, informiert uns unser Guide. Schließlich gelangen wir an einen kleinen Platz, auf dem eine Statue den Bürgermeister von Richmond ehrt, Hilmar G.  Moore, 1920 geboren und immer noch im Amt. „Y’alls from England“, fährt unser Fahrer fort, „ihr seid’s doch aus England. Wir hatten hier neulich die BBC da, die wollten unseren Bürgermeister interviewen, weil er der am längsten amtierende Bürgermeister der USA * Jane Long (1798–1880), die mit den filibusteros über den Mississippi kam, war angeblich die erste englischsprachige Frau, die in Texas ein Kind zur Welt brachte. Sie hat auch das Land gestiftet, auf dem Richmond gegründet wurde.

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ist, der sitzt schon länger auf dem Thron als eure Queen. Wollt’s ihr den ’mal sprechen – would y’all like to talk to him?“ Die Residenz des Bürgermeisters ist ein lang gezogenes, niedriges Haus am Stadtrand, das ein Garten mit schattigen Bäumen umgibt. Mr. Hilmar und Mrs. Evelyn Moore warten bereits in der geöffneten Eingangstür. „Howdy, kommen Sie doch herein“, tönen die beiden im Chor. „Die aus dem Büro haben schon angerufen und Bescheid gesagt. Wir haben so gern Gäste. Y’alls in time for tea – gerade recht zum Tee!“ 78 Im Hausflur fühlt man sich wie in einer Kunsthalle, denn Ölgemälde bedecken die Wände: Landschaften, Porträts und Bilder von Lieblingshunden, -pferden und -stieren. Den Ehrenplatz nimmt ein Bild ein, auf dem Hilmar Moore fest im Sattel sitzt, während sein Ross – ein prächtiger, rassiger Fuchs – sich leidenschaftlich aufbäumt. „I’m a cattleman“, sagt der Hausherr von sich selbst, „bin Rinderzüchter, immer gewesen.“ Das a in man dehnt er von hier bis nach Kansas: „me-aan“. „Die wollten ’nen Anwalt aus mir machen. Aber ich dank’ dem Herrgott, dass da nix draus geworden ist. Ich hab’ mit Pokerspielen genug Geld verdient, dass ich mir ’ne ordentliche Rinderherde zulegen konnte.“ Wir nehmen zur Kenntnis, dass sich das Ansehen einer Person in der hiesigen Gegend vor allem nach der Größe ihrer Herden bemisst. Das Wohnzimmer müsste man in Hektar ausmessen. An seinem vorderen Ende, dort, wo wir stehen, verfügt es über ein geräumiges Podium. Weiter in der Mitte des Raums befindet sich eine Sitzgruppe aus riesigen Sofas, über denen sich die Wipfel üppig-grüner Zimmerpflanzen erheben. Weiter hinten, schon gegen den Horizont zu, öffnet sich eine zweite große Freifläche. Der Schaukelstuhl des Bürgermeisters ist zentral platziert, gleich neben dem Teewagen. Mrs. Moore schenkt den Tee ein. Sie ist mindestens vierzig Jahre jünger als ihr Mann. „Mr. Moore ist einundneunzig“, eröffnet sie das Gespräch, „ich bin nur ein Mädchen aus dem Städtchen.“ Der Herr Bürgermeister schaukelt beifällig in seinem Stuhl. Er ist eher klein gewachsen, stämmig und neigt erkennbar zur Rastlosigkeit. Sein Gesicht und seine Unterarme sind braun gebrannt. Tiefbraun. Mahagonibraun. „Die Arbeit mit dem Vieh, vom Pferd aus, das hat mich in Schwung gehalten. Bin noch immer jeden Tag draußen. Aber was wollt’s ihr denn jetzt eigentlich wissen?“ Ich hätte schon eine Frage parat. „Gibt es das alte Fort Bend noch? Und wäre es vielleicht sogar zu besichtigen?“ 660

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„Nein, das Fort ist nicht mehr“, antwortet Mr.  Moore bedauernd. „Ist wahrscheinlich im Fluss verschwunden. Aber die Biegung [bend], nach der es benannt war, die gibt’s noch. Das ist der Brazos“, sagt er und zeigt durch das Fenster auf den Fluss, „der fließt runter zum Golf.“ Ich hatte ja bereits gelesen, dass das Landpaket, das man Stephen Austin ursprünglich zugewiesen hatte, ein riesiges Rechteck zwischen dem Brazos und dem Colorado River bildete. Die Empfänger der einzelnen Parzellen erhielten jeweils ein Stück Land, das mindestens 177 Hektar (für den Ackerbau) beziehungsweise 4428 Hektar (für die Rinderzucht) groß war. Dafür bezahlten sie 12,50  Cent pro Hektar  – das entsprach gerade einmal einem Zehntel der damals in den Vereinigten Staaten üblichen Preise für Grund und Boden. Außerdem wurden sie auf zehn Jahre von der Steuer befreit. „Wir sind auf Gold gestoßen!“, zische ich Mary während einer kurzen Gesprächspause zu. Wir plauderten mit einem direkten Nachfahren der Old Three Hundred! „Der Bürgermeister müsste der Urenkel sein, oder vielleicht der Ururenkel.“ Der Name des Offiziers John Henry Moore (1800–1880) steht auf der Liste der 297  Zuteilungsberechtigten bei der Landvergabe in Austins ursprünglicher Kolonie. Urahn Moore, der aus Tennessee stammte, war angeblich von zu Hause weggelaufen, weil er dort hätte Latein lernen müssen. Im Fayette County errichtete er 1828 Moore’s Fort zur Verteidigung gegen die Komantschen und stieg in der Armee der Republik Texas bis zum Oberst auf. „Mich interessiert“, sage ich zu dem Bürgermeister, „diese frühe Zeit.“ Aber Bürgermeister Moore hat für keine der damals beteiligten Parteien große Bewunderung übrig. „Die Mexikaner kamen über den Fluss, um Vieh zu stehlen“, sagt er. „Viehdiebe waren das. Die Indianer waren auch keine Waisenknaben, die haben Geiseln genommen und Farmen überfallen … Die Komantschen“, betont er mit Nachdruck, „waren wirklich gemeine, aggressive Kerle.“ Aber abschließend fügt er noch hinzu: „Die haben aber später auch mehr erleiden müssen als irgendwer sonst. Wir haben denen alles genommen, was sie hatten. Alles.“ „Ich bin Historiker. Ich schreibe historische Bücher“, antworte ich auf die Frage des Bürgermeisters nach meinem Beruf. „Hm“, sagt er nachdenklich. „Geschichte – das hängt doch größtenteils von den Meinungen der Leute ab.“ Er spricht wie aus harter Erfahrung. Aber von seiner eigenen Familiengeschichte erzählt er gern weiter. 661

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„Mein Grandpa war Arzt im Bürgerkrieg. Der hatte 7000 Hektar und 12 000 Stück Vieh. Aber nach dem Krieg hat er angefangen, mehr und mehr Land aufzukaufen – am Ende hatte er 60 000 Hektar.“ Der Schlüsselmoment in der Karriere seines Großvaters kam bei einer Viehzüchtermesse in San Antonio. „[Grandpa] hat da gesehen, wie sie den Stacheldraht vorgeführt haben – und da hat er den gekauft, meilenweise. Meilenweise Stacheldraht!“ Das muss in etwa zwischen 1875 und 1880 gewesen sein. Die Einführung des Stacheldrahts in den amerikanischen Westen hat – wie jeder hier in der Gegend weiß – tiefe und unwiderrufliche Veränderungen mit sich gebracht. „Aber wie ich hat er nie Cowboystiefel oder einen Stetson getragen.“ Der Großvater des Bürgermeisters, John Moore senior, wurde später Abgeordneter im amerikanischen Repräsentantenhaus und Eigentümer der Villa, die heute das Fort Bend Museum beherbergt. Sein Sohn, John Moore junior – des Bürgermeisters Vater – war Richter; die Mutter meines Gesprächspartners war eine geborene Guenther und Erbin der großen Mehlfabrik Pioneer Flour Mills in San Antonio. „Das Geschäft hat meine Tante früher geführt.“ Yarek hat in der Zwischenzeit einen Spaziergang bis an das entgegengesetzte Ende des Zimmers unternommen, von wo er mir wild gestikulierend zu verstehen gibt, dass es dort etwas Besonderes zu sehen gibt. „Jetzt hat er meine Trophäen gefunden“, kichert der Bürgermeister. Der junge Hilmar Moore ging in den 1930er-Jahren mehrmals auf Safari nach Afrika. An der Wand hängt der massige, gehörnte Kopf eines Kaffernbüffels. In der Ecke steht ein ausgestopftes Nashorn, davor das Ganzpräparat eines Löwen mit prächtiger Mähne. Wir machen ein Gruppenfoto mit Bürgermeister und Löwe. „Ich bin ein Jäger, kein Mörder“, beharrt Mr. Moore. „Elefanten hab’ ich nie geschossen – und Zebra könnte ich nicht essen; das erinnert mich zu sehr an mein Pferd!“ „Mr. Moore geht immer noch ein wenig auf die Jagd“, merkt seine Frau an. „Aber nur auf Wachteln.“ Wir fragen nach seinen Freunden und Nachbarn. „Mein bester Freund war Milton Rabinowitz“, sagt er. „Die Eltern kamen aus Minsk und haben hier in der Stadt eine koschere Schlachterei aufgemacht. … Er war sehr fromm, ging dann auf die Rabbinerschule.“ Der Betrieb der Familie Rabinowitz wuchs zu einer Kette von 28 Gemischtwarenläden heran. 662

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„Es gab damals Vorurteile gegen die Juden“, erzählt der Bürgermeister weiter, „für jedes seiner Geschäfte brauchte er einen, der kein Jude war, damit er den Laden nach außen repräsentierte.“ Die Partner seines Freundes „Milt“ drängten diesen, seinen Namen in „Robin“ ändern zu lassen – er aber weigerte sich. „Milt sagte dann immer: ‚Wir haben doch sowieso alle den Stadtplan von Jerusalem im Gesicht, also was soll’s?‘“, erinnert sich der Bürgermeister. Ich erzähle Mr. Moore, dass ich ein Buch über den Zweiten Weltkrieg geschrieben habe. „Ja, beim Militär war ich auch“, sagt er. Er hatte Rekruten der US-Luftwaffe im Pazifik in Navigation unterrichtet und dann selbst bei der Seenotrettung der Air Force gedient. Danach flog er Geleitschutzeinsätze über Japan und erlebte sowohl den Feuersturm von Yokohama als auch den Atombombenabwurf auf Hiroshima mit. In einem B-17-Bomber flog er 200 Kilometer jenseits von Hiroshima Seite an Seite mit der Enola Gay, als die Bombe über der Stadt detonierte. „Ein Schlag und die Stadt war weg“, sagt er. „Aber ich war ein sehr schlechter Soldat; ich gebe lieber Befehle, als dass ich ihnen gehorche.“ Womit das Gespräch ganz zwanglos auf die 62-jährige Amtszeit unseres Gastgebers als Bürgermeister gelenkt wäre. „Was ist das Geheimnis?“, fragen wir. „Es gibt keins“, sagt er beharrlich, „kein Geheimnis – man darf nur nicht lügen und nichts versprechen, was man nicht halten kann. Aber das Schlimmste ist, wenn man Sachen aufschiebt. Und noch etwas: Man kann es nicht immer allen recht machen.“ Bürgermeister Moore ist ein Verfechter des schlanken Staats – und der Staat fängt bekanntlich im Rathaus an. Allzu viel Einmischung ist ihm ein Gräuel. „Es ist doch nicht richtig, wenn wir uns um anderer Leute Kinder kümmern“, meint er und erzählt uns eine Anekdote. Eines Tages kam, nach heftigen Regenfällen, eine Frau zu ihm und beschwerte sich, dass ihr Garten unter Wasser stehe. Offensichtlich erwartete sie, dass der Bürgermeister sich der Sache unverzüglich annehmen werde. „Am nächsten Morgen“, sagt der mit einem Grinsen, „bin ich gleich mit einem großen Schild rüber geritten und hab’s bei ihr ihm Garten aufgestellt. ‚ANGELN VERBOTEN‘, stand da drauf.“ Dann kommt er auf unsere frühere Frage zurück. 663

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„Yeah, es gibt wohl doch ein Geheimnis: Ich kann nicht alles selbst machen. Ich suche mir nur gute Leute zusammen, und die regeln dann das, was ich nicht regeln kann.“ Behutsam signalisiert Mrs.  Moore, dass die Zeit nun langsam um ist; wenn man ihm die Sache überließe, würde ihr Gatte wohl den ganzen Tag erzählen, ohne Punkt und Pause. So wird der Hausflur nun zum Flugsteig, an dem unser Abflug naht. Der Bürgermeister blickt noch einmal kurz zu seinem Reiterporträt empor. „Bitte vergessen Sie nie, dass Sie gerade den letzten Cowboy von Texas kennengelernt haben“ – damit verabschiedet er sich.79 Und wir brechen auf, im Ohr noch das Sprüchlein, das er uns mit großem Genuss beigebracht hat: Other states were carved or born, but Texas grew from hide and horn. Manch’ Staat, der wird geschnitzt, gebor’n – doch Texas wuchs aus Haut und Horn.80

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12. Mannahatta

Der John F.  Kennedy International Airport (kurz: „JFK“) ist das Tor zu New York City – ganz so, wie New York das traditionelle Tor zu den Vereinigten Staaten ist, wenn man aus Europa kommt. Der Flughafen JFK wurde 1948 eröffnet, um den Flugplatz am North Beach Field (den heutigen Flughafen LaGuardia) zu entlasten. Er liegt gut 20  Kilometer vom Stadtzentrum entfernt am südlichen Ufer von Long Island, gleich neben der Jamaica Bay. Bevor mit dem Bau des Flughafens begonnen wurde, befand sich hier ein Golfplatz, der nach einem nahe gelegenen Strand, dem Idlewild Beach, benannt war. Von der Brandung des Atlantiks trennte das Gelände des neuen Airports einzig die schmale Rockaway-Halbinsel; dahinter lagen 5000 Hektar unberührtes Feuchtland, die nun überbaut wurden. Bald starteten und landeten Geschäftsreisende und Touristen, wo zuvor nur Aalfänger, Entenjäger und Krebssammler unterwegs gewesen waren. Von Anfang an war JFK für die Langstreckenflüge zuständig, den transatlantischen Flugverkehr. Die amerikanischen Inlandsflüge wurden nun zum größten Teil über den älteren Nachbarflughafen abgewickelt. Wenn man also beispielsweise von Houston nach New York fliegt, landet man meist auf dem Flughafen LaGuardia; fliegt man jedoch von New York nach Europa oder umgekehrt, ist in der Regel JFK der Flughafen der Wahl. Während der ersten fünfzehn Jahre seines Bestehens – vor der Ermordung des 53. US-Präsidenten am 22. November 1963 in Dallas, Texas  – hieß der internationale Flughafen von New York offiziell „Anderson Field“, aber die allermeisten nannten ihn „Idlewild“.1 Diesen magischen Namen  – Idlewild  – habe ich aus meiner Kindheit noch fest in Erinnerung. Meine ältere Cousine Sylvia, die in New York als Lehrerin arbeitete, kam in den Sommerferien immer auf Heimaturlaub nach England zurück, und über viele Jahre trat sie die Rückreise über den „großen Teich“ ganz stilvoll auf der Queen Mary oder der Queen Elizabeth an. Aber irgendwann kam dann der Tag, es muss im Sommer 1959 oder 1960 gewesen sein, da stand sie plötzlich vor der Tür und sagte: „Bin gerade von Idlewild eingeflogen.“ Wie romantisch das klang! Vor dem inneren Auge erschienen Traumbilder vom Müßiggang in den Weiten der amerikanischen Landschaft – und richtig englisch klang der Name irgendwie auch nicht. Wahrscheinlich hat ihn die Schriftstellerin Lucy Montgomery erfunden, als sie einen Namen für das geheime Waldversteck der Kinder in ihrem Buch Anne auf Green Gables (1908) suchte. „Rockaway“ dagegen ist ein viel älterer Name, der auf eine alte indianische Bezeichnung zurückgeht und so viel wie „sandiger Ort“ bedeutet.2 Selbst nach 250  Jahren Masseneinwanderung ist New York City noch immer ein absoluter Einwanderermagnet. In der Zeit vor dem Aufkommen 666

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der Luftfahrt hatte JFK mehrere Vorläufer. Den Großteil des 19. Jahrhunderts über diente Clinton Castle in der Nähe des heutigen Battery Park als der hauptsächliche Anlaufpunkt der Zuwanderer. Aber die bei Weitem wichtigste Aufnahmestelle für Immigranten in die USA war und blieb doch Ellis Island im Hafen von New York. Zwischen 1892 und 1954 passierten mehr als 11 Millionen Menschen diese Durchgangsstation auf dem Weg in ein neues, ein nordamerikanisches Leben. Nach der Schließung der Einrichtung ist auf dem Gelände von Ellis Island ein Einwanderungsmuseum eingerichtet worden, in dem die Besucher zumindest ein wenig nachempfinden können, wie es damals gewesen sein muss, als Immigrant in New York anzukommen. Die große Haupthalle, in der lange Schlangen von nervösen Neuankömmlingen langsam auf die entscheidende Befragung durch einen Einwanderungsinspektor zuschlurften, ist inzwischen wieder in ihren Urzustand zurückversetzt worden. Um diese Befragung ranken sich zahlreiche Legenden und Anekdoten. Nur wenige der grimmigen Grenzbeamten sprachen eine Fremdsprache. Von den Iren einmal abgesehen, sprachen nur wenige der Einwanderer Englisch; Dolmetscher gab es nur wenige, Missverständnisse dafür umso mehr. Viele von denen, die hier schließlich das alles entscheidende Stück Papier mit ihrer „Landeerlaubnis“ in Händen hielten, fanden darauf ihre Namen vollkommen entstellt wieder und verbrachten nicht selten ihr ganzes restliches Leben mit einem falsch geschriebenen Nachnamen. Das Archiv der US-Einwanderungsbehörde aus jener Zeit kann online eingesehen werden.3 Heutzutage ist die Fahrt mit der Fähre vom Battery Park nach Ellis Island der Auftakt für einen hervorragenden Halbtagesausflug. Auf der einen Seite steht die Freiheitsstatue auf ihrer eigenen kleinen Insel, auf der anderen ragen, jenseits von Governors Island, die Kräne einer ehemaligen Werft in den Himmel von Brooklyn. Im Vordergrund erstrecken sich die Wasser der weiten Bucht bis zu der eleganten Hängebrücke über die Verrazano Narrows, die in der Ferne zu sehen ist.4 Die Rückfahrt von Ellis Island gibt einem ganz besonders das Gefühl, die Erlebnisse der damaligen Einwanderer nachzuempfinden. Schließlich tuckert das weiß angestrichene Fährschiff über exakt dieselbe, etwas weniger als einen Kilometer lange Route, auf der die Erschöpften früher das letzte Stück zum Ziel ihrer Reise zurücklegten. An der Hafeneinfahrt sieht man die Freiheitsstatue stehen, wie sie sie damals auch gesehen haben müssen: ihren rechten Arm zum Willkommensgruß erhoben, die Fackel der Freiheit fest in der Hand. Die Gefahren der Grenzbürokratie lagen nun hinter ihnen. Vor ihnen wartete der letzte Schritt einer langen Wanderung, der 667

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Schritt auf einen neuen Kontinent, der sie mit einer Zusammenballung riesiger Hochhäuser empfing. Bei meinem ersten Besuch in den 1970er-Jahren wurde die New Yorker Skyline noch von den Zwillingstürmen des World Trade Center dominiert. Ein Foto von der Aussichtsplattform auf dem einen Turm, auf dem ich meinen kleinen Sohn festhalte, ist eines meiner liebsten Erinnerungsstücke. Seit 2015 steht an dieser Stelle  – nach langer Unterbrechung – wieder ein Wolkenkratzer, wenn auch nur ein einziger: Mit einer hoch symbolischen Höhe von 1776  Fuß (541  Metern) ragt hier nun der Turm des „One World Trade Center“ (vormals Freedom Tower) mit seinen abgeschrägten Kanten in die Höhe. Einer von den Millionen Einwanderern, die Ellis Island passierten, war der in Großbritannien geborene Schriftsteller polnisch-jüdischer Herkunft Israel Zangwill (1864–1926). Zangwill ist der Erfinder zweier höchst wirkmächtiger Formulierungen gewesen. Zum einen war er es, der die Vereinigten Staaten wegen der Vielfalt ihrer Bevölkerung erstmals als einen melting pot („Schmelztiegel“) bezeichnete; zum anderen soll er – was ungleich fragwürdiger wäre  – Palästina „ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“ genannt haben. Die erstere Formulierung fand dank Zangwills Drama The Melting Pot, das 1909 in New York auf die Bühne gebracht wurde, rasch weite Verbreitung. Der amerikanische Präsident Theodore Roosevelt, der das Stück bei seiner Premiere sah, lehnte sich während der Pause von seiner Loge hinunter und rief dem unter ihm sitzenden Theaterdichter zu: „Das ist ein ganz vorzügliches Stück, Mr. Zangwill!“ Und tatsächlich hat der Leitbegriff von The Melting Pot die Zeitläufte überdauert, ohne an Relevanz einzubüßen: Amerika ist Gottes Schmelztiegel, der große Topf, in dem alle Rassen Europas zusammenschmelzen und sich verwandeln! … Deutsche und Franzosen, Iren und Engländer, Juden und Russen – in den Schmelztiegel mit euch allen! Gott will Amerikaner machen.5

Wenn Zangwill „Rassen“ sagt, meint er natürlich das, was wir heute „ethnische Gruppen“ oder „Nationalitäten“ nennen würden. Sich selbst nannte er „einen Juden, der kein Jude mehr sein will“. Natürlich steht das Ausmaß, in dem der „Schmelztiegel“ auch tatsächlich funktioniert hat, auch weiterhin zur Debatte. Schließlich hat die „Amerikanisierung“ der einzelnen Staatsbürger keineswegs alle Zeichen von deren Herkunftsländern, -kulturen und -traditionen getilgt. Gerade in New York ist die Vielfalt innerhalb der amerikanischen Einigkeit augenfäl668

Delawares, Holländer und viele Sklaven

lig. Der Flughafen JFK ist heutzutage komplett zweisprachig beschildert. Auf dem Absperrband, das die ankommenden Passagiere bei ihrem Marsch vom Flieger zum Terminal auf dem rechten Weg hält, steht no exit / no pasar. Der Flugsteig ist als gate / puerta beschildert. Und die Toilettenschilder zeigen ein kleines Männlein oder Weiblein jeweils mit der Ergänzung caballeros und damas. Die spanischsprachigen Latinos bilden die erste größere Einwanderungswelle, deren Angehörige oft nur wenig Willen zeigen, die englische Sprache zu lernen. Beinahe die Hälfte aller New Yorker spricht zu Hause eine andere Sprache als Englisch, und klar umgrenzte „ethnische Ghettos“ sind eines der auffälligsten Merkmale dieser Stadt. Als ich vor Jahren einmal an der Columbia University angestellt war und auf der Upper East Side von Manhattan wohnte – in der 78. Straße Ost, um genau zu sein –, lag meine Wohnung in einem Kiez, der Little Hungary genannt wurde – „Klein-Ungarn“. In den Geschäften wurde selbstverständlich magyar gesprochen  – Ungarisch –, und die Restaurants verköstigten ihre Gäste mit Gulasch und Egri Bikavér (ein Rotwein mit dem klingenden deutschen Namen „Erlauer Stierblut“). Ein paar Straßen weiter uptown begann Little Germany, und wer nach Little Italy wollte, den schickte man einige Blocks in Richtung Süden. Harlem, das sich von der 125.  Straße aus in Richtung Norden erstreckte, war fast ausschließlich von Afroamerikanern bewohnt. Jenseits der Brücke nach Brooklyn gab es mehrere Stadtteile, wo fast nur Juden lebten. Anscheinend war dem Schmelztiegel irgendwann der Brennstoff ausgegangen. Auf dem Flughafen JFK bin ich erstmals 1973 oder 1974 gelandet. Ich war auf dem Weg zu meiner ersten Lesereise durch die Vereinigten Staaten, und bei der Anreise profitierte ich schon einmal von den supergünstigen Spar­ angeboten der (mittlerweile schon längst pleite gegangenen) Fluggesellschaft Laker Airways. Die Details jener Landung sind schon lange im Nebel meiner einsetzenden Vergesslichkeit verschwunden. Aber zwei Momente haben sich mir doch eingebrannt. Der erste war meine verdutzte Begegnung mit der folgenden Frage auf dem Einreiseformular: „Sind Sie oder waren Sie jemals Mitglied der Nazipartei?“ (gemeint war die NSDAP).* Der * Die ob ihrer allgemeinen Form berüchtigten Fragen der US-Einwanderungsbehörden haben sich im Laufe der Zeit immer wieder einmal geändert: Bald wurde nach der „Nazipartei“ gefragt, bald nach der „Kommunistischen Partei“, manchmal nach der Wahrung der amerikanischen Verfassung, in jüngster Zeit nach der Unterstützung terroristischer Vereinigungen. Einem kurzsichtigen, deutschen Freund von mir, der inzwischen als höchst geehrter Universitätsprofessor in den Ruhestand getreten ist, wurde einmal die Einreise in die USA verwehrt, nachdem er das „Nazikästchen“ angekreuzt hatte – aus Versehen freilich,

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zweite war mein allererster – und leider völlig missglückter – Wortwechsel mit den Einheimischen. Als ich endlich die doppelte Geduldsprobe aus Einwanderungskontrolle und Gepäckausgabe hinter mir gelassen hatte, sah ich mich nach einem Ausgang um, weil ich ein Taxi zur Wohnung meiner Cousine in Forest Hills nehmen wollte. Ich schwamm also im großen Strom der Reisenden durch die Gänge, passierte auch das letzte Schleusentor aus automatischen Schiebetüren, sah vor mir ein Meer von Gesichtern aller Hautfarben, die gespannt auf die Ankunft „ihrer“ Passagiere warteten, und hielt geradewegs auf eine Frau zu, die hinter dem Absperrgitter stand. „Entschuldigen Sie“, sagte ich, „gibt es hier irgendwo einen Auskunftsschalter?“ (Ich sagte information desk, aber ich hätte wohl info counter sagen sollen: „Gibt es hier eine Infotheke?“). Sprachlos starrte sie mich an, völliges Unverständnis in ihren Augen, gefolgt von einer genervten Grimasse und schließlich einem peinlich berührten Grinsen. Nach zehn oder zwanzig qualvollen, schier endlosen Sekunden schaffte sie es dann doch noch, eine Antwort hervorzubringen – räusperte sich zunächst und sprach dann die folgenden Worte: „Was für ein komischer Akzent!“ Aber wie sie „komisch“ sagte – das klang irgendwie komisch, so gedehnt … und „Akzent“ war bei ihr gleich doppelt akzentuiert, so als versuchte jemand, die Wörter „Akte“ und „Zentner“ auf einmal auszusprechen. Vollkommen entgeistert zog ich los, um den Taxistand, also den taxi rank – beziehungsweise den echt amerikanischen cab stand – auf eigene Faust zu finden. Jenes Erlebnis hat mich zwei Dinge gelehrt. Zum einen wusste ich jetzt, was George Bernard Shaw meinte, als er einmal sagte (falls er es wirklich gesagt hat, was umstritten ist): „England und Amerika sind zwei Länder, die durch ihre gemeinsame Sprache getrennt sind.“ Zum anderen wurden mein Einfühlungsvermögen und eine gewisse Empfindsamkeit für das „Erleben der anderen“ gestärkt. Reisende, die in ein neues Land kommen, achten natürlich vor allem auf ihre eigenen Eindrücke, die sie anderen vielleicht mitteilen wollen; sie betrachten die Dinge aus ihrer ganz persönlichen Perspektive. Aber zugleich sollten sie auch ein denn er hatte es mit dem benachbarten Kästchen verwechselt, das nach der „Einfuhr von Saaten, Früchten oder anderen landwirtschaftlichen Erzeugnissen“ fragte. Während der Frühzeit des Kalten Krieges wurde der streitbare, aber gerade wegen seiner Zornesausbrüche allseits beliebte BBC-Journalist Gilbert Harding (1907–1960), ein Held meiner Jugend, aus ähnlichen Gründen nicht ins Land gelassen. Neben der Frage: „Beabsichtigen Sie, die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika zu untergraben?“ soll Harding – dem Vernehmen nach – vermerkt haben: „Einziger Reisegrund“.

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Delawares, Holländer und viele Sklaven

wachsames Auge darauf haben, welchen Eindruck ihre Ankunft auf die Einheimischen macht. Das Volk der Lenape lebte schon seit zehntausend Wintern an den Ufern der Großen Bucht. Wie ihre Nachbarn, die Susquehannock und die Mohawk, die beide zu den fünf Stämmen der Irokesen gehörten, hatten sie keinerlei Erinnerung an ihre früheren Wanderungen mehr. Sie lebten in der Steinzeit, kannten weder Metall noch Pferde noch das Wunder der Schrift. Weil ihre Boote nicht seetüchtig waren, blieb ihr Bewegungsradius auf die nächste Umgebung beschränkt – und ebenso beschränkt war ihr Wissen von der Welt jenseits der Meerenge, die ihre Bucht vom Ozean trennte. Was jenseits dieses Ozeans liegen mochte – davon hatten sie keine Vorstellung. Während des längsten Teils ihrer zehntausend Winter an diesem Ort hatten sie ja noch nicht einmal von den „Schiffsmännern“ gehört, den „Salzwasserleuten“, die bald in ihre Welt gesegelt kommen sollten. (Die Eigenbezeichnung „Lenape“ heißt so viel wie „wirkliche Menschen“ oder „richtige Menschen“, aber auf Englisch und in vielen anderen Sprachen wurden sie lange Zeit mit dem irreführenden Namen „Delaware“ belegt, weil sie einer Gruppe von Siedlern aus Virginia im Tal des Delaware-Flusses begegnet waren.)6 An der Küste erstreckte sich das Lenapehoking, das „Land der Lenape“, über eine Strecke von fast 250  Kilometern etwa von der Mitte der Sewanhacky, der „Langen Insel“ (Long Island), deren Küste das eine Ufer ihrer Bucht bildete, bis zur Mündung des Lenape Seepu, des Flusses Delaware. Im Landesinneren zählte dazu noch das gesamte Einzugsgebiet des Delaware sowie die Täler der allermeisten Flüsse und Flüsschen, die in die Große Bucht mündeten (sofern sie nicht allzu weit entfernt gelegen waren). Anders als die nomadischen Stämme der Großen Ebenen führten die Lenape ein halb sesshaftes, einigermaßen ortsfestes Leben. Die Grundlagen des Ackerbaus waren ihnen vertraut; er wurde zumeist von den Frauen des Stammes betrieben. Die Männer waren geübte Jäger und Krieger, die in den zahlreichen Wasserläufen der Gegend fischten und sonst das in den Küstenwäldern reichlich vorhandene Wild zur Strecke brachten. Sowohl im Süßwasser der Flüsse als auch im salzigen Wasser der Bucht, wo sich eine Vielzahl verschiedener Fischarten tummelte, waren die Lenape als Fischer und Angler erfolgreich. Sie sammelten Muscheln und Schalentiere am Saum des Meeres; in den Wäldern fanden sich Beeren, Wildkräuter und Pilze. Im Wald lagen auch ihre Siedlungen, deren Hütten sich dicht an dicht auf Lichtungen drängten, die ihre Bewohner durch Brandrodungen selbst angelegt hatten. Hier bauten sie Bohnen und Mais an, bis sie nach einigen Jahren 671

12. Mannahatta

N

Hudson

Lenni-Lenape Lands, 17. Jahrhundert

S

ESOPUS WAPPINGER MINISINK RUMACHENANCK TAPPAN HACKENSACK

a re law

De

RARITAN

NOCHPEEM SINSINK RECHGAWAWANK MATINECOCK

CANARSEE MASSAPEQUA ROCKAWAY

NAVASINK SANKHIKAN ATSAYONCK REMOKE

ARMEWAMEX MANTAES NARATICONCK SEWAPOIS

SIC

Atlantischer Ozean

ON

50 km

E

25

ES

0

­ eiterzogen, um ihre Siedlung auf einer frisch gerodeten neuen Lichtung wiew der aufzubauen. Im Winter wohnten sie in Langhäusern aus Holz, im Sommer zogen sie in Lager aus kuppelförmigen Wigwams um. Eine Folge dieser Lebensweise war, dass die Lenape keinen Begriff von (dauerhaftem) „Grundbesitz“ oder „Landeigentum“ hatten. Zwar konnten die Stammesältesten bestimmten Familien oder Clans ein Stück Land zur zeitweiligen Nutzung zuteilen, etwa um Konflikte zu vermeiden. Aber niemand wäre im Traum darauf gekommen, dass bloße Menschen auf die Erde, dieses Werk des Großen Schöpfers, irgendwelche dauerhaften Ansprüche anmelden könnten. 672

Moris

45. (oben) Die Niederländer auf Mauritius, 1598: Szene nach der Landung der Matrosen, von denen die Insel auf den Namen Prins Maurits van Nassau Eiland getauft wurde. 46. (links) Ein Dodo, 1638: Porträt nach dem Leben aus dem ersten Jahr der europäischen Besiedlung.

Moris

47. (oben) Sklaven tragen eine Sänfte auf der Île de France (wie Mauritius 1715 umbenannt wurde). Mit der Machtübernahme durch die Franzosen wurde auf der Insel die Sklaverei eingeführt. 48. (rechts) Bertrand-François Mahé, Comte de La Bourdonnais, Gouverneur der Île de France von 1735 bis 1746.

Moris

49. (oben) Betende Hindus, 1858. Nach­ fahren von Kontraktarbeitern aus Indien, die von den Briten nach Mauritius geholt wurden, stellen heute die größte Bevöl­ kerungsgruppe auf der Insel. 50. (Mitte rechts) Die „Blaue“ und die „Rote Mauritius“ zu zwei Pence und einem Penny (1847), wie sie auf dem „Bordeaux-Brief“ zu finden sind, dem „Dodo unter den Postwertzeichen“. 51. (links) Sir Seewoosagur Ramgoolam (1900–1985), der erste Premierminister des unabhängigen Mauritius.

Tassie

52. (oben) Das Herz Tasmaniens: Cradle Mountain National Park. 53. (rechts) Van-Diemens-Land: Gouverneur George Arthur veran­ lasste 1830 diese illustrierte Dar­ stellung, um zu verdeutlichen, dass jeder – ganz gleich welcher Abstam­ mung er ist – für Verbrechen mit der gleichen Strafe zu rechnen hat. In der Realität lief es dann allerdings etwas anders.

Tassie

54. (oben) Ein Höllenloch, inspiriert von utopischen Idealen: das berühmtberüchtigte Zuchthaus in Port Arthur, Südtasmanien. 55. (links) Kapitän Abel Tasman (1603–1659): Umsegler Australiens, Ent­ decker Tasmaniens und Neuseelands. 56. (rechts) Ein Eingeborener des Van-Diemens-Lands (1777). Zeichnung von John Webber, Künstler bei James Cooks dritter Reise.

Aotearoa

57. (oben) Kriegskanu der Maori (1770), eine Zeichnung von Sidney Parkinson, Künstler auf Cooks erster Reise. 58. (links) Maori (1769), auch von Parkinson. Im Gegensatz zu den Aborigines Tasmani­ ens waren die Maori vor nicht allzu langer Zeit aus Polynesien zugewandert. 59. (rechts) König Tukaroto Matutaera Tawhiao (regierte von 1860–1894), Führer der Waikato-Stämme.

Aotearoa

60. (oben) William Allsworth, Die Emigranten (1844), gemalt kurz nach dem Vertrag von Waitangi und dem Beginn der englischen Besiedlung Neuseelands. 61. (unten) Die Neuseelandkriege, 1845–1872, von Orlando Norie. Die Briten greifen eine Maori-Palisade an.

Otaheiti

62. (links) Charles de Brosses, Comte de Tournai (1709–1777): philosophe extra­ ordinaire und Pionier der Pazifikforschung. 63. (Mitte rechts) Die Brotfrucht, eine tahitianische Spezialität – und die Ant­ wort der Royal Navy auf Mangelernährung und Skorbut. Stich von 1773.

64. (unten) Kapitän de Bougainville landet auf Otaheite, April 1767. Sein Buch Voyage autour du monde (1771) machte die Vorstellung vom „edlen Wilden“ in ganz Europa bekannt.

Otaheiti

65. (oben) Bucht von Oaitepeha, Tahiti: Palmen und Vulkane von William Hodges, um 1775. 66. (Mitte) Tahitianischer Tanz, Kupferstich von 1784, nach J. Webber. 67. (links) Königin Pōmare IV. (reg. 1828–1877) alias Aimata, die „Augapfel-Esserin“. 68. (unten Mitte) Graue 1-Cent-Brief­ marke der Etablissements français de l’Océanie (1934).

Tejas

69. (oben) Komantschen zu Pferd, 1834/35. Die großen Reitkünste der Komantschen waren unter den amerikanischen Ureinwohnern nicht die Regel.

70. (Mitte links) Ein Flugblatt aus Texas, mit dem 1836 amerikanische Siedler angeworben werden sollten. 71. (rechts) Quanah Parker (1845–1911), Häupt­ ling der Komantschen und Sohn der entführten amerikanischen Siedlerin Cynthia Ann Parker.

Tejas

72. (oben links) Der „Napoleon des Westens“: Antonio López de Santa Anna (1794–1876), mexikanischer General und elfmaliger Staatspräsident. 73. (oben rechts) Sam Houston (1793–1863): Pionier, US-Senator, Gouverneur von Tennessee und Präsident der „Texianischen Republik“. 74. (unten) Ein Erdöl-gusher („Springquell“) in Port Arthur, östlich von Galveston, Texas, 1901. Der texanische Reichtum geht auf zwei Dinge zurück: Öl und Rinder.

Mannahatta

75. (oben) Die Landung bei Ver Planck Point im Jahre 1608 von Robert Walter Weir (1842): Die Lenape begrüßen Henry Hudson und seine Männer. 76. (unten) Das Fort Neu-Amsterdam, 1614: Eine frühe Stadtansicht, bevor die ­eigentliche Besiedlung ins Rollen kam.

Mannahatta

77. (oben) Der Denkmalsturz des vergoldeten Standbildes von König George III. auf dem Bowlingrasen von New York im Juli 1776. Die afrikanischen Sklaven, die das Denkmal tatsächlich vom Sockel rissen, sind nirgends zu sehen. 78. (unten links) Lappawinsoe, ein Häuptling der Lenape-Delaware, 1737. Das Volk der Lenape wurde nach und nach aus seiner Heimat vertrieben; wenige Nachkommen leben noch heute im Mittleren Westen der USA und in Kanada. 79. (unten rechts) Israel Zangwill (1864–1926): britischer Einwanderer, Schrift­ steller, Dramatiker und Erfinder des Schlagworts vom „Schmelztiegel USA“.

Rückkehr, transatlantisch

80. (oben) Porto do Cruz auf Madeira: ein Zwischen­ halt auf dem Weg über den Atlantik. 81. (Mitte) Peterhouse ist das älteste College der Universität Cambridge (gegr. 1284). Der Combination Room mit seiner Eichenholztäfelung, um 1900. 82. (rechts) Diogo Cão, der erste europäische See­ fahrer, der die Südhalbkugel erreichte und den süd­ lichen Sternenhimmel über sich sah.

Rückkehr, transatlantisch

83. (oben) Winston Churchill bei seinem liebsten Hobby, der Malerei, in der Nähe von Camara do Lobos auf Madeira, 1953. Churchill reiste damals per Flugboot an. 84. (links) Der harte Aufstieg zur Basilika Nossa Senhora do Monte in den Bergen über Funchal auf Madeira, letzte Ruhestätte des seligen Karl von Habsburg. 85. (rechts) Habsburger im Exil: Kaiserin Zita und Kaiser Karl auf Madeira, 1921.

FRA

86. (rechts) Reise ohne Wieder­ kehr? Der „Fliegende Holländer“ auf einem Werbeplakat der nieder­ ländischen Fluggesellschaft KLM von 1938. 87. (Mitte) Flug MH370 der Malaysian Airways: ein bis heute unge­ löstes Rätsel. 88. (unten) Auf der Unterschwein­ stiege, dem „Wanderweg, der dem unteren Wildschwein-Aufstiegs­ pfad folgt“, im Frankfurter Stadt­ wald.

Delawares, Holländer und viele Sklaven

Die Sprache der Lenape gehörte zu der noch wesentlich größeren Familie der Algonkin-Sprachen  – genauer gesagt zum Delaware-Zweig in der Unterfamilie des östlichen Algonkin –, die erst im 19.  Jahrhundert verschriftlicht wurden. Dass diese Sprache für die benachbarten Irokesen einigermaßen unverständlich war, stärkte das Zusammengehörigkeitsgefühl bei den Lenape, führte aber auch zu einem gewissen Gefühl der Isolation. Glaubt man den Philologen, so zeichnet sich das Lenape unter anderem durch seine „polysynthetische Morphologie“ aus; bei den Substantiven wird zwischen belebten und unbelebten (grammatischen) Geschlechtern unterschieden, aber nicht zwischen männlich, weiblich oder sächlich; sein Vokabular ist hermetisch. Es gab zwei große Dialekte, das Munsee im Bereich der Großen Bucht und einen weiteren Dialekt, das Unami, das weiter südlich gesprochen wurde. (Die aktuelle Sprachwissenschaft klassifiziert diese beiden Dialekte sogar als zwei eigenständige Sprachen.) Dem Kolonisten William Penn zufolge, der den Lenape erstmals 1682 begegnete, lautete ihr Wort für „Mutter“ anna, für „Bruder“ issimus und für „Freund“ netap. Ihre Zahlen von 1 bis 10 ähnelten den Zahlen keiner anderen Sprache, die Penn bis dato kennengelernt hatte: 1 2 3 4 5

kweti 6 kwetash nisha 7 nishash naxa 8 xash newa 9 peshkunk palenaxk 10 telen

Die Verständigung mit den Europäern gestaltete sich nicht ganz einfach, um es vorsichtig auszudrücken.7 Die Kultur der Lenape basierte – wie die Algonkin-Kultur im Allgemeinen  – auf einem ausgeprägten animistischen Weltbild, das die Gemeinsamkeiten zwischen Mensch und Tier betonte. So glaubten sie beispielsweise an den Manitu, den „großen Schöpfergeist“, und sahen sich selbst als Anhänger des Midewiwin, des „rechten Weges“, dessen Lehren durch ein reiches Repertoire an Riten, Ritualen, Symbolen und Geschichten überliefert wurden. Der Schamane oder „Medizinmann“ war der Hüter der Überlieferung seines Stammes; er bereitete Kräutersude für die Kranken zu, wirkte Schutz- und Schadzauber im Wechsel, malte die heiligen Petroglyphen auf die Felsen der Umgebung und lehrte die Kinder seine Reim­ sprüche und Geschichten, damit diese nicht in Vergessenheit gerieten. Eine seiner wichtigsten Aufgaben aber war es, die Harmonie zwischen seinem 673

12. Mannahatta

Stamm und den Geistern zu gewährleisten  – womit sowohl die Geister der Vorfahren gemeint waren als auch die Geister der Tiere, die von den Lenape getötet und verspeist worden waren. Die Balance zwischen den Menschen und der Natur zu wahren – das war das Allerwichtigste.8 Die Lenape verfügten über ein denkbar fein kalibriertes Zeitempfinden. Auf Grundlage ihrer Beobachtungen des Himmels und der Jahreszeiten zählten sie die Anzahl der „Nächte“ in jedem Mondzyklus sowie die zwölf oder dreizehn Zyklen, die jedes Jahr (oder, wie sie es nannten, jeder „Winter“) umfasste. Diese Zahlen wurden dann auf Kalenderstäben, mit Knotenschnüren oder Perlenketten festgehalten. Die Lenape pflegten ein Bewusstsein von der Abfolge der Generationen sowie vom regelmäßigen Fortschreiten der Natur in jedem „Winter“: Sie achteten auf die ersten Knospen des Frühjahrs, die Laichzeit der Lachse, das Reifen der Maiskolben, die Brunftsaison des Wildes. In längerer Hinsicht sprachen die Lenape von der „alten Zeit“, als das Leben der Menschen und der Tiere sich in nichts unterschied; von einem „goldenen Zeitalter“, in dem die Menschen ihre besonderen Fertigkeiten erlernten, und vom „Hier und Jetzt“, das sich durch Kriege und Konflikte auszeichnete. Die Organisation der Lenape-Gesellschaft gründete auf zwei getrennten, sich jedoch überschneidenden Systemen, deren Überlagerung und Zusammenspiel solche konventionellen Begriffe wie „Stämme“ oder „Clans“ nicht nur unpassend, sondern sogar irreführend werden lässt. Das eine System beruhte auf Verwandtschaftsgruppen, von denen es einst bis zu fünfzig gegeben haben könnte, deren Zahl jedoch auf drei geschrumpft war: das „Wolfs-Volk“, das „Schildkröten-Volk“ und das „Truthahn-Volk“. Diese Gruppen bildeten die Grundlage strenger Heiratsbräuche, durch die Inzucht verhindert werden sollte; sie gliederten sich jeweils in mehrere Untergruppen oder „Clans“. Oberhaupt jedes Clans war eine Matriarchin, die diese Würde von ihrer Mutter geerbt hatte und sie an ihre Tochter weitervererben sollte. Diese Clans sahen sich selbst jeweils als omamiwinni, das heißt als „Verwandte“. Die jungen Bräute blieben bei ihrem Clan, suchten sich ihren Bräutigam jedoch in einer anderen Gruppe. Das „TruthahnVolk“ beispielsweise, die Pul-la’-uk, deren Sachem (Häuptling) oft als der oberste Anführer aller Lenape betrachtet wurde, zerfiel in zwölf Clans: Großer Vogel (Mor-har-a-la) Treibholzstamm (Tong-o-na-o-to) Vogelschrei (Le-le-wa’-ju) Die am Wasser leben (Nul-a-mar lar’-mo) Augenschmerz (Mu-kwung-wa-ho’ki) Wurzelgräber (Ma-krent-har’-ne) 674

Delawares, Holländer und viele Sklaven

Pfadkratzer (Mu-har-mo-wi-kar’-nu) Rotgesichter (Mur-karm-huk-se) Opossumland (O-ping-ho’-ki) Kieferngegend (Ku-wa-ho’ke) Altes Schienbein (Ma-ho-we-ka’-ken) Bodenkratzer (U-ckuk’-ham)9

Zugleich waren die einzelnen Verwandtschaftsclans aber über eine größere Zahl von territorialen Gemeinschaften verteilt, die von den europäischen Siedlern später oft als „Schar“ oder „Horde“ bezeichnet wurden. Jede dieser Gruppen trug einen Namen, der entweder auf die Gegend zurückging, in der sie lebte, oder irgendeine andere Fremdbezeichnung widerspiegelte. In der Gegend der Großen Bucht haben, wie es scheint, mehr als zwanzig ­solcher Lenape-Gemeinschaften ihre ökonomischen und landwirtschaft­ lichen Aktivitäten in Eintracht verfolgt. Sie werden üblicherweise nach ihrem Dialekt und ihrer Wohngegend aufgeteilt: Munsee westlich des „North River“ (Hudson River)

Esopus („Hohe Ufer“) Minisink („Inselbewohner“) Rumachenanck* Ramapo („Bergbewohner“) Tappan („Kaltes Wasser“) Ack-kinkas-hacky / Hackensack („Steiniger Boden“) Navasink („Rotes Ufer“) Raritan („Gabelfluss“)

östlich des „North River“ Wappinger („Ostleute“) (Hudson River) Nochpeem („Nebelort“) Housatonic („Hinter dem Berg“) Kichtawanks Sinsink Rechgawawanks („Leute von Manhattan“) Nayack („Angelplatz“) Canarsee auf Long Island Rockaway („Sandiger Ort“) Massapequa Matinecock * Von den Niederländern später als Haverstroo bezeichnet, d. h. als die „Haferstroh-Leute“.

675

12. Mannahatta

Unami Unterlauf des „South River“ Atsayonck (Delaware River) Remkoke Armewamex Mantaes Naraticonck Unalachtigo Küstenland Sankhikan Siconese Sewapois Nanticoke („Küstenpriel“)10

All diese Bezeichnungen und Einteilungen sind provisorisch. Die Nochpeem beispielsweise werden manchmal als eine eigene „Horde“ dargestellt, manchmal aber auch als eine „Unterhorde“ der Wappingers. Unalachtigo könnte ein Unterdialekt des Unami gewesen sein – vielleicht aber auch nicht. Echos der früheren Bewohner und ihrer Sprachen finden sich heute noch in zahlreichen Ortsnamen dieser Gegend – so wie etwa Minisink, Haverstraw, Tappan Zee, Oscawana, Nyack oder Rockaway. Die Namen jedoch, mit denen die Lenape selbst die örtlichen Gegebenheiten ihrer Heimat bezeichneten, sind zum allergrößten Teil verloren. Nur ein paar wenige haben überlebt, und auch das nur in stark entstellter Form, denn sie wurden von den fremden Siedlern übernommen, als diese später ins Land kamen. Als beinahe einziger Name, den ein europäischer Seemann einigermaßen korrekt aufgeschrieben hat, gilt Manna-hatta – „hügelige Insel“.11 Andere haben die Streckbank der Ortografie und die Wunschträume der Etymologen weniger unbeschadet überstanden: Manna-hatta = „hügelige Insel“ /  Manhattan Kapsee = „Felsiges Kap“ / Battery  Point Pagganck = „Nussinsel“ / Governors  Island Rechtank = „Sandige Landzunge“ /   Corlear’s Hook Lapinikan = „Tabakfeld“ / Green  wich Village (New York City) 676

Mohicanituk = „Fluss der zwei   Richtungen“ / Hudson River Muhealcantute = ? / ebenfalls der   Hudson River Mespeatches = „Schlechter Sumpf “ /   Maspeth (New York) Meghgectecock = „Mai-Apfelgarten“ /   Newark Bay (New Jersey) Sicomac = „Begräbnisstätte“ /   Wyckoff (New Jersey)

Delawares, Holländer und viele Sklaven

Kintecoying = „Feld der Versamm­  lung“ / Astor Place (New York City) Paumanok = „Land des Tributs“ /   Long Island Sewanhacky = „Land der Muschel  schalen“ / Long Island Muscooten = „Blindes Wasser“ /   Harlem River

Rechawegh = „Sandiger Ort“ /   Rockaway (New York) Canarsee (ein Stammesname) /   Canarsie (New York) Manhasset (ein Stammesname) /   Manhasset (New York) Mericoke (ein Stammesname) /   Merrick (New York) Lenape Seepu = „Lenape-Fluss“ /   Delaware River12

Die Beziehungen der Lenape zu ihren indianischen Nachbarn waren äußerst instabil. Zu diesen Nachbarn gehörten die Irokesenstämme der Susquehannock und der Mohawk im Westen und Nordwesten, die Algonkin-Stämme der Mohegan (Mohikaner), Pocomtuc und Mattabesic im Norden und Nordosten sowie mehrere Stämme der Metoac, darunter die Shinnekok, die auf Long Island lebten. Aus Scharmützeln konnten schnell Stammeskriege werden, und die rabiateren unter den Nachbarstämmen  – wie etwa die Mohawks – hatten überhaupt keine Bedenken, ihre weniger kriegerischen, schwächeren Nachbarn zu überfallen oder zu unterwerfen. Und doch gab es auch eine Zusammenarbeit zwischen den Stämmen, etwa bei der gemeinsamen Instandhaltung des „Großen Pfades“, tatsächlich ein ganzes Netz von Fußwegen, die zum Pelzhandel, für die alljährlichen Wanderungen sowie als Zugänge zu den als „Jagdgründe“ kultivierten Wildweiden dienten. Aufgrund ihrer etablierten Rolle als Vermittler zwischen den anderen Stämmen waren die Lenape gemeinhin auch als „die Großväter“ bekannt. An den Tag, als die „Schiffsmänner“ über den Ozean kamen, haben die Lenape keine Erinnerung mehr; keine Erzählung hat sie überliefert. Gut möglich, dass daraus die Geschichte eines Medizinmannes wurde – vielleicht hieß sie „Der Winter des großen Kanus“ oder „Der Morgen des Schiffs mit den Tüchern“. Sollte es sie gegeben haben, so ist sie lange vergessen. Wir kennen das Geschehen deshalb allein aus der Perspektive der „Schiffsmänner“ selbst, die es damals aufgezeichnet haben. Das geschah – nach ihrer eigenen Zeitrechnung – im Jahre des Herrn 1524. Giovanni da Verrazzano (1485–1528) war ein Florentiner Kapitän in französischen Diensten; auf seiner zweiten Reise nach Westen hatte man ihm aufgetragen, einen Seeweg in den Pazifik zu finden. Als er den Hafen von Dieppe verließ, 677

12. Mannahatta

waren immerhin schon dreißig Jahre vergangen, seitdem Christoph Kolumbus den Weg nach „Indien“ gefunden und neues Land „entdeckt“ hatte; zwanzig Jahre, seitdem Amerigo Vespucci die Existenz der beiden „Amerikas“ bestätigt hatte, die später seinen Namen tragen sollten; und zwei Jahre seit der Weltumseglung durch die Expedition Ferdinand Magellans. Als Verrazzano also im Januar 1524 Kurs auf die Terra Nova nahm, brach er keineswegs – wie noch Kolumbus vor ihm – ins völlig Unbekannte auf. In der Gegend des heutigen Cape Fear in North Carolina – Verrazano nennt den Landstrich ‚Arkadien‘ – traf er auf Land und segelte weiter nach Norden, die Küste hinauf. Irgendwo entlang dieser Küste kam es zu einer wahrhaft historischen Begegnung, die ein Mitglied seines Landungstrupps wie folgt beschrieb: In Arkadien fanden wir einen Mann, der zum Strand kam, um zu sehen, was wir für Leute seien: Er stand zögernd und fluchtbereit da. Während er uns beobachtete, ließ er es nicht zu, dass man ihm näher kam. Er war hübsch, nackt, hatte das Haar im Nacken zu einem Knoten gebunden und war olivfarben. Wir waren etwa 20 an Land, und während wir ihm freundlich zuredeten, kam er bis auf zwei Faden heran [etwa 3,60 m], wobei er uns einen brennenden Stock zeigte, als ob er uns Feuer anbieten wollte. Wir machten Feuer mit Pulver, Stahl und Feuerstein, woraufhin er vor Schreck am ganzen Leib zitterte. Und dann feuerten wir einen Schuss ab. Er hielt inne, als ob er erstaunt wäre, und betete ehrfürchtig wie ein Mönch, hob die Finger zum Himmel und wies auf das Schiff und auf das Meer und schien uns zu segnen.13

Unter Umgehung der Mündungsgebiete von Chesapeake Bay und Delaware  – die freilich beide noch nicht so hießen  – näherte sich Verrazano schließlich der Meerenge, die heute seinen Namen trägt: Nach hundert Ligen fanden wir einen sehr angenehmen Platz, der zwischen zwei kleinen vorspringenden Hügeln lag, in deren Mitte ein ungemein großer Fluss [der Hudson River], der an der Mündung tief war, zum Meer floss. Und beim Steigen der Flut, die, wie wir feststellten, acht Fuß hoch war, hätte jedes beladene Schiff vom Meer zu den Hügeln gelangen können. Da wir in gutem Schutz vor der Küste ankerten, wollten wir uns nicht ohne Kenntnis der Einfahrten hineinwagen. Wir nahmen das kleine Boot und fuhren in besagten Fluss ein und zum Land, das wir stark bevölkert fanden. 678

Delawares, Holländer und viele Sklaven

Die Leute, fast so wie die andern, bekleidet mit Vogelfedern von verschiedenen Farben, kamen freudig auf uns zu, äußerten in lauten Rufen ihre Bewunderung und zeigten uns, wo wir sicherer mit dem Boot landen konnten. Wir fuhren in besagten Fluss ein, wo wir nach etwa einer halben Meile sahen, dass er innerhalb des Landes einen sehr schönen See … bildet. … Bis zu dreißig Boote mit zahllosen Menschen fuhren von einem Ufer zum andern, um uns zu sehen.14

Verrazano hielt die Große Bucht also fälschlicherweise für einen See; das sie umgebende Land taufte er auf den Namen „Angoulême“. Noch zwei weitere Male kam er in Kontakt mit den eingeborenen Amerikanern, bevor er in nördlicher Richtung nach Neufundland weitersegelte und schließlich, im Juli, nach Frankreich zurückkehrte.15 Im Jahr darauf führte ein portugiesischer Kapitän in kastilischen Diensten namens Estêvão Gomes (um 1483–1538) eine weitere Nordamerika-Expedition an und stieß dabei vermutlich ebenfalls in die Große Bucht vor. Sehr wahrscheinlich war Gomes auch der Informant, dessen Hinweise es dem Kartografen Diego Ribeiro ermöglichten, in seiner großen Weltkarte von 1529 die Konturen der nordamerikanischen Küste mit großer Präzision wiederzugeben; jedenfalls benannte Ribeiro die Gegend zu beiden Seiten der Großen Bucht als Tierra de Estevan Gomez („Land des Estêvão Gomes“).16 Wie viel die amerikanischen Ureinwohner von der wachsenden europäischen Präsenz auf ihrem Kontinent anfangs tatsächlich mitbekamen, lässt sich nur schwer ermessen. Es scheint jedoch kaum möglich, dass etwa den Lenape das ganze Ausmaß der Entwicklung vor Augen gestanden hat. Vielleicht hatten sie von einigen französischen Ansiedlungen gehört, die in einer Gegend gut zwanzig Tagesmärsche weiter nördlich entstanden waren. Vielleicht waren ihnen aus dem tiefen Süden auch Echos von der Conquista des Maya-Reiches durch die Spanier zugetragen worden. Jedenfalls dürften sie wohl keine Probleme gehabt haben, eines zu verstehen: dass nämlich die „Schiffsmänner“  – ganz wie sie selbst  – einer Vielzahl unterschiedlicher Stämme angehörten, die unterschiedliche Sprachen hatten und untereinander oft Streit anfingen. Da die durchschnittliche Lebenserwartung der Ureinwohner schon vor dem Eintreffen der Europäer bei nur etwa 35 bis 40 Jahren lag, dürften zwischen der ersten und der zweiten Sichtung der „Schiffsmänner“ durch die Lenape drei oder vier Generationen ins Land gegangen sein. Nicht weniger als 85 Winterkerben wären also in die Kalenderstäbe zu schnitzen gewesen. Die Große Bucht blieb den „Schiffsmännern“ genauso verborgen, wie den 679

12. Mannahatta

Lenape die Herkunft der seltsamen Besucher verborgen geblieben war. In der Zwischenzeit hatten die Einheimischen der Region begonnen, Schmuck aus Kupfer herzustellen. In dieser Hinsicht hinkten sie vielen anderen präkolumbischen Völkern weit hinterher, vor allem den großen Kulturen Südamerikas. Zwar hatte man Kupfer in Nordamerika schon seit vielen hundert Jahren abgebaut; die Fundstellen lagen vor allem an den Ufern der Großen Seen. Aber die Kenntnis von seiner Verarbeitung und seinem vielfältigen Nutzen verbreitete sich nur äußerst langsam. Aus Kupfer wurden Arm- und Halsreife, Kopfputze, Brustplatten und Grabbeigaben hergestellt. Jedoch wurde es an der Atlantikküste nicht mit Zinn oder Zink vermischt, um härtere Legierungen wie Bronze oder Messing zu erhalten, weshalb die Lenape im Grunde noch in der Steinzeit lebten. Dennoch kam irgendwann schließlich der Tag, an dem die Fremden zurückkehrten. Es war ein Tag zur Zeit der Maisreife, im fünfundachtzigsten oder sechsundachtzigsten Winter, seitdem ihre Vorläufer wieder davongesegelt waren. Am Morgen hatte dichter Nebel über der Meerenge gelegen, aber als die Sicht gegen Nachmittag aufklarte, erschien ein kleines Boot mit sechs oder acht Passagieren darin. Es wurde nicht gepaddelt, sondern mit langen, geraden Spieren aus Holz, die an den Seiten daraus hervorragten und die von Männern, die am Bootsrand saßen, mit gleichförmigen Bewegungen immer wieder vor und zurück gebracht wurden, ganz glatt und sanft vorangetrieben. Der Anführer stand am Bug, ein Fernrohr am Auge, ein anderer Seemann maß achtern die Wassertiefe mit einem Senkblei und neben ihm saß ein Wächter, das Feuerrohr fest in der Hand. Nach einer Weile machte dieses erste Kanu kehrt und fuhr zügig zurück durch die Meerenge, dahin, wo es hergekommen war. Das war der Moment, in dem die gewaltigen weißen Leintücher eines Großen Kanus sich schwerfällig in das Blickfeld schoben, auf wundersame Weise vom Seewind angeschoben. Das Schiff war vielleicht vierzig Schritte lang; zehn, vielleicht fünfzehn Fuß hoch erhob sich sein massiger Leib aus dem Wasser; und die drei mächtigen Stämme, an denen die Zaubertücher sich blähten, ragten hoch auf wie die höchsten Bäume. Am höchsten Stamm flatterte eine Kriegsflagge mit drei breiten Streifen, rot, weiß und blau, einen über dem anderen, und der hohe Bug war mit einer Schnitzerei verziert, die eine Mondsichel zeigte. Indem sich das Schiff  – unter dem lauten Bellen von Kommandos  – Stück für Stück in die Gegend des flachen Uferwassers vorschob, wurde es immer langsamer; eine schwere Eisenklaue wurde an einem Seil hinabgelassen, um das Schiff am Meeresboden zu verankern, und so kam es schließlich mit einem Rucken zum Halt. Von unbändiger Neugier getrieben  – aber 680

Delawares, Holländer und viele Sklaven

doch mit der gebotenen Vorsicht – paddelten die ersten Indianerkanus hinaus, um die Schiffsmänner zu empfangen. So weit die Spekulation darüber, wie die Lenape das neuerliche Erscheinen der Fremden erlebt haben könnten. Dasselbe Geschehen ist uns jedoch auch in einer detaillierten Darstellung aus der Perspektive der Schiffsbesatzung überliefert. Ein englischer Kapitän in niederländischen Diensten, Henry Hudson, erkundete die Küste Nordamerikas und fuhr mit seinem Schiff, der Halve Maen („Halbmond“), in sämtliche Mündungstrichter, Buchten und Baien, auf die er unterwegs stieß – immer in der Hoffnung, endlich die ersehnte Wasserstraße vom Atlantik in den Pazifik zu finden: die sogenannte „Nordwestpassage“. Nach den Aufzeichnungen im Logbuch von Robert Juet, der als Maat auf Hudsons Schiff fuhr, traf die Halve Maen am 3. September Anno Domini 1609 im Land der Lenape ein: Den dritten [September] war der Morgen nebeltrüb bis zehn Uhr, dann klarer, und der Wind drehte auf Südsüdost. Da lichteten wir den Anker und hielten auf den Norden zu. Das Land ist sehr lieblich und hoch und fällt dabei steil ab. Um drei Uhr am Nachmittag gelangten wir an drei große Flüsse [Lower Bay, Hudson River und Rockaway Inlet]. Wir fuhren auf den nördlichsten zu und wollten gerade hineinfahren, da bemerkten wir eine schlimme Untiefe gleich vor der Einfahrt, denn es waren kaum zehn Fuß Wasser [rund 3 Meter]. Also suchten wir südwärts und fanden zwei Faden, drei Faden und dreieinviertel, bis wir auf die südliche Seite gelangten, und da waren es fünf und sechs Faden [rund 8 Meter] und wir gingen vor Anker. Da sandten wir unser Boot aus, und sie fanden nirgends weniger Wasser als fünf, sechs und sieben Faden tief und kamen nach einer Stunde und einer halben wieder zum Schiff zurück. So lichteten wir also und fuhren hinein und hatten fünf Faden unter Kiel … und sahen viele Lachse und Meeräschen und auch sehr große Rochen. Die Position [ist] 40 Grade 30 Minuten.17

Eine ganze Woche lang blieben Hudson und seine Leute in der Bucht, deren Position er ziemlich genau berechnet hatte* und die er für einen „sehr guten Hafen“ befand. Hudsons Männer verbrachten diese Zeit damit zu fischen, den Küstenwald zu erkunden und mit den Einheimischen Handel zu treiben: * Die exakte Position der Halve Maen war 40 Grad, 42 Minuten und 51 Sekunden nördlicher Breite.

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Dann fuhr unser Boot an Land mit dem Netz zum Fischen, und sie fingen zehn große Meeräschen, jede von ihnen eineinhalb Fuß lang, und einen Rochen, der war so gewaltig, dass ihn vier Männer gerade an Bord ziehen konnten. Wir machten also das Boot fest und lagen den ganzen Tag ruhig vor Anker. Des Nachts blies ein heftiger Wind von Nordwest, sodass unser Anker loskam und wir auf Grund trieben. Doch geschah uns kein Unheil, Gott sei’s gedankt. … Heute kamen die Bewohner dieses Landes zu uns an Bord und schienen sehr froh ob unseres Kommens und brachten grünen Tobak und gaben uns davon im Tausch für Messer und Glasperlen. Sie tragen Kleider aus Hirschhaut, die sind weit geschnitten und hübsch. Sie haben gelbes Kupfer. Sie begehren Kleider, sind dabei aber sehr höflich. Sie haben große Vorräte an „Mais“ oder Indianerkorn, woraus sie ein gutes Brot backen. Das Land ist voll mit großen, mächtigen Eichen. Den fünften [September] legte sich morgens gleich beim ersten Licht der Wind, und die Flut kam. So brachten wir unser Schiff also wieder in fünf Faden Wasser und sandten das Boot aus, um die Bucht auszuloten. Wie sie herausfanden, war das Wasser hart am südlichen Ufer drei Faden tief. Da gingen unsere Leute an Land und sahen eine große Menge an Männern, Frauen und Kindern, die ihnen bei ihrer Landung Tobak brachten. So gingen sie in den Wald hinauf und sahen viele prächtige Eichen und einige Beeren. Denn einer kam an Bord und brachte getrocknete [Beeren] und gab auch mir davon, die waren süß und gut. Heute kamen auch viele von dem [einheimischen] Volk an Bord, manche in Federmänteln und manche in guten Pelzmänteln verschiedener Art. Einige Frauen kamen auch und brachten Hanf. Sie hatten Tobakspfeifen aus rotem Kupfer und anderes Kupferzeug mehr, das trugen sie um den Hals.

Tags darauf, am 6.  September, wurde einer von Hudsons Matrosen, ein Mann namens Colman von einem Indianerpfeil tödlich am Hals verwundet. Sie begruben ihn an einer Stelle, die sie „Colman’s Point“ nannten. Am 11. September segelte Hudsons Schar den Fluss hinauf, der sich in die Bucht ergießt, um auch ihn zu erkunden; bis zu 20 Ligen (fast 100 Kilometer) legten sie so am Tag zurück. Der Fluss, der den Gezeiten unterlag, wurde von den Lenape Muhheakantuck* genannt, das heißt „Fluss, der in zwei Richtungen fließt“: * An seinem Oberlauf wurde der Fluss in der Sprache der Mohegan (Mohikaner) als Ma-hekun-ne-tuk bezeichnet, in der Sprache der Irokesen hingegen als Ca-ho-ha-ta-te-a.

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Den vierzehnten [September] segelten wir des Morgens bei sehr gutem Wetter und südöstlichem Wind zwölf Ligen weit den Fluss hinauf und hatten fünf Faden [Wassertiefe] und fünf weniger ein Viertel; und kamen an eine Enge zwischen zwei Landspitzen und hatten zwölf, dreizehn und vierzehn Faden. Der Fluss ist eine Meile breit, mit sehr hohem Land zu beiden Seiten. Dann fuhren wir nach Nordwesten hinauf, anderthalb Ligen im tiefen Wasser. Dann über fünf Meilen hinweg nach Nordost bei Nord; dann zwei Ligen lang nach Nordwest bei Nord und gingen vor Anker. Da wurde das Land sehr hoch und gebirgig. Der Fluss ist voller Fische.18

Schließlich neigte sich die Segelsaison ihrem Ende zu, während der Fluss immer schmaler wurde, und so mussten Hudson und seine Männer einsehen, dass sie die sagenumwobene „Durchfahrt nach China“  – diesmal zumindest  – wohl nicht mehr finden würden. Der Oktober war bereits angebrochen. Ihre einzige Option war es, umzukehren und den Heimweg nach Europa anzutreten: Den vierten [Oktober] war heiteres Wetter und der Wind [blies] aus Nordnordwest, da lichteten wir und fuhren aus dem Fluss hinaus, den wir so weit hinaufgefahren waren. Nach einer Weile kamen wir auch aus der Hauptmündung des großen Flusses hinaus, der nach Nordwest hinaufführt, und hielten uns an die nördliche Seite derselben [Mündung], weil wir dort tiefes Wasser erwarteten: Denn wir hatten mit unserem Boot sehr weit gelotet, als wir zuerst hineingefahren waren, und hatten sieben, sechs und fünf Faden vorgefunden. So kamen wir dort also hinaus mit zwei Faden und einem halben … Und um 12 Uhr waren wir ganz aus dem Meeresarm heraus. Da nahmen wir das Boot wieder an Bord, setzten Groß- und Spriet- und Toppsegel und steuerten vom Lande ab … auf das offene Meer; und um Mittag lag das Land auf der südlichen Seite der Bucht (oder des Meeresarmes) schon vier Ligen von uns entfernt nach West bei Süd. Den fünften [Oktober] waren heiteres Wetter und wechselhafter Wind. … Wir hielten unseren Kurs nach Südost bei Ost. Um Mittag maß ich … unsere Höhe bei 39 Graden 30 Minuten. Unser Kompass wich hier sechs Grade westwärts ab. Wir hielten Kurs nach England, ohne irgendwelches Land zu sehen … den ganzen restlichen … Oktober hindurch; und am siebten Tag des Novembers, der ein Samstag war … erreichten wir durch die Gnade Gottes wohlbehalten die Gegend von Dartmouth in Devonshire; das war im Jahre 1609.19 683

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Welche Schlüsse die Lenape nun aus dem kurzen Besuch der Halve Maen zogen, lässt sich nur mehr vermuten. Schon zum zweiten Mal waren die „Schiffsmänner“ gekommen und wieder davongefahren, ohne den geringsten Hinweis auf ihre eigentlichen Absichten zu geben. Niemand vermochte zu sagen, wann – oder ob – sie jemals zurückkehren würden. Dennoch hatten die Bewohner der Gegend um die Große Bucht inzwischen bestimmt von den Geschehnissen entlang des „Großen Flusses von Kanada“ gehört. Sie wussten bestimmt, dass die „Schiffsmänner“ für gewöhnlich am Pelzhandel interessiert waren und ihre Handelsposten nicht selten zu dauerhaften Siedlungen ausbauten, die sich selbst versorgten. Sie kannten vielleicht nicht die Namen des Kaufmanns François du Pont-Gravé oder des See­ fahrers Pierre de Chauvin Tonnetuit, aber über den indianischen „Buschfunk“ werden sie doch vermutlich von dem Pelzhandelsposten Totouskak (Tadoussac) gehört haben, der neun Winter vor Ankunft der Halve Maen in der Großen Bucht zu einer befestigten Kolonie ausgebaut worden war, in der nun Männer, Frauen und Kinder lebten. In der zumindest etwas näheren Umgebung wäre den Lenape bestimmt auch eine weitere französische Ansiedlung bekannt gewesen: die Kolonie von Port-Royal, die weniger als eine Mondzeitreise mit dem Kanu entlang der Küste nach Norden gelegen war. Etwas später werden sie dann auch davon gehört haben, dass ein anderer Franzose, ein Mann namens Samuel de Champlain, am „Großen Fluss“ die Kolonie Stadacona gegründet hatte. Den Namen Kebec, unter dem Stadacona später bekannt war, hätten die Lenape problemlos verstanden, denn er ist ein Algonkin-Wort: „Flussenge“. Und ganz bestimmt dürften sie aufgemerkt haben, falls ihnen zu Ohren gekommen sein sollte, dass die Kolonisten vom Großen Fluss die dort ansässigen Indianerstämme in ihrem Kampf gegen die Irokesenföderation unterstützten. Sich die Irokesen vom Leib zu halten, war nämlich auch für die Lenape ein existenzielles Problem, und die Aussicht, dass die „Schiffsmänner“ nicht nur Pelze kaufen, sondern bei der Verteidigung ihres Stammes Unterstützung leisten würden, dürfte ihnen hochwillkommen gewesen sein. In Henry Hudsons Logbuch steht nichts von Dolmetschern oder längeren Unterredungen mit den Lenape. Es ist aber auch so gut wie ausgeschlossen, dass er jemanden bei sich gehabt haben könnte, der in der Lage gewesen wäre, sein Frühneuenglisch in den Munsee-Dialekt der ortsansässigen Indianer zu übersetzen. Selbst wenn er versucht hätte, den Einheimischen irgendwie begreiflich zu machen, dass er selbst aus England kam, ein Untertan seiner Majestät König Jakobs  I. (von England) und VI. (von Schottland) war und sein Schiff an einem Ort namens „Republik der Verei684

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nigten Niederlande“ die Segel gesetzt hatte – dass er damit weit gekommen sein könnte, scheint doch eher zweifelhaft. Zugleich ist bekannt, dass Menschen, die in komplexen, vielsprachigen Gesellschaften aufwachsen, einen Vorteil genießen, wenn sie eine weitere, fremde Sprache lernen sollen. Es ist deshalb nicht unwahrscheinlich, dass zumindest manche der Einheimischen schon bald ein paar Brocken Englisch aufgeschnappt hatten – und wenn sie nur ausreichten, um zu feilschen und Handel zu treiben. Auch im Bereich der bildlichen oder symbolischen Kommunikation hatten die ­Lenape schon Vorerfahrung; bestimmt haben sie sich gefragt, was die drei Farben der niederländischen Trikolore zu bedeuten hatten. Zumindest wird ihnen irgendwann klar gewesen sein, dass der „Dreifarben-Stamm“ ein anderer war als der „Lilien-Stamm“ der Franzosen, deren Banner über den Forts am Großen Fluss und von Port-Royal wehte. In Europa brachte derweil ein Vergleich der Berichte von Verrazzano und Hudson eine seltsame Unstimmigkeit zutage: Der Italiener hatte gemeldet, die Gegend um die Große Bucht sei „dicht besiedelt“ gewesen; der Engländer sprach nun von einer „spärlichen“ Bevölkerung. Inzwischen glauben die Historiker, dass die Lenape womöglich schon in den Jahren nach 1524 durch eingeschleppte Krankheiten stark dezimiert wurden. Hudsons Karriere indes sollte ein tragisches Ende nehmen. Auf seiner vierten Reise drang er in den Jahren 1610/11 in die größte aller Großen Buchten Nordamerikas vor (heute ist sie  – die Hudson Bay  – nach ihm benannt, genau wie der Fluss, den er erkundet hatte – der Hudson River). Allerdings wurde er dort im Eis eingeschlossen und entschied, im hohen Norden den Frühling abzuwarten. Als der Frühling dann jedoch kam, meuterte seine Mannschaft und setzte ihn in einem offenen Boot aus – auf Nimmerwiedersehen.20 Die Republik der Vereinigten Niederlande war der reichste und wirtschaftlich erfolgreichste Staat des frühneuzeitlichen Europa. Sie waren klein, diese „Vereinigten Provinzen“  – nicht einmal ein Viertel so groß wie England. Und doch waren Amsterdam und Rotterdam die beiden großen Seehandelshäfen Nordeuropas; auch der Handel auf dem Rhein war fest in niederländischer Hand. Den sagenhaften Gewürzhandel mit Ostindien hatten die Niederländer gerade erst den Portugiesen abgerungen. Von den Steuern, die auf all diese Handelsaktivitäten fällig wurden, finanzierten sie eine schlagkräftige Marine. Auf den Gebieten von Schifffahrtstechnik, Handelsorganisation und Gemeindeverwaltung sowie öffentlicher und privater Kunstförderung machte den Niederländern keiner etwas vor. Ihre Kultur war geprägt 685

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von „Überfluss und schönem Schein“, wie es im Titel eines berühmten Buches über dieses „Goldene Zeitalter“ der Niederlande heißt.21 Die internationalen Verflechtungen der Vereinigten Provinzen waren komplex. Im 15. Jahrhundert hatten sie noch zu dem Herzogtum Burgund gehört; im 16.  Jahrhundert waren sie zunächst an den Burgundischen Reichskreis des Heiligen Römischen Reiches übergegangen und hatten ab 1555 unter spanischer Herrschaft gestanden. Die Reformation machte sich hier dennoch stark bemerkbar, und ab 1579 formierten sich zahlreiche niederländische Provinzen und Städte unter der Führung Wilhelms von Oranien zu einem Bündnis gegen die spanische Fremdherrschaft, gegen die sie ihre Unabhängigkeit durchsetzen wollten. Von dieser Zeit bis 1648 – über eine Dauer von beinahe achtzig Jahren – führten die Niederländer ihren Unabhängigkeitskrieg gegen Spanien, die führende Großmacht der damaligen Zeit. Trotz dieser Übermacht gelang es der spanischen Krone weder den Aufstand an Land niederzuschlagen noch die Handelswege der Niederländer abzuschneiden, und so musste Spanien schließlich einlenken. Kein Wunder, dass der „Vater des Völkerrechts“, Hugo Grotius (1583–1645), ein Niederländer war. Die politische Kultur der Vereinigten Provinzen in ihrem Goldenen Zeitalter zeichnete sich durch demokratische Strukturen, eine weitgehende Autonomie der Provinzen sowie religiöse Toleranz aus. Zu einer Zeit, als England gerade mit viel Mühe die ersten Grundlagen für seine konstitutionelle Monarchie legte und von erzwungener religiöser Homogenität geprägt war, stellte die Republik der Vereinigten Niederlande ein leuchtendes Beispiel dafür dar, wie man sich einem unterdrückerischen Absolutismus erfolgreich widersetzen konnte. Viele in Europa haben das damals bewundert. Kaufmännischer Sachverstand ging bei den Niederländern Hand in Hand mit Konstitutionalismus, religiösem Pluralismus und künstlerischer Brillanz. Die Amsterdamer Wechselbank und die Börse von Amsterdam waren Wegbereiter der modernen Finanzwirtschaft. Die Maler Vermeer und Rembrandt waren Zeitgenossen des Philosophen Baruch de Spinoza, eines freidenkerischen sephardischen Juden, der von seiner eigenen Gemeinde verbannt, aber von der niederländischen Gesellschaft als Ganzer geschützt wurde. Bereits ein Jahrhundert vor Rousseau machte sich Spinoza seine Gedanken über das Konzept eines Gesellschaftsvertrages. Dem bestimmenden Einfluss des protestantischen Bürgertums zum Trotz zählten zur Bevölkerung der Republik auch zahlreiche Katholiken, dazu viele jüdische Flüchtlinge von der Iberischen Halbinsel. Nach den Maßstäben des 17. Jahrhunderts lebten diese Gruppen in bemerkenswerter Harmonie 686

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friedlich zusammen. In der Gründungsurkunde der Union von Utrecht, gewissermaßen der Verfassung der Vereinigten Provinzen, garantierte eine zentrale Passage, dass „jedermann in der Religion frei sein soll, und keiner soll wegen der Religion verfolgt oder auch nur kontrolliert werden.“ Die Niederländische Ostindien-Kompanie (Vereenigde Oostindische Compagnie, kurz VOC), die 1602 gegründet wurde, hat man als den ersten multinationalen Konzern der Welt bezeichnet. Sie sollte den Gewürzhandel mit den fernen Molukken (im heutigen Indonesien) abwickeln. Sie war börsennotiert, das heißt, ihre Aktien wurden in Amsterdam gehandelt. Das hauptsächliche Problem der Kompanie war die immense Länge ihrer Kommunikations- und Transportwege. Weniger als ein Jahrhundert nach der allerersten Weltumseglung dauerte die Reise von Europa nach Ostindien – die nur um das Kap der Guten Hoffnung herum erfolgen konnte, den Sueskanal gab es ja noch nicht – noch immer vier Mal so lang wie die Atlantiküberquerung nach Nordamerika! Die Suche nach einer alternativen Route nach Asien war deshalb von äußerster Dringlichkeit. Und in diesem Zusammenhang hatte die VOC Henry Hudson angeworben, von dem jenseits seiner Entdeckungsreisen kaum etwas bekannt ist. Im Jahr 1607 war Hudson nach Norden, in die Arktis, gesegelt, um die Theorie zu überprüfen, dass der Sonnenschein des Polarsommers das arktische Packeis schmelzen und somit eine zumindest saisonale Route nach Osten eröffnen könnte. 1608 brach er dann von England aus in Richtung Nordosten auf und unternahm den vergeblichen Versuch, einen Seeweg entlang der russischen Arktisküste zu finden. Und 1609 segelte er, nach einigem Zögern, mit der winzigen Halve Maen nach Amerika. Aus dem detaillierten Logbuch von Hudsons dritter Reise geht hervor, dass das Schiff zunächst um das Nordkap gesegelt war, bevor sein Kapitän es sich anders überlegte und schließlich Kurs auf die Neue Welt jenseits des Atlantiks nehmen ließ.22 Die Generalstaaten der Niederlande ermunterten und unterstützten zwar Entdeckungsfahrten, aber die Gründung von Kolonien hatte für sie keine Priorität. Andererseits besaßen die Niederländer ein hervorragendes Wirtschaftssystem sowie eine Flotte, die von auswärtigen Kolonien beide nur profitieren konnten. Und da so viele andere europäische Mächte nun begannen, Kolonien in Nordamerika zu errichten, wollten die Niederländer nicht außen vor bleiben.23 Die Franzosen waren seit fast einem Jahrhundert in Kanada gewesen. Die spanischen Besitzungen in Florida und Mexiko waren sogar noch älter. Die Engländer hatten es – im dritten Anlauf – geschafft, sich in Virginia zu etablieren. Und sogar die Schweden schmiedeten bereits Pläne zur Besiedelung des neuen Kontinents. In den 687

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Antillen schienen Hunderte von Inseln nur darauf zu warten, dass jemand Anspruch auf sie erhebe, und auch der lange Abschnitt der Atlantikküste nördlich von Virginia lud zur Besiedlung ein. Deshalb herrschte nach Hudsons Verschwinden auch kein Mangel an Kapitänen und Kaufleuten, die an seine Stelle treten wollten. Der Inhalt von Hudsons letztem „Report“ war ihnen bekannt, und so verstanden sie sehr wohl, welch große Gewinne hier lockten. Mehrere von ihnen hatten bereits die weitere, allerdings auch besser erprobte Reise nach Ostindien unternommen; der Atlantik schreckte sie nicht. Wie kompliziert ihr Geschäft tatsächlich war, lässt sich am besten den Gerichtsakten entnehmen, die bei ihren häufigen Rechtsstreitigkeiten anfielen. Ihr neues Ziel in Amerika bezeichneten sie in der Regel als Terra Nova oder als „Neu-Virginia“. Zu diesen Abenteurern gehörten Symen Lambertsz Mau, Cornelis Rijser, Thijs Volkertsz Mossel, Hendrik Christiansen und – als Bekanntester – Adriaen Block (1567–1627). Von Mau wurde berichtet, er sei 1610 an der Küste Amerikas zu Tode gekommen, also im Jahr nach Hudsons Besuch. Rijser kehrte mit seinem Schiff, der St. Pieter, 1611 wohlbehalten zurück. Christiansen und Block segelten 1612 mit zwei Schiffen gemeinsam nach Amerika und kamen im nächsten Frühjahr mit Pelzen – und mit den beiden Söhnen eines indianischen Sachems  – wieder nach Europa zurück. Im Jahr 1613 führten Block und Mossel einen Rechtsstreit über den Preis, der Eingeborenen für Biberpelze gezahlt worden war; Mossel hatte das Dreifache des Marktpreises gezahlt und damit seine Wettbewerber ausgestochen. Auf seiner vierten und letzten Reise verlor Block sein Schiff, die Tyger, nachdem diese Feuer gefangen hatte, während sie in der Großen Bucht vor Anker lag. Mit der Hilfe der Lenape gelang es ihm, ein Ersatzschiff zu bauen, die immerhin 16 Tonnen große Onrust („Unruhe“), die er durch so schwierige Gewässer wie das Hellegat („Höllentor“), den Long Island Sound und den Connecticut River steuerte. Auf seiner vorzüglichen Karte, die 1614 in Amsterdam gedruckt wurde, trug die ganze Gegend zwischen dem englischen Virginia und dem französischen Kanada den Namen Nieuw Nederland.24 Der Disput zwischen Block und Mossel wirft ein Schlaglicht auch auf einen weiteren Streitpunkt. Einer von Mossels Männern, ein „Mulatte aus San Domingo“, der großes Geschick im Umgang mit den einheimischen Indianern gezeigt hatte, war auf der Insel Mannahatta zurückgelassen worden, damit er dort den Winter über weiter Handel treiben könne. Nun beschwerte sich Block vor Gericht, dass das fragliche Besatzungsmitglied, ein Mann namens Jan Rodrigues, ein Untertan der spanischen Krone und 688

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damit ein „Feind“ der Vereinigten Provinzen, seine Pflichten übertreten habe. Mossel erwiderte, dass Rodrigues freiwillig auf der Insel zurückgeblieben war, nachdem er  – anstelle seiner üblichen Heuer  – „80  Beile, einige Messer, eine Muskete und einen Degen“ erhalten hatte. Jedenfalls gilt jener Rodrigues heute weithin als der erste dauerhafte Bewohner der jungen Kolonie.25 1613 ist zudem das Jahr, in dem mithilfe eines Vertragsgürtels („Wampum“) der sogenannte „Zwei-Reihen-Wampum-Vertrag“ zwischen niederländischen Abgesandten und Anführern der Irokesenföderation geschlossen wurde; das soll irgendwo am Oberlauf des Hudson River geschehen sein. Die Bestimmungen dieses Vertrages, demzufolge die beiden Parteien fortan Brüder sein und „nicht des anderen Schiff steuern“ sollten, spiegelten sich in dem namengebenden Wampum wieder, dessen weiße und purpurne Perlen in einem langen Muster aufgestickt waren, das ein indianisches Kanu Seite an Seite mit einem europäischen Segelschiff zeigte. Die Nachfahren der damaligen Irokesen beharren heute darauf, dass der Vertrag auch im 21. Jahrhundert noch seine Gültigkeit habe. Zu den Fragen, die sich ein Historiker unwillkürlich stellt, gehören die folgenden: Wo könnten diese niederländischen Gesandten sich aufgehalten haben? Und wäre es nicht möglich, dass der Vertrag mit einem anderen, späteren Ereignis verwechselt worden ist?26 Die nötige Vorarbeit schien also geleistet, als im Oktober 1614 die Generalstaaten eine Gründungsurkunde für die Handelskompanie dieses Nieuw Nederland vorlegten. Block und Christiansen hatten zuvor zu den zwölf niederländischen Bürgern gehört, die eine entsprechende Petition unterzeichnet hatten. Die Konzession der Gesellschaft sah vor, dass Land zur Besiedlung zwischen dem 45. und dem 40.  Breitengrad vergeben werden solle. Im Jahr 1615 wurde ein kleiner Handelsposten namens Fort Nassau auf einer kleinen Insel im Oberlauf des Muhheakantuck eingerichtet; den Fluss nannten die Niederländer nun Noortrivier oder „Nordfluss“. Aber dann wurde der Krieg gegen die Spanier wieder heftiger, der Nachschub für die Kolonie wurde unterbrochen, der Handel kam zum Erliegen und die Anrechte der VOC erloschen unweigerlich. Schließlich wurde 1621 die Niederländische Westindien-Kompanie gegründet, die ihre gescheiterte Vorläuferin ersetzen sollte. Noch einmal wurde Kapital beschafft, Schiffe wurden gebaut und aus dem allzu großen Reservoir protestantischer Glaubensflüchtlinge Kolonisten angeworben. Diesmal sollte der Schwerpunkt des Vorhabens auf dem Unterlauf des „Nordflusses“ liegen, und diesmal sollte der Plan nicht scheitern. 689

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Eine kuriose Fußnote zu diesen Entwicklungen betrifft die englischen „Pilgerväter“, die in den Jahren, als sich das Projekt „Nieuw Nederland“ in der Entwicklungsphase befand, im niederländischen Leiden gelebt hatten. Diese englischen Exulanten kannten Hudsons „Report“ ebenfalls, und als sie den Beschluss fassten, die Niederlande in Richtung Amerika zu verlassen, wollten auch sie Kurs auf die Große Bucht und die Insel Mannahatta nehmen. Tatsächlich versuchte die Crew der Mayflower, nachdem sie am 9.  November 1620 das Cape Cod gesichtet hatte, die Küste in südlicher Richtung hinunterzufahren, um die Meerenge beim heutigen New York anzusteuern. Allerdings stießen sie auf starke Strömungen und gefährliche Untiefen, und so änderten sie ihren Kurs und landeten schließlich etwas weiter nördlich an dem Punkt, wo sie ihre Kolonie Plymouth gründen sollten. Hätten sie ihr ursprüngliches Ziel erreicht, dann wären wohl die Niederländer bei ihrer Ankunft von einer Gruppe grimmiger englischer Puritaner in Empfang genommen worden.27 Wie es sich ergab, ging die erste Schiffsladung niederländischer Pioniere im Mai 1624 von ihrem treuen Schiff, der Nieuw Nederland, an Land, ohne dass sie dort auf ein englisches Empfangskomitee trafen. Es handelte sich um eine Gruppe aus dreißig Familien, zumeist französischsprachige Wallonen, Glaubensflüchtlinge aus den südlichen Niederlanden (dem heutigen Belgien). Die Kolonisten nannten ihren ersten Landepunkt Noten Eylant, die „Nussinsel“, nach einem indianischen Namen mit gleicher Bedeutung. Bevor der Sommer zu Ende war, wurden manche von ihnen stromaufwärts geschickt, um dort bei dem Handelsposten Fort Nassau die Siedlung Fort Orange zu gründen; andere segelten die Küste hinunter, um am Zuidrivier, dem „Südfluss“ (den die Engländer von Virginia bereits „Delaware“ nannten), die Siedlung Swaanendael („Schwantal“) zu gründen. Die neue Kolonie hieß Nieuw Nederland, genau wie ihr Schiff. Ihr Gouverneur war der Kapitän des Schiffes, Cornelis May, und ihr Rat setzte sich aus sieben Mitgliedern zusammen, deren Namen uns – in bester burgundischer Tradition – jeweils in einer französischen und einer niederländischen Form überliefert sind. Der Kolonist Franchoys Fezard (Francis Veersaert) errichtete auf der „Nussinsel“ eine Windmühle nach niederländischer Art. Zu den Richtlinien für die Neuankömmlinge gehörte auch ein Passus aus den Verordnungen der Vereinigten Provinzen, der die Kolonisten zu religiöser Toleranz und zur Verteidigung der Gewissensfreiheit anhielt. Dieses Ethos stand im starken Kontrast zu der theokratisch verfassten Nachbar­ kolonie von Plymouth Bay – von den französischen und spanischen Kolonien derselben Zeit gar nicht zu reden. 690

Delawares, Holländer und viele Sklaven

Conne cticut

Siedlungskolonien, 1640

MASSACHUSET TS B AY

Hudson

Ontariosee

N

S

(1628 – 1691)

Salem Schenectady

Boston

Fort Orange

Plymouth

Wiltwijk

Hartford

NIEUW NEDERLAND

P LY M O U T H (1620 – 1691)

New Haven

(1609 – 1664)

CONNECTICUT (1636 – 1776)

Su

New Amsterdam

na an eh u q s

NEW HAVEN (1636 – 1665)

De law ar e

Fort New Gothenburg

NEUSCHWEDEN (1638 – 1655)

Fort Christina

Fort Elfsborg

Atlantischer Ozean Sankt Mary’s

Ausbreitung der Siedlungen

VIRGINIA (1607 – 1776)

Jamestown 0

50

100 km

Britisch Niederländisch Schwedisch

691

12. Mannahatta

Im Juni 1625 kamen weitere Schiffe in Nieuw Nederland an. Die Oranjeboom wurde nach Swaanendael geschickt; aber die Makreel und drei Frachtschiffe brachten 45 weitere Kolonisten an die Große Bucht, gemeinsam mit einer beträchtlichen Menge an Vieh. Auch ein Festungsbaumeister namens Crijn Frederiksz van Lobbrecht war mit von der Partie. Seine Mission war es, die Grundlagen für eine Zitadelle auszuarbeiten, die an der Spitze jener lang gezogenen Insel platziert werden sollte, die der Mündung des „Nordflusses“ in östlicher Richtung vorgelagert war. Fort Amsterdam musste schnell und stark errichtet werden. Die Niederländer konnten nur während vorübergehender Waffenstillstände mit den Spaniern wirklich frei handeln, und mit einer spanischen Strafexpedition gegen die neue Kolonie war wegen des andauernden Krieges jederzeit zu rechnen. Die erste Gruppe von Schwarzen, die vermutlich direkt aus Afrika hierher verschleppt wurden, ging im zweiten Jahr der Kolonie von einem portugiesischen Schiff an Land. Arbeitskräfte waren knapp, und so wurde die Sklaverei – wie in anderen europäischen Kolonien auch – zur akzeptierten Praxis. Die sechzehn Männer, die von den Portugiesen entweder gekauft oder entführt worden waren, galten als Eigentum der Niederländischen Westindien-Kompanie, arbeiteten unter der Aufsicht eines „Negeraufsehers“ und lebten in einer räumlich gesonderten Unterkunft. Als Standort dieser ersten Sklavenbaracke gilt inzwischen ein Ort nahe dem East River (und heute passenderweise ganz in der Nähe der Vereinten Nationen). Die Kinder dieser Männer blieben bis zu ihrer Volljährigkeit Sklaven. Insgesamt wurden innerhalb der nächsten zehn Jahre mehr als zweitausend Sklaven eingeführt. Das folgenreichste und historisch bedeutendste Ereignis jener frühen Tage dürfte den damals Beteiligten dagegen eher belanglos erschienen sein: Im Jahr 1626 entschloss sich der „Direktor“ (Gouverneur) von Nieuw Nederland, Peter Minuit, die Insel Mannahatta, auf der bereits mit Hochdruck an der Errichtung des Forts Amsterdam gearbeitet wurde, doch noch offiziell von den dort ansässigen Lenape zu kaufen. Später hieß es, er habe „24 Dollar“ in Glasperlen gezahlt. Tatsächlich hat die Summe 60 Gulden betragen; und zu den „Glasperlen“ zählten auch Decken, Kochgeschirr, billiger Schmuck und andere Kleinigkeiten. Dennoch sollte der zweifelhafte Charakter dieses Geschäfts jedem sofort klar sein: Es ging hier nicht um eine rechtsgültige Vereinbarung zwischen gleichberechtigten Partnern. Stattdessen beruhigte der Handel vielleicht das Gewissen der Europäer; vor allem diente er jedoch zur Beschwichtigung der Eingeborenen, solange Fort Amsterdam noch nicht fertiggestellt war. 692

Delawares, Holländer und viele Sklaven

Von der Sichtweise der Lenape in dieser Angelegenheit ist natürlich nichts überliefert. Aber in der Geschichtswissenschaft gilt doch als weitgehend gesichert, dass ihnen die Transaktion keineswegs als ein „Kauf“ nach westlichem Verständnis, sondern eher als eine Verpachtung oder Zuteilung für einen gewissen Zeitraum gegolten haben dürfte. Die Zahlung von 60 Gulden wäre entsprechend nicht als der Preis für ein Stück Land, sondern eher als ein Geschenk oder eine Gefälligkeitszahlung in Anerkennung einer Nutzungsvereinbarung zu sehen. Ähnliche Transaktionen gab es in den Folgejahren noch häufiger: am „Höllentor“ im East River (1637), im Westen von Long Island (1639), bei Rockaway (1643) und in Brooklyn (1652).28 Über vierzig Jahre hinweg wuchs die neue Kolonie und gedieh. Zum Zeitpunkt ihrer größten Ausdehnung erstreckte sie sich entlang dem „Nordfluss“ von Schenectady bis nach Fort Amsterdam, und an der Küste von Swaanendael am Delaware bis nach Fort Good Hope am Connecticut River (bei der heutigen Stadt Hartford). Ihre Bevölkerung – ihre nicht-indianische Bevölkerung, wohlgemerkt – wuchs von 270 Seelen im Jahr 1628 auf rund 9000 im Jahr 1644 an; davon waren etwa 10 Prozent afrikanischer Herkunft. Mit der wesentlich größeren Kolonie der Vereinigten Provinzen in Niederländisch-Brasilien unterhielt man engen Kontakt; nicht zuletzt wurde Nieuw Nederland zu einem Zwischenhalt auf der Versorgungsroute nach Südamerika. Die Einwohnerschaft der Kolonie im Norden war überaus bunt gemischt: 1643 berichtete ein Besucher, ein niederländischer Pastor, in Nieuw Nederland würden 18 Sprachen gesprochen, und dass sich der niederländisch-calvinistischen Mehrheit inzwischen Katholiken, englische Puritaner, Lutheraner und Wiedertäufer hinzugesellt hätten. Alles in allem wurde Nieuw Nederland von sieben Gouverneuren, die als „Direktoren“ bezeichnet wurden, geleitet; die fünf letzten von ihnen durften sich sogar „Generaldirektor von Nieuw Nederland“ nennen: 1624–1625 1625–1626 1626–1632 1632–1633 1633–1637 1638–1647 1647–1664

Cornelis Jacobsz May Willem Verhulst Peter Minuit / Pieter Minuyt Sebastien Crol Wouter van Twiller Willem Kieft Pieter Stuyvesant

1633 wurde die Autorität des Gouverneurs durch die Ankunft einer 104 Mann starken Militäreinheit gefestigt, die in dem neuen Fort Amsterdam 693

12. Mannahatta

stationiert wurde. Aufgabe der Soldaten war es, die Kolonie gegen das unberechenbare Verhalten sowohl der ansässigen Indianer als auch der europäischen Nachbarkolonien zu verteidigen. In den Jahren 1643–45 kam es im „Wappinger-Krieg“ oder „Gouverneur-Kiefts-Krieg“ zu blutigen Auseinandersetzungen der Niederländer mit dem Indianerstamm der Wecquaesgeek und seinen Verbündeten, der Wappinger-Konföderation. Die Kämpfe fanden größtenteils im Bereich der südlichen Küste statt. Zur Förderung der Landwirtschaft erließ die Niederländische Westindien-Kompanie 1629 eine Reihe von Vryheden (d. h. Privilegien), durch die interessierte Siedler Anrecht auf ein unbewohntes Stück Land erwerben konnten, das an der Küste 25 Kilometer, beiderseits der Flüsse rund 13 Kilometer messen sollte. Dieses Land erhielten sie unter zwei Bedingungen: Sie mussten es von den Indianern erwerben und sie mussten binnen vier Jahren fünfzig erwachsene Kolonisten anwerben, die sich dort niederlassen würden. Auf Grundlage dieser Regelung gründete etwa Michael Pauw die Siedlung Pavonia gegenüber der „Nussinsel“; und Kilian van Rensselaer gründete gut 230  Kilometer den Hudson River hinauf, bei Fort Orange, seine Kolonie Rensselaerwyck. Die Unternehmer, die aufgrund der Vryheden ins Land kamen, wurden patroons – Patrone – genannt. 1638 gab die finanziell stark angeschlagene Westindien-Kompanie ihr Außenhandelsmonopol auf. Fortan konnten alle Siedler frei am Handel teilnehmen, solange ihre Waren in den Schiffen der Kompanie transportiert und ordentlich versteuert wurden. 1642 ertrank ein Mann namens Anthony van Corlaer bei dem Versuch, den „Nordfluss“ bei Spuyten Duyvil („Spuckteufel“, heute ein Stadtteil der New Yorker Bronx) schwimmend zu überqueren. Auch in Sachen Religionsfreiheit geriet die Niederländische WestindienKompanie unter Druck. In den ersten Jahren der jungen Kolonie konnten die Verantwortlichen es sich nicht leisten, bei der Auswahl der Kolonisten allzu wählerisch zu sein. Doch in den 1640er-Jahren machten sich allmählich calvinistische Hardliner bemerkbar. Es gab Versuche, sowohl Lutheraner als auch Quäker aus der Kolonie auszuschließen; auch die Ansiedlung von Katholiken sowie sephardisch-jüdischen Flüchtlingen aus Niederländisch-Brasilien wurde angefochten. Die Kompanie verwies jedoch darauf, dass sie ihren jüdischen Gesellschafter nicht derart vor den Kopf stoßen könne, und 1655 erhielten alle Juden, Sephardim wie Aschkenasim, die vollen Siedlerrechte, womit eine dauerhafte Verbindung begründet wurde. Rasch wurde auch die Genehmigung zur Errichtung einer Synagoge und eines jüdischen Friedhofs erteilt. Die Quäker hatten es da schon schwerer. Manche wurden ausgewiesen, eingekerkert, mit Geldstrafen belegt oder 694

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sogar gefoltert. Andere trafen sich heimlich im Haus eines gewissen John Bowne auf Long Island. Aber nachdem 1657 in den Niederlanden die sogenannte Flushing Remonstrance publik gemacht worden war (etwa: „Beschwerdeschrift von Vlissingen“, heute als Flushing ein Stadtteil von Queens), sah der Gouverneur sich gezwungen, von einer weiteren Verfolgung der Quäker abzusehen. Der oder die Verfasser der Remonstrance hatten sich dafür ausgesprochen, „nicht zu richten, auf dass wir nicht gerichtet werden, und nicht zu verurteilen, auf dass wir nicht verurteilt werden, sondern vielmehr jedermann ganz frei und in Frieden zu lassen“. In jenen Jahren kamen immer mehr Kolonisten nach Nieuw Nederland, um sich im Schatten von Fort Amsterdam niederzulassen. Sie legten Straßen an und bauten Häuser zwischen dem Fort und der äußeren Begrenzungsmauer. In rascher Folge wurden alle üblichen Einrichtungen einer damaligen niederländischen Stadt auch hier bereitgestellt: eine Schule, ein Postamt, ein Armenhaus, ein Gefängnis sowie mehrere Windmühlen und Wirtshäuser. Ab 1640 gab es eine regelmäßige Fährverbindung nach Long Island, was dazu führte, dass am östlichen Fähranleger eine kleine Siedlung namens Breucklyn entstand. Unter dem Generaldirektor Stuyvesant wurde der Wellenbrecher vor dem Hafen verstärkt, ein Pier errichtet, feste Marktplätze ausgewiesen und einige Straßen gepflastert. Aber Stuyvesant war auch ein religiöser Prinzipienreiter: Die Sonntagsarbeit wurde verboten, Ausschweifung, Ehebruch und „Sodomie“ wurden unter schwere Strafen gestellt. Nach 9 Uhr abends galt zudem eine Ausgangssperre, und Stuyvesant versuchte, den sonntäglichen Kirchbesuch verpflichtend zu machen. Einer seiner Gegner, Adriaen van der Donck, kehrte nach Holland zurück und beschwerte sich direkt beim Führungsgremium der Westindien-Kompanie. Als Resultat wurde 1653 eine Gemeindesatzung für die Kolonie erlassen, die zusätzlich zu dem bisher federführenden „Siebenerrat“ noch einen „Neunerrat“ von erfahrenen Ratgebern vorsah. Langsam, aber sicher bereitete sich die Gemeinde New York auf die Selbstverwaltung vor. Mit der Ausdehnung der Kolonie nahm auch die Einfuhr von Sklaven zu. In den frühen Jahren waren diese ausschließlich im Besitz der Niederländischen Westindien-Kompanie. Arbeitskolonnen von Sklaven rodeten den Wald, legten Wege an und bauten nicht zuletzt auch das Fort Amsterdam. Bald war es jedoch auch Privatleuten erlaubt, Sklaven zu erwerben, die dann als Hausangestellte oder Landarbeiter auf den Gütern der Kolonisten eingesetzt wurden. Allem Anschein nach waren die Lebensbedingungen dieser frühen Sklaven um einiges besser, als dies später meist der Fall war. Sklaven wurden als Mitglieder in die Niederländische Reformierte 695

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Kirche aufgenommen und konnten auch in aller Form getauft werden. Sie konnten sich um ihre Freilassung bewerben, was regelmäßig auch bewilligt wurde, und konnten dann für Lohn arbeiten. Ihre Zahl stieg mit der Zeit auf etwa 10 000 an. Dennoch beabsichtigte die Kompanie, „Neu-Amsterdam“ zu einem Knotenpunkt des internationalen Sklavenhandels zu machen. Die erste Versteigerung von Sklaven fand 1655 statt, nachdem ein großes Sklavenschiff, die Witte Paert („Weißes Pferd“), in den Hafen eingelaufen war und der Kapitän seine „Fracht“ zum Preis von 1200 Silbergulden pro Kopf zum Kauf angeboten hatte. 1660 eröffnete ein Hospital für kranke und verletzte Sklaven.29 Die offenen Landgrenzen der Kolonie erforderten ständige Wachsamkeit. Es gab keine feste Grenze, und die Beziehungen zu den Indianerstämmen der Gegend, die ja hin und her wanderten, waren einem ständigen Wechsel unterworfen. Auch untereinander führten die Indianer oft Krieg. Im Norden beispielsweise, rund um das Quellgebiet des Hudson River, dominierte der Irokesenstamm der Mohawk, vor allem, nachdem sie ihre Nachbarn, die Mohegan, unterworfen hatten. 1628 gewährten die Niederländer den Mohawk ein Monopol auf den Handel mit Biberpelzen; im Gegenzug erwarben die Indianer Gewehre und Munition. Diese Regelung brachte zwar einen zeitweiligen Frieden, schuf jedoch zugleich die Grundlagen für späteren Streit. Indem sie die Mohawk mit Feuerwaffen ausstatteten, gaben die Niederländer der Irokesenföderation das Werkzeug an die Hand, ihren Machtbereich bis zu den Großen Seen auszudehnen und in der nächsten Generation die blutigen „Biberkriege“ anzufangen. Ab den 1630er-Jahren nahmen die Spannungen an den nordöstlichen und südwestlichen Grenzen der expandierenden Kolonie merklich zu. Die Engländer expandierten ihrerseits und dehnten ihre Kolonie Neuengland an der Küste entlang immer weiter nach Süden aus. 1634 gründeten sie den Ort New Haven in einem Gebiet, das zuvor als Teil von Nieuw Nederland gegolten hatte. Im Jahr darauf, 1635, verdoppelten sie die Bedrohung mit der Gründung von Fort Saybrook (die Benennung ehrte zwei Lords namens Saye und Brook), das in strategisch äußerst günstiger Lage an der Mündung des Connecticut River gelegen war – und an jenem Fluss lag ja, ein Stück weiter stromaufwärts, das niederländische Fort Good Hope (jetzt Hartford). Um die Sache noch pikanter zu machen: Der englische Baumeister, der zur Errichtung von Fort Saybrook angeworben wurde, Hauptmann Lion Gardiner, war nicht nur ein früherer Bedienter der Niederländischen Ostindien-Kompanie, sondern war noch dazu mit einer Niederländerin 696

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verheiratet. Im Jahr 1639 erwirkte er ein persönliches Privileg des englischen Königs Karl  I., womit seine, Gardiners, Erwerbung einer kleinen, strategisch gelegenen Insel besiegelt wurde, die heute „Great Island“ heißt und der damaligen Festung Saybrook am anderen Ufer des Flusses genau gegenüberlag. Wie zuvor schon im Fall der Insel Mannahatta war auch hier der „Kaufpreis“, der nun an die Montaukett-Indianer entrichtet wurde, lächerlich gering: „ein großer schwarzer Hund, ein Fass mit Schießpulver und Kugeln sowie ein Stapel holländischer Decken“. Gouverneur Stuyvesant sah sich überflügelt und zum Rückzug gezwungen. Westlich von New Haven lag nun die neue Grenze zwischen den beiden Kolonien. Auf Long Island jedoch blieb die niederländisch-englische Grenzziehung weiter unbestimmt. Am südlichen Rand der Kolonie entstanden Spannungen und schließlich Übergriffe aus einem verwickelten Konflikt zwischen mehreren Parteien, deren Interessen im Mündungsgebiet des „Südflusses“ Delaware aufeinanderstießen. Hier standen die Niederländer in Konkurrenz sowohl zu den Engländern  – die aus Virginia und Maryland nach Norden vorstießen – als auch zu den Schweden, deren kurzlebige Kolonie „Neuschweden“ sich um das Fort Christina erstreckte (das heutige Wilmington im USBundesstaat Delaware). Federführend verantwortlich für das schwedische Kolonialvorhaben war anfangs kein anderer als Peter Minuit, der frühere Gouverneur von Neu-Amsterdam, den die Schweden angeworben hatten, um diesen territorialen Keil zwischen die Engländer und die Niederländer zu treiben – was ihm auch mit Bravour gelang. Die Schweden unterstützten den kriegerischen Stamm der Susquehannock in seinen Handelsstreitigkeiten mit den Engländern und richteten zudem zwei befestigte Stützpunkte im Landesinneren ein: das Fort Nya Elfsborg am linken Ufer des Delaware River und das Fort Nya Göteborg am rechten Ufer, nahe dem heutigen Philadelphia. Im Jahr 1654 jedoch gingen die Schweden den entscheidenden Schritt zu weit. Indem sie das niederländische Fort Casimir eroberten (das heutige New Castle in Delaware), forderten sie einen Vergeltungsschlag geradezu heraus. Im darauffolgenden Sommer brachte der niederländische Gouverneur Stuyvesant dort eine große Streitmacht an Land, schlug den schwedischen Widerstand ohne große Mühe nieder und verleibte Neuschweden als Ganzes dem Territorium von Nieuw Nederland ein.30 Im Laufe der Jahre wurden die „Neuniederländer“ mit den Indianern in ihrer Umgebung immer besser vertraut. Ein prominenter Stamm, der gemeinhin als die „Wappinger“ (d. h. „Leute aus dem Osten“) bekannt war, siedelte am östlichen Ufer des Hudson River. Von ihrem Namen gibt es 697

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Dutzende Varianten und Schreibweisen: Wappans, Wappinx, Wabinga, um nur einige zu nennen, und auch unter den Kichtawank, Sinsink und Wecquaesgeek gab es zahlreiche Untergruppen, die sich den Wappinger-Indianern zugehörig fühlten. Jede dieser Untergruppierungen dürfte ihren eigenen Sachem oder „Häuptling“ gehabt haben. Alles in allem betrachtet war es jedoch so, dass die eingeborene Bevölkerung Nordostamerikas in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts drastische Einbußen erlitt: Die Indianer starben wie die Fliegen. Daran war zum einen der Kontakt mit den Europäern schuld, der manchen Stamm an den Rand der Auslöschung brachte. Auch der Zusammenbruch ihrer Wirtschaftsordnung spielte eine Rolle: Indem sie große Mengen an Pelz für den Tauschhandel mit niederländischen Mittelsleuten beschafften, überlasteten die Lenape schließlich die natürlichen Ressourcen ihrer Umgebung. Kriege zwischen den einzelnen Stämmen brachen aus. Insbesondere die Irokesen setzten den Lenape hart zu, und im Jahr 1632 wurde eine große Gruppe von Lenape über die Delaware Bay hinweg in die Küstensümpfe des heutigen New Jersey vertrieben; seither waren sie als Unalachtigo oder Tidewater Indians (also etwa: „Küstenindianer“) bekannt. Die Lenape begannen, von den Irokesen als ihren „Onkeln“ zu sprechen, was Untertänigkeit und Tributpflicht impliziert. Am tödlichsten jedoch waren die Pocken. Wo die Europäer in der Neuen Welt auch hinkamen: Überall brachten sie Krankheiten mit, gegen die bei den Einheimischen keinerlei natürliche Immunität vorhanden war. Ansteckende Krankheiten wie etwa die Masern, Mumps oder Windpocken, die in Europa als „Kinderkrankheiten“ galten, konnten Familien, ja ganze Dörfer auslöschen; gerade die Wirkung der Pocken in Nord- und Südamerika kann eigentlich nur mit dem Schwarzen Tod des europäischen Mittelalters verglichen werden. Auch der Alkohol, den die Niederländer ins Land gebracht hatten, zeigte eine verheerende Wirkung. Zwar waren die Lenape unter den amerikanischen Ureinwohnern für ihr heilkundliches Knowhow berühmt; aber Bakteriologen waren ihre Medizinmänner natürlich keine. Ihre Anfälligkeit für die neuen Krankheiten blieb ihnen daher ein Rätsel, und ihr einziger Ausweg schien die Flucht in die abgeschiedene, dafür aber von Seuchen verschonte Wildnis. So zeichnete sich die demografische Katastrophe des Lenapehoking bereits ab, als an die Deportationen späterer Jahre noch überhaupt nicht zu denken war. Ihre Kriege mit den Niederländern machten die Sache nur noch schlimmer. Ernstlichen Konflikten waren die Lenape anfangs aus dem Weg gegangen. Aber im Februar 1643 hatte der Gouverneur Willem Kieft beschlossen, 698

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einen Unterstamm der Lenape, die Weckquaesgeek, abzustrafen, die von den Mohegan und den Mohawk aus ihrem eigentlichen Siedlungsgebiet im Norden vertrieben worden waren und nun bei Communipaw (dem heutigen Jersey City) ein illegales Flüchtlingslager errichtet hatten. Also griff ein großer Trupp von niederländischen Soldaten die vertriebenen Indianer an und tötete 120 von ihnen: Säuglinge wurden von der Mutterbrust gerissen und vor den Augen ihrer Eltern in Stücke gehackt, die dann ins Feuer oder ins Wasser geworfen wurden …, dass es ein Herz von Stein hätte erweichen mögen. Manche wurden auch in den Fluss geschleudert, und als ihre Väter und Mütter sie zu retten suchten … ließen die Soldaten die Eltern und ihre Kinder alle miteinander ertrinken.31

Dieses nach einer nahe gelegenen europäischen Siedlung als „PavoniaMassaker“ bekannt gewordene Verbrechen löste unter den Indianern der Umgebung einen allgemeinen Aufstand aus. Im Herbst 1643 durchstreiften rund 1500 eingeborene Krieger ganz Nieuw Nederland, brannten Farmen nieder, plünderten Siedlungen und töteten die Kolonisten. Diesmal war Neu-Amsterdam der Ort, wo sich die verzweifelten und verängstigten Flüchtlinge drängten. Der mörderische Wahnsinn dauerte zwei Jahre an; elf Indianerstämme waren daran beteiligt. Die Niederländer stellten eine Miliz auf, um sich zu rächen; Tausende Indianer fielen ihnen zum Opfer. Aufgrund beiderseitiger Erschöpfung wurde im August 1645 eine Waffenruhe vereinbart, aber zu diesem Zeitpunkt hatten zahlreiche Kolonisten bereits die Heimreise nach Europa angetreten. Im sogenannten „Pfirsichkrieg“ von 1655 erfolgte ein ähnlicher Großangriff mehrerer Indianerstämme. Auf dem Gebiet der Susquehannock versammelte sich ein Heer von 500 bis 600  Kriegern, die in großen Kanus geradewegs nach Mannahatta gebracht wurden. Trupps von Indianern in Kriegsbemalung und Federschmuck rannten durch die Straßen von NeuAmsterdam, erhoben ihr Kriegsgeheul, richteten Chaos und Verwüstung an und nahmen Geiseln. Dieser Angriff, hieß es, sei als Vergeltung für die Ermordung eines Wappinger-Mädchens erfolgt, die beim Diebstahl eines Pfirsichs ertappt worden sei. Tatsächlich handelte es sich wohl eher um die indianische Reaktion auf die Eroberung Neuschwedens durch den Gouverneur Stuyvesant. Der Konflikt wurde beigelegt, nachdem Stuyvesant eingewilligt hatte, das Siedlungsrecht der Niederländer im Gebiet zwischen dem „Nordfluss“ und dem Hackensack River noch einmal zu erwerben. 699

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Ungeachtet der Indianerkriege expandierten die niederländischen Ansiedlungen auf der Insel Mannahatta immer weiter. Im Jahr 1658 gründete Mynheer Hendrik de Forest ein Bauerndorf etwa 8 Kilometer außerhalb der nördlichen Verteidigungsmauer der Kolonie; er nannte es Nieuw Haarlem. Vermutlich hatte an dieser Stelle zuvor eine Farm gestanden, die de Forest gehörte, in dem jüngsten Indianerkrieg jedoch zerstört worden war. Von dieser Farm ist nur der Name überliefert, den die Lenape dafür gebrauchten: Muscoota, das heißt „Flacher Ort“. Der nahe gelegene Hügel (der heutige Mount Morris) hieß bei den niederländischen Kolonisten Slangberg, also „Schlangenberg“. Am Ufer des heutigen Harlem River wurde 1660 in der Siedlung Elmendorf eine reformierte Kirche errichtet. Auf einem zeitgenössischen Kupferstich sieht man neben der Kirche ganz deutlich eine Reihe von Grabsteinen, die nach neuesten Erkenntnissen wohl zu einem „Afrikanerfriedhof“ gehörten, auf dem die Todesopfer aus den Reihen der eingeführten Arbeitssklaven bestattet wurden.32 Die zwei Esopus-Kriege von 1659/60 und 1773 wurden durch die Gründung eines niederländischen Vorpostens namens Wiltwijk ausgelöst, der rund 100 Kilometer flussaufwärts von Neu-Amsterdam gelegen war und die Keimzelle der heutigen Stadt Kingston darstellte. Die ortsansässigen Esopus-Indianer, ein Unterstamm der Lenape, hatten schon zuvor mehrmals mit Gewalt auf das Vordringen der Europäer in dieses Gebiet reagiert. Im Jahre 1659 griff eine Gruppe aufgebrachter Niederländer einige Indianer an, nachdem diese eine Muskete abgefeuert und darüber lautstark triumphiert hatten. Acht Monate lang wechselten Angriffe und Gegenangriffe, Überfälle und Gegenüberfälle einander ab. Vier Jahre später entlud sich der anhaltende Unmut der Indianer in einer noch größeren Detonation: Am 7. Juni 1663 drängten mehrere Hundert Esopus-Krieger, die sich als friedfertige Händler ausgaben, durch die offenen Tore von Fort Wiltwijk. Nachdem sie die niederländische Garnison dergestalt getäuscht hatten, gaben sie ihren Mitstreitern  – einer noch größeren Streitmacht von Kriegern, die außerhalb gewartet hatten – ein Zeichen, woraufhin diese das nahe gelegene Dorf Nieuwdorp (das heutige Hurley) dem Erdboden gleichmachten. Bei der Vorbereitung ihrer Strafexpedition gingen die gedemütigten Niederländer äußerst planmäßig vor: Der Hauptmann Martin Kriegerand sollte sie anführen; ihre Mohawk-Verbündeten waren auch mit von der Partie. Im August zogen sie hinaus in die Hügel und brannten auf dem Weg zur Hochburg der Esopus alle Indianerlager nieder, auf die sie stießen. In einer offenen Feldschlacht wurde der Sachem der Esopus, Papequanaehen, tödlich verwundet. Daraufhin 700

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zerstreute sich sein Stamm in alle Himmelsrichtungen, ihr Hauptlager wurde in Schutt und Asche gelegt und die Niederländer marschierten zurück zu ihrem Stützpunkt. Noch heftigere Verwerfungen gab es im Zusammenhang mit den Irokesen. Diese hatten sich schon lange im Krieg mit den Indianerstämmen aus der Gegend der Großen Seen befunden, die von den Franzosen unterstützt wurden, wie etwa die Wyandot (Huronen); die sogenannten „Biberkriege“ waren die Folge. Als die Irokesen 1660 das ferne Montreal belagerten, griffen die (von den Engländern unterstützten) Susquehanna die (von den Niederländern unterstützten) Mohawk-Irokesen an, was die bisherigen Stammesstreitigkeiten zu einem wahren Flächenbrand anfachte. Das kulturelle Leben in einer entlegenen Kolonie wie Nieuw Nederland war naturgemäß eingeschränkt. Einfachste materielle Lebensverhältnisse und der ständige Kampf gegen die Elemente forderten ihren Tribut. Musik gab es nur in den Kirchen und Privathäusern. Bücher mussten importiert werden. Und doch erwies sich Nieuw Nederland auf drei Gebieten als überraschend kreativ: in der Malerei, in der Dichtung und der Prosaschriftstellerei.33 Die Porträtmalerei war natürlich eine fest etablierte niederländische Tradition, und schon die ersten Kolonisten brachten das nötige Können mit. Ab den 1630er-Jahren waren in Neu-Amsterdam und den anderen Siedlungen der Kolonie die Maler der sogenannten „Patroon-Schule“ aktiv – der ersten einheimischen Kunstrichtung Amerikas. Das Porträt des Reverend Lazare Bayard, das sich heute im Besitz der New York Historical Society befindet, stammt aus dem Jahr 1636. Aus den späten 1640er- und den 1650-Jahren sind Porträts von Gouverneur Stuyvesant und seiner Familie erhalten. Die besten Porträts weiblicher Modelle, wie etwa das Bildnis der Mrs. David Verplenck (1718) oder Elsie Rutgers Schuyler (1723), stammen alle vom Beginn des 18.  Jahrhunderts. „Die niederländische Kunst in allen ihren Spielarten war die erste, die nach New York kam.“34 Die Poeten von Nieuw Nederland, ein erlesenes Grüppchen, schrieben ihre Gedichte sowohl auf Niederländisch als auch auf Latein. Wie es scheint, hatten sie eine Vorliebe für langatmige Versepen. Henryk Selyns (1636– 1701) war ein reformierter Pastor. Sein 1663 entstandenes Gedicht Bruydloft Toorts („Die Brautfackel“) feierte die Heirat zwischen Aegidius Luyck, seines Zeichens Rektor der Lateinschule von Neu-Amsterdam, und Judith van Isendoorn. Es beginnt mit einem Vers, der für ein Hochzeitsgedicht doch eher unpassend erscheint: 701

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Hoe ras wordt’t minnevyer door’t oorlogsvyer geblust!35 Wie rasch wird Liebesfeuer durch Kriegsfeuer gelöscht!

Es folgt die ausführliche Beschreibung eines Kampfes zwischen Amor, dem Gott der Liebe, und Mars, dem Gott des Krieges. Erdbeben, Indianermassaker und das Braten von Gefangenen bei lebendigem Leibe kommen auch vor. Nach allgemeiner Auffassung gilt jedoch Jacob Steendam (um 1616–1672) als der erste Dichter der Kolonie. Zwischen 1649 und 1662 lebte er in NeuAmsterdam und veröffentlichte dort auch eine Sammlung von Gedichten unter dem Titel De Distelvink (1650). Er scheint aber auch auf Bestellung gedichtet zu haben. Sein erstes längeres Werk, Klagt van Nieuw Amsterdam („Die Klage von Neu-Amsterdam“), entstand 1660 und enthält eine wahre Litanei von Sorgen nach der Eroberung der Stadt durch die Engländer. Sein zweites Langgedicht, ’t Lof van Nuw-Nederland („Lob Neu-Niederlands“, 1661), liest sich wie ein nostalgischer Werbebrief der Westindien-Kompanie für ihre verlorene Kolonie: O vrucht-rijk Land, vol zeegens, opgehoopt … O fruchtbar Land, voll Segen angehäuft, wer deine Schätze in Erinn’rung ruft, wird deiner Gaben wahren Wert bald einseh’n … Und so immer weiter, Strophe um Strophe: Dit is het LAND, daar Melk en Honig vloeyd: Dit is’t geweest, daar’t Kruyd (als dist’len) groeyd: Dit is de Plaats, daar Arons-Roode bloeyd: Dit is het EDEN.36 Dies ist das Land, wo Milch und Honig fließen, wo süße Düfte aus dem Boden schießen und Aronstab lässt reich die Blüten sprießen – ein wahres Eden. 702

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Gewidmet ist dieses Gedicht, bezeichnenderweise, „Cornelis van Ruyven, raad en geheymschrijver van de E. West-Indische Maatschap“ („Herrn Cornelis van Ruyven, Rat und geheimer Sekretär der ehrwürdigen Westindischen Gesellschaft“, d. h. der Niederländischen Westindien-Kompanie).37 Adriaen van der Donck (um 1618–1655) hingegen war ein Intellektueller ersten Ranges. Den gebürtigen Bredaer, „Doktor beider Rechte“, der in Leiden studiert hatte, trieb die Abenteuerlust hinaus in die „Neue Welt“. Drei Jahre lang diente er als schout („Schultheiß“ im Sinne einer Ordnungskraft) auf dem Landgut des Kiliaen van Rensselaer im hohen Norden der Kolonie. Dort beobachtete van der Donck die Gebräuche der Mohawk und der Mohegan und lernte ihre Sprachen. Nachdem Rensselaer ihn gefeuert hatte, machte er sich als Mitarbeiter des Gouverneurs Kieft unverzichtbar und wurde dafür mit 24 000 Hektar Grundbesitz auf dem Festland nördlich von Manhattan belohnt, wo er seine Farm „Colen Donck“ aufbaute. Unter Gouverneur Stuyvesant wurde van der Donck in den konsultativen „Neunerrat“ der Kolonie gewählt, 1648 wurde er „Präsident der Bürgerschaft“ von Neu-Amsterdam. Nachdem er sich eine Zeit lang mit Nachdruck für eine größere Selbstverwaltung der Kolonie eingesetzt hatte, segelte van der Donck schließlich nach Europa, um bei den Generalstaaten persönlich Beschwerde einzulegen. Vier Jahre lang war er fort; um sich während des Ersten Englisch-Niederländischen Krieges (1652–54) die Zeit zu vertreiben, verfasste er seine wunderbare Beschryvinge van NieuwNederlant („Beschreibung von Neu-Niederland“).38 Keine Inhaltsangabe von van der Doncks Beschreibung – einem Meisterwerk der literarischen Landschaftsmalerei  – könnte dem eleganten Stil ihres Verfassers, seinem durchgehend staunenden Ton und überragenden Auge für aufschlussreiche Details gerecht werden. Der Text besteht aus zwei Hauptteilen, deren erster mit „Das Land“ überschrieben ist und 32 kleine Kapitel umfasst; der zweite Teil („Die ursprünglichen Eingeborenen“) enthält noch einmal 26 Kapitel. Darauf folgen ein längerer Aufsatz „Von der wunderlichen Art und dem Wesen der BIBER“ sowie ein „Gespräch zwischen einem niederländischen Patrioten und einem NeuNiederländer“. Wie aus einer prächtig gestochenen Karte hervorgeht, die dem Band beigegeben ist, war Nieuw Nederland auch unter dem lateinischen Namen Nova Belgica bekannt.39 Zahlreiche Passagen der Beschreibung basieren auf van der Doncks ­früherer Schrift Vertoogh van Nieu-Neder-Land („Darstellung von NeuNiederland“), die der Delegation, mit der ihr Verfasser nach Amsterdam reiste, als Argumentationsgrundlage für ihre Beschwerden diente. In beiden 703

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­ exten wird dargelegt, dass die Kolonie ein wunderbares Land voller MögT lichkeiten sei, deren Verwirklichung jedoch die schlechte Verwaltung durch die Niederländische Westindien-Kompanie verhindere. Und aus beiden Texten geht deutlich van der Doncks Faszination für die Eingeborenen hervor, die von den Niederländern schlicht de Wilden genannt wurden: Die Wilden sind in der Regel von anmutigem Körperbau, mit schlanker Taille und breiten Schultern; alle haben sie schwarzes Haar und braune Augen. Sie sind flink und laufen behend, legen weite Strecken zu Fuß zurück und können dabei schwere Lasten tragen. Jegliche Mühsal nehmen sie mit Gleichmut hin, weil sie von Jugend an mit Strapazen und Entbehrung vertraut gemacht werden. Was ihre Farbe betrifft, ähneln sie den Brasilianern und sind so bräunlich anzusehen wie jenes andere Volk, das bisweilen die Niederlande durchstreift und Zigeuner genannt wird. Ihre Männer haben für gewöhnlich keinen Bart, oder nur einen leichten Flaum. … Sie sprechen mit sehr wenigen Worten … Sie sind von Natur aus anständig und ohne Arg … [doch] im Kampf sind sie hinterhältig und erreichen ihre Ziele nicht selten mit Heimtücke … Der Durst nach Rache scheint ihnen angeboren; bei der Selbstverteidigung sind sie überaus ausdauernd … und achten den Tod gering, selbst wenn er unausweichlich ist. Aller Folter, die man ihnen am Pfahl zufügen mag, begegnen sie mit Verachtung und lassen keine Feigheit erkennen, sondern singen meist nur, bis der Tod sie erlöst …40

Die Folter war im 17. Jahrhundert natürlich allgegenwärtig – Europäer und Indianer fügten sie einander genauso selbstverständlich zu, wie sie innerhalb dieser Gruppen zum Einsatz kam. Ironischerweise könnte die Folter auch bei van der Doncks eigenem frühen Tod eine Rolle gespielt haben. Er verschwand 1655 in den Wirren des „Pfirsichkrieges“, gerade einmal 37 Jahre alt. Vermutlich wurde er von den „Wilden“ getötet. * Die Konflikte der europäischen Mächte untereinander stellten für die Kolonie Nieuw Nederland eine noch größere Bedrohung dar, als die Angriffe der Indianer es taten. Im 17. Jahrhundert war es allgemein üblich, im Kriegsfall auch die Kolonien des Gegners anzugreifen, nach Möglichkeit zu erobern und sie so lange auszubeuten, bis schließlich Friedensverhandlungen anstanden. Die Rivalität der Seemächte England und Holland hatte d ­ eshalb 704

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auch für Nieuw Nederland einen bedrohlichen Beiklang. 1652–54, 1664–67 und 1672–74 entbrannten zwischen Engländern und Niederländern drei Seekriege. Im ersten blieb Nieuw Nederland noch unbeschadet, aber am 27. August 1664 liefen vier englische Fregatten unter dem Befehl von Oberst Richard Nicolls in den Hafen von Neu-Amsterdam ein. Nicolls war im Auftrag von James, dem Herzog von York und von Albany, unterwegs, eines Bruders Karl II. von England, der als Lord High Admiral der englischen Marine vorstand und später als Jakob II. selbst den Thron besteigen sollte. Zusammen hatten die Guinea, die Elias, die Martin und die William and Nicholas 92 Kanonen und 450 Soldaten an Bord. In Breucklyn lagerten Freiwillige aus Neuengland. Offiziere des Geschwaders verlangten von den Stadtoberen von Neu-Amsterdam die sofortige Kapitulation „der Stadt auf der Insel, die gemeiniglich Manhatoes genannt wird, mit allen den dazugehörigen Forts und Kastellen“. Gouverneur Stuyvesant hatte nicht die Mittel, sich dieser Forderung zu widersetzen. In die Übergabevereinbarung fügte er jedoch eine Klausel zur Religionsfreiheit ein, die den niederländischen Calvinisten das Schicksal der englischen Nonkonformisten ersparen sollte. Im politischen Klima des Englands der Restaurationszeit, als Cromwells Leichnam exhumiert und zur nachträglichen Strafe  – und öffentlichen Belustigung  – gehängt worden war, pokerte er damit nicht gerade niedrig. Aber Nicolls war ein vernünftiger Mann, der sich um das Wohlwollen der Neu-Amsterdamer Bürgerschaft bemühen wollte. Den niederländischen Einwohnern der Stadt wurde es freigestellt, zu bleiben. Gleiche Rechte für alle Einwohner wurden proklamiert. Nieuw Nederland wurde – zu Ehren von Nicolls’ Dienstherrn  – in New York umbenannt; aus Fort Amsterdam wurde entsprechend Fort James und aus Fort Orange wurde Albany. Und der „Nordfluss“ war fortan nur noch als Hudson River bekannt. Im Frieden von Breda, der 1667 den Zweiten Englisch-Niederländischen Krieg beendete, wurden diese Änderungen nicht angetastet. Dennoch sollte dieser ersten englischen Besetzung von New York keine lange Dauer beschieden sein.41 Eine Veränderung jedoch, die sich als dauerhaft erweisen sollte, kam gänzlich unerwartet. Kurz nach der englischen Eroberung von Nieuw Nederland wurde bekannt, dass der Herzog von York den südlichen Teil des Territoriums einem Gefolgsmann versprochen hatte, dem Vizeadmiral Sir George Carteret (1610–1680). Carteret stammte von der Kanalinsel Jersey und nannte das Geschenk des Herzogs deshalb „New Jersey“, als er es in Besitz nahm. Diese zweite Kolonie, die genau genommen von Carteret und einem zweiten „Lordbesitzer“, Lord Berkeley, übernommen wurde, 705

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war fortan von New York getrennt. Der Magistrat von Manhattan, der das Territorium südlich der Bucht zuvor schon auf den Namen „Albania“ getauft hatte, wurde von dem Vorgang noch nicht einmal in Kenntnis gesetzt. Entsprechend waren die Beziehungen zwischen New York und New Jersey anfangs eher schwierig. Das Lenapehoking war in zwei Stücke zerteilt worden. Und das frühere „Neuschweden“, das nun „West Jersey“ hieß, wurde von Neuengland abgeschnitten. Noch Jahre nach dem Englischen Bürgerkrieg hatten zudem die Gefolgsleute des Herzogs von York, die allesamt Royalisten waren, keinerlei Sympathien für die puritanischen roundheads aus Neuengland: Auch der südliche Teil von Massachusetts sollte fortan von New York aus verwaltet werden. Wie sich herausstellen sollte, blieben den Engländern gerade einmal sechs Jahre, um ihre Position in der neu erworbenen Kolonie zu festigen. Eine Poststraße nach Boston wurde eingerichtet, wodurch New York und Neuengland verbunden wurden. Der Gouverneur ernannte einen Bürgermeister und das Stadtgebiet wurde auf die ganze Insel Manhattan ausgedehnt, wobei aus dem Dorf New Harlem der New Yorker Stadtbezirk Lancaster wurde. Eine neu ausgebaute Durchgangsstraße, der Breede Weg  – heute: „Broadway“  –, verband die beiden Enden der Insel miteinander. Aus entlegenen Weilern auf Long Island und Staten Island wurde ein neuer Bezirk gebildet, der den (wenig überraschenden) Namen „Yorkshire“ erhielt. Die Rache der Niederländer kam im Sommer 1673. Gleich bei Ausbruch des Dritten Englisch-Niederländischen Krieges stellte die Seelander Abteilung der Westindien-Kompanie eine riesige Kriegsflotte aus 21  Schiffen und 1600 Soldaten auf, die unter dem Befehl des Vizeadmirals Cornelis Evertsen in See stach. Nachdem sie englische Besitzungen in der Karibik und in Virgina geplündert hatten, lief Evertsens Flaggschiff, die Swaenenburgh, am 30. Juli in den Hafen von New York ein und richtete ihre Kanonen auf Fort James. Niederländische Saboteure machten die englische Artillerie unschädlich, und wenig später marschierten 600 niederländische Marinesoldaten den Broadway hinauf. Der englische Stadtkommandant wurde aufgefordert, „den Gehorsam dieses Landes gegen die hochmögenden Herren Generalstaaten wiederherzustellen.“ Dieses Mal  – „da der Feind uns nun schon in dem Innersten stecket“ – war es der englische Gouverneur, der sich ergeben musste. Die Kolonie kehrte zum Status quo ante zurück; New York wurde in „New Orange“ umbenannt.42 Doch wieder hielt die Umstellung nicht allzu lange vor. Obwohl sie auf See von Sieg zu Sieg segelten, mussten die Niederländer im Landkrieg 706

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schwere Niederlagen einstecken. Die niederländische Führung sah sich gezwungen, ihre bisherige Bündnispolitik zu überdenken. Den niederländisch-englischen Frieden von Westminster diktierte 1674 – nach „zehn verhängnisvollen Jahren“  – die Notwendigkeit. Die erneute Aufgabe von Nieuw Nederland war ein Teil des Preises, den die Niederlande hierfür zahlen mussten. Die Vereinigten Provinzen waren, nachdem sie 1672 von Ludwig XIV. und den Engländern zugleich angegriffen worden waren, an den Rand des Untergangs geraten. Der Statthalter der Niederlande, Wilhelm III. von Oranien, sah ein, dass er politische Fehler begangen hatte, und bemühte sich um eine Annäherung an England, indem er um die Hand von Mary, einer Tochter des englischen Königs Karl  II., anhielt. Als Karls geheime Verhandlungen mit den (katholischen!) Franzosen bekannt wurden, verlangte das englische Parlament ebenfalls eine außenpolitische Neuausrichtung. Engländer und Niederländer sollten Ludwig XIV. fortan gemeinsam die Stirn bieten. Und so sollte – obwohl das zu diesem Zeitpunkt noch niemand vorhersehen konnte – der Statthalter Wilhelm bald als König Wilhelm auf dem englischen Thron sitzen, mit Königin Maria an seiner Seite. Bei einem prüfenden Blick auf ihr Kolonialreich entschieden die Niederländer nun, dass sie das nordamerikanische „Abenteuer“ zum Nachteil ihrer eigentlichen Hauptinteressen unternommen hatten: NiederländischOstindien war viel wichtiger als Nieuw Nederland. Die Royal Navy baute immer größere und kampfstärkere Schiffe; ihre Vormacht auf dem Atlantik konnte schon nicht mehr infrage gestellt werden. Auch vermehrten sich die amerikanischen Kolonien der Engländer rapide: Carolina, Virginia, Maryland, Rhode Island, New Jersey, New York, Connecticut, Massachusetts und Maine – eine einzige, isolierte Kolonie der Niederländer konnte sich in dieser Umgebung nicht behaupten. Im Grunde lief alles auf einen Tausch hinaus: „New Orange“ gegen Sulawesi. Die Engländer konnten Nieuw Nederland behalten, solange sie dafür die Gebietsansprüche der Niederländer in anderen Weltgegenden anerkannten. Manhattan konnte etwa gegen die Insel Run getauscht werden.* Den Verantwortlichen im Haag erschien das damals als ein fairer Handel. Die Niederländer von New York jedoch fühlten sich verraten und verkauft.43 Dieser Handel sollte den zurückkehrenden Engländern allerdings noch einige Kopfschmerzen bereiten. Während der kurzen Lebensdauer von * Run (auch: Rhun) oder Pulau Run ist die kleinste, aber durchaus nicht unwichtigste der Banda-Inseln im heutigen Indonesien. Sie war damals die hauptsächliche Quelle von Muskatnuss und Muskatblüte und sollte bis 1945 in niederländischer Hand bleiben.

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„New Orange“ waren gleich mehrere Grenzstreitigkeiten entbrannt; die „Biberkriege“ tobten mit unverminderter Heftigkeit und ohne Aussicht auf ein Ende; und die Franzosen erhoben Anspruch auf Neuschottland (Nova Scotia) im Norden. Unmittelbar nach der Übergabe von New Orange an die Engländer brach in Massachusetts zudem einer der blutigsten aller Indianerkriege aus, bei dem sich englische Kolonisten und die Krieger des Groß-Sachems der Wampanoag, Metacomet, gegenüberstanden. Nachdem 1675 sechs Indianer von Metacomets Stamm wegen des Mordes an einem christlichen Konvertiten zum Tode verurteilt und hingerichtet worden waren, brach ein allgemeiner Aufstand der Ureinwohner los. Metacomet, den die Engländer King Philip nannten, wurde regelrecht gejagt und schließlich getötet, doch dauerte es noch eine ganze Weile, bis der Frieden wiederhergestellt war. Vor diesem Hintergrund also entstand die weitsichtige Perspektive, mit der Sir Edmund Andros, von 1674 bis 1681 Gouverneur des restituierten New York und später von Virginia, Maryland und dem vereinigten Dominion of New England, auf die Indianer blickte. Andros sollte sich unter den Kolonisten einen eher zweifelhaften Ruf erwerben; sie sahen ihn als selbstherrlich und eigenmächtig. Aber mit seiner Indianerpolitik erwies Andros sich als der Architekt eines – zumindest relativ – friedlichen und stabilen Miteinanders, das über viele Jahrzehnte hinweg Bestand haben sollte und dessen vertragliche Grundlage als die „Bundeskette“ (Covenant Chain) zwischen den englischen Siedlern und der Irokesenföderation bekannt wurde. Nachdem er 1676 in seiner Verwaltung eine „Abteilung für Indi­ anerangelegenheiten“ eingerichtet hatte, unterzeichnete Andros ein Abkommen mit den Mohawk, durch das der große Krieg im Nordosten  – King Philip’s War – beendet wurde. Fortan sollte in regelmäßigen Abständen ein gemeinsamer Rat aus Indianerhäuptlingen und Vertretern der Kolonie zusammentreten, der in Albany, an der Mündung des Mohawk River in den Hudson, tagen würde. 1677 wurden durch einen zweiten Vertrag die gesamte Irokesenföderation sowie die Lenape in das Bündnis­ system aufgenommen.44 Ein weiteres Glied der „Bundeskette“ schmiedete William Penn durch die Gründung seiner Quäkerkolonie im Tal des Delaware River, in jener Gegend des Lenapehoking, die früher schon einmal als „Neuschweden“ urbar gemacht worden war. Penn hatte an die Häuptlinge der ortsansässigen Indianerstämme geschrieben, bevor er mit seinen Kolonisten eintraf – ein nie dagewesener Vorgang! Im November 1682 traf er sich in dem ­Lenapedorf Shackamaxon mit dem Häuptling Tamanend, dem Oberhaupt 708

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des „Schildkröten-Volkes“. Penn wollte damit nicht nur sein Wohlwollen den Indianern gegenüber demonstrieren, sondern auch einen – wie er es sah – Kauf von Land besiegeln: „Als der Kauf vereinbart war“, schrieb er später über dieses Treffen, „tauschten wir großartige Versprechen von künftiger Gewogenheit und guter Nachbarschaft aus und gelobten, dass Indianer und Engländer in Liebe und Eintracht leben würden, solange die Sonne währet.“ Dieses Treffen, von dem kein detailliertes Protokoll überliefert ist, wurde schnell legendär. Voltaire pries das von Penn geschlossene Abkommen als den „einzigen Vertrag, der nie beschworen und nie gebrochen wurde“. Und lange nach seinem Tod wurde „King Tammany“ eine Ikone des frühen amerikanischen Patriotismus.45 Wer des Niederländischen – des Frühneuniederländischen – mächtig ist, dem stehen zahlreiche Dokumente zur Geschichte von Nieuw Nederland zur Verfügung. Sowohl in Amsterdam als auch in New York bewahren Archive eine Fülle von Material. In den 1960er-Jahren wurde in der New Yorker Stadtbibliothek, der New York Public Library, eine zuvor verborgene Sammlung von 12 000 weiteren Originaldokumenten entdeckt, deren Erschließung noch immer andauert.46 Aber das Bild- und Kartenmaterial aus der damaligen Zeit ist ähnlich eindrucksvoll. Anhand topografischer Karten und der damals überaus beliebten Kupferstiche kann man das Wachsen und Gedeihen der Kolonie genau nachverfolgen. Das älteste Stück von Interesse ist hierbei Adriaen Blocks Karte von 1614, welche die Atlantikküste von „Virginia“ bis hinauf nach „Novae Franciae Pars“ abbildet (gemeint ist Neuschottland bzw. Nova Scotia im heutigen Kanada). Der mittlere Bereich der Karte bis fast zum heutigen Cape Cod ist  – an der Küste wie auch im Landesinneren  – in einem blaugrünlichen Ton gehalten, der wohl einen gewissen Besitzanspruch anzeigen soll; von dort bis zur späteren kanadischen Grenze zieht sich ein großer Schriftzug quer über die Karte: NIEUW NEDERLANDT.47 Auch die Arbeiten von Johannes Vingboons, dem Kartografen der Kolonie, sind genauso informativ wie ästhetisch reizvoll. Seine Karte von Manhattan mit dem Titel MANATUS (1639) wurde 1892 in einer Privatsammlung entdeckt; neben dem Grundriss von Neu-Amsterdam enthält sie auch einen Textkasten mit einer durchnummerierten Liste der wichtigsten bouwerijen („Bauereien“, also Farmen) und Plantagen mit den Namen ihrer jeweiligen Besitzer. Für die Forschung hatte diese Liste unschätzbaren Wert, denn nun konnten erstmals sowohl die Identitäten und die Herkunft der frühen Siedler als auch ihr Grundbesitz in der Kolonie umfassend und 709

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präzise rekonstruiert werden. Vingboons’ Aquarell Gezicht op Nieuw Amsterdam („Blick auf Neu-Amsterdam“) von 1664 entstand in den allerletzten Wochen vor der erstmaligen Eroberung durch die Engländer.48 Der sogenannte „Castello-Plan“ der Stadt (1660) wurde von dem NeuAmsterdamer Landvermesser Jacques Cortelyou gegen Ende der niederländischen Ära angefertigt. Seine Ähnlichkeit mit einem heutigen Satellitenfoto ist verblüffend: Einzelne Häuser, Bäume und Gärten sind zu erkennen, und der Plan ist in zwei Fassungen bekannt, die eine in einfarbiger Sepiatinte gezeichnet, die andere koloriert. Das dargestellte Areal an der Südspitze Manhattans erstreckt sich von den Piers am äußersten Ende der Halbinsel bis zu dem offenen Gelände unmittelbar jenseits der Stadtmauer, deren Verlauf der heutigen Wall Street ihren Namen gegeben hat. Deutlich sind der äußere und der innere Hafen zu erkennen. Das stern­ förmige Fort Amsterdam mit seinen vier massiven Eckbastionen nimmt einen gehörigen Teil am Westrand des heutigen Lower Manhattan ein und thront dabei über seinen Kanonenstellungen und seinem „Vorfeld“ in der Gegend des heutigen Battery Park. Der „Breite Weg“ beginnt unmittelbar nördlich des Forts als eine weite, offene Fläche rund um den Bowlingrasen und verjüngt sich dann immer weiter, bis er nur noch drei oder vier Mal so breit ist wie eine normale Straße. Etwa 200 Meter weiter östlich erstreckt sich noch ein weiterer Boulevard nach niederländischem Vorbild; zu beiden Seiten eines Kanals verlaufen breite, gepflasterte Fahrbahnen für Karren und Kutschen. Die große Stadtmauer an der Landseite verfügt ebenfalls über Bastionen, sieben an der Zahl, die in regelmäßigen Abständen zwischen dem westlichen und dem östlichen Ufer der Insel verteilt sind. Am östlichen Ende macht die Mauer einen Knick und zieht sich dann noch bis zur Battery nach Süden hin. Hinter fast allen Häusern befinden sich großzügige Gärten, und auf zahlreichen noch unbebauten Parzellen sind Obst- und Gemüsegärten zu erkennen. Nördlich der Stadtmauer sind am Broadway sowie am östlichen Ufer ein paar Gebäude eingezeichnet, wo sich einst die bouwerij der Familie Stuyvesant befand. Überwiegend geht die Stadtlandschaft jenseits der Mauer jedoch unmittelbar in die sprichwörtliche „grüne Wiese“ über. Dieser Stadtplan wurde in den Niederlanden gestochen und gedruckt. Ein Exemplar, das als Beibindung in einem Folianten nach Italien verkauft worden war, kam Anfang des 20. Jahrhunderts in der Bibliothek der Villa Castello in Florenz wieder zum Vorschein. In vielen Details stimmt der Castello-Plan mit dem grundsätzlich sehr viel einfacheren, englischen „Duke’s Plan“ von 1664 überein, dessen eigentlicher Titel a description of 710

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the towne of mannados or new amsterdam lautet und angibt, den IstZustand der Stadtentwicklung von 1661 wiederzugeben.49 Die sogenannte „Restitutio-Karte“ wiederum scheint  – wie der Name bereits vermuten lässt – aus den Jahren 1673–1678 zu stammen, als die Ko­lonie kurzzeitig wieder an die Niederländer „restituiert“ worden war. Ihr Schöpfer war Hugo Allard und ihr vollständiger Titel lautet totius ­neobelgii nova et accuratissima tabula („Neue und überaus genaue Karte von ganz Neu-Niederland“). Sie bildet den Bereich von der Atlantikküste bis nach „Quebeqc“ und von der Chesapeake Bay bis in das nördliche Neuengland ab. Manche der Ortsnamen sind in niederländischer Sprache angegeben – wie etwa ’t Lange Eylandt –, andere – wie Nieu Jarsey – in einer Art von halbenglischem Kauderwelsch. Die detaillierte Beschriftung im Tal des Hudson River ist so eng und kleinteilig, dass sie sich noch nicht einmal mit einem Vergrößerungsglas richtig lesen lässt – aber „Fort Orange“ sticht doch heraus, genauso wie viele der indianischen Stammesnamen. Seinen ursprünglichen Kupferstich hatte Allard wohl schon 1656 angefertigt; und die Stadtansicht von „Nieuw Amsterdam“ in der rechten unteren Ecke des Blattes zeigt ein sogar noch etwas älteres Erscheinungsbild. Siebzehn Jahre später wurde die Karte jedoch noch einmal neu aufgelegt und erhielt dabei ein völlig neues, von dem renommierten Kupferstecher Romeyn de Hooghe angefertigtes Einsatzbild. De Hooghe malte sich die Szenerie am 24. August 1673 aus: Niederländische Kriegsschiffe liegen im Hafen vor Anker. Eine Kanone feuert von der Batterie des Forts einen Salut. Am Ufer marschiert ein großer Trupp von Bewaffneten entlang. Und an einem hohen Mast weht die orange Fahne der Niederlande. Die Beschriftung der Karte lautet: Nieuw-Amsterdam onlangs Nieuw jorck genamt, en nu hernomen bij de Nederlanders op den 24. Aug. 1673 („NeuAmsterdam, unlängst New York genannt und nun wieder von den Niederländern eingenommen am 24.  August 1673“). Neuauflagen dieser triumphalen Darstellung erschienen in den Niederlanden noch das ganze 18. Jahrhundert hindurch.50 Diese alten Karten von „Neu-Niederland“ besitzen einen ganz eigenen historischen Reiz. Wenn man sich, zum Beispiel, die Karte Nova Anglia, Novum Belgium et Virginia (1630) von Gerritsz und De Leat anschaut, auf der die Namen Nieuw Nederland und Nieuw Amsterdam zum ersten Mal im Druck erschienen, dann spürt man förmlich etwas von dem Staunen, mit dem die Menschen damals versucht haben müssen, sich diesen völlig neuen Kontinent vorzustellen. Betrachtet man die wunderbare Seekarte von Pieter Goos (Nieu Nederlandt en de Engelsche Virginies, 1666), wird 711

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einem klar, über welche großen Fertigkeiten und welchen Wagemut die damaligen Kapitäne und ihre Mannschaften verfügt haben müssen. Und bewundert man Peter Schenks Kupferstich von Nieu Amsterdam (1702), eine liebevolle Kopie der Stadtansicht von Romeyn de Hooghe und anderer früherer Darstellungen, dann meint man die Nostalgie greifen zu können, mit der die Niederländer auch nach Jahrzehnten noch ihrer verlorenen Kolonie nachtrauerten.51 Die Bevölkerung von Nieuw Nederland hatte sich aus drei großen Gruppen zusammengesetzt: erstens den indianischen Ureinwohnern, in der Hauptsache Lenape, zweitens den niederländischen Siedlern und drittens den afrikanischen Sklaven, deren Anzahl weitaus größer gewesen sein dürfte, als die spärlichen Quellenbefunde vermuten lassen. Alle drei Gruppen verblieben auch nach der Machtübernahme der Engländer an Ort und Stelle, bevor sie dann nach und nach von den Neuankömmlingen verdrängt wurden. Im 18. Jahrhundert kam es zum endgültigen Niedergang der Lenape in ihren ursprünglichen Siedlungsgebieten. Im Jahr 1737 verübten die Erben und Nachfolger von William Penn den sogenannten Walking Purchase (etwa „Laufkauf“), bei dem es sich nach einer verbreiteten Meinung eher um eine schamlose, betrügerische Landnahme gehandelt hat: Pennsylvania erhielt so mehr als 4000 Quadratkilometer zusätzliches Territorium, von dem die dort ansässigen Lenape umgehend vertrieben wurden. Der in Schweden geborene Maler Gustavus Hesselius fertigte damals ein Porträt des Lenape-Häuptlings Lapowinsa an, der die Vereinbarung mit den ­Kolonisten traf.52 Zwanzig Jahre später, zur Zeit des Siebenjährigen Krieges, der auch in Nordamerika ausgetragen wurde, waren die Lenape einer von mehreren Indianerstämmen, die 1757 mit Zuckerbrot und Peitsche zur Annahme des Vertrags von Easton gedrängt wurden. Dieser Vertrag sah vor, dass sie entweder in Reservate umgesiedelt wurden (etwa in das von Brotherton in New Jersey) oder über die Grenze der europäischen Besiedlung hinaus in das Ohio-Territorium umziehen mussten. Für die Lenape begann damit eine schmerzliche Odyssee, die ihre in alle Winde zerstreuten Nachfahren nach Oklahoma, Kansas, Wisconsin, Ontario, ja sogar bis nach Texas führte. Einige dieser Gruppen wurden von Missionaren der Herrnhuter Brüdergemeine geleitet (ursprünglich die „Böhmischen“ oder „Mährischen Brüder“), die früher schon mit der Christianisierung der Lenape begonnen hatten und auf deren Missionsaktivitäten jene indianischen Gruppen zurückgingen, die als „Christliche Munsee“ oder – 712

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mit Verweis auf die Wurzeln der Brüdergemeine – als „Mährische Indianer“ bezeichnet wurden.53 Die niederländischen Siedler, die im vormaligen Nieuw Nederland verblieben, dienten den späteren Immigrantenmassen als wichtige Vorläufer. Da sie auf vielen Gebieten die ursprünglichen „Trendsetter“ und Wegbereiter waren, hatten sie keinen kleinen Einfluss auf die weitere Entwicklung der Kolonie. Im Jahrhundert, das auf den 1674 geschlossenen Frieden von Westminster folgte, assimilierten sie sich Schritt für Schritt in die englische Kolonialgesellschaft. Während der ersten Stufe dieses Prozesses, also im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts, als die Niederländer noch immer die Mehrheit der Bevölkerung ausmachten, waren sie federführend in den Verhandlungen, bei denen die neue Form der städtischen Selbstverwaltung festgelegt wurde, gipfelnd in der Einrichtung einer Allgemeinen Ratsversammlung (der New York General Assembly) und dem Erlass der Stadtrechte und -privilegien von 1686. Die niederländischen Kolonisten sympathisierten im Allgemeinen auch mit der Rebellion, die ein deutscher Kaufmann namens Jakob Leisler begonnen hatte, weil er seine Steuern nicht an „einen Papisten“ zahlen wollte – gemeint war Jakob II., der 1685 den englischen Thron bestiegen hatte –, und in deren Verlauf Leisler schließlich 1689/90 mithilfe der städtischen Milizen ganz New York unter seine Kontrolle brachte. Leislers Anhänger waren von dem Gefühl angetrieben, der König hätte gewisse Vereinbarungen nicht eingehalten. Durch die Thronbesteigung von William and Mary, Wilhelm III. und seiner Frau Maria II., wurde die Ordnung schließlich wiederhergestellt – nun saßen ein Niederländer und eine Engländerin gemeinsam auf dem Thron. Unter den Kaufleuten von New York hatten die Niederländer noch lange großes Gewicht. Auch in den Auseinandersetzungen der New Yorker Bürgerschaft mit einer ganzen Reihe von englischen und britischen Gouverneuren – um größere Pressefreiheit und eine unabhängige Justiz – war der niederländische Einfluss nicht zu übersehen. In den Jahren 1733–1735 beispielsweise wurde während eines Konflikts zwischen dem Gouverneur William Cosby und Rip van Dam, dem führenden Mitglied seines Beraterstabes, der deutschstämmige Zeitungsverleger John (Johann) Zenger inhaftiert, weil er sich weigerte, seine kritische Berichterstattung auf Befehl des Gouverneurs abzumildern, und der vorsitzende Richter wurde entlassen, weil er sich geweigert hatte, Zenger zu verurteilen. Der spätere Freispruch Zengers durch ein Geschworenengericht gilt als Meilenstein in der Geschichte der amerikanischen Rechtsstaatlichkeit.54

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Mehrere prominente New Yorker Familien niederländischer Herkunft konnten sich ihren hohen Status bis in die Ära der amerikanischen Unabhängigkeit und darüber hinaus erhalten: Die Schuylers, die Van Burens und Van Cortlandts behielten ihren Besitz und ihre ursprüngliche, niederländisch geprägte Identität noch über viele Generationen hinweg. Andere, wie etwa die Roosevelts, Rutgers oder Rockefellers, hielten ihre (niederländische) Herkunft in Ehren und unterstützten auch die niederländischreformierte Kirche. In den 1880er-Jahren galt William H. Vanderbilt (1821– 1885) als der reichste Mann Amerikas, und der alljährliche „große Galaball“ von Mrs. Vanderbilt war zugleich die Gelegenheit, bei der die „Oberen 400“ der New Yorker Gesellschaftselite ermittelt wurden. Viele niederländische Ortsnamen blieben erhalten, wenn auch in anglisierter Form: Aus Breucklyn wurde Brooklyn, aus Haarlem Harlem, aus Vlissingen Flushing und aus Konynen Eylant („Kanincheninsel“) wurde Coney Island. Block Island wurde nach Adriaen Block benannt, die Bronx nach Jonas Bronck und Staten Island nach den hochmögenden Herren Generalstaaten. Aus Noten Eylant, dem ursprünglichen Landeplatz der ersten niederländischen Kolonisten, wurde zuerst Nutten Island, dann Governors Island. Auch die Gemeinschaft der aus Afrika eingeführten Sklaven verschwand nicht etwa oder emigrierte, als die Engländer das Ruder übernahmen. Aber integrieren konnte sie sich  – von einigen Ausnahmen abgesehen  – auch nicht gerade. Die Sklaven blieben ganz einfach, wo sie waren, und führten ein größtenteils unbeachtetes Leben fernab der feinen Gesellschaft der Kolonie. Allerdings bekamen sie die Strenge der englischen Gesetzgebung mit wachsender Härte zu spüren: Karl  II. hatte bestimmt, dass Christen keine Sklaven sein konnten – und also wurden die Schwarzen aus den Kirchengemeinden ausgeschlossen; ab 1687 durften sie auch nicht mehr auf den allgemeinen Friedhöfen bestattet werden, weshalb ein gesonderter „Negerfriedhof“ eingerichtet wurde. Eine Vielzahl von Verboten trat in Kraft: Schwarze durften nicht mehr bei Gastlichkeiten in Wirts- oder Privathäusern dabei sein; man durfte ihnen keinen Alkohol ausschenken; man durfte ihnen keine Waren abkaufen; ihre Versammlungsfreiheit wurde aufgehoben; sie durften nicht mehr als Zeugen vor Gericht aussagen oder nachts ohne Laterne durch die Straßen laufen. Die Stadtverwaltung beschäftigte einen „Oberpeitscher“, der etwaige Verstöße sogleich ahndete; entlaufene Sklaven, die wieder eingefangen wurden, mussten mit der Todesstrafe rechnen. Im Jahr 1703 besaßen 42  Prozent aller New Yorker Haushalte Sklaven. 714

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Im Verlauf des 18.  Jahrhunderts wurde das traurige Los der Sklaven kaum weniger traurig. Zwei Mal, 1712 und dann wieder 1742, brach Panik in der Stadt aus, nachdem Gerüchte über einen Sklavenaufstand die Runde gemacht hatten; in beiden Fällen folgten zahlreiche Hinrichtungen am Galgen und auf dem Scheiterhaufen.55 Der Sklavenhandel florierte. Ab dem Jahr 1711 gab es an der Wall Street einen ständigen Sklavenmarkt, und vom New Yorker Hafen aus operierte eine Flotte von schnellen Sklavenschiffen, die binnen vierzig Tagen nach Afrika und wieder zurück segeln konnten. Bis 1769 waren beinahe 5000 Sklaven eingeführt worden; die Gewinnspannen der Händler waren enorm, und auch die New Yorker Stadtkasse profitierte von den anfallenden Steuern. 1771 lebten bereits 20 000  Sklaven in New York und machten es damit (bei einer Gesamtbevölkerung von 168 000) zur nordamerikanischen Sklavenhaltermetropole Nummer 2 nach Charleston in South Carolina. Zugleich wuchs aber auch der Widerstand gegen die Sklavenhaltung. Während des Unabhängigkeitskrieges, als die Briten New York besetzt hielten, versprach man allen Sklaven die Freiheit, die sich der britischen Armee anschlossen. Ab 1785, als New York für fünf Jahre zur Hauptstadt der jungen Vereinigten Staaten wurde, war in der Stadt am Hudson die New-York Manumission Society („Freilassungsgesellschaft“) aktiv – ein Drittel der New Yorker Sklaven wurden befreit. Die völlige Abschaffung der Sklaverei im Staat New York erfolgte jedoch erst 1827. Wer glaubt, die Sklaverei in den Vereinigten Staaten wäre ein ausschließliches Problem des tiefen Südens gewesen, der irrt. Aus den zeitgenössischen Dokumenten geht jedoch nur selten die ganze Wahrheit hervor. Als im Juli 1776 die amerikanische Unabhängigkeit proklamiert wurde, strömten die Massen zum Bowlingrasen von Lower Manhattan, um sich dort ein patriotisches Spektakel anzusehen. Der Höhepunkt der Zeremonie war erreicht, als ein Reiterstandbild von König Georg III., das in den 1760er-Jahren dort aufgestellt worden war, von seinem Sockel gerissen wurde. Ein zeitgenössischer Kupferstich hält diesen Denkmalsturz fest: Um den Kopf des Monarchen und den Hals seines Pferdes sind mehrere starke Seile geschlungen, an denen ein Trupp von afrikanischen Sklaven mit freien Oberkörpern zieht. Die Männer müssen sich ordentlich ins Zeug legen und dabei einen bestimmten Rhythmus einhalten – „Zu-gleich … zu-gleich … !“ –, bis Ross und Reiter schließlich laut krachend zu Boden stürzen. Auf einem Ölbild, mit dem gut achtzig Jahre später der deutsch-amerikanische Geistliche und Kunstmaler Johannes Adam Simon Oertel (1823–1909) dieselbe Szene festhalten wollte, stellen sich einige Details jedoch ganz anders dar. Das Gemälde, um das es geht, 715

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hängt heute im Museum der New York Historical Society, und man sieht auf den ersten Blick, dass hier geschwindelt werden soll:56 Oertel zeigt die Reiterstatue und eine Menge von bleichgesichtigen Schaulustigen, von denen einige mit Seilen an der Statue ziehen, dazu eine indianische Familie mit Federschmuck, die prominent im linken Bildvordergrund platziert ist. Von der afroamerikanischen Sklavenkolonne, die diese schwere Arbeit tatsächlich verrichten musste, keine Spur! Aber das war eben das Selbstbild, das die nun endlich unabhängigen Bürger von New York auch nach außen hin verkörpern wollten. * Zu Beginn des 19.  Jahrhunderts nahm das Interesse an den historischen Wurzeln der Stadt New York langsam Fahrt auf und hat seitdem nicht mehr nachgelassen. Die erste wissenschaftliche Studie zur Stadtgeschichte wurde 1829 veröffentlicht.57 Jedoch war ihr zwanzig Jahre zuvor ein außergewöhnliches Werk vorangegangen, dessen langfristiger Einfluss gar nicht überschätzt werden kann. Die Rede ist von Washington Irvings A  History of New York (1809), das überhaupt nicht den Anspruch auf historische Genauigkeit oder wissenschaftliche Gründlichkeit erhob.58 Stattdessen handelt es sich um eine brillante Satire, die angeblich von einem (erfundenen) niederländischen Gelehrten namens Dr. Diedrich Knickerbocker verfasst worden war. Dank seiner ungeheuren Popularität konnte Irvings Buch aber auch dazu beitragen, eine Reihe von grundlegenden Fakten über die Geschichte von New York im öffentlichen Bewusstsein zu halten oder überhaupt erst bekannt zu machen. Gleich im ersten Buch seiner Studie beispielsweise behandelt „Dr. Knickerbocker“ das vermeintliche Recht der Europäer, sich mir nichts, dir nichts, anderer Leute Land unter den Nagel zu reißen: „Die erste Quelle des Rechts, wodurch Eigentum an einem Land erworben wird, ist die ENTDECKUNG … Daraus folgt klar, daß die Europäer, welche Amerika zuerst besuchten, die wahren Entdecker waren. Um diese Tatsache festzustellen, bedarf es nur des einfachen Beweises, daß das Land von Menschen völlig unbewohnt war …“ Dieser Beweis wird denn auch prompt geführt – und zwar mit einer grimmigen Unerbittlichkeit, die wohl schon Irvings zeitgenössischen Lesern zu denken gegeben haben dürfte: [Die Beweisführung] mag anfangs etwas schwierig erscheinen, denn es ist allseits bekannt, daß dieser Teil der Welt von gewissen zweibeinigen, aufrecht einhergehenden Tieren wimmelte, die menschenähnliche Züge 716

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hatten, unverständlich, sehr an Sprache erinnernde Laute ausstießen, kurz: eine erstaunliche Ähnlichkeit mit Menschen hatten. Aber die eifrigen, erleuchteten Priester, welche die Entdecker begleiteten, um das Reich Gottes zu befördern, … klärten diesen Punkt … bald auf. Sie bewiesen, daß diese zweibeinigen Tiere bloße Menschenfresser, abscheuliche Ungeheuer, ja Riesen seien; daß sie unempfänglich für alle Ein­ drücke der Kultur seien … und endlich, so sagte man, hausten sie wie die wilden Tiere in den Wäldern und müßten wie jene unterjocht und ausgerottet werden.59

Das nächste bedeutende Geschichtswerk erschien 1853 anonym; als Verfasser war schlicht „ein New Yorker“ angegeben. Glaubt man dem bescheidenen Titel, so handelt es sich um eine „historische Skizze“, doch in Wirklichkeit hatte der Text, der immerhin die zweihundert Jahre zwischen der Ankunft Henry Hudsons und der Einführung der Gasbeleuchtung in New York abdeckte, durchaus Substanz. Die Darstellung des Herrschaftswechsels von den Niederländern zu den Briten ist einigermaßen unkritisch; von der „gerechten und großzügigen Herrschaft“ der Letzteren ist die Rede. Aber trotz einer gewissen Vorliebe für Schwulst und Pathos enthält der Text auch einige wirklich bemerkenswerte Passagen. So beginnt die „Skizze“ gleich auf ihrer ersten Seite nicht etwa mit einer „Entdeckung“, sondern unter der Überschrift „Ein seltsamer Anblick!“: Am dritten Tage des September im Jahr 1609 wurden die wandernden Wilden, die an jenem … Ort, wo die Wasser der Lower Bay sich mit dem Ozean vereinen, gerade zufällig umherschweiften, Zeugen eines seltsamen und unerklärlichen Ereignisses. Ein Wesen von einer Größe und Gestalt, die ihre Vorstellungskraft vollkommen übersteigen mochten, erschien auf dem Wasser und bewegte sich, so wie aus eigenem Antrieb, auf sie zu. Ganz schien es, als wäre das Ungetüm aus den Wolken herabgestiegen oder aus der düsteren und unergründlichen Tiefe des Meeres zu ihnen heraufgekommen. Indem es durch den Eingang schlüpfte, der die ungezügelten Wogen des wilden Ozeans mit dem träge dahinplätschernden Gekräusel der inneren Bucht verbindet, näherte sich der wundersame Fremdling noch ein beträchtliches Stück, hielt dann plötzlich an und rührte sich nicht vom Fleck.60

Mit der Perspektive der Indianer werden 1853 wohl nur die wenigsten gerechnet haben, die dieses Buch in die Hand nahmen. 717

12. Mannahatta

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts gab es Bemühungen, die New Yorker Geschichtsschreibung auf etwas professionellere Füße zu stellen. Der Magistrat engagierte einen Historiker, der den Auftrag erhielt, in den Archiven von Großbritannien, Frankreich und den Niederlanden Abschriften der relevanten Dokumente anzufertigen.61 Das Ergebnis seiner Mühen waren die erste quellenbasierte Stadtgeschichte von New York62 sowie der Beginn von zwei monumentalen Quelleneditionen.63 Im Jahr 1895 ernannte der Staat New York den ersten in einer langen Reihe von offiziellen Historikern. Bei verschiedenen Anlässen äußerten führende Vertreter der niederländischen Gemeinde von New York ihren Unmut über die Verunglimpfung (wie sie es empfanden) der Kolonie Nieuw Nederland durch die Historiker. Derselbe Unmut wird wohl auch eine Rolle gespielt haben, als der vielleicht prominenteste Mann aus ihren Kreisen sich entschloss, eine solche geschichtliche Darstellung doch selbst einmal in Angriff zu nehmen. Dieser junge Historiker – noch keine vierzig Jahre alt – war ein echter Kerl, ein Mann von ungewöhnlicher Energie, war Großwildjäger und besaß eine Farm im Dakota-Territorium  – und er war ein aufstrebender Politiker.64 Schon bald würde er als Gouverneur des Staates New York amtieren, von wo aus sein Bonmot „Speak softly and carry a big stick; you will go far!“ („Sprich sanft und trage einen großen Knüppel bei dir, dann wirst du es weit bringen“) um die Welt gehen würde. Seine Sicht der New Yorker Geschichte kam fast gänzlich ohne die indianische Perspektive aus: Anfang September 1609 erreichte das Segelschiff Half-Moon, das zuvor auf einer rastlosen, aber vergeblichen Erkundungsfahrt die amerikanische Küste abgesucht hatte, um einen … Seeweg nach Indien zu finden, die Mündung eines großen, einsamen Flusses, der still und lautlos aus dem Herzen jenes unbekannten Kontinents hervorströmte …65

Auch wirkt es, als wollte der Verfasser die Rolle der Engländer in dieser ganzen Geschichte möglichst herunterspielen. „Die Masse der Bevölkerung“, liest man da, „ist niemals englisch gewesen.“ Aber dem Prozess, durch den aus Neu-Amsterdamern schließlich New Yorker wurden, stellt unser Autor ein rundum positives Zeugnis aus: Die verhältnismäßige Schnelligkeit, mit der die [Niederländer und Engländer] von New York miteinander verschmolzen …, steht im deutlichen Gegensatz zu dem schwerfälligen Prozess der Durchmischung an all 718

Delawares, Holländer und viele Sklaven

jenen Orten, wo die Engländer oder ihre Erben in Populationen katholischer Franzosen oder Spanier hineingekommen sind.66

Als das Buch 1906 neu aufgelegt wurde, stand sein Verfasser – Theodore Roosevelt war sein Name  – bereits im fünften Jahr seiner Amtszeit als 26. Präsident der Vereinigten Staaten. Die Fürsprecher der amerikanischen Ureinwohner haben oft beklagt, dass diese ursprünglichen und ersten Bewohner immer wieder übersehen und ignoriert wurden, wenn die Geschichte ihres Kontinents geschrieben wurde. Einer von ihnen beschreibt die kulturelle Amnesie der Stadt New York ausgesprochen eloquent: [New York] ist eine Stadt der Entwurzelten in einer wurzellosen Welt … [Es] kennt seine Geschichte nicht. Wie ein Schiff ohne Ruder dampft es blindlings seiner Zukunft entgegen. Es ist eine Stadt der Amnesie, und ganz wie ein Mensch, der an Amnesie leidet, weiß sie überhaupt nicht, was ihr fehlt. Nirgends ist die Verdrängung eines großen Volkes durch ein anderes großes Volk derart vollkommen … Nirgends gibt es einen dramatischeren Kontrast zwischen der verlorenen Kultur und jener, die sie ersetzt hat. Im Laufe der vergangenen fünfhundert Jahre ist die große Metropole der zutiefst naturverbundenen Lenape … vollkommen ausgelöscht worden; an ihre Stelle trat eine Kultur, die ihre Augen vor der Natur verschließt. Die tiefe historische und geografische Überlieferung, die ganze [Weisheit] jener älteren Kultur wurden beiseite geschleudert in einem fieberhaften Drängen auf die Zukunft. Ihre einfachen Pfade wurden tief unter dem Staub des Fortschritts begraben, ihre bräunlichen Gebeine zerstoßen und über Meilen und Abermeilen mit Asphalt und Beton überkrustet …67

Ein solcher Pessimismus ist jedoch eher fehl am Platz. Einer der meistgeliebten historischen Romane der amerikanischen Literatur, James Fenimore Coopers Der letzte Mohikaner (1826), hat das kulturelle Erbe der Indianer des Nordostens in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt. Der Roman, der im Jahr 1757 spielt, erzählt die (fiktiven) Abenteuer eine Gruppe von Pionieren inmitten der Indianerkriege und rekonstruiert zugleich auf äußerst geschickte Weise die verschiedenen Mentalitäten von Europäern und Indianern. Der Held des Buches, ein „Wildtöter“ (Trapper) namens Natty Bumppo, genannt „Falkenauge“ (Hawk-eye), ist ein Weißer, der von Indianern großgezogen wurde; sein Gefährte Chingachgook ist ein Lenape-­ 719

12. Mannahatta

Krieger (im Roman ist allerdings von „Delawaren“ und „Mohikanern“ die Rede). Eines Tages unterhalten sich die beiden über die Ursprünge ihrer jeweiligen Völker: ‚Sogar eure Überlieferungen legen doch für mich Zeugnis ab, Chingachgook‘, sagte [Falkenauge] … ‚Deine Väter kamen von der untergehenden Sonne, überquerten den großen Fluss, kämpften gegen das Volk, das dort lebte, und nahmen sich das Land; und die meinen kamen vom roten Morgenhimmel, über den Salzsee, und gingen ganz nach dem Beispiel zu Werke, das ihnen die deinen gegeben hatten; lass Gott also die Sache entscheiden und Freunde darüber weiter kein Wort verlieren.‘ ‚Meine Väter kämpften mit dem nackten Roten Mann!‘, entgegnete der Indianer finster … ‚Besteht, Falkenauge, zwischen der steinernen Pfeilspitze des Kriegers und der bleiernen Kugel, mit der ihr tötet, kein Unterschied?‘68

Auf der letzten Seite des Romans zieht der Häuptling Tamenund [sic] das folgende, herzzerreißende Resümee: ‚Es ist genug! … Geht, Kinder der Lenape; der Zorn des Manitu ist noch nicht vorbei. … Die Bleichgesichter sind Herr über die Erde, und die Zeit des roten Mannes ist noch nicht wieder gekommen. Der Tag war zu lang. Am Morgen waren die Söhne des Unami glücklich und stark; und doch musste ich, bevor es Nacht geworden ist, den letzten Krieger aus dem weisen Stamm der Mohikaner sehen!‘69

Die enorme Popularität von Coopers Roman trug mit dazu bei, dass unter den Weißen das Interesse an der Kultur der amerikanischen Ureinwohner zunahm. Weitere Impulse gingen von christlichen Missionaren, Sprachforschern und Völkerkundlern aus. Ein deutscher Herrnhuter namens David Zeisberger (1721–1808) war als Seelsorger bei den nach Ohio vertriebenen Lenape tätig und verfasste die erste Grammatik ihrer Sprache.70 Daniel G. Brinton (1837–1899), ein Pionier der Indianerforschung, veröffentlichte zahlreiche Studien zur Ethnologie, vergleichenden Religionswissenschaft, Mythologie und Sprachwissenschaft, darunter auch ein Wörterbuch Englisch–Lenape. Das Vorwort dieses Wörterbuches eröffnet ein wahrer Paukenschlag: „Wer wie ein Indianer sprechen will“, heißt es da, „muss lernen, wie ein Indianer zu denken.“71 Im Jahr 1855 erschien die Erstausgabe von Walt Whitmans Gedichtband Leaves of Grass (Grashalme) – eine Sternstunde der amerikanischen Kultur, 720

Delawares, Holländer und viele Sklaven

obgleich Whitmans zügellose Lyrik – ohne Zurückhaltung oder festes Metrum – für viele Amerikaner auch einen Schock bedeutete. Darin enthalten war eine poetische Anrufung der Stadt New York, die davon inspiriert war, wie dem Dichter eines Tages deren „einheimischer Name aufsprang“  – Mannahatta: Now I see what there is in a name, a word, liquid, sane, unruly, musical, self-sufficient; I see the word nested in nests of water-bays, superb with tall and wonderful spires, Rich, hemm’d thick with sailships and steamships – an island sixteen miles long, solid-founded; Numberless, crowded streets – high growths of iron, slender, strong, light, splendidly uprising toward clear skies; … The down-town streets, the jobbers’ houses of business – the houses of business of the ship-merchants and money-brokers – the river-streets; Immigrants arriving, fifty or twenty thousand a week … Trottoirs throng’d – vehicles – Broadway – the women, the shops and the shows, The parades, the processions, bugles blowing, flags waving, drums beating; A million people – manners free and superb – open voices – hospitality; The free city, the beautiful city, the city of hurried and sparkling waters, The city of spires and masts, the city nested in bays! My city! Nun seh ich, was dort in einem Namen, einem Wort steckt, flüssig, gesund, unbändig, musikalisch, selbstgenügsam, Ich sehe, daß das Wort meiner Stadt ein Wort von früher ist, Denn ich sehe dieses Wort eingenistet in Nestern von Wasserbuchten, köstlich, Reich, rings umsäumt von Segelschiffen und Dampfschiffen, eine sechzehn Meilen lange Insel, auf festem Grund, Unzählige überfüllte Straßen, hoher Eisenwuchs, schlank, stark, hell, prachtvoll in klare Himmel aufragend … Die Straßen der Unterstadt, die Geschäftshäuser der Arbeiter, die Geschäftshäuser der Handelsschiffer und Börsenmakler, die Straßen am Fluß, Ankommende Einwanderer, fünfzehn- oder zwanzigtausend in der Woche … Gedrängt volle Bürgersteige, Fuhrwerke, der Broadway, die Frauen, die Läden und die Shows, 721

12. Mannahatta

Eine Million Leute – freie vorzügliche Manieren – klare Stimmen – Gastlichkeit – die überaus mutigen und freundlichen jungen Männer, Stadt stürmenden sprühenden Wassers! Stadt der Spitzen und Masten! Stadt, in Buchten eingenistet! meine Stadt!72

Auch mehr als ein Jahrhundert nach Walt Whitman und „Teddy“ Roosevelt machen sich Menschen noch immer Gedanken darüber, wie sehr die prägende Frühzeit von New York den heutigen Charakter dieser Stadt mitbestimmt. Anders, als man vielleicht erwarten würde, gibt es auch heute noch Nachfahren der Lenape von damals, und seit 1922 gibt es mitten im Herzen von Manhatten ein großes, in einem prächtigen Gebäude untergebrachtes Indianermuseum, das heute eine Filiale des National Museum of the American Indian ist. Das Museum geht auf die Sammlung des Mäzens und Ethnologen George Gustav Heye (1874–1957) zurück und soll nicht nur die Indianer des amerikanischen Nordostens vorstellen, sondern ein umfassendes Bild von der Vielfalt der präkolumbischen Gesellschaften bieten.73 Wer sich auf die Spur der heutigen Lenape-Nachfahren begeben möchte, muss zwei oder drei Stunden aus New York City hinaus nach Westen fahren, in das hügelige Grenzland von New Jersey und Pennsylvania. Zuerst fallen einem die Schilder auf, die den Weg nach Lenape Valley, New Jer­sey, weisen. In Allentown, Pennsylvania, stößt man dann auf ein Lenape Museum of Indian Culture, das in einem alten Farmhaus untergebracht ist.74 Das Kulturzentrum der Lenape Nation of Pennsylvania, in der die Nachfahren des Stammes in diesem Bundesstaat organisiert sind, befindet sich in der Kleinstadt Easton. Selbst auf dem Gebiet des ehemaligen Lenapehoking gibt es noch quick­ lebendige – wenn auch kleine – Gruppen von Lenape-Nachfahren. Sie treten unter verschiedenen Namen auf (als Lenape, Delaware, Lenni-Lenape, Natico­ke oder Unalachtigo), und nicht selten scheint es unter ihnen Meinungsverschiedenheiten zu geben. Der Stammesverband der Nanticoke Lenni-Lenape beispielsweise, der als eingetragene Körperschaft seit 1978 existiert und nach eigenen Angaben 3000 Mitglieder hat, spricht sich strikt gegen die Vergabe von Glücksspiellizenzen an indianische Gemeinschaften aus. Casinos und Spielautomaten sind für etliche Stämme heute die hauptsächliche Einnahmequelle, und daher überrascht es nicht, dass eine andere, rivalisierende Vereinigung – die Unalachtigo Band of the Nanticoke Lenni-Lenape Nation – den entgegengesetzten Standpunkt vertritt und sich ganz klar für das Glücksspiel ausspricht. Das Oberhaupt der letztgenannten Gruppe, James Brent Thomas junior, soll sich dem Vernehmen nach bereits um die Lizenz für ein Casino im 722

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unmittelbaren New Yorker Umland bemühen.75 Um mit größeren Gruppen von Lenape-Nachfahren in Kontakt zu kommen, müsste man allerdings bis nach Oklahoma oder ins kanadische Ontario reisen. Bestrebungen zur Erhaltung der Lenape-Kultur waren seit Langem überfällig. Die überwältigende Mehrheit der heutigen „Delawaren“ spricht Englisch. Die Unami-Sprache ist bereits ausgestorben; die Zahl der Munsee-Sprecher lässt sich inzwischen an einer Hand abzählen. Dennoch hat das Aufkommen der indianischen Bürgerrechtsbewegung seit den 1970erJahren – unter der Devise Red Power – das Zusammengehörigkeitsgefühl und Selbstbewusstsein der Lenape-Nachfahren gestärkt. Mithilfe des Internets erfahren Genealogie und Lokalgeschichte wichtige neue Impulse. Heute bekennen sich ausweislich der offiziellen Statistik stolze 87 241 New Yorker zu ihren indianischen Wurzeln, und in der Nähe des Broadway gibt es eine Begegnungsstätte, das American Indian Community House, das 72 unterschiedliche Stämme vertritt.76 Die wissenschaftliche Erforschung der Lenape steht inzwischen auf festen Füßen. Der Pionier auf diesem Gebiet war Clinton A. Weslager (1909– 1994), ein Heimatforscher und Lokalhistoriker, dessen Buch The Delaware Indians (1972) nicht nur seinerzeit wegweisend war, sondern noch immer lesenswert ist.77 Der Archäologe Herbert Kraft (1927–2000) von der Seton Hall University hat mit den Bänden The Lenape or Delaware Indians (1996) und The Lenape-Delaware Indian Heritage (2001) diese Forschung weiter vorangetrieben.78 Jack D. Forbes (1934–2011), selbst teils indianischer Herkunft, war ein Gründungsmitglied des Native American Movement und setzte seine Forschung zur Kultur der Lenape ein, um die Bürgerrechtsbewegung zu unterstützen.79 Da Mythen und Lieder für die Kultur der Lenape schon immer eine zen­ trale Rolle gespielt haben, überrascht es kaum, dass einige der heutigen Hauptvertreter des Lenape-Revivals auch Erzählungen und Lyrik verfassen. Jake George beispielsweise hat zwei Lenape-Romane geschrieben,80 während der Lyriker Jack Forbes in der Lenape-Sprache Gedichte verfasst, die er Lenaapay Aasheem-Aaptonakaana nennt, das heißt „Lenape-Traumworte“: HOO PAY-YOK Aasheem aaptonakaana Traumworte hoo pay-yok werden kommen nai-yoo topeenay-yo sind schon da sheekee aaptonakaana schöne Worte kaashee aaptonakaana starke Worte 723

12. Mannahatta

chipee aaptonakaana gefährliche Worte xengwee aaptonakaana große Worte tokay aaptonakaana sanfte Worte aasheem aaptonakaana Traumworte werden kommen.81 hoo pay-yok.

Es gibt Kindergeschichten, Stammesmärchen und Sprachlehrgänge en masse, nicht zuletzt im Internet.82 Das niederländische Erbe von New York hingegen ist zu keiner Zeit vom Vergessen bedroht gewesen. Zweifellos gehen einige charakteristische Züge im Antlitz des heutigen New York auf die Niederländer zurück: Der Unternehmergeist von New York wurzelt im Boden des niederländischen Calvinismus. Seine religiöse Toleranz war unter den frühen amerikanischen Kolonien ein Alleinstellungsmerkmal. Sein Republikanismus, seine Sehnsucht nach Selbstverwaltung und auch seine Weltoffenheit, sein Weltbürgertum waren immer schon da. Es ist kein Zufall, dass die religiöse Minderheit des Alten Europa, die Juden, im 19. und 20. Jahrhundert nach New York strömten und es zur größten jüdischen Metropole der Welt machten – ganz so, wie ihre Vorfahren einst nach Amsterdam geströmt waren.83 New York war kein Findelkind; es besitzt einen Stammbaum, hat eine pragmatische Kinderstube genossen und ist energisch ins Leben hinausgetreten. Die größte Hafenstadt Amerikas war die Tochter eines der führenden Häfen Europas. Das Amsterdamer Erbe erwies sich als wesentlich bedeutsamer als die oberflächliche Verwandtschaft mit dem englischen York. Die Amerikaner niederländischer Abstammung, von denen es in den Vereinigten Staaten heute rund 5  Millionen gibt, erfreuen sich im Land anhaltender Wertschätzung. Von den beiden Roosevelt-Präsidenten Theodore und Franklin einmal abgesehen, zählten zu ihnen auch der frühe Großindustrielle Cornelius Vanderbilt, der seine Karriere als Dampfschiffkapitän auf dem Hudson River begann, sowie der Schauspieler und Casa­ blanca-Star Humphrey Bogart und der berühmte Maler Willem de Kooning. Von den Prominenten jüngerer Zeit wären etwa Bruce Springsteen, Dick Van Dyke und Jane Fonda zu nennen.84 Mit 3,5 Millionen New Yorkern stellt die afroamerikanische Bevölkerung der Stadt heute rund ein Viertel der Gesamtbevölkerung. Im Gefolge der Great Migration schwarzer Südstaatler in die großen Städte des Nordens nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg wurde die noch frühere Geschichte der Afroamerikaner in New York oftmals übergangen. 724

Delawares, Holländer und viele Sklaven

New York City BRONX

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Newark Newark Airport

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5

10

15 km

­Historische Untersuchungen beschäftigten sich mit dem Entstehen überwiegend schwarzer Stadtviertel im Brooklyn des 19. Jahrhunderts oder im Harlem der 1920er- und 1930er-Jahre; die ältesten Ursprünge dieser Bevölkerungsgruppe in der Stadt wurden dagegen lange Zeit vernachlässigt.85 Und natürlich bleibt die Demografie in ständiger Bewegung: Ein Viertel der afroamerikanischen Bevölkerung von New York ist heute im Ausland geboren – meist auf Jamaika, in Haiti oder Puerto Rico. Das erklärt auch, weshalb die Entdeckung eines großflächigen Gräberfeldes bei Bauarbeiten am Foley Square in Lower Manhattan es vor einiger Zeit bis auf die Titelseiten der New Yorker Zeitungen geschafft hat: Der alte „Negerfriedhof“ war vollkommen in Vergessenheit geraten und schließlich überbaut worden. Wie Ausgrabungen ergaben, waren hier in der Kolonialzeit bis zu 20 000  Menschen zur letzten Ruhe gebettet worden. Auf 725

12. Mannahatta

Grundlage dieser Befunde erarbeitete die New York Historical Society im Jahr 2005 eine bahnbrechende Ausstellung zur „Sklaverei in New York“. 2009 wurde an der Stelle des früheren Friedhofs auch eine Gedenkstätte eingeweiht, das African Burial Ground National Monument („Nationaldenkmal Afrikanischer Friedhof“).86 * Die Gründung von New Amsterdam war das Ergebnis eines langwierigen Prozesses, der sich über sechzehn Jahre von der „Entdeckung“ Henry Hudsons 1609 bis zur Landung der ersten Kolonisten im Jahr 1624 hinzog. Man darf davon ausgehen, dass die Feierlichkeiten zum 400-jährigen Stadtjubiläum von New York sich ganz ähnlich in die Länge ziehen werden. Jubiläen sind Erinnerungsanlässe. Menschen erinnern mit jeder Geburtstagsparty an den Tag ihrer Geburt. Staaten erinnern mit ihren Nationalfeiertagen an ihre Verfassung, ihre Unabhängigkeit oder an andere prägende Ereignisse. Städte erinnern mit Gedenkveranstaltungen und Festen an den Tag ihrer Gründung. Nur gibt es leider viel zu viele Gedenktage und Jubiläen, als dass man sie alle gebührend begehen könnte, und so bleiben schmerzliche Entscheidungen – für das eine Jubiläum, aber gegen ein anderes – nicht aus. Gedenkorte entstehen aus derselben Problemlage heraus. Unter dem lautstarken Getöse widerstreitender Geltungsansprüche werden sie geschaffen, um sicherzustellen, dass eine bestimmte Person, eine Stelle oder ein Ereignis nicht in Vergessenheit gerät, sondern der Öffentlichkeit im Gedächtnis bleibt. Andere Personen, Stellen oder Ereignisse hingegen gehen leer aus. Die Auswahl der Gedenkorte spiegelt dabei unweigerlich die Präferenzen der Auswählenden wider. Wer über die Auswahl der Erinnerungsanlässe bestimmt, bestimmt letztlich auch über das Ausmaß der Erinnerung. Als 1909 die 300-Jahr-Feier von New York begangen wurde, errichtete man Denkmäler für Verrazzano im Battery Park sowie für Hudson im Stadtteil Spuyten Duyvil in der Bronx. Am Beginn der gegenwärtigen Serie von Erinnerungsfeierlichkeiten steht das „NYC400“-Festival, das 2009 mit großem Aufwand begangen wurde. Am 8.  September lief ein originalgetreuer Nachbau von Henry Hudsons Halve Maen in den Hafen von New York ein, der von einem Geschwader der Königlich Niederländischen Marine eskortiert wurde. Am nächsten Tag eröffnete der damalige Prinz (und heutige König) Willem Alexander der Niederlande den NY400 Dutch Pavilion im Battery Park, ein 726

Delawares, Holländer und viele Sklaven

Geschenk der niederländischen Regierung an die Stadt New York. Im Botanischen Garten der Stadt prunkten 50 000 niederländische Tulpen und Hyazinthen; eine Prozession von typisch holländischen Frachtkähnen mit flachen Böden zog den Hudson hinauf; und im Bowling Green Park konnte man einen Nachbau des einstigen Dorfes Neu-Amsterdam bestaunen. Im stadtgeschichtlichen Museum gab es eine Ausstellung unter dem Titel „Amsterdam – New Amsterdam: Die Welten des Henry Hudson“, und da konnte das Hafenmuseum natürlich nicht zurückstehen: „Die Insel in der Mitte der Welt“ war die dortige Ausstellung überschrieben, deren Prunkstück ein Brief vom 5.  November 1626 war, in welchem die Nachricht vom „Kauf von Manhattan“ mitgeteilt wurde. Auf Governors Island, am Ursprung der New Yorker Geschichte überhaupt, wurde eine Künstlerkolonie namens „Boulevard of Broken Dreams“ eingerichtet; mittlerweile gibt es auch Vorschläge, dort einen „Park der Toleranz“ anzulegen.87 Wie leicht geraten jedoch gute Vorsätze auf unvorhergesehene Abwege. So etwa, als im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts die Vorbereitungen für die anstehende 400-Jahr-Feier von einem hektischen Bestreben in den Schatten gestellt wurden, doch bitte auch angemessen an 9/11, an die Terroranschläge vom 11. September 2001 zu erinnern. Und die Pläne zur Neugestaltung und -nutzung von Ground Zero sahen sich öffentlicher Kritik genauso ausgesetzt wie unwürdigen Streitereien, explodierenden Kosten und massiven Verzögerungen. Im Jahr 2010 erreichte die allgemeine Bosheit bisher ungekannte Ausmaße, als bei der New Yorker Stadtverwaltung ein vorläufiger Antrag zur Planung eines islamischen Kulturzentrums einging, das am Park Place, unweit des vormaligen World Trade Centers, entstehen sollte. In wütenden Schlagzeilen wurde gegen die sogenannte „Ground-Zero-Moschee“ gegiftet. Vor Ort versammelten sich Demonstranten mit Protestplakaten, auf denen etwa zu lesen stand: der islam baut sich ein denkmal am ort seines grossen triumphes! Präsident Obama schritt ein. „Wir New Yorker sind Juden, Christen und Muslime, und das sind wir immer schon gewesen“, erklärte der damalige Bürgermeister Michael Bloomberg, ein Unterstützer des Vorhabens. „Innerhalb unserer Stadtgrenzen, innerhalb der fünf Bezirke von New York gibt es keinen Ort, wo die Religion keinen Platz hätte.“ Aber die Proteste wurden nur noch heftiger. Der frühere New Yorker Bürgermeister Rudy Giuliani verurteilte die geplante „Schändung“ von Ground Zero. Der Rabbiner Meyer May beschimpfte die Organisatoren des islamischen Kulturzentrums als „Idioten“. Und der konservative Radio727

12. Mannahatta

moderator und Tea-Party-Aktivist Mark Williams wetterte gegen die „Moschee, in der die Terroristen ihren Affengott anbeten wollen.“ „Am Ground Zero sollte keine Moschee gebaut werden, solange es in Saudi-Arabien keine Synagogen und keine Kirchen gibt“, meinte der prominente Republikaner Newt Gingrich verärgert. Dieser ausgiebigen Schlammschlacht zum Trotz wurde die Baugenehmigung für das geplante Projekt schließlich erteilt, und ab 2011 gab es unter der Adresse 51 Park Place zumindest ein provisorisches islamisches Kulturzentrum. Und im November 2014 wurde dann endlich auch der mehrfach umgeplante Gedenk-Wolkenkratzer „One World Trade Center“ (1WTC) eröffnet, als das bis dato teuerste und auch höchste Gebäude der Stadt. Ein Umstand wird vielleicht dazu beitragen, einen anderen drohenden Konflikt zu vermeiden. Sowohl Fort Amsterdam als auch das alte World Trade Center befanden sich gar nicht weit von dem Ort, an dem über die Jahre Millionen von Einwanderern von Ellis Island her an Land gebracht wurden, jene „geknechteten Massen“, von denen auf dem Sockel der Freiheitsstatue die Rede ist. Wäre Fort Amsterdam nicht zwischenzeitlich geschleift worden  – das erste, was diese Menschen gesehen hätten, wäre eine von niederländischen Baumeistern geplante und von afrikanischen Sklaven errichtete Festung gewesen. Sie landeten genau an dem Punkt, an dem sich die Erinnerung an Neu-Amsterdam und die Erinnerung an 9/11 am besten miteinander verknüpfen lassen. Das kühnste und erinnerungswürdigste Ereignis der amerikanischen Geschichte ist doch schließlich immer schon dieses gewesen: Der millionenfach erfolgte erste Schritt hinein in den „Schmelztiegel“, in das Land of the Free. All dies erinnert uns daran, dass Migration eine Grundtatsache der Menschheitsgeschichte ist. Sie brachte die Angeln und Sachsen in das von den Römern verlassene Britannien – einschließlich Cornwalls. Sie trieb die Turkvölker nach Aserbaidschan, die Mogulkaiser nach Indien, die Chinesen nach Malaya und Singapur, die Afrikaner und Inder nach Mauritius, die Briten nach Tasmanien und Neuseeland, die Polynesier über den Pazifik und die Amerikaner nach Texas hinein. Die Pilgerväter waren Glaubensflüchtlinge. Die gedrängten Massen, die auf Ellis Island von den Zwischendecks der Ozeandampfer an Land strömten, waren Wirtschaftsflüchtlinge. Einwanderung hat nicht nur den mächtigsten Staat der Erde groß gemacht – sie hat auch seinen „größten Apfel“, den Big Apple New York, zu dem heranreifen lassen, was er heute ist.

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13. Rückkehr, transatlantisch: Widersinnig oder doch im Sonnensinn?

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13. Rückkehr, transatlantisch

Eines der unveränderlichen Hauptmerkmale unserer Erde ist ihre links­ drehende Bewegung um die eigene Achse – „entgegen dem Uhrzeigersinn“, wie man auch sagen könnte, wenn man aus dem All auf einen der beiden Pole hinunterblickte. Wer vorhat, den Atlantik zu überqueren, muss diesen Umstand immer mitbedenken, denn er bestimmt zugleich die Richtung der vorherrschenden Winde und Wettersysteme, und damit beeinflusst die Erddrehung auch die Geschwindigkeit der Schiffe auf den Meeren und der Flugzeuge in der Luft. Heutzutage, im Jet-Zeitalter, dauert ein NonstopFlug von New York nach Frankfurt am Main – also in Richtung Osten – planmäßig etwa sieben Stunden und fünfunddreißig Minuten; von Frankfurt nach New York – in Richtung Westen – dauert er rund neun Stunden. Im Zeitalter der Segelschiffe bedeutete der Unterschied der beiden Richtungen, dass die Reise von Europa nach Nordamerika beschwerlicher war und länger dauerte als die Reise in umgekehrter Richtung, von Nordamerika nach Europa. Wenn die Lenape nur hochseetaugliche Schiffe entwickelt hätten, dann wären sie vielleicht in Portugal oder Spanien gelandet, noch bevor Leif Eriksson in Neufundland oder Christoph Kolumbus auf den Bahamas ankam. Wie alles andere, so haben auch diese wissenschaftlichen Fragen ihre Geschichte. Die Erddrehung fällt in das Forschungsgebiet der Geowissenschaft,1 die – nach ersten Vorboten bei den alten Chinesen, Indern und Griechen – ihren modernen Aufstieg mit dem Werk von Nikolaus Kopernikus begann.2 Winde und Wettersysteme gehören in die Meteorologie, und über die hat schon Aristoteles eine eigene Abhandlung geschrieben.3 Aristoteles’ Nachfolger in Athen, Theophrast, der oft als der „Vater der Botanik“ bezeichnet wird, hat sich ebenso auf den Gebieten der Geowissenschaft und der Meteorologie umgetan; seine Reflexionen über „Zeit, Raum und Bewegung“ sind von besonderem Interesse nicht nur für Physiker, sondern auch für Historiker.4 Die Aerologie, also die Wissenschaft von der Luft und der Atmosphäre, ist im Vergleich noch eine sehr junge Disziplin. Lange Zeit wurde sie durch die Unfähigkeit des Menschen ausgebremst, Zugang zu den – oder auch nur Zugriff auf die – höheren Schichten der Erdatmosphäre zu erlangen. Der Begründer der Aerologie (oder „Höhenwetterkunde“) war der Franzose Dr. Léon-Philippe Teisserenc de Bort (1855–1913), der die in der Atmosphäre herrschenden Bedingungen mithilfe von Heliumballons erforschte. Er war es auch, der die Unterscheidung zwischen der (unteren) „Troposphäre“ und der (höheren) „Stratosphäre“ einführte.5 Wenn man die moderne Luftfahrt verstehen will, muss man sich zunächst mit dem Phänomen „Jetstream“ auseinandersetzen.6 Dass es in 730

Widersinnig oder doch im Sonnensinn?

großer Höhe überaus schnelle Luftströme gibt, war zuerst Wissenschaftlern aufgefallen, die in den Jahren nach dem großen Ausbruch des Vulkans Krakatau 1883 die weltweite Verteilung des dabei in die Atmosphäre geschleuderten Vulkanstaubs untersuchten.7 Doch der Mann, der die erste wissenschaftliche Beschreibung des Jetstreams verfasste, war Dr.  Wasaburo Oishi (1874–1950), der gewissermaßen in den Fußstapfen de Borts wandelte, als er in den 1920er-Jahren von seinem Observatorium am Hang des Fuji Stratosphärenballons in den Himmel steigen ließ. Die Ergebnisse seiner Forschung hätten vermutlich schneller Verbreitung gefunden, hätte Oishi – der auch ein führender Kopf des japanischen Esperanto-Verbandes war – sie nicht ausschließlich in dieser Kunstsprache verfasst und publiziert.8 Derjenige Wissenschaftler wiederum, der 1939 den ursprünglichen Fachbegriff für „Jetstream“ prägte – der heute meist gebrauchte englische Begriff ist eine Lehnübersetzung des deutschen Wortes „Strahlströmung“ –, war Dr. Heinrich Seilkopf, ein Meteorologe, der als Mitarbeiter der Deutschen Seewarte im Auftrag der Kriegsmarine meeres- und luftkundliche Forschungen anstellte und darüber zum Spezialisten für Meeresaerologie wurde.9 Dank der konstanten Linksdrehung der Erde („gegen den Uhrzeigersinn“) blasen die Jetstreams über dem Atlantik genauso konstant in westöstlicher Richtung – und damit rechtsherum oder „im Uhrzeigersinn“ –, und zwar in Höhen von etwa 7000 und 12 000 Metern. Damit entspricht die übliche Lagerung dieser Starkwindbänder ziemlich genau der üblichen Reiseflughöhe moderner Jumbojets. Die Jetstreams sind vergleichsweise schmal, nur etwa 15 bis 25 Kilometer breit, und auch nicht besonders dick – meist etwa 600 bis 900 Meter hoch. In ihrem Inneren fließt die Luft gleichmäßig dahin, während es an den Rändern zu Verwirbelungen und Turbulenzen kommt. Vor allem aber strömt ihr Luftstrahl mit hoher Geschwindigkeit durch die Atmosphäre und übt dabei auf etwa im Weg befindliche Objekte einen hohen Druck aus. Wenn Jetstreams auf ein Flugzeug treffen, das in westlicher Richtung unterwegs ist, können sie dieses merklich bremsen  – treffen sie als „Rückenwind“ auf ein Flugzeug, das nach Osten fliegt, ist dieses meist gut 160 Kilometer in der Stunde schneller, als es das ohne Jetstream gewesen wäre. Der Allzeitrekord in dieser Hinsicht wurde am 10. Januar 2015 aufgestellt, als eine Boeing 777–200 der ­British Airways – zufälligerweise derselbe Flugzeugtyp wie die Maschine des verschwundenen Fluges MH370  – in sagenhaften 5  Stunden und 16  Minuten vom Flughafen  JFK in New York nach London-Heathrow flog – und die Reise damit gegenüber der üblichen Flugdauer um mehr als 731

13. Rückkehr, transatlantisch

zweieinhalb Stunden verkürzte. Die übliche Reisegeschwindigkeit des Rekordfliegers betrug rund 900 km/h, aber an dem betreffenden Tag war der Jet mit fast 1200 km/h unterwegs und blieb damit nur knapp unterhalb der Schallgeschwindigkeit.10 Beim Abflug von JFK dürfte die Maschine damals einen wesentlich älteren Flugplatz überflogen haben, der selbst Schauplatz einiger Rekorde gewesen war. Das Flugfeld Rockaway, ein Luftstützpunkt der US-Marine, ist zwar schon lange nicht mehr in Betrieb und allgemein in Vergessenheit geraten. Aber von 1917 bis 1930 nahm es die westliche Spitze der Rockaway-Halb­ insel ein und lag damit gleich neben dem meerseitigen Rand des heutigen Airports JFK. Heute befindet sich auf dem Areal des früheren Militärflugplatzes ein Naherholungsgebiet. Damals wurde dort Geschichte geschrieben, denn Rockaway spielte eine wichtige Rolle beim ersten Transatlantikflug überhaupt. Um sich da ganz sicher zu sein, müsste man natürlich erst einmal definieren, was ein „Transatlantikflug“ überhaupt ist – denn die Ehre, den ersten solchen vollbracht zu haben, wird oftmals (doch zu Unrecht) entweder den britischen Piloten John Alcock und Arthur Brown oder aber dem Amerikaner Charles Lindbergh zuteil. Um jedoch genau zu sein, ist ein Transatlantikflug ja ein Flug, bei dem ein Flugzeug von einer Seite des Atlantiks auf die andere geflogen wird, von einem kontinentalen Festland zum anderen. Dabei ist es unerheblich, ob dieser Flug nun besonders schnell war oder eher langsam, oder ob er in einer ununterbrochenen Bewegung durchgeführt wurde. Legt man diese Definition zugrunde, dann gebührt die Ehre, den ersten Transatlantikflug der Geschichte vollbracht zu haben, der Curtiss NC-4, einem bahnbrechenden Flugboot der US-Marine. Glenn Curtiss (1878–1930) der 1907 als „der schnellste Mann der Welt“ gefeiert wurde, nachdem er auf einem Motorrad die Rekordgeschwindigkeit von 218 km/h erreicht hatte, kehrte der Raserei an Land bald darauf den Rücken und wandte sich stattdessen der Luftfahrttechnik zu, wo er als Konstrukteur große Erfolge feierte. Im Jahr 1909 schlug er den Franzosen Louis Blériot bei der ersten Auflage der Gordon Bennett Aviation Trophy, einem internationalen Flugwettbewerb, in Reims. 1911 erhielt Curtiss die Pilotenlizenz Nummer 1 des U.S. Aero Club. In der Folge gelangen Curtiss einige bahnbrechende Leistungen: Er baute das erste amerikanische Wasserflugzeug, das erste Flugboot mit starrem Rumpf, die berühmte Jenny (Curtiss JN-4, ein Doppeldecker, der als Schulflugzeug populär wurde) und die Curtiss  H-12, der einzige amerikanische Flugzeugtyp, der im Ersten Weltkrieg zum Einsatz kam. In den Jahren von 1917 bis 1919 führte ein 732

Widersinnig oder doch im Sonnensinn?

­ ertrag zwischen Curtiss’ Firma und der US-Marine zur Entwicklung und V zum Bau einer Reihe von Flugboot-Prototypen  – NC-1, NC-2, NC-3 und NC-4 –, deren Tauglichkeit in einem Testflug über den Atlantik unter Beweis gestellt werden sollte.11 Als im Frühjahr 1919 die Vorbereitungen für diesen Testflug anliefen, wurden auf dem Atlantik nicht weniger als 53 (!) Zerstörer der US-Marine verteilt, die in zwei Ketten mit jeweils 50 Seemeilen Abstand zwischen den einzelnen Schiffen positioniert wurden. Die eine Kette verband Halifax in Nova Scotia mit den Azoren, die andere verband die Azoren mit dem portugiesischen Festland. Aufgabe dieser Schiffe sollte es sein, die Flugboote bei ihrem Überflug per Funk zu lotsen, den Piloten Informationen über die Wettervorhersage und die zu erwartenden Sichtbedingungen zukommen zu lassen und – bei Bedarf – als Rettungsboote zu fungieren. Jedes der Flugboote hatte eine sechsköpfige Besatzung: einen Navigator, einen Funker, zwei Flugingenieure und zwei Piloten. Noch bevor sie an den Start gehen konnten, musste NC-2 zerlegt werden, um Ersatzteile für ihre „Geschwister“ zu erhalten, und einer der Flugingenieure auf NC-4 musste ersetzt werden, nachdem ein wirbelnder Propeller ihm eine Hand abgerissen hatte. Die drei verbleibenden Flugboote kamen in Rockaway zusammen und flogen dort am 8. Mai 1919 los, zuerst über zwei Tage hinweg nach Halifax (mit einem Zwischenstopp in Chatham, Massachusetts). Dann startete das Geschwader am 16. Mai im Hafen von Halifax; man ging nicht davon aus, dass die Maschinen vor Einbruch der Dunkelheit auf den Azoren ankommen würden. Unterwegs wurden sowohl NC-1 als auch NC-3 zur Notwasserung gezwungen und ihre Mannschaften wurden gerettet. NC-4 jedoch flog, mit den beiden Piloten Walter Hinton und Elmer Stone am Steuer, sicher durch die Nacht und landete am 17. Mai ebenso sicher nahe Horta, dem Hauptort der Azoreninsel Faial. Auf ihrem 15 Stunden und 18 Minuten dauernden Flug hatten sie gut 1930 Kilometer zurückgelegt. Die Flugzeugbesatzung gönnte sich dann drei Tage Erholung, während die zweite Zerstörerkette auf Position ging. Am 20. Mai flog NC-4 von Faial los, musste den Flug jedoch nach nur 240 Kilometern schon wieder unterbrechen, um in Ponta Delgada auf der Insel São Miguel Reparaturen durchführen zu können. Dort blieben Maschine und Mannschaft eine Woche lang und flogen dann am 27. Mai weiter in Richtung Portugal, wo sie nach 9 Stunden und 43 Minuten und einer Entfernung von fast 1500 Kilometern eintrafen. Die Route für die erfolgreiche Ozeanüberquerung erstreckte sich über rund 3600  Kilometer; die Gesamtflugzeit betrug 26  Stunden und 46  Minuten, 733

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was einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von etwa 135  Kilometern pro Stunde entsprach.12 Der Erfolg von NC-4 wurde in der internationalen Presse durchaus wahrgenommen und steht noch heute in den Geschichtsbüchern. Aber in Sachen öffentlicher Wahrnehmung und Wirksamkeit wurde er kaum zwei Wochen später nachhaltig in den Hintergrund gedrängt, als Alcock und Brown in einem Sumpf im irischen County Galway landeten und von König Georg  V. daraufhin zu Rittern geschlagen wurden, ein fürstliches Preisgeld der Daily Mail einstrichen (10 000 Pfund Sterling, nach heutiger Kaufkraft rund dreißigmal so viel) sowie eine Bonuszahlung von noch einmal 2100 Pfund. Die Daily Mail hatte zuvor festgelegt, dass der oder die Gewinner ihrer Ausschreibung für den ersten Transatlantikflug „in einem Flug von irgendeinem Punkt innerhalb der Vereinigten Staaten, Kanadas oder Neufundlands an irgendeinen Punkt innerhalb Großbritanniens“ gelangen sollten, und zwar „innerhalb eines Zeitraums von 72  Stunden gerechnet vom Abflug“. Der Bomber der beiden Piloten, eine Vickers Vimy  IV, hatte die 3041 Kilometer von St.  John’s in Neufundland bis zu ihrem irischen Landepunkt in 15  Stunden und 57  Minuten zurückgelegt, das entsprach einer Durchschnittsgeschwindigkeit von fast 190 Kilometern pro Stunde.13 Wie mir später klar wurde, war ihre Flugroute der meinen gar nicht so unähnlich – obwohl sie natürlich von einer vorgelagerten Insel auf eine andere geflogen waren. In geografischer Hinsicht wird anhand der Geschichten von NC-4 und Alcock-Brown deutlich, dass bei einer Atlantiküberquerung die Inseln in der Mitte des Ozeans eine große Hilfe sein können. Der Nordatlantik ist nicht ganz so leer wie manch anderer Ozean. Seefahrer und Piloten, die von Nordamerika nach Europa oder umgekehrt gelangen wollten, haben schon früh entdeckt, wie hilfreich ein Zwischenstopp zur rechten Zeit sein konnte – ob auf Neufundland, Grönland, Island, Irland oder Großbritannien, oder weiter südlich auf den Azoren oder der schönen Insel Madeira. Peterhouse, im Jahr 1284 gegründet, ist das älteste College der Universität Cambridge  – und dasjenige, das die alten Traditionen aufrechterhält.14 Seit nunmehr vierzig Jahren – seit der Veröffentlichung von Tom Sharpes satirischem Roman Porterhouse Blues (1974) und der urkomischen TVSerie, die darauf folgte – hat Peterhouse mit einem ziemlich lächerlichen Image zu kämpfen, das es seither am liebsten loswerden würde. Im Roman heißt die offizielle College-Hymne „Dives in Omnia“, was so viel heißen soll wie „Überfluss im Überfluss“; es gibt nur einen einzigen Professor, der 734

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tatsächlich etwas tut; die Studenten und Dozenten laben sich beim fest­ lichen Dinner an flambiertem Schwan; und der College-Pförtner, ein Mann namens Skullion, führt den geheimen Widerstand gegen die Reformpläne des neuen, progressiven College-Rektors an.15 In Wirklichkeit legen jedoch auch heute noch die Professoren und Dozenten von Peterhouse zum feierlichen Dinner am High Table ihre schwarzen Talare an und ziehen schweigend hinter dem Rektor her in den winzigen, eichengetäfelten Speisesaal ein, wo sie sich unter Eichengebälk und bei Kerzenlicht auf harten Holzbänken an einem gemeinsamen Tisch – auch der natürlich aus Eichenholz – niederlassen. Stumm erheben sie sich wieder, blicken auf die Inschrift mit dem Vaterunser an der Wand gegenüber und bleiben so noch mehrere Minuten lang stehen, während einer aus ihren Reihen zwei langatmige lateinische Tischgebete verliest: Benedic nos Domine, et dona Tua, quae de Tua largitate sumus sumpturi, et concede, ut illis salubriter nutriti, Tibi debitum obsequium praestare valeamus, per Christum Nostrum, Amen. Deus est caritas, et qui manet in caritate in Deo manet, et Deus in eo; sit Deus in nobis, et nos maneamus in ipso. Amen.

Das zweite dieser Tischgebete stammt aus dem Ersten Johannesbrief. Bei besonderen Gelegenheiten singt noch der Collegechor von einer Empore herab. Und dann sagen alle laut im Chor „Amen“ und nehmen wieder Platz, streng nach der Reihenfolge ihres Ranges. (Es heißt, die einzige Chance, am Tisch einen Platz weiter aufzurücken, eröffne sich dann, wenn einer aus der Runde das Zeitliche segne.) In neuerer Zeit – seitdem Peterhouse seine Pforten auch für Professorinnen, Dozentinnen und Studentinnen geöffnet hat – dürfen auch Professorinnen (nicht jedoch Professorengattinnen) Seite an Seite mit den Herren Gelehrten speisen. In der Mitte der Tafel thronen eine blitzende Auswahl des College-Silbers, ein beeindruckendes Aufgebot von Weingläsern sowie einige prachtvolle Blumenbouquets. Vier Gänge werden serviert  – Vorspeise, Suppe, Fleischgang und Dessert –, begleitet von einigen erlesenen Weinen aus dem collegeeigenen Weinkeller. Und dann kommt, nach dem Dessert – und zur großen Überraschung aller nicht eingeweihten Besucher –, die große Spezialität von Peterhouse: der sogenannte „Würzbissen“, den man wohl eher zum Frühstück erwartet hätte – manchmal ist es ein Brötchen mit Schinkenspeck, manchmal sind es Pilze auf Toast. Das ist ein absichtlicher Hieb wider den 735

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guten Geschmack, einzig und allein pour épater le bourgeois, den ein lange vergessener Rektor von Peterhouse einmal eingeführt hat und der nie wieder abgeschafft wurde. Zum „Großen Dessert“ (in Unterscheidung zum „kleinen Dessert“ bei Tisch) marschiert die Professorenschaft im Gänsemarsch aus dem Speisesaal in den gleich nebenan gelegenen Combination Room („Gesellschaftsraum“), der – wie könnte es anders sein? – durch seine prachtvolle Eichenholztäfelung besticht. In den Wintermonaten spendet dort ein Feuer im offenen Kamin Licht und Wärme, und die Eintretenden erwartet eine weitere Speisetafel, an der nun jedoch freie Platzwahl gilt. Zu den aufgetragenen Köstlichkeiten gehören eine Käseplatte mit einem guten Dutzend verschiedener Sorten sowie ein Obstteller mit Trauben, Mandarinen, Aprikosen, Kiwis und Feigen. Zwei Kristallkaraffen machen die Runde: Der Portwein wird nach links durchgereicht, im Uhrzeigersinn, der Madeira nach rechts, gegen den Uhrzeigersinn. (Soweit jedenfalls meine Erinnerung.) In den Tagen, als auf Etikette noch geachtet wurde, galt es als eine solche Entgleisung, Port oder Madeira in die falsche Richtung weiterzureichen oder das gleichmäßige Kreisen der Karaffen zu stören, dass das leise Plätschern der Unterhaltung im Hintergrund schlagartig verebbte und der Rangälteste unter den Anwesenden sich zum Tadel dieser Untat höflich räusperte. Eine Karaffe nicht weiterzureichen, galt als Zeichen schlechten Benehmens, aber noch viel unverzeihlicher war es, wenn man ganz unverblümt nach der Karaffe verlangte! In vielen der traditionsbewussteren Oxbridge-Colleges galt die Regel, dass der Nebenmann jener unmöglichen Person, die das Kreisen der Karaffe unterbrochen hatte, dem Übeltäter einen dezenten Wink gab, indem er fragte: „Kennen Sie den Bischof von Norwich?“ Wenn das noch nichts fruchtete, war der folgende Hinweis üblich: „Der Herr Bischof ist ein sehr zerstreuter Mann … vergisst bei Tisch sogar oft, die Karaffen weiterzureichen …“ In Peterhouse lautete die entsprechende Frage: „Kennen Sie den Bischof von Ely?“ (Ein früher Inhaber dieses Amtes, Hugh de Balsham, war der Gründer von Peterhouse.) Sowohl Portwein als auch Madeira stammen aus Portugal. Weil sie „aufgespritet“ sind (also mit hochprozentigem Alkohol angereichert), lassen sich diese Likörweine gut lagern und transportieren. Schon seit über 600 Jahren werden sie über den stürmischen Golf von Biskaya nach Norden transportiert. Der Weinhandel zwischen Portugal und England ist ein Nebeneffekt  – und bestimmt nicht der schlechteste  – der ehrwürdigen 736

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Anglo-Portugiesischen Allianz, die gemeinhin als das älteste noch bestehende Staatenbündnis der Welt gilt  – und fast so alt ist wie Peterhouse selbst: Die offiziellen Verhandlungen begannen im Jahr 1384, da konnte Peterhouse bereits seine 100-Jahr-Feier begehen, aber schon im Jahrhundert zuvor hatte es diplomatische Kontakte zwischen England und Portugal gegeben. Am 9. Mai 1386 schlossen Portugal und England den Vertrag von Windsor, der im Februar 1387 in der Kathedrale zu Porto durch eine „Handschuhhochzeit“ – eine Trauung per Stellvertreter – zwischen dem portu­ giesischen König Johann  I. und einer gewissen Filipa de Lencastre (der englischen Prinzessin Philippa von Lancaster) bestätigt wurde. Philippa war eine Tochter Johanns von Gent und die älteste Schwester des späteren englischen Königs Heinrichs IV. Für die damalige Zeit hatte die Braut eine ungewöhnlich gute Bildung genossen – aber sie war ja auch eng verwandt mit solchen Dichtern und Denkern wie Geoffrey Chaucer, Jean Froissart und John Wycliffe. In jenen längst vergangenen Tagen sprach noch niemand vom „Uhr­ zeigersinn“, weil Uhrzeiger damals noch keiner im Sinn hatte: Zwar war das mechanische Uhrwerk bereits erfunden – eines der ältesten Exemplare in England wurde 1337 in der Abtei von St. Albans eingebaut. Aber die Uhrzeit gaben diese frühen Uhren noch ausschließlich durch den Stundenschlag einer Glocke bekannt; ein Ziffernblatt, auf dem zwei Zeiger um die Wette liefen, war noch völlig unbekannt.16 Der Begriff zur Bezeichnung einer Rechtsdrehung, der dem „Uhrzeigersinn“ voranging, war der „Sonnensinn“. Dieser leitete sich von der Alltagswahrnehmung her, dass  – zumindest in Europa – die Sonne im Verlauf eines Tages von links nach rechts über den Himmel zu wandern scheint. Der Gegenbegriff hierzu war im Englischen das merkwürdige Wort widdershins oder withershins („widersinnig“), das heute nur noch im schottisch-englischen Dialekt gebräuchlich ist und dort eine von rechts nach links kreisende Bewegung bezeichnet. In einer zutiefst abergläubischen Zeit verband man mit dieser Bewegung „gegen den Sonnensinn“ gemeinhin einen „falschen“, „widernatürlichen“, ja sogar „teuflischen Gang“. Nicht etwa, dass Ziffernblätter an sich unbekannt gewesen wären. Bei Sonnenuhren beispielsweise gab es sie schon seit der Antike – und Sonnenuhren gibt es in Cambridge nicht gerade wenige. Die vielleicht berühmteste von ihnen ist die sechsseitige Sonnenuhr am Türmchen über dem „Ehrentor“ des Gonville and Caius College, die aus dem Jahr 1565 stammt.17 Ein anderes schönes Exemplar, diesmal an einer Wand, befindet sich seit 1642 737

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im Innenhof des Queen’s College.18 Im Jahr 1996 erhielt Peterhouse eine ultramoderne Sonnenuhr in Form einer Armillarsphäre zum Geschenk, die heute im Kräutergarten des Colleges aufgestellt ist und einer anderen ähnelt, die sich im Rosengarten des Downing College befindet. Die neueste, überaus eindrucksvolle Ergänzung der Reihe ist eine Sonnenuhr, die sowohl „babylonische“ als auch „italienische“ Stunden anzeigt – also eine Zählung ab Sonnenauf- oder -untergang  – und 2010 an einer Wand des Selwyn College angebracht wurde.19 Es gibt sogar einen eigenen „Sonnenuhr-Rundgang“ durch Cambridge, den ich nur empfehlen kann.20 Sonnenuhren tragen oft ein passendes Motto oder einen Aphorismus als Inschrift, meist in lateinischer Sprache. tempus fugit oder carpe diem kennen wohl die meisten, aber man findet auch tempus edax rerum (die zeit frisst alle dinge), tempus neminem manet (die zeit wartet auf keinen), ut hora sic fugit vita (wie eine einzige stunde verfliegt das leben) oder transit umbra, lux permanet (der schatten weicht, das licht, es bleibt). Und dann gibt es neben den lateinischen auch noch andere Sinnsprüche: nutze die stunde, sie kommt nicht wieder; die zeit eilt, heilt, teilt oder licht – liebe – leben. Die Gestaltung eines Ziffernblattes für eine Sonnenuhr ist eine hochkomplexe Angelegenheit  – ein bloßer Historiker blickt da kaum durch. Aber selbst dem Laien fällt auf, dass manche Sonnenuhren ihre Mittagsmarkierung oben haben, andere unten. Im ersteren Fall werden die Stunden von links nach rechts gezählt, im letzteren (wie auf der Sonnenuhr im Queen’s College) von rechts nach links. Diese Tatsache bringt mein Gehirn an den Rand seiner Möglichkeiten: In Abhängigkeit von der Positionierung der Sonnenuhr und dem Winkel des Gnomons (Schattenzeigers), scheint es, dass der von der Sonne geworfene Schatten manchmal „im Sonnensinn“ über das Ziffernblatt läuft und manchmal „widersinnig“. Aber das kann doch nicht sein, oder? Das Oxford English Dictionary verzeichnet zwei Bedeutungen des Wortes withershins: 1. in einer Richtung, die der üblichen entgegengesetzt ist; falsch herum. 2. in einer Richtung, die dem sichtbaren Lauf der Sonne entgegengesetzt ist (gilt als unheilvoll oder schlechtes Vorzeichen).21

Seine germanische Herkunft kann withershins nicht verleugnen; es entspricht genau dem deutschen „widersinnig“ (wobei wider „gegen“ heißt und Sinn so viel wie „Richtung“). Im Standardenglischen ist es weniger häufig 738

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als im schottischen Englisch, wo withershins oft mit Hexen und Zauberei in Verbindung gebracht wird: Withershins is the way of witch and trow, sagt ein Sprichwort: „Hex’ und Glauben gehen widersinnige Wege“. Und jede gute Inszenierung von Shakespeares Macbeth eröffnet damit, dass die Hexen – mit dem Löffel in der linken Hand – „falsch herum“ in ihrem verhängnisvollen Kessel rühren. Die französische Sprache wiederum hat ihre eigenen Konventionen. Mein altes Dictionnaire Quillet definiert le sens direct als „contraire au déplacement des aiguilles d’un montre“ („entgegen der Bewegung der Zeiger einer Uhr“) und nennt als Gegenbegriff le sens rétrograde („in rückläufiger Richtung“). Das klingt ja ganz so, als ob für die Franzosen der „Uhrzeigersinn“ oder „Sonnensinn“ rückläufig (oder „widersinnig“) wäre, während ihnen eine Bewegung gegen den Uhrzeigersinn „direkt“ erscheint!22 Das alles ist reichlich seltsam. Es scheint noch nicht einmal Einigkeit darüber zu bestehen, in welcher Richtung der Madeira denn nun um den Tisch gereicht werden soll. Verschiedenen Quellen zufolge besteht in bestimmten Regimentern der britischen Armee die Tradition, dass die Karaffen mit Port und Madeira in der Offiziersmesse in gleicher Richtung zu kreisen haben oder dabei sogar – Gott bewahre! – im Uhrzeigersinn.23 Wie dem letztlich auch sei: Der köstliche Madeirawein kam vermutlich lange vor der ersten mechanischen Uhr nach Peterhouse – und vermutlich auch vor dem ersten Portwein, denn der wurde in England erst nach dem Spanischen Unabhängigkeitskrieg (1808–1814) so richtig beliebt. Der Lieblingstropfen des mittelalterlichen England war malmsey, ein Süßwein aus der ursprünglich griechischen Malvasier-Traube, der schon früh zu einem der Hauptexportgüter von Madeira avancierte. Ganz sicher wissen kann man es nicht. Aber es besteht doch Grund zu der Annahme, dass der Port damals „im Sonnensinn“ herumgereicht wurde, der Malmsey jedoch „widersinnig“. Madeira – la perola do mar, „die Perle des Meeres“ – ist eine kleine, abgeschiedene, bergige Vulkaninsel mitten im Golfstrom. Sie ist größer als Malta oder Elba, aber kleiner als Rhode Island oder das Saarland. Sie ist umgeben von den ungestümen Fluten des Atlantiks und wird ununterbrochen von Winden umtost, die das ganze Spektrum zwischen „frischer Brise“ und „Orkan“ ausschöpfen. Laue Lüftchen sind hier rar. Madeira ist zwar mit diversen Nachteilen geschlagen, die das Leben der Menschen auf der Insel erschweren  – aber die zahlreichen Vorteile sind auch nicht zu verachten, darunter die wunderbare Seeluft, das golfstrombedingt milde Klima, eine 739

13. Rückkehr, transatlantisch

Madeira Porto Moniz

Erhebung über 1000m über 500m unter 500m

Atlantischer Ozean São Vicente

Santana

Ruivo do Paul (1640m) Pico Ruivo (1868m)

N

Calheta Ponta do Sol

S

Pico do Arieiro (1818m)

Machico

Ribeira Brava Câmara de Lobos

Monte

Funchal

Santa Cruz

0

5

10 km

üppige, reich blühende Vegetation und nicht zuletzt eine hervorragende Lage als Zwischenstation für den transatlantischen Schiffsverkehr.24 Der Tradition zufolge wurde Madeira im Sommer des Jahres 1418 ganz zufällig entdeckt. Der Kapitän João Gonçalves, genannt Zarco („der Schielende“), stand in Diensten des portugiesischen Infanten Heinrichs des Seefahrers, der ein Sohn der Philippa von Lancaster war. Zarco hatte eigentlich beabsichtigt, die Westküste Afrikas zu erkunden, war jedoch durch einen Sturm von seinem Kurs abgebracht worden und gelangte mit seinen Schiffen schließlich an den sandigen Strand einer ihm unbekannten Insel, die er „Porto Santo“ nannte. Durch den Nebel konnte er in einiger Entfernung noch eine weitere, größere Insel ausmachen. Die portugiesischen Seefahrer jener Zeit waren Meister darin, gegen den Wind anzukreuzen, und konnten mithilfe der Gestirne und eines Kompasses auch ihre Position recht zuverlässig abschätzen. Also kehrte Zarco im Jahr darauf zurück und setzte von Porto Santo auf die größere Insel über, die er Madeira nannte, „die Holzinsel“. Beide Inseln nahm er förmlich für den König von Portugal in Besitz. Im Gegensatz zu den rund 500  Kilometer entfernten „Nachbar­ inseln“ der Kanaren, die von Kastilien beansprucht wurden, waren die neu entdeckten Inseln völlig unbewohnt, wie Zarco feststellte. In einem Akt ökologischer Barbarei ließ er deshalb die Wälder von Madeira in Brand ­stecken, um die Insel urbar zu machen. Sieben Jahre lang soll das Feuer gelodert haben. Anschließend wurden Kolonisten auf die Insel entsandt und Madeira 1425 unter die portugiesischen Provinzen aufgenommen. 740

Widersinnig oder doch im Sonnensinn?

Das einzige Anzeichen früherer Besucher, das Zarco bei seinem Besuch auf Madeira fand, waren zwei Gräber gleich am Ufer der Bucht, in der er an Land ging. Es handelte sich um die letzte Ruhestätte eines schiffbrüchigen Liebespaares, dessen Liebe unter keinem guten Stern stand. Der lokalen Überlieferung von Madeira zufolge war „Roberto Machim“ ein englischer Ritter vom Hof Eduards III. (reg. 1327–1377) und „Ana d’Arfet“ eine Frau aus englischem Adel. In Wahrheit war Richard Machin oder Machyn ein Kaufmann aus Bristol, der im Handel mit Bordeaux tätig war; seine Geliebte, Anne of Hertford, war eine verheiratete Adlige. Nachdem die ­beiden sich ineinander verliebt hatten, beschlossen sie, gemeinsam durchzubrennen und in den französischen Besitzungen der englischen Krone ein neues Leben anzufangen. Stattdessen gerieten sie im Golf von Biskaya in einen heftigen Sturm und wurden mitsamt ihrem Schiff an die Küste einer einsamen, dicht bewaldeten Insel gespült. Anne kam bei dem Schiffbruch ums Leben. Richard soll daraufhin an gebrochenem Herzen gestorben sein. Die überlebenden Mitglieder ihrer Mannschaft begruben die beiden Liebenden Seite an Seite und segelten auf einem Floß, das sie aus den Trümmern ihres Schiffes gezimmert hatten, davon, um die traurige Geschichte in ihrer englischen Heimat bekannt zu machen. Diese Legende ist auch der Ursprung für den Namen der zweitgrößten (und ältesten) Siedlung auf Madeira, Machico.25 Nichts von alldem erklärt freilich, warum der sogenannte Medici-Atlas von 1351 (wie übrigens auch noch einige andere Seekarten aus dem 14. Jahrhundert) genau an jener Stelle eine Insel verzeichnet, an der das spätere Madeira liegt.26 Der gesunde Menschenverstand lässt vermuten, dass weder Zarco noch „Roberto und Ana“ die ersten Menschen waren, die ihren Fuß auf die bewusste Insel gesetzt haben. Sobald die Insel besiedelt wurde, begannen die oben bereits erwähnten Nachteile, sich bemerkbar zu machen. Es gab kaum ebenes Land, auf dem man Felder hätte anlegen können. Nirgends entlang der steil abfallenden Küste der Insel konnte man Wege bahnen, geschweige denn Straßen anlegen. Und einen tiefen, geschützt liegenden Hafen gab es auch nicht. An allen Ecken und Enden mussten daher über die Jahrhunderte raffinierte Lösungen gefunden werden. Anstelle von Feldern legten die Madeirer Tausende kleiner Terrassen an, auf denen sie Rebstöcke pflanzten und ihre Hütten errichteten. Mit Seil- und später Zahnradbahnen wurden Menschen und Güter an den steilen Berghängen von unten nach oben befördert. Wer bergab unterwegs war, fuhr mit dem Korbschlitten auf einer Art Sommerrodelbahn zu Tal – eine ehrwürdige Tradition, die auch heute noch 741

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besteht. Maultiere und Packpferde boten lange Zeit die einzige Möglichkeit, schwerere Lasten zu befördern. In Funchal brachten flachbodige Lastkähne Waren und Passagiere von den Schiffen, die weiter draußen in der Bucht ankerten, an Land. Ein schützender Wellenbrecher und ein tiefes Hafenbecken wurden erst in den 1960er-Jahren angelegt. Die Kirche Nossa Senhora do Monte wurde 1470 von einem Mann gegründet, der von sich behauptete, das erste auf der Insel geborene Kind gewesen zu sein. Sie ist der Jungfrau Maria geweiht und erhebt sich auf einem Felsvorsprung 598 Meter über dem Hauptort Funchal, etwa auf halber Höhe des Bergzugs an der Küste. Von hier aus hat man einen grandiosen Ausblick über die Bucht von Funchal. Die Kirche wurde schon bald ein Wallfahrtsziel und die zentrale Kultstätte einer ganz besonderen, sehr intensiven und spezifisch madeirischen Form katholischer Frömmigkeit. Die ursprüngliche Kirche aus dem Spätmittelalter wurde 1740 durch mehrere Erdbeben zerstört und im Lauf der folgenden Jahre durch einen eindrucksvollen Barockbau ersetzt, der sich durch eine großteils in blendendem Weiß verputzte Fassade aus schwarzem Vulkanstein auszeichnet. Zu der Kirche hinauf führt eine Treppe aus gigantischen Felsblöcken, über die traditionell die Pilger auf blutigen Knien bergan krochen.27 Madeiras erstes Wirtschaftswunder verdankte sich jedoch nicht dem Wein, sondern dem Zucker, und einer der ersten Zuckerbarone der Insel war kein Geringerer als ein gewisser Christoph Kolumbus. 1478 war er von Genua nach Madeira geschickt worden, um dort einen Vertrag über die Lieferung von Zucker abzuschließen, heiratete dann jedoch eine Einheimische namens Filipa Moniz und lebte vier Jahre lang auf Porto Santo. Es ist kaum vorstellbar, dass er Madeira verließ, ohne von anderen Ländern geträumt zu haben, die womöglich hinter dem westlichen Horizont verborgen lagen. Um die Zeit, als Kolumbus 1492 in der Neuen Welt ankam, wurden die Zuckerplantagen von Madeira bereits von 3000 maurischen Sklaven bestellt. Nachdem Portugal seinem Kolonialreich im Jahr 1500 Brasilien und 1575 Angola einverleibt hatte, wurde Madeira zu einer strategisch wertvollen, ja unentbehrlichen Proviantstation und zur ersten Anlaufstelle auf den beiden wichtigsten Schifffahrtsrouten des Reiches. Noch heute schieben sich die großen Kreuzfahrtschiffe ganz vorsichtig bis ans Ufer, um auf Madeira einen ersten Zwischenstopp ihrer weiten Reise einzulegen. Über die Jahrhunderte hinweg haben die meisten der großen Seefahrer und Entdecker auf ihrem Weg nach Westen hier Halt gemacht, einschließlich Kapitän Cook und Charles Darwin an Bord der HMS Beagle. 742

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Das ganze Zeitalter der Entdeckungen hindurch war Madeira also das erste Ziel für alle, die von Europa aus nach Süden segelten, entweder in die Karibik und weiter nach Südamerika oder aber an die Westküste Afrikas. Mit seiner Lage bei 32  Grad nördlicher Breite, gut 700  Kilometer vor der afrikanischen Küste und 1100 Kilometer von Gibraltar entfernt, ermöglichte es Madeira den portugiesischen Entdeckern, sich langsam, aber sicher in Richtung Äquator vorzuarbeiten – diesen hatte nämlich vor der Fahrt des Lopes Gonçalves in den Jahren 1473/74 kein Europäer je überquert. Der Weinbau auf Madeira wuchs über Jahrhunderte zu einem wichtigen Wirtschaftszweig heran. Zuerst brachte man Techniken zum Einsatz, die ursprünglich in der portugiesischen Weinbauregion Minho entwickelt worden waren, wo die Reben für den berühmten vinho verde an Spalieren herangezogen wurden. Als Grundlage für die meisten Rotweine diente die Rebsorte Tinta Negra, bei den Weißweinen war es die aus Griechenland eingeführte Malvasier-Traube. Nachdem die mittelalterliche Vorliebe für zuckersüßen Malmsey nachgelassen hatte, etablierte sich die moderne, aufgespritete Variante des Madeiraweins – nicht zuletzt, weil sie den Transport im Frachtraum der großen Segelschiffe besser überstand. Die englischen Kolonisten in Amerika fanden Geschmack daran, und bald schon war Madeira der Lieblingsdrink der dortigen Oberschicht: Den Launen von Geografie und Politik ist es zu verdanken, dass Madeira zum bekanntesten und beliebtesten Wein des kolonialen Nordamerika wurde. Zunächst einmal trugen der Golfstrom und die Passatwinde, die beide an Madeira vorbeiführen, die dort aufbrechenden Segelschiffe ganz wie von selbst bis an unsere Küsten. Im Jahr 1664 belegte der englische König Karl II. den französischen Weinexport in die [englischen] Kolonien mit hohen Zöllen; später durften europäische Waren nur noch in britischen Schiffen dorthin transportiert werden. Da Madeira im Grunde zu Afrika gehörte, war es von diesen Regelungen ausgenommen, und seine Weine überschwemmten schon bald den amerikanischen Markt. Im späten 18. Jahrhundert kam es dann so weit, dass es unter den Kolonisten als patriotisch galt, Madeira zu trinken – denn schließlich zahlte man dem verhassten englischen König dann keine Steuern. So wurde der Madeirawein zur Muttermilch der Amerikanischen Revolution. Außerdem entsprach der Madeira ganz der amerikanischen Vorliebe für eher süße Weine.28

Thomas Jefferson, einer der „Väter der amerikanischen Verfassung“, war ein erklärter Madeira-Liebhaber, der über seine Weinkäufe und seinen 743

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Weinkonsum detailliert Buch führte. In dem Weinkeller auf seinem Anwesen Monticello in Virginia machten die Fässer mit Madeira den größten Posten aus. 1981 wurde dort bei archäologischen Ausgrabungen eine gut erhaltene Kristallkaraffe für Madeira gefunden, ein herrliches Stück aus englischer Produktion der 1760er-Jahre mit Kartuschen- und Weinrankenmotiven in Schleifgravur.29 In Madeira zu „überwintern“ hat eine lange Tradition. Das milde Klima zog die Reichen und die Unerschrockenen an, die Kranken und die Verzweifelten – und unter all diesen vor allem die Briten. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Zustrom englischer Gäste zu einer reißenden Flut, nicht zuletzt aufgrund des illustrierten Reiseberichts einer Engländerin namens Isabella da França, die einen Madeirer geheiratet hatte.30 In ihrem Buch sehen wir „Madam“, wie sie in einem Schlitten mit Ochsengespann zum Monte hinaufgezogen wird; „Madam“, die in einer Sänfte den anstrengenden Pfad nach Curral hinaufgetragen wird; „Madam“ beim Verlassen eines Ruderbootes am Strand von Calheta, wo eine Gruppe von Seeleuten und Schwimmern sie mit vereinten Kräften an Land bringt. Im Fahrwasser jener unerschrockenen „Madam“ folgten zahlreiche Berühmtheiten ihrer Zeit. Eine der bekanntesten war wohl Elisabeth, genannt „Sisi“, Kaiserin von Österreich und Gemahlin Franz Josephs I. Sie kam 1859 an Bord der Privatjacht von Königin Victoria nach Madeira und quartierte sich für mehrere Monate im gerade neu eröffneten Reid’s Palace Hotel ein. Auch der englische König Eduard VII. war Gast auf Madeira – und noch so einige andere mehr, von George Bernard Shaw über den im Exil befindlichen kubanischen Diktator General Fulgencio Batista bis zu Sir Winston Churchill. (Churchill kam zum Malen nach Madeira, erstmals 1899.) Einer der frühen „Wintergäste“ war John Davis Blandy (1783–1855) aus Piddletrenthide in Dorsetshire, der 1808 aus gesundheitlichen Gründen nach Madeira geschickt wurde. Die Luftveränderung scheint ihre Wirkung nicht verfehlt zu haben, denn der vormals kränkliche junge Mann gründete nicht nur ein Familienunternehmen, die Weinkellerei Blandy and Blandy, sondern auch eine dazugehörige Dynastie von Erben und Nachfolgern, die das Unternehmen bis zum heutigen Tag leiten. 1811, im Jahr der Firmengründung, heiratete Blandy Jennet Burden, und ihr Sohn, Charles Ridpath Blandy (1812–1879) wurde im Jahr darauf auf Madeira geboren. 1826 kaufte Blandy den Stammsitz der Familie, die Villa Quinta de Santa Luzia, die von den Hängen des Monte einen weiten Ausblick auf die darunterliegende Bucht bietet. Blandy senior stieg gemeinsam mit seinen zwei Brüdern in den internationalen Weinhandel ein, und sein Sohn eröffnete 744

Widersinnig oder doch im Sonnensinn?

zuerst die Blandy Wine Lodge an der Avenida Arriaga im Stadtzentrum von Funchal, bevor er sämtliche Vorräte der besten Jahrgänge auf der ganzen Insel aufkaufte und im Handel damit ein Vermögen verdiente. Sieben Generationen später wird das Unternehmen heute von Chris Blandy geleitet. Auf dem ersten Rang der aktuellen Weinliste von Blandy and Blandy steht der „Blandy’s Malmsey 1994 Harvest“.31 Die berühmteste Flasche Madeira aus den Kellern der Familie Blandy muss jedoch jene gewesen sein, die im Juli 1815 Napoleon Bonaparte überreicht werden sollte, als die HMS Bellerophon auf den Weg nach St. Helena in einer Bucht von Madeira vor Anker ging. Der frühere Kaiser der Franzosen und nunmehrige Gefangene der Briten lehnte das Geschenk jedoch – aus Protest darüber, dass man ihn nicht an Land gehen ließ – ab, obwohl John Blandy eigens an Bord gekommen war, um die Flasche zu überreichen. (Die britischen Offiziere der Bellerophon verließen das Schiff jedoch, um auf dem Stützpunkt der Royal Navy, der während der Napoleonischen Kriege errichtet worden war, um die Franzosen von Madeira fernzuhalten, ein Gelage abzuhalten.) Doch sollte jener zurückgewiesenen Flasche Madeira noch eine große Zukunft bevorstehen … Im Jahr 1873 besuchte einer der berühmtesten Naturwissenschaftler Großbritanniens, Lord Kelvin (1824–1907), Madeira. Kelvin, der als William Thomson in Belfast geboren war, hatte in Peterhouse studiert und später dort auch gelehrt – fraglos wird schon dort des Öfteren eine Karaffe mit Madeira an ihm vorbeigezogen sein. In den 1870er-Jahren war er jedoch als leitender Berater an der Verlegung von transatlantischen Telegrafenkabeln beteiligt. Als an Bord von Kelvins Kabelleger auf dem Weg nach Brasilien technische Probleme auftraten, sah der Physiker sich gezwungen, einen ungeplanten Zwischenstopp in Funchal einzulegen, wo Charles Blandy sein Gastgeber war. Und was noch wichtiger war: Bei Blandy lernte der 57-jährige Witwer Kelvin die 37-jährige Frances Anna („Fanny“) Blandy kennen, eine Tochter des Hauses, die er bald darauf heiratete. Dem Vernehmen nach soll es Liebe auf den ersten Blick gewesen sein. In der Welt der Wissenschaft ist Lord Kelvin heute für die nach ihm benannte thermodynamische Basiseinheit und Temperaturskala berühmt, auf welcher der absolute Nullpunkt bei 0 K (null Kelvin) liegt, sowie für das sogenannte „Kelvin-Paradox“, das auf die Frage hinausläuft: „Kann man an Gott und die Wissenschaft zugleich glauben?“ Auf Madeira jedoch erinnert man sich vor allem an die spektakulären Ereignisse des 2.  Mai 1874, als ­Kelvins 126-Tonnen-Jacht, die Lalla Rookh, in die Bucht von Funchal segelte und dabei ein Flaggensignal gab, das durch die Teleskope, die an der Villa 745

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Quinta de Santa Luzia schon bereitstanden, klar und deutlich zu lesen war: „Willst du mich heiraten?“ Und was tat Fanny Blandy? Sie hisste am hauseigenen Signalmast des Blandy-Anwesens ihr „Ja!“ Binnen einem Monat fand die Hochzeit statt, die Brautleute kehrten auf Kelvins schottischen Landsitz zurück und lebten glücklich und zufrieden auf Netherhall in Largs am Firth of Clyde. Während die Reichen und Berühmten nach Madeira strömten, sagten immer mehr gebürtige Madeirer ihrer Insel Lebewohl. Die einheimische Gesellschaft war schon lange gespalten gewesen, denn die Schere zwischen Arm und Reich klaffte weit auseinander. Die landbesitzenden grandes lebten in Saus und Braus auf ihren quintas oben auf dem Fels; sie kontrollierten die Justiz, die Ordnungskräfte, die Kirche und das Wirtschaftsleben. Die Pachtbauern, die auf ihren Besitzungen schufteten, mussten nicht selten die Hälfte ihres Einkommens an den Grundherrn abtreten, erhielten kaum eine Bildung oder Möglichkeiten zum sozialen Aufstieg, sondern leisteten landwirtschaftliche Schwerstarbeit von der Wiege bis zur Bahre. Ihnen winkte jedoch stets die Möglichkeit, auf einem der Schiffe, die Madeira verließen, eine einfache Fahrkarte zu lösen und ihr Glück in der Fremde zu suchen. Bereits zu Anfang des 20.  Jahrhunderts lebten mehr Madeirer im Ausland  – in Brasilien, Venezuela und Südafrika  – als auf Madeira. Im Jahr 1893 wurde in Funchal eine Seilbahn eröffnet, die Besucher den Monte hinauf bis in die Nähe der Blandy-Villa an der Levada de Santa Luzia fuhr. 1912 wurde die Strecke erweitert und führte nun bis zum Terreiro da Luta nahe der Kirche Nossa Senhora do Monte. Heutzutage fährt man in eleganten Kabinen hinauf und isst dann in einem der örtlichen Restaurants zu Mittag. Was den Rückweg nach unten betrifft, hat man die Wahl: Entweder man entscheidet sich für eine haarsträubend-rasante Fahrt mit dem Korbschlitten, den je zwei kräftige Männer mit kreisrunden Strohhüten hinter dem Rücken der Fahrgäste gekonnt bergab steuern; oder man gibt einem gemächlichen Spaziergang durch den prachtvollen Botanischen Garten von Madeira den Vorzug – so kommt man auch hinunter, langsamer, aber auch entspannter. „Beten und Blüten“ wäre insgesamt ein schönes Motto für diesen Ausflug. Im November 1921 kam an Bord eines Kreuzers der britischen Royal Navy der ins Exil gedrängte frühere Kaiser von Österreich und einstige König von Ungarn, Karl von Habsburg (1887–1922), nach Madeira. Begleitet wurde er von seiner Frau, Zita, und sieben gemeinsamen Kindern. Als Nachfolger seines Großonkels Franz Joseph war Karl  I.  – in Ungarn: 746

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Karl IV. – ein politisches Opfer des Ersten Weltkriegs; gerade einmal zwei Jahre lang hatte er regiert. Er dankte niemals offiziell ab, sondern verzichtete lediglich auf „jeden Anteil an den Staatsgeschäften“. Aber dann wurde er rücksichtslos von der Regierung ausgeschlossen, zuerst 1918 in der jungen Republik Österreich, dann in den Jahren 1919/20 auch von den diversen Machthabern im Ungarn der Nachkriegszeit. Geschwächt und gesundheitlich angeschlagen nahm Karl das endgültige Exil mit Gleichmut auf sich. Am 1.  April 1922 starb er auf Madeira an einer Lungenentzündung und wurde in einer Seitenkapelle der Kirche Nossa Senhora do Monte zur letzten Ruhe gebettet.32 Seit seinem Tod ist der Ruf „Karls von Österreich“ als eines friedfertigen und zutiefst bescheidenen Menschen beständig angewachsen. Sein tragisches Los traf auf Madeira offenbar einen Nerv, hatte man dort doch erst wenige Jahre zuvor den Sturz des „patriotischen und katholischen“ Königs Manuel  II. verwinden müssen. Die Verehrung, die Karl von Habsburg zuteilwurde, ging bald über Madeira hinaus und erregte internationale Aufmerksamkeit. Sie wurde noch verstärkt durch zwei Ehrungen aus Rom: 2003 wurde er von Papst Johannes Paul  II. zum „Ehrwürdigen Diener ­Gottes“ ernannt, 2004 dann seliggesprochen. In seiner Predigt während des Seligsprechungsgottesdienstes betonte der Papst die christlichen Tugenden des verstorbenen Kaisers: Die entscheidende Aufgabe des Christen besteht darin, in allem Gottes Willen zu suchen, zu erkennen und danach zu handeln. Dieser täglichen Herausforderung stellte sich der Staatsmann und Christ Karl aus dem Hause Österreich. Er war ein Freund des Friedens. In seinen Augen war der Krieg ‚etwas Entsetzliches‘. Mitten in den Stürmen des Ersten Weltkriegs an die Regierung gelangt, versuchte er, die Friedensinitiative meines Vorgängers Benedikt XV. aufzugreifen.33

Manche sehen in dem Seligsprecher des Kaisers Karl als Beato Carlos da Áustria nur „den polnischen Papst“; andere wissen, dass er früher einmal Karol Wojtyła war, geboren als Sohn eines der letzten treuen Unteroffiziere des letzten Kaisers, des k. u. k. Feldwebels Karol Wojtyła senior, der seinen kleinen Sohn nicht etwa nach sich selbst, sondern nach seinem vormaligen Oberbefehlshaber taufen ließ. Einer der Nachteile, die das Wachstum eines modernen Tourismus auf Madeira lange Zeit gehemmt haben, war das Fehlen einer Küstenebene und 747

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damit eines geeigneten Standortes für einen Flughafen. Dieses Problem wurde 1960 zumindest teilweise gelöst, indem man bei Santa Cruz im Osten der Insel einen Flugplatz baute, für den eine bestehende Landepiste erweitert werden konnte. Hierzu musste jedoch ein ganzes Stück Land künstlich aufgeschüttet werden: Auf ins Meer getriebenen Pfählen entstand der neue Flugplatz.34 Dennoch kann die Landung auf Madeira noch immer eine nervenaufreibende Angelegenheit sein  – für Piloten wie Passagiere gleichermaßen. Wenn das Flugzeug in den Landeanflug übergeht, hat man irgendwann das Gefühl, die Spitzen der Tragflächen müssten jeden Moment gegen die Klippen stoßen, an deren Fuß der Flughafen erbaut wurde. So haben Fluggäste wohl schon seit Jahrzehnten empfunden. Wenn man nach Verlassen des Flugzeugs endlich wieder festen Boden unter den Füßen hat, ist die Erleichterung groß. Das Fehlen eines regulären Flughafens auf Madeira führte vor 1960  – genauer gesagt: von 1948 bis 1958 – zu einer der abenteuerlichsten Episoden in der Geschichte der kommerziellen Luftfahrt. In jenen Jahren führte nämlich die Fluglinie Aquila Airways eine Flugboot-Linie vom südenglischen Southampton nach Funchal auf Madeira (und manchmal auch auf die Kanarischen Inseln). Die Flüge mit ihren Maschinen vom Typ Short Sunderland müssen der Fahrt in einer Achterbahn oder einer Raumkapsel geähnelt haben – in etwa so, als hätte man der Crew der Curtiss NC-4 während ihres achtstündigen Höllenritts reichlich Champagner serviert, auf dass die Sache ein wenig erträglicher werde. Wenn man vor dem Start seinen Platz in der Passagierkabine einnahm, befand man sich unter dem Meeresspiegel und sah durch die Luke nur das trübe Wasser des Ärmelkanals. Dann wurde man mit einem lautstarken Dröhnen in die Luft katapultiert und über Stunden mit jeder nur denkbaren Annehmlichkeit, mit erlesenen Speisen und Getränken verwöhnt und verhätschelt, bis man schließlich in der Bucht von Funchal ins Wasser klatschte und in einem Kahn an Land gebracht wurde. Ganze 87 Pfund Sterling kostete der Spaß – für eine Strecke; das entspricht einem heutigen Gegenwert von etwa 1000  Pfund. Die Linie wurde eingestellt, nachdem eines der Flugboote, G-AKNU, während des Starts beschädigt worden und auf der Isle of Wight in eine Kreidegrube stürzte. Fünfundvierzig Menschen kamen damals ums Leben.35 Zwangsläufig taucht in einer der vielen turbulenten Geschichten, die sich um den Flugbootverkehr zwischen England und Madeira ranken, auch Winston Churchill auf. Im Winter 1950/51, während seines letzten Aufenthalts auf der Insel, erfuhr Sir Winston aus den Nachrichten, dass in Großbritannien eine vorgezogene Neuwahl stattfinden sollte, bei der er selbst 748

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als Oppositionsführer gute Chancen hatte, noch einmal als Premierminister nach 10 Downing Street zurückzukehren. Also brach er in aller Eile mit dem nächsten Flugboot in die Heimat auf – ohne darüber jedoch, wie es scheint, die Gelegenheit zu einem typisch Churchill’schen Abschiedstusch zu versäumen. Man erzählt sich, dass Sir Winston, kurz bevor er seine lieb gewonnene Insel für immer verlassen musste, jene Flasche Madeirawein angeboten worden sei, die Napoleon einst abgelehnt hatte – woraufhin er sie kurzerhand leer trank, nach London zurückkehrte und tatsächlich zum zweiten Mal Premierminister wurde.36 Madeira bezaubert vor allem durch seine Blütenpracht. Hibiskus, Bougainvillea, Akazien und Oleander, Passions- und Sonnenblumen, Engelstrompeten, Aronstäbe und Weihnachtssterne sowie wilde Orchideen blühen allerorten in Hülle und Fülle, oftmals an den unwahrscheinlichsten Stellen, in Felsspalten und -ritzen, an Klippen und in Schründen. Und wie könnte ich bei einer solchen Aufzählung das strahlendblaue Echium candicans vergessen, den „Stolz von Madeira“?37 Wer einen Spaziergang entlang des blütenübersäten Küstenpfades auf den Kippen zwischen Funchal und dem Lieblingsort der Churchills, Câmara de Lobos, unternimmt und sich dabei vom Gesang der Brandung betören lässt, der wird an Leib und Seele erquickt werden, und mag er zuvor noch so erschöpft und ausgelaugt gewesen sein. Die bloße Erinnerung daran reicht aus, um einen müden Autor munter zu machen, der sich langsam dem Ende nähert – dem Ende seiner Reise und dem Ende dieses Buches. Den Seefahrern der Renaissance war bekannt, dass die Erde eine Kugel ist, die vom Äquator in eine Nord- und eine Südhalbkugel zerteilt wird. Die Arbeiten des griechischen Geografen und Mathematikers Eratosthenes, der im 3. Jahrhundert v. Chr. den Erdumfang schon relativ genau berechnet hatte, waren von arabischen Gelehrten bewahrt worden und lagen im Europa der Frühen Neuzeit in rückübersetzter Form vor.38 Bereits die Weltkarte des Claudius Ptolemäus aus dem 2.  Jahrhundert unserer Zeitrechnung, die im 15. Jahrhundert weite Verbreitung fand, weist ein Raster aus Längen- und Breitenlinien auf.39 Bereits im 14.  Jahrhundert hatte Dante Alighieri sich seinen Läuterungsberg als eine Insel im südlichen Ozean vorgestellt, weit jenseits des Äquators. Dante war sich bei der Schilderung seiner fiktionalen Reise sogar bewusst, dass die Mittagssonne nach dem Aufstieg aus dem Erdinneren an das Licht der südlichen Hemisphäre im Norden am Himmel stehen musste.40 749

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Mit diesem Grundwissen bewaffnet, stießen die Portugiesen auch jenseits von Madeira immer weiter nach Süden vor. Im Jahr 1443 erreichten sie bei 20 Grad nördlicher Breite die Insel Arguin vor der Küste Mauretaniens und errichteten dort einen Handelsposten. 1456 kamen sie bis auf die Kapverden, bei 15 Grad nördlicher Breite; ihr dortiger Stützpunkt sollte später zu einem wichtigen Umschlagplatz des portugiesischen Sklavenhandels werden. In den 1460er-Jahren ließ, nachdem Heinrich der Seefahrer gestorben war, das portugiesische Interesse an weiteren Entdeckungen merklich nach; erst nach etlichen Jahren taten sich einige Kaufleute, die an das zuvor Erreichte anknüpfen wollten, zur Gründung einer „Guinea-Kompanie“ zusammen. Schließlich segelte 1473/74 einer der Kapitäne dieser Kompanie, Lopes Gonçalves, bis an das nach ihm benannte Kap – Kap Lopez – im heutigen Gabun und weiter bis zum Kap Santa Catharina im heutigen Angola, das bereits auf 2 Grad südlicher Breite liegt. Damit war Lopes Gonçalves der erste Europäer überhaupt, vom dem eine Äquatorüberquerung bekannt ist.41 Zu jener Zeit wusste niemand in Europa, was am westlichen Ufer des Atlantiks wartete; keiner hatte die Inseln der Karibik besucht, die Südspitze Afrikas umrundet oder war mit dem Schiff von Europa nach Indien oder China gefahren. Falsche Vorstellungen bezüglich der Länge des Äquators – die unter anderem durch die Schrift Imago Mundi (1410) des Kardinals Pierre d’Ailly verbreitet wurden  – verstärkten noch den Irrglauben, China und „Indien“ lägen irgendwo im Westen, nicht allzu weit entfernt von der europäischen Atlantikküste.42 Im 15.  Jahrhundert, als die Renaissance gerade zu ihrer Blüte ansetzte, gehörte die Beobachtung der Gestirne noch ganz selbstverständlich zum Handwerk der Seeschifffahrt. Zwar waren sie auf das beschränkt, was sie mit bloßem Auge erkennen konnten; aber dennoch standen die Seeleute der damaligen Zeit Abend für Abend auf den schwankenden Decks ihrer kleinen Schiffe und verfolgten gebannt  – und allein schon im Interesse der Selbsterhaltung – den Lauf von Sonne, Mond und Sternen. Die fünf „klassischen“, ohne Hilfsmittel sichtbaren Planeten – Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn – waren ihnen wohlvertraut, dazu die wesentlichen Sternbilder der Nordhalbkugel sowie die hellsten unter den Einzelsternen, wie etwa der Sirius oder „Hundsstern“, der Canopus (nach Homer auch „spartanischer Steuermann“ genannt) oder der Polarstern („Nordstern“). Die europäischchristlichen Gelehrten der Zeit konnten sich auf dem Gebiet der Astronomie zwar nicht ganz mit ihren arabisch-islamischen Pendants messen, betrieben diese „älteste der Naturwissenschaften“ aber dennoch mit Hingabe. Fürs Erste waren sie ganz damit beschäftigt, die Entdeckungen der 750

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antiken Astronomen – ganz im Sinne der Renaissance – wiederzuent­decken. In der zentralen Frage nach der strukturellen Dynamik unseres Universums hielt die Mehrheit der Astronomen es noch immer mit Aristoteles und dessen geozentrischem Weltbild, obwohl auch das heliozentrische Modell des Aristarchos von Samos (um 310–230 v. Chr.) nicht unbekannt war und schließlich auch den jungen Nikolaus Kopernikus (1473–1543) in seinen Bann schlagen sollte. Mehr als 3500 Kilometer von Madeira entfernt, in der polnischen Stadt Thorn (Toruń), war Kopernikus in demselben Jahr geboren worden, in dem Lopes Gonçalves den Anker gelichtet hatte. Das war also der Stand der Dinge, als Diogo Cão (um 1452–1486) zu ­seinen zwei Entdeckungsreisen aufbrach, die ihn noch weiter nach Süden führen sollten. Cão, der aus Vila Real im Tal des Douro stammte – dem Kernland des Portweinanbaus –, hatte die Unterstützung des jungen Königs Johann II. (genannt o Principe Perfeito, „der vollkommene Fürst“) gewinnen können. 1482 brach er auf, um über die Mündung des Kongo hinaus nach Süden zu segeln. Auf dieser Reise tat er zum ersten Mal etwas, das ihm später zur Gewohnheit werden sollte: Er setzte einen padrão oder „Musterstein“ mit dem Wappen Portugals am äußersten Punkt seiner Entdeckungsfahrt. 1484, auf seiner zweiten Fahrt, überbot Cão dieses erste Extrem und setzte eine weitere Wappensäule, diesmal in der Nähe der heutigen Stadt Matadi, die an der Grenze zwischen Angola und der Demokratischen Republik Kongo liegt. Dann segelte er weiter bis zum Kreuzkap im heutigen Namibia. Hier befanden sich Cão und seine Männer bei 22 Grad südlicher Breite, nahe dem Wendekreis des Steinbocks und am südlichsten Punkt, den jemals Europäer erreicht hatten. Das Kreuz des Südens, nach dem das Kreuzkap benannt wurde, ist ein Sternbild, das kein europäisches Auge zuvor gesehen haben konnte. Als die frommen Portugiesen es erblickten, sahen sie darin ein göttliches Zeichen und eine Bestätigung ihres christlichen Glaubens. Und doch strahlten auch Sirius und Canopus hell, ja es waren sogar noch seltsamere Dinge am Himmel zu entdecken: Zum einen stand die helle Sichel des zunehmenden Mondes linksherum am Himmel, nicht rechtsherum, wie sie auf Madeira erschienen war. Und der Vollmond? Stand auf dem Kopf! Aber am seltsamsten von allem war das Folgende: Das Sternbild Orion, der Jäger, stand ebenfalls kopf; sein Gürtel und sein Schwert sahen nun eher aus wie eine große Bratpfanne. Der Orion, der am Nachthimmel direkt über dem Äquator steht, ist eines jener Sternbilder, die von beiden Erdhalbkugeln, nördlich wie südlich des Äquators, gleichermaßen zu sehen sind. Seine vertraute Erscheinung über 751

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Portugal – zwischen 42 und 32 Grad nördlicher Breite – hielten die damaligen Seefahrer wahrscheinlich für fest und unveränderbar. Aber mit jedem Breitengrad, um den Diogo Cão nach Süden vorstieß, muss der „Himmelsjäger“ sich langsam geneigt haben, als ob er in Zeitlupe ein gewaltiges Rad schlagen wollte. Jeden Abend konnten die Matrosen ihn wohl in einer etwas anderen Position beobachten, bis er dann am Kreuzkap buchstäblich auf dem Kopf stand. Die beiden hellen Sterne Alpha Orionis (Beteigeuze) und Beta Orionis (Rigel), die von der Nordhalbkugel aus die Schultern des großen Jägers zu bilden scheinen, erscheinen im Süden unter ihm.43 Das dürfte selbst den erfahrensten „Sternguckern“ an Bord einiges Kopfzerbrechen bereitet haben. Alle vier von Diogo Cão gesetzten padrões haben die Zeitläufte überlebt. Der am Kreuzkap aufgestellte – im Norden des heutigen Namibia – wurde 1893 von einem deutschen Kapitän aus der damaligen deutschen Kolonie Südwestafrika abtransportiert und nach Berlin gebracht, wo er sich bis 2019 im Deutschen Historischen Museum befand. Inzwischen ist die Säule an Namibia zurückgegeben worden und soll dort an einem geeigneten Ort aufgestellt werden. Am Kreuzkap selbst steht heute eine Nachbildung des Originals und seiner Inschrift: Im Jahre 6685 nach der Erschaffung der Welt und 1485 nach Christi Geburt hat der hochweise und weitsichtige König Johann von Portugal seinem Ritter Diogo Cão befohlen, dies Land zu entdecken und hier diesen Markstein zu setzen.44

Die Botschaft des padrão findet ein fernes Echo in den ersten Zeilen eines der bekanntesten portugiesischen Gedichte des 20. Jahrhunderts, Padrão von Fernando Pessoa: O esforço é grande e o homem é pequeno. Eu, Diogo Cão, navegador, deixei Este padrão ao pé do areal moreno. E para diante naveguei.

Groß ist die Mühe, und der Mensch ist klein. Ich, Diogo Cão, Seefahrer, hinterließ Am dunklen Strande diesen Stein, Bevor ich weiter vorwärts stieß …45 752

Widersinnig oder doch im Sonnensinn?

Wovon wir  – leider  – keine Aufzeichnungen haben, sind die Reaktionen Cãos und seiner Mannschaft auf den anscheinend veränderten Lauf der Sonne. Auf Höhe des Äquators müssen sie die Sonne genau über sich gesehen haben, und Tage wie Nächte waren gleich lang. Allmähliche Veränderungen waren wohl nur schwer festzustellen. Aber sobald sie sich dem Südlichen Wendekreis, dem Wendekreis des Steinbocks, näherten, dürfte sich ihnen irgendwann das typische Himmelsbild der Südhalbkugel dargeboten haben: Die Sonne ging zwar jeden Tag im Osten auf und im Westen unter – aber mittags stand sie im Norden! Sie wanderte nicht von links nach rechts über den Himmel, sondern von rechts nach links. Zum ersten Mal in der Geschichte erlebten Europäer eine Bewegung „im Sonnensinn“ – denn es war ja schließlich die Sonne, die da wanderte! –, die aber dennoch mit der traditionellen Bedeutung dieser Formulierung nichts mehr zu tun hatte. Für Diogo Cão und seine Leute muss no sentido do sol sich mit einem Mal in no sentido contrario ao sol verwandelt haben. Der Sonnensinn selbst war widersinnig geworden. Man wird wohl vermuten dürfen, dass dieses Phänomen bei seiner ersten Beobachtung auf ungläubiges Staunen, ja sogar auf Bestürzung gestoßen ist. Vielleicht war es fast so befremdlich wie mein jüngster Besuch in Cambridge. Als ein lebenslänglicher Petrean, der ich bei meiner Ernennung im Kerzenschein dem Rektor von Peterhouse die lateinische Eides­ formel nachgesprochen und geschworen hatte, die Statuten dieses Colleges auf ewig in Ehren zu halten, war es mir natürlich eine große Freude, einmal wieder am High Table des winzigen, eichengetäfelten Speisesaals Platz zu nehmen. Aber dann jagte ein Schock den nächsten. Nicht nur hatten die Herren Professoren gerade erstmals eine Frau zum Rektor gewählt – falls das grammatikalisch überhaupt geht? –, sondern sie hatten beim Dessert doch tatsächlich den altehrwürdigen Madeira abgeschafft. O tempora! O  mores! Skullion jedenfalls muss sich im Grab umdrehen  – und zwar withershins …

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14. FRA: Boarden, Fliegen, Abstürzen, Verschwinden und Landen

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14. FRA

Wenn man vorhat, um die Welt zu fliegen, gibt es schlechtere Ausgangspunkte als Frankfurt am Main. Schließlich führt der „Rhein-Main-Flughafen“ (offiziell Frankfurt Airport) mehr Flugziele auf als jeder andere F ­ lughafen auf der Welt – wenn auch die Passagierzahlen ein wenig unter den Werten seiner größten internationalen Konkurrenten liegen. Der Flug­hafen Frankfurt ist die Heimatbasis der Lufthansa, die eines der wichtigsten Mitglieder des weltweiten Star-Alliance-Netzwerks von Fluggesellschaften ist – und von der Star Alliance war eben das „Round-the-World-Ticket“, mit dem ich mir eine Route um den Globus zusammengestellt hatte. Wenn der Kalauer erlaubt ist: In Frankfurt liegt das Fliegen gewissermaßen in der Luft – die ganze Atmosphäre in dieser Stadt ist geprägt von der Luftfahrt, von Flugzeugen, Flugzeugbesatzungen und Fluggesellschaften.1 Das Land Hessen, dessen größte Stadt Frankfurt ist, ist so deutsch wie jeder andere Fleck von Deutschland auch. Sein Name und seine historische Identität gehen auf den germanischen Stamm der Chatten (lateinisch Chatti) zurück, die im 1. Jahrhundert v. Chr. auf dem Gebiet des heutigen Nord- und Mittelhessen siedelten. Über die folgenden tausend Jahre hinweg waren die frühen Hessen zwischen ihren Nachbarn, den Franken und den Sachsen, gleichsam eingeklemmt und bildeten darüber eine ethnisch homogene Bevölkerung aus; bis zur Ankunft der ersten türkischen Gastarbeiter in den 1960er-Jahren gab es keine signifikanten Zuwanderungsbewegungen mehr. Im Verlauf des Mittelalters konnten die Landgrafen von Hessen in diversen Linien ihre Stellung innerhalb des Heiligen Römischen Reiches immer weiter festigen, bis einer von ihnen – der Landgraf Wilhelm IX. von Hessen-Kassel – im Jahr 1803 als Wilhelm I. zum Kurfürsten aufstieg. Im selben Jahr – und nach dem kurzen Zwischenspiel der napoleonischen Zeit auch endgültig  – wurde der vormalige Landgraf Ludwig  X. von HessenDarmstadt als Ludwig I. Großherzog eines unabhängigen Staates mit Regierungssitz in Darmstadt, während „Kurhessen“ – das Kurfürstentum Hessen-Kassel  – 1866 von Preußen annektiert wurde. Der volle Name des Großherzogtums Hessen lautete übrigens „Großherzogtum Hessen und bei Rhein“ – wenn das mal kein Paradebeispiel für die deutsche Liebe zu unnötig langen und aufgeblasenen Amts- und Würdenbezeichnungen ist!2 Während eines Großteils ihrer Geschichte war die Stadt Frankfurt bemüht, sich zumindest eine gewisse Unabhängigkeit von den sie umgebenden hessischen Territorien zu bewahren. Die Siedlung an der „Furt der Franken“ wurde 794 erstmals erwähnt, als Karl der Große bereits König, aber noch nicht Kaiser war. Im Jahr 1240 erhielt Frankfurt vom Stauferkaiser Friedrich  II. das wertvolle Privileg, jedes Jahr im Herbst eine große 756

Boarden, Fliegen, Abstürzen, Verschwinden und Landen

Handelsmesse abzuhalten. Im Jahr 1372 wurde Frankfurt – das sich bereits seit 1220 selbst verwaltete – eine Freie Reichsstadt des Heiligen Römischen Reiches; 1558 bis 1792 fanden dort auch die Kaiserkrönungen statt. Die Geburtsstadt Goethes wurde zu einem Zentrum der Aufklärung und des liberalen Denkens, woraus als späte Blüte die 1914 gegründete und heute überaus angesehene Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main hervorging. 1848 war die Stadt der Mittelpunkt der letztlich gescheiterten „Märzrevolution“ und beherbergte in der Frankfurter Paulskirche eine Nationalversammlung, das erste gesamtdeutsche Parlament. Im Jahr 1866 wurde die Freie Stadt Frankfurt jedoch vom Königreich Preußen annektiert und als deren größte Stadt in die preußische Provinz HessenNassau eingegliedert. Danach spielte Frankfurt am Main in der Politik und dem Wirtschaftsleben eines geeinten Deutschland – im Deutschen Kaiserreich, der Weimarer Republik, dem „Dritten Reich“ und schließlich in der Bundesrepublik – stets eine herausragende Rolle.3 Der dichte, beinahe undurchdringliche Wald, in den der Frankfurter Flughafen hineingebaut wurde, ist von den Fensterplätzen der landenden Maschinen aus bestens zu sehen. Vor dem Bau des Flughafens hatte er lange Zeit unberührt gelegen. Einst war er ein kaiserliches Jagdrevier, wurde jedoch 1221 von Kaiser Friedrich II. mitsamt den dazugehörigen Jagdrechten dem Deutschen Orden übertragen, der ihn 1484 an die Stadt Frankfurt verkaufte, wodurch er zum Frankfurter Stadtwald wurde. Einst erstreckte dieser Wald sich bis an das südliche Mainufer gegenüber der Frankfurter Altstadt; heute sind von ihm immerhin noch eindrucksvolle 5785 Hektar übrig geblieben, was ihn zu einem der größten Stadtwälder Deutschlands macht. Auf allen Seiten umgibt dieses grüne Meer den Frankfurter Flughafen. Gebaut wurde dieser heutige Flughafen in den Jahren 1933 bis 1936 als ein frühes Vorzeigeprojekt des gerade angebrochenen „Dritten Reiches“. Er ersetzte den ersten Flughafen der Stadt, der 1912 als „Luftschiffhafen am Rebstock“ eröffnet worden war. Bis 1924 hatte dort, auf dem Rebstock­ gelände in Frankfurt-Bockenheim, auch die erste Fluggesellschaft der Welt ihren Sitz gehabt, die „Deutsche Luftschiffahrts-Aktiengesellschaft“ (DELAG). Der Neubau im Süden der Stadt, zu dem auch zwei Abschnitte der heutigen Bundesautobahnen 3 und 5 gehörten, die sich an der nordöstlichen Ecke des Flughafengeländes in dem gigantischen Verkehrsknotenpunkt des Frankfurter Kreuzes schneiden, war zwar bereits 1930 geplant worden, begann jedoch erst, nachdem im Zuge der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ jegliche bürokratischen und finanziellen Hindernisse rabiat beseitigt worden waren – der Baubeginn erfolgte ohne behördliche 757

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Genehmigung. Den ersten Spatenstich für den Autobahnabschnitt zwischen Frankfurt und Mannheim führte am 23. September 1933 Adolf Hitler persönlich aus. Im Mai 1935 war dann der 23 Kilometer lange Streckenabschnitt von Frankfurt nach Darmstadt fertiggestellt. Am 8. Juli 1936 wurde der „Flug- und Luftschiffhafen Rhein-Main“ feierlich eröffnet.4 Bis zur ­Hindenburg-Katastrophe im Mai des folgenden Jahres diente er als Heimatbasis nicht nur der Deutschen Lufthansa, sondern auch für die größten Luftschiffe der Welt: den Graf Zeppelin (LZ  127), den Graf Zeppelin  II (LZ 130) sowie die Hindenburg (LZ 129) selbst.5 Die Lufthansa  – ursprünglich die „Deutsche Luft Hansa  A.  G.“  – war 1926, während der Weimarer Republik, als die staatliche Fluggesellschaft des Deutschen Reiches gegründet worden; nach dem Übergang zum „Dritten Reich“ wurde ihr Name in „Deutsche Lufthansa“ geändert.6 Es gab nicht vieles, das dem Nazi-Regime wichtiger gewesen wäre als der zügige Ausbau der deutschen Kommunikationsnetze und Verkehrswege. Das Streckennetz der Reichsautobahnen  – in der Nazipropaganda galten sie als „die Straßen Adolf Hitlers“ oder „Straßen des Führers“ – wuchs zwischen 1933 und 1939 auf eine Gesamtlänge von beinahe 9000 Kilometern an. 1941 wurden sogar Pläne gewälzt, sie bis nach Kiew und Athen zu erweitern. Die Deutsche Reichsbahn übernahm zahlreiche andere staatliche Eisenbahnunternehmen überall im deutsch besetzten Europa, von Österreich und der Tschechoslowakei bis nach Polen, Jugoslawien, Griechenland und in Teile der UdSSR hinein. Und auch die Lufthansa, die wichtigste zivile Fluggesellschaft des „Dritten Reiches“ baute sowohl ihre internationalen Routen als auch ihre führende Rolle im wachsenden „Lebensraum“ des deutschen Volkes immer weiter aus. Als die Ära der Luftschiffe und Flugboote schon langsam zu Ende ging, führte die Lufthansa von 1934 bis 1939 regelmäßige Postflüge von Deutschland nach Brasilien durch, mit Zwischenstopps in Spanien, auf den Kanarischen Inseln und in Gambia. Im Jahr 1938 gelang einer Focke-Wulf Fw 200 „Condor“ als erstem Flugzeug überhaupt ein Nonstop-Flug von Deutschland nach New York. Als nach dem Zweiten Weltkrieg der internationale Luftverkehr neu organisiert wurde und die Verwaltungsbeamten über den Plänen für die zweite große Erweiterung des Frankfurter Flughafens saßen, teilte die International Air Transport Association (IATA) dem Rhein-Main-Flughafen das Dreibuchstaben-Kürzel „FRA“ zu. Vor Ort in Frankfurt sah man sich nach einem geeigneten Bauplatz für ein Flughafenhotel nach internationalem Standard um, das zum Aushängeschild der Flughafenerweiterung werden sollte. So wurden die Verantwortlichen schließlich auf das 758

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„Waldrestaurant“ aufmerksam, das in einem schon etwas heruntergekommenen Forsthaus aus dem 18. Jahrhundert nur wenige Hundert Meter vom nördlichen Rand des Flughafengeländes entfernt gelegen war, und man beschloss, das altehrwürdige Gasthaus kurzerhand in einen neu errichteten Hotelkomplex zu integrieren. Die Konzession für das neue Flughafenhotel ging an die Steigenberger-Gruppe, ein Frankfurter Familienunternehmen mit gehoben-internationaler Ausstrahlung, das der Hotelier Albert Steigenberger (1889–1958) noch vor dem Krieg gegründet und nach 1945 – teils buchstäblich aus Ruinen heraus – wiederaufgebaut hatte. Als traditionsreiche Frankfurter Firma war Steigenberger die buchstäblich nächstliegende Wahl zur Rettung des Waldrestaurants und für den Betrieb des neuen Flughafenhotels, das als „Steigenberger Airport Hotel“ am 9. Mai 1969 seine Türen öffnete.7 Das Ergebnis war ein architektonisches Konglomerat, das man wohl „außerordentlich eklektisch“ nennen muss. Auf der einen Seite ragen die beiden Flügel des damals hochmodernen Steigenberger Airport Hotel mit ihrem guten Dutzend Stockwerke in die Höhe. Auf der anderen Seite befindet sich ein mehrstöckiges, ebenfalls ziemlich hohes Parkhaus, das nicht nur mit horizontalen Aluminiumblechen verkleidet ist, sondern zudem – schließlich befinden wir uns ja im Wald – mit langen vertikalen Elementen aus schwarzem Kunststoff, auf die Fotos von saftig grünem Laub gedruckt sind. Und genau in der Mitte zwischen ihnen – umgeben von einer Gruppe uralter Eichen  – steht das betagte Forsthaus mit seinem Waldrestaurant, denn das gibt es heute immer noch. Eher selten lassen Flughafenhotels das Herz des Reisenden höher schlagen. Ihre Aufgabe ist es, ohne unnötigen Schnickschnack einen kurzen Aufenthalt so angenehm und so zweckmäßig wie möglich zu machen. Mit ihren Konferenzräumen und Vortragssälen richten sie sich zudem an jene ziemlich spezielle Kategorie von Geschäftsleuten, die sich nur auf Flughäfen treffen. Für all diese Zwecke ist ein guter Shuttle-Service zwischen dem Hotel und den Flughafenterminals entscheidend. Das Steigenberger am Frankfurter Flughafen unterhält zwei geräumige Shuttlebusse, die zwischen der ersten Landung um 5 Uhr morgens und dem letzten Start um 11 Uhr abends ununterbrochen im Einsatz sind. Ganz am Anfang meiner Reise um die Welt hat mich die Suche nach dem Shuttlebus von FRA zu meinem Hotel mehr Nerven gekostet als fast alles andere, was ich danach auf zwei Dutzend anderen internationalen Flughäfen noch erlebt habe. Am Vorabend des ersten „richtigen“ (Lang­ strecken-)Fluges unserer Reise kam ich, aus Krakau kommend, wo ich mit 759

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meiner Familie lebe, in Frankfurt an. Ich betrat die große Halle meines Ankunftsterminals  – und fand mich unversehens in der Folterkammer eines sensorischen Dauerbombardements wieder. Schon der sogenannte „Treffpunkt“ in der Ankunftshalle ist ein höllischer Ort, voll Lärm und Durcheinander. Hunderte von Menschen hasten durch die Gegend, stoßen andere beiseite und stolpern über achtlos hinterhergezogene Rollkoffer. Weitere Hundertschaften starren mir angestrengt ins Gesicht, wohl weil sie feststellen wollen, ob ich nicht womöglich jener wichtige Geschäftspartner oder lange verschollene Großonkel sein könnte, auf den sie nun schon so lange warten. In allen Ecken blitzen und strahlen gleißende Lichter. Dutzende Schilder mit Beschriftungen in allen denkbaren Sprachen dieser Erde werden unkoordiniert durcheinandergeschwenkt. Unverständliche Botschaften plärren ohne Unterlass aus den Lautsprechern an der Decke und werden auch dadurch nicht verständlicher, dass sie in mehreren Sprachen wiederholt werden. Wie soll man denn in diesem Tumult die zarten Stimmchen hören, mit denen einige Automaten-Lautsprecher an der Wand uns Ankömmlinge in Richtung Shuttlebus lotsen wollen? Draußen, in der riesigen Höhle einer vollkommen verwirrenden und – im mehrfachen Wortsinn – unterirdischen Abholzone, warten neue Zumutungen für Auge, Ohr und Nase. Der Gestank der Dieselabgase vermischt sich mit dem triumphierenden, heiseren Aufheulen jener Vehikel, die ihre Klienten bereits gefunden haben. Am Bordstein reiht sich eine endlose Schlange von Bussen, Taxis und Privatautos aneinander – wo soll man da zuerst nach dem „Steigenberger“ fragen? Von der Decke hängen völlig nichtssagende blaue Schilder mit der Aufschrift „A“, „B“ und „C“. Kleinbusse aller erdenklichen Hotelketten trudeln vorbei, am Steuer mensch­ liche Roboter, die stur geradeaus starren. Eine weitere kaum hörbare Automatikansage in einem weiteren Informationsterminal wird vom Plärren einer weiteren Lautsprecherdurchsage von der Decke übertönt. Ein junger Kerl sprintet die Fahrbahn entlang, schwingt sich geschmeidig über die Absperrung und nimmt die wenig aussichtsreiche Verfolgung eines Kleinbusses auf, der sich mit hoher Geschwindigkeit entfernt. War das jetzt der vom „Steigenberger“? Ein Passant rät mir: „Gehen Sie zu ‚A‘!“ Der nächste sagt: „Gehen Sie zu ‚C‘!“ Mit letzter Kraft schwanke ich auf den Taxistand zu und trete schließlich vom Gehsteig auf die Fahrbahn, um einen Fahrer zum Anhalten zu bewegen, der andernfalls keine Anstalten gemacht hätte, auch nur zu bremsen. Der Mann schleudert meine Koffer in den Kofferraum. Ich lasse mich auf den Rücksitz sacken. 760

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„Wohin?“, fragt er auf Deutsch und schaltet dabei schon in den zweiten Gang. „Das Steigenberger“, antworte ich. Er tritt hart auf die Bremse, bringt den Wagen mit einem Ruck zum Stehen und wirft die Arme in die Luft. „Nicht schon wieder!“, flucht er, garniert mit einer raschen Folge türkischer Kraftausdrücke. „Alle wollen immer ins Steigenberger, dabei lohnt sich das für mich überhaupt nicht. Das Steigenberger ist doch gleich um die Ecke“, lamentiert er. „Da können Sie hinlaufen. Wissen Sie nicht, dass es da einen Shuttlebus gibt?“ „Doch, weiß ich – aber den habe ich nicht gefunden“, sage ich, jetzt mit flehendem Unterton. „Hier sind zwanzig Dollar, bringen Sie mich nur raus hier.“ Das genügt, und ich werde nach „gleich um die Ecke“ gefahren. Das „Steigenberger“ hat mich dann wieder etwas beruhigt. Meine Buchung über eine polnische Online-Plattform hat tadellos funktioniert. Die Anmeldung an der Rezeption ist rasch erledigt, das Zimmer geräumig, die Klimaanlage unaufdringlich, die Schalldämmung effizient, die Dusche druckvoll, das Abendessen vom Zimmerservice noch warm, das Pils süffig, das Bett bequem und der Strom von Jumbojets, der vor meinem Fenster vorbeizieht, stetig. Es blieb mir genug Zeit für ein paar Bahnen im Hotelpool im neunten Stock und einen kurzen Abstecher auf die Terrasse mit den großen Panoramascheiben, von der man direkt auf das Rollfeld blickt. Und dann senkte sich auch schon die selige Ruhe der „nächtlichen Stille“ (wie es bei Hebbel heißt) über das Haus. Der Flug mit der Nummer LH630 sollte planmäßig um 9:15  Uhr in Frankfurt starten. Wenn man von dieser Uhrzeit zurückrechnete, ergab sich also ein Check-in um 7:15 Uhr, Abfahrt des Shuttlebusses um 6:30 Uhr (sicher ist sicher, ich musste ja auch noch das richtige Terminal finden), Frühstück um 5:30  Uhr, Weckanruf um 4:45  Uhr. Ich ließ also die Vorhänge offen und stellte jeden verfügbaren Wecker  – zur Sicherheit. Das hätte ich mir sparen können: Um exakt 30 Sekunden nach fünf verdunkelt sich das Hotelzimmerfenster, als der erste Jumbo des noch jungen Tages lautlos darüber hinweggleitet, um zur Landung überzugehen. Mit einem ordentlichen Stockschirm, denke ich, hätte ich ihn anstupsen können. Danach reißt die unermüdliche Prozession der fliegenden Monstermaschinen nicht mehr ab. Sobald sich der eine Flieger über dem Hotel befindet, segelt der nächste schon dicht über den Baumkronen des Frankfurter Stadtwaldes herbei, während die Lichter des übernächsten schon durch die fernen Wölkchen des Morgenhimmels blitzen. 761

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Sich so aus nächster Nähe die Unterseite riesiger Jets anzuschauen, fühlt sich ein wenig an wie eine Reise zurück in die Kindheit, als man unter dem Esstisch der Familie die Schuhe, Schnürsenkel, Strümpfe, Strumpfhosen, Röcke und Hosenbeine der speisenden Erwachsenen inspizieren konnte. Genau so konnte ich jetzt all die Teile am „Unterleib“ eines Flugzeugs begutachten, die sich der Aufmerksamkeit sonst entziehen. Mit aufgerichteten Nasen und nach unten abgesenktem Heck schwebten die Riesenvögel über mir, präsentierten mir dabei ihren ausgedehnten metallenen Unterbau und schienen fast ein wenig beleidigt darüber, dass sie nun in dieser wenig vorteilhaften Pose beäugt wurden. Die Triebwerke sahen überraschend klein aus und hingen an den Tragflächen, als ob sie sich für ihr wenig imposantes Erscheinungsbild noch rechtfertigen müssten. Sämtliche Landeklappen waren ausgefahren, was die dunkle Oberfläche noch vergrößerte. Die langen Streben des Fahrwerks endeten in riesigen Ballen aus sechs oder acht dicht gepackten Rädern, die hervorstehen wie die ausgestreckten Füße einer Gans im Landeanflug auf ihren Lieblingsteich. Die Cockpitfenster wirkten winzig und schlecht platziert, ermöglichten sie den Piloten doch einen freien Blick auf den Himmel, aber nur ein hilfloses Schielen auf den näherkommenden Erdboden. Der Strahl eines kräftigen Scheinwerfers, der an der Flugzeugnase angebracht ist, ging den Maschinen voraus, während sie leise stampften und gierten (wie man bei einem Schiff sagen würde), also unmerklich um ihre diversen Achsen schlingerten. Offenbar musste sie gegen den Morgenwind ankämpfen, um ihre Haltung zu bewahren. Wenn die Landung dann unausweichlich geworden war, wackelten manche kurz mit den Flügeln, als ob sie sich in ihr Schicksal fügten; andere fuhren – was mir jedes Mal einen Schrecken versetzte – ihr Fahrwerk erst im allerletzten Moment aus. Jede einzelne dieser Maschinen muss zwischen 100 und 300  Tonnen gewogen haben. Aber wenn man sie direkt von vorn oder von unten herbeischweben sah, schienen sie sich alle so dermaßen langsam zu bewegen, als ob sie jeden Moment in der Luft stehen bleiben würden – oder abstürzen. Diese furchterregende Vorstellung beschäftigt einen Flug-Weltenbummler in spe nicht gerade wenig, wie man sich denken mag; unwillkürlich begann ich, über die Geheimnisse des Fliegens und jene seltsamen, unsichtbaren Kräfte nachzudenken, durch die solche Kolosse aus Stahl scheinbar schwerelos werden. Wie würden die Deutschen dieses Gefühl tiefer Ehrfucht vor den Leistungen der modernen Luftfahrt wohl nennen? – Auftriebsbeiwertswirkungserstaunen vielleicht. Beim Check-out an der Rezeption fällt mir auf der Rechnung die Hoteladresse ins Auge. 762

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„Unterschweinstiege“, frage ich, „was heißt das?“ „Oh je“, seufzt die Hotelmitarbeiterin, „das kann man nicht übersetzen!“ Also versuche ich mich selbst an einer Übersetzung, während ich auf den Shuttlebus warte. Mein (falsches) Ergebnis: „Unter dem Schweinestall“. Komische Adresse für ein so nobles Flughafenhotel, denke ich. Die Geschichte der Luftfahrt oder „Aviatik“ ist weder so unkompliziert noch so kurz wie diese einfach oder modern wirkenden Bezeichnungen vermuten lassen  – und ganz gewiss hat sie nicht 1903 mit den Brüdern Wright begonnen.8 Schlägt man in einem Wörterbuch nach, dann bezeichnet Luftfahrt die „Fortbewegung des Menschen über der Erdoberfläche mit Hilfe von Luftfahrzeugen“. Im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm findet sich für „luftfahrt“ schon im 19. Jahrhundert der folgende Beleg in zwei Hexametern des Dichters Johann Heinrich Voss (1805): stört mir das schwesterchen nicht, das schon blauäugig umherkuckt, aber so müd ankam von des storchs mühseliger luftfahrt.

Auch bei dem berühmtesten Sohn der Stadt Frankfurt, Goethe, kommt das Wort bereits vor (die Rede ist dort freilich von der „Luftfahrt“ einer Montgolfière). Für die englische Sprache ist der Begriff aviation erstmals 1887 belegt.9 (Seinen Ursprung hat es in einer französischen Umschreibung der locomotion aérienne, deren Verwendung bis 1863 zurückverfolgt werden kann.)10 Dabei lag Voss mit der „mühseligen Luftfahrt“ seines Storchs gar nicht einmal falsch, denn die wörtliche Bedeutung von aviation, „Aviatik“ und verwandten Begriffen ist es, zu „fliegen wie ein Vogel“, vom lateinischen avis, „Vogel“. Damit ist klar, dass die Geschichte der Aviatik – im weiteren Sinne – sehr viel tiefer zurückreicht als bloß bis zu den ersten Flugzeugen. Schließlich begann das „Fliegen wie ein Vogel“ schon mit dem „Urvogel“ Archaeopteryx oder vielleicht mit seinem Verwandten, dem Aurornis, die beide in der Zeit des späten Jura vor etwa 160 bis 150 Millionen Jahren lebten; diese beiden sind die evolutionären Vorläufer aller heutigen Vögel. Die Geschichte des menschlichen Fluges fällt in eine ganz andere Kate­ gorie, und sie beginnt  – zumindest in theoretischer Hinsicht  – mit dem Mythos von Dädalus und Ikarus aus dem 2. Jahrtausend v. Chr. Soll von tatsächlichen, von Menschen bewusst gesteuerten Flugobjekten die Rede sein, dann wäre wohl die chinesische Erfindung des Lenkdrachens um 500 v. Chr. unser Ausgangspunkt. In Europa entwarf der mittelalterliche Gelehrte Roger Bacon schon dreihundert Jahre vor Leonardo da Vinci einen sogenannten „Ornithopter“ oder „Schwingflügler“  – ein Fluggerät, 763

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das den Flügelschlag der Vögel nachahmen sollte. Die ballonfahrenden Brüder Montgolfier aus Frankreich und ihre Mitstreiter leisteten Bahnbrechendes, als sie 1782 das erste flugfähige Luftfahrzeug vorstellten und im Jahr darauf den ersten bemannten Flug der Menschheitsgeschichte durchführten. Zu den englischen Flugpionieren zählte etwa der Oxforder Konditor James Sadler (1753–1828), dessen Ballon am 4.  Oktober 1784 von der Christ Church Meadow, einer großen Weide in der Nachbarschaft des gleichnamigen Colleges, in den Himmel über Oxford stieg,11 sowie Sir George Cayley (1773–1857), der „Vater der Aerodynamik“, der als Erster die vier im Flug wirksamen Kräfte formulierte: Gewicht, Auftrieb, Schub und Luftwiderstand. Aus dem Zusammenspiel dieser vier Faktoren folgt, ob ein Mensch, ein Vogel oder ein Flugzeug fliegt – oder eben nicht. Cayleys erster, unbemannter Gleitsegler – ein Eindecker, der bereits mit Vorder- und Hecktragflächen sowie horizontalen Stabilisatoren versehen war  – stieg 1804 auf. Fast ein halbes Jahrhundert später soll Cayleys treuer Kutscher einen bemannten Gleiter über die Heide von Brompton Dale im Norden von Yorkshire gesteuert haben.12 Die Geschichte der Flugunglücke dürfte fast genauso weit zurückreichen wie die Geschichte des Fliegens selbst  – man darf wohl annehmen, dass schon Archaeopteryx dabei manchmal zu Schaden kam. In vergleichsweise jüngerer Vergangenheit fiel im Mai 1785 ein unbemannter Ballon auf die Stadt Tullamore in der irischen Grafschaft Offaly herunter, steckte dabei einhundert Häuser in Brand und verursachte so die erste Luftfahrtkatastrophe der Geschichte. Nur einen Monat später stürzten bei Wimereux nahe Boulogne der französische Ballonfahrer Pilâtre de Rozier und sein Kopilot während des Starts ab (sie hatten den Ärmelkanal überqueren wollen) und wurden auf diese Weise die ersten Todesopfer der bemannten Luftfahrt. Im Mai 1908 drückte der amerikanische Flugpionier Orville Wright (1871– 1948) während eines Testflugs mit seinem Wright Flyer III einen der Schalthebel versehentlich in die falsche Richtung und raste bei Kitty Hawk in North Carolina mit einer Geschwindigkeit von gut 100  Kilometern pro Stunde in eine Sandgrube. Er überlebte mit einigen Prellungen und einer gebrochenen Nase und konnte deshalb später von sich behaupten, „sowohl der erste Flieger als auch der erste Überlebende eines Flugzeugabsturzes“ gewesen zu sein. Auf Orville Wright gehen zwei denkwürdige Aussprüche zurück: „Ein Flugzeug bleibt in der Luft, weil es überhaupt keine Zeit hat, abzustürzen“ und „Keine Flugmaschine wird jemals von New York nach Paris fliegen können“. Den interkontinentalen Luftverkehr hat er noch erlebt, aber nicht die Raumfahrt.13 764

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Wie alle Fans der beliebten Dokudrama-Fernsehserie Air Crash Investigation wissen (ihr deutscher Titel lautet Mayday – Alarm im Cockpit), sind der Absturzursachen gar viele.14 Es gibt Pilotenfehler und technisches Versagen, Materialermüdung, Treibstofflecks, Funkenschlag, Triebwerksausfälle, Druckverlust in der Kabine, Wirbelschleppen, Vogelschlag, Beschädigung durch Fremdkörper, Stürme, Eisablagerung, Vulkanstaub, Zusammenstöße in der Luft oder am Boden, Luftpiraterie, Flugzeugentführungen und Terrorismus, lebensmüde Passagiere oder Besatzungsmitglieder, Abschüsse durch Militärflugzeuge oder Boden-Luft-Raketen. Das bislang schwerste Unglück der zivilen Luftfahrt (ohne terroristische Einwirkung) war die Flugzeugkatastrophe von Teneriffa am 27.  März 1977, bei der zwei Maschinen des Typs Boeing  747 auf dem Rollfeld kollidierten und 583  Todesopfer zu beklagen waren. Die insgesamt häufigste Unfallursache sind übrigens Pilotenfehler, und das bis heute schlimmste Jahr der Luftfahrtgeschichte (gemessen am Verhältnis der Unfalltoten zu den geflogenen Luftmeilen) war das Jahr 1929. Zur Zeit des Ersten Weltkriegs gingen die Kampfpiloten in offenen Cockpits und ohne jegliche Form von Sicherheitsausrüstung in die Luft. Die Meldungen im Todesfall waren kühl und sachlich: ROYAL FLYING CORPS HEERESLUFTWAFFE MELDUNG ÜBER MANNSCHAFTS- / MASCHINENSCHADEN (LUFT) Maschine (Typ & Nr.): Bristol Fighter, D2B D7900 Rolls Royce 3/Fal/39 WD 18519 Motor: 2/Lt. N. DAVIES. RAF Pilot: Dienstart: Übungsflug Ort: Aerodrom Kamera: Nein Funkkontakt: Nein 1,2-Zoll-Visier, Typ Aldis; Bombenträger 1112 Sonstige Ausrüstung: (alle beschädigt) Benachbarter Flugplatz Absturzstelle: [Datum:] 5. September 1918 Startzeitpunkt: 11:35 Uhr Unfallzeitpunkt: 11:45 Uhr Personalstatus: getötet Ursache: bei Wendemanöver ins Trudeln geraten; Absturz 765

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Schaden: Maschine, Motor und Bord-MG: Totalverlust Empfehlung: Wrack zur Materialverwertung Nr. 1, ASB [gezeichnet] Major K. P. Park, Staffelführer, No. 48 Squad ron Bemerkungen: MASCHINE, MOTOR UND MG AUS BESTAND GESTRICHEN bei Staffel No. 48 & RAF im Feld Überreste zur Überführung Oberstleutnant S. H. Bowman, Kommandeur, Geschwader 11 Major, Geschwader 11 Brigadekommandeur, Verlustausbuchung T. T. Debb-Bowen, Brigadegeneral, Befehlsh. 2te Brigade, RFC.15

Das „Aerodrom“ – der Flugplatz –, um den es hier geht, lag im französischen Saint-Omer im Département Pas-de-Calais, gut 30 Kilometer hinter den nächstgelegenen Schützengräben der Westfront bei Hazebrouck. Die erwähnten „Überreste“ waren wohl das, was von Onkel Norman, dem Piloten und Briefmarkensammler, noch übrig war. Er wurde nicht abgeschossen; er stürzte einfach ab. Sein Grab befindet sich auf dem britischen Soldatenfriedhof im nahe gelegenen Longuenesse. Ein kurzer Erinnerungsblitz an sein frühes Ende schießt mir jedes Mal durch den Kopf, wenn ich an Bord eines Flugzeugs gehe. Nach einer Weile erhielten Normans Eltern in Bolton ein Paket, auf dem als Absender das britische Kriegsministerium angegeben war. Darin befanden sich seine wenigen Habseligkeiten und Papiere, ein paar billige Erinnerungsmedaillen mit bunten Schleifen daran – „für die Teilnahme am Feldzug …“ –, eine größere Bronzemedaille, auf der Britannia und der britische Löwe zu sehen waren und in die Onkel Normans Name eingraviert war, sowie eine Schriftrolle aus Massenfertigung, auf der zuoberst das könig­ liche Wappen und darunter der folgende Text gedruckt war: Der, an den diese Rolle erinnert, zählte zu jenen, die auf den Ruf von König und Vaterland hin alles zurückließen, was ihnen teuer war; die Mühsal und Gefahr auf sich nahmen und schließlich auf dem Pfad der Pflichterfüllung und der Selbsthingabe aus dieser Welt hinausschritten, indem sie ihr eigenes Leben gaben, auf dass andere in Freiheit leben würden. 766

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Mögen kommende Generationen dafür Sorge tragen, dass sein Name niemals vergessen wird! Unterleutnant Norman Davies, No. 48 Squadron, Royal Air Force.16

Er war einer von Millionen. Den entscheidenden Satz auf jener lauwarmen Trosturkunde, denke ich oft, findet man auf dem Schriftband um das königliche Wappen: Honi soit qui mal y pense  – „Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.“ Seit damals haben sich die Standards sowohl in der Flugsicherheit als auch in der Flugsicherung natürlich kontinuierlich verbessert. Unfälle wie böswillige Eingriffe in den Luftverkehr können – zum Glück – weitgehend vermieden werden. Nationale sowie internationale Organisationen widmen sich der Untersuchung von Unfallhergängen und -ursachen, ja sogar der eingehenden Überprüfung von Beinahe-Unglücken, und sorgen dafür, dass geeignete Gegenmaßnahmen verpflichtend werden. Zu solchen Verbesserungen haben Navigationshilfen, Höhenmessgeräte und Schleudersitze gehört, aber auch Instrumentenlandesysteme, der bodenkontrollierte Anflug, Flugdatenschreiber, das Streckenkontrollradar und überhaupt die Flugsicherung sowie  – in neuester Zeit –„satellitenbasierte Ergänzungs­ systeme“ (SBAS). Dennoch: Völlige Sicherheit kann es nicht geben. Die Internationale Zivilluftfahrtorganisation ICAO berief 2016 eine Dringlichkeitssitzung im kanadischen Montreal ein, um zwei akute Problembereiche zu erörtern: Der eine betraf die „globale Flugzeugverfolgung“, der andere den „Überflug von Konfliktzonen“. Beide Punkte waren durch den Verlust zweier fast identischer Linienflugzeuge aus Malaysia aktuell geworden; die Rede ist von den Flügen MH370 und MH17.17 Wie die Luftfahrtbranche uns – fragwürdigerweise – immer wieder vorbetet, soll das Reisen mit dem Flugzeug sicherer sein als mit jedem anderen Verkehrsmittel. Es hängt alles nur davon ab, was man misst – und wie. Das Fliegen stellt sich nämlich nur dann als die sicherste Transportart heraus, wenn man die Zahl der Todesopfer in Beziehung zu der insgesamt zurückgelegten Entfernung setzt; nach dieser Rechnung ist Fliegen tatsächlich rund sechzig Mal sicherer als Autofahren, beispielsweise. Wenn man allerdings die Anzahl der Toten je Wegstrecke betrachtet, gewinnt das Auto haushoch mit 40 Toten je Milliarde Fahrten gegenüber 117 Toten je Milliarde Flügen. (Weder Autos noch Flugzeuge noch Züge sind auch nur annähernd so lebensgefährlich wie Motorräder.) In den ersten vierzehn Jahren des 21. Jahrhunderts sind die Zahlen der Todesopfer in der kommerziellen Luftfahrt alljährlich weiter gesunken. 767

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Noch im Jahr 2001 kamen bei 200  Unfällen 4140  Personen ums Leben.* 2013 waren es nur mehr 265 Tote, die bei 138 Unfällen zu beklagen waren.18 Aufgrund der beiden Unglücke von MH370 und MH17 schnellte die Zahl der Unfalltoten im Jahr 2014 jedoch abrupt in die Höhe: auf 969 – immer vorausgesetzt, dass die beiden Verluste der Malaysia Airlines sich eines Tages definitiv als Unfälle erweisen. Die Geschichte der Katastrophen in der Seeschifffahrt liefert zahlreiche Präzedenzfälle für genau entsprechende Desaster in der Luftfahrt. Man findet dort ganz ähnliche Fälle von menschlichem und (bau-)technischem Versagen, von Piraterie und kriegerischen Akten. Aber auch die verhängnisvolle Problematik der Baratterie (Betrug oder Verbrechen auf See), von verschwundenen Schiffen und unaufgeklärten Rätseln taucht bereits auf. Die schlimmste Katastrophe der europäischen Schifffahrtsgeschichte scheint sich bereits während des Ersten Punischen Krieges ereignet haben, als eine große römische Flotte von Truppentransportern  – mehr als 360 Schiffe – vor Karthago in einen Sturm geriet und sank. Neunzigtausend Soldaten starben.19 In der Weltgeschichte dürfte das größte derartige Unglück geschehen sein, als 1274 ein Wirbelsturm, der sogenannte Kamikaze („göttlicher Wind“), die Flotte des Mongolenreiches zerstörte und Japan damit vor einer Invasion bewahrte; mehr als 100 000 mongolische Krieger fanden den Tod.20 Daneben versinkt selbst der Verlust der Titanic im Jahr 1912 in der Bedeutungslosigkeit – trotz immerhin 1500 Toten. Als „Baratterie“ bezeichnet das Seerecht traditionell jede Form von „Unredlichkeit der Besatzung zum Nachteil von Schiff und Ladung“, das heißt in der Regel: Betrug und Diebstahl, durch die Reeder oder Frachteigentümer zu Schaden kommen. Im Englischen ist der Begriff barratry 1622 erstmals belegt; damals stand darauf die Todesstrafe. Die Baratteure waren in der Regel der Kapitän oder die Mannschaft eines Schiffes, die entweder die Fracht ihres Schiffes zum eigenen Vorteil unterschlugen, ein Unglück auf See vortäuschten oder auf andere Weise Versicherungsbetrug begingen. Als klassisches Beispiel gilt ein Fall, der 1885 in Boston vor Gericht kam. Dort sollte eine Forderung überprüft werden, die nach dem Schiffbruch der Amazon vor der Küste von Haiti gestellt worden war. Damals hatte man sowohl den Kapitän als auch seinen Maat tot aufgefunden; zudem stellte sich heraus, dass die Fracht des Schiffes in betrügerischer Absicht falsch deklariert worden war: Flaschen, die angeblich erlesene Weine enthielten, waren mit Wasser gefüllt worden; vermeintliches * Die Ereignisse vom 11. September 2001 wurden nicht als Unfälle gewertet.

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„Silberbesteck“ entpuppte sich als eine Ladung von Hundehalsbändern aus billigem Blech. Der Versicherungsanspruch wurde abgewiesen, und das Wrack der Amazon blieb liegen, wo es war.21 Fast genau einhundert Jahre später hat Tom Clancy in seinem später auch verfilmten Bestseller Jagd auf Roter Oktober (1984) einen raffinierten Fall von fiktionaler Baratterie durchgespielt. Im Roman steuert der Kapitän eines sowjetischen Atom-U-Boots dieses auf Abwege, um zum „Westen“ überzulaufen. Aus der Perspektive des sowjetischen Rechts hatte er sich damit sowohl der Meuterei als auch der Baratterie schuldig gemacht.22 Das spurlose Verschwinden von Schiffen und Booten ist ein uraltes Phänomen. In den Tagen vor Seefunkgeräten und moderner Rettungstechnik war es gang und gäbe, dass ein Schiff auf See verloren ging  – nicht nur spurlos, sondern sogar, ohne dass irgendjemand sie auf Monate oder gar Jahre vermisst hätte. Im Februar 1881 beispielsweise lief das britische Schulschiff HMS Atalanta mit 281 Mann an Bord von Bermuda aus und verschwand auf Nimmerwiedersehen. Selbst im 20.  Jahrhundert gibt es zahlreiche Beispiele für ein solches Verschwinden. Am 26. Juli 1910 verließ die SS  Waratah, ein 16 000-Tonnen-Schiff der Blue Anchor Line, das im Emigrantenverkehr fuhr, den Hafen von Durban mit Kurs auf Kapstadt – und verschwand spurlos.23 Jedoch fällt unter die Kategorie „ungeklärte Unglücksfälle auf See“ eine Vielzahl teils ganz unterschiedlicher Vorkommnisse. Am berühmtesten ist vielleicht der Fall der Mary Celeste, eines kleinen britischen Zweimasters von gerade einmal 282 Tonnen, die am 14. Dezember 1872 bei ruhiger See mitten auf dem Atlantik treibend angetroffen wurde – unbeschädigt, aber ohne Mannschaft. Es gab Anzeichen dafür, dass der Kapitän, die beiden Passagiere (Frau und Tochter des Kapitäns) und die sieben Besatzungsmitglieder in aller Eile das Beiboot bestiegen hatten, das mit Axthieben aus seiner Vertäuung gelöst worden war; dass seit dem mysteriösen Vorfall neun Tage vergangen waren; und dass die Tragödie auf irgendeine Weise mit der Ladung des Schiffes – Industriealkohol – zu tun hatte. Bei der amtlichen Untersuchung des Falls in der britischen Kronkolonie Gibraltar kam der zuständige Experte zu dem Schluss, die durstigen Matrosen hätten wohl den Rohalkohol gesoffen, den Kapitän und seine Familie ermordet und wären dann mitsamt aller Beweise von Bord gegangen. Diese Theorie stieß auf gehörigen Zweifel. Der Fall Mary Celeste löste eine wahre Flut von Spekulationen aus, jede Menge Verschwörungstheorien und inspirierte sogar einige literarische Werke. Die Spekulationen begannen nach dem Abschluss des Verfahrens 769

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vor dem Untersuchungsausschuss in Gibraltar, wo die Finder des dahintreibenden Schiffs dieses als Belohnung für sich selbst beansprucht hatten. Die Theorien reichten von einem Seebeben in den Tiefen des Atlantiks bis zu einem Überfall durch Barbaresken-Korsaren, die ihre Gefangenen in Nordafrika in die Sklaverei verkauft hätten. Zu den literarischen Werken zählte eine brillante Kurzgeschichte mit dem Titel „J. Habakuk Jephsons Bericht“, die den Namen des Schiffs kurzerhand in „Marie Celeste“ abänderte. Ihr Verfasser war der junge Arthur Conan Doyle, der spätere Erfinder des Meisterdetektivs Sherlock Holmes, der mit seinem fiktionalen „Bericht“ vom Verschwinden einer Schiffsbesatzung 1884 seine Karriere als Schriftsteller begann.24 Das öffentliche Interesse an dem Fall nahm noch einmal deutlich zu, als bekannt wurde, dass das mysteriöse „Geisterschiff“ ein Dutzend Jahre zuvor schon einmal Gegenstand eines Bostoner Gerichtsverfahrens wegen Baratterie gewesen war. In der Zeit zwischen dem Prozess und der Untersuchung von 1872 hatte die Mary Celeste siebzehn Mal den Besitzer gewechselt, war mehrmals umbenannt und bis zur Baufälligkeit vernachlässigt worden. Wie es scheint, hatte auch ihr letzter, einigermaßen zwielichtiger Besitzer sie nur erworben, um Versicherungsbetrug zu begehen.25 Wie dieser reichlich verwickelte Fall schon andeutet, sind viele derartige Rätsel der Seefahrt schließlich doch noch gelöst worden – wenn auch nur mit extremer Verzögerung. Und gleich mehrere solcher „aufgeschobenen Lösungen“ haben mit Schiffen zu tun, die im Eis der Arktis oder Antarktis gefangen waren. Ein frühes Beispiel hierfür – wenn auch vielleicht kein restlos nachgewiesenes  – ist der Fall der Octavius, eines britischen Handelsschiffes, das 1762 aus China in Richtung England losfuhr. Angeblich soll die Octavius im Jahr 1775 vor der Küste von Grönland entdeckt worden sein, wo sie in beklagenswertem Zustand und scheinbar verlassen trieb. An Bord, heißt es, fand man die froststarrenden Leichen der Mannschaft in ihren Hängematten sowie den Kapitän, der noch immer am Schreibtisch in seiner Kajüte festgefroren war. Der Kapitän soll versucht haben, mit seinem Schiff die Nordwestpassage zu durchqueren.26 Ein etwas jüngeres Beispiel betrifft den Schoner Jenny, der 1822 von der Isle of Wight lossegelte und vor seinem Verschwinden noch den peruanischen Hafen Callao erreichte. 1840 wurde die Jenny von einem Walfangschiff in der Drakestraße südlich von Feuerland wiedergefunden; sie war im Eis eingeschlossen. Der unversehrte Leichnam ihres Kapitäns war – wie der seines Kollegen von der Octavius  – an seinem Schreibtisch festgefroren. Der letzte Eintrag in seinem Logbuch datierte vom 4.  Mai 1823 und lautete: „71 Tage ohne Essen. Ich bin der Letzte.“27 770

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Nichts jedoch kommt an die Geschichte vom „Fliegenden Holländer“ heran, die Richard Wagner zu einer seiner Opern inspirierte. Die Sage könnte, wie es scheint, auf einer wahren Begebenheit beruhen: Im 17. Jahrhundert war ein Segelkapitän namens Bernard Fokke (oder Barend Fockesz), der in Diensten der Niederländischen Ostindien-Kompanie stand, bekannt dafür, dass zwischen Amsterdam und Batavia keiner so schnell unterwegs war wie er. Bei einer Fahrt im Jahr 1678 soll er die Entfernung von fast 20 000 Kilometern in der Rekordzeit von drei Monaten und vier Tagen zurückgelegt haben. (Wenn das stimmt, käme seine Leistung an die Fahrzeit Abel Tasmans zwischen Batavia und Mauritius heran.)28 Nach seinem Tod errichtete man Fokke in der Nähe des Hafens von Batavia ein Denkmal. In späterer Zeit entwickelten sich die Geschichten um diesen legendären Seemann in verschiedene Richtungen: Zunächst einmal hieß es, dieser „Fliegende Holländer“ habe seine übernatürlichen Fertigkeiten durch einen Pakt mit dem Teufel erlangt. Zweitens sollte er dann kein normales Schiff mehr kommandiert haben, sondern ein echtes Gespensterschiff, einen „Geisterkahn“, ein Phantom. Drittens galt dieses Schiff als ein Unheilsbote für alle, die ihm begegneten. Seine Matrosen verteilten Briefe an Adressaten, von denen sich stets herausstellte, dass sie schon längst tot waren. Im frühen 19. Jahrhundert wurde die Geschichte von mehreren Schriftstellern der Romantik verarbeitet oder aufgegriffen, so etwa von Thomas Moore, Walter Scott, Edgar Allan Poe und  – am berühmtesten – von Samuel Taylor Coleridge in seinem Gedicht The Rime of the Ancient Mariner (Der alte Matrose). Die Geschichte vom „Fliegenden Holländer“ selbst erschien erstmals 1821 in der Zeitschrift Blackwood’s Magazine in Edinburgh. Dort hieß der Kapitän nun Hendrich Vanderdecken und war dazu verdammt, im Bund mit dem Teufel zu segeln bis an den Jüngsten Tag.29 In Paris wurde der Stoff zu einer populären Oper verarbeitet,30 und in Deutschland bildete er den Kern einer Erzählung in Heinrich Heines satirischem Romanfragment Aus den Memoiren des ­Herren von Schnabelewopski.31 Geisterschiffe waren die Ufos des frühen 19.  Jahrhunderts: Zahlreiche Menschen behaupteten, sie gesehen zu haben; andere, rationalere Temperamente erklärten, es habe sich bei den vermeintlichen Sichtungen um eine optische Täuschung wie etwa eine Luftspiegelung oder Fata Morgana gehandelt. Dennoch war kein Geringerer als der britische Thronfolger Prinz George, der spätere König George V., fest davon überzeugt, auch er habe eine solche Erscheinung mit eigenen Augen gesehen. Im Jahr 1881 diente er zusammen mit seinem Bruder, Prinz Albert Victor, als Seekadett 771

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auf einer Korvette der Royal Navy, der HMS Bacchante, die vor der Südküste von Australien kreuzte: Um 4 Uhr in der Früh kreuzte der Fliegende Holländer unseren Bug. Seltsames rotes Leuchten wie von einem glühenden Geisterschiff, und in diesem Licht der Mast, die Spieren und Segel einer Brigg in einer Entfernung von gut 200 Yards, die klar zu erkennen war, wie sie von backbord auf den Bug zulief, wo sie auch der Wachoffizier auf der Brücke ganz deutlich gesehen hat, wie auch der Kadett auf dem Achterdeck … Insgesamt dreizehn Personen haben ihn gesehen … Um 10:45 Uhr stürzte der Matrose, der den Fliegenden Holländer im Morgengrauen gemeldet hatte, von der Quersaling des Vortoppmastes auf das Vordeck beim Bramsegel hinunter und wurde ganz und gar zerschmettert.32

Richard Wagner orientierte sich, als er 1840/41 das Libretto für seinen Fliegenden Holländer schrieb, stark an Heines Romanfragment, unter anderem indem er den Gedanken betonte, der Holländer und seine Mannschaft könnten allein durch die Liebe einer treuen Frau von ihrem Fluch erlöst werden. Schon für die Eröffnungsszene heißt es in der Bühnenanweisung dramatisch: „Das Meer nimmt den größeren Teil der Bühne ein.“ In der Schlussszene enthüllt die Hauptfigur, ein finsterer Bass, der Heldin Senta, dass er selbst der verfluchte „Fliegende Holländer“ ist und nun dazu verdammt ist, wieder auf seine ewige Wanderschaft aufzubrechen. Verzweifelt stürzt Senta sich ins Meer, nachdem sie dem Holländer Treue bis zum Tod geschworen und den Fluch damit gebannt hat. Das Geisterschiff verschwindet. Die freudigen Matrosen brechen in einen Jubelchor aus und das wiedervereinte Liebespaar fährt zum Himmel auf: Preis deinen Engel und sein Gebot! Hier steh’ ich – treu dir bis zum Tod! Sie stürzt sich in das Meer. Sogleich versinkt mit einem furchtbaren Krache das Schiff des Holländers; das Meer türmt sich hoch auf und sinkt dann in einem Wirbel zurück. … Im Hintergrunde erhebt sich langsam ein Felsenriff, mit Schifftrümmern bedeckt, aus dem Wasser; auf ihm erblickt man den Holländer, kniend vor Senta, beide in verklärter Gestalt. Eine blendende Glorie erleuchtet die Gruppe im Hintergrunde; Senta erhebt den Holländer, drückt ihn an ihre Brust, und deutet mit der einen Hand, 772

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wie mit ihrem Blicke, himmelwärts. Das leise immer höher gerückte Felsenriff nimmt unmerklich die Gestalt einer Wolke an. Mit den letzten drei Takten fällt der Vorhang schnell.33

Wenn man die Besonderheiten und (Erzähl-)Traditionen der Seefahrt neben die Geschichte der Luftfahrt stellt, entdeckt man bald erstaunliche Parallelen. So steht neben dem alten Vergehen der Baratterie inzwischen der moderne Straftatbestand der „Luft-Baratterie“, der auch in den Diskussionen über das Schicksal des Fluges MH370 aufgegriffen wurde.34 Wenn heutzutage große Verkehrsflugzeuge versichert werden, dann ist es üblich, klar zwischen etwaigen Versicherungsansprüchen der Flugzeugeigner und den Ansprüchen der Passagiere zu unterscheiden. Sobald ein Flugzeugunglück als „Unfall“ eingestuft ist, können die Besitzer der Maschine mit einer prompten und vollständigen Entschädigung ihres Verlustes rechnen; die Passagiere oder ihre Hinterbliebenen erhalten jedoch bestenfalls eine eher symbolisch zu verstehende Zwischenzahlung.35 Verschwundene Flugzeuge gibt es zwar nicht häufig, aber sie sind doch ein fester Bestandteil der Luftfahrtgeschichte. Die amerikanische Fliegerin Amelia Earhart, beispielsweise, die Charles Lindbergh bereits mit einer Solo-Überquerung des Atlantiks nachgeeifert hatte, brach im Sommer 1937 zu einem Überflug des Pazifik auf, der die letzte große Etappe einer geplanten Erdumrundung am Äquator abschließen sollte. Earhart, ihr Navigator und ihre Maschine, eine Lockheed Electra, kamen nach dem Abflug auf Neuguinea jedoch niemals an ihrem geplanten nächsten Halt auf Howland Island, einer der Phoenixinseln mitten im Pazifik, an. Sie wurden vermisst gemeldet und später für tot erklärt, jedoch niemals gefunden.36 1945 verschwand eine Gruppe von US-Heeresfliegern in Ausbildung mitsamt ihren Maschinen im sogenannten Bermudadreieck. Zwar wurden später Wrackteile der verschwundenen Flugzeuge gefunden  – nicht jedoch ein Suchtrupp, der von Miami aus losgeschickt worden war und ebenfalls verschwand.37 Im Jahr 1947 verschwand ein B-47-StratojetBomber der U.S. Air Force, der angeblich mit einer oder sogar mehreren Atombomben beladen war, über dem Mittelmeer.38 Und im März 1962 verschwand ein Charterflugzeug des US-Militärs, eine Propellermaschine vom Typ Lockheed  L-1049 Super Constellation, die unter der Flugnummer  739 von der Fluggesellschaft ­Flying Tiger Line betrieben wurde, mit 107 Personen an Bord spurlos, nachdem sie in Guam noch aufgetankt worden war, ihr Ziel Saigon jedoch niemals erreichte. Die Nachforschungen zum Verbleib der Maschine wurden davon überschattet, dass beinahe 773

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z­ eitgleich eine andere Super Constellation der Flying Tiger Line ebenfalls abstürzte, diesmal über den Aleuten. Sabotage wurde vermutet.39 Auch in der Geschichte der Luftfahrt herrscht also kein Mangel an ungelösten Rätseln. Ein besonders merkwürdiger Vorfall ereignete sich im November 1971 über dem pazifischen Nordwesten der Vereinigten Staaten. Bis heute ist es der amerikanischen Bundespolizei FBI nicht gelungen, den Täter von damals zu identifizieren oder herauszufinden, was aus ihm geworden ist. Ein Passagier, der in Portland (Oregon) unter dem (später als falsch entlarvten) Namen „Dan Cooper“ an Bord des Flugs 305 der North­ west Orient Airlines gegangen war, drang auf halbem Weg nach Seattle in das Cockpit ein, wo er eine Schusswaffe zog. Mithilfe gekritzelter Zettel (wohl, um zu verhindern, dass seine Stimme auf dem Flugschreiber aufgenommen würde) wies der Mann den Piloten der Boeing 727 an, zu landen, alle 43 anderen Passagiere gehen zu lassen und vier Fallschirme* sowie 200 000 Dollar in bar an Bord bringen zu lassen; danach sollte die Maschine weiterfliegen. Im zweiten Teil der Operation gab der Entführer dem Piloten mittels eines weiteren Handzettels präzise Anweisungen zu der weiteren Flugroute, -geschwindigkeit und -höhe; dann schloss er die drei verbliebenen Stewardessen beim Piloten im Cockpit ein und begab sich selbst in den Frachtraum, wo es ihm gelang, durch das Drücken der nötigen Knöpfe die Heckklappe im Rumpf des Flugzeugs zu öffnen und die daran befindliche Gangway herunterzulassen. Sein sorgfältig geplantes Vorgehen lässt darauf schließen, dass er sich mit den technischen Gegebenheiten an Bord einer Boeing 727 bestens auskannte. Er setzte einen Fallschirm und den Rucksack mit dem erpressten Geld auf, stieg dann auf die Gangway und sprang – ohne Helm – in die eiskalte, regnerische, pechschwarze Nacht hinaus. Die Besatzung im Cockpit spürte ein Ruckeln, als die Heckklappe nach unten schlug und der Entführer das Flugzeug verließ. Sie landeten sicher in Reno (Nevada). Die Ermittler des FBI waren überzeugt davon, dass der kühne Flugzeugentführer seine Tat nicht überlebt haben konnte; die extremen Wetterbedingungen sowohl in der Luft als auch am Boden sprachen dagegen. Eine Leiche wurde jedoch nie gefunden, genauso wenig wie der Fallschirm, seine Kleidung oder der überwiegende Teil des Lösegeldes (ein kleiner Anteil wurde 1980 von einem spielenden Jungen an einem Fluss in * Indem er vier Fallschirme verlangte anstatt nur einen, gaukelte der Mann den Behörden vor, er würde womöglich eine oder mehrere der als Geiseln an Bord verbliebenen Besatzungsmitglieder ebenfalls zum Absprung zwingen. Auf diese Weise verhinderte er zudem, dass man ihm einen absichtlich manipulierten Fallschirm unterschob.

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der Gegend entdeckt). Die Seriennummern der fehlenden Banknoten sind online noch immer einsehbar.40 Nur wenige solche Ereignisse können tatsächlich auf unbestimmte Zeit ungeklärt bleiben, aber manchmal lässt die Lösung doch ziemlich lange auf sich warten. So lagen beispielsweise 51 Jahre zwischen dem Verschwinden einer Avro Lancastrian  3 der British South American Airways mit dem Spitznamen „Star Dust“ im August 1947 und dem Beginn der Bergungsarbeiten am Wrack des Flugzeugs im Jahr 1998. Die Maschine war auf dem Weg von Buenos Aires nach Santiago de Chile gewesen und hatte auf dem letzten Streckenabschnitt den Höhenkamm der Anden überflogen. Da sie im Gebirge auf einen schweren Schneesturm mit heftigem Gegenwind gestoßen waren, hatte sich die Besatzung verkalkuliert und war zu früh in den Sinkflug übergegangen. Die „Star Dust“ bohrte sich tief in die beinahe senkrechte Eiswand eines Gletschers auf dem Vulkan Tupungato (6570 m) nahe der argentinisch-chilenischen Grenze. Erst mehr als fünfzig Jahre später, als der betreffende Teil des Gletschers sich ein ganzes Stück den Berg hinunterbewegt hatte und zu tauen begann, bemerkten Bergsteiger, die den Vulkan besteigen wollten, ein Flugzeugtriebwerk, das aus dem Eis ragte und sich als ein Trümmerteil des vermissten Flugzeugs entpuppte. Im Laufe der folgenden vier Jahre gab der Gletscher Stück um Stück sein Geheimnis preis.41 Während des halben Jahrhunderts, in dem die „Star Dust“ verschwunden war, hat die Luftfahrttechnik natürlich große Fortschritte gemacht; aber manche Dinge ändern sich nie. Zu diesen ewigen Unwägbarkeiten gehören auch und vor allem die Fehlbarkeit des Menschen, das menschliche Vermögen, grobe Schnitzer zu machen – kurz und gut: „menschliches Versagen“. Nachdem ich im Anschluss an die Katastrophe von Smolensk am 10.  April 2010 von einem Gericht selbst zur „geschädigten Partei“ erklärt worden bin, obwohl meine Frau und ich im vorhergehenden Flieger nach Smolensk gesessen hatten, der zum Glück sicher gelandet war, verfolge ich alle Nachrichten über diesen Unfall mit besonderer Aufmerksamkeit. Deshalb kann ich heute mit völliger Sicherheit sagen, dass gleich mehrere Fälle von menschlichem Versagen – bei der Planung, der Ausbildung und vor allem bei der Steuerung der Unglücksmaschine, die alle möglichen Verhaltensregeln für Piloten missachtete – zusammen die Hauptursache dafür bildeten, dass an jenem Tag die Tupolew Tu-151 der polnischen Luftwaffe mit der Registrierungsnummer  101, eine Regierungsmaschine aus Warschau, beim Landeanflug auf das russische Smolensk abstürzte, wobei alle 96 Personen an Bord ums Leben kamen, darunter der polnische 775

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S­ taatspräsident Lech Kazyński, seine Ehefrau Maria sowie mehrere Dutzend Regierungsmitglieder, leitende Beamte und sonstige Offizielle.42 Internationale Rivalitäten sorgen immer wieder für Misstrauen zwischen Staaten, Regierungen und Einzelpersonen, und wenn dann eine Katastrophe geschieht, behindern sie nicht selten die Untersuchungen zu den Ursachen und dem Hergang des Unglücks. Im Fall Smolensk sorgten die ohnehin nicht sonderlich herzlichen Beziehungen zwischen Polen und Russland zuerst für Missverständnisse zwischen dem Piloten und der Bodenkontrolle, später dann für Streit zwischen polnischen und russischen Sachverständigen. Die russische Untersuchung der Tu-154 kam zu dem Schluss, dass sich nicht nur der Oberbefehlshaber der polnischen Luftwaffe unberechtigterweise im Cockpit aufgehalten hatte, als das Flugzeug abstürzte – sondern auch, dass der General Alkohol getrunken hatte.43 Wie schon bei dem gibraltarischen Untersuchungsausschuss im Fall der Mary Celeste wurden die Schlussfolgerungen dieser Untersuchung weithin angezweifelt. Dabei sind Polen und Russland keineswegs die einzigen Übeltäter; oft sind bei der Aufklärung von Flugzeugunglücken die Behörden verschiedener Länder sowie international besetzte Teams von Sachverständigen beteiligt, die Untersuchungen ziehen sich nicht selten in die Länge. Im Fall MH370 beispielsweise war das Misstrauen zwischen den Malaysiern, die das Flugzeug besaßen und betrieben, und den chinesischen Beamten, die einen großen Teil der Opfer repräsentierten, mit Händen zu greifen. Am schlimmsten jedoch ist, dass in einer Welt, die von zahlreichen Konflikten geplagt wird und in der ebenso viele Geheimdienste in einem ständigen Wettstreit miteinander stehen, so viele entscheidende Informationen geheim gehalten werden. Militärische Dienststellen sind äußerst zögerlich, was die Herausgabe sensibler Erkenntnisse betrifft, und Regierungssprecher präsentieren sowohl der Presse als auch der Öffentlichkeit mitunter nicht immer die ganze Wahrheit. Ein jedes Land setzt seine eigene Sicherheit – oder das, was es dafür hält – an die erste Stelle und lässt Informationen nur sehr eingeschränkt nach außen dringen, selbst an die Adresse von engen Verbündeten. Jeder weiß, dass unsere Erde ein dichtes Netz von Satelliten umgibt und dass diese Satelliten vom Weltraum aus angeblich die Karten in der Hand eines beliebigen Pokerspielers auf einer Hotelterrasse abfotografieren könnten. Rund um die Uhr sind mehr als zehntausend Satelliten im Erdorbit aktiv. Einer von ihnen hat einen Schnappschuss davon gemacht, wie MH17 mit einer Boden-Luft-Rakete beschossen wurde. Ist es wirklich vorstellbar, dass kein einziger dieser Satelliten einen anderen 300-Tonnen-Jumbo, MH370, gesehen haben soll, der nach seinem 776

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Abschwenken von der korrekten Route noch mehrere Stunden in der Luft war? Die offizielle Antwort auf diese Frage lautet: „Ja.“ Anscheinend gibt es noch immer Flecken auf diesem Erdball, die keiner Rund-um-die-UhrÜberwachung unterliegen … Einer der Hauptunterschiede zwischen verschwundenen Schiffen und verschwundenen Flugzeugen ist der folgende: Havarierte oder aufgegebene Schiffe können auch weiterhin über den Ozean treiben. Havarierte Flugzeuge dagegen können natürlich nicht unbegrenzt in der Luft bleiben; ihnen bleibt nichts anderes übrig, als entweder sicher zu landen oder  – meist schon nach kurzer Zeit – abzustürzen. Während ich diese Zeilen schreibe, sind fast vier Jahre vergangen, seitdem Flug MH370, eine Boeing 777-200ER,* vom Flughafen Kuala Lumpur aus einem bislang ungeklärten Schicksal entgegengeflogen ist. Die internationale Suche nach der Maschine ist inzwischen ausgesetzt worden.44 Die einzigen definitiven Hinweise auf ihren Verbleib liefern einige wenige Wrackteile, die nach offizieller Lesart dem verschwundenen Jumbo zugeordnet werden können. Das erste von ihnen, ein einsames, schon mit Seepocken bewachsenes Teil von der Tragfläche der Maschine (ein sogenanntes Flaperon), wurde im August 2015 an einem Strand auf Réunion angespült, womit alle leisen Hoffnungen auf eine sichere Landung von MH370 mit einem Mal zerschlagen schienen.45 Dennoch stehen die Ermittler letztlich noch immer vor einem ungelösten Rätsel. Der gesunde Menschenverstand sagt, dass die Boeing 777-200ER irgendwo gelandet sein muss, entweder am Stück oder in Stücken. Dass sie, wie einst der Fliegende Holländer, zu einem ewigen Irrflug über die Weltmeere aufgebrochen wäre, können wir wohl ausschließen. Historiker leisten in der Regel keinen Beitrag zu derartigen Rätsel- und Schauergeschichten. Wenige von ihnen kennen sich überhaupt mit den Komplexitäten der modernen Luftfahrt aus. Andererseits sind sie doch auch eine Art Detektive. Die Besten ihrer Zunft haben in einem rigorosen Training gelernt, was es heißt, gesicherte Fakten von Vermutungen und Hypothesen zu unterscheiden, Handlungsmotive abzuwägen, Hergänge und Ereignissequenzen chronologisch zu ordnen sowie die mannigfaltige Verkettung von Ursache und Wirkung zu untersuchen. Bei ihrer Rekonstruktion der Vergangenheit im Gewand der historischen Erzählung sind * Das Langstreckenmodell Boeing 777-200ER (für Extended Range, „erhöhte Reichweite“) ist die zweite von insgesamt acht Varianten des Grundmodells Boeing  777, die momentan ­produziert werden.

777

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ihnen auch einfallsreiche, kreative Lösungsansätze durchaus nicht unbekannt; eher extravagante Erklärungen müssen sie von den eher nüchternen natürlich dennoch unterscheiden. Da es ihnen um das Ausloten historischer Kausalzusammenhänge geht, haben sie es gewohnheitsmäßig mit einer ganzen Hierarchie von Möglichkeiten und Unmöglichkeiten zu tun, die es gegeneinander abzuwägen gilt; jede Menge Plausibles und weniger Plausibles spielt dabei eine Rolle, dazu Wahrscheinliches, überaus Wahrscheinliches und vielleicht sogar das, was „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ gilt. Im Zeitalter der Fake News, „alternativen Fakten“ und der elektronischen Datenflut mögen diese klassischen Kernkompetenzen aller Historikerinnen und Historiker nicht ganz wertlos sein. Um also mit der überschaubaren Menge der Fakten zu beginnen:

• Die auffällige Flugphase von MH370 begann ungefähr eine Stunde nach dem Start, als der Flugfunktransponder der Maschine vorsätzlich ausgeschaltet und die Koordinaten eines neuen Wegpunktes in den Bordcomputer eingegeben wurden. Nach allgemeiner Auffassung hätten diese Handlungen nur von jemandem ausgeführt werden können, der sich sehr gut mit der modernsten Luftfahrttechnik auskannte  – einem Experten oder Profi also. • MH370 wurde über ein Gebiet umgeleitet, das nahe den Inseln im Südchinesischen Meer liegt, einem Schauplatz wachsender internationaler 778

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Spannungen.46 Ganz in der Nähe fand zudem gerade unter dem Codenamen Operation Cope Tiger ein gemeinsames Manöver thailändischer und US-amerikanischer Truppen statt.47 Malaysia hatte sich in den Jahren zuvor auf der internationalen Bühne jede Menge Feinde gemacht, unter anderem durch die Einrichtung des Kuala Lumpur War Crimes Tribunal (KLWCT), das 2007 als eine Art Konkurrenzeinrichtung zum Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag geschaffen wurde. Das Tribunal von Kuala Lumpur hat mehrere westliche Regierungschefs in Abwesenheit schuldig gesprochen, in Irak Verbrechen gegen den Frieden begangen zu haben, hat die Folterpraktiken der amerikanischen Regierung in Guantanamo verurteilt und Israel des Völkermordes an den Palästinensern bezichtigt.48 Es besteht einiger Grund zu der Annahme, dass die Ladeliste von MH370 unrichtig war und dass sich also eine nicht deklarierte „Sonderladung“ an Bord befunden hat.49 Da die gesamte Ladung des Flugzeugs in Peking ohnehin in chinesische Hände gekommen wäre, sind die Chinesen in diesem Punkt weniger verdächtig als andere; sie hätten weniger Grund gehabt, den Flug schon vor seinem Ziel abzufangen. Die ständige Überwachung der gesamten Erdoberfläche durch Spionagesatelliten im Orbit gehört schon längst nicht mehr in das Reich der Science-Fiction. Das National Reconnaissance Office („Nationaler Aufklärungsdienst“) der Vereinigten Staaten, dessen Wappentier der vielarmige „Welt-Oktopus“ ist – mit der Devise: „Für uns ist nichts außer Reichweite!“ –, ist auf diesem Gebiet der wichtigste Akteur.50 Und doch besteht ein auffälliger Unterschied zwischen der Reaktion des NRO auf den Abschuss von MH17 – als umgehend die entsprechenden Satellitenbilder vorgelegt wurden  – und dem Schweigen der „Oktopusse“ über das Schicksal von MH370.51 Hoch entwickelte Luftfahrttechnik ist eine der Spezialitäten der amerikanischen Firma Freescale Superconductors Corporation mit Hauptsitz in Texas, die bald nach dem Verschwinden von MH370 eine Erklärung veröffentlichte, wonach sich an Bord des vermissten Flugzeugs zwanzig ihrer Mitarbeiter befunden hätten, zumeist Malaysier chinesischer Herkunft. Zu ihnen sind seitdem keine weiteren Informationen bekannt geworden.52 Das erste Verschwinden von MH370 ereignete sich innerhalb der Reichweite von zwei oder drei unterschiedlichen Militär-Radarsystemen mit erhöhtem Verfolgungsradius. Nach langem Zögern gab Malaysia 779

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schließlich zu, dass sein Militärradar MH370 noch über mehrere Stunden hinweg verfolgt hatte. Andere Staaten der Region hingegen, die ähnliche Radareinrichtungen betreiben, haben sich dazu bislang noch nicht geäußert – jedenfalls nicht öffentlich.53 Entgegen allen Gerüchten ist es äußerst unwahrscheinlich, dass die „Blackboxes“ von MH370 – selbst, wenn sie irgendwann doch noch gefunden werden sollten – irgendwelche Rückschlüsse auf den ursprünglichen Kurswechsel der Maschine ermöglichen werden. Die Aufzeichnung dieser Geräte erfolgt auf einer Bandschleife von zwei Stunden Länge. Jegliche Daten aus der Frühphase des Fluges wären also in den vielen, vielen Stunden, die das Flugzeug danach noch in der Luft war, überspielt worden. Nach dem ersten Kurswechsel, der MH370 auf einen öst-westlichen Flugpfad quer über die Malaiische Halbinsel brachte, führte die Maschine einige rätselhafte Flugmanöver aus. Bei einem davon stieg sie offenbar auf eine Flughöhe von rund 13 700 Metern und sank dann wieder ab, bis sie dicht über dem Boden flog. Als Nächstes schlug sie, nachdem sie die Straße von Malakka erreicht hatte, einen geschmeidigen Bogen entgegen dem Uhrzeigersinn um die Nordspitze von Sumatra. Und drittens nahm sie, nach einigem Zögern über der Andamanensee, schließlich einen gleichmäßigeren, konsequenteren Kurs auf, der sich später über die zweite Reihe von ACARS-Signalen der Maschine rekonstruieren ließ. Nachdem die Techniker der britischen Firma Inmarsat diese Signale analysiert hatten, kam es zu der letztlich ergebnislosen Suche vor der Küste von Westaustralien.54 Das Flaperon, das auf Réunion angespült wurde, trägt zu den Spekulationen über die eigentlichen Ursachen des Unglücks eigentlich nichts bei – und vor allem geht daraus nicht hervor, weshalb sich dieses doch recht kleine Teil überhaupt von der Tragfläche gelöst hat. Es war erkennbar viele Monate lang im Wasser getrieben und durch den großen Meereswirbel des Agulhasstroms mitgeführt worden, der gegen den Uhrzeigersinn über Tausende von Meilen an den Küsten des Indischen Ozeans entlangfließt.55 Im Verlauf der Untersuchung kamen die internationalen Experten überein, dass MH370 über Stunden hinweg mit Autopilot geflogen sein musste und dass alle Insassen, sowohl die Passagiere als auch die Besatzung, schon lange vor dem katastrophalen Ende des Fluges aufgrund von Sauerstoffmangel tot oder bewusstlos gewesen sein dürften.56 Einen solchen Fall gab es schon einmal, im August 2005, als der Flug 522 der

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zyprischen Fluglinie Helios Airways, dessen Piloten durch einen Fehler in der Luftzufuhr außer Gefecht gesetzt worden waren, stundenlang vom Autopiloten gesteuert wurde, bevor er im hügeligen Gelände nördlich des Athener Flughafens zerschellte.57 • Nachdem sich mehrere andere Ermittlungsansätze als Sackgassen erwiesen hatten, richtete sich die Aufmerksamkeit auf das spezifische Autopilotenmodell, das in der fraglichen Boeing 777-200ER zum Einsatz gekommen war: den Boeing Honeywell Uninterruptible Auto Pilot (BHUAP).58 Dieser raffinierte Apparat war nach den Anschlägen vom 11. September 2001 entwickelt worden, um künftige Flugzeugentführungen im Ansatz zu vereiteln. Unter Verwendung von Technologien, die üblicherweise in Drohnen zum Einsatz kommen, ermöglicht das System einen Fernzugriff auf die Steuerung der Maschine; über Funkoder Satellitensignale können dann Steuerimpulse aus dem Cockpit überbrückt und somit außer Kraft gesetzt werden. (Daher die Bezeichnung uninterruptible, die es bislang allerdings genauso wenig in das Oxford English Dictionary geschafft hat, wie „ununterbrechlich“ im Duden steht.) Bei einem autorisierten Fernzugriff wäre es überhaupt kein Problem, das Flugzeug aus den Händen eines gefährlichen Piloten zu retten oder es an einem geeigneten Ort sicher zu landen. Da aber auch Geheimdienste wie das NRO inzwischen in der Lage sind, nichtsahnenden Piloten ihre Flugzeuge per Fernsteuerung einfach „auszuspannen“, darf man wohl davon ausgehen, dass rivalisierende Dienste, Hacker und Cyberkriminelle mit Hochdruck daran gearbeitet haben, ähnliche Fertigkeiten zu entwickeln.59 • Auch drei Jahre nach dem Verschwinden von MH370 weigerte sich die größte organisierte Gruppe von Verwandten und Freunden der verschollenen Passagiere strikt, die offizielle Darstellung des Geschehens zu akzeptieren; sie waren überzeugt, dass hier die größte Vertuschungsaktion der Luftfahrtgeschichte im Gang ist. Viele von ihnen haben Klagen eingereicht.60 • Alle offiziellen Berichte über den Fall – und die Darstellungen in den Medien  – zeichnen sich durch eine extreme Zurückhaltung aus. Offenbar will man sich von den wilderen Spekulationen der „Blogosphäre“ und sonstiger Online-Foren abgrenzen. Hypothesen, die weder auf harten Fakten noch auf Präzedenzfällen beruhen, möchte man lieber nicht erörtern. Dabei scheint inzwischen klar, dass auch die Möglichkeit eines bislang beispiellosen Geschehens zumindest erwogen werden sollte. 781

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Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, und selbst ein Haufen von Fakten ist nicht dasselbe wie ein schlüssiges Argument. Tatsächlich ist das Verhältnis von Bekanntem zu Unbekanntem im Fall MH370 enttäuschend niedrig. Es gibt keinerlei Hinweise auf technisches Versagen, nicht den geringsten Anhaltspunkt für irgendwelche Motive, keine Spuren, die auf mögliche Täter hindeuten würden. Eine schöne Kopfnuss. Fürs Erste kann man wohl nur eine Liste der „alternativen Erklärungen“ aufstellen und sie nach Maßgabe ihrer Wahrscheinlichkeit zu sortieren versuchen. Wichtig ist immer die genaue Abfolge des Geschehens. Die Tatsache, dass MH370 absichtlich bereits über dem Südchinesischen Meer auf einen neuen Kurs gebracht wurde, legt nahe, dass letztlich eine Landung des Flugzeugs in China verhindert werden sollte. Dass es daraufhin mit großer Präzision im Bereich der Straße von Malakka unterwegs war, deutet darauf hin, dass sich zu diesem Zeitpunkt noch kompetente, ruhige Piloten am Steuer (oder an der Fernsteuerung) befanden. Aber der Umstand, dass die Maschine daraufhin ziellos über den Ozean irrte, bevor sie dann noch einmal einen radikal anderen Kurs einschlug, hat wohl eine ernste Bedeutung: Zusammen mit der Tatsache, dass das ACARS-System erst nach einer längeren Pause wieder in Betrieb genommen wurde, bestärkt es den Verdacht, dass die „Steuerleute“ aus der ersten Phase an diesem Punkt irgendwie die Kontrolle verloren hatten und es womöglich zu einer zweiten Einmischung gekommen war. In jeder der einzelnen Flugphasen war das Verhalten des Jets jeweils ganz unterschiedlich. Die Hierarchie der Wahrscheinlichkeiten sollte deshalb noch einmal genauer betrachtet werden:

• Aller Beliebtheit dieses Erklärungsansatzes in der „Blogosphäre“ zum Trotz: Es ist nicht möglich, dass MH370 von Ufos oder Außerirdischen entführt wurde. Nach der Entdeckung des Flaperons auf Réunion sowie anderer Wrackteile in Mosambik und auf Madagaskar61 kann ebenfalls ausgeschlossen werden, dass MH370 unversehrt nach Kasachstan, Tel Aviv, Diego Garcia oder anderswohin geflogen sein könnte. • Es ist unwahrscheinlich, dass MH370 von pistolenschwingenden „Luftpiraten“ alter Schule gekapert wurde. Seit Nine-Eleven sind in dieser Hinsicht strenge Vorkehrungen getroffen worden: Die Cockpittür wird verriegelt; die Besatzung ist entsprechend geschult; zumindest ein Notrufsignal hätte problemlos abgesetzt werden können. Die Umstände engen den Kreis der plausibel Verdächtigen stark ein: auf die Piloten, auf den Purser oder Chefsteward (dem nämlich der Code für die Tür 782

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zum Cockpit bekannt war) oder auf unbekannte Dritte, die das Flugzeug von außen manipulierten. Es ist deshalb halbwegs wahrscheinlich, dass MH370 als erstes Flugzeug überhaupt einer „Cyber-Entführung“ zum Opfer gefallen ist. Eine solche Tat ist mit den technischen Mitteln des frühen 21.  Jahrhunderts durchaus plan- und durchführbar, obwohl natürlich nur ein kleiner Kreis von Experten in einigen wenigen Ländern über das nötige Knowhow verfügt. An erster Stelle auf der Liste stehen die Vereinigten Staaten, gefolgt von den großen NATO-Staaten sowie von Russland, China und Israel. Im Inneren dieser Möglichkeit verstecken sich jedoch noch zwei andere mögliche Szenarien: In dem ersten ist der ursprüngliche Plan der „Fernsteuer-Piraten“ auf tragische Weise fehlgeschlagen. In dem zweiten hat die erste „Cyper-Kaperung“ des Flugzeugs einen „Gegenschlag“ provoziert. Jedes dieser beiden Szenarien könnte zur Klärung der ursprünglichen Motive für die Entführung beitragen. Wenn MH370 tatsächlich per Fernzugriff gekapert wurde, dann muss das Hauptmotiv für diese Tat darin bestanden haben, das Flugzeug und seine Fracht unter keinen Umständen China erreichen zu lassen. Wenn dann noch eine zweite Gruppe eingegriffen haben sollte, kann ihre Absicht nur gewesen sein, die Pläne der ursprünglichen Manipulatoren zu durchkreuzen und zu verhindern, dass diese ihre Beute an einen sicheren Ort fliegen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass der Flug MH370 in einer Katastrophe endete, ob nun mit Absicht oder durch ein Missgeschick. Damit wären wir jedoch wieder am Ausgangspunkt des Rätsels angelangt: Was hat die Katastrophe verursacht? Wo ist das Wrack? Was ist mit den Passagieren geschehen? Und wer ist verantwortlich? Kurzum verhält es sich wohl mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit so, dass irgendwo auf diesem Planeten jemand mehr über das Schicksal von Flug MH370 weiß, als er bislang preisgeben wollte. Diese Zurückhaltung könnte entweder auf die übliche Verschwiegenheit staatlicher Geheimdienste zurückzuführen sein oder ganz einfach auf die Angst der Verantwortlichen, auch zur Verantwortung gezogen zu werden. Ebenfalls so gut wie sicher dürfte sein, dass das Rätsel um MH370 irgendwann gelöst werden wird, entweder durch hartnäckige Detektiv­ arbeit oder durch einen Zufall. Schließlich wurde das Schicksal der Octavius nach 13 Jahren aufgeklärt, das der Jenny nach 17 Jahren, das der Bounty nach 18 Jahren, das von La Pérouses Schiffen nach 38 Jahren und das der „Star Dust“ nach geschlagenen 51 Jahren. 783

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Aber natürlich frage ich mich schon jetzt, was an dieser Argumentationskette alles falsch oder unstimmig sein könnte. Rätselhafte Ereignisse und unerklärliche Vorkommnisse sind in der Geschichte gar nicht selten, und genauso häufig sind die Fantastereien, die von ihnen inspiriert werden. Noch dazu muss man keine übernatürlichen Mächte bemühen, um – konstruktiv – ein wenig zu spekulieren. Das Wrack von MH370, beispielsweise, hat allen bisherigen Versuchen, seine letzte Ruhestätte mit modernsten Mitteln aufzuspüren, hartnäckig getrotzt. Das könnte entweder daran liegen, dass die zur Untersuchung des Meeresbodens in 7000 Metern Tiefe eingesetzten Geräte für diese Aufgabe ungeeignet sind, oder  – was wahrscheinlicher ist  – es wurde von Anfang an im ­falschen Gebiet gesucht. Ein schwaches Glied in der Indizienkette sticht heraus. Das rechteckige Stück Ozean rund 2500 Kilometer vor der australischen Westküste, auf das sich die Suchbemühungen konzentrierten (siehe S.  430), wurde aufgrund zweier Berechnungen ausgewählt. Die eine betraf den vermutlichen Flugverlauf der Maschine, die andere den Treibstoffvorrat des Jumbos und die ungefähr verbleibende Reichweite zum Zeitpunkt seines Verschwindens. Wenn eine dieser beiden Berechnungen – oder die Annahmen, die ihnen zugrunde lagen – fehlerhaft gewesen sein sollten, dann wären die Suchtrupps auf eine von Anfang an aussichtslose Mission geschickt worden. Zum Beispiel nahm man allgemein an, dass die Boeing 777-200ER, die eine maximale Reichweite von 13 084 Kilometern hat und bei Bedarf 14 Stunden lang in der Luft bleiben kann, mit Treibstoff für lediglich sieben Flugstunden betankt worden war, weil das der geplanten Flugzeit nach Peking entspricht; oder dass der Autopilot in der letzten Phase des Fluges die Triebwerke automatisch auf die optimale Reisegeschwindigkeit von rund 900  Kilometern pro Stunde eingestellt hatte. Schon die kleinste Abweichung an diesen Vorannahmen hätte die Suchaktion im Indischen Ozean auf ein gänzlich anderes Gebiet verschieben können. Viele Historiker wollen mit Spekulationen nichts zu tun haben und halten sie für kaum besser als unbegründete Behauptungen, Mutmaßungen oder bloßen Klatsch. Das Genre der „spekulativen Geschichtsschreibung“ wird oft mit „Pseudogeschichtsschreibung“ gleichgesetzt. Und doch war die ursprüngliche Bedeutung des Wortes „Spekulation“ in etwa „überlegte Beobachtung“ – mit ignorantem Spekulieren sollte man sie nicht verwechseln. Wann immer man vor einem verblüffenden Rätsel steht wie der sprichwörtliche Ochs vorm Berg, hat die – wohlbegründete – Spekulation durchaus ihre Berechtigung. Sie ist das Handwerkszeug der Philosophen. 784

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„Im spekulativen Denken“, schreibt Spinoza einmal, „sehen wir uns gezwungen, die Wahrheit zu verfolgen.“ Stellen wir uns also bitte einmal ein etwas ausgefalleneres Szenario vor – auf die Gefahr hin, dass man uns widerlegt. Schalten Sie, nur für einen Moment, den Filter in ihrem Gehirn aus, der gewagte Hypothesen oft gar nicht erst ins Bewusstsein dringen lässt. Versuchen Sie, sich vorzustellen, was der oder die unbekannte(n) „Fernsteuerer“ von MH370 (oder ein durchgeknallter Pilot) getan haben könnte(n), um alle Spuren einer Entführung zu verwischen und das Flugzeug an einen Ort zu bringen, an dem es niemals gefunden werden würde. Mit anderen Worten: Stellen Sie sich einen kaltblütigen, vorsätzlichen Akt des Verschwindenlassens vor. Der Meeresboden am Diamantinatief, einem Tiefseegraben vor Westaustralien, erreicht an seinem tiefsten Punkt eine Tiefe von 8047 Metern und wäre damit keine schlechte Wahl für ein Versteck. Aber eines unter dem antarktischen Packeis, das keine neugierige Sonarsonde und kein indiskreter Überwachungssatellit jemals ausspähen kann, wäre vielleicht sogar noch besser. In jenem Fall hätten die „Fernsteuerer“ die Reichweite des Flugzeugs noch um einiges über die Strecke hinaus erweitern müssen, von der die Sachverständigen bislang immer ausgegangen sind. Wenn ihre Verschwörung aber schon vor dem Start begonnen hätte, dann hätten sie beispielsweise dafür sorgen können, dass die Maschine in Kuala Lumpur mit mehr Treibstoff betankt wurde als offiziell verbucht. Sie hätten das Betankungsprotokoll genauso manipulieren können, wie sie – dem Anschein nach – die Ladeliste manipuliert haben. Sollte ihr Handeln ihnen jedoch erst während des Fluges aufgezwungen worden sein, etwa, weil sie einen ebenfalls ferngesteuerten Abwehrversuch kontern mussten, hätten sie diverse Handlungsoptionen gehabt. Sie hätten nicht nur gewusst, dass moderne Passagierflugzeuge lange Strecken auch ohne laufende Triebwerke, im Gleitflug, zurücklegen können, sondern auch, dass der Geschwindigkeits- und Höhenverlust in der ersten Phase eines ungebremsten Absturzes zunächst einmal sehr langsam verläuft. (Eine Boeing 777, deren Triebwerke in 9000 Metern Höhe schlagartig ausfallen, kann über beinahe 150 Kilometer hinweg ganz würdevoll zu Boden gleiten.)62 Sie könnten sogar eine Kombination aus Triebwerksflug und Gleitflug im Wechsel versucht haben. Wenn der Autopilot von MH370 also programmiert gewesen wäre, die Triebwerke alle halbe Stunde für zehn Minuten in den Leerlauf zu schalten, hätte die Flugzeit von sieben Stunden problemlos auf neun Stunden und zwanzig Minuten gestreckt werden können – und das ganz ohne zusätzlichen Treibstoff. Was aber noch wichtiger wäre: Die Reichweite des Flugzeugs hätte sich – 785

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wenn wir 5534 Kilometer mit Triebwerken und 2414 Kilometer im Gleitflug zugrunde legen – drastisch erhöht: von 6115 Kilometer auf 7948 Kilometer. Wenn dann die Winde über den Roaring Forties noch ein wenig vorteilhaft geblasen hätten, wäre die Maschine zwar alles in allem ein wenig nach Osten gedriftet, hätte die Grenze von 8000 Kilometern Reichweite jedoch mühelos überschreiten können. Diese gewaltige Distanz entspricht einer Differenz von 72 Breitengraden. Mit einer Reichweite von 8000 Kilometern oder mehr hätte MH370 durchaus von der Andamanensee (bei 10  Grad nördlicher Breite) bis an einen Punkt südlich des 62. Breitengrades gelangen können  – nicht weit entfernt vom magnetischen Südpol und schon deutlich innerhalb der antarktischen Packeiszone. Was für ein Gedanke! Anstatt kopfüber in das bewusste Rechteck im Indischen Ozean zu stürzen, könnte MH370 auch ganz sanft über die Meeresoberfläche gesegelt sein, wie ein Albatros oder ein Archaeopteryx vielleicht, bis in den tiefsten Süden, an mächtigen Eisbergen vorbei, um dann irgendwo zwischen Kap Adare und der D’Urville-See niederzugehen. Der Jumbojet wäre weitgehend intakt durch das lockere Treibeis des südlichen Herbstes gesunken, hätte dabei vielleicht ein oder zwei Landeklappen, Bugschürzen- oder Heckflossenteile verloren, die mangels Sauerstoff gestorbenen Passagiere und Besatzungsmitglieder jedoch nicht freigegeben, die womöglich noch immer in ihren Sitzen festgeschnallt gewesen wären, und wäre schließlich auf dem Meeresboden des antarktischen Schelfs zu liegen gekommen. In den Tagen und Wochen darauf wäre der südliche Winter angebrochen, das Packeis wäre dichter und fester geworden. Der Agulhasstrom hätte die beim Aufprall abgerissenen Teile vom Ort des Absturzes bis weit in den Norden tragen können und etwaige weitere Wrackteile, die aus der Tiefe aufgestiegen wären, hätten sich unter der dichten Eisdecke verfangen. Ein perfektes Verbrechen. Und die mysteriösen „Fernsteuerer“ hätten erleichtert aufatmen können. Ein solch fantastisches Szenario mag ausgefallen sein – aber auszuschließen ist es nicht. Wo die Fakten uns verlassen, springt unweigerlich die Vorstellungskraft ein: Time is a thief at the end of the road, a river; Time is a dream, a life contained in a moment – Well, have it your own way … But the miracle passes simply, amazement is wordless, Discovery silent, stumbling suddenly into Truth in a landless sea … 786

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This was the story of a ship caught in a bottle, And that bottle was Time – I confuse it with another image – Becalmed in Time, and sealed with a cork of ice; Frozen and still in the bottle, ice on the rigging, Over masts and yards, the drops suspended Frozen for forty years … Quiet on the decks, so wordless that one would say, ,This is a vessel of drowned men‘ … Or else one might say – ,This was a ship of disaster.‘ Think of the bodies, splintered and broken, the cabin With blood on the walls, dried now to a faint inscription, The thundering fist to the jaw, the lamp left swinging, The glasses tumbled – wine dripping over the tables. And all of them killed, you say? What a tale of fury! But the truth of it is that this is a ship of the living Locked in a wall of ice, suspended in Time. And, listen, If we could stand on the deck with them we might hear voices. That was the story. Question the manner of telling, But be sure at least of pain and ice and silence. Of Time? Well, there one can never be certain – For you a thing to be measured perhaps – for me, a searching: And for [those] alone on a frozen ship? I wonder. However, it is beyond our chance of knowing. Die Zeit ist ein Dieb am Ende des Wegs, ein Gewässer; Die Zeit ist ein Traum, ein Leben gefasst im Moment – Gut, wenn du meinst … Aber das Wunder geschieht einfach so, das Staunen bleibt sprachlos, Still die Entdeckung, und plötzlich stolpert man über die Wahrheit mitten im landlosen Meer … Die Geschichte war’s eines Schiffs, in der Flasche gefangen, und die Zeit war die Flasche – jetzt vermische ich Bilder – Auf der Fahrt durch die Zeit in Flaute geraten, der Korken aus Eis dicht; Gefroren und still in der Flasche, Eis auf den Tauen und Masten, auf Spieren und Rahen, die Tropfen schwebend kaltgestellt, festgefroren auf vierzig Jahre … Stille an Deck, so stumm, dass man sagen möchte: „Dies ist ein Schiff der Ertrunkenen“ … oder man könnte sagen – „Dieses Schiff war vom Unheil verfolgt.“ 787

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Denk nur, die Leiber – zermalmt und zerschmettert, Kajüten mit Blut an den Wänden, verblasst jetzt und kaum noch lesbar, Der donnernde rechte Haken, ein Schwinger zum Kinn, die Lampe   schwingt gleichfalls, auf den Tischen das Taumeln der Gläser, verschütteter Wein tropft. Und alle tot, sagst du? Eine schlimme Geschichte! Aber im Grunde ist es doch ein Schiff der Lebenden, in einer Eiswand festgesetzt, schwebend in Zeit. Und, horch, wenn wir mit ihnen an Deck stehen können – vielleicht wären Stimmen   zu hören. So weit die Erzählung. Die Manier stell ruhig infrage, nicht aber die Fakten: Schmerz und Eis und Schweigen. Und die Zeit? Nun, die ist nie ganz tatsächlich – Für dich vielleicht greif- und messbar – für mich stets ein Suchen: Und für [die Leute] allein auf dem gefrorenen Schiff? Wer weiß. Das liegt für uns wohl jenseits des Wissbaren.63

Spekulation bleibt Spekulation, Fantasie bleibt Fantasie; und die Dichtung darf frei umherschweifen. Aber mit derlei Gedankenspielen hat sich der Globetrotter jedenfalls auf den langen letzten Etappen seiner weltweiten Wanderschaft die Zeit vertrieben. Der Fluggast war wie besessen vom Fliegen. Jegliche Reflexionen über indigene Völker, menschliche Migrationsströme und andere im weitesten Sinne historische Überlegungen wurden vorübergehend auf Eis gelegt. Viele Monate und fast zwei Dutzend Länder nach meiner Abreise aus Frankfurt landete eines schönen Samstagmorgens genau um halb sieben der Flug Nummer  847 der Air Canada pünktlich und wohlbehalten auf demselben Flughafen. Auf meinem großen Rundkurs war ich wieder aus Nordamerika zurückgekehrt. Ein zufriedener Passagier schloss den Kreis nach einer Reise von gut 48 000 Kilometern, etwa so wie es Eratosthenes und Al-Masudi schon vorausgesagt hatten. Diesmal verursachte mir der Gang zur Shuttlebus-Haltestelle keine Alpträume. Das „Steigenberger“ hieß mich willkommen wie einen alten Bekannten. In Zimmer 218 schlief meine Frau den Schlaf der Gerechten. Ein paar Bahnen im Hotelpool im neunten Stock lieferten den entspannenden Tagesabschluss, bevor auch ich die Bettdecke zurückschlug und der Schlaf über mich kam, rasch wie ein tahitianischer Sonnenuntergang. 788

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Jetlag wird häufig von Heißhungeranfällen begleitet. Als ich mitten am Nachmittag aufwache, mache ich mich sogleich mit meiner Frau auf die Suche nach Nahrung. Die Damen an der Rezeption empfehlen uns das „Waldrestaurant Unterschweinstiege“. „Gehen sie einfach nach rechts und folgen sie der Beschilderung in den Hof“, sagen sie. „Ab halb sechs ist dort geöffnet.“ Ein Waldrestaurant mitten in einem Flughafenhotel – das war mal etwas ganz anderes, und bei meinem ersten Aufenthalt hatte ich es ganz verpasst. Und wie romantisch es war! Mein Liebling unter den deutschen Dichtern, Joseph von Eichendorff, wäre beeindruckt gewesen von diesem Versuch, die Geister des „schönen, grünen Waldes“ in solch wenig verheißungsvoller Umgebung zu beschwören: O Täler weit, o Höhen, O schöner, grüner Wald, Du meiner Lust und Wehen andächt’ger Aufenthalt.64

Auf dem Weg zum Essen greifen wir uns eine Broschüre, die uns geniessen aus tradition verspricht, und dass hier alles herrlich idyllisch werde: „Urige Atmosphäre und Gemütlichkeit: In unserem Waldrestaurant Unterschweinstiege wird Frankfurter Gastlichkeit groß geschrieben. … Lassen Sie sich im historischen Ambiente des mehr als 230 Jahre alten Forsthauses von uns verwöhnen!“65 Diese gute Stube war schon hier lange vor Flughäfen und Flugzeugen, ja sogar vor der Zeit Eichendorffs. Als das Forsthaus im Jahr 1782 erbaut wurde, gab es das Heilige Römische Reich noch. Der Reiseführer hatte uns schon vor den eher schlichten Spezialitäten der hessischen Küche gewarnt. Dazu gehören Apfelwein – der echte Frankfurter sagt „Äpfelwein“ oder gleich „Ebbelwoi“ –, die berühmte Grüne Soße („Grie Soß“, aus Borretsch, Kerbel, Kresse, Petersilie, Pimpinelle, Sauerampfer und Schnittlauch), die mit Eiern und Pellkartoffeln serviert wird, sowie natürlich Frankfurter Würstchen, von denen alle Wiener und Hotdogs dieser Welt abstammen. „Frankfurter Rippchen“ sind genau das: schnörkellose Schweinerippchen mit Sauerkraut, während der „Handkäs’ mit Musik“ für seinen blähenden Kontrapunkt berühmt ist.66 Aber dennoch: Es war Frühling gewesen, als ich aus Frankfurt abreiste, und es war Hochsommer, als ich wieder zurückkam  – und also schien die Aussicht auf ein Essen unter freiem Himmel, noch dazu mit „typisch 789

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­ eutscher Küche“, mehr als verlockend. Die Räumlichkeiten des Restaud rants säumen die vier Seiten eines rechteckigen Innenhofes. Über dem hauptsächlichen Sitzbereich breiten sich die mächtigen Äste einer uralten Eiche aus, und darüber kommt nur noch der Himmel. Aber auch in geräumigen Nischen rund um den Innenhof sind Esstische untergebracht, die von dem schwarzen Gebälk eines umlaufenden Vordaches geschützt werden. Die speisenden Gäste sitzen unter diesem Vordach auf bequemen Stühlen mit grün-gelber Polsterung. Die Tische sind so weit zurückgesetzt, dass man selbst bei Regen auf keinen Fall nass wird. Dafür sieht man aber auch nur den Stamm der Eiche in der Mitte des Hofs und nicht den freien Himmel darüber. Der Kellner, Kevin, kommt, um unsere Bestellung aufzunehmen. Auf der Karte hatte ich Wildschweinkotelett gesehen, aber da ich kein Wild mag, kam das für mich nicht infrage – und mit den Ursprüngen des Restaurants habe ich es da noch nicht in Verbindung gebracht. Stattdessen entscheiden wir uns für Fisch, meine Frau nimmt das Schollenfilet und ich die Forelle Müllerin. Vor dem Hauptgang gibt es für mich ein Selleriesüppchen, für meine Frau einen „Romanasalat“ – sollte das nicht entweder Insalata Romana heißen oder „Römischer Salat“? Es heißt doch „der Salat“, oder? Egal. Auch wenn der Salat das falsche Geschlecht hatte, stellte er sich doch als eine denkwürdige Spezialität heraus. Dieser Römersalat kombinierte die Salatblätter nämlich sowohl mit Obst und Gemüse als auch mit einem äußerst feinen Olivenöl. „Birne und Gurke“ ist eine Kombination, „Erdbeeren, Garnelen und Spargel“ eine andere. Meine Frau schwärmt noch davon, als ich mein Paulaner schon lange ausgetrunken habe. Wovon jedoch vorher überhaupt nicht die Rede gewesen war, war die akustische Begleitung unseres Essens, die ganz überraschend ertönt  – es war zwar kein Elefant im Zimmer, aber ein Jumbo eben doch beinahe … Den Kellnern schien es gar nicht aufzufallen. Die Restaurantleitung war in einem tiefen, tiefen Nichtwahrhabenwollen gefangen. Jeder tat so, als wäre nichts. Keiner reagierte. Aber doch begannen alle zwei Minuten, also fast bei jedem zweiten Bissen, die dicken Deckenbalken zu vibrieren. Etwa fünfzehn Sekunden später setzte auch das Porzellan mit ein. Und nach dreißig Sekunden sprang – molto vivace – das Besteck klappernd auf der Tischdecke umher. Für eine kurze Zeit, als die Triebwerke der Marke Pratt  & Whitney oder vielleicht Rolls-Royce Trent sich direkt über dem Restaurantdach befinden, erreicht das Getöse eine solche Intensität  – schließlich muss ja die Auftriebsbeiwertwirkung aufrechterhalten werden –, dass jegliche Konversation übertönt, alles Schlucken unterbrochen, ja selbst 790

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das Denken vollkommen unmöglich wird. Ein wenig erinnerte mich das an die spezifische Form von mentaler Lähmung, die viele Deutsche nach 1945 befallen zu haben schien, wenn es um ihre jüngste Vergangenheit ging. Ein makabrer Onkel von mir reiste einmal nach Berchtesgaden, um sich die Überreste von Hitlers Berghof auf dem Obersalzberg anzuschauen. Als er einen Passanten nach dem Weg zu „Adolf Hitlers Haus“ fragte, bekam er die höfliche Rückfrage zu hören: „Entschuldigen Sie, Adolf Hitler – wer ist das?“ Ich bin mir ziemlich sicher, dass Kevin – auf Anweisung von oben – ganz ähnlich reagiert hätte, wenn ich ihn auf den Fluglärm angesprochen hätte. „Entschuldigen Sie“, hätte er gesagt, „welcher Fluglärm?“ Stattdessen entschied ich mich, ihn nach der Geschichte des Waldrestaurants zu fragen. Wie sich herausstellte, war er auch hierzu umfassend instruiert worden. Sobald die Reichsstadt Frankfurt ihren Stadtwald in Besitz genommen hatte, wurden Maßnahmen ergriffen, um die ungebremste Vermehrung der vielen, vielen Wildschweine, die von der Fülle an Eicheln und Bucheckern im Stadtwald lebten wie die Made im Speck, ein wenig einzudämmen, damit sie keine Schäden anrichteten. Also wurde 1491 festgelegt, dass die Wildschweine einmal im Jahr zusammengetrieben, gezählt und eine gewisse Anzahl auch erlegt werden sollten. Am Ende dieser Aktion eröffneten die Stadtväter ein allgemeines Festmahl, bei dem Wildschweine am Stück gebraten wurden und die hungrigen Bürger sich am saftigen Wildschweinkotelett gütlich tun konnten. Um das Verfahren zu vereinfachen, wurden zwei eingezäunte Gehege geschaffen, in denen das Zählen und Erlegen stattfinden konnte. Das eine dieser beiden Gehege, das am Rand eines kleinen Weihers näher bei der Stadt lag, wurde als die „Oberschweinstiege“ bezeichnet, das andere, tiefer im Wald gelegene, war die „Unterschweinstiege“. Aus den Aufzeichnungen im Frankfurter Stadtarchiv geht hervor, dass im Jahr 1779 nicht weniger als 1470  Wildschweine gezählt wurden. Um diese Horden besser im Blick behalten zu können, wurde zwei Jahre später an der Unterschweinstiege aus Steinen und roten Tondachziegeln ein dauerhaftes Forsthaus erbaut. Schließlich erhoben, nach 1866, als Frankfurt vom Königreich Preußen annektiert worden war, die Steuereintreiber des Königs eine Abgabe von anderthalb Gulden auf jedes gezählte Wildschwein. Man darf wohl vermuten, dass spätestens diese Steuer den Festmählern und mittelalterlich anmutenden Wildschweinzählungen ein Ende bereitet hat. Kevin überreicht uns ein Faltblatt, dem auch er diese Informationen verdankt. „Wenn also ‚Stiege‘ so viel heißt wie ‚Gehege‘“, frage ich Kevin, nachdem ich die Rechnung über €  97,80 beglichen und ihm für das gute Essen 791

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gedankt habe, „dann heißt ‚Unterschweinstiege‘ doch in etwa ‚unteres Wildschweingehege‘, oder?“ Da muss selbst Kevin einen Moment überlegen. (Er ist Ire, aber sein Deutsch ist irre gut.) „Eigentlich eher nicht“, sagt er grinsend. „Soweit ich weiß, heißt ‚Stiege‘ so viel wie ‚Treppe‘. Aber es kann auch ‚zwanzig‘ heißen, so wie ‚ein Dutzend‘ ‚zwölf‘ heißt. ‚Eine Stiege Eier‘ sind zwanzig Eier. Tut mir leid, weiter kann ich Ihnen auch nicht helfen.“ „Das ist ja sehr seltsam“, murmele ich vor mich hin. In Deutschland rennen untere Wildschweine entweder Treppen hoch und runter  – oder sie verputzen ganze Familienpackungen mit Eiern. Satt und zufrieden brachen meine Frau und ich zu einem Abendspaziergang auf. Unser Ziel war der Wald, genauer gesagt der Frankfurter Stadtwald, dessen voll belaubtes Eichendickicht schon von der Rezeption aus zu sehen war. Wir mussten zusehen, dass wir auf der Zufahrt zur Autobahn nicht überfahren wurden, und schlüpften dann durch eine Lücke im Zaun in eine andere Welt wie Alice, die durch den Kaninchenbau ins Wunderland fällt. Hier und da brach das Sonnenlicht in kräftigen Strahlen durch das Blätterdach. Fein säuberlich aufgestapelte Baumstämme warteten auf ihre Abholung und eine lang gestreckte Lichtung zog sich einladend zwischen den Bäumen dahin. Das musste er sein, der „andächt’ge Aufenthalt“ von Eichendorffs „Lust und Wehen“! Einige Wanderer zogen zielstrebig an uns vorbei. Auch ein Radfahrer, tief über den Lenker gebeugt, sowie ein keuchender Jogger aus der nahen Großstadt, kratzten die staubige Kurve. Irgendwo im Unterholz bewegte sich etwas. Erstarrt spähte ich ins Halbdunkel, um zu sehen, ob es sich um ein Reh handelte oder vielleicht sogar um ein Wildschwein. Und dann wurden wir, binnen Minutenfrist, von zwei plötzlichen Donnerschlägen aus unserer Träumerei gerissen. Zuerst hämmerte das Dröhnen einer Boeing  777-200 auf unsere Trommelfelle ein, die direkt über unseren Köpfen zur Landung ansetzte. Ich schaute hinauf und empfand wieder diesen seltsamen Kitzel, der sich einstellt, wenn man den Bauch eines so riesigen Flugzeuges aus nächster Nähe betrachten kann. Von einem „stillen, ernsten Wort“ (wiederum Eichendorff) konnte hier, selbst mitten im Wald, keine Rede sein. Zweitens entdeckte ich ein altes, an eine Eiche genageltes Blechschild, dessen Beschriftung in weißen Frakturbuchstaben auf einem preußischblauen Hintergrund lautete: Unterschweinstiegschneise. Wie alt war das denn? Als ich mit einer Kamera einen Schnappschuss von 792

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dem Schild machen wollte, begannen die umgebenden Zweige zu rascheln und zu rauschen, und das Schild selbst klapperte wie das Besteck im Waldrestaurant. Frankfurt war natürlich nur ein Zwischenstopp. Nach mehr als 48 000 Kilometern brauchte ich ganz einfach eine kurze Verschnaufpause vor der endgültigen Rückkehr nach Hause, eine Art Übergangsphase, um mich wieder an den Gedanken zu gewöhnen, stillzustehen und festen Boden unter den Füßen zu haben. Es war an der Zeit, vom Karussell abzusteigen und die Erde sich einfach weiterdrehen zu lassen. Die Erinnerung an so viele Länder, Menschen und Abenteuer stürzte auf mich ein, und am Horizont zeichnete sich auch schon die Herkulesaufgabe ab, all diese vielen Erinnerungen in eine gestraffte und stimmige Erzählung zu verwandeln. Zwei Dinge konnte ich aber nicht so einfach ablegen: zum einen die Tat­ sache, dass ich sicher und wohlbehalten wieder zurückgekehrt war, was leider nicht allen Reisenden vergönnt ist. Als MH370 verschwunden war, stellte man fest, dass zwei junge Iraner mit falschen Pässen an Bord des Flugzeugs gelangt waren. In der Presse wurden sie als Terroristen verdächtigt, aber in Wahrheit waren sie illegale Einwanderer, die in Europa ein neues Leben beginnen wollten. Der jüngere der beiden, der 19-jährige Pouria Nour Mohammad Mehrdad, hatte auf einen Neuanfang in Deutschland gehofft. Seine Mutter wartete am Flughafen FRA auf ihn, aber er kam nie an.67 Meine andere Sorge betraf das quälende Rätsel des Blechschildes im Wald, das mir nicht mehr aus dem Sinn ging. Was bedeutete nur diese Inschrift, die sich nicht übersetzen ließ? Ihre altmodische Schrifttype, eine gebrochene oder Frakturschrift, war in Deutschland vom 16. Jahrhundert an in Gebrauch gewesen, bis die Nazis die Fraktur 1941 ohne Vorwarnung als „Schwabacher Judenlettern“ diffamierten und verboten. In den Jahren 1945/46 wurde die Fraktur zwar wieder verwendet, fiel aber bald der Modernisierungswelle der Nachkriegszeit zum Opfer.68 Das schien mir nahezulegen, dass das fragliche Schild entweder vor 1941 an die Eiche genagelt worden war oder aber unmittelbar nach dem Krieg, 1945/46. Das Letztere ist wohl wahrscheinlicher. Frankfurt war mehrfach die Zielscheibe alliierter Bombenangriffe gewesen, bei denen die mittelalterliche Altstadt vollkommen zerstört wurde und mehr als 5000 Einwohner den Tod fanden.69 Auch der Flughafen wurde damals bombardiert, weshalb die Gegend um das Waldrestaurant nach dem Krieg vermutlich gründlich geräumt werden musste. Mich hatten die Bäuche von Boeings und Airbussen nachhaltig beeindruckt; die Frankfurter der Kriegsgenerationen müssen noch 793

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gebannter und mit großer Angst nach oben geschaut haben, wo britische Lancaster- und amerikanische B-17-Bomber über den Himmel zogen, ob sich an deren Bäuchen nicht die Bombenschächte öffneten. Die genaue Bedeutung von Unterschweinstiegschneise hatte ich damit jedoch noch immer nicht herausbekommen. Mit Unter-, Schwein und Schneise kam ich inzwischen zwar ganz gut zurecht; aber die beiden Beinahe-Zwillinge der Stieg und die Stiege brachten mich an den Rand der Verzweiflung. Obwohl sie offenbar beide von dem Verb steigen abgeleitet sind, fand ich in unterschiedlichen deutsch-englischen Wörterbüchern eine Fülle teilweise vollkommen verschiedener Bedeutungen: von „Anstieg“, „Treppe“, „Größeneinheit“ bis „Kiste“ oder „Klettersteig“. Online-Übersetzungsprogramme erwiesen sich als besonders tückisch. Gab ich „Schweinstieg“ ein, fragte der Computer zurück: „Meinten Sie: ‚das Schwein stieg‘?“ (Der frühere deutsche Fußballstar Bastian Schweinsteiger – ich nenne ihn jetzt nur noch den „Schweinekletterer“ – wurde gar nicht so weit entfernt von der „Schweinsteiger Alm“ in Oberbayern geboren.)70 Enttäuscht und geschlagen wandte ich mich an drei angesehene Kollegen, allesamt „Germanen“ oder doch wenigstens Germanisten  – aber vergebens. Auch sie konnten mir nicht weiterhelfen. Wie schon beim mysteriösen Verschwinden von MH370 musste ich also meine eigene – spekulative  – Erklärung riskieren. Nachdem ich lange Zeit über dieser altdeutschen Kopfnuss gebrütet hatte, kam ich zu dem Schluss, dass das Konzept einer „Wildschweintreppe“ sich als durchaus tragfähig erweisen könnte, solange man nicht auf einer allzu wörtlichen Lesart besteht. Man muss sich nur vorstellen, wie die wilden Schweine – Keiler, Bachen und Frischlinge – aus den unteren Bereichen des Stadtwaldes über einen steilen Anstieg bergauf getrieben werden. Und da auf den heutigen Karten des Frankfurter Umlandes gleich zwei solche steilen Waldwege zu sehen sind, liegt es nahe, den einen als den „unteren“ und den anderen als den „oberen“ zu bezeichnen. Irgendwann später wurden dann – von allerlei Rechtschreibreformen einmal abgesehen – entlang der alten Schweinestege aus dem Mittelalter moderne Wanderwege angelegt, wodurch  – unter anderem – die Unterschweinstiegschneise in die Welt kam – „der Wanderweg, der dem unteren Wildschwein-Aufstiegspfad folgt“. Nach einer Oberschweinstiegschneise habe ich auf der Karte allerdings vergebens gesucht. Da muss ich wieder an den Shuttlebus denken. Hätte ich vielleicht mehr Erfolg gehabt, wenn ich von Anfang an nach der Pendelverkehrbushaltestelle gefragt hätte? „Das liegt für uns wohl jenseits des Wissbaren.“ 794

Boarden, Fliegen, Abstürzen, Verschwinden und Landen

Homer ist natürlich nie in FRA gelandet, aber seine Bücher waren in der Flughafenbuchhandlung zu haben. Und ich war, wie Odysseus, „vielgewandert“, hatte „vieler Menschen Städte gesehn und Sitte gelernt“, bevor ich in mein europäisches Ithaka zurückkehrte, auf meinen „eigenen kleinen Hügel“, wie ihn Joachim du Bellay einst besungen hat. Ich hatte die Kriegs- und Krisengebiete dieser Erde vermieden und etliche bedeutende Länder links liegen gelassen. Aber dennoch hatte ich eine hübsche Auswahl von fremden Kulturen und Gesellschaften kennengelernt. Das Reisen hat es mir ermöglicht, einmal ganz frei und ungezwungen über den Gegenstand nachzudenken, mit dessen Erforschung ich den größten Teil meines Lebens verbracht habe: die Geschichte. Es wäre mir sehr lieb, wenn ich über diese Menschen und ihre Heimat nun sagen könnte – und sei es auch nur in einem ganz bescheidenen Umfang –: „Das kenne ich aus eigener Anschauung.“ Jede Reise endet auf ihre eigene Art, mit einer ganz eigenen Note. John Bunyans Pilgerreise schließt mit einem Abschnitt, der einen wertvollen Rat an den Leser des Buches enthält: What of my dross thou findest [here], be bold / To throw away, but yet preserve the gold: „… und findet sich ein unbrauchbarer Rest, / so wirf ihn weg, das Gold nur halte fest.“71 Die Odyssee endet damit, dass Athene Versöhnung stiftet, die Aeneis mit nur noch mehr Blutvergießen. Und die unvergleichliche Divina Commedia endet im Ton ekstatischen Staunens: A l’alta fantasia qui mancò possa; ma già volgeva il mio disio e ’l velle, sì come rota ch’igualmente è mossa, l’amor che move il sole e l’altre stelle. Hier ward der Flug der Fantasie bezwungen; Doch lenkte mir schon Wunsch und Willen gerne, Gleichmäßig wie ein Rad wird umgeschwungen, Die Liebe, die auch Sonne schwingt und Sterne.72

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15. Imperium: Europäische Geschichte wird exportiert

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15. Imperium

Abgebrühte Historiker, die zu langen Reisen aufbrechen, haben stets ein Vortragsmanuskript im Handgepäck  – nur zur Sicherheit. Da ich auch einige Länder besuchte, die früher einmal Teil des britischen Weltreichs gewesen waren, und ich mich schon darauf freuen durfte, an einigen Orten auch eine Gastvorlesung zu halten, beschloss ich, den Entwurf eines Vortrags mit dem allgemeinen Thema „Weltreiche“ einzupacken. Ich nahm an, dass man von einem vagabundierenden britischen Vortragsreisenden, wie ich einer war, wenigstens ein paar Bemerkungen über die Interaktion zwischen den damaligen Imperialisten und den damals Imperialisierten erwarten würde. Zugleich wollte ich  – weil mir natürlich bewusst war, wie stark dieses Thema emotional aufgeladen ist – auf einen neuen, ungewohnten Zugang setzen, um mein Publikum nicht zu langweilen und etwaige Turbulenzen gleich zu vermeiden. Die indische Schriftstellerin Arundhati Roy hat uns auf die Wildheit hingewiesen, mit der unsere Emotionen in dieser Sache sich mitunter Bahn brechen: „Unsere Strategie sollte es nicht nur sein, den Imperien die Stirn zu bieten“, schreibt sie, „sondern wir sollten sie auch belagern, ihnen die Luft abdrehen, sie beschämen … und unsere eigenen Geschichten erzählen.“2 Ich entschied mich deshalb, zunächst ein paar Worte über meine jüngsten Begegnungen mit dem Thema zu verlieren und dann ganz auf meine Erfahrung als Spezialist für die Geschichte Europas zurückzugreifen; ich wollte das Vorurteil dekonstruieren, das „Europäer“ und „Imperialist“ gewissermaßen als Synonyme auffasst. Manche würden überrascht sein zu hören, hoffte ich, dass Europäer immer wieder auch Opfer von Imperialismus gewesen sind, und nicht immer nur die Täter. Bevor er ein berühmter Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger wurde, hat William Golding, der 2011 seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte, seine Karriere als Geschichtslehrer begonnen, ganz wie ich selbst. Rein zufällig haben wir beide, Golding und ich, an derselben Schule in Maidstone dasselbe Fach unterrichtet, wenn auch zu unterschiedlichen Zeiten. Als junger Leser hatte ich einst Goldings berühmten, 1954 erstmals veröffentlichten Roman Herr der Fliegen angefangen, bekam es dann aber im Lauf der Lektüre mit der Angst zu tun und habe das Buch damals nicht fertiggelesen. Bevor ich nun zu meiner Reise um die Welt aufbrach, nahm ich mir den Roman deshalb noch einmal vor; er war mein Begleiter auf den ersten Flügen meiner Weltumrundung. Wie der Klappentext meiner Ausgabe bereits verspricht, ist Der Herr der Fliegen „grauenerregend“, eine „Schreckensvision“. Der Roman erzählt die Geschichte einer Gruppe von englischen Schuljungen, die auf einer 798

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e­ insamen Insel stranden. In ihrem Kampf ums Überleben ist der dünne Firnis der Zivilisation schon bald abgewetzt; die Jungen verfallen in einen brutalen Tribalismus voller Feindseligkeit, Angst und Gewalt, der sie schließlich bis zum Mord führt. Golding beschreibt, wie ein tropischer Garten Eden durch die Ankunft dieser kleinen Europäer in ein Kriegs­ gebiet verwandelt wird und wie aus tatsächlichen Unschuldsknaben, beinahe über Nacht, brutale Monster werden. „Was sind wir denn?“, fragt eine der Figuren schließlich. „Menschen? Oder Tiere? Oder Wilde?“ Und als die Jungen darüber debattieren, ob nun ein räuberisches „Monster“ auf der Insel sein Unwesen treibt oder nicht, heißt es einmal: „Vielleicht gibt es doch ein Monster … vielleicht sind das ja … wir selber.“3 Manche Interpreten haben in Goldings Roman eine Allegorie des Zweiten Weltkriegs erkannt, an dem der Autor selbst als Marineoffizier teilgenommen hatte; es heißt, Golding sei Augenzeuge gewesen, als die Bismarck in den Fluten des Atlantiks versank. Wieder andere sehen in Herr der Fliegen eine kaum verhüllte Darstellung der Briten auf dem Höhepunkt ihrer imperialen Ambitionen – als Menschen, die ihrer eigenen Heimat entwurzelt sind und sich von der dunkleren Seite der menschlichen Natur zu vollkommen unzivilisierter Brutalität verleiten lassen. In vielen Interpretationshilfen und „Spickheftchen“ zu Herr der Fliegen gibt es einen Abschnitt über „Großbritannien und der Imperialismus“ oder „Die britische Kolonialvergangenheit“. Der springende Punkt von Goldings Erzählung ist, dass die von ihm erdachten Figuren auf ihrer Tropeninsel mit einem Mal Dinge tun, die ihnen zu Hause im Traum nicht eingefallen wären; ohne den hemmenden Einfluss ihrer Familien oder ihrer gewohnten Umgebung kommen die primitiven Seiten der menschlichen Natur wieder zum Vorschein: der Drang zur Dominanz, ein rücksichtsloses Streben nach Macht und der Instinkt, den anderen Furcht einzuflößen. „Wir brauchen Regeln, und wir müssen sie einhalten“, drängt einer der Jungen verzweifelt. „Wir sind doch keine Wilden. Wir sind Engländer, und Engländer sind in allem die Besten.“4 Als Leser spürt man förmlich, wie dem Sprecher jener Zeilen der Boden unter den Füßen wegbricht, bevor er noch den Mund geschlossen hat. Und tatsächlich: Die Dinge nehmen eine schlimme Wendung, und die Höllenfahrt in Richtung Zwietracht, Mord und Totschlag beginnt. Am Schluss des Romans vermeidet Golding geflissentlich alles, was man als ein Happy End (miss-)verstehen könnte. Seine Hauptfigur, Ralph, liegt erschöpft am Strand, nachdem er mit Feuer und Fackel aus seinem Versteck gejagt wurde. Jeden Augenblick muss er damit rechnen, von der verfeindeten Bande gefunden und in Stück gerissen zu werden. Dann blickt er plötzlich 799

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auf und sieht einen Marineoffizier in weißer Uniform direkt über sich stehen. Der Offizier erklärt dem Jungen, dass sein Schiff Kurs auf die Insel genommen habe, nachdem man an Bord den dichten Qualm entdeckt hatte, der bei einem heftigen, von den Jungen verursachten Brand im Dschungel aufgestiegen ist. Als er erfährt, was vorgefallen ist – mehrere der Jungen sind bei den schrecklichen Geschehnissen getötet worden –, reagiert er mit Tadel: „Ich hätte angenommen, dass eine Horde britischer Jungs – ihr seid doch alles Briten, richtig? – in der Lage wäre, das besser hinzukriegen als das hier – also wirklich …“ Wie konnte es sein, dass sie in derart kurzer Zeit jeglichen Respekt für die Normen eines zivilisierten Miteinanders verloren hatten? Ralph seinerseits ist überwältigt von dem Wissen, dass er überlebt hat, dass er noch einmal davongekommen ist: „Die Tränen begannen zu fließen; Schluchzer schüttelten ihn … und [er] beweinte das Ende der Unschuld [und] die Finsternis im Herzen der Menschen …“5 Zuletzt habe ich jedoch ein Buch ganz anderer Art gelesen, einen Reisebericht mit dem Titel Empire of the Mind: A Journey through Great Britain („Das Weltreich im Kopf: Eine Reise durch Großbritannien“, 2007) von Iqbal Ahmed. Hier ist das Szenario genau entgegengesetzt zu Goldings Roman: Ein Reisender vom indischen Subkontinent strandet auf einer „einsamen Insel“ der etwas anderen Art, nämlich in Großbritannien, und muss bei diesem ersten Besuch feststellen, dass dort alles ganz anders ist, als er es sich immer vorgestellt hatte. Der Autor, ein Kaschmiri aus Srinagar, ein gebildeter Mann, Buchliebhaber und begeisterter Radfahrer, hatte schon viel über dieses alte Herz des britischen Weltreiches gehört; so gut wie alles davon stellte sich bei eigener Betrachtung als falsch heraus. Das Buch beginnt, beispielsweise, mit Besuchen in Oxford und Cambridge, mit deren Universitäten ich selbst heutzutage am engsten verbunden bin: Unsere erste Anlaufstelle [in Oxford] war das Jesus College. Wir folgten dem Guide in den Innenhof, wo das Gras so grün und samtig war wie auf dem schönsten Bowlingrasen. Er führte uns in eine Ecke …, um uns ein paar einleitende Worte über berühmte frühere Studenten des Colleges zu sagen. Der erste Name, den er erwähnte, war Richard Burton – nicht der Schauspieler, sondern der Entdeckungsreisende aus dem 19. Jahrhundert. [Burton war, wie sich herausstellte,] seinerzeit relegiert [also des Colleges verwiesen] worden, und das schon nach kurzer Zeit; er hatte den Eindruck gehabt, in Oxford „unter die Krämer gefallen“ zu sein. [Burton] ging als Leutnant zur Britischen Ostindien-Kompanie, übersetzte das Kamasutra 800

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sowie Tausendundeine Nacht ins Englische und soll schließlich, wie man sich erzählt, Arabisch gesprochen haben wie eine zweite Muttersprache.

Als er nach der Abreise aus Oxford wieder nach London kommt, empfindet Ahmed, wie er schreibt, „eine tiefe Erleichterung“.6 Weitere Überraschungen erwarten ihn jedoch in Cambridge, nicht zuletzt in den heiligen Hallen des Trinity College: Die Bibliothek [gemeint ist die Wren Library] lag an der Ostseite des Innenhofs. Um hineinzugelangen, erklomm ich eine steile Treppe … Zu beiden Seiten des Parketts standen Marmorbüsten von illustren Ehemaligen des College aufgereiht, unter den strengen Blicken einer lebensgroßen Statue von Lord Byron. [Aber] als Vladimir Nabokov in den 1920er-Jahren am Trinity College studierte, hielt er sich von der Bibliothek tunlichst fern, und sein Name fiel auch nicht, als es bei unserer Führung um die Berühmtheiten von Trinity ging. … Ich fragte eine Bibliothekarin, eine ältere Dame, nach dem Grund für dieses Versäumnis. Sie antwortete, dass das College doch schon Milton, Tennyson und [Isaac] Newton unter seine berühmten Absolventen zähle, [ganz so, als ob es dann ja keine weiteren mehr brauche]. Entsprechende Namen aus dem 20. Jahrhundert schienen ihr überhaupt nicht bekannt zu sein. … [Pandit] Nehru, der erste Premierminister Indiens nach seiner Unabhängigkeit, hat am Trinity College studiert … Seinen Memoiren zufolge hat er seine Zeit dort mit Reiten, Tennis und Kartenspiel verbracht.7

Und so weiter. In Iqbal Ahmeds Darstellung wird ein großer Kontrast deutlich zwischen seinem doch beträchtlichen Wissen über Großbritannien auf der einen Seite – und dem Wissen der Briten selbst auf der anderen. In diesem Zusammenhang musste ich an eine eindrückliche Passage in Herr der Fliegen denken. In seiner Beschreibung des Prozesses, in dem die gegensätzlichen Einstellungen der Jungen schließlich in Konflikt geraten, spricht Golding von den beiden späteren Hauptwidersachern als „zwei Kontinente[n] an Erfahrungen und Gefühlen, die sich einander nicht mitteilen konnten“.8 „Kontinent von Erfahrung und Gefühl“ ist eine wunderbare Formulierung. Eine ähnliche Trennung – eine mentale, intellektuelle und emotionale Kluft – kann man, denke ich, auch zwischen der europäischen und der außereuropäischen Geschichtsschreibung über Europa feststellen – und sogar zwischen verschiedenen Sorten von Europäern und verschiedenen Sorten von Nichteuropäern. 801

15. Imperium

Ein drittes Buch, das mich nachhaltig beschäftigt hat, war Ghosts of Empire („Geister eines Weltreichs“ oder „Imperiale Gespenster“)9 von Kwasi Kwarteng, einem britisch-ghanaischen Autor, Eton-Absolventen und Parlamentsabgeordneten im Unterhaus von Westminster.10 Das Buch enthält sechs Einzelstudien zu je einem anderen Land. Kwartengs Hauptthese ist, dass das britische Weltreich in der Verschiedenheit seiner Teile absolut einzigartig war. Besonders Kwartengs Irak-Kapitel zog mich an, teils, weil die irakische Tragödie nun schon seit mehr als zehn Jahren für Schlagzeilen sorgt, teils aber auch, weil im Februar 2003 meine Frau und ich zum ersten und bislang einzigen Mal in unserem Leben als Demonstranten auf die Straße gingen, um an einer großen Protestkundgebung in London gegen den sich abzeichnenden Irakkrieg teilzunehmen. Bei der Lektüre von Kwartengs Buch gelangte ich schnell zu der Überzeugung, dass das Verhalten der britischen Regierung bei der Schaffung Iraks in den Jahren 1918–22 kaum weniger skrupellos war als 2002/03, als verlogene Geheimdienstberichte zu einer blinden Unterstützung der US-Politik führten und als Rechtfertigung für die Invasion und Zerschlagung von Saddam Husseins Republik her­ halten mussten. Wie sich nämlich herausstellte, war Irak von Anfang an ein rein künstliches Gebilde, ein Staat, der aus drei ganz verschiedenartigen Vilâyets (Provinzen) des Osmanischen Reiches – Mossul, Bagdad und Basra – zusammengestückelt und von den siegreichen Briten als Eroberung für sich beansprucht wurde. Erst hinterher wurde dieser Erwerb durch ein rückwirkendes Mandat des Völkerbundes legitimiert und das politische System Iraks – als Monarchie von britischen Gnaden – neu organisiert. Schon die bloße Existenz dieses neuen Staatsgebildes „stank nach Öl“, wie Kwarteng es treffend formuliert. Sein Buch beginnt mit einer Szene, die sich am 21.  November 1918 im Londoner Lancaster House abgespielt hat, nur zehn Tage nach dem Waffenstillstand, der den Ersten Weltkrieg beendete. Der britische Außenminister Lord Curzon, vormals Vizekönig von Indien und ein „Erzimperialist“, erklärte in einer Tischrede vor Vertretern der Inter-Allied Petroleum Conference („Interalliierte Erdölkonferenz“), dass „die Alliierten auf einer Welle von Öl zum Sieg getragen“ worden seien. Bei diesen stolzen Worten dachte Curzon wohl an die ölgefeuerten Kriegsschiffe der Royal Navy, an die unverzichtbaren Diesel-Lastwagen der britischen Armee und das Benzin, das in den Motoren der RAF-Flugzeuge verfeuert wurde. Zugleich schlug sich in seiner Bemerkung aber auch der Bericht über „Die Petroleumsituation im 802

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britischen Weltreich“ nieder, den ein leitender Beamter im Kriegsministerium, der Admiral Sir Edmond Slade, unlängst vorgelegt hatte. Sir Edmond betonte darin, wie schädlich die Abhängigkeit Groß­britanniens vom amerikanischen Öl sei; im Interesse der britischen Selbstständigkeit müsse dringend die Suche nach weiteren Erdölvorkommen vorangetrieben werden, vor allem in Mesopotamien. Und wie der Kabinettssekretär Sir Maurice Hankey erklärte, war „der Erhalt der ölreichen Gegenden in Mesopotamien und Persien [als Teil der britischen Einflusssphäre] eines der vornehmsten Ziele unserer Kriegführung“.11 Kurz darauf, am 1.  Dezember, traf sich der britische Premier David Lloyd George mit seinem französischen Amtskollegen Georges Clemenceau. Das mesopotamische Öl war eines ihrer Gesprächsthemen. In den Bestimmungen des geheimen Sykes-Picot-Abkommens von 1916, das die Aufteilung des osmanischen Territoriums vorbereitete, hatten die Briten dummerweise einem Grenzverlauf zugestimmt, durch den die Provinz Mossul mit ihren Erdölvorkommen unter französische Kontrolle kam. Dieser Irrtum wurde nun behoben. Die Franzosen erklärten sich bereit, ihren Anspruch auf Mossul abzutreten, wenn sie dafür ein Viertel der künftigen Öleinnahmen erhielten. Dann konnte die britische Kolonialverwaltung an die Arbeit gehen. Sir Percy Cox – Spitzname: „Coccus“ – war mit seiner großen Erfahrung als politischer Resident am Persischen Golf der Mann, dem die Neuordnung der Region übertragen wurde. Von ihm hieß es, er könne „in einem Dutzend Sprachen absolutes Stillschweigen bewahren“. Sein Stellvertreter für Zivilangelegenheiten, Oberstleutnant Arnold Wilson, der in der Indienarmee gedient hatte und als „the Despot of the Mess-pot“ bekannt war,* hatte das Kommando geführt, als 1908 die ersten Ölquellen in der Golfregion erschlossen worden waren, und war bei der Pariser Friedenskonferenz 1919 derjenige gewesen, der den altgriechischen Namen Mesopotamien – „Land zwischen den Flüssen“, Zweistromland  – durch den arabischen Namen Irak („Land der Gewässer“) ersetzt hatte. Sir Percys „orientalische Sekretärin“ war die respekteinflößende Gertrude Bell (1868–1927), eine Fünfzig­ jährige, die einst als erste Frau ihr Studium in Oxford mit Auszeichnung abgeschlossen hatte. Die sportliche Sprachgelehrte war eine passionierte Reisende und Archäologin; ihre Biografen haben sie als eine wahre „Wüstentochter“ und „Königin der Wüste“ bezeichnet. Miss Bell sprach fließend * Etwa: „der Tyrann der Truppenküche“; mit mess-pot ist das typische Kochgeschirr einer Armee im Feld gemeint (Anm. d. Übers. T. G.).

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Arabisch und Persisch (Farsi) und hatte zwanzig Jahre damit zugebracht, den Nahen und Mittleren Osten zu bereisen und zu erforschen. Dabei kam ihr die Unterstützung der britischen Geheimdienste zugute; ihre Autorität und Befugnisse lagen weit über dem, was ihre nominelle Stellung als „Sekretärin“ erwarten ließ. Sie soll einmal gesagt haben: „Wir können dieses Land nicht in dem chaotischen Zustand zurücklassen, den wir selbst geschaffen haben“ – und das deutet im Voraus schon auf Probleme hin, die erst Jahrzehnte später wirklich akut werden sollten.12 Lord Curzon seinerseits hätte so etwas nie öffentlich gesagt. Von ihm ist der unbescheidene Satz überliefert: „Die Briten haben für Irak in zwei Jahren mehr getan als die Türken in zwei Jahrhunderten.“13 Die neuen Herren des Irak sahen sich mit zwei Herausforderungen konfrontiert: Zum einen mussten sie eine effektive, tragfähige Staatsform schaffen, zum anderen durfte ihnen die Kontrolle über die aufkommende Ölindustrie auf keinen Fall entgleiten. Im Bereich der politischen Steuerung waren drei Schritte vonnöten: Erstens musste die britische Präsenz in Irak durch ein „A-Mandat“ des Völkerbundes verbindlich fixiert werden (es gab drei Klassen von Mandaten: A, B und C); dieses Mandat wurde bei der interalliierten Konferenz von Sanremo im April 1920 vereinbart. Als Zweites sollte eine irakische Monarchie errichtet werden, was ganz dem üblichen Vorgehen der Briten im Sinne einer „indirekten Herrschaft“ über abhängige Gebiete entsprach. Hierzu ließ man den Prinzen Faisal, einen Sohn des haschemitischen Scherifen von Mekka und Bruder des späteren Emirs von Transjordanien, zum König ausrufen (nachdem ein erster Thronbesteigungsversuch Faisals in Syrien gescheitert war). Drittens hängte man der einmal getroffenen Regelung das fromme Mäntelchen einer späteren irakischen Unabhängigkeit über. Allerdings ließ die Wortwahl in Lord Curzons privaten Äußerungen erkennen, dass die Briten überhaupt nicht daran dachten, ihre Kontrolle über die Region in absehbarer Zeit aufzugeben; war dort doch von „imperialer Vormundschaft“, einer „ewigen Pacht“ und einem „Schleier von Verfassungsmärchen“ die Rede. Die aufrichtigsten Worte zu diesem Thema wurden womöglich zwischen Gertrude Bell und einem leitenden irakischen Beamten gewechselt: „Großbritannien ist bestrebt, dem Irak die völlige Unabhängigkeit zu gewähren“, sprach Miss Bell. „Gnädige Frau“, antwortete Dschafar Pascha al-Askari, „völlige Unabhängigkeit wird niemals gewährt; man muss sie sich nehmen.“14 Im Bereich der Ölwirtschaft sorgte der wichtigste Schachzug der Briten dafür, dass sie die bereits bestehende Fördergesellschaft Turkish Petroleum Company, die sämtliche Explorations- und Förderrechte innehatte, voll804

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Schwarzes Meer

Der Mittlere Osten in den 1920ern

Istanbul

SOWJETUNION

Ankara

Kaspisches Meer

TÜRKEI

1939 an Türkei

Zypern

Mittelmeer

LIBANON (franz.)

N

Teheran

SYRIEN (franz.)

Damaskus

Bagdad

PALÄSTINA Amman Jerusalem Alexandria TRANSKairo JORDANIEN

PERSIEN

IRAK

(IRAN)

S

KUWAIT

Persischer Golf

ÄGYPTEN

Golf v. Oman

ARABIEN TRUCIAL S TAT E S

Riad

M A S K AT UND OMAN

Mekka

Rotes Meer ANGLOÄGYPTISCHER SUDAN

P R OT E K TO R AT ADEN

JEMEN FRANZÖSISCHE SOMALIKÜSTE

ADEN Aden

Golf von Aden

ÄT H I O P I E N

BRITISCHSOMALILAND

Türkei nach dem Vertrag von Sèvres (1920) Türkische Gebietsgewinne im Vertrag v. Kars (1921) Türkische Gebietsgewinne im Vertrag v. Lausanne (1923) Südgrenze der Türkei 1923

Arabisches Meer

I TA L I E N I S C H SOMALILAND

Unter britischer Souveränität oder Schutz Britische Mandate Französische Mandate Französische Kolonien Italienische Kolonien

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15. Imperium

ständig unter ihre Kontrolle bringen konnten. Die treibende Kraft hierbei war der geniale armenische Ölexperte und Investor Calouste Gulbenkian (1869–1955), „Mr. Fünf Prozent“, der mit diesem Geschäft allein ein Multimillionenvermögen erwarb. Die osmanischen und deutschen Beteiligungen an dem Unternehmen wurden von den Briten kurzerhand eingezogen. Als Mehrheitsholding wurde die Fördergesellschaft Anglo-Iranian Oil eingesetzt, die heutige BP (vormals British Petroleum). Kleinere Beteiligungen gingen an Royal Dutch Shell, die Franzosen, König Faisal und – natürlich – an Calouste Gulbenkian. Nachdem man auch in Irak auf Öl gestoßen war, wurde der Gesamtkonzern in Iraq Petroleum Company (IPC) umbenannt. Dieses abgekartete Spiel zur Ausbeutung der irakischen Ölvorkommen erregte den Zorn eines gewissen Thomas Edward Lawrence, besser bekannt als „Lawrence von Arabien“. Ein Leserbrief, den er im Juli 1920 an die Londoner Times richtete, kocht nur so vor Entrüstung: „Die Araber haben sich nicht gegen die Türken erhoben, nur um andere Herren an deren Stelle zu setzen!“, heißt es da. Und doch geschah genau dieses: Eine Fremdherrschaft löste die andere ab, und die indirekte Herrschaft der Briten über die Golf­ region sollte all ihre Planer und Architekten überdauern. Genauer gesagt überlebte sie zwei Aufstände, die irakische Unabhängigkeitserklärung im Jahr 1932, die frühen Tode König Faisals und seines Sohnes sowie den Zweiten Weltkrieg. Zum Showdown kam es erst am 14. Juli 1958, als ein Militärputsch die zuvor in Irak bestehende Ordnung zerschlug. Der junge König, Faisal II., wurde ermordet, sein Leichnam verstümmelt. Ein britischer Konsul wurde mit der Axt erschlagen. Eine Republik wurde ausgerufen. Als jedoch in den 1960er-Jahren die Sowjetunion bestrebt war, sich als Hegemonialmacht in der arabischen Welt zu etablieren, schwenkte die irakische Armee auf den politischen Kurs des „Baathismus“ ein, um ihre antiwestliche Haltung zu untermauern; ein Einparteienstaat nach sowjetischem Vorbild war die Folge, und nach der Regierungsübernahme der Baath-Partei 1968 stieg bald ein junger General namens Saddam Hussein zum neuen starken Mann im Staat auf. Schon 1972 hatte Saddam, damals noch als Vizepräsident, die irakische Ölindustrie verstaatlicht; die üppigen Einnahmen aus dieser Quelle wurden in staatliche Wohlfahrtsleistungen investiert. Man versteht unmittelbar, warum Saddam Hussein in dieser frühen Phase seiner Karriere – vor seinen militärischen Abenteuern – ein durchaus beliebter Staatsführer war. Während der vier Jahrzehnte andauernden Vorherrschaft über Irak wurde nicht nur den einfachen Irakern, sondern auch den Amerikanern 806

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ihr Stück vom Kuchen vorenthalten. Immer wieder verurteilte Washington die britische und französische Einflussnahme in der Region und forderte insbesondere im Bereich der Ölförderung eine „Politik der offenen Tür“ ein. Die amerikanische Regierung wollte alles auf einmal: den Luxus einer antiimperialistischen Rhetorik, zugleich aber auch – immerhin war man ja eine alliierte Siegermacht – ein auskömmliches Stück von der Kriegsbeute. Die Amerikaner waren schon Imperialisten, aber eben keine mehr vom alten Schlag. Kurioserweise war der Mann, der ihnen in ihrem Bestreben am meisten weiterhalf, ein typischer Angehöriger des britischen Establishments, der sozusagen unter die Eingeborenen gegangen war. Obwohl er heute weniger bekannt ist als sein unartiger Sohn, der Kommunist und sowjetische Doppelagent Kim Philby, war das Leben von Harry St. John Philby (1885–1960), genannt „Jack“, doch noch um einiges turbulenter. Beim Blick auf seinen frühen Werdegang hat man das perfekte Abziehbild eines Oberschichtenengländers seiner Zeit vor Augen: Eliteschule, Oxford, Karriere bei der Armee. Bernard Montgomery, der spätere Feldmarschall und Gegenspieler Rommels in Nordafrika, war sein Trauzeuge. Unter dieser einigermaßen konventionellen Schale verbarg sich jedoch ein rebellischer, eigenwilliger Kern: Früh war Philby senior Sozialist, und er liebte exotische Sprachen wie Pandschabi und Belutschi. Er war ein kühner Entdecker, aber auch ein ausgekochter Betrüger und ein Mann, der mit extremen politischen Ansichten spielte. Von 1915 bis 1929 war Harry Philby, nachdem er von Percy Cox und Gertrude Bell in die Geheimdienstarbeit eingeführt worden war, als Agent seiner Majestät in Irak stationiert. Zwischen 1918 und 1920 amtierte er zudem als erster Innenminister des Haschemitischen Königreichs Irak. Wie auch „Lawrence von Arabien“ gelangte Philby jedoch bald zu der Ansicht, dass die Araber nach Strich und Faden über den Tisch gezogen wurden; außerdem hegte er eine tiefe Abneigung gegen die Haschemiten-Dynastie. In der Folge wandelte sich Philby nach und nach zu einem Anhänger von Scheich Abd al-Aziz ibn Saud, dem ärgsten Rivalen der Haschemiten im Kampf um die Vorherrschaft auf der Arabischen Halbinsel. Als 1925 Ibn Saud seine Widersacher aus Mekka vertrieb, zog Philby dauerhaft nach Riad, wo er nicht nur zum Islam konvertierte, sondern auch ein Mädchen vom dortigen Sklavenmarkt heiratete und als „Scheich Abdullah“ zu einem engen Berater der Saud-Dynastie wurde. Gleichzeitig freundete er sich mit Amerikanern aus der Ölindustrie an und drängte die „Ölmänner“ dazu, in die Erschließung neuer Ölvorkommen zu investieren, um eine Konkurrenzfirma zur IPC aufzubauen. 1932 organisierte 807

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Philby die Zeremonie, bei der Ibn Saud zum König des neu geschaffenen Reiches Saudi-Arabien gekrönt wurde, und 1933 war er intensiv an den Verhandlungen rund um die erste Konzessionsvergabe an American Oil beteiligt, die schließlich zur Gründung von ARAMCO führen sollte (heute als Saudi Aramco die größte Erdölfördergesellschaft der Welt). Und als ob dies alles noch nicht genug gewesen wäre, kehrte er 1939 nach Großbritannien zurück, um in der Ergänzungswahl für den Wahlkreis Hythe in Kent als Kandidat der faschistischen British People’s Party anzutreten. Im Anschluss daran wurde er – auch, weil er sich gegen eine Kriegserklärung Großbritanniens an Nazi-Deutschland ausgesprochen hatte – umgehend interniert. Als es ihm schließlich 1943 oder 1944 gelang, nach Saudi-Arabien zurückzukehren, war die IPC als wichtigste Fördergesellschaft bereits von ARAMCO abgelöst worden und die Vereinigten Staaten hatten einen sicheren Fuß in der Tür. Dies sollte es ihnen auch in Zukunft ermöglichen, die Briten bei der Einflussnahme im Nahen Osten zuverlässig auszustechen. Heutzutage ist Saudi-Arabien der größte Erdölproduzent der Welt, und die Weltmacht USA mag angeschlagen sein, bleibt aber doch weltweit dominant.15 So dachten und handelten also die imperialistischen Strategen und Weltmacht-Architekten, deren damalige Interessen den Charakter der internationalen Beziehungen bis heute prägen. Nach dem Berliner Kongress 1878 erklärte der Premierminister Königin Victorias, Benjamin Disraeli: „Unser Weltreich ist ein Reich der Freiheit, Wahrheit und Gerechtigkeit.“ Wie Kwasi Kwarteng feststellt, lässt Disraelis kurze Liste der imperialen Tugenden doch einiges vermissen: Völlige politische Freiheit gab es im britischen Weltreich nur für wenige; für die allermeisten war es kein „Reich der Freiheit“, sondern ein „Reich der Unterwürfigkeit“. Ein „Reich der Wahrheit“ war es nur dann, wenn dies den Londoner Entscheidungsträgern opportun erschien. Und obwohl seine Gesetze und juristischen Institutionen nicht selten Ordnung in ein Chaos brachten, waren (soziale) Gerechtigkeit und eine Gleichheit vor diesen Gesetzen eher untergeordnete Ziele der britischen Imperialpolitik. Die Demokratie, die bis ins frühe 20. Jahrhundert langsam ihren Weg in das „Mutterland“ gefunden hatte, gelangte von dort nur in die allerwenigsten britischen Kolonien. Hierarchien, Klassenprivilegien und Snobismus hatten dagegen stets den Vortritt. Jedoch war, nach Kwartengs Auffassung, das britische Empire weder gänzlich gut noch gänzlich schlecht, sondern muss aus sich selbst heraus, nach der Maßgabe seiner eigenen Zeit und Umstände, verstanden und bewertet werden. „Was seine Ausmaße und seinen hohen Anspruch 808

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an sich selbst betraf, [war es] mit keinem anderen Herrschaftssystem zu vergleichen, das die Welt jemals gesehen hat.“16 Man kann leicht verstehen, wie Menschen, die in anderen Erdteilen leben, auf die Idee kommen, dass Kolonialreiche und Imperialismus die hauptsächlichen – wenn nicht gar die einzigen – Aspekte der europäischen Geschichte seien, die eine nähere Betrachtung lohnten; dabei gibt es noch so viel anderes Bedenkenswertes. Ich kann hier unmöglich all die vielen Sichtweisen auf die europäische Geschichte aufzählen, die gegenwärtig im Umlauf sind; dazu darf ich auf die Einleitung meines Buches Europe: A History verweisen.17 Nur so viel soll hier gesagt sein: Auf einer solchen Liste müssten sowohl das selbstgefällige und mit Nachdruck etwa in den Vereinigten Staaten vertretene Konzept von der „westlichen Zivilisation“ stehen als auch die weitverbreitete Vorstellung, die angeblich „europäische Geschichte“ sei in Wahrheit nicht mehr als eine bunte Ansammlung von Nationalgeschichten – der britischen, französischen, deutschen, polnischen und so fort. Aber auf ein paar der einflussreichsten Denkansätze zu diesem Thema, die in den letzten Jahren aufgekommen sind, möchte ich hier doch zumindest noch hinweisen. Da wäre etwa die These von der „Großen Divergenz“, die zuerst von dem amerikanischen Politologen Samuel P. Huntington aufgestellt wurde und von dem britischen Historiker Niall Ferguson weiter ausgearbeitet und vertreten worden ist. Ferguson hat übrigens einmal am Magdalen College in Oxford studiert, wie ich selbst auch, und hat am Jesus College, das Iqbal Ahmed besuchte, gelehrt. (Wenn meine Berechnungen stimmen, sollte Ferguson just zu der Zeit am Jesus College tätig gewesen sein, als der Besucher aus dem fernen Kaschmir über den Innenhof geführt wurde.) Die Bezeichnung „Große Divergenz“ ist eine Chiffre für die lange Periode vom späten 15. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts als einem Zeitraum, in dem die Entwicklung und der Fortschritt Europas die Entwicklung und den Fortschritt der anderen Kontinente weit überstiegen und so zu einer weltweiten Dominanz der europäischen Mächte führten. In dieser sehr allgemeinen Formulierung ist die Richtigkeit der Divergenzthese wohl unbestreitbar; über die Ursachen, den genauen zeitlichen Ablauf und die Frage nach dem Abschluss dieses Prozesses wurden und werden jedoch zahlreiche und mitunter heftige Debatten geführt. Die alten Vorstellungen von angeblichen geografischen Vorteilen Europas oder der Überlegenheit der europäischen Nationalcharaktere verwirft Ferguson. Und er besteht darauf: „Nicht an allem ist der Imperialismus schuld.“ Stattdessen stellt er eine Reihe von hauptsächlichen Einflussfaktoren vor, die er – ganz auf der Höhe der Zeit – als „Applikationen“ (genauer gesagt: als 809

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„Killerapplikationen“) bezeichnet, darunter die europäische Seemacht und den Interkontinentalhandel, Wissenschaft und Medizin, Eigentumsrechte und Rechtsstaatlichkeit, Konsumverhalten und (protestantische) Arbeitsethik sowie – dies hält er für besonders wichtig – die harte Konkurrenz der europäischen Mächte untereinander. Die wirtschaftliche, politische und militärische Rivalität zwischen den Spaniern, Portugiesen, Franzosen, Briten und Niederländern war, folgt man Ferguson, entscheidend für die europäische Vormachtstellung in der Welt. Er schließt mit der folgenden Feststellung: „Der Niedergang des Westens ist nicht unaufhaltbar, aber die Divergenz ist vorbei, Leute!“18 Einen anderen Zugang zum selben Thema wählt Jared Diamond, ein umfassend interessierter und geistig überaus aufgeschlossener Geografieund Physiologie-Professor aus Kalifornien, der bisweilen als ein „transdisziplinärer Universalgelehrter“ bezeichnet worden ist. Auf die Geschichte als Forschungsgegenstand ist er über seine Forschungen zur menschlichen Evolution und indigener Völker, vor allem auf Neuguinea, gekommen. Diamonds Bücher sprühen nur so vor erstaunlichen Thesen und Theorien, angefangen bei Der dritte Schimpanse (1991; dt. 1994) über das „menschliche Tier“, dann unter anderem in Vermächtnis: Was wir von traditionellen Gesellschaften lernen können (2012) und zuletzt in Krise: Wie Nationen sich erneuern können (2019).19 Diamond glaubt, dass der Ursprung der beeindruckenden Entwicklung Europas in dessen ökologischen Besonderheiten zu suchen sei, denn „dass die Geschichte verschiedener Völker unterschiedlich verlief, beruht auf Verschiedenheiten der Umwelt und nicht auf biologischen Unterschieden zwischen den Völkern.“ Ein tiefrotes Tuch ist für Diamond die Vorstellung, den Europäern oder der europäischen Kultur käme eine gleichsam angeborene Überlegenheit zu: Fazit: Die Kolonisierung Afrikas durch Europäer hatte nichts mit Unterschieden zwischen afrikanischen und europäischen Völkern zu tun, wie weiße Rassisten meinen. Vielmehr waren letztlich geographische und biogeographische Zufälligkeiten – insbesondere die unterschiedliche Größe, Achsenausrichtung und Ausstattung mit Pflanzen- und Tierarten beider Kontinente – entscheidend für den ungleichen Gang der Geschichte in Afrika und Europa. Letztlich kam also auch in gattungshistorischer Sicht alles darauf an, ‚in welcher Gegend man aufwuchs‘.20

Wie Diamond feststellt und wir alle wissen, hat die Große Divergenz ihren Zenit überschritten, und mit der früheren Dominanz der Europäer in aller 810

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Welt ist es inzwischen vorbei. Aber die unterschiedlichen Arten, auf die verschiedene Menschen jene wichtige historische Epoche in unserer gemeinsamen Geschichte ganz unterschiedlich auffassen, färben auch heute noch auf unsere jeweilige Weltwahrnehmung ab. Wenig überraschend greifen Nichteuropäer auf ihre eigene Erfahrung zurück und beurteilen die europäische Geschichte anhand der Auswirkungen, die sie auf sie selbst und ihre Vorfahren gehabt hat. Daher sehen jene von ihnen, unter deren Vorfahren keine Europäer waren, oft nichts als eine lange Liste von negativen Folgen der europäischen Expansion, darunter die Ausbreitung von Krankheiten, das insgesamt wenig segensreiche Wirken der Missionare, wirtschaftliche Ausbeutung und imperialistische Unterdrückung. Dazu kommt noch Folgendes: Die meisten nichteuropäischen Gesellschaften haben ihre Erfahrungen mit jeweils nur einem europäischen Partner (oder Unterdrücker) gemacht. Vielerorts waren das die Briten und die britische Kolonialherrschaft; in Indochina oder Nordafrika waren es die Franzosen; in Indonesien die Niederländer; in Lateinamerika die Spanier und Portugiesen. Unweigerlich muss ein solcher eingeschränkter Kontakt zu einer gleichfalls eingeschränkten Sichtweise führen, die der Korrektur bedarf. Fergusons und Diamonds Darstellungen haben einen charakteristischen Zug mit vielen anderen Perspektiven gemein – selbst mit solchen, von denen sie sich in anderer Hinsicht deutlich unterscheiden. Gemeint ist ihr Vertrauen auf eine binäre  – oder, wie ein Marxist vielleicht sagen würde: ihre dialektische – Sicht der Dinge. Auf der einen Seite präsentiert man uns die Europäer mit ihren typisch europäischen Werten und Verhaltensweisen. Auf der anderen Seite stehen die Nichteuropäer, die wieder andere Einstellungen und Reaktionsmuster aufweisen. Dieses Szenario lässt mich an eine Art von globalem Fußballmatch denken, bei dem eine hochkarätige Profimannschaft in blütenweißen Trikots gegen eine bunt zusammengewürfelte, ziemlich abgerissene Truppe von Amateuren antreten soll, die alle ganz verschiedenfarbige, rote, braune, gelbe oder schwarze Leibchen tragen. Mit anderen Worten: Ich denke an eine Partie, die von zwei völlig unterschiedlich qualifizierten und ausgestatteten Teams bestritten wird, von denen die einen über „Killer-Apps“ oder „Knarren, Bazillen und Stahl“ verfügen (so der Originaltitel von Diamonds Arm und Reich)  – und die anderen eben nicht, sondern schlecht ausgestattet und untrainiert sind. Wenn zwei solche Mannschaften aufeinandertreffen, ist das Ergebnis leicht vorherzusagen. Das gerade beschriebene Szenario möchte ich hier infrage stellen – und ich hoffe, dass mein Reisebericht in den vorangegangenen Kapiteln dieses 811

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Buches es bereits infrage gestellt hat. Ich glaube nicht, dass man die Welt mit ihren vielfältigen Gesellschaften und Kulturen in zwei klar geschiedene „Teams“ einteilen kann oder dass auch nur die Europäer selbst, wenn man ehrlich ist, als Verfechter einer einzigen, gemeinsamen Tradition mit gemeinsamen Zielen gelten können. Ich selbst bin ja nicht nur Brite, sondern habe in meinem Leben auch vielfältige Beziehungen nach Osteuropa geknüpft – was meine eigene Sichtweise zweifellos prägt. Meine weiteren Gedanken zu diesem Thema möchte ich anhand von zehn Stichworten ordnen. 1. Imperiale Großmächte. Ganz egal, wie sehr man Europa mit dem Imperialismus gleichsetzen möchte: Die meisten europäischen Länder haben zu keiner Zeit transkontinental-imperialistische Vorhaben verfolgt. Von den 45 Staaten, die zum Zeitpunkt meiner Reise im Europarat vertreten waren, hatten nur zwölf  – also etwa ein Viertel  – jemals Territorien in Übersee besessen. Portugal, Spanien, Frankreich, Großbritannien und Russland waren die Imperialisten par excellence gewesen. Belgien, die Niederlande, Italien, Deutschland, Schweden und Dänemark waren zwar ebenfalls mit dabei, aber doch nur in einem wesentlich beschränkteren Umfang. Und Österreich? Der österreichischen Krone war zwar in Europa einiges Erdreich untertan, doch besaß sie nur ein einziges Überseeterritorium – die Nikobaren –, und das auch nur fünf Jahre lang, von 1778 bis 1783. Abgesehen davon hatten die restlichen europäischen Staaten keinerlei Imperialismus-Erfahrung – es sei denn, sie wurden ihrerseits zum Opfer imperialer Bestrebungen. Als in dieser Hinsicht typischer europäischer Staat sollten deshalb nicht Großbritannien, Frankreich oder Russland gelten, sondern irgendein kleines oder mittelgroßes Land, das am Spiel der Großmächte nur wenig oder gar keinen Anteil nahm. Betrachten wir doch einmal das Beispiel Polen, ein Land, das ich selbst gut kenne, das aber in Darstellungen der europäischen Geschichte meist nur am Rande vorkommt. Dabei hat Polen eine bewegte Geschichte von mehr als tausend Jahren vorzuweisen. Es hat ganz extreme Wendungen des Schicksals erlebt: Für eine kurze Weile – es war im 16. Jahrhundert – gebot Polen über den größten Staat in ganz Europa, aber am Ende des 18. Jahrhunderts war es vollkommen zerschlagen, ja ausgelöscht, nur um dann zu Beginn des 20. Jahrhunderts wieder aufzuerstehen. Auf der Höhe seiner Macht beherrschte und kolonisierte Polen weite Teile der heutigen Staaten Litauen, Weißrussland und Ukraine. Nie jedoch war es außerhalb Europas engagiert.21 812

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Jedoch – als Historiker darf man eigentlich niemals „nie“ sagen. Schließlich erwarb im Jahr 1639 der überaus vermögende Herzog von Kurland, ein Vasall des polnischen Königs, für kurze Zeit einen gewissen Einfluss auf der Karibikinsel Tobago und ließ 1651 auf einer Insel vor der Mündung des Gambia in Westafrika einen Handelsposten errichten. Bevor er seine Besitzungen in Übersee den Engländern überlassen musste, konnte er sich also – wenn auch nur kurzzeitig – als Kolonialherrscher bezeichnen. Als die Polen dann später nicht mehr mit ihren mächtigen Nachbarn, den Deutschen und Russen, mithalten konnten, war ihnen immerhin die glorreiche Vergangenheit präsent, in der sie, zumindest indirekt, über ein kleines Stückchen Afrika geherrscht hatten. Auch das Deutsche Reich ist ein sehr interessanter Fall. Als das „Zeitalter des Imperialismus“ seinen Höhepunkt erreicht hatte, stand es unzweifelhaft an der Spitze der reichsten und (militärisch) stärksten Nationen Europas. Trotzdem war die deutsche Beteiligung an imperialen und kolonialen Vorhaben bescheiden, wenn nicht sogar minimal, setzt man sie ins Verhältnis zur deutschen Machtstellung und zum deutschen Wohlstand in ihrem europäischen Kontext. Ein vereinigtes Deutsches Reich gab es ja überhaupt erst ab 1871, und für alle sechs der wichtigsten deutschen Kolonien galt: Sie waren abgelegen, vergleichsweise klein und kamen erst sehr spät in deutschen Besitz. 1884 wurden die deutschen „Schutzgebiete“ in Westafrika (Kamerun und Togo) sowie Deutsch-Südwestafrika (das heutige Namibia) erworben; im Jahr darauf Deutsch-Ostafrika (heute Tansania, Burundi und Ruanda); 1898 das Pachtgebiet Kiautschou mit der Stadt Tsingtau an der Ostküste Chinas; 1899 schließlich Deutsch-Samoa und Deutsch-Neuguinea. Wegen dieser späten Aufholjagd war der Unmut in Berliner politischen Kreisen groß: Man sah sich um seinen rechtmäßigen „Platz an der Sonne“ betrogen. Dieses akute Gefühl, übergangen worden zu sein, spielte keine kleine Rolle, als sich wenige Jahre später der Erste Weltkrieg zusammenbraute.22 2. Europa als Opfer des Imperialismus. Über die Jahrhunderte hinweg haben viele Länder und Regionen Europas unter Armut und Strukturschwäche zu leiden gehabt; oft sind sie von ihren stärkeren Nachbarn unterdrückt und ausgebeutet worden – und das auf eine Weise, die den späteren Verhältnissen in den Überseekolonien gar nicht so unähnlich war. Der klassische Fall in dieser Hinsicht ist wohl Irland. Nach der Eroberung durch die Könige von England im 12.  Jahrhundert wurde Irland fast achthundert Jahre lang von London aus regiert, wobei die Iren 813

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alle möglichen Arten von politischer, kultureller und ökonomischer Unterdrückung erdulden mussten. Zahlreiche Plantations („Ansiedlungen“) fremder Kolonisten gehörten dazu, vor allem in Ulster (Nordirland) und dem sogenannten English Pale (etwa „englisches Siedlungsgebiet“) rund um Dublin. Auch litten die Iren unter ungerechten Gesetzen, vor allem im Boden- und Grundstücksrecht, das englische Grundbesitzer bevorteilte, und im Strafrecht, das in unfairer Weise gegen die mehrheitlich katholische einheimische Bevölkerung gerichtet war. Nicht zuletzt war Irland über Jahrhunderte hinweg immer wieder von Kriegen, Aufständen und Strafexpeditionen betroffen, bei denen unzählige Iren ihr Leben ließen. Nach der Act of Union (Unionsakte) von 1801 war Irland ein integrierender Teil des Vereinigten Königreiches, dem Staat im Herzen des größten Weltreichs, das diese Erde jemals gesehen hatte. Und dennoch: Während des ganzen, glorreichen 19.  Jahrhunderts, in dem die imperiale Machtstellung Großbritanniens ihren Zenit erreichte, wurde Irland bis aufs Blut geschunden. Das System der Selbstverwaltung, das es den Iren in der vorherigen Epoche erlaubt hatte, ihre Geschicke selbst zu lenken, wurde abgeschafft. Selbst das Minimum an religiöser Toleranz, das die Unionsakte eigentlich garantieren sollte, wurde kaum je erreicht. Und 1846 wurde Irland von einer Hungersnot heimgesucht, die zu den schlimmsten gehörte, die im ganzen britischen Weltreich je aufgetreten waren. Ja, Sie haben richtig gelesen: Eine ausgedehnte Hungersnot in einem der Kerngebiete des reichsten Imperiums der Welt. Im Verlauf der Tragödie starben mehr als eine Million Iren an den Folgen von Hunger und Krankheiten, viele Millionen mehr sahen sich zur Auswanderung nach Großbritannien oder in die Vereinigten Staaten gezwungen. Die Bevölkerung Irlands halbierte sich und hat sich seitdem nicht wieder von diesem Aderlass erholt.23 Auch die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie muss man in diesem Zusammenhang nennen, eines der größten Imperien Europas in neuerer Zeit. Zwar kamen weite Teile des Habsburgerreiches durch Heiraten und andere dynastische Schachzüge zusammen – manche wurden jedoch mit durchaus rabiateren Mitteln erobert. Die rücksichtslose Art, mit der Österreich im späten 18. Jahrhundert Galizien an sich riss, zum Beispiel – eine Episode aus den Teilungen Polens –, wurde im Zusammenspiel mit Preußen und Russland als ein internationales Banditenstück ausgeheckt. Die Forderung Wiens beim Berliner Kongress 1878, Bosnien-Herzegowina ausgeliefert zu bekommen, entbehrte gleichfalls jeder völkerrechtlichen Grundlage.24 814

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3. Der Europäische Imperialismus als Ganzer zielte also keineswegs nur auf Afrikaner, Asiaten oder amerikanische Ureinwohner, sondern machte (Mit-)Europäer fast genauso oft zu Opfern wie Nichteuropäer. Der britische Imperialismus begann als eine englische Expansionsbewegung gegen die nichtenglischen Nationen der Britischen Inseln: die Iren, die Waliser, die Kornen und Schotten. Die Kolonisierung von Ulster begann im Jahr 1606 – in demselben Jahr, in dem mit Virginia die erste englische Kolonie auf amerikanischem Boden gegründet wurde.25 Auch der französische Imperialismus begann gleich vor der eigenen Haustür, indem die Einflusssphäre der Könige sich von ihrer ursprünglichen Machtbasis in Paris und der Îlede-­France auf immer weiter entferntere Gebiete ausdehnte.26 Ganz ähnlich begann in Osteuropa der russische – genauer: der „moskowitische“ – Imperialismus, indem das Großfürstentum Moskau zunächst die Gebiete und Einwohnerschaften angrenzender Territorien – etwa der Republik Nowgorod oder des Großfürstentums Litauen  – in sich aufsog, bevor dann der Eroberungsradius des entstehenden Imperiums immer weiter ausgriff. Im späten 16. Jahrhundert stießen moskowitische Abenteurer über den Ural in das asiatische Sibirien vor und eroberten Astrachan an der Wolgamündung. 1648 ritten russische Kosaken rund 6500  Kilometer von Moskau bis an den Pazifik; 1662 nahmen sie das polnische Kiew ein. Im 18. Jahrhundert öffneten die Russen an der Ostsee ihr „Fenster zum Westen“, stießen am Kaspischen Meer hinunter bis nach Persien vor und überquerten die Beringstraße nach Alaska. Im 19. Jahrhundert segelten sie von Alaska nach Kalifornien, schluckten auch noch den letzten Rest „Kongresspolens“ sowie Finnland im Westen und die Küstenländer am Schwarzen Meer im Süden. Die Ukraine wurde zum sogenannten „Neurussland“, und der russische Einfluss griff vom Kaukasus und Sibirien nach Zentralasien aus. Eine Reihe von Schlüsselmomenten kam 1801, als Odessa am Schwarzen Meer gegründet und die Eroberung Georgiens abgeschlossen wurde; 1842, als der russische Vorposten Fort Ross in Kalifornien aus nicht restlos geklärten Gründen aufgegeben wurde; und 1873, als das Khanat Chiwa im westlichen Zentralasien zum russischen Protektorat wurde. Während dieses langen Prozesses von beispiellosen Ausmaßen überrannte Russland Dutzende und Aberdutzende fremder Nationen und Territorien, sodass Lenin im frühen 20.  Jahrhundert das Zarenreich als „das Gefängnis der Völker“ bezeichnen konnte. Abgesehen vom Verkauf Alaskas an die Vereinigten Staaten 1865 kannte die russische Expansion nur eine Richtung, bis im Russisch-Japanischen Krieg von 1904/05 die Japaner der russischen Expansion in Fernost ein Ende setzten.27 815

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Auf dem Balkan herrschten über Jahrhunderte die Sultane der Osmanen – von ihrer Hauptstadt Konstantinopel aus. Ihr Reich erstreckte sich von der Donau bis an die Ufer von Euphrat und Tigris; zu ihren Untertanen zählten Slawen, Türken, Araber, Armenier, Georgier, Kurden und andere. An seinen westlichen Grenzen stieß das Osmanenreich auf das Heilige Römische Reich, auf Polen und Russland; im Osten grenzte es an Persien. Im 19.  Jahrhundert jedoch geriet das Osmanische Reich, nunmehr der „kranke Mann am Bosporus“, in rapiden Verfall. Seine Provinzen brachen unter dem zweifachen Druck nationalistischer Revolten im Inneren und internationaler Aggression von außen eine nach der anderen weg. Das russische Zarentum unterstützte die Unabhängigkeitsbestrebungen seiner orthodoxen Glaubensbrüder, was zunächst in Griechenland (1828), später auch in Rumänien (1856), Montenegro (1878) und Bulgarien (1908) zum Erfolg führte. Dann griffen in den  – ursprünglich russisch-türkischen  – Krimkrieg von 1853–56 sowohl Frankreich als auch Großbritannien ein, um ihren osmanischen Verbündeten zu unterstützen und die russische Expansion in ihre Schranken zu weisen – aber am Ende, nach dem Ersten Weltkrieg, teilten Franzosen und Briten ihrerseits große Teile des osmanischen Nahen Ostens unter sich auf.28 Bekanntlich zählen indigene Völker zu den Hauptopfern imperialer Expansion. Das erbärmliche Schicksal der Indianer Nordamerikas oder der australischen Aborigines etwa gilt inzwischen – völlig zu Recht – als ein unseliger Schmutzfleck auf der nur vermeintlich weißen Weste unseres „zivilisierten Westens“. Gut möglich, dass der Tiefpunkt in dieser Hinsicht während der britischen Herrschaft über Van-Diemens-Land (das heutige Tasmanien) erreicht wurde, wo kaum ein Eingeborener das Grauen überlebte (siehe Kapitel  9). Ähnliche Schreckenstaten wurden 1905–1907 von deutschen Kolonialtruppen bei ihrem Völkermord an den aufständischen Herero und Nama in Südwestafrika verübt. Das Verschwinden indigener Bevölkerungen kann jedoch nur selten auf absichtsvollen Massenmord als einzige Ursache zurückgeführt werden; in der Regel ist hierfür eine Mischung aus Gewalttaten, eingeführten Krankheiten und „kulturellem Genozid“ verantwortlich. Auch hier hält die europäische Geschichte eine Fülle von Beispielen bereit, die bereits erkennen lassen, was dann auf der ganzen Welt geschehen sollte. Ein frühes Beispiel wären etwa die Etrusker, die von den Römern überrannt wurden und beinahe spurlos in der latinischen Mehrheitskultur aufgingen.29 Ein Beispiel aus dem Mittelalter finden wir im damaligen Preußen, wo die Ritter des Deutschen Ordens die einheimische Bevölkerung des Baltikums gewaltsam 816

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germanisierten und christianisierten, wobei sie ihnen die „Wahl“ ließen zwischen dem Tod und der christlichen Taufe und ihre baltische Heimat so, Schritt für Schritt, in ein Bollwerk des „Deutschtums“ verwandelten.30 Auf den Britischen Inseln haben alle dort ansässigen keltischen Völker seit Jahrhunderten darum kämpfen müssen, von der englischen Mehrheitskultur nicht erdrückt zu werden. Für Cornwall schien, wie wir in Kapitel  1 gesehen haben, dieser Kampf schon im späten 18. Jahrhundert verloren, als die letzten Muttersprachler des Kornischen für immer die Augen schlossen. Die Waliser waren erfolgreicher, aber die Gälischsprecher in Irland und Schottland stehen weiter vor dem Aussterben. Nicht etwa, dass die Kelten tatsächlich als „Ureinwohner“ von Cornwall, Wales, Irland oder irgendeinem anderen Teil der sogenannten „Britischen Inseln“ bezeichnet werden könnten. Tatsächlich ist „Britannien“  – oder Prydain, wie der Waliser sagt – ein ursprünglich keltischer Name, der den unbekannten Vorgängern der Kelten an irgendeinem Punkt der grauen Vorgeschichte aufgedrückt wurde. Die Gruppe von Völkerschaften, die miteinander verwandte, keltische Sprachen sprechen, kam in der späten Bronzezeit nach Mitteleuropa und verdrängte oder integrierte dabei andere, bereits ansässige Bevölkerungen, die uns heute nur noch aus dem archäologischen Befund bekannt sind. Das Zentrum des keltischen Siedlungsgebiets zu Beginn des 1. Jahrtausends v. Chr. erstreckte sich von den heute österreichischen Alpen bis zum Jura; das belegen nicht zuletzt solche Fundstätten wie Hallstatt bei Salzburg oder La Tène am Neuenburgersee in der Westschweiz. Vom Alpenvorland aus wanderten die Kelten westwärts nach Gallien, auf die Iberische Halbinsel und auf die Britischen Inseln sowie südwärts nach Italien hinein. Die ältesten sogenannten „Wagen­ gräber“ keltischen Ursprungs in Großbritannien werden auf die Zeit um 500 v. Chr. datiert. Rom wurde im Jahr 390 v. Chr. vom keltischen Stamm der Senones geplündert. Und doch gab es noch viele andere, frühere Europäer, von deren Existenz heute keine Spur mehr bleibt. Die Basken sind die letzten Überlebenden jener Bevölkerung, die im Norden der Iberischen Halbinsel heimisch war, bevor die Kelten kamen. 4. Die zeitliche Abfolge dieser Entwicklungen ist wichtig, weil Teile Europas mit kolonialer Expansion zu kämpfen hatten, lange bevor diese Expansion auf weit entfernte Kontinente übergriff. Die antiken griechischen Stadtstaaten, beispielsweise, gründeten überall rund um das Mittelmeer und das Schwarze Meer Hunderte von „Tochterstädten“.31 Das Römische Reich, das größte Reich Europas, wurde auf einem Fundament 817

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systematisch angelegter, landwirtschaftlich ausgerichteter Kolonien errichtet. Ja, die Begriffe „Kolonie“ und „Kolonialismus“ selbst gehen in direkter Linie auf das lateinische Wort colonia zurück, dessen Wurzel wiederum das Verb colere bildet – „bebauen, pflegen, Ackerbau treiben“. Die Römer kolonisierten zuerst Italien, bevor sie ihre Herrschaft nach Gallien, Iberien, Nordafrika und Britannien ausbreiteten sowie fast überall in Europa südlich der Donau. Jede römische Kolonie war mit einer befestigten Stadt und einem hervorragenden Wegenetz gepflasterter Straßen verbunden, die als die militärischen, politischen und wirtschaftlichen Adern des Römischen Reiches fungierten und dessen Integration weiter vorantrieben.32 Im Mittelalter folgten zahlreiche europäische Herrscher dem römischen Beispiel, wenn sie ihren Machtbereich erweitern und ihre Schatzkammern füllen wollten. Auf der Iberischen Halbinsel etwa verfolgten ab dem 9. Jahrhundert die christlichen Könige von Kastilien, Portugal und Aragón hartnäckig und mit großer Geduld die lange, lange Reconquista in der über ein halbes Jahrtausend hinweg die Halbinsel von ihren maurischen Herrschern zurückerobert wurde.33 Zur selben Zeit kam am anderen Ende des Kontinents eine parallele Kampagne ins Rollen. In einem ersten „Drang nach Osten“ zogen Scharen deutscher Kolonisten nach Mittel- und Osteuropa; ihre Ziele lagen im Baltikum im Norden, in Schlesien oder der heutigen Slowakei in der Mitte oder in Siebenbürgen im Südosten.34 Später waren die Polen an der Reihe. In diversen Kriegen gegen Türken, Tataren und Kosaken hatten sie ihren Mut und ihr kriegerisches Können unter Beweis gestellt; und als Mitte des 16. Jahrhunderts der südliche Teil des Großfürstentums Litauen mit dem Königreich Polen in einer Realunion vereinigt wurde, taten sich die unermesslichen Weiten der Ukraine zur Kolonisierung auf. (Ukraina heißt wörtlich „an der Grenze“ oder „Grenzgebiet“ und hat damit einen ganz ähnlichen Beiklang, wie ihn der Begriff der Frontier in der amerikanischen Siedlungsgeschichte hat.) Mit der Erlaubnis ihres Königs zogen unzählige polnische Adelige in die offene Steppe hinaus, Armeen und bäuerliche Kolonisten im Schlepptau. Auch Juden waren dabei, die als Händler und Verwaltungsbeamte geschätzt wurden. (Polen war damals das einzige Land in Europa, in dem es eine nennenswerte und blühende jüdische Bevölkerung gab.) Die Taten der Kolonisatoren aus polnischem Adel hat Henryk Sienkiewicz in seinem historischen Roman Mit Feuer und Schwert (1884) festgehalten – und gehörig ausgeschmückt.35 Und wenn es Polen waren, mit denen die Kolonisierung der Ukraine ihren Anfang nahm, dann waren es 818

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Russen, die sie vollendeten. In den Jahrzehnten nach der russischen Eroberung der Krim aus osmanischer Hand im Jahr 1783 schuf Zarin Katharina die Große eine neue Provinz, die sie „Neurussland“ nannte und mit Siedlern aus allen Ecken ihres Reiches „peuplieren“ ließ.36 Ihre neue Heimat entspricht genau jenen Gebieten, die auf Wladimir Putins Annexionsliste heute ganz oben stehen. 5. Gewalt, würden viele sagen, ist ein untrennbarer Bestandteil jeder imperialistischen und kolonialen Bestrebung. Gewalt erzeugt einen Kreislauf. Imperiale Regimes bedienen sich gewaltsamer Methoden, um fremde Völker zu unterwerfen und anschließend gefügig zu halten. Daraufhin revoltieren die Kolonialuntertanen mit willkürlicher oder absichtsvoll-terro­ ristischer Gewalt gegen ihre Unterdrücker. Zur Bestrafung setzen die Kolonialherren eine neue Welle der Gewalt in Gang, um die Ungehorsamen zu disziplinieren. Und so weiter. Dennoch ist nicht von der Hand zu weisen, dass die bei Weitem größten und schlimmsten Gewaltverbrechen, die Europäer jemals begangen haben, gewissermaßen „zu Hause“ – in Europa – und nicht auf irgendeinem anderen Kontinent begangen wurden. In England hatten wir die Rosenkriege im 15. und den brutalen Englischen Bürgerkrieg im 17. Jahrhundert. Danach erhoben sich im 18. Jahrhundert die Schotten gleich mehrmals gegen die Vereinigung der beiden Königreiche England und Schottland im Jahr 1707, und die englische Antwort auf diese „Jakobitenaufstände“ bestand in einem umfassenden Angriff auf die Sprache, Kultur und die Lebensgrundlage der schottischen Highlands. Die schrecklichen Highland Clearances – Vertreibungen der Pachtbauern von ihren Höfen –, die darauf folgten, waren ein Vergehen gegen die Menschlichkeit, und es ist kein Zufall, dass es als Resultat dieser Ausmerzungspolitik heute mehr Gälischsprecher in Kanada gibt als in ihrem schottischen Mutterland.37 Auf dem europäischen Festland kam es während der Religionskriege im Frankreich des 16. Jahrhunderts, im Dreißigjährigen Krieg, der 1618–1648 ganz Mitteleuropa verheerte, sowie in den Polnisch-Schwedischen Kriegen zu Beginn und dem Russisch-Polnischen Krieg in der Mitte des 17. Jahrhunderts zu ungezählten Gräueltaten und katastrophalen, demografisch kaum zu verwindenden Bevölkerungseinbrüchen durch den massenhaften Mord, durch Hunger und Krankheiten. Die Koalitions- und Befreiungskriege gegen das revolutionäre und das napoleonische Frankreich, deren Schauplätze sich von Portugal im Westen bis nach Russland im Osten erstreckten, brachten neue Massaker mit sich. Und im 20.  Jahrhundert ging die 819

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globale Vormachtstellung Europas nicht zuletzt dadurch verloren, dass die europäischen Mächte in einem unseligen Bestreben nach gegenseitiger Vernichtung gefangen waren, wie zwei schreckliche Weltkriege gezeigt haben. Im Matthäusevangelium spricht Jesus zu einem seiner Gefolgsleute: „Stecke dein Schwert an seinen Ort! Denn wer das Schwert nimmt, der soll durch das Schwert umkommen.“ Das ist eine der vielen Warnungen, die – angeblich – christliche Europäer so oft und gegen ihr besseres Wissen in den Wind geschlagen haben. Es sollte daher kaum überraschen, dass sich eine Verbindung zwischen der europäischen Gewaltausübung in den Kolonien und der europäischen Gewaltausübung „zu Hause“ aufzeigen lässt. Es scheint nämlich so, als hätten manche europäischen Mächte ihre Besitzungen in Übersee geradezu als „Übungsplätze der Unmenschlichkeit“ missbraucht, als Laboratorien und Experimentierstuben der Gewalt. Der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts, beispielsweise, war nach allgemeinem Dafürhalten der, den deutsche Kolonisten und Soldaten in Südwestafrika verübten, wo die Stämme der Herero und Nama in den Jahren 1904 bis 1907 beinahe ausgelöscht wurden. Und dann findet man unter den späteren Nazigrößen Männer, wie etwa Hermann Göring, deren Familien in Afrika gesiedelt hatten und deren Empfindsamkeit in Sachen Folter und Massenmord notorisch niedrig war, wie sich später herausstellen sollte.38 Ein weiteres Beispiel könnte das sogenannte saturation bombing („Sättigungsbombardement“, Flächenbombardement) darstellen, mit dem britische und amerikanische Bomber im Zweiten Weltkrieg durch massive und gezielte Angriffe unermessliches Leid, Tod und Vernichtung auch über die deutsche Zivilbevölkerung gebracht haben. Der hauptsächliche Befürworter dieser Strategie, Air Chief Marshal Sir Arthur Harris, genannt „Bomber-Harris“ (1892–1984), setzte sich im Streit mit seinen Kritikern 1941/42 durch, nachdem eine erste Welle von Präzisionsbombardements gegen ausschließlich militärische und industrielle Ziele nicht den gewünschten Erfolg gebracht hatte. Aus historischer Perspektive stellt sich jedoch die Frage, wo die Idee vom „strategischen“ oder „Teppichbombardement“ ihren Ursprung hatte. Die Spur führt in die britischen Mandatsgebiete Palästina und Irak, wo die Royal Air Force in den 1930er-Jahren für die „innere Sicherheit“ zuständig war und dazu regelmäßig aufständische Dörfer bombardierte. Harris, der den Ersten Weltkrieg in Südwestafrika verbracht und 1936 bis 1939 dem Führungsstab der britischen Luftwaffe im Nahen Osten angehört hatte, soll dazu einmal geäußert haben: „Eine 500-Pfund-Bombe auf jedes Dorf, das aufmuckt – und die Sache ist erledigt.“39 820

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6. Imperialismus ist ohne eine starke kulturelle Komponente gar nicht denkbar, und einige der hartnäckigsten Nachwirkungen imperialer Herrschaft gehen auf die Durchsetzung kultureller Normen im Rahmen dieser Herrschaft zurück. Das Spektrum solcher Normen ist breit: künstlerische, ethische, institutionelle und Verhaltensstandards gehören dazu, aber auch sprachliche Vorgaben. Im Fall des britischen Weltreiches hat die Einführung des Englischen als Amtssprache in vielen Ländern Asiens und Afrikas sich als sehr viel langlebiger erwiesen als vieles andere, was die Briten ihren Kolonialuntertanen aufzwängten. Man darf nun aber nicht denken, dass die Durchsetzung einer bestimmten sprachlichen Uniformität nur in kolonialen oder Überseekontexten vorkäme. Im Gegenteil: So gut wie alle Staaten der Neuzeit haben sich bemüht, eine einzige, offizielle Sprache gegen all die vielen anderen Sprachen und Dialekte durchzusetzen, die auf ihrem Staatsgebiet meist auch noch gesprochen wurden; zu diesem Zweck wurde die staatliche (und staatlich finanzierte) Schulbildung eingeführt. In Frankreich war die französischsprachige Schulbildung ein Hauptinstrument, um, wie Eugen Weber es formuliert hat, „aus Bauern Franzosen zu machen“. Die preußische Regierung in Berlin hatte die wenig beneidenswerte Aufgabe, aus den polnischen oder dänischen Untertanen Seiner Majestät loyale Preußen  – Deutsche  – zu machen. Im späteren 19.  Jahrhundert diente hierzu auch die allgemeine Wehrpflicht: Die Soldaten wurden am Ende ihrer Dienstzeit nur in die Heimat entlassen, wenn sie zumindest ein wenig Deutsch sprechen konnten. Und im Zarenreich, in dem hundert Sprachen und mehr gesprochen wurden, war es Russisch – und nur Russisch –, das von Staats wegen akzeptiert war. Auf den Britischen Inseln ging der Machtanspruch Londons schon seit der Tudorzeit mit der Durchsetzung des Englischen als offizieller Sprache einher, ganz so, wie es später auch in den Überseegebieten des Empire geschehen sollte. Von zahlreichen regionalen Dialekten abgesehen, sah die englische Sprache sich vier großen, keltischen Konkurrentinnen gegenüber: dem Kornischen und Walisischen, dem Irisch- und dem SchottischGälischen. Das Kornische wurde in der Reformationszeit ausgeschaltet, indem man es aus dem kirchlichen Gottesdienst und der Religionsausübung generell verdrängte. In Wales dagegen wurden die Bibel und das Gebetbuch der anglikanischen Kirche in die Landessprache, das Walisische, übersetzt, wodurch Kirchen und Kapellen zu Bollwerken der nichtenglischen Bevölkerung wurden  – und die walisische Sprache bis heute überlebte. In Irland, wo die Mehrheit der Bevölkerung katholisch blieb, war die Sprache der Kirche das Lateinische, wodurch die religiöse Praxis, ohne 821

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es zu wollen, den sprachpolitischen Zielen der englischen Krone Vorschub leistete. Als die Iren im 20.  Jahrhundert endlich ihre Unabhängigkeit errangen, war das Gälische auf der „Grünen Insel“ so gut wie ausgestorben; dass man es zur ersten Amtssprache des Irischen Freistaats (und später der Republik Irland) erklärte, war eine trotzige, aber rein symbolische Geste. In Schottland wurde das Gälische der Highlands und der Inseln über beinahe zwei Jahrhunderte hinweg offiziell geächtet; als die gegenwärtige Ära der Toleranz anbrach, war es daher schon stark geschwächt. Dass es sich davon noch einmal erholen wird, scheint so gut wie ausgeschlossen. Wenn es also Menschen auf dem Gebiet des früheren britischen Weltreiches gibt, die voller Empörung darauf zurückblicken, wie Imperialisten und Kolonialisten ihre Kultur und Identität mit Füßen getreten haben – dann sollten sie wissen, dass es zahlreichen Bewohnern der Britischen Inseln ganz ähnlich geht. 7. Soziale Unterdrückung war ein weiteres, beinahe allgegenwärtiges Element imperialer Herrschaft. Es bedarf hier wohl keiner Erinnerung daran, dass die europäischen Kolonisten bei ihrer Ankunft in einem jüngst eroberten Gebiet nicht selten ausbeuterische sozioökonomische Strukturen mitbrachten, die von regelrechter Sklaverei bis hin zu diversen Arten von Diskriminierung und Rassentrennung und „Apartheid“ reichten. Und ganz egal, wie diese Systeme nun im Einzelfall ausgestaltet waren: Immer erhoben die Europäer Anspruch auf eine privilegierte Stellung, während die Nichteuropäer mehr oder minder stark benachteiligt und unterdrückt wurden. Es wäre jedoch ein Fehler, diese unterdrückerischen Gesellschaftsstrukturen als ein „Alleinstellungsmerkmal“ der überseeischen Kolonialreiche aufzufassen. Tatsächlich gab es nämlich auch in Europa große Gebiete, in denen die einheimische Bevölkerung unterdrückt und benachteiligt wurde, und zwar mit ganz ähnlichen Methoden wie ihre Leidensgenossen in Asien oder Afrika, und wo diese Ausbeutung auch genauso lange anhielt wie in den Kolonien. Die Geschichte der Leibeigenschaft in Europa liefert ein schlagendes Beispiel. In der Theorie war Leibeigenschaft etwas anderes als Sklaverei: Zwar erlaubte sie es, Menschen zu kaufen und zu verkaufen, aber nur im Zusammenhang mit dem Erwerb des Landes (der „Scholle“), an das die Leibeigenen gebunden waren; und sie verpflichtete die Leibeigenen zur unentgeltlichen Arbeit für ihren Grundherrn, aber in der Regel nur während eines Teils ihrer gesamten Arbeitszeit. In Russland beispielsweise wurde die Sklaverei 1723 abgeschafft; die Leibeigenschaft in den ländlichen 822

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Gebieten bestand jedoch noch bis 1861 weiter. In der Praxis waren die Lebensumstände von Leibeigenen und Sklaven jedoch kaum zu unterscheiden: Ohne die ausdrückliche Erlaubnis ihres Herrn durften Leibeigene sich nicht frei umherbewegen; sie durften keiner Arbeit außerhalb ihrer Dienstverpflichtung nachgehen; sie konnten und durften ihre Kinder nicht ausund sich selbst nicht weiterbilden. Dies führte dazu, dass auch die früheren Leibeigenen bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein eine sozial gelähmte, vollkommen unselbstständige und weitgehend ungebildete (auch analphabetische) Masse von Landarbeitern blieben. Als das britische Parlament Gesetze verabschiedete, die 1807 den Handel mit und 1833 schließlich auch den Besitz von Sklaven verboten, war die Leibeigenschaft in Preußen, Österreich und Russland noch an der Tagesordnung. Preußen schaffte sie nach 1815 schrittweise ab, Österreich erst 1848 und das Zarenreich zwischen 1861 und 1866. In den Vereinigten Staaten wurde die Sklaverei mit der Emanzipationserklärung (Emancipation Proclamation) zum 1. Januar 1863 abgeschafft.40 Man sollte jedoch nicht so voreilig sein und den glücklichen Abschluss dieser Geschichte schon im 19.  Jahrhundert ausmachen. Viele Fachleute sehen inzwischen in der brutalen Zwangskollektivierung, die 1931 in der Sowjetunion auf Veranlassung Stalins ihren Lauf nahm, im Grunde genommen eine Rückkehr zur Leibeigenschaft. Über die folgenden vier oder fünf Jahrzehnte waren Millionen von sowjetischen Kolchosbauern ganz genauso „an die Scholle gebunden“, wie es ihre Vorfahren einmal gewesen waren. Ohne Genehmigung durften sie nicht auf den örtlichen Markt gehen; von ihren kommunistischen Aufsehern und Vorgesetzten waren sie brutalen Disziplinierungsmaßnahmen ausgesetzt; und ganz wie die Leib­ eigenen von einst durften sie nichts besitzen als ihre winzigen Familien­ parzellen – ja oft noch nicht einmal diese. Als das Sowjetsystem dann 1991 schließlich zusammenbrach, waren derartige Extremformen sozioökonomischer Unterdrückung in den meisten anderen Teilen der Welt schon seit mehr als hundert Jahren Geschichte.41 8. Der Kapitalismus. Es steht außer Zweifel, dass die großen Überseereiche Westeuropas ganz maßgeblich durch Handel entstanden sind und später durch ihn finanziert wurden, und dass dieser Handel seinerseits auf den Wirkmechanismen des kapitalistischen Wirtschaftssystems beruhte. Hieraus folgt, dass die (Schimpf-)Wörter „Kapitalist“ und „Imperialist“ inzwischen beinahe austauschbar geworden sind, jedenfalls aber in einer engen Verbindung zueinander stehen. Ich will hier weder den Kapitalismus 823

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v­ erteidigen – er hat bereits sehr viele fähige Verteidiger – noch seine bisherige Bilanz schönen; aber ich sollte doch darauf hinweisen, dass seine Ursprünge nicht etwa im Handel mit „Kolonialwaren“ liegen, sondern im inländischen Wirtschaftsleben seiner Herkunftsländer.42 Als im frühen 14. Jahrhundert in Florenz und Genua die allerersten Banken eröffneten, entsprach dies den Bedürfnissen des italienischen Wollhandels; und es waren die zunehmenden Möglichkeiten des mittelalterlichen England für Wollproduktion und -export, die die ersten Anbieter von Lombardkrediten aus der Lombardei und der Toskana nach London an die Themse lockten. Die Handelsbankiers, die sich einige Zeit später in den damaligen Niederlanden etablierten – vor allem in Brügge, Gent und Amsterdam –, waren zuerst auf den lokalen und regionalen Märkten des europäischen Kontinents aktiv, bevor sie andere, entferntere Regionen in den Blick nahmen. Im 17. Jahrhundert, als die „Große Divergenz“ zu divergieren begann, waren der Getreidehandel über die Ostsee oder der Handel im Mittelmeerraum in kommerzieller Hinsicht genauso wichtig wie die urplötzlich explodierenden Handelsbeziehungen in die Neue Welt, nach Afrika und Fernost. Sie waren sogar wichtiger. Die Kastilier und die Portugiesen hätten ihre Seeleute und Kolonisten nicht über den Atlantik schicken können, hätten sie nicht zuvor aus ihren Entdeckungsfahrten nach Westafrika und auf die Insel vor der afrikanischen Küste wichtige Lehren gezogen. Immerhin begann Christoph Kolumbus seine Karriere als Zuckerhändler auf Madeira. In ganz ähnlicher Weise konnten die Niederländer ihre extravaganten Expeditionen auf die „Gewürzinseln“ im heutigen Indonesien nur deshalb finanzieren und organisieren, weil sie die dafür nötigen Erfahrungen und Kenntnisse schon seit Langem vor der eigenen Haustür gesammelt hatten. Und die Engländer hätten nicht im Traum daran denken dürfen, Neuengland zu besiedeln, wären ihnen nicht ihre früheren, im Mittelalter geknüpften Verbindungen nach Aquitanien und Irland zugute­gekommen. Wenn man sie auf diese Weise betrachtet, erscheint die übliche Unterscheidung zwischen der europäischen und der außereuropäischen Geschichte mit einem Mal künstlich, ja konstruiert. 9. Rassen, Völker, Ethnien. Man hat oft darauf hingewiesen, dass die Europäer, die in der Frühen Neuzeit aufbrachen, um die Welt zu erobern, sich selbst gar nicht als Europäer sahen; sie verstanden sich in erster Linie als „Christenmenschen“ und in zweiter als Untertanen ihrer jeweiligen Monarchen. Sollten ihnen überhaupt irgendwelche Vorbilder vor Augen gestanden haben, dann dürften es wohl am ehesten die mittelalterlichen Kreuzfahrer gewesen sein, die nach Outre Mer gezogen waren, um Länder 824

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und Menschen unter das Banner Christi zu zwingen.43 Sobald ihre see­ fahrenden Epigonen jedoch auf anderen Kontinenten ankamen, stellten sie fest, dass die Menschen dort ganz anders aussahen als sie selbst, die augenscheinlich einem bestimmten  – eben dem europäischen  – Zweig des menschlichen Stammbaums angehörten. Aus dieser Feststellung einer „Vielfalt der Rassen“ erwuchs schnell die Versuchung, die heidnischen Eingeborenen zu „Untermenschen“ herabzuwürdigen, nicht zuletzt, weil es im Mittelalter durchaus üblich geworden war, Nichtchristen zu versklaven. Mit einiger Verzögerung sprach der Vatikan schließlich in dieser Sache ein Machtwort, und in der päpstlichen Bulle Sublimis Deus stellte Paul III. 1537 mit deutlichen Worten fest, dass „die Bewohner West- und Südindiens“ durchaus menschliche Wesen seien, und verurteilte die „Kunde“ davon, dass einige von ihnen „wie Tiere zum Sklavendienst [eingespannt]“ würden, auf das Schärfste. Der Papst fuhr fort: Wir wissen wohl, dass die Indianer als wirkliche Menschen nicht allein die Fähigkeit zum [katholischen] christlichen Glauben besitzen, sondern zu ihm in allergrößter Bereitschaft herbeieilen, wie man es uns wissen ließ. Aus dem Verlangen, in diese Angelegenheit Ordnung zu bringen, bestimmen und erklären wir mit diesem Schreiben und kraft unserer apostolischen Autorität, ungeachtet all dessen, was früher in Geltung stand und etwa noch entgegensteht, dass die Indianer und alle andern Völker, die künftig mit den Christen bekannt werden, auch wenn sie den Glauben noch nicht angenommen haben, ihrer Freiheit und ihres Besitzes nicht beraubt werden dürfen … Auch ist es nicht erlaubt, sie in den Sklavenstand zu versetzen …44

Manchen Historikern gilt die Bulle Sublimis Deus als ein Meilenstein in der Geschichte der Menschenrechte; andere deuten sie als einen Beweis dafür, dass die katholischen Imperialisten eben doch barmherziger gewesen seien als die strengen, oft einer unbarmherzigen Prädestinationslehre verpflichteten Protestanten. Zweifellos waren manche Europäer – insbesondere die Portugiesen – in Fragen von „Rasse“ und Abstammung flexibler als andere. Aber man wird doch einsehen müssen, dass die menschenfreundliche Sonntagsrede Pauls III. wohl eher die Ausnahme beschrieb als die Regel – ein barmherziges Pfeifen im Walde der Ausbeutung und Räuberei. Hatten etwa die spanischen Konquistadoren eine einheimische Bevölkerung erst einmal unter ihre Knute gebracht, war von Barmherzigkeit oder auch nur Zurückhaltung meist keine Rede mehr. Auch in Nordamerika stammten 825

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viele der Gesetze, die eine „Vermischung der Rassen“ verhindern sollten, aus der Kolonialzeit. Dennoch: Man kann nicht vorsichtig genug sein. Die kaleidoskopische Kontaktgeschichte der verschiedenen Ethnien zwischen „Rassenmischung“ und „interkulturellen Partnerschaften“ ist eine komplexe Angelegenheit, von ihrer rechtlichen Rahmung zu unterschiedlichen Zeiten gar nicht erst zu reden. Das extremste Beispiel einer systematischen Diskriminierung weiter Bevölkerungsteile auf „rassischer“ Grundlage kommt indes nicht aus den frühen Kolonialreichen in Übersee, nicht aus dem Südafrika der Apartheid-Ära, sondern aus dem Deutschland der Jahre 1933 bis 1945 – aus dem 20. Jahrhundert und aus einem Land im Herzen Europas.45 10. Geschichtsschreibung. Ein großer Teil der Missverständnisse und der Verwirrung, welche die oben vorgestellten Problemkomplexe noch immer hervorrufen, ergeben sich aus der Tatsache, dass die üblichen Darstellungen von „Europa in Übersee“ noch immer weitgehend ohne einen Blick auf die innere Entwicklung Europas zur selben Zeit auskommen.46 Insbesondere der Zusammenhang zwischen dem Verhalten (meist west-)europäischer Imperialisten in aller Welt und dem Verhalten (meist mittel- und ost-)europäischer Imperialisten im eigenen Land ist noch kaum je beleuchtet worden. Ebenso unüblich ist es, dass Historikerinnen und Historiker, die sich auf die Suche nach den „Wurzeln des Imperialismus“ begeben, auch einmal über den Tellerrand ihrer eigenen Lieblingsepoche hinausschauen, um sich einmal in die Mentalität und Lebenspraxis noch früherer Zeiten zu vertiefen. Und das ist wirklich zu schade, nicht zuletzt, weil es auf dem fraglichen Gebiet vermutlich viel mehr Kontinuitätslinien gibt, als es bei oberflächlicher Betrachtung scheinen mag. Was also? Erstens: Schon ihre lange Vorgeschichte voller unmenschlicher Gewalttaten gegeneinander disqualifiziert die Europäer davon, gegenüber den Völkern anderer Kontinente einen Überlegenheitsanspruch zu formulieren. Es ist ein schlichtes, hartes Faktum, dass die schlimmsten Seiten im Buch der europäischen Geschichte – die Kapitel zu den Religionskriegen, zum Holocaust, zu den Verbrechen Stalins  – nicht irgendwo anders geschrieben wurden, sondern gleich hier, vor unserer eigenen Haustür. Zweitens: Der europäische Imperialismus und der europäische Kolonialismus können nur als Systeme verstanden werden, die in Europa entwickelt und dann exportiert wurden. 826

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Drittens: Die übliche Trennung zwischen europäischer Binnengeschichte einerseits und der globalen Interaktionsgeschichte von Europäern und Nichteuropäern andererseits entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als nichtig. Es gibt Globalgeschichte als Menschheitsgeschichte – etwas anderes gibt es nicht. Ganz bestimmt müssen wir berücksichtigen, dass die Kontexte unserer Forschung sich rapide verändern. In meiner eigenen Lebenszeit habe ich miterlebt, wie wir uns aus einer Epoche, in der eine beträchtliche Zahl von Europäern an imperialen und kolonialen Unternehmungen beteiligt waren, in eine neue, die heutige Epoche bewegt haben, in der diese Unternehmungen weitgehend eingestellt worden sind. Dies führt dazu, dass viele Europäer heute mit einer Mischung aus Bestürzung, Beklemmung, Nostalgie und Schuldbewusstsein auf diese Vergangenheit blicken. Die alte, imperiale Annahme von der gottgegebenen Überlegenheit der Europäer über „die Wilden“ ist schon lange nicht mehr haltbar. Das beste Szenario, das man sich für das Europa der Zukunft vorstellen kann, sieht den „alten Kontinent“ wohl weiter auf der Position, die er sich heute gesichert zu haben scheint: als ein Gleicher unter Gleichen. Das  – aus europäischer Sicht  – schlimmste Szenario wäre es, wenn eine erneute „Große Divergenz“ auftreten würde, bei der Europa immer weiter zurückfiele, während die anderen Erdteile immer weiter davonzögen. * Dies waren also die Gedanken, die ich auf meiner Vortragsreise rund um die Welt bei verschiedenen Gelegenheiten einer Reihe ganz verschiedener Auditorien darlegen durfte. Als Europahistoriker, der in diversen außereuropäischen Ländern ans Rednerpult trat, die mir zuvor unbekannt gewesen waren, ging ich einfach davon aus, dass meine Zuhörer gern ein paar allgemeine Reflexionen zur europäischen Geschichte würden hören wollen. Aber wie sie darauf reagieren würden, das konnte ich nicht vorhersehen. Letzten Endes waren sie einigermaßen verwirrt, glaube ich. Zwar hörten sie mir höflich und aufmerksam zu und stellten jedes Mal auch Nachfragen zu einzelnen historischen Episoden, die ich erwähnt hatte. Aber ich könnte nicht sagen, dass ich sie von irgendetwas überzeugt hätte. Das alles brachte mich in ziemliche Verlegenheit. Mein gesamtes „intellektuelles Reisegepäck“ war ja gewissermaßen „aus europäischer Herstellung“, und je weiter ich mich  – Längengrad um Längengrad  – von zu Hause entfernte, desto bewusster wurden mir meine Defizite. Schon lange vor dem Ziel meiner 827

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Reise wurde mir bewusst, dass ihr hauptsächlicher Zweck nicht die Vermittlung von Informationen an die Besucher meiner Vorträge war – sondern dass ich es war, der hier lernte und entdeckte. An irgendeinem Punkt dämmerte es mir, dass ich selbst – als ein Europäer, der sich für die Geschichten und Kulturen nichteuropäischer Völker interessiert und auch noch darüber schreiben will – womöglich in den Verdacht der „kulturellen Aneignung“ geraten könnte, wie er gerade unter jüngeren Kolleginnen und Kollegen zurzeit oft geäußert wird. Wo dieser Vorwurf erhoben wird, scheint es stets darum zu gehen, dass die immaterielle wie materielle Kultur, die Artefakte und das öffentliche Image gewisser schutzloser Minderheiten vor dem Zugriff von Außenstehenden bewahrt werden. Dabei spielt es im Zweifel keine Rolle, ob diese Außenstehenden etwa gute Absichten haben: Nur die „Insider“ der entsprechenden Ethnien oder anderweitig definierten Gruppen dürfen bestimmen, wie mit diesem als privat verstandenen Kultur- und Geistesgut verfahren werden darf und wer darauf Zugriff erhält. Die Muster ähneln sich, ganz gleich, ob von bedrängten Ethnien oder Nationalitäten, Feministinnen, Homosexuellen oder indigenen Gruppen die Rede ist: Überall wird eine Tendenz immer deutlicher, das „intellektuelle Material“ der eigenen Identität als geistiges Eigentum gleichsam zu „besitzen“. Das war mir nicht ganz unbekannt, auch wenn ich es zwischenzeitlich vergessen hatte: Vor vierzig oder fünfzig Jahren sind mir ganz ähnliche Ansichten schon einmal begegnet. Ich hatte gerade ein Buch über die Geschichte Polens veröffentlicht. Die erste Rezension, die ich damals erhielt  – die allererste Kritik eines meiner Bücher überhaupt  – begann mit dem denkwürdigen Satz: „Bedenkt man, dass der Verfasser kein Pole ist, ist dieses Buch gar nicht so schlecht, wie man vielleicht erwarten würde.“ Der Rezensent war ein Doyen der polnisch-nationalen Geschichtsschreibung, und er hatte zwei klare Grundsätze. Erstens: Die polnische Geschichte können nur Polen wirklich verstehen. Und zweitens: Wie die Geschichte der polnischen Nation zu interpretieren ist, haben polnische Historiker zu entscheiden. Nach dieser nationalistischen Sichtweise ist die Nation gewissermaßen die kollektive Besitzerin ihrer eigenen Vergangenheit. Es stimmt mich traurig, wenn ich daran denke, dass die Vertreter der nationalkonservativen Partei PiS, die nun schon seit 2015 in Polen regieren, ganz ähnliche Ansichten vertreten und eine „Geschichtspolitik“ verfolgen, deren Ziel die totale Verdrängung aller abweichenden Sichtweisen ist. Wenn ich es mir recht überlege, bin ich diesem besitzergreifenden Zugang zur Geschichte im Allgemeinen – und zur Nationalgeschichte im 828

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Besonderen – das erste Mal wohl noch deutlich früher begegnet. Eine der wenigen Geschichtsstunden, die ich aus meiner Schulzeit noch klar in Erinnerung habe, ereignete sich an dem Tag, als die Geschichtskurse der Oberstufe in das Studierzimmer des Herrn Rektors zitiert wurden, wo ihnen ein paar besonders aufmunternde Worte zuteilwerden sollten. Dieser Schulleiter, sein Name war F. R. Poskitt, war selbst Historiker, Cambridge-Absolvent, und gab mit seiner dröhnenden Bassstimme zu prachtvollem, schlohweißem Haarschopf eine durchaus beeindruckende Figur ab. Eigentlich sollte er jeden von uns nach seinen jeweiligen historischen Spezialinteressen fragen, aber stattdessen setzte er, wie es nun einmal seine Art war, zu einem volltönenden Monolog an, den er – auch das gewohnheitsgemäß – in Richtung Decke richtete. Das Thema seiner Stegreifrede war: „Warum sollte englische Geschichte ausschließlich von englischen Historikern geschrieben werden?“ Binnen einer halben Stunde galoppierte er über ein weites thematisches Feld, von der Frage der Objektivität und der Zugänglichkeit der Quellen über historiografische Grundsatzprobleme bis hin zu Historikern als intellektuellen Autoritäten und der „Großen Geschichte“ als Grundlage jeder wahrhaft patriotischen Erziehung. Die abschließende Pointe seiner Suada war diese: „Die beste Geschichte Englands im 19.  Jahrhundert hat übrigens Élie Halévy geschrieben, der war Franzose.“47 Das hat mich so nachhaltig schockiert, dass ich es sechzig Jahre lang nicht vergessen habe. Nicht etwa, dass ein engstirniger Nationalismus und eine nationalistische Auffassung von Geschichte ausschließliche Sache eines oder zweier Länder wären; sie entspringen einer Denkungsart, die ihre Vertreter in allen Staaten und unter sämtlichen Nationen dieser Erde hat. Gegenwärtig wird eine solche Denkweise etwa im Russland Wladimir Putins mit besonderem Nachdruck kultiviert, aber sie stellt auch ein herausstechendes Merkmal diverser aufrührerischer Bewegungen dar, die sich überall auf der Welt gegen das politische Establishment stellen. Im Großbritannien unserer Tage fehlt sie ganz bestimmt nicht, hat die Ideologie des Britain First dort doch zuletzt – etwa inmitten des Aufruhrs, der das EU-Referendum vom Juni 2016 umgab – bedenkliche Urständ gefeiert. Im akademischen Bereich betrifft eine weitere meiner allzu späten Einsichten die Tatsache, dass viele der momentan so „angesagten“ Konzepte und Schlagworte  – „kulturelle Aneignung“, „Kulturimperialismus“, aber auch „Gouvernementalität“ oder „Identitätspolitik“ – nicht annähernd so innovativ sind, wie ihre vom Zeitgeist beseelten Apostel uns glauben machen wollen. Der Begriff „Kulturimperialismus“ beispielsweise, der im 829

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Wortschatz – beziehungsweise im Jargon – der gegenwärtigen Sozialwissenschaften keine ganz kleine Rolle spielt, soll dem Vernehmen nach in den 1960er- und 1970er-Jahren in den Schriften von Michel Foucault, Edward Said und George Lipsitz entwickelt worden sein. Das mag dem Wortsinn nach wahr oder falsch sein. Aber die Vorstellungen und Praktiken, die den betreffenden Redeweisen unterliegen, haben einen Bart, der länger ist als der von Karl Marx; sie sind das Nebenprodukt jedes Welt- und Großreichs, jedes Imperiums, das jemals existiert hat. Die typisch römische Strategie, in allen eroberten Gebieten römisches Recht und die lateinische Sprache einzuführen, notfalls mit Gewalt, und dabei viele lokale Gebräuche und Religionen zu unterdrücken, ist ein klassischer Fall der Foucault’schen „Gouvernementalität“, nur ohne den hässlichen Namen. Auch das französische Imperium eines Napoleon war  – trotz seiner kurzen Dauer  – ein „großer Gleichmacher“. Durch die Einführung des Code civil oder Code Napoléon (1804) in diversen französisch besetzten Territorien wurden ­vielerorts in Europa, von Spanien bis nach Polen, überhaupt erst die Grund­ lagen für ein modernes Rechtssystem geschaffen; andernorts, in so unterschiedlichen Ländern wie Ägypten oder Chile etwa, eiferte man dem französischen Vorbild aus freien Stücken nach. Mehr noch: Durch den ­bloßen Druck seiner Auferlegung „von oben“ provozierte der Code Widerstandsbewegungen wie etwa die der Carbonari in Italien, die zu Vorboten des italienischen Nationalbewusstseins und schließlich der nationalen Befreiung und Einigung werden sollten. In dieser Hinsicht kann die Definition von impérialisme, die mein altes französisches Dictionnaire Encyclopédique (1935) vorschlägt, nur als piquante bezeichnet werden: Impérialisme, n. m. (de ‚impérial‘). Doctrine de l’Angleterre au XIXe siècle tendant à grouper fortement ses colonies autour de la métropole, et donner à la puissance britannique la plus grande expansion possible.

Imperialismus, der (von ‚imperial‘). Staatsdoktrin Englands im 19. Jahrhundert, die darauf abzielte, die [britischen] Kolonien enger an ihre Metropole zu binden und der britischen Weltmacht zur größtmöglichen Ausbreitung zu verhelfen.48

Sacrebleu! Die Franzosen, die das drittgrößte Imperium der neueren Geschichte geschaffen haben, dessen zentralistische Tendenzen wohl nur 830

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noch von den Russen übertroffen wurden, betrachteten sich selbst, wie es scheint, überhaupt nicht als Imperialisten. Um zu demonstrieren, wie man das böse I-Wort in einem Satz verwendet, bietet das Dictionnaire übrigens die folgende Wendung: L’impérialisme des États-Unis  – der reinste Antiamerikanismus! Die 11.  Auflage der Encyclopædia Britannica, die derselben imperialen Epoche entstammt, enthält zwar keinen Eintrag zum Thema „Imperialismus“, kann uns dafür aber einiges zum Begriff des Empire mitteilen: imperium, Begriff, der heute ein Staatsgebilde von großer Ausdehnung bezeichnet, das sich außerdem (in der Regel) durch seinen zusammengesetzten Charakter auszeichnet und das oft, wenn auch nicht immer, von einem Kaiser regiert wird; ein Staat, der als Föderation bestehen kann wie etwa das Deutsche Reich, als Zentralstaat wie das russische Zarenreich oder sogar, wie das britische Empire, als ein loser Bund [commonwealth] freier Staaten, denen eine Reihe mit ihnen verbundener, aber abhängiger Gebiete untergeordnet ist. Über Jahrhunderte hinweg haben christliche Autoren sich … eine Abfolge von vieren solcher Weltreiche vorgestellt: dem babylonischen, dem persischen, dem makedonischen und dem römischen. Aber tatsächlich ist das Konzept, wie auch der Begriff, des Imperiums römischen Ursprungs (lat. imperium).49

Es folgen fünfzehntausend Worte über das Werden und Vergehen des Römischen und des Heiligen Römischen sowie des Byzantinischen Reiches. Als die Darstellung sich endlich der Gegenwart nähert, verlagert sich ihr Schwerpunkt hin zu einem Vergleich zwischen den damals prominentesten Großreichen. Der russische Kaiser beispielsweise, der „Zar“, war „in der Theorie und sehr weitgehend auch in der Praxis der Nachfolger des alten oströmischen Kaisertums, der als Oberhaupt der orthodoxen Kirche gehalten war, im Kampf gegen den Islam den Fall von Konstantinopel zu rächen“. Das „Kaisertum Österreich“  – seit 1867 in der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie aufgegangen  – wird mit ziemlich leichter Hand abgetan als „eine bequeme Sammelbezeichnung für eine Vielzahl von Territorien, die einem einzelnen Herrscher mit diversen Titeln unterstellt sind“. Tatsächlich seien die Habsburgerkaiser, „obgleich sie die direkten Nachkommen der alten römisch-deutschen Kaiser sind“, vom Aufstieg des „neuen Deutschen Reiches“ nach 1871 an den Rand gedrängt worden; die preußischen Hohenzollern seien die wahren Erben der alten, glanzvollen Kaiserzeit. Das bereits schwächelnde 831

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Osmanische Reich wird gar nicht erst erwähnt. Aus viktorianischer Sicht stellte ohnehin die französische Konzeption von empire die entscheidende Vergleichsgröße dar: In Frankreich ist [der Begriff empire] eine Begleiterscheinung der Bonapartes und des Bonapartismus gewesen und bezeichnete ein zentralistisches Herrschaftssystem mit einem tüchtigen, effizient handelnden Caesar an der Spitze, das unmittelbar auf dem Volke aufruht und die vermittelnde Instanz der Volksvertreter eliminiert hat. Unter Napoleon I. war dieser Entwurf karolingisch eingefärbt; unter Napoleon III. gibt es … eine stärkere Note von Cäsarismus, einer populistischen Diktatur. Während im Frankreich der jüngeren Vergangenheit mit Empire also ein autokratisches Herrschaftssystem im Gegensatz zu einem repräsentativen gemeint war, bedeutet der Begriff in Deutschland ein größeres Maß an nationaler Einheit und eine Föderalregierung anstelle einer bloßen Föderation.50

Die Britannica wendet dann noch einmal 16 000 Wörter auf einen eigenen Eintrag auf, in dem die Bedeutung von British Empire erklärt wird; unangenehme Vergleiche werden dabei tunlichst vermieden: british empire, die lose definierte Bezeichnung, unter der jetzt die Gesamtheit der Territorien gefasst wird, deren Bewohner, unter verschiedenen Regierungsformen lebend, die britische Krone als Souverän anerkennen. Die Verwendung des Begriffs empire in diesem Zusammenhang erfolgt natürlich nur der Einfachheit halber; keineswegs soll dadurch auch nur die geringste Ähnlichkeit mit den früheren oder gar despotischen Imperien der Geschichte angedeutet werden.51

Natürlich. Der britische Imperialismus hatte mit Despotie und Willkürherrschaft nicht das Geringste zu tun. Für seine Befürworter war er sogar – auch wenn uns das heute kaum begreiflich erscheint  – der Inbegriff von Freiheit, Föderalismus und Selbstverwaltung: Dieser [d. h. der britische] Imperialismus, der eher ein auf die Schaffung eines einzigen Ganzen gerichteter Föderalismus ist, unterscheidet sich stark vom Imperialismus bonapartistischer Prägung, der Autokratie bedeutete; denn sein Wesenskern ist die freie Koordination der einzelnen Teile, und die autonome Selbstverwaltung eines jeden Einzelteils. 832

Europäische Geschichte wird exportiert

Und dann geht es, ein wenig ehrlicher, so weiter: Das britische Empire ist gewissermaßen eher ein Anspruch, ist eher ein Ideal denn eine gelebte Wirklichkeit, ein Gedanke eher denn eine Tatsache. Aber gerade deshalb ähnelt es dem Reiche von einst, von dem wir soeben sprachen; und obwohl es weder Römisch noch Heilig ist, so hat es doch – wie sein großes Vorbild – ein Recht, wenn auch nicht das Römische, und einen Glauben, wenn auch nicht auf dem Gebiet der Religion, sondern vielmehr im Bereich seiner politischen und gesellschaftlichen Ideale.52

Auf dem Höhepunkt der britischen Weltmacht waren die geläufigen Ansichten der Briten in Sachen Imperialismus – von denen die Britannica bestimmt einen guten Querschnitt gibt – nicht nur selbstgefällig, sondern auch noch widersprüchlich. Man muss deshalb fragen, ob nicht der Verlust ihres Empire die Briten vielleicht ein wenig selbstkritischer und demütiger gemacht hat, ein bisschen weniger arrogant. Ich fürchte nein. Anders als etwa Deutschland in jüngster Zeit hat Großbritannien seine Vergangenheit keiner kritischen Neubewertung unterzogen. Es gibt zum gegenwärtigen Zeitpunkt kein einziges Museum, das sich mit der Geschichte des britischen Kolonialreiches beschäftigen würde, obwohl es vor einigen Jahren in Bristol schon einmal kurzzeitig eine solche Einrichtung gegeben hat.53 „Es gibt in Großbritannien eine denkfaule Tradition, die eigene Vergangenheit ausschließlich durch die rosarote Brille zu betrachten“, hieß es einmal in einem dieser besinnlichen Leitartikel zum Jahresende, der im Guardian erschienen ist. „Die Verbrechen unserer Nationalgeschichte scheinen keine Rolle zu spielen … die einzige Lektion lautet: Großbritannien ist das Größte.“54 Natürlich: Die gänzlich unverfrorenen, rückhaltlosen Verteidiger eines wohlwollenden „Imperialismus mit menschlichem Antlitz“ muss man heute schon mit der Lupe suchen. Mit einer lobhudelnden Biografie von Cecil Rhodes oder dem belgischen König Leopold II. sollte man in nächster Zukunft wohl eher nicht rechnen. Aber es gibt in der Geschichtswissenschaft doch genügend prominente Stimmen, die sich gegen den Strom einer pauschalen Verdammung stemmen und sich um eine ausgewogene Sicht der Dinge bemühen, indem sie die positiven und die negativen Aspekte imperialer Herrschaft nebeneinanderstellen.55 So schreiben sie beispielsweise über die einheitsstiftende Wirkung dieser Herrschaft, die  – wie es heißt  – den Tribalismus vieler traditioneller Gesellschaften überwunden 833

15. Imperium

und damit jahrhundertealten, zerstörerischen Stammeskonflikten Einhalt geboten habe. Die Einführung zumindest formal rechtsstaatlicher Strukturen durch die Briten wird ebenfalls wohlwollend bewertet, habe diese eine spätere Demokratisierung doch erst möglich gemacht. Man betont die segensreichen Auswirkungen ökonomischer Modernisierungsmaßnahmen, die Industrie und Eisenbahnen in die Kolonien gebracht und diesen zu einer höheren Produktivität verholfen hätten. Und dann beschäftigen sich meine Kolleginnen und Kollegen eingehend mit dem ambivalenten Wechselspiel von Liberalismus und Imperialismus in viktorianischer Zeit.56 Vor allem weisen sie dabei auf die unbestreitbare Verbindung zwischen dem imperialen Interkontinentalhandel und den ersten Anfängen der Globalisierung hin.57 Für eingefleischte Antiimperialisten stellen derartige, um Ausgewogenheit und Unparteilichkeit bemühte Ansätze natürlich ein gefundenes Fressen dar. Die Maxime divide et impera („teile und herrsche!“) sei in der kolonialen Praxis sehr viel wirkmächtiger gewesen, sagen sie, als eine etwaige Politik der Befriedung und Einigung. Die imperialen Justizsysteme wurden dazu benutzt, politische Gegner zu drangsalieren, einzusperren und mundtot zu machen. Und die Profite, die sich aus der ökonomischen Entwicklung der Kolonien ergaben, wurden schnurstracks in das imperiale „Mutterland“ abgeführt. All das ist nicht falsch. Aber dennoch lässt sich die Behauptung nur schwerlich erhärten, dass alle Formen von Imperialismus gleich – und dass sie gleichermaßen von Übel gewesen seien. Auf der Rangliste der neuzeitlichen Imperien gibt es einen beträchtlichen Spielraum in der Ausprägung einzelner Merkmale, sowohl in der Theorie als auch in der Praxis. Jedes dieser Reiche hatte sein eigenes Ethos, seine eigenen Traditionen, seine eigenen Methoden. Die russische Imperialherrschaft war nicht dasselbe wie ihre französischen oder britischen Gegenstücke. Und auch die niederländischen, belgischen, deutschen, italienischen, japanischen und amerikanischen Varianten imperialer Herrschaft dürfen nicht unberücksichtigt bleiben. Als ich während meines Studiums in Oxford zum ersten Mal von all diesen Vergleichen und Vergleichsmöglichkeiten hörte, sollte mir ganz bestimmt der Gedanke vermittelt werden, dass das britische Weltreich – „unser Empire“ – trotz aller Mängel doch weniger unterdrückerisch gewesen war als alle jene anderen. Die Argumente, die für diese Sichtweise ins Feld geführt wurden, ließen sich letztlich alle auf eine einzige Tatsache zurückführen: Die Briten hatten ihr Imperium auf der Grundlage ihrer Seemacht errichtet; an Land war ihre militärische Präsenz vergleichsweise dünn – zu dünn, als dass sie ihren Willen mit Gewalt hät834

Europäische Geschichte wird exportiert

ten durchsetzen können. Dies hatte zur Folge, dass sie ein ums andere Mal mit einheimischen Machthabern koalieren mussten, die den relativen Mangel an direkter imperialer Unterdrückung mit ihren Mitteln wettmachten. Aber das war der Forschungsstand vor sechzig Jahren. Bestimmt gehöre ich inzwischen schon zum ganz alten Eisen. Du liebe Zeit! Hier wird es langsam spannend. Heute wünschte ich, ich hätte auf meinen weiten Wanderungen weniger über das große Sittengemälde des imperialistischen Zeitalters gesprochen als vielmehr darüber, wie die Einstellungen und Sichtweisen von heute sowie die Sprache der beteiligten Diskutanten – damals wie heute – die Debatte über den Imperialismus geprägt haben. Leider war ich schon wieder wohlbehalten in der Heimat angekommen, als mir eine Rede zu Ohren kam, mit der ich mich in den Vorträgen meiner Reise hervorragend hätte auseinandersetzen können. Der Anlass war eine Diskussionsveranstaltung im Debattierklub der Universität Oxford neulich, bei der auch ein Jurist, Autor und Politiker aus Indien mitwirkte, der in seinem Redebeitrag für die folgende These argumentierte: „Großbritannien schuldet seinen früheren Kolonien Entschädigungszahlungen.“ Der brillante Auftritt von Dr.  Shashi Tharoor war keineswegs ein unparteiisches Abwägen, sondern vielmehr eine wie mit dem Florett geführte Tirade, eine prägnante Polemik, die vor einschlägigen Fakten, Zitaten und Scherzen nur so strotzte. Das englische Wort loot, sagte Dr. Tharoor etwa, also „Beute“ oder „Raubgut“, sei ursprünglich ein Hindi-Wort: „Immerhin haben wir unsere eigene Unterdrückung selbst finanziert!“ Indien sei „wie eine Kuh gemolken worden“. Er fuhr fort: „Eine moralische Schuld besteht also durchaus“, und Reparationszahlungen seien ein geeignetes Mittel, um diese Schuld zu begleichen. Und er nahm seine Opponenten auseinander, einen nach dem anderen. Auch mein Freund Professor Roger Louis, ein Texaner, der in Oxford als führender Experte für die Geschichte des britischen Empire lehrt, bekam einen ordentlichen Kinnhaken ab, als Dr. Tharoor ihm unter Verwendung eines alten texanischen Sprichworts bescheinigte, „einen großen Hut, aber keine Herde“ zu haben – all hat and no cattle. „Sie behaupten“, fuhr er fort, „dass [die Briten ihren Kolonien] die Demokratie gebracht hätten. Das ist schon ein starkes Stück: Erst tyrannisieren, versklaven, foltern und töten sie zweihundert Jahre lang die Einheimischen, und dann sollen hinterher doch alle froh darüber sein, weil jetzt ja Demokratie herrscht … Sie behaupten, man hätte uns die Eisenbahn gebracht – aber die Eisenbahnen in Indien wurden doch so gebaut, dass sie 835

15. Imperium

britischen Interessen dienten! Und Sie behaupten, die Briten hätten unsere Wirtschaft aufgebaut. Der indische Anteil an der Weltwirtschaft stand 1750 bei 23 Prozent und 1947 bei 4 Prozent.“ Und so immer weiter. Dr.  Tharoor sprach von Hungersnöten, Kriegs­ toten und von Winston Churchills bitterböser Frage: „Wenn die kein Essen mehr haben, warum lebt dann dieser Gandhi noch?“ Aber die meisten Lacher hatte der brillante Redner auf seiner Seite, als er treffsicher die folgende Pointe setzte: „Kein Wunder, dass über dem Empire die Sonne niemals unterging  – den Engländern wollte selbst Gott nicht im Dunkeln begegnen.“58

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Nachwort Nachdem ich nun das Ende des Weges erreicht habe, sowohl was die Reise an sich als auch was deren Beschreibung angeht, beschleicht mich das Gefühl, dass es an der Zeit ist für einige Klarstellungen. Zwar wird Autoren gelegentlich geraten, nicht zu viel Tageslicht auf ihre Zauberkünste fallen zu lassen, doch einigen aufmerksamen Lesern dürften Diskrepanzen im Text aufgefallen sein, die einer Erklärung bedürfen. Mein Tagebuch verrät, dass es eine historische Tatsache ist: Ich bin ein Mal um den Globus gereist, von Frankfurt nach Frankfurt, und zwar in der ersten Jahreshälfte 2012. Der erste Flug verließ vor über sieben Jahren, am Dienstag, den 10. April 2012, FRA und führte nach Dubai; vom Golf setzte ich, wie berichtet, meinen Weg über viele Stationen fort, von Indien über Südostasien und Australien  /  Neuseeland bis nach Polynesien, die Vereinigten Staaten und zurück nach Europa. Im 21.  Jahrhundert sind solche Reisen nichts Außergewöhnliches mehr, und ich glaube, mein Buch enthält keine falschen Behauptungen über meine Unternehmungen. Der Streckenverlauf wurde von keinem anderen Prinzip bestimmt als dem, dass ich mich jedes Mal in Richtung Sonnenaufgang bewegen wollte. Allerdings wurden im Anschluss mehrere Ergänzungen und Anpassungen an diese grundlegende Chronik notwendig, die unvermeidlich zu textuellen Veränderungen führten. Zunächst ergänzte ich zwei Kapitel, jenes über Cornwall und das über New York, die sich nahtlos in das Schema einfügten, ursprünglich aber für mein früheres Buch Verschwundene Reiche gedacht gewesen waren. Dann reiste ich bei anderen Gelegenheiten jeweils einzeln zu drei Zielen – Baku, Mauritius und Madeira –, die ich bei meiner großen Weltreise nicht besucht hatte. Und schließlich flogen meine Frau und ich gleich zwei Mal nach Singapur, Tasmanien und Neuseeland: einmal 2012, als unsere Erkundungen in „Kiwiland“ noch auf die Nordinsel beschränkt blieben, und dann ein weiteres Mal 2014, als wir für das Bereisen der Südinsel zurückkehrten. Ich sollte auch erwähnen, dass mein Aufenthalt in Mauritius Teil einer zweiten ausführlichen Reise war, dessen Antipoden-Teil die Route von Christchurch nach Johannesburg darstellte, über Sydney, Hobart, Melbourne, Perth und Mauritius. Daher führte mich 837

Nachwort

mein Flug über den Indischen Ozean direkt über das Gebiet, in dem man nach Flug MH370 suchte, und ich war gen Westen unterwegs – anders, als es womöglich im Text den Eindruck erweckte. Meine Reisen, die ich während der Entstehung dieses Buches unternahm, wurden zudem von den Bedürfnissen eines völlig anderen Projekts ergänzt. Diese Parallelunternehmung drehte sich um die Kriegssaga der Armee von General Anders  – dem Sieger von Monte Cassino  – und zwang mich zu einer Reihe anstrengender Reisen nach Russland, Iran, Jerusalem und in den Gazastreifen, bis ich schließlich auch Italien besuchte. Das glückliche Ende bestand 2015 in der Veröffentlichung von Trail of Hope: The Anders Army, An Odyssey Across Three Continents.1 Doch es trug auch zu einem Erschöpfungszustand bei, der zur weniger erinnernswerten Reise per Notarztwagen in die Schlaganfall-Abteilung des John Radcliffe Hospital, in den Operationssaal des Churchill Hospital und schließlich in die Onkologie des Manor Hospital führte. Die Reise mit dem Krebs dauerte deutlich länger als meine Weltumrundung, war aber zugleich Gelegenheit für Begegnungen mit vielen wunderbaren Menschen, sowohl aus der Wissenschaft als auch unter meinen Mitpatienten. Die Erinnerungen an die vielen bunten, komplexen und unendlich stimulierenden Länder, die ich kurz zuvor besucht hatte, spielten bei meiner Genesung eine entscheidende Rolle. Tiefe Dankbarkeit empfinde ich mehr Menschen gegenüber, als hier genannt werden können. Meine leidgeprüfte Ehefrau Maria-Myszka begleitete mich nicht nur in die Tropen und zu den Antipoden, sondern auch in Arztpraxen, zu medizinischen Untersuchungen und Krankenhausabteilungen. Ich stehe unermesslich in ihrer Schuld. Viele Botschafter und Konsule, vornehmlich des hervorragenden polnischen diplomatischen Dienstes, lotsten mich durch zahlreiche Grenzen, Vorlesungssäle und Flughäfen. Ein Literaturpreis der Kronenberg Foundation deckte die Flugkosten. Unsere gute Freundin Magda Rabiega sorgte dafür, dass das handschriftliche Manuskript zu einem digitalen Text wurde. Roger Moorhouse wählte die Bilder aus und entwarf die Karten, Peter Palm erstellte die deutschen Versionen. Eine Anzahl von Lesern, manche anonym und manche etwas begeisterter als andere, half dabei, die Qualität einzelner Kapitel zu verbessern. Der finale Text wurde von Richard Mason lektoriert, der offensichtlich Spaß an der Sache hatte, mich mit eigenen poetischen Beiträgen fütterte und mir frühe und ermutigende Hinweise für die Eignung des Buches gab. Außerdem möchte ich folgende Menschen in meine Dankesworte einschließen: David Godwin, Katarzyna Pisarska, Ranjit Majumdar, Andrzej und ­Barbara Pikulski, Eugene Rogan, Don Baker, Jan Nitecki, Brian Holmes, 838

Nachwort

Panstwo Sobczyńscy, Paul Flather, Rajeev Bhargava, John Martin, Karolina Marchocka, Christopher Tremewan, Sudhir Hazareesingh, Henry Dimbleby, Jan und Zosia Pachulski, Ian und Margaret Willis, Val und Roger Roberts, Beata Stoczyńska, Wojciech und Cecilia Klobukowski, Arnaud Dardel, Joanna Frybes, Mary Neuburger, Mary Gawron, Jarek Garlinski, Brendan Simms, Ben Sinyor, Fraser Harley, Ian Lindsey sowie der verstorbene und sehr fehlende Andrzej Findeisen. Ich bedanke mich für die Einladung als Gastdozent am Pembroke ­College, Cambridge. Die Fahnen des Buches wurden in der großen Ruhe und dem Komfort der Pembroke College Library korrigiert. Summertown, 28. August 2017

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Anmerkungen Einleitung. Wo die Zitronen blühn – Von Pilgern und Entdeckern 1 John Bunyan, The Pilgrim’s Progress (1678) (Oxford 1926). In deutscher Übersetzung etwa als Pilgerreise, übers. v. Christian Rendel (Lahr 1998). 2 Alexandre Dumas, Le Comte de Monte-Cristo (1844–46). In ungekürzter deutscher Übersetzung als Der Graf von Monte Christo, überarb. v. Thomas Zimbauer (München 2011). 3 „The Pilgrim’s Hymn“, The English Hymnal (Oxford 1906), Nr. 402. (Übers. T. G.). 4 Cwm Rhondda, „Prayer for strength for the journey through the world’s wilderness“, walisischer Originaltext (1762) von William Williams, genannt „Pantycelyn“ (1717–1791), ins Englische übertragen (1771) von Peter Williams, Melodie (1907) von John Hughes. www. en.w i k iped ia.org /w i k i/Cw m _ R hondda. [Stand: 8.11.2019]. (Übers. T. G.). 5 Ebd. Zwar existieren zahlreiche Textvarianten und Übersetzungen; es stimmt jedoch nicht (wie manchmal behauptet wird), dass das Lied auf Englisch verfasst wurde. 6 „There’s a long, long trail“ (1914), amerikanischer Song, Text von S. King, Musik von „Zo“ Elliot. (Übers. T. G.). 7 William Hazlitt, „On Going a Journey“ (1822), in: Selected Essays (London 1930). (Übers. T. G.). 8 William Blake, „Ah! Sun-flower“, aus den Songs of Experience (1794). Deutsche Fassung in: Lieder der Unschuld und Erfahrung, übers. v. Walter Wilhelm (Frankfurt  a.  M. 1975), S. 93f. 9 William Cobbett, Rural Rides (London 1912), Bd.  1, S.  34f. Eintrag für den 18.  November 1821. (Übers. T. G.). 10 Die genannten fiktionalen Reiseberichte liegen alle auch in deutscher Übersetzung vor: Jules Verne, Zwanzigtausend Meilen unter den Meeren [1870], übers. v. Volker Dehs

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(Düsseldorf 2007); Arthur Conan Doyle, Die vergessene Welt [1912], übers. v. Leslie Giger (Zürich 1992); H. Rider Haggard, König Salomos Schatzkammer [1885], übers. v. Volker H.  Schmied (Zürich 1995); H.  G. Wells, Die Zeitmaschine [1895], übers. v. Annie Reney und Alexandra Auer (München 2005), Zitat S. 6. „Best travel books“, www.telegraph.co.uk/ travel/galleries/The-20-best-travel-books-ofall-time [Stand: 8.11.2019]. Johann Wolfgang von Goethe, Italienische Reise: 1786–1788 (München 1975), S. 41. Johann Wolfgang von Goethe, Goethes Briefe und Briefe an Goethe, Bd. 3: 1805–1821, hg. v. Karl Robert Mandelkow (München 1988), S. 308 (Nr. 1031, an Zelter, Mai 1815). Aus: Johann Wolfgang von Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, Erstes Buch, Erstes Kapitel. In der Münchner Ausgabe von Goethes Werken („Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens“) findet sich das Lied in Band 5, hg. v. Hans-Jürgen Schings (München 1988), S. 142. Gilbert Highet, Römisches Arkadien. Dichter und ihre Landschaft. Catull, Vergil, Properz, Horaz, Tibull, übers. v. Thomas Knop (München 1957). Gilbert Highet, The Classical Tradition (Oxford 1949). Gilbert Highet, People, Places and Books (New York 1953). Joachim du Bellay, „Les Regrets“, Sonett  31 [1558], übers. v. Ralph Dutli (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.6.2018, S. 20). Homer, The Odyssey, übers. v. E.  V. Rieu (Harmondsworth 1954), S. 25. (Übers. T. G.). John Keats, „On First Looking into Chapman’s Homer“ [1816], übers. v. Werner von Koppenfels, in: Englische und amerikanische Dichtung, Bd. 2, hg. von Werner von Koppen-

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Anmerkungen zu: Einleitung

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fels und Manfred Pfister (München 2000), S. 303. George Chapman, The Odyssey [1616], „The Invocation“. Eine aktuelle Ausgabe von Chapmans Übersetzung ist die von Allardyce Nicoll herausgegebene: Chap­man’s Homer: The Odyssey (Princeton 2000). Vergil, Aeneis, Buch I, Verse 1–7. Vergil, Aeneis, Buch I, Verse 1–7, übers. v. Johannes Götte (München 1990). Mark Twain, Die Arglosen im Ausland. Bummel durch Europa [1869], übers. v. Ana Maria Brock (Darmstadt 1966), S. 613. Das Zitat aus Augustins Confessiones stammt aus dem 8. Kapitel des 10. Buches, zitiert nach der folgenden Ausgabe: Augustinus, Bekenntnisse, übers. v. Kurt Flasch und Burkhard Mojsisch (Stuttgart 1989), S. 261. Stewart Green, „The Story of the World’s First Alpinist“, Thought.Co (2015), https://www. liveabout.com/francesco-petrarch-ascent-ofmont-ventoux-755828 [Stand: 8.11.2019]. Die relevanten Passagen aus dem 4. Buch von Petrarcas Epistolae Familiares liegen auf Deutsch in der folgenden Ausgabe vor: Francesco Petraca, Die Besteigung des Mont Ventoux, übers. v. Kurt Steinmann (Stuttgart 1999), Zitat S. 7. William Cobbett, Rural Rides (London 1912), Bd. 2, S. 156. Arthur Young (1741–1820) war ein Zeitgenosse Cobbetts und zugleich sein Konkurrent, denn auch er veröffentlichte mehrere Berichte von seinen ausführlichen Reisen durch Groß­britannien und Irland. Seine berühmte Frankreichreise unternahm Cobbett im Jahr 1787. Ribchester Museum, siehe www.ribchesterromanmuseum.org [Stand: 8.11.2019]. Norman Davies, Verschwundene Reiche. Die Geschichte des vergessenen Europa (Darmstadt 2013), Kapitel  2: „Alt Clud: Das Königreich Strathclyde“. Evelyn Waugh, Edmund Campion: Jesuit and Martyr (London 1935), auf Deutsch erschienen als Edmund Campion. Jesuit und Blutzeuge, übers. v. Heinrich Fischer (München 1954). Cobbett, Rural Rides. (Übers. T. G.). Edward Gibbon, Verfall und Untergang des römischen Imperiums [1776], übers. v. Johann Sporschil, Kap.  50. Mit leicht abweichender Formulierung auch in Eduard Gibbon, Der Sieg des Islam (Berlin 1937), S. 366.

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34 William Shakespeare, „Sonett  27“, übers. v. Karl Kraus (Zürich 1977). 35 Rainer Maria Rilke, „Spaziergang“, in: Gedichte 1910 bis 1926 (Darmstadt 2001). 36 Robert Louis Stevenson, „Travel“, in: Great Poems, hg. v. Kate Miles (Great Bardfield 2005), S. 100–102. (Übers. T. G.). 37 Charles Baudelaire, „Le Voyage“, https:// fleursdumal.org/poem/231 [Stand: 8.11.2019]. Zitiert nach der folgenden Ausgabe: Charles Baudelaire, Die Blumen des Bösen, übers. v. Carlo Schmid (Frankfurt a. M. 1977), S. 200. 38 Dante Alighieri, Inferno, übers. v. Richard Zoozmann (Leipzig 1921), S.  131 (Canto  26, Verse 94–102). 39 Ebd., S. 131f. (Canto 26, Verse 112–123). 40 O.  Sobolev und R.  Milner-Gulland, „Winter Road: An Analysis“, in: R.  Reid (Hg.), Two Hundred Years of Pushkin (Amsterdam 2004), Bd. 3, S. 125–140. 41 Übers. v. Walter Panitz. Zitiert bei Katarzyna Lukas, Das Weltbild und die literarische Konvention als Übersetzungsdeterminanten: Adam Mieckiewicz in deutschsprachigen Übertragungen (Berlin 2009), S. 232f. 42 Jean Potocki, Voyage dans l’Empire de Maroc (1792), Histoire Primitive des Peuples de la Russie (1802), Voyage au Caucase et en Chine (Paris 1980), Manuscrit Trouvé à Saragosse (1815). Siehe auch die Übersetzung ins Deutsche: Jan Potocki, Die Handschrift von Saragossa, übers. v. Louise Eisler-Fischer und Maryla Reifenberg (Frankfurt a. M. 1997) sowie die Studie von Nina Terlecka-Taylor, Jan Potocki and his Polish Milieu (Cambridge 2002). 43 Ryszard Przybylski, Podróż Juliusza Słowackiego na Wschód (Krakau 1982). 44 A. a. O., Strophe 50. Übers. v. Anna Rothkoegel in: Europa in den europäischen Literaturen der Gegenwart, hg. v. Wulf Segebrecht (Frankfurt a. M. 2003), S. 527. 45 Jack Cox, Don Davies: „An Old International“ (London 1962). 46 Aus: James Elroy Flecker (1884–1915), The Golden Journey to Samarkand (London 1913). (Übers. T. G.). 47 Alfred, Lord Tennyson, „Ulysses“ [1833/ 42], übers. v. Ferdinand Freiligrath, in: Englische und amerikanische Dichtung, Bd.  2, hg. von Werner von Koppenfels und Manfred Pfister (München 2000), S. 381 (Verse 51–70).

Anmerkungen zu: 1. Kerno

1. Kerno: Das Reich des Quonimorus 1 https://www.english-heritage.org.uk [Stand: 17.11.2019]. 2 BBC News (18. Januar 2002), „Historic Signs Case Trio Bound Over“, http://news.bbc. co.uk/1/hi/england/1768853.stm [Stand: 17.11. 2019]. 3 Siehe http.//www.timelessmyths.com/arthu rian/cornwall.html [Stand: 17.11.2019]. 4 Siehe Norman Davies, Europe: A History (London 1996), S. 223f. 5 Lewis Spence, Legends and Romances of Brittany (London 1917); „Comorre, le Barbe-bleue breton“, https://www.bretagne.com/fr/la-bretagne/sa-culture/ses-legendes/comorre-lebarbe-bleue-breton [Stand: 17.11.2019]; Mike Dash, „The Breton Bluebeard  – a Blast from the Past“, https://mikedashhistory.com/2015/ 12/28/the%E2%80%90breton%E2%80%90blue beard [Stand: 17.11.2019]. 6 Camors (Kamorzh), Morbihan: https://www. camors56.fr/tourisme-activites/97-chateaude-barbe-bleue [Stand: 17.11.2019]. 7 Gregor von Tours, Zehn Bücher Geschichten [Historia Francorum], übers. v. W.  Giesebrecht und Rudolf Buchner (Darmstadt 2000), Bd. 1, Buch IV. 8 G. H. Doble, Lives of the Welsh Saints (Cardiff 1971). 9 Léon Fleuriot, Les Origines de la Bretagne (Paris 1980). 10 The Ogham Stones of Cornwall and Devon, http://www.babelstone.co.uk/Blog/ 2009/11/ ogham-stones-of-cornwall-and-devon.html [Stand: 17.11.2019]. 11 Alistair Moffat, Arthur and the Lost Kingdoms (London 1999). 12 The Vale of Avalon and Arthurian Centre, Camelford, https://www.visitcornwall.com/ things-to-do/attractions/north-coast/tintagel/vale-avalon-and-arthurian-centre [Stand: 17.11.2019]. 13 https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_legendary_rulers_of_Cornwall [Stand: 17.11.2019], siehe auch den Abschnitt „Cornish Kings“ unter https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_ kings_of_Dumnonia [Stand: 17.11.2019] sowie Sheila Brynjulfson, „The Quest for the Historical Arthur“, www.vortigernstudies.org.uk/ art gue/guestsheila2.htm [Stand: 17.11.2019].

14 Alistair Moffat, The Sea Kingdoms (London 2001). 15 Prokopius von Caesarea, Der Gotenkrieg. Der Vandalenkrieg (Essen o. J.), S. 224. 16 Siehe M.  Jones und P.  Galliou, The Bretons (Oxford 1991); Jean Delumeau, Histoire de la Bretagne (Paris 2000). 17 Gilbert Hunter Doble, The Saints of Cornwall (Chatham 1960); ders., Saints Perran, Keverne and Kerrian (Shipston-on-Stour 1931) 18 G. H. Doble, Saint Petrock, Abbot and Confessor (Shipston-on-Stour 1938). 19 Tim Severin, The Brendan Voyage (London 1996). 20 Brendan Lehane, Early Celtic Christianity (London 1993). 21 Daphne du Maurier, Zauberhaftes Cornwall, übers. v. Brigitte Heinrich (Berlin 2014), S. 39. 22 Alfred, Lord Tennyson, „Merlin and Vivion“ (Verse 6–13), aus: The Idylls of the King (1859– 1885) (Übers. T. G.). Caerleon liegt im südlichen Wales, die Burg Tintagel an der Nordküste von Cornwall (Anm. d. Übers. T. G.). 23 Norman Davies, Verschwundene Reiche. Die Geschichte des vergessenen Europa (Darmstadt 2013), Kapitel  7: „Borussia: Wasserreiches Land der Prußen“. 24 Siehe www.culturalgenocide.org [Stand: 17.11. 2019]; „Dalai Lama Condemns China’s ,cultural genocide‘ of Tibet“, Daily Telegraph (16. März 2008). 25 Übers. T. G. 26 Eine eher unkonventionelle Deutung der „Gebetsbuch-Revolte“ liefert www.cornwallinformation.co.uk/news/the-anglo-cornishwar-of-june-august-1549/ [Stand: 17.11.2019]. 27 „Trelawny“, übers. v. Henry Jenner, in: Cornish Notes and Queries (London 1906); www. califcornishcousins.com/Trelawny/Trelawny_cornish.php [Stand: 17.11.2019]. 28 Jon Mills, „Genocide and Ethnocide: The Suppression of the Cornish Language“, in: J.  Partridge (Hg.), Interfaces in Language (Newcastle 2010), S. 189–206. 29 Bridget Kendall, „Re-awakening Language“, The Forum, BBC Radio  4, (3.  September 2016). 30 Siehe Norman Davies, „The Midnight Isles“, in: The Isles: A History (London 1999), S. 3–27. 31 A. L. Rowse, Quiller-Couch: A Portrait of „Q“ (London 1988).

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Anmerkungen zu: 2. Baki – Baku

32 www.izquotes.com/quote/159257 [Stand: 17.11. 2019]. 33 A. L. Rowse, Tudor Cornwall: Portrait of a Society (London 1941), The West in English History (London 1949), A Cornish Childhood (London 1944), The Contribution of Cornwall and the Cornish to Britain (Newton Abbot 1969) sowie The Spirit of English History (London 1943). 34 Poldark, TV-Serie, www.imdb.com/title/tt363 6060 [Stand: 17.11.2019]. 35 Siehe Margaret Forster, Daphne du Maurier (London 1993). 36 Daphne du Maurier, Rule Britannia (London 1972); „Rule Britannia  – published in 1972“, w w w.dumaurier.org/menu_page.php?id =123 [Stand: 17.11.2019]. Siehe auch den Leserbrief von Robert Stiby in der Londoner Times vom 1. Juli 2016. 37 www.cornishchoughs.org/choughs [Stand: 31.10.2015], bzw. https://www.cbwps.org.uk/ cbwpsword/articles/choughs/ [Stand: 17.11. 2019]. 38 https://chough.org [Stand: 17.11.2019]. 39 Siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Gestohlene_Generationen [Stand: 17.11.2019] und den umfangreicheren englischen Artikel https:// en.wikipedia.org/wiki/Stolen_Generations [Stand: 17.11.2019] sowie „Sorry Day and the Stolen Generations“, https://www.australia. gov.au/about-australia/our-country/our-people/apology-­to-australias-indigenous-peoples [Stand: 17.11.2019]. 40 P.  Fontaine und B.  Farber, „What Canada Committed Against First Nations was Genocide“, Globe and Mail (14. Oktober 2013). 41 „Warlinenn: The Cornish Language Fellowship Online“, siehe www.cornish-language. org [Stand: 17.11.2019]. 42 Henry Jenner, A Handbook of the Cornish Language (London 1904) sowie History in Cornish Place-Names (Penryn 1912). 43 „Gorsedh Kernow – The Celtic Spirit in Cornwall“, http://gorsedhkernow.org.uk [Stand: 17.11.2019]. 44 „Maga: The Cornish Language Partnership, Cornwall Council, Truro  TR1  3AY“, https:// www.intocornwall.com/engine/business.details.asp?id=362 [Stand: 17.11.2019]. 45 „Cornish Stannary Parliament (CSP)“, https://en.wikipedia.org/wiki/Cornish_Stannary_Parliament, bzw. https://ipfs.io/ipfs/Qm-

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2. Baki – Baku. Flame Towers im Land des Feuers 1 Norman Davies, Europe: A History (Oxford 1996), S. 8. 2 Voraussetzungen für die Visavergabe des aserbaidschanischen Außenministeriums, zitiert nach der engl. Wikipedia (2013). Hier aus dem Original übersetzt.

Anmerkungen zu: 2. Baki – Baku

3 Ebd. 4 Thomas de Waal, Black Garden: Armenia and Azerbaijan through Peace and War (New York 2003); Vahe Gabreliyan, Artsakh: The Land and People of Karabakh (Yerevan 2011). 5 S.  Adamczak u. a., Gruzja, Armenia I Azerbaijan (Bielsko Biala 2013), S. 14f. 6 „Sex in Azerbaijan“, http://www.azerb.com/ az‑sex.html; https://naughtynomad.com/2012 /12/16/city-guide-baku-azerbaijan [Stand: 19.11. 2019]. 7 Azernews, Nr. 72 (875) (September 2013). Preis 49 Qäpik. 8 „Stabilising the Pipedreams of Europe“, Azerbaijan: A Phoenix Rising, The Report Company (2013), S. 5f. 9 Vgl. Robert Conquest, Stalin and the Kirov Murder (London 1989); M.  Lenoe, The Kirov Murder and Soviet History (New Haven 2010). 10 https://en.wikipedia.org/wiki/National_Museum_of_History_of_Azerbaijan [Stand: 19.11. 2019]. 11 https://en.wikipedia.org/wiki/Nizami_Museum_of_Azerbaijani_Literature [Stand: 19.11. 2019]. 12 W.  I.  Lenin, Offener Brief, „An die kommunistischen Kameraden in Aserbaidschan, Georgien, Armenien, Dagestan und den Bergrepubliken“ (14. April 1921). 13 Vgl. Jamil Hasanli, At the Dawn of the Cold War: The Soviet-American Crisis over Iranian Azerbaijan, 1941–46 (Lanham 2006). 14 „Freedom in the World 2014“, https://freedomhouse.org/report/freedom-world/freedom-world-2018 [Stand: 19.11.2019]. 15 https://www.transparency.org/country/AZE [Stand: 19.11.2019]. 16 Committee to Protect Journalists (CPJ), ht t p s : //c p j . o r g /aw a r d s /2 0 0 9 /e y nu l l a fatu llayev-editor-rea lny-azerbaijan.php [Stand: 19.11.2019]. 17 „Comment is Free“, The Guardian (27. September 2013). 18 „The Axeman Goeth“, The Economist (8. September 2012). 19 Caucasus Election Watch (19.  September 2013). 20 I.  Aliyev (Hg.), Istoriya Azerbaidzhana: s drevneishykh vryemyen do nachala XX vyeka (Baku 1995), S. 430. 21 L. Sadigova, „Gobustan’s Mysterious Inscriptions Made by Romans“, Azernews (13. Okto-

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Anmerkungen zu: 3. Al-Imarat

73 Max Fisher, „Oops! Azerbaijan Released Results before Voting had Started“, Washington Post (9.  Oktober 2013); BBC News, „Azer­ baijan’s Ilham Aliyev Claims Victory“ (9. Oktober 2013). 74 „Putin, Aliyev Meet in Baku“, The Armenian Weekly (8. August 2016). 75 W. Kolarz, Russia and her Colonies (London 1952).

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Anmerkungen zu: 3. Al-Imarat

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Anmerkungen zu: 4. Dilli – Delhi

68 https://web.archive.org/web/201409 24202811/ http://www.uaeinteract.com/society/education.asp [Stand: 06.12.2019]. 69 Y. Bahoumy, „UAE Court Jails Scores of Emiratis in Coup Plot Trial“, Reuters (2. Juli 2013). 70 „Ranking Web of World Universities: Top Arab World http://www.webometrics.info/ en/Arab_world [Stand: 06.12.2019]. 71 https://www.islamawareness.net/Education/ importance.html, https://www.al-islam.org/ articles/education-islam-say yid-muhammad-rizvi [Stand: 06.12.2019]; Safa Faisal, „Muslim Girls Struggle for Education“, BBC News (24. September 2003). 72 „Memory  3“, Khor Fakkan aus Sharjah (27. Februar 2015), https://glimpsesofuae.com/category/memories/ [Stand: 06.12.2019].

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10 R. Deliège und Nora Scott, The Untouchables of India (Oxford 1999); S. M. Michael, Dalits in Modern India: Vision and Values (Los Angeles 2007). 11 Alexander Robertson, The Mahar Folk: A Study of Untouchables in Maharastra (Calcutta 1938); T. Pillai-Vetschera, The Mahars (New Delhi 1994). 12 Rupa Viswanath, The Pariah Problem: Caste, Religion, and the Social in Modern India (New York 2014). 13 Shiva Swamy, Depressed Classes and Backward Classes of India (Jaipur 2009). 14 C. R. Bijoy, „The Adivasis of India: A History of Discrimination, Conflict and Resistance“ (2003), https://www.researchgate.net/publication/295315229_The_Adivasis_of_India__A_History_of_Discrimination_Conf lict_ and_Resistance [Stand: 25.11.2019]. 15 Sipra Sen, The Tribes of Nagaland (Delhi, 1987). 16 Michael Bergunder, Ritual, Caste, and Religion in Colonial South India (Halle 2010). 17 Arundhati Roy, „India’s Shame“, Prospect (Dezember 2014), S. 26–34. 18 BBC News, „India’s Lost Girls“ (4.  Februar 2003). 19 Mary Grey, The Unheard Scream: The Struggle of Dali women (New Delhi 2004). 20 World Council of Churches and World YWCA, „Dalit Fact Sheet“ (2015). http://www. overcomingviolence.org/en/resources/campaigns/women-against-violence/now-we-arefearless/dalit-fact-sheet.html [Stand: 25.11. 2019]. 21 „Atrocities against Bhotmange Family in Khairlanji“, https://web.archive.org/web/20 171215021210/www.vakindia.org/pdf/khairlanji.pdf [Stand: 09.12.19]; Roy, a. a. O., S. 26–29. 22 „Death Sentence Dropped for Mob Murder of Dalits“, BBC News (14. Juli 2012). 23 „Jogini System Still Prevalent in City“, The Hindu (3. November 2012); „Women in Ritual Slavery: Devadasi, Jogin and Mathamma“, Anti-Slavery International, Document Nr. 1930 (2007). 24 Moni Basu, „The Girl whose Rape Changed a Country“, https://edition.cnn.com/interactive/2013/11/world/india-rape [Stand: 25.11. 2019]. 25 Suzanne Moore, „Delhi Gang-Rape: In India, Anger is Overtaking Fear“, The Guardian

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Anmerkungen zu: 4. Dilli – Delhi

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(31.  Dezember 2012); Helen Pidd, „A Bad Place to be a Woman“, The Guardian Weekly (10. August 2012). Jean Drèze und Amartya Sen, Indien: Ein Land und seine Widersprüche (München 2014). Geeta Gupta, „Delhi’s Unending Search for Water“, Indian Express (17. Februar 2013). Victor Mallet, „The Polarising Outsider Set to Revolutionise Indian Politics“, The Financial Times (17. Mai 2014); Jason Burke, „Landslide for Modi Shatters Congress’s Grip on Power“, The Guardian (17. Mai 2014). Adam Taylor, „Why Did Narendra Modi Keep his Wife Secret for Almost Fifty Years?“, Washington Post (10. April 2014). M. Tewari, „Delhi’s Unknown Nirbhaya“, and „Around Seventy Delhi Police Officers Face ‚Rape‘ Charges“, MailOnlineIndia (7. Februar 2014). „India: Gang Rape“, CNN Edition (31.  Mai 2014). Gavin D. Flood, An Introduction to Hinduism (Cambridge 2003); K.  M.  Sen, Hinduism (London 2005). https://en.wikipedia.org/wiki/Akshardham_ (Delhi) [Stand: 25.11.2019]. M.  Tobias, Life Force: The World of Jainism (Berkeley 1991); L.  A.  Babb, Understanding Jainism (Edinburgh 2015). Brian White, „A Five-Minute Introduction“, www.buddhanet.net/e-learning/5 minbud. htm [Stand: 25.11.2019]. https://en.wikipedia.org/wiki/Muhammad_ of_Ghor [Stand: 25.11.2019]. W. O. Cole, Sikhism (London 2013). https://de.wikipedia.org/wiki/Mul_Mantar [Stand: 25.11.2019]. Roy, a. a. O., S. 26. Stephen Neill, A History of Christianity in India (Cambridge 2004). John Ferraby, All Things Made New: A Comprehensive Outline of the Bahá’í faith (London 1987). Bahaitum-Webseite, https://www.bahai.org/ beliefs/ [Stand: 25.11.2019]. N.  Sanyal, The Development of Indian Railways (Calcutta 1930). Ebd., S. 2 und 8. „National Rail Museum“, www.delhitourism. gov.in/delhitourism/entertainment/national_rail_museum.jsp [Stand: 25.11.2019].

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46 „History of Indian Stamps“, www.hamiltonphilatelic.org/presentations/indianstates.pdf; https://www.sandafayre.com/indian-feudatory-states-stamps [Stand: 25.11.2019]. 47 Sir William Lee-Warner, The Native States of India (London 1910, Nachdruck 2012). 48 Encyclopædia Britannica, 11.  Auflage (1910– 11), Band 5, S. 813. 49 „Chamba“, https://en.wikipedia.org/wiki/ Chamba,_Himachal_Pradesh [Stand: 25.11. 2019]. 50 „Chamba“, https://hpchamba.nic.in/touristplaces/ [Stand: 25.11.2019]. 51 „The History and Register of the Princely States of India“, Nobility of the World, Band 8 – Indien, http://www.almanachdegotha.org/id242.html [Stand: 25.11.2019]. 52 „National Identity Elements of India“, https://knowindia.gov.in/national-identityelements/ [Stand: 25.11.2019]. 53 B.  R.  Nanda, Jawaharlal Nehru: Rebel and Statesman (Oxford 1998); Jawaharlal Nehru, Entdeckung Indiens, (Berlin 1959). 54 „Vande Mataram: The National Song of India“, komponiert 1875, https://www.hindujagruti.org/hinduism-history/vande-mataram [Stand: 25.11.2019]. Hier von Jörn Pinnow aus dem Englischen übersetzt. 55 Sam Chacko, „Defining Indianness“, About. com, o.  J., http://schoolsofequality.com/theindian-identity/ [Stand: 25.11.2019]. 56 Pankaj Mishra, „The Many Strands of Indian Identity“, The Wall Street Journal (13. Februar 2015). 57 Wendy Doniger, Hindu Myths: A Sourcebook (London 1975); The Rig Veda: An Anthology (London 1981); The Hindus: An Alternative History (London 2009); Love’s Subtle Magic: An Indian Islamic Literary Tradition, 1379– 1545 (New York 2013); Pluralism and Democracy in India: Debating the Hindu Right (New York 2015); The Mare’s Trap: Nature and Culture in the Kamasutra (New Delhi 2015). 58 Itty Abraham, The Making of the Indian Atomic Bomb (London 1998). 59 S.  Ganguli und S.  P.  Kapur, India, Pakistan and the Bomb (New York 2010). 60 „India’s Daughter of Fire“, The Straits Times (Singapur) (21. April 2012). 61 Mohan Malik, China and India: Great Power Rivals (Boulder 2011).

Anmerkungen zu: 5. Melayu

62 Andrew Cooper, The BRICS: A Very Short Introduction (Oxford 2016). 63 R.  E.  Vickery, The Eagle and the Elephant (Washington, DC, 2011). 64 https://en.wikipedia.org/wiki/Vickram_Bahl [Stand: 25.11.2019].

5. Melayu: Amok oder amuk an der „schlammigen Mündung“ 1 Kuala Lumpur International Airport, www. klia.com.my [Stand: 27.11.2019]. 2 Malaysia Airlines, https://www.malaysiaairlines.com/hq/en.html [Stand: 27.11.2019]. 3 Sin Chew Daily (Petaling Jaya) (10. Juni 2013). Die Botschaft war außerdem noch auf Chinesisch und Tamilisch übersetzt. 4 Utusan Malaysia („Malaysia-Kurier“) (24. April 2012), https://www.utusan.com.my/ [Stand: 27.11.2019]. 5 Victor T.  King, Malaysia (London 2008), S.  45–50; siehe auch Meredith Weiss, The Routledge Handbook of Contemporary Malaysia (London 2015). 6 Kuala Lumpur, Selangor, http://www.geographia.com/malaysia/selangor.html [Stand: 9.12.2019]. 7 Petronas Towers, www.petronastwintowers. com.my/en [Stand: 27.11.2019]. 8 Thean-Hou-Schrein, http://www.malaysiatraveling.com/kuala_lumpur_thean_hou_ tempel.html [Stand: 27.11.2019]. 9 Nationalmoschee Masjid Negara, http://kuala-lumpur.attractionsinmalaysia.com/National-Mosque.php [Stand: 27.11.2019]. 10 Hindutempel, www.wonderfulmalaysia.com/ attractions/sri‐mahamariamman‐temple. htm [Stand: 27.11.2019]. 11 „Rivers Deep or Mountains High? The Origins of the Word ,Melayu‘“, www.sabrizain. org/malaya/malays4.htm [Stand: 27.11.2019]. 12 „Manglish“, https://en.wikipedia.org/wiki/ Manglish [Stand: 27.11.2019]. 13 „No Can Do“, Malaysia Today (Online) (13. Februar 2014). 14 Tugu Negara, http://www.wonderfulmalaysia.com/attractions/national-monument-inkuala-lumpur.htm [Stand: 27.11.2019]. Mit „Notstand“ ist der Malayan Emergency gemeint, eigentlich ein Guerillakrieg gegen die

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britische Kolonialherrschaft (1948–1960), siehe auch S. 279 (Anm. d. Übers. T. G.). Muzium Negara, www.jmm.gov.my/en/museum.muzium‐negara [Stand: 27.11.2019]. M. C. Ricklefs, A History of Modern Indonesia since c.  1300 (Basingstoke 1993); R.  E.  Elson, The Idea of Indonesia: A History (Cambridge 2008). Iskandar Carey, Orang Asli: The Aboriginal Tribes of Peninsular Malaysia (London 1976); Roy Jumper, Power and Politics: The Story of Malaysia’s Orang Asli (Lanham 1997). „Malaysia’s Indigenous Peoples“, https:// www.malaysiasite.nl/orangeng.htm [Stand: 27.11.2019]. „Ethnic Malays“, https://en.wikipedia.org/ wiki/Malays_(ethnic_group) [Stand: 27.11. 2019]. George Coedès, The Indianized States of South-East Asia (1964; Honolulu 1968); Sriwijaya: History, Religion and Language of an Early Malay Polity (Kuala Lumpur 1992). John Guy  u. a., Lost Kingdoms: Hindu-Buddhist Sculpture of Early South-East Asia (New York 2014). I‐Tsin, A Record of the Buddhist Religion as Practised in India and the Malay Archipelago (AD 671–95) (Oxford 1896), S. xxxix. I-Tsin, Record of the Buddhist Religion, S. xl– xli. https://www.lonelyplanet.com/madagascar/ history [Stand: 27.11.2019]. J. Dumarçay, Borobudur (Oxford 1991). „Majapahit Empire“, https://en.wikipedia. org/wiki/Majapahit [Stand: 27.11.2019]. Die Reise des seligen Odorich von Pordenone nach Indien und China (1314/18–1330), übers. v. Folker Reichert (Heidelberg 1987), S. 62f. Theodore Pigeaud, Java in the Fourteenth Century: A Study in Cultural History, 5  Bde. (Den Haag 1960–63). Barbara Watson Andaya, „Malacca“, in: C. Edmund Bosworth (Hg.), Historic Cities of the Islamic World (Leiden 2007), S. 309ff. Tomé Pires, Suma Oriental: An Account of the East from the Red Sea to Japan, written in Malacca and India 1512–15 (Google Books). Rosemary Robson, The Epic of Hang Tuah (Kuala Lumpur 2010). Fei Hsin, Hsing-ch’a-sheng-lan: The Overall Survey of the Star Raft, hg. v. Roderich Ptak, übers. v. J. V. G. Mills (Wiesbaden 1996); Ed-

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ward Dreyer, Zheng He: China and the Oceans in the Early Ming Dynasty, 1405–33 (London 2007). M. A. Khan, Islamic Jihad: A Legacy of Forced Conversion, Imperialism, and Slavery (Bloomington, IN 2009), S. 140f. Nicholas Tarling, Anglo-Dutch Rivalry in the Malay World (Cambridge 1962). L.  A.  Mills, British Malaya, 1824–67 (Diss. Oxford 1924, Singapur 1961); C.  D.  Cowan, Nineteenth-Century Malaya: The Origins of British Control (London 1961); J.  G.  Butcher, The British in Malaya, 1880–1941 (Oxford 1979). H.  S.  Barlow, Swettenham (Kuala Lumpur 1995); F.  S.  Clark, Men of Malaya (London 1942). F. W. Swettenham, A Vocabulary of the English and Malay Languages, 2  Bde. (London 1883–1887); About Perak (Singapur 1893); Malay Sketches (London 1895); The Real Malay: Pen Pictures (London 1900); British Malaya: An Account of the Origins and Progress of British Influence in Malaya (London 1948); Sir Frank Swettenham’s Malayan Journals, 1874– 76 (Kuala Lumpur 1973). Swettenham, The Real Malay, S. ix–x. Ebd., S. 2f. Ebd., S. 7f. S. H. Alatas, The Myth of the Lazy Native: A Study in the Image of Malays, Filipinos, and Javanese … and its Function in the Ideology of Colonial Capitalism (London 1977). SOED, Bd. I, S. 63. Frank Swettenham, from „Amok“, Malay Sketches, S. 38–42. P.  J.  Drake, „The Economic Development of British Malaya to 1914“, Journal of SouthEastern Asian Studies 10.  Jg., Nr.  2 (1979), S. 262–290. J. Hagan und A. Wells, „The British and Rubber in Malaya, c.  1860–1940“, University of Wollongong Research Online, https://ro.uow. edu.au/artspapers/1602/ [Stand: 27.11.2019]. Owen Rutter, British North Borneo: An Account of its History, Resources and Native Tribes (London 1922); D.  J.  M.  Tate, Rajah Brooke’s Borneo (Hong Kong 1998); Margaret Brooke, My Life in Sarawak (London 1913, Singapur 1986). S.  R.  Evans, The History of Labuan Island (Singapur 1998).

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48 Stanley Gibbons’ Simplified Stamp Catalogue (London 1948), S. 1, 218. 49 Encyclopædia Britannica, 11.  Aufl. (London 1910–11), Bd. 17, S. 453f. 50 P. Kratoska, Malaya and Singapore during the Japanese Occupation (Singapur 1995). 51 Albert Lau, The Malayan Union Controversy (Oxford 1991). 52 Robert Jackson, Malayan Emergency: The Commonwealth Wars, 1948–66 (London 1991). 53 John Cloake, Templer, Tiger of Malaya: The Life of Field Marshal Sir Gerald Templer (London 1985). 54 Harry Miller, Prince and Premier: A Biography of Tunku Abdul Rahman (London 1959). 55 Anthony Burgess, Der Fürst der Phantome, übers. v. Wolfgang Krege (Stuttgart 2003), S. 315. Siehe auch Roger Lewis, Anthony Burgess (London 2002); Paul Phillips, A Clockwork Counterpoint: The Music and Literature of Anthony Burgess (Manchester 2010). 56 Anthony Burgess, Jetzt ein Tiger, übers. v. Ludger Tolksdorf (Coesfeld 2018), S. 59. 57 Anthony Burgess, The Enemy in the Blanket (London 2000), S.  191f. (Übers. T.  G.). Der Übersetzer dankt Ludger Tolksdorf für wertvolle Hinweise. 58 Will Fowler, Britain’s Secret War: The Indonesian Confrontation, 1962–66 (Oxford 2006). 59 J. J. Raj, The Struggle for Malaysian Independence (Petaling Jaya 2007). 60 Rukunegara,https://www.perpaduan.gov.my/ en/statehood/rukun-negara-club/declaration-rukun-negara [Stand: 27.11.2019]. 61 BBC News, „1MDB: The Case that has Riveted Malaysia“ (27. Juli 2016). 62 South‐East Asia Regional Center for CounterTerrorism, www.searcct.gov.my [Stand: 27.11. 2019]. 63 Sydney Morning Herald (30. März 2014). 64 Association of Southeast Asian Nations, www.asean.org [Stand: 27.11.2019]. 65 The Star (24.  April 2012), www.thestar.com. my [Stand: 27.11.2019]. 66 BFM Radio, https://www.liveonlineradio.net/ malaysia/bfm-radio.htm [Stand: 27.11.2019]. 67 J. Pak, „Malaysia Focuses on a High‐Tech Future“, BBC News  – Business (1.  September 2011). 68 https://en.wikipedia.org/wiki/NXP_Semiconductors [Stand: 27.11.2019].

Anmerkungen zu: 6. Singapura

69 GDP (PPP), https://en.wikipedia.org/wiki/ List_of_countries_by_GDP_(PPP) [Stand: 27.11.2019]. 70 Freedom House, https://en.wikipedia.org/ wiki/List_of_freedom_indices [Stand: 27.11. 2019].

6. Singapura: Inselstadt der Tiger und Löwen 1 Singapore’s Population, https://www.world­ ometers.info/world-population/singaporepopulation/ [Stand: 27.11.2019]. 2 Insight Guide, Singapore, 14. Aufl. (Singapur 2014). 3 GDP 2015, https://tradingeconomics.com/ singapore/gdp-per-capita [Stand: 27.11.2019]. 4 Der ursprüngliche tamilische Begriff ist vadavaka; auf Französisch heißt die Technik le pompoir, auf Deutsch der Kegel, auf Arabisch kabazza, auf Englisch auch „Shanghai Squeeze“, „the Snapping Turtle“ oder „the Quivering Butterfly“. Siehe Carrie Weisman, „The Ancient but Largely Forgotten Technique“, http://www.alternet.org [Stand: 27.11.2019]. 5 „Tigers in Singapore“, https://eresources.nlb. gov.sg/infopedia/articles/SIP_1081_ 2007-0117.html?s=tigers%20in%20singapure [Stand: 27.11.2019]. 6 B. Yeoh und W. Lin, „Rapid Growth in Singapore’s Immigrant Population Brings Policy Challenges“, Migration Policy Institute (Washington) (3.  April 2012), https://www. migrationpolicy.org/search? search_api_ views_fulltext=Rapid+Growth+in+Singapor e%E2%80%99s+Immigrant+Population+Brin gs+Policy+Challenges&field_publication_ty pe=All&created%5Bdate%5D=09%2F01%2F2 001&created_1%5Bdate%5D= [Stand: 27.11. 2019]. 7 Carl Trocki, Opium and Empire: Chinese Society in Colonial Singapore, 1800–1910 (London 1990). 8 Siehe O. S. Song, One Hundred Years’ History of the Chinese in Singapore (Singapur 1967). 9 Tessa Wong, „The Rise of Singlish“, BBC News (6. August 2015). 10 „Singapore MRT Map“, subway.umka.org/ map‐singapore.html [Stand: 27.11.2019]; Brenda Yeoh, Portraits of Places: History, Community and Identity in Singapore (Singapur 1995). 11 „Singapore Brothels“ https://web.archive.org/ web/20130530015834/http://www.mademan. com/mm/singapores-10-best-brothels.html [Stand 12.12.2019].

12 „The Best Singapore Jokes“, http://www.askmelah.com/my-favourites/the-best-all-timespore-jokes/ [Stand: 27.11.2019]. 13 https://en.wikipedia.org/wiki/President_of_ Singapore [Stand: 27.11.2019]. 14 Yao Souchou, „Oral Sex, Natural Sex and National Enjoyment“, in: Singapore: The State and the Culture of Excess (London 2007). 15 https://www.indexoncensorship.org/2009 /11/ singapore-censorship-city/ [Stand: 27.11.2019]. 16 Palash Gosh, „Singapore: Drug Laws and the Death Penalty“, International Business Times (22. Juni 2011). 17 Amnesty International, „Singapore: The Death Penalty – A Hidden Toll of Executions“ (2003), https://www.amnesty.org/en/documents/asa36/001/2004/en/ [Stand: 27.11.2019]. 18 Alan Shadrake, Once a Jolly Hangman: Singapore Justice in the Dock (Millers Point 2010); P. Barkham, „Jailed for Writing a Book They Didn’t Like“, The Guardian (27. Juli 2011). 19 International Crime Rates, https://www. numbeo.com/crime/rankings_by_country. jsp [Stand: 27.11.2019]; Deutschland liegt auf dem 99.  Platz und Großbritannien auf dem  68., die Vereinigten Staaten nehmen Rang 45 ein, und auf Platz 1 steht Venezuela. 20 Lee Kuan Yew, From Third World to the First: Singapore 1965–2000 (Singapur 2000). 21 Expedia.co.uk, Currency Converter (30. Dezember 2015). 22 „Our Healthcare System“, https://www.moh. gov.sg/our-healthcare-system [Stand: 27.11. 2019]. 23 OECD online, Handbook for Internationally Comparative Education Statistics (2013). 24 P. Waring und V. Drewe, „Singapore’s Global Schoolhouse Strategy: The First Ten Years“, The Observatory on Borderless Higher Education (2012; 2013). 25 https://www.topuniversities.com/universityrankings/world-university-rankings/2015 [Stand: 12.12.2019]; die Singapurer Nanyang Techological University steht auf Platz 13. 26 National University of Singapore, http:// www.nus.edu.sg [Stand: 12.12.2019]. 27 Siehe P. J. Thum, „History of Singapore“ podcast, https://podcasts.apple.com/sg/podcast/ the-history-of-singapore/id1024 071280 [Stand: 12.12.2019]. 28 Lee Kuan Yew, The Singapore Story: Memoirs of Lee Kuan Yew (Singapur 1998). 29 Siehe Chris Tremewan, The Political Economy of Social Control in Singapore (Basingstoke 1994); Han Fook Kwang u. a., Lee Kuan Yew: The Man and his Ideas (Singapur 1998); „Days of Reflection for the Man who Defined Singa-

853

Anmerkungen zu: 6. Singapura

pore“, aus der Singapurer Ausgabe der New York Times (13.  September 2010); Lee Kuan Yew, One Man’s View of the World (Singapur 2013). 30 Majulah Anthem, https://en.wikipedia.org/ wiki/Majulah_Singapura [Stand: 12.12.2019]. 31 Noel Barber, The Singapore Story: From Raffles to Lee Kwan Yew (London 1978); C. M. Turnbull, A History of Singapore 1819– 1988 (Singapur 1989); E.  Chew and E.  Lee, A  History of Singapore (Singapur 1990); Carl Trocki, Singapore: Wealth, Power and Control (London 2006). 32 Charles Wurtzburg, Raffles of the Eastern Isles (Oxford 1986); Maurice Collis, Raffles (London 1988); V. Glendinning, Raffles and the Golden Opportunity (London 2012). 33 Brief aus Penang (19. Februar 1819), zit. nach Sophia, Lady Raffles, Memoir of the Life and Public Services of Sir Thomas Stamford Raffles FRS (1830) (Singapur 1991), S. 377. 34 Raffles an die Herzogin von Somerset (22. Februar 1819), ebd., S. 378. 35 Philip Ziegler, Diana Cooper: The Biography of Lady Diana Cooper (London 1982). 36 Noel Barber, A Sinister Twilight: The Fall of Singapore (Boston 1968); Frank Owen, The Fall of Singapore (1960) (London 2001); Cecil Lee, Sunset of the Raj (Edinburgh 1994); Timothy Hall, The Fall of Singapore (Melbourne 1990); Peter Elphick, Singapore: The Pregnable Fortress (London 1995). 37 Alan Warren, Singapore 1942: Britain’s Greatest Defeat (London 2002); Richard Hughes, „End of an Edifice“, The New York Times (30.  Juni 1968): eine Rezension des zitierten Buches von Barber. 38 Benjamin Schwarz, „Their Lousiest Hour“, The New York Times (17.  August 2005): eine Rezension von C.  Bayly und T.  Harper, Forgotten Armies: The Fall of British Asia, 1941–45 (Harvard 2005). 39 Zit. nach Hughes, „End of an Edifice“. 40 Aus F. Spencer‐Chapman, The Jungle is Neutral (London 1949). 41 Lt. Gen. A.  E.  Percival, The War in Malaya (London 1949), „The Battle for Singapore I“, S. 281ff. 42 S. E. Morison, Rising Sun in the Pacific (Oxford 1948), S. 188–190. 43 Martin Middlebrook, Battleship: The Loss of the Prince of Wales and the Repulse (London 1979). 44 V. Semenov, The Battle of Tsu-shima between the Japanese and Russian Fleets, 1905 (London 1906). 45 Owen, Fall of Singapore, S. 131f.

854

46 Lionel Wigmore, The Japanese Thrust (Canberra 1957), zit. nach Owen, Fall of Singapore, S. 134. 47 Owen, Fall of Singapore, S. 139. 48 https://en.wikipedia.org/wiki/Malayan_ campaign [Stand: 12.12.2019]. 49 Aus W. S. Churchill, The Second World War, Bd. III (London 1950). 50 Hughes, „End of an Edifice“. 51 Percival, War in Malaya, S. 293. 52 Ebd., S. 294. 53 The New York Times (17. Februar 1942). 54 Siehe Edward Russell, The Knights of Bushido: A Short History of Japanese War Crimes (London 1960). 55 Changi POW Camp, https://www.historylearningsite.co.uk/world-war-two/prisoners - of-w a r-i n-w w 2 /cha ng i-p ow- c a mp/ [Stand: 12.12.2019]. 56 Zit. nach Hughes, „End of an Edifice“. 57 „End of Occupation“, https://en.wikipedia. org/wiki/Japanese_occupation_of_Singapore [Stand: 12.12.2019]. 58 Hughes, „End of an Edifice“. 59 D.  Black, In His Own Words: John Curtin’s Speeches and Writings (Perth 1995). 60 Mit Anpassungen aus W. S. Churchill, Reden 1942 – Das Ende des Anfangs, Zürich 1948, S. 96, 99, 102f. Churchills Rede wurde damals auch in der New York Times abgedruckt (16. Februar 1942). 61 Zit. nach H. E. Wilson, Social Engineering in Singapore, 1819–1972 (Singapur 1978). 62 Tim Huxley, Defending the Lion City: The Armed Forces of Singapore (St.  Leonard’s 2000). 63 Marina Bay, https://de.wikivoyage.org/wiki/ Singapur/Marina_Bay; https://www.marina baysands.com/ [Stand: 12.12.2019]. 64 James Gordon Farrell, Singapur im Würgegriff, übers. v. Manfred Allié (Berlin 2017), S. 11. 65 https://www.tripadvisor.co.uk/Attraction_ Review-g294265-d14149881-Reviews-Former_ Ford _ Fac tor y-Si ngapore.ht m l# REVIEWS [Stand: 12.12.2019]. 66 https://www.visitsingapore.com/see-do-singapore/history/history-museums/changimuseum/ [Stand: 12.12.2019]. 67 „15–Royston Tan“, https://directorsnotes. com/2006/06/17/15-royston-tan/ [Stand: 12.12.2019]. 68 Singapore Cuisine, https://web.archive.org/ web/20140328230615/http://www.yoursingapore.com/content/traveller/en/browse/dining/cuisines-of-singapore.html [Stand: 12.12. 2019].

Anmerkungen zu: Intermezzo

69 „How to Order Coffee like a Singaporean“, https://www.travelfish.org/eatandmeet_profile/singapore/central_region/central_area/ downtown_singapore/2295 [Stand: 12.12. 2019]. 70 Raffles Hotel, https://en.wikipedia.org/wiki/ Raffles_Hotel; https://www.businesstraveller. com/business-travel/2019/07/21/raffles-singapore-brings-back-afternoon-tea-in-renovated-grand-lobby/ [Stand: 12.12.2019]. 71 Singapore Sling, https://de.wikipedia.org/ wiki/Singapore_Sling [Stand: 12.12.2019]. 72 A.  T.  Kearney, „The Globalization Index, 2007“, Foreign Policy Journal: https://foreignpolicy.com/2009/10/12/the-globalization-index-2007/ [Stand: 12.12.2019]. 73 Manfred Steger, Globalization: A Very Short Introduction (Oxford 2013). 74 Seawise Giant, http://www.vesseltracking. net/article/seawise-giant [Stand: 12.12.2019]. 75 Lord „Jim“ O’Neill, „Fixing Globalisation“, BBC Radio 4 (6. Januar 2017); siehe auch The Growth Map: Economic Opportunities in the BRICs and Beyond (London 2011). 76 Jurong Island, https://www.jtc.gov.sg/industrial-land-and-space/Pages/jurong-island. aspx [Stand: 12.12.2019]. 77 Tom Freyberg, „Singapore to Build Third Desalination Plant“, WaterWorld (13. März 2015). 78 Azra Moiz, „Singapore – Running Out of ­Water“, http://web.archive.org/web/201210251 24514/http://worldwaterconservation.com/ Singapore.html [Stand: 12.12.2019]. 79 Association of Pacific Rim Universities (founded 1997), http://www.apru.org (2014). 80 F. R. Dulles, America in the Pacific: A Century of Expansion (1932) (New York 1969). 81 „Guam“, http://www.infoplease.com/country/ guam.html [Stand: 12.12.2019]. 82 I. Parmar, Obama and the World: New Directions in US Foreign Policy (New York 2014). 83 Siehe I.  P.  Austin (Hg.) Australia-Singapore Relations: Successful Bilateral Relations in a Historical and Contemporary Context (Singapur 2011). 84 K. Vasvania, „Brexit: The Singapore Lesson“, BBC News (25.  Februar 2016); Chris Key, „Modelling the British Economy on Singapore after Brexit is a Really Bad Idea“, The Independent (19. Januar 2017).

Intermezzo Oriens: Richtung Sonnenaufgang 1 Sebastian Münster, „Europa Regina“ (1537), in: Cosmographiae Universalis (Basel 1552),

6  Bände; Matthew McLean, The Cosmographia of Sebastian Münster: Describing the World in the Reformation (Aldershot 2007). 2 Tony Judt (1948–2010). Vgl. Tony Judt und Timothy Snyder, Thinking the Twentieth Century (London 2012). 3 L. Bagrow und R. A. Skelton, History of Cartography, 2. Auflage (Oxford 1985); Jerry Brotton, A History of the World in Twelve Maps (London 2012). 4 Im Englischen taucht der Fachbegriff zum ersten Mal 1876 auf, vgl. SOED, toponomy, 1876. 5 Henry R. Schoolcraft, The Indian Tribes of the USA (Philadelphia 1851–1857), 6 Bände. 6 American Heritage, Dictionary of the English Language, 5. Auflage (New York 2011). 7 Percival Lowell, Choson: The Land of Morning Calm (London 1885); Die Seele des Fernen Ostens (Jena 1911). 8 J. W. Hall (Hg.), The Cambridge History of Japan (Cambridge 1993), Bd. 1. 9 E.  O.  Reischauer und J.  K.  Fairbank, East Asia: The Great Tradition (London 1960). 10 Vgl. Norman Davies, „The Germano-Celtic Isles“, in: The Isles: A History (London 1996). 11 Edith Hall, Inventing the Barbarian: Greek Self-Definition through Tragedy (Oxford 1989). 12 Alecxander Blok, „Die Skythen“, in: ders., Gedichte (Frankfurt a. M. 1990). Übersetzt von Adrian Wanner. 13 Lew N.  Gumiljow, Ethnogenese und die Biosphäre der Erde; Otkrytie Khazarii (Moskau 1966); Khunny v Kitae (Moskau 1974); L. Gumiljow, „Ethnogenesis and Biosphere“, http:// www.cossackweb.narod.ru/gumilev/contents.htm [Stand: 12.12.2019]. 14 Marlène Laruelle, Russian Eurasianism: An Ideology of Empire (London 2012); Charles Clover, Black Wind, White Snow: The Rise of Russia’s Neo-Nationalism (London und New York 2016), „Lev Gumilev: Passion, Putin and Power“, The Financial Times (11. März 2016); Benjamin Nathan, „The Real Power of Putin“, New York Review of Books, Bd. 63, Nr. 14 (September – Oktober 2016). 15 „Where Three is a Crowd: Introducing the Eurasian Economic Union“, The Economist (30. Mai 2014). 16 L. N. Gumilyov Eurasian National University, www.enu.kz/en [Stand:12.12.2019]. 17 S. Lee (Hg.), The Travels of Ibn Batuta (London 1984); deutsche Ausgabe: Horst Jürgen Grün (Hg.), Die Reisen des Ibn Battuta (München 2007); Richard Hall, Empires of the Monsoon: A History of the Indian Ocean and its Invaders (London 1996).

855

Anmerkungen zu: 7. Moris

18 Martín Ignacio de Loyola, Viaje alrededor del mundo (Madrid 1989). 19 „The Epic Journey of Hasekura Tsunenaga“, http://www.artsales.com/ARTistory/Xavier/ Hasekura.html [Stand: 12.12.2019]. 20 Aphra Behn, aus: „The Disappointment“, http s : // w w w. p o e t r y f o u n d a t i o n . o r g / p o ems/43639/the-disappointment [Stand: 12.12. 2019]. Übersetzt von Jörn Pinnow. 21 Vgl. Maureen Duffy, The Passionate Shepherdess (London 1977). 22 Pedro Cubero Sebastián, Peregrinación del mundo (Madrid 1993). 23 Vgl. Giovanni Francesco Gemelli Careri, Giro del Mondo (1699) 24 Nellie Bly, www.biography.com/people/nellie-bly-9216680 [Stand: 12.12.2019]. 25 Charles Cogan, „You Have to Understand, George“, Huffington Post (17. März 2014). 26 Vgl. Roger Adelson, London and the Invention of the Middle East: Money, Power and War, 1902–20 (New Haven 1994). 27 El-Masudi’s Historical Encyclopaedia Entitled the Meadow of Gold and Mines of Gems, aus dem Arabischen übersetzte von Aloys Sprenger MD, Bd. 1 (London 1841), S. 27f. – (Da keine vollständige deutsche Übersetzung des Reiseberichts vorliegt, sind diese und die folgenden Stellen aus dem Englischen übersetzt.) 28 Al-Masudi, Les Prairies d’Or, übersetzt von C. Barbier de Meynard und Pavet de Courteille (Paris 1861–1877), 9 Bände. (Dies war die erste vollständige europäische Übersetzung, die geblich blieb. Anm.  d. jahrzehntelang maß­ Übers. J. P.) 29 Al-Masudi, a. a. O., S. 262f. 30 El-Masudi’s Historical Encyclopaedia Entitled the Meadow of Gold and Mines of Gems, Paragraf 2370. 31 Ebd., „In der Audienzhalle“. 32 Ebd., Paragraf 2374. 33 David Rees, The Soviet Seizure of the Kuriles (New York 1985). 34 Lord Byron, aus: „Braut von Abydos“ (1813). 35 Edward Said, Orientalismus (Frankfurt a. M. 2009). 36 Robert Irwin, For Lust of Knowing: The Orientalists and their Enemies (London 2008). 37 Maya Jasanoff, „Before and After Said“, London Review of Books, Bd.  28, Nr.  11 (8.  Juni 2008). 38 Talal Asad, Anthropology and the Colonial Encounter (New York 1973); Suman Seth, „Putting Knowledge in its Place: Science, Colonialism and the Postcolonial“, Postcolonial Studies, Bd. 12, Nr. 4 (2009), S. 373–388.

856

39 Timothy Snyder, Black Earth. Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann (München 2015). 40 Norman Davies, „Western Civilisation versus European History“, Europe: East and West (London 2006), S. 46–60. 41 Norman Davies, „Fair Comparisons, False Contrasts: East and West in European History“, in: ebd., S. 22ff. 42 J. Wertheimer, Unwelcome Strangers: East European Jews in Imperial Germany (Oxford 1989). 43 Norman Davies, „Great Britain and the Polish Jews, 1918–21“, Journal of Contemporary History, Bd. 8, Nr. 2 (1973). 44 Jitzchak Schamir, zitiert in: Alan Berger u. a., The Continuing Agony: From the Carmelite Convent to the Crosses at Auschwitz (London 2012), S. 139. 45 Menzies (27. April 1939); Alan Watt, The Evolution of Australian Foreign Policy, 1938–1968 (Cambridge 1968), S. 24. 46 G.  Abbondanze, The Geopolitics of Australia in the New Millennium: Asia-Pacific Context (Aracne 2013). 47 Eric Newby, The Rand McNally World Atlas of Exploration (London 1975); www.lifeonperth. com/dutchshipwrecks.htm [Stand: 12.12.2019].. 48 Burke and Wills: Alan Moorhead, Cooper’s Creek: The Classic Account of the Burke and Wills Expedition across Australia (London 2001); Sarah Murgatroyd, The Dig Tree: The Extraordinary Story of the Ill-Fated Burke and Wills Expedition (London 2003). 49 James Lister Cuthbertson, Australian Sunrise (1879), https://www.poemhunter.com/poem/ the-australian-sunrise/ [Stand: 12.12.2019]; Übersetzung von Jörn Pinnow.

7. Moris: Im Land der Kreolen und Dodos 1 C.  Clement, J.  Gresham and Hamish McGlashan (Hg.), Kimberley History: People, Exploration, and Development (Perth 2012). 2 Willem Blaeu, Indiae quae Orientalis dicitur (1637), in: Le Grand Atlas, Faksimile (Paris 1992). 3 https://www.earthobservatory.nasa.gov/images/703/the-intertropical-convergence-zone [Stand: 13.12.2019]. 4 Willem Blaeu, Africae Nova Descriptio (1617), in: Le Grand Atlas, S. 59f. 5 A.  Tasman, Abel Tasman’s Journal ... (Ams­ terdam 1898). 6 Robert Hughes, The Fatal Shore (London 1987), S. 82.

Anmerkungen zu: 7. Moris

7 https://fr.wikipedia.org/wiki/Île_Maurice (2014). 8 Siehe J. Addison und K. Hazareesingh, A New History of Mauritius (Rose‐Hill 1993); Sydney Silvon, A  Comprehensive History of Mauritius: From the Beginning to 2001 (Port‐Louis 2001). 9 Benjamin Moutou, „Sommes‐nous tous des métis ou des Sang‐melés?“, in: Pages d’Histoire d’Ici et d’Ailleurs (Baie du Tombeau o. J.), S. 225–231. 10 Pages d’Histoire d’Ici et d’Ailleurs, Anmerkung, S. 155f. 11 Benjamin Moutu, „L’Évolution de la propriété foncière à Maurice“, in: Pages d’Histoire d’Ici et d’Ailleurs, S. 79–87. 12 „Les Sino‐mauriciens“, http://web.archive. org/web/20141109011925/http://hualienclub. com/index.php?option=com_content&view= article&id=40&Itemid=18 [Stand: 13.12.2019]. 13 National Postal Museum, Port Louis; siehe auch Penny Blue Museum, Caudon Waterfront, Port Louis, http://www.discovermauritiusisland.com/discover/museums/postalmuseum/ [Stand: 13.12.2019]. 14 Georges Brunel, Les Timbres-Poste de l’Ile de Maurice (Paris 1928). 15 Eugene Byrne, „Some Damned Fool“, History Extra (11. November 2011). 16 „Rare British Guiana Stamp Set Record at New York Auction“, BBC News (17. Juni 2014). 17 Economist Intelligence Unit, Democracy Index 2015, https://www.eiu.com/public/topical_report.aspx?campaignid=DemocracyInd ex2015 [Stand: 13.12.2019]. 18 Brief an den Autor von Dr.  S.  Hazareesingh (Dezember 2016). 19 David Vine, Island of Shame: The Secret History of the US Military Base on Diego Garcia (Princeton 2008); John Madely, Diego Garcia: A Contrast to the Falklands (London 1995). 20 BBC News (29. Juni 2016), „Chagos Islanders Cannot Return Home, Says Supreme Court“, (12. Januar 2017). 21 Vel Mahalingum, „How the Hindus of Mauritius Uplifted Themselves, Transformed their Nation, and Became Models for the World“, Hinduism Today (Juli–September 2010). 22 http://w w w.mauritius.org.uk/fauna.htm; https://www.mauritian-wildlife.org/ [Stand: 13.12.2019]. 23 Deutsche Übersetzung in: Hilaire Belloc, Biesterbuch für kleine böse Wichte, übers. v. Werner von Koppenfels (Zürich 1999), S. 31–

34. Das englische Original ist dort auf S. 105 abgedruckt. 24 Moutou, Pages d’Histoire d’Ici et d’Ailleurs, S. 152. 25 Eileen Cowper, Blessed Jacques Laval: Apostle of Mauritius, Catholic Truth Society (London o. J.); Monique Denan, Sur les pas du bienheureux Père Laval (Port Louis 2014); „Pour le Pèlerinage Père Laval 2014“, Le Mauricien (20. April 2013). 26 Serge Lebrasse, „Séga Père Laval“, https:// f r.w i k iped ia .org /w i k i / Jacque s-D%C3% A9sir%C3%A9_Laval [Stand: 13.12.2019]. 27 Henry Gilfond, Voodoo: Its Origins and Practices (New York 1976). 28 [email protected] (29. Januar 2016). 29 Education, http://countrystudies.us/mauritius/11.htm [Stand: 13.12.2019]. 30 http://www.uom.ac.mu/ [Stand: 13.12.2019]. 31 https://www.expat.com/en/network/mauritian/ [Stand: 13.12.2019]. 32 Auguste Toussaint, Port-Louis: Deux siècles d’Histoire (Port‐Louis 1936). 33 https://domainedelabourdonnais.com/en [Stand: 13.12.2019]. 34 Tom Masters, Mauritius, Réunion, and Seychelles, Lonely Planet Guide (London 2007). 35 Richard Price, Maroon Societies: Rebel Slave Communities in the Americas (Baltimore 1973, 1996). 36 Benjamin Moutou, „L’inextricable Echeveau Linguistique Mauricien“, in: Pages d’Histoire d’Ici et d’Ailleurs, S. 214–219. 37 Siehe J. A. Holm. An Introduction to Pidgins and Creoles (Cambridge 2000). 38 Philip Baker, Kreol: A Description of Mauritian Creole (London 1972). 39 Anthony Grant und Diana Guillemin, „The Complex of Creole Typological Features; The Case of Mauritian Creole“, Journal of Pidgin and Creole Languages, 27.  Jg., Nr.  1 (2012). https://www.academia.edu/11088555 [Stand: 4.12.2019]. 40 „Queen Elizabeth  II Visit to Mauritius“, http://vintagemauritius.org/people/queenelizabeth-visit-mauritius-ssr-march-1972/ [Stand: 13.12.2019]. 41 Grant und Guillemin, „Complex of Creole Typological Features“. 42 https://lyricstranslate.com/en/lords-prayernou-papa-maurit ia n-creole-ly rics.ht m l [Stand: 13.12.2019]. 43 h t t p s : // w e b . a r c h i v e . o r g / w e b /2 0 15 0 4 0 2055025/http://www.tourism-mauritius.mu/ Culture/writers-a-artists.html [Stand: 13.12. 2019].

857

Anmerkungen zu: 8. Tassie

44 https://www.nobelprize.org/prizes/literature/2008/clezio/facts/ [Stand: 13.12.2019]. 45 Robert‐Edward Hart, Poèmes Choisis (Port‐ Louis 1930), S. 67f. (Übers. T. G.). 46 „Sega Dance – Mauritian Folklore“, ravaton. tripod.com [Stand: 13.12.2019]. 47 Henry Dimbleby, „The Beet Goes On“, Gourmet Traveller (o. J.). 48 Auf der Website des Aviation Herald gibt es einen großen Artikel über den Fall MH370, der regelmäßig aktualisiert wird: https://avherald.com/h?article=4710c69b [Stand: 13.12. 2019]. 49 Keith Ledgerwood, „Did MH370 Disappear Using SIA68/SQ86?“ (17.  März 2014), http:// web.archive.org/web/2014032704 4047/http:// keithledgerwood.com/post/79838944823/didmalaysian-airlines-370-disappear-usingsia68-sq68 [Stand: 13.12.2019]; DailyMail.com, „Vladimir Putin Ordered Russian Special Forces to Steal MH370 and Secretly Landed it at Huge Space Port in Kazakhstan, Says Expert“, MailOnline (25.  Februar 2015); Jeff Wise, The Plane that Wasn’t There: Why We Haven’t Found MH370 (New York 2015).

8. Tassie: Das „Down Under“ von „Down Under“ 1 Michael Pearson, The Great Southland: The Maritime Explorations of Terra Australis (Canberra 2005). 2 https://www.answers.com/Q/what_was_written_on_the_Hartog_Plate [Stand: 13.12.2019]. 3 J.  E.  Heeres, The Part Borne by the Dutch in the Discovery of Australia, 1601–1765 (London 1899), S. 147. 4 Janine Roberts (Hg.), Mapoon: The Cape York Aluminium Companies and the Native Peoples (Fitzroy Victoria, 1975), S. 35f. 5 https://en.wikipedia.org/wiki/Theory_of_ the_Portuguese_discovery_of_Australia [Stand: 13.12.2019]. 6 Siehe Anm. 70 unten; C. M. H. Clark, A History of Australia (London 1962–1987), 6 Bde.; Michael Cathcart, Manning Clark’s History of Australia (London 1993). 7 Die offizielle MONA-Website: www.mona. net.au (2013). 8 „Mona – What a disgrace! – TripAdvisor“, https://www.tripadvisor.co.uk/Attraction_ Review-g1783376-d567266-Reviews-or435Museum_of_Old_and_New_Art_MonaBerriedale_Glenorchy_Greater_Hobart_Tasmania.html#REVIEWS [Stand: 13.12.2019].

858

9 Joseph Beuys and Judith Nesbitt, Joseph Beuys: The Revolution is Us (Liverpool 1993); Alain Borer, The Essential Joseph Beuys (London 1996). 10 Cary Lewincamp, http://www.cary.com.au/ [Stand: 13.12.2019]. 11 Keith Bowden, George Bass: His Discoveries, his Romantic Life, and Tragic Disappearance (Melbourne 1952). 12 Encyclopædia Britannica, 11.  Auflage (1910– 1911), Bd. 25, S. 447. 13 Henry Reynolds, A History of Tasmania (Cambridge 2012), S. 5. 14 N. J. B. Plomley (Hg.), The Baudin Expedition and Tasmanian Aboriginals (Hobart, 1992), S. 890, zitiert von Reynolds, a. a. O. 15 Reynolds, a. a. O., S. 6f. 16 Geoff Page, aus: „The Relatives“, The Great Forgetting (Canberra 1996), S. 5. Übersetzung von Jörn Pinnow. 17 Lloyd Robson, A  Short History of Tasmania (Oxford 1985), S. 3f. 18 Ebd., S. 5f. 19 „Van Dieman’s Land“ [sic], http://folkstream. com/091.html [Stand: 13.12.2019]. 20 W. Ullathorne, The Catholic Mission in Australia (1838), Nachdruck (Adelaide 1963), S. Vff. 21 Alison Alexander, Tasmania’s Convicts: How Felons Built a Free Society (Crows Nest, New South Wales 2010), S. 126. 22 Ebd., S. 14–33. 23 Ebd., S. 43. 24 Ebd., S. 29. 25 Ebd., S. 28f. 26 Ebd., S. 44. 27 Paul Collins, Hell’s Gates: The Terrible Journey of Alexander Pearce, Van Diemen’s Land’s Cannibal (South Yarra 2002). 28 http://folkstream.com/027.html [Stand: 13.12. 2019]. Übersetzung von Jörn Pinnow. 29 Henry Reynolds, „The Land Question: Are We a Community of Thieves?“, Dispossession: Black Australians and White Invaders (St Leonards, New South Wales 1989), S. 67. 30 Zit. nach Reynolds, a. a. O. 31 Terry Crowley, „The Colonial Impact“, in: „Tasmanian Aboriginal Language: Old and New Identities“, in: M.  Walsh und C.  Yallop, Language and Culture in Aboriginal Australia (Canberra 1993), S. 55–63. 32 Ebd., S. 59ff. 33 N. J. B. Plomley, Friendly Mission: The Tasmanian Journal of George Augustus Robinson, 1829–34 (Kingsgrove, New South Wales 1996), zit. nach Crowley, a. a. O., S. 65.

Anmerkungen zu: 8. Tassie

34 Keith Windschuttle, The Fabrication of Aboriginal History, Bände 1 und 3 (Paddington, New South Wales 2002). 35 Lyndall Ryan, The Aboriginal Tasmanians (London 1981), S. 143. 36 Ebd. 37 Zitiert unter: https://military.wikia.org/wiki/ Black_War [Stand: 13.12.2019]; siehe auch: https://www.utas.edu.au/library//exhibitions/ darwin/hobart.html [Stand: 13.12.2019]. 38 http://adb.anu.edu.au/biography/batmanjohn-1752 [Stand: 13.12.2019]; vgl. auch den Roman von Rohan Wilson, The Roving Party (London 2002). 39 N. J. B. Plomley, Friendly Mission: The Tasmanian Journals and Papers of George Augustus Robinson, 1829–34 (Hobart 2008); Anna Johnston, Reading Robinson: Companion Essays to Friendly Mission (Hobart 2008). 40 Ryan, a. a. O.: auch in der 2. Auflage (London 1996). 41 Lyndall Ryan, Tasmanian Aborigines: A History since 1803 (Crows Nest, New South Wales 2012). 42 Henry Reynolds, „An Indelible Stain?“, Kapitel 4 von A History of Tasmania, a. a. O. 43 Alexander, a.  a.  O., S.  109. Übersetzung von Jörn Pinnow. 44 Oline Keese (Caroline Leakey), The Broad Arrow: Being the Story of Maida Gwynnham, a ‚Lifer‘ in Van Diemen’s Land (North Ryde, New South Wales 1988). 45 Alexander, a. a. O., S. 113. 46 University of Tasmania Seminar, Parliament House, Hobart, 13. März 2014. 47 Aus Giacomo Leopardi, Canti e Frammenti. Gesänge und Fragmente, übers. v. Helmut Endrulat (Stuttgart 1990), S. 90–93. 48 Diese ersten philatelistischen Meisterwerke von 1899–1900 wurden nach Fotografien des in Schottland geborenen Fotografen John Watt Beattie (1859–1930) gestaltet. Es gab acht unterschiedliche, von der grüne ½d, „Lake Marion“, bis zur roten 6d, „Dilston Falls“. Erstaunlich ist, dass, geht man von Dilston nach Launceston, weit und breit kein solcher Wasserfall zu sehen ist. Entweder haben sich die Briefmarken-Graveure einen Spaß erlaubt oder aus Zeitdruck ein nicht-existentes Naturschauspiel erfunden. 1899, lange vor der Erfindung des „Navi“ und noch ohne Touristenschwärme, war das Risiko, entdeckt zu werden, minimal. 49 Michel Foucault, Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses (Frankfurt a. M. 2008).

50 Port Arthur Historic Sites, https://portarthur. org.au/ [Stand: 13.12.2019]. 51 Von Karen Brown, ‚A Lesson in History‘, zitiert in Crowley, a.  a.  O., S.  51. Übersetzung von Jörn Pinnow. 52 Aboriginality Certificates, https://www.humanservices.gov.au/individuals/forms/ra010 [Stand: 13.12.2019]. 53 Tasmanian Aboriginal Center, http://tacinc. com.au/ [Stand: 13.12.2019]. 54 13.  August 1997, https://en.wikipedia.org/ w i k i / Br i ng i ng _T hem _ Home #c ite _ refstateapologies_13-4 [Stand: 13.12.2019]. 55 Anthony Mundine, http://anthonymundinebrody.weebly.com/ [Stand: 13.12.2019]. 56 „Parlevar, Moihernee and Dromerdeener“, http://www.curriculum.edu.au/verve/_resources/handout1.doc [Stand: 11.12.2019]. 57 J.  Harrington u.  a., „An Acoustic Phonetic Study of Broad, General and Cultivated Australian-English Vowels“, Australian Journal of Linguistics, Bd. 17 (1997), S. 155–184. 58 Jonathan Pearlman, „G’day, Mate: ‚Lazy‘ Australian Accent Caused by ‚Alcoholic Slur‘ of Heavy-Drinking Early Settlers“, The Telegraph (20. Februar 2017). 59 Hugh Finlay u. a., „Language“, in: Australia: A  Travel Survival Kit (Hawthorn, Victoria 1992), S. 31f. 60 Aus: Kel Richards, The Aussie Bible (Well, Bits of It Anyway) (Glencroix 2006). 61 Ebd.; vgl. „And God said ‚Let’s have some light, mate‘“, https://www.smh.com.au/national/and-god-said-lets-have-some-lightmate-20060713-gdny8x.html; https://www. youtube.com/watch?v=bzDcm316z3o [Stand: 13.12.2019]. 62 Steve Colquhoun, „Tassie Whisky Named World’s Best Single Malt“, Sydney Morning Herald (21. März 2014). 63 Peter Hruby, Dangerous Dreamers: The Australian Anti-Democratic Left (Bloomington 2010), S. 109–116. 64 J. und B. Emberg, Ghostly Tales of Tasmania (Launceston 1991); M.  Giordano, Tasmanian Tales of the Supernatural (Launceston 1994); K.  Gelder, The Oxford Book of Australian Ghost Stories (Melbourne 1994); J.  McCullough und A. Simmons, Ghosts of Port Arthur (Port Arthur 1992). 65 L.  J.  Devon, „GM Poppies and the Pharma­ ceutical Industry“, Natural News (10. August 2014). 66 Terry Newman, „Tasmania, the Name“, https://www.utas.edu.au/library/companion_ to_tasmanian_history/T/Tasmania%20name. htm [Stand: 13.12.2019].

859

Anmerkungen ZU: 9. Aotearoa

67 Robert Cox, A Compulsion to Kill: Australia’s Earliest Serial Killers (Carringdale 2014). 68 „World’s Weirdest“, https://video.nationalgeographic.com/video/00000144-0a32-d3cba96c-7b3fb46f0000?source=search video [Stand: 13.12.2019]. 69 „Echidna“, https://www.britannica.com/topic/Echidna-Greek-mythology [Stand: 13.12. 2019]. 70 Manning Clark, A  Historian’s Apprenticeship (Carlton, Victoria 1992). 71 Port Arthur Massacre, https://www.nbc newscom/news/world/port-arthur-massacreshooting-spree-changed-australia-gun-lawsn396476 [Stand: 13.12.2019]. 72 Zit. nach Natasha Cica (University of Tasmania), „Does Tasmania Need an Intervention?“, The Conversation (3. Februar 2013). 73 Martin Flanagan, „Tasmania Cast as Australia’s Greece“, Sydney Morning Herald (23. Februar 2013). 74 The Hunter, https://www.theguardian.com/ film/2012/jul/08/hunter-tasmania-daniel-nettheim-dafoe [Stand: 13.12.2019]. 75 Thylacinus cynocephalus, https://de. wikipedia.org/wiki/Beutelwolf [Stand: 13.12.2019]. 76 Bowden, a. a. O. 77 David Bret, Errol Flynn: Satan’s Angel (London 2000). 78 „Valentich Disappearance“, https://skepticalinquirer.org/2013/11/the_valentich_disappearance_another_ufo_cold_case_solved/ [Stand: 13.12.2019].

9. Aotearoa: Laufvögel im „Land der langen weißen Wolke“ 1 https://www.wellingtonnz.com/ [Stand: 16.12. 2019]. 2 https://www.tepapa.govt.nz/ [Stand: 16.12. 2019]. 3 Te Papa: Your Essential Guide (Wellington o. J.), S. 3. 4 Victoria University, https://www.wgtn.ac.nz/ [Stand: 16.12.2019]. 5 Michael King, The Penguin History of New Zealand (Auckland 2003); Patrick Evans, Encounters: The Creation of New Zealand, a History (Auckland 2013). 6 P.  Tapsell, Ko Tawa: The Maori Ancestors of New Zealand (Auckland 2006).

860

7 ht t ps://w w w.su r v iva l i nter nat iona l.org / [Stand: 16.12.2019]. 8 https://en.wiktionar y.org/wik i/Kiwiland [Stand: 16.12.2019]. 9 https://web.archive.org/web/20161017 061216/ http://www.nzf lag.com/PetitionForm.cfm [Stand: 16.12.2019]; „New Zealand Votes to Keep Flag in Referendum“, BBC News (24. März 2016). 10 https://nzhistory.govt.nz/culture/maori-language-week/history-of-the-maori-language [Stand: 16.12.2019]. 11 „Tainui“, https://en.wikipedia.org/wiki/Tainui [Stand: 16.12.2019]. 12 Alexander Shand, The Moriori People of the Chatham Islands: Their Traditions and History (Wellington 1896). 13 „Iwi – Tribes of New Zealand“, http://web.archive.org/web/20150730103957/https://www. nzte.govt.nz/en/how-nzte-can-help/te-ketetikanga-maori-cultural-kit/ [Stand: 16.12. 2019]; with map: Reed, The Maori Peoples of New Zealand (Auckland 2006); R. Macdonald, The Maori of Aotearoa-New Zealand (London 1990). 14 Margaret Orbell, The Illustrated Encyclopaedia of Maori Myth and Legend (Christchurch 1995); Kiri Te Kanawa, Land of the Long White Cloud: Maori Myths, Tales and Legends (London 1997). 15 Mervyn McLean, Maori Music (Auckland 1996); Margaret Orbell, Waiata: Maori Songs in History (Auckland 2005), S. 1f. 16 Orbell, ebd., S. 67f. Wie im Folgenden aus dem Englischen übersetzt. 17 Ebd., S. 28f. 18 Nach ebd., S. 98ff. 19 https://brianharrisauthor.com/ka-mura-kamuri-walking-backwards-into-the-future/ [Stand: 16.12.2019]. 20 https://teara.govt.nz/en/biographies/1m13/ marion-du-fresne-marc-joseph [Stand: 16.12. 2019]. 21 Philip Temple, A Sort of Conscience: The Wakefields (Auckland 2002). 22 Patricia Burns, Fatal Success: A History of the New Zealand Company (London 2002). 23 Claudia Orange, The Treaty of Waitangi (Wellington, 1982); I. H. Kawharu, Waita­ngi: Māori and Pākehā Perspectives … (Auckland 1989). 24 A. G. Flude, „Our Early Settlers“, https://web. a rch ive.org /web/201608251 1 1 154 / ht t p://

Anmerkungen zu: 10. Otaheiti

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homepages.ihug.co.nz/~tonyf [Stand: 16.12. 2019]. D. Keenan, Wars without End: The Land Wars in Nineteenth-Century New Zealand (Auckland 2009). http://www.britainssmallwars.co.uk/the-flagstaff-war-new-zealand-1845.html [Stand: 16.12. 2019]. https://www.nzhistory.govt.nz/politics/themaori-king-movement [Stand: 16.12.2019]. Rex Ahdar, God and Government: The New Zealand Experience (Dunedin 2000). H. T. Purchas, History of the English Church in New Zealand (Christchurch 1914), Kap. X. „Dominion of New Zealand“, in: King, a. a. O., Kap. XII. Vgl. EyeWitness Travel, New Zealand (London 2014). https://www.atlasobscura.com/places/fredand-myrtles-paua-shell-house [Stand: 16.12. 2019]. Dunedin, https://www.dunedinnz.com/ [Stand: 16.12.2019]. Royal Albatross Centre, https://albatross.org. nz/ [Stand: 16.12.2019]. Christchurch https://www.lonelyplanet.com/ new-zealand/christchurch-and-canterbury [Stand: 16.12.2019]. Akaroa, https://en.wikipedia.org/wiki/Akaroa [Stand: 16.12.2019]. Coastal Pacific, https://www.railnewzealand. com/ [Stand: 16.12.2019]. Kaikoura, https://www.kaikoura.co.nz/ [Stand: 16.12.2019]. https://www.marlboroughnz.com/ [Stand: 16.12.2019]. „Wine Marlborough: New Zealand’s Premier Wine Region“, http://www.winemarlborough. co.nz/ [Stand: 16.12.2019]. Cook Strait Ferry, https://www.greatjourneysofnz.co.nz/interislander [Stand: 16.12. 2019]. https://www.hobbitontours.com/en/ [Stand: 16.12.2019]. Christine Niven, Auckland (London 2000). Waitangi Treaty Grounds and Museum, https://www.waitangi.org.nz/ [Stand: 16.12. 2019]. http://web.archive.org/web/20150921015616/ http://www.topuniversities.com/universities/ university-auckland [Stand: 16.12.2019].

46 Auckland University Faculty of Arts, https:// www.auckland.ac.nz/en/arts.html [Stand: 16.12.2019]. 47 https://www.aucklandcouncil.govt.nz/Pages/ default.aspx (28. Dezember 2014). 48 David Fingleton, Kiri Te Kanawa: A Bio­graphy (London, 1982); Alice Fowler, „Dame Kiri Talks of her Heartache“, MailOnline (2. Februar 2017). 49 https://nzhistory.govt.nz/culture/nz-paintinghistory [Stand: 16.12.2019]. 50 Aus: Robert Pope, Some New Zealand Lyrics (Wellington 1928), (Deutsch von Jörn Pinnow). 51 Aus: V.  O’Sullivan (Hg.), An Anthology of Twentieth-Century New Zealand Poetry (Wellington 1979); Hone Tuwhare, „Rain“ (1970), mit freundlicher Genehmigung des Hone Tuwhare Estate (Deutsch von Jörn Pinnow). 52 K. Pfeiffer und P. Tapsell, Te Ara: Pathways of Maori Leadership (Auckland 2010). 53 R. J. Walker, Struggle Without End (Auckland 1990); M. Belgrave u. a., (Hg.), Waita­ngi Revisited: New Perspectives on the Treaty of Waitangi (Melbourne 2005); P. Temm, Waitangi Tribunal: Conscience of the Nation (Auckland 1990). 54 „God Defend New Zealand“, http://www. nz.com/new-zea land/guide-book /music/ [Stand: 16.12.2019]. 55 „Kiwispeak“, https://nzguide.newzealand. co.nz/kiwispeak/ https://gotournz.com/kiwispeak/ [Stand: 16.12.2019]. 56 Toponomy, https://en.wikipedia.org/wiki/ New_Zealand_place_names [Stand: 16.12. 2019].

10. Otaheiti: Auf der Jagd nach dem Paradies 1 „International Date Line“, https://www.timeanddate.com/time/dateline.html [Stand: 02.01.2020]. 2 https://www.chabad.org/library/article_cdo/ aid/1736567/jewish/Shabbat-the-International-Date-Line-and-Jewish-Law.htm [Stand: 02.01.2020]. 3 Umberto Eco, Die Insel des vorigen Tages, übers. v. Burkhard Kroeber (München 1995), im Original bereits zehn Jahre zuvor erschienen: L’isola del giorno prima (Rom 1985).

861

Anmerkungen ZU: 9. Aotearoa

4 Annuaire Polynésien 2011 (Paris–Papeete 2010). 5 Ebd., S. 336. 6 Aus: David Stanley, Moon Handbook Tahiti (Emeryville, CA 2003). 7 Tahiti and Polynesia, Lonely Planet Guides (London 2012); David Howarth, Tahiti: A Paradise Lost (London 1983); Lloyd Shepherd, The Poisoned Island (London 2013). 8 Oxford English Dictionary, Kompaktausgabe (1971), Bd. II, S. 1092. 9 Charles de Brosses, Histoire des Navigations aux Terres Australes, 2 Bde. (Paris 1756). 10 Ian Davidson, Voltaire: A Life (London 2010), Kapitel 23; J. T. Fosset (Hg.), Voltaire et le Presi­ dent de Brosses: correspondence inedited (Paris 1858), S. 5. 11 J.  F.  G.  Stokes, Hawaii’s Discovery by Spaniards: Theories Traced and Refuted (Honolulu 1939); T.  Lummis, Pacific Paradises: The Discovery of Tahiti and Hawaii (Stroud 2005). 12 Antonio Pigafetta, Die erste Reise um die Erde. Ein Augenzeugenbericht von der Weltumseglung Magellans 1519–1522, übers. v. Roberg Grün (Darmstadt 1983), S. 93f. 13 Alexander Dalrymple, An Historical Collection of Several Voyages and Discoveries in the South Pacific Ocean, 2 Bde. (London 1770). 14 De Brosses, Histoire des Navigations aux Terres Australes, Bd. I, S. 198. 15 D. Howse, Background to Discovery: Pacific Exploration from Dampier to Cook (Berkeley 1990), S. 16. 16 John Callander, Terra Australis Cognita, or Voyages to the Terra Australis or Southern Hemisphere, 3 Bde. (Edinburgh 1766–68); siehe auch James Burney, Chronological History of the Voyages and Discoveries of the South Seas or Pacific Ocean, 5 Bde. (London 1803). 17 John Hawkesworth, An account in two volumes of the voyages … in the southern hemisphere performed by Commodore Byron, Capt. Wallis, Capt. Carteret, and Capt. Cook (London 1773), S. 26. 18 Ebd., S. 22f., 31f. Siehe auch George Robertson, The Discovery of Tahiti: A Journal of the Second Voyage of HMS Dolphin round the World (London 1948). 19 Glynis Ridley, The Discovery of Jeanne Baret (New York 2010). 20 J. E. Martin‐Allanic, Bougainville, navigateur, et les découvertes de son temps (Paris 1964).

862

21 Louis‐Antoine de Bougainville, Voyage autour du monde (Paris 1771), engl. Übers. The Pacific Journal of Louis-Antoine de Bougainville (London 2002); Denis Diderot, Supplément au voyage de Bougainville (1772) (Paris 2002). 22 Mit Ergänzungen übernommen aus: James Cook, Entdeckungsfahrten im Pazifik, übers. v. Reinhard Wagner und Bernhard Willms (Wiesbaden 2011), S. 48. 23 Ebd., S. 53f. 24 Ebd., S. 52. 25 James Cook, Captain Cook’s Third and Last Voyage to the Pacific Ocean (New York 1796). 26 Dava Sobel, Longitude: The True Story of a Lone Genius who Solved the Greatest Scientific Problem of his Time (London 1995). 27 J.  Conrad, „Geography and Some Explorers“, Last Essays (London 1926), S.  10; zit. nach Howse, Background to Discovery, Kapitel 1. 28 Diderot, Supplément au voyage de Bougainville. 29 J. Dunmore (Hg.), The Journal of Jean-François de Galaup de La Pérouse, 1785–88, 2 Bde. (London 1994). 30 J.  Boyne, The Mutiny on the Bounty (London 2008); William Bligh, An Account of the Mutiny on the Bounty (Oxford 1989). 31 Geoffrey Rawson, Pandora’s Last Voyage (London 1963). 32 Frank Horner, Looking for La Pérouse: D’Entrecasteaux in Australia and the South Pacific, 1792–93 (Carlton, Victoria 1994). 33 Matthew Flinders, Voyage to the Terra Australis (London 1814); Australia Circumnavigated: Matthew Flinders in HMS Investigator, 1801– 1803, 2 Bde. (London 2015). 34 Amasa Delano, Voyages in the Northern and Southern Hemispheres (Boston 1817), S. 139. 35 Ebd. 36 Trevor Lummis, Life and Death in Eden: Pitcairn Island and the Bounty Mutineers (London 2000). 37 Peter Dillon, Narrative and Successful Result of a Voyage in the South Seas (London 1829); J. W. Davidson und O. H. K. Spate, Peter Dillon of Vanikoro (Oxford 1975); Sven Wahlroos, Mutiny and Romance in the South Seas (Salem, MA 1989). 38 Helen Roseman (Hg.), An Account in Two Volumes of Two Voyages to the South Seas by Captain (later Rear-Admiral) Jules S.-C. Dumont d’Urville of the French Navy (Melbourne 1987);

Anmerkungen zu: 10. Otaheiti

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J.  Dunmore, From Venus to Antarctica: The Life of Dumont d’Urville (Auckland 2007). Conrad Malte‐Brun, Universal Geography, or a Description of all Parts of the World, 4  Bde. (Edinburgh 1823). Frank Debenham, Antarctica: Story of a Continent (London 1959). Dan Graves, „Henry Nott in Savage Tahiti“, https://www.christianity.com/church/churchhistory/timeline/1701-1800/henry-nott-arrived-in-savage-tahiti-11630329.html [Stand: 02.01.2020]. Joyce Reason, The Bricklayer and the King (London 1938). Encyclopaedia Britannica, 11.  Aufl. (1910–11), Bd. 26, S. 358. Ebd. Ebd. Charles Darwin, Die Fahrt der Beagle. Darwins illustrierte Reise um die Welt, übers. v. Eike Schönfeld (Darmstadt 2016), S. 360–362. W.  T.  Pritchard, Polynesian Reminiscences (London 1866). H.  Parker, Herman Melville: A Biography (Berkeley 1989), S. 222. Scott’s Standard Postage Stamp Catalogue (1984), Bd. II, S. 1035. D. Sweetman, Paul Gauguin: A Life (New York 1995). Robert Louis Stevenson und Lloyd Osbourne, Die Ebbe, übers. v. Klaus Modick (Zürich 1998), S. 9f., 16. Robert Louis Stevenson, übers. v. Lonja Stehelin-Holzing, in: dies., Kein Ton weiß sein Echo: Gedichte, Prosa, Übertragungen (Darmstadt 2000), S. 159. Thor Heyerdahl, Fatu Hiva. Zurück zur Natur (München 1974). Dieser Übersetzung liegt allerdings eine zweite Fassung des Berichts zugrunde, die erst nach dem großen Erfolg von Heyerdahls Buch Kon-Tiki entstand. Die 1938 erschienene, nach Heyerdahls Auffassung zwischenzeitlich veraltete norwegische Urfassung, På jakt efter paradiset: Et år på en sydhavsø („Auf der Jagd nach dem Paradies. Ein Jahr auf einer Südseeinsel“) ist nie übersetzt worden, wohl auch wegen des Zweiten Weltkriegs (Anm. d. Übers. T. G.). Stefan Kanfer, The Reckless Life and Remarkable Career of Marlon Brando (London 2011); Tarita Teriipaia, Marlon. Meine Liebe, mein Leid, übers. von Eliane Hagedorn und Bettina Runge (München 2006); Naomi Leach, „Inside

Brando’s 12‐islet Polynesian Paradise“, Mail Online (3. Februar 2016). 55 Jacques Brel, aus „Les Marquises“, Les Marquises (1977). 56 Charles de Brosses, Du culte des dieux fétiches: ou Parallèle de l’ancienne religion de l’Egypte avec la religion actuelle, de Nigritie (Paris 1760). Dt. Übers. Über den Dienst der Fetischgötter (Berlin und Stralsund 1789); in dieser deutschen Übersetzung ist de Brosses’ Studie im 19.  Jahrhundert unter anderem von Karl Marx rezipiert worden (Anm. d. Übers. T. G.). 57 Cook, Entdeckungsfahrten im Pazifik, S. 288. 58 „Vocabulaire de l’Île de Tahiti“, in: Bougainville, Voyage autour du monde, S. 357–368. Die Liste beginnt mit abobo („morgen“) und endet mit toroire („Heliotrope, Sonnenwende“). 59 Wilhelm von Humboldt, Über die Kawi-Sprache auf der Insel Java, 3 Bde. (Berlin 1836–39). 60 Roff Smith, „Beyond the Blue Horizon: How Ancient Voyagers Settled the Far‐Flung Islands of the Pacific“, National Geographic (März 2008). 61 Edward Tregear, The Aryan Maori (Wellington 1885). Der Titel von Treagars Buch – „Die arischen Maori“  – hat heute einen gewissen Beigeschmack, für den ihr Autor freilich nichts kann: Die indoiranischen Sprachen (Indo-Iranian languages), lange vor der Zeit des Nationalsozialismus auch – völlig neutral – als „arische Sprachen“ (Aryan languages) bezeichet, bilden einen Zweig der indoeuropäischen Sprachfamilie, der in Zentralasien, dem Nahen Osten und dem nördlichen Teil des Indischen Subkontinents beheimatet ist (Anm.  d. Übers. T. G.). 62 A. Fornander, An Account of the Polynesian Race: Its Origins and Migrations, 3 Bde. (London 1878–85). 63 Alfred Russel Wallace, The Malay Archipelago: The Land of the Orang-Utan, and the Bird of Paradise. A Narrative of Travel, with Studies of Man and Nature (London 1869). Die deutsche Ausgabe erschien im selben Jahr: Der Malayische Archipel. Die Heimath des Orang-Utan und des Paradiesvogels. Reiseerlebnisse und Studien über Land und Leute, übers. v. Adolf Bernhard Meyer (Braunschweig 1869). Eine bearbeitete und gekürzte Fassung jener Übersetzung ist 1983 als ein „Klassiker der Reiseliteratur“ in Frankfurt am Main erschienen (Anm. d. Übers. T. G.). 64 R.  H.  Codrington, The Melanesians: Studies in their Anthropology and Folklore (Oxford 1891); ders., The Melanesian Languages (Oxford 1885).

863

Anmerkungen zu: 11. Tejas

65 Ernest Brandewie, When Giants Walked the Earth: The Life and Times of Wilhelm Schmidt SVD (Fribourg 1990). 66 http://www.dempwolff.de/; Sofia Ozols, „Otto Dempwolff: Islands of Language“, http:// www.parrottime.com/index.php?i=5&a=51 [Stand: 02.01.2020]. 67 M. W. Young, Malinowski: Odyssey of an Anthropologist (New Haven 2004); Michael Young, „Writing his Life through the Other: The Anthropology of Malinowski“, The Public Domain Review (22. Januar 2014). 68 Robert Blust, „The Austronesian Homeland: A Linguistic Perspective“, Asian Perspectives, 26. Jg. (1985), S. 46–67. 69 Robert Blust, The Austronesian Languages (Canberra 2009). 70 Franz Steiner, Taboo (London 1958); J.  Adler und R. Fardon, „An Oriental in the West: The Life of Franz Baermann Steiner“, in: Franz Baermann Steiner: Selected Writings (London 1999). 71 Thor Heyerdahl, Kon-Tiki (Berlin 2019). 72 Andrew Sharp, Ancient Voyagers in the Pacific (Wellington 1956) sowie Ancient Voyagers in Polynesia (Auckland 1963). 73 Robert C.  Suggs, The Island Civilizations of Polynesia (New York 1960); Wade Davis, The Wayfinders: Why Ancient Wisdom Matters in the Modern World (Toronto 2009). 74 Brian Sykes u. a., „The Origin of the Polynesians: An Interpretation from Mitochondrial Lineage Analysis“, American Journal of Human Genetics, 57.  Jg. (1995), S.  1463–1475; B. Sykes, The Seven Daughters of Eve (London 2001). 75 Pallab Ghosh, „Ancient Humans, dubbed ,Denisovans‘“, BBC News Online (22.  De­zember 2010). 76 R.  Capper, „The Search for a Polynesian Homeland“, E-Local Blogspot (New Zealand) (Januar 2011). 77 Sindya Bhanoo, „DNA Sheds New Light on Polynesian Migrations“, The New York Times (7. Februar 2011). 78 M.  Hertzberg u. a., American Journal of Human Genetics, 44. Jg. (1989), S. 504–510. 79 Eric Powell, „Polynesian Chickens in Chile“, Archaeology, 63. Jg., Nr. 1 (2008). 80 Sid Perkins, „DNA Study Links Indigenous Brazilians with Polynesia“, Nature (1.  April 2013: jawohl, der erste April …). 81 Polynesian Voyaging Society, http://www. hokulea.com/ [Stand: 02.01.2020]. 82 Peter Marsh, „Polynesian Pathways“, http:// users.on.net/~mkfenn/ [Stand: 02.01.2020], entstanden in den Jahren 2002–2008.

864

83 Bruno Saura, Pouvanaa a Oopa: père de la culture politique tahitienne (Papeete 1997); „L’Hommage de François Hollande à Pouvanaa a Oopa“, https://la1ere.francetvinfo.fr/polynesie/tahiti/hollande-sur-la-tombe-depouvanaa-332097.html [Stand: 02.01.2020]. 84 Ivan Sache, „Hau Repupirita Pakumotu (Self‐ proclaimed States: French Polynesia)“, https:// fotw.info/flags/pf%7Dpakum.html [Stand: 02.01.2020]; „Self‐Styled King of Pakumotu Republic Jailed on Currency Charges“, Pacific Islands Report (2. Februar 2017). 85 http://web.archive.org/web/20170407 150350/ http://www.cantinlevoyageur.com:80/ENFANTS/DECOUVRE _MONDE/TAHITI/ chansons_tahiti.htm [Stand: 02.01.2020]. 86 Alfred Gell, Wrapping in Images: Tattooing in Polynesia (Oxford 1993); „Polynesian Tattoos“, http://www.tattooers.net; http://web. archive.org/web/20150331095104/http://tattootemple.hk/history-of-tattooing [Stand: 02.01. 2020]. 87 Pascal Nabet‐Meyer, Rapa Iti, Triloka Records (1992). 88 Célestine Vaite, Breadfruit (New York 2000). Die deutsche Übersetzung trägt den Titel Unter dem Frangipani-Baum, übers. v. Carsten Mayer (München 2002). 89 Université de la Polynésie Française, https:// www.enseignementsup-recherche.gouv.fr/ cid67201/universite-de-la-polynesie-francaise.html [Stand: 02.01.2020]. 90 Rebecca Fan, „Indigenous Peoples of Taiwan“, http://www.indigenouspeople.net/taiwan.htm [Stand: 02.01.2020]. 91 https://aviation-safety.net/database/record. php?id=20070809-0 [Stand: 02.01.2020]. 92 „Te Vahine Tahiti“, „Paroles des Chan-

sons Tahitiennes“, http://paroles.webfenua.com/chanson.php?id=1603 [Stand: 02.01.2020].

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Anmerkungen zu: 11. Tejas

skiclinic.com/burzynski-clinic.html [Stand: 06.01.2020]. 6 Burzynski Clinic, https://en.wikipedia.org/ wiki/Burzynski_Clinic [Stand: 06.01.2020]. 7 Für Großbritannien geht man davon aus, dass die Sterblichkeitsrate bei den Leberkrebsfällen bis 2035 um 58 Prozent steigen wird, siehe https://www.theguardian.com/society/2016/ dec/20/uk-cancer-deaths-to-fall-by-15-percent-by-2035 [Stand: 06.01.2020]. 8 L. Szabo, „FDA Issues Warning to Controversial Houston Cancer Doctor“, USA Today [Stand: 06.01.2020]. 9 „Curing Cancer or ‚Selling Hope‘ to the Vulnerable?“. siehe https://www.bbc.com/news/ av/health-22751150/curing-cancer-or-sellinghope-to-the-vulnerable [Stand: 06.01.2020]. 10 Burzynski Clinic, https://rationalwiki.org/ wiki/Burzynski_clinic [Stand: 06.01.2020]. Im Original lautete das Wortspiel: „Yes, in a very literal sense he’s taking the piss.“ (Anm. d. Übers. T. G.). 11 Petroleum Club, Houston, https://www.pcoh. com/ [Stand: 06.01.2020]. 12 Bryan Burrough, The Big Rich: The Rise and Fall of the Greatest Texan Oil Fortunes (London 2009); J. W. Rogers, The Lusty Texans of Dallas (New York 1960); George Fuermann, Houston: Land of the Big Rich (New York 1951); James Presley, Saga of Wealth: The Rise of the Texas Oilmen (New York 1978). 13 S. H. Brown, H. L. Hunt (Chicago 1976). 14 Jane Wolfe, The Murchisons: The Rise and Fall of a Texas Dynasty (New York 1989); Robert Dallek, Lone Star Rising: LBJ and His Time (Oxford 1991). 15 Hugh Aynesworth, „,One‐Man Truth Squad‘ Still Debunking JFK Conspiracy Theories“, Dallas Morning News (17. November 2012). 16 D.  D.  Hinton und R.  M.  Olien, Oil in Texas: The Gusher Age, 1895–1945 (Austin 2002). 17 Craig Thompson, Since Spindletop: A Human Story of Gulf ’s First Half-Century (Pittsburgh 1951); Anthony Sampson, The Seven Sisters: The Great Oil Companies and the World They Made (New York 1975). 18 Patrick Chamoiseau, Texaco (London 1997). 19 Houston Bicentenary, http://www.texasbest. com/houston/history.html [Stand: 06.01. 2020]. 20 Marguerite Johnston, Houston, the Un- known City, 1836–1946 (College Station, TX 1991). Zum Vergleich: Berlin hat eine Fläche von rund 900 Quadratkilometern (Anm. d. Übers. T. G.). 21 Rice University, http://www.rice.edu (2013).

22 https://en.wikipedia.org/wiki/Texan_English [Stand: 06.01.2020]. 23 John Steinbeck, Meine Reise mit Charley. Auf der Suche nach Amerika, übers. v. Iris und Rolf Hellmut Foerster (Zürich 1963), S.  255– 257. 24 https://www.tasteoftexas.com/restaurant/ (2012). 25 https://www.metrolyrics.com/red-river-valley-lyrics-marty-robbins.html; https://www. metrolyrics.com/streets-of-laredo-lyricsmarty-robbins.html [Stand: 06.01.2020] (Übers. T. G.). 26 Diana Kennedy, The Cuisines of Mexico (London 1972); A. De León, Ethnicity in the Sunbelt: A  History of Mexican Americans in Houston (Houston 1989). 27 http://www.molinascantina.com/ [Stand: 06.01. 2020]. 28 „Terco Corazon“, https://www.songtexte.de/ songtexte/selena-terco-corazon-3037720.html [Stand: 06.01.2020]. 29 H. E. Driver, Indians of North America (Chicago 1969); C.  Taylor und W.  C.  Sturtevant, Native Americans: The Indigenous Peoples of North America (London 2000); Adele Nozedar, The Element Encyclopedia of Native Americans (London 2012). 30 „Indian Nations of Texas“, https://www.tsl. texas.gov/exhibits/indian/intro/page2.html [Stand: 06.01.2020]. 31 T.  Biolsi, A  Companion to the Anthropology of American Indians (Malden, MA 2004); A. B. Kehoe, North American Indians: A Comprehensive Account (Upper Saddle River, NJ 2006). 32 Ives Goddard, Native Languages and Language Families of North America (Lincoln, NE 1996); Lyle Campbell, American Indian Languages: The Historical Linguistics of Native America (New York 1997). 33 „Hasinai Indians“, Texas State Historical Association, https://tshaonline.org/handbook/ online/articles/bmh08 [Stand: 06.01.2020]. 34 R. E. Moore, „The Texas Comanches“, http:// www.texasindians.com/comanche.htm; Carol Lipscomb, „Comanche Indians“, Texas Handbook Online, https://tshaonline.org/handbook/online/articles/bmc72 [Stand: 06.01. 2020]. 35 J. F. de la Teja, San Antonio de Béxar: A Community on New Spain’s Northern Frontier (Albuquerque 1996). 36 Salvador de Madariaga, The Fall of the Spanish American Empire (London 1947); W. S. Maltby, The Rise and Fall of the Spanish Empire (Basingstoke 2009).

865

Anmerkungen zu: 11. Tejas

37 D. Holloway, Lewis and Clark and the Crossing of North America (London 1974). 38 T. J. Henderson, The Mexican Wars of Independence (New York 2009). 39 C.  H.  Brown, Agents of Manifest Destiny: The Lives and Times of the Filibusters (Chapel Hill, NC 1980). 40 J.  F.  Dobie, The Longhorns (Boston 1941); K. Ulyatt, The Longhorn Trail (London 1961). 41 S.  Hoig, „Jesse Chisholm“, in: Encyclopedia of Oklahoma History and Culture, https://www. okhistory.org/publications/enc/entry.php? entry=CH067 [Stand: 06.01.2020]. 42 Carleton Beals, Stephen F. Austin: Father of Texas (New York 1953); Greg Cantrell, Stephen F. Austin: Empresario of Texas (New Haven, CT 1999). 43 Marquis James, The Raven: A Biography of Sam Houston (London 1929). 44 R. Borroel, The Texan Revolution of 1836 (East Chicago, IN 1989); S.  W. Haynes, Contested Empire: Rethinking the Texan Revolution (College Station, TX 2015); D. J. Weber, The Mexican Frontier: The American South-West under Mexico, 1821–46 (Albuquerque, NM 1982). 45 T.  E.  Anna, The Mexican Empire of Iturbide (Lincoln, NE 1990). 46 Will Fowler, Santa Anna of Mexico (Norman, OK und Lincoln, NE 2007); Ruth Olivera, Life in Mexico under Santa Anna, 1822–55 (Norman, OK 1991). 47 „The Yellow Rose of Texas“, aus: Texas Handbook Online, a. a. O. (Übers. T. G.). 48 Sharon Wallingford, Fort Bend County, Texas: A Pictorial History (Sugar Land, TX 1996). 49 Stephen F.  Austin, „An Explanation to the Public Concerning the Affairs of Texas“ (1835), published in Quarterly of the Texas State Historical Association, 8.  Jg., Nr.  3 (1905), S.  232– 258. 50 D. F. Ericson, Slavery in the American Republic, 1791– 1861 (Lawrence, KS 2011). 51 Daniel Howe, What God Hath Wrought: The Transformation of America, 1815–48 (New York 2007); Bill Kiernan, Blood and Soil: A  World History of Genocide and Extermination from Sparta to Darfur (New Haven, CT 2007). 52 Angie Debo, And the Waters Still Run: The Betrayal of the Five Civilized Tribes (Princeton 1972); Duane King, The Cherokee Indian Nation: A Troubled History (Knoxville, TN 1979); Daniel B. Smith, An American Betrayal: Cherokee Patriots and the Trail of Tears (New York 2011). 53 Declaration of Texan Independence, http:// www.lsjunction.com/docs/tdoi.htm [Stand: 06.01.2020].

866

54 P. J. Haythornthwaite, The Alamo and the War of Texan Independence, 1835–36 (London 1986). 55 Stephen Moore, Eighteen Minutes: The Battle of San Jacinto and the Texas Independence Campaign (Plano, TX 2004). 56 „The Treaties of Velasco“, https://tshaonline. org/handbook/online/articles/mgt05 [Stand: 06.01.2020]. 57 Lucia St. C. Robson, Ride the Wind: The Story of Cynthia Ann Parker and the Last Days of the Comanche (New York 1985). 58 Stanley Siegel, A Political History of the Texas Republic, 1836–45 (Austin 1957). 59 Glen E.  Lich, The Texan Germans (San Antonio, TX 1981, rev. 1996). 60 Carl Solms‐Braunfels, Voyage to North America, 1844–45: A  Diary of People, Places and Events (Denton, TX 2000); Sheena Oommen, „,Hin nach Texas!‘  – ,Off to Texas!‘“, http:// www.houstonculture.org/cr/germans.html [Stand: 06.01.2020]. 61 James Kearney, Nassau Plantation: The Evolution of a Texas German Slave Plantation (Denton, TX 2010). 62 https://en.wikipedia.org/wiki/Adelsverein [Stand: 06.01.2020]. 63 Irene King und John O.  Meusebach, German Colonizers in Texas (Austin 1967); „The Meusebach‐Comanche Treaty“, https:// en.wikipedia. org/wiki/Meusebach%E2%80%93Comanche_ Treaty [Stand: 06.01.2020]. 64 Orlando Martinez, The Great Landgrab: The Mexican-American War, 1846–1848 (London 1975); Cecil Robinson, The View from Chapultepec: Mexican Writers on the Mexican-American War (Tucson, AZ 1989). 65 Richard Griswold del Castillo, The Treaty of Guadalupe Hidalgo: Legacy of Conflict (Norman, OK 1990). 66 T.  Lindsay Baker, The First Polish Americans: Silesian Settlements in Texas (College Station, TX 1979); Anna Musialik‐Chmiel, Amerykańscy Ślązacy: dziedzictwo, pamiȩ ć, tożsamość (Kattowitz 2010). 67 A.  Blasig, The Wends of Texas (San Antonio 1954); L.  Caldwell, Texas Wends: Their First Half-Century (Salado, TX 1961). 68 Sam Houstons Grab: https://de.findagrave. com/memorial/510/sam-houston [Stand: 06.01. 2020]. 69 https://www.elyrics.net/read/t/tennessee-ernie-ford-lyrics/the-bonnie-blue-f lag-lyrics. html [Stand: 06.01.2020] (Übers. T. G.). 70 https://texasindependencetrail.com/about; https://en.wikipedia.org/wiki/Texas_Independence_Trail [Stand: 06.01.2020].

Anmerkungen zu: 12. Mannahatta

71 „Chisholm Trail History“, http://www.vlib.us/ old_west/trails/cthist.html [Stand: 06.01.2020]. 72 „Marty Robbins  – Ballad of the Alamo“, https://www.lyricsmania.com/ballad_of_the_ alamo_lyrics_marty_robbins.html [Stand: 06.01.2020]. 73 „Remember the Alamo“ (1955) https://www. a zly r ics.com/ ly r ics/johnnycash/rememberthealamo.html [Stand: 06.01.2020]. 74 Latino Festivals, http://web.archive.org/web/ 20160505022845/; http://festivalsoftexas.com/ events/events_n.htm [Stand: 06.01.2020]. 75 „Indian Reservations“, https://tshaonline.org/ handbook/online/articles/bpi01 [Stand: 06.01. 2020]. 76 Comanche County Museum, https://texasfortstrail.com/plan-your-adventure/historic-sitesand-cities/sites/comanche-county-historicalmuseum [Stand: 06.01.2020]. 77 „Cowboy Country Museum“, https://texasfortstrail.com/plan-your-adventure/historic-sitesand-cities/sites/cowboy-country-museum [Stand: 06.01.2020]. 78 Notizen aus meinem Gespräch mit Hilmar G. Moore (22. Mai 2012). 79 Hilmar Guenther Moore (1920–2012) ist am 4. Dezember 2012 im Alter von 92 Jahren verstorben. Er war bis zu seinem Tod Bürgermeister von Richmond. Seine Nachfolgerin im Amt ist bis heute seine Witwe, Mrs.  Evalyn W. Moore. https://www.legacy.com/obituaries/ houstonchronicle/obituary.aspx?pid=161506538 [Stand: 06.01.2020]. 80 Nach den Eröffnungszeilen des Gedichts Cattle (1932) von Berta Hart Nance. Das Wort „carved“ im ersten Vers ließe sich – im gegebenen Zusammenhang – auch als „tranchiert“ übersetzen: Manche Staaten werden aus anderen gewissermaßen „herausgeschnitten“ (Anm.  d. Übers. T. G.).

12. Mannahatta: Delawares, Holländer und viele Sklaven 1 https://en.wikipedia.org/wiki/John_F._Kennedy_International_Airport [Stand: 06.01. 2020]. 2 „New Netherland Placenames“, https:// en.wikipedia.org/wiki/List_of_New_Netherland_placename_etymologies [Stand: 06.01. 2020]. 3 Ronald Bayor, Encountering Ellis Island: How European Immigrants Entered America (Baltimore 2014); Barbara Benton, Ellis Island: A Pictorial History (Oxford 1987); https://www.

archives.gov/research/immigration [Stand: 06.01.2020]. 4 https://www.ny.com/transportation/ellis. html [Stand: 06.01.2020]. 5 „The Melting Pot“, Text in: http://www.robmacdougall.org/4301/4301.04.MeltingPot.pdf [Stand: 06.01.2020]; siehe auch J. H. Udelson, Dreamer of the Ghetto: The Life of Israel Zangwill (Tuscaloosa 1990); Meri‐Jane Rochelson, A Jew in the Public Arena: The Career of Israel Zangwill (Detroit 2008). 6 http://www.lenapelifeways.org/lenape1.htm; https://en.wikipedia.org/wiki/Lenape [Stand: 06.01.2020]. 7 Ebd. 8 Herbert Kraft, The Religion of the Delaware Indians (South Orange, NJ 1968). 9 Ebd. 10 Bruce Trigger (Hg.), „The North East“, Handbook of North American Indians (Washington 1978), Bd. 15. 11 Robert Juet of Limehouse (siehe Anm. 17). 12 Evan Pritchard, „The Naming of Things“, Native New Yorkers: The Legacy of the Algonquin People of New York (San Francisco 2007), Ka­ pitel 1. 13 W.  P.  Cumming u. a., Die Entdeckung Nordamerikas, übers. v. Theodor A.  Knust (München 1972), S. 82. 14 Ebd. 15 L. Wroth, The Voyages of Giovanni da Verrazzano, 1524–1528 (New Haven 1970). 16 Zu Estêvão Gomes und Diogo Ribeiro, siehe https://en.wikipedia.org/wiki/Diogo_Ribeiro [Stand: 06.01.2020]. 17 Robert Juet of Limehouse, „The Third Voyage of Master Henrie Hudson“, in: Samuel Purchas, Hakluytus Posthumus or Purchas His Pilgrimes: Contayning a History of the World in Sea Voyages and Lande Travells by Englishmen and Others (1625), Facsimile Edition (Glasgow 1905–7), Bd.  13, S.  362f. Siehe auch Douglas Hunter, Half Moon: The Voyage that Redrew the Map of the New World (London 2009). 18 Juet, „The Third Voyage of Master Henrie Hudson“, S. 363f., 366. 19 Ebd., S. 573f. 20 Peter Mancall, Fatal Journey: The Final Voyage of Henry Hudson (New York 2004). 21 Simon Schama, Überfluss und schöner Schein. Zur Kultur der Niederlande im Goldenen Zeitalter, übers. v. Elisabeth Nowak (München 1988). 22 E. M. Bacon, Henry Hudson: His Time and his Voyages (New York 1907). 23 Gerald F.  De  Jong, The Dutch in America, 1609–74 (Boston 1975).

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Anmerkungen zu: 12. Mannahatta

24 ht t ps://c om mon s .w i k i me d i a .org /w i k i / C ate gor y : Ad r i aen _ Blo c k #/me d i a / Fi le : Wpdms_aq_block_1614.jpg [Stand: 06.01.2020]. 25 Douglas Feiden, „Who Was the First Non‐Native American Settler on Manhattan?“, New York Daily News (5. Oktober 2012). 26 „The Two Row Wampum Treaty of Alliance“, http://tworowwampum.com/ [Stand: 06.01. 2020]; „New York Scholars Claim Indian Treaty Document Is a Fake“, The Wall Street Journal (1. Januar 2012). 27 J. Broome, In Search of Freedom: The Pilgrim Fathers and New England (Harpenden 2001). 28 „Document: The Purchase of Manhattan, 1626“, https://www.thirteen.org/dutchny/interactives/manhattan-island/ [Stand: 06.01. 2020]. 29 Oscar Reiss, Blacks in Colonial America (Jefferson, NC 1997), „New York“, S. 79ff. 30 Amandus Johnson, The Swedes on the Delaware (Philadelphia 1927). 31 https://en.wik ipedia.org/wik i/Pavonia,_ New_Netherland [Stand: 06.01.2020]. 32 Jonathan Gill, Harlem: The Four-HundredYear History from Dutch Village to Capital of Black America (New York 2011). 33 J. D. Goodfriend u. a. (Hg.), Going Dutch: The Dutch Presence in America (Leiden 2009); R.  P.  Swierenga, The Dutch in America (New York 1985); E. Nooter und P. Bonomi, Colonial Dutch Studies: An Interdisciplinary Approach (New York 1988). 34 L.  Ruby, „Dutch Art and the Hudson Valley Patroon Painters“, in: Goodfriend u. a. (Hg.), Going Dutch, S. 27–58. 35 Christine van Boheemen, „Dutch American Poets of the 17th Century“, in: R.  Kroes und H.‐O.  Neuschäfer  (Hg.), The Dutch in North America: Their Immigration and Cultural Continuity (Amsterdam 1991), S. 114ff. 36 Kroes und Neuschäfer  (Hg.), The Dutch in North America, S. 123–127. 37 H. C. Murphy, Jacob Steendam noch vaster: A memoir of the first poet in New Netherland (Den Haag 1861). 38 Adriaen van der Donck, A Description of New Netherland (1655) (Lincoln, NE 2008). 39 ht t ps://c om mon s .w i k i me d i a .org /w i k i / File:Jansson-Visscher_map.jpg?uselang=de [Stand: 06.01.2020]. 40 A. Van der Donck u. a., Remonstrance of New Netherland, and the Occurrences There, übers. v. E. B. O’Callaghan (Albany 1856), S. 13. 41 John Brodhead, „The English Conquest of New York, 1664“, aus seiner Studie History of New York (1853, http://www.usgennet.org/usa/

868

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Anmerkungen zu: 13. Rückkehr

60 New York: A Historical Sketch of the Rise and Progress of the Metropolitan City of America, by a New Yorker (New York 1853), S. 13. 61 Nicholas Falco, „The Empire State’s Search in European Archives“, American Archivist, 69. Jg. (1969), S. 109–123. 62 J. R. Brodhead, A History of New York, 2 Bde. (New York 1853–71). 63 Edmund B. O’Callaghan (Hg.), The Documentary History of New York, 4 Bde. (Albany 1849– 51); Documents Relevant to the Colonial History of the State of New York, 15  Bde. (Albany 1856–87). 64 Theodore Roosevelt, The Works of Theodore Roosevelt, 20  Bde. (New York 1926); Edward Kohn, Heir to the Empire City: New York and the Making of Theodore Roosevelt (New York 2014). 65 Theodore Roosevelt, New York: A Sketch of the City’s Progress from the First Dutch Settlement to Recent Times (New York and London 1891), S. 1. 66 Ebd., Kapitel 4. 67 Pritchard, „The Naming of Things“, S. 19f. 68 James Fenimore Cooper, Der letzte Mohikaner. Ein Bericht aus dem Jahre 1757, übers. v. Karen Lauer (Darmstadt 2013), S. 49f. 69 Ebd., S. 553. 70 David Zeisberger, Grammar of the Language of the Lenni-Lenape or Delaware Indians (Philadelphia 1827); ders., Zeisberger’s Indian Dictionary (Cambridge, MA 1887). 71 D.  G.  Brinton, A  Lenape-English Dictionary from an Anonymous MS in the Archive of the Moravian Church in Bethlehem, Pennsylvania (Philadelphia 1888, Ndr. New York 2006). 72 Walt Whitman, Grasblätter, übers. v. Jürgen Brôcan (München 2009), S. 580f. 73 National Museum of the American Indian, https://americanindian.si.edu/visit/newyork [Stand: 06.01.2020]. 74 Lenape Museum of Indian Culture, https:// www.museumofindianculture.org/ [Stand: 06.01.2020]. 75 „Nanticoke Indian Tribe“, http://www.easternshore.com/esguide/hist_nanticoke.html [Stand: 06.01.2020]. 76 American Indian Community House, 134 W29th  St., NYNY 10001, http://aich.org/contact/ [Stand: 06.01.2020]. 77 C. A. Weslager, The Delaware Indians: A History (New York 1972); Many Trails: Indians of the Lower Hudson Valley (Katonah 1983). 78 Herbert Kraft, The Lenape Indians of New Jersey (New York 1987); The Lenape or Delaware Indians: The Original People of New Jersey

(Stanhope 1996); The Lenape-Delaware Indian Heritage (Stanhope 2001). 79 „Native American Movement“, http://countrystudies.us/united-states/history-133.htm [Stand: 06.01.2020]. 80 J. George, siehe http://www.archebooks.com/ Authors/George/jake_george.htm [Stand: 06.01.2020]. 81 Jack Forbes, „Dream Words“; siehe http:// www.poetryfoundation.org/poems‐and‐poets/poets/detail/jack‐d‐forbes (15. Mai 2016) (Übers. T. G.). 82 http://www.lenapelifeways.org/heritage.htm; the „Lenape‐English Dictionary“, http:// www.gilwell.com/lenape/ [Stand: 06.01. 2020]. 83 Howard B. Rock u. a., City of Promises: A History of the Jews of New York, 3 Bde. (New York 2012). 84 Dutch International Society, https://dutchinternationalsociety.org/ [Stand: 06.01.2020]. 85 Leslie Harris, In the Shadow of Slavery: African Americans in New York City, 1626–1823 (Chicago 2002). 86 African Burial Ground National Monument, https://www.nps.gov/afbg/index.htm [Stand: 06.01.2020]. 87 Nick Paumgarten, „Useless Beauty: What is to be Done with Governors Island?“, The New Yorker (31. August 2009).

13. Rückkehr, transatlantisch: Widersinnig oder doch im Sonnensinn? 1 Walter Munk u. a., The Rotation of the Earth: A  Geophysical Discussion (Cambridge 1975); D. D. McCarthy, Variations in the Earth’s Rotation (Washington DC 1990); Robert Newton, Mediaeval Chronicles on the Rotation of the Earth (Baltimore 1972). 2 Ivan Crowe, Copernicus (Stroud 2003); J. Adamczewski und E. Piszek, Nicolaus Copernicus and His Epoch (Philadelphia 1973). 3 Aristotle [Aristoteles], Meteorology, Book I, hg. v. E.  W.  Webster (Blacksburg, VA 2011); P. Lettinck, Aristotle’s Meteorology and its Reception in the Arab World (Leiden 1999). 4 John M.  Dillon u.  a., Theophrastus (Bristol 2012). 5 „Weather Brains“, https://www.weatheronline.co.uk/reports/weatherbrains/Teisserencde%E2%80%90Bort.htm [Stand: 09.01.2020]. 6 Jetstream, https://www.metoffice.gov.uk/ weat her/ lea rn-about /weat her/t y pes-ofweather/wind/what-is-the-jet-stream [Stand: 09.01.2020].

869

Anmerkungen zu: 13. Rückkehr

7 S.  E.  Bishop, „The Equatorial Smoke‐Stream from Krakatoa“, Hawaian Monthly, 1.  Jg., Nr. 5 (Mai 1884), S. 106–110. 8 Wasaburo Oishi, Raporto de la Aerologia Observatorio de Tateno (Tokio 1926). 9 Heinrich Seilkopf, „Maritime Meteorologie“, in: R.  Habermehl (Hg.), Handbuch der Flie­ gerwetterkunde (Berlin 1939), Bd. II, S. 142–150. 10 Rob Crilly, „Jet Stream Blasts BA Plane across Atlantic in Record Time“, Telegraph (10. Januar 2015). 11 Alden Hatch, Glen Curtiss: Pioneer of Aviation (Guildford, CT 2007). 12 John R.  Bayer, „The Forgotten Fliers of 1919: The First Successful Transatlantic Flight“, http://www.aerofiles.com/nc4.html [Stand: 09.01.2020]. 13 Brendan Lynch, Yesterday We Were in America: Alcock and Brown, First to Fly the Atlantic (Haynes 2009). 14 Peterhouse, https://www.pet.cam.ac.uk/ [Stand: 09.01.2020]. 15 Tom Sharpe, Porterhouse Blue (London 1974); Informationen zur Verfilmung von Sharpes Roman als gleichnamige TV-Miniserie finden sich unter https://www.imdb.com/title/ tt0092428/ [Stand: 09.01.2020]. 16 J. D. North, „Monasticism and the First Mechanical Clocks“, in: Stars, Mind and Fate: Essays in Ancient and Mediaeval Cosmology (London 1989), S. 171–188. 17 Caius Sundial, https://live.staticflickr.com/27 80/4435488515_19eb044916_b.jpg [Stand: 09.01. 2020]. 18 „Reading the Dial in Old Court“, https:// www.queens.cam.ac.uk/visiting-the-college/ history/college-facts/reading-the-dial-inold-court [Stand: 09.01.2020]. 19 Frank King, „The Sundial in Old Court“ (Selwyn College), https://www.cl.cam.ac.uk/~ fhk1/Sundials/Selwyn/Selwyn.pdf [Stand: 09.01.2020]. 20 Cambridge Sundials, http://www.sundials. co/~cantab.htm [Stand: 09.01.2020]. 21 Oxford English Dictionary (Compact Edition) (Oxford 1971), Bd. II, S. 3801. 22 Dictionnaire Encyclopédique Quillet (Paris 1935), Bd. VI, S. 4373. 23 Passing the Port; http://regimentalrogue. com/srsub/mess_dinners.htm [Stand: 09.01. 2020]. 24 „Madeira  – Historical Overview“, https:// www.madeira-a-z.com/facts-and-essentials/ history/historical-overview.html [Stand: 09.01.2020]. 25 Machico, https://en.wikipedia.org/wiki/Robert_Machin [Stand: 09.01.2020].

870

26 Medici‐Laurentian Atlas, 1351, https:// en.wikipedia.org/wiki/Medici-Laurentian_ Atlas [Stand: 09.01.2020]. 27 Nossa Senhora do Monte, http://www.visitfunchal.pt/en/culture-and-heritage/churches-and-chapels/item/644-nossa-senhorado-monte-church.html [Stand: 09.01.2020]. 28 John Hailman, Thomas Jefferson on Wine (Jackson, MI 2006), S. 40. 29 „Madeira Decanter“, https://www.monticello. org/site/research-and-collections/madeiradecanter [Stand: 09.01.2020]. 30 Desmond Gregory, The Beneficent Usurpers: A  History of the British in Madeira (London 1988). 31 Blandy family, https://www.blandys.com/ the-blandy-family.html [Stand: 09.01.2020]. 32 Herbert Vivian, The Life of the Emperor Charles of Austria (London 1932); H. K. Zessner‐ Spitzenberg und K.  Rasinger, The Emperor Charles I of Austria, a Great Christian Monarch (London 1963); Gordon Brook‐Shepherd, The Last Empress: The Life and Times of Zita of Austria-Hungary, 1892–1989 (London 1991). 33 https://w2.vatican.va/content/john-paul-ii/ de/homi lies/2004/docu ments/hf _jp-ii _ hom_20041003_beatifications.html [Stand: 09.01.2020]. 34 Madeira Airport https://www.madeira-web. com/en/madeira/travel-info/getting-here/byair/airport-fnc.html; https://www.aeroportomadeira.pt/en/fnc/home [Stand: 09.01.2020]. 35 Norman Hull, Aquila to Madeira: The Story of Flying Boats to Funchal (Kettering 2010). 36 Nicht erwähnt in: Celia Sandys, Chasing Churchill: The Travels of Winston Churchill (London 2003). 37 J. R. Press und M. J. Short, Flora of Madeira (London 1994). 38 Eratosthenes von Cyrene, der „Vater der Geografie“, über die Messung des Erdumfangs: http://www.juliantrubin.com/bigten/erastothenes.html [Stand: 09.01.2020]. 39 „Ptolemy’s World Map“, http://www.bl.uk/ learning/timeline/item126360.html [Stand: 09.01.2020]. 40 Dante Alighieri, Purgatorio, Canto  4, Verse 61–84. 41 Siehe J.  H.  Parry, The Age of Reconnaissance (London 1963), S. 141. 42 Laura Smoller, History, Prophecy and the Stars: The Christian Astrology of Pierre D’Ailly, 1350–1420 (Princeton 1994). 43 „Stargazing Live Australia“, https://www. youtube.com/watch?v=3yXXi2wgnZk [Stand: 09.01.2020].

Anmerkungen zu: 14. FRA

44 „Cape Cross Inscription“, https://en. wikiped ia .org /w i k i /C ape _Cross #/med ia / Fi le: Capecross_inschrift.JPG [Stand: 09.01.2020]. 45 Fernando Pessoa, „Padrão“, aus: Mar Português, in: Mensagem (Lissabon 1934). Übers. v. Winfried Kreutzer, in: Martha Kleinhans (Hg.), Lektüren für das 21. Jahrhundert. Schlüsseltexte europäischer Literatur: England, Frankreich, Irland, Italien, Portugal, Russland (Würzburg 2001), S. 114.

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10 G.  de la Landelle, Aviation ou Navigation Aérienne (Paris 1863). 11 Linda Serck, „James Sadler, the Oxford Balloon Man whom History Forgot“, BBC News (12. Juli 2014). 12 Gerard Fairlie und Elizabeth Cayley, The Life of a Genius: Sir George Cayley, Pioneer of Modern Aviation (London 1965). 13 F. C. Kelly, The Wright Brothers: A Biography (New York 1989). 14 National Geographic, Aircrash Investigation, TV-Serie, https://www.nationalgeographic. com.au/tv/air-crash-investigation/; https:// de.wikipedia.org/wiki/Mayday_%E2%80% 93_Alarm_im_Cockpit [Stand: 03.02.2020]. 15 PRO London (Public Record Office, „Staats­ archiv“), Unfallberichte des RAF-Haupt­ quartiers (1.–10.  September 1918), AIR/1/858/ 204/5/418. 16 In Familienbesitz. 17 IATA-Konferenz, Montreal, https://www. frmsforum.org/2016-conference-montreal/ [Stand: 03.02.2020]. 18 Unfälle und Verluste in der zivilen bzw. gewerblichen Luftfahrt, http://en.wikipedia. org/wiki/List_of_accidents_and_incidents_ involving_commercial_aircraft [Stand: 03.02. 2020]. 19 Siehe John Lazenby, The First Punic War (Stanford 1996). 20 Der Kamikaze („Göttliche Wind“) von 1274, https://www.britannica.com/event/kamikaze-of-1274-and-1281 [Stand: 03.02.2020]. 21 Baratterie, https://www.thefreedictionary.com/ Barratry [Stand: 03.02.2020]. 22 Tom Clancy, Jagd auf Roter Oktober, übers. v. Hardo Wichmann (Bern 1986). 23 Penny Smith, The Lost Ship Waratah: Searching for the Titanic of the South (Stroud 2009). 24 Arthur Conan Doyle, „J. Habakuk Jephson’s Statement“, Cornhill Magazine (January 1884). 25 Charles Fay, The Story of the Mary Celeste (New York 1988); Brian Hicks, Ghost Ship: The Mysterious True Story of the Mary Celeste and its Missing Crew (New York 2004); Paul Begg, The Mary Celeste: The Greatest Mystery of the Sea (Harlow 2007). 26 Chris Irvine, „The Arctic Sea Mystery: More Unexplained Missing Ships and Crews“, The Daily Telegraph (18. August 2009). 27 Alan Cass, „The Schooner Jenny“, The Mariner’s Mirror, Society for Nautical Research (August 1996), https://snr.org.uk/schoonerjenny/ [Stand: 03.02.2020].

871

Anmerkungen zu: 14. FRA

28 Brian Dunning, „The Legend of the Flying Dutchman“, https://skeptoid.com/episodes/ 4427 [Stand: 03.02.2020]. 29 John Howison: A. L. Strout, A Bibliography of Articles in Blackwood’s Magazine, 1817–25 (Edinburgh 1959), S. 78. 30 Pierre‐Louis Dietsch, Le Vaisseau Fantôme, ou Le Maudit des Mers (Paris 1842). 31 Heinrich Heine, Aus den Memoiren des Herren von Schnabelewopski (1833), hg.  v. C.  Tophoven‐Triltsch (Berlin 1986). 32 Aus: The Cruise of HMS Bacchante, 1879–82 (London 1888), Bd. II, zit. nach Kenneth Rose, King George V (London 1988). 33 Richard Wagner, Der fliegende Holländer (Stuttgart 2004), S. 56. 34 Barratry, CNN wire (21.  März 2014), https:// web.archive.org/web/201809161 64339/https:// fox13now.com/2014/03/21/from-ghostly-topsychic-theories-abound-on-malaysia-airlines-flight-370/ [Stand: 03.02.2020]. 35 „Global Re‐insurance“, https://www.globalreinsurance.com/1407586.article; P.  Greenberg und N. Rapp, „The Big Money Surprise about MH370“, https://fortune.com/2014/ 05/01/the-big-money-surprise-about-malaysia-airlines-flight-370/[Stand: 03.02.2020]. 36 Vincent Loomis, Amelia Earhart: The Final Story (New York 1985). 37 Richard Winer, The Devil’s Triangle (New York 1974). 38 Zum Verschwinden des B-47-Stratojets: https://military.wikia.org/wiki/1956_B-47_ disappearance [Stand: 03.02.2020]. 39 „Unsolved Aviation Mysteries“, https://aviationoiloutlet.com/blog/f lying-tiger-lineflight-739/ [Stand: 03.02.2020]. 40 Kay Olson, The D. B. Cooper Hijacking: Vanishing Act (New York 2010); Ross Richardson, Still Missing: Re-thinking the D. B. Cooper Affair (New York 2015). 41 Zum Stardust-Unglück: „Vanished: The Plane that Disappeared“, BBC  2 (2.  No­- vember 2000), https://www.bbc.co.uk/science/horizon/2000/vanished.shtml [Stand: 03.02.2020]. 42 Piotr Kraśko, Smoleńsk: 10 Kwietnia 2010 (Warschau 2010); Teresa Torańska, Smoleńsk (Warschau 2013). 43 Abschlussbericht der russischen Untersu­ chung: Findings of the Interstate Aviation Committee Safety Investigation of the Accident involving Tu-154M … in April 2010 near Smolensk (Moskau, 12.  Januar 2011), https:// mak-iac.org/upload/iblock/f2a/finalreport_ eng.pdf; der polnische Abschlussbericht: Final Report of the Committee for Investigation of National Aviation Accidents into the Causes

872

and Circumstances of the Tu-154M Plane Crash (tail number  101) in Smolensk (Warschau, 29. Juli 2013), https://doc.rmf.pl/ rmf_fm/store/rkm_en.pdf [Stand: 03.02. 2020]. 44 Fergus Hunter, „After Three Years, MH370 Search Ends with no Plane and Few Answers“, Stuff (17.  Januar 2017), https://www.stuff.co. nz/world/australia/88513975/after-threeyears-mh370-search-ends-with-no-planefew-answers [Stand: 03.02.2020]. 45 A.  Jamieson, „MH370 Flaperon on Reunion Island is Confirmed as First Debris from Missing Malaysia Flight“, NBC News (3. September 2015). 46 „Why is the South China Sea Contentious?“, BBC News (12. Juli 2016). 47 P. Apps und T. Hepher, „Analysis: Geopolitical Games Handicap Malaysia Jet Hunt“, Reuters (UK) (28. März 2014). 48 „Kriegsverbrechertribunal von Kuala Lumpur“. 49 Die Ladeliste von MH370: http://www.mot. gov.my/my/Laporan%20MH%20370/MH370 %20-%20Cargo%20Manifest%20and%20Airway%20Bill.pdf [Stand: 03.02.2020]. 50 Das National Reconnaissance Office der Vereinigten Staaten: http://www.nro.gov; R. Guillemat, „De‐Classified US Spy Satellites Reveal Secret Cold War Space Program“, https://www.space.com/12996-secret-spy-satellites-declassified-nro.html [Stand: 03.02. 2020]. 51 Zu MH17: „The Latest News and Comment on the Shooting Down of MH17“, The Guardian (29. September 2016). 52 Freescale Semiconductors, „20 Freescale Staff on Vanished MH370 Flight“, https://www. theregister.co.uk/2014/03/09/20_freescale_ employees_missing_on_mh370/ [Stand: 03.02. 2020]. 53 Operation Cope Tiger, https://www.globalsecu r it y.org /m i l ita r y/ops/cope-t iger.ht m [Stand: 03.02.2020]. 54 Inmarsat: Sophie Curtis, „MH370: How British Satellite Company Tracked Down Missing Malaysian Plane“, The Daily Telegraph (24.  März 2014); https://www.inmarsat.com [Stand: 03.02.2020] 55 Zum Agulhasstrom, siehe: Indian Ocean Gyre, https://en.wikipedia.org/wiki/Indian_Ocean_Gyre [Stand: 03.02.2020]. 56 Jonathan Pearlman, „MH370 Latest: Malaysian Airlines ,deliberately set to autopilot‘ over the Indian Ocean“, The Daily Telegraph (26. Juni 2014), https://www.telegraph.co.uk/ news/worldnews/asia/malaysia/10927078/

Anmerkungen zu: 15. Imperium

MH370-latest-Malaysia-Airlines-plane-deliberately-set-to-autopilot-over-Indian-Ocean. html [Stand: 03.02.2020]. 57 Helios Flight 522, „Ghost Flight Horror Crash Blamed on Pilots“, MailOnline (10. Oktober 2006). 58 BHUAP, https://en.wikipedia.org/wiki/Boeing_Honeywell_Uninterruptible_Autopilot; ht t ps://cou nter ps yops.com /t a g / bhu ap/ [Stand: 03.02.2020]. 59 Cyber https://www.rand.org/topics/cyberwarfare.html; https://en.wikipedia.org/wiki/ Cyberwarfare [Stand: 03.02.2020]. 60 „Voice 370“: „We do not accept that MH370 has crashed“, http://web.archive.org/web/ 20150708123648/http://www.malaysiandigest.com/news/544362-voice370-we-do-nota c c e pt-t h at-m h370 -h a d- c r a s he d . ht m l [Stand: 03.02.2020]; (Sarah Bajc), „Girlfriend of MH370 Passenger: Something is being Covered up“, NBC News (8. September 2014) (2015). 61 Megan Levy, „Blogger who Found Plane Wreckage is Funding his Own Research for MH370“, Sydney Morning Herald (3.  März 2016). 62 https://www.quora.com/Can-a-passengerairplane-glide-if-all-engines-fail-If-so-doplanes-with-tail-mounted-jet-engines-alsoglide [Stand: 03.02.2020]. 63 Rosemary Dobson, aus: „The Ship of Ice“, in: The Ship of Ice and Other Poems (1948), Australian Poetry Library https://www.poetrylibrary.edu.au/poets/dobson-rosemary/poems/the-ship-of-ice-0337021 [Stand: 03.02. 2020] (Übers. T. G.). Das Gedicht wurde vom Schicksal der Jenny inspiriert. 64 Joseph von Eichendorff, „Abschied“: https:// www.deutschelyrik.de/abschied.html [Stand: 03.02.2020]. 65 https://www.steigenberger.com/hotels/allehotels/deutschland/frankfurt/steigenbergerairport-hotel-frankfurt/restaurants-bars/restaurant-unterschweinstiege [Stand: 03.02. 2020]. 66 ht t ps://w w w.c he f ko c h .de /r s/s 0/ h a nd k %C3%A4se+mit+musik/Rezepte.html [Stand: 03.02.2020]. 67 Pouria Nour Mehrdad: „Missing Malaysia Plane: The Passengers on Board MH370“, BBC News (17. Januar 2017). 68 Fraktur, https://en.wikipedia.org/wiki/Fraktur [Stand: 03.02.2020]. 69 Die Frankfurter Altstadt wurde durch einen alliierten Luftangriff am 22. März 1944 – auf den Tag genau 112  Jahre nach dem Tod des größten Sohns der Stadt, Goethe – vollkom-

men ausgelöscht. Siehe http://www.revisionist.net/bombed-cities-07.html [Stand: 03.02. 2020]. 70 https://www.xn--bergwandern-fr-seniorenopc.de/huetten/index.php?gebiet=2&huette =122 [Stand: 03.02.2020]. 71 John Bunyan, Pilgerreise, übers. v. C. Rendel (Lahr 1998), S. 168. 72 Dante Alighieri, Paradiso, übers. v.  Richard Zoozmann (Leipzig 1921), S.  511 (Canto 33, Verse 142–145).

15. Imperium: Europäische Geschichte wird exportiert 1 Die Urfassung dieses Kapitels wurde am 11. April 2012 als Gastvorlesung an der Universität der VAE in Al-Ain vorgetragen. 2 Arundhati Roy, aus: War Talk (2003). 3 William Golding, Herr der Fliegen, übers. v. Peter Torberg (Frankfurt am Main 2019), S. 136, 139. 4 Golding, Herr der Fliegen, S. 64. 5 Siehe Golding, Herr der Fliegen, Kapitel  12; Zitate auf S. 309f. 6 Iqbal Ahmed, Empire of the Mind: A Journey through Great Britain (London 2007), S. 20f. 7 Ahmed, Empire of the Mind, passim. 8 Golding, Herr der Fliegen, S. 82. 9 Kwasi Kwarteng, Ghosts of Empire: Britain’s Legacies in the Modern World (London 2011). 10 Es wurde mir von unserem Nachbarn, Lord Ian Blair, geradezu überschwänglich empfohlen. 11 Kwarteng, Ghosts of Empire, S. 11ff. 12 Ebd., S.  19. Siehe auch Josephine Kamm, Daughter of the Desert: The Story of Gertrude Bell (London 1956); Georgina Howell, Queen of the Desert: The Extraordinary Life of Gertrude Bell (London 2015); Gertrude Bell, A  Woman in Arabia: The Writings of the Queen of the Desert (New York 2015). 13 Zitiert bei Kwarteng, Ghosts of Empire, passim. 14 Ebd., S. 21. 15 H. St. J. B. Philby, Arabian Days: An Autobiography (London 1948); ders., Arabia of the Wahhabis (London 1977); ders., Arabian Oil Ventures (Washington DC 1964); Anthony Cave Brown, Treason in the Blood (London 1995); Elizabeth Monroe, Philby of Arabia (Reading 1998). 16 Kwarteng, Ghosts of Empire, S. 397. 17 Norman Davies, Europe: A  History (Oxford 1996), S. 1–46.

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Anmerkungen zu: 15. Imperium

18 Niall Ferguson, Empire: How Britain Made the Modern World (London 2003); „The Six Killer Apps of Prosperity“, TED-Talk (20. Juli 2011); https://www.ted.com/talks/niall_ferguson_the_6_killer_apps_of_prosperity [Stand: 03.02.2020]; sowie ders., Civilization: Is the West History? (London 2011). 19 Jared Diamond, Der dritte Schimpanse: Evolution und Zukunft des Menschen, übers. v. Volker Englich (Frankfurt am Main 1994); ders., Warum macht Sex Spaß? Die Evolution der menschlichen Sexualität, übers. v. Sebastian Vogel (München 1998); ders., Arm und Reich: Die Schicksale menschlicher Gesellschaften, übers. v. Volker Englich (Frankfurt am Main 1999); ders., Kollaps: Warum Gesellschaften überleben oder untergehen, übers. v. Sebastian Vogel (Frankfurt am Main 2005); ders., Vermächtnis: Was wir von traditionellen Gesellschaften lernen können, übers. v. Sebastian Vogel (Frankfurt am Main 2012). 20 Diamond, Arm und Reich, passim. (Siehe S.  499f. der deutschen Ausgabe, mit Ergänzung aus dem Original – Anm. d. Übers. T. G.) 21 Norman Davies, Im Herzen Europas: Geschichte Polens, übers. v. Friedrich Griese (München 2000). 22 Sebastian Conrad, Deutsche Kolonialgeschichte (München 2008). 23 Roy Foster, The Oxford History of Ireland (Oxford 1992); John Kelly, The Graves Are Walking: A History of the Great Irish Famine (London 2012). 24 A. J. P. Taylor, The Habsburg Monarchy, 1809– 1918 (Harmondsworth 1990); Norman Davies, Verschwundene Reiche. Die Geschichte des vergessenen Europa (Darmstadt 2013), Kapitel 9: „Galizien: Das Königreich der Nackten und der Hungernden“; Larry Wolff, The Idea of Galicia: History and Fantasy in Habsburg Political Culture (Stanford 2010); Noel Malcolm, Bosnia: A Short History (London 2002). 25 Norman Davies, The Isles: A History (London 1999), Kapitel 9: „The British Imperial Isles“. 26 Pierre Goubert, The Course of French History (London 1991); https://en.wikipedia.org/wiki/ Territorial_evolution_of_France mit interaktiven Karten [Stand: 03.02.2020]. 27 Michael Rywkin, Russian Colonial Expansion to 1917 (London 1988); G.  A.  Lensen, Russia’s Eastward Expansion (Englewood Cliffs, NJ 1964); Martin Sicker, The Strategy of Russian Imperialism (New York 1988). 28 Suraiya Faroqi, The Ottoman Empire and the World Around It (London 2004); Eugene Rogan, The Fall of the Ottomans: The Great War in the Middle East (London 2015).

874

29 Massimo Pallottino, Die Etrusker, übers. v. Ambros J.  Pfiffig (Frankfurt am Main 1965); Michael Grant, Rätselhafte Etrusker: Porträt einer versunkenen Kultur, übers. v. Hans Jürgen Baron von Koskull (Bergisch Gladbach 1997); G. Barker und T. Rasmussen, The Etruscans (Oxford 1998). 30 Eric Christiansen, The Northern Crusades (London 1988). 31 T. G. R. Tsetskhladze, Greek Colonisation: An Account of Greek Colonies and Other Settlements Overseas, 2  Bde. (Leiden 2006–2008); D. V. Grammenos und E. K. Petropoulos, Ancient Greek Colonies in the Black Sea, 2  Bde. (Thessaloniki 2003). 32 D. J. Mattingly, Imperialism, Power and Identity: Experiencing the Roman Empire (Princeton 2011). 33 J. F. O’Callaghan, Reconquest and Crusade in Mediaeval Spain (Philadelphia 2015). 34 Herman Schreiber, Teuton and Slav: The Struggle for Central Europe (London 1965); F. Dvornik, The First Wave of the Drang nach Osten (London 1945). 35 Orest Subtelny, Ukraine: A  History (Toronto 1996); Anna Reid, Borderland: A  Journey Through the History of Ukraine (London 2013). 36 Natalya Polonska‐Vasylenko, The Settlement of Southern Ukraine, 1750–75 (New York 1955); William Sunderland, Taming the Wild Field: Colonialism and Empire on the Russian Steppe (London 2006). 37 John Prebble, The Highland Clearances (London 1963). 38 R.  A.  Voeltz, German Colonialism and the South-West African Company, 1884–1914 (Ohio 1988); J.  Sylvester und J.‐B.  Gewald, Words Cannot Be Found: German Rule in Namibia (Leiden 2003). 39 Zit. nach Ian Gilmour, „Terrorism“, London Review of Books, 8.  Jg., Nr.  8 (23.  Oktober 1986). 40 Peter Kolchin, Unfree Labor: American Slavery and Russian Serfdom (Cambridge, MA 1987); M. L. Bush, Serfdom and Slavery: Studies in Legal Bondage (London 1996). 41 Moshe Lewin, Russian Peasants and Soviet Power: A  Study in Collectivisation (London 1968); Robert Conquest, The Harvest of Sorrow: Soviet Collectivisation and the TerrorFamine (New York 1986). 42 Larry Neal und J.  G.  Williamson, The Cambridge History of Capitalism (Cambridge 2014). 43 Davies, The Isles, S. 345ff.

Anmerkungen zu: Nachwort

44 Dt. Übers. nach J. Baumgartner, Mission und Liturgie in Mexiko, Band 1 (Beckenried 1971), S. 122. 45 Michael Burleigh, The Racial State: Germany, 1933–45 (Cambridge 1991). 46 Raymond Betts, Europe Overseas: Phases of Imperialism (New York 1968). 47 Élie Halévy, Histoire du Peuple Anglais au XIXème Siècle, 6  Bde. (Paris 1913–1946), ins Englische übersetzt als A History of the English People (London 1949–1952). 48 Raoul Mortier (Hg.), Dictionnaire Encyclopédique Quillet (Paris 1926), Bd. 4, S. 2334. 49 Encyclopædia Britannica, 11.  Aufl. (1910–11), Bd. 9, S. 355 (Artikel von Ernest Barker). 50 Ebd., Bd. 9, S. 355f. 51 Ebd., Bd. 4, S. 606. 52 Ebd., Bd. 9, S. 356. 53 The British Empire and Commonwealth Museum, Temple Meads, Bristol, https://web.archive.org/web/20180720135620/http://www. empiremuseum.co.uk/ [Stand: 03.02.2020]. 54 „Colonialism: Britain Can Learn from Germany about Not Denying the Past“, The Guardian (27. Dezember 2016). 55 John Darwin, After Tamerlane: The Global History of Empire since 1405 (London 2007); The Empire Project: The Rise and Fall of the

British World-System, 1830–1970 (Cambridge 2009); Unfinished Empire: The Global Expansion of Britain (London 2012); The End of the British Empire: The Historical Debate (Oxford 1991). 56 Karuna Mantena, „Mill and the Imperial Predicament“, in: N.  Urbinati und A.  Zakaras (Hg.), J. S. Mill’s Political Thought (Cambridge 2007). 57 Gary Magee and Andrew Thompson, Empire and Globalisation: Networks of People, Goods and Capital in the British World, c. 1850–1914 (Cambridge 2010). 58 Dr  Shashi Tharoor, Speech at the Oxford Union (28.  Mai 2015); https://www.youtube. com/watch?v=VcWc7WqcS5M [Stand: 03.02. 2020]; siehe auch Shashi Tharoor, Inglorious Empire: What the British Did to India (London 2017).

Nachwort 1 Norman Davies, Szlak Nadziei: Armia Andersa, marsz przez trzy kontynenty (Izabelin 2015), veröffentlicht unter dem englischen Titel Trail of Hope: The Anders Army, an Odyssey across Three Continents (Oxford 2016).

875

Ortsregister Die kursiven Seitenzahlen verweisen auf Landkarten. Abessinien (s. auch Äthiopien) 49 Abilene 654, 655 Abşeron-Halbinsel 102 Abu Dhabi 128 f., 130, 132, 136, 138, 142–147, 152 f., 155, 160 f., 162, 163–165, 167–170, 173, 178, 183, 215, 245 Abu Musa 161 Acapulco 366, 547 Aceh 259, 429 Adelaide 19 Adélieland 564 Aden 47, 316, 805 Adschman 130, 135, 152, 172 Affetside 25 Afghanistan 99, 212–241, 369 Agra 189, 214 f. Ägypten 42, 178, 238, 360, 367–371, 830 Al-Ain 132, 136, 147–149, 153, 175, 180 Al-Dhafra 147 Al-Seef-Moschee (Schardscha) 137, 142 Al-Wathba 149 f. Alabama 610, 621, 626, 641 f., 652, 657 Alamo (San Antonio) 632, 639, 641, 644 f., 648, 654–656 Alang 342 Alaska 345, 377, 555, 608, 627, 815 Albania / Arran 98 f., 706 Albanien 91, 93 Albany 705, 708 Aleppo 94 Aleuten 345, 774 Algerien 47, 176, 371, 590, Ali-Zadeh-Straße 90 Allentown 722 Alpen 14 f., 30, 368, 518, 520, 614, 817 Alpenvorland 817 Alt-Delhi 202 f.

876

Alta California 636, 637, 651 Altai 99 Amerika 21, 45, 82, 171, 186, 331, 340, 355, 378 f., 383, 508, 547, 559 f., 581, 589, 616 f., 653, 668, 670, 678, 687 f., 690, 701, 714, 716, 724, 743 Amman 155, 805 Amritsar 216 Amsterdam 237, 436, 685–688, 703, 709, 724, 727, 771, 824 Anahuac 640 Anatolien 360 Andamanensee 429 f., 780, 786 Anden 585 f., 775 Anderson’s Creek 466 Andhra Pradesh 189, 196 Angeln 25, 63, 358 f., 728 Angkor Wat 257 Angleton 620 Anglezarke 25 f., 30 Angola 742, 750 f. Anjou 16 Annam 261 Antarktis 50, 354, 470, 517, 546, 553, 770, 785 f. Antiochia 360 Antwerpen 366 Appalachen 378, 610 Arabische Halbinsel 134, 135, 147, 149, 371, 807 Arabisches Meer 162, 189, 225, 276, 778, 805 Arafurasee 435, 436 Aragón 366, 818 Aralsee 82 Arcosanti 143 Ardabil 100 Ardennen 30 Argentinien 523, 633 Arguin 750 Arizona 143 Arkansas 637, 647, 648, 652, 655 Arktis 294, 354, 564, 626, 687, 770

Armagh 456 Ärmelkanal 58, 64, 79, 82, 439, 748, 764 Armenien 82, 84 f., 90–92, 95, 98 f., 101, 106, 108–110, 113 f., 118–123, 367, 373 Arnhem Land 435, 438 Arue 541, 568, 571, 603 Arunachal Pradesh 189, 232 Ascot 149 Aserbaidschan 82, 83, 84 f., 88–91, 93 f., 95–110, 112, 120–126, 128, 182, 728 Aserbaidschanische Sowjetrepublik 91 f., 95, 112–114, 117–120 Aşgabat 85 Asopòs 43 Assuan 373 Astor Place (NYC) 677 Astrachan 100 f., 103, 108, 110, 815 Athen 730, 758, 781, 795 Äthiopien 49, 170 Atlanta 174, 240 Atlantis 60, 588 Atlantischer Ozean, Atlantik 21, 58, 64, 79, 365, 371, 373, 378 f., 388–390, 539, 553, 564, 612, 637, 647, 652, 666, 680 f., 687 f., 691, 707, 709, 711, 730–734, 739, 750, 769 f., 773, 799, 824, Auckland 344, 490, 512, 521–526, 528–530, 536, 538, 539, 590 Austin 608, 620, 638–640, 641, 646, 648, 651 Austral-Inseln 542, 599 Australien (s. auch Terra Australis) 51, 75, 239, 287, 316, 330 f., 337, 347, 355, 384–386, 389–391, 393, 415, 428 f., 431 f., 434, 435, 439, 441, 445–447, 452, 455, 458 f.,

Ortsregister

466 f., 469, 476–479, 482 f., 496, 505, 507–509, 513, 516, 527, 532, 534, 553, 555 f., 558, 572, 592, 772, 778, 780, 785, 837 Avalon 60 Azoren 733 f. Babylon 353, 373, 582, 738, 831 Baden (Großherzogtum) 49 Bagdad 99, 105 f., 162, 213, 258, 334, 372, 375 f., 802, 805 Bahrain 152, 154, 160, 165, 169 Baikalsee 377 Baku 52, 81–84, 83, 86 f., 89–92, 99–112, 100, 102, 114–120, 122–125, 128, 130, 146, 186, 245, 837 Baku-Tiflis-Ceyhan-Pipeline 91 Balakan 109 Bali 19, 261, 389 Balkan 361, 816 Ballarat 466 Baltikum 104, 818 Balutschistan 161 Bandar Anzali 106 Bandera 657 Bangladesch 232, 236, 243 Banten 388, 436 Barbados 556 Basra 162, 802 Bass-Straße 439, 440, 445, 447, 470, 484 Batavia (heute Jakarta) 265, 388, 390, 392, 434, 435, 437 f., 553, 558, 771 Bath 65 Bathurst 446 Baton Rouge 619 Battery Park 667, 710, 726 Batumi 83, 102, 105 f., 110 Bayern 82, 794 Bayern (Königreich) 49 Beach / Beoach 434 Beaumont 620, 655 Beirut 11 Belfast 94, 745 Belmont (Lancashire) 24 Belper (Derbyshire) 268 Bencoolen (heute Bengkulu) 313 f. Bengal 189, 191 f., 196, 224, 225, 258, 581 Benigo 466 Berezina 111 Bergedorf 49 Bergkarabach /  Nagorny Karabach /  Karabach /

Arzach 84, 91, 94, 108–110, 113 f., 119–121, 123 Beringstraße 377, 590, 815 Berlin 111, 291, 382 f., 580 f., 752, 808, 813 f., 821 Bermuda 763, 773 Berriedale 441 Bettina 649 Bexar 636 f., 639–641, 641, 643 f., 648 Bharmour 226 Bhoga (Fluss) 255 Bhoga (Stadt, heute Palembang) 253 f., 254, 255 f., 259, 262, 323 Bhutan 211 Biaro Bahal 258 Bibi-Heybat 101 f. Bintan 262, 265 Birma (s. auch Myanmar) 69, 189, 198, 236, 239, 261, 323, 412, 495 Birmingham 49 Black Bobs 482 Black River Gorges 416 Blackman’s Bay 438 Blackpool 21 Blackstone Edge 22 Block Island 714 Bloemfontein 471 Bockenheim 757 Bodmin 58, 65 Bodmin Moor 79 Bolivien 633 Bolton (Lancashire) 12, 15, 20, 22 f., 25–30, 43, 45 f., 222, 224 f., 536, 573, 766 Bolton Abbey 26 Bombay (heute Mumbai) 187, 189, 194, 221 f., 225, 232, 316 Bora Bora 540 f., 545, 574 Bordeaux 401, 405 f., 604, 741 Boree Bunder 221 Borneo 243, 251, 260, 275, 278–281, 284, 333 f., 389, 435, 561 Borobudur 254, 257 f. Bosnien-Herzegowina 814 Bosporus 82, 360 f., 816 Boston 379, 559, 691, 706, 768, 770 Botany Bay 266, 393, 445, 452, 553, 555 Bottom o’th’ Moor 22 Boulogne 764 Bradford 23, 246 Brasilien 316, 342, 385, 390, 404, 547, 589, 693 f., 742, 745 f., 758 Brazos River 635, 639, 644

Breda 703, 705 Breslau 382 Brest 397, 555, 558 Brest-Litowsk 105 Bretagne 59 f., 62 f., 65 f., 74, 78 f., 294, 421 Brighton 237, 380 Bristol 70, 227, 322, 566, 741, 765, 833 Britannien 24 f., 63, 318, 359, 452, 454, 469, 728, 817 f. Britisch-Malaya / Malaya 242, 244 f., 248, 267, 267–269, 277–284, 286, 298, 308, 310 f., 316, 318 f., 321 f., 327, 331, 333, 728 Britisch-Südafrika (Rhodesien) 47 Britische Inseln 60, 72, 75, 351, 495, 815, 817, 821 f. Britisches Weltreich 56, 148, 190, 219, 222 f., 226 f., 229, 244, 269, 277, 279, 296, 313, 318, 323, 325 f., 331, 404, 407, 453, 459, 465, 471, 516, 800, 802, 808, 821, 831–836 British Indian Ocean Territory (BIOT) 408 Brixton 246 Broadway (NYC) 706, 710, 721, 723 Brompton Dale 764 Bronx (NYC) 612, 694, 714, 726 Brooklyn (NYC) 667, 669, 693, 714, 725 Brotherton 712 Brownsville 654, 655 Brügge 824 Brunei 281, 306 Bruny Island 440, 460, 470 Budapest 39 Buddha Jayanti Park (Neu-Delhi) 191, 212 Buenos Aires 523, 775 Buffalo Bayou 619 f., 634, 639 Bugis Precinct (Singapur) (auch Bugis Street, Boogie) 316, 335 Bukit Panjang 295, 326 Bukit Timah 295, 308, 326, 328, 332 Bulgarien 48, 816 Burdsch Chalifa (Dubai) 129, 133, 142, 169 Burgund 686 Burkina Faso 123 Burundi 813 Buschehr 152, 154 Byzanz 39, 360

877

Ortsregister

Cádiz 557 Callao 770 Câmara de Lobos 740, 749 Cambridge 11, 28, 45 f., 72, 77, 180, 237, 280, 309, 415, 439, 530, 734, 737 f., 753, 800 f., 829, 839 Camelford 58, 61 f. Camelot 60, 62 Canadian River 643 Canarsie 677 Canberra 279, 323, 479, 484 Cap Malheureux 395, 413 Cape Barren Island 439, 440 Cape Cod 690, 709 Cape Fear 678 Cardiff 9 Carolina 378, 652, 678, 707, 715, 764 Castell 649 Cathay (s. auch China) 260, 269, 328, 358 Ceylon (s. auch Sri Lanka) 211, 225, 236, 244, 325, 373 Cézembre 66 Chagos-Archipel / ChagosInseln 406, 408, 418 Chaiber-Pass 186 Chaiya 254, 258 Chamba 223–229, 225, 228 Champavati-Tempel 226 Changi 295, 305, 330, 334, 337, 348 Chapultepec 651 Charleston 715 Chatham 94, 733 Chathaminseln / Chatham Island 497, 562 f., 589 Châtou-Yvelines 540 Chesapeake Bay 678, 711 Chicago 620 Chile 344, 536, 633, 775, 830 China 49, 140 f., 186, 196, 203, 211, 231–234, 236, 239, 255, 257 f., 260, 264, 278, 288 f., 292, 294, 297, 306, 314, 316 f., 323, 327, 330, 334, 336, 341 f., 345–347, 353, 355–357, 365 f., 368, 373 f., ,377–379, 389, 404, 430, 457, 466, 524, 615, 683, 750, 770, 782 f., 813 Chinatown (Singapur) 243, 299, 335, 404 Chinesisches Meer 373 f. Chittagong 236 Chiwa 815 Chorley 22

878

Christ Church Meadow (Oxford) 764 Clipperton-Insel (Île de la Passion) 564 Clydeside 61 Coahuila y Tejas 636 f., 637, 639 f., 644 f. Colombo 366 Colorado 637, 639, 641, 647, 651 Colorado River 661 Columbia (heute West Columbia) 77, 194, 647, 669 Comancheria 625, 650 Commonwealth of Nations 278, 284, 324, 407, 417, 480, 492, 831 Coney Island 714, 725 Connecticut 652 Connecticut River 688, 691, 693, 696, 707 Córdoba 373, 635 Corlear’s Hook 676 Corniche (Schardscha) 137 f., 141, 147 Cornouaille 63 Cornwall (s. auch Kerno)56 f., 58, 60–63, 65, 67, 69–80, 182, 344, 548, 728, 817, 837 Corpus Christi 620, 623, 655 Cox Bight 475 Cradle Mountain 470 f. Cumbria 26 Curaçao 49 Curepipe 395, 416 Cyberjaya 237, 241, 289 D’Urville-See 786 Dallas 618, 620, 655, 666 Dänisch-Westindien („Amerikanische Jungferninseln“) 49 Darmstadt 756, 758 Dartmoor 11 Dartmouth (Devon) 683 Dauphiné 15 DDR 291 Delaware 652, 697 Delaware River („Südfluss“) 671, 672, 676–678, 690, 691, 693, 697, 708 Delhi / Dilli /  Dillika 52, 164, 186– 190, 189, 193, 198–203, 206, 208, 210–215, 217, 219 f., 222, 225, 227, 231–233, 236, 245, 335 Deloraine 440, 466 Demak 261 Den Haag 333, 779

Derby 27, 439, 440 Derbyshire 24, 268 Derwent 445, 451, 482 Deutsch-Neuguinea 813 Deutsch-Ostafrika 813 Deutsch-Samoa 813 Deutsch-Südwestafrika (s. auch Namibia) 813 Deutsches Reich 813 Devon 60, 62, 69, 480 Devonport 439, 440 Dhaid 154 Diamantinatief 432, 785 Diego Garcia 408, 430, 782 Dieppe 677 Dijon 544, 590 Dinding-Inseln 266 Doffcocker 22 Dol 65 Domnonée 63–65 Donau 816 Dorset, Dorsetshire 744 Dortmund 583 Douro 751 Downing Street (London) 749 Drakestraße 770 Dschebel Dhanna 160 Dschumeirah 133 Dubai 19, 52, 121, 128–130, 130, 132–138, 140–143, 145 f., 151 f., 155, 160–165, 162, 167, 169–171, 173 f., 183, 186, 837 Dublin 468, 814 Dumnonia 59 f., 63 Dunalley 438, 440 Durban 769 Dyrham 65 Eagle Pass 657 Eaglehawk Neck 438 East River 692 f., 725 Easton 712, 722 Ecuador 295 Edinburgh 423, 517, 548, 771 Egerton 28 Eire (s. auch Irland) 47, 69 El Paso 655, 657 Elba 739 Elliceinseln 572 Ellis Island 667 f., 725, 728 Elstow (Bedfordshire) 7 Endau 323 England 11 f., 22–27, 33, 56 f., 62, 65, 68, 70, 72, 117, 147, 162, 233, 246, 277, 280, 314, 332, 339, 354 f., 359, 365 f., 384, 409, 420, 441, 447, 455 f., 464, 466, 484, 488, 507 f., 510 f.,

Ortsregister

523, 527, 548, 553, 557–559, 565, 580, 599, 610, 659, 666, 668, 670, 683–687, 690, 696 f., 701 f., 704–714, 718 f., 736 f., 739, 744, 748, 770, 799, 807, 813, 819, 824, 829 f., 836 English Pale (Irland) 814 Estland 238 Euphrat 816 Eurasien 358, 363, 376 Eurovision Crystal Hall 88 Exeter 69, 71, 439, 440 Faa’a 541, 590, 601, 604 Faial 733 Falklandinseln (Malwinen) 550 Falmouth 57, 58 Fatu Hiva 545, 577, 585 Fayette 639, 661 Ferner Osten 355, 358, 368, 377, 379 Feuerland 393, 547, 770 Fidschi-Inseln 546, 561, 572 Finnland 47, 104, 109, 815 Firth of Clyde 746 Fitzwilliam College (Cambridge) 309 Flame Towers 86, 88 f., 91, 94, 100, 124, 146 Flinders Island 440, 447, 461, 463 f., 484 Florenz 15, 710, 824 Florida 610, 612, 631, 642, 652, 687 Flowerpot 439 Flushing (NYC) 695, 714, 725 Fort Al-Dschahili (Al-Ain) 148 Fort Bend 639, 641, 657 f., 660, 662 Fort Casimir (heute Newcastle, DE) 697 Fort Gibson 643 Fort Louis (heute Mobile, AL) 610 Fort Nassau 689 f. Fort Nya Elfsborg 697 Fort Nya Göteborg 697 Fort Orange 690, 691, 694, 705, 711 Fort Ross 377, 815 Fort Towson 643 Fort Worth 620, 655, 657 Fowey 57 FRA (Flughafen Frankfurt am Main) 758 f., 793, 795, 837 Frankfurt am Main 84, 730, 756–758, 760 f., 763, 788 f., 791, 793, 837

Frankreich 12, 23, 45, 49, 79, 170, 239, 266, 313, 319, 354, 382, 384, 400, 402, 404, 415, 445, 548, 550, 554 f., 561, 566, 570, 572, 600 f., 610, 632 f., 643, 646, 679, 718, 764, 812, 816, 819, 821, 832 Französisch-Polynesien 540, 542, 561, 572 f., 591–593, 597–599 Fredericksburg 649 Freiheitsstatue (NYC) 667, 728 Freycinet Peninsula 470 Fudschaira 130, 132, 135 f., 152, 165 Fuji 731 Fujian 297 Funchal 740, 742, 745 f., 748 f. Furness Abbey 27 Fylde 21 Gabun 750 Galapagos-Inseln 20, 564 Galicien 63 Gallien 360, 368, 817 f. Galveston 619 f., 641, 646, 651, 655 Galveston Island 618 Galway 734 Gambia (Fluss) 813 Gambia (Staat) 758 Gambierinseln 541, 571, 596 Ganges 192, 212, 236, 283, 368 Gatesville 657 Gaugamela 98 Gent 737, 824 Genua 742, 824 George Town 266, 440, 450, 458 Georgia 641–643, 652 Georgien 82, 95, 99, 106, 109 f., 113, 815 Gesellschaftsinseln 541 f., 599 Ghana 277, 373, 802 Ghom 123 Gibraltar 318, 743, 765, 770, 776 Gilbertinseln 561, 562 Gillespie County 650 Glamorgan 65 Glasgow 132, 511 Glastonbury 61 Glenorchy 439 Goa 189, 218, 225, 265, 366 Goldküste (Ghana) 277 Golf von Bengalen 189, 225, 232 Golf von Biskaya 736, 741 Golf von Carpentaria 389

Golf von Mexiko 608, 611, 612, 627, 632, 637, 641, 647, 652, 655 Golf von Thailand 428 Goliad 639 f., 645, 655 Gonville and Caius College (Cambridge) 737 Governors Island 667, 676, 714, 725, 727 Göyçay 90 Granada 135, 373 Grand Baie 416 Grand Port (Grand-Port) 393, 395, 399, 402 Grand Port Bay 397 Grande Terre 586 Great Oyster Bay 471 Great Plains 627 Greenwich 538, 539, 551 Greenwich Village (NYC) 676 Grenoble 15, 17 Griechenland 42, 49, 91, 353, 386, 483, 743, 758, 816 Grönland 66, 734, 770 Großbritannien 9, 27, 30, 43, 49, 56, 61, 65, 72, 74, 108 f., 152–154, 160, 162, 173, 205, 239, 249, 266, 268, 282, 288, 295, 302, 307–309, 315, 319, 321, 331, 347, 348, 382, 384, 404, 406–408, 412, 415, 426, 441, 445, 452, 454, 456 f., 459, 469, 486, 508 f., 511, 548, 565, 569 f., 572, 580, 632, 668, 718, 734, 745, 748, 799–801, 803 f., 808, 812, 814, 816 f., 829, 833, 835 Große Bucht (NYC) 671, 679, 684 f., 690, 692 Große Ebenen (Great Plains) 627, 630, 671 Großes Barriereriff (Great Barrier Reef ) 558 Guadeloupe 418, 573 Guadelupe Hidalgo 651 Guam 345 f., 546, 561, 572, 773 Guangdong (Kanton) 255, 356 Gujarat 191 f., 205, 225, 342, 417 Gurdwara von Bangla Sahib 217 Haiti 46, 402, 414, 417, 500, 725, 768 Halifax 733 Hallstatt 817 Hamburg 336, 583 Hannover 649 Harlem (NYC) 669, 714, 725

879

Ortsregister

Harlem River 677, 700 Harrisburg (heute Houston) 619, 634, 639, 641, 646 Hartford 691, 693, 696 Haryana 199 Hastings 13 Haverstraw 676 Hawaii 49, 77, 345, 379, 405, 496, 506, 545, 553, 555, 561, 562 f., 569, 572, 574, 582, 584 f., 589, 605 Hayle 75 Hazebrouck 766 Heiliges Land 42 Heiliges Römisches Reich 789, 816 Helvellyn 11 Hessen 756 Hessen-Darmstadt 756 Hessen-Kassel 756 Hessen-Nassau 757 Heydər Əliyev Merkezi 88 Highlands (Schottland) 11, 470, 511, 819, 822 Hili 147 Himachal Pradesh 189, 203, 227 Himalaja 77, 186, 192, 211, 222, 225 f., 430 Hindustan (s. auch Indien) 188, 213 f., 230, 269 Hitia’a 541, 550 Hiva Oa 542, 545, 578 Hobart 440, 444–446, 451 f., 455, 457 f., 461 f., 464, 466–468, 470, 473, 478, 480 f., 483, 486, 488 f., 564, 837 Hokkaido-Inseln 377 Holcombe Hill 22 Hongkong 292, 294, 297, 315, 325 Horseshoe Falls 471 Horta 733 Horwich 222 Houston 608–611, 613, 616, 618–625, 631 f., 634, 647, 649, 654, 655, 657 f., 666 Howland Island 773 Hudson River („Nordfluss“) 675 f., 678, 681, 685, 689, 692–694, 696 f., 699, 705, 711, 724, 725 Hugli (Fluss) 236 Humayun-Mausoleum 191, 215 Hurley 700 Iberische Halbinsel 350, 488, 686, 817 f.

880

Île de Bourbon (heute Réunion) 391, 399 f., 411 Île de France (heute Mauritius) 400, 402, 411, 422f., 558 Île-de-France 815 Illinois 647, 652 Illyrien 360 India Gate 190, 191 Indianola (Carlshafen) 649 Indien 34, 49, 69, 134, 150, 152, 154, 186, 188, 189, 190, 192 f., 196–201, 203–205, 207, 211, 213, 215 f., 219, 222 f., 225, 226–234, 236, 241, 243 f., 249, 251, 254, 256 f., 259, 264–266, 275–277, 294, 297, 306, 313–315, 324, 333, 336, 342, 353, 355 f., 358, 364–369, 373, 388 f., 391, 393, 396 f., 399, 402–404, 407, 412, 426, 430, 434, 436, 487, 547 f., 556, 561, 581–583, 678, 685, 687, 689, 692, 694–696, 702–704, 707, 718, 728, 750, 771, 778, 800–803, 835, 837 Indischer Ozean 189, 225, 261, 276, 374, 422, 435, 539, 778 Indochina 69, 211, 256, 321, 811 Indonesien (s. auch Niederländisch-Indien) 69, 211, 241, 251 f., 258 f., 264, 272, 278, 280, 287, 292, 298, 302, 334, 342, 347, 364, 366, 379, 388 f., 588, 687, 707, 811, 824 Indus 210, 212 Inseln über dem Winde (Polynesien) 541, 545 Inseln unter dem Winde (Polynesien) 541, 545 Irak 110, 134, 157, 182, 342, 369, 371, 375, 779, 802–804, 806 f., 820 Iran (s. auch Persien) 49, 82, 95, 99, 117, 119, 122, 124, 128, 134, 137, 160 f., 163, 181, 342, 371, 805, 838 Irische See 25, 64 Irland (s. auch Eire) 21, 25, 60, 63, 65 f., 69, 74, 359, 407, 452, 454, 456, 511, 559, 734, 813 f., 817, 821 f., 824 Ironbound Mountains 475 Isfahan 100, 123, 162, 366 Island 66, 734 Isle of Man 21 Isle of the Dead 472 Isle of Wight 11, 64, 384, 447, 748, 770

Israel 77, 124, 137 f., 173, 231, 287, 369, 371 f., 382, 584, 668, 779, 783 Istana (Präsidentenpalast, Singapur) 303, 338 Istanbul 39, 110, 360, 376, 805 Italien 14, 18, 43, 91, 204, 350, 360, 367, 574, 710, 812, 817 f., 830, 838 Ithaka 17, 795 Jakarta 139, 390 Jambi 254, 258 f. Jangtsekiang 357 Japan 49, 153, 211, 306, 318, 341, 345 f., 355 f., 358, 367 f., 373, 377 f., 546, 555, 564, 592, 663, 768 Java 251, 256–260, 261, 265, 313, 318 f., 323, 388–390, 434, 435, 436 Jayakarta (Batavia) 265 Jelisawetpol / Gandscha /  Kirowabad 83, 93, 101, 106, 117 f., 119 Jemen 138, 181, 372, 374 Jersey 64, 705 Jersey City 699 Jerusalem 164, 470, 538, 539, 663, 805, 838 Jesus College (Oxford) 800, 809 JFK (John F. Kennedy Airport, NYC) 666 f., 669, 731f. Johor 265, 268, 285, 294 f., 314, 318, 323–326 Johor Causeway / Johor-Damm 294, 295, 324–326 Jordanien 155 f., 181, 369, 371 f., 804 Jugoslawien 30, 47, 120, 486, 758 Jung Ceylon (Phuket) 236 Jurong 295, 326, 343 Jütland 358 f. Kabul 163, 225 Kadaram (Kedah) 250, 254, 259, 266, 268, 280, 285 Kalasan 254, 258 Kalifornien 344, 355, 377, 386, 543, 555, 608, 651, 652, 810, 815 Kalimantan (indon. Teil Borneos) 281 Kalkutta (Kolkata) 111, 182, 189, 225, 236, 315, 581 Kallang 295, 326 Kambodscha 69, 257 f., 261

Ortsregister

Kamerun 813 Kanada (auch „kanadisch“) 75, 77, 508, 516, 550, 608, 610, 627, 632, 652, 684, 687 f., 709, 734, 819 Kanarische Inseln, Kanaren 374, 740, 748, 758 Kansas 651, 652, 654, 660, 712 Kanton 244, 289, 297, 366 Kap Adare 786 Kap der Guten Hoffnung 276, 364, 389, 391, 393, 406, 434, 553, 556, 687 Kap Hoorn 276, 555 Kap Keerweer / Cape Keerweer 435, 437 f. Kap Leeuwin 434, 435, 438 Kap Lopez 750 Kap Musandam 135 Kap Santa Catharina 750 Kap-York-Halbinsel 435, 437 Kapingamarangi 561 Kapstadt 391, 393, 399, 769 Kapverdische Inseln, Kapverden 750 Karibik 49, 246, 388, 541, 706, 743, 750, 813 Karnes County 651 Kärntner Alpen 30 Karolinen 561, 572 Karthago 768 Kasachstan 364, 425, 430, 782 Kaschmir 189, 225, 228, 232, 800, 809 Kaspisches Meer, Hazar Denizi 82, 83, 98, 100, 102, 108, 374, 805 Kastilien 740, 818 Katar 138, 146, 151 f., 160, 165, 169, 838 Katra 206 kaukasisches Albanien 93, 98 Kaukasus 82, 90, 101, 103–105, 107, 109 f., 123, 815 Kediri 259 Keeling-Inseln (Kokosinseln) 275, 333 Kelantan 250, 268, 277, 285 Keltische See 64, 66, 78 Kent 308, 344, 365, 808 Kerno (s. auch Cornwall) 56 f., 58, 60–63, 65–80, 182, 344, 548, 728, 817, 837 Khairlanji 200 Khmer-Reich („Reich der Khmer“) 258 Kiangan 333 Kiautschou 813

Kiew 758, 815 Kimberley-Region (Australien) 388 Kinder Scout (Derbyshire) 24 King Island 440, 470 Kitty Hawk 764 Klang (Fluss) 240, 242 Kleine Kurilen 377 Kolumbien 633 Kongo (Fluss) 751 Kongo, Demokratische Republik 751 Konstantinopel 63, 359–361, 816, 831 Korea / Südkorea / Nordkorea 49, 292, 305, 345–348, 355–357, 368, 377, 379, 524 Koromandelküste 258 Kra, Isthmus von 256 Krakatau 731 Krakau 39, 100, 759 Krasnowodsk 108 Kreta 49 Kreuzkap 751 f. Krim 20, 369, 819 Kuala Kangsar 281 Kuala Lumpur 52, 236 f., 240 f., 242, 243–245, 249, 252, 265, 267, 276, 279, 284, 286, 289 f., 294, 310, 428, 777, 779, 785 Kuba 366, 744 Kura 82, 118 Kuril-Kette 377 Kurland 813 Kuwait 137, 152, 162, 165 La Bahía 633, 639, 645, 654 La Guaira 49 La Tène 817 Labuan 275 LaGuardia (Flughafen, NYC) 666 Lahore 225, 232 Laie 584 Lake District 11 Lake Superior 82 Lancashire 20, 22, 24 f., 27, 46 Land’s End 58, 64, 66, 82, 523 Laos 69 Lapita 586 Largs 746 Launceston 58, 439, 440, 452, 458, 466, 478 Le Morne 395, 417, 424 Le Piton de la Petite Rivière Noire 416, Le Pouce 395, 416 Lecce 43

„Leeres Viertel“ s. Rub al-Chali Leiningen 649 Lenape Valley 722, Lenapehoking 671 Leningrad 92 Lettland 47 Lənkəran / Länkäran 83, 90, 109, Libanon 47, 369, 371 Liberia 49 Libyen 138, 353, 371 Lindisfarne 439 Linkedua (Singapur) 291, 294, 295 Linnville 649 Litauen 41, 47, 382, 812, 815, 818 Little Italy (NYC) 669 Little River 643 Liverpool 25, 30 Llano County 649 Loire (Fluss) 30 Lombardei 824 London 25 f., 29, 43 f., 45, 47, 69, 83, 86 f., 91, 94, 114, 116, 125, 143, 162 f., 174, 190, 231, 236 f., 288 f., 298, 309, 313 f., 316, 322, 394, 403, 407 f., 450, 464, 467, 484, 493, 508, 520, 522, 614, 731, 749, 801 f., 806, 813, 824 Long Island 666, 671, 675, 677, 688, 693, 695, 697, 706 Longuenesse 766 Los Angeles 236, 522, 620 Lotustempel (Delhi) 191, 220 Louisa Island 440, 475 Louisiana 378, 418, 610, 621, 625, 632 f., 641, 652, 655 Luxemburg 30 Lyonesse 60, 80 Macao 555 Machico 740, 741 Macquarie Harbour 438, 457 Macquarie Island 470 MacRitchie-Stausee (Singapur) 327 Madagaskar 232, 253, 256, 394, 399, 401, 409, 414, 581, 584, 778, 782 Madeira 52, 734, 736, 739, 740, 740–751, 753, 824, 837 Madinat Zayed 132 Madras 189, 196, 224, 225, 274 Magdalen College (Oxford) 148, 809 Magellanstraße 547 Maghreb 371, 373

881

Ortsregister

Maharashtra 189, 196, 201 Mahébourg 395, 396 f., 401 Maidstone 798 Maine 641, 652, 707 Mainz 649 Majapahit-Reich 253, 259–262, 261 Majong 266 Makassar 435 Malabar 366 Malaiische Halbinsel 236, 251, 253, 255 f., 259 f., 261, 264, 266, 268, 271, 274, 276 f., 280 f., 291, 294, 315, 320, 324, 344, 388 f., 412, 429, 780 Malaiischer Archipel 255, 584 Malakka (Melaka) 236 f., 241, 251, 253, 261–266, 267, 277, 313, 315, 336, 364, 366, 546 Malawi 277 Malaysia (auch Föderation Malaya, Malaiische Union; s. auch Britisch-Malaya) 236 f., 239–244, 241, 246 f., 250–252, 258 f., 265, 267 f., 275, 278, 280 f., 284–292, 294, 297 f., 302, 305, 311, 333, 343, 347, 364, 428, 430, 492, 767 f., 779 Malediven 366 Malta 238, 447, 739 Malwinen s. Falklandinseln Mam Tor 11 Manchester 20, 22, 24, 28, 138, 168, 281 f., 461, 491 Mangareva 542, 545, 563 Manhasset 677 Manhattan/Mannahatta (NYC) 142, 294, 665–728 Manila 258, 333, 346, 366, 547, 555 Mannheim 758 Maria Island 440, 448, 470 Marianen 346, 561, 562, 572 Marokko 42, 49, 139, 371 Marquesas-Inseln 542, 563, 566, 569, 571, 577–579, 599 Marshallinseln 346, 561, 562 Maryland 652, 697, 707 f. Masdar City (Abu Dhabi) 143 Maskarenen 394 Maspeth 676 Massachusetts 652, 706–708, 733 Matadi 751 Matagorda 631, 641, 649 Matavai-Bucht 541, 549–551, 569 Mauretanien 371, 750

882

Mauritius 52, 391–394, 395, 397–418, 420 f., 423–428, 437, 558, 728, 771, 778, 837 Maverick County 657 Medang 258 Media Atropatene 98 Mekka 135 f., 139, 157, 215, 372, 375, 804, 805, 807 Melanesien 409, 522, 561, 583 Melbourne 51, 385, 390, 439, 459, 464, 466, 469, 476, 482, 484, 527, 837 Menabilly 57 f., 61 Merrick 677 Mesopotamien 104, 109 f., 147, 151, 360, 372, 803 Mexiko 69, 342, 355, 365–367, 494, 546 f., 563, 608, 610 f., 612, 623, 625, 628, 632 f., 635 f., 637, 639 f., 644–646, 647, 648, 650 f., 652, 653, 655, 687 Mexiko-Stadt 635, 646, 651 Miami 236, 773 Mikronesien 561, 583 Minho 743 Minisink 672, 675 f. Minnesota 618, 652 Mississippi (Fluss) 610 f., 625 f., 627, 632 f., 637, 640, 642, 647, 652, 659 Mississippi (US-Bundesstaat) 612, 621, 642, 644, 652 Mississippi-Missouri-OhioBassin 378 Missouri 333, 627, 641 f., 652 Mississippidelta 610, 631 Mittau 43 Mittelmeer 79, 91, 99, 368, 374, 478, 488, 773, 805, 817, 824 Mittlerer Osten 99, 186, 355, 360, 365, 367, 369 f., 372, 376, 378, 804, 805 Mittlerer Westen (USA) 341, 378 f., 652 Moka 395, 415 Molukken („Gewürzinseln“) 236, 260, 261, 263, 265, 388, 588, 687, 824 MONA, The Museum of Old and New Art 441, 443 f., 489, 611 Mongolei 42, 123, 294, 363 Mont Blanc 432 Mont du Lion 394, 395, 397 Mont Ventoux 20 Montenegro 49, 816 Monticello 744

Montreal 701, 767 Montserrat (Lancashire) 22 Moorea 541, 556, 592, 596, 604 Morbihan 59 Morvah 79 f. Mosambik 46, 782 Moskau 39, 101, 106, 109–111, 113 f., 119, 123, 137, 163, 233, 236, 361, 366, 368, 377, 383 Moskau (Großfürstentum) 376, 815 Mossul 162, 802 f. Moudros 109 Mount Everest 74 Mount Hopeless 385 Mount Wellington 441, 443 Muaro Jambi 254, 258 Mumbai siehe Bombay München 23 Mururoa-Atoll 590 Musi (Fluss) 255, 259 Myanmar (s. auch Birma) 69, 189, 198, 236, 239, 261, 323, 412, 495 Nachitschewan 83, 109, 113, 117, 120 f. Nacogdoches 620, 633, 638, 652, 655 Nagaland 189, 198 Nagpur 189, 200, 222, 225 Naher Osten 117, 137, 367–369, 808, 816, 820 Namibia (s. auch DeutschSüdwestafrika) 30, 752, 813 Nara 357 Nassau (Texas) 649, 689 f. Nauru 561 Navasota River 647 Negri Sembilan 268, 285 Nelson Falls 469 Nepal 30, 132, 198, 210 f. ,232 Netherhall 746 Neu-Amsterdam (heute New York City) 696 f., 699–703, 705, 709–711, 719, 727 f. Neu-Delhi 190, 193, 202, 212, 219, 231 Neuenburgersee 817 Neufundland 679, 730, 734 Neuguinea 253, 259 f., 263, 389, 484, 561, 572, 583, 586, 773, 810 Neukaledonien 418, 523, 561, 562, 571, 574, 586, 601 Neuschottland (Nova Scotia) 708 f., 733

Ortsregister

Neuschweden 697, 699, 706, 708 Neuseeland 46, 52, 107, 170 f., 232, 316, 324, 344, 355, 456, 460 f., 466, 476, 478, 486, 489, 490, 491, 493, 495, 507–512, 514–518, 520–522, 524, 527–532, 552 f., 560 f., 562, 564, 572, 580, 582, 585 f., 589 f., 599, 728, 837 Neuspanien 69, 546, 610, 624 f., 631–633 Nevada 628, 774 New Braunfels 649 New Forest 11 New Jersey 115, 676, 698, 705–707, 712, 722 New Mexico 651 New Norfolk 440, 452, 480, 482 New Orleans 414, 610, 613, 635, 641, 644 New South Wales 445 f., 451 f., 454, 456, 458 f., 464–467, 475, 477, 506–508, 510, 567 New Ulm 649 New York (City, Stadt) 143, 194, 394, 406, 522, 611, 620, 637, 666–669, 676 f., 690, 695, 701, 705–709, 711, 713–719, 721–728, 725, 730 f., 758, 764, 837 New York (US-Bundesstaat) 652, 718 Newark Bay 676 Newmarket 149 Newquay 56, 58 Niederlande 252, 265, 280, 313, 315, 318, 365, 385, 391, 398–400, 416, 436, 488, 505, 548, 558, 564, 675, 685–687, 689 f., 692, 694–701, 703–707, 710–713, 717 f., 724, 726, 810–812, 824 Niederlande, Republik der Vereinigten Niederlande 266, 685 f. Niederländisch-Indien (s. auch Indonesien) 69, 366 Nieuw Nederland 688–690, 692 f., 695–697, 699, 701, 703–705, 707, 709, 711–713, 718 Nikobaren 189, 225, 385, 812 Nil 33 f., 371, 373 Nizza 421 Nook 439, 440 Nootka Sound 557

Nordamerika 66, 68, 334, 359, 377, 466, 553, 564, 610, 612, 627, 632, 649, 652, 667, 679–681, 685, 687, 707, 712, 715, 730, 734, 743, 788, 816, 825 Nordborneo (brit. Protektorat) 275, 278, 280 f., 284, 333 f. Nordirland 56, 456, 814 Nordsee 22, 488 Nordwestpassage 553, 557, 681, 770 Norfolk Island 452 Normandie 26, 413 North Carolina 652, 678, 764 Norwegen 161, 163, 272, 294, 517, 577 Nossa Senhora do Monte (Madeira) 742, 746 f. Nowgorod (Republik) 815 Nowhere Else 441 Nuku Hiva 542, 545 Nur-Sultan / Astana 364 Nuyts Archipel 434, 435 Nuytsland 434, 438 Nyack 676 Nyasaland (Malawi) 277 Oahu 563, 584 Oberitalien 260 Odessa 42 f., 815 Offaly 764 Ohio 652, 712, 720 Oklahoma 634, 642, 651, 655, 712, 723 Olympia-Stadion 88 Oman 130, 135, 148, 151–153, 155 f., 162, 165 f., 374, 805 One World Trade Center/ Freedom Tower (NYC) 668, 728 Ontario 712, 723 Oregon 652, 774 Oriens 360, 372 Oscawana 676 Oslo 577 Osmanisches Reich 48, 105 f., 109 f., 151, 361, 369, 802, 816, 832 Ost-Berlin 291 Ostafrika 50, 72, 212, 365, 373, 813 Ostasien 318, 332, 356, 358 Ostblock 38 f. Osterinsel (Rapa Nui) 542, 561, 563

Österreich 82, 334, 382, 404, 744, 746 f., 758, 812, 814, 817, 823, 831 Österreich-Ungarn 48, 229, 814, 831 Osteuropa 42, 74, 177, 203, 350 f., 377, 381–383, 812, 815, 818 Ostindien 251, 265 f., 277, 313–315, 388 f., 391, 393, 399, 434, 436, 547 f., 561, 581–583, 685, 687 f., 696, 707, 771, 800 Ostsee 376, 815, 824 Osttimor 548 Outre Mer 572, 591, 824 Oxford 12, 15, 19, 38 f., 73, 78, 148, 180, 186 f., 204, 250, 272, 281, 341, 410, 486, 490, 492, 512, 518, 530, 588, 738, 764, 781, 800 f., 803, 807, 809, 834 f. Ozeanien 45, 49, 560 f., 565, 572 f., 601 Pa’ea 541, 602 Pahang 265, 285 Pakistan 123, 150, 162, 170, 172, 186, 229–233, 246, 369 Palästina 182, 360, 369, 371 f., 382, 668, 820 Palm Jumeirah (Dubai) 145 Pan Pan 256 Panna Maria 651 Papeete 538, 540, 541, 557, 567–570, 573, 575 f., 592, 595–598, 603 f. Papeno’o 541, 603 Papua 261, 435, 436, 596 Papua-Neuguinea 483 Paradise 440, 441 Paris 43 f., 82, 109, 128, 143, 193, 336, 360, 367, 402, 412, 415, 519, 540, 561, 571, 580, 591 f., 599, 600, 764, 771, 803, 815 Parramatta 451, 464 Partaw (Barda) 98 Pas-de-Calais 766 Pasir Garam 272 Patagonien 30 Paulskirche (Frankfurt) 757 Pazifischer Ozean, Pazifik 32, 276, 318, 323, 330 f., 345 f., 355, 365, 376, 377–379, 384, 390, 507, 517, 521–523, 526, 531, 536, 542–547, 551–555, 557–561, 562, 564 f., 569, 572–575, 578–586, 588–593, 633, 648, 663, 677, 681, 728, 773, 815

883

Ortsregister

Peak District 11 Pehang 268 Peking 232 f., 237, 297, 366, 379, 428, 430, 779, 784 Penang (Prince of Wales Island) 241, 266, 277, 313, 315 f., 319, 336 Pendleton 28 Penguin 439, 440, 471 f. Pennines 22 f. Pennsylvania 652, 712, 722 Penwith 61, 79 Penzance 56, 58 Perak 265 f., 268, 270, 272, 281, 285 Perak (Fluss) 272 Perlis 268, 285 Perranzabuloe 65 Persien (s. auch Iran) 46, 49, 98 f., 101, 106–108, 118, 140, 151, 212, 220, 367, 369, 373 f., 803, 815 f. Persischer Golf 128 130, 134, 137, 151–154, 161, 162, 182, 276, 342, 366, 369, 803, 805 Perth 428, 431, 435, 837 Peru 494, 575, 581, 585, 633, 770 Petaling Jaya 288, 290 Peterhouse (Cambridge) 734–739, 745, 753 Petrograd 104 f. Petrolea 101 Philadelphia 697 Philippinen 239, 260, 261, 264, 284, 298, 333, 345 f., 364, 366, 389, 546 f., 561, 572 Phillip Bay 445, 458 Phoenixinseln 773 Phrygien 159 Phuket 236 Piddletrenthide 744 Pitcairn 537, 559, 563, 568 Pitt Water 481 Pittsburgh 618 Plaine Magnien 396 Plum Creek 649 Plymouth (England) 71 Plymouth (Massachusetts) 690, 691 Pointe aux Canonniers 416 Polen 39, 42, 47, 103 f., 109, 170, 288, 352, 382–384, 432, 441, 583, 599, 611, 616, 758, 776, 812–816, 818, 828, 830 Polynesien (polynesisch) 51, 253, 272, 487, 496 f., 501, 522, 528, 536, 538, 540, 542–544, 545, 547, 550, 555 f., 560,

884

564–566, 570, 572 f., 577 f., 580–592, 595–600, 602, 604, 837 Ponta Delgada 733 Pordenone 260 Port Arthur 438 f., 440, 453 f., 461, 472, 480, 482 Port Louis (Port-Louis) 395, 400 f., 403–405, 412 f., 415 f., 425 f. Port Phillip 446, 458 Port Sunlight 30 Port-Petrowsk (Machatschkala) 102, 108, 110 Port-Royal (Kanada) 684 f. Portland 774 Portugal (portugiesisch) 83, 251, 263, 265, 390 f., 438, 546, 565, 679, 692, 730, 733, 736 f., 740, 742 f., 750–752, 812, 818 f. Poti 83, 98 Potomac 379 Prag 47, 121, 363 Preskil 398 Preußen 404, 649, 756 f., 791, 814, 816, 821, 823 Provence 20 Puna’auia 541, 602 Punjab 188, 189, 191 f., 206, 213, 215 f., 224 f. Putrajaya 237, 241 Qız Qalası 87, 100 Qobustan (Gobustan) 83, 97 Quba 90 Québec 592, 600 Queen’s Bower 11 Queen’s College (Cambridge) 738 Queens (NYC) 695 Qutb Minar (Minarett von Qutb-ud-Din) 213 Raffles College (Singapur) 308 f. Raffles Hotel (Singapur) 296, 332, 338–340 Raiatea 541, 545 Rajasthan 186, 189, 223 Ralph’s Bay 450 Ramsbottom 22 Rangiroa 541, 545 Rangun 225, 236 Rapa Iti 542, 598 Rapa Nui siehe Osterinsel Ras al-Chaima 132, 135, 152 f., 165 Ras Sadr 160

Rashtrapati Bhavan 190 Reims 732 Reno 774 Rensselaerwyck 694 Réunion 391, 394, 399, 402, 410 f., 418, 772, 780, 782 Rhein 685, 756, 758 Rhode Island 543, 707, 739 Rhodos 545 Riad 162, 805, 807 Riau-Inseln 314 Ribble (Fluss) 25 Ribchester 25 Richmond 469, 520, 641, 657–659 Richmond Bridge 440, 480 Rio Grande 625, 627, 637, 646–648, 651, 654, 655, 657 Risdon Bay 445 River Clyde 25 River Lune 25 Rivington Pike 21 f., 27 Rockaway 666, 672, 675–677, 681, 693, 725, 732 f. Rockaway-Halbinsel 666, 732 Rocky Mountains 610 Rodrigues 394, 402, 412, 418 Rom 16, 27, 43, 79, 359–361, 548, 657, 747, 817 Roter Platz (Moskau) 40, 119 Rotes Fort / Lal Qila (AltDelhi) 191, 202, 214 Rotes Meer 374, 805 Rotterdam 685 Ruanda 123, 813 Rub al-Chali („Leeres Viertel“) 148 f., 156 Rumänien 82, 599, 816 Rurataoa 604 Russisches (Zaren-)Reich 48, 119, 831 Russland 41, 43, 49, 82, 85, 93, 95, 99, 101–105, 109–111, 119, 123, 170, 233, 342, 361, 363, 377, 479, 495, 564, 616, 776, 783, 812, 814–816, 819, 822 f., 829, 838 Ruwais 132 Saadiyat 143, 145 Saarland 543, 739 Sabah 275, 279 Sabine River 628 Sachalin 479, 555 Sachsen 49, 226, 359, 728, 756 Saigon 241, 773 Saint-Malo 64, 66 Saint-Omer 766

Ortsregister

Salomonen 546, 557, 561, 562, 572 Saltillo 639 Salzburg 817 Samarkand 52 Şamaxı 90 Samoa 32, 345, 524, 555, 561, 562 f., 572, 575 f., 583, 585–587, 813 Samos 751 San Antonio 619, 630, 632 f., 636, 639, 649, 651, 654 f., 662 San Domingo 633, 688 San Felipe (de los Brazos) 639 f., 644 San Francisco 103, 367, 377 San Francisco de los Tejas 631 San Jacinto Monument (Houston) 619 Sandy Bay 439 Sansad Bhavan 192 Sansibar 152, 374 Santa Cruz de San Sabá 630 Santiago de Chile 522, 775 Santiago de Monclova 645 São Miguel 733 Sarah Island 440, 453 Sarawak 275, 279, 284, 333 f. Sardinien 599 Sarnath 193 Saudi-Arabien 137, 147, 160 f., 171, 177, 369, 371, 381, 728, 808 Schardscha (Asch-Schariqa) 130, 132, 135, 137, 139, 141 f., 152–154, 161, 164 f., 172, 180 Scheich-Zayid-Moschee (Abu Dhabi) 144 f., 215 Schenectady 691, 693 Schlesien 651, 818 Schottland 25, 56, 65, 124, 275, 354, 456, 511, 684, 817, 819, 822 Schouten Island 470 Schwarzes Meer 82, 83, 98, 102, 350,361, 373, 429, 805, 815, 817 Schweden 48, 351, 599, 687, 697, 699, 706, 708, 712, 812 Schweiz 48, 239, 334, 350, 404, 406, 817 Scilly-Inseln 69 Scottish Borders 61 Seattle 774 Seidenstraße 82, 233 Selangor 240, 268, 285 f. Selwyn College (Cambridge) 738 Sentosa Island (Singapur) 295 Serbien 49

Severn (Fluss) 65 Sevilla 354, 373, 528 Sewastopol 42 f. Seychellen 394, 406, 408, 418 Shahjahanabad 214 Shark Bay 435, 436, 438 Shehidler Khiyabani Friedhof 92 Siam (s. auch Thailand) 49, 261, 321 Sibirien 30, 294, 376 f., 479, 588, 628, 815 Sierra Nevada 628 Sindh (Provinz) 186, 191 f., Singapore River 336 Singapur 52, 164, 236, 241, 260, 262, 266, 268, 275, 277–281, 284, 287, 290–295, 295, 296–300, 302–348, 367, 384, 389–391, 394, 415, 492, 728, 837 Singharasi 259 Sisterdale 649 Sizilien 599 Skandinavien 26, 488 Slaughterbridge 61 f. Slowakei 818 Slowenien 30 Smolensk 775 f. Snug 440, 441 Somalia 372 Sosiya 342 Souillac 395, 416, 422 South Bruni / Süd-Bruny 447 South Carolina 652, 715 Southampton 748 Sowjetunion (auch: UdSSR) 83, 96, 104, 113 f., 115–120, 203, 363, 369, 479, 758, 806, 823 Spanien 48, 74, 212, 265, 365, 558, 610, 632 f., 686, 730, 758, 812, 830 Spithead 556 Spuyten Duyvil 694, 726 Sri Digambar Jain Lal Mandir / Lal Mandir / Roter Tempel (Delhi) 191, 210 Sri Lanka (Ceylon) 244, 429, 492 Sribhoga 255 f. Srinagar 225, 800 Srivijaya, Reich von 253–260, 296 St. Helena 313, 745 St. Helens 439, 440 St. Ives 56, 66, 75 St. Just 61, 66, 80 St. Kew 66

St. Louis 240, 633 St. Petersburg 42 f., 103, 109, 376 Stadacona (heute Québec) 684 Stalingrad 30, 117 Staten Island (NYC) 706, 714 Stiller Ozean siehe Pazifik Storm Bay 438, 470 Straits Settlements 266, 267, 268, 275–277, 280, 294, 304, 315 f. Straße von Hormus 134, 161, 162, 186, 276 Straße von Malakka 255 f., 260, 262, 276, 314 f., 429 f., 780, 782 Strathclyde (Königreich) 25, 174 Südafrika 47, 415, 471, 656, 746, 826 Südamerika 49, 344, 364, 393, 516, 536, 545–547, 564, 581, 586, 589, 680, 693, 698, 743 Sudan 132, 158, 181, 239, 272 Südchinesisches Meer 241, 254, 255, 261, 267, 321, 346, 379, 778, 782 Südchinesisches Meer („Südmeer“) 241, 254, 255, 261, 267, 321, 346, 379, 435, 778, 782 Südkorea 292, 305, 346, 356 Südliches Aserbaidschan 91 Südostasien 212, 253, 262, 264, 278, 282, 313, 330, 338, 356, 364 f., 367 f., 390, 434, 583, 588, 837 Südrhodesien (s. auch Zimbabwe) 47, 69 Südsee 255, 392, 460, 539, 543, 548, 552, 560, 566, 568 f., 574 f., 578 f., 590, 597, 600 Sueskanal 316, 324, 687 Sugar Land 657 Sulawesi 260, 263, 335, 434, 435, 561, 707 Sumatra 243, 251, 253, 255, 258–260, 262, 265, 275 f., 313–315, 323, 325–327, 364, 389, 394, 404, 425, 778, 780 Sumay 346 Sumgait 118 f. Summerhill Creek 466 Sungei Buloh (Singapur) 335 Surinam 164, 366 Sussex 39, 332 Sutherland 25, 325, 517 Swaanendael 690, 692 f.

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Ortsregister

Swaminarayan Akshardham 208 Swansea 439, 440 Sydney 266, 390, 461, 464, 469, 477, 482, 484, 486, 508, 509, 523, 837 Sydney Bay 555 Syrien 42, 47, 123, 138, 369–373, 804 Tabasco 637, 647 Täbris 83, 91, 101, 117 Taghiyev-Villa 92 Tahaa 541, 545 Tahiti 52, 484, 496, 537 f., 539, 540, 541, 542 f., 545, 548, 555 f., 560, 563, 566–574, 576–578, 580, 582, 585, 587, 590–596, 598, 600–605, 788 Tahiti Iti 541, 603 Taiapuru 549 Taipei 241 Taiwan 239, 241, 253, 292, 297, 346 f., 356, 584, 587, 589, 603 Tamar (Fluss) 69 Tamar Valley 478 Tanger 365 Tansania 813 Tappan Zee 676 Tarain 213 Tasman-Halbinsel 440, 453 Tasmanien 23, 52, 439, 440, 441, 443–448, 450, 452, 454, 459, 465–470, 473, 475, 478–484, 494, 497, 506, 558, 562, 728, 816, 837 Tbilissi / Tiflis 83, 91, 102, 105 f. Teheran 102, 128, 162, 219, 805 Teluk Anson 274 Temasek (Singapur) 260, 262, 266, 306 Teneriffa 765 Tennessee 609, 634 f., 643, 652, 661 Teotihuacan 367 Terengganu 268, 285 Terra Australis (s. auch Australien) 388, 390, 436, 546–548, 552 f., 558 Territorio de Nuevo México 636, 648 Texas 608–611, 613, 616, 618, 620–625, 628, 633–635, 637 f., 640, 645 f., 647, 648–651, 652, 653 f., 655, 656–659, 661, 664, 666, 712, 728, 779 Thailand (s. auch Siam) 49, 196, 236, 253, 256, 258, 261, 263,

886

285, 287, 292, 298, 322, 428 f., 779 Thane 221 Themse 824 Thermopylen 13 Thorn (Toruń) 751 Tibet 44, 68, 211 f., 215, 232, 258, 339, 495 Tigris 375, 816 Timor 259, 261, 389, 412, 435, 548, 557, 562, 587 Tirol 30 Titicacasee 585 Tobago 813 Togo 813 Tokapia 560 Tokelau 561, 572 Tokio 329, 332 f. Tonga 524, 557, 561, 562, 572, 585, 587 Toskana 824 Totouskak (Tadoussac) 684 Trabzon 105 Trans-Adria-Pipeline 91 Transjordanien 369, 372, 804 Transkaukasus 101, 103 Transvaal 45 Trinity Bay 619, 639 f., 646, 653 Trinity River 628 Trobriand-Inseln 583 Trou aux Cerfs 416 Trou du Souffleur („Blasloch“, Tahiti) 603 Trowulan 260 Trucial States 153, 182, 369 Trucial States („Vertragsoman“) 152 Truro 56 f., 58 Tschechien 83 Tschechoslowakei 38, 47, 758 Tsingtau 813 Tsushima 322 Tuamotu-Archipel 541–543, 563, 571, 599 Tullamore 764 Tunb-Inseln 161 Tunesien 371 Tupungato 775 Türkei 39, 91, 110, 113, 123, 196, 342, 805 Turkmantschai 101 Turkmenistan 85 f., 305 Tusculum 649 Tuvalu 561, 562, 572 Ukraine 41, 104, 109, 114, 237, 351, 368 f., 812, 815, 818 Ulster (Nordirland) 814 f.

Umm al-Qaiwain 135, 152, 165 Ungarn 82, 96, 229, 351, 746 f., 814, 831 Upolu 32 Ural (Fluss) 82 Ural (Gebirge) 82, 376 f., 815 Uruguay 46, 633 USA s. Vereinigte Staaten (von Amerika) Utøya 272 Utrecht 399, 687 Uttar Pradesh 189, 206 Vacoas 395, 403 Van-Diemens-Land 23, 438, 445 f., 448, 450, 452 f., 455 f., 457, 461, 465, 469, 480, 494, 505, 558, 816 Vancouver 77, 522 Vancouver Island 557 Vanikoro 557, 560 Vannes 59 Vanuatu 561, 562 Vatikan (auch „Vatikanstadt“) 31, 47, 365, 367, 825 Velasco 639, 646 Venedig 15, 263, 317, 366 Venezuela (venezolanisch) 49, 389, 633, 746 Vereinigte Arabische Emirate (VAE) 128, 130, 132, 134–135, 138, 142–146, 150–152, 154 f., 160–182, 162, 308 Vereinigte Arabische Republik 370 Vereinigte Staaten (von Amerika), USA 49, 52, 108, 113, 121, 123, 162, 164, 177, 229, 233, 236, 249, 272, 287, 306–308, 330 f., 334, 338, 345 f., 354, 367, 377, 379, 383 f., 404, 408, 486, 513, 565, 572, 592, 608, 610 f., 612, 620, 632 f., 635–637, 639–642, 645-647, 650 f., 656, 661, 666–670, 715, 724, 734, 774, 779, 783, 808 f., 814  f., 823, 837 Verona 15 Verrazano Narrows 667, 725 Victoria 466, 477 f. Vietnam 69, 239, 256, 261, 263, 292, 345, 356, 418, 430 Viktoriasee 82 Vila Real 751 Virginia (USA) 378, 609, 635, 652, 671, 687 f., 697, 707 f., 709, 744, 815 Vogelkop-Halbinsel 586

Ortsregister

Wake-Atoll 561 Wales 25, 56, 60, 63, 65, 77, 359, 456, 476, 496, 817, 821 Wall Street (NYC) 710, 715 Wallis und Futuna 561 Warmbaths 472 Warschau 43, 362, 366, 775 Washington 233, 379, 635, 650, 652 Washington (Texas), auch: Washington-on-the-Brazos 639, 641, 644, 647, 654 Waterloo (heute Austin, TX) 647 Weihnachtsinsel 275, 333, 563 Weißrussland 95, 812 Wellesley-Provinz 266 West Bank 372 West Country 56 West Virginia 634, 652 Westeuropa 74, 76, 351, 359, 382, 823

Westsahara 371 Wexford (County) 461 Wheeler Island (Abdul-KalamInsel) 232 Wien 39, 382 Wilmington (Delaware) 697 Wimereux 764 Windsor 737 Winter Hill 22, 24, 31 Wisconsin 652, 712 Wladiwostok 376 Wolfson College (Oxford) 588 Wolga 82, 110, 815 World Trade Center (NYC) 668, 727 f. Württemberg (Kgr) 49 Wyckoff 676 Xankändi /  Vararakn / Stepanakert 83, 114, 119

Yamuna Fluss 191, 192, 203, 208, 214 Yarra (Fluss) 458 Yas 143 Yokohama 663 York 26, 705 f., 724 Yorkshire 22, 25, 27, 125, 313, 706 Yucatán 610, 637,644, 647 Yunnan 253 Zaghawa 373 Zaqatala 109 Zarizyn (Wolgograd) 106, 110 Zentralasien 43, 52, 68, 74, 99, 104, 212, 363–365, 815 Zimbabwe (s. auch Süd­ rhodesien) 69 Zypern 360, 805

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Abbildungsverzeichnis Alle Karten: Peter Palm, Berlin Akg-images: S. 55, 81, 387 (akg / Erich Meyer); Alamy / Julian Peters: S. 433; 535 (Alamy / iPics Photography), 607 (Alamy / Rosa Betancourt), 665 (Alamy / Tom Zuk), 755 (Alamy / Marshall Iconography), 797 (Alamy / Granger Archive); Buena Vista Images / Getty: S. 127; De Agostini Picture Library / C. Novara / Bridgeman: S. 729; Planet Observer / UIG / Bridgeman: S. 293; Wbg Archiv: S. 349; wikimedia commons: S. 185 Tafeln: 1: Martin Kraft / Städelsche Kunstinstitut / Wikimedia Commons; 2: De Agostini / A. Dagli Orti / Bridgeman; 3: Bayerische Staatsbibliothek / DeAgostini / Bridgeman; 4: Kevin Britland / Alamy; 5: F. O. Morris / Wikimedia Commons; 6: Royal Cornwall Museum / Bridgeman; 7: akg / Ullstein; 8: Wellcome Library; 9: Johann Baptist Homann / Wikimedia Commons; 10: Steven Liveoak / Alamy; 11: akg / Universal / Tass; 12: akg; 13: © Imperial War Museum; 14: Pitt Rivers Museum / Bridgeman; 15: Pitt Rivers Museum / Bridgeman; 16: Norman Davies; 17: Norman Davies; 18: Maggie Steber / National Geographic / Bridgeman; 19: LOOK Die Bildagentur der Fotografen GmbH / Alamy; 20: David Henley / Bridgeman; 21: Gerard Degeorge / akg; 22: Arian Zwegers / Wikimedia Commons; 23: IAM / akg; 24: J. T. Vintage / Bridgeman; 25: Wikimedia Commons; 26: Norman Davies; 27: Pictures from History / akg; 28: NPG 4837, National Portrait Gallery / Stefano Baldini / Bridgeman; 29: Norman Davies; 30: akg; 31: Pictures from History / akg; 32: AGIP / Bridgeman; 33: Uwe Aranas / Wiki Commons; 34: PVDE / Bridgeman; 35: Merlion444 / Wikimedia Commons; 36: NPG 84, National Portrait

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