Informationelle Kompetenz: Ein humanistischer Entwurf 9783110620221, 9783110617382

Discussions about data networks and information technology often stress the need for competency among users. This monogr

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German Pages 302 Year 2019

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
1. Informationstechnik und Menschenbild
2. Bausteine kognitiver Informations- und Wissensverarbeitung
3. Externalisierung und Rezeption von Information
4. Elemente Informationeller Kompetenz
5. Informationelle Kompetenz in Aktion
6. Informationelle Kompetenz: Gelebte Informationelle Autonomie
7. Gefahren für die Informationelle Autonomie
8. Schluss
Glossar
Literaturverzeichnis
Sach- und Personenregister
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Informationelle Kompetenz: Ein humanistischer Entwurf
 9783110620221, 9783110617382

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Winfried Gödert, Klaus Lepsky Informationelle Kompetenz

Winfried Gödert, Klaus Lepsky

Informationelle Kompetenz Ein humanistischer Entwurf

ISBN 978-3-11-061738-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-062022-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-061744-3 Library of Congress Control Number: 2019946499 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck Einbandabbildung: miakievy/DigitalVision Vectors/gettyimages.com www.degruyter.com

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Für Gilda und Kristina

Vorwort Informationskompetenz hat sich zu einem vielfältig verwendeten und deshalb zunehmend verwaschenen Begriff entwickelt. Die seit Jahren geführte Diskussion um Begleiterscheinungen der Digitalisierung und der Informationstechnik – oder gleich des ,Internet-Zeitalters‘ – ist voller Aussagen über kompetentes Handeln, ohne dessen Voraussetzungen oder Bedingungen zu hinterfragen. Wir denken, dass der Begriff Informationskompetenz als Kriterienkatalog zur Handhabung von Informationssystemen zu kurz greift und die dringend notwendige Auseinandersetzung mit den individuellen und gesellschaftlichen Konsequenzen des ,Internet-Zeitalters‘ erschwert. Wir bevorzugen daher ein Konzept, das wir Informationelle Kompetenz nennen. Dieses Konzept begründen wir mit einer Vorstellung vom Menschen als einem handelnden Subjekt, mehr noch, einem autonom handelnden Subjekt. Autonomes Handeln basiert auf informationellen Prozessen, die als kognitive Vorgänge im Menschen selbst und durch seine Beziehungen innerhalb der Welt – zu anderen Kommunikationspartnern, aber auch zu externen Informationsquellen – beschrieben werden können. Wir betrachten Informationelle Kompetenz als gelebte Informationelle Autonomie und entwickeln aus dieser Sichtweise Konsequenzen für ein zukünftiges Bild vom Menschen in einer von Informationstechnologie dominierten Welt. Wichtige Voraussetzung für autonomes informationelles Handeln sind zentrale kognitive Fähigkeiten wie Abstrahieren, Analogien bilden, Plausibilitäten beachten, Schlussfolgern können und kreativ sein. Wir werden erklären, wie der Mensch, ausgehend von den physiologischen Prozessen der Sinneswahrnehmung, in der Lage ist, abstrakte Konzepte wie Primzahlen, Quarks, DNA, Geld oder Gerechtigkeit zu entwickeln, darüber Gedanken anzustellen und deren Ergebnisse zu kommunizieren, niederzuschreiben und auch wieder zu rezipieren; und dies in globalen Maßstäben und über lange Zeiträume. Für diese Erklärung müssen mehrere wissenschaftliche Gebiete berührt werden, in erster Linie die Kognitionswissenschaften, die Informatik und die Philosophie. Wir sind auf diesen Gebieten keine Experten. Jedoch ergibt sich ohne das Zusammentragen von Ergebnissen aus allen diesen Bereichen (mit ihren jeweils verschiedenen methodischen Ansätzen und Herangehensweisen) kein vollständiges Bild. Dabei werden auch Begriffe eingebracht und benutzt, die in diesen Disziplinen unterschiedlich verstanden werden und nicht immer zur Deckung gebracht werden können. Wir haben uns darum bemüht, ein eigenes Verständnis für diese Begriffe möglichst konsistent zu benutzen. In einem Glossar im Anhang des Buches sind einige besonders wichtige Begriffe zusammengestellt. https://doi.org/10.1515/9783110620221-201

VIII | Vorwort Es wird zudem nicht möglich sein, jede Einzelfrage mit dem Tiefgang zu behandeln, wie es im Rahmen einer Einzeldisziplin erwartet würde. Ebenso können nicht immer Originalquellen als Belege angeführt werden. Als Ersatz werden in diesen Fällen Sekundärquellen mit all ihren Problemen benutzt. Für die daraus resultierenden Schwächen unserer Darstellung können wir nur um Nachsicht bitten. Die Wichtigkeit des behandelten Themas gebietet es aus unserer Sicht jedoch, die Darstellung so breit anzulegen und dafür gegebenenfalls Unzulänglichkeiten in Kauf zu nehmen. Vermutlich werden wir mit dieser Herangehensweise alle enttäuschen, die sich einfache Antworten auf Fragen zur Informationskompetenz oder gar Handlungsanweisungen für deren Erwerb oder ihre Vermittlung versprechen. Dennoch sind wir der festen Überzeugung, dass vor einer instrumentalisierten Diskussion um Informationskompetenz eine vertiefende Betrachtung der Zusammenhänge stehen muss. Hierfür wollen wir die essenziellen Fragen stellen und darauf Antworten geben, die für das menschliche Individuum Hinweise zur Gestaltung freier sozialer Gemeinschaften unter Wahrung Informationeller Autonomie bieten. In den Jahren der langen Entstehungsgeschichte des Buches sind die hier behandelten Themen immer mehr in den Fokus der öffentlichen Debatte gelangt. Dabei ist die Diskrepanz zwischen der medialen Aufgeregtheit und der Seriosität, mit der beispielsweise das Thema ,Künstliche Intelligenz‘ behandelt wird, augenfällig. Wir können nur hoffen, dass die große Aufmerksamkeit für alle von der Informationstechnologie getriebenen Entwicklungen in den sich rasch verändernden Gesellschaften gleichzeitig zu einem gesteigerten Interesse an der Rolle des Menschen in diesem Prozess führt. Im Gegensatz zur aktuellen Schieflage der Debatte und der sich ausbreitenden Technikgläubigkeit versucht dieses Buch deshalb, Konsequenzen für ein informationell selbstbestimmtes Verhalten in einer Zivilgesellschaft aufzuzeigen, die der Fortentwicklung humanistischer Werte verpflichtet ist. Erfweiler und Kronberg, Juni 2019

Das wagst du, schlägst die Augen auf und schaust dich um? Doch, du bist hier, hier in dieser Welt, du träumst nicht, sie ist so wie du sie siehst, die Dinge hier sind so. So? Ja, grad so, nicht anders. Wie lang hast du geschlafen?

Olav H. Hauge¹

1 Dichter und Obstbauer in Norwegen (1908–1994); zitiert nach Greiner: Frankfurter Anthologie.

Inhalt Vorwort | VII Abbildungsverzeichnis | XIII Tabellenverzeichnis | XIV 1 1.1 1.2 1.3 1.4

Informationstechnik und Menschenbild | 1 Informationelle Autonomie in Gefahr | 1 Rationalität und Kognition | 9 Intelligenz und Künstliche Intelligenz | 16 Informationelle Autonomie und Freiheitsbild | 25

2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8

Bausteine kognitiver Informations- und Wissensverarbeitung | 29 Dimensionen von Information | 29 Wahrnehmung und Wirklichkeitskonstruktion | 35 Wissen und Wissensmodelle | 43 Referenzbereiche des Wissens | 54 Wissenskomponenten und Wissensformen | 57 Autonomie und Informationelle Autonomie | 73 Informationelle Autonomie und Bewusstsein | 75 Informationelle Kompetenz | 79

3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5

Externalisierung und Rezeption von Information | 85 Konstruktivistisches Modell der Kommunikation | 85 Kommunikation und Feedback | 88 Wissensformen bei der Rezeption externalisierter Information | 93 Theoriebindung der Wissenselemente | 96 Wissensrepräsentation in der Künstlichen Intelligenz | 99

4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7

Elemente Informationeller Kompetenz | 107 Kontextualisieren | 108 Abstrahieren, Spezifizieren und Instantiieren | 110 Hierarchie, Assoziation, Facetten, Semantisches Umfeld | 116 Intuition, Heuristiken, Hypothesen, Kreativität | 118 Analogiebildung und Plausibilität | 122 Schlussfolgern | 125 Strukturieren und Ordnen | 128

XII | Inhalt 5 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6 5.7 5.8 5.9 5.10

Informationelle Kompetenz in Aktion | 131 Abstrahieren und plausibles Schlussfolgern | 131 Suchen und Finden | 135 Medialisierung des Wissens | 141 Erstellen oder Konfigurieren von Informationssystemen | 156 Daten und Kontext | 161 Fragmentierung des Wissens | 166 Entlinearisierung und Fragmentierung: Hypertext | 170 Veränderung des Wissensverständnisses | 174 Bewerten, Entscheiden und Handeln | 176 Algorithmen zur Handlungssteuerung | 180

6 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 6.7

Informationelle Kompetenz: Gelebte Informationelle Autonomie | 185 Informationskompetenz versus Informationelle Kompetenz | 185 Informationelle Selbstbestimmung oder Abhängigkeit | 191 Informationelle Entmündigung | 197 Informationelle Autonomie und Selbstwertgefühl | 199 Informationelle Autonomie, Autorität und Transzendierung | 208 Digitale Erinnerungs- und Vergessenskultur | 214 Informationelle Ambivalenz und Vernunft | 217

7 7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 7.6 7.7 7.8

Gefahren für die Informationelle Autonomie | 219 Analoge versus Digitale Information | 220 Informationsflut | 222 Entscheidungsfindung und Informationelle Überforderung | 224 Soziale Netze und Informationelle Selbstbestimmung | 226 Bedatete und vermessene Menschen | 231 Grenzen Informationeller Autonomie | 235 Informationelle Abhängigkeit als Preis der Rationalität | 243 Unbelebte autonome Systeme | 247

8

Schluss | 253

Glossar | 259 Literaturverzeichnis | 261 Sach- und Personenregister | 281

Abbildungsverzeichnis Abb. 1.1 Abb. 1.2 Abb. 1.3

Wissensaneignung. | 10 Kognition – Intelligenz – Künstliche Intelligenz. | 17 Kompetenz – Gesellschaftsmodelle. | 28

Abb. 2.1 Abb. 2.2 Abb. 2.3 Abb. 2.4 Abb. 2.5 Abb. 2.6 Abb. 2.7 Abb. 2.8

Weg vom Bahnhof zum Theater. | 31 Kanisza-Viereck. | 36 Ich – Realität – Wirklichkeit. | 41 Verbindung der Bewusstseins-Philosophie mit der Drei-Welten-Theorie. | 53 Referenzbereiche des Wissens. | 55 Begriffsdreieck. | 57 Objekt – Bedeutung – Sprache. | 59 Wissenserwerb – Einbau eines Wissenselements (1). | 64

Abb. 3.1 Abb. 3.2 Abb. 3.3 Abb. 3.4 Abb. 3.5

Kommunikative Rückkopplung. | 87 Übertragung gegenstandsbezogener Konzepte. | 88 Übertragung abstrakter Konzepte. | 89 Legespiel. | 92 Wissenserwerb – Einbau eines Wissenselements (2). | 94

Abb. 4.1 Abb. 4.2

Grafische Integrität (1). | 124 Grafische Integrität (2). | 125

Abb. 5.1 Abb. 5.2 Abb. 5.3 Abb. 5.4

Wissenserwerb aus einem Informationssystem. | 144 Wegweiser Erfweiler. | 161 Hahnfels-Tour. | 162 Wurfparabel. | 180

Abb. 6.1 Abb. 6.2 Abb. 6.3 Abb. 6.4

Abhängigkeitsformen individueller Autonomiezustände. | 202 Ich – Autorität – Transzendierung. | 210 Ich – Selbstwertgefühl. | 213 Ich – Autonomie – Totalitarismus. | 214

https://doi.org/10.1515/9783110620221-202

Tabellenverzeichnis Tab. 3.1 Tab. 3.2 Tab. 3.3 Tab. 3.4 Tab. 3.5

Signalwahrnehmung – Reizwahrnehmung. | 104 Selbst induzierte Informationsverarbeitung. | 104 Kommunikation. | 105 Externalisierung. | 105 Rezeption. | 106

Tab. 4.1 Tab. 4.2 Tab. 4.3

Kognitive Operatoren und kognitive Voraussetzungen Informationeller Kompetenz. | 108 Spezifizierung – Instantiierung. | 111 Hausmüllmenge pro Kopf 1996–2000. | 124

Tab. 5.1

Arbeitsaufwand für das Erstellen eines Informationssystems. | 157

https://doi.org/10.1515/9783110620221-203

1 Informationstechnik und Menschenbild If a machine is expected to be infallible, it cannot also be intelligent. Alan M. Turing²

1.1 Informationelle Autonomie in Gefahr Seit mehreren Jahrzehnten werden wir regelmäßig mit Charakterisierungen für die Gesellschaftsform eines neuen Zeitalters konfrontiert, das als Ergebnis von Innovationen in der Informationstechnik vermeintlich angebrochen ist. Typische Etikettierungen dafür sind Informationsgesellschaft, Wissensgesellschaft oder sogar die Google-Gesellschaft. Ein Telekommunikationskonzern bringt es so auf den Punkt: Wir treiben die Entwicklung zur Gigabit-Gesellschaft voran. Weil wir glauben, dass die Digitalisierung unser Leben positiv verändern wird.³

Jede dieser angeblich neuen Gesellschaftsformen enthält auch Verheißungen für den Menschen. Fortschritte im Bildungsbereich, im Arbeitsleben und für die Freizeit werden prognostiziert. Ein dabei immer mit gedachter Trend zum ,schlauer werden‘ wird nur zu gern billigend in Kauf genommen. Bevor jedoch recht klar wird, welche konkreten Konsequenzen sich für den einzelnen Menschen ergeben werden – Anmutungen und Anforderungen erschließen sich eher indirekt –, wird das eine Modell schon durch das nächste abgelöst. Ein halbwegs stabiles Bild vom mündigen Menschen in der informationstechnisch geprägten Zivilgesellschaft hat sich trotz breit gefächerter Diskussionen nicht entwickelt. Die Vorstellungen von der zukünftigen Entwicklung des Menschen wechseln wie Modeerscheinungen. Gemeinsam ist den Modellen bislang noch die Fokussierung auf den Menschen als Individuum und damit die Überzeugung, dass die Strukturen der Gesellschaft durch handelnde Subjekte gestaltet werden. Die Veränderungen sollen Erleichterungen und Verbesserungen bringen, neue Menschenbilder positive Einflüsse haben. Das könnte sich jedoch ändern. Das nächste Zeitalter könnte mit grundsätzlichen Umkehrungen traditioneller Vorstellungen verbunden sein, denn Modeströmungen (Pseudo-Philosophien?) wie Dataismus oder Transhumanismus betrach2 Turing: Lecture to the London Mathematical Society on 20 February 1947, S. 124. 3 Aus einer Werbemail des Telekommunikationsanbieters Vodafone vom 24.10.2017. https://doi.org/10.1515/9783110620221-001

2 | 1 Informationstechnik und Menschenbild ten den Menschen eher als funktionalisiertes Objekt denn als gestaltendes Subjekt. Seine Legitimation erhält der Mensch hier nur noch aus seinen Beiträgen für den Datenstrom des universellen Netzwerks und deren Auswertung zur Ableitung von Verhaltensregeln. Erstaunlich ist dabei nicht, dass solche Ideen entwickelt und verbreitet werden, erstaunlich ist eher die Resonanz, die diese als gleichsam unausweichliche Folge eines informationstechnischen Geschehens wertet. In dem als Kultbuch eines neuen Zeitalters angepriesenen Buch Homo Deus entwirft Yuval Noah Harari die wenig freundliche Zukunftsvision unter den Bedingungen der Datenreligion: Der Dataismus ist weder liberal noch humanistisch. Er ist deshalb freilich keineswegs antihumanistisch. Er hat nichts gegen menschliche Erfahrungen. Er glaubt nur nicht, dass sie für sich genommen einen Wert haben.⁴ Dem Dataismus zufolge besteht das Universum aus Datenströmen, und der Wert jedes Phänomens oder jedes Wesens bemisst sich nach seinem bzw. ihrem Beitrag zur Datenverarbeitung.⁵ Der Dataismus ist die erste Bewegung seit 1789, die einen wirklichen neuen Wert geschaffen hat: die Freiheit der Information. Diese Informationsfreiheit dürfen wir nicht mit dem alten liberalen Ideal der Meinungsfreiheit verwechseln. Meinungsfreiheit wurde den Menschen gewährt und schützte ihr Recht, zu denken und zu sagen, was sie wollten – dazu gehörte auch das Recht, nichts zu sagen und seine Gedanken für sich zu behalten. Informationsfreiheit dagegen wird nicht Menschen gewährt, sondern der Information.⁶

Unabhängig davon, wie viel Bedeutung oder realistische Zukunftsprognose man diesen Ansichten beimisst, eine Auseinandersetzung damit scheint geboten. In der Bewertung sind sich Für- und Widersprecher grundsätzlich uneinig. Die Polarisierung ist dabei angesichts der wenig greifbaren Substanz der Vision sehr ausgeprägt. Die Fürsprecher sehen in ihr den endgültigen Sieg der Demokratie. Da im Datenstrom alles und jeder transparent wird, wird angeblich allen Übeln unserer Zeit die Geschäftsgrundlage entzogen. Die Vision wird zur Heilsbotschaft. Die Widersprecher sehen mit solchen Vorstellungen eher den Beginn eines neuen Totalitarismus beschrieben, in dem es keine Freiheitsrechte eines handelnden Subjekts mehr gibt, sondern nur funktionalisierende Unterwerfung unter Massengeschmack und intransparente Algorithmen.⁷

4 5 6 7

Harari: Homo Deus, S. 524. Harari: Homo Deus, S. 497. Harari: Homo Deus, S. 517. Vgl.: Pauen/Welzer: Autonomie.

1.1 Informationelle Autonomie in Gefahr

| 3

In seinem Buch Leben 3.0 beschäftigt sich Max Tegmark mit künftigen Lebensbedingungen unter den Einflüssen der Künstlichen Intelligenz. Er glaubt, dass Künstliche Intelligenz in der Lage ist (oder sein wird), Entscheidungen auf rationaler Basis unter Beachtung moralischer Bewertungen vorzunehmen. Damit gäbe es für den Menschen zum ersten Mal eine Konkurrenz auf einem Gebiet, für das er bislang das Monopol beanspruchte. Für diese Welt unter den Bedingungen der Künstlichen Intelligenz entwirft Tegmark verschiedene Szenarien: Eroberer: Künstliche Intelligenz übernimmt die Macht und entledigt sich der Menschheit mit Methoden, die wir noch nicht einmal verstehen. Der versklavte Gott: Die Menschen bemächtigen sich einer superintelligenten künstlichen Intelligenz und nutzen sie, um Hochtechnologien herzustellen. Umkehr: Der technologische Fortschritt wird radikal unterbunden und wir kehren zu einer prätechnologischen Gesellschaft im Stil der Amish zurück. Selbstzerstörung: Superintelligenz wird nicht erreicht, weil sich die Menschheit vorher nuklear oder anders selbst vernichtet. Egalitäres Utopia: Es gibt weder Superintelligenz noch Besitz, Menschen und kybernetische Organismen existieren friedlich nebeneinander.⁸

Bei Tegmark fehlt ein Szenario, in dem eine Gruppe von Menschen den Verlockungen erliegt und sich aus Bequemlichkeit in eine selbst erzeugte Informationelle Abhängigkeit begibt und eine andere Gruppe dieses Verhalten im Rahmen totalitärer Strukturen zu ihrem Nutzen funktionalisiert. Dieses Szenario einer neuen Elitenbildung wird von Harari berücksichtigt: Die dritte Bedrohung für den Liberalismus besteht darin, dass einige Menschen sowohl unentbehrlich als auch unentschlüsselbar bleiben, aber sie werden eine kleine und privilegierte Elite optimierter Menschen bilden. Diese Übermenschen werden über unerhörte Fähigkeiten und beispiellose Kreativität verfügen, was sie in die Lage versetzen wird, viele der wichtigsten Entscheidungen auf der Welt zu treffen. […] Die meisten Menschen jedoch werden eine

8 Tegmark: Leben 3.0, Text zitiert nach Umschlagseite 1; vgl. für die vollständige Liste der Szenarien: S. 243–244.

4 | 1 Informationstechnik und Menschenbild solche ,Aufwertung‘ nicht erleben und folglich zu einer niederen Kaste werden, die von den Computeralgorithmen ebenso beherrscht wird wie von den neuen Übermenschen.⁹

Auch wenn man die Ansichten von Harari und Tegmark nicht teilt, sie möglicherweise sogar für überspannte Gedanken Technologie getriebener Fantasten hält, muss man doch zur Kenntnis nehmen, dass es viele solcher und ähnlicher Darstellungen gibt. Prognosen über die zu erwartenden Veränderungen durch die Informationstechnologie haben Konjunktur. Dabei kommt es häufig zu einer Art von gedanklichem Kurzschluss zwischen vier Konzepten: Information – Informationstechnik – Fortschritt – Zukunft

Das erinnert fatal an den Streit der zwei Wissenschaftskulturen bei C. P. Snow – die Naturwissenschaften auf der einen, die Literatur- und Geisteswissenschaften auf der anderen Seite –, dessen Essay Die zwei Kulturen in dem berühmt gewordenen Satz kulminiert: „Die Naturwissenschaftler haben die Zukunft im Blut.“¹⁰ Die Gestaltung der Zukunft erfordert Ideen. Solche Ideen wurden zur Entstehungszeit des Essays (basierend auf einem Vortrag von 1959) durch die Naturwissenschaften stärker eingebracht als durch andere Disziplinen. Das kann sich wieder ändern. Entscheidend ist, ob und welche Ideen zur Lösung von Zukunftsproblemen vorhanden sind. Damit diese entwickelt werden können, darf die Fähigkeit nicht verloren gehen, zwischen zu lösenden Zukunftsproblemen und weniger wichtigen Problemstellungen zu unterscheiden. Heute scheint allein die Erwähnung eines bildungsbezogenen Informationsverständnisses schon auszureichen, um als Bewahrer oder Bedenkenträger und nicht als Fortschrittsgestalter gesehen zu werden. Wer möchte sich schon in der Rolle einer Zukunftsbremse sehen, wenn doch nahezu überall die Begriffe Zukunft und Informationstechnik gleichsam synonym verwendet werden? Dann orientiert man sein Verständnis doch lieber an einem Konzept, das man vielleicht gar nicht versteht, das einem aber die Teilhabe an der Zukunft verspricht. Vor allem in einer Zeit, in der sich Zukunft mehr und mehr über den Faktor Renditeerwartung definiert. Da Informationstechnologie durch den Einsatz Computer basierter Vorgehensweisen ermöglicht wird, kommt diesem Werkzeug eine fast mythische Bedeutung zu. Die Computermetapher wird zum Ausdruck von IT-Gläubigkeit. Ist dies ausreichend für die Gestaltung der Zukunft? Eher nicht. Betrachtet man Zukunftsgestaltung als menschliche Aufgabe, so ist es kaum angebracht, die kognitiven

9 Harari: Homo Deus, S. 467; ähnlich auch: S. 472–473, 476–477, 490. 10 Kreuzer (Hrsg.): Die zwei Kulturen, S. 16.

1.1 Informationelle Autonomie in Gefahr

| 5

Informationsprozesse als Bedingungen des Denkens und Handelns einem Leitbild technischer Informationsverarbeitung zu unterwerfen. Vielfach wird ein Vokabular verwendet, das die Position des Menschlichen entweder als bedrohlich oder verheißungsvoll relativiert. Es ist dabei etwa die Rede von der Mensch-Maschine-Konvergenz, vom Gefühlscomputing als Befreiungstechnologie oder von einem ,affective computing‘ ohne Empathie.¹¹ In der Regel wird zum Ausdruck gebracht, dass der Mensch durch die fortschreitende Entwicklung der Informationstechnologie sein vormaliges Alleinstellungsmerkmal zum Erbringen höherwertiger kognitiver Leistungen verlieren wird oder bereits verloren hat. Das Spektrum der dabei berücksichtigten Leistungen beschränkt sich nicht mehr nur auf die rationale Intelligenz, sondern umfasst inzwischen auch die Gefühlsebene und das Bewusstsein bis hin zur Seele. Es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, bis das derzeit für den Menschen noch respektierte Alleinstellungsmerkmal der Einheit von Rationalität, Gefühl und Bewusstsein vollständig aufgegeben und durch die einzelnen Bestandteile ersetzt oder als Merkmal auch Maschinen zugeschrieben wird. Besonders bedenklich ist es, wenn die maschinellen Beschreibungsmerkmale als Computermetapher verwendet und zur Charakterisierung menschlicher kognitiver Leistungsfähigkeit genutzt werden. Insbesondere im Kontext des KIGedankens einer Nachbildung der Funktionen des menschlichen Gehirns werden kognitive Vorgänge auf der Basis eines Modells mit funktionaler Trennung in Hardund Software beschrieben.¹² Diese Vorstellung wird durch die aktuelle Hirnforschung nicht gestützt. Thomas Metzinger hält fest: Die Computermetapher des menschlichen Geistes ist tot. Die Idee, dass Geist und Gehirn sich wie Software und Hardware zueinander verhalten und als zwei Ebenen klar voneinander getrennt werden können, vertritt in der Kognitionswissenschaft niemand mehr.¹³

Katrin Amunts (Hirnforscherin und Chair of the Science and Infrastructure Board of the Human Brain Project) sagt zur gleichen Frage in einem Interview vom 18.02.2017: Welty: Der Vergleich drängt sich ja auf: Gehirn und Computer, das sind die Hardware, aber was genau macht die Software des Menschen aus? Ist das so etwas wie Intelligenz, Geist, Bewusstsein?

11 Vgl. etwa: Benedikter: Digitalisierung der Gefühle? 12 Vgl. für ein aktuelles Beispiel: Thielicke/Helmstaedter: Ein völlig neues Kapitel der Künstlichen Intelligenz. 13 Metzinger: Ist das Gehirn mit einem Computer oder einer Festplatte zu vergleichen?

6 | 1 Informationstechnik und Menschenbild Amunts: Also diese Vergleiche zwischen dem Computer und dem Gehirn, die scheinen natürlich erst mal ganz toll und sehr naheliegend zu sein, aber das sind schon zwei völlig unterschiedliche Dinge. Ein Computer ist dafür gemacht, dass er etwas berechnet, basierend eben auf mathematischen Modellen, basierend auf bestimmten Algorithmen. Das Gehirn, das ist ein Teil von uns, von uns Menschen, und wir sind ja nicht nur das Gehirn. Wir haben ja noch eine gewisse Peripherie: Wir haben Arme, Beine, Organe – all das macht uns ja als Persönlichkeit aus, und das Organ Gehirn ist darin eingebettet und hat sich über eine ganz lange Evolution entwickelt mit ganz vielen vielleicht auch Irrwegen, nicht immer geradeaus, und das ist also etwas, was keine Maschine ist, die da ist, sondern die sich eben entwickelt hat. Es ist schon ziemlich kompliziert, wenn wir allein formulieren wollen, was denn uns mit unseren kognitiven oder emotionalen Fähigkeiten, was uns wirklich ausmacht, und das finden wir in einem Computer im Moment noch gar nicht realisiert.¹⁴

Die Betrachtung der Rolle, die Gefühle und Empfindungen für die Grundlagen von Denken und Bewusstsein spielen, liefert eine weitere Begründung dafür, dass die Analogien Hardware–Gehirn und Software–Geist unzutreffend sind. Die folgenden Fragen lassen sich unter der Annahme einer Trennung von Hard- und Software wenig sinnvoll stellen: Wie fühlt es sich an, ein Bier zu trinken? Wie fühlt es sich an, Olympiasieger zu sein? Wie fühlt es sich an, einen mathematischen Satz zu beweisen? Welche Empfindung löst blau aus? Welchen Geschmack hat blau? Welchen Geruch hat grün? Welches Gefühl verbindet sich mit nass?

Gleiches gilt für Einschätzungen, Überzeugungen, Vorlieben und Wünsche; allgemein für das gesamte Spektrum qualitativer Erlebnisse. Dabei ist die konkrete Antwort (oder Aussage) gar nicht so wichtig, auch nicht, ob andere dieselbe Antwort geben würden, sondern, dass die Frage einen Prozess auslöst, für den das eigene Erleben in einer Einheit aus Körper und Geist Voraussetzung ist, um die Antwort zu finden. Damit müssen alle Konzepte als höchst fragwürdig eingestuft werden, die von einem Austausch von Gedächtnisinhalten zwischen natürlichen und künstlichen Systemen oder der Möglichkeit einer direkten Verbindung zwischen beiden ausgehen. Daran können auch noch so eindrucksvoll medial in Szene gesetzte Darstellungen nichts ändern, wie sie etwa in dem Film Transcendence mit Johnny Depp aus dem Jahr 2014 zu finden sind. Die Handlung geht davon aus, dass all das, was wir gelernt und durchdacht haben, digitalisiert und auf einen externen 14 Amunts/Welty: EU-Projekt zur Hirnforschung.

1.1 Informationelle Autonomie in Gefahr

| 7

Großspeicher hochgeladen werden kann. Wenn zu einem späteren Zeitpunkt der Körper wiederhergestellt wird, kann das zwischengespeicherte Gedächtnis wieder heruntergeladen werden; das Gedächtnis überlebt so das physische Ableben.¹⁵ Das Genre Film hat sich schon seit längerem der Thematik angenommen. Rainer Werner Fassbinders Welt am Draht war eindeutig von der kritischen Auseinandersetzung mit den menschlichen und sozialen Konsequenzen einer Computerisierung der Lebens- und Arbeitswelt geprägt und steht damit eher in der Tradition von Fritz Langs Metropolis oder Chaplins Modernen Zeiten. Spätere Produkte antizipieren eher unkritisch oder zustimmend die Potenziale der Technik. In Die Frauen von Stepford machen Männer ihre Frauen mit Mikrochips im Hirn steuerbar wie Roboter.¹⁶ Ein weiteres Beispiel liefern die Filme der Matrix-Reihe.¹⁷ Massive Spuren der Antizipierung der Computermetapher sind bereits in der Berufswelt zu finden, wenn etwa Stellenbewerber danach gefragt werden, was sie denn besser könnten als ein Computer. Im Kern wird bei dieser Frage eine DefensivSituation durch Herstellung eines Kontexts aufgebaut, der dem Computer die Rolle eines Subjekts und nicht mehr nur eines Werkzeugs zuweist. Warum sonst fragt man pauschal danach, was jemand besser könne als ein Werkzeug? Woher rührt die Faszination am Transhumanen? Sich als Schöpfer zu fühlen und darin die Steigerung der Möglichkeiten der eigenen Potenz zu sehen? Allein die durchaus verständliche Lust am Erkenntnisgewinn kann es doch nicht sein, wenn man all die Selbstaufgabe- und Untergangszenarien bedenkt, die angeboten werden. Ist es attraktiv, die evolutionär entstandene menschliche Rationalität durch eine selbst geschaffene transhumane Rationalität zu ersetzen? Im realen Leben könnten sich solche Konstellationen als totalitäre Gesellschaftsstrukturen manifestieren. Woher kommt das Argument, dass transhumane Rationalität besser als die evolutionär entstandene Rationalität geeignet sei, den Fortbestand des Lebens zu sichern? Ist das nicht eher ein Eingeständnis der eigenen Unzulänglichkeit? Pioniere der Künstlichen Intelligenz – und dabei muss nicht nur an ausgewiesene Kritiker wie Josef Weizenbaum oder Hubert und Stuart Dreyfus gedacht werden – haben sich durchaus zurückhaltend dazu geäußert, was man von ihr erwarten dürfe. So erklärt etwa Roger Schank:

15 Vgl. für die Handlung des Films: Transcendence (Film) [Wikipedia]; vgl. auch: Koch: Bewusstsein ohne Gehirn. 16 Die Frauen von Stepford (1975) [Wikipedia]. 17 Weitere Beispiele enthält: Nida-Rümelin/Weidenfeld: Digitaler Humanismus.

8 | 1 Informationstechnik und Menschenbild Der allgemeine Ansatz der Künstlichen Intelligenz sollte heutzutage [1984, Anm. d. Verf.] sein, die Denkprozesse zu entdecken, die Menschen für verschiedene intelligente Aktivitäten verwenden, um Computer dafür zu programmieren, diese Prozesse durchzuführen.¹⁸

Und an anderer Stelle: Um Computer richtig einschätzen zu können, müssen wir die Menschen betrachten.¹⁹

Wir sollten den Menschen also gerade nicht danach bewerten, wie weit er den Vorstellungen der Künstlichen Intelligenz gerecht wird. So ist es bezeichnend, dass der Hype und die überzogenen Erwartungen vielfach von Personen befördert werden, die Roger Schank so charakterisiert: Ist Künstliche Intelligenz nur ein Thema für schwachbrüstige Akademiker, oder wird jedermann ein wenig von Künstlicher Intelligenz und Computern im allgemeinen verstehen müssen, um auch nur mithalten zu können? […] Das sind die Fragen, die heutzutage in Zeitungen und auf Cocktailparties diskutiert werden. Einerseits ist es prima, daß die Leute sich um solche Dinge kümmern. Andererseits wirkt es ein bißchen komisch, daß so viele Leute ihre Meinung zu einem Thema diskutieren wollen, über das sie so wenig konkrete Information besitzen.²⁰

Wie anders lesen sich da heutige Äußerungen, wenn etwa Wolfgang Wahlster, CEO des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI), davon spricht, dass Künstliche Intelligenz in der Rolle eines Hilfswissenschaftlers die Forschung revolutioniert. Als eines ihrer zentralen Einsatzfelder sieht er die Mathematik, Menschen sollten jedoch weiterhin die Theorie machen.²¹ Nicht weniger gruselig ist die Prognose kommender digitaler Kriege durch den Einsatz Künstlicher Intelligenz.²² Es mag schon immer umstritten gewesen sein, ob der Mensch eine Seele besitzt, durch die er sich von allen anderen Lebewesen unterscheidet. Es mag auch unklar sein, ob und gegebenenfalls welche physiologischen Prozesse für die Seele verantwortlich sind. Verbreitete Überzeugung ist jedoch, dass es psychische Verfasstheiten gibt, die nicht mit algorithmischem Denken vereinbar sind und dadurch nicht erklärt werden können. Dabei braucht man gar nicht an pathologische Befunde zu denken. Selbst bei größtmöglicher Sympathie für rationale Denk- und Entscheidungsprozesse wird sich jeder Mensch an Gefühle erinnern, die er nicht 18 Schank/Childers: Die Zukunft der künstlichen Intelligenz, S. 53. 19 Schank/Childers: Die Zukunft der künstlichen Intelligenz, S. 9. 20 Schank/Childers: Die Zukunft der künstlichen Intelligenz, S. 11. 21 Reichert: Künstliche Intelligenz als Hilfswissenschaftler. 22 Springer: Wettrüsten im Cyberraum.

1.2 Rationalität und Kognition

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missen möchte, vielleicht auch an solche, auf die er sehr gut verzichten könnte, was aber nicht gelingt. Bevor der Weg in eine Informationelle Unmündigkeit als attraktiv empfunden wird, wäre zu prüfen, ob nicht Informationelle Autonomie derartig fest an die Eigenschaften der menschlichen Grundausstattung gebunden ist, dass sie gar nicht aufgegeben werden kann. Zwei Bezugssysteme müssen dabei miteinander verbunden werden: erstens, die Bindung des Menschen als soziales Lebewesen an Gemeinschaften gemeinsamen Handelns und zweitens, die dem Einzelnen eigene kognitionspsychologische Basis des Denkens und Handelns.

1.2 Rationalität und Kognition Die Aufklärung hat der Idee den Weg geebnet, den Menschen unabhängig von seiner Herkunft und Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht als ein Lebewesen mit Ich-Verständnis zu sehen. Sein Denken und Handeln sind so durch rationale Überlegungen geprägt, dass Emotionen beherrscht werden können. Diese Idee hat sich in den modernen Demokratien und freiheitlichen Zivilgesellschaften fortgesetzt, die ihre Ausgestaltung an das Verständnis des mündigen Subjekts binden. Psychologie und moderne Kognitionsforschung haben zur genaueren Einsicht beigetragen, wie Rationalität, biologische Grundfunktionen und emotionale Faktoren zum konsistenten Verständnis eines bewusst und autonom denkenden und handelnden Individuums zusammen wirken; eines Individuums, das zur Gestaltung von und zur Teilhabe an gesellschaftlichen Strukturen fähig ist. Gehen wir von der Prämisse aus, dass diese Errungenschaften grundsätzlich bewahrt und fortentwickelt werden sollen, stellt sich die Frage, welches Ausmaß an Informationeller Autonomie des handelnden Subjekts dafür erforderlich ist. Rationales Denken und Handeln sind jedoch nicht die einzigen Anlässe für die Prozesse menschlicher Informationsverarbeitung. Auch Empfindungen und Gefühle, Absichten und Zweifel stehen mit Sinneseindrücken und Handlungen in Verbindung, die Vorgänge der kognitiven Informationsverarbeitung auslösen und durch sie gesteuert werden. Wir beschränken uns hier darauf, der Darstellung ein rationales Wissensverständnis zugrunde zu legen, wollen dabei aber im Blick behalten, dass auch nicht-rationale Vorgänge Ursachen und Ergebnisse für kognitive Informationsverarbeitung sind. Menschen sind informationsverarbeitende Wesen, sowohl bei individuellen Denk- und Handlungsprozessen als auch in Interaktionen mit Kommunikationspartnern. Die Ansichten über die Art der menschlichen Informationsverarbeitung sind bemerkenswert unterschiedlich und haben im Laufe der geschichtlichen Entwicklung einige Wandlungen erfahren. Entscheidende Größen des Prozesses sind

10 | 1 Informationstechnik und Menschenbild Sinneswahrnehmungen und deren nachfolgende kognitive Verarbeitung. Dabei spielen der Vergleich mit bereits vorhandenen Strukturen, deren Anpassung sowie der Aufbau neuer Strukturen eine zentrale Rolle für alle mit Wissen verbundenen Leistungen. Ein Modell der Wissensaneignung im Rahmen des Lösens von Aufgaben lässt sich wie in Abbildung 1.1 skizzieren.²³ Es stellt einen Zyklus dar, in dem externalisiertes Wissen aus einem Informationssystem oder kognitives Wissen eines Experten zur Lösung einer Aufgabenstellung abgefragt, abgerufen und verarbeitet wird. Je nach Erfolg wird der Zyklus beendet und es wird entweder neues Wissen für die spätere Verwendung externalisiert oder es wird eine veränderte Abfrage gestellt. Ein hartnäckiger Misserfolgsfall wird im Modell nicht spezifisch abgebildet.

Abb. 1.1: Wissensaneignung.

23 Wir lehnen uns in der Darstellung an ein bekanntes Modell an, das von Probst et al. für die Anwendung auf den Unternehmenskontext vorgeschlagen wurde, korrigieren und ergänzen es aber, damit es möglichst alle Formen einer an Aufgaben orientierten Wissensaneignung berücksichtigt. Aus Gründen der Konsistenz unserer Ausdrucksweise verwenden wir dabei statt ,implizites‘ und ,explizites Wissen‘ die Ausdrücke ,kognitives‘ und ,externalisiertes Wissen‘ (vgl.: Probst/Raub/ Romhardt: Wissen managen).

1.2 Rationalität und Kognition

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Ein vergleichbares Modell für den allgemeinen Wissenserwerb zu skizzieren, das alle Wissensformen (auch prozedurales oder emotionales Wissen) einschließt, ist nicht so leicht. Weitgehend Einigkeit besteht darin, dass ein Wissenstransfer weder von Mensch zu Mensch noch von Medium zu Mensch als Vorgang eines reinen Transfers von Daten und ihrer unveränderten Speicherung gesehen werden kann. Einfache Modelle des Wissenstransfers wie der sogenannte ,Nürnberger Trichter‘ haben sich als unzutreffend erwiesen. Immer ist es die Verarbeitung in der kognitiven Struktur des Rezipienten, die zum Wissen dieses Individuums führt. Es gibt keinen Königsweg zum Wissenserwerb, der für alle Individuen mit gleicher Effizienz abläuft. Für komplexe Zusammenhänge gilt dies als Allgemeinplatz, für vermeintlich einfache Daten oder Fakten aber nicht. Zu berücksichtigen ist, dass es keine von Theorie unabhängigen Daten und Fakten gibt und dass die Vollständigkeit des Begreifens von Daten und Fakten mit der Vollständigkeit des Wissens um die Theorie korreliert. Gegenwärtig wird für kognitive Prozesse mit der sogenannten Computermetapher eine Verbindung zur Künstlichen Intelligenz und der Welt der Datennetze als einem neuen Intelligenzträger hergestellt. Der Ausdruck Computermetapher soll hier als Platzhalter für alle Versuche verwendet werden, Vorgänge der kognitiven Informationsverarbeitung durch Rückgriffe auf ein informationstechnisches Verständnis von Information interpretieren zu wollen. Es handelt sich um eine schleichende Umdeutung etablierter Begriffe unter der Prämisse einer informationstechnischen Prozessierung. Dabei wird die Bedeutung der Computermetapher durchaus unterschiedlich eingeschätzt. Das Spektrum reicht von der Charakterisierung eines sich vollziehenden Entwicklungsprozesses bis zum Manipulationsinstrument zur Umdeutung des Werts kognitiver Leistungen. Lohnend ist ein Blick auf die historische Entstehung der Metapher, die man anhand von Norbert Wieners Buch Kybernetik: Regelung und Nachrichtenübertragung im Lebewesen und in der Maschine nachvollziehen kann.²⁴ Dort wird zum ersten Mal die Bezeichnung ,Kybernetik‘ für die Beschreibung von sich selbst regelnden Systemen von Servomechanismen verwendet. Es bestehen Verbindungen zu automatischen Navigationsvorgängen, verlässlicher Kommunikationstechnik und Künstlicher Intelligenz. Interessant ist die frühe Parallelität von ,Lebewesen‘ und ,Maschine‘. Der Stellenwert, den eine Metapher für die interpretierten Sachverhalte bekommen kann, sollte nicht unterschätzt werden. Dies lässt sich an einem Beispiel verdeutlichen, das durch technische Entwicklungen eine ganz andere Dimension

24 Wiener: Kybernetik; Original: Wiener: Cybernetics or control and communication in the animal and the machine.

12 | 1 Informationstechnik und Menschenbild erfahren hat, als es die dafür noch immer gern verwendete Bezeichnung erahnen lässt: das Abhören eines Telefonats. Analoges Telefonieren erfolgte mit einer unabhängigen Schwachstromversorgung und konnte als eine temporäre, aber proprietäre Verbindung zwischen zwei Teilnehmern gesehen werden, die über Vermittlungsstellen zunächst mechanisch und später automatisiert hergestellt wurde. Es war ein erheblicher technischer Aufwand erforderlich, das Abhören eines solchen analogen Gesprächs zu realisieren. Anders beim digitalen Telefonieren über Server, bei dem die Daten in speicherfähiger Form Bestandteil des Übermittlungsprozesses sind. Zum Verhindern eines späteren ,Abhörens‘ müssen hier die Daten explizit gelöscht bzw. vernichtet werden. Nun erfordert das ,Vermeiden‘ des Abhörens den Aufwand. Dies darf sicher als Hintergrund einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) vom 30.05.2018 gesehen werden, mit dem das Abschöpfen von Internet-Daten am sogenannten Frankfurter Knoten durch den Bundesnachrichtendienst für rechtmäßig erklärt wurde.²⁵ Juristisch ist das letzte Wort zwar noch nicht gesprochen, denn der Knoten-Betreiber bringt den Fall vor das Bundesverfassungsgericht²⁶; das Urteil des BVerwG hat aber deutliche Zeichen gesetzt, deren Spuren möglicherweise nicht mehr vollständig zu tilgen sind. Grundsätzlich darf sicher davon ausgegangen werden, dass das allgemeine Verständnis für technische Vorgänge immer hinter deren Entwicklung zurückbleibt und von den historisch überkommenen Metaphern überlagert wird. Richard Sennett weist auf die große Bedeutung von Metaphern und deren prägende Wirkung auf Vorstellungs- und Beurteilungsprozesse hin: Mit anderen Worten, eine Metapher erzeugt eine Bedeutung, die größer ist als die Summe ihrer Teile, weil diese Teile aufeinander einwirken. Die Elemente einer Metapher gewinnen aus der Beziehung zueinander eine Bedeutung, die sie für sich genommen nicht haben. Auf diese Weise können Metaphern gesellschaftliche Beziehungen herstellen: Unterschiedliche soziale Klassen oder unterschiedliche Rollen innerhalb der Gesellschaft können zu Elementen der Metapher werden. Das Ganze bringt die spezifische Bedeutung der Teile hervor.²⁷

Zentral für unsere Diskussion der Computermetapher ist der Begriff Information. Früher eher metaphorisch verwendete Ausdrücke wie Wissensspeicherung, Wissensorganisation oder Wissensmanagement erfahren hier eine direkte informationstechnische Bedeutungsgebung, bei der es sich eingebürgert hat, vom Speichern, Abrufen und Prozessieren von Gehirninhalten zu reden. Kognitive Informationsverarbeitung wird aus dieser Sicht als ein Prozess verstanden, wie er im 25 BVerwG, 30.05.2018 – 6 A 3.16. 26 Krempl: BND-Überwachung. 27 Sennett: Autorität, S. 102–103.

1.2 Rationalität und Kognition

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Rahmen des Turingmodells von Computern durchgeführt werden könnte. Es gibt Ausgangsdaten, die eingelesen und von einem Algorithmus verarbeitet werden, um die auszugebenden Daten zu erzeugen. Verändert werden die Daten durch den Algorithmus, den Träger der ,Intelligenz‘ des Prozesses. Die Vorgänge des Einlesens und Ausgebens der Daten werden im Allgemeinen nicht als Daten verändernd gedacht. Für Kommunikationsprozesse resultiert die Computermetapher in einem Sender-Empfänger-Modell, das prinzipiell geeignet ist, Quelldaten ohne Beeinflussung an den Empfänger zu übertragen. Abweichungen stellen entweder gewollte technische Ergebnisse oder Fehler dar, die durch geeignete Vorkehrungen vermieden werden können. Ihren deutlichsten Ausdruck findet diese Vorstellung im sogenannten Turingtest. Bei diesem Test werden Fragen von einer nicht bekannten Instanz beantwortet. Diese Instanz kann ein Mensch sein, aber auch ein Rechner. Ist der Beobachter nicht in der Lage zu unterscheiden, welche der Antworten vom Menschen oder vom Rechner gegeben wurden, wird dem getesteten System Intelligenz zugeschrieben. Ein solches Kriterium erscheint auf den ersten Blick verführerisch. Wendet man es jedoch auf Lebewesen an, die eigenständig und auf ganz individuelle Weise am raum-zeitlichen Geschehen teilnehmen, darf man in Frage stellen, ob damit das Spektrum aller Intelligenzleistungen abgebildet wird. Die Computermetapher führt für kognitive Prozesse nicht weiter. Ein Gehirn lässt sich, wie bereits beschrieben, nicht als ein System mit Trennung in Hard- und Software betrachten. Eine Trennung zwischen dem Gehirn und seinen Funktionen existiert weder physiologisch noch funktional, so zum Beispiel Wolf Singer: Da gibt’s im Gehirn nicht eine Trennung zwischen Rechenwerk und Programmspeicher und Datenspeicher oder so was, sondern es gibt nur Neuronen und deren Verschaltung. Und die Art und Weise, wie die verschaltet sind, nennen wir funktionelle Architektur, und da liegen die ganzen Geheimnisse, denn die Freiheitsgrade sind überschaubar, es kann nur variiert werden, wer mit wem kommuniziert, wie stark oder schwach die Kopplungen sind und ob sie hemmend oder erregend sind, wobei die allermeisten erregend sind. Und mit diesem Lego-Baukasten hat die Evolution die Großhirnrinde zusammengebastelt.²⁸

Die Fragwürdigkeit, den rein auf Verhaltensbeobachtung basierenden Turingtest als Kennzeichen für die Zuschreibung von Intelligenz zu nehmen, hat John Searle durch sein Gedankenexperiment des Chinesischen Zimmers offen gelegt.²⁹ In dieser Variante des Turingtests wird mit einem verborgenen Kommunikationspartner in chinesischer Sprache kommuniziert. Der Kommunikationspartner kann kein 28 Kluge/Singer: Hirnforschung. 29 Chinesisches Zimmer [Wikipedia].

14 | 1 Informationstechnik und Menschenbild Chinesisch, hat aber ein Regelwerk, das für alle gestellten Fragen aus einem ,Baukasten‘ immer korrekte Antworten liefert. Das Regelwerk, der ,Algorithmus‘, erzeugt den Eindruck, der Kommunikationspartner spreche Chinesisch, der Fragensteller gewinnt den Eindruck, das ,System‘ könne Chinesisch. Tatsächlich konnte nur der (menschliche) Ersteller des Regelwerks Chinesisch. Das Gedankenexperiment macht deutlich, dass rein symbolisches Manipulieren nicht ausreicht, um Rückschlüsse auf ein inhaltliches Verstehen oder das Entwickeln von Bewusstsein zu ziehen. In diesem Sinne ist das Chinesische Zimmer eine Widerlegung der klassischen Interpretation des Turingtests: aus beobachtetem Verhalten oder syntaktischen Manipulationen kann nicht auf ein semantisches Verstehen (Verständnis, Einsicht, Bewusstsein) geschlossen werden. Beispielsweise zeigt die Beobachtung eines Schauspielers, dass Verhalten keine verlässlichen Rückschlüsse auf Ursachen oder innere Zustände bzw. Funktionsweisen liefert. Die Frage, wie aus Wörtern Bedeutung erzeugt werden kann, wird im Allgemeinen an das Vorhandensein eines Bewusstseins geknüpft. Ohne ein solches Bewusstsein bleibt eine Symbolmanipulation ein rein syntaktischer Vorgang auf der Ebene der Daten und erzeugt keine strukturierte Bedeutung. Durch reine Symbolmanipulation ist es nicht möglich, Bedeutung zu erzeugen – wie es durch Vertreter der KI immer wieder postuliert wird.³⁰ Häufig werden auch Varianten des klassischen Lügner-Paradoxons „Ein Kreter sagt: ,Alle Kreter lügen‘“ verwendet, um die Möglichkeiten und Grenzen Künstlicher Intelligenz auszuloten. Eine bekannte Variante von Bertrand Russell lautet: Ein Mann sagt: ,Ich lüge gerade.‘³¹

Die Korrektheit der Aussage ist ebenso wenig entscheidbar wie alle aussagenlogischen Paradoxien oder Antinomien. Haben Nicht-Entscheidbarkeitsprobleme eine Bedeutung für die Diskussion um Künstliche Intelligenz? Eigentlich nicht. Wenn das System um die logischen Fallstricke des Paradoxons weiß, muss es sich – anders als es uns manche belletristische oder filmische Darstellung glauben machen möchte – nicht in Verzweiflung stürzen. Wie wir Menschen auch, kann ein KI-System die Haltung einnehmen: Alles schön und gut, aber wo beeinträchtigt uns das denn? Mit logischen Argumenten oder Szenarien grundsätzlicher NichtEntscheidbarkeit kann man dem Einsatz von KI-Systemen nicht begegnen.

30 Vgl. zu dieser Frage das Video: On consciousness with Giulio Tononi, Max Tegmark and David Chalmers [FQXi]. 31 „The simpliest form of this contradiction is afforded by the man who says ,I am lying;‘ if he is lying, he is speaking the truth, and vice versa.“ (Russell: Mathematical logic as based on the theory of types, S. 222).

1.2 Rationalität und Kognition

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Zur Beschreibung einer künstlichen oder maschinellen Intelligenz werden daher zunehmend spezifische Kriterien genutzt, die für einzelne Einsatzfelder genauere Aussagen gestatten. Im Rahmen der als besonders anspruchsvoll geltenden maschinellen Sprachverarbeitung wird beispielsweise gemäß eines Vorschlags von Hector Levesque die sogenannte Winograd Schema Challenge (WSC) ausgetragen.³² Sie testet die Fähigkeit, das Bezugswort eines Pronomens in einer Aussage zu identifizieren. Falls es in der Aussage, die das Bezugswort des Pronomens enthält, mehrere Kandidaten gibt, ist das Pronomen mehrdeutig. Ein typisches Winograd-Schema enthält für eine Aussage einen alternativen Satzbestandteil, der die Bedeutung des Pronomens steuert: The city councilmen refused the demonstrators a permit because they [feared/advocated] violence.³³

Das Bezugwort für das Pronomen ,they‘ hängt davon ab, ob in den Satz ,feared‘ oder ,advocated‘ eingesetzt wird. Für ,feared‘ sind es die ,city councilmen‘, für ,advocated‘ die ,demonstrators‘. Die Lösung der Aufgabe erfordert neben der korrekten Verarbeitung der Sprache zusätzliche Kenntnisse über die Eigenschaften und Motivationen der an der Handlung Beteiligten. Kenntnisse, die üblicherweise als Kontextwissen bezeichnet werden. Der Umfang des für die Lösung des Beispiels benötigten Kontextwissens dürfte beträchtlich sein. Inzwischen ist es leicht möglich, die Leistungsfähigkeit von Systemen zur automatischen Sprachverarbeitung selbst zu testen. Die Eingabe der beiden Varianten des Winograd-Schemas in eines der aktuell leistungsfähigsten automatischen Übersetzungssysteme – DeepL³⁴ – erbringt folgende Ergebnisse: The city councilmen refused the demonstrators a permit because they feared violence. DeepL: Die Stadträte lehnten den Demonstranten eine Genehmigung ab, weil sie Gewalt befürchteten. The city councilmen refused the demonstrators a permit because they advocated violence. DeepL: Die Stadträte lehnten den Demonstranten eine Genehmigung ab, weil sie sich für Gewalt aussprachen.

32 Levesque/Davis/Morgenstern: The Winograd schema challenge. 33 Bekanntes Beispiel von Winograd; vgl.: Winograd: Understanding natural language, S. 33. 34 Vgl.: https://www.deepl.com/translator.

16 | 1 Informationstechnik und Menschenbild Neben der Erkenntnis, dass automatisches Übersetzen inzwischen auf einem hohen Niveau möglich ist, zeigt das Beispiel auch, dass Mehrdeutigkeiten in Übersetzungen unter Umständen erhalten bleiben. Automatisches Übersetzen kann auch ohne ein Kontextwissen zu akzeptablen Ergebnissen kommen. Die Auflösung der Mehrdeutigkeit erfolgt dann wiederum durch den menschlichen Leser.

1.3 Intelligenz und Künstliche Intelligenz Die sprachliche Nähe zwischen den Begriffen ,Intelligenz‘ und ,Künstliche Intelligenz‘ führt leicht zu der Annahme, es bestünde zwischen beiden ein enger Zusammenhang in dem Sinne, dass Künstliche Intelligenz lediglich eine spezifische Ausprägung der allgemeinen Intelligenz sei. Tatsächlich geht es aber nicht um Intelligenz im Allgemeinen, sondern um die ,menschliche‘ Intelligenz. Wir betrachten die Künstliche Intelligenz und die natürliche menschliche Intelligenz als zwei voneinander unabhängige Phänomene, deren Verhältnis im Rahmen einer Diskussion von Informationeller Autonomie genauer betrachtet werden sollte. In vielen Darstellungen mit visionären Verheißungen zu den Möglichkeiten der Künstlichen Intelligenz wird zwar zugegeben, dass man dem Begriff Intelligenz nicht durch eindimensionale Beschreibungen oder gar durch eine einzelne Kennziffer gerecht werden könne. Gleichwohl wird dann eine verengte Interpretation vorgenommen, um besser eine Brücke zur Künstlichen Intelligenz schlagen zu können. So findet man etwa bei dem prominenten KI-Befürworter Max Tegmark die zunächst unverfänglich erscheinende Charakterisierung: Intelligenz = Die Fähigkeit, komplexe Ziele zu erreichen³⁵

Die Verengung des Begriffs wird an seiner Begrenzung auf ein Kriterium deutlich: die Handlungsorientierung. Selbst die früher von KI-Vertretern bemühte Orientierung an der Fähigkeit, Probleme zu lösen, wird bestenfalls billigend unter ,komplex‘ subsumiert. Damit fühlt man sich an den Turingtest erinnert, der als Denkanstoß eine wichtige Bedeutung hat. Für die Bestimmung der maschinellen Intelligenz mag das ausreichen, zur Bestimmung des komplexen Begriffs Intelligenz von raum- und zeitgebundenen Lebewesen mit individuellen Erlebensräumen jedoch nicht. Andere Faktoren, die inzwischen als konstituierend zur Bestimmung eines umfassenden Intelligenz-Begriffs gelten, bleiben bei solch einer Betrachtung unbe-

35 Tegmark: Leben 3.0, S. 80.

1.3 Intelligenz und Künstliche Intelligenz | 17

rücksichtigt (zum Beispiel emotionale Faktoren).³⁶ Es ist konsequent, dass Künstliche Intelligenz dann gar nicht mehr als an Aufgaben orientiert oder funktional erklärt, sondern schlicht als ,Nichtbiologische‘ Intelligenz verstanden wird.³⁷ So ist auch nachvollziehbar, dass keine Anstrengungen unternommen werden, zu einem spezifischen Verständnis von Information zu gelangen.³⁸ Die Orientierung an informationstechnisch geprägter Datenspeicherung oder biologischer Erbmasse im Sinne des Einspeicherns und Auslesens wird als ausreichend für kognitive Prozesse der Informationsverarbeitung gesehen. Abbildung 1.2 stellt die Einflussfaktoren dar, die in ihrer Wechselwirkung die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Konzepte Intelligenz und Künstliche Intelligenz vermitteln.

Abb. 1.2: Kognition – Intelligenz – Künstliche Intelligenz.

36 Vgl.: Intelligenztheorie [Wikipedia]; Walter: Intelligenz; Ciompi: Die emotionalen Grundlagen des Denkens; Damasio: Descartes’ Irrtum. 37 Tegmark: Leben 3.0, S. 63. 38 Bei Tegmark findet ,Information‘ keine Berücksichtigung für den ,Terminologie-Spickzettel‘, der eine Präzisierung der im Buch behandelten Schlüsselbegriffe geben soll (Tegmark: Leben 3.0, S. 63–65).

18 | 1 Informationstechnik und Menschenbild Für die menschliche Intelligenz lassen sich zwei Einflussstränge angeben, die – hier darf die Abbildung nicht missverstanden werden – nicht disjunkt zueinander sind, sondern je nach Ausgangslage miteinander in Wechselwirkung stehen. Der eine Strang verwendet Logik und Rationalität für den Erkenntnisvorgang und konstituiert damit einen Intelligenztyp, der für Handlungen genutzt werden kann. Der zweite Strang verwendet Ergebnisse des vorangegangenen Lernens und der Erfahrung – Lernen und Erfahrung können wiederum mit Logik und Rationalität verbunden sein. Die durch Logik und Rationalität ermöglichte Handlung kann darüber hinaus durch Emotion und Empathie beeinflusst werden. Rational geprägte Intelligenz und Emotionale Intelligenz können also für eine Handlung miteinander verbunden sein. In beiden Fällen findet die Verarbeitung von kognitiver Information statt. Künstliche Intelligenz hingegen wird über Logik, Rationalität und Algorithmen erzeugt und beeinflusst. Handelt es sich um lernfähige Künstliche Intelligenz, vielleicht sogar um erfahrungsbasierte, so fließen die entsprechenden Ergebnisse in die codierte Information ein, die schließlich die Handlungsausführung steuert. Die Analogien, die im Rahmen der Künstlichen Intelligenz zwischen Gehirn (Kognition), künstlichen neuronalen Netzen und Turingmaschinen hergestellt werden, verwenden die Computermetapher, um die Besonderheiten biologischer Systeme zu vernachlässigen und die kognitiven Funktionen auf eine mechanistische Funktion zu reduzieren. Beispielhaft wieder Tegmark: Wie zuvor schon erwähnt, bewies Turing in seinem Aufsatz von 1936 obendrein noch etwas Tiefgreifenderes: Falls ein Computertyp ein bestimmtes absolutes Minimum an Operationen durchführen kann, dann ist er insofern ,universell‘, als er – ausgestattet mit genügend Kapazitäten – alles tun kann, was ,jeder beliebige‘ andere Computer tun kann. Er bewies, dass seine Turingmaschine universell war, und wenn wir uns jetzt etwas genauer auf die Physik zurückbesinnen, dann haben wir gerade gesehen, dass diese Familie universeller Computer ebenfalls Objekte einbezieht, die so unterschiedlich sind wie ein Netzwerk von NAND-Gattern und ein Netzwerk miteinander verbundener Neuronen. Tatsächlich hat Stephen Wolfram behauptet, dass die meisten nichttrivialen physikalischen Systeme – vom Wettersystem bis zu Gehirnen – universelle Computer wären, sollte man sie beliebig groß und langlebig gestalten können.³⁹

Hier wird die Gleichsetzung eines Computers im Sinne der universellen Turingmaschine (auf der Basis einer binären Logik) mit einem biologischen Gehirn (das über neuronale Verbindungen verfügt und mit anderen vegetativen Systemen verbunden ist) suggeriert, deren Berechtigung wir schon verworfen haben. Unabhängig davon ist aber fraglich, ob menschliche – oder allgemeiner – biologische Kognition

39 Tegmark: Leben 3.0, S. 101–102.

1.3 Intelligenz und Künstliche Intelligenz | 19

allein vom Gehirn gesteuert wird und neuronale Verbindungen mit anderen Organen völlig außer Acht gelassen werden dürfen. Es muss der weiteren Entwicklung vorbehalten bleiben, welche Sicht auf die Dinge sich durchsetzen wird. Wir können vorerst nur zusammenfassen: Selbst wenn die neuronale Grundlage der kognitiven Informationsverarbeitung biologischer Organismen (nach Tegmark metaphorisch die Hardware oder das ,Substrat‘) im Sinne einer Turingmaschine verstanden werden kann⁴⁰, würde dies noch nicht heißen, dass auch die Verarbeitung wie bei einer Turingmaschine erfolgt. Bei einer Turingmaschine kommen Algorithmen zum Einsatz. Selbst wenn man sie als trainierbar und lernfähig ansieht, ergäbe sich die direkte Vergleichbarkeit erst durch die Fähigkeit zur Selbstorganisation, zum autopoietischen Verhalten biologischer Organismen. Diesen Konzepten und den daraus resultierenden Gesichtspunkten wird an späterer Stelle noch genauer nachgegangen werden. Zunächst bleiben wir bei dem Begriff des Algorithmus, der zu einem Schlüsselbegriff für die Künstliche Intelligenz und die Verwendung der Computermetapher geworden ist. Die Anfänge seiner Verbreitung gehen mit der Entwicklung automatisierter Rechenanlagen einher. Algorithmische Modelle finden mittlerweile aber zunehmend Eingang in die Diskussion um Kognition, Denken und Rationalität und werden sogar auf emotionale Prozesse angewendet. Viele vertraute Handlungsabläufe lassen sich durch die Komponenten eines Algorithmus formulieren: Aufgliederung eines komplexen Ablaufs in festgelegte Einzelschritte und Abfrage von Bedingungen mit Verzweigungen an definierten Stellen des Ablaufs. Vielfach wird der algorithmische Ablauf verbunden mit einem Optimierungs- und Effizienzgedanken. Durch Befolgen der algorithmisch gedachten Einzelschritte sollen die wenigste Zeit, der kürzeste Weg, der geringste Ressourceneinsatz bei gleichbleibender Zuverlässigkeit gewährleistet sein. Menschen werden im Berufsleben immer intensiver mit dem Effizienzgedanken konfrontiert und übertragen ihn dadurch möglicherweise bewusst oder unbewusst auf Alltagsverrichtungen, was eine fatale Entwicklung zur Folge hat: Mit dem Anspruch, jede Handlung unter Effizienzgesichtspunkten zu vollziehen, ist kein ausgeglichenes und glückliches Leben möglich, zumal erst die Abweichungen vom Effizienzgedanken Raum für Kreativität bieten. Ein Beispiel: Man stelle sich die häusliche Zubereitung des Frühstücks für eine Einzelperson, für zwei Personen oder für eine größere Familie oder auch mit Gästen vor. Es muss einer Reihenfolge der einzelnen Schritte gefolgt werden,

40 Es ist bezeichnend, dass an dieser Stelle terminologisch zu einem Ausdruck der Computermetaphorik Zuflucht genommen werden muss, weil für physiologische Prozesse keine Differenzierung in Hard- und Software vorgenommen werden kann (vgl.: Kluge/Singer: Hirnforschung).

20 | 1 Informationstechnik und Menschenbild persönliche Präferenzen müssen beachtet (abgefragt) und berücksichtigt werden. Sind die Schritte einmal festgehalten – es ist eine reizvolle Übungsaufgabe, dies im Detail zu versuchen –, könnte man jeden Tag nach demselben Schema vorgehen und die Illusion erzeugen, künftig absolut fehlerfrei agieren zu können. Dennoch wären Modifikationen unvermeidbar. Was macht man beispielsweise, wenn man erst während der Zubereitung merkt, dass das Vorratsbehältnis für den Kaffee oder das Müsli nachgefüllt oder ein neues Glas Marmelade geöffnet werden muss? Nicht immer sind alle Personen anwesend; es könnten Gäste mit anderen Präferenzen hinzu kommen, Vorräte könnten zur Neige gegangen sein oder Vorlieben sich geändert haben. Wie passt man den Algorithmus der Situation an, dass man etwas verschüttet und erst nach einem Tuch zum Aufwischen suchen muss? Wie überträgt man die Schritte auf eine veränderte Umgebung (zum Beispiel Ferienwohnung)? All dies könnte man durch Änderungen oder Erweiterungen im Algorithmus berücksichtigen, fertig würde er dabei voraussichtlich nie: Man kann nur bereits bekannte oder vorhersehbare Bedingungen und Bausteine einbauen und dabei gewisse Wahrscheinlichkeitsüberlegungen anstellen. In der Realitä t sorgt die Eigenschaft der kognitiven Plastizitä t – einmal erzeugte Hirnstrukturen sind innerhalb dynamischer Grenzen ä nderbar (vgl. Kapitel 2.2) – dafü r, dass man auch mit abweichenden Situationen umgehen kann, ohne sie zuvor durch Abfragen in den Ablauf eingebunden haben zu mü ssen. Merkmale und darauf basierende Abgrenzungen erzeugen Ordnung. Das Erkennen und Berü cksichtigen des Dazwischen bzw. des Zusammenhangs (die Plastizitä t) sind eine wichtige Grundlage fü r Dynamik und Kreativitä t. Dies hat auch Konsequenzen fü r Ordnungssysteme wie beispielsweise Klassifikationen, die ihre Entitäten auf der Basis von Merkmalen gegeneinander abgrenzen. Dadurch schaffen sie zwar Transparenz, werden aber gleichzeitig zu statischen Instrumenten. Wie das Frühstücksbeispiel zeigt, kann ein besonderer Wert des algorithmischen Vorgehens darin gesehen werden, sich Handlungsabläufe und die zugrunde liegende Entscheidungslogik zu verdeutlichen. Die Einführung von Computern in den schulischen Alltag sollte ursprünglich diesen Wert fördern. Wie wir heute wissen, handelte es sich dabei um eine Illusion. Gefördert wurde nicht das Denken in Algorithmen, sondern nur das Bedienen ihrer Ergebnisse im Rahmen einer IT(Unterhaltungs)-Infrastruktur. Vielleicht ist dieses misslungene Experiment einer der Gründe dafür, dass die Spezifika algorithmischen Vorgehens wenig Eingang in das Alltagsdenken gefunden haben. Es bedarf keiner Erwähnung, dass Menschen nicht auf das Vorhandensein formulierter Algorithmen angewiesen sind. Umstritten ist neuerdings jedoch, ob die zu vollziehenden Handlungen auf innere Algorithmen gestützt werden. Das würde bedeuten, dass durch das Vorliegen einer bestimmten Situation (Frühstück machen) eine kognitive Verarbeitungsroutine angestoßen wird, die alle erforderli-

1.3 Intelligenz und Künstliche Intelligenz | 21

chen Schritte berücksichtigt und in die notwendigen Handlungen umsetzt. Wenn dies so wäre, dann wäre die Routine durch ein Ausmaß an Flexibilität gekennzeichnet, das man Algorithmen üblicherweise nicht zuschreibt. In einem komplexen Vorgang wie der Zubereitung eines Frühstücks gibt es Module, die eine und nur eine Reihenfolge erlauben (Kühlschrank öffnen, ,bevor‘ man die Butter herausnimmt; Kaffee in eine Tasse schütten, ‚bevor‘ man ihn daraus trinken kann). Es gibt aber auch Module, deren zeitliche Abfolge vertauscht werden kann (Tassen und Teller aus dem Schrank nehmen; Besteck aus der Schublade nehmen; Eier kochen). Nimmt man für eine einzelne Verrichtung immer die linke oder die rechte Hand? Lässt man sich von spontanen Umständen beeinflussen? Wer öfter das Frühstück zubereitet, wird die Erfahrung machen, dass vertauschbare Module auch immer wieder einmal vertauscht werden, verschiedene Personen werden ohnehin unterschiedliche Abläufe befolgen. Man wird sich hin und wieder auch dabei ertappen, eine eigentlich unzweckmäßige Reihenfolge gewählt zu haben. Wie unvorhersehbare Situationen in einen solchen inneren Algorithmus integriert werden, bedarf ebenfalls einer Erklärung. Ob all dies für oder gegen die Vorstellung innerer Algorithmen spricht, soll dahin gestellt bleiben. Vollständig kann menschliches Vorgehen allerdings nicht durch das Abarbeiten eines Algorithmus erklärt werden. Bemühen wir uns deshalb um eine abstrakte Charakterisierung für den Begriff Algorithmus: Ein ,Algorithmus‘ ist eine eindeutige, ausführbare Folge von Anweisungen endlicher Länge zur Lösung eines Problems. Ein Algorithmus besteht aus einem Deklarationsteil (Was wird benötigt?) und einem Anweisungsteil (Wie wird das Problem gelöst?).⁴¹

Wesentliche Eigenschaften eines Algorithmus gemäß dieser Definition sind: Allgemeinheit, Eindeutigkeit, Ausführbarkeit, Endlichkeit, Determiniertheit und Terminierung. Durch diese Eigenschaften ist zwar formal festgelegt, was einen Algorithmus ausmacht; welche Möglichkeiten und Grenzen sich daraus für die Berechnung komplexer Probleme ergeben, bleibt jedoch eine offene Frage. Eine Frage, die auch für die Leistungsfähigkeit von Systemen zur Künstlichen Intelligenz von zentraler Bedeutung ist. Roger Penrose verneint die Möglichkeit der Algorithmisierung von Verstehensprozessen: „Echtes Verstehen liegt außerhalb von Berechnungen.“⁴² Er stellt seine Antwort in eine Beziehung zu den Gödelschen Unvollständigkeitssätzen und zur Rolle des Bewusstseins für ein allgemeines Verstehen:

41 Definition Algorithmus [Winfriedschule Fulda]. 42 Blackmore (Hrsg.): Gespräche über Bewußtsein, S. 242.

22 | 1 Informationstechnik und Menschenbild Gödels Theorem ließ mir einfach keine Ruhe. Ich […] dachte immer, es gehe darum, daß es Dinge gibt, die wir nicht wissen können. Aber dann erfuhr ich […], daß es um ganz andere ging: Gödel sagt, daß wir diese Dinge wissen können, aber nicht, indem wir einfach die Regeln eines formalen Systems befolgen. Man braucht eine Methode, um an die Wahrheit zu gelangen, die verläßlich und gleichzeitig anders ist: Man muß sein Bewußtsein, seinen Verstand aufbieten um das Problem zu lösen. Es geht also nicht um das Befolgen der Regeln, sondern darum, zu wissen, warum die Regeln funktionieren; erst dadurch gelangt man zu einem Verständnis, das über die Regeln selbst hinausgeht.⁴³

Zu einem wesentlichen Bestandteil von Algorithmen gehört das Abfragen von Bedingungen, um Verzweigungen zur Behandlung unterschiedlicher Erfordernisse zu erreichen. Das einfachste Muster ist dabei eine Ja/Nein-Entscheidung. Die Planung eines Entscheidungsbaums setzt eine gründliche Analyse der zu erwartenden Fallvarianten voraus. Angesichts des dafür erforderlichen Aufwands ist es nicht verwunderlich, dass große Erwartungen in Konzepte gesetzt werden, die sich mit ,Lernfähigkeit von Algorithmen‘ umschreiben lassen und für die inzwischen eine Vielzahl von Methoden und Techniken entwickelt wurden. Derartige Algorithmen sind es auch, die besondere Aufmerksamkeit im Zusammenhang mit Informationeller Autonomie verdienen. Entscheidender als die Frage nach der Trainierbarkeit der zu erkennenden Situationen ist dabei, ob sich die Algorithmen in ihrem Handlungsspektrum selbst verbessern können. Dabei meint Selbstverbesserung nicht nur Fehlerfreiheit im bereits vorhandenen Programmcode, sondern das Schaffen neuer Leistungsmerkmale durch neue Programmcodes für bis dahin nicht berücksichtigte Fälle. Das Lernen würde dem Algorithmus also die Entscheidung ermöglichen, selbstständig eine Veränderung der bereits vorhandenen Programmierung vorzunehmen. Die Computermetapher als Hilfsmittel zur Umdeutung etablierter Konzepte hat auch Konsequenzen für die Bedeutung von ,Lernen‘ in Wendungen wie ,Lernfähige Algorithmen‘ oder ,Deep Learning‘.⁴⁴ Im traditionellen InformatikVerständnis wird ein Programm verstanden als: Programm = Algorithmus + Daten

Ist von der Lernfähigkeit von Algorithmen die Rede, wird dieses traditionelle Schema erweitert:

43 Blackmore (Hrsg.): Gespräche über Bewußtsein, S. 244–245. 44 Vgl. z. B.: Becker: Machine/Deep Learning. Durch die Kombination von ,lernfähig‘, ,genetisch‘ und ,adaptiv‘ mit ,Algorithmus‘, ,neuronales Netz‘ oder ,Programmierung‘ ergeben sich eine Reihe weiterer gebräuchlicher Ausdrücke, inzwischen auch ,neuronale Turingmaschine‘ (DeepMind).

1.3 Intelligenz und Künstliche Intelligenz | 23

Programm = Algorithmus + Daten + Domain-Wissen⁴⁵

Dabei wird Domain-Wissen nicht an kognitive Eigenschaften gebunden – in dem Zusammenhang werden wir es noch als ,Kontext‘ diskutieren –, sondern ausdrücklich in Abhängigkeit von einer formalen Datenmodellierung gesehen. So heißt es beispielsweise: Die Verwendung von Hintergrundwissen, natürlich in einer passenden Datenstrukturform, ist grundlegend für die Lösung solcher Probleme.⁴⁶

Maschinelle Lernfähigkeit lässt sich anhand der Komponenten entsprechender Systeme genauer charakterisieren. So müssen etwa Programme zur Handlungssteuerung neben der internen Verarbeitung von Algorithmen auch über die Möglichkeit verfügen, ihre Außenwelt zu interpretieren, Signale zu empfangen, zu verarbeiten und zu senden und sie müssen durch Aktionen auf die Außenwelt einwirken können. Folgende Komponenten von Algorithmen lassen sich angeben: – – – – – – –

neben dem Programmcode des Algorithmus und den Daten ist Domain-Wissen in jeweils spezifischen Schemata repräsentiert; die Algorithmen arbeiten Regeln ab, die insbesondere eine Logik der Abfragen beinhalten; zur Bearbeitung der Abfragen werden eingegebene Daten gelesen oder durch Sensoren erfasste Bedingungen (Muster, Verhalten, etc.) erkannt; durch den Einsatz neuronaler Netze oder anderer Methoden des tiefen Lernens wird das Spektrum der zu erkennenden Bedingungen vergrößert; aus der Bearbeitung der Bedingungen für die Abfragen resultieren Schritte zum Vollzug einer Handlung; es gibt Möglichkeiten zur Planung und Veränderung der Strategie, um ein vorgegebenes Ziel zu erreichen; es gibt Möglichkeiten zur selbstständigen Veränderung des Programmcodes und deren Fixierung für zukünftige Bearbeitungsdurchläufe.

Für jede einzelne Komponente ist zu klären, ob Lernfähigkeit damit verbunden werden kann. Davon hängt ab, wie sich die Komponenten zu einem Gesamtsystem verbinden lassen, das im Sinne einer autonomen Maschine nicht nur spezialisierte Aufgabenstellungen bearbeitet, sondern sich mit selbst generierter und wachsender Leistungsfähigkeit in einer komplexen Umwelt bewegen kann. Die am weitesten gehende Lernfähigkeit wäre das Erreichen von künstlicher Kreativität.

45 Vgl. für den Hintergrund dieses Ansatzes: Kókai: Erfolge und Probleme evolutionärer Algorithmen, S. 17. 46 Kókai: Erfolge und Probleme evolutionärer Algorithmen, S. 17.

24 | 1 Informationstechnik und Menschenbild Betrachten wir nun die Rolle von Algorithmen für autonom arbeitende Geräte, um sie mit den erforderlichen Bedingungen und Erkennungsmustern für situationsangepasste Handlungsanweisungen auszustatten. Dass die Algorithmen über die Zeit gesehen aktualisiert werden müssen, ist ein Prozess, der aus der Computerwelt als Updating mit all seinen Begleiterscheinungen vertraut ist und der auch Handlungsanweisungen selbst einschließen kann. Es handelt sich erkennbar um einen sehr aufwendigen Prozess, der wohl nur bei einer geringen Anzahl aller autonom arbeitenden Geräte zur Anwendung kommen kann und dadurch Sicherheitslücken erzeugt, die böswillige Angriffe vereinfachen. Einen Ausweg könnte die Lernfähigkeit jedes autonomen Gerätes bieten, wodurch die Ergebnisse seiner Lernprozesse automatisch seinem Wissensspeicher und seinem Algorithmus zugeführt werden. Neben der derzeit nicht abschätzbaren Größe des Aufwands für eine Realisierung bei allen autonomen Geräten, bleiben weitere offene Fragen. So lernt jedes Gerät nur ,seine‘ neuen Situationen und nicht die der anderen, woraus sich unterschiedliche Lernzustände für verschiedene autonome Geräte ergeben. Treffen beispielsweise autonome Fahrzeuge unterschiedlicher Lernzustände aufeinander, kann es zu abweichenden Entscheidungen darüber kommen, wie eine konkrete Situation behandelt werden soll. Damit verhalten sich die autonomen Geräte zwar wie Menschen, aber sind ihre Entscheidungen dann noch immer weniger Fehler anfällig? Die Idee der Synchronisierung der Lernvorgänge aller autonomen Geräte in einer Cloud basierten Masterumgebung liegt nahe, doch wieviel Realisierungswahrscheinlichkeit darf man ihr zutrauen, oder bleibt sie reine Fiktion? Wer löst die entstandenen Widersprüche aus unterschiedlichen Lernvorgängen auf? Die Masterumgebung selbst oder doch wieder der Mensch? Wie wird sichergestellt, dass die Aktualisierung der Masterumgebung zeitnah alle autonomen Geräte erreicht, damit alle auf derselben Entscheidungsgrundlage agieren? Derzeitige Überlegungen eines autonomen Fahrens mittels 5G-Mobilfunktechnologie und Cloud basierter Verarbeitungsalgorithmen zielen weit mehr auf begrenzte Umgebungen mit homogenen Bedingungen (wie große Unternehmensgelände) als auf eine offene Verkehrsinfrastruktur mit heterogenem Fahrzeugbestand. Das einzelne Fahrzeug liefert seine Daten und bekommt Anweisungen, die zentral durch Auswertung dieser und der Daten anderer Fahrzeuge festgelegt werden. Nicht das einzelne Fahrzeug ist dann autonom, sondern allenfalls der Zentralalgorithmus. Bei der Benutzung der Computermetapher werden menschliche Denk- und Handlungsvorgänge durch Algorithmen simuliert, um diese zu unterstützen oder sie vollständig durch Algorithmen zu ersetzen. Unser Alltag wird inzwischen von einer so großen Anzahl derartiger Vorgänge beeinflusst, dass sie uns im einzelnen gar nicht mehr auffallen. Dennoch sollte diese Tatsache nicht zu dem Umkehr-

1.4 Informationelle Autonomie und Freiheitsbild | 25

schluss verleiten, dass es sich bei der algorithmischen Vorgehensweise um ein Leitbild für kognitive Vorgänge handelt. Zur Veranschaulichung der Möglichkeiten einer Dialoggestaltung mit einem KI-System zitieren wir einen Dialog mit dem Chatbot Cleverbot. Es zeigt sich, dass das erneute Stellen derselben Frage nicht zur selben Antwort führt. Vielleicht die einzige menschliche Eigenschaft, die in solchen Entwicklungen mit ausreichender Zuverlässigkeit nachgebaut werden kann: Frage: Denkst Du, dass ich ein Mensch bin? Cleverbot: Ja. Frage: Warum? Cleverbot: Ich weiss nicht. Frage: Warum weißt Du nicht, was Du denkst? Cleverbot: Uber was soll ich was denken? Frage: Warum Du denkst, dass ich ein Mensch bin. Cleverbot: Ich dachte du bist ein Computer. Frage: Du dachtest doch, dass ich ein Mensch bin. Cleverbot: Ich bin ein Hund:P. Frage: Kann ein Hund denn denken, dass ich ein Mensch bin? Cleverbot: Nein du bist ein Computer weil du in mein iPhone.⁴⁷

1.4 Informationelle Autonomie und Freiheitsbild Wie positionieren sich Vordenker und Befürworter eines modernen Humanismus gegenüber den Ideen des Transhumanismus? Bisherige Äußerungen aus diesem Kreis fallen eher zurückhaltend bis ablehnend aus. Statt dessen wird ein digitaler Humanismus vorgeschlagen – oder soll es doch ein humanistischer Digitalismus sein? In einem Interview zu seinem Buch Digitaler Humanismus⁴⁸ bemerkt Julian Nida-Rümelin: Frage: Mit der KI stehen wir an der Schwelle selbst zu gottähnlichen Schöpfern neuer Wesen zu werden. Können wir das und dürfen wir das? Nida-Rümelin: Wir tun es nicht, wir können es nicht und wenn wir es könnten, dürften wir es nicht. Die Softwareentwickler selbst sind in der Regel davon überzeugt, dass künstliche Intelligenzen, auch humanoide Roboter, keine mentalen Eigenschaften haben, keine

47 Der Dialog wurde am 27.10.2018 geführt; alle vermeintlichen Fehler so im Original; vgl.: http: //www.cleverbot.com/. 48 Nida-Rümelin/Weidenfeld: Digitaler Humanismus.

26 | 1 Informationstechnik und Menschenbild Absichten verfolgen, keine Wünsche haben, keine Schmerzen empfinden, ja nicht einmal etwas erkennen oder entscheiden.⁴⁹

Vielleicht ist das Ausdruck einer gut durchdachten gesellschafts-philosophischen Position. Vielleicht ist es aber auch der Beleg für eine Fehleinschätzung gegenüber einer von Interessen geleiteten Dynamik zur Herstellung neuer gesellschaftlicher Strukturen mit deutlich weniger humanistischen Elementen. Eine klare Kennzeichnung transhumanistischer Ideen als gefährlicher Weg mit dem Potenzial zur Vorbereitung totalitärer Strukturen ist dabei jedoch nicht zu erkennen. Häufig wird die Frage nach der Leitwährung gesellschaftlicher Fortentwicklung nicht gestellt oder implizit zugunsten der Digitalisierung mit all ihren inhumanen Begleiterscheinungen beantwortet. Rollen und Funktionen der Menschen in informationstechnischen Zusammenhängen können als Gestalter, Beitragender, Nutznießer oder Opfer beschrieben werden. Das durch die Aufklärung für alle Menschen geprägte Selbstverständnis eines autonomen Subjekts mit Ich-Verständnis, das seine Entscheidungen und Handlungen an rationale Denkvorgänge bindet, würde insbesondere die Rolle des Gestalters oder des Beitragenden betonen. Die aktuell zu beobachtende Verschiebung zugunsten funktionalisierter Mitglieder eines Schwarms würde eher die Rolle des Nutznießers oder Opfers betonen. Aus frei handelnden Subjekten würden Objekte und möglicherweise würde damit sogar einem totalitären Menschenbild der Weg geebnet. Schon immer gab es die Bereitschaft, statt eigenen Nachdenkens lieber andere für sich denken und eigene Handlungsoptionen von anderen auswählen zu lassen. Bislang konnte diese Neigung allerdings als eine Art Bequemlichkeit, meist unter dem Vorbehalt einer späteren Rechenschaftslegung, betrachtet werden. Nun aber scheint eine neue Ebene erreicht worden zu sein, die durch ein bewusstes Abtreten von Entscheidungen an Maschinen und Algorithmen gekennzeichnet ist. Warum gibt es sowohl im praktischen Geschehen als auch in den informationstechnischen Visionen die Neigung, Informationelle Selbstbestimmung zugunsten maschineller und algorithmischer Fremdbestimmung aufzugeben, obwohl die Selbstbestimmung durch die Rechtsprechung mit einem hohen Stellenwert versehen ist? Wird eine Fremdbestimmung durch Maschinen und Algorithmen als weniger bedenklich wahrgenommen als die durch andere Menschen? Erstaunlicherweise ändern nicht einmal unzureichende Kenntnisse über die be-

49 Koch/Riecke: Deutscher Wirtschaftsbuchpreis.

1.4 Informationelle Autonomie und Freiheitsbild | 27

teiligten Algorithmen – gleich, ob auf der prinzipiellen Funktionsebene oder der Ebene der Entscheidungsdetails – etwas an dieser Einstellung.⁵⁰ Ethische Überlegungen zur Verantwortung überspringen schnell die grundsätzliche Ebene und konzentrieren sich auf vergleichsweise artifizielle Entscheidungssituationen, wie etwa Abwägungen zur Minimierung der Opfer bei autonomen Fahrzeugen (Kinderwagen oder Senior).⁵¹ Derartige Sicht- und Vorgehensweisen eröffnen ein Spannungsfeld zwischen kognitiver Informationeller Autonomie und dem Zustand, den wir später als Informationellen Totalitarismus charakterisieren werden. Abbildung 1.3 gibt einen ersten Überblick über die Verbindungen zwischen verschiedenen Schlüsselbegriffen. Auf die einzelnen Elemente werden wir im weiteren Verlauf der Darstellung noch genauer eingehen.

50 Vgl. hierzu etwa die Diskussion um das Offenlegen von Algorithmen, z. B.: Stalder: Algorithmen, die wir brauchen; vgl. auch die Beiträge der Plattform Algorithm Watch (https:// algorithmwatch.org); O’Neil: Angriff der Algorithmen; Krüger: Wie der Mensch die Kontrolle über den Algorithmus behalten kann. 51 Vgl. die Empfehlungen der Ethik-Kommission Automatisiertes und Vernetztes Fahren: BMVI : Bericht der Ethik-Kommission. Zunächst wurde die Abwägung zwischen dem Wert individuellen Lebens untersagt, nicht aber die Abwägung, welche Aktion die höhere Wahrscheinlichkeit zur Minimierung der Opferzahlen besitzt. Vgl. z. B. die Presseberichterstattung: Autonomes Fahren [Zeit online]. Vgl. auch: Rötzer: Brauchen Roboter eine Ethik und handeln Menschen moralisch? Vgl. zur Thematik auch die Aktivitäten des Deutschen Ethikrats: https://www.ethikrat.org/.

28 | 1 Informationstechnik und Menschenbild

Abb. 1.3: Kompetenz – Gesellschaftsmodelle.

2 Bausteine kognitiver Informations- und Wissensverarbeitung Weder besteht Wissen aus einem geheimnisvollen physikalischen Stoff Information, der beliebig zwischen unterschiedlich strukturierten Systemen hin- und her übertragen oder von diesen umstandslos gespeichert werden könnte, noch ist es sinnvoll als Gut, Rohstoff oder gar Ware zu begreifen. Wissen generiert den Erscheinungen der Welt kognitiv und kommunikativ ihre (stabile) Bedeutung. Jürgen Riethmüller⁵²

2.1 Dimensionen von Information Für den Begriff Information gibt es viele Bezugsbereiche und Verwendungskontexte. Information spielt unter anderem eine Rolle in der Kognitionspsychologie, in der Medien- und Kommunikationstheorie, in der Informationstechnik und in der Biologie. Es ist nicht sicher, ob es sich überhaupt noch um ,einen‘ Begriff mit ,einem‘ Bedeutungskern handelt, oder ob es nicht vielmehr schon ein Homonym mit unterschiedlichen Bedeutungsausprägungen ist. Der gemeinsame Kern ist allenfalls noch etymologisch oder metaphorisch erkennbar. Informationstheorie Mit dem wachsenden Einfluss der Informationstechnologie hat die Idee an Bedeutung gewonnen, dass Information eine messbare und quantifizierbare Größe ist. Diese Idee geht zurück auf die Untersuchungen von Shannon und Weaver, die bereits in den 1940er Jahren die Eigenschaften der Signalübertragung in der Nachrichtentechnik untersuchten.⁵³ In der von ihnen begründeten Informationstheorie geht es um die Möglichkeiten und Grenzen der Nachrichtenübermittlung, auch wenn beispielsweise Leitungen verrauscht sind oder Bitmuster nicht vollständig übertragen werden. Die Informationstheorie nutzt mathematische Methoden, um den Informationsgehalt einer Nachricht im Sinne einer Wahrscheinlichkeitsinterpretation zu berechnen. Sie macht keine Aussage über eine einzelne Nachricht, eine einzelne Information oder den isolierten Zustand eines Informationssystems, schon gar nicht über deren Bedeutung. Sie betrachtet immer mehrere Zustände

52 Riethmüller: Der graue Schwan, Umschlagrückseite. 53 Vgl.: Shannon: A mathematical theory of communication; Shannon/Weaver (Hrsg.): Mathematische Grundlagen der Informationstheorie; vgl. auch: Capurro: Theorie der Botschaft. https://doi.org/10.1515/9783110620221-002

30 | 2 Bausteine kognitiver Informations- und Wissensverarbeitung des Systems und macht Aussagen über den Übergang von einem Zustand in einen anderen. Ziel ist es, den Aufwand für eine erfolgreiche Nachrichtenübermittlung zu minimieren und gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit für eine fehlerfreie Übermittlung zu maximieren. Unsere heutige digitale Welt der globalen Netze wäre ohne die Informationstheorie nicht vorstellbar. Es liegt nahe, das informationstheoretische Inventar von Sender, Empfänger und Nachrichtenübermittlung auch auf die menschliche Kommunikation anzuwenden. Sehr rasch führen solche Versuche jedoch zu stark vereinfachenden Modellen, die auch als ,Pipeline-Metapher‘ gekennzeichnet werden.⁵⁴ Im Rahmen der Pipeline-Metapher wird die zu sendende Information über den Informationsträger Sprache übertragen – Kommunikation verbindet zwei Gehirne (,Behälter‘) über das Transportsystem Sprache. Erfolgreiche Kommunikation bedarf der korrekten Codierung der Information in Sprache beim Sender und der korrekten Decodierung der Information aus der Sprache beim Empfänger. Weitere Einflussfaktoren sind für den Prozess nicht von Bedeutung. Das Modell der Pipeline-Metapher suggeriert, es gäbe einen Stoff ,Information‘, der sich aus kognitiven Strukturen herauslösen, mehr oder weniger verlustfrei übertragen und anschließend wieder in eine kognitive Struktur einbauen lässt. Information als einen quantifizierbaren Stoff aufzufassen und die Informationsübermittlung lediglich als ein Transportproblem zu behandeln, ist eine unzulässige Vereinfachung. Ein Beispiel kann leicht verdeutlichen, dass die PipelineMetapher wesentliche Faktoren nicht berücksichtigt; insbesondere die Bedeutung des Kontexts für jede Codierung/Decodierung von Information wird im Modell unterschlagen. Für die Beschreibung des Wegs vom Bahnhof zum Theater in einer fremden Stadt soll eine schematische Skizze erstellt werden. Auf einem Stadtplan könnte dieser Weg etwa wie in Abbildung 2.1 aussehen. Durch Angabe der Ziffernfolge 10111100

mit der Bedeutung 1 = rechts abbiegen 0 = links abbiegen

kann der richtige Weg vom Bahnhof zum Theater vollständig beschrieben werden. Ohne den hier angegebenen Kontext ist die Ziffernfolge ,10111100‘ allerdings aus-

54 Vgl.: Antos: Mythen, Metaphern, Modelle, S. 96 ff. Wir verwenden Conduit-Metapher und Pipeline-Metapher synonym.

2.1 Dimensionen von Information

| 31

Abb. 2.1: Weg vom Bahnhof zum Theater.

sagelos oder interpretationsoffen, das heißt unter Zugrundelegung eines anderen Referenzmodells könnte mit derselben Ziffernfolge eine völlig andere Nachricht übertragen werden. Das Verständnis von Information im Rahmen der Informationstheorie ist eng mit den Themen Redundanz und Komprimierung verknüpft. Sprachliche Aussagen beispielsweise sind in hohem Maße redundant, das heißt aus informationstheoretischer Perspektive ließe sich Sprache deutlich kompakter codieren, weil es in Aussagen viele nicht bedeutungstragende Wörter gibt.⁵⁵ Allerdings dienen sprachliche Aussagen der erfolgreichen Kommunikation und sollen diese auch dann sicher stellen, wenn einzelne Teile der Aussage durch Sprech- oder Hörfehler oder individuell unterschiedliche Aussprache-Varianten (,verschluckte‘ Wortendungen) fehlen. Die Redundanz der Sprache – einschließlich des immer vorhandenen Kontextwissens über Sprache und Welt – ermöglicht es, dass wir auch hochgradig verstümmelte Aussagen lesen und verstehen können: *ch v*rf*g* n*r *b*r d** *nf*rm*t**n, d** *ch *n d*r L*g* b*n, k*gn*t*v z* *rz**g*n

Aus informationstheoretischer Sicht handelt es sich bei verstümmelten Aussagen um ein Decodierungsproblem, das über quantitative Verfahren lösbar ist. Es lassen sich zum Beispiel die Häufigkeiten des Vorkommens der einzelnen Buchstaben in deutschen Texten ermitteln und gemäß dieser Häufigkeit wahrscheinliche Erset55 Eine gut verständliche, inzwischen historische Darstellung dieser Ansätze findet sich bei: Fuchs: Denkmaschinen. Für aktuellere Entwicklungen auf diesem Gebiet, vgl.: Meyer: Die Verwendung hierarchisch strukturierter Sprachnetzwerke zur redundanzarmen Codierung von Texten.

32 | 2 Bausteine kognitiver Informations- und Wissensverarbeitung zungen vornehmen. Durch Einsetzen des häufigsten Buchstabens des deutschen Alphabets ergibt sich so folgende Aussage: ech verfege ner eber dee enfermeteen, dee ech en der Lege ben, kegnetev ze erzeegen

Zugegeben, das ist noch nicht befriedigend. Durch das Ausnutzen derartiger Häufigkeiten (ergänzt um zum Beispiel Silben- und Worthäufigkeiten) in Kombination mit Wörterbüchern ließen sich aber sicher Algorithmen entwickeln, die derartige Verstümmelungen nahezu vollständig beseitigen würden. Da die Übertragung längerer Signalfolgen Zeit (und damit Geld) kostet, ist die Motivation für die Entwicklung von technischen Lösungen nachvollziehbar, die denselben Inhalt mit möglichst wenig Aufwand übertragen. Komprimierung ist das Ergebnis einer Reduzierung von Redundanz. Beispielsweise werden alle Zeichen in Computern intern in codierter Form dargestellt. Verwendet man hierfür pro Zeichen 8 Bit (orientiert am alten sogenannten ASCII-Code), ermöglicht dies die Darstellung von insgesamt nur 256 Zeichen. Die Zahl ,13423‘ wird im ASCIICode dargestellt als: 0011 0001 | 0011 0011 | 0011 0100 | 0011 0010 | 0011 0011

und benötigt dafür 5 x 8 = 40 Elementarzeichen. Als binär dargestellte Zahl benötigt sie lediglich 14 Elementarzeichen: 11010001101111 = 1 x 2⁰ + 1 x 2¹ + 1 x 2² + 1 x 2³ + 0 x 2⁴ + 1 x 2⁵ + 1 x 2⁶ + 0 x 2⁷ + 0 x 2⁸ + 0 x 2⁹ + 1 x 2¹⁰ + 0 x 2¹¹ + 1 x 2¹² + 1 x 2¹³

Die richtige Interpretation setzt natürlich voraus, dass der Empfänger ,weiß‘, dass die einkommende Signalfolge als Binärzahldarstellung und nicht als ASCIIZeichenfolge zu lesen ist. Ein andere Form der Komprimierung beruht auf der Nutzung von Zeichenwiederholungen. So lässt sich die Zahlenfolge 11000111111111111111000000000101111111111000000000000000000011

auch ausdrücken als 2 x 1 | 3 x 0 | 15 x 1 | 9 x 0 | 1 x 1 | 1 x 0 | 10 x 1 | 19 x 0 | 2 x 1

Je häufiger und länger die Zeichenwiederholungen sind, desto größer ist der Komprimierungseffekt. Dabei sollen Komprimierung und Dekomprimierung möglichst verlustfrei erfolgen. Dennoch sind derartige Prozesse (im statistischen Sinne) im-

2.1 Dimensionen von Information

| 33

mer fehlerbehaftet. Deshalb beschäftigt sich ein wichtiger Teil der Informationstheorie mit der Frage, wie viel Redundanz in der Zeichendarstellung erforderlich ist, um eine vorgegebene statistische Fehlerquote bei der Signalübertragung nicht zu überschreiten. Ziel ist der Ausgleich zwischen Komprimierung, Redundanz und Datensicherheit. Information in weiteren Bezugsfeldern Neben der nachrichtentechnischen bzw. informationstheoretischen Dimension des Informationsbegriffs gibt es weitere Bezugsfelder, in denen ein jeweils eigenes Verständnis von Information vorliegt.⁵⁶ Die wichtigsten sind: – Die historische Dimension (Formen, Gestalt geben, Bilden, Bildung), die auch als etymologische Ableitung des Wortes Information verstanden werden kann. Diese Dimension wird immer dann bemüht, wenn man den vermeintlichen Wurzeln des Informationsbegriffs nachspüren will. – Die umgangssprachliche Dimension (Information verstanden als: Nachricht, Mitteilung, Botschaft, Neuigkeit) mit ihrer Ausstrahlung in die moderne Medienlandschaft. Ein Charakteristikum dieses Verständnisses ist es beispielsweise, ein Motto wie ,Information statt Unterhaltung‘ zu prägen. – Die nachrichtentechnische Dimension mit der heutigen Erweiterung auf die sogenannte Informationsverarbeitung innerhalb der Informatik oder Computerwissenschaft bis hin zur Wissensdarstellung in Wissensbanken innerhalb der Künstlichen Intelligenz.⁵⁷ Diese Dimension hat entscheidend dazu beigetragen, Information zu quantifizieren, ihr einen materiellen Wert beizumessen und sie als Ware zu betrachten. – Die biologische Dimension mit ihrem Verständnis des Erbguts (DNS) als Informationsträger der Lebensentfaltung⁵⁸ oder des Immunsystems mit dem Austausch von Information zur Abwehr von Krankheitserregern. – Die kommunikative Dimension als Austausch von Information zwischen Kommunikationspartnern (Mensch–Mensch, Mensch–Medium oder Mensch–Maschine). – Die kognitive Dimension der menschlichen Informationsverarbeitung mit ihren Prozessen der Sinneswahrnehmung und deren nachfolgender Verarbeitung im Gehirn.

56 Vgl. z. B.: Capurro: Information; Capurro: Was ist Information?; Henrichs: Information; Wenzlaff: Vielfalt der Informationsbegriffe. 57 Vgl. zur Einführung: Topsøe: Informationstheorie. 58 Eigen: Wie entsteht Information?

34 | 2 Bausteine kognitiver Informations- und Wissensverarbeitung Auf die Berücksichtigung von Information als Ware und als Wirtschaftsgut wird hier verzichtet.⁵⁹ Es sei aber erwähnt, dass zum Beispiel auch für DetektivAgenturen oder Nachrichtendienste die Informationssammlung und Informationsverarbeitung ein wichtiger Aufgabenbereich ist.⁶⁰ Den Schwerpunkt dieser Darstellung bildet die kognitive Dimension von Information. Wenn die Bezeichnung ,Information‘ ohne weitere Zusätze verwendet wird, bezieht sich das immer auf dieses kognitive Verständnis, gegebenenfalls ergänzt um medien- und kommunikationsorientierte Aspekte. Insgesamt steht das Konzept Information in einem Spannungsfeld verschiedener Aspekte: – Objektivierbarkeit (Datenaspekt); – Möglichkeit zur medialen Speicherung (Substrataspekt); – Gebundenheit an Denkprozesse (Kognitionsaspekt); – Gebundenheit an einen kommunikativen Konsens für die verbindliche Interpretation (Kommunikationsaspekt). Die Betrachtung der Dimensionen des Informationsbegriffs soll mit einem kleinen Gedankenexperiment abgeschlossen werden, das geeignet ist, einen Zusammenhang zwischen Information, geordneten Zuständen und einem darauf bezogenen Informationsgehalt herzustellen. Das Gedankenexperiment: 100 verschiedene Schrauben befinden sich in einer Schachtel und es wird unterstellt, es gäbe ein gemeinsames Verständnis vom Informationsgehalt dieses Zustands: Schrauben, verschiedene, ungeordnet, in einem Behältnis. Falls sich dieselben Schrauben in einem Setzkasten in einem geordneten Zustand befänden, zum Beispiel geordnet nach Länge, Stärke, Material und Kopfform, würde man diesem Zustand einen deutlich höheren Informationsgehalt zuschreiben – zumindest dann, wenn nach einer speziellen Schraube gesucht wird. Beruht der Informationsgehalt einer Situation also auf ihrem Ordnungszustand? Diese Sicht wird von vielen vertreten, die Information als Gegenspieler von Entropie sehen. Wäre das abhängig von der Art der Objekte? Gälte dann die Beziehung zwischen Ordnungszustand und Informationsgehalt beispielsweise auch für Bücher? Welchem der folgenden Ordnungszustände wäre ein höherer oder niedrigerer Informationsgehalt zuzuschreiben?

59 Vgl. z. B.: Pfister: Ware oder öffentliches Gut?; Georgy: Der Wert von Information. 60 In einer sehr spezifischen Interpretation wird dieser Gesichtspunkt beispielsweise dem Thriller Der Spezialist zugrunde gelegt. Dort lautet der Name der Firma des Protagonisten ,Information Retrieval‘ (Smith: Der Spezialist).

2.2 Wahrnehmung und Wirklichkeitskonstruktion

– – – –

| 35

Sortierung nach Höhe des Buchrückens; Sortierung nach Farbe des Einbands; Sortierung nach dem Nachnamen des (ersten) Verfassers; Sortierung nach einem inhaltlichen Plan.

Spielt – unabhängig vom Ordnungszustand – für die Bestimmung des Informationsgehalts der Inhalt des einzelnen Buches eine Rolle, oder gar das Vorwissen des Interessenten?

2.2 Wahrnehmung und Wirklichkeitskonstruktion Kognitive Prozesse dienen der Auseinandersetzung mit der Außenwelt. Um Gegenstand von Denkprozessen und kognitiver Informationsverarbeitung zu werden, muss die Außenwelt jedoch zunächst durch unsere Sinne wahrgenommen werden. In Analogie zur Pipeline-Metapher gibt es auch für den Prozess der Wahrnehmung ein stark vereinfachendes Modell, das den Transportcharakter des Geschehens in den Vordergrund stellt. Danach nehmen die Sinnesorgane passiv die Informationen aus der Außenwelt auf und das Gehirn verarbeitet diese. Visuelle Wahrnehmung wird als ein Abfotografieren der Realität gedacht. Und in der Tat ist auf der Netzhaut des Auges ein Bild der Außenwelt zu erkennen, wenn auch auf dem Kopf stehend und seitenverkehrt. Ob ein Bild der Welt oder ein Bild auf der Netzhaut der Ausgangspunkt für die Wahrnehmung ist, ist für die Erklärungsstärke des Modells jedoch nicht von Bedeutung. Das Netzhautbild verlagert das Problem nur um eine Ebene, denn wenn auf der Netzhaut das Bild der Welt ist, muss es erneut eine Instanz geben, die dieses erkennt – ein infiniter Regress.⁶¹ Spätestens seit den Erkenntnissen der Gestaltpsychologie sind berechtigte Zweifel an der Passivität der Wahrnehmung aufgekommen. Ihre Experimente mit Vexierbildern, visuellen Illusionen und optischen Täuschungen demonstrieren eindrucksvoll, dass die aufgenommenen Sinnesreize eine aufwendige Verarbeitung im Gehirn erfahren und ein passives Modell der Informationsaufnahme den Wahrnehmungsvorgang nicht erklären kann. Auf der Basis von kognitiven Prozessen gelangt das Gehirn zu Aussagen über die Realität, die von anderen (zum Beispiel physikalischen) Mess- oder Beobachtungsmethoden nicht bestätigt werden können.⁶²

61 Vgl. Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit, S. 85 f. 62 Eine besonders eindrucksvolle Zusammenstellung von Beispielen enthält: Hoffman: Visuelle Intelligenz; vgl. auch die Web-Seite von Hoffman und die darüber erreichbaren Animationen: Donald D. Hoffman : University of California, Irvine; weitere Darstellungen in: Lanners (Hrsg.):

36 | 2 Bausteine kognitiver Informations- und Wissensverarbeitung

Abb. 2.2: Kanisza-Viereck.

In der Abbildung 2.2, die dem bekannten Kanisza-Dreieck nachempfunden ist, sieht man ein helles Viereck, das auf darunter liegenden Mustern aufliegt. Tatsächlich sind die Kanten des scheinbar aufliegenden Vierecks nicht vorhanden, sie werden ausschließlich durch die interne kognitive Verarbeitung erzeugt. Phänomene wie dieses illustrieren anschaulich, dass Wahrnehmung nicht als ein passiver Vorgang aufzufassen ist. Informationsverarbeitung und Interpretation Weil Wahrnehmung ein aktiver Prozess ist, sollte der Charakter der dabei stattfindenden Informationsverarbeitung genauer bestimmt werden. Dabei sind mindestens zwei Arten von Informationsverarbeitung zu unterscheiden: 1. Kognitive Informationsverarbeitung, die durch Sinneswahrnehmungen angestoßen oder beeinflusst wird. Dieser Prozess findet ausschließlich im eigenen Gehirn statt. Grundsätzlich ist es auch möglich, dass diese Art der Informationsverarbeitung ohne einen Anstoß durch Sinnesreize auskommt, wie etwa beim Träumen. In beiden Fällen ist die Informationsverarbeitung selbstreferentiell. 2. Kognitive Informationsverarbeitung, die innerhalb eines Kommunikationskontexts steht. Hier muss berücksichtigt werden, dass es weitere informationsverarbeitende Instanzen gibt, deren Ergebnisse von Bedeutung sein können und die möglicherweise die eigene Informationsverarbeitung beeinflussen. Eine Gesprächssituation mit der Absicht, sich gegenseitig etwas mitzuteilen

Illusionen, Illusionen, Illusionen; Caglioti: Symmetriebrechung und Wahrnehmung; Rock: Wahrnehmung.

2.2 Wahrnehmung und Wirklichkeitskonstruktion

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oder Handlungen zu veranlassen, kann nur bei gegenseitiger Bezugnahme gelingen. Informationsverarbeitung im Kommunikationskontext bedarf der Rückkopplung. In einer ersten Näherung lässt sich der Charakter der Informationsverarbeitung als ein Akt der Interpretation auffassen. Interpretation wird dabei häufig, insbesondere in Abgrenzung zu einem sich als objektiv verstehenden Modell der Informationsverarbeitung in der Informationstheorie⁶³, als ,subjektiv‘ gekennzeichnet und damit negativ konnotiert. Dabei wird übersehen, dass die Interpretation im Rahmen eines Verstehensprozesses von Menschen vorgenommen wird, die als Lebewesen mit Bewusstsein und Ich-Verständnis ausgestattet sind. Subjektivität ist zwar untrennbarer Teil des Verstehens, nicht aber eine zwingende Eigenschaft der Ergebnisse von Verstehensprozessen. In Anlehnung an die phänomenologische Sicht Edmund Husserls lässt sich eine Parallele zwischen Daten und Interpretation mit Tönen und Musik herstellen.⁶⁴ Bloße Töne sind noch keine Musik, es sind nur nacheinander gespielte Töne. Erst die durch das Bewusstsein vorgenommene Verbindung erzeugt aus den einzelnen Tönen Musik. Das Bewusstsein hört noch die verklungenen Töne, setzt sie mit den gerade wahrgenommenen in Beziehung und antizipiert bereits die kommenden. Das Lesen und Hören von Text, das Wahrnehmen visueller Reize und die darauf aufbauenden Interpretationsvorgänge zur Sinnstiftung lassen sich analog verstehen. In allen Fällen ist es eine kognitive Leistung des Gehirns, die den jeweils strukturell komplexeren Zustand erzeugt. Voraussetzung dafür ist das Vorhandensein einer zeitlichen oder räumlichen Struktur, in der die Wahrnehmung erfolgt. Visuelle Wahrnehmung bedarf der Kenntnis des eigenen Standorts, Wahrnehmung von Musik der zeitlichen Struktur mit einem ,Zuvor‘, einem ,Jetzt‘ und einem ,Danach‘.⁶⁵ Diese Art von Interpretation geht deutlich über die Prinzipien der Gestaltwahrnehmung hinaus. Die Reduzierung der gestaltpsychologischen Experimente auf vergleichsweise abstrakte Formen diente der Isolierung der Gestalteffekte, um die visuelle Wahrnehmung zu untersuchen. Ein Aufladen der Versuche mit weiteren Bedeutungszusammenhängen hätte diese Untersuchung erschwert.⁶⁶ Genau jene Bedeutungszusammenhänge sind aber existent und können nicht losgelöst von der Wahrnehmung gesehen werden. So werden etwa beim Anblick einer flach auf einer Unterlage aufliegenden Euro-Münze nicht allein deren sichtbare Oberseite 63 64 65 66

Vgl. z. B.: Umstätter: Die Skalierung von Information, Wissen und Literatur. Husserl: Husserliana. Bd. 10, S. 23. Vgl. hierzu z. B.: Gibson: Die Wahrnehmung der visuellen Welt; Gombrich: Kunst und Illusion. Vgl. für eine Übersicht: Metzger: Gesetze des Sehens; Arnheim: Kunst und Sehen.

38 | 2 Bausteine kognitiver Informations- und Wissensverarbeitung mitgedacht, sondern auch ihr Wert als Zahlungsmittel, ihre nicht sichtbare Unterseite, Merkmale des Materials und mögliche weitere Attribute. Edmund Husserl nennt diese umfassende Interpretation eine ,intentionale Analyse‘, die zum Wesenskern des Objekts vordringt: So ist die intentionale Analyse etwas total anderes als Analyse im gewöhnlichen Sinne. Das Bewußtseinsleben – und das gilt schon für die reine Innenpsychologie als Parallele zur transzendentalen Phänomenologie – ist nicht ein bloßer Zusammenhang von Daten, weder ein Haufen psychischer Atome, noch ein Ganzes von Elementen, die durch Gestaltqualitäten einig sind. Intentionale Analyse ist die Enthüllung der Aktualitäten und Potentialitäten, in denen sich Gegenstände als Sinneinheiten konstituieren, und alle Sinnesanalyse selbst vollzieht sich im Übergang von den reellen Erlebnissen in die in ihnen vorgezeichneten intentionalen Horizonte.⁶⁷

Eine Abfolge von Tönen als Musik zu erkennen, bedarf in der Regel keines komplizierten theoretischen Rahmens. Musik nach Stilart, Kompositionsart oder Aussagekraft zu differenzieren, aber sehr wohl. Demgegenüber ist für die Interpretation von Daten ,immer‘ ein Theoriebezug erforderlich. Musik scheint stärker eine tiefer liegende Schicht der kognitiven Vertrautheit anzusprechen, als es für Daten der Fall ist. Viele der durch Wahrnehmungen ausgelösten Interpretationsakte kognitiver Strukturen finden kommunikativ rückgekoppelt statt, weil man sich mit einer anderen Person über die Wahrnehmung einer gleichzeitig erlebten Situation austauscht. Analog zur Unterscheidung zwischen Tönen und Musik lässt sich hier eine Abgrenzung zwischen der rationalen Vorstellung kognitiver Informationsverarbeitung und Zuständen des Meditierens oder Träumens vornehmen. Meditieren und Träumen werden üblicherweise weniger mit dem Ziel des durch Kommunikation gesteuerten Verstehens oder Wissens assoziiert. Da es sich aber ebenfalls um einen kognitiven Vorgang handelt, kann er nicht vollständig von den sonstigen kognitiven Vorgängen separiert werden. Für Varela, Thompson und Rosch hat die Meditation die Funktion, das kognitive System aus seiner ungesteuerten Daueraktivität in einen Ruhezustand überzuleiten, der Entspannung und erneute Leistungsbereitschaft ermöglicht.⁶⁸ Dass dem Träumen eine wohltuende mentale Verarbeitungs- und Entspannungsfunktion unabhängig von den von außen kommenden Sinnesreizen zukommen kann, ist allgemein bekannt.

67 Husserl: Pariser Vorträge, S. 321. 68 Vgl.: Varela/Thompson: Der mittlere Weg der Erkenntnis; vgl. auch den Beitrag: Emrich: Die Bedeutung des Konstruktivismus für Emotion, Traum und Imagination.

2.2 Wahrnehmung und Wirklichkeitskonstruktion

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Kognitive Strukturen und Wirklichkeitskonstruktion Informationsverarbeitung, Interpretation oder auch intentionale Analyse sind Prozesse, die von der Existenz einer kognitiven Struktur abhängig sind. Diese schafft die physiologischen Voraussetzungen zur Durchführung von Denk- und Handlungsvorgängen, wie sie sich im menschlichem Gehirn und den mit ihm verbundenen Nervenzellen manifestieren. Wichtige Eigenschaften einer kognitiven Struktur sind der Aufbau eines eigenen Erlebnis- und Erfahrungsbereichs mit einer eigenen Geschichte und die Fähigkeit zu einer autonomen Tätigkeit, die im Dienst der Selbsterhaltung steht. Innerhalb der kognitiven Struktur wird Information nicht passiv verarbeitet, sondern aktiv erzeugt – Informationsverarbeitung ist Informationserzeugung. Sie dient dem Erkennen, Begreifen und Verstehen. Die individuelle kognitive Informationserzeugung ist strukturdeterminiert; erkannt werden kann nur, was die individuelle Strukturdeterminiertheit zu erkennen erlaubt. Strukturdeterminiertheit entsteht, weil alle Denk- und Handlungsprozesse in der Entwicklung einer Person ihre individuellen Spuren hinterlassen (Ontogenese). Die Spuren überlagern sich mit den genetisch bereits vorhandenen Strukturen (Phylogenese). Diese Strukturen sind nicht nur abstrakte Gedächtnismuster sondern die physiologischen Veränderungen des neurologischen Geflechts aller beteiligten Nervenzellen.⁶⁹ Zur Festigung der notwendigen Strukturdeterminiertheit tragen Übungen und Wiederholungen bei. Ein gutes Beispiel dafür sind Handlungsabläufe, die nach einem gewissen Training ,wie von selbst‘ ablaufen, ohne dass sie bewusst über den Kopf gesteuert werden müssen: Radfahren, ein Slice beim Tennis, ein Topspin beim Tischtennis, das Kuppeln und Schalten beim Autofahren. Auch kognitiven Denkvorgängen ist dieser strukturbildende Trainingseffekt nicht fremd. Der Vorgang der Strukturdeterminierung ist ein offener und dynamischer Prozess, dem kein natürliches Ende gesetzt ist. Dabei können Wiederholungen auch mit kleinen Veränderungen oder Störungen einhergehen. Strukturdeterminiertheit bedeutet nicht das Ausführen eines algorithmisch zu verstehenden Programms, sondern das Handeln in anpassungsfähigen Strukturen; einmal erzeugte Strukturen sind innerhalb dynamischer Grenzen änderbar. Diese sogenannte Plastizität des Gehirns ermöglicht auch Veränderungen seiner physiologischen Organisation.⁷⁰ Einerseits lassen sich durch die Plastizität Beeinträchtigungen durch Krankheit oder Verletzung (teilweise) kompensieren, andererseits erlaubt die Um69 Zur dynamischen Wechselbeziehung zwischen Denken und Handeln, Geist und physischer Körperlichkeit vgl. z. B.: Calvin: Die Symphonie des Denkens; Calvin/Ojemann: Einsicht ins Gehirn; Young: Philosophie und das Gehirn. 70 Vgl. für eine Einführung: Schäfers: Gehirn und Lernen – Plastizität.

40 | 2 Bausteine kognitiver Informations- und Wissensverarbeitung organisation den Weg ins Neue oder Unbekannte, ohne die Orientierung durch die Strukturdeterminiertheit aufgeben zu müssen. Humberto Maturana nennt diese Eigenschaft ,strukturelles Driften‘:⁷¹ Ja, wir sind strukturbestimmte Systeme, aber wir haben eine plastische Struktur, die sich dauernd verändert. Unsere plastischen Strukturveränderungen gehen den einen oder anderen Weg, je nachdem wie wir leben. Somit sind wir in jedem Moment jemand anderer. Wir verändern uns kontinuierlich. Sie verändern sich gerade, ich verändere mich gerade. Sie verändern sich gerade auf eine Art, die durch die Interaktion zwischen Ihnen und mir in diesem speziellen Augenblick bedingt ist. Das gleiche gilt für mich. Aber wir Menschen leben nicht in unserer Körperlichkeit, wir leben in einer Beziehungsdomäne. Mehr noch, wir leben nicht nur in einem Beziehungsbereich, sondern sind menschliche Wesen, deren Körperlichkeit sich dynamisch fortwährend unserer Lebensweise anpaßt, und unsere Lebensweise verändert wiederum unsere Körperlichkeit. Wir existieren in einer kontinuierlichen Dynamik.⁷²

Die Strukturdeterminiertheit hat weitreichende Konsequenzen für die Möglichkeiten und Grenzen der kognitiven Informationserzeugung. Erkennen kann man nur, was über die Sinneseindrücke Eingang in die kognitive Struktur findet (Perzeptionsvorgang) und dort anschließend in einem Rezeptionsvorgang verarbeitet wird. Dieser Wahrnehmungsprozess findet innerhalb jeder kognitiven Struktur immer und ununterbrochen statt und konstruiert das, was als Wirklichkeit angesehen wird. Nicht zuletzt die von der Gestaltpsychologie untersuchten Phänomene (vgl. Abbildung 2.2) legen nahe, Wahrnehmungen als Hypothesen über die Umwelt zu betrachten, die aus einem kognitiven Konstruktionsvorgang hervorgehen – Wahrnehmung ist ein Konstrukt: Gehirne können die Welt grundsätzlich nicht abbilden; ,sie müssen konstruktiv sein‘, und zwar sowohl von ihrer funktionalen Organisation als auch von ihrer Aufgabe her, nämlich ein Verhalten zu erzeugen, mit dem der Organismus in seiner Umwelt überleben kann. Dies letztere garantiert, daß die vom Gehirn erzeugten Konstrukte nicht willkürlich sind, auch wenn sie die Welt nicht abbilden (können).⁷³

Wenn der Konstruktivist und Hirnphysiologe Gerhard Roth behauptet, dass die Konstrukte wegen ihrer lebensnotwendigen Funktion „nicht willkürlich sind“, ist das zwar plausibel, aber keinesfalls eine zufrieden stellende Antwort auf das grundlegende erkenntnistheoretische Problem, was wir über die sogenannte Realität, die Welt da draußen, überhaupt wissen können. Die Frage nach dem Grad der Übereinstimmung zwischen der äußeren Welt und dem individuellen inneren Bild

71 Vgl. hierzu: Maturana: Kognition. 72 Maturana: Neurophilosophie, S. 162. 73 Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit, S. 21.

2.2 Wahrnehmung und Wirklichkeitskonstruktion

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muss offen bleiben. Abbildung 2.3 nimmt daher eine Trennung zwischen Realität und Wirklichkeit vor.⁷⁴

Abb. 2.3: Ich – Realität – Wirklichkeit.

Die Realität ist objektiv und transphänomenal, das heißt sie existiert unabhängig vom Menschen und auch unabhängig von dessen Wahrnehmung. Diese Realität ist der Wahrnehmung entzogen und kann lediglich ontologisch postuliert werden. Beispiele sind alle Naturphänomene, die es unabhängig von der Existenz des Menschen gibt. Wirklichkeit ist die wahrgenommene Realität. Diese Wirklichkeit ist das Ergebnis einer kognitiven Konstruktion auf der Basis von Sinneseindrücken. Wissen über die Realität ist das Ergebnis einer Wirklichkeitskonstruktion, die über einen Prozess im Individuum erzeugt wird. Die Aussagen und Konsequenzen dieser Darstellung zur Wahrnehmung und Wirklichkeitskonstruktion stehen in deutlichem Widerspruch zum klassischen empirischen Erkenntnismodell, nach dem die Richtigkeit einer naturwissenschaftlichen Aussage unabhängig vom Beobachter feststellbar ist. Aussagen über die Außenwelt sind durch Fragen an die reale Außenwelt empirisch verifizierbar oder wenigstens falsifizierbar. Dabei wird häufig übersehen, dass nicht nur das Aufstellen einer Theorie, sondern auch die Formulierung von Fragen, die Planung und Durchführung eines Experiments und insbesondere die Analyse und Interpretation von dessen Ergebnisdaten ein Interpretationsschema erfordern. Die Geschichte der (Natur-) Wissenschaften ist voll von Beispielen solcher modellabhängigen Aussagen über die ,reale‘ Welt.

74 Vgl.: Stadler/Kruse: Der radikale Konstruktivismus, S. 97.

42 | 2 Bausteine kognitiver Informations- und Wissensverarbeitung Ein Vorbehalt gegen das Modell der Wirklichkeitskonstruktion ist der Solipsismus-Einwand.⁷⁵ In verschärfter Form, dem metaphysischen Solipsismus, besagt er, dass es nur das eigene Ich gibt. Nichts außerhalb des eigenen Bewusstseins existiert, auch kein anderes Bewusstsein. Andere Interpretationen unterstellen, dass Bedeutung einzig von Bewusstseinszuständen des denkenden Subjekts abhängt (methodologischer Solipsismus). Zwingend sind diese Schlüsse nicht, denn die strukturdeterminierte Wirklichkeitskonstruktion bringt zwar ein individuelles Ergebnis hervor, die Bedingungen für die Konstruktion stehen aber in kommunikativer Wechselwirkung mit anderen Menschen. Allein das gleichzeitige Beobachten und Lernen sowie das Kommunizieren über diese Eindrücke innerhalb einer sozialen und kulturellen Gemeinschaft verhindern (von pathologischen Ausnahmefällen abgesehen), dass ein Individuum sich in einer eigenen Welt abkapselt und nur noch diese gelten lässt. Genau jene Interaktionen sind auch der Grund dafür, dass es trotz individueller Konstruktionen zu übereinstimmenden Wahrnehmungen kommt. Die strukturelle Kopplung durch gemeinsames Erleben in gleichen Referenzbereichen, unterstützt durch Kommunikationsakte, führt zu einer Ähnlichkeit der Strukturdeterminiertheit verschiedener Personen. Bei gemeinsamen Wahrnehmungsvorgängen gleicher Weltausschnitte führt dies zu einer ähnlichen Wirklichkeitskonstruktion. Abweichende Strukturdeterminiertheit (etwa auf der Basis unterschiedlicher Sozialisation, Bildung oder kultureller Bindung) kann für spezifische Wahrnehmungen daher zu unterschiedlichen Wirklichkeitskonstruktionen führen. Die Annahmen des Konstruktivismus verändern auch das klassische Konzept des Beobachters. In der klassischen Vorstellung gilt er als neutral, als objektiver Teilnehmer in einem Experiment, der abbildet, was in der Realität geschieht. Im Konstruktivismus kann der Beobachter nicht mehr als passiver Rezipient gesehen werden, vielmehr ist er aktiv Gestaltender: Sieht man nämlich ein, daß die Wissenschaft prinzipiell überhaupt nichts beobachterunabhängig erklären kann, dann spielen Realitätsannahmen in ihr keine Rolle mehr; sie sind sogar vollkommen überflüssig! Darin liegt etwas angenehm Befreiendes, weil das überflüssige bezaubert, aber nichts wesentliches bewirkt, so daß man es weder braucht noch vermißt.⁷⁶

Es gibt keine kognitive Auseinandersetzung mit der Außenwelt ohne gestaltenden Beobachter. Im Rahmen des Radikalen Konstruktivismus wird ein ,interner‘

75 Vgl.: Nüse u. a.: Über die Erfindung-en des radikalen Konstruktivismus. 76 Maturana/Zur Lippe (Hrsg.): Was ist erkennen?, S. 67; vgl. zum Konzept des Beobachters auch: Maturana: Kognition, S. 110–112.

2.3 Wissen und Wissensmodelle

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Beobachter von einem ,externen‘ Beobachter unterschieden.⁷⁷ Der interne Beobachter erzeugt Gewissheit über die Existenz des eigenen Ichs mitsamt seiner Wahrnehmungs- und Denkakte. Der externe Beobachter macht Aussagen über die Umwelt, ihre Lebewesen und ihr Verhalten. Innere Zustände sind dem externen Beobachter nicht zugänglich; nur der interne Beobachter kann zwischen dem Ich und der Umwelt unterscheiden. Der interne Beobachter schafft das kognitive Bewusstsein.⁷⁸ Dieses besitzt die wichtige Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen solchen Zuständen, die aufgrund von Sinneswahrnehmung angestoßen wurden und jenen, die allein aufgrund innerer kognitiver Prozesse erzeugt wurden, wie zum Beispiel Fantasien, Träume oder Meditation: Bewußtsein ist das ,Eigensignal‘ des Gehirns für die Bewältigung eines neuen Problems (ob sensomotorisch, motorisch oder intern-kognitiv) und des Anlegens entsprechender neuer Nervennetze; es ist das ,charakteristische Merkmal‘, um diese Zustände von anderen unterscheiden zu können.⁷⁹

2.3 Wissen und Wissensmodelle Anders als Information galt Wissen⁸⁰ lange als gebunden an Kontext und Theorie und nur durch kognitive Leistung erwerbbar. Eine Externalisierung von Wissen wurde als prinzipiell möglich erachtet, die Rezeption externalisierten Wissens erfordere jedoch wieder eine kognitive Leistung. Maschinelle Wissensverarbeitung galt als Metapher für die Produktion von Daten bzw. Information zum Zweck der späteren kognitiven Interpretation. Konzepte wie das sogenannte Wissensmanagement und seine Nachfolger haben eine veränderte Sicht bewirkt, mit der die Vorstellung einer maschinellen Wissensverarbeitung begünstigt wurde. Wissen wird nun verstanden als extern manipulierbare Ressource, womit einer quantifizierbaren Bewertung von Wissen Vorschub geleistet wird.⁸¹

77 Vgl.: Schmidt: Der Radikale Konstruktivismus, S. 19. 78 Für Darstellungen zum Bewusstsein vgl. zum Beispiel: Calvin: Die Symphonie des Denkens; Chalmers: Das Rätsel des bewußten Erlebens; Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit; Changeux/ Connes: Gedanken-Materie. 79 Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit, S. 213. 80 Aus den vielen Darstellungen, die den Begriff ,Wissen‘ typologisch charakterisieren, greifen wir heraus: Pöppel: Wissen. 81 Vgl. etwa: Probst/Raub/Romhardt: Wissen managen; Nonaka/Takeuchi: Die Organisation des Wissens.

44 | 2 Bausteine kognitiver Informations- und Wissensverarbeitung Der Zusammenhang zwischen Information und Wissen wird in unterschiedlichen fachlichen Kontexten verschieden interpretiert. Mal ist Information Voraussetzung für die Generierung von Wissen, mal ist sie Ergebnis seiner Anwendung. In der Informationswissenschaft wird gern der Slogan „Information ist Wissen in Aktion“⁸² benutzt. Die bisherige Argumentation macht deutlich, dass dies keine überzeugende Beschreibung sein kann. Der Slogan suggeriert, Wissen sei etwas Statisches, das eine Substanz (Information) erzeugt. Diese Substanz ist jedoch ihrerseits Voraussetzung für das Zustandekommen eines kognitiven Prozesses, in dessen Verlauf sie Wandlungen durchläuft, um Wissen generieren zu können. Wir verwenden Information als Sammelausdruck für einen Grundbestandteil aller kognitiven Prozesse, bei denen Information im Rahmen von Wirklichkeitskonstruktionen zu Wissen verarbeitet wird. Der kommunikative Austausch von Information, ihre mediale Fixierung und Rezeption sowie das Speichern und Abrufen von Information erfordern Akteure. Die dabei beteiligten Verarbeitungsvorgänge beschreiben wir als kognitive Prozesse. Kognitive Informationsverarbeitung dient unmittelbar der Lebenserhaltung und ebenso den vielfältigen Erfordernissen einer aktiven Lebensgestaltung. Der Prozess wird angestoßen durch innere Anregung oder von außen kommende Sinneswahrnehmung und erzeugt auf dieser Basis Wissen. Wissen wiederum schafft die Fähigkeit, unterschiedlichste Aufgabenstellungen zu bewältigen. Die Gesamtheit des Wissens einer Person ist ihr Welt- oder Wirklichkeitswissen. Für eine Person, die Wissen erlangen möchte, gibt es mehrere Vorgehensweisen. Es kann dies eine aktive Rolle sein, in der sie sich als Akteur sieht, was Interesse und Neugierde sowie ein aktives Bemühen um die eigene Wissenserweiterung und Verantwortung für den eigenen Wissensstand voraussetzt. Die andere mögliche Rolle ist ein passives Verständnis, in dem sich die Person in der AdressatenRolle der Bemühungen anderer sieht und etwas dargeboten bekommen und konsumieren möchte. Der Erwerb von Wissen wird dadurch unter dem Gesichtspunkt der Unterhaltung gesehen. Die Verantwortung für den eigenen Wissenserwerb und -stand wird auf eine andere Person delegiert. Wie kann Wissen genauer charakterisiert werden? Liegt Wissen nur vor, wenn man etwas Verstandenes einmal erläutert und dargestellt hat? Ist es erforderlich, dass dies ein beliebig oft wiederholbarer Vorgang ist? Ist das Wissen verloren, wenn man dies nicht mehr kann, sich aber daran erinnert, dass man es einmal konnte? Reicht es für das Vorhandensein von Wissen aus, etwas einmal gewusst zu haben und dessen Konsequenzen zu kennen, die Begründung aber nicht mehr

82 Kuhlen: Informationsmarkt, S. 34. Eine Google-Suche kann überdies leicht bestätigen, dass auch die Umkehrung ,Wissen ist Information in Aktion‘ über eine Schar von Anhängern verfügt.

2.3 Wissen und Wissensmodelle

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angeben zu können? Ist das Wissen um einen Sachverhalt verloren, wenn oder weil man ihn nicht mehr darstellen kann? Macht es einen Unterschied, ob es sich um wissenschaftliches Wissen oder um Alltagswissen handelt? Wissen ist nicht statisch sondern dynamisch. Es kann durch neue Konstruktionsvorgänge erweitert, korrigiert oder verworfen werden und es ist auf neue Anregungen angewiesen. Ob Wissen ,wahr‘ oder ,falsch‘ ist, lässt sich nicht aus den Eigenschaften des Modells ableiten, das heißt Objektivität oder Wahrheit sind keine Eigenschaften von Wissen. Allgemein wird davon ausgegangen, dass sich Wissen in den Köpfen von Menschen befindet und dass dieses Wissen sowohl anderen Menschen mitgeteilt als auch von anderen Menschen übernommen werden kann. Hierfür kommt neben der direkten Kommunikation auch der Weg über verschiedenste mediale Präsentationsformen wie zum Beispiel Bücher und deren Rezeption in Frage. Voraussetzung dafür ist die Externalisierung des Wissens durch den Wissenden, zum Beispiel durch das Schreiben eines Buches.⁸³ Folgende Wissensarten lassen sich unterscheiden: – Wissen im eigenen Kopf für verschiedene Zwecke, wie beispielsweise Problemlösen oder Handeln; – Wissen in den Köpfen anderer Menschen; – Wissen in externalisierter Form, beispielsweise in Büchern. Den Wissensarten entsprechen jeweils Formen des Wissenserwerbs: – Wissenserwerb durch die eigene kognitive Auseinandersetzung mit der Realität und ihren Objekten; – Wissenserwerb durch den kommunikativen Austausch mit anderen Menschen; – Wissenserwerb durch die Rezeption von Wissensquellen, die externalisiertes Wissen verfügbar machen. So schlüssig eine Unterscheidung der Wissensarten und der Formen des Wissenserwerbs scheint, so unklar bleibt immer noch der Charakter des Prozesses, der die objektive Realität zu einer kognitiven Wirklichkeit macht. Wissen ist das Ergebnis einer Wirklichkeitskonstruktion. Um mehr über die Eigenschaften von Realität und Wirklichkeit in Erfahrung zu bringen, ist die Drei-Welten-Theorie von Karl Popper ein möglicher Ausgangspunkt.

83 Wir knüpfen mit dieser Darstellung an frühere Arbeiten an, vgl.: Gödert: Aufbereitung und Rezeption von Information; Gödert: Information as a cognitive construction; Gödert/Kübler: Konzepte von Wissensdarstellung und Wissensrezeption medial vermittelter Information.

46 | 2 Bausteine kognitiver Informations- und Wissensverarbeitung Die Drei-Welten-Theorie von Karl Popper Popper beschreibt die Vielschichtigkeit der Realität durch die Annahme dreier Welten, die er, hier verkürzt, folgendermaßen charakterisiert:⁸⁴ Welt 1: die ,physische Welt – das Universum physischer Gegenstände‘; Welt 2: die ,Welt psychischer Zustände, einschließlich der Bewußtseinszustände, der psychischen Dispositionen und unbewußten Zustände‘; Welt 3: die Welt ,der Inhalte des Denkens und der Erzeugnisse des menschlichen Geistes‘.

Für die Themen Externalisierung von Wissen und Rezeption von Wissen hat die Welt 3 besondere Bedeutung. Mit Welt 3 meine ich die Welt der Erzeugnisse des menschlichen Geistes, wie Erzählungen, erklärende Mythen, Werkzeuge, wissenschaftliche Theorien (wahre wie falsche), wissenschaftliche Probleme, soziale Einrichtungen und Kunstwerke. Die Gegenstände der Welt 3 sind von uns selbst geschaffen, obwohl sie nicht immer Ergebnisse planvollen Schaffens einzelner Menschen sind. Viele Gegenstände der Welt 3 existieren in der Form materieller Körper und gehören in gewisser Hinsicht sowohl zu Welt 1 wie zu Welt 3. Beispiele sind Skulpturen, Gemälde und Bücher wissenschaftlicher oder literarischer Art. Ein Buch ist ein physisches Ding und gehört daher zu Welt 1; was es aber zu einem bedeutsamen Erzeugnis menschlichen Denkens macht, ist sein ,Inhalt‘: das, was in den verschiedenen Auflagen und Ausgaben unverändert bleibt. Dieser Gehalt gehört zu Welt 3.⁸⁵

Poppers Drei-Welten-Modell benötigt Verbindungen oder Wechselwirkungen zwischen den Welten, die allgemein als kognitive Interaktionen gedacht werden können, ohne dass die Art dieser Interaktionen von Popper besonders intensiv behandelt worden wäre. Fast unser ganzes bewußtes subjektives Wissen (,Welt-2‘-Wissen) hängt von ,Welt 3‘ ab.⁸⁶

Dies schließt die Annahme einer inter-subjektiven Objektivität ein, die es ermöglicht, dass andere Personen als der jeweilige Urheber dessen Ideen aufgreifen und weiterentwickeln können. Popper führt dazu zwei Gedankenexperimente ein: Experiment 1. Alle unsere Maschinen und Werkzeuge werden zerstört, ebenso unser ganzes subjektives Wissen einschließlich unserer subjektiven Kenntnis der Maschinen und Werkzeuge und ihres Gebrauchs. Doch die Bibliotheken überleben und unsere Fähigkeit,

84 Popper/Eccles: Das Ich und sein Gehirn, S. 63. 85 Popper/Eccles: Das Ich und sein Gehirn, S. 64. 86 Popper: Objektive Erkenntnis, S. 75.

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aus ihnen zu lernen. Es ist klar, daß unsere Welt nach vielen Widrigkeiten wieder in Gang kommen kann. Experiment 2. Wie vorhin werden Maschinen und Werkzeuge zerstört sowie unser subjektives Wissen einschließlich unserer subjektiven Kenntnis der Maschinen und Werkzeuge und ihres Gebrauchs. Aber diesmal werden alle Bibliotheken ebenfalls zerstört, so daß unsere Fähigkeit, aus Büchern zu lernen, nutzlos wird. Wenn Sie über diese beiden Experimente nachdenken, dann wird Ihnen die Realität, die Bedeutung und der Grad der Unabhängigkeit der Welt 3 (ebenso ihre Wirkungen auf die Welt 2 und 1) vielleicht etwas klarer. Denn im zweiten Fall wird unsere Zivilisation jahrtausendelang nicht wieder erstehen.⁸⁷

Das Drei-Welten-Modell ordnet das Wissen der (objektiven) Realität zu. Poppers zentrales Thema, die Erklärung des Erkenntnisgewinns in den Naturwissenschaften, macht die zentrale Bedeutung der wissenschaftlichen Theorien in seiner Welt 3 verständlich. Es ist aber fraglich, ob die Idee geeignet ist, als Modell für alle menschlichen Lebens-, Erkennens- und Wissensdimensionen zu dienen.⁸⁸ Rezeptionsvorgänge zur Aneignung allgemeinen Wissens können nicht denselben Wahrheitsansprüchen und Falsifikationsprinzipien unterzogen werden, wie dies für wissenschaftliche Sachverhalte und Theorien möglich ist. Nur ein geringer Teil des externalisierten Wissens der Welt 3 liegt als wissenschaftliche Theorie vor, gleichzeitig ist die Art seiner Verschriftlichung nicht formal strukturiert. Texte sind strukturlose Daten, deren Verständnis stark vom Kontext und der Zeit ihrer Entstehung abhängt. Unsere ,Fähigkeit, aus Büchern zu lernen‘ könnte zum gegebenen Zeitpunkt bereits so gelitten haben, dass durch den Abruf der Daten ein Prozess des Verstehens gar nicht mehr in Gang kommen kann. Wer traut sich denn beispielsweise heute zu, eine technische Beschreibung aus der Enzyklopädie von Diderot und d’Alembert zu benutzen, um ein mechanisches Gerät nachzubauen? An den in der Beschreibung angegebenen Maßen wird es nicht liegen, vielmehr ist häufig eine Vorstellung von Zweck und Funktionsweise des Geräts nicht mehr vorhanden. Popper argumentiert, dass das in seiner Welt 3 hinterlegte Wissen den Menschen zur Wiederaneignung zur Verfügung steht, macht aber keine Aussagen zur Art dieser Wiederaneignung und zur Rezeption des Wissens. Was also genau meint Popper, wenn er davon ausgeht, dass ,unsere Fähigkeit überlebt, aus dem in Welt 3 niedergelegten Wissen zu lernen‘?

87 Popper: Objektive Erkenntnis, S. 111. 88 Vgl. auch: Albinus: Can science cope with more than one world?

48 | 2 Bausteine kognitiver Informations- und Wissensverarbeitung Popper gibt dafür allenfalls schwache Hinweise, erkennt die Schwierigkeit einer Erklärung aber an, wenn er sagt: […] daß es leichter zu verstehen ist, wie wir Gegenstände der Welt 3 ,machen‘, als wie wir sie erfassen, begreifen oder ,schauen‘.⁸⁹

Sein Modell für das Verstehen von Welt 3-Gegenständen ist problemzentriert. Es folgt dem im Falsifikationsprinzip angelegten Wechsel von Versuch und Irrtum bzw. Hypothesenbildung und Irrtumselimination und legt dadurch den Fokus auf die suchende und forschende Aktivität im Erkenntnisprozess. In seiner bekannt unkomplizierten Sprache nennt Popper das Modell die ,Scheinwerfertheorie‘ des Erkenntnisgewinns und stellt diese der ,Kübeltheorie‘ gegenüber.⁹⁰ Das aktive und evolutive Schema von Versuch und Irrtum nimmt er auch für kognitive Vorgänge an, zum Beispiel Lernen, Wahrnehmen und Handeln: Demgegenüber [gemeint ist die Kübeltheorie, Anm. d. Verf.] stelle ich die Theorie auf, daß uns nichts ,gegeben‘ ist: daß schon unsere Sinnesorgane aktive Anpassungen sind, das Resultat von Mutationen, also von Vorläufern von Hypothesen; und daß alle Hypothesen aktive Anpassungsversuche sind. Wir sind aktiv, schöpferisch, erfinderisch, wenn auch unsere Erfindungen durch die natürliche Auslese kontrolliert werden. Es wird also das Reiz-ReaktionsSchema durch ein Mutations(=neue Aktion)-Auslese-Schema ersetzt.⁹¹

Ganz im Sinne dieser Sichtweise wird auch das Lernen aus Welt 3-Objekten zu einem schöpferischen Prozess: Meiner Ansicht nach sollten wir das Erfassen oder Begreifen eines Gegenstandes der Welt 3 als einen aktiven Prozeß verstehen. Wir müssen es als ein Machen, als eine Nachschöpfung dieses Gegenstandes erklären.⁹²

Die Art und Weise dieses ,Machens‘ oder ,Nachschöpfens‘ bleibt bei Popper unklar, muss aber im eigentlichen Zentrum des Interesses liegen, wenn es um die Möglichkeit von Externalisierung und Rezeption von Wissen geht. Es fehlt außerdem an einer Beschreibung der Wechselwirkung zwischen Welt 2 und Welt 3, einem Modell für die Aneignung oder den Austausch von Wissenselementen.

89 Popper/Eccles: Das Ich und sein Gehirn, S. 70. 90 Vgl. Popper: Kübelmodell und Scheinwerfermodell. 91 Popper: Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie, S. XXXII. 92 Popper/Eccles: Das Ich und sein Gehirn, S. 70.

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Kollektives Wissen und Institutionelle Realität Das Modell der individuellen Rezeption von Wissen bietet die Grundlage für eine Vorstellung von kollektivem Wissen. Wissen ist dann kollektiv, wenn eine Person oder Instanz in der Lage ist, dieses Wissen für andere zugänglich zu machen. Bezogen auf die Überlebensfähigkeit des Wissens der Popperschen Welt 3 ließe sich jedoch fragen: Existiert kollektives Wissen auch dann noch, wenn es in externalisierter Form vorliegt, es aber keine Person mehr gibt, die es interpretieren könnte? Oder ist es dann verloren? Popper würde das Fortbestehen der Existenz wohl bejahen. Ein an kognitiver Konstruktion orientiertes Wissensverständnis würde die Antwort eher an die noch oder nicht mehr vorhandene Fähigkeit zur Wirklichkeitskonstruktion knüpfen. Es lohnt also, nach weiteren Einflussgrößen für eine eindeutige Antwort auf die Frage zu suchen. Dazu sollen die drei Welten Poppers durch Anleihen an der BewusstseinsPhilosophie mit der Betrachtung kognitiver Rezeptionsvorgänge verbunden werden. Diese Verbindung erfolgt durch die zwei Konzepte Erste-Person-Ontologie und Dritte-Person-Ontologie, die im Rahmen der Bewusstseins-Philosophie zur Beschreibung des Realitätsbezugs verwendet werden:⁹³ Erste-Person-Ontologie: kognitive Zustände, die auf dem Erleben eines Ichs basieren Dritte-Person-Ontologie: Phänomene, deren Existenz unabhängig vom erlebenden Subjekt ist, damit ontologisch objektiv

Folgende Gleichsetzung ist nahe liegend: Erste-Person-Ontologie = Welt 2 Dritte-Person-Ontologie = Welt 1

Zunächst muss offen bleiben, welche Rahmenbedingungen es gestatten können, die Welt 3 mit ihrer besonderen Bedeutung für Externalisierungs- und Rezeptionsvorgänge in ein solches Verständnis einzubetten. Um diese Rahmenbedingungen zu ermitteln, erweitern wir die Konzepte Externalisierung und Rezeption um eine Unterscheidung von Realitätsformen, wie sie John Searle vorgeschlagen hat. Er trennt die Objektive Realität von einer Institutionellen Realität. Beide sind für Menschen erfahrbar und zwischen beiden Realitäten ist ein Austausch möglich. Zur Objektiven Realität gehören Sachverhalte, deren Existenz unabhängig vom Menschen ist, zum Beispiel das Vorhandensein eines Bergs oder die Tatsache, dass die Erde einen Abstand von der Sonne hat. Sachverhalte der Institutionellen 93 Vgl. z. B.: Searle: Geist, S. 108.

50 | 2 Bausteine kognitiver Informations- und Wissensverarbeitung Realität werden hingegen von Menschen geschaffen und zwar unter Benutzung sprachlicher Symbole. Die Bezeichnung Institutionelle Realität kann missverständlich oder irreführend erscheinen, denn das Konzept erfordert nicht das Vorhandensein einer Institution im körperschaftlichen Sinne. Searle meint damit alle Konzepte, die im gesellschaftlichen Kontext durch Menschen geschaffen und verwendet werden. Die Verwendung von ,institutionell‘ soll also darauf zielen, dass es sich nicht um Konzepte im eher privaten Umfeld handelt. Konventionalisierungen zwischen Personen können sich zu kollektiven Regeln mit einer Zuweisung von Statusfunktionen verfestigen, aus denen Rechte und Pflichten für die Angehörigen der sozialen Gemeinschaft abgeleitet werden. Man denke etwa an die Ehe, an die Rollen der beteiligten Partner, sowie daran, welche Bedingungen erfüllt werden müssen, damit die Ehe im Rahmen der sozialen Gemeinschaft als gültig betrachtet wird. Dabei wird klar, dass zahlreiche Übereinkünfte getroffen worden sind, die diese kollektive Realität zur allgemein gelebten Realität machen. Umgekehrt wird die Simulation der Ehe durch Personen ohne entsprechenden Status nicht als wirksam betrachtet und kann im schlimmsten Fall sogar Strafen nach sich ziehen.⁹⁴ Bereits vorhandenen Objekten kann durch Sprechakte eine kollektiv anerkannte Statusfunktion zugewiesen werden, zum Beispiel ,Geld sein‘. Ausgangspunkt ist hierbei ein materielles Objekt der physikalischen Realität: ein Stück Metall, eine Muschel, ein zugeschnittenes und bedrucktes Stück Papier. Nicht alle derartigen Objekte haben jedoch die Eigenschaft, Geld zu sein; sie kann Objekten zugewiesen und auch wieder entzogen werden. Es muss der Glaube hinzutreten, dass es sich um Geld handelt. Dieser Glaube ist nicht Eigenschaft des Geldscheins, sondern Ergebnis der Kollektiven Intentionalität.⁹⁵ Entscheidend für das Schaffen der gesellschaftlichen Tatsache ist die durch ein gestuftes System von Sprechakten vollzogene Zuweisung einer kollektiv akzeptierten Statusfunktion, hier die Funktion ,Geld zu sein‘. Für komplexere Konzepte ist es erforderlich, ein bereits geschaffenes Konzept (,Notenbank‘) als Ausgangspunkt für ein institutionelles Konzept der nächsten Stufe (,Geldwert‘) zu nehmen. Ein derartiger Prozess verläuft häufig über viele Stufen.⁹⁶ Die Verwendung von Sprache ist dabei konstitutiv für Sachverhalte der Institutionellen Realität und ihren Austausch zwischen Menschen. Gegenstände und Sachverhalte der Institutionellen Realität werden von Menschen durch sprachli94 Vgl. für eine ausführliche Darstellung dieser Zusammenhänge: Searle: Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. 95 Searle: Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit, S. 33 ff. 96 Näheres bei: Searle: Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit, S. 40.

2.3 Wissen und Wissensmodelle

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chen Ausdruck geschaffen. Ein Denken über diese Gegenstände ist immer sprachgebunden. Damit ist nicht gesagt, dass Sprache die Grundlage allen Denkens ist. Gegenstände oder Objekte des Denkens sind entweder auf eine Wirklichkeit bezogen, deren Existenz durch sprachliche Akte geschaffen wird, oder auf eine physikalische Wirklichkeit. Gegenstände und Sachverhalte der Objektiven Realität existieren unabhängig vom Menschen. Sie können allerdings vom Menschen wahrgenommen werden und Anlass für Handlungen auf der Basis kognitiver Prozesse sein. Diese Form des Denkens ist nicht an sprachliche Symbole oder Strukturen gebunden. Die beiden Aussagen ,Heute ist Samstag, der 22. Dezember 2018‘ und ,Heute ist der letzte Vollmond des Jahres 2018‘ verdeutlichen das. Der Tag, auf den beide Aussagen sich beziehen, mag als Objektive Realität einem sprachunabhängigen Denken zugänglich sein. Die Aussage selbst ist jedoch nur unter Bezugnahme auf ein Kalendersystem herstell- und verstehbar, dessen Existenz und Beschreibung verschiedene sprachliche Akte einbezieht. Weder die Eigenschaft, ein ,Samstag‘ zu sein, noch der ,22. Dezember‘ zu sein, kann vorsprachlich begründet werden. Ein Denken über das Kalendersystem, einem Sachverhalt der Institutionellen Realität, ist daher nur sprachlich möglich.⁹⁷ Diese erweiterte Auffassung von Externalisierung und Rezeption berücksichtigt neben faktischen Tatsachen auch strukturelle Bezüge, Querverbindungen und raum-zeitliche Kontexte. Als Rahmenbedingungen ermöglichen sie eine Rezeption der Begrifflichkeiten des wissenschaftlichen Wissens, aber auch allgemeiner Sachverhalte unter Beachtung der erforderlichen Gültigkeits- oder Wahrheitsbedingungen und führen so zu einem Verständnis externalisierter Zusammenhänge. Daraus lässt sich nun die Voraussetzung für den Aufbau einer individuellen Welt 2 aus den Elementen der objektiven Realität bestimmen. Das handelnde Ich muss dazu in der Lage sein, seine Aufmerksamkeit auf etwas zu orientieren, das außerhalb seiner selbst liegt und das im Rahmen von Dritte-Personen-Ontologien beschrieben werden kann. Searle nennt diese Voraussetzung ,(Individuelle) Intentionalität‘⁹⁸ und meint damit die: Eigenschaft des Geistes, durch die er sich auf von ihm unabhängige Gegenstände oder Sachverhalte in der Welt richtet.⁹⁹

97 Vgl. die Darstellung in: Searle: Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit, S. 73–74. 98 Vgl. für Erläuterungen des Konzepts: Searle: Geist; Searle: Die Wiederentdeckung des Geistes; darin: Die Struktur des Bewußtseins : eine Einführung, S. 153-154. 99 Searle: Geist, S. 187.

52 | 2 Bausteine kognitiver Informations- und Wissensverarbeitung Die kognitive Verarbeitung dieser Aufmerksamkeit führt als Ergebnis einer Wirklichkeitskonstruktion zu individuellem Wissen und kann als Konstitution von Welt 2 verstanden werden (vgl. Abbildung 2.4). Der kommunikative Austausch zwischen Menschen oder die Rezeption aus externalisierten Informationsquellen kann sich entweder auf Konzepte der Dritte-Person-Ontologie oder der ErstePerson-Ontologie beziehen. Die Konzepte der Erste-Person-Ontologie werden dabei nicht durch Referenz auf realweltliche Objekte der physikalischen Realität gebildet, vielmehr beruht deren Existenz allein auf Zuweisungen im Rahmen von Sprechakten (Institutionelle Realität). Damit lassen sich folgende Beziehungen angeben, die nun auch der Welt 3 einen Platz zuweisen: Objektive Realität = Welt 1 Institutionelle Realität = Welt 3

Die Analogie der Institutionellen Realität nach Searle und der Welt 3 nach Popper ist sicher keine, die von beiden Autoren ohne Widerspruch akzeptiert werden würde. Es lassen sich aber Aussagen Poppers anführen, die eine solche Interpretation nahelegen: Natürlich sind Theorien Produkte menschlichen Denkens (oder, wenn man will, menschlichen Verhaltens – ich möchte nicht um Worte streiten). Dennoch haben sie einen gewissen Grad an Autonomie: Sie können objektive Konsequenzen haben, an die bis dahin niemand gedacht hat und die entdeckt werden können, entdeckt im gleichen Sinne, in dem eine existierende, aber bisher unbekannte Pflanze oder ein unbekanntes Lebewesen entdeckt werden kann. Man kann sagen, daß Welt 3 nur zu Anfang Menschenwerk ist, und daß Theorien, wenn sie einmal da sind, ein Eigenleben zu führen beginnen: Sie schaffen unvorhergesehene Konsequenzen, sie schaffen neue Probleme.¹⁰⁰

Das von Searle eingeführte Konzept der Intentionalität ist eine taugliche Basis für ein Modell von Wissenstransfer und Wissensaneignung im Rahmen von Kommunikations- und Rezeptionsprozessen externalisierter Information. Nachfolgend und unter Berücksichtigung von Alltagswissen kann daraus auch ein genaueres Modell der Transferprozesse zwischen Welt 3 und Welt 2 abgeleitet werden. Neben der Individuellen Intentionalität bedürfen die Kommunikation zwischen Menschen und die darauf aufbauende Rezeption von Sachverhalten aus externalisierten Informationsquellen einer zweiten Voraussetzung. Hierbei handelt es sich um eine ,Wir‘-Vorstellung, die als notwendiges Element folgende Moti-

100 Popper/Eccles: Das Ich und sein Gehirn, S. 65.

2.3 Wissen und Wissensmodelle

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vation enthält: ,Ich will mir aneignen, ich will verstehen, was ein anderer sagt oder niedergelegt hat‘. Oder : ,Ich will einen gemeinsamen Verständnisraum aufbauen‘. Im Externalisierungs- und Rezeptionsmodell schlägt sich diese Vorstellung in den Mechanismen der strukturellen Kopplung und der konsensuellen Parallelisierung nieder. Für eine umfassende Beschreibung der ,Wir‘-Vorstellung ist dies allerdings noch nicht ausreichend. Vollständig wird die Beschreibung erst im Rahmen eines Konzepts, das Searle Kollektive Intentionalität nennt.¹⁰¹ Dieses Konzept wird am besten durch die Einstellung ,Wir beabsichtigen etwas Gemeinsames‘ charakterisiert. Kollektive Intentionalität sucht in der individuellen Absicht (Intentionalität) das Gemeinsame als eine Wir-Absicht und begreift die eigene Absicht als einen Teil davon. Das ,Wir beabsichtigen‘ darf dabei nicht als Wechselspiel Individueller Intentionalität nach dem Muster: ,Wir beabsichtigen, weil ich beabsichtige und denke, dass du beabsichtigst und denkst, dass ich beabsichtige und denke, dass …‘ missverstanden werden.

Abb. 2.4: Verbindung der Bewusstseins-Philosophie mit der Drei-Welten-Theorie.

101 Searle: Kollektive Absichten und Handlungen.

54 | 2 Bausteine kognitiver Informations- und Wissensverarbeitung Searle veranschaulicht das Konzept der Kollektiven Intentionalität anhand der Absicht eines Verteidigers im Fußballspiel, den gegnerischen Stürmer nicht zum Torschuss kommen zu lassen. Für diese spezielle Rolle ist eigentlich das Verständnis einer Individuellen Intentionalität ausreichend. Es ist aber nicht ausreichend, wenn es sich um das gemeinsame Ziel der gesamten Mannschaft handelt. Dann bekommt die Rolle des Verteidigers erst im Rahmen der Kollektiven Intentionalität aller Akteure des Fußballspiels einen vollständigen Sinn: die eigene Mannschaft und nicht der Gegner soll das Spiel gewinnen. Die Rolle einer bestimmten Position beim Fußballspielen ergibt sich aus der gemeinsamen Wir-Aktion, nicht aus der Summe einzelner Aktionen. Als weiteres Beispiel für einen Begriff, der allein in der kollektiven Realität existiert, nennt Searle einen ,Haufen Geld‘. Der Haufen ist auch ohne Menschen noch vorhanden, hat aber nicht mehr die Funktion von Geld. Damit ein Stück bedruckten Papiers für Geld gehalten wird, ist dessen Existenz allein nicht ausreichend. Die Kollektive Intentionalität ist natürlich auch eine Eigenschaft einzelner Individuen, wodurch zwischen ihnen eine unmittelbare Verbindung besteht. Damit wird die bislang offen gebliebene Verbindung von Welt 2 mit Welt 3 ermöglicht und erklärbar, wie die Wirklichkeitskonstruktionen zum Aufbau einer individuellen Welt 2 erfolgen. Abbildung 2.4 stellt die diskutierten Zusammenhänge zusammenfassend dar. Der Transfer zwischen Welt 2 und Welt 3 lässt sich demgemäß folgendermaßen beschreiben: Welt 3 ist als Widerspiegelung und Externalisierung der Konstrukte anzusehen, die als Ergebnisse geistiger Tätigkeit geschaffen werden. Diese sind damit Gegenstände der Institutionellen Realität. Über die Kollektive Intentionalität und ihre natürliche Verbindung zur Individuellen Intentionalität werden diese Konstrukte – im Rahmen eines Kommunikations- oder Rezeptionsvorgangs – zum Gegenstand einer individuellen Wirklichkeitskonstruktion. Sie finden so Eingang in die kognitive Struktur eines Individuums, deren Entsprechung Welt 2 ist.

2.4 Referenzbereiche des Wissens Die individuelle kognitive Informationsverarbeitung ist strukturdeterminiert, das heißt sie erfolgt innerhalb von Rahmenbedingungen.¹⁰² Je nach fachlichem Kon-

102 Vgl. hierzu: Maturana/Varela: Der Baum der Erkenntnis, S. 105 ff.

2.4 Referenzbereiche des Wissens | 55

text werden diese als Referenzbereich, Kontext, Paradigma, Hintergrund¹⁰³ oder neuerdings auch als Framing bezeichnet. Abbildung 2.5 zeigt diese Rahmenbedingungen als Referenzbereiche anhand eines einfachen Beispiels.

Abb. 2.5: Referenzbereiche des Wissens.

Der erste Referenzbereich wird als Inter-individuelle Gültigkeit bezeichnet. Aussagen innerhalb dieses Referenzbereichs beanspruchen Gültigkeit über das Individuum hinaus (Objektivität); Beispiele sind etwa Aussagen über Gegenstände in der Realität und deren Eigenschaften, zum Beispiel ,Gold ist ein Metall‘. Der zweite Referenzbereich, die Ent-individualisierte Gültigkeit, wird für alle Individuen durch die langjährige Sozialisation in Schule und Ausbildung geschaffen. Dort werden Strukturen angelegt, die häufig als so verbindlich angesehen werden, dass ihr ent-individualisierter Charakter den Anschein des inter-individuellen erweckt. Die Aussage ,Gold ist wertvoll‘ ist abhängig vom Wert des Goldes in einer Gesellschaft. Dieser Wert ist keine Eigenschaft des Goldes, sondern eine durch die Gesellschaft herbeigeführte Eigenschaft, die sich verändern kann.

103 ,Hintergrund‘ ist hier im Sinne der Bedeutungsgebung von Searle gemeint. Vgl.: Searle: Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit, S. 135 ff.

56 | 2 Bausteine kognitiver Informations- und Wissensverarbeitung Der dritte Referenzbereich, die Fachlich ent-individualisierten Gültigkeit, rekurriert im Unterschied zur allgemeinen Sozialisierung auf berufliche oder fachliche Spezialisierung. Die Aussage ,Ringe aus Grüngold bestehen aus einem mit Silber, Cadmium, Kobalt und/oder Rubidium legierten (gestrecktem, verdünntem) Feingold‘ bezieht seine Gültigkeit aus dem fachlichen Kontext des Goldschmiedehandwerks. Der vierte Referenzbereich, die Kommunikativ vereinbarte Gültigkeit, entsteht durch die vielfältigen sozialen Strukturen des Zusammenlebens in Gesellschaften. Die vereinbarte Gültigkeit schließt eine Beschränkung auf die Kommunikationsteilnehmer ein, zum Beispiel Familie, Verein, Arbeitswelt. Die Aussage ,Ich bin mir mit meinem Freund einig, dass ich einen Platinring einem Goldring vorziehe‘ beansprucht Gültigkeit für nur zwei Individuen. Der fünfte Referenzbereich, das Individuelle episodische Gedächtnis, beschreibt Wissen, das nicht von anderen geteilt wird oder werden kann. Eine Aussage wie ,Der Stand des Goldpreises am 01.10.2012 hat mir Glücksgefühle bereitet‘ scheint sich ganz und gar einer Kodifizierung und damit jeder Möglichkeit einer medialen Fixierung zu entziehen. Weitere Beispiele sind Tagebucheinträge anderer Personen, die auf Erlebnissen basieren, an denen man selbst nicht beteiligt war oder Wertvorstellungen, die nicht explizit gemacht werden und die man selbst nicht teilt. Dennoch wird jeder Kommunikationsvorgang stark von diesem Referenzbereich beeinflusst. Dabei findet eine ständige Verbindung zum Referenzbereich der Kommunikativ vereinbarten Gültigkeit statt. Nur dann, wenn ein Mensch völlig isoliert leben würde, könnte der fünfte Referenzbereich eine dominierende Rolle erhalten. Die Beispiele erwecken den Anschein, Referenzbereiche ließen sich als Container voller isolierter Entitäten vorstellen. Dies ist nicht so, denn jede einzelne Aussage ist mit den darin enthaltenen Konzepten in eine Struktur von Zusammenhängen eingebettet. Mit jedem Referenzbereich ist immer auch der vorangehende verbunden, das heißt mit der Aussage des letzten ist auch der Gehalt der vorangegangenen impliziert, also zum Beispiel dass Gold ein wertvolles Metall ist. Die Glücksgefühle im fünften Referenzbereich stehen in direkter Verbindung mit dem Attribut ,wertvoll‘ im zweiten. Die Rahmenbedingungen in Form der hier verwendeten Referenzbereiche machen deutlich, dass Strukturdeterminiertheit innerhalb ihrer Grenzen Vertrautheit schafft. Sie ermöglicht das Ein- und Zuordnen des Individuellen, aber auch das Ableiten von Abstraktem auf der Grundlage von Einzelfällen. Sie müssen, ja sie können nicht bei jedem Kommunikationsakt neu verhandelt werden, sondern sie werden Bestandteil einer strukturdeterminierten kognitiven Struktur, was die Rezeption kommunikativ ausgetauschter Information erleichtert.

2.5 Wissenskomponenten und Wissensformen

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2.5 Wissenskomponenten und Wissensformen Begriffe und ihre Definitionen Wissen als Ergebnis einer Wirklichkeitskonstruktion kann unterschiedlich komplex sein. Dabei stellt man sich gern vor, dass es Wissensbausteine und eine Struktur gibt, in die diese Bausteine eingebettet sind. Es gibt viele Versuche, die begrifflichen Bausteine formal zu fassen. Für die Zwecke einer formalen Wissensrepräsentation ist dies unerlässlich, für die kognitive Repräsentation erweisen sich die Versuche in der Regel als Ansätze, deren Belastbarkeit noch nicht abschließend erwiesen ist. Für begriffliche Wissensbausteine mit einer Beziehung zu Objekten der Realität hat sich das Modell des Begriffsdreiecks (auch: semiotisches Dreieck) etabliert (Abbildung 2.6).

Abb. 2.6: Begriffsdreieck.

Zur Vereinfachung beschränkt sich das Modell darauf, den Prozess der Begriffsbildung – einschließlich eventueller Abstraktionsvorgänge – an Gegenständen der Objektiven Realität zu illustrieren. Später erweitern wir das Modell auf die Gegenstände der Institutionellen Realität, die durch sprachliche Akte in einem sozialen Umfeld geschaffen werden. Das Dreieck stellt die Begriffsbildung als dreiwertige Abhängigkeit dar, in der alle Ecken aufeinander bezogen sind und aus der man keines der Elemente entfernen kann. Das Modell geht davon aus, dass Begriffe durch Aussagen über real-

58 | 2 Bausteine kognitiver Informations- und Wissensverarbeitung weltliche oder abstrakte Objekte entstehen, etwa durch das Zusammentragen von Eigenschaften oder Merkmalen, die zur Definition verwendet werden: Ein Tisch hat eine Platte und meistens vier Beine; das Material, aus dem er hergestellt wird, ist Holz, Glas, Stein, Kunststoff; sein Verwendungszweck ist vielfältig, in der Regel stellt man zeitweise Gegenstande darauf, sitzt davor, daran oder darum herum.

Das Bilden derartiger Aussagen ist dem Prozess der Sinneswahrnehmung nachgeordnet und stellt eine individuelle kognitive Leistung dar. Der Grad an Allgemeinverbindlichkeit, der aus dieser Leistung folgt, variiert von Objekt zu Objekt und wird über kommunikative Akte stabilisiert. Die hierbei erfolgte Abstraktion besteht in der Fähigkeit, Muster des Wissens zu erkennen und anzuwenden. Dieser Übergang von der Objektebene zur kognitiven Repräsentation konstituiert die Begriffsebene, die über eine Benennung intersubjektiv fixiert wird. Die sprachliche Benennung wiederum eröffnet über die Konzeptualisierung die Möglichkeit zum kommunikativen Austausch mit anderen Menschen und ist dabei ein Mediator zwischen Kommunikationspartnern, nicht aber Abbild des Wirklichkeitsgehalts des Bezugsobjekts. Die Beziehungen zwischen der Objektebene, der Begriffs- oder Bedeutungsebene und der Benennungsebene, insbesondere in Form einer natürlichen und lebenden Sprache mit komplexer Syntax, sind vielfältig.¹⁰⁴ Wir beschränken uns auf einige Aspekte und nehmen dazu Bezug auf Abbildung 2.7, in der die Sprachebene explizit hervorgehoben wird. Die kognitive Repräsentation eines Objekts kann über verschiedene Sinneseindrücke erzeugt oder abgerufen werden. In Abbildung 2.7 steht ein Foto von Blaumeisen für die Objektebene. Durch Sehen oder Hören werden neuronale Muster aktiviert, die bei entsprechender Vorprägung etwas Bekanntes erkennen lassen und auf eine zuzuordnende Benennung (Blaumeise) führen. Die Erfahrung zeigt, dass dieser Prozess für jeden Sinnesreiz nicht nur auf Basis einer singulären Objekt-Darbietung erfolgen kann, sondern eine gewisse Variabilität gestattet. Wir erkennen in der Natur ja nicht nur ein ganz bestimmtes Exemplar einer Spezies, sondern Exemplare der Spezies im allgemeinen und dies je nach Erfahrung auch unter wechselnden Bedingungen. Obwohl Sinnesreize zur selben Benennung führen, rufen sie Muster in unterschiedlichen neuronalen Zonen hervor. Trotz gleichen Objekts (sowohl ganz konkret als auch im abstrakten Sinne) kann auf der neuronalen Ebene von unterschied-

104 Für die Frage, wie Sprache auf die Bedeutungsebene zurückwirkt, vgl. z. B.: Holenstein: Menschliche Gleichartigkeit und inter- wie intrakulturelle Mannigfaltigkeit; Hoffmann: Reflexionen über die Sprache.

2.5 Wissenskomponenten und Wissensformen

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Abb. 2.7: Objekt – Bedeutung – Sprache.

lichen Informationsgehalten ausgegangen werden, wie bildgebende Verfahren zur Kartierung neuronaler Aktivitäten belegen.¹⁰⁵ Diese bildgebenden Verfahren geben außerdem Hinweise darauf, dass es ein Unterschied ist, ob die Mustererzeugung anhand von Texten, mit Tönen und Bildern oder zusätzlich unterstützt durch Gesten stattfindet. Im letzteren Fall aktiviert dies im Gehirn ein deutlich komplexeres Netzwerk, das auch motorische Kortexareale sowie das Kleinhirn einbezieht. Die Verknüpfung der Reize verschiedener Sinnesmodalitäten zeigt sich durch vermehrte Aktivität im Parietalkortex. Auf Grund der stärkeren Vernetzung können wir uns mit Gesten gelernte Wörter leichter merken.¹⁰⁶ Dies spielt insbesondere dann eine Rolle, wenn es sich um Objekte handelt, die mit weiteren Erfahrungsbereichen verbunden sind. Der Begriff einer Blaumeise erfährt möglicherweise eine Wandlung, wenn man schon einmal von einer in den Finger gepickt wurde. Handelt es sich bei dem Objekt um ein Artefakt, wie in unserem Beispiel um ein Gemälde oder eine Zeichnung, wird die kognitive Repräsentation des Objekts gemeinsam mit der Repräsentation der jeweiligen Artefakt-Form aktiviert.

105 Vgl. z. B.: Bildgebende Verfahren [Sprache und Gehirn]. 106 Vgl.: Macedonia: Lernen.

60 | 2 Bausteine kognitiver Informations- und Wissensverarbeitung Die Übersetzungen und Phrasen in Abbildung 2.7 illustrieren Phänomene auf der Ebene der Sprache. Es ist anzunehmen, dass für fremdsprachige Benennungen (bluetit, alionín, mésange bleue), die der kognitiven Struktur bekannt sind (insbesondere die durch ein eigenes Wort repräsentierten), auch jeweils eine spezifische Repräsentation existiert, deren Beziehung als Übersetzung ebenfalls neuronal abgebildet ist. Bildet man mit dem Begriff Blaumeise Phrasen durch die Zuhilfenahme von Syntaxelementen, so ergeben sich weitere Nuancierungen. Im folgenden Beispiel sind die Blaumeisen einmal das Agens einer Handlung, im anderen Fall das Objekt (Rollenwechsel). In der zweiten Aussage erzeugt die Syntax darüber hinaus eine Bedeutungsübertragung: das Wort ,Eltern‘ unterstützt die Interpretation, dass es sich um Blaumeisen-Jungvögel handelt: Blaumeisen füttern ihre Jungen. Blaumeisen werden von ihren Eltern gefüttert.

Rolleneffekte, Interpretationen und Syntaxbedingungen sorgen in der Regel gemeinsam für das Verständnis einer Aussage. Beispielsweise wird für den Fall der Erstellung einer Abbildung mit einer Blaumeise eine andere Anforderung an das Abrufen einer kognitiven Repräsentation gestellt als für die Betrachtung des Bildes einer Blaumeise: Ein Bild mit jungen Blaumeisen wird betrachtet. Junge Blaumeisen werden gemalt.

Die Syntax hat Einfluss auf die Wortbedeutung, und unterschiedliche Bedeutungen schlagen sich in spezifischen neuronalen Repräsentationen nieder.¹⁰⁷ Das Beispiel zeigt, dass die kognitiven Repräsentationen des Objekts Blaumeise sich unterscheiden können und werden. Es gibt keine für alle Menschen übereinstimmende kognitive Repräsentation von Begriffen. Für sprachliche Repräsentationen lassen sich begriffliche Normierungen denken (Definitionen oder andere Festsetzungen), Wörter der lebendigen Sprache unterliegen jedoch einem ständigen Bedeutungswandel durch ihren Sprachgebrauch. Noam Chomsky charakterisiert die Grundeigenschaft von Sprache so:

107 Vgl. die Diskussion bei: Holenstein: Menschliche Gleichartigkeit und inter- wie intrakulturelle Mannigfaltigkeit.

2.5 Wissenskomponenten und Wissensformen

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Jede Sprache stellt ein unbegrenztes Spektrum hierarchisch strukturierter Ausdrücke zur Verfügung, die an zwei Schnittstellen interpretiert werden: einer sensomotorischen für die Externalisierung und einer konzeptuell-intentionalen für geistige Prozesse.¹⁰⁸

Dies bedeutet auch, dass die Verwendung von Sprache nicht als unveränderter Signalstrom zwischen einem Sender und einem Empfänger gedacht werden kann. Neben der Hauptbedeutung gibt es in der konzeptuell-intentionalen Interpretation von Sprachelementen Nebenbedeutungen, die in einer konkreten Sprechaktsituation aktiviert oder verworfen werden: Fluggäste ärgern sich über Gebühr. Alleen sind nicht gefährlich – Rasen ist gefährlich.¹⁰⁹

Für das volle Verständnis der Aussage müssen im geistigen Prozess erstens die verschiedenen Bedeutungsvarianten eines Wortes bekannt sein, und es muss zweitens im jeweiligen Kontext eine Entscheidung zwischen den Alternativen getroffen werden, die nicht durch den ,Daten‘-Inhalt des sprachlichen Ausdrucks unterstützt wird. Chomsky bringt den Zusammenhang zwischen Sprache als Hilfsmittel für die Kommunikation und dem Gelingen von Kommunikationsakten auf den Punkt: Im übrigen besteht, selbst insoweit Sprache zur Kommunikation verwendet wird, keine Notwendigkeit dafür, dass Bedeutungen (oder Laute oder Strukturen) für alle Sprecher/Hörer genau dieselben sind. Kommunikation ist keine Frage von Ja oder Nein, sondern eine Frage von mehr oder weniger. Wenn die Ähnlichkeit der Systeme nicht groß genug ist, wird die Kommunikation, wie es ja häufig auch passiert, teilweise misslingen.¹¹⁰

Neben Begriffen mit einer Bezugnahme auf Gegenstände der physischen Realität gibt es solche, die durch sprachliche Akte geschaffen werden.¹¹¹ Sprache ist hier direkt an der Bedeutungsgebung beteiligt und schafft dadurch auch Realität. Ludwig Wittgenstein hat auf diese Wechselwirkung hingewiesen: Ist denn die Bedeutung wirklich nur Gebrauch des Wortes? Ist sie nicht die Art, wie dieser Gebrauch in das Leben eingreift?¹¹²

108 Chomsky: Was für Lebewesen sind wir?, S. 39. 109 Warnschild an Landstraßen im Land Brandenburg; beide Beispiele aus: Mehrdeutigkeit [Wikipedia]. 110 Chomsky: Was für Lebewesen sind wir?, S. 58–59. 111 Für den Hintergrund dieser Herangehensweise vgl.: Searle: Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit, Kapitel 4 und 5. 112 Wittgenstein: Philosophische Grammatik, S. 62.

62 | 2 Bausteine kognitiver Informations- und Wissensverarbeitung Das Konzept der Institutionellen Realität berücksichtigt die Fähigkeit von Sprache, Realität zu erzeugen. Zur Erinnerung: Mit objektiver Realität ist die Realität gemeint, die existiert, ohne dass der Mensch dabei eine Rolle spielt. Eigenschaften von Objekten der Realität lassen sich unabhängig vom Beobachter und wiederholbar ermitteln. Die Bezeichnungen dieser Objekte haben eine deklarative und kommunikative Funktion. Dies ist bei Begriffen der kollektiven oder institutionellen Realität anders. Hier schafft Sprache Realität. Die Begriffe verdanken ihre Existenz Sprechakten im Kontext sozialer Konventionalisierungen und entstehen nicht durch Referenz auf Objekte der physischen Realität. Sie können nicht über die Methode der intensionalen Definition bestimmt werden, da sie nicht über stabile intrinsische Merkmale verfügen, die unabhängig von ihrer Bedeutungsgebung durch Menschen sind. Häufig muss zur Feststellung ihrer Bedeutung ein Kontext beachtet werden. Begriffe der gesellschaftlichen Realität werden nicht durch die Angabe von Eigenschaften definitorisch fixiert. Ihr Verständnis wird vielmehr durch die Prüfung von Gültigkeits- und Wahrheitsbedingungen ihrer Verwendung gefestigt. Um einen Begriff in einem Kontext zutreffend für einen Sachverhalt verwenden zu können, ist das Vorhandensein verschiedener Einstellungen wesentlich. Umgekehrt wird die Menge der Einstellungen dadurch charakterisiert, dass man genau diesen Begriff verwendet. Searle macht am Beispiel ,Geld‘ deutlich, dass mit ,Einstellungen‘ nicht allein eine beliebige Haltung, sondern mehr das durch Regeln gesicherte Vertrauen auf die Berechtigung der vorgenommen Handlung gemeint ist: Das Wort ,Geld‘ bezeichnet einen einzelnen Knoten in einem ganzen Netzwerk von Praktiken des Besitzens, Kaufens, Verkaufens, Verdienens, für Dienstleistungen Bezahlens, Schulden Abzahlens usf. […] Das Wort ,Geld‘ fungiert als Platzhalter für die linguistische Artikulation all dieser Praktiken. Um zu glauben, daß etwas Geld ist, braucht man das Wort ,Geld‘ nicht. Es ist hinreichend, daß man glaubt, daß die fraglichen Gegenstände Austauschmedien, Wertspeicher, Zahlungen für Schulden, Vergütungen für geleistete Dienste usf. sind.¹¹³

Verschiedenen Arten von Begriffen entsprechen unterschiedliche Methoden zu ihrer Definition. Begriffe der Kollektiven Realität scheinen sich sogar einer Definierbarkeit zu widersetzen. Als Paradebeispiel kann der Begriff ,Bewusstsein‘ angesehen werden. Für Bewusstsein ist nicht einmal ein ungefährer definitorischer Ansatz vorhanden. Nach Auffassung von Max Velmans erfordern Versuche

113 Searle: Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit, S. 61.

2.5 Wissenskomponenten und Wissensformen

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zu seiner Definition sogar erst einmal die Klärung, „was zu einer Definition nötig ist“.¹¹⁴ Begriffssysteme und Begriffsstrukturen Die Beziehungen zwischen Objekten, Bedeutungen und sprachlichen Repräsentationen werden immer häufiger im Hinblick auf ihre informationstechnische Modellierung in künstlichen Systemen diskutiert. Die meisten Teilaufgaben im Bereich der Wahrnehmung und Repräsentation können inzwischen durch den Einsatz von lernfähigen Systemen der Künstlichen Intelligenz weitgehend beherrscht werden. Für die unterschiedlichen Funktionen der Sinnesorgane (Sehen, Hören, Fühlen, Riechen, Schmecken) gibt es Programme mit dezidierten Aufgaben, die in der Regel unabhängig voneinander erstellt und optimiert werden. Anders ist es jedoch, wenn mehrere oder alle Bereiche miteinander verbunden werden sollen. So selbstverständlich die neuronale Wechselwirkung bei der Verarbeitung der verschiedenen Aufgabenstellungen ist, so wenig selbstverständlich ist diese Wechselwirkung in informationstechnischen Zusammenhängen. Der weiteren Diskussion wird die Modell-Vorstellung von elementaren Wissensbausteinen zugrunde gelegt, und es wird auf die Berücksichtigung höherer Stufen sprachlicher Komplexität verzichtet.¹¹⁵ Durch diese Vorgehensweise können nicht alle Fälle diskutiert werden; sie ermöglicht jedoch die Verdeutlichung des Prinzipiellen. Zwischen den Wissensbausteinen lassen sich Zusammenhänge erkennen, die als Beziehungen unterschiedlichen Typs charakterisiert werden (Abstraktion, Partition, Assoziation). Die Vielfalt dieser Beziehungen lässt sich teilweise typisieren und formalisieren. Die einzelnen Elemente können zudem durch syntaktische Regeln zu Aussagen verbunden werden, die damit eine höhere Komplexitätsstufe erreichen. Die Summe aller Beziehungen und Regeln bildet eine Struktur, die kognitiv verarbeitet werden muss, um Wissen erwerben zu können. Der Einfachheit halber soll hier für das so charakterisierte Wissen der Name Strukturwissen verwendet werden. Viele Ideen von Lernprozessen – vom Nürnberger Trichter über Poppers Kübeltheorie bis zur informationstechnisch geprägten Pipeline-Metapher – zeichnen ein sehr einfaches Bild der Übernahme von Wissen aus externalisierten Informationsquellen (vgl. Abbildung 2.8). Diese Modelle des Wissenserwerbs gehen davon aus, dass sich nicht vorhandenes Wissen identifizieren und zum Beispiel in exter114 Zitiert nach: Blackmore: Bewusstsein, S. 326. 115 Vgl. die umfassendere Diskussion in: Gödert/Hubrich/Nagelschmidt: Semantic knowledge representation for information retrieval, Kapitel 6 und 8.

64 | 2 Bausteine kognitiver Informations- und Wissensverarbeitung nalisierter Form auffinden lässt, um es in eine kognitive Struktur zu integrieren. Es wird angenommen, dass dieser Prozess auch ohne jede vorherige Veränderung der kognitiven Struktur stattfinden kann. Dabei orientiert man sich gern am Nachschlagen von Jahreszahlen, aktuellen Temperaturen, der Länge eines Flusses oder der Höhe des Bruttosozialprodukts eines Landes usw. und übersieht dabei, dass gerade Daten nur mit Referenz auf einen Theorierahmen verstehbar sind. Unterstellt wird, dass die kognitive Struktur bereits ausreichend ausgebildet ist, um das Einpassen im Sinne eines additiven Wissenszuwachses problemlos vornehmen zu können.

Abb. 2.8: Wissenserwerb – Einbau eines Wissenselements (1).

Wahrscheinlicher ist jedoch die Annahme, dass für das Einpassen erst eine Strukturveränderung erfolgen muss, die durchaus Resultat eines aufwendigen Lernprozesses sein kann. Und wenn man – aus welchen Gründen auch immer – zu einem solchen Lernprozess nicht (mehr) fähig ist, wird es Situationen geben, in denen diese Strukturveränderung nicht möglich ist. Umgekehrt gehört zur Veränderung der Struktur auch das Auflösen von Verbindungen durch mangelndes Training und damit der Verlust von Wissensbausteinen. Als weitere Wissensform kann das Handlungswissen oder prozedurale Wissen angesehen werden, das für die Durchführung von Bewegungsabläufen benötigt wird. Beispiele für diese Wissensform – Radfahren oder das Schalten beim Autofahren usw. – verbal zu beschreiben, ist ebenso schwer wie diese zu formalisieren.

2.5 Wissenskomponenten und Wissensformen

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Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist eine neue Beschreibung menschliches Denkens und Handelns zu beobachten, die einen erheblichen Einfluss auf die Vorstellung von Wissen hat. Mit der in diesem Zeitraum beginnenden Entwicklung der computergestützten Informationsverarbeitung und ihrem Vordringen zunächst in weite Bereiche der Arbeitswelt und nachfolgend in das gesamte gesellschaftliche Leben, ging eine grundlegende Veränderung des Verhältnisses zwischen dem Menschen und den von ihm geschaffenen und benutzten Werkzeugen einher.¹¹⁶ Zunächst handelte es sich bei der computergestützten Informationsverarbeitung um Hilfsmittel, die Arbeitsprozesse verbessern oder erleichtern sollten. Sie standen damit in der Tradition des Werkzeugs, das in der Technikgeschichte als Ausgleich nicht vorhandener menschlicher Leistungsfähigkeit gesehen wird.¹¹⁷ Allerdings dauerte dieser zeitliche Abschnitt nur etwa zwanzig Jahre, ungefähr von 1965 bis 1985. Danach gab es eine zunehmende Leistungsstärke der Rechner, die Entwicklung und Verbreitung des Personal-Computers, die verteilte Datenhaltung, das Internet und die Cloud. Es entstanden neue Anwendungsfelder mit ehemals nicht für möglich gehaltenen Leistungen. Spätestens die ,Siege‘ von Computern gegen Menschen in typischen ,Intelligenzsituationen‘ wie dem Schachspiel, jüngst dem Go-Spiel, brachten eine erneute Wende: Mit dem Beginn des 21. Jahrhunderts wurde in der Computermetapher ein Erklärungsmodell gesehen, das zur Beschreibung kognitiver Prozesse verwendet werden kann. Menschen haben allerdings auch ohne Bezugnahme auf diese Metapher bereits intellektuelle Höchstleistungen erbracht und diese Leistungen waren sogar dafür verantwortlich, dass sie überhaupt als Konzept gedacht werden konnte. Wissensformen Für einen Überblick über verschiedene Formen des Wissens, die für das Verständnis von Externalisierung und Rezeption wichtig sind, präzisieren wir zunächst die Unterscheidung in faktisches Wissen und Strukturwissen.¹¹⁸ Die Unterscheidung ist nahe liegend, aber auch unscharf. Es ist nicht eindeutig, ob faktisches Wissen 116 Vgl. etwa: Steinbuch: Masslos informiert; Steinbuch: Die informierte Gesellschaft. 117 Diese Sichtweise wird auf Arnold Gehlen zurückgeführt. Vgl. etwa die Darstellung: Rapp: Fortschritt. 118 Zusammenstellungen von Wissenstypologien finden sich unter anderem in: Böhme-Dürr (Hrsg.): Wissensveränderung durch Medien; Luft: Zur begrifflichen Unterscheidung von ,Wissen‘, ,Information‘ und ,Daten‘; Luft: ,Wissen‘ und ,Information‘ bei einer Sichtweise der Informatik als Wissenstechnik; Scheidgen (Hrsg.): Information ist noch kein Wissen; Piekara: Wie idiosynkratisch ist Wissen?; Spies: Unsicheres Wissen; Wersig: Inhaltsanalyse; Wille: Begriffliche Datensysteme als Werkzeuge der Wissenskommunikation.

66 | 2 Bausteine kognitiver Informations- und Wissensverarbeitung nur vorliegt, wenn gar kein Kontext vorhanden ist, mitgeteilt oder mitgedacht wird. Eben so wenig ist bekannt, wie viel Kontext erforderlich ist, um von strukturellem Wissen sprechen zu können. Intuitiv einleuchtend scheint die Annahme, dass der Erwerb faktischen Wissens strukturelles Wissen voraussetzt. Aber ist umgekehrt strukturelles Wissen ohne faktisches Wissen überhaupt möglich? Eine Reduktion des Verständnisses von Wissen auf die Ansammlung und den möglichen Abruf von Fakten greift in jedem Fall zu kurz.¹¹⁹ Unter dem Einfluss der Computermetapher ist eine Verschiebung des Verständnisses von Wissen zu beobachten. Dem faktischen oder Datenwissen wird gegenüber dem analytischen, beschreibenden oder Erlebniswissen eine wachsende Bedeutung zugemessen. Identische Ereignisse können etwa mit ganz unterschiedlichen Angaben zeitlich eingeordnet werden, beispielsweise durch: – – –

ein Datum (zum Beispiel im gregorianischen oder julianischen Kalendersystem); einen Zeitpunkt in einem kodifizierten Wissenssystem (zum Beispiel in einem historischen Beobachtungskalender der Tag vor dem dritten Vollmond nach Ostern);¹²⁰ ein gleichzeitig stattfindendes allgemeines oder persönliches Ereignis (zum Beispiel ,zwei Tage nachdem ich im Stadion miterlebt habe, wie Deutschland zum dritten Mal Fußballweltmeister wurde‘).

Trotz der prinzipiellen Gleichwertigkeit dieser Möglichkeiten ist es in unserem Kulturkreis schwer vorstellbar, dass beispielsweise ein Boxfan in einem amtlichen Formular sein Geburtsdatum durch eine Umschreibung (13 Tage nachdem Cassius Clay Olympiasieger im Halbschwergewicht wurde) angeben darf, statt den 07.09.1960 zu nennen. Das Kodifizierungssystem bekommt Einfluss auf die Frage, was als Wissen innerhalb einer Sozialisationsgemeinschaft anerkannt wird und was nicht. Wissen unterliegt einem gesellschaftlichen Bewertungs- und Akzeptanzprozess. Mit Hilfe des Referenzbereichs der Ent-individualisierten Gültigkeit lässt sich eine Unterscheidung von Wissen in individuelles Erfahrungs- oder Erlebniswissen und kodifiziertes Wissen vornehmen, wie es etwa in Lernvorgängen innerhalb eines organisierten Bildungssystems erworben wird. Um festzustellen, wie tragfähig ein Modell zum Wissenserwerb aus externalisierten Quellen sein kann und welche Voraussetzungen dafür erfüllt sein müssen, ist es lohnend, sich verschiedene Situationen eines Nicht-Wissens zu vergegenwär119 Vgl. etwa: Hentig: Die Flucht aus dem Denken ins Wissen. 120 Die Unterscheidung dieser ersten beiden Möglichkeiten ist etwas künstlich, da es sich natürlich bei einem Kalender um ein kodifiziertes Wissenssystem handelt. Die heutige Unbefangenheit bei der Angabe eines Datums zeigt die Akzeptanz ,dieses‘ kodifizierten Wissenssystems bereits deutlich.

2.5 Wissenskomponenten und Wissensformen

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tigen. Üblicherweise unterscheidet man dabei Wissen, das durch eine Person für sich selbst externalisiert wird und externalisiertes Wissen, wie es Poppers Welt 3 zugrunde liegt. Für sich selbst externalisiertes Wissen können beispielsweise persönliche Aufzeichnungen sein. Diese halten das Ergebnis eines Wissenserwerbs in einer der individuellen kognitiven Struktur angepassten Form fest. In der Regel wird es der Person möglich sein, die Aufzeichnungen zu einem späteren Zeitpunkt wieder in die individuelle kognitive Struktur einzupassen. Doch dieser Prozess verläuft nicht immer reibungslos. Die Erinnerung an den schulischen Mathematik-Unterricht dürfte ausreichen, um die Schwierigkeiten dabei zu verstehen, aus selbst angefertigten Aufzeichnungen einmal Gewusstes zu rekapitulieren. Interessanter ist der zweite Prozess – die Externalisierung im Sinne von Poppers Welt 3. In diesem Fall soll eigenes Nicht-Wissen durch objektiviert externalisiertes Wissen ersetzt werden. Obwohl also andere Personen das Ergebnis eines Erkenntnis- oder Wissenserwerbsprozesses gemäß ihrer kognitiven Strukturdeterminiertheit medial fixiert haben, unterstellen wir, dieses Ergebnis für unsere eigene kognitive Struktur nutzbar machen zu können. Die folgenden Beispiele beschränken sich auf Wissensformen, die nicht handlungsorientiert oder prozedural zu verstehen sind und untersuchen jeweils die Bedingungen von Wissen und Nicht-Wissen. Unbekannte Fakten: – Wie lautet die Postleitzahl von Weilburg? – Wie hoch ist der Fahrpreis einer Zugverbindung vom X nach Y im August am Tag Z in der Klasse K? – Welche deutschen Maler lebten zur Zeit der Französischen Revolution? – Wie viele Protonen enthält ein Goldatom?

In all diesen Fällen ist es berechtigt anzunehmen, dass bei hinreichend vorhandenem Strukturwissen das Ermitteln der genauen Antwort (etwa aus einem Nachschlagewerk) im Sinne faktischen Wissens ausreicht, um die Wissenslücke zu füllen. Gleichwohl könnte es sein, dass hierfür jeweils auch ein gewisses Bildungsoder Sozialisationswissen vorhanden sein muss. Unter Umständen muss schon für diese einfachen Beispiele für Phänomene des Nicht-Wissens angenommen werden, dass zunächst der Erwerb von zusätzlichem strukturellem Wissen erforderlich ist, bevor die Fragen korrekt beantwortet werden können. Das zweite Beispiel verwendet Ausdrücke einer Fachsprache, die gelesen werden sollten, als ob sie unbekannt wären. Unbekannte fachsprachliche Ausdrücke: – Turmdrehkran;

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hypoelliptischer Differentialoperator; koextensive Repräsentation des Dokumenteninhalts in einer syntaktischen Indexierungssprache.

In diesen Fällen ist das Vorhandensein eines mehr oder weniger gut ausgebauten Strukturwissens (in der Regel aus dem Referenzbereich der Fachlich entindividualisierten Gültigkeit) zwingend erforderlich, um die Wissenslücke zu schließen. Es scheint aber möglich, eine von ,Experten‘ akzeptierte Beschreibung des jeweiligen Sachverhalts zu geben. Für eine Darstellung, die für alle geeignet sein könnte, vorhandene Wissenslücken zu füllen, wird dies allerdings nicht ausreichend sein. In anderen Fällen ist es möglich, dass einem trotz der prinzipiell vorhandenen Kenntnis nicht der Name eines Vogels, einer Pflanze, eines Musikstücks oder einer Person einfällt. Oft ist man dann zwar in der Lage, Beschreibungen zu geben, die auf das Vorhandensein des Wissens hindeuten, aber selbst der Zugang zu allen konstituierenden Merkmalen eines Begriffs (beispielsweise durch eine Definition) reicht unter Umständen nicht aus, um ihn zu benennen. Unbekannte Definitionen: – Schwankungen von Wirtschaftsdaten innerhalb eines Zyklus (Zeitraum, der einen konjunkturellen Auf- und Abschwung umfasst); – Schwankungen im Auslastungsgrad des Produktionspotenzials einer Volkswirtschaft; – langfristige, festverzinsliche Schuldverschreibung der Bodenkreditanstalten; durch Hypotheken gesichert und börsengängig; kündbar nur durch die Hypothekenbank.

Offen bleibt, wann eine Begriffsbildung abgeschlossen ist und wann zusätzlich außerhalb des zu benennenden Begriffs liegende Merkmale eines Begriffssystems zu berücksichtigen sind. Unbekannte Konnotationen: – Pocke (Ruhrgebietsausdruck für Fußball); – Heißer Ofen (Slangausdruck für schnelles Auto); – Heißer Stuhl (Slangausdruck für Motorrad, aber auch für Talkshows).

Das Verstehen von Begriffen kann auch daran scheitern, dass Konnotationen nicht oder nicht vollständig bekannt sind. In den genannten Fällen ist die Bindung der Wissenslücke an einen historisch, kulturell, geografisch oder anders bestimmten Lebensbereich offensichtlich, und damit sind auch die Voraussetzungen für ihre Beseitigung klar. Allen vorgenannten Beispielen ist gemeinsam, dass sie einerseits aus isoliert zu betrachtenden Konzepten bestehen, andererseits aber einen Übergang bilden

2.5 Wissenskomponenten und Wissensformen

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zu den schwierigeren Fällen der Unkenntnis eines ganzen Begriffssystems oder ganzer Theorien, die ungleich mehr strukturelles Wissen erfordern. Unbekannte Begriffssysteme – König, Ober, Bube, Unter, Dame; – Spiel, Satz, Sieg; – Milch (Rohstoff, Produkt, Wirtschaftsgut, Nahrungsmittel, Metapher, etc.); – Hoftor, Rolltor, Gartentor, Schleusentor; Wissen, Verstehen, Begreifen, Erkennen, Erkenntnis, Wahrheit, Gewissheit, Gedächt– nis, Information.

Ohne Kenntnis des geeigneten Kontexts wird man die Beispiele nicht einordnen können. Üblicherweise werden Begriffe über Merkmale definiert und diese Merkmale werden auch als Basis für Zusammenhänge zwischen den Begriffen angesehen. Wie vollständig funktioniert dies für das Beispiel ,Milch‘? Lassen sich für alle Beispiele alle erforderlichen Merkmale angeben? Die prinzipielle Mehrdeutigkeit der einzelnen Begriffe erschwert zusätzlich die Zuordnung. Erst die Hinzunahme weiterer Begriffe wirkt Kontext stiftend. Lässt sich die Frage beantworten, wann die Elemente ein Begriffssystem konstituieren und wann ein solches Begriffssystem als abgeschlossen und vollständig zu betrachten ist? Wie wird entschieden, ob noch Begriffe fehlen, damit das System als abgeschlossen angesehen werden kann? Allgemeiner führt dies zu folgenden Fragen: – Kann man einen abgeschlossenen Merkmalsbesitz für jeden Begriff angeben? – Muss man auch nicht zutreffende Merkmale angeben? Wie viele? – Ist das Bilden von Begriffen ein Vorgang, der bezogen auf einen einzelnen Begriff einen Abschluss findet? – Kann man jedes Merkmal als Element eines Merkmalsraums (Aspekt) begreifen? – Spannen alle Merkmale eines Merkmalsraums ein Begriffssystem auf? Alle Fragen haben Bedeutung für die Erstellung künstlicher Begriffssysteme, etwa im Kontext von Dokumentationssprachen oder der Wissensrepräsentation, und müssen durch geeignete Maßnahmen beantwortet werden. Konzepte oder Begriffe der Institutionellen Realität lassen sich nicht allein durch Angaben von Eigenschaften fixieren, denn sie unterliegen auch dem Wandel von Gültigkeitsbedingungen im sozialen Umfeld. Aus diesem Grund haben Begriffsbildung und Begriffsverständnis eine zeitliche Komponente. Es ist nicht sicher, dass ein Begriff seine Bedeutung im Laufe der Zeit behält. Im Alltag finden sich zahlreiche Beispiele dafür. Wurde Jahrhunderte lang unter dem Begriff ,Ehe‘

70 | 2 Bausteine kognitiver Informations- und Wissensverarbeitung in Deutschland die Verbindung zwischen Mann und Frau verstanden, so hat sich dies durch einen Gesetzgebungsprozess im Juli 2017 geändert.¹²¹ Ein in der wissenschaftstheoretischen Literatur diskutiertes Beispiel ist der Begriff der physikalischen Masse vor und nach der Entwicklung der Relativitätstheorie durch Albert Einstein. Thomas Kuhn ging so weit zu sagen, dass die beiden Begriffsbildungen unvereinbar seien und dass aus Sicht der Relativitätstheorie der Newtonsche Massebegriff falsch sei, obwohl er für unseren Alltagsgebrauch weiterhin eine große Bedeutung besitzt.¹²² Im Großen und Ganzen scheint es Menschen gut zu gelingen, sich auf die Veränderungen des begrifflichen Verständnisses einzustellen und dies bei dessen Verwendung zu berücksichtigen. Wesentlich schwieriger ist es, Lösungsansätze für eine zeitgebundene externalisierte Repräsentation von Begriffen und ihren Strukturen – insbesondere für Begriffe der Institutionellen Realität – zu finden.¹²³ Eine begriffliche Bestimmung, die über den Kontext vorgenommen wird, lässt sich nicht so ohne weiteres in einem formalen System abbilden. Das Problem vergrößert sich, wenn nicht nur die Begriffe formalisiert dargestellt werden sollen (wie zum Beispiel in Klassifikationssystemen oder Thesauri), sondern diese auch als dauerhaft gültige und verständliche Erschließungsmerkmale mit Bezug auf den Inhalt von Dokumenten in einem Informationssystem benutzt werden sollen.¹²⁴ Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass mangelnde Vollständigkeit der begriffsbestimmenden Merkmale, fehlender Kontext und fehlende zeitliche Dimension wichtige Ursachen für Nicht-Wissen-Phänomene sind. Dazu kommen noch die Unkenntnis logischer Schlussregeln, falsche logische Schlussfolgerungen, die mangelnde Fähigkeit zu kombinatorischen Prozessen und die Fehleinschätzung statistischer Phänomene. Information und Wissen Information und Wissen sind zwei Konzepte, die nicht immer leicht voneinander unterschieden werden können. Die erste Schwierigkeit liegt schon in der Frage, welchen Entitätscharakter man dem Konzept ,Information‘ zuordnen kann. In externalisierter Form ist Infor-

121 Vgl. für die Geschichte und Bedeutung des Begriffs: Ehe [Wikipedia]. 122 Vgl.: Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 113 ff. 123 Vgl. z. B. die Vorschläge, statt des Semiotischen Dreiecks zur begrifflichen Modellierung einen Semiotischen Tetraeder zu benutzen, um auch die pragmatische Dimension der Verwendung von Begriffen berücksichtigen zu können: Hesse: Information. 124 Ausführlicher werden diese Fragen erörtert in: Gödert: Semantische Wissensrepräsentation und Interoperabilität.

2.5 Wissenskomponenten und Wissensformen

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mation an einen materiellen Träger gebunden, ohne selbst Materialität zu besitzen. Sie ist aber keine Eigenschaft des materiellen Trägers, die in einem Gewinnungsvorgang gehoben oder ausgelesen werden könnte. Information ist stattdessen Bestandteil eines Prozesses und kann als Gegenstand der kognitiven Informationsverarbeitung als neuronales Geflecht bzw. dessen Aktivität beschrieben werden. In diesem Verarbeitungsprozess ist Information vor dem daraus entstehenden Wissen anzusiedeln, kann aber natürlich durch Wissen erweitert und verändert werden. Der vielleicht wichtigste Unterschied zwischen Information und Wissen ist der Bezug des Wissens zu einem Wirklichkeitsproblem, das von anderen Menschen geteilt wird. Wissen ist in diesem Sinne ein soziales Phänomen. Information muss keinen Wirklichkeitsbezug haben und nicht von anderen Menschen geteilt werden. Beispiele dafür sind Träume oder individuelle fiktionale Fantasien als Prozesse der Informationsverarbeitung, die den direkten Bezug zur Außenwelt nicht benötigen. Information ist in ihrer kognitiv verstandenen Ausprägung nicht quantifizierbar und kann daher auch nicht, wie zum Beispiel die gern als Vergleich herangezogene physikalische Größe ,Energie‘, durch Erhaltungssätze beschrieben werden. Die durch Anlehnung an die Ansätze der Informationstheorie häufig vorgenommene Quantifizierung von Information durch Bits im Binärsystem ist eine rein datentechnische Vorgehensweise ohne jeden Bezug zur kognitiven Verarbeitung. Selbst im Rahmen der höchsten Stufe einer formalisierten Informationstheorie, der Algorithmischen Informationstheorie von Chaitin, lässt sich der Informationsgehalt einer Zeichenkette nicht eindeutig angeben, da nicht beweisbar ist, dass ein zu ihrer Erzeugung benutztes Programm wirklich das kürzeste ist.¹²⁵ Als zentrale Beschreibung und Unterscheidungsmöglichkeit beider Konzepte lässt sich festhalten: Wissen hat Bezug zu einem Wirklichkeitsproblem, das von anderen Menschen geteilt wird. Wissen entsteht auf der Basis von Information. Der für die Umwandlung erforderliche kognitive Prozess verarbeitet die Information und erzeugt so Wissen. Information wird zum Gegenstand der kognitiven Verarbeitung durch Sinneswahrnehmung der Außenwelt oder Interaktion mit anderen Menschen; sie kann aber auch Gegenstand eines rein selbstreferentiellen Prozesses sein. Information und Informationell Für eine Charakterisierung von Informationell greift die Bezugnahme auf ein an Daten und Signalübertragung gebundenes Modell für menschliche Informationsverarbeitungsvorgänge zu kurz. Vorgänge der kognitiven Informationsverarbei125 Vgl.: Chaitin: Algorithmic information theory; Chaitin: The limits of mathematics.

72 | 2 Bausteine kognitiver Informations- und Wissensverarbeitung tung lassen sich nur durch Interpretation im Rahmen von Interpretationsschemata beschreiben. Eine unverzichtbare Stellung nimmt dabei das Konzept ,Kontext‘ ein. Daten können als Entitäten mit oder ohne Kontext gedacht werden, Information nur mit Kontext. Die Ziffernfolge ,314159‘ kann als reine Folge von sechs zufällig gewählten Ziffern oder als eine Zahl gesehen werden: 3 x 10⁵ + 1 x 10⁴ + 4 x 10³ + 1 x 10² + 5 x 10¹ + 9

Die zweite Interpretation setzt eine Abstraktionsleistung unter Kenntnis des dezimalen Stellenwertsystems voraus. Eine dritte, noch anspruchsvollere Interpretation erkennt die ersten Ziffern der Kreiszahl π, was durch das Setzen eines Kommas an geeigneter Stelle erleichtert wird: 3,14159. Die sechs Zahlen der Folge ,5 7 11 17 33 42‘ können ohne einen zusätzlichen Kontext nicht interpretiert werden. Erst das Wissen darüber, dass es sich um Lottozahlen handelt, macht aus den Daten eine Aussage, die möglicherweise von großer Bedeutung sein kann. Die Beispiele zeigen, dass menschliche Informationsverarbeitung immer unter Berücksichtigung eines Kontexts erfolgt.¹²⁶ Daher ist sie individuell und bedarf zum Abgleich mit den Leistungen anderer der kommunikativen Verständigung. Der österreichische Computerpionier Heinz Zemanek antwortete in einem Interview auf die Frage „Kann man Information messen?“: Sie können Buchstaben zählen, Information aber ist allein durch Messung nicht zu verstehen, sie ist ihrem Wesen nach nicht physikalisch und bedarf der Darstellung und Deutung, wo Physik und Technik fertig sind.¹²⁷

Die Turingmaschine als reinste Form eines informationstechnisch verstandenen Informationsverarbeitungssystems kennt einen solchen Kontext und eine Kontext bezogene Kommunikation nicht. Sie ist daher universell, weil sie invariant gegenüber allen Kontexten ist. Als kognitiver Zustand hat Information keinen Substanzcharakter. Sie kann mit anderen getauscht und unter Zuhilfenahme geeigneter Strukturierung reprä-

126 Es soll darauf verzichtet werden, die gegebenen Beispiele unter Zugrundelegung einer Codiervorschrift auch noch auf eine Bit-orientierte Datenebene herunterzubrechen. Der gemeinte Unterschied zwischen Daten und Information sollte auch so deutlich geworden sein. Ebenso soll nicht weiter verfolgt werden, dass auch das Verständnis von Ziffern bereits eine bestimmte Theoriebindung voraussetzt, die ihrerseits eine Kulturbindung auf Grundlage historischer Prozesse einfordert. 127 Karner: Mailüfterl, Al Chorezmi und Künstliche Intelligenz.

2.6 Autonomie und Informationelle Autonomie

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sentiert und externalisiert werden. Dabei ist sie nicht an ein einziges Repräsentationsschema gebunden. Sie besitzt eine Existenz außerhalb kognitiver Strukturen, ihre Erschließung setzt jedoch einen kognitiven Prozess voraus. Durch die Sinneswahrnehmungen ist sie externe Grundlage für kognitive Prozesse. Als Teil selbstreferentieller Prozesse eines autopoietischen Systems¹²⁸ ist sie interne Grundlage für kognitive Prozesse. In Verbindung mit einer Wirklichkeitskonstruktion erzeugt Information Wissen. Die Gesamtheit dieser informationserschließenden Prozesse wird hier als ‚Informationell‘ charakterisiert.

2.6 Autonomie und Informationelle Autonomie Autonomie Autonomie lässt sich als Zustand der Selbstbestimmung und Selbstständigkeit beschreiben. Dabei können verschiedene Bezugsebenen unterschieden werden. Eine erste Ebene ist ausschließlich auf das Individuum bezogen. Hierzu gehören die physiologischen Prozesse zur Lebenserhaltung. Sie umfassen die Sinneswahrnehmung, die neuronale Verarbeitung, das Vergleichen mit vorhandenen sowie das Bilden neuer Muster bis hin zu daraus resultierenden Handlungen und deren Steuerung. Diese Ebene kann als die basale angesehen werden, der auch dann Autonomie zukommt, wenn keine weitere Ebene vorhanden ist. Eine zweite Ebene wird durch Prozesse der kognitiven Informationsverarbeitung zur Problemlösung, insbesondere zur rationalen Problemlösung, beschrieben. Auf dieser Ebene kann ein informationeller Prozess losgelöst von Sinneswahrnehmungen oder anderen Interaktionen mit der Umwelt stattfinden. In der Praxis wird er sich jedoch in Wechselwirkung mit der Umwelt vollziehen, weil das Problem der Umwelt entstammt und das Ergebnis der Problemlösung in die Umwelt hineinwirken soll. Daher muss die erste Ebene mit einbezogen werden. Erste und zweite Ebene gemeinsam sind Voraussetzungen für eine Kognitive Autonomie. Dabei kann die Autonomie der Prozesse auf beiden Ebenen nicht abgestellt werden. Lediglich für bestimmte Probleme der zweiten Ebene können Einflüsse von außen die Verarbeitungsprozesse steuern oder die erzielten Lösungen für wertlos erklären. Als dritte Bezugsebene werden die Interaktionen von Menschen in sozialen und institutionalisierten Strukturen gesehen. Auch hierfür werden Gesichtspunkte von Autonomie geltend gemacht. Als Beispiele seien rechtliche, politische oder wirtschaftliche Autonomie des Einzelnen, von Gruppen, sozialen Gemeinschaften

128 Vgl.: Maturana/Varela: Der Baum der Erkenntnis.

74 | 2 Bausteine kognitiver Informations- und Wissensverarbeitung sowie Unternehmen, Organisationen oder Staaten genannt. Hier sind die Einflüsse, die von außen auf das Individuum einwirken, weitaus stärker als bei den beiden anderen Ebenen.¹²⁹ Autonomie wird als Persönlichkeitsmerkmal nicht nur positiv gesehen und nicht uneingeschränkt für erstrebenswert gehalten. Die Bewertung von Autonomie polarisiert. Befürworter und Gegner halten sich die Waage. Ein besonderes Spannungsverhältnis besteht zwischen Autonomie und Autorität. Da es uns hauptsächlich um die Konfrontation des Individuums mit informationellen Fragestellungen und Verarbeitungsvorgängen geht, halten wir Kognitive Autonomie für eine unverzichtbare Grundeigenschaft menschlichen Handelns. Diese Position charakterisieren wir als Informationelle Autonomie. Informationelle Autonomie Informationelle Autonomie ist die Fähigkeit zur kognitiven Informationsverarbeitung selbst angeregter oder durch Sinneswahrnehmung angestoßener Zustände und der damit verbundenen Rezeption externalisierter Informationen. In beiden Fällen ist sie an die Strukturdeterminiertheit des kognitiven Systems gebunden und kann nicht durch ein Sender-Empfänger-Modell beschrieben werden Es gibt keinen in irgendeinem Zeichencode lesbaren Datenstrom. Es gibt keine Möglichkeit der Vorhersage, welches Ergebnis ein individuelles kognitives System auf der Grundlage der empfangenen Sinneswahrnehmung erzeugt. Es gibt lediglich neuronale Signale in komplexen Netzwerkstrukturen, die zum Zweck der kognitiven Verarbeitung mit vorhandenen Mustern verglichen werden. Das Ergebnis des Verarbeitungsvorgangs ist also individuell und kann sich vom Ergebnis eines anderen Individuums unterscheiden. Die Wahrscheinlichkeit eines Unterschieds wächst mit dem Anteil an subjektiven Einflüssen (Erfahrungen, Gefühle). Wird über Kontrollvorgänge eine Ähnlichkeit der Ergebnisse verschiedener Individuen festgestellt, so ist dies nicht allein Folge identischer Eingangssignale, sondern auch begleitender Rahmenbedingungen. Beispiele dafür sind der gesellschaftliche und kulturelle Kontext, vergleichbare Vorgeschichten in der Lehr- und Lernsituation oder Sanktionen von Verhaltensweisen, die das Ergebnis Informationeller Autonomie waren und im gesellschaftlichen Kontext nicht gut geheißen oder sogar verurteilt wurden. Ob diese Sanktionen berechtigt oder unberechtigt waren, bewirkt nicht zwingend eine veränderte Einstellung des Individuums zu seiner Informationeller Autonomie.

129 Vgl. etwa: Pauen/Welzer: Autonomie; Schmidt: Kognitive Autonomie und soziale Orientierung.

2.7 Informationelle Autonomie und Bewusstsein

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Die kognitiven Prozesse laufen je nach Zuordnung zu einem physiologischen Prozess bewusst oder unbewusst ab. Insbesondere die den Lebenserhaltungsvorgängen zugeordneten Prozesse können nicht oder nur sehr begrenzt willentlich beeinflusst werden. Ein Anhalten der dem Bewusstsein zugeordneten kognitiven Prozesse ist möglich, ein endgültiges Einstellen ist inhuman. Bislang wurde dies durch das Attribut ,Gehirnwäsche‘ charakterisiert. Das heißt im Umkehrschluss: Die gegenwärtigen Vorstellungen vom Menschsein implizieren eine kontinuierliche und fortwährende kognitive Informationsverarbeitung, die als höherwertige Funktion auf Leistungen zielt, die mit vielfältigen individuellen Entscheidungen verbunden sind (,Gehe ich heute ins Kino?‘ ,Was ziehe ich dazu an?‘ ,Frage ich Person xy, ob sie mitkommt?‘ ,Gehen wir vorher etwas essen?‘ ,Wo?‘ ,Gehen wir nachher etwas trinken?‘ ,Wo?‘ usw.). Die Bestrebungen des Dataismus, Entscheidungen des Individuums durch Cloud gestützte Big Data-Auswertungen zu prognostizieren und vielleicht sogar zu ersetzen, können nicht das ganze Spektrum individueller Entscheidungen abdecken. Schon die vergleichsweise schlichten Leistungen zur Orientierung des Einzelnen im Leben und zur Teilhabe am Leben erfordern autonome Vorgänge. Auch die für das Dirigieren einer Symphonie oder das Beweisen eines mathematischen Theorems erforderlichen Leistungen sind anders als autonom nicht vorstellbar. Soll kognitive Informationsverarbeitung also nicht mehr unter der Prämisse der Autonomie stehen, kann dies nur durch Informationelle Bevormundung erreicht werden und durch Vorschriften, wann Informationelle Autonomie zulässig ist und wann nicht. Informationelle Abhängigkeit wäre die Folge. Den Übergang von Informationeller Autonomie zu Informationeller Abhängigkeit individuell zu bemerken, setzt allerdings zunächst ein Bewusstsein voraus.

2.7 Informationelle Autonomie und Bewusstsein Bewusstsein¹³⁰ besitzt für unseren Diskussionskontext aus mehreren Gründen Bedeutung. Einerseits wird es gern in Verbindung mit Autonomie gebracht, andererseits wird die Ausstattung künstlicher Systeme mit einem Bewusstsein als

130 Vgl. zur Einführung z. B.: Searle: Geist; Calvin: Die Symphonie des Denkens; Edelman/ Tononi: Gehirn und Geist; Edelman: Göttliche Luft, vernichtendes Feuer; Edelman/Gally/Baars: Biology of consciousness.

76 | 2 Bausteine kognitiver Informations- und Wissensverarbeitung Schlüsselfrage für die Entwicklung der sogenannten starken Künstlichen Intelligenz gesehen.¹³¹ Bewusstsein ist ein physiologischer Zustand mit der Fähigkeit, Empfindungen zu erzeugen, Erfahrungen zu sammeln und mit anderen zu teilen. Es ist gleichzeitig Subjekt und Objekt ein- und desselben Prozesses und unterliegt damit den prinzipiellen Einschränkungen seiner vollständigen Erkenntnis – wie alle formal geschlossenen Systeme. Das Zustandekommen und Aufrechterhalten von Bewusstsein erfolgt unter Bedingungen, die nicht vollständig bekannt sind. Ein breit gefächertes Spektrum dieser Bedingungen benennt Searle: – – – – – – – – – – – –

Endlich viele Modalitäten Einheit Intentionalität Subjektives Gefühl Die Verbindung zwischen Bewusstsein und Intentionalität Die Figur/Hintergrund-Struktur bewussten Erlebens Der Aspekt des Vertrauten Überfließen Das Zentrum und die Peripherie Randbedingungen Stimmung Die Lust/Unlust-Dimension¹³²

Bewusstsein gilt als ein mentaler Grundzustand, der die selektive Aufmerksamkeit steuert. Dies schließt die Fähigkeit ein, eine spontane und autonome Entscheidung über die Auswahl des Bereichs zu treffen, dem diese Aufmerksamkeit zukommen soll.¹³³ Das Attribut ,spontan‘ meint, dass die Entscheidung in einer vergleichbaren Situation zu einem anderen Zeitpunkt anders ausfallen kann, also nicht vordefiniert ist oder von Merkmalen abhängt, die in den Situationen unterschiedlich sind. Entscheidend ist die Basierung auf der individuellen Vorgeschichte und den aktuellen Absichten für die Zukunft. Bewusste Handlungen lassen sich also mit Aufmerksamkeit und Absicht in Verbindung bringen. Beides steht wiederum in Beziehung zu selektiver Wahrnehmung und der Auswahl der Bereiche, denen Aufmerksamkeit geschenkt wird bzw. denen keine geschenkt werden soll. Ein Beispiel: Beim Anhören eines Radioprogramms, in dem im Umfeld der Nachrichten auch Verkehrshinweise und Lotto131 Vgl. als Einführung und als Überblick der unterschiedlichen Positionen: Blackmore: Bewusstsein; Blackmore (Hrsg.): Gespräche über Bewußtsein. 132 Vgl.: Searle: Geist, S. 149–173. 133 Vgl.: Searle: Die Struktur des Bewußtseins; Searle: Packt das Bewußtsein wieder ins Gehirn.

2.7 Informationelle Autonomie und Bewusstsein

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zahlen mitgeteilt werden, werden nicht alle Hörer allen Mitteilungen die gleiche Aufmerksamkeit schenken. Das Maß der Aufmerksamkeit ist an bestimmte individuelle Voraussetzungen, Vergangenheitsentscheidungen (Aufmerksamkeit für Lottozahlen) oder Zukunftsabsichten (Verkehrsnachrichten) gebunden. Situationen wie diese sind Bestandteil jeder individuellen Lebenswirklichkeit und können durch beliebig viele Beispiele unterfüttert werden. Sie erzeugen trotz gleicher Umgebungsbedingungen die Unterschiedlichkeit des individuellen Erlebens. Das Wissen über die Situation ist das Ergebnis eines kognitiven Verarbeitungsprozesses, dem die selektiv erfasste Information zugrunde liegt. Es ist eine individuelle Wirklichkeitskonstruktion, weil ein einzelnes Individuum nicht gleichzeitig die Summe aller Konstruktionen aller anderen auch anwesenden Individuen durchführen kann. Die aktive Teilnahme am Leben erzeugt auf der Grundlage von individueller Geschichte und Zukunftserwartung die Notwendigkeit einer selektiven Wahrnehmung und einer nachfolgenden kognitiven Informationsverarbeitung im Rahmen von Entscheidungsvorgängen. Da diese Teilnahme individuell ist, ist sie unterschiedlich. Soll die Verarbeitung und Entscheidung nicht als fremd gesteuert gesehen werden, muss sie als autonom gedacht werden. Es ist nicht möglich, eine autonome und bewusste Teilnahme am Leben zu beschreiben, ohne dafür aktiv gesteuerte selektive Vorgänge vorauszusetzen. Ein Bewusstsein mit gleicher Aufmerksamkeit für alle Umgebungsreize steht nicht in Übereinstimmung mit den Modellen kognitiver Informationsverarbeitung. Fassen wir zusammen: Etwas, dem man Bewusstsein zuschreibt, besitzt folgende Eigenschaften: – zeitliches Erleben mit als Erinnerung gespeicherter Vergangenheit; – Entwicklung eines Ich-Gefühls mit Bestand auf der Zeitachse; – Selbstständigkeit in Entscheidungen und Handlungen; – Absichten für zukünftige Handlungen, die nach Vollzug einer Überprüfung unterzogen werden; – Sinneswahrnehmung, Kommunikation und Interaktion mit der Umwelt; – Fähigkeit zur Differenzierung, welche eigenen Aktionen als Reaktion auf Außenreize stattfinden und welche selbst induziert sind (Verbindung mit Instinkthandlungen); – Fähigkeit zur Auswahl, welche Aktionen nicht erfolgen sollen; – keine Determinierung durch die Umwelt; – Verbindung mit Gefühlen, Empfindungen, Vorlieben, Wünschen.

78 | 2 Bausteine kognitiver Informations- und Wissensverarbeitung Informationelle Abhängigkeit Eine Beurteilung für das Vorliegen einer Informationellen Abhängigkeit sollte berücksichtigen, ob ein Informationsverarbeitungsprozess von der durchführenden Person selbst angeregt oder ob er von außen angestoßen wird; besonders dann, wenn über den Input an Sinneswahrnehmungen oder Daten von einer anderen Instanz entschieden wird als durch die Person, die diesen Input für einen kognitiven Informationsprozess nutzt. Dieser Fall tritt beispielsweise in Lehr- und Lernsituationen auf und wird in der Regel für das beschleunigte Erreichen eines Ergebnisses für zweckmäßig gehalten. Entscheidend ist, ob die Zielperson einer äußeren Anregung die Möglichkeit hat, den Prozess durch eine eigene Entscheidung zu stoppen oder zu verändern. Weniger Einfluss auf den Prozess der Informationsverarbeitung, aber sehr wohl auf sein Ergebnis, hat das Befolgen von generellen Grundsätzen (Gesetzen, Regeln, Traditionen oder Gepflogenheiten) oder ethischen Normen, die unter anderem den Schutz des Selbst bzw. den Schutz des Anderen gewährleisten sollen. Mit zunehmender Akzeptanz der Computermetapher als Leitbild für kognitive Leistungen, verbunden mit der sich ausweitenden Orientierung an Parameter gesteuerten Prozessen für Entscheidungsfindungen, darf davon ausgegangen werden, dass kognitive Leistungen mehr und mehr an den Resultaten algorithmisch erzielter Ergebnisse gemessen werden. Wenn Menschen dadurch ihre über lange Zeiträume erworbenen Fähigkeiten verlieren und sich zunehmend den algorithmischen Ergebnissen unterordnen, entsteht und verstärkt sich ihre Informationelle Abhängigkeit. Interessanterweise gibt es im Rahmen der Künstlichen Intelligenz Bestrebungen, Roboter von der strikten Befolgung vorgegebener Algorithmen zu befreien, wenn sie dadurch Schaden nähmen und durch das Nicht-Befolgen der programmierten Anweisungen niemand sonst zu Schaden kommt. Ein in der Literatur diskutiertes Modell schildert ein Experiment, in dem ein Roboter lernen muss, einem Menschen zu vertrauen, wenn dieser dem Roboter sagt, er solle ruhig von der Tischplatte springen, weil der Mensch ihn auffangen wird.¹³⁴ Kommentar der Autoren: […] das größte Problem [ist] nicht die Fehlbarkeit der Roboter, sondern die ihrer menschlichen Erbauer und Befehlsgeber. Menschen machen Fehler. Sie geben falsche oder missverständliche Anweisungen, sind unaufmerksam oder versuchen, die Maschinen für ihre Absichten zu missbrauchen. Wegen unserer eigenen Schwächen müssen wir den Robotern beibringen, wann und wie sie Nein zu sagen haben.¹³⁵

134 Vgl. auch: Rojas: Die Tugend des Roboters. 135 Briggs/Scheutz: Computerwissenschaft, S. 81.

2.8 Informationelle Kompetenz | 79

2.8 Informationelle Kompetenz Auf der Grundlage der bisherigen Darstellung lässt sich nun unser Verständnis von Informationeller Kompetenz näher bestimmen.¹³⁶ Wir haben diese ganz spezielle Bezeichnung gewählt, weil es uns nicht darum geht, die Deutungshoheit über den Ausdruck Informationskompetenz zu gewinnen.¹³⁷ Die Unterschiede zwischen Informationeller Kompetenz und Informationskompetenz werden im Laufe der Diskussion deutlicher werden. Ein Beispiel soll schon einmal die Richtung andeuten: Anfang 2018 konnte es sicher als Informationskompetenz verstanden werden, DeepL¹³⁸ als das beste frei verfügbare Webangebot zur Erstellung von Rohübersetzungen zu kennen und mit seiner Nutzung vertraut zu sein. Informationelle Kompetenz würde darüber hinaus darin bestehen, Testkriterien für die Entscheidungsfindung angeben zu können, ob eine Übersetzung durch einen Menschen oder durch DeepL angefertigt wurde. Informationskompetenz ist ein ungenauer und häufig in beliebigem Kontext verwendeter Begriff, was auch der Eintrag in Wikipedia zeigt: Unter ,Informationskompetenz‘ (englisch ,information literacy‘) versteht man die Fähigkeit mit beliebigen Informationen selbstbestimmt, souverän, verantwortlich und zielgerichtet umzugehen. Für den Einzelnen gelten daher als grundlegende Prinzipien der ethische und verantwortungsbewusste sowie der ökonomische, effiziente und effektive Umgang mit Information(en).¹³⁹

Derartige Charakterisierungen könnten als Ausdruck der umfassenden Bedeutung des Konzepts interpretiert werden. Wir halten es eher für den Ausdruck einer gewissen Ohnmacht gegenüber einem Zeitphänomen und sehen die Anforderungen des zweiten Satzes als widersprüchlich an. Als programmatische Äußerung mag diese Auffasssung ihren Nutzen haben, sie müsste dann aber auch mit Kriterien gefüllt werden.¹⁴⁰ 136 Als einzige Referenz auf diesen Ausdruck haben wir gefunden: Kuhlen: Informationelle Bildung. Ein zuverlässiger Vergleich mit der von uns vorgenommenen Bedeutungszuweisung ist nicht möglich, da es sich nicht um einen ausformulierten Text, sondern nur um Folien einer Präsentation handelt. 137 Vgl. z. B.: Deutscher Bibliotheksverband e.V.: Informationskompetenz, insbesondere ,Standards und Positionen‘. 138 Vgl.: https://www.deepl.com/translator. 139 Informationskompetenz [Wikipedia]. 140 Einen Eindruck vom Diskussionsstand des Begriffs im Rahmen der Bibliotheks- und Informationswissenschaft vermitteln folgende Bücher und Beiträge: Sühl-Strohmenger/Barbian: Informationskompetenz; Weisel: Ten Years after; Dreisiebner/Beutelspacher/Henkel: Informationskompetenz.

80 | 2 Bausteine kognitiver Informations- und Wissensverarbeitung Ein solches Kriterium könnte beispielsweise im angemessenen Umgang mit Informationsprodukten gesehen werden. Ausreichende Informationskompetenz kann und sollte verhindern, dass heutigen Informationsprodukten mit früheren Gewohnheiten begegnet wird (Wählscheiben beim Smartphone), bzw. älteren Produkten mit heutigen Gewohnheiten (Erwartung berührungssensitiver Funktionen auf einem Röhrenbildschirm). Mindestens heißt Informationskompetenz, sich der Zeitbindung der jeweiligen Funktionen bewusst zu sein, um zu wissen, welche jeweils für entsprechende Handlungen genutzt werden müsste. Derartiges Wissen kann entweder auf eigene Erfahrungen gestützt werden oder Gegenstand von Lernprozessen in einem Bildungssystem sein. Wünschenswert wäre dabei, dass Möglichkeiten und Rahmenbedingungen des Bildungssystems so gestaltet werden, dass die Ausübung von Informationskompetenz auf das kognitive Leistungsvermögen des Einzelnen abgestimmt werden kann. Weniger wünschenswert wäre es, den gesellschaftlichen Anspruch vor allem ökonomischen Verwertungsinteressen unterzuordnen. Noch besser wäre es, derartige Überlegungen bereits in die Produktentwicklung und die Festlegung von Standards einzubinden. Es ist wichtig, zunächst die begriffliche Komponente ,Kompetenz‘ genauer zu bestimmen. Dabei ist der Ausgangspunkt eine Situation, die als nicht optimal, mit einem Defizit behaftet, beschrieben wird. Das Defizit wird dabei durch eine Differenz zwischen dem vorhandenen und dem gewünschten Wissens- oder Fähigkeitszustand charakterisiert. Kompetenz kann als Fähigkeit beschrieben werden, angeben zu können, welche Maßnahmen erforderlich sind und welcher Aufwand damit verbunden ist, das Defizit zu beseitigen, um den Zielzustand zu erreichen. Dies schließt ein, dass man beurteilen kann, welche Maßnahmen für die Problembearbeitung nicht geeignet sind. So beschrieben ist das Konzept Kompetenz offen für Skalierungen, das heißt für numerische Angaben über ihre Zunahme oder Abnahme. Kompetent zu sein, etwas zu tun, impliziert immer auch, das Richtige zu tun. Das Richtige entstammt dabei einem Wertesystem, das ein logischer, instrumenteller oder ethisch-moralischer Rahmen sein kann. Untereinander besitzen diese Wertesysteme keine Abhängigkeit. So kann eine kompetente Handlung hoch logisch, gleichzeitig aber moralisch verwerflich sein. Die rationalen Fähigkeiten erlauben es, für verwerfliche Absichten effiziente und Logik basierte Vorgehensweisen zu finden. Die eine und richtige Kompetenz kann es also nicht geben. Für ethischmoralische Bewertungen erfordert Kompetenz eine auf Bewusstsein basierende Einsicht. Informationelle Kompetenz ist abzugrenzen von der Digitalen Kompetenz. Digitale Kompetenz fokussiert auf eine konkrete mediale Form einer Externalisierung und verengt damit eine Diskussion des Kompetenzbegriffs. Für die Auseinan-

2.8 Informationelle Kompetenz | 81

dersetzung mit dem Begriff der Informationellen Kompetenz soll deshalb als Bezugsrahmen die kognitive und informationstechnische Informationsverarbeitung ohne mediale Einschränkungen zugrunde gelegt werden. Besondere Bedeutung besitzt diese Sichtweise für die Suche nach zeit- und medienunabhängigen Invarianten Informationeller Kompetenz, die für Neuentwicklungen eine Unterscheidung ermöglichen, ob es sich um kurzlebige Trendphänomene oder um Grundlagen für eine sich etablierende Kulturtechnik handelt. Unser Verständnis von Informationeller Kompetenz ist untrennbar mit dem Begriff der Informationellen Autonomie verbunden. Als erste Charakterisierung lässt sich festhalten: Informationelle Kompetenz ist die Fähigkeit zur Verarbeitung von Information zum Zweck des selbstbestimmten Handelns oder des Wissenserwerbs. Sie kann verstanden werden als die Summe einer Reihe unveräußerlicher kognitiver Grundfunktionen, die über längere Zeiträume hinweg invariant erhalten bleiben. Gemeinsam bilden sie das Potenzial zur Bearbeitung spezifischer informationeller Aufgabenstellungen. Informationelle Kompetenz ist gelebte Informationelle Autonomie. Informationelle Kompetenz ist Voraussetzung für die Ausbildung von Informationskompetenz. Informationskompetenz ist ein auf Kriterien und Parameter gestützter Teilbereich der Informationellen Kompetenz. Sie besteht aus Fähigkeiten und Fertigkeiten, die, falls nötig, von bekannten auf neue Sachverhalte übertragen werden können. Diese Summe aus Fähigkeiten und Fertigkeiten gestattet es, zeitgebundene informationelle Aufgabenstellungen sachgerecht zu bearbeiten. Zeitbindung und Invarianten Informationeller Kompetenz Das übliche Verständnis von Informationskompetenz wird häufig mit den jeweils aktuellen Medien, Hard- und Softwareprodukten und den Fertigkeiten zu ihrer Benutzung in Verbindung gebracht. Dies fördert die Tendenz zur Entwertung der Vorläufergenerationen. Im Gegensatz dazu betrachten wir Informationelle Kompetenz als ein zeitunabhängiges Phänomen. Ein Beispiel aus der historischen Entwicklung von Medientypen soll den Unterschied illustrieren. Das sachgerechte Benutzen des Registers einer gedruckten Bibliografie oder die Kenntnisse der Ordnungskriterien für Personennamen in alten Telefonbüchern werden im Internet-Zeitalter nicht mit Informationskompetenz in Verbindung gebracht. Beide Vorgänge erfordern aber nicht weniger Informationelle Kompetenz als die sachgerechte Benutzung einer Suchmaschine. Dass Bibliografien und Telefonbücher als historisch überholte Medien gelten, ist dabei nachrangig. Gerade die Erweiterung des Spektrums von Medienformen, die sachgerecht benutzt werden können, zeugt von Kompetenz.

82 | 2 Bausteine kognitiver Informations- und Wissensverarbeitung Nicht von Kompetenz zeugt die Verengung auf die jeweils zeitadäquate Erscheinungsform, die schon morgen wieder von einer neuen abgelöst werden kann. Inzwischen gibt es beispielsweise Parkassistenzsysteme, die ein autonomes rückwärts Einparken eines Fahrzeugs beherrschen. Derselbe Vorgang ohne Assistenzsystem ist gekennzeichnet durch eine Vielzahl von Informationsverarbeitungsund Handlungsvorgängen, die ihn zu einem komplexen und auch Fehler anfälligen Vorgang machen. Eine Assistenz zur Vermeidung von Beulen und Schrammen an allen beteiligten Fahrzeugen kann also zunächst nur wünschenswert sein. Aber was passiert, wenn ein Fahrzeug ohne Parkassistent (altes Fahrzeug, Ausfall der Technik) eingeparkt werden soll, die dafür erforderliche Fertigkeit aber verloren gegangen ist oder nie erworben wurde? Invarianten Informationeller Kompetenz behalten auch beim Wechsel einer technischen Grundlage ihren Stellenwert. Das gilt für eine Reihe von Kulturtechniken, wie beispielsweise die Beherrschung des Alphabets oder des Stellenwertsystems von Zahlen, die es ermöglichen, sich in entsprechend geordneten Bereichen zu orientieren. Dazu gehört auch die Fähigkeit zum Zusammenfügen von Buchstaben zu ganzen Wörtern und von einzelnen Ziffern zu Zahlen; eine Fähigkeit, die durch die Bedienung informationstechnischer Geräte verloren zu gehen droht. Bei Kindern lässt sich schon heute beobachten, dass Wörter durch die sequenzielle Aussprache von Buchstaben und Zahlen durch die sequenzielle Aufzählung von Ziffern ausgedrückt werden. Was aber passiert, wenn Siri, Cortana oder Alexa für die Befolgung von Sprachbefehlen die Aussprache ganzer Wörter erwarten, diese Fähigkeit aber durch Tastaturbedienung, Mausklicken und Wischen Einbußen erfahren hat? Die automatische Sprachverarbeitung illustriert die Grenze zwischen der notwendigen Anpassung an die Möglichkeiten der Technik und dem Einfordern von Standardisierungen durch die technischen Gegebenheiten: In der Öffentlichkeit wird gern darüber diskutiert, welch großen Stellenwert Mundarten oder Dialekte für die kulturelle Vielfalt haben und wie deren Erhalt gefördert werden kann. Es liegt nahe, diese Diskussion unter dem Gesichtspunkt der Informationellen Autonomie auf das Leistungsvermögen automatischer Spracherkennung zu beziehen, deren Grenzen damit sofort offensichtlich werden. Grundsätzlich sind die Invarianten Informationeller Kompetenz durch ihre Eigenschaft gekennzeichnet, ein informationelles Problem in jeder technologischen Umgebung – gleich ob einer neuen oder älteren – sachgerecht bearbeiten zu können. Diese Eigenschaft entspricht der Bevorzugung eines normativen gegenüber einem genetischen Fortschrittsbegriff.¹⁴¹ Nicht jede neue Entwicklung und

141 Vgl. zur Erläuterung dieser Konzepte z. B.: Rapp: Fortschritt.

2.8 Informationelle Kompetenz | 83

deren instrumentelle Beherrschung ist per se mit einer höheren Stufe von Kompetenz verbunden, schon gar nicht, wenn hierdurch die Fähigkeit – möglicherweise sogar das Wissen – verloren geht, welche Zusammenhänge es zwischen den Fortschrittsstufen gibt und wie Probleme auf einer früheren Stufe gelöst wurden. Dieses Verständnis von Fortschritt umfasst die Kenntnis der alten und der neuen Möglichkeiten und die Fähigkeit zur sachgerechten und Problem orientierten Entscheidung, welche der Möglichkeiten zur Bearbeitung einer Aufgabe eingesetzt werden soll. Wenn die vertraute Vorgehensweise nicht angewendet werden kann (wie etwa bei einem defekten Parkassistenten) und man (vielleicht sogar in einer Notsituation) auf eine andere, frühere Vorgehensweise ausweichen muss, zeigt sich die Relevanz diese Fortschrittsverständnisses sehr deutlich.

3 Externalisierung und Rezeption von Information Die Theorie bestimmt, was wir beobachten können. Albert Einstein¹⁴²

3.1 Konstruktivistisches Modell der Kommunikation Auf der Grundlage des bereits vorgestellten Wahrnehmungsmodells wird im folgenden ein konstruktivistisches Modell für die Kommunikation zwischen kognitiven Strukturen entwickelt. Dieses soll auch dazu dienen, den Wissenserwerb aus externen Informationsquellen zu beschreiben. Insgesamt ist dadurch ein Stufenmodell vorgezeichnet: 1. Informationserwerb durch Sinneswahrnehmung (vgl. Kapitel 2.2); 2. Informationserwerb durch kommunikativen Austausch; 3. Externalisierung von Information in Medien; 4. Rezeption von Information aus Medien. Potenzielle und Aktuelle Information Die Externalisierung von Information in beispielsweise eine schriftliche Form wandelt Information innerhalb einer kognitiven Struktur in Information außerhalb dieser Struktur um. Zur Unterscheidung dieser zwei Arten von Information führen wir die Konzepte Potenzielle Information und Aktuelle Information ein. Potenzielle Information liegt als mediale Externalisierung vor, die einer späteren Rezeption durch eine strukturdeterminierte kognitive Struktur zugeführt werden kann. Sie war bereits Gegenstand einer kognitiven Informationsverarbeitung und dadurch gebunden an einen bestimmten Referenzbereich. Die kognitive Informationsverarbeitung kann über einen direkten Kommunikationsakt angestoßen werden oder durch die Rezeption von externalisierter Information. In diesem Fall kann von einer Potenziellen Information gesprochen werden, deren vollständige Rezeption (das heißt die Reaktivierung der Bedeutung, die die externalisierende kognitive Struktur damit verbunden hatte) an bestimmte Bedingungen, wie zum Beispiel die angegebenen Referenzbereiche, gebunden ist. Nicht jede externalisierte Information und erst recht nicht alle Daten sind auch Potenzielle Information. Wenn keine Möglichkeit zur strukturellen Kopplung mit einem Rezipienten mehr vorhanden ist (also beispielsweise der Referenzbereich 142 Zitiert nach: Heisenberg: Der Teil und das Ganze, S. 92. https://doi.org/10.1515/9783110620221-003

86 | 3 Externalisierung und Rezeption von Information verloren gegangen ist), kann externalisierte Information nicht mehr in kognitive Strukturen eingebaut werden. Damit wären auch der Gehalt der Bibliotheken in Poppers Gedankenexperiment und deren Wissen verloren. Die Rezeption der in medialen Gedächtnissen fixierten Information bedarf immer eines Rezipienten mit einer kognitiven Struktur. Aktuelle Information lässt sich beschreiben als das kognitive Verarbeitungsmuster eines strukturdeterminierten Systems und ist entweder an einen selbstreferentiellen kognitiven Vorgang oder an einen direkten Kommunikationsakt gebunden. Im ersten Fall dient sie der Wirklichkeitserzeugung, im zweiten Fall dem Informationsaustausch durch Kommunikation zwischen zwei kognitiven Strukturen. Bewusst wird Aktuelle Information durch selbstständige kognitive Reaktivierung oder durch eine mittels äußerer Sinneswahrnehmung angestoßene Informationsverarbeitung. Um Potenzielle Information in Aktuelle Information umwandeln zu können, werden die strukturellen Komponenten eines Referenzbereichs benötigt. Informationsverarbeitung in technischen Informationssystemen bezieht sich immer auf Daten, allenfalls auf Potenzielle Information. Durch die Verarbeitung von reinen Daten kann die Konstruktion von Aktueller Information für eine kognitive Struktur nicht unterstützt werden. Im Fall einer Verarbeitung von Potenzieller Information ist dies abhängig von der Bezugnahme auf einen geeigneten Referenzbereich für die spätere Rezeption. Es ist deshalb nicht selbstverständlich, dass Potenzielle Information von verschiedenen Menschen (zu verschiedenen Zeiten, an verschiedenen Orten) in die gleiche Aktuelle Information transformiert wird. Voraussetzung dafür wäre eine Übereinstimmung in den Referenzbereichen. In Zeiten rein mündlicher Kommunikation konnten daher kaum Ideen einer Wissensexternalisierung entstehen. Erst die Verbindung von Sprache als geschriebener Text mit den technischen Bewahrungsmöglichkeiten ließ die Idee aufkommen, Information lasse sich festhalten und weitergeben. Informationsübertragung durch Kommunikation Wir gehen zunächst von einer Situation der direkten Kommunikation zwischen zwei Personen aus (vgl. Abbildung 3.1).¹⁴³ Beide Partner werden als individuelle kognitive Strukturen aufgefasst, deren jeweilige Wissensverwaltung und Informationsverarbeitung innerhalb eines abgeschlossenen selbstreferentiellen Systems stattfindet.

143 Dieses Modell wurde erstmals an folgender Stelle vorgestellt: Gödert/Kübler: Konzepte von Wissensdarstellung und Wissensrezeption medial vermittelter Information.

3.1 Konstruktivistisches Modell der Kommunikation

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Abb. 3.1: Kommunikative Rückkopplung.

Bei der Interaktion mit anderen Personen findet eine Kommunikation über verschiedene Sinneskanäle statt, deren Verständigungsmechanismen im Laufe der Zeit erworben werden müssen. Kommunikation fungiert dabei als Korrektiv zur selbstreferentiellen Informationsverarbeitung in einem autopoietischen System und ist abhängig von der Fähigkeit der beteiligten Partner, die Rezipienten-Rolle des anderen mit zu berücksichtigen. Eine verbale Kommunikation setzt dabei eine semantische Begriffsrepräsentation in den kognitiven Strukturen voraus. Ein einfacher Fall einer solchen Kommunikation besteht in der Bezugnahme auf einen realweltlichen Gegenstand, der beiden Kommunikationspartnern vertraut ist und für den beide bereits eine Konzeptualisierung durchgeführt haben. Selbst wenn die Benennung nicht geteilt wird – etwa im Fall unterschiedlicher Sprachen der Partner –, kann durch direkten Bezug auf den Gegenstand eine gegenseitige Orientierung auf dieses Objekt erfolgen. Durch rückgekoppelte Bezugnahme werden die erfolgte Konzeptualisierung und der Erfolg der Kommunikation sicher gestellt (vgl. Abbildung 3.2). Anspruchsvoller ist die Kommunikation, wenn deren Inhalt ein abstraktes Konzept ist (Abbildung 3.3). Der Schwierigkeitsgrad für die Kommunikation steigt bei unbekannten realweltlichen Objekten, unbekannten abstrakten Objekten, fehlenden Konzeptualisierungen und unbekannten Benennungen.

88 | 3 Externalisierung und Rezeption von Information

Abb. 3.2: Übertragung gegenstandsbezogener Konzepte.

3.2 Kommunikation und Feedback Eine kommunikative Verständigung besteht aus dem Austausch von Signalen (Laute, Sprache, Gesten) zweier kognitiver Strukturen. Diese Sinneseindrücke werden innerhalb der jeweils selbstreferentiellen Informationsverarbeitung mit vorhandenen Wissensstrukturen verglichen und angepasst oder zu neuen Wissensstrukturen aufgebaut (vgl. Abbildung 3.1). Eine erfolgreiche Verständigung setzt eine strukturelle Kopplung beider Partner voraus, das heißt ein Sicherstellen, dass nicht nur eine Aussage gesendet und empfangen wurde, sondern dass gemeinsame Wissensstrukturen vorhanden sind und ein Austausch darüber in einem Kommunikationsakt stattfindet.¹⁴⁴ Durch das Einnehmen einer wechselseitigen Beobachterrolle kann ausgelotet und sichergestellt werden, dass der Kommunikationsakt von einem gemeinsamen Konsens ausgeht und gelingen kann, fehlende Voraussetzungen evtl. nachgetragen werden. Sofern für beide Partner eine konsensuelle Parallelisierung besteht, das heißt auf einen gemeinsamen Bereich zugegriffen werden kann, der ihnen gleichermaßen vertraut ist, besteht für den konkreten Kommunikationsakt eine größere Chance auf strukturelle Kopplung. Vergleichbare Strukturen und gegenseitig vertraute Bereiche entstehen durch gemeinsame Teilhabe an Ereignissen und an Wissen, sowie durch den kommunikativen Austausch darüber. Eine notwendige Voraus-

144 Vgl. zur Erläuterung des Konzepts der strukturellen Kopplung: Maturana: Kognition.

3.2 Kommunikation und Feedback | 89

setzung ist die konsensuelle Parallelisierung jedoch nicht, da beide Partner auch über die wechselseitige Beobachterrolle eine strukturelle Kopplung erreichen können. Welche weiteren Bedingungen können zum Gelingen einer Kommunikation (im Sinne des Informations-Transfers von einer kognitiven Struktur zu einer anderen) beitragen bzw. als deren Voraussetzungen gelten? Für einen verbal angestoßenen Kommunikationsakt muss bei beiden kognitiven Strukturen neben der Konzeptualisierung ein gleiches Verständnis der verwendeten Wörter als Träger der begrifflichen Bedeutung vorhanden sein. In einem Kommunikationsakt werden keine kontextfreien Begriffe ausgetauscht, sondern syntaktisch gebildete Phrasen in einer konkreten Situation. Dies schließt die beiderseitige Kenntnis der verwendeten syntaktischen Strukturen und möglicher Konnotationen ein. Deshalb können durch abweichende individuelle Erinnerungen, Unterschiede des situativen bzw. emotionalen Gedächtnisses oder persönliche Animositäten Kommunikationsprobleme auftreten. Selbst ein wissenschaftlicher Dialog kann durch affektive Komponenten gestört werden.

Abb. 3.3: Übertragung abstrakter Konzepte.

Nicht jeder Kommunikationsakt gelingt. Da kaum zwei Personen dieselbe ontogenetische Entwicklung durchlaufen, sind Unschärfen zu erwarten. Dass dennoch eine gute Chance zur Verständigung besteht, liegt auch an der sogenannten Ko-

90 | 3 Externalisierung und Rezeption von Information gnitiven Plastizität, worunter man das Vermögen von kognitiven Strukturen zur laufenden Überprüfung, Anpassung und Veränderung versteht (vgl. Kapitel 1.3). Durch die Kognitive Plastizität werden kontinuierlich Überprüfungs- und Anpassungsvorgänge des bereits Gespeicherten an Neues vorgenommen. Gegebenenfalls werden vorhandene Strukturen verändert oder neue aufgebaut. Solche Prozesse finden ständig in jedem Menschen statt. Das bringt auch die Unterschiede im Wissen verschiedener Menschen hervor, denn jedes Individuum partizipiert autonom am Leben in Sozialgemeinschaften, mit eigenen Sinneswahrnehmungen und eigenen Erfahrungen. Es gibt also eine Abhängigkeit des Gelingens eines Dialogs von den jeweils beteiligten Partnern: Ein Dialog, der mit der einen Person gelingt, muss – und dies ist ein durchaus allgemein bekanntes Phänomen – mit einer anderen Person noch lange nicht gelingen. Kann es ein Testkriterium für das Gelingen einer Kommunikation geben, das auch als Kriterium für die Informationsgleichheit bei den beteiligten Kommunikationspartnern dienen kann? Am einleuchtendsten scheint es zu sein, den Erfolg nicht allein an einen einseitigen Sprechakt zu binden, sondern ihn über eine Rückkopplung zu testen. Die einfachste Form der Rückkopplung besteht in der Überprüfung einer durch die Kommunikation angestoßenen Handlung. Die Aufforderung ,Gib mir bitte den Salzstreuer‘ ist in ihrem Erfolg oder Misserfolg direkt überprüfbar. Menschen lernen durch solche Rückkopplungen. Dabei wird die Mehrzahl aller erfolgreich verlaufenen Situationen nicht erinnert, lediglich die Erfolgserfahrung wird in ein zunehmendes Maß an Sicherheit umgesetzt, das in einer stabilen Verwendung von Begrifflichkeiten und von zu benennenden Ausdrücken in der Kommunikation mündet. Eine Vielzahl von Handlungssituationen führt zur Konzeptualisierung und zur Bildung von Begriffen. Diese Begriffe werden in Kontexten kommuniziert, was zu einer weiteren Präzisierung des Verständnisses beiträgt. Nunmehr können Begriffe auch losgelöst von Handlungen erfolgreich in einem Kontext kommuniziert werden. Sprache ist also nicht nur ein Instrument zur Abbildung von Wirklichkeit, sondern kann – nach Terry Winograd und Fernando Flores – auch Teil und Ausdrucksmittel eines auf Handlungen bezogenen konstruktiven Verstehensprozesses sein: Verstehen ist keine festgefügte Beziehung zwischen Repräsentation und repräsentierten Gegenständen, vielmehr die Verpflichtung zur Teilnahme an einem Dialog, der vor dem übergreifenden Horizont von Sprecher und Hörer stattfindet.¹⁴⁵

145 Winograd/Flores: Erkenntnis – Maschinen – Verstehen, S. 207.

3.2 Kommunikation und Feedback | 91

Wenn in einem solchen Dialog Sprache die Rolle bekommt, Direktiven für eine Handlung auszudrücken, so setzt die korrekte Ausführung dieser Handlung neben dem Verständnis der verwendeten Begriffe eine Einsicht in komplexe Wirkungszusammenhänge voraus. Handlungen können beispielsweise in einen konditionalen Kontext gesetzt werden: ,Wenn die Milch zu kochen beginnt, muss der Topf von der Herdplatte genommen werden.‘ Die nächst größere Einheit wird erreicht, wenn die Kontexte Bestandteile ganzer ,Skripte‘¹⁴⁶ sind. Neben dem schon erwähnten Handlungsablauf für die Frühstückszubereitung (Kapitel 1.3) können dies beispielsweise Skripte für das regelkonforme Überqueren einer Straße, das Einchecken am Flughafen oder einen Theater- oder Konzertbesuch sein. All diese Situationen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie aus komplexen Abläufen bestehen, die nach selbstdefinierten oder von anderen vorgegebenen Regeln gestaltet werden. Man kann mit Handlungsabläufen ausschließlich durch Erfahrungen vertraut werden, aber die Kommunikation über die sie beschreibenden Begriffe und Kontexte erhöht die Sicherheit, mit der man sich im Rahmen derartig komplexer Skripte bewegt. Je größer das Vertrauen wird, desto weniger ist die Kommunikation des Konzepts an die Überprüfung durch eine Handlung gebunden. Verstehen und richtiges Verwenden von Begriffen ist demzufolge die Fortsetzung einer Kommunikationssituation, die auf elementaren Handlungen und der Überprüfung ihres Erfolgs aufbaut.¹⁴⁷ Ein Begriff ist dann verstanden, wenn er sinnvoll (richtig) verwendet kann und dies gegebenenfalls von anderen bestätigt wird. Hierfür gibt es zwei Möglichkeiten: 1. Ich kann eine auf den Begriff oder den zugrunde liegenden Gegenstand bezogene sinnvolle Handlung ausführen. Es ist hierfür nicht erforderlich, so etwas wie eine Definition des Begriffs angeben zu können. Ich kann mit einem Löffel Suppe essen, ohne eine Begriffsdefinition für ,Löffel‘ zu kennen. 2. Ich kann in einem definierten Umfeld einen abstrakten Begriff gemäß der in diesem Umfeld herrschenden Regeln einsetzen und die Reaktion der anderen Gruppenmitglieder bewerten. Diese Verfahrensweise ist häufig zu beobachten, wenn neue Begriffe entstehen, für die noch keine fest gefügte paradigmatische Verwendung geprägt wurde. Aber auch Standardlernsituationen in allen Wis-

146 Es ist durchaus beabsichtigt, mit der Verwendung dieses Wortes den Sprachgebrauch der Künstlichen Intelligenz zu assoziieren, wie er etwa von Roger Schank eingeführt wurde. Vgl. z. B.: Schank/Childers: Die Zukunft der künstlichen Intelligenz; Schank: Computer, elementare Aktionen und linguistische Theorien. 147 Wir erinnern an das Wissensverständnis von Karl Popper, der das Erfassen oder Begreifen eines Begriffs als einen aktiven Prozess versteht, bei dem das zugehörige Konzept nach- oder neugeschöpft wird.

92 | 3 Externalisierung und Rezeption von Information sensgebieten verlaufen so. Der Handlungstest wird in diesen Fällen durch den Gebrauch von sprachlichen Mitteln ersetzt. Menschen entwickeln im Laufe ihres Lebens umfangreiche Erfahrungen für das Verstehen und richtige Verwenden von Begriffen. Die Beschreibung eines LernSpiels für Kinder zeigt, wie dabei Konzeptualisierungen kognitiv angestoßen und durch Handlungen begleitet werden. Das Spiel besteht aus einem Holzbrett mit Aussparungen (vgl. Abbildung 3.4). Die Aussparungen haben unterschiedliche Umrissformen und enthalten bei manchen Spielen die Bezeichnungen der einzulegenden Objekte. In jede Aussparung passt genau ein Täfelchen. In unserem Beispiel ist jedes Täfelchen mit der Abbildung eines Tieres oder eines Gebäudes eines Bauernhofs versehen. Hat man alle Täfelchen aus den Aussparungen herausgenommen, besteht das Ziel darin, sie wieder hineinzulegen.

Abb. 3.4: Legespiel.

Die Beschäftigung mit dieser Aufgabe berücksichtigt verschiedene Ebenen der Konzeptualisierung. Zunächst gibt es die Möglichkeit des schlichten Probierens, indem eines der Täfelchen so lange probiert wird, bis es in eine der Aussparungen passt. Hierdurch wird zunächst nur eine Vertrautheit mit dem Konzept der Kontur und dem spezifischen Umriss des Objekts aus einer Blickrichtung erreicht. Existiert hiervon bereits eine abstrakte Vorstellung, kann der Vergleich des Umrisses mit der Kontur einer Aussparung zu einem schnelleren Erfolg führen als es durch reines Probieren möglich ist. Sind die Aussparungen zusätzlich beschriftet und die entsprechenden Bezeichnungen bekannt, kann einerseits die Gestaltung des Täfelchens eine Hypo-

3.3 Wissensformen bei der Rezeption externalisierter Information | 93

these über das abgebildete Objekt auslösen und andererseits die Beschriftung der Aussparung zum Versuch des Einlegens führen. Dieser wird durch Passgenauigkeit bestätigt oder verworfen. Bei Vorliegen dieser Voraussetzungen lässt sich außerdem eine vorher nicht bekannte Verbindung zwischen Aussehen und Bezeichnung herstellen. Erwachsene, die das Spiel beobachten, sprechen sowohl im Erfolgs- wie auch im Misserfolgsfall die Namen der abgebildeten Tiere laut aus. So bleibt dem Kind nichts anderes übrig, als die Abbildung mit einer sprachlichen Aussage zu verbinden; auch wenn es den Namen noch nicht selbst sprechen kann. Es ist sehr wahrscheinlich, dass ein solches Spiel nicht nur einmal durchgeführt wird, sondern immer wieder. Dadurch entstehen starke Wiederholungs- und Korrektureffekte, wodurch sich schon an die einfache Möglichkeit des reinen Probierens Konzeptualisierungsvorgänge mit dem Einprägen verbaler Benennungen anschließen können. Die in Sozialgemeinschaften etablierten formalisierten Ausbildungsstrukturen mit ihren elaborierten Verfahren zur Wissensweitergabe und Wissensaneignung führen zur Herausbildung gemeinsamer kognitiver Strukturen. Wir können uns jeden Tag in unserem engeren Umfeld oder durch Beobachtung der Verhältnisse in anderen Kulturkreisen davon überzeugen, wie groß das Maß an Gemeinsamkeit ist – wie groß aber dennoch auch das Maß an Verschiedenheit bleibt. Bekanntlich ist es auch durch den verstärkten Einsatz multimedialer oder virtueller Werkzeuge nicht gelungen, hieran etwas zu ändern. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der Erfolg des Kommunikationsakts an eine strukturelle Kopplung der Kommunikationspartner (als strukturdeterminierte kognitive Strukturen) gebunden ist. Die strukturelle Kopplung ist über Referenzbereiche des Wissens (nun gemeint als die Summe der verwendeten Begriffe, Kontexte und Skripte von Handlungs- und Kommunikationsumgebungen) sichergestellt. Die Verwendung gleicher Wörter oder das Bekenntnis zur Verwendung gleicher Begriffe garantiert den Kommunikationspartnern dennoch keine Bedeutungsgleichheit im Kommunikationsakt.

3.3 Wissensformen bei der Rezeption externalisierter Information Die Wissensaneignung durch Potenzielle Information aus externalisierten Quellen soll nicht vorhandenes Wissen (Nicht-Wissen) ausgleichen. Ein einfaches Modell des Wissenserwerbs im Sinne des unveränderten Einpassens externalisierter Bausteine in eine kognitive Struktur, wurde schon vorgestellt und verworfen (vgl.

94 | 3 Externalisierung und Rezeption von Information Abbildung 2.7). Wissenserwerb umfasst mehr als einen Transfer im Sinne einer Eins-zu-Eins-Übertragung. Dies wird besonders durch den Unterschied zwischen faktischem und strukturellem Wissen deutlich und mündet in die Frage, wie vollständig die aufeinander abgestimmten Fakten und Strukturen sein müssen, um als externe Repräsentationen angesehen werden zu können. Das Strukturwissen wird dabei gegenüber dem faktischen Wissen als höherwertiger angesehen, da zahlreiche Beispiele die menschliche Fähigkeit belegen, strukturell mit einem Begriffssystem umzugehen, auch wenn nicht alle Fakten bekannt sind.¹⁴⁸

Abb. 3.5: Wissenserwerb – Einbau eines Wissenselements (2).

Das Einpassen eines Wissenselements in die kognitive Struktur verändert in der Regel die bereits vorhandene Struktur, indem neue Verbindungen geschaffen oder bereits existente Verbindungen ausgebaut, abgeschwächt oder verstärkt werden.¹⁴⁹ Abbildung 3.5 visualisiert diesen Vorgang stark vereinfacht. Die hierarchische Schichtung und Clusterung in neuronale Substrukturen sowie die komplexe Vielfalt der rekursiven Beeinflussung neuronaler Zellen zur situationsgebundenen Abschwächung oder Verstärkung lassen sich im Rahmen dieser Darstellung nicht visualisieren. Wesentlich ist jedoch, die neuronale Wissenserweiterung nicht mit der Entstehung neuer Nervenzellen in Verbindung zu bringen; die Visualisierung sollte mehr im Sinne des Aktivierens vorhandener Zellen und des Umorganisierens vorhandener Strukturen mit ihren Verschaltungen interpretiert werden.

148 Vgl. auch: Hentig: Die Flucht aus dem Denken ins Wissen. 149 Vgl. etwa: Lehmann: Neues vom Gehirn; Strohschneider: Wissenserwerb und Handlungsregulation; Bauer u. a.: Selbstorganisierende neuronale Karten.

3.3 Wissensformen bei der Rezeption externalisierter Information

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Die kognitive Struktur verschiedener Personen unterscheidet sich. Veränderungen durch äußere Anreize, also auch der Wissenserwerb gleicher externer Wissenselemente, mündet von Person zu Person im Aufbau jeweils eigener Strukturen. Das Ausmaß des Umbaus und des dafür zu leistenden Aufwands erweisen sich als nicht vorhersagbar. Dies bestätigen Beobachtungen über Lernaufwand und Lernerfolg. Es gibt natürlich auch Fälle, bei denen eine Strukturveränderung nicht mehr möglich ist, also weder ein Lernerfolg noch eine Wissenserweiterung eintritt. Falls ein externalisiertes Wissenselement bereits in die kognitive Struktur eingebaut wurde und prinzipiell zum Wissen einer Person gehört, wird ein erneutes Rezipieren dennoch nicht ohne Veränderungen in der vorhandenen Struktur bleiben. Der Rezeptions- und Integrationsvorgang ist sowohl für bereits Bekanntes wie für Neues grundsätzlich mit Abgleich und Veränderung verbunden. Bestehende Verbindungen werden aufgelöst, abgeschwächt oder verstärkt, neue Verbindungen aufgebaut. Es entspricht der allgemeinen Erfahrung, dass das Wiederbetrachten eines vertrauten Objekts oder das Wiederholen eines bereits durchgeführten Gedankengangs veränderte Assoziationen erzeugt und dadurch auf veränderte kognitive Strukturen hinweist. Die kognitive Struktur ist kein Wissenslager mit statischen Zuständen, sondern baut sich ständig um. An dieser Stelle ist es zweckmäßig, zwischen subjektivem Erfahrungs- und Erlebniswissen und der Zuordnung dieses Wissens zu verschiedenen intersubjektiv geprägten Referenzbereichen zu unterscheiden (vgl. Kapitel 2.4). In intersubjektiv geprägten Referenzbereichen (verstanden als Summe aus Konzepten, Kontexten und Skripten) bestimmt sich individueller Erfolg innerhalb des Systems sehr viel stärker durch die Teilnahme an Übereinkünften, als dies im individuellen Erfahrungs- und Erlebnisbereich der Fall ist. Verglichen mit der direkten zwischenmenschlichen Kommunikation finden sich in solchen Bereichen dann auch häufiger Phänomene des Nicht-Verstehens. Falls Vertreter verschiedener Disziplinen einen gemeinsamen Dialog beabsichtigen, das heißt in eine wirkliche interdisziplinäre Situation eintreten wollen, ist die Kenntnis der jeweils anderen Wissensstrukturen (oft auch als wissenschaftliche Sozialisation apostrophiert) Voraussetzung. Fehlt diese, ist häufig nur ein Austausch von faktischen Entitäten möglich, der begleitet ist von einer Vielzahl an Phänomenen des Nicht-Wissens und folglich des Nicht-Verstehens. Im Allgemeinen wird der Aufbau strukturellen Wissens nicht nur als höherwertiger, sondern auch als schwieriger empfunden als das Einpassen eines Datums in eine vorhandene Struktur. Der Aufbau neuen Strukturwissens – inhaltlich etwa verbunden mit Abstraktionsvorgängen – geht einher mit einem subjektiven Gefühl der Anstrengung. Die wiederkehrende Aufnahme von Fakten in eine bereits vorhandene Struktur wird eher als ermüdend empfunden. Beispielsweise wird das Lesen eines zweiten Romans, in dem gegenüber dem ersten nur die Namen

96 | 3 Externalisierung und Rezeption von Information von Personen, Orten usw. ausgetauscht wurden, nicht jedoch der prinzipielle Aufbau, möglicherweise noch als angenehm empfunden, weitere Romane aber als langweilig. Für die Rezeption von Struktur- bzw. Faktenwissen ist also ein Spannungsbogen nützlich, der auf anderem Gebiet einer Mischung aus Symmetrie und Symmetriebrechung ähnelt: Die individuell richtige Kombination aus Strukturwissen und Faktenwissen erzeugt ästhetisches Wohlbehagen.¹⁵⁰

3.4 Theoriebindung der Wissenselemente Für die Wissensaneignung aus externalisierten Informationsquellen spielt die Theoriebindung eine wichtige Rolle. Anknüpfend an das Thema der Kontextualisierung von Begriffen und Aussagen und deren Zuordnung zu intersubjektiv geprägten Referenzbereichen soll genauer untersucht werden, inwieweit es berechtigt ist, zwischen der Aneignung faktischen und strukturellen Wissens zu unterscheiden.¹⁵¹ Daten und Fakten werden allgemein als die einfachsten Formen von Wissenselementen betrachtet. Sie werden gern als kontextfrei gedacht, vermutlich, weil der Kontext so offensichtlich ist. Menschen machen im Laufe ihres Lebens in erster Linie Erfahrungen mit Daten in einem zugehörigen Erlebenskontext, einem sachlichen Zusammenhang oder mit Bindung an eine theoretische Modellierung. Geschehnisse in Raum und Zeit werden für den Einzelnen zunächst durch seine eigenen physiologischen Vorgänge und deren raum-zeitliche Zuordnung geprägt, bevor daraus ein abstraktes Verständnis von Raum und Zeit entsteht. Der nie ruhende kognitive Prozess des Abstrahierens vom aktuellen Geschehen wird dabei möglicherweise durch physiologische Unpässlichkeiten beeinträchtigt, aber selten vollständig paralysiert. Jede Person ist ständig aktiv und berücksichtigt immer auch Vorerfahrungen und kognitiv bereits repräsentiertes Wissen. Beides besteht nicht allein aus Daten. So vollzieht sich der Prozess des Abstrahierens vom konkreten Geschehen, der für das Individuum als Ergebnis einen abstrakten Kontext entwickelt. Die kognitive Struktur, die sich aus diesen fortwährenden Abstraktionsvorgängen bildet, dient als Rahmen für die Integration von Daten und Fakten. Dieser Rahmen ist nicht statisch, sondern kann durch neue Integrationsvorgänge wieder verändert werden.

150 Vgl. z. B. die auf Sprache bezogene Darstellung: Holenstein: Symmetrie und Symmetriebruch in der Sprache. 151 Vgl. hierzu auch: Hübner: Die Wahrheit des Mythos, insbes. S. 239–290; Hübner: Kritik der wissenschaftlichen Vernunft.

3.4 Theoriebindung der Wissenselemente |

97

Daten können ohne Kontext völlig aussagelos sein. Beispielsweise lässt sich die Zahl ,42‘ erst durch einen spezifischen Bezugsrahmen interpretieren: als Geldbetrag im Währungssystem Euro oder Dollar, als Temperatur im System Celsius oder Fahrenheit, als Länge im metrischen bzw. angloamerikanischen Messsystem, oder auch als universale Antwort in Douglas Adams’ Per Anhalter durch die Galaxis. Diese Art der Kontextbindung von Daten – ihre Theoriebindung – ist leichter zugänglich, wenn sie innerhalb der Wissenschaftswelt mit ihrer Fülle artifizieller Begriffsschöpfungen verwendet wird. Vielleicht ist dadurch auch der fade Geschmack entstanden, den das Bekenntnis zum Theoriebezug häufig mit sich bringt. Dennoch kann nicht geleugnet werden, dass Theoriebindung allgegenwärtig ist und dass unser Leben ohne Theoriebezug gar nicht möglich wäre. Ein gutes Beispiel für die Theoriegebundenheit von Daten lieferte 2018 die Firma Apple, als sie auf öffentlichen Druck hin die zu einzelnen Nutzern gespeicherten Daten per Download verfügbar machte. Folgte man diesem Angebot, bekam man genau das: Daten. In einem Selbsterfahrungsbericht heißt es dazu: 15 […] Downloadlinks mit einem Gesamtvolumen von knapp 7 Gigabytes an Daten. Aha. OK, also habe ich diese 15 Links auch geklickt, jetzt wo ich schon einmal da war. Immerhin luden sich dann 15 ZIP Files herunter, deren Ordner dann wiederum bis zu 10 Unterordner mit bis zu 5 CSV Files beinhalten (oder meine Bilder aus der Cloud). Klar, man kann von Apple nicht verlangen, ein konsolidiertes File herunterzuladen, und schon gar nicht, die CSVs irgendwie für einen lesbar zu formatieren. Es kann ja sein, dass man als Kunde kein Numbers mehr auf der Maschine installiert hat […] wenn Numbers überhaupt mit so vielen Daten umgehen kann. Excel kann es kaum mehr.¹⁵²

Daten sind gespeicherte (häufig digitale) Zeichen, die gemäß eines bestimmten Datenmodells für eine informationstechnische Verarbeitung zur Verfügung gestellt werden. Was jeweils durch die Daten repräsentiert wird (ein Text, ein Datum, ein Bild, ein Ton, eine Videosequenz), wird ausschließlich durch die Form dieses Datenmodells (ggf. eines Interpretationsschemas), aber nicht durch die rein numerische Form der Daten bestimmt. Deshalb benötigen Daten einen Referenzbereich, insbesondere für eine kognitive Interpretation. Verschiedene Referenzsysteme führen dabei zu unterschiedlichen Interpretationen ein und desselben numerischen Werts. Ein Beispiel soll dies näher erläutern. Wir sind inzwischen daran gewöhnt, Dateien auf einem Rechner durch Doppelklick auf das Dateisymbol zu öffnen. Dabei vergessen wir manchmal, dass mit der Datei zunächst ein geeignetes Programm 152 Taglinger: Die Sache mit den Daten. Eine vergleichbare Situation entsteht für die Daten eines digitalen Röntgenbilds oder einer Computertomografie. Wer kann diese Daten auf welcher Basis und mit welchen Hilfsmitteln interpretieren? Wem gehören sie?

98 | 3 Externalisierung und Rezeption von Information verknüpft sein muss, um deren Inhalt in korrekter Weise zu präsentieren. Diese Verknüpfung wird in der Regel über die Voreinstellungen des Betriebssystems vorgenommen. Bei unbekannten Dateiendungen wird der Versuch des Öffnens mit einer Rückfrage verbunden, welches Anwendungsprogramm gestartet werden soll. Einen eigenen Eindruck dieses Geschehens kann man sich leicht durch Umbenennen einer *.jpg-Datei in eine *.txt-Datei verschaffen. Ein Doppelklick auf die umbenannte Datei wird etwas anderes erzeugen als die erwartete Bildanzeige. Solche Beispiele zeigen, dass Daten, sofern sie eben nicht nur kontextfreie Ziffern oder codierte Zeichensequenzen sind, über einen höheren Aggregationszustand verfügen als zum Beispiel kognitiv interpretierbare Sinneseindrücke. Daten sind in Form gebrachte Sinneseindrücke oder Ergebnisse eines Theorie geleiteten Messprozesses. Dass maschinelle Prozessierung an Daten gebunden ist, ist hierzu kein Widerspruch. Verwertbare Ergebnisse erzielt maschinelle Datenverarbeitung ja gerade nur wegen der implementierten Theoriebindung, der Bezugnahme auf Referenzbereiche und der damit möglichen Interpretierbarkeit der Daten. Doch nicht nur Daten sind theoriegebunden. Mehrdeutige (homonyme) Bezeichnungen sind Beispiele für die Theoriebindung auch auf der Ebene der Begriffe. Gesten (Kopfschütteln als Möglichkeit zur Verneinung oder Bejahung), Symbole (die vielfältige Gestaltung eines Kreuzes), Werbebotschaften (eine Waschmaschine steht neben einem Reh im Wald) oder andere Formen kulturell geprägter Artefakte belegen die Bedeutung des Kontexts für eine richtige Interpretation auch auf der gesellschaftlichen Ebene. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass es keinen unmittelbaren empirischen Zugang zu Fakten der Realität gibt, sondern dass alles Wissen (also insbesondere auch das faktische) lediglich über theoriegeleitete Modelle und Fragen an die Wirklichkeit erworben werden kann und muss. Die Annahme, dass es eine Steigerung der Komplexität von Daten zu Information zu Wissen bis hin zur Weisheit gibt (DIKW-Pyramide), wird dadurch ebenfalls in Frage gestellt. Nach der hier vorgenommenen Argumentation sind Korrekturen an diesem Bild erforderlich.¹⁵³

153 Diese Sicht wird besonders im Rahmen der Informationswirtschaft, der Organisationslehre und des Wissensmanagements eingenommen, vgl. z. B.: Wissen [Wikipedia]; vgl. zur Kritik des Modells: Frické: The knowledge pyramid.

3.5 Wissensrepräsentation in der Künstlichen Intelligenz | 99

3.5 Wissensrepräsentation in der Künstlichen Intelligenz Die anspruchsvollsten Ansätze zur formalen Wissensrepräsentation, einschließlich der bereits diskutierten Annahmen über Theorie gebundene Daten und Wissensformen, werden im Bereich der Künstlichen Intelligenz verfolgt. Wir wollen dies hier noch einmal unter dem Aspekt aufgreifen, welche Bedingungen an eine Externalisierung von Wissen erfüllt werden müssen, um in die Nähe der Leistungsmöglichkeiten kognitiver Prozesse bei Externalisierungs- und Rezeptionsvorgängen zu kommen. Mit Methoden der Künstlichen Intelligenz werden zum Beispiel in Wissensbanken und Experten- oder Diagnosesystemen Daten, Begriffe und Aussagen als Entitäten und Beziehungen modelliert, um mittels formaler Inferenzmechanismen Schlussfolgerungen ableiten zu können. Besonderen Wert bekommen derartige Systeme durch das Zusammentragen eines Inhalts, den man sich gern als Summe des Wissens vieler Menschen vorstellt (,Expertensystem‘). Die Schlussfolgerungen können dadurch auf einer Grundlage gezogen werden, die über die Möglichkeiten Einzelner hinausgeht. Der Einsatz solcher Systeme, häufig als Assistenzsysteme im diagnostischen Umfeld, ist inzwischen etabliert.¹⁵⁴ Eine Überlegung gerät dabei in den Hintergrund: Ein Diagnosesystem muss Fallunterscheidungen ermöglichen und dazu Standardisierungen vornehmen, die für Abfragen genutzt werden können. Jede Form der Standardisierung – auch beim Zusammentragen der Erfahrungen möglichst vieler Einzelner – erfordert, dass erworbene Erfahrungen mit der Systematik der Standardisierung in Übereinstimmung gebracht werden müssen. Es ist wahrscheinlich, dass dabei Fälle unberücksichtigt bleiben. Diese werden bei der nachfolgenden Unterstützung durch das Diagnosesystem nicht berücksichtigt werden. Dies wäre nicht weiter bemerkenswert, weil es im Rahmen der menschlichen Diagnose nicht anders sein muss. Haben sich Menschen aber erst einmal daran gewöhnt, das Diagnosesystem als Messlatte der Analyse zu betrachten, werden sie auf neue oder veränderte Phänomene nicht mehr so achten. Die vermeintliche Vollständigkeit der Diagnose führt dann nicht allein zum Übersehen von Sachverhalten, sondern – und das ist wichtiger – zum Verlust einer Fähigkeit. Bereits der Medienphilosoph Vilem Flusser sah in solchen Systemen zur Wissensrepräsentation einen Nutzen für menschliche Wissensverarbeitung, insbesondere als Gedächtniserweiterung oder -ersatz und verband diesen Nutzen mit weitreichenden Prognosen:

154 Vgl. z. B.: Rötzer: Chinesischer Roboter besteht weltweit erstmals Zulassungsprüfung für Mediziner.

100 | 3 Externalisierung und Rezeption von Information Elektronische Gedächtnisse sind bequemer als zerebrale informierbar, sie haben eine größere Lagerkapazität, sie können die in ihnen gelagerten Informationen besser bewahren, die einzelnen Informationen sind von dort bequemer abberufbar, und man kann unschwer die Informationen von einem Gedächtnis auf ein anderes übertragen. All diese (und andere) Vorteile werden dazu führen, dass künftig die erworbenen Informationen (Daten) nicht mehr in Gehirnen, sondern dort gelagert werden. Dadurch werden die Gehirne für andere Funktionen freigelegt werden. Man wird nicht mehr Daten zu lernen haben, sondern das zweckmäßige Speichern, Abberufen und Variieren von Daten. Nicht mehr das Repertoire, sondern die Struktur von Systemen. Dieses Prozessieren von Daten, das bisher von der Notwendigkeit der Datenerwerbung gebremst war, heißt ,Kreativität‘, und es ist daher mit einer wahren Explosion der menschlichen Kreativität zu rechnen.¹⁵⁵

Noch deutlicher wird diese Position, wenn sie sich auf das Potenzial virtueller Welten mit ihren multimedialen Darstellungsmöglichkeiten bezieht: Virtual worlds technology may provide a key to assimilating complex information stored in databases. Instead of displaying the results of a database on a screen, we may be able to step ,through the looking glass‘ and immerse ourselves in the data. This presentation of data could take advantage of all our senses.¹⁵⁶

Immerhin wird hier noch nicht der Ersatz des menschlichen Gedächtnisses gefordert. Allerdings gibt es bereits Überlegungen, Neuroimplantate zur Kompensation ausgefallener Hirnfunktionen oder zur Gedächtniserweiterung zu nutzen.¹⁵⁷ Die Hoffnungen auf die Wirkung des Nürnberger Trichters haben sich nicht erfüllt. In der Neuzeit haben sie sich stattdessen in Erwartungen an den Einsatz der Informationstechnik für Lehr- und Lernvorgänge gewandelt. In der TechnikEuphorie der 1960er Jahre wurden Informationsbanken als Enzyklopädie-Ersatz prognostiziert, die zeitnah aktualisiert und abgefragt werden können. Karl Steinbuch verband in seinem Buch Die informierte Gesellschaft damit eine aus heutiger Sicht naiv wirkende Hoffnung: Vermutlich werden solche Informationsbanken die gesellschaftliche Praxis sehr stark verändern, insbesondere zur Rationalisierung politischer Entscheidungen beitragen.¹⁵⁸

Neben dieser mittelbaren Unterstützung sollten ebenfalls von Steinbuch vorgeschlagene Lehrautomaten und deren Einsatz über das öffentliche Telefonnetz Lehrund Lerndefizite kompensieren:

155 156 157 158

Flusser: Gedächtnisse, S. 49–50. Miller: Virtual reality and online databases. Vgl. als Überblick das Spektrum-Themenheft: Mensch – Maschine – Visionen. Steinbuch: Die informierte Gesellschaft, S. 214.

3.5 Wissensrepräsentation in der Künstlichen Intelligenz |

101

Die Anwendung der programmierten Instruktion und der Lehrmaschinen schafft sicher in übersehbarer Zeit ,nicht‘ die Möglichkeit, auf menschliche Lehrer zu verzichten. Sie ermöglicht es aber, menschliche Lehrer von zeitraubender Routinearbeit zu befreien, beispielsweise beim Einüben der Orthografie, des Einmaleins, einfacher Rechenregeln und so weiter. Von Pädagogen wird geschätzt, daß etwa 20–30 Prozent der Unterrichtszeit in Volksschulen von Lehrautomaten übernommen werden könnte.¹⁵⁹

Der jüngste Spross IT-unterstützter Lehrbemühungen, der Massive Open Online Course (MOOC), will mit multimedialen Technologien, mit dem Zugriff auf die Lehrinhalte von Elite-Ausbildungseinrichtungen und mit der Raum- und Zeitungebundenheit des Angebots punkten.¹⁶⁰ Es ist ein ständig wiederkehrendes Argumentationsmuster: Der Einsatz von Technik und die Automation in der Lehre sollen Freiraum für Kreativität schaffen. Beispiele für die Berechtigung dieses Musters anzugeben, fällt schwer. Eher drängt sich der Eindruck auf, dass der Technik-Einsatz neue Bindungen erzeugt, die obendrein durch vermehrte Verwaltungsleistungen administriert werden müssen. Unstrittig ist, dass durch die multimediale Darbietung des externalisierten Wissens das Potenzial erhöht werden kann, Wissen zu erwerben. Ob dies faktisch geschieht und sich gar in einem vergrößerten oder verbesserten Wissen Einzelner niederschlägt, ist keineswegs sicher. Müssten die erhobenen Daten zur Bestimmung von Bildungserfolgen sonst nicht einen stetigen Aufwärtstrend zeigen? Für die Schaffung von Systemen, die neben fachlichem Spezialwissen alle Wissenstypen der menschlichen Informationsverarbeitung abbilden sollen, stellen sich weit größere Herausforderungen. Die Modellierung von Alltagswissen mit Beziehungen und Inferenzen erfordert die Berücksichtigung zahlreicher Entitäten ohne fachlich begrenztes Bedeutungsspektrum und eine ungleich größere Zahl an Beziehungen zwischen diesen Entitäten. Eine Realisierung derart anspruchsvoller Ziele wurde zum Beispiel im Rahmen der Projekte Cyc¹⁶¹ bzw. OpenCyc¹⁶² angestrebt. Es sollte eine umfassende Wissensbasis aufgebaut werden, die formal repräsentiertes Allgemeinwissen enthält. Diese Wissensbasis sollte genutzt werden, um Schlussfolgerungen ziehen und Problemlösungen finden zu können.¹⁶³ So ist OpenCyc beispielsweise in der Lage, auf Basis der modellierten Wissensbausteine, ,dass Peter im Meer schwimmt‘

159 Steinbuch: Die informierte Gesellschaft, S. 215. 160 Vgl. etwa: Röthler: ,Lehrautomaten‘ oder die MOOC-Vision der späten 60er Jahre. 161 Vgl. z. B.: Lenat: CYC; Lenat/Guha: Building large knowledge-based systems. 162 Vgl.: http://www.cyc.com/opencyc/ und http://www.cyc.com/researchcyc/. 163 Matuszek/Cabral/Wirbrock: An introduction to the syntax and content of Cyc, S. 44.

102 | 3 Externalisierung und Rezeption von Information und ,dass Meer größtenteils aus Wasser besteht‘, die Schlussfolgerung zu ziehen, ,dass die betreffende Person nass ist‘.¹⁶⁴ Für jede Modellierung gibt es dabei eine grundsätzliche Schwierigkeit, wie das folgende Beispiel zeigt: Der Versuch, alle Vögel als Wirbeltiere zu charakterisieren, die fliegen können, wird durch die Pinguine widerlegt. In der formalen Modellierung werden daher Ausschlussklauseln benötigt, um fehlerhafte Inferenzen zu vermeiden.¹⁶⁵ Außerdem müssen die Ausschlussklauseln mit den richtigen Entitäten im hierarchischen Gefüge des repräsentierten Wissens verbunden werden. Dies wiederum führt zu dem Folgeproblem, dass auch das Ziehen von Inferenzen über repräsentierte Relationen zwischen Begriffen nicht zu falschen Schlussfolgerungen führen darf. Die tabellarischen Übersichten am Ende des Kapitels (Tabellen 3.1 bis 3.5) enthalten eine Gegenüberstellung der Vorgänge der Informationsverarbeitung für die Bezugssysteme Mensch, Tier, ,gewöhnliche‘ Computer und autonome Computer mit Künstlicher Intelligenz. Anhand dieser Gegenüberstellungen wird deutlich, welche Unterschiede in der Externalisierung von Wissen zwischen maschinellen Systemen und menschlichen kognitiven Prozessen bestehen. Grundsätzlich gibt es unterschiedliche Vorgehensweisen für die Repräsentation von Wissen in externalisierter Form. Die formale Wissensrepräsentation (Ontologien) setzt auf Merkmale, Attribute und Eigenschaften der zu repräsentierenden Entitäten. Aus diesen Daten werden mittels verschiedener Inferenzregeln Zusammenhänge zwischen den Entitäten hergestellt und für die maschinelle Verarbeitung aufbereitet. Diese Beziehungen oder Zusammenhänge können denen der kognitiven Interpretation entsprechen, müssen dies aber nicht zwingend. Die mittlerweile klassische Welt der begriffsorientierten Ordnungssysteme (Klassifikationssysteme, Thesauri) fordert für das Verständnis der Begriffe, die über Relationen strukturiert dargeboten werden, ein Vorverständnis des Anwenders ein. Die Angabe des gesamten Merkmalsbestands eines repräsentierten Begriffs ist nicht üblich. Meist wird nicht einmal das zur Strukturierung entscheidende Merkmal explizit ausgewiesen. In vielen Fällen ist deshalb das Ziehen von Schlussfolgerungen, insbesondere von transitiven Schlussfolgerungen entlang längerer Relationspfade, nicht möglich, weil bei der Auswahl der Merkmale die notwendigen Homogenitätserfordernisse nicht beachtet wurden. Hybride Systeme zur Wissensrepräsentation, die Eigenschaften aus beiden Welten in gleicher Weise berücksichtigen, sind bislang eher selten.¹⁶⁶ 164 Cyc [Wikipedia]. 165 Vgl. z. B.: Bibel/Hölldobler/Schaub: Wissensrepräsentation und Inferenz, S. 58–60. 166 Vgl. für diese Gesichtspunkte die Darstellung in: Gödert/Hubrich/Nagelschmidt: Semantic knowledge representation for information retrieval.

3.5 Wissensrepräsentation in der Künstlichen Intelligenz | 103

Die zukünftige Entwicklung des Wissensverständnisses wird durch die sogenannten Semantischen Technologien beeinflusst.¹⁶⁷ Dabei wird verfügbares Wissen formal auf dreistellige Aussagen abgebildet: Eine Blaumeise ist ein Vogel. Ein Vogel hat Flügel. Im Garten brütet eine Blaumeise. Blaumeisen fressen Insekten.

Die Repräsentation des Wissens bzw. der formalen Aussagen erfolgt in maschinenlesbaren Strukturen wie dem Resource Description Framework (RDF) oder Linked Open Data (LOD), die dessen Verfügbarkeit und Nachnutzbarkeit im Web garantieren.¹⁶⁸ Die große Zahl an verfügbaren Konzepten und formalisierten Aussagen sind eine ideale Basis für die Methoden des Deep Learning. Mit dem Deep LearningAnsatz wurde ursprünglich versucht, die tief geschichtete Architektur des menschlichen Gehirns nachzubilden, um maschinelles Lernen zu realisieren. Inzwischen ist die Simulation des menschlichen Vermögens zum Verstehen und Erklären als Zielvorstellung in den Hintergrund getreten und durch die Erfolge bei der Auswertung riesiger Datenbestände (Big Data) abgelöst worden.¹⁶⁹ Maschinelle Übersetzer wie DeepL (vgl. Kapitel 1.2) sind nicht deshalb so erfolgreich, weil sie die umfassenden sprachlichen Fähigkeiten menschlicher Übersetzer erlernt haben. Ihr Wissen über korrekte Übersetzungen und die grammatikalisch und syntaktisch richtige Verwendung der Sprache wird von ihnen anhand sehr großer Mengen bereits übersetzter Daten erlernt. Die Leistungsfähigkeit maschineller Lernvorgänge hängt entscheidend von Trainingsdaten ab, die in ausreichender Zahl und Qualität verfügbar sein müssen. Ob maschinelles Übersetzen oder Gesichtserkennung, auf die menschlichen Fähigkeiten bei der Erzeugung von Trainingsdaten kann nicht verzichtet werden.¹⁷⁰ Vor dem Hintergrund derartiger Vorgehensweisen ist verständlich, wenn Wissen zukünftig nicht mehr an Verständnis und Erklären orientiert, sondern als ein aus Big Data abgeleitetes Datenfragment betrachtet wird, das sich für einen bestimmten Kontext als erfolgreich erwiesen hat. 167 Vgl. für eine zusammenfassende Darstellung: Dengel (Hrsg.): Semantische Technologien. 168 Vgl. z. B.: DBpedia [Wikipedia]; Linked Open Data [Wikipedia]. Die Identifizierbarkeit der beteiligten Konzepte wird durch die Benutzung von eindeutigen Merkmalen gewährleistet (Uniform Resource Identifiers (URIs). 169 Vgl. für eine Einführung: Jones: Deep Learning. 170 Aus dieser Notwendigkeit sind inzwischen neue Geschäftsfelder entstanden, vgl.: Schmidt: Crowdproduktion von Trainingsdaten.

104 | 3 Externalisierung und Rezeption von Information Tab. 3.1: Signalwahrnehmung – Reizwahrnehmung. Quelle

Vorgang

Ergebnis

Mensch

Sinnesreize

Inneres Muster

Tier

Sinnesreize

Computer

Sensoren

Autonomer Computer

Sensoren

Neuronale Verarbeitung Neuronale Verarbeitung Algorithmische Prozessierung Algorithmische Prozessierung

Inneres Muster Daten in Struktur Daten in Struktur

Tab. 3.2: Selbst induzierte Informationsverarbeitung. Quelle

Vorgang

Ergebnis

Mensch

Neuronale Muster

Inneres Muster

Tier Computer Autonomer Computer

unklar nicht bekannt Wunsch? Realisierbarkeit?

Neuronale Verarbeitung, Strukturbildung, Abstraktion, Bewertung ? ? Algorithmische Prozessierung, Bewertung

? ? Daten in Struktur

3.5 Wissensrepräsentation in der Künstlichen Intelligenz | Tab. 3.3: Kommunikation. Quelle

Vorgang

Ergebnis

Mensch

Sprache, Töne, Symbole, Gesten

Inneres Muster, Handlungen

Tier

Sprache, Töne

Computer

Daten in Struktur

Autonomer Computer

Sprache, Töne, Symbole, Gesten, Daten in Struktur

Neuronale Verarbeitung, Strukturbildung, Abstraktion, Bewertung, Rückkopplung Reflex, Neuronale Verarbeitung Algorithmische Prozessierung Algorithmische Prozessierung, Bewertung

Quelle

Vorgang

Ergebnis

Mensch

Neuronales Muster

Neuronale Verarbeitung, Strukturbildung

Tier Computer

Neuronales Muster Daten in Struktur

Neuronale Verarbeitung Algorithmische Prozessierung

Autonomer Computer

Wunsch? Realisierbarkeit?

?

Sprache, Töne, Symbole, Handlungen, Texte, Mediale Formen Töne, Handlungen Daten in veränderter Struktur ?

Handlungen

Daten in veränderter Struktur Daten in Struktur, Handlungen

Tab. 3.4: Externalisierung.

105

106 | 3 Externalisierung und Rezeption von Information Tab. 3.5: Rezeption. Quelle

Vorgang

Ergebnis

Mensch

Texte, Mediale Formen

Inneres Muster

Tier Computer Autonomer Computer

nicht bekannt nicht bekannt Wunsch? Realisierbarkeit?

Neuronale Verarbeitung, Strukturbildung ? ? Algorithmische Prozessierung, Strukturbildung

? ? Daten in Struktur

4 Elemente Informationeller Kompetenz Es steht nicht mehr ein ganzer Mensch einer ganzen Welt gegenüber, sondern ein menschliches Etwas bewegt sich in einer allgemeinen Nährflüssigkeit. Robert Musil¹⁷¹

Menschliche Informationsverarbeitung dient dem Bewerten, Entscheiden und Handeln, wobei nicht grundsätzlich zwischen rationalen oder emotionalen Anteilen Informationeller Kompetenz unterschieden werden muss. Die Information hat hierbei eine doppelte Funktion. Sie ist das Ausgangsmaterial für die Einleitung und Durchführung der Informationsverarbeitung und gleichzeitig Bestandteil des Prozesses, der sie verändert und zu einem Ergebnis führt. Insgesamt handelt es sich um einen äußerst komplexen Vorgang, dessen typische Elemente wir im Folgenden näher charakterisieren werden. Dabei steht die rationale Verarbeitung im Vordergrund. Häufig wird davon ausgegangen, Bewerten und Entscheiden hingen vom Grad der Vollständigkeit der Informationen ab, die über die jeweilige Situation oder das Problem bekannt sind. Grundsätzlich kann diese Vollständigkeit aber nur beurteilt werden, wenn man um das Ausmaß des nicht Bekannten weiß, was in der Regel nicht möglich ist. Die Bezugnahme auf die Vollständigkeit der verfügbaren Information erweckt den Eindruck, Nicht-Verfügbarkeit habe etwas mit einer zu geringen Menge im Sinne einer Quantität zu tun. Dies greift zu kurz, denn der Kontext der zur Verfügung stehenden Information und das eigene Vorwissen haben erhebliche Bedeutung für ihre Nutzbarkeit. Man stelle sich für jedes der folgenden Szenarien vor, man sei ein Beobachter, dem in gleicher Weise alle Informationen zur Situation bereit gestellt würden wie dem eigentlichen Akteur: – – –

ein Prüfer, der eine Prüfungsleistung bewerten muss; ein Arzt, der eine Diagnose stellen muss; ein Unternehmer, der eine Investitionsentscheidung treffen muss.

Eines ist allen Beispielen gemeinsam: der beobachtende Laie mag dieselbe Information über die Situation haben; eine Bewertung oder Entscheidung kann er dennoch nicht treffen, denn Bewertungen und Entscheidungen erfordern einen

171 Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 217. https://doi.org/10.1515/9783110620221-004

108 | 4 Elemente Informationeller Kompetenz eigenen Kontext, der neben der situationsgebundenen Information mit Wissen und Erfahrung verbunden ist.¹⁷² Es muss also weitere Elemente geben, die unabhängig vom Wissen und der situationsbezogenen Information als Grundfunktionen der kognitiven Informationsverarbeitung wirken und zu einem kompetenten Handeln befähigen. Wir schlagen dafür zunächst die Begriffe Kontext, Kontextualisieren, Abstraktion, Schlussfolgern, Analogie, Intuition und Plausibilität als kognitive Voraussetzungen für Informationelle Kompetenz vor. Im Rahmen der Kognitionswissenschaft stehen sie in Beziehung zum Konzept der sogenannten Kognitiven Operatoren.¹⁷³ In Tabelle 4.1 sind Kognitive Operatoren und die kognitiven Voraussetzungen Informationeller Kompetenz einander gegenübergestellt. Tab. 4.1: Kognitive Operatoren und kognitive Voraussetzungen Informationeller Kompetenz. Kognitive Operatoren

Kognitive Voraussetzungen

Der holistische Operator Der reduktionistische Operator Der abstrahierende Operator Der quantitative Operator Der kausale Operator Der binäre Operator Der existenzielle Operator Der Operator für emotionale Wertung

Kontextualisieren Instantiieren, Spezifizieren Abstrahieren Schlussfolgern Intuition, Plausibilität – – Bewerten und Entscheiden

4.1 Kontextualisieren Das Vorhandensein von Kontext ist uns so vertraut, dass wir normalerweise nicht bewusst darüber nachdenken. Wir bewegen uns immer innerhalb einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten Raum. Wir haben unsere jeweils eigenen Erfahrungen und treffen auf andere Menschen mit ebenfalls eigenen Erfahrungen. Einige dieser Erfahrungen werden durch ein sozio-kulturelles Umfeld geprägt und von vielen Menschen geteilt. Andere müssen gegebenenfalls erst ausgetauscht und für ein Verständnis in Übereinstimmung gebracht werden. Für diesen Vor172 Es gibt Situationen, in denen man gar nicht alles wissen darf, um überhaupt handeln zu können, oder in denen vollständige Kenntnis sogar das Verbot des Handelns nach sich ziehen kann, wie etwa das Verbot des Insiderhandels bei Börsengeschäften. 173 Newberg/D’Aquili/Rause: Der gedachte Gott, S. 70–79.

4.1 Kontextualisieren | 109

gang wird der Begriff Kontextualisieren verwendet. Wir verstehen darunter die Zuweisung eines Kontexts zu einem Begriff oder einer Aussage innerhalb eines Kommunikations- oder Rezeptionsprozesses, um die spezifische Bedeutung ausdrücken oder erfassen zu können. Es handelt sich dabei um eine Basistechnik, ohne die eine Verständigung nicht möglich ist. Die Erscheinungsformen von Kontext sind sehr vielfältig, dementsprechend vielgestaltig ist auch die Aufgabe des Kontextualisierens. Es kann sich dabei um die Bedeutungs- oder Verwendungsklärung von Begriffen in verschiedenen Fachgebieten, Alltagsbereichen oder Sachverhalten in einer Kommunikation handeln. Jede sprachliche Mehrdeutigkeit gibt Anlass zur Kontextualisierung. Verben liefern unterhalb der Ebene der sprachlichen Mehrdeutigkeit von Substantiven oder Adjektiven gute Beispiele für die Notwendigkeit zur Kontextualisierung, die hier aufgrund großer Vertrautheit allerdings weitgehend unbemerkt vollzogen wird. Ein Verb wie ,schneiden‘ verändert nicht seine Bedeutung, muss aber in Aussagen wie ,Ich schneide die Haare‘, ,Ich schneide den Kuchen‘ oder ,Ich schneide das Gras‘ unterschiedlich kontextualisiert werden, was spätestens bei der Auswahl des Werkzeugs für die jeweilige Tätigkeit von Bedeutung ist.¹⁷⁴ Eine Rolle spielen ferner persönliche Kontexte, die über die allgemeinen Kontexte hinaus durch individuelle Beziehungen und Erlebnisse geprägt sind oder über die Referenzbereiche des Wissens (vgl. Kapitel 2.4). Die Komplexität der Aufgabenstellung beim Kontextualisieren und die Verschiedenartigkeit der Lösungsansätze lässt sich gut anhand von Beispielen illustrieren. Wie etwa ist die Aussage „Gebrochener Panzer erfolgreich operiert“¹⁷⁵ zu interpretieren? ,Panzer‘ ist ein Homonym mit mehreren Bedeutungen. ,Gebrochen‘ steht für eine Form von Defekt. Die Zusammenführung von ,Gebrochen‘ und ,Panzer‘ bietet noch keine hinreichende Disambiguierung. ,Operiert‘ bringt auch keine Hilfe, denn militärische Panzer operiert man nicht. Die Aussage könnte daher eher auf einen Eingriff an einem organischen System hindeuten. Die Verbindung zu ,Panzer‘ bleibt dennoch zunächst unklar. Erst der Zusatz zur Überschrift des Artikels bietet den notwendigen Kontext: „Selbstgebastelter Lego-Rollstuhl unterstützt Heilungsprozess von Schildkröte“. Die anfangs vermutete Assoziation von ,Panzer‘ mit dem militärischen Bereich ist dennoch nachvollziehbar: Für Versuche zur Kontextualisierung mittels Disambiguierung der einzelnen Bestandteile spielt die Statistik eine große Rolle (vgl. Haupt- und Nebenbedeutungen, Kapi-

174 Vgl. die Ausführungen zum Konzept des ,Hintergrunds‘ in: Searle: Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit, S. 139–140. 175 Überschrift in der Tageszeitung Die Rheinpfalz vom 01.10.2018 auf der Seite ,Zeitgeschehen‘.

110 | 4 Elemente Informationeller Kompetenz tel 2.5). Man denkt bei ,Panzer‘ eher an einen militärischen Kontext als an eine Schildkröte. Als weiteres Beispiel für eine Disambiguierungsaufgabe soll der Begriff ,Milch‘ betrachtet werden. Fällt dieser Begriff im Rahmen einer Alltagsdiskussion, wird kaum ein Zweifel darüber entstehen, was damit gemeint ist. Eine nähere Betrachtung zeigt jedoch eine Vielzahl von Bezugssystemen, die eine unterschiedliche statistische Signifikanz als Kontext besitzen. Milch kann Rohstoff und Produkt sein, Wirtschaftsgut und Nahrungsmittel und sie kann von unterschiedlichen Tieren oder Pflanzen stammen. Das Wort kann auch zur Charakterisierung eines bestimmten Aussehens verwendet werden, wie bei ,Kokosmilch‘, ,Gletschermilch‘ oder auch ,Milchglas‘. Die Ablösung des Kontexts von einem tierischen Erzeuger hat inzwischen zur juristischen Frage geführt, ob Soja-Milch überhaupt noch als Milch bezeichnet werden darf.¹⁷⁶ Ein letztes Beispiel: Im Bundestags-Wahlkampf 2017 wurden häufig die Fragen gestellt: ,Was ist Gerechtigkeit?‘ ,Was ist gerecht?‘ An der Vielfalt der Antworten lässt sich deutlich ablesen, dass die Frage so eigentlich keinen Sinn ergibt. Gerechtigkeit kann nur in einem Bezugsrahmen unterschiedlicher Handlungsfelder diskutiert werden.¹⁷⁷ Bezüge können sein: Soziale Gerechtigkeit, Chancengerechtigkeit, Verteilungsgerechtigkeit, Einkommensgerechtigkeit, Leistungsgerechtigkeit, Bildungsgerechtigkeit, Generationengerechtigkeit, Strafgerechtigkeit oder Verfahrensgerechtigkeit.

4.2 Abstrahieren, Spezifizieren und Instantiieren Die Fähigkeiten zum Abstrahieren, Spezifizieren und Instantiieren sind Grundpfeiler menschlicher Kognition und Kommunikation und eine unverzichtbare Basiskompetenz für viele andere Kulturtechniken.¹⁷⁸ Abstrahieren bedeutet, dass in einer Vielfalt von Erscheinungen das Gemeinsame erkannt und zu einem Konzept zusammengefasst wird, das die einzelne Erscheinung als Beispiel umfasst, in seiner Bedeutung aber darüber hinaus geht. Abstrahieren ist die Fähigkeit, Wissensmuster zu erkennen und anzuwenden. Mit Spezifizieren oder Instantiieren soll der umgekehrte Weg bezeichnet werden: das 176 Der Europäische Gerichtshof hat am 14.06.2017 entschieden, dass Milch als Nahrungsmittel an einen tierischen Erzeuger gebunden ist (Gerichtshof der Europäischen Union: Rein pflanzliche Produkte). 177 Eine ausführliche Darstellung zum Begriffsverständnis findet man bei: Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit; Rawls: Gerechtigkeit als Fairneß. 178 Vgl. für den philosophischen Hintergrund der Begriffe: Axelos u. a.: Allgemeines/Besonderes.

4.2 Abstrahieren, Spezifizieren und Instantiieren

| 111

Übertragen von Wissensmustern auf die Kennzeichnung speziellerer Begriffe oder einzelner Objekte. Spezifizieren und Instantiieren werden in ihrer Bedeutung nicht immer scharf unterschieden. Instantiieren soll hier für die unterste Ebene eines Spezifizierungsvorgangs verwendet werden, die sprachlich in der Regel durch einen Individualnamen ausgedrückt wird. Tab. 4.2: Spezifizierung – Instantiierung.

Landform Turm Schiff

Spezifizierung

Instantiierung

Berg Eisenfachwerkturm Passagierschiff

Matterhorn Eiffelturm Titanic

Das Erkennen des Gemeinsamen aus einer Vielzahl von Erscheinungen erfordert die Fähigkeit zur Zuordnung des Einzelnen zu einem Ganzen. Als Beispiel für die Interpretation einer Ziffernfolge als Zahl im dezimalen Stellenwertsystem haben wir uns bereits mit der Ziffernfolge ,314159‘ beschäftigt (vgl. Kapitel 2.5). Eine ebenso anspruchsvolle kognitive Leistung zeigt ein analoges Beispiel für die Verschmelzung von Buchstaben zu Wörtern. Die Buchstabenfolge ,Hochentaster‘ bietet auch für Sprachkundige eine nicht triviale Herausforderung, die außer der Verschmelzung von Buchstaben auch eine geeignete Segmentierung einfordert.¹⁷⁹ Beunruhigend ist allerdings die aus Grundschulkontexten übermittelte Beobachtung der Zunahme an Fällen von Kindern, die bereits bei einer Vielzahl von Alltagswörtern Schwierigkeiten mit der Ableitung von Wörtern aus Buchstabenfolgen haben. Dies gilt analog für das Interpretieren von Zahlen aus Ziffernfolgen.¹⁸⁰ Man darf vermuten, dass ohne die Beherrschung dieser beiden Basistechniken große Schwierigkeiten beim Erlernen darauf aufbauender Abstraktionstechniken auftreten werden. Abstrahieren und Spezifizieren bzw. Instantiieren sind, aus jeweils unterschiedlicher Richtung, beteiligt an einem Wechselspiel zwischen Allgemeinem und Besonderem. Gemeinsam wirken sie typischerweise beim Zusammentreffen unterschiedlicher hierarchischer Ebenen in semantischen Zusammenhängen.

179 Es handelt sich nicht um einen ,Taster‘ an einem ,Hochen‘, sondern um ein Werkzeug für das Schneiden von Ästen in Bäumen (,Hoch-Entaster‘), das unter dieser Bezeichnung angeboten wird. 180 Die möglicherweise damit verbundenen längerfristigen Folgen sind auch Gegenstand der IGLU-Studien, zuletzt 2017. Vgl.: Stabile Ergebnisse bei zunehmenden Herausforderungen [BMBF].

112 | 4 Elemente Informationeller Kompetenz Dies geschieht häufig, wird allerdings nicht immer transparent gemacht. Ist beispielsweise von einem ,Medienpaket Vögel Europas‘ die Rede, so fallen darunter: – – –

Stimmen der bekanntesten Singvögel in Deutschland; Bildband der gefiederten Wintergäste am Niederrhein; Videoaufnahmen des Vogelzugs über Spanien.

Die drei Themen sind einerseits gekennzeichnet durch eine Kombination mehrerer Aspekte (Medienart, Tier, Ort, Handlung), andererseits sind die Aspekte auch jeweils unterschiedlich allgemein bzw. spezifisch. Die Komplexität dieser Wechselwirkung ist für das Verstehen unproblematisch, schwieriger ist es allerdings, sie zu beschreiben. Ein Großteil unserer sprachbezogenen kognitiven Fähigkeiten drückt sich in konkreten Sprechakten durch diesen Wechsel zwischen Allgemeinem und Besonderem aus. Warum neigen Menschen dazu, auf die Fragen ,Kann man Wachstum in der Hand halten?‘ und ,Kann man Vögel in der Hand halten?‘ unterschiedliche Antworten zu geben? ,Wachstum‘ und ,Vögel‘ sind beides abstrakte Begriffe. Abstrakta – auch von realen Objekten abgeleitete – kann man prinzipiell nicht in der Hand halten. Die beiden Fragen unterscheiden sich aber darin, dass ,Vögel‘ aus einer großen Zahl Objekt basierter Begriffe der realen Welt abstrahiert ist und mit diesen als Instanzen kognitiv verbunden gedacht wird. Einzelne Vögel lassen sich in der Hand halten, und diese Eigenschaft wird auf die abstrahierte Begrifflichkeit übertragen.¹⁸¹ ,Wachstum‘ ist demgegenüber als abstrakter (noch dazu mehrdeutiger) Begriff der institutionellen Realität zuzuordnen. Einen solchen Begriff kann man grundsätzlich nicht in der Hand halten. Die hier vorgenommene Unterscheidung hat in literarischer Form ihren Niederschlag bei Umberto Eco gefunden: Mich beschäftigte immer noch die Geschichte mit dem Rappen Brunellus, und so fragte ich William, kaum daß wir allein waren: ,Als Ihr die Spuren im Schnee und an den Zweigen laset, kanntet Ihr doch Brunellus noch nicht. In gewisser Weise sprachen doch diese Spuren nur ganz allgemein von Pferden, oder jedenfalls von einem Pferd dieser Art und Rasse. Könnte man daher nicht sagen, daß uns das Buch der Natur lediglich abstrakte Wesenheiten verkündet, wie zahlreiche ehrwürdige Theologen lehren?‘ ,Keineswegs, lieber Adson‘, erwiderte mir der Meister. ,Gewiß gaben mir jene Spuren für sich genommen nur das Pferd als verbum mentis in den Sinn, und als solches hätten sie es mir überall in den Sinn gegeben. Doch an diesem Ort und zu dieser Stunde des Tages lehrten sie mich, daß zumindest eines von allen denkbaren Pferden dort vorbeigekommen sein mußte. Also befand ich mich bereits

181 Unabhängig davon gibt es für die Interpretation der Frage eine wahrscheinlichere und eine unwahrscheinlichere Deutungsmöglichkeit: Die Frage, ob man einen abstrakten Begriff in die Hand nehmen kann, ist kaum zu erwarten.

4.2 Abstrahieren, Spezifizieren und Instantiieren

| 113

auf halbem Wege zwischen der Vorstellung des Begriffes Pferd und der Erkenntnis eines einzelnen Pferdes. Und in jedem Fall war mir das, was ich vom Pferd im allgemeinen wußte, durch eine besondere Spur ins Bewußtsein gerufen worden. Ich war also in diesem Augenblick sozusagen gefangen zwischen der Besonderheit jener Spur und meiner Unkenntnis, die gerade erst angefangen hatte, die noch recht blasse Gestalt einer allgemeinen Vorstellung anzunehmen. Wenn du etwas von weitem siehst und nicht weißt, was es ist, wirst du dich damit begnügen, es als einen Körper von ungewisser Ausdehnung zu definieren. Bist du näher herangekommen, so wirst du es vielleicht als ein Tier definieren, wenn du auch noch nicht weißt, ob es ein Pferd oder ein Esel ist. Hast du dich ihm noch mehr genähert, so wirst du sagen können, daß es ein Pferd ist, wenn du auch noch nicht weißt, ob es Brunellus oder Flavellus ist. Erst wenn du nahe genug herangekommen bist, wirst du erkennen, daß es Brunellus ist (beziehungsweise dies bestimmte und kein anderes Pferd, wie immer du es nennen willst). Und das ist dann schließlich die volle Erkenntnis, die Wahrnehmung des Einmaligen. So war ich vor einer Stunde noch darauf gefaßt, jedem denkbaren Pferd zu begegnen, aber nicht etwa aufgrund der Weiträumigkeit meines Geistes, sondern aufgrund der Beschränktheit meiner Wahrnehmung. Und der Wissensdurst meines Geistes wurde erst in dem Augenblick gestillt, als ich das einzelne Pferd erblickte, das die Mönche am Zügel führten. Da erst wußte ich wirklich, daß meine vorausgegangenen Überlegungen mich der Wahrheit nahegebracht hatten. Die Ideen, mit deren Hilfe ich mir bis zu diesem Moment ein Pferd vorgestellt hatte, das ich noch niemals zuvor gesehen, waren mithin reine Zeichen, wie die Spuren im Schnee nur Zeichen der allgemeinen Idee des Pferdes waren – und Zeichen oder Zeichen von Zeichen benutzen wir nur, solange wir keinen Zugang zu den Dingen selbst haben.‘¹⁸²

Der wiederholte Prozess des Abstrahierens erzeugt immer allgemeinere Aussagen, was schließlich zum Konzept der Universalität führt.¹⁸³ Universalität kann dabei in einer schwächeren und in einer stärkeren Bedeutung gesehen werden. Die schwächere Bedeutung betrachtet Universalität als Erklärungs- und Ordnungsrahmen für bereits Bekanntes ohne Filterung durch geografische, historische, ethnische, politische oder sonstige kulturelle Einflüsse. Diese schwächere Bedeutung wird auch mit der Bezeichnung ,universell‘ zum Ausdruck gebracht. Die stärkere Bedeutung entsteht durch den normativen Anspruch, dass sich die Erklärungs- und Ordnungskraft der universalen Prinzipien auf neue Phänomene anwenden lässt, ohne dass zuvor Veränderungen an den Prinzipien vorgenommen werden müssten.¹⁸⁴ Wir verstehen Abstraktion als Fähigkeit, dem Individuellen einen Platz in einem dafür geeigneten Kontext zuzuweisen. Mit dieser Sichtweise ist kein Anspruch auf Universalität oder auf Herstellung eines normativen Plans für alle Phänomene

182 Eco: Der Name der Rose, S. 39–40. 183 Vgl. hierzu: Jullien: Es gibt keine kulturelle Identität. 184 Ein typischer Fall dieser Sichtweise findet sich in: Dahlberg: Grundlagen universaler Wissensordnung.

114 | 4 Elemente Informationeller Kompetenz der Welt verbunden. Abstraktion wird vielmehr als offene Entwicklung mit einer Dynamik von Ergänzungen und Veränderungen gesehen. Sie nimmt damit eine Zwischenstellung zwischen der ungeordneten Vielfalt der Welt und dem Plan einer normativen Ordnung der Welt ein. Anhand der Beziehung, die ein Bürger der Zivilgesellschaft zu Gesetzen hat, lässt sich der Zusammenhang zwischen einer einzelnen normativen Regelung, ihrem Kontext und dem Bedarf an Abstraktionsleistungen gut illustrieren. Gesetze sind in besonderer Weise einem Kontext und einer theoretischen Gesellschaftsmodellierung verpflichtet, ohne die sich ihr Sinn häufig nicht erschließen lässt. Wenn wir voraussetzen, dass ein Einzelner prinzipiell bereit ist, Gesetze befolgen zu wollen, ist dies praktisch nur dann möglich, wenn die Gesetze bereits mit dem Bezug zu einem entsprechenden Regelungstatbestand erlassen worden sind. Dynamische Entwicklungen in einer komplexen Gesellschaft erzeugen jedoch immer wieder Kontexte, die so neu sind, dass sie noch nicht durch gesetzliche Vorschriften geregelt worden sein können. Aktuelle Beispiele dafür sind die InternetWirtschaft oder das Urheberrecht für digitale Medien. Die Tradition der römischen Rechtsauffassung – weniger die anglo-amerikanische Praxis mit ihrer Fall basierten Rechtsprechung – bietet hier als Ausweg das rechtliche Handeln durch Ableitung aus übergeordneten Regelungen, durch Bilden von Analogien und durch die Bezugnahme auf die Idee bzw. den Geist der bereits vorhandenen Rechtsnormen an. Hierbei handelt es sich um eine typische Abstraktionsleistung. Je besser diese Abstraktionsleistung dem Einzelnen jeweils gelingt, desto weniger Streitfälle wird die institutionalisierte Justiz zu bearbeiten haben. In wessen Interesse wäre dies? Ist es überraschend, dass in einer Zeit, in der Ideen und Geist nicht mehr hoch im Kurs stehen, auch das Bilden von Analogien zur Beurteilung rechtlich korrekten Verhaltens selten selbstverständliche und gelebte Zustimmung erfährt? Ist es deshalb nicht folgerichtig, dass viele Probleme lieber auf dem formalisierten Rechtsweg entschieden werden sollen? Und ist es in dem Zusammenhang ohne Bedeutung, dass es inzwischen auch in unserem Rechtssystem ein mindestens sympathisches Schielen auf die Fall basierte Rechtsprechung gibt? Es gibt erkennbare Bestrebungen, die vermeintlichen Möglichkeiten algorithmischen Vorgehens auf immer mehr Bereiche auszudehnen, so auch auf das Recht. Im Rahmen eines Tagesthemen-Berichts zur Hannover-Messe vom 24.04.2018 äußerte sich Reimund Neugebauer, Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft, wie folgt: Sprecher: Der selbstständig arbeitende Roboter in trauter Eintracht mit dem Menschen. Was da noch kommen könnte, sehen Besucher derzeit auf der Hannover-Messe. Nicht mehr umständlich programmieren, sondern der Maschine einfach zeigen, was man will. Die Arbeitswelt wird das verändern, da sind sich Experten sicher, aber auch sie sagen, Maschinen werden den Arbeitnehmer nicht verdrängen.

4.2 Abstrahieren, Spezifizieren und Instantiieren

| 115

Neugebauer: Er wird – wie das bei der Automatisierung zwischen den siebziger Jahren bis 2000 ähnlich war – andere Aufgaben übernehmen und der wesentliche Punkt ist, warum der Mensch nicht überflüssig wird, es gibt nach wie vor viele Entscheidungen, dessen sind wir uns oft gar nicht bewusst, die wir treffen, weil bei uns Bewusstseinsbildung stattfindet. Sprecher: Soll heißen, ein Computer ist eben kein menschliches Gehirn. Trotzdem haben viele Angst, der Mensch könnte die Kontrolle verlieren über die Künstliche Intelligenz. Laut einer Umfrage des Bundesverbandes Digitale Wirtschaft glaubt das knapp die Hälfte der Befragten. Dass Roboter mehr und mehr unser Leben beeinflussen, scheint sicher, selbstverständlich in Industrie und Produktion, aber auch in anderen Bereichen, bis hin zur Rechtsberatung. Neugebauer: Weil zum Beispiel wir uns bei juristischen Dingen in einem festen Regelwerk befinden und wenn dieses Regelwerk digitalisiert ist, dann wird vieles von dem, was heute Anwälte machen, in Zukunft der Automat übernehmen.¹⁸⁵

In diesem Kontext ist der Zusammenhang mit dem Rechtsdienstleistungsgesetz¹⁸⁶ als Nachfolger des Rechtsberatungsmissbrauchsgesetzes interessant, in dem das Erbringen von Rechtsdienstleistungen als professionelle Tätigkeit immer noch Menschen mit gewissen Qualifikationsmerkmalen vorbehalten ist. Wird auch diese Voraussetzung aufgegeben werden?¹⁸⁷ Bei der Fähigkeit zum Abstrahieren handelt es sich nicht ausschließlich um eine intellektuelle rationale Funktion, sie gehört vielmehr zur Grundausstattung der Überlebensfunktionen, die sich im Laufe der Evolution herausgebildet haben. Abstraktionsvermögen lässt sich auch bei vielen Tierarten beobachten. Beispielsweise wählen einige heimische Singvogelarten gern Erdnüsse als bevorzugtes Futter, unabhängig davon, ob die Nüsse mit oder ohne umgebende Schale angeboten werden. Da die Vögel in ihrer natürlichen Umwelt nicht mit dieser Nahrungsquelle in Berührung gekommen sein können, müssen sie ein Sensorium besitzen, das ihnen ermöglicht, dieses spezielle Futter als besonders wohlschmeckende oder energiereiche Nahrungsquelle einzustufen (vermutlich spielt dabei der Fettanteil eine Rolle). Ein solcher Erkennungsprozess lässt sich nur als Abstraktionsleistung interpretieren. Die Fähigkeit zur Abstraktion erfüllt auch eine wichtige Funktion für Erinnerungsprozesse und die Rolle, die dem Gedächtnis dabei zukommt. Erinnern darf dabei nicht als ein Zugriff auf einen nicht löschbaren Speicher verstanden werden, denn die Idee vom menschlichen Gedächtnis als inaktiver Deponie für den Abruf von Vergangenem erweist sich mehr und mehr als unzutreffend. Hannah 185 Künstliche Intelligenz in der Industrie [Tagesthemen], Min. 14:34–15:53. 186 Rechtsdienstleistungsgesetz [dejure.org]. 187 Vgl.: AI vs. Lawyers [LawGeex].

116 | 4 Elemente Informationeller Kompetenz Monyer und Martin Gessmann weisen nach, welche Bedeutung das Gedächtnis für die Gestaltung der Zukunft hat.¹⁸⁸ Besonders eindrucksvoll ist dabei in unserem Zusammenhang, dass individuell Sachverhalte ,erinnert‘ werden können, die ein bestimmtes Individuum niemals gewusst hat. Dieser zunächst gespenstisch erscheinende Vorgang basiert auf den individuellen Fähigkeiten zur Abstraktion und Plausibilität in Kombination mit den Möglichkeiten des kollektiven Gedächtnisses. Nicht bekannte Details werden durch Anlehnung an analoge Lebenssituationen oder durch die Auswertung von Lebensweisheiten konstruiert. Diese Auffassung wird bestätigt durch die Annahmen, die Entwickler selbstständig lernender Systeme ihrer Arbeit zugrunde legen: Unser Gehirn versucht ständig, die Zukunft vorherzusagen und die so gewonnenen Erwartungen dann an die Realität anzupassen.¹⁸⁹ Unser Gehirn ist eine Vorhersagemaschine. Es nutzt Erfahrung und Vorwissen, um die Flut von Informationen aus unserer Umgebung zu verstehen. Viele Neurowissenschaftler und Psychologen glauben, dass fast alles, was wir tun – Wahrnehmung, Handeln und Lernen –, darauf beruht, dass wir Erwartungen produzieren und diese dann entsprechend aktualisieren.¹⁹⁰

Abstraktion ermöglicht es, für noch nicht bekannte Phänomene Ereignisse vorherzusagen, die nach Überprüfung an der Realität in den eigenen Erfahrungsbereich integriert werden können. In engem Zusammenhang zum Konzept Abstraktion stehen die Konzepte Paradigma und Transzendierung. Wir werden diese Konzepte in Kapitel 5.3 und Kapitel 6.5 vorstellen.

4.3 Hierarchie, Assoziation, Facetten, Semantisches Umfeld Mit der Fähigkeit zum Abstrahieren stehen zwei Typen von Relationen in Verbindung, die sich zwischen Begriffen ausweisen lassen: die Hierarchie und die Assoziation. Zusammen ergeben ihre unterschiedlichen Erscheinungsformen das Semantische Umfeld eines Begriffs und erzeugen damit seinen Kontext. Das Beispiel des Begriffs ,Vögel‘ hat gezeigt, wie Zusammenhänge zwischen Begriffen genutzt werden können, um Aussagen zu erzeugen, die auf unterschiedlich viele Begriffe eines Begriffsfeldes bezogen werden können. Derartige Zusammen188 Vgl.: Monyer/Gessmann: Das geniale Gedächtnis, S. 231–232; Korte: Gedächtnis. 189 Kwon: Robotik, S. 68. 190 Kwon: Robotik, S. 71.

4.3 Hierarchie, Assoziation, Facetten, Semantisches Umfeld | 117

hänge können nur hergestellt werden, indem für die enthaltenen Begrifflichkeiten semantische Hierarchien in den jeweils beteiligten Facetten hergestellt werden. Als Facetten kann man dabei die Aspekte ansehen, unter denen als Spezifizierungen Instanzen gleichen Typs entstehen. Diese müssen sich in eine Hierarchie bringen lassen, die über strenge Vererbbarkeit der Eigenschaften verfügt. Innerhalb einer taxonomischen Betrachtung kommt von Ebene zu Ebene jeweils ein weiteres Merkmal hinzu, sodass alle Aussagen mit folgender Struktur richtig sind: ,Eine Blaumeise ist x, x aus {Meise, Singvogel, Vogel}‘. Für das vorstehende Beispiel entsteht daraus folgende Hierarchie: Vogel → Singvogel → Meise → Blaumeise

Fehler entstehen, wenn für die Hierarchiebildung mehr als eine Facette verwendet wird: Vogel → Zugvogel → Singvogel → Meise → Blaumeise

Nicht alle Singvögel sind Zugvögel, nicht alle Zugvögel sind Singvögel; die beiden Konzepte stehen nicht in einer hierarchischen Beziehung. Die Aussage ,Eine Blaumeise ist ein x, x aus {Meise, Singvogel, Zugvogel, Vogel}‘ ist nicht mehr in jedem Fall richtig, eine Blaumeise ist kein Zugvogel. Die Charakterisierung als Zugvogel resultiert aus einem anderen Aspekt – dem Zugverhalten des Vogels – und nicht aus taxonomischen Merkmalen, die das Konzept Singvögel spezifizieren. Die Fähigkeit zur Unterscheidung dieser Sachverhalte ist das Resultat eines langen Lernvorgangs, bei dem immer wieder das Abstrakte mit seinen Instanzen in Verbindung gebracht wird. Verläuft er erfolgreich, können die Ergebnisse mühelos abgerufen werden. Ein Wechsel zwischen Hierarchieebenen, zwischen Abstraktum und Instanzen, ist dann leicht möglich. Dadurch lässt sich beispielsweise erklären, dass die Bitte ,Gibst du mir bitte einmal das Salz?‘ nicht mit Unverständnis oder Zurückweisung quittiert wird, obwohl eigentlich der Salzstreuer mit der Bitte gemeint war. Es entspricht der Plausibilität des Alltagsgeschehens, dass ein Salzstreuer in der Regel auch Salz enthält. Müssten wir in jeder Lebenssituation jeweils alle der Plausibilität zugrunde liegenden Voraussetzungen überprüfen und könnten nicht die abstrahierten Ergebnisse der bereits kennen gelernten Instanzen zur Grundlage unserer Handlungen machen, wären wir im Alltag verloren. Wir machen uns ja nicht einmal alle Kriterien und Entscheidungsverzweigungen eines solchen Vorgangs bewusst. Beispiele wie dieses prägen in zahlreicher Form unser tägliches Leben. Der zweite Relationstyp, der zur Bildung des semantischen Umfelds für einen Begriff beiträgt, ist die Assoziation. Assoziationsbeziehungen sind ausgesprochen

118 | 4 Elemente Informationeller Kompetenz vielfältig und in ihren Grenzen schwierig bestimmbar. Beginnend mit dem Begriff ,Blaumeise‘ ließen sich beispielsweise andere Tierarten assoziieren, aber auch Begriffe wie ,Füttern‘ oder ,Beobachten‘. Vom Tier ,Ente‘ könnte man gedanklich zu einem Kultauto gelangen. Der Bildung von solchen Assoziationsketten sind kaum Grenzen gesetzt, weil sie das Ergebnis einer kognitiven Leistung sind, die nicht in normierten Bahnen verläuft. Die formale Repräsentation von assoziativen Zusammenhängen ist deshalb schwierig, denn hierfür ist die Festlegung von Grenzen und eine Typisierung der Beziehungen erforderlich.¹⁹¹ An den genannten Beispielen lässt sich gut erkennen, warum die Modellierung von Alltagswissen in Expertensystemen auf sehr viel größere Schwierigkeiten stößt, als die Modellierung von speziellem Fachwissen in Diagnosesystemen. Diagnosen werden auch bei kognitiver Durchführung auf Kriterien gestützt und können vergleichsweise gut in Entscheidungsbäumen – einer Form des hierarchischen Zusammenhangs – algorithmisiert werden, die der späteren Diagnose als Ablaufanleitung zugrunde liegen. Für die Gestaltung der Algorithmen kann das Zusammentragen von Kriterien vieler Personen einen zusätzlichen positiven Effekt auslösen. Ob aber ein neu auftretendes Geräusch in einem PKW bereits Anlass zur Besorgnis gibt, ist ein typischer assoziativer Gesichtspunkt. Wenn das Auslesen aller gespeicherten Messdaten keine Auffälligkeiten zeigt, wird ein erfahrener und bereits mit vielen Situationen konfrontierter Kfz-Meister dies besser einschätzen können als jedes Daten basierte Diagnosesystem. Und diese erfahrungsbasierte Assoziation ist nicht so einfach formal modellierbar, auch nicht durch das Zusammentragen der Erfahrungen vieler Personen. Die Verwendung und das Verständnis von Assoziationen sowie der Umgang mit begrifflichen Hierarchien machen in ihrer Gesamtheit die Fähigkeit zum begrifflichen Orientieren bzw. Navigieren in semantischen Umfeldern aus. Die Fähigkeit zum Abstrahieren ist darüber hinaus eine wichtige Kulturtechnik. Dies zeigt sich in einer Reihe von Lebensweisheiten: ,global denken – lokal handeln‘; ,über den Tellerrand schauen‘; ,heute schon für morgen sorgen‘ usw.

4.4 Intuition, Heuristiken, Hypothesen, Kreativität Eng mit der Fähigkeit zur Abstraktion verbunden ist die Intuition. Sie weist deutliche Parallelen zur Assoziation auf, ist aber stärker auf ein Ziel gerichtet. Intuition kann in unserem Kontext als Fähigkeit verstanden werden, neue Zusammenhänge

191 Vgl. dazu etwa: Gödert/Hubrich/Nagelschmidt: Semantic knowledge representation for information retrieval, Kapitel 8.

4.4 Intuition, Heuristiken, Hypothesen, Kreativität | 119

zu erkennen und Einsichten zu gewinnen. Häufig dient sie dazu, eine Aufgabe oder ein Problem auf eine neue Art und Weise zu lösen. Soll die Intuition nicht das Ziel der Aufgabenstellung verfehlen, so muss sie von den Basistechniken des Überprüfens und Abgleichens begleitet werden; insbesondere wenn man sich einem Ziel schrittweise nähern will. Intuition beruht auf Voraussetzungen, die sich schwer beschreiben lassen und die stark an die individuelle Persönlichkeitsentwicklung, weniger an formale Wege innerhalb eines kodifizierten Bildungssystems gebunden sind. Sie bedarf zwar der vorgenannten Fähigkeiten, geht aber auch darüber hinaus und lässt sich nicht einfach zu- oder abschalten. Der Intuition kommt eine besondere Bedeutung bei Entscheidungssituationen zu. Gerd Gigerenzer sieht dabei auch einen engen Zusammenhang mit informationellen Aufgabenstellungen: Wir sollten auf unsere Intuition vertrauen, wenn wir über Dinge nachdenken, die schwer vorauszusagen sind, und wenn wir wenig Information haben.¹⁹²

Abstrahieren und Instantiieren, Kontextualisieren und das Bilden eines semantischen Umfelds lassen sich trainieren, Intuition eher nicht. Intuition ist enger mit einer spontanen Eingebung verbunden. Außerdem geht der Erfolg bei der Lösung eines Problems durch Intuition stärker mit Wohlbefinden einher. Das verleiht ihr eine positiv besetzte Sonderstellung innerhalb der menschlichen Fähigkeiten. Ganz ohne vorbereitende Hilfestellung muss Intuition dennoch nicht bleiben. Als hilfreiche Techniken zu ihrer Entfaltung können die Anwendung von Heuristiken und das Bilden von Analogien gesehen werden. Heuristiken erlauben das Reagieren auf Situationen, in denen schnelle Entscheidungen getroffen werden müssen. Ihre Anwendung bedarf keiner umfangreichen rationalen Argumentationsfolge oder Berechnung. Sie sind gleichsam vorgeprägte Instant-Antworten auf komplexe Probleme, die meist auf der Basis erfolgsabhängiger Erfahrungen erworben wurden. Ohne die Anwendung von Heuristiken und ihre Funktion für die Ausbildung von Intuition könnten wir im Alltag kaum bestehen. Viele Alltagsentscheidungen müssen im Rahmen enger Zeitfenster getroffen werden, die keine umfangreiche Analyse aller für eine rationale Entscheidung in Frage kommenden Parameter gestatten. Wenn Handwerker für umfangreichere Vorhaben spontan eine Preisabschätzung vornehmen, deutet dies auf die Anwendung einer Heuristik hin. Dabei zeigt sich dann häufig auch ein Zusammenhang von Heuristik und Plausibilität als Kontroll- bzw. Korrekturinstrument. Die Anwendung von Heuristiken ist ein Beispiel für kognitive Leistungen, die im Moment ihrer Anwendung nicht nach rationalen Regeln ablaufen, deswegen 192 Gigerenzer: Bauchentscheidungen, S. 162.

120 | 4 Elemente Informationeller Kompetenz aber nicht irrational sind. Ihre genetische und erfahrungsgestützte Grundlage, die ständige Überprüfung auf Erfolg oder Misserfolg, sowie ihre prinzipielle rationale Durchschaubarkeit geben ihr den Status einer geeigneten Technik für vielfältige Aufgaben der Lebensbewältigung. Es gibt Beispiele dafür, dass Rationalität in Parameter gesteuerten Vorgängen nicht immer ein besserer Erfolgsgarant ist als die Intuition. Eine Studie, bei der eine Computersimulation zur Steuerung der Produktionsmenge einer Fabrikanlage eingesetzt wurde, konnte nachweisen, dass bei zunehmender Komplexität des Verfahrens diejenigen Versuchspersonen, die intuitiv optimierten, besser abschnitten als diejenigen, die glaubten, den Optimierungsalgorithmus durchschaut zu haben.¹⁹³ Die Menschen haben im Laufe der Geschichte viele solcher Heuristiken gelernt und angewendet. Sie haben dadurch das Überleben und die Entwicklung ihrer Spezies gesichert. Mit zunehmender Berücksichtigung rationaler Faktoren für das Entscheidungsgeschehen ist die Zahl der angewendeten Heuristiken vermutlich nicht geringer geworden, möglicherweise aber ihre Wertschätzung. Heuristiken und Intuition stehen in engem Zusammenhang mit Hypothesen. Hypothesen sind Aussagen, deren Gültigkeit man unter festgelegten und reproduzierbaren Rahmenbedingungen für möglich hält, die aber bisher nicht bewiesen bzw. verifiziert wurden. Die Welt der Wissenschaft ist ohne das Bilden von Hypothesen nicht denkbar. Hypothesen stehen häufig am Beginn der Formulierung von Theorien, aus denen Vorhersagen für realweltliches Geschehen abgeleitet werden sollen. Eine Hypothese muss anhand ihrer Folgerungen überprüfbar sein, wobei sie je nach Ergebnis entweder bewiesen bzw. verifiziert oder widerlegt bzw. falsifiziert werden kann. Die Analyse von erfolgreichen Heuristiken und die Ermittlung ihrer rational modellierbaren Bestandteile stehen häufig am Beginn einer Hypothesenbildung. Intuition kann mit der Fähigkeit zur Kreativität kombiniert werden. Kreativität ist die vielleicht höchste Intelligenzleistung des Menschen. Beide Fähigkeiten erhalten ihre besondere Bedeutung durch den Umstand, dass eine Fortentwicklung menschlicher Gesellschaften ohne sie nicht möglich erscheint; weder in ihrer Gesamtheit noch in den Details, die unser Leben und dessen Infrastruktur ausmachen. Kreativität wird meist als besondere Fähigkeit eines Individuums betrachtet und häufig mit Begabung in Zusammenhang gebracht. Allerdings gibt es viele Ausprägungen von Kreativität und es verfügen sehr viele Menschen über kreati-

193 Berry/Broadbent: On the relationship between task performance and associated verbalizable knowledge; vgl. auch: Implizites Lernen [Wikipedia].

4.4 Intuition, Heuristiken, Hypothesen, Kreativität | 121

ve Eigenschaften, nicht nur die großen Genies. Kreativität zeigt sich in Details, wird aber aus überzogenem Respekt vor den Leistungen kreativer Giganten häufig nicht als solche wahrgenommen. Manche Schwierigkeiten im Umgang mit dem Begriff der Kreativität entstehen vermutlich dadurch, dass es zwar zahlreiche Berichte darüber gibt, wie sie verhindert wurde, aber kaum Erkenntnisse über die Bedingungen ihrer Entstehung. Unumstritten sind ihre Zuordnung zu den kognitiven Funktionen und ihr Wert für das menschliche Selbstverständnis, besonders auf der emotionalen Ebene. Im Rahmen der Künstlichen Intelligenz wird Kreativität inzwischen auch lernfähigen Algorithmen zugeordnet. Menschliche Kreativität wird hier als Basis benötigt, um Algorithmen entsprechend gestalten zu können. Ob die Algorithmen dadurch über Eigenschaften verfügen, mit denen sie menschliche Kreativität ergänzen oder ersetzen können, wird unterschiedlich gesehen. Abstrahieren, das Herstellen von Kontexten, das Bilden von Analogien und das Ziehen von Schlussfolgerungen sind wesentliche Grundvoraussetzungen für Kreativität. Dazu sind Erkenntnisse über bisherige Entwicklungen und deren Verständnis erforderlich. Gegenwärtig werden die Existenz und der Nutzen von Schwarmintelligenz innerhalb der Datensphäre und die sich daraus ableitende Rolle der sozialen Medien für die Wissenschaft intensiv diskutiert.¹⁹⁴ Gibt es vielleicht sogar Kreativität in der kollektiven Datensphäre? Falls mit Schwarmintelligenz das vereinte Bemühen einzelner Individuen zur Lösung eines klar umgrenzten Problems gemeint ist, bleibt es ein Vorgang, der an die jeweils individuell vorhandene Kreativität und die individuelle kognitive Leistungsfähigkeit gebunden ist. Befürworter einer Schwarmintelligenz wiederum sehen in typischen Beispielen wie dem zuverlässigen Schätzen einer Anzahl von Kugeln in einem Glasgefäß durch eine größere Anzahl von Personen eine anonyme Intelligenzleistung. Da derartige Phänomene auch durch statistische Verteilungsgesetze erklärt werden können, ist eine kollektive Kreativität ohne autonom agierende Individuen damit noch nicht begründet. Wie ausgedehnt man sich das Einbringen Einzelner in einen kollektiven Vorgang vorstellen darf und wie stark der einzelne Kreative hinter das Kollektiv zurücktreten will, ist nicht zuletzt davon abhängig, welche Belohnungsmechanismen für den Einzelnen oder das Kollektiv entwickelt werden. In der Wissenschaft sind zwar zunehmend Formen der Zusammenarbeit und des gemeinsamen Publizierens zu verzeichnen, eine verstärkte Tendenz, programmatische Zielsetzungen durch die Angabe eines ,Schöpfer‘-Kollektivs zum Ausdruck zu bringen, kann dabei jedoch nicht festgestellt werden. Es überwiegt stattdessen der Eindruck, dass zumeist wechselnde Gruppen gebildet werden, in denen

194 König/Nentwich: Soziale Medien in der Wissenschaft.

122 | 4 Elemente Informationeller Kompetenz eine Person die Hauptarbeit übernimmt. Wenn es um Status und wissenschaftlichen Rang (Ranking) geht, haben auch informetrische Bestimmungsverfahren nichts daran geändert, dass die Kennzeichnung einer persönliche Urheberschaft den Vorrang vor einer Gruppen-Urheberschaft hat. Es ist nicht bekannt, dass der Trend zum Ausweisen einer Urheberschaft im Wissenschaftssystem durch das Vorbild des französischen Mathematiker-Kollektivs Nicolas Bourbaki stark beeinflusst worden wäre.¹⁹⁵ Belege für individuelle Kreativitäts-Leistungen besitzen weiterhin den höchsten Stellenwert. Ob man die Praxis begrüßen soll, in Unternehmenskontexten die schöpferischen Leistungen des Individuums, die im Rahmen des Beschäftigungsverhältnisses erbracht werden, als Eigentum und Leistung allein des Unternehmens anzusehen, bleibt ebenfalls eine diskussionswürdige Frage. Es scheint Gründe dafür zu geben, dass die individuelle Kreativität durch persönliche Anreizsysteme besser motiviert wird als durch das Unterordnen unter eine Gruppenleistung. Zusammenfassend lässt sich sagen: Kreativität und autonome Informationsverarbeitung sind sich wechselseitig bedingende Eigenschaften für kognitive Leistungen. Diese sind eng verbunden mit einem Bild vom Individuum und seiner Rolle in Sozialgemeinschaften. Wenn Informationelle Autonomie die Basis für alle tiefer liegenden Prozesse kognitiver Informationsverarbeitung ist, dann ist sie es natürlich auch für die Kreativität.

4.5 Analogiebildung und Plausibilität Nicht alle Situationen und nicht alle Sachverhalte sind so neu, dass man überhaupt keinen Anhaltspunkt dafür hat, wie man mit ihnen umgehen kann oder sie bewerten soll. Vielfach unterscheiden sie sich nur in einer kleinen Anzahl von Parametern, die man überdies schon einmal erlebt oder durchdacht hat. Im wissenschaftlichen Kontext ist das Bilden von Analogien eine Standardmethode zur Gewinnung neuer Erkenntnisse und geht dort oft mit Intuition einher. Dennoch ist nicht jede durch Analogie gebildete Aussage unmittelbar richtig. Bestätigung (oder Widerlegung) müssen mittels anderer Methoden erfolgen. Auch im Alltag ist das Bilden von Analogien ein wichtiges Hilfsmittel. Als Kriterien für die Bestätigung oder Widerlegung von Alltagsaussagen gelten hier weniger deren Wahrheitsgehalt als vielmehr deren Belastbarkeit oder Stimmigkeit.

195 Vgl.: Nicolas Bourbaki [Wikipedia]; dort auch weitere Literaturhinweise. Eine lesenswerte fiktionale Aufarbeitung der Vorgehensweise findet sich in: Djerassi: Das Bourbaki-Gambit.

4.5 Analogiebildung und Plausibilität | 123

Um aus den Vorgängen des Abstrahierens und Instantiierens, des Herstellens von Analogien, der Anwendung von Heuristiken oder des Entfaltens der Intuition keine spekulativen oder fiktionalen Ergebnisse abzuleiten, ist es hilfreich, Kriterien für die Stimmigkeit der Ergebnisse zur Verfügung zu haben. Dem Kriterium der Plausibilität kommt dabei besondere Bedeutung zu. Mit Plausibilität ist kein allgemeiner Wahrheitsanspruch verbunden, sondern zunächst einmal nur der subjektive Eindruck der Stimmigkeit. Plausibilität dient als eine Art Filter, der Aufmerksamkeit oder Zweifel erzeugt und damit Anlass zur näheren Überprüfung bietet. Das Ergebnis der Plausibilitätsbetrachtung kann durch Kommunikationsakte eine interpersonale Bestätigung erfahren oder auch nicht. Es handelt sich immer um die Vorstufe einer Wahrheitsaussage. Das Anwenden von Plausibilitätsüberlegungen dient nicht dem Beenden eines Bewertungsvorgangs, sondern unterstützt nur seine Durchführung. Eine verbindliche Aussage über den Wahrheitsgehalt bedarf der Überprüfung anhand weiterer Kriterien. Die folgende Aufgabe verbindet intuitive Vorstellungen von Größenordnungen und Skalierungen miteinander und lässt sich nach einer ersten Plausibilitätseinschätzung leicht durch Berechnungen verifizieren: Wie oft muss man ein Blatt Papier (Schreibmaschinenpapier mit 100 g Papiergewicht und 0,01 mm Dicke) falten, um die mittlere Entfernung von der Erde zur Sonne zu erreichen?¹⁹⁶ Und um wie viel größer ist diese Zahl als die inverse Wahrscheinlichkeit, sechs Richtige beim Lotto zu haben? Die Antwort auf die erste Frage lautet: Bei einer mittleren Entfernung von 150.000.000 km muss man das Blatt 54 mal falten.¹⁹⁷ Bei den 13.983.816 Möglichkeiten für den Ausgang einer Lotto-Ziehung mit sechs Richtigen ist die Zahl der Faltungen 259.000 mal kleiner. Eine besondere Ausprägung erfährt Plausibilität bei der Interpretation von visuell aufbereiteten Daten. Visualisierung hat den Anspruch, schneller und leichter Aussagen zu ermöglichen, die auf der Auswertung von Daten basieren. Dabei kann es sich um einen Vergleich, eine Mittelwertbildung, einen Verlauf, einen Trend usw. handeln. Die Visualisierung darf die Daten nicht verzerrt oder gar verfälscht darstellen. Gegen diesen Grundsatz wird dennoch häufig verstoßen, insbesondere dann, wenn ein bestimmter Sachverhalt pointierte Aufmerksamkeit erfahren soll. Beliebte Techniken zur Verzerrung sind die überproportionale Darstellung von Zuwächsen, das Abschneiden von Achsenskalen und das Ausblenden zeitlicher Segmente. 196 Vgl. auch den Beitrag: Wenn Sie ein Blatt Papier 103-mal falten, wird es so dick wie das Universum [Focus online]. 197 Eine Formel zur Berechnung lautet: 2n x 0,01 = 150000000000, entsprechend: n = log₂(15000000000000000).

124 | 4 Elemente Informationeller Kompetenz Tab. 4.3: Hausmüllmenge pro Kopf 1996–2000. Jahr

Menge

1996 1997 1998 1999 2000

429 443 437 431 425

Ein Beispiel: Die Entwicklung der Hausmüllmenge pro Kopf der Bevölkerung hat sich innerhalb der Jahre 1996 bis 2000 (vgl. Tabelle 4.3) nur minimal verändert.¹⁹⁸ Die Visualisierung der Daten in Abbildung 4.2 zeigt dies auf den ersten Blick. Falls einem jedoch die Aussage wichtig wäre, dass sich die Müllmenge im Zeitraum von 1996 bis 2000 deutlich reduziert habe (was nicht den Tatsachen entspräche), könnte man genau diesen Eindruck durch die verfälschende Darstellung in Abbildung 4.1 erzeugen.¹⁹⁹ Dass diese Irreführung durch das Fortlassen eines Teils der Skala und eine dadurch verursachte Verzerrung erreicht wird, lässt sich erst bei genauerer Analyse erkennen.²⁰⁰

Abb. 4.1: Grafische Integrität (1).

Edward Tufte hat den Begriff der Grafischen Integrität und Exzellenz geprägt und Gestaltungsprinzipien für die Visualisierung von Daten vorgeschlagen. Dafür hat

198 Quelle der Zahlen: Haushaltsabfälle je Einwohner in Deutschland bis 2016 [statista]. 199 Das Original findet man bei: Balzli u. a.: SPD. 200 Noch subtiler sind Visualisierungen, die logarithmische Skalen verwenden. Werden sie entsprechend angezeigt, liegt die Gefahr der Verzerrung in den Fähigkeiten zur Interpretation durch den Betrachter. Werden sie nicht angezeigt, handelt es sich schlicht um Datenfälschung.

4.6 Schlussfolgern

| 125

Abb. 4.2: Grafische Integrität (2).

er zahlreiche Kriterien zusammengestellt, die Verletzungen der Datenintegrität durch grafische Visualisierung erkennbar machen.²⁰¹ Der besondere Nutzen der Plausibilität kann in unserem Zusammenhang darin gesehen werden, dass sie zu kritischer Aufmerksamkeit führt und damit zur weiteren Überprüfung anregt. Außerdem kann sie dazu beitragen, Widersprüche als solche zu erkennen. Nicht immer ist jedem die sofortige und endgültige Überprüfung einer Aussage oder eines Sachverhalts möglich. Plausibilitätsüberlegungen können in solchen Situationen Fehleinschätzungen vorbeugen und vorschnelle Urteile verhindern. Macht- und interessengeleitete Zielsetzungen können sie nicht verhindern, allenfalls entlarven.

4.6 Schlussfolgern Das Bilden von Analogien und die Prüfung auf Plausibilität beschreiben Vorstufen des Schlussfolgerns. Schlussfolgern dient in besonderer Weise dazu, den Wahrheitsgehalt komplexer Aussagen zu überprüfen. Hierbei werden Regeln eingesetzt, die es gestatten, aus der Verknüpfung einfacher wahrer Aussagen den Wahrheitsgehalt komplexer Aussagen zu ermitteln. Obwohl im Alltag häufig davon geredet wird, eine Aussage sei logisch oder unlogisch, sind die Regeln des Schlussfolgerns und die Bedingungen zur Feststellung des formalen oder logischen Wahrheitsgehalts einer Aussage kaum bekannt. Schon die Unterscheidung in einen formalen und einen inhaltlichen Wahrheitsgehalt bereitet häufig Schwierigkeiten. Viele

201 Vgl.: Tufte: Envisioning information; Tufte: The visual display of quantitative information.

126 | 4 Elemente Informationeller Kompetenz Aussagen, die im Alltag mit dem Attribut ,logisch‘ versehen werden, dürften eher der Plausibilität angehören. Das bedeutet nicht automatisch, dass die Aussagen ,unlogisch‘ sein müssen, aber sie basieren auch nicht auf den strengen Voraussetzungen zur Feststellung einer logischen Wahrheit. Einige Fallbeispiele sollen die Vernachlässigung des logischen Hintergrunds im Alltag illustrieren: Bilden von Wahrheitswerten für zusammengesetzte Aussagen: ,Ich gehe zur Arbeit und wenn ich krank bin, bleibe ich zuhause.‘ ,Ich gehe zur Arbeit oder ich bleibe zuhause, wenn ich krank bin.‘ Unterscheiden von Konjunktionen und Booleschen Verknüpfungen: ,Ich gehe Äpfel und Birnen kaufen.‘ ,Ich gehe Äpfel oder Birnen kaufen.‘ ,Ich gehe {Äpfel or Birnen} kaufen.‘²⁰² Unterscheiden von kausalen und temporalen Ursachen: ,Falls es regnet, wird die Erde nass.‘ ,Wenn es regnet, wird die Erde nass.‘ ,Die Erde wird nass, falls es regnet.‘ ,Die Erde wird nass, wenn es regnet.‘ Unterscheiden von notwendigen und hinreichenden Bedingungen: ,Ist Regen notwendig oder hinreichend dafür, dass die Erde nass wird?‘ Verwenden zulässiger und unzulässiger All-Aussagen: Welchen Unterschied macht es, ob ein Kölner sagt: ,Alle Düsseldorfer sind fleißig‘ oder ob dies ein Düsseldorfer sagt? Verwenden umgangssprachlicher und logischer Verneinungen für Aussagen wie ,Alle x sind/haben y.‘. Wie lautet die korrekte Verneinung? ,Kein x ist/hat y.‘ ,Es gibt ein x, das nicht y ist/hat.‘

Wegen ihrer besonderen Bedeutung soll die Unterscheidung von ,notwendig‘ und ,hinreichend‘ genauer betrachtet werden. Eine notwendige Bedingung ist eine Voraussetzung, ohne die ein Sachverhalt nicht eintritt. Sie muss zwingend erfüllt sein. Ist die notwendige Bedingung nicht erfüllt, so kann der entsprechende Sachverhalt auch nicht eintreten. Das heißt im Umkehrschluss aber nicht, dass der Sachverhalt nicht auch dann ausbleiben könnte, wenn die notwendige Bedingung erfüllt wäre. Beispielsweise ist es für

202 Das Symbol ,or‘ steht hier für den logischen Operator ,oder‘.

4.6 Schlussfolgern

| 127

Junggesellen notwendig, unverheiratet zu sein. Allerdings sind nicht alle unverheirateten Menschen auch Junggesellen (vgl. Säuglinge, Verwitwete). Eine hinreichende Bedingung ist eine Voraussetzung, bei deren Erfüllung ein Sachverhalt zwangsläufig eintritt. Tritt die hinreichende Bedingung ein, so muss der entsprechende Sachverhalt auch eintreten. Das heißt nicht, dass der Sachverhalt nicht auch auftreten kann, wenn die hinreichende Bedingung nicht erfüllt ist. Eine nachgewiesene und geahndete Geschwindigkeitsüberschreitung bestimmter Größenordnung ist hinreichend für einen Bußgeldbescheid. Sie ist dafür aber nicht notwendig, denn auch andere Regelverstöße im Straßenverkehr führen zu Bußgeldbescheiden. Als Faustregel gilt, dass es im Allgemeinen schwieriger ist, notwendige Bedingungen zu formulieren als hinreichende anzugeben. Es sei noch erwähnt, dass man zwei Sachverhalte als äquivalent betrachtet, wenn sie sowohl notwendig als auch hinreichend füreinander sind. Dieser Fall ist bekannt aus mathematischen Beweisführungen. Im Alltagsleben spielt die Äquivalenz keine große Rolle. Für die Frage ,Ist Regen notwendig oder hinreichend dafür, dass die Erde nass wird?‘, lässt sich nun feststellen: Regen ist nicht notwendig, damit die Straße nass wird. Es gibt viele andere Möglichkeiten, eine Straße nass zu machen. Ist Regen also vielleicht hinreichend für eine nasse Straße? Analysiert man die Situation gründlicher, zeigt sich, dass Regen auch nicht hinreichend ist, weil sich die Straße (oder ein für die Feststellung relevanter Teil davon) beispielsweise in einem Tunnel oder unter einer Brücke befinden kann. Was hinreichende oder notwendige Bedingungen für eine resultierende Nässe einer Straße sind, bedarf somit einer präziseren Beschreibung, denn die Verwechslung der beiden Bedingungen zieht Missverständnisse und falsche Schlussfolgerungen nach sich: Aussage 1: ,Wenn es geregnet hat, ist die Straße vor meinem Haus nass.‘ Aussage 2: ,Es hat nicht geregnet, also ist die Straße vor meinem Haus nicht nass.‘

Bei der zweiten Aussage handelt es sich um einen Fehlschluss. Wie gesehen, ist Regen keine notwendige Bedingung dafür, dass die Straße nass ist. Aussage 1: ,Wenn es geregnet hat, ist die Straße vor meinem Haus nass.‘ Aussage 2: ,Die Straße vor meinem Haus ist nass, also hat es geregnet.‘

Auch hier handelt es sich bei der zweiten Aussage um einen Fehlschluss, da es für die nasse Straße hinreichend ist, wenn der Nachbar mit einem Gartenschlauch Wasser auf die Straße gespritzt hat. Ein spezieller Bereich des Beurteilens auf der Grundlage von Schlussfolgerungen berührt das Verhältnis von Korrelation und Kausalität. Menschen sind

128 | 4 Elemente Informationeller Kompetenz nicht sehr gut darin, die Wahrscheinlichkeit für das Eintreten eines Ereignisses abzuschätzen. Das unverhoffte Zusammentreffen mit einem lange Jahre nicht gesehenen Menschen während eines Urlaub im Ausland wird für ,einen großen Zufall‘ gehalten, weil die Wahrscheinlichkeit für dieses Ereignis als sehr niedrig eingeschätzt wird. Würden allerdings alle bekannten Faktoren für dieses Ereignis berücksichtigt – jeweilige Motivation für die Reise, gemeinsame Interessen und Vorlieben, vorgegebene Ferienzeiten usw. –, wäre es vielleicht gar nicht mehr so unwahrscheinlich, dass es zum Zusammentreffen kommt. Die für das Schlussfolgern nicht einfache Trennung von Korrelation und Kausalität betrifft auch die Interpretation und Aussagekraft von Statistiken. Die Korrelation zwischen den dort gemessenen und in Relation gebrachten Messgrößen wird häufig allzu rasch für Kausalität gehalten. Ob zwischen dem Krankenstand und dem durchschnittlichen Wasserverbrauch eines Vier-Personen-Haushalts im Jahr 2015 eine Korrelation besteht oder ein kausaler Zusammenhang, hängt von zahlreichen Bedingungen ab und entzieht sich daher einer einfachen Beurteilung. Sachgerechtes Schlussfolgern hat für unser Thema unter anderem deshalb eine so große Bedeutung, weil es als Schließen unter Bedingungen ein unverzichtbarer Kernbestandteil des Entwerfens von Algorithmen ist. Wenn kognitives Denken ein Verständnis der Arbeitsweise von Algorithmen umfassen soll, dann darf schlussfolgerndes Denken keine ungewohnte Vorgehensweise sein.

4.7 Strukturieren und Ordnen Die bislang beschriebenen Fähigkeiten bilden die Basis für die allgemeinere kognitive Fähigkeit des Strukturierens und des Systematisierens. Sie erlaubt es, Zusammenhänge, Muster oder Ordnung zu erkennen.²⁰³ Damit unterstützt diese Funktion Erkenntnisvorgänge über die Objekte und Phänomene der Welt. Strukturieren und Selektieren ermöglichen das situationsangepasste Unterscheiden des Wichtigen vom Unwichtigen. Ohne diese zentrale Fähigkeit würden wir keine Lernprozesse durchführen können und uns in der Welt nicht zurecht finden. Für die Externalisierung von Wissen als Potenzielle Information und deren Rezeption haben Strukturieren und Ordnen einen Werkzeugcharakter. Das Erkennen von Zusammenhängen, Mustern und Ordnungen schafft erst die Voraussetzung für das Organisieren von Objekten oder Sachverhalten. Dadurch können konkrete Anforderungen der

203 Vgl.: Bowker/Star: Sorting things out; Weinberger: Everything is miscellaneous; deutsch: Weinberger: Das Ende der Schublade.

4.7 Strukturieren und Ordnen

| 129

Praxis bedient werden, wenn beispielsweise eine Ordnung von Objekten hergestellt werden soll. Im Rahmen der üblichen Auffassungen von Informationskompetenz gelten die damit verbundenen Fragen als gelöst und beherrschbar – mindestens im professionellen Kontext. Dies ist eine Fehleinschätzung, die das Thema für die Bestimmung von Informationeller Kompetenz besonders interessant macht. Einige Beispiele: Bestehende Ordnungen erfordern immer wieder die Integration neuer Gegenstands- oder Wissensbereiche in die bereits entwickelte systematische Struktur. Man muss hierbei gar nicht an professionelle Einrichtungen wie Warenlager, Bibliotheken oder Archive denken. Auch die häusliche Umgebung bietet genügend Alltagssituationen, in denen ein neues Objekt auf eine bestehende systematische Ordnung trifft. Man wünscht sich in der Regel ein inkrementelles Hinzufügen ohne Veränderung der vorhandenen Ordnungsverhältnisse. Leider ist dies nicht immer möglich. So wird zum Beispiel die häusliche Ordnung schon durch den banalen Umstand gestört, dass ein neu erworbener Kochtopf am vorgesehenen Ort keinen Platz findet, weil zum Beispiel der Abstand zwischen den Regalböden nicht ausreicht. Man wird zur Behebung des Problems keine neue Küche kaufen wollen, sondern Kompromisse suchen, die gegebenenfalls zu Lasten der bestehenden Ordnungsstruktur gehen: Der Kochtopf muss sich beispielsweise mit einem Platz fernab aller anderen Kochtöpfe begnügen und wird sich dann außerhalb der bestehenden Ordnung befinden. Das verdeutlicht, wie störanfällig ein Ordnung erhaltendes Vorgehen sein kann. Vergleichbares gilt für alle Arten von Sammlungen konkreter aber auch elektronischer (virtueller) Objekte. Erschwert werden die Bemühungen um einheitliche Ordnungssysteme, wenn es sich um Objekte handelt, die im Laufe der Zeit ihren Medienträger gewechselt haben, wie es bei Tonträgern, Fotografien und auch Büchern der Fall ist. Eine wohlorganisierte Sammlung materieller Tonträger, Schallplatten aller Größen, CDs, DVDs ist zur Aufnahme von Musik-Dateien ungeeignet; Fotoalben lassen sich nicht um digitale Fotos ergänzen; Bücherregale sind kein Aufbewahrungsort für E-Books. Derartige Medienbrüche verhindern die Schaffung eines einheitlichen Organisationsrahmens außerhalb des eigenen Kopfs. Neben diesen formalen Störfaktoren für das Schaffen stabiler Ordnungen gibt es auch inhaltliche Probleme. Bei hinreichender Dauer des Bemühens um eine stabile Ordnung von Objekten oder Sachverhalten wird früher oder später ein Gegenstand auftauchen, der das Spektrum der bis dahin angewendeten Ordnungskriterien erweitert und damit die gesamte Organisationsstruktur in Frage stellt. Die Systematik der Fotosammlung eines Porträtfotografen wird nicht funktionieren, wenn sein Interesse sich zur Architekturfotografie verschiebt. Mit dem Hinzufügen neuer Objekte, neuer Begriffe und neuer Themen ist in der Regel auch eine

130 | 4 Elemente Informationeller Kompetenz neue Sicht auf die Gesamtstruktur der zu systematisierenden Entitäten verbunden. Andere Interessen oder nicht vorhersagbare technische Entwicklungen können Rückwirkungen auf die bisher verwendeten Kriterien haben und sie sogar in Frage stellen. Das kann auch den Wunsch hervorbringen, die ganze Sammlung nach einem erweiterten Kriterienschema neu zu organisieren. Der zunächst kognitiv zu erzeugenden Umordnung im Kopf bereiten diese Fragestellungen weit weniger Schwierigkeiten als deren nachfolgende praktische Realisierung. Solche Umbrüche gibt es auch in größeren Maßstäben. Es gibt eine gewisse Vertrautheit mit der Systematik von Tieren und Pflanzen, wie sie von Carl von Linné entwickelt wurde. Diese stützte sich auf das Kriterium, welche Arten in der Lage sind, gemeinsame Nachkommen zu erzeugen. Auch heute werden noch immer neue Arten entdeckt, die in die bestehende Struktur integriert werden. Einen völlig anderen Ansatz für eine solche Systematik hat die Genforschung entwickelt, was dazu führen kann, dass sich zukünftig grundsätzlich andere Vorstellungen über Tier- und Pflanzenverwandtschaften ausbilden werden.²⁰⁴ Bis heute ist keine methodische Vorgehensweise bekannt, wie ein solcher Perspektivwechsel unter Erhalt der bestehenden Ordnung durchgeführt werden kann. Eine Lösung bietet in der Regel nur die vollständige Neuorganisation, eine ungeliebte Vorgehensweise, weil sie mit großem Aufwand verbunden ist. Daher gelten systematische Strukturen als anfällig für Veralterungsprozesse und man sucht stattdessen gern Zuflucht in einer Alphabet gestützten Ordnung. Die dynamische Anpassung verbaler Begriffsrepräsentationen in alphabetischen Sortierungen stellt jedoch keine grundsätzlich leichtere Aufgabe dar. Nimmt man die sprachliche Entwicklung so hin, wie sie passiert (dies ist das derzeitige Modell der gängigen Suchmaschinen), findet ein sprachliches Label immer nur einen zeitlichen Ausschnitt der hierdurch repräsentierten Inhalte. Dies kann vorteilhaft sein, es kann aber auch zum Verlust relevanten Materials führen. In jedem Fall sinkt mit der Größe des Zeitfensters die Möglichkeit zu einem umfassenden Finden. Zeitübergreifende Repräsentation durch sprachliche Ausdrücke bei gleichzeitiger Repräsentation begrifflicher Zusammenhänge ist nicht ohne eine systematisierende Vorgehensweise zu erreichen und führt dann wieder zu den beschriebenen Schwierigkeiten.

204 Vgl. für einen Einstieg in das Thema: Systematik (Biologie) [Wikipedia].

5 Informationelle Kompetenz in Aktion Der Wiedergewinn unseres Vertrauens in unsere eigene Denk- und Traumfähigkeit ist notwendig, um ein vieldimensionales Menschenbild (wieder?) herzustellen. Joseph Weizenbaum²⁰⁵

5.1 Abstrahieren und plausibles Schlussfolgern Die kognitiven Voraussetzungen Informationeller Kompetenz stehen nicht isoliert nebeneinander, sondern sind vielfältig miteinander verbunden. Aktiviert werden sie üblicherweise nicht in einfachen und schematischen Situationen sondern in mehr oder weniger komplexen Kontexten des Lebens. Die Fähigkeit zum Abstrahieren und plausiblen Schlussfolgern wird beispielsweise häufig bei einer kritischen Auseinandersetzung mit Themen von allgemeiner Bedeutung benötigt. Seit mehreren Jahren gibt es eine teilweise aufgeregte Debatte um ,Fake News‘ und ,Alternative Fakten‘, die unter anderem etwas damit zu tun hat, dass sich die Medienbranche durch die schnellen Postings sozialer Netzwerke zum aktuellen Weltgeschehen einer bedrohlichen Konkurrenz gegenüber sieht.²⁰⁶ Teilweise entsteht der Eindruck, dass die Debatte von einem kollektiven Verlust der Fähigkeit geprägt ist, mittels Plausibilität selbst zu schlussfolgern. Weniger Aufgeregtheit und eine Stärkung der individuellen Beurteilungsfähigkeit – der Informationellen Kompetenz als gelebter Informationeller Autonomie – sind dabei geeignetere Maßnahmen für den Umgang mit Fake News als das Lamentieren über Bedeutungsverluste der eigenen Branche.²⁰⁷ In mancher Hinsicht ähneln Fake News den Spam-Mails, die beispielsweise gegen Vorauszahlung eines Geldbetrags die anteilige Ausschüttung einer exorbitanten Erbschaft versprechen.²⁰⁸ Eng verwandt damit ist auch die sich alljährlich wiederholende Sitte, jemanden ,in den April zu schicken‘. Sie zeigt, dass die hinter den Fake News liegenden Mechanismen so tief in der Gesellschaft verwurzelt sind, dass sie für einen Tag sogar zu einer Art

205 Weizenbaum: Computermacht und Gesellschaft, S. 43. 206 Vgl. etwa: Quattrociocchi: Internet; vgl. auch die gründliche Auseinandersetzung in: RussMohl: Die informierte Gesellschaft und ihre Feinde; Hauff-Hartig: Fehl-, Falsch- und Desinformation aus dem Blickwinkel der Informationswissenschaften. 207 Vgl. auch: Bredemeier: Was sagt uns die Debatte zu ,Fake News‘ über die Qualität unserer etablierten Medien? 208 Vgl. zum Thema etwa den Beitrag: Ebert: Was wäre, wenn Spammails intelligenter formuliert wären? https://doi.org/10.1515/9783110620221-005

132 | 5 Informationelle Kompetenz in Aktion ,Volkssport‘ werden können. Sie zeigt auch, dass das Erkennen eines Aprilscherzes, also das Durchschauen des Fakes, eine nach wie vor vorhandene menschliche Fähigkeit ist, die Respekt und Anerkennung findet. Manche halten es für denkbar, dass die vollständige Kenntnis aller Fakten ausreichen würde, um Fake News zu identifizieren. Doch auch vermeintlich vollständige Fakten können manipuliert sein, wenn es um macht- und interessengeleitete Motive geht. Seit es möglich ist, Fake News für die Verfolgung eigener Interessen einzusetzen, hat deren gezielte Verwendung zwecks bewusster Manipulation eine neue Qualität erreicht. Ebenso bedenklich sind sich fast unbemerkt einschleichende Gewöhnungsprozesse, die auch vor den etablierten Qualitätsmedien nicht Halt machen. So ist es beispielsweise inzwischen üblich, dasselbe Bildmaterial für verschiedene Beiträge zu verwenden. Besonders problematisch ist hierbei, wenn das Bildmaterial seines ursprünglichen Kontexts beraubt und durch Kommentierung verfremdende Kontexte oder Wertungen erzeugt werden. Hierdurch wird die Grenze zur Manipulation gestreift oder sogar überschritten. In den Tagesthemen vom 30.03.2018²⁰⁹ und 31.03.2018²¹⁰ wurden beispielsweise ,identische‘ Sequenzen der Videoaufzeichnungen eines Beschusses palästinensischen Gebiets im Gaza-Streifen durch gepanzerte israelische Fahrzeuge gezeigt. Im begleitenden Wortkommentar wird der Vorgang in der Erstsendung als Beschuss mit Tränengasgranaten beschrieben („Die israelische Armee reagiert unter anderem mit Tränengas.“); die Wiederverwertung am Folgetag spricht stattdessen von der Verwendung scharfer Munition („Denn die Grenze, das macht Israels Premierminister Netanyahu noch einmal klar, ist eine rote Linie, die Israel mit aller Härte verteidigt, auch mit scharfer Munition.“).²¹¹ Ist das noch seriöser Journalismus oder nur ein Ausrutscher? Ist das eine Vorstufe von Fake News oder bereits mehr? Der Fall des Spiegel-Journalisten Claas Relotius, dessen frei erfundene Reportagen mehrfach mit Preisen ausgezeichnet wurden, hat eine neue Dimension des Problems aufgezeigt.²¹² Journalisten werden mit Handlungsoptionen konfrontiert, die sie aus ethisch-moralischen Überlegungen oder professionellen Standards kritisieren und ablehnen müssten. Gleichzeitig gibt es realistische Erfolgsaussichten und möglicherweise sogar Bewunderung für das Überschreiten von Grenzen. Als 209 Tagesthemen 31.03.2018, Min. 02:12-02:15. 210 Tagesthemen 30.03.2018, Min. 05:50-06:00. 211 Vgl. auch das Nachrichtenarchiv der Tagesschau: Palästinenser-Proteste [Tagesschau]; Nach Gewalt in Gaza [Tagesschau]. 212 Vgl.: In eigener Sache [Spiegel Online]; sowie den Abschlussbericht der Aufklärungskommission: Fehrle/Höges/Weigel: Der Fall Relotius.

5.1 Abstrahieren und plausibles Schlussfolgern

| 133

Kompromiss wird der eigene Erfolg durch die Verletzung der Normen auf niedrigem Niveau gesucht. Das Gefühl der Geborgenheit in einer Gruppe gleich Orientierter kann diese Neigung noch bestärken. Beobachtungen nähren den Verdacht, dass es sich um ein anhaltendes Phänomen handeln könnte, wenn nicht gegengesteuert wird. Die öffentliche Diskussion um Fake News hingegen hat inzwischen durchaus Wirkung gezeigt. 2018 wurde von der Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers (PwC) unter 1.000 Bundesbürgern eine repräsentative Umfrage zum Thema ,Vertrauen in Medien‘ durchgeführt.²¹³ Nach dieser Studie misstrauen die Bundesbürger den Medien, insbesondere den sozialen Netzwerken. Der Glaube an den Wahrheitsgehalt der Medien ist bei einem Drittel der Nutzer in den vergangenen zwei Jahren gesunken; wieder verbuchen die sozialen Netzwerke den größten Verlust. Nur 18 Prozent trauen Facebook. Am besten schneiden öffentlich-rechtliche Sender und Printmedien ab. 56 Prozent der Bundesbürger nutzen Tages- und Wochenzeitungen als Informationsquelle. 54 Prozent derjenigen, die ,News‘-Dienste von Sozialen Medien nutzen, lesen die Beiträge von Zeitungen. Für ein Social-Media-Angebot wollen die meisten Bundesbürger kein Geld ausgeben. Wenn sie wählen könnten, würden sie lieber auch nicht mit ihren Daten bezahlen, sondern die Finanzierung durch Werbung bevorzugen. Im Gegensatz dazu sehen 44 Prozent der 30- bis 39-Jährigen das optimale Geschäftsmodell darin, dass ihre Daten an andere Unternehmen verkauft werden, damit das soziale Netzwerk weiterhin kostenfrei bleiben kann. Verbesserungsmöglichkeiten werden vorwiegend in Kontrollmechanismen gesehen, die eine Verbreitung von Hass- und Falschmeldungen verhindern. Die Verantwortung für die Verbreitung von Fake News schiebt die Hälfte der Befragten den sozialen Netzwerken zu. Nur acht Prozent sehen eine Mitverantwortung bei den Nutzern. 30 Prozent halten es für die Aufgabe der Nutzer, Maßnahmen gegen Datenmissbrauch zu ergreifen. 32 Prozent sehen den Gesetzgeber in der Pflicht. Nicht die Fake News sind das Problem, sondern die Art und Weise, wie mit ihnen umgegangen wird. So konnten sie von einem Minderheitsphänomen zu einem Mehrheitsphänomen werden. Und das ist auf der Rezipientenseite – nicht allein auf der Erzeugerseite – in erster Linie ein Problem Informationeller Kompetenz: Ein Rezept, mit dem man Fake News erkennt, gibt es noch nicht. Bader und Rinsdorf sind aber auf der Suche danach. Im Moment analysieren sie Tausende Fake News auf auffällige Textmerkmale. Anschließend sollen Algorithmen programmiert werden, die in Sekundenschnelle erkennen, mit welcher Wahrscheinlichkeit es sich um eine gefälschte Nachricht handelt. Bader und Rinsdorf: ,Wer die Nachrichtenvielfalt nutzt, sich breit informiert und In-

213 PricewaterhouseCoopers: Vertrauen in Medien.

134 | 5 Informationelle Kompetenz in Aktion formationen im Netz mit einer gewissen Grundskepsis begegnet, kann Fake News schneller durchschauen‘.²¹⁴

Zwar wird durchaus erkannt, dass die Stärkung intellektueller Fähigkeiten zur Identifizierung falscher oder verzerrter Darstellungen beiträgt und damit der richtige Weg ist. Dennoch werden für diese Aufgabe lieber Algorithmen entwickelt, obwohl klar ist, dass diese nach einer gewissen Zeit wieder wirkungslos sein werden. Schon die mittlerweile als klassisch zu bezeichnenden medialen Fakes – man erinnere sich an die Rezeption von Orson Wells Hörspiel Krieg der Welten aus dem Jahr 1938 – konnten nur funktionieren, weil eine hinreichend große Zahl von Personen die Realität des entsprechenden fiktionalen Inhalts für möglich hielt. Wissenschaft und Fake News sollten eigentlich keine Gemeinsamkeiten haben. Das wissenschaftliche Publikationssystem mit seinem Peer Review-Prozess, einem etablierten Gutachterverfahren, wurde schließlich geschaffen, um die Qualitätskontrolle vor der Veröffentlichung zu garantieren. Dennoch schaffen es auch zwanzig Jahre nach einer entlarvenden Untersuchung wie der Sokol-Affäre²¹⁵ immer wieder groteske Darstellungen in renommierte Fachzeitschriften.²¹⁶ Natürlich ist es berechtigt, von seriösen Akteuren zu erwarten, dass sie keine Fakes in die Welt setzen. Zwischen offenkundigen Falschmeldungen und nur schwer zu erkennenden kleineren Manipulationen gibt es allerdings ein breites Spektrum für Fake News. Meist dient deren Verbreitung der Verfolgung von Zielen, die nicht offengelegt werden. Das Überlisten der mangelhaften Qualitätskontrolle im wissenschaftlichen Publikationsprozess durch eine Fake-Studie dient immerhin der Aufdeckung eines Missstands. Dass politische Akteure beim Einsatz von Fake News hehre Ziele verfolgen, ist dagegen eher unwahrscheinlich. Wenn Fake News ein Instrument zur Manipulation sein sollen, werden sie versuchen, ihren wahren Charakter zu verbergen. Dabei gilt ein Grundsatz, den Elmar Holenstein so formuliert hat: Gefährlicher als plumpe und schlichte Unwahrheiten sind Halbwahrheiten.²¹⁷

Eine Studie der Columbia University²¹⁸ weist nach, dass Menschen in Gesellschaft von Mitmenschen weniger dazu neigen, Informationen und Aussagen auf ihren

214 215 216 217 218

Dupont: Falsch! Sokal-Affäre [Wikipedia]. Mühlbauer: Konzeptueller Penis als Ursache für den Klimawandel. Holenstein: Kulturphilosophische Perspektiven, S. 300. Vgl.: Jun/Meng/Johar: Perceived social presence reduces fact-checking.

5.2 Suchen und Finden

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Wahrheitsgehalt oder auf Stimmigkeit zu prüfen. Wer allein ist, liest dagegen kritischer. Dies gilt auch dann, wenn keine direkte soziale Interaktion stattfindet, sondern andere Menschen lediglich als stumme, aber anwesende Personen in der virtuellen Umgebung eines sozialen Netzes präsent sind. Zusätzliche Kontrollmechanismen werden nicht dafür sorgen, dass unsere eigene Fähigkeit zur Bewertung von Informationen entbehrlich wird. Im Gegenteil: angesichts neuer technischer Möglichkeiten wird sie gestärkt werden müssen. Abstraktion und die Überprüfung von Sachverhalten auf Plausibilität sind dafür eine wichtige Basis. In einer Presskampagne des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik vom Juni 2018 zum Umgang mit Mail-Anhängen ist unter der Überschrift ,Gesunder Menschenverstand: Drei Sekunden für mehr E-Mail-Sicherheit‘ dokumentiert, wie gering inzwischen die Zuversicht geworden ist, breite Nutzerschichten könnten solche Plausibilitätsbetrachtungen anstellen: Mit einem 3-Sekunden-Sicherheits-Check können die Risiken bereits gemindert werden. Absender, Betreff und Anhang sind hierbei drei kritische Punkte, die vor dem öffnen jeder E-Mail bedacht werden sollten. Ist der Absender bekannt? Ist der Betreff sinnvoll? Wird ein Anhang von diesem Absender erwartet? In Kombination liefern diese Fragen einen guten Anhaltspunkt, um zu entscheiden, ob die E-Mail als vertrauenswürdig einzustufen ist. In vielen Spam-Mails ist der Betreff bewusst vage formuliert, wie ,Ihre Rechnung‘, ,Mahnung‘ oder ,Dringende Nachricht‘. Hier gilt es besonders kritisch zu hinterfragen, ob eine Nachricht vom jeweiligen Absender sinnig erscheint, insbesondere wenn Mail-Anhänge beigefügt sind. Erhalten Sie beispielsweise eine E-Mail mit dem Betreff ,Rechnung‘ von einem Online-Shop, bei dem Sie registriert sind, ohne dass Sie eine Bestellung erwarten, könnte dies ein Hinweis für eine Spam-Mail sein. Hinterfragen Sie jede E-Mail: Ergibt die Überprüfung der drei Checkpunkte Absender, Betreff, Anhang insgesamt kein stimmiges Bild, rät das BSI E-Mails noch vor dem öffnen zu löschen. Im Zweifelsfall sollten Sie vor dem öffnen persönlich beim Absender nachfragen, ob er eine E-Mail geschickt hat.²¹⁹

5.2 Suchen und Finden Durch die Internet-Suchmaschinen ist das Suchen und Finden in Informationsumgebungen zum alltäglichen Vorgang geworden und längst nicht mehr nur die Domäne von Spezialisten mit Fachkenntnissen. Ungeachtet aller Verbesserungen und Vereinfachungen bei diesen Such- und Findeprozessen, stößt man dabei auf ein grundsätzliches Problem: Es ist nicht möglich, das Ausmaß des NichtGefundenen zu bestimmen. Nur in professionellen Testumgebungen ist es bisher

219 3-Sekunden-Sicherheits-Check [BSI für Bürger].

136 | 5 Informationelle Kompetenz in Aktion gelungen, diese prinzipielle Unmöglichkeit zu umgehen und Faktoren für Verbesserungen der Such- und Findefunktionen zu ermitteln.²²⁰ Die Ergebnisse dieser Studien belegen, dass der Anteil des Nicht-Gefundenen am Suchergebnis immer größer ist als Nichts; dass es also immer Dokumente oder Informationen gibt, die man nicht gefunden hat. Von dieser Unsicherheit kann man sich nicht befreien. Die Annahme ,Ich habe Zugriff auf ein Informationssystem, das mir für meine Frage alles Zutreffende liefert‘ ist reine Fiktion. Der gegenwärtige Forschungsstand lässt nicht erkennen, dass sich an dieser Situation in näherer Zukunft etwas ändern könnte. An Vollständigkeit orientierte Suchen verlangen eine äußerst aufwendige Vorgehensweise. Diese besteht aus vielen Einzelschritten und benötigt neben der maschinellen Prozessierung komplexer Algorithmen auch Vorgaben des Suchenden, die profundes Hintergrundwissen und Alltagskenntnisse erfordern. Die Abschätzung des Nicht-Gefundenen kann hierbei nur Schritt für Schritt durch Plausibilitätsüberlegungen, die Anwendung von Alternativ-Strategien oder die Nutzung weiterer Hilfsmittel erfolgen. Gründe für die prinzipielle Unvollständigkeit von Suchergebnissen gibt es viele. Selbst wenn das Informationssystem alles relevante Material enthalten würde, wäre das Suchergebnis lückenhaft. Es bedarf beispielsweise nur eines kurzes Tests, um festzustellen, dass mit der Eingabe ,Französisches Jugendstil-Interieur‘ bei Google viele Treffer gefunden werden. Das Ausmaß der Vollständigkeit aber ist nicht zu ermitteln; ebenso wenig sind es die Kriterien für die Zusammenstellung der Treffermenge. Klar ist nur, dass die Auswahl ,einer‘ spezifischen Suchformulierung gleichzeitig viele andere ausschließt. Andere Suchbegriffe könnten Synonyme, generische Über- oder Unterordnungen und Assoziationen mit unterschiedlicher semantischer Nähe sein. Sie alle in einer Suche zu berücksichtigen, ist nicht möglich. Hilfestellungen bei der Formulierung von Suchanfragen könnten durch die semantische Modellierung begrifflicher Zusammenhänge in einer geeigneten Darstellung angeboten werden. Das ist ein aufwendiges Vorgehen, das den aktuellen Trends nicht entspricht. Heutige Suchmaschinen liefern vielmehr gute Beispiele dafür, wie intellektuelle Vorgehensweisen durch Wort basierte automatisierte Analysen ersetzt werden. Begriffliche Zusammenhänge sollen aus der statistischen Analyse des gemeinsamen Auftretens abgeleitet werden. Das allgemeine Stichwort lautet hier Big Data, also die Vorstellung, dass differenzierte Analysen der schieren

220 In erster Linie können hier die Ergebnisse der TREC-Studien und die dafür eingesetzte Pooling-Methode genannt werden (https://trec.nist.gov/) sowie für einen Überblick: Voorhees/ Harman: TREC.

5.2 Suchen und Finden

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Masse Qualität erzeugen. Noch ist der Beleg nicht erbracht, dass deren unbestreitbare Erfolge auf Bezugsfelder mit hohem semantischen Gehalt übertragen werden können. Noch liegen keine Studien vor, die belegen würden, dass intellektuelle Vorgehensweisen überflüssig werden. Noch kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass durch den Verzicht auf eine intellektuelle Modellierung die Zahl der Fehler steigt und eines Tages nicht mehr tolerierbar ist. Die prinzipielle Unvollständigkeit von Suchvorgängen in Suchmaschinen ist kein Fehler sondern eine Systemeigenschaft. Die von Suchmaschinen eingesetzten statistischen Analysen der Dokumenteigenschaften oder der in Suchanfragen benutzten Wörter können die Unvollständigkeit nicht kompensieren. Entscheidend für die Suchmaschinenbetreiber ist, dass man das Gefundene als Erfolgserlebnis wertet und sich zufrieden zeigt – eine Einstellung, die allgemein verbreitet ist. Ein kritischer Blick wird sich erst dann einstellen, wenn die Ergebnismengen für Suchen nach demselben Thema mit derselben Fragestellung zu verschiedenen Zeiten oder auf verschiedenen Rechnern variieren oder wenn Ergebnisse bekannt sind, die nicht angezeigt werden. Da eine Google-Suche – als paradigmatisches Beispiel für Suchmaschinen – zwar prinzipiell Algorithmus basiert abläuft, die berücksichtigten Parameter aber individualisiert gesetzt werden und nur Google bekannt sind, bleibt das Suchergebnis intransparent. In welchem Umfang dies als Beeinträchtigung der eigenen Interessen angesehen wird, ist sicher individuell verschieden. Die einzige Möglichkeit, etwas dagegen zu unternehmen, besteht in der eigenständigen Überprüfung und in der Herstellung von Plausibilität. Ergebnisbewertung Alternativ zu einer Suche nach allen verfügbaren Ergebnissen kann auch die Suche nach den besten oder den für mich zweckmäßigsten das Ziel sein. Nur das Beste zu ermitteln, setzt allerdings voraus, dass vorher alles gefunden wurde. Sonst kann es nur das Beste unter dem Gefundenen sein. Hätte man Zugang zur gesamten Treffermenge einer Suchanfrage, könnte man das Beste selbst bestimmen. Hat man keinen Zugang, bleibt die Ermittlung des Besten dem Algorithmus der Suchmaschine überlassen. Es kann also keine befriedigende Antwort auf die Suche nach dem Besten mit Hilfe einer Suchmaschine geben, sondern immer nur das relativ Beste aus dem Angebot konkurrierender Suchmaschinen. Das für mich Zweckmäßigste kann ein Algorithmus ohnehin nicht bestimmen, wenn er keine Vorgaben über Parameter hat, die eine persönliche Präferenz charakterisieren. Häufig wird gefordert, die gefundenen Dokumente sollten ,relevant‘ sein, die vorhandenen Fragen beantworten oder zur Bearbeitung eines Problems beitragen. Diese Anforderungen sind aber nicht für alle Suchenden gleich, sondern hängen beispielsweise von den jeweiligen Vorkenntnissen oder der Situation ab, die An-

138 | 5 Informationelle Kompetenz in Aktion lass für die Suche war. Der für die Ergebnisbewertung zentrale Begriff der Relevanz ist dabei nicht leicht zu charakterisieren.²²¹ Für Algorithmen kann er nur in einem objektivierten Sinn berücksichtigt werden, für Menschen wird er immer auch eine subjektive Dimension haben.²²² Diese subjektive Bewertung bezeichnet man im fachlichen Kontext auch als Pertinenz.²²³ Häufig werden die Konzepte Relevanz und Pertinenz nicht scharf getrennt. Die objektive Interpretation von Relevanz wird in der Regel an der formalen Übereinstimmung von Dokumentparametern mit Anfrageparametern fest gemacht, beispielsweise dem Vorhandensein des für die Suche verwendeten Ausdrucks im Dokument (Suchwort, Metadaten), unabhängig davon, wie gut oder schlecht er mit dem Dokumentinhalt korrespondiert. Diese Bewertung kann in Widerspruch zur subjektiven Interpretation stehen: Das Vorhandensein eines Ausdrucks muss keine zuverlässigen Rückschlüsse auf eine inhaltliche Übereinstimmung mit dem ganzen Dokument zulassen; Metadaten können fehlerhaft zugeteilt worden sein. Studien zur Bewertung von Informationssystemen müssen sich auf Laborbedingungen beschränken und berücksichtigen daher nicht das volle Spektrum aller Suchumgebungen.²²⁴ Die Bemühungen um die Verbesserung von Such- und Findeeigenschaften können sich jedoch nur an objektiven Maßstäben orientieren. Eine Verbesserung der subjektiven Bewertung wird damit nicht zwangsläufig erreicht, ist aber letztlich ebenfalls ein Ziel. Ein wichtiges Hilfsmittel zur Präsentation von Suchergebnissen ist das sogenannte Relevance Ranking. Es hat sich durchgesetzt, seitdem insbesondere bei Web-Recherchen die Zahl der Ergebnisse so groß geworden ist, dass diese im Allgemeinen nicht mehr alle angesehen und bewertet werden können. Die Methode benutzt Algorithmen, die eine Relevanzberechnung für jedes gefundene Dokument vornehmen, um das Suchergebnis sortiert ausgeben zu können. Die relevantesten Dokumente sollen in der Trefferliste als erstes angezeigt werden. Die unterschiedlichen Ranking-Algorithmen stützen sich für die Herstellung der Ergebnisreihenfolge auf die objektive Interpretation von Relevanz und ergänzen

221 Vgl. etwa folgende Beiträge aus der Fachdiskussion: Bookstein: Relevance; Meadow: Relevance?; Schamber: Relevance and information behavior. 222 Das zeigt sich deutlich bei kostenpflichtigen Informationsangeboten (z. B. Fachdatenbanken). Ein Treffer mag noch so relevant sein, wenn er bereits bekannt ist und trotzdem bezahlt werden soll, wird die objektive Dimension vom subjektiven Unmut überlagert. 223 Vgl. zur genaueren Darstellung des Konzepts etwa: Howard: Pertinence as reflected in personal constructs. 224 Vgl. als Überblick: Voorhees/Harman: TREC; Womser-Hacker: Theorie des Information Retrieval III.

5.2 Suchen und Finden

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diese um weitere Parameter. Diese müssen nicht Bestandteil des Dokuments sein, sondern können auch der Einbindung des Dokuments in die Linktopologie des Netzes entstammen, wie es beispielsweise bei der Auswertung der Zitier-Links durch den Google-Algorithmus geschieht. Der Gewinn durch das Relevance Ranking, die vermeintlich besten Ergebnisse am Anfang der Liste vorzufinden, wird durch die Unsicherheit darüber erkauft, was sich am Ende der Liste befindet.²²⁵ Zunächst kann man dies für ein Problem halten, bei dem der Anwender sein Bedürfnis nach einem vollständigen Überblick gegen seine Bequemlichkeit abwägen muss. Problematisch wird es jedoch, wenn das vollständige Suchergebnis gar nicht mehr angezeigt wird, sondern nur noch der Anfang der nach mehr oder weniger bekannten Kriterien sortierten Liste, so wie dies heute in Web-Suchmaschinen gängige Praxis ist.²²⁶ Es besteht kein Zweifel, dass es Larry Page und Sergej Brin gelungen ist, mit dem PageRank einen Algorithmus zu entwickeln und für den Einsatz innerhalb der Suchmaschine Google zu verfeinern, der im Rahmen des für Suchmaschinen eingesetzten Spektrums an Algorithmen Maßstäbe gesetzt hat.²²⁷ Mindestens in seiner prinzipiellen Funktionalität ist dieser Algorithmus bekannt²²⁸, weniger sind es die Gesamtzahl seiner Parameter, seine Berücksichtigung von Daten aus Suchprofilen und deren Justierung bei individualisierten Einstellungen im Rahmen des Einsatzes für die Suchmaschine Google.²²⁹ Die Monopolstellung von Google, die sich daraus ergebende Abhängigkeit und der Mangel an Transparenz müssen sicher kritisch gesehen werden. Man muss aber fairerweise einräumen, dass von einem Wirtschaftsunternehmen nicht die Offenlegung seiner Betriebsmodalitäten erwartet werden kann, noch dazu, wenn das Produkt kostenlos angeboten wird. Keine Bank wird etwas über ihre Algorithmen verraten, die für die Vergabe von Krediten eingesetzt werden. Obwohl häufig von der ,Ware‘ Information die Rede ist²³⁰, gibt es Bereiche, in denen sie lieber als öffentliches Gut gesehen würde. Die Ranking-Algorithmen zur Sortierung von Suchergebnissen sind gute Beispiele für die Anwendung von Plausibilitätsaspekten. Geht es um die maximale

225 Vgl.: Schaer u. a.: How relevant is the long tail? 226 Google zeigt die meist sehr hohe Gesamtzahl aller gefundenen Treffer zwar an, lässt aber eine Ansicht von Trefferseiten nur für einen sehr viel geringeren Teil dieser Treffer zu. Beispiel: Suche nach ,indexierung‘ ergibt ,Ungefähr 343.000 Ergebnisse (0,28 Sekunden)‘; angezeigt werden 208 Ergebnisse auf 22 Trefferseiten; eine Veränderung in den Einstellungen auf ,alle Suchergebnisse anzeigen‘ führt zur Anzeige von 357 Treffern auf 36 Seiten (Suche durchgeführt am 13.05.2019). 227 Brin/Page: The anatomy of a large-scale hypertextual web search engine. 228 Berry: Understanding search engines; Langville/Meyer: Google’s PageRank and beyond. 229 Vgl. z. B.: Fiorelli: Hummingbird unleashed; Haynes: Your Google algorithm cheat sheet. 230 Vgl. Pfister: Ware oder öffentliches Gut?; Georgy: Der Wert von Information.

140 | 5 Informationelle Kompetenz in Aktion Pertinenz eines Suchergebnisses für eine Suchanfrage im Rahmen spezieller Eigeninteressen, kann einem der beste Algorithmus nicht helfen. Auffällig ist, dass sich die Unterscheidung in objektive und subjektive Faktoren zur Bewertung eines Suchergebnisses nicht allgemein durchgesetzt hat und für beide Konzepte weitgehend nur der Ausdruck Relevanz verwendet wird, obwohl ihr Unterschied offensichtlich ist. Um so wichtiger ist es, bekannte Informationen zur Funktionsweise des Algorithmus sowie eigene Erwartungen in Bezug auf Art und Umfang des Ergebnisses für dessen Beurteilung zu berücksichtigen. Die Resultate eines Relevance Rankings müssen durch Plausibilitätsüberlegungen kontrolliert werden, um die Pertinenz beurteilen zu können. Angesichts der Bedeutung, die Such- und Findeprozesse für das berufliche und private Leben gewonnen haben, kann es als Bestandteil Informationeller Kompetenz gesehen werden, über ein geeignetes Repertoire an Vorgehensweisen zur Optimierung von Suchanfragen zu verfügen. Dabei sollte nicht erwartet werden, dass allein die Alltagserfahrung oder die ungeleitete Intuition ausreichen, um die notwendigen Fähigkeiten zu entwickeln. Ihre Aneignung sollte vielmehr zum Gegenstand ernsthafter Bildungsbemühungen gemacht werden. Relevance Feedback Ergebnisbewertungen münden häufig in den Wunsch, die Suchfrage so zu verändern, dass ein Suchergebnis mit höherer Pertinenz erzielt wird. Unzureichende individuelle Fähigkeiten zur Formulierung von Suchanfragen sollten idealerweise durch eine vom Suchsystem angebotene Unterstützung ausgeglichen werden. Damit beschäftigt sich das sogenannte Relevance Feedback. Ein typisches Verfahren des Relevance Feedback ermöglicht eine individuelle Bewertung und Kennzeichnung der angezeigten Treffer als relevant bzw. nicht relevant. Deren Auswertung wird anschließend vom System für eine neue Suche genutzt. Die auf dem Feedback basierende Trefferliste enthält dann solche Dokumente, die den zuvor als relevant bewerteten ähnlich sind. Relevance Feedback ermöglicht die sukzessive Annäherung an das tatsächlich gewünschte Suchergebnis ohne Kenntnisse des Nutzers über die Arbeitsweise des Systems. Bei den wichtigsten Suchmaschinen werden die Möglichkeiten des Relevance Feedback nicht eingesetzt. Einzelne Versuche haben sich langfristig nicht gegen das Algorithmus basierte Ergebnis-Ranking durchsetzen können. Der methodische Ansatz des Relevance Ranking besteht in der Orientierung auf objektivierbare und allgemein verbindliche Parameter, die eine Verbesserung der allgemeinen Relevanz versprechen. Verfahren zur Optimierung der Pertinenz unter Einbeziehung subjektiver Faktoren werden hierdurch nicht erreicht. Um sie zu gestalten, könnte ein erster Schritt darin bestehen, die Steuerungsmöglichkei-

5.3 Medialisierung des Wissens | 141

ten dem Nutzer zu überlassen und auf die Anwenderrechner zu verlagern, statt die Parametrierung ausschließlich und intransparent auf den Servern der Anbieter vorzunehmen.²³¹ Ob dadurch ein Nutzer gesteuertes Pertinenz-Feedback entwickelt werden könnte, ist dennoch fraglich. Selbst im Fall einer methodischen und technologischen Machbarkeit bliebe es eine Gratwanderung zwischen dem Nutzen, der durch die Angabe persönlicher Präferenzen zur Optimierung der Suchergebnisse entstehen könnte und dem potenziellen Schaden durch die dadurch sich ergebenden zusätzlichen Möglichkeiten zum Aufbau von Nutzerprofilen auf Seiten der Systemanbieter. Die Mechanismen des Relevance Feedback machen deutlich, dass Plausibilität ein wichtiger Faktor bei der Bewertung von Suchergebnissen ist. Plausibilität kann nicht durch die Methoden des Relevance Ranking oder durch Big DataAuswertungen ersetzt werden. Deren Erfolg dokumentiert dennoch die zunehmende Dominanz des Formalen gegenüber den Inhalten, der Bedeutung. Diese Dominanz konnte sich erst entwickeln, seit Inhalte mehr und mehr in medialer Form angeboten wurden.

5.3 Medialisierung des Wissens Externalisierung und Rezeption von Form und Inhalt Die Medialisierung von Inhalten ist eine spezielle Form der Externalisierung von Wissen.²³² In Kapitel 3 wurde die Rolle der interpersonalen Kommunikation bei der Rezeption von Information bereits ausführlich behandelt. Die dort diskutierten Konzepte eines inhaltlichen Transfers – konsensuelle Parallelisierung und strukturelle Kopplung – lassen sich nicht auf den Dialog zwischen einem Menschen und einer Maschine (Informationssystem) oder einem anderen Träger medialisierter Information (zum Beispiel einem Video) übertragen. Hier müssen andere Mechanismen die Rezeption medial externalisierter Information ermöglichen. Informationssysteme – besonders jene, die als Wissensspeicher Lernprozesse unterstützen sollen – müssen sich zur Wissensspeicherung einer Externalisierung des kognitiven Wissens bedienen, die zur späteren Rezeption durch kognitive Akteure geeignet ist. In den bislang praktizierten Formen beschränkt man sich jedoch 231 Vgl. auch: Schaat: Von der automatisierten Manipulation zur Manipulation der Automatisierung. 232 Neuerdings wird für die hier gemeinten Zusammenhänge auch der Ausdruck ,Mediatisierung‘ benutzt: „Mit Mediatisierung meinen wir dabei das Vorhandensein von Handlungsfeldern und Sozialwelten, in denen sich die relevanten Formen gesellschaftlicher Praktiken und kultureller Sinngebung untrennbar mit Medien verschränkt haben.“ (Krotz: Mediatisierte Welten).

142 | 5 Informationelle Kompetenz in Aktion häufig auf das meist kontextfreie und strukturschwache Speichern von Daten und Fakten und überlässt es dem Rezipienten, das für eine Wissensgenerierung erforderliche Strukturwissen bereitzuhalten.²³³ In der Medialisierung von Inhalten wird häufig ein grundsätzlicher Vorteil für Rezeptionsvorgänge, insbesondere für Lernvorgänge gesehen. In jüngster Zeit spielt das Thema in der bildungspolitischen Diskussion um die Förderung der Digitalisierung eine Rolle, zuletzt im Rahmen der Verhandlungen zwischen Bund und Bundesländern um den sogenannten Digitalpakt für Schulen. Motivation für die Initiative ist der Glaube an verbesserte Lernerfolge durch Digitalisierung. Dass durch die Medialisierung bessere Voraussetzungen für Lernvorgänge geschaffen werden als bei herkömmlichen Repräsentationsformen, konnte bislang noch nicht schlüssig begründet werden. Die Bearbeitung eines Texts für eine andere mediale Präsentation ist vielfach nur eine rein formale Umgestaltung. Die PDF-Datei eines Lehrbuchs oder die Einszu-eins-Übertragung eines Lexikons in ein E-Book vermitteln keine anderen (oder sogar weniger) Eindrücke als das jeweilige Original. Die Struktureigenschaften der Quelldatei (zum Beispiel Gliederungen, Verweise oder Register) bleiben häufig nicht erhalten. Nur selten werden sie im Hinblick auf die spezifischen Ausdrucksmöglichkeiten des Zielmediums umgearbeitet. Soll Medialisierung eine verstärkte kognitive Anregung bieten, muss sie jedoch über angereicherte Eigenschaften verfügen und darf gleichzeitig nicht auf die Strukturrepräsentation der klassischen Medienformen verzichten. Jeder Medienform – und damit insbesondere auch Büchern oder anderen Texten – kommt eine spezifische Materialität zu. Diese Materialität kann sowohl Gegenstand einer eigenen Betrachtung sein, aber auch Einfluss auf den Rezeptionsvorgang haben. Da zwischen dem Urheber einer medial fixierten Information und dem Rezipienten dieser Information ein (kognitiver) Informationsaustausch stattfindet, sind dessen Mechanismen unter Berücksichtigung unterschiedlicher Medienformen näher zu beschreiben.²³⁴

233 Es gab durchaus Versuche, Alternativmodelle zu entwickeln und anzubieten. Zu nennen wären hier beispielsweise die Brockhaus Enzyklopädie in verschiedenen digitalen Aufbereitungen mit ihrem assoziativen Wissensnetz, vgl. z. B.: Bibliographisches Institut: Brockhaus Enzyklopädie Digital, oder das Projekt Krünitz mit der Digitalisierung der Oekonomischen Encyklopädie von Johann Georg Krünitz, die in besonderer Weise historische Zusammenhänge transparent machen sollte (http://www.kruenitz1.uni-trier.de/home.htm). Markt- oder Publikumserfolge sind derartige Versuche bislang nicht geworden. 234 Vgl. für eine konträre Position etwa: Jochum: Hermeneutik, Dekonstruktion und Information; Jochum: Zur neopositivistischen Bibliothekstheorie.

5.3 Medialisierung des Wissens | 143

Konsensuelle Parallelisierung und Strukturelle Kopplung sind Voraussetzungen für eine erfolgreiche direkte Kommunikation (vgl. Abbildung 3.1). Das Konzept der Konsensuellen Parallelisierung lässt sich allerdings nicht auf die Rezeption externalisierter Information übertragen, weil es keine zwei Partner gibt, die aktiv einen Konsens herstellen könnten. Für die Strukturelle Kopplung muss ein gleichwertiger Ersatz geschaffen werden. Diese Aufgabe ist nicht trivial. Die Frage nach der Rolle des Trägermediums von Information in einem Kommunikationsakt muss erneut gestellt werden. Erschwerend kommt hinzu, dass in einem Dialog zwischen Mensch und medial fixierter Information die Rückkopplung mit einem Test auf Gleichheit nicht möglich ist. Welche Substitute kann man auf der Seite der Informationssysteme für die verschiedenen Faktoren angeben, die den Erfolg zwischenmenschlicher Kommunikation garantieren? Gibt es überhaupt welche? Welches Äquivalent gibt es für die Kommunikation als Korrektiv zur Selbstreferentialität kognitiver Informationsverarbeitung? Als mögliche Bedingung für eine taugliche Simulation der Kommunikationssituation bieten sich die Referenzbereiche an, über die jedes Individuum verfügt, das im Laufe seiner Persönlichkeitsentwicklung Wissenserwerb durchführt. Dies bedeutet zwingend, dass nicht allein informationelle Einheiten medial fixiert werden können, sondern dass ebenso zwingend strukturelle Komponenten eines Referenzbereichs bei der Externalisierung berücksichtigt werden müssen. Nur so kann eine strukturelle Kopplung zwischen der in einem Medium externalisierten Information – und damit diesem Medium selbst – und einem menschlichen Kommunikationspartner modelliert werden, die für die Rezeption medial fixierten Wissens nötig ist (vgl. Abbildung 5.1). In einem Informationssystem mit medial niedergelegtem Wissen kann nicht allen individuellen kognitiven Strukturen entsprochen werden. Es kann nur ein – zudem in der Regel zeitabhängiges und zeitgebundenes – statistisches Modell der Referenzbereiche eingebaut werden, das die Rezeption der externalisierten Information und damit den Wissenserwerb unterstützen soll. Um dauerhaft den gedachten Nutzen zu stiften, müssten die berücksichtigten Referenzstrukturen laufend der Entwicklung angepasst werden. Besondere Probleme bereitet hierbei die mediale Fixierung der in Kapitel 2.4 vorgestellten Referenzbereiche der Kommunikativ vereinbarten Gültigkeit und des Individuellen episodischen Gedächtnisses. Beide Bereiche sind am stärksten von Veränderungen betroffen. Ein System, das Lernvorgänge unterstützen soll, wird also niemals allen individuellen Erfordernissen in gleicher Weise gerecht werden können. Die Grenzen der Berücksichtigung von strukturellen Eigenschaften der Referenzbereiche lassen sich an Fach- oder Allgemeinenzyklopädien studieren. Letztere wenden sich ausdrücklich an ein allgemeines Publikum und haben vielfältige Formen gefunden, die darzustellenden Sachverhalte um mediale Präsentationsfor-

144 | 5 Informationelle Kompetenz in Aktion

Abb. 5.1: Wissenserwerb aus einem Informationssystem.

men anzureichern. Dennoch entspricht es der allgemeinen Erfahrung, dass Artikel zu bestimmten Themen ohne entsprechendes Hintergrundwissen nicht verstanden werden können. So wird beispielsweise ein Artikel zur Heisenbergschen Unschärferelation in einer modernen Allgemeinenzyklopädie einem Fachmann den wesentlichen Kern der Aussage in Erinnerung rufen – in diesem Sinn ist der Artikel sicher richtig. Ein Laie dürfte den Artikel in der Regel jedoch weniger gut verstehen als eine Einführung zum Thema in einem Physiklehrbuch. Der Enzyklopädieartikel setzt für dessen Verständnis den strukturellen Hintergrund voraus, in diesem Fall einen fachlichen Referenzbereich. Diderot und d’Alembert unternahmen mit ihrer Enzyklopädie zum ersten Mal den Versuch, das Wissen der Menschheit in einem systematisch strukturierten Zusammenhang für die Rezeption durch den aufgeklärten gebildeten Menschen zu präsentieren.²³⁵ In der Nachfolge dieser Enzyklopädie erfolgte eine zunehmende Aufgliederung sachlicher Zusammenhänge durch eine alphabetische Ordnung der Artikel. Das alphabetische Ordnungsprinzip unterstützt zwar den raschen Zugriff auf passende informationelle Einheiten, erschwert aber deren Verständnis, wenn der Rezipient nicht über den zugehörigen strukturellen Wissenszusammenhang verfügt. Ein Erwerb des zugrunde liegenden Strukturwissens ist aus der Enzyklopädie modernen Typs kaum noch möglich.

235 Vgl. die Darstellung bei: d’Alembert: Einleitung zur Enzyklopädie von 1751.

5.3 Medialisierung des Wissens | 145

Für jede Form medialer Externalisierung müssen daher neue Referenzstrukturen aufgebaut werden. Soll die in der medialen Externalisierung vorhandene Potenzielle Information in eine für den Rezipienten geeignete Aktuelle Information überführt werden, sind Analogie- und Plausibilitätsüberlegungen nötig. Zur Einordnung in geeignete Referenzstrukturen sind Prozesse der kognitiven Informationsverarbeitung anzustoßen, die das erforderliche, aber möglicherweise noch nicht vorhandene, Strukturwissen aufbauen. Mit den Möglichkeiten zur Externalisierung steigen auch die Zahl und die Vielfalt der in der kognitiven Struktur benötigten Referenzbereiche. Dem entspricht die allgemeine Erfahrung, dass die Rezeption eines neuen Medientyps nicht von vornherein gelingt, sondern erst erlernt werden muss. Wahrscheinlich markieren diese Anforderungen auch die Grenzen der medialen Externalisierung von Information. Die zu verankernde Zahl von Strukturen zur Rezeption kann nicht beliebig gesteigert werden, selbst wenn durch Analogieund Plausibilitätsverfahren Gemeinsamkeiten ermittelt und abstrakte Muster aufgebaut werden. Strukturdeterminierung erfolgt sowohl phylo- wie ontogenetisch zunächst und vor allem über Sinneseindrücke anhand der Auseinandersetzung mit der allgemeinen Lebenswelt: Wissen ist das Ergebnis einer Wirklichkeitskonstruktion. Darüber hinaus beschränkt die ‚Entfernung‘ zwischen einer externalisierten Struktur und der eigenen kognitiven Primärstruktur die Möglichkeit, im Rahmen der kognitiven Plastizität noch einen Rezeptionsvorgang zu realisieren. Aus beiden Bedingungen lassen sich Kriterien für die Güte einer medial externalisierten Information ableiten – beispielsweise in multimedialer Form.²³⁶ Diese grundsätzlichen Rahmenbedingungen jeder medialen Externalisierung führen bei der Vielzahl der zu benutzenden Produkte zu hohen Anforderungen an den Einzelnen. Mit einer zu großen Zahl von Anforderungen umgehen zu müssen und allen gleichermaßen gerecht zu werden, kann zur Überlastung führen – ,Kognitiver Overload‘ hat sich als Bezeichnung für diesen Zustand inzwischen etabliert. Die Möglichkeiten einer multimedialen Präsentation zur Darstellung von Information in ihren strukturellen Zusammenhängen waren mit großen Erwartungen verbunden. Stattdessen setzten die neuen elektronischen Formen von Enzyklopädien die Tendenz zur strukturellen Verflachung durch den Zwang zur bildschirm-

236 Verlässliche Aussagen bedürfen noch einer empirischen Bestätigung. Die bisher in der Literatur vorgestellten Befunde sind uneinheitlich und lassen keine abschließende Bewertung zu, vgl. z. B.: Large u. a.: Multimedia and comprehension [1994]; Large u. a.: Multimedia and comprehension [1995]; Nix/Spiro (Hrsg.): Cognition, education, and multimedia.

146 | 5 Informationelle Kompetenz in Aktion gerechten Darstellung von ,Informationshäppchen‘ fort .²³⁷ Ein eindrucksvolles Beispiel liefert die erste CD-ROM-Ausgabe der Encyclopædia Britannica. Diese Ausgabe besitzt zwar den vollen Textgehalt der Printversion, aber im Vergleich zu anderen elektronischen Allgemeinenzyklopädien kann die mediale Darbietung nur als ungenügend bezeichnet werden.²³⁸ Die neue Verpackung bietet keine dem Medium angepassten Möglichkeiten zur Rezeption der Inhalte. Gegenüber ambitionierten Produkten mit struktureller Qualitätsanreicherung wie der Brockhaus-Enzyklopädie²³⁹ oder dem Projekt Krünitz²⁴⁰ zeigt sich auch bei Web-Versionen wie Wikipedia eine Verflachung der strukturellen Repräsentationstiefe der dargestellten Information.²⁴¹ Die Präferenz des Marktes für frei verfügbare Angebote hat bislang zur Dominanz der wenig strukturhaltigen Produkte über die Produkte mit struktureller Qualitätsanreicherung geführt. Es muss offen bleiben, ob und wann dieser Zustand möglicherweise als Mangel empfunden wird. Die Berücksichtigung von Referenzbereichen für den Rezeptionsvorgang aus externalisierten Quellen führt zu einem erweiterten Verständnis von Potenzieller Information. Potenzielle Information ist externalisierte Information, die für die Zwecke der Rezeption über Berücksichtigung von Referenzbereichen durch Strukturinformation ergänzt ist. Das daraus gewonnene Ergebnis ist dann die Aktuelle Information innerhalb einer kognitiven Struktur. Aktuelle Information ist das kognitive Verarbeitungsmuster eines strukturdeterminierten Systems aus Anlass der Wirklichkeitserzeugung oder des Informationsaustauschs zwischen zwei kognitiven Strukturen im Rahmen eines direkten Kommunikationsakts. Die Aktuelle Information wird auf dem Weg der selbstständigen kognitiven Reaktivierung oder der durch äußere Sinneswahrnehmung angestoßenen Informationsverarbeitung zu einem bestimmten Zeitpunkt bewusst. In der direkten Kommunikation lässt sich deren Erfolg beispielsweise durch eine Handlung überprüfen (,Gib mir bitte den Salzstreuer‘). Für die Rezeption aus externalisierten Quellen ist dies nicht so direkt möglich. Es bedarf eines Kriteriums, das einen Test auf Gleichheit der externalisierten (potenziellen) Information mit der rezipierten (aktuellen) Information erlaubt. Ein solcher Test basiert auf subjektiven Einschätzungen oder Urteilen Dritter, die wiederum von Bedingungen abhängen, die zunächst erfüllt sein müssen – den intern repräsentierten Erfüllungsbedingungen.²⁴² 237 Vgl. die Darstellung in: Gödert: Multimedia-Enzyklopädien auf CD-ROM. 238 Vgl.: Segal: The Britannica and its dongle; Hoffert: The encyclopedia wars. 239 Bibliographisches Institut: Brockhaus Enzyklopädie Digital. 240 http://www.kruenitz1.uni-trier.de/home.htm. 241 Holze: Digitales Wissen, S. 191. 242 Vgl. für das Konzept: Searle: Geist, S. 199.

5.3 Medialisierung des Wissens | 147

Das Konzept der Erfüllungsbedingungen lässt sich am Beispiel einer Alltagsaussage wie ‚Peter trinkt ein Glas Milch‘ erläutern, die keinerlei Verständnisprobleme bereiten dürfte. Dennoch müssen für dieses Verständnis einige Bedingungen erfüllt sein: – – – – –

man muss wissen, dass es eine Person – einen Jungen, einen Mann – gibt, der Peter heißt; man muss wissen, was ein Glas ist, wie es aussieht, welche Funktion es hat – nicht das Glas wird ja getrunken, sondern sein Inhalt; man muss wissen, was Milch ist, wie sie aussieht, wozu sie gut ist, welche stofflichen Eigenschaften sie hat; man muss eine Vorstellung vom Vorgang des Trinkens haben; man muss Kenntnisse einer Grammatik haben, um die Aneinanderreihung von Wörtern als Aussage zu interpretieren, die eine Bedeutung hat.

Jede der Bedingungen ist wiederum von weiteren Voraussetzungen abhängig und alle Voraussetzungen müssen kognitiv repräsentiert sein. Erst dann können sie – wie für die Handlung des Beispiels – geprüft und bestätigt werden, um der gegebenen Aussage einen Wahrheitsgehalt zuordnen zu können. Es ist leicht abzuschätzen, welches Ausmaß das analytische Überprüfen der Erfüllungsbedingungen bei komplexen Aussagen erreichen kann. Der Alltagsgebrauch funktioniert so routiniert, dass man sich den Erfolgsfall nur in seltenen Fällen bewusst macht. Meist fallen lediglich nicht erfüllte Bedingungen auf. Noch schwieriger wird es, wenn die Erfüllungsbedingungen nicht Eigenschaften der objektiven Realität sind, sondern das Ergebnis einer individuellen Wirklichkeitskonstruktion. Dann können sie sich bereits zwischen zwei Kommunikationspartnern unterscheiden, was ihre Anwendung auf einen Test nach Informationsgleichheit für externalisierte Information erschwert. Zwei Beispiele sollen die Mechanismen des Tests auf Informationsgleichheit verdeutlichen. Dabei wird unterstellt, dass Information aus einer externalisierten Quelle rezipiert wird. Im ersten Beispiel soll auf dieser Basis eine praktische Handlung erfolgen, im zweiten findet eine Auseinandersetzung mit einer abstrakten Aufgabenstellung statt. Fall 1. Montage eines IKEA-Regals: Es gibt eine Anleitung (Externalisierte Information), die für eine Handlung (Aufbau des Regals) rezipiert werden muss. Der Test ist die Prüfung der Standfestigkeit des Regals. Gelingt dies unmittelbar, ist es gut. Die Rezeption war erfolgreich und es braucht keine Bestätigung (bzw. das montierte Regal ist die Bestätigung). Stößt man auf Schwierigkeiten beim Verständnis der Anleitung, kann man probieren, bis es vielleicht doch noch gelingt. Gibt es einen kundigen Kommunikationspartner, kann eine rückgekoppelte Kommunikation die Defizite ausgleichen.

148 | 5 Informationelle Kompetenz in Aktion Fall 2. Bearbeitung einer Übungsaufgabe für eine Klausur: Hier mündet die Rezeption nicht in eine Handlung, sondern bleibt zunächst im Kopf des Rezipienten und kann dementsprechend nicht unmittelbar von einer anderen Person überprüft werden. Falls für die Übungsaufgabe eine Musterlösung existiert, ist das auch gar nicht nötig, weil der Test als Vergleich zwischen eigener und Musterlösung selbst durchgeführt werden kann. Gibt es Kommunikationspartner (zum Beispiel Lehrer), entstehen weitere Möglichkeiten. Die Äußerungen des Rezipienten zu seiner Rezeption – die richtig sein können oder auch nicht – können vom Kommunikationspartner beurteilt werden. Dieser könnte sich auf Hilfestellungen bei der Interpretation der Aufgabenstellung beschränken, aber auch direkte Hinweise für das Finden der Lösung geben.

Zusammenfassend liegt Informationsgleichheit für externalisierte Information dann vor, wenn das Ergebnis einer durch den Rezeptionsakt kognitiv generierten Aktuellen Information gleich der dem Externalisierungsakt vorangegangenen Information ist. Dies bedeutet, dass die medial externalisierte Information und das Ergebnis der kognitiven Rezeption als Resultat einer strukturellen Kopplung im selben Referenzbereich gedacht werden können. Individuelle Eigenschaften und Erfahrungen bestimmen den Charakter einer Externalisierung und haben Einfluss auf den Erfolg eines späteren Rezeptionsvorgangs. In eigene Aufzeichnungen (zum Beispiel Tagebuch, Mitschrift) lassen sich diese Eigenschaften und Erfahrungen gut einbauen und – zumindest innerhalb einer gewissen zeitlichen Nähe – wieder rezipieren. Anderen Rezipienten ist das nur eingeschränkt möglich. Hierfür müssen der Externalisierung in möglichst transparenter Weise Informationen zu den Referenzbereichen hinzugefügt werden. Externalisierte Information enthält deshalb auch immer soziale, kulturelle oder wissenschaftliche Rahmenbedingungen ihrer Entstehung – eine Art Zeitgeist als Strukturinformation. Eine zeitnahe Rezeption unter vergleichbaren ,Zeitgeist‘Bedingungen wird dadurch gut möglich sein. Je mehr Zeit jedoch zwischen Externalisierung und Rezeption verstrichen ist, desto geringer wird die Chance auf eine einfache Rezeption. Ein Verständnis von Informationeller Kompetenz, das die zeitliche Entwicklung einbezieht, muss die der medialen Externalisierung zugrunde liegenden Referenzbereiche und ihre Veränderungen berücksichtigen. Die mediale Repräsentation allein sichert nicht die Dauerhaftigkeit einer späteren Rezeption (Kapitel 2.3). Damit ist auch die Digitalisierung als Spezialfall der Medialisierung von Inhalten kein Garant für die Bewahrung der Inhalte. Direkte Kommunikation mit all ihren verbalen und nonverbalen Möglichkeiten zur interaktiven und rückgekoppelten Verständigung ist immer auf ein Verstehen und Weiterführen und nicht auf ein Zurückweisen ausgerichtet. Dies gilt auch dann, wenn in der Kommunikation Unbekanntes oder vom Bekannten Abweichendes vorkommt. Die kognitive Plastizität akzeptiert nicht nur das bereits

5.3 Medialisierung des Wissens | 149

Bekannte, sondern sucht an der Grenze zum Unbekannten aktiv nach Mustern, die Wege zum Bekannten eröffnen. Probleme in Kommunikationssituationen können dadurch und durch die Gelegenheit zur direkten Rückkopplung in der Regel gelöst werden – in Analogie zur kognitiven Plastizität entsteht dabei eine kommunikative Plastizität. Die Rezeption aus externalisierten Quellen muss auf diese positiven Eigenschaften der Kommunikationssituation verzichten. Die Schwierigkeiten im Zusammenhang von Externalisierung und Rezeption weisen Parallelen zu den Schwierigkeiten auf, verschiedene Formen des Selbst zu unterscheiden: – das eigene Bild vom Selbst; – das Bild, das andere von einem haben; – die eigene Vorstellung vom Bild, das andere von einem haben sollen. Marcel Proust beschreibt dies in der Suche nach der verlorenen Zeit: Aber selbst hinsichtlich der unscheinbarsten Dinge des täglichen Lebens bilden wir keine einheitliche Substanz heraus, die für alle die gleiche ist, so daß jeder nur davon Kenntnis zu nehmen braucht, wie von einem Geschäftsbuch oder einem Testament; unsere Persönlichkeit innerhalb der Gesellschaft ist eine geistige Schöpfung der andern. Selbst das Sehen eines Bekannten, dieser so einfache Vorgang, bedeutet zum Teil eine geistige Aktivität. Wir statten die physische Erscheinung des Menschen, den wir sehen, mit all den Vorstellungen aus, die wir von ihm haben, und in dem Gesamtbild, das wir uns machen, spielen diese Vorstellungen sicherlich die Hauptrolle. Sie füllen schließlich so vollkommen die Wangen aus, sie halten sich so eng an die Linie der Nase, sie verstehen es so gut, dem Klang der Stimme eine Nuance zu geben, als ob sie nur eine durchsichtige Hülle wäre, daß es jedes Mal, wenn wir dieses Gesicht sehen und diese Stimme hören, eben jene Vorstellungen sind, die wir wiederfinden und auf die wir horchen.²⁴³

Verschiebung von Inhalt zu Form Die Medialisierung in digitalisierter Form sollte den Inhalt durch die formale Gestaltung besser erfassbar machen. Mit den wachsenden technischen Möglichkeiten digitaler Angebote hat sich die Aufmerksamkeit jedoch mehr und mehr vom Inhalt auf die Form verschoben. Ein besonders augenfälliges Beispiel ist die Gestaltung von Webseiten, insbesondere die Veränderungen in der Art ihrer Präsentation und dem Aufwand für deren Erstellung und Pflege, die als zeitgemäß angesehen werden. Als die Erstellung von – meist statischen – Webseiten über einen Baukasten noch schnell und einfach zu handhaben war, wurden viele Seiten mit hervorra-

243 Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, S. 29–30.

150 | 5 Informationelle Kompetenz in Aktion genden inhaltlichen Angeboten von den Fachleuten selbst erstellt und gepflegt.²⁴⁴ Eine Zeit lang glaubte man, hierin eine Möglichkeit gefunden zu haben, das Versprechen vom Web als offenes und qualitativ hochwertiges Wissensrepositorium erfüllen zu können. Reste dieser Überzeugung und der Gestaltungsgepflogenheiten haben sich im Wikipedia-Kontext erhalten. Mit dem Aufkommen anspruchsvollerer Werkzeuge zur Gestaltung von dynamischen oder interaktiven Webseiten, die mehr Aufwand erforderten, um alle formalen Gesichtspunkte zu berücksichtigen, erlahmte auch die Aktivität so manches fachlichen Experten. Im glücklicheren Fall wurde die Webseite in eine institutionelle Obhut mit Unterstützung durch eine Online-Redaktion überführt. In den unglücklicheren Fällen blieben die Seiten ungepflegt oder wurden aus dem Netz genommen. Ähnliches passierte mit E-Mail-Nachrichten. In der Anfangszeit war es nur möglich, Nachrichten durch eine Client-Anwendung auf dem eigenen Rechner vom E-Mail-Server herunterzuladen und als reinen Text anzeigen zu lassen. Schnellere Datenverbindungen und neue Komfort- und Ästhetik-Vorlieben führten zu einer Verschiebung hin zu formatierten und medial angereicherten Nachrichtenformen, die zunehmend über Cloud-basierte Web-Clients gelesen, bearbeitet und versandt werden. Messenger-Dienste, Soziale Netzwerke und Smartphones verstärken diese Entwicklung. Wer heute E-Mails noch für eine adäquate Korrespondenzform hält, gilt ohnehin als rückständig. Wer gar E-Mail-Lektüre über einen lokalen Client im reinen Textmodus bevorzugt, ist quasi aus der Zeit gefallen. Dass diese Nutzungsform auch Vorteile hat – Vermeidung von Tracking, Verringerung der Gefahren durch ,verseuchte‘ Links etc. –, taucht allenfalls in theoretischen Darstellungen von Sicherheits-Bedenkenträgern auf. Menschen sind zu einer algorithmischen Auswertung von digitalisierten Daten nicht in der Lage. Digitalisierte Daten eröffnen jedoch völlig neue maschinelle Analysemöglichkeiten, wie beispielsweise für die Untersuchungen von sogenannten Big Data. Es ist nicht auszuschließen, dass sich durch die Möglichkeiten der algorithmischen Verarbeitung digitaler Datenbestände das allgemeine Wissensverständnis in Richtung algorithmisch erzeugter Zusammenhänge verlagert. Inhalt, vielleicht auch Wissen, würde dann als Resultat einer algorithmischen Auswertung der medialisierten Daten verstanden und nicht mehr als Resultat einer kognitiven Leistung. Das wäre ein weiterer Schritt auf dem Weg zum Dataismus. Menschliche Wahrnehmung ist durch die gleichzeitige Ansprache aller Sinnesorgane prinzipiell multimedial. Multimediale Medialisierungsformen sind deshalb besonders, weil sie versuchen, mit technischen Möglichkeiten etwas dem

244 Vgl. z. B. die Seite Fauna im Garten (http://www.fauna-garten.at/.

5.3 Medialisierung des Wissens | 151

Menschen zutiefst Vertrautes nachzubilden. Anfangs stand die Abbildung realer Weltausschnitte im Vordergrund, inzwischen wird durch Einsatz multimedialer Werkzeuge mehr oder weniger fantasievoll eine eigene Virtuelle Realität erzeugt. Angesichts der Größe des menschlichen Wahrnehmungsspektrums stellen die bisherigen Formen der Externalisierung kognitiver Information – vorwiegend Texte, ggf. angereichert durch bildliche und andere mediale Elemente – eine deutliche Reduktion gegenüber der normalen Sinneswahrnehmung dar. Die Externalisierung beeinflusst und reduziert also die ursprüngliche kognitive Information. Schon Platon lässt Sokrates im Phaidros eine kritische Position zur Eignung schriftlicher Aufzeichnungen zur Wissensvermittlung gegenüber der oralen Traditionskultur einnehmen. Er hinterfragt die Leistungsfähigkeit der neuen Repräsentationsform gegenüber einer vertrauten: Denn dieses Schlimme hat doch die Schrift, Phaidros, und ist darin ganz eigentlich der Malerei ähnlich: denn auch diese stellt ihre Ausgeburten hin als lebend, wenn man sie aber etwas fragt, so schweigen sie gar ehrwürdig still. Eben so auch die Schriften. Du könntest glauben, sie sprächen, als verständen sie etwas, fragst du sie aber lernbegierig über das Gesagte, so enthalten sie doch nur ein und dasselbe stets. Ist sie aber einmal geschrieben, so schweift auch überall jede Rede gleichermaßen unter denen umher, die sie verstehen, und unter denen, für die sie nicht gehört, und versteht nicht, zu wem sie reden soll und zu wem nicht […]²⁴⁵

Dass wir glauben, mit den bisherigen Brüchen der Repräsentationsformen einigermaßen schadensfrei fertig geworden zu sein, ist kein Beleg dafür, dass dies – bei immer schneller verlaufenden Entwicklungszyklen – auch für künftige Veränderungen gelten wird. Die durch Brüche entstandenen Verluste sind für den Übergang von der Sprech- zur Schrifttradition vergleichsweise gut untersucht worden. Noch im ausgehenden 20. Jahrhundert gab es Beispiele, die es gestatteten, die Charakteristika beider Traditionen gemeinsam zu studieren. Vielleicht ist es auch gerechtfertigt, eingetretene Verluste angesichts neuer Anforderungen für verschmerzbar zu halten. Im Hinblick auf die Veränderungen durch die digitale Medialisierung kann noch nicht mit ausreichender Zuverlässigkeit gesagt werden, ob und in welchem Umfang Verluste eintreten werden. Die Form der medialen Externalisierung hat einen Entwicklungsprozess durchlaufen. Markiert man der Einfachheit halber dessen Beginn bei Textdokumenten, so sind die nächsten Stufen gekennzeichnet durch Bild-, Audio- und Videodokumente, die zusammen die Palette der Multimedia-Dokumente bilden. Die aktuelle Stufe ist mit elektronischen oder digitalen Medien erreicht. Mit ihr ist auch eine qualitative Veränderung verbunden, weil die gleichzeitige Fixierung vormals ge245 Phaidros 275, zitiert nach: Trotzke: Schrift und Wissen.

152 | 5 Informationelle Kompetenz in Aktion trennter medialer Elemente möglich ist und dem Medium selbst – das heißt dem Rechner als medialem Speicher- und Verarbeitungssystem – informationsverarbeitende Eigenschaften zugeschrieben werden. Eine nochmalige Steigerung wird durch Netzwerkstrukturen als Speicherort und die Auflösung des geschlossenen Dokumentcharakters mittels Virtualisierung und dynamisch verteilter Datenhaltung erreicht. Ein Dokument hat auf dieser Stufe weder eine eigene Materialität noch ist es als Entität beschreibbar. Das Bezugsobjekt entsteht durch die Kombination von verteilten Bausteinen im Moment der Betrachtung. Als Produkt dieser Genese kann es eingefroren und materialisiert werden. Ob eine Wiederholung des Vorgangs zum identischen Produkt führt, ist von Umständen abhängig, die nicht im Einflussbereich des Betrachters liegen. Dies ist im Vergleich zu allen vorhergehenden Stufen der historischen Entwicklung medialer Informationsexternalisierung eine völlig neue Qualität, der eine eigene Realität zugesprochen wird. Mit den Möglichkeiten der Informationstechnologie und insbesondere durch die Entwicklungen im Bereich der Virtual Reality ist es möglich, die Simulation einer realweltlichen Erfahrung zu erzeugen, die als Erweiterung bisheriger Externalisierungsmöglichkeiten gesehen werden kann. Beispiele dafür sind: –

– –

die gleichzeitige Präsentation von Bild und Stimme eines Singvogels mitsamt textlicher Erläuterung, Verbreitungskarten und ggf. Videosequenzen bestimmter Verhaltensmuster; animierte Veranschaulichungen naturwissenschaftlich-technischer Sachverhalte; die Wiedergabe von Musiksequenzen in elektronischen Diskografien.

Die vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten der Virtual Reality sowie deren Potenzial für elektronische Spiele oder für die Simulation realweltlicher Ereignisse werden, erst einmal vollständig im Alltag angekommen, weitere Veränderungen nach sich ziehen. Die Imaginationswirkung verschiedener medialer Repräsentationsformen ist unterschiedlich.²⁴⁶ Für die Wirkung ist zum Beispiel von Belang, ob ein belletristisches Werk als Text oder als Verfilmung rezipiert wird. Dies zeigen die Verkörperungen von Leitfiguren aus Romanvorlagen in den entsprechenden Verfilmungen. Die literarische Figur des Harry Potter ist fest verbunden mit der Imagination des Schauspielers Daniel Radcliffe. Trotz Besetzung einer Rolle mit unterschiedlichen Schauspielern überwiegt die Imaginationsprägung durch einen davon, zum Beispiel James Bond mit Sean Connery. Und selbst bei realen historischen Personen, von denen Porträtfotos überliefert sind, setzt sich die durch die Verfilmung er-

246 Vgl. zu diesem Themenkomplex: Hasebrook (Hrsg.): Multimedia-Psychologie.

5.3 Medialisierung des Wissens | 153

zeugte Prägung durch, wie etwa im Fall von Kaiserin Elisabeth (Sissi) und Romy Schneider. Bislang am besten untersucht sind die Prozesse des Textverstehens.²⁴⁷ Ein ebenso gutes Verständnis der Rezeption anderer medialer Externalisierungsformen (und erst recht für die digitalisierten Varianten) ist erst noch zu entwickeln. Ebenso bedarf es genauerer Kenntnisse der erforderlichen Verstehensbrücken beim Übergang von einer Externalisierungsform in eine andere. Trotz manch euphorischer Erwartungen bleibt festzuhalten, dass die meisten fortschrittlichen Externalisierungen mit Multimedia- oder Virtual Reality-Einsatz immer nur Ausschnittcharakter haben. Das repräsentierte Szenario ist lediglich eine Bestandsaufnahme unter eingeschränkten Rahmenbedingungen. Eine realweltliche Wahrnehmung derselben Situation wird immer durch unterschiedliche Bedingungen leicht verändert stattfinden. Auch Wiederholung geschieht nicht ohne Änderungen und seien sie auch noch so gering. Diese Veränderungen sind ein wichtiges Korrektiv für den kognitiven Einordnungs-, Erkennungs- und Anpassungsprozess. Wiederholung bedeutet für kognitive Informationsverarbeitung keinesfalls nur Redundanz, sondern dient vielmehr der Schärfung eines Konzepts und des darüber erlangten Verständnisses. In Verbindung mit der kognitiven Plastizität erlauben Wiederholungen das spätere Erkennen ähnlicher Phänomene und leisten damit einen wesentlichen Beitrag zur Ausprägung einer Struktur. Die multimediale Gestaltung von Informationsprodukten hat zu neuen Präsentationsoberflächen und Interaktionsschnittstellen geführt, die beim Rezeptionsvorgang nicht nur Unterstützung bieten, sondern eigene Aufmerksamkeit erfordern. Die Form der medialen Schnittstelle und die Bedingungen ihrer Bedienung überlagern die Repräsentation der Inhalte, so dass die ursprünglich angestrebte Unterstützung stattdessen zu einer neuen Anforderung wird. Informationskompetenz wird in ihrer trivialsten Interpretation gern als reine Fertigkeit zur Bedienung der jeweils neuesten Gerätegeneration verstanden. Informationelle Kompetenz schließt demgegenüber die Fähigkeit ein, zwischen Form und Inhalt, zwischen Repräsentation und Repräsentiertem unterscheiden zu können. Referenzbereiche und Kognitive Überlastung Die sogenannte Cognitive Load Theory geht davon aus, dass Lernen mit kognitiver Belastung verbunden ist.²⁴⁸ Sie beschreibt, wodurch das Lernen erleichtert

247 Vgl. z. B.: Boehm/Gesellschaft für Angewandte Informationswissenschaft (Hrsg.): Texte verstehen; Hasebrook (Hrsg.): Multimedia-Psychologie. 248 Vgl.: Plass/Moreno/Brünken (Hrsg.): Cognitive load theory; Sweller/Ayres/Kalyuga: Cognitive load theory.

154 | 5 Informationelle Kompetenz in Aktion bzw. erschwert werden kann. Dabei wird dem Arbeitsgedächtnis eine wichtige Funktion bei Problemlösungs- und Informationsverarbeitungsprozessen und dem Wissenserwerb zugeschrieben. Es wird davon ausgegangen, dass die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses begrenzt ist und nur eine bestimmte Menge an Informationen parallel aktiviert werden kann. Eine weitere Annahme besagt, dass Menschen zur Speicherung ihres Wissens sogenannte ,Schemata‘ benutzen. Diese Schemata sind nicht starr, sondern verändern sich dynamisch. Bei Lernvorgängen werden sowohl neue Schemata konstruiert als auch neues Wissen mit bereits vorhandenen Schemata verknüpft. Für die Vorgänge des Schemavergleichs und -aufbaus muss das Arbeitsgedächtnis über genügend Kapazität verfügen und darf kognitiv nicht überlastet werden (Cognitive Overload). Es gibt Korrespondenzen zwischen der Theorie kognitiver Überlastung und dem hier vorgestellten Rezeptionsmodell für externalisierte Information (vgl. Abbildung 5.1). Die Schemata können als Entsprechung zu den Referenzbereichen für Externalisierung und Rezeption gesehen werden. Die Anpassung der Schemata entspricht der kognitiven oder neuronalen Plastizität. Die Cognitive Load Theory hat Konsequenzen für die Beschäftigung mit medialisierten Informationsangeboten. Die Präsentationsform selbst beansprucht immer einen gewissen Anteil der Aufmerksamkeit, der bei insgesamt begrenzter Kapazität die Auseinandersetzung mit dem Inhalt beeinflusst. Diese kognitive Belastung durch die mediale Repräsentationsform, die in Anforderungen an die Bedienung mündet, die ihrerseits wieder von System zu System, von Produkt zu Produkt, unterschiedlich sein können, kann sehr groß werden und wenn diese Anforderungen sogar zum Selbstzweck werden, kann die Bewältigung der Form die Kapazität für die Beschäftigung mit den Inhalten verdrängen. Ein zweiter Faktor kognitiver Belastung ist die Notwendigkeit, sich auf eine wachsende Zahl an Referenzbereichen für die Externalisierung und Rezeption medial repräsentierter Information einstellen zu müssen. Die für InformationsExternalisierungen benutzten Referenzbereiche können so verschiedenartig sein, dass sie den Charakter eines Paradigmenwechsels haben.²⁴⁹ Paradigmenwechsel bedeutet, eine neue Sichtweise an die Stelle einer anderen zu setzen. Dies schließt ein, dass auch die Bedeutung von bekannten Begriffen durch das neue Paradigma ausgetauscht wird. Paradigmenwechsel sind keine Substitution mit Vergessen, sondern eine Ablösung einer weniger guten Lösung durch eine bessere, die jederzeit mit dem Vergleich der Leistungsfähigkeit beider Ansätze begründet werden kann. Auch die alte Sichtweise hat Kenntnisse und Fähigkeiten zur Problemlö-

249 Für die Darstellung des Konzepts, vgl.: Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen.

5.3 Medialisierung des Wissens | 155

sung bereitgestellt. Dementsprechend kann es ein erfolgreiches Nebeneinander verschiedener Paradigmen geben. In der Wissenschaft ist man damit vertraut, Paradigmen auch als Gültigkeitsbereiche der jeweiligen Theorieansätze zu sehen und die Techniken zu lernen, die innerhalb eines Gültigkeitsbereichs zu Ergebnissen führen. Insbesondere lernt man dabei, die Grenzen von Gültigkeitsbereichen nicht falsch einzuschätzen und Techniken oder Verfahren des einen Gültigkeitsbereichs nicht auf Probleme anderer Gültigkeitsbereiche anzuwenden. Im Alltag gibt es vergleichbare Probleme beispielsweise bei Handlungen, die man in vertrauten und auch in weniger vertrauten Umgebungen vollziehen muss: Einkaufen in verschiedenen Supermärkten, Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel in unterschiedlichen Städten etc. Auch hierfür gibt es jeweils wichtige Rahmenbedingungen, die für Handlungsentscheidungen nicht missachtet werden sollten. Je selbstverständlicher ein Denken in Kontexten, Gültigkeitsbereichen, Paradigmen oder den bereits vorgestellten Erfüllungsbedingungen ist und je mehr spezifische Erfordernisse beachtet werden, desto einfacher ist es, Fehlurteile und fehlerhafte Schlussfolgerungen oder Handlungen zu vermeiden. Paradigmenwechsel führen zu erheblichen Anforderungen an eine Informations-Externalisierung. Hier gibt es, anders als bei der Bindung von Konzepten an unterschiedliche Kontexte, keine gleitenden Übergänge und keine Grauzonen der Bewertung. Aussagen werden nicht nur modifiziert oder relativiert. Im Fall eines Paradigmenwechsels werden die Grundfesten einer Theorie ausgetauscht, so dass Aussagen, die unter dem alten Paradigma als richtig angesehen wurden, unter dem neuen als falsch betrachtet werden. Dies ist der Grund für die Schwierigkeiten, die entstehen, wenn die Nutzung medialisierter Informationssysteme die Berücksichtigung von veränderten Referenzbereichen verlangt, die durch ,Paradigmenwechsel‘ entstanden sind. Transparenz des Externalisierungsmodells Externalisiertes Strukturwissen kann immer nur eine Durchschnittsrepräsentation sein und niemals auf individuelle Bedürfnisse zugeschnitten werden. Bestenfalls gelingt es im Laufe der Zeit, auf der Basis von Erfahrungen mit einer größeren Anzahl von Externalisierungsmodellen vertraut zu werden. Die Grenzen dafür sind durch die kognitive Überlastung markiert. Dass dem Rezipienten externalisierter Information bewusst wird, welches Strukturwissen der Externalisierung zugrunde gelegt worden ist, kann nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Das Erkennen könnte jedoch zu einer tieferen Analyse führen und damit auch zur Stärkung Informationeller Autonomie beitragen. Allerdings würde eine solche Analyse die Beschäftigung mit einem zu-

156 | 5 Informationelle Kompetenz in Aktion sätzlichen Thema erfordern: dem Nachdenken über Referenzbereiche der Externalisierung; einem Thema, das über den ursprünglichen Anlass für die Konsultation der Informationsquelle weit hinaus geht. Zwischen einer Speicherung von Strukturwissen in externalisierten Quellen und der Forderung nach Informationeller Autonomie könnte ein Widerspruch gesehen werden, denn es ist ein Allgemeinplatz, dass jede Form der Externalisierung gleichzeitig auch ein Eingriff in die Informationelle Autonomie des einzelnen Rezipienten sein kann. Der Widerspruch lässt sich nicht vermeiden. Ein Verzicht auf die Modellierung des Strukturwissens kann keinesfalls als bessere Lösung gesehen werden. Dies ginge an individuellen Bedürfnissen vorbei und würde darüber hinaus die Rezeptionshürden unnötig erhöhen. Modellieren und Speichern von Strukturwissen, ggf. in alternativen Ansätzen, und insbesondere das transparente Offenlegen der Vorgehensweise sind die einzig empfehlenswerte Lösung. Daraus resultiert für die Gestaltung von Informationssystemen die Aufgabe, durch eine geeignete Modellierung die Transparenz der Rahmenbedingungen für eine spätere Rezeption sicherzustellen. Reinen Daten kann man ihre Verbindung zu Theorien, zum Referenzbereich oder zum Paradigma mit deren jeweiligen Gültigkeitsbereichen nur ansehen, wenn diese Verbindungen angegeben werden. Informationelle Autonomie wird um so weniger beeinträchtigt, je bewusster das Externalisierungsmodell erkennbar ist und je mehr Zeit für die Gewöhnung an unterschiedliche Externalisierungsmodelle zur Verfügung steht.

5.4 Erstellen oder Konfigurieren von Informationssystemen Bislang haben wir Informationelle Autonomie überwiegend aus der Sicht des Nutzers einer Informationsumgebung oder des Rezipienten externalisierter Information betrachtet. Informationssysteme zu erstellen, ist üblicherweise professionellen Akteuren vorbehalten. Jeder bekommt es allerdings auch im privaten Bereich mit dem Ordnen und Archivieren von Objekten zu tun, wenn das spätere Wiederauffinden und das Rezipieren gespeicherter Unterlagen oder festgehaltenen Wissens das Ziel ist. Dafür ist es nötig, eine informationelle Umgebung (ein Informationssystem) für eine eigene Objektsammlung zu erstellen und zu konfigurieren. Nehmen wir als Beispiel den Objekttyp Fotografie. Gab es in früheren Zeiten noch ein gewachsenes und über Generationen tradiertes Umgehen mit einer vergleichsweise geringen Zahl von Papierabzügen (Fotoalben, Zigarrenkisten oder Schuhkartons), so hat die Zeit der Digital- und Handy-Fotografie zu einer neuen Situation geführt. Erstens ist die Zahl der Fotos in die Höhe geschnellt, 10.000 innerhalb von zwei Jahren sind keine Seltenheit. Zweitens ist hierfür kein tradiertes Verfahren des Organisierens und Aufbewahrens vorhanden. Der Gang der Technik

5.4 Erstellen oder Konfigurieren von Informationssystemen

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sorgt in gewisser Weise sogar dafür, dass sich kein dauerhaftes Verfahren etablieren kann. Betriebssysteme, Dateiformate und Speichermedien unterliegen einer kontinuierlichen Veränderung und sorgen für vielfältige Inkompatibilität. Wie sieht die Lösung aus? Zwei Lösungsansätze haben sich herauskristallisiert: Entweder selbst Hand anzulegen oder das Geschehen unbekannten Kräften in der Cloud zu überlassen. Klar ist, dass der zweite Weg der bequemere und schnellere ist und bei vielen Nutzern auf ein hohes Maß an Anfangszufriedenheit trifft. Alle Argumente ausgeblendet, die etwas mit Urheberrechten, Persönlichkeits- oder Datenschutz zu tun haben, lassen sich die beiden Verfahren auch durch reine Aufwands- und Ertragsüberlegungen vergleichen. Es ist ein triviales Argument und trotzdem wird es zu Beginn des Tuns gern missachtet: Der zu kalkulierende Aufwand wächst bei manueller Bearbeitung der zu bewältigenden Objektmenge schnell in Größenordnungen, die nicht mehr angemessen sind. Legt man für die Bearbeitung eines Objekts eine Zeit von 30 Sekunden zugrunde, so erreicht man bei 10.000 Objekten schon einen Arbeitsumfang von 83,3 Stunden.²⁵⁰ Grundsätzlich muss dieser Aufwand auch für Umorganisationen veranschlagt werden. Tab. 5.1: Arbeitsaufwand für das Erstellen eines Informationssystems. Objekte

Sekunden

Minuten

Stunden

Arbeitstage

100 1.000 10.000

3.000 30.000 300.000

50 500 5.000

0,8 8,3 83,3

10,4

Aus Aufwandsüberlegungen lassen sich also keinerlei Pluspunkte für ein eigenes Tun ableiten. Dem entspricht auch die Erfahrung, dass mit dem Anwachsen der Bestandszahlen die anfänglichen Bemühungen in der Regel wieder aufgegeben werden und die Gedächtnisspuren das wichtigste Hilfsmittel zum Auffinden des Gesuchten im ungeordneten Zustand werden. Erschwerend kommt die schlechte Skalierbarkeit des verwendeten Verfahrens hinzu: eine im kleinen Rahmen taugliche Methode lässt sich nicht gut auf einen größeren Maßstab übertragen. 250 Wir verzichten darauf, eine differenzierte Analyse des Zeitbedarfs für einzelne Teiltätigkeiten vorzunehmen. Die Zuteilung eines einzelnen Schlagworts zur inhaltlichen Charakterisierung eines selbst erstellten Fotos benötigt in der Regel keine 30 Sekunden, eine umfassende formale und inhaltliche Beschreibung aber weit mehr. Einen genaueren Überblick gibt Kapitel 2 von: Gödert/Lepsky/Nagelschmidt: Informationserschließung und Automatisches Indexieren.

158 | 5 Informationelle Kompetenz in Aktion Zum Aufwandsaspekt kommt ein Orientierungsaspekt. 10 Objekte kann man mit einem Blick erfassen und hinsichtlich ihrer Gemeinsamkeiten und Unterschiede bewerten. Mit 100 Objekten geht das schon nicht mehr, von 1.000 gar nicht zu reden. Schon 100 Objekte lassen sich auch nur begrenzt auf einem handelsüblichen Bildschirm anordnen, so dass man sich mit ihnen auseinandersetzen könnte. Intuitiv verbindet man mit inhaltlicher Ordnung das Bilden von Päckchen nach dem Motto ,Gleiches zu Gleichem‘. Was macht man, wenn es mehreres als Gleiches zu beachten gibt (alle Geburtstagsbilder, alle Bilder der Schwiegermutter)? Wie geht man vor, wenn man bereits eine Grundordnung in Päckchen erzeugt hat und ein neues Objekt hinzukommt? Woher weiß man, zu welchem Päckchen es hinzugefügt werden soll? Muss man das neue Objekt hierfür mit allen bereits vorhandenen Objekten vergleichen? Dies würde denselben Aufwand wie zur Herstellung einer neuen Grundordnung erfordern – wie lange soll das bei 10.000 Objekten dauern? Oder vergleicht man das neue Objekt nur mit einer Beschreibung der Päckchen? Dies wäre der inkrementelle Weg, der schnellere. Doch wie muss die Beschreibung der Päckchen lauten? Und schreibt man sie auf oder hat man sie nur im Kopf? Das ist wieder eine Frage des Umfangs. Was ist, wenn bei Hinzunahme von Objekten die Notwendigkeit oder nur der Wunsch auftritt, die Grundordnung zu verändern? Auf all diese Fragen gibt es professionelle Antworten, die im Hinblick auf den Einsatz in arbeitsteiligen Umgebungen über längere Zeiträume konzipiert sind. Sie sind nicht gut für den privaten Einsatz skalierbar, weil der Grundaufwand zu hoch ist, als dass man ihn sich für zunächst kleine Objektmengen leisten möchte. Professionelle Ordnungssysteme, die inhaltliche Zusammenhänge abbilden – zum Beispiel Systematiken, Klassifikationssysteme oder Thesauri –, sollen als Wissenslandkarten der Orientierung dienen und ein Findehilfsmittel sein. Darüber hinaus sollen sie die Eingliederung eines neuen Objekts in die bestehende Struktur ermöglichen, ohne alle vorhandenen Objekte noch einmal anschauen zu müssen. In ihrer ersten Funktion können sie als Vorläufer aktueller Systeme zur Wissensrepräsentation gesehen werden, die zweite Funktion wird heute vielfach für nicht mehr erforderlich gehalten und datentechnisch durch eine Komplettbearbeitung aller Objekte ersetzt. Hilfsmittel und Techniken zum inkrementellen Ergänzen gelten inzwischen als überholte Relikte der manuellen Tätigkeit. Ordnungssysteme haben jedoch eine weitere entscheidende Eigenschaft: Sie sind keine unstrukturierten Ansammlungen von Beschreibungsmerkmalen für Objekte, sondern verfügen als Wissensordnungen über eine inhaltliche Struktur. Diese Struktur basiert auf inhaltlichen Beziehungen zwischen den Entitäten und sie stellt ein Bindeglied zwischen dem Wissen des Einzelnen und dem für die Beschreibung der Objekte verwendeten Wissen dar. Diese Struktur kann an einem

5.4 Erstellen oder Konfigurieren von Informationssystemen

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Weltbild, einer Wissenschaftsauffassung oder an einer pragmatischen Sicht orientiert sein. Sie entspringt immer dem Bedürfnis, durch Ordnung einen besseren Überblick zu erhalten. Stößt man dabei auf Zusammenhänge, die einem noch nicht bekannt waren, so dient die Struktur sogar der eigenen Wissenserweiterung, der höchsten Form des Nutzens einer vordefinierten Struktur. Die Prinzipien zur Herstellung der Struktur sollten idealerweise die bereits diskutierten kognitiven Basiseigenschaften berücksichtigen und sie in eine formale Gestalt überführen, die sowohl ihr Verstehen durch Menschen als auch die Möglichkeiten einer maschinellen Verarbeitung eröffnet.²⁵¹ Ein Vergleich beider Ansätze erweckt den Anschein, als könnte das Abtreten des Aufwands an die Cloud basierte Lösung nur gewinnen. Zu untersuchen bleibt lediglich, ob es Erträge eines eigenen Tuns gibt, die bei der Cloud basierten Lösung nicht zu bekommen sind. Von Bedeutung ist dabei der individuelle Blick auf die Objekte und ihre Inhalte. Diese sind möglicherweise auch emotional gefärbt, sollen aber dennoch in einer Findesituation als Suchkriterium berücksichtigt werden. Es geht also um den Unterschied zwischen individuellen Vorlieben und intersubjektiven Kriterien und um die Frage, wie wichtig jemandem deren Berücksichtigung bei der Gestaltung eines Informationssystems ist. Die eigenen Vorlieben drücken sich in einer speziellen Struktur der Beziehungen zwischen den Objekten aus. Dabei geht es nicht mehr um vermeintlich objektive Merkmale, sondern um Attribute, die den Objekten zugeschrieben werden. Verfahren der Mustererkennung können den Eiffelturm auf einem Foto anhand einer Liste von Merkmalen identifizieren und durch einen hinterlegten Namen auch als solchen such- und findbar machen. Ist dasselbe Foto anlässlich einer Hochzeitsreise entstanden, kann die Mustererkennung trotzdem kein anderes Ergebnis liefern, da es für den Anlass kein dem Foto zugehöriges Merkmal gibt, sondern nur ein von außen zugeordnetes Attribut. Die Cloud kann generell keine von außen individuell zugeordneten Attribute berücksichtigen. Sie kann nur eine als intersubjektiv empfundene Struktur repräsentieren – wenn sie denn überhaupt eine definierte Struktur anbietet. Individuelle Wunschstrukturen kann sie nicht unterstützen, eben so wenig Verbindungen (Konkordanzen) zwischen allgemeinen und individuellen Strukturen. Eigene Vorstellungen von Zusammenhang und Struktur lassen sich nur in einem selbst gestalteten Informationssystem realisieren. Gibt es die eine und empfehlenswerte Lösung für das Ausgangsproblem der Gestaltung eines Informationssystems für eine eigene Objektsammlung? Wohl

251 Vgl. dazu etwa: Gödert/Lepsky/Nagelschmidt: Informationserschließung und Automatisches Indexieren.

160 | 5 Informationelle Kompetenz in Aktion nicht. Wer keinen Aufwand haben will, wird mit Cloud basierten Ansätzen gut bedient sein. Wer hingegen Wissensordnung ohne die Berücksichtigung individueller Strukturierung für unzweckmäßig hält, der wird um das eigene Tun nicht herum kommen. Dessen Vor- und Nachteile sind bekannt, die der Cloud basierten Lösung bislang nicht, denn dafür existieren noch nicht genug Erfahrungen. Verbindungen beider Wege lassen sich vorstellen, erfordern aber viel Know how und so viel Aufwand, dass sie noch nicht als massentauglich betrachtet werden können. Insbesondere setzen sie die Kompatibilität der jeweiligen Ordnungsstrukturen voraus. Das kann nach Lage der Dinge auf einfachem Weg nur die Anpassung an eine gegebene Struktur oder den Verzicht auf Strukturierung bedeuten, niemals aber die angemessene Berücksichtigung der eigenen Strukturierungsvorstellungen. So lassen sich derzeit allenfalls Kriterien diskutieren, die anregen können und Hilfestellung dafür geben, ein kompetentes Umgehen mit dem Problem zu finden. Der Verlust der Kenntnisse für das richtige Tun dürfte auf lange Sicht gesehen nachteiliger sein, als einmal das Falsche zu tun. Fassen wir zusammen, welche Komponenten die Erstellung, Konfiguration und Pflege eines Informationssystems umfasst. Eine Anleitung, die alle Facetten und Bestandteile einer solchen Aufgabenstellung berücksichtigt, kann es nicht geben. Allein die Frage, ob eine systematische Sortierung ausreicht oder darüber hinaus verbale inhaltliche Beschreibungen benötigt werden, führt auf viele Spezialfragen. Eine Zusammenstellung von Aufgaben und Kriterien, deren Beachtung ein handwerklich solides Ergebnis erwarten lassen, ist aber möglich.²⁵² Hierzu gehören: – ein Plan mit Ordnungskriterien, der die eigenen Suchinteressen in geeigneter Zusammenfassung der Gemeinsamkeiten und ausreichender Granularität für die erwarteten Zuwächse abbildet; Erweiterbarkeit, auch im Sinne der Verfeinerung, ist immer wünschenswert, gehört aber zu den am schwierigsten zu realisierenden Eigenschaften; idealerweise soll sich der Plan nicht allein im Kopf des Anwenders befinden; – die Herstellung einer Struktur durch Ausweisen von Beziehungen, formalen und inhaltlichen Querverbindungen; – die Berücksichtigung von Aspekten (zum Beispiel Personen, Orte, Zeit, Institutionen, Bauwerke), innerhalb derer die dargestellten Objekte gut durch Individualnamen gekennzeichnet werden können; – ein Konzept zur Berücksichtigung unterschiedlicher Aspekte, die zu Mehrfachzuordnungen oder zu Beschreibungen durch mehrere Merkmale führen;

252 Für eine detaillierte Beschreibung der Probleme und möglichen Vorgehensweisen, vgl: Gödert/Lepsky/Nagelschmidt: Informationserschließung und Automatisches Indexieren, Kapitel 2.

5.5 Daten und Kontext | 161



die Vorgabe von Regeln, die Konsistenz ermöglichen und damit die Gleichartigkeit der Vorgehensweise für vergleichbare Fälle über längere Zeiträume sicher stellen.

5.5 Daten und Kontext Daten können nicht ohne Bindung an einen Kontext und eine Theorie interpretiert und verstanden werden. Im Alltagsgeschehen sind beide häufig vertraut, so dass es befremdlich erscheinen mag – anders als etwa in naturwissenschaftlichtechnischen Zusammenhängen –, sich die Bindung bewusst zu machen. Die Theoriebindung von Daten lässt sich aber gerade an Alltagsbeispielen besonders gut verdeutlichen. Für Wanderer gibt es Hinweisschilder, wie das in Abbildung 5.2. Wer bei diesem Wegweiser erwartet, die kürzeste Entfernung zu einem Ort – hier Erfweiler – genannt zu bekommen, stößt auf Schwierigkeiten, denn die drei Schilder bieten gleich drei verschiedene Entfernungsangaben für Erfweiler an.

Abb. 5.2: Wegweiser Erfweiler.

Bei entsprechender Ortskenntnis weiß man, dass der Weg mit der vermeintlich längsten Entfernung (11,1 km auf dem mittleren Schild) am schnellsten ins Orts-

162 | 5 Informationelle Kompetenz in Aktion zentrum führt. Dazu müsste man allerdings den markierten Weg verlassen, denn eigentlich führt er um den Ort herum. Die Wegvariante mit 3,4 km berührt das Ortszentrum ebenfalls nicht. Um dorthin zu kommen, müsste an einer späteren Wegstelle eine Abzweigung gewählt werden, worauf es allerdings keinen Hinweis gibt. Beide Schilder geben Hinweise auf einen Rundweg mit 14,5 km Gesamtlänge (die ,Hahnfels-Tour‘ mit dem Hahn-Symbol rechts auf dem Schild), allerdings jeweils in unterschiedlicher Richtung. Sie beabsichtigen gar keinen Hinweis auf die schnellste Erreichbarkeit der Ortsmitte von Erfweiler. Das tut allein das unterste Schild, sagt dies aber auch nicht explizit. Der gesamte Wegverlauf ist in Abbildung 5.3 zu sehen.

Abb. 5.3: Hahnfels-Tour.

Die Entfernungsangaben ausschließlich als Entfernungen zwischen zwei Orten zu interpretieren ist falsch. Sie sind nur mit Bezug auf einen theoretischen Hintergrund sachgerecht zu interpretieren. War eine Wanderung auf dem Rundweg die ursprüngliche Absicht, befindet man sich in Übereinstimmung mit dem Theorie-

5.5 Daten und Kontext | 163

gebäude. Stößt man jedoch auf einer zuvor nicht so geplanten Wanderung auf den abgebildeten Wegweiser (Position A der Abbildung 5.3) und möchte zum Beispiel schnellstmöglich ein Lokal in Erfweiler erreichen, ist man mit diesem Theoriegebäude als Kontext für die eigene Interpretation der Entfernungsdaten nicht gut bedient. Beschilderte Wanderwege sollten eigentlich auch ohne zuvor hergestelltes Kontextwissen gut funktionieren. Falls nicht, ließe sich dieses vergleichsweise einfach gewinnen durch Befragung einer Karte mit allen Wanderwegen. So einfach ist die Herstellung des Kontexts nicht immer. Häufig wird es nötig sein, sich mit einem Gegenstand intensiver zu beschäftigen, um durch das dabei erworbene Kontextwissen ein tieferes Verständnis zu erlangen. Dies gilt nicht nur für komplexe Probleme der Wissenschaft, sondern beispielsweise auch für die inzwischen zum Alltag gehörende Benutzung von Suchmaschinen. Suchmaschinen sind ausgesprochen komplexe Instrumente, die ihre Komplexität jedoch geschickt verbergen, weil das Sucherlebnis einfach und angenehm sein soll. Es gibt viele interne Prozesse zur Verfeinerung der Suche und der Treffermenge, deren Funktion und Wirkungsweise dem Durchschnittsanwender nicht bekannt sind. Insofern stehen Suchmaschinen auf der gleichen Ebene wie andere moderne und hoch entwickelte technische Geräte (Waschmaschinen, Computer, Autos). Die Realität des Suchalltags ist geprägt durch die einfache Eingabe von Wörtern bzw. Zeichenketten in beispielsweise den Google-Suchschlitz. Die eingegebenen Wörter werden als Zeichenketten isoliert gesucht und sind nicht in einen thematischen Kontext eingebunden. Für die Suche nach Individualnamen von Personen, Firmen oder Produkten funktioniert das gut, falls es nicht verschiedene Treffer mit identischen Namen gibt. Bei Wörtern, die allgemeine Sachverhalte bezeichnen, beginnen die Probleme bereits, wenn es zu den Suchbegriffen Synonyme gibt. Eine Suche nach ,Begriffen‘, für die es in der Sprache verschiedene Bezeichnungen gibt, ist mit einer Suchmaschine nicht möglich. Die Mehrzahl der Nutzer ist mit den gegenwärtigen Angebot, seiner Gestaltung und der Präsentation der Ergebnisse jedoch zufrieden, interessiert sich kaum für konkurrierende Ansätze und macht keine eigenen vergleichenden Tests.²⁵³ Allerdings wird beklagt, dass der Suchablauf nicht transparent ist. Und obwohl Unzufriedenheit über das Gefühl einer Bevormundung durch die Suchmaschine herrscht, weil sie uns personalisierte Ergebnisse vorsetzt, die durch Auswertung

253 Vgl. z. B.: Höchstötter: Suchverhalten im Web; Markey: Twenty-five years of end-user searching; Jansen/Spink: How are we searching the World Wide Web?; White: Interactions with search systems; Lewandowski (Hrsg.): Handbuch Internet-Suchmaschinen.

164 | 5 Informationelle Kompetenz in Aktion unserer Suchgewohnheiten entstanden sind, wird die Schlichtheit der eigenen Suchbemühungen nicht aufgegeben.²⁵⁴ Suchmaschinen sind eine wichtige Verbindung zwischen dem eigenen Kopf und der Erweiterung des individuellen Wissens auf der Basis Potenzieller Information aus externen Informationsquellen. Dennoch lässt sich ein ausgeprägter Wunsch nach weiter gehenden Möglichkeiten einer systematischen Einordnung des Wissens in größere Zusammenhänge nicht feststellen. Die Neigung, sich näher mit den Rahmenbedingungen der Nutzung einer neuen Technologie zu beschäftigen, ist unterentwickelt. Über Ursachen lässt sich nur spekulieren. Eine wichtige Rolle spielt sicher das Vorhandensein eines allgemeinen Trends in der Art und Weise der Nutzung digitaler Informationsangebote. Alle, die eine tiefer gehende Beschäftigung mit der Materie nicht leisten können oder wollen, werden darin durch das mediale und soziale Umfeld bestärkt. Immer häufiger wird unterstellt, dass Daten unmittelbar verständlich sind und direkt als Antworten auf Fragen genutzt werden können. Daten werden als Gegenstand eines Einpassungsprozesses in die kognitive Struktur verstanden, der ohne weitere Struktur bildende Maßnahmen erfolgreich sein kann. Die Erkenntnis, dass Daten in Form gebrachte Sinneseindrücke oder Ergebnisse eines Theorie geleiteten Messprozesses sind, tritt in den Hintergrund. Den Daten selbst wird bereits ein hoher Wahrheitsgehalt zugeschrieben, sie werden als für die Lösung von Problemen unmittelbar geeignet betrachtet, und es wird unterstellt, dass dies keiner kognitiven Interpretationsarbeit mehr bedarf. Dass dies alles nur unter den engen Voraussetzungen einer jeweiligen Theoriebindung oder dem Vorhandensein von entsprechenden Referenzbereichen möglich ist, wird dabei übersehen. Schon Ludwig Wittgenstein hat in der Dominanz des Formalen das mögliche Endstadium einer Entwicklung gesehen: Wenn du um verschiedenartige Möbelstücke nur genug Papier herumwickelst, kannst du sie alle so aussehen lassen, als hätten sie dieselbe Form.²⁵⁵

Kontextualisierung, die Suche nach Analogien und die Überprüfung durch Plausibilität sind zentrale Kriterien Informationeller Kompetenz. Die ebenfalls wichtigen Eigenschaften Intuition und Kreativität bedürfen in besonderer Weise des Kontexts und seiner Zusammenhänge für die zu gestaltenden Objekte oder Themen. Die Interpretation der beteiligten Daten innerhalb eines Kontexts ist an eine

254 Vgl. in diesem Zusammenhang die Ergebnisse eines Projekts zur möglichen Beeinflussung von Wahlentscheidungen unter: Pressestelle TU Kaiserslautern: Aufruf zur ,Datenspende‘. 255 Zitiert nach Searle: Die Wiederentdeckung des Geistes, S. 148.

5.5 Daten und Kontext | 165

Theorie gebunden, die dem Interpretierenden mindestens in Grundzügen vertraut sein muss. Der Kontext kann – beispielsweise in Lernprozessen – bereits vorgegeben sein, häufig muss er jedoch erst entdeckt und festgelegt werden. Dies bedarf der Übung anhand geeigneter Vorgaben. Je mehr und je häufiger Kontexte bereits durch mediale Gestaltungen vorgeprägt werden, desto geringer könnte die Fähigkeit werden, Kontexte selbst zu entwerfen. Es ist ein Unterschied, ob fiktionale Themen in Romanen oder Märchen über die Darstellungsformen Text, Bild, Film oder Virtual Reality rezipiert werden. Die Medienlandschaft hat immer mehr Produkttypen hervorgebracht, die stärker eine den Sinneswahrnehmungen der Realwelt angenäherte Präsentation des Kontexts bieten. Das Interesse an der selbstständigen Ausprägung eines kontextualisierten Inhalts scheint geringer zu werden. Ein bekanntes Design-Prinzip lautet: ,Form follows function‘. Die mediale Präsentation hatte ursprünglich ihre Aufgabe darin gesehen, die Rezeption von Inhalten oder die Bedeutung von Aussagen durch geeignete mediale Gestaltung zu unterstützen. ,Form follows function‘ würde hier bedeuten, dass die formale Präsentation die Rezeption der Inhalte unterstützt. Die Inhalte sollten nicht zum Anreiz werden, sich mit den Anforderungen der Form(alen Bedienung) auseinanderzusetzen. Inzwischen wird das Füllen medialer Formen mit beliebigen, gern auch fiktionalen Inhalten als ähnlich wichtig betrachtet. Die Möglichkeiten von Virtual Reality beispielsweise simulieren eine idealisierte Realität und diese Idealisierung wird dann umgekehrt als Erwartung auf das Aussehen der Realität projiziert. Profaner sind im Vergleich dazu die ständigen Veränderungen der Software-Oberflächen und ihrer Interaktionselemente. Animierte Icons, sich ständig öffnende Hinweisfenster und Reorganisationen von Menüelementen erfordern eigene, oft zu hohe, Aufmerksamkeit, obwohl sie eigentlich nur eine Aktion im Rahmen einer Anwendung auslösen sollen. Längst haben wir uns an die mediale Vielfalt der angebotenen Inhalte gewöhnt. Orale Kulturen können wir uns nur noch in historischen Zusammenhängen vorstellen. Hohe Intelligenzleistungen mit Intuition und Kreativität müssen auch in früheren Kulturen vorhanden gewesen sein – dafür ist unsere Existenz der Beweis. Intuition und Kreativität sind dabei eine wichtige Erweiterung des kognitiven Leistungsspektrums und unverzichtbarer Bestandteil Informationeller Autonomie. Ob die Erweiterung der medialen (Re-)Präsentationsformen zu einer schnelleren oder verbesserten Rezeption von Inhalten führt, ist noch offen; kognitive Wissenserweiterung hat es auf jeden Fall auch ohne sie gegeben. Denkbar ist, dass die Fähigkeit zur Schaffung eigener Kontexte für fiktionale Themen (die Fantasiewelten des Romans) als Kreativitätsübung durch die häufige Konfrontation mit immer perfekteren Kontexten nachlässt und dass dies zu einer Verringerung

166 | 5 Informationelle Kompetenz in Aktion der Kreativität führt. Nicht auszuschließen ist, dass dies eine Teilursache für die häufig beklagte Zunahme der Fantasielosigkeit ist.

5.6 Fragmentierung des Wissens Parallel zur Betonung des Faktischen und der Form gegenüber den Inhalten beherrschen die Anforderungen an die instrumentelle Bedienung des jeweiligen Mediums die Auseinandersetzung mit den Inhalten. Eigentlich sollte trotz der Entstehung neuer Medienformen für die zwischenmenschliche Kommunikation der kompetente Umgang weiterhin am kommunizierten Inhalt gemessen werden; vielleicht auch an der Fähigkeit, ein möglichst breites Spektrum dieser Medienformen kennen und nutzen zu können. Das Verständnis ihres Entstehens und die sachgerechte Auswahl aus der Vielfalt wären die richtige Messlatte für Kompetenz. Nichts davon scheint der Fall zu sein. Die Bedeutung der instrumentellen Beherrschung des Mediums ist unter dem Einfluss der Informationstechnik zweifellos gestiegen. Sie ist aber nur die Bedingung für die Beschäftigung mit Inhalten. Sie ist kein Ersatz für sie und selbstverständlich auch kein Bewertungsmaßstab für die Qualität der Auseinandersetzung. Dennoch wird sogar in politischen Programmen die reine Ausstattung von Bildungseinrichtungen mit IT-Infrastruktur als Kompetenz fördernde Maßnahme angepriesen, ohne zu erklären, welche Inhalte denn durch die Informationstechnologie geeigneter zu vermitteln sind. Die Bedeutung des Themas hat beispielsweise die Deutsche Mathematiker-Vereinigung veranlasst, anlässlich des nationalen ITGipfels 2016 ihre Position zur ,Bildungsoffensive zur digitalen Wissensgesellschaft‘ in einer Presseinformation mit dem Titel ,Inhalte statt Geräte‘ zu veröffentlichen: Nicht das bloße Verwenden digitaler Medien, sondern das Verständnis ihrer Grundlagen schafft die Voraussetzung für einen souveränen digitalen Wandel. Ohne die richtigen Lerninhalte bleiben Soft- und Hardwarelieferungen eine Scheinlösung. […] Wir halten es daher für fehlgeleitet, an erster Stelle in digitale Medien zu investieren. Reduziert man Digitalisierungskompetenz auf den Umgang mit digitalen Medien, so glaubt man irrig, Digitalisierungskompetenz entstehe erschöpfend im Lernen mithilfe digitaler Medien. Das Gegenteil ist aber richtig: Erst die auf Grundlagen sorgfältig aufbauende Digitalkompetenz kann das enorme Potenzial moderner Hard- und Software voll nutzen! Digitale Medien sollten nicht um ihrer selbst willen und auf Kosten der Zukunft Lernender gefördert werden.²⁵⁶

256 Deutsche Mathematiker-Vereinigung: Inhalte statt Geräte. Auch andere Autoren haben sich kritisch mit diesem Thema auseinandergesetzt und Vorschläge für alternative Vorgehensweisen gemacht. Stellvertretend seien hier genannt: Liessmann: Geisterstunde; Hensinger: Trojanisches

5.6 Fragmentierung des Wissens | 167

Daten und Fragmentierung Welche Auswirkungen haben diese Veränderungen auf den Fortbestand von Wissen, das an Erfahrung und Kontext gebunden ist? Wer weiß heute noch seine eigene Telefonnummer auswendig? Man ist es gewohnt, die Nummern über gespeicherte Daten abzurufen und selbst ruft man sich in der Regel nicht an. Welche Auswirkung hat die Benutzung von Navigationssystemen auf die Fähigkeit, sich anhand von Karten im Gelände zu orientieren? Die Länge einer zurückgelegten Wanderung wird über eine Schrittzähler-App, die Höhenangabe über die GPS-Funktion einer Höhenmesser-App des Smartphones vorgenommen. Wie viel Vertrauen hat man in die eigene Beurteilung des aktuellen Wetters, wenn die Vorhersage anderes meldet? Es kann nicht grundsätzlich falsch sein, die eigene Einschätzung durch andere oder durch Daten überprüfen zu lassen und gegebenenfalls zu verändern; das sollte aber in einem ausgewogenen Verhältnis stehen und nicht in den Verlust der Intuition oder das Aufgeben der Fähigkeit zur Selbsteinschätzung münden. Im klassischen Modell des Wissenserwerbs wurde der Fähigkeit zum Abwägen unter Berücksichtigung von Fakten ,und‘ Zusammenhängen ,vor‘ einer Entscheidung und der Fähigkeit zur Übertragung auf neue Sachverhalte ein großer Stellenwert beigemessen. Daten und Fakten waren wichtige Bestandteile, die Bewertung der Leistung wurde aber mehr an der Fähigkeit zur sachgerechten Einordnung, der Kontextualisierung und dem Herstellen von Zusammenhängen orientiert. Dies zeigte sich beispielsweise deutlich in Lehr-, Lern- und Prüfungssituationen. Nur schlechte Prüfer neigten dazu, das Memorieren und Reproduzieren von Fakten als entscheidende Prüfungsanforderung auszugeben. Gute Prüfer haben immer die Fähigkeit zum Abwägen, zum Argumentieren unter Berücksichtigung von Rahmenbedingungen, für wichtiger gehalten. Es mag zu früh sein, hier einen Wendepunkt zu sehen. Die zu beobachtenden Tendenzen geben aber Anlass, das Thema aufmerksam zu verfolgen und mögliche Konsequenzen zu durchdenken, um Fehlentwicklungen korrigieren zu können. Die ständige und unproblematische Verfügbarkeit von Information fördern den Eindruck, dass viele Dinge nicht mehr ,gewusst‘ werden müssen. Häppchen und Portionen verdrängen Kontext und Zusammenhänge, Wissen wird auf das Abrufen von fragmentierten Informationseinheiten reduziert. Diese Fragmentierung des Wissens kann nicht ohne Konsequenzen bleiben, insbesondere nicht in den Bereichen Schule, Ausbildung, Studium und Beruf mit ihren gegenüber dem Alltagsgeschehen höheren Anforderungen an die Durchdringung von Sachverhalten zum Zweck der Übertragung auf unbekannte Situationen.

Pferd ,Digitale Bildung‘ [Vortrag]; Hensinger: Digitale Bildung. Es ist nicht erkennbar, dass die zuständigen Instanzen derartige Vorschläge in ihre Überlegungen einbeziehen würden.

168 | 5 Informationelle Kompetenz in Aktion Die Abwertung von Kenntnissen über Zusammenhänge führt unter anderem dazu, dass numerische Kenngrößen mit Möglichkeiten zur automatischen Auswertung inzwischen als ein tauglicher Ersatz für diese betrachtet werden. Dabei verändert bereits die bloße Möglichkeit einer auf Daten gestützten Analyse die Herangehensweise an eine Problemlösung. Nicht auszuschließen ist, dass sie auch die Sicht darauf beeinflusst, was genau eigentlich ein Problem ist. Ein Beispiel aus der Welt der Wissenschaft bzw. des wissenschaftlichen Publizierens, das zwar keine breite Popularität besitzt, dafür aber Trends veranschaulichen kann: Ein Beitrag, der für das Autoren-Identifizierungssystem ORCID²⁵⁷ wirbt, behauptet: Wissenschaftler ihren Publikationen eindeutig zuzuordnen, ist eine Herausforderung.²⁵⁸

Warum, in welchem Zusammenhang und für wen ist das eine Herausforderung? Für den Autor doch nicht. In der Regel wohl auch nicht für den Leser. Das Problem besteht nur für diejenigen, die Publikationen getrennt nach Autoren verzeichnen wollen und die diese Aufgabe allein auf der Basis verfügbarer Daten nicht erfüllen können. Neu ist dieses Problem nicht. Bibliotheken und Bibliografien hatten es schon immer und haben über die Zeit verschiedene Ansätze gefunden, damit erfolgreich umzugehen. Resultate waren internationale Regelwerke zur Ansetzung von Personennamen und darauf basierende Normdaten. Meist haben diese Ansätze allerdings intellektuelle Arbeit erfordert: Kenntnisse erwerben, Recherchen durchführen, Verzeichnisse (Datenbanken) pflegen und dabei Regeln beachten – heutzutage wenig geschätzte Aktivitäten, die früher mit Informationskompetenz verbunden wurden. Interesse am Thema haben mittlerweile auch alle, die (gestützt auf informetrische Verfahren) Zitations-Analysen auf der Basis einer automatisierten Namensidentifikation durchführen wollen, um Kennziffern für personenbezogene Rankings zu ermitteln. Interessanterweise waren automatische Verfahrensweisen zur Trennung gleichlautender Personennamen wenig erfolgreich: Für die zuverlässige Identifizierung von Autoren bedarf es nach wie vor des mit spezifischem Wissen ausgestatteten Intellekts. ORCID versucht daher, durch eine einheitliche Etikettierung der Wissenschaftler eindeutige Daten zu schaffen, die automatisiert abgeglichen werden können: Der Fokus von ORCID liegt auf dem automatisierten Datentausch zwischen unterschiedlichen Systemen, mit denen Wissenschaftler*innen in Kontakt treten – zum Beispiel Verlage, bibliographische Datenbanken und diverse Universitätssysteme wie Hochschulbibliographi-

257 ORCID : connecting research and researchers. 258 Höhner: ORCID an der TH Dortmund.

5.6 Fragmentierung des Wissens | 169

en oder auch Forschungsinformationssysteme. Dabei entscheidet der Wissenschaftler selbst, welchen Organisationen er den automatisierten Datentausch erlaubt. ORCID versteht sich als ,Verteilplattform‘ für Daten, weniger als ein weiterer Anbieter für Profile von Wissenschaftler*innen.²⁵⁹

Inzwischen geraten etablierte Verfahrensweisen in Vergessenheit. Die Befürworter der neuen kennen diese teilweise schon gar nicht mehr und halten ihren Weg nicht nur technologisch sondern auch inhaltlich für eine kreative Neuschöpfung. Angesichts der Unkenntnis der alten Wege fallen ihnen Unzulänglichkeiten der neuen Wege während der Konzeptionsphase gar nicht auf. ORCID beispielsweise suggeriert für sein Verfahren eine Vollständigkeit, die mangels retrospektiver Aufarbeitung alten Materials gar nicht erreicht werden kann. Diese würde intellektuelle und manuelle Tätigkeit erfordern. ORCID ist damit gut geeignet, einen Bruch zu produzieren: Autoren und Publikationen ohne ORCID-Kennung werden allein durch diese Tatsache einen anderen Stellenwert haben. Gehen zusätzlich die Kenntnisse über die früheren Zustände verloren, lassen sich diese bei Bedarf auch nicht mehr rekonstruieren. Der Rückblick auf die Vergangenheit und auf die Wurzeln des Geschehens wird auf die Möglichkeiten zur maschinellen Datenauswertung begrenzt. Wird es einmal eine ORCID-Kennung für S. B. Preuss geben? Diesen vermeintlichen Koautor von Albert Einstein hat es nie gegeben. Durch die schlampige Anwendung von Zitierregeln und verlegerischen Druck zur Kürzung bibliografischer Angaben entstand über eine Kette von Zitaten aus der Abkürzung der Quelle Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften der Name S. B. Preuss.²⁶⁰ Gleichwohl war er für eine gewisse Zeit prominenter Koautor und natürlich gibt es auch Publikationen über ,ihn‘. Für Albert Einstein jedenfalls gibt es schon die ORCID-Kennung ,0000-0001-8528-2091‘, allerdings mit der ,Country‘-Angabe ,Bahamas‘.²⁶¹ Die dort verlinkte Scopus-ID (22988279600) führt dann aber eindeutig auf den ,richtigen‘ Albert Einstein mit der Affiliation Institute for Advanced Studies, Princeton, United States.²⁶² Ähnliche Versprechungen, Autoren und deren Publikationen über Datenanalysen zusammenzuführen und auszuwerten, macht auch ResearchGate²⁶³, ein soziales Netzwerk für Wissenschaftler und Forscher. Es weist nach eigenen Angaben mit Stand Oktober 2018 weltweit mehr als 15 Millionen Personen und mehr als 118

259 Höhner: ORCID an der TH Dortmund. 260 Vgl.: Goenner: Das kurze Leben des S. B. Preuss. 261 http://orcid.org/0000-0001-8528-2091. 262 Einstein, Albert [Scopus Preview]. 263 ResearchGate : share and discover research.

170 | 5 Informationelle Kompetenz in Aktion Millionen Publikationen nach. Auch dieses Netzwerk bietet mit dem RG-Score ein eigenes Scoring der berücksichtigten Personen an. Als Kritik kann man bereits in Wikipedia lesen: Die Plattform erlaubt es, fremde Publikationen von Autoren mit ähnlichem Namen – absichtlich oder aus Versehen – dem eigenen Profil zuzuordnen. In dem Experiment der Kennesaw State University waren dem ,schlafenden‘ Account nach 16 Monaten automatisch 431 Publikationen zugeordnet worden (davon nur sechs korrekt zugeordnet; auf der Website wird dies jedoch so präsentiert, als hätte der Nutzer diese Publikationen aktiv hinzugefügt, obwohl dies automatisch geschehen ist).²⁶⁴

5.7 Entlinearisierung und Fragmentierung: Hypertext Nachdem durch die Präsentation von Text in Bildschirm gerechter Darstellung eine Fragmentierung von Zusammenhängen erkannt worden war, gab es durchaus Bemühungen, dem ein Konzept entgegen zu setzen, das den Kontext der jeweiligen Aussagen erhalten und dessen Nutzung unterstützen sollte. Eines dieser Konzepte war Hypertext von Ted Nelson.²⁶⁵ Anfangs wurden damit große Erwartungen verbunden, die sogar Ausstrahlung auf die Ausbildung eines sozialen Gedächtnisses haben sollten.²⁶⁶ So liest man in Wikipedia: Hypertext codiert im Vergleich zu linearen Informationsdarstellungen komplexe Informationen vergleichsweise redundanzarm. Redundanzfreiheit spart Speicher und Übertragungsbandbreite und vereinfacht die Wartung und Aktualisierung von Inhalten, weil ein zentral hinterlegter Wert nur einmal geändert werden muss, um an allen Stellen angezeigt zu werden, die mit dem Wert verknüpft sind. Die assoziative Struktur eines Hypertextes scheint mehr der Funktionsweise des menschlichen Denkens zu ähneln als rein lineare Texte.²⁶⁷

Als besonderer Vorteil wurde die Entlinearisierung des Textes gesehen, die individuelle Lesepfade und dabei das Bilden von Zusammenhängen unterstützen sollte. Systematische Strukturen sollten nicht mehr starr vordefiniert, sondern in benutzergesteuerten Orientierungs- und Navigationsvorgängen gestaltbar sein. Dazu wurden neben den noch heute bekannten Hyperlinks weitere Hilfsmittel eingesetzt.²⁶⁸ Ein exemplarischer Rechercheverlauf in einer Multimedia-Enzyklopädie kann das Prinzip verdeutlichen: 264 265 266 267 268

Researchgate [Wikipedia]. Vgl.: Nelson: Complex information processing; Nelson: Transhyperability and argumedia. Vgl. Schmidt: Von der Memoria zur Gedächtnispolitik. Hypertext [Wikipedia]. Vgl. als Einführung in das Konzept: Kuhlen: Hypertext.

5.7 Entlinearisierung und Fragmentierung: Hypertext | 171

– – –

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Abrufen des Artikels über einen Bundeskanzler mit seinem Bild; Abrufen des zugehörigen Artikeltexts; Abrufen von Zusammenhängen zu einem vorhandenen Begriff über typisierte Links (zum Beispiel die Unterbegriffe eines Konzepts als weitere Spezialisierungen oder assoziative Konzepte zur Verfolgung weiterer thematischer Interessen); Abrufen von Erläuterungen zu interessierenden Begriffen oder faktischen Darstellungen über Pop-up-Fenster mit Text oder Tabellen; Abrufen weiterer Audio- oder Video-Dateien; Einblenden einer Timeline mit der chronologischen Darstellung zeitgeschichtlicher Ereignisse; Verzweigen auf den Artikel einer anderen Person oder eines anderen Ereignisses; Abrufen des zugehörigen Bildes; usw.

Das Konzept Hypertext wurde als Software realisiert und in Form von Autorensystemen zur Erstellung fertiger Produkte angeboten. Den Nutzern solcher Produkte standen über die Softwarefunktionen verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung, um eigene Zusammenhänge zwischen Begriffen herzustellen. So konnten beispielsweise die zurückgelegten Wege mit ihren Ergebnissen als thematische Cluster gespeichert und bei Bedarf wieder aktiviert werden. Ein ambitioniertes Beispiel für ein multimediales Informationsmittel mit besonders reichhaltigen Hypertext-Funktionen war die digitale Ausgabe der Brockhaus-Enzyklopädie.²⁶⁹ Derartige Produkte konnten auf Vorbilder aus der Welt der konventionellen Medien zurückgreifen. Dort waren es die Synopsen, die Wissen aus ganz unterschiedlichen Bezugsbereichen in einen – häufig chronologischen – Zusammenhang gebracht haben.²⁷⁰ Noch größere Erwartungen waren mit der Entwicklung des sogenannten Semantic Web verbunden. Die Idee des Web 2.0, Daten aus unterschiedlichen Quellen zur Erstellung und Anreicherung dynamischer Webseiten zu nutzen (zum Beispiel das Einbinden von Wetterberichten, Nachrichten oder Kalendern), sollte nun ergänzt werden um das Anreichern semantisch vergleichbarer Daten aus verschiedenen Quellen. Daraus könnten beispielsweise Suchfunktionalitäten geschaffen werden, die semantische Orientierungsfunktionen in Form von Synonymen und anderen in Beziehungen stehenden Begriffen aufweisen; der Sucherfolg wäre nicht

269 Bibliographisches Institut: Brockhaus Enzyklopädie Digital. 270 Vgl. zum Beipiel: Stein/Informedia GmbH: Der grosse Kulturfahrplan, oder das IBM-Poster ,Bedeutende Mathematiker‘. Grundlage für das ,Plakat‘ war die History Wall zur Mathematica Ausstellung 1961 im California Museum of Science and Industry Los Angeles. Vgl. die Abbildung unter: https://sk.pinterest.com/pin/668503138407386223/.

172 | 5 Informationelle Kompetenz in Aktion ausschließlich von der eingegebenen Zeichenkette abhängig. Das Motto des Semantic Web lautete: ,Mein Computer versteht mich‘.²⁷¹ Es konnte der Eindruck entstehen, dass menschliche und maschinelle Verarbeitungsvorgänge für semantisches Wissen (sprich: kognitive Konzepte) einander angeglichen werden sollten. Absicht war es, durch die zu entwickelnden Verfahren die maschinellen Prozesse als Nachbildung menschlicher Vorgänge zu modellieren. Zu einem Schlüsselbegriff wurde dabei Semantische Interoperabilität. Es ist müßig, die Bedeutungsschattierungen nachzuzeichnen, die dieser Begriff im Lauf der wenigen Jahre seit seiner Prägung erfahren hat. Mal soll damit Ähnlichkeit und Austauschbarkeit von Begriffen gemäß bedeutungsmäßigem Inhalt ausgedrückt werden²⁷², mal der fehlerfreie Ersatz oder die fehlerfreie Verknüpfung von Daten zwischen Maschinen. Am deutlichsten wird die gegenwärtige Interpretation in der englischen Wikipedia-Ausgabe: Semantic interoperability is the ability of computer systems to exchange data with unambiguous, shared meaning. Semantic interoperability is a requirement to enable machine computable logic, inferencing, knowledge discovery, and data federation between information systems.²⁷³

In der deutschen Ausgabe findet sich kein selbstständiger Eintrag. Zur Interoperabilität gibt es die nachstehenden, recht kryptischen Ausführungen, mit dem nicht näher erläuterten Hinweis auf einen Unterschied zwischen semantischer und konzeptioneller Interoperabilität: Interoperabilität kann vor allem in der Wirtschaft wichtige Konsequenzen haben, da durch Patente, Geschäftsgeheimnisse oder Fehler in der Koordination Monopolstellungen erreicht oder ausgebaut werden können. Für die Regierungen kann es deshalb von Vorteil sein, Interoperabilität zu unterstützen und zu fördern. Oftmals wird auch zwischen verschiedenen Formen von Interoperabilität unterschieden. So zum Beispiel zwischen semantischer und konzeptioneller Interoperabilität.²⁷⁴

Im Sinn der Computermetapher wird auch hier wieder die Uminterpretation eines etablierten Begriffs vorgenommen: ,semantisch‘ wird auf die rein informationstechnisch verstandene Passgenauigkeit reduziert, damit Methoden der Datenaus-

271 Berners-Lee/Hendler/Lassila: Mein Computer versteht mich. Original: Berners-Lee/Hendler/ Lassila: The Semantic Web. 272 Gödert: Semantische Wissensrepräsentation und Interoperabilität. 273 Semantic interoperability [Wikipedia]. 274 Interoperabilität [Wikipedia].

5.7 Entlinearisierung und Fragmentierung: Hypertext | 173

wertung erfolgreich angewendet werden können. Die Unterstützung des Wissenserwerbs wurde nicht realisiert, obwohl das Konzept dies erlaubt hätte. Von den ursprünglichen Vorstellungen ist damit nicht mehr viel geblieben. Erhalten hat sich die Stabilisierung der Fragmentierung, die durch neue Gerätegenerationen (Smartphones, Tablets) und Dienste (Blogs, Messenger) eher noch gesteigert wird. Die Einführung semantischer Hilfsmittel, die Orientierungshilfe auf der Bedeutungsebene anbieten, hätten diesen Effekt abmildern können. Durchgesetzt hat sich im Alltag die kommerzielle Pragmatik. Reste der Semantic Web-Idee sind vorwiegend Auszeichnungssprachen als Hilfsmittel (HTML, XML, OWL) und Standards (SKOS, ISO 25964) zur Gestaltung von Webangeboten. Die Form hat auch hier als Selbstzweck über die ihr ursprünglich zugedachte Funktion als Gestaltungshilfsmittel gesiegt. Die im Konzept Hypertext zunächst angedachte Vielfalt von Kennzeichnungen für unterschiedliche Beziehungen ist fast ausschließlich auf den Einsatz von Hyperlinks reduziert. Das Ergebnis ist dadurch eher eine Unterstützung der Fragmentierung ohne das Aufzeigen systematischer oder sonstiger Zusammenhänge. Augenfälligstes Merkmal dafür ist, dass der Rücksprung vom Ziel eines verfolgten Web-Links ausschließlich über eine Browser-Funktionalität (den ,Zurück‘-Button) erreicht werden kann. Semantische Interoperabilität ist auch Bedingung für eine ‚Kommunikation‘ zwischen Menschen und autonomen Maschinen. Sie legt fest, welche Eigenschaften die Schnittstellen von informationsverarbeitenden Systemen haben sollen, um formatierte Daten zwischen den Systemen austauschen (‚kommunizieren‘) und ohne weitere Transformationsmaßnahmen weiterverarbeiten zu können. Eine derart verstandene ‚Kommunikation‘ kann Daten nur in einem Sinn berücksichtigen, interpretieren und verarbeiten, der bereits im Datenmodell hinterlegt ist. Unbekannte Datenstrukturen werden bei dieser Form der Verarbeitung abgewiesen. Derzeit sind keine Lösungen bekannt, wie technische Systeme mit Eigenschaften ausgestattet werden können, die dem Kriterium der Plastizität menschlicher Kommunikation entsprechen (Kapitel 5.3). Der Erfolg einer ‚Kommunikation‘ zwischen Menschen und Maschinen ist allein abhängig von der kognitiven Plastizität der menschlichen Partner. Folgt man bei der Gestaltung der Kommunikationsmöglichkeiten zwischen Menschen und Maschinen ausschließlich einer technisch verstandenen Semantischen Interoperabilität, wird das Niveau der Verständigung auf Dauer verflachen. Die Dialoge werden zunehmend an den Möglichkeiten der technischen Systeme und der Definition der Schnittstellen orientiert. Erste Beispiele von ‚Service‘-Angeboten wie maschinelle Telefon-Hotlines führen dies bereits deutlich vor.

174 | 5 Informationelle Kompetenz in Aktion

5.8 Veränderung des Wissensverständnisses Viele Indizien legen nahe, dass sich das Verhältnis zum Wissen und damit das Verständnis von Wissen verändert. Instanz basiertes – also fragmentiertes – Wissen, das als Einzelfakt aus externen Speichermedien abgerufen werden kann, übernimmt die Rolle der Leitvorstellung für das moderne Wissensverständnis. Es ersetzt die frühere Vorrangstellung eines Kontext basierten, auf Verstehen von Zusammenhängen basierten Wissensbegriffs.²⁷⁵ Kontext und Struktur werden für das eigene Wissen als nicht mehr wichtig erachtet. Wissen wird reduziert auf ein abrufbares Gut, das bei Bedarf einem Speicher entnommen und für die beabsichtigten Zwecke verwendet werden kann. Die daraus resultierenden Veränderungen sind in zahlreichen Alltagssituationen zu beobachten. So lässt sich beispielsweise eine zunehmende Unkenntnis über den Zusammenhang zwischen einem Ganzen und seiner Teile bei einer Reparatur oder einem Austausch beobachten. Das Vorzeigen eines defekten Teils allein genügt nicht, es braucht weitere Angaben wie genaue Parameter oder Bauanleitungen mit Zuordnungsmöglichkeiten oder Teile-Kennzeichnungen. Es gibt eine zunehmende Gewöhnung an den Ersatz des Ganzen, im Gegensatz zum Austausch eines defekten Teils. Sicher sind hier auch wirtschaftliche Interessen vorhanden, Einstellungen werden jedoch von der Gemeinschaft erzeugt und die Konsequenzen müssen von allen getragen werden. Noch gibt es Beispiele für die umgekehrte Situation. Zwar verfügen schon Kinder über eine Vorstellung der Bedeutung, Funktion und Wirkung von ,Geld‘, eine exakte Definition entzieht sich jedoch hartnäckig allen Bemühungen der Wissenschaft und des Allgemeinverständnisses.²⁷⁶ Um selbst Zahlungsgeber oder Zahlungsempfänger zu sein, reicht ein an Erfahrung gebundenes und tradiertes Verständnis als Hintergrund aus, eine abstrakte Konzeptualisierung ist nicht erforderlich. Jedes Mitglied einer von der Digitalisierung betroffenen Gesellschaft ist mit Geld und seinen Funktionen vertraut. Es ist deshalb ein gutes Beispiel dafür, wie in modernen Gesellschaften Realität durch die Schaffung von Strukturen und Organisationen erzeugt wird, die von allen Mitgliedern als Wirklichkeit erlebt werden und gegen die man nicht leben kann. Modernes Geld hat den Charakter eines Versprechens ohne materielle Basis, trotzdem wird sein Realitätsbezug nicht in Frage gestellt. Es wird nicht nur gegen Waren und Dienstleistungen getauscht, es wird auch durch Erwartungen auf zukünftige Ereignisse vermehrt. Dass trotz

275 Vgl.: Neuser: Wissen begreifen. 276 Vgl. z. B. die Zusammenstellung von 35 Charakterisierungen aus verschiedenen historischen Epochen bei: Busch: Aspekte der Geldkritik von Aristoteles bis heute.

5.8 Veränderung des Wissensverständnisses | 175

seiner Virtualität eine so große Akzeptanz vorhanden ist, hängt sicher damit zusammen, dass Geld einmal als Gegenwert realer Objekte eingeführt und lange Zeit im Bildungskanon behandelt wurde. Vielleicht findet seine Akzeptanz auch Unterstützung durch manches Kinder- oder Gesellschaftsspiel, in dem diese Sicht trotz gesellschaftlicher Fortentwicklung weiterhin konserviert wird. Geld ist ein Sachverhalt der Institutionellen Realität: Der Prozeß der Schaffung institutioneller Tatsachen kann vor sich gehen, ohne daß sich die Teilnehmer dessen bewußt sind, daß er sich gemäß dieser Form vollzieht. Die Evolution kann von der Art sein, daß die Teilnehmer zum Beispiel denken ,Ich kann dies für Gold eintauschen‘, ,Dies ist wertvoll‘ oder sogar einfach ,Dies ist Geld‘. Sie brauchen nicht zu denken ,Wir weisen einer Sache, die wir aufgrund ihrer rein physischen Eigenschaften nicht für wertvoll halten, kollektiv einen Wert zu‘, obgleich sie genau dies tun. An der Beziehung dieses Prozesses zum Bewußtsein sind zwei Dinge beachtenswert. Erstens gilt offenbar für die meisten Institutionen, daß wir einfach in einer Kultur aufwachsen, in der wir die Institution als selbstverständlich ansehen. Wir brauchen uns ihrer Ontologie nicht bewußt zu sein. Aber zweitens, und das gehört hier mehr zur Sache, in eben der Evolution der Institution müssen die Teilnehmer sich nicht bewußt über die Form der kollektiven Intentionalität im klaren sein, durch die sie Objekten Funktionen zuweisen. Im Verlauf von bewußt vollzogenen Tätigkeiten wie Kaufen, Verkaufen, Austauschen etc. entwickeln sie vielleicht einfach institutionelle Tatsachen. Außerdem können sie in extremen Fällen die Zuweisung der Funktion vielleicht nur aufgrund einer überlieferten Theorie akzeptieren, die möglicherweise nicht einmal wahr ist. Vielleicht glauben sie, daß Geld nur dann Geld ist, wenn es ,durch Gold gedeckt‘ ist […] Solange die Leute fortfahren anzuerkennen, daß X die Statusfunktion Y hat, wird die institutionelle Tatsache geschaffen und am Leben erhalten. Sie müssen nicht noch obendrein anerkennen, daß sie sie auf diese Weise anerkennen, und sie können alle Arten von anderen falschen Überzeugungen in bezug auf das haben, was sie tun und warum sie es tun.²⁷⁷

Wie wird Geld in einer von digitalen Zahlungsmitteln geprägten Welt mit Negativzinsen betrachtet werden? Es dürfte keine zu gewagte Prognose sein, dass die vielfältige Gestalt der täglichen Praxis im Umgang mit Bargeld zu einer Vertrautheit geführt hat, die nicht auf eine Bitcoin-Welt übertragen werden kann. Manche Berichte über die bereits eingetretenen Phänomene in der Welt der bargeldlosen Zahlungsabwicklungen geben durchaus Anlass für solch eine Sicht. Vielleicht werden in dieser Welt die Anforderungen an ein Verständnis der Zusammenhänge zu groß und man wird sich resignierend ergeben. Dann würden durch die falsche Übertragung des gewohnten Verständnisses nun Handlungen in der neuen Welt durchgeführt, gerade so, als wäre sie die alte – so wie heute in Kinder- oder Gesellschaftsspielen.

277 Searle: Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit, S. 56.

176 | 5 Informationelle Kompetenz in Aktion Der Vollzug Daten orientierter Handlungsweisen erfordert kein Verstehen, so lange er in einem Kontext stattfindet, der seiner theoretischen Modellierung entspricht: Die Voraussetzungen für die Verwendung von Gebilden, die eine Funktion haben, liegen oft in Gestalt von Hintergrundphänomenen vor, die einfach als selbstverständlich hingenommen werden.²⁷⁸

Verändert sich der Kontext, ist man auf Verstehen angewiesen oder wird hilflos. Dies setzt einen auf Verständnis zielenden Wissensbegriff voraus und muss sich auf Informationelle Autonomie stützen.

5.9 Bewerten, Entscheiden und Handeln Bewerten, Entscheiden und Handeln sind die zentralen Anwendungsfelder Informationeller Kompetenz. Jedes menschliche Handeln ist mit vorangegangenem Bewerten und Entscheiden verbunden. Beides kann als Resultat eines informationsverarbeitenden Prozesses gesehen werden. Das Bewerten wird (zu) häufig als moralisches Urteil betrachtet, insbesondere wenn es einen Bezug zu Personen hat. Hier geht es jedoch vor allem darum, dass jede Entscheidung, die zwischen Optionen auswählen muss, mit einem Bewertungsvorgang verbunden ist. Gibt es keine Optionen, dann gibt es keine Entscheidungssituation. Dann liegt eine Befehls- und Gehorsamssituation vor, die nicht im Rahmen von Informationeller Autonomie behandelt werden kann. Entscheidungen über zu vollziehende Handlungen basieren auf Wissen und sind Resultat eines kognitiven Informationsverarbeitungsprozesses. Sie werden gern unterschieden in rational gesteuerte Entscheidungsprozesse und solche, die man mehr mit Bauchgefühl verbindet oder als erfahrungsbasiert ansieht.²⁷⁹ Dabei ist es üblich, den rationalen Entscheidungen die höhere Qualität zuzuordnen. Mit Entscheidungen sind kognitive Belastungen verbunden und diese haben Grenzen. Daraus wird – insbesondere unter den diskutierten Bedingungen eines veränderten Wissensverständnisses – häufig ein Argument für die Übertragung von Entscheidungen auf Datenauswertung und Algorithmen abgeleitet. Falls Informationelle Autonomie als unverzichtbare Eigenschaft gesehen wird, ergibt sich ein Spannungsverhältnis zwischen rein auf den Parametern einer Situation basieren-

278 Searle: Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit, S. 135. 279 Vgl.: Gigerenzer: Bauchentscheidungen.

5.9 Bewerten, Entscheiden und Handeln

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den und den auf Erfahrung und Vorverständnis beruhenden Entscheidungsabläufen. Abstrakt lässt sich die Situation folgendermaßen beschreiben. Die instrumentelle Vernunft ist parametrier- und durch äußere Vorgaben steuerbar, die ,innere Realität‘ ist darüber jedoch nicht beschreibbar. Handlungs- und Entscheidungssituationen lassen sich auf informationelle Prozesse mit folgenden Prämissen gründen: – Entscheidungssituationen, insbesondere moralische, setzen die Fähigkeit zum Zugriff auf die innere Prägung voraus; – durch die Orientierung auf äußere Parameter und algorithmische Vorgehensweisen tritt ein Verlust der Fähigkeit ein, innere Prägungen für Entscheidungsnotwendigkeiten in Handlungssituationen zu erwerben und situationsgebunden abzurufen; – reale Handlungssituationen setzen eine Kombination aus der Beurteilung äußerer und innerer Zustände voraus. Der Einzelne muss in der Lage sein, für seine Handlungen spontan moralische Urteile zu fällen. Dazu kann er nicht zeitgleich situationsbezogene Vorgaben von außen abrufen, sondern muss sie auf der Basis innerer Zustände treffen. Notwendig ist also eine Balance zwischen Innen und Außen. Ein Verlust oder auch nur die Einschränkung der Fähigkeit, Zugang zu diesen Zuständen zu haben, hat erhebliche Konsequenzen für die Handlungssicherheit des Einzelnen. Ein Verlust der intuitiven Orientierung und vielleicht auch der Fähigkeit, selbstständig moralische Urteile zu fällen, wären die Folge. Noch im Mittelalter wurden den meisten Menschen der Sinn des Lebens und die Moral von außen vorgegeben. Es gab keine individuelle Verpflichtung, zu diesen Fragen eine eigene Position einzunehmen. Basis war die Wiederholung von Vorgegebenem, nicht das eigene Denken. Der Mensch war ohne den Bezug auf die äußere Quelle (Gott, Texte) nicht lebensfähig. Die Aufklärung hat diesen von uns heute als unbefriedigend empfundenen Zustand überwunden und Vorstellungen des Humanismus an seine Stelle gesetzt: Die Entwicklung einer eigenen inneren Werteskala auf der Basis von Lernprozessen und Anregungen zum eigenen Nachdenken. Autorität wird als innere Projektion für die eigenen Gestaltungsaufgaben genutzt und fungiert nicht allein als äußerer Rahmen. Die äußere Quelle ist damit zwar nicht abgeschafft, für Sinnentscheidungen aber durch innere Prozesse abgelöst, die mit oder ohne Bezugnahme auf die äußere Quelle zu Sinnaussagen kommen. Daraus resultiert nicht nur eine Befreiung, sondern auch die Verpflichtung, den neu geschaffenen Ansprüchen zu entsprechen. Maschinen, auch unter den Prämissen der Künstlichen Intelligenz, haben keine innere Prägung für Entscheidungssituationen und können nur nach äußeren

178 | 5 Informationelle Kompetenz in Aktion Vorgaben agieren. Sie sind kein Ersatz für informationell autonome Entscheidungsvorgänge. Menschen mit innerer Prägung haben die Option, Fragen nach Sinn und Moral autonom zu behandeln. Deshalb wäre es fatal, wenn die Orientierung an algorithmischem Denken zu einem instrumentellen Verständnis von Moral führen würde, das sowohl einem Roboter als auch einem Menschen vorgegeben werden kann. Entscheidungsprozesse, die auf der algorithmischen Auswertung von Daten basieren, dringen in immer mehr gesellschaftliche Bereiche vor. Oft lässt sich nur erahnen, in welchem Umfang dies bereits passiert – beispielsweise in der Versicherungsbranche oder bei der Kreditvergabe –, in anderen Fällen geschieht es ganz offen. Für die Berufung neuer Professoren an Hochschulen ist ein wichtiges Entscheidungskriterium die wissenschaftliche Qualität ihrer Publikationen. Lange war es normal, dafür die Publikationen zu lesen und sich ein Bild von der Qualität des Inhalts zu machen. Heute ist es eher üblich, die Bewertung durch informetrische Kennziffern vorzunehmen. Hierzu bieten sich an: die Zahl der Publikationen in Peer-reviewed Journals (sagt angeblich etwas über die Qualität aus), die Zahl der Publikationen mit Co-Autoren (sagt angeblich etwas über die Kompetenz zur Kooperation aus) und insbesondere der sogenannte Hirsch-Index.²⁸⁰ Das Verfahren ist allen Beteiligten bekannt, weshalb es nur natürlich ist, dass sich heutige Hochschullehrer in spe um einen Kennziffern optimierten wissenschaftlichen Lebenslauf bemühen und dabei auch Tricks zur erfolgreichen Gestaltung nutzen. Gleichzeitig wird die möglichst vollständige Vermessung und Bewertung des wissenschaftlichen Publikationsprozesses durch bibliometrische bzw. informetrische Verfahren als immer wichtiger erachtet. Innerhalb der wissenschaftlichen Einzeldisziplinen steht man dieser hauptsächlich durch die Wissenschaftsadministration beförderten Vorgehensweise durchaus distanziert gegenüber.²⁸¹ Lassen sich Argumente dafür finden, kognitive Entscheidungen ,nicht‘ durch Algorithmus basierte Datenauswertung zu ersetzen? Wir haben mit dem Dataismus ja bereits eine Denkrichtung vor uns, die nicht nur Kaufempfehlungen, Kreditvergaben und Sortimentszusammenstellungen, sondern sogar Geschmack und Vorlieben des Einzelnen auf die Auswertung von Daten stützen will. Es ist daher

280 Ein Indexwert ,n‘ sagt aus, dass ,n‘ Publikationen ,n‘-mal zitiert wurden. Vgl.: Hirsch: An index to quantify an individual’s scientific research output; Hirsch: An index to quantify an individual’s scientific research output that takes into account the effect of multiple coauthorship; vgl. auch die Erweiterung des Ansatzes: Fassin: A new qualitative rating system for scientific publications and a fame index for academics. 281 Vgl.: IMU General Assembly: Recommendation on the evaluation of individual researchers in the mathematical sciences; Sieben Fragen zu Bibliometrie [DMV].

5.9 Bewerten, Entscheiden und Handeln

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179

zweckmäßig, sich daran zu erinnern, dass es höchst erfolgreiche kognitive Entscheidungsverfahren gibt, die nicht gefühlsbasiert oder irrational sind, obwohl sie nicht auf der Grundlage Algorithmus basierter Verfahren ablaufen. Betrachten wir die Aufgabe, einen geworfenen Ball zu fangen.²⁸² Der Ball bewegt sich nach seinem Abwurf auf einer Kurve, die unter bekannten Anfangsbedingungen (Abwurfgeschwindigkeit, Abwurfwinkel, Masse des Balls, Windrichtung etc.) mathematisch zu berechnen ist. Der Auftreffpunkt auf der Erde kann dadurch exakt bestimmt werden. Das Fangen von Bällen kommt in einigen Ballsportarten, wie zum Beispiel Baseball, vor und muss von den Spielern möglichst gut beherrscht werden. Kein Baseball-Spieler löst nach dem Abschlag des Balls allerdings erst Differenzialgleichungen, um den Ball zu fangen. Er wendet vielmehr eine Heuristik an, die sich wie folgt beschreiben lässt: Fixiere den Ball und beginne zu laufen; passe die Laufgeschwindigkeit so an, dass der Blickwinkel auf den Ball konstant bleibt (vgl. Abbildung 5.4). Es versteht sich, dass für die Bestimmung des Blickwinkels kein Instrument benutzt wird, sondern dass es sich hierbei um eine erfahrungsgestützte Abschätzung handelt, die über Erfolg bzw. Misserfolg verfeinert wird. Die Anwendung dieser Heuristik stellt einen kognitiven Prozess dar, der um so erfolgreicher verläuft, je stärker ein Spieler ihn verinnerlicht und je öfter er ihn trainiert und damit Erfahrungen gewonnen hat. Derartige Strategien sind tief in der evolutionär entwickelten Struktur von Lebewesen angelegt.²⁸³ Das Beispiel verdeutlicht den Unterschied zwischen Entscheidungen, die auf kognitivem Wissensverständnis beruhen und solchen, die algorithmisch auf Parameter aufsetzen. Für alle Komponenten des Ballwurfs lassen sich Daten erheben. Diese Daten können einen geeignet bewegungsfähig konstruierten und mit einem ,Fang‘-Algorithmus programmierten Roboter ebenfalls befähigen, den Ball zu fangen. Im Rahmen der Toleranzen des Algorithmus wird ihm das vermutlich sogar zuverlässiger gelingen als vielen Menschen. Als Vorbild für menschliche Handlungen eignet sich diese Vorgehensweise gleichwohl nicht. Es sind zwei Welten mit eigenen Stärken und Schwächen. Erst ein lernfähiger Roboter mit der Fähigkeit zur Entwicklung und Überprüfung eigener Heuristiken auf der Grundlage von Erfolg oder Fehlleistung wäre Anlass, diese Bewertung zu überdenken. Gleichwohl neigen Autoren mit Affinität zur Künstlichen Intelligenz wie Max Tegmark dazu, derartige Strategien unter Anwendung der Computermetapher als Algorithmen anzusehen. Aus unserer Sicht ist dies durch die Standardauffassung 282 Das Beispiel folgt der Darstellung in Gigerenzer: Bauchentscheidungen, S. 17 ff. 283 Die Anwendung dieser Heuristik lässt sich beispielsweise auch bei Hunden beobachten, die einem geworfenen Stöckchen hinterher laufen und dieses oftmals noch vor seinem Auftreffen auf dem Boden abfangen.

180 | 5 Informationelle Kompetenz in Aktion

Abb. 5.4: Wurfparabel.

von Algorithmen nicht gedeckt und dient nur dem Zweck, die Unterschiede zu verwischen. Wir halten daher an einer Unterscheidung zwischen Heuristik und Algorithmus fest.

5.10 Algorithmen zur Handlungssteuerung Algorithmisch basierte Handlungsempfehlungen oder -steuerungen aus Big DataAuswertungen verschärfen die Situation. Sie basieren auf Erfahrung und Kontext, da die Daten aus realen Situationen handelnder Menschen erhoben werden – möglicherweise in Zukunft aber auch von Menschen, deren Informationelle Autonomie bereits begrenzt ist. Heuristiken und Hypothesen werden zwar verwendet, aber in einem anderen Sinn: sie werden ab initio eingebaut und unterliegen nicht der individuellen Erfolgskontrolle und Verfeinerung. Die Auswertung erfolgt in jedem Fall über Algorithmen, über deren Fähigkeiten zur Berücksichtigung sich unterscheidender Situationen nichts bekannt ist. Wie werden die Algorithmen autonom fahrender Lkws die Wahl ihrer Fahrspur vornehmen? Fahren alle auf der gleichen Spur oder sind geringfügige Abweichungen durch den Algorithmus vorgesehen? Wird hierdurch der ohnehin schon vorhandene Effekt des Ausfahrens von Spurrillen noch verstärkt oder vermindert? Wer übernimmt die zusätzlichen Kosten zur Behebung der Schäden? Die Urheber des Algorithmus? Die Idee, Algorithmen zur Handlungssteuerung einzusetzen, erinnert an Vorschläge, die schon Gottfried Wilhelm Leibniz in seiner Ars Combinatoria gemacht

5.10 Algorithmen zur Handlungssteuerung |

181

hat.²⁸⁴ Er ging davon aus, dass ein Entscheidungs- und Handlungsproblem rational formalisierbar ist, indem dessen Parameter vollständig angegeben und einer algorithmischen Auswertung unterzogen werden können. Gero von Randow fasst Leibniz’ Idee folgendermaßen zusammen: Schließlich, argumentiert Leibniz, ist vernünftiges Denken ,nichts anderes als die Verknüpfung und Ersetzung von Zeichen‘, wie in einer Algebra. Anstatt zu streiten, sollten die Kontrahenten in Zukunft sagen: ,Rechnen wir!‘ – friedliche Streitschlichtung durch Algorithmisierung des Geistes. Leibniz: ,Diese allgemeine Algebra bewirkt, dass wir, selbst wenn wir das wollten, nicht irren können und daß die Wahrheit gleichsam als gemalt und wie durch die Tätigkeit einer Maschine auf das Papier gedruckt erfaßt werden kann‘.²⁸⁵

Durch die Befreiung von – willkürlichen – menschlichen Einflüssen auf die Auswertung versprach sich Leibniz die Akzeptanz des Ergebnisses durch alle Menschen. Wichtig ist, dass er die Handlungsschwäche des Menschen durch Algorithmen ersetzen wollte, nicht etwa seine Fähigkeit zur Bewertung oder zum rationalen Denken. Algorithmische Lösungswege wurden auch schon vor Leibniz für die Behandlung der schwierigsten Menschheitsprobleme vorgeschlagen. So machte etwa Raimundus Lullus – ein Vorbild für Leibniz – den Vorschlag, durch kombinatorisch erzeugte Aussagen Gottesbeweise zu schaffen, die Ungläubige zum rechten Glauben bekehren sollten.²⁸⁶ Probleme durch den Einsatz rationaler Werkzeuge zur allgemeinen Zufriedenheit zu lösen und der Lösung dauerhafte Akzeptanz zu sichern, ist eine attraktive Zielvorstellung. Ihre Realisierbarkeit darf angesichts vielfältiger Beeinflussungen menschlichen Handelns und Entscheidens durch affektive Faktoren aber grundsätzlich in Frage gestellt werden. Der Lauf der Geschichte, selbst wenn man sich auf den Zeitraum nach der Aufklärung und Leibniz beschränkt, bietet hierfür keine optimistische Prognose.²⁸⁷ In historischer Perspektive hat die Menschheit verschiedene Modelle gesellschaftlichen Zusammenlebens entwickelt. Alle diese Modelle lassen sich in einem hoch rationalen Prozess durch eine Anzahl von Parametern beschreiben. Prinzipiell wäre es also möglich, durch einen Algorithmus zu einem Ranking der Modelle zu gelangen. Nehmen wir einmal hypothetisch an, sogar die Gewichtung der Parameter ließe sich klären, etwa durch Rückgriff auf die Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen. Welche aktuelle Gesellschaft wäre bereit, ihr vorhandenes Gesellschaftsmodell zugunsten des Spitzenreiters dieses Rankings aufzugeben? 284 285 286 287

Vgl.: Himmelheber: Leibniz : Ars Combinatoria. Randow: Gottfried Wilhelm Leibniz. Duda: Ein mittelalterlicher Computer. Vgl.: Randow: Gottfried Wilhelm Leibniz.

182 | 5 Informationelle Kompetenz in Aktion Welche Art von Gründen spielt dabei eine Rolle? Ist auch das ein rationaler Vorgang? In seiner historischen Analyse sozialer Organisationsstrukturen (unter Einbeziehung sozialer Gemeinschaften von Tieren) kommt Yuval Harari zu dem Ergebnis, dass das Modell siegt, das durch Entfaltung eines höheren und wandlungsfähigeren Organisationsgrads die meisten Anhänger auf sich vereinen kann: Die Geschichte bietet jede Menge Belege dafür, wie wichtig Zusammenarbeit im großen Maßstab ist. Der Sieg ging fast ausnahmelos an diejenigen, die besser kooperierten – nicht nur bei Auseinandersetzungen zwischen Homo sapiens und anderen Tieren, sondern auch bei Konflikten zwischen verschiedenen Menschengruppen.²⁸⁸

Mit dieser Analyse wird einerseits eine rationale Ebene beschrieben – die Optimierung des Organisationsgrads –, andererseits ist durch die Zustimmung der Anhängerschaft ein Kriterium beteiligt, dessen Rationalität nicht von vornherein als gegeben angenommen werden kann. Eine besondere Eigenschaft menschlicher Sozialsysteme ist dabei die Unabhängigkeit von der direkten Bekanntschaft aller Mitglieder, wie sie etwa in Tierpopulationen zur Stabilisierung der Zustände genutzt wird. Hierdurch werden wiederum die Rolle abstrakter Zustände und deren Bedeutung für menschliches Handeln betont. Hararis Schlussfolgerung muss man nicht teilen: Wenn wir Sapiens die Welt regieren, weil wir als Einzige in großer Zahl flexibel kooperieren können, dann untergräbt das unseren Glauben an die Heiligkeit des Menschen.²⁸⁹

Wenn an die Stelle von ,Heiligkeit‘ die ,Fähigkeit zur Abstraktion und Instantiierung bei der Ausprägung von Heuristiken und deren Überprüfung durch Plausibilität‘ gesetzt wird, ergibt dies ein hinreichendes Alleinstellungsmerkmal des Menschen und eine Grundlage für die Teilhabe an Entscheidungsprozessen. Die Präferenz von Gesellschaftsmodellen lässt sich allenfalls als Ergebnis eines algorithmischen Prozesses beschreiben, wenn er ohne Beteiligung der Mitglieder des Sozialsystems erfolgt und diesen oktroyiert wird. Mindestens demokratisch verfasste Staaten lehnen so etwas ab. Sofern die Entscheidung nicht an den Mitgliedern des Sozialsystems vorbeigeht, wird sie von affektiven Faktoren wie Interessen und Vorlieben begleitet. Die Fähigkeit zum Ausgleich zwischen rationalen und affektiven Entscheidungskomponenten ist auch hier das Gebot, nicht der Ersatz menschlicher Entscheidungen durch Algorithmen.

288 Harari: Homo Deus, S. 184. 289 Harari: Homo Deus, S. 191.

5.10 Algorithmen zur Handlungssteuerung |

183

Die Perfektionierung der technischen Produkte, der Auswertungen und der Prognosen erfolgt nicht im Gleichschritt mit der Förderung menschlichen Zusammenlebens. Es sieht nicht so aus, als ob allein Daten, Algorithmen für ihre Auswertung und darauf gestützte automatisierte Entscheidungen ausreichendes Potenzial zur Lösung aller Probleme besitzen.

6 Informationelle Kompetenz: Gelebte Informationelle Autonomie Ich bekämpfe den Imperialismus der instrumentellen Vernunft, nicht die Vernunft an sich. Joseph Weizenbaum²⁹⁰

6.1 Informationskompetenz versus Informationelle Kompetenz Informationelle Kompetenz kann aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden. Auf einer unteren Ebene sind jene Bereiche anzusiedeln, in denen der Umgang mit – vorwiegend digitalen – Materialien praktiziert wird. Hier orientiert man sich hauptsächlich an den Eigenschaften des Materials und seiner möglichst sachgerechten und effizienten Handhabung. Die Arbeitsergebnisse werden mit Medienkompetenz, Digitaler Kompetenz oder Informationskompetenz gleichgesetzt und umfassen eine aus den Medien oder den Materialien abgeleitete Liste von Kriterien. Mit dem Begriff Medienkompetenz verbindet man den sachgerechten Umgang mit einem ,Medium‘, einem Träger oder einem Informationspeicher (einem materiellen Träger Potenzieller Information), für den es gewisser zu erlernender Fähigkeiten und Fertigkeiten bedarf. Das Konzept Informationskompetenz trennt sich im Gegensatz dazu von dieser materiellen Trägerschaft und will auf etwas Virtuelles, die Information selbst, zugreifen. Verstanden als Schlüsselbegriff des Informationszeitalters soll sich niemand mehr einer Aneignung von Informationskompetenz entziehen. Dementsprechend werden bereits Grundschüler mit Informationskompetenz ausgestattet und als Programmpunkt einer wissenschaftlichen Tagung kann man tatsächlich den folgenden Eintrag finden: „Wie kann man Informationskompetenz praktisch in 15 Minuten bei einer Tasse Kaffee vermitteln?“²⁹¹ Die zunehmende Zahl an Informationsquellen und der im Vergleich zu früheren Zeiten erleichterte Zugang zu ihnen, sowie der Trend, Verständnis durch Ermitteln von Fakten zu ersetzen, suggerieren den Eindruck eines potenziell unerschöpflichen Vorrats an Wissen. Manchen Menschen ist dabei noch bewusst, dass es ein Selektionsproblem geben könnte. Doch wie soll man den sachgerechten Umgang damit in fünfzehn Minuten lernen, und wann soll man so etwas lernen? Bei 290 Weizenbaum: Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft, S. 334. 291 Aus der Programmankündigung zum DGI-Forum Wittenberg 2017, zitiert nach Jakisch: DGIForum Wittenberg. https://doi.org/10.1515/9783110620221-006

186 | 6 Informationelle Kompetenz: Gelebte Informationelle Autonomie einer Tasse Kaffee? Und kann der Lernprozess je abgeschlossen sein, funktioniert er voraussetzungslos? Oder braucht es dafür eher doch eine Grundeinstellung, die Informationskompetenz als Erweiterung etablierter Kulturtechniken ansieht, deren Kenntnis eigentlich als unverzichtbar gelten müsste?²⁹² Da Menschen per se informationsverarbeitende Wesen sind, muss eine zweite Ebene betrachtet werden. Diese Ebene ist einerseits abstrakter, weil sie die kognitiven Fähigkeiten und Eigenschaften als Voraussetzungen zum Erwerb von Informationskompetenz beschreibt. Andererseits ist sie real und konkret, da sie den Menschen in seinem Alltagshandeln und Kommunikationsverhalten berücksichtigt. Deshalb ist diese Ebene der Informationellen Kompetenz oberhalb der Informationskompetenz anzusiedeln. Informationelle Kompetenz ist gelebte Informationelle Autonomie. Sie ist die Fähigkeit zur Verarbeitung Aktueller Information in einem Kommunikationsakt und zur Rezeption Potenzieller Information (gemeint als medial externalisierte Information), um eine Wirklichkeitskonstruktion zum Zweck des Handelns oder des Wissenserwerbs durchzuführen. Zwischen Informationskompetenz und Informationeller Kompetenz besteht ein Zusammenhang, der entscheidend ist für individuelle und gesellschaftliche Fortschritte: Die grundsätzlich vorhandene Basisausstattung menschlicher kognitiver Fähigkeiten kann zu einer Stärkung der Informationellen Kompetenz genutzt werden, die ihrerseits wiederum zu einer besseren Beherrschung all der instrumentellen Fähigkeiten ausgebaut werden kann, die man mit Informationskompetenz verbindet. Wird andererseits allein die instrumentelle Beherrschung zum Maßstab, kann dies dazu führen, dass die Anstrengungen zur Verbesserung Künstlicher Intelligenz den Anstrengungen zur Verbesserung natürlicher Intelligenz vorgezogen werden. Informationelle Autonomie würde nicht mehr gelebt. Längerfristig ist nicht auszuschließen, dass genau dieser Weg gewählt wird, der unter den Annehmlichkeiten der Digitalisierung unvermeidlich in eine schleichende Degression informationeller Fähigkeiten führt und letztlich sogar in eine Herausbildung totalitärer Gesellschaftsstrukturen münden könnte. Noch haben wir die Wahl. Beispiele verdeutlichen, in welch abgeflachter oder beliebiger Form die Ausdrücke Informations- und Medienkompetenz inzwischen verwendet werden. So kann man etwa in einer E-Mail an eine fachliche Diskussionsliste folgende Stellenanzeige lesen: Unsere Einrichtung […] sucht zum nächsten möglichen Termin eine Honorarkraft für ca. 10 Stunden die Woche. Gesucht wird eine Kraft für die Vermittlung von Medienkompetenz. […] Das Wissen um Medienkompetenz wird in der heutigen Zeit immer wichtiger. Aus diesem Grund sollen die Schüler und Schülerinnen aus den unterschiedlichen Bildungsgängen

292 Vgl. hierzu etwa: Liessmann: Geisterstunde.

6.1 Informationskompetenz versus Informationelle Kompetenz | 187

ihre verschieden ausgebildeten Kenntnisse weiterentwickeln und ausbauen. Dies soll im Rahmen von Beratungen, Schulungen bzw. Klassenführungen in der Schulbibliothek und Anleitung von festen Arbeitsgruppen gewährleistet werden. […] Ein Themenbereich ist dabei die Einführung von wissenschaftlichem Arbeiten. Dabei kann der Werkvertragsnehmer mit einem festen Personenkreis die Vorbereitungen treffen, wie ,gehe ich an wissenschaftliches Arbeiten‘ heran. Im Rahmen dieses Vertrages kann dann ein methodisches Vorgehen für die jeweiligen fest umrissenen Schüler*innengruppen entwickelt werden.²⁹³

Folgender Hinweis auf einen Best-Practise-Wettbewerb entstammt derselben Diskussionsliste: Die Gemeinsame Kommission Informationskompetenz des Vereins Deutscher Bibliothekarinnen und Bibliothekare (VDB) und des Deutschen Bibliotheksverbands (dbv) lädt Sie ein, sich am diesjährigen Best-Practice-Wettbewerb Informationskompetenz zu beteiligen: […] Thema 2019: Gamen, Zocken, Daddeln: Spielerische Wege der Förderung von Informationskompetenz in Bibliotheken.²⁹⁴

Informationelle Kompetenz und Informations- bzw. Medienkompetenz lassen sich durch eine weitere Eigenschaft voneinander abgrenzen. Informations- und Medienkompetenz richtet sich auf ein Objekt, das Gegenstand neuerer technischer Innovationen ist, und es werden Fähigkeiten für den Umgang damit eingefordert. Eine Untersuchung zum Thema ,Digitale Mündigkeit‘ fasst die für diese Auffassung typische Argumentation zusammen: ,Digitale Mündigkeit‘ ist das Resultat von Medienbildungsprozessen bzw. von mit digitalen Medien assoziierten Emanzipations- und Erkenntnisprozessen, die Individuen unter Aufbringung eigener Anstrengung durchlaufen, um an der digital mediatisierten Gesellschaft teilhaben zu können. Sie zeigt sich in einer Kombination der Merkmale digitalisierter Medienkompetenz, Autonomie und Selbstbestimmung und ist zu ihrer Verwirklichung auf das selbstständige Denken des Individuums, den Einbezug von Kulturpraxis und die Kontextbedingungen einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung angewiesen.²⁹⁵

Die Formulierung „um an der digital mediatisierten Gesellschaft teilhaben zu können“ belegt, dass Digitale Mündigkeit hier als ein Attribut gesehen wird, das erst mit der neuzeitlichen Entwicklung einer bestimmten Form von Technik Bedeutung erlangt hat. An anderer Stelle lässt die Argumentation durchaus Parallelen zu unseren Standpunkten erkennen, kann allerdings durch die Bindung an äußere Faktoren keine Stringenz erlangen:

293 E-Mail an InetBib vom 13.07.2018. Vgl. auch: InetBib – Internet in Bibliotheken; dort auch Zugang zum Archiv der Mailingliste. 294 E-Mail an InetBib vom 05.10.2018. 295 Bender: Digitale Mündigkeit, S. 78.

188 | 6 Informationelle Kompetenz: Gelebte Informationelle Autonomie Als Merkmale, die in der Definition von digitaler Mündigkeit zum Tragen kommen werden, seien an dieser Stelle also Autonomie, selbstständiges Denken und Selbstbestimmung festgehalten. Als Dimensionen wurden eine politisch-gesellschaftliche Dimension (freiheitlichdemokratische Grundordnung) und eine individuelle Dimension (Verstand, Entschlusskraft, Aktivität) herausgearbeitet.²⁹⁶

Das Verständnis von Informationeller Kompetenz ist im Gegensatz dazu weder an eine Form des Mediums noch an eine zeitliche Epoche gebunden, sondern lässt generell den Bezug zu allen Situationen zu, die mit kognitiver Informationsverarbeitung zusammenhängen. Folglich kann auch kein instrumentelles Verständnis im Umgang mit informationellen Aufgabenstellungen im Vordergrund stehen. Entscheidend ist die Sicht auf die Invarianten der kognitiven Fähigkeiten, durch die Informationelle Kompetenz als kognitive Basisfunktion ausgezeichnet ist. Dies sind Fähigkeiten wie Kontextualisieren, Abstrahieren und Instantiieren, Anwenden von Intuition, Heuristiken und Hypothesen, Analogien bilden, Plausibilitätsprüfungen, Schlussfolgern sowie Strukturieren und Ordnen. Ein Beispiel zur Illustration: Welche Vorgehensweise steht im Jahr 2019 für ein größeres Maß an Informationeller Kompetenz: der Versand von Fotos, die mit einer Digitalkamera erstellt wurden, per E-Mail-Anhang oder der Versand von Smartphone-Fotos per WhatsApp? Fest steht, dass die Vertrautheit mit beiden Verfahren vorteilhafter ist, als nur eines zu beherrschen. Was ist, wenn man eine der beiden Methoden aus Gründen ablehnt, die von anderen Menschen nicht geteilt werden? Beeinträchtigt das die Informationelle Kompetenz? Die Antwort auf solche Fragen hängt nicht nur von dem möglicherweise vorhandenen informationellen Problem ab, sondern auch vom Zeitgeist. Wird dieser berücksichtigt, fällt die Antwort eindeutig aus. Man kann sich einer Bewertung aber auch grundsätzlicher nähern. Hierzu sollte man zunächst einmal versuchen, das informationelle Problem zu ermitteln, um zu entscheiden, welches Hilfsmittel für die Bearbeitung gewählt werden sollte. Dies ist der übliche Weg, um zu sachgerechten Entscheidungen über die Auswahl eines Hilfsmittels, einer Methode oder eines Werkzeugs zur Problembearbeitung zu gelangen. Die Analyse kann dabei durchaus zu der Erkenntnis führen, dass kein echtes informationelles Problem vorliegt: Der Versand eines Schnappschusses an Freunde lässt sich kaum vergleichen mit der Übermittlung von Illustrationen für eine Buchproduktion. Nicht jedes vermeintliche informationelle Problem ist tatsächlich eines, das als Messlatte zur Beurteilung Informationeller Kompetenz dienen kann. Unsere Zeit ist voll von Phänomenen – nicht nur informationellen –, die den Eindruck vermitteln, dass es keine Balance mehr gibt zwischen der Bearbeitung 296 Bender: Digitale Mündigkeit, S. 76.

6.1 Informationskompetenz versus Informationelle Kompetenz | 189

der wichtigen und der weniger wichtigen Aufgabenstellungen. Hierfür belastbare Belege anzugeben, ist schwer. Noch schwerer ist es, Erklärungsansätze zu vermeiden, die nicht gleichzeitig Kulturpessimismus oder Dekadenz- und Untergangsszenarien bemühen. Akzeptiert man jedoch die Beobachtung, führt dies zwangsläufig zu der Forderung, dass Informationelle Kompetenz die Fähigkeit umfassen sollte, bei informationellen Problemstellungen zwischen wichtig und unwichtig unterscheiden zu können. Interpretationen von Informationsverarbeitung beginnen bei datentechnischen Vorgängen und führen bis zu kognitiven Prozessen, die darüber hinaus in einem sozialen Umfeld stattfinden können. Hier soll der Schwerpunkt den Situationen gelten, in denen Informationsverarbeitung die Suche nach externalisierter Information und deren Rezeption umfasst. Externalisierte Informationsquellen dienen dabei als Ressource für die Erweiterung des eigenen Wissens, indem das Gefundene in Bezug auf die eigene Zielsetzung bewertet und in Aktuelle Information umgesetzt wird. Informationelle Kompetenz ist also ein auf eine spezielle Situation bezogener Teilaspekt Informationeller Autonomie, eben einer ,gelebten‘ Informationellen Autonomie. Algorithmisch basierte Handlungs- oder Wertvorgaben können unter Beachtung Informationeller Autonomie nur als subsidiäre Unterstützung menschlichen Denkens und Handelns gesehen werden. Solange sich informationstechnische Informationsverarbeitung nicht selbst generieren kann, bleiben kognitive Informationsverarbeitung und Informationelle Autonomie ihre Voraussetzung. Als kognitive Eigenschaft kann Informationelle Autonomie nicht abgeschaltet werden; sie ist auch dann vorhanden, wenn in Teilbereichen Ersatz- oder Ergänzungsfunktionen greifen. Sie kann aber gering geschätzt werden. Noch bedenklicher ist es, wenn ihr Wert oder Nutzen für die menschliche oder gesellschaftliche Entwicklung in Frage gestellt werden. Für die gelebte Informationelle Autonomie ist das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zur Informationsverarbeitung unverzichtbar. Dieses hängt von der Glaubwürdigkeit ab, die man einer Information beimisst. Die Bewertung der informationellen Glaubwürdigkeit geschieht dabei auf mehreren Bezugsebenen: Die kognitive Ebene Kognitive Informationsverarbeitung basiert auf Sinneswahrnehmungen, kommunikativen Austauschakten oder externalisierter Information. Will man nicht grundsätzlich bezweifeln, dass durch diesen Prozess sinnvolle Ergebnisse erzielt werden können, muss man ihm Glaubwürdigkeit unterstellen. Ständige Zweifel an der Glaubwürdigkeit der eigenen Informationsverarbeitung würden ein geregeltes gesellschaftliches Leben schwierig gestalten. Die Beispiele optischer Täuschun-

190 | 6 Informationelle Kompetenz: Gelebte Informationelle Autonomie gen zeigen jedoch, dass sich Fehler einschleichen können, die zu einer Differenz zwischen der messbaren Realität und dem Ergebnis des kognitiven Prozesses führen. Der schadensfreie Umgang mit diesem und vergleichbaren Phänomenen wird durch die Kenntnis ihrer Wirkungsmechanismen und die diskursive Verarbeitung mit anderen Menschen ermöglicht. Die Ebene der Quelle Informationen außerhalb der individuellen kognitiven Sphäre werden als Quellen mit Inhalt gekennzeichnet, für die sich ebenfalls die Frage nach ihrer jeweiligen Glaubwürdigkeit stellt. Quellen externalisierter Informationen genießen unterschiedliche Grade an Glaubwürdigkeit, denn Glaubwürdigkeit ist immer ein zugeteiltes Attribut und kein immanenter Bestandteil der Quellen. Dabei spielt es keine entscheidende Rolle, ob es sich bei der Quelle um eine andere Person oder um einen Speicher für externalisierte Information handelt. Die Entscheidung über ihre Glaubwürdigkeit erfolgt auf der Basis von Erfahrungen auf einer Skala, die von Verlässlichkeit bis hin zur beabsichtigten Irreführung reicht. Die Ebene der Inhalte Für die Glaubwürdigkeit von Inhalten gibt es kein objektives Kriterium. Die Einschätzung kann nur auf der Grundlage des eigenen oder unter Zuhilfenahme von fremdem Wissen vorgenommen werden. Bei der Einbeziehung von fremdem Wissen kommt die Frage nach der Glaubwürdigkeit der Quelle hinzu. Wegen der fehlenden a priori Kennzeichnung von Information als glaubwürdig, ist man also prinzipiell nicht geschützt gegen informationelle Irreführung, Lüge oder absichtsvollen Betrug. Als Korrektiv stehen ausschließlich Wissen und Plausibilitätsüberlegungen zur Verfügung. Beides muss jedoch nicht nur vorhanden sein, sondern auch angewendet und in seiner Anwendung geübt werden. Die Ebene der Interessen Die Erfahrung zeigt, dass es einen engen Zusammenhang zwischen der Glaubwürdigkeit und den Interessen gibt, die mit der Bereitstellung und Rezeption von Informationen verbunden sind. Das fördert einen manipulativen Umgang mit ihnen in Abhängigkeit von der jeweiligen Interessenlage und kann zum Verfälschen von Informationen, zum Verschweigen notwendiger Angaben, oder – seitens des Rezipienten – zum bewussten Ausblenden von Sachverhalten führen. Ein Gesamtbild informationeller Glaubwürdigkeit kann sich nur aus der Berücksichtigung aller Ebenen ergeben. Damit wird ein weites Anwendungsfeld Informationeller Kompetenz beschrieben, das zum Thema Informationelle Selbst-

6.2 Informationelle Selbstbestimmung oder Abhängigkeit | 191

bestimmung bzw. Informationelle Abhängigkeit überleitet. Ein gesellschaftliches Konzept Informationeller Selbstbestimmung wird sich um so leichter realisieren lassen, je mehr es sich auf die Kriterien für Informationelle Glaubwürdigkeit stützen kann.

6.2 Informationelle Selbstbestimmung oder Abhängigkeit Informationskompetenz in seiner instrumentellen Interpretation wird üblicherweise ohne Bezug auf gesellschaftliche Strukturen gesehen; Diskussionen um die für notwendig erachteten Fertigkeiten unterstellen, dass Informationskompetenz invariant gegenüber allen Gesellschaftsbedingungen ist. Durch den hier vorausgesetzten engen Zusammenhang zwischen Informationeller Kompetenz und Informationeller Autonomie ist von Bedeutung, in welchem Umfang die Gesellschaft die Entwicklung Informationeller Autonomie fördert oder verhindert. Diskutiert wird dies im Kontext der individuellen Freiheitsrechte als sogenannte Informationelle Selbstbestimmung. Sie hat zuletzt auch durch höchstrichterliche Rechtsprechung einen hohen Stellenwert bekommen: Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist im deutschen Recht das Recht des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner personenbezogenen Daten zu bestimmen.²⁹⁷

Netzpolitische Debatten thematisieren vor allem die vielfältigen Anstrengungen der staatlichen Sicherheitsbehörden, aktuelle Bedrohungen der Sicherheitslage regelmäßig dafür zu nutzen, bereits erreichte juristische Standards wieder in Frage zu stellen.²⁹⁸ Diese staatliche Vorgehensweise existiert jedoch nicht erst seit der Einführung neuer informationstechnischer Entwicklungen, sondern wird durch deren Möglichkeiten allenfalls forciert. Grundlegender ist die Folgerung, dass Informationelle Selbstbestimmung im Rahmen der Informationellen Autonomie ein unveräußerliches Menschenrecht darstellt. Menschenrechte können im Rahmen von staatlichen Willkürmaßnahmen eingeschränkt, ihre Preisgabe kann jedoch nicht legitimiert werden; auch nicht mit der vermeintlich guten Absicht, den Einzelnen fördern zu wollen. Allein das Infragestellen Informationeller Selbstbestimmung ist also eine Verletzung der

297 Informationelle Selbstbestimmung [Wikipedia]; mit Angabe der einzelnen Urteile des Bundesverfassungsgerichts. 298 Wir verweisen lediglich auf die Initiative Digitalcourage, die regelmäßig über Entwicklungen der Thematik berichtet, vgl.: Staatstrojaner [Digitalcourage].

192 | 6 Informationelle Kompetenz: Gelebte Informationelle Autonomie Informationellen Autonomie, denn man kann nicht über Informationelle Selbstbestimmung reden, ohne sie auf ein Konzept wie Informationelle Autonomie zu gründen. Informationelle Selbstbestimmung als kognitives Attribut hat demzufolge eine Rückwirkung auf das Verhalten des Einzelnen im Umgang mit seinen Rechten. Dieses Recht muss im Gegenzug auch gelebt werden. Dabei lässt sich die Gefahr einer Überforderung nicht völlig ausschließen, was wiederum die Autonomie gefährdet: Geht in der Gesellschaft das Bewusstsein für Informationelle Autonomie verloren und wird sie vom Einzelnen deshalb nicht mehr gelebt, besteht die Gefahr der Herausbildung eines Informationellen Totalitarismus (vgl. Kapitel 7). Eine Vielzahl informationeller Anmutungen stellen die Informationelle Selbstbestimmung zunehmend in Frage oder gefährden sie sogar. In Alltagskontexten trifft unser Wissen auf die Ergebnisse von Datenauswertungen. Manchmal können wir noch selbst entscheiden, ob wir erworbene Kenntnisse zur Grundlage unserer Handlungen machen wollen oder Signalen vertrauen, die durch nicht bekannte Parameter gesteuert werden. Der Trend weist – analog zur Ablösung der Verständnis basierten Wissensvorstellung (vgl. Kapitel 5.9) – auf eine Bevorzugung der externen Parameterauswertung als Basis für menschliche Entscheidungen. Etwas positiver ist zu beurteilen, zumindest für Einzelfälle, wenn Parameter und Algorithmen menschliche Entscheidungen und Handlungen lediglich unterstützen. Da es keine Daten ohne Kontext oder Theoriebindung gibt, übernimmt man mit der Nutzung externer Daten für Entscheidungen und Handlungen immer auch den jeweiligen Hintergrund. Bei naturwissenschaftlich-technischen Vorgängen ist dies in der Regel nur ein akademisches Problem (sieht man einmal vom Effekt des Wissensverlusts ab, der bei Ausfall der Datenquelle unter Umständen alternative Entscheidungsfindungen verhindert). Für ökonomische, politische oder andere gesellschaftliche Vorgänge stellt sich dies jedoch anders dar. Es gibt zwei Varianten: Ist der Kontext der benutzten Daten affin zu den eigenen Vorstellungen und ist man sich dieser Tatsache bewusst, ist die Benutzung der Daten unproblematisch. Ist man sich der Zusammenhänge jedoch nicht bewusst oder ist der Kontext nicht affin zur eigenen Sichtweise, geht die Informationelle Selbstbestimmung mindestens teilweise verloren und man gerät in eine Informationelle Abhängigkeit. Nachfolgend einige Beispiele, um mögliche Wege in diese Informationelle Abhängigkeit zu verdeutlichen. In allen Fällen geht es um den Konflikt zwischen der Erleichterung von Alltagssituationen und den damit verbundenen Eingriffen informationeller Anwendungen. Ein gewohnter Alltagsvorgang ist inzwischen die Leergut-Rückgabe über Automaten. Wenn alles funktioniert, handelt es sich um einen problemlosen Vorgang, der Mitarbeitern eine zeitaufwendige und lästige Arbeit erspart. Wird das Leergut aber vom Automaten abgelehnt, wird einem sehr deutlich gemacht, dass die

6.2 Informationelle Selbstbestimmung oder Abhängigkeit | 193

Entscheidung darüber, was eine Pfandflasche ist, nicht in das eigene Ermessen gestellt ist, sondern in das des Automaten bzw. das des Programmierers, der die Erkennungssoftware programmiert hat. Glücklicherweise ist es in den meisten Unternehmen noch üblich, dass Fehler bei der Erkennung von den Mitarbeitern ausgeglichen werden. Wird das so bleiben oder wird der Automat eines Tages das endgültige Entscheidungsrecht bekommen? Werden dann Gerichte über die Rückgabeberechtigung von Pfandflaschen entscheiden müssen? Das zweite Beispiel beschreibt die vielfach erlebte Situation, von einem Navigationssystem nicht zum Ziel, sondern in die Irre geführt worden zu sein. Sicher stellt das Navigationssystem im Vergleich zur Benutzung von Karten (zumindest wenn es keinen Karten lesenden Beifahrer gibt) eine Erleichterung der Wegfindung dar. Auch hier sind es vor allem die Konsequenzen von Fehlfunktionen, die zum Nachdenken anregen. Manch einer kann sich durch die noch vorhandene Fähigkeit zur Interpretation einer klassischen Karte aus der misslichen Situation befreien, nachdem ihn das Navigationsgerät erst einmal in die Irre geführt hat oder ausgefallen ist. Mit der durchgängigen Benutzung von Navigationssystemen oder GPS-Trackern könnte nun aber eine Fähigkeit verloren gehen, die für unsere Zivilisation vielleicht doch größere Bedeutung besitzt.²⁹⁹ Inzwischen hat sich auch die Presse des Themas angenommen. In einer Tageszeitung vom 15.10.2017 kann man auf der ersten Seite unter der Überschrift ,Wer lenkt Sie eigentlich?‘ lesen: Immer häufiger bleiben Menschen im Morast stecken oder fahren in den Fluss, weil sie der Computerstimme im Auto folgen. Machen uns GPS-Geräte dumm? Forscher sagen: Der Orientierungssinn kann durchaus verloren gehen, wenn nur noch die Technik zählt.³⁰⁰

Ein drittes Beispiel: Arztrechnungen für Privatpatienten werden häufig durch einen Abrechnungsdienst zugestellt. Begleitschreiben zur Rechnung geben dann Hinweise der folgenden Art: Diese Rechnung enthält einen DataMatrix-Code. Hierdurch können Sie diese Rechnung via RechnungsApp Ihrer Versicherung einreichen und sparen Zeit und Portokosten. Alles was Sie brauchen ist ein Smartphone und die kostenlose App Ihrer Versicherung. Selbstverständlich

299 Die Benutzung von GPS-Daten verdeutlicht die starke Theorie-Abhängigkeit solcher Vorgehensweisen. Je nach Vorgaben eines Systems muss man den gewählten Ort in Form von Dezimalgraden [52.520007 (Breitengrad), 13.404954 (Längengrad)] oder im GMS-System [52 ̊ 31‘ 12.025“ nördliche Breite / 13 ̊ 24‘ 17.834“ östliche Länge] angeben und gegebenenfalls vor einer akzeptierten Eingabe auf einen Umrechner zurückgreifen (jeweils im Kartenbezugssystem WGS 84). 300 Wer lenkt Sie eigentlich? [Rheinpfalz]; vgl. auch den zugehörigen Artikel: Wolfangel: Immer stur dem Navi nach.

194 | 6 Informationelle Kompetenz: Gelebte Informationelle Autonomie können Sie Ihre Rechnungen auch weiterhin wie gewohnt auf dem üblichen Weg an Ihre Versicherung weiterleiten.³⁰¹

Auf der Webseite einer Krankenkasse findet man den korrespondierenden Text: Sie waren beim Arzt und möchten Ihren Leistungsauftrag einreichen? Mit der XY LeistungsApp geht das ganz komfortabel, von überall aus und zu jeder Zeit. Denn als Mitglied der XY Krankenversicherung brauchen Sie dazu nur noch Ihr Smartphone zu zücken: Ob Arztrechnung, Rezept oder Verordnung – ein Foto genügt, und schon können Sie Ihre Belege direkt per App an die XY schicken.³⁰²

Unbestritten ist wohl, dass es sich bei diesem Beispiel um Daten höchster Vertraulichkeit handelt. Ähnlich wie beim Thema Kundenkarten, Payback-Karten oder sonstigen Identitätskarten für Abrechnungsvorgänge stellen sich grundsätzliche Fragen: Wie viele Kenntnisse – technische wie organisatorische – sind erforderlich, um den Vorgang in seiner ganzen Komplexität zu verstehen? Wie transparent ist ein solcher Vorgang für den Inhaber der Daten? Wer kennt die datentechnischen Einzelheiten und Stationen des Übermittlungswegs? Auf welchen Festplatten welcher Server werden Kopien der übertragenen Rechnung und ihrer Befunddaten gespeichert und durch wen und für wie lange? Wer trägt die Last datentechnischer Fehlübermittlungen? Wie viel Vertrauen muss der datentechnischen Übermittlung entgegengebracht werden? Die Zahl der beteiligten Instanzen hat sich gegenüber dem durch ein Postgeheimnis geschützten brieflichen Übertragungsweg erhöht. Es gibt mindestens den Ersteller der App, den Telekommunikations-Provider, den Anbieter der physikalischen Netzwerkstruktur und die Krankenkasse, jeweils mit einer nicht bekannten Organisationsstruktur. Formal mag es für jede der Instanzen den rechtlichen Schutz durch Gesetze zum Fernmeldegeheimnis, zum Datenschutz und zu den Persönlichkeitsrechten geben. Doch wie will man das Verfahren tatsächlich gegen Missbrauch absichern? Wer soll dies tun? Jede Instanz für sich oder eine Aufsichtsinstanz? Welche Rolle spielt der Inhaber der Daten und wem gehören sie? Die schon als Beispiel bemühte Krankenkasse schreibt auf ihrer Webseite zu der Frage ,Sind meine Daten in der App sicher?‘: Auf die Sicherheit des jeweiligen Endgeräts haben wir natürlich keinen Einfluss. Diese liegt in der Verantwortung des Besitzers. Die Sicherheit der Leistungs-App wurde jedoch im Vorfeld geprüft. Ihre Daten in der App sind nach aktuellem Stand der Technik verschlüsselt und 301 Text aus dem Begleitschreiben eines Abrechnungsdienstes vom 23.11.2017. 302 Der Name der Krankenkasse ist unkenntlich gemacht worden, da mangels entsprechender Vergleichsmöglichkeiten nicht bekannt ist, wie repräsentativ die Aussagen sind. Daher wird auch auf die Angabe einer Adresse für die Webseite verzichtet.

6.2 Informationelle Selbstbestimmung oder Abhängigkeit | 195

somit sicher. Durch die empfohlene Vergabe des Passworts innerhalb der App wird diese Sicherheit zusätzlich erhöht. Sollten die Daten in eine Cloud geladen/gesichert werden, sind diese weiterhin durch die App-Verschlüsselung verschlüsselt.³⁰³

Weitergehende Angaben zum Verfahren oder Antworten auf die zuvor aufgeworfenen Grundsatzfragen findet man nicht. Wie vereinbart es sich mit dem Recht auf Informationelle Selbstbestimmung, wenn die Transparenz der informationstechnischen Prozesse zur Verarbeitung hochsensibler Persönlichkeitsdaten nicht mehr gewährleistet ist? Wie viele Bedenken oder wie viel Misstrauen ist also gegenüber einem solchen Vorgang angebracht? Wer gewährleistet die Berechtigung des Vertrauens? Wir erinnern uns: Daten haben einen Theoriehintergrund, der für ihre korrekte Interpretation unerlässlich ist. Weitere Beispiele: Zahlreiche Geräte geben Verbrauchswerte an: Verbrauchsmesser für Benzin im Auto, für Heizöl in der Heizung, für Strom in der Waschmaschine oder in anderen Haushaltsgeräten usw. Alles mag seine Richtigkeit haben, doch man erfährt meist nichts über den Hintergrund der eingesetzten Messverfahren und bezeichnenderweise sind die wenigsten dieser Verbrauchsmesser Grundlage für die Abrechnung mit dem jeweiligen Lieferanten. Egal ob Tankstelle, Stromoder Heizöllieferant, alle rechnen auf Basis eigener Messgeräte ab, die uns qua amtlichem Eichstempel ihre Seriosität signalisieren. Es gibt Rasierer mit einer durch Software gesteuerten Angabe für den Abnutzungsgrad des Klingenblocks und des Scherblatts. Da durch fortgeschrittene Materialabnutzung Hautirritationen hervorgerufen werden können, ist es grundsätzlich nützlich, etwas über diesen Abnutzungsgrad zu erfahren. Wie kann man aber sicher sein, dass tatsächlich der Abnutzungsgrad und nicht lediglich die Nutzungsdauer gemessen wird, es sich also nicht nur um eine verkaufsfördernde Maßnahme handelt?³⁰⁴ In den genannten Beispielen ist die Informationelle Abhängigkeit bereits weit fortgeschritten, und nicht alle Daten bestehen den Test auf Glaubwürdigkeit. Woher nehmen wir die Gewissheit über die Korrektheit von Methoden und Daten? Gegenkontrollen mittels alternativer Messverfahren liefern häufig abweichende Ergebnisse. Wer hat Recht? Noch mehr Beispiele werden jedem aus seinem eigenen Umfeld einfallen, da mittlerweile in einer Vielzahl von Fällen qualitative Bewer-

303 Diese Angaben wurden am 01.12.2017 ermittelt. 304 Ende 2017 machte eine angeblich über eine Softwarefunktion gesteuerte Lebensdauerverkürzung des Druckerherstellers Epson Schlagzeilen, die dazu führte, dass die Druckerpatronen trotz noch vorhandener Tinte nicht mehr genutzt werden konnten. Frankreich hat eine solche Form der Manipulation bereits gesetzlich verboten (vgl: Marwan: Druckerhersteller wegen geplanter Obsoleszenz verklagt).

196 | 6 Informationelle Kompetenz: Gelebte Informationelle Autonomie tungen durch Kennziffern gestützte Auswertungen ersetzt worden sind. Das von den Befürwortern immer wieder betonte Standardargument einer vermeintlich höheren Objektivität ignoriert, dass jede Kennziffer nur mit ihrem jeweiligen theoretischen Hintergrund aussagekräftig ist. Die vermeintliche Objektivität ist nicht unabhängig von diesem Hintergrund und deswegen auch nicht vor Missbrauch geschützt. Manche der Beispiele lassen noch erkennen, dass eine menschliche Entscheidung durch eine rationale Analyse von Parametern unterstützt werden soll, weil sie der menschlichen Wahrnehmung nicht unmittelbar zugänglich sind. Bei Entscheidungen im Rahmen gesellschaftlicher Prozesse bekommt die Parameter basierte Entscheidungsunterstützung eine ganz andere Dimension. Beispiel hierfür ist der vor wichtigen Wahlen zur Verfügung gestellte Wahl-O-Mat.³⁰⁵ Durch die rechnerische Bestimmung einer Übereinstimmungsquote zwischen der eigenen Überzeugung und den Aussagen der Parteiprogramme soll Wählern die Entscheidung zwischen den Parteien erleichtert werden. Zielgruppe sind angeblich die noch unentschlossenen Wähler. Die Propagierung und Benutzung eines solchen Systems bleibt dennoch nicht ohne Einfluss auf alle Wähler, da es den Charakter des Wahlakts an sich verändert: Braucht es eine Mindestübereinstimmungsquote, bevor man einer Partei seine Stimme gibt? Was passiert, wenn zwei Parteien eine annähernd gleiche Quote erreichen? Was passiert, wenn keine Partei diese Quote erreicht? Was kann es an der Benutzung des Wahl-O-Mat darüber hinaus auszusetzen geben? Zunächst werden Handlungsfelder wie das aktuelle politische Geschehen zu rational funktionierenden Schauplätzen erklärt, obwohl dies nicht so ist. Die Glaubwürdigkeit der Aussagen von Wahlprogrammen für späteres politisches Handeln unterliegt grundsätzlich einer kritischen Einschätzung. Noch weitaus schlimmer ist, dass gleichzeitig die Botschaft transportiert wird, auch der Einzelne solle seine Wahlentscheidung an rationale Kriterien binden – Systeme wie der Wahl-OMat geben genau dafür eine Hilfestellung. Glaubwürdigkeit, Authentizität und Überzeugungskraft, Fähigkeit zur Umsetzung politischer und gesellschaftlicher Visionen, Vertrauen in den Erfolg einer kontrovers geführten Auseinandersetzung und viele andere Kriterien lassen sich nicht in Kennziffern fassen. Gemäß der durch den Wahl-O-Mat unterstützten Entscheidungsfindung sollen sie keine Rolle mehr spielen. Ehemals hoch geschätztes 305 Vgl.: Wahl-O-Mat [Bundezentrale für politische Bildung]. Die Bedeutung, die dem Wahl-OMat inzwischen zukommt, lässt sich an der Tatsache festmachen, dass er im Vorfeld der Europawahlen 2019 vorübergehend gerichtlich verboten wurde. Anlass war die Klage einer kleineren Partei, die sich durch die ,Behandlung‘ im Wahl-O-Mat benachteiligt fühlte. Vgl.: Bünte: Verwaltungsgericht stoppt Wahl-O-Mat.

6.3 Informationelle Entmündigung

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intuitives, auf Erfahrung gestütztes Denken und Handeln, das auch affektive Faktoren wie Empathie einbezieht, wird zugunsten bürokratischen Funktionärsverhaltens (nichts anderes verkörpert der Wahl-O-Mat) durch Kennziffern-Auswertung ersetzt. Wenn wir wollten, könnten wir durch unser eigenes Verhalten selbst entscheiden, ob wir der latenten Abhängigkeitsverstärkung folgen, oder ob wir unsere Mündigkeit auch zukünftig durch gelebte Autonomie und den Erwerb von Erkenntnissen behalten und weiter entwickeln.

6.3 Informationelle Entmündigung Längst gibt es Entwicklungen, die die Schraube der Informationellen Abhängigkeit noch weiter gedreht haben, so dass in der dadurch erreichten Steigerungsstufe von Informationeller Entmündigung gesprochen werden kann. In vielen Fällen werden Daten ausgewertet, die aus Protokollen von Nutzerverhalten gewonnen wurden, ohne dass den Nutzern eine Einflussnahme ermöglicht wird. Häufig geschieht dies unter dem Vorwand, dass aus den Daten Entscheidungen abgeleitet werden können, die dem einzelnen Individuum helfen sollen. Anwendungsfelder sind nicht allein das globale Datennetz mit Suchmaschinen und sozialen Netzwerken. Den Möglichkeiten sind offensichtlich weder auf der Anbieter- noch auf der Nachfrageseite Grenzen gesetzt. Inzwischen sind alle Umgebungen betroffen, in denen Menschen eine Datenspur hinterlassen; ob individualisiert oder anonym spielt dabei eher eine Nebenrolle. Hierzu gehören Supermarktkassen ebenso wie Handy-Zellen oder GPS-Bewegungsdaten. Die Anwendungsbereiche umfassen die Zusammenstellung von Sortimenten in Supermärkten, den über den Wohnort gesteuerten Versand von Werbematerial, die Vergabe von Krediten oder Empfehlungen für die Partnerwahl. Einiges kann man als modisches Gimmick abtun und darauf hoffen, dass es sich mit der Zeit von selbst erledigt. Aber die Hartnäckigkeit und sogar Forcierung des Vorgehens spricht dagegen. Die Auswertung anfallender Daten hat sich zu einem lukrativen Geschäftszweig entwickelt. Jede nicht transparente und nicht vom Individuum eingeforderte Unterstützung für Entscheidungen auf der Grundlage von Big Data-Auswertungen stellt eine Verletzung der Informationellen Autonomie des Einzelnen dar.³⁰⁶

306 Die Frage der juristischen Folgen bei Verletzungen der Informationellen Selbstbestimmung soll dabei nicht gestellt werden, da nicht eindeutig zu prognostizieren ist, für welche zeitliche Dimension aktuelle Rechtsauffassungen Bestand haben werden. Gerade im Bereich der Infor-

198 | 6 Informationelle Kompetenz: Gelebte Informationelle Autonomie Eine solche Verletzung beginnt bereits bei der Personalisierung der Suchergebnisse von Web-Recherchen mittels Suchmaschinen. Dabei handelt es sich um ein völlig intransparentes Geschehen mit unzureichenden Informationen darüber, wie Suchmaschinen (beispielsweise Google) ihren Such- und Anzeigealgorithmus verändern. Bekannt ist nur, dass es passiert und dass damit Neutralität und Objektivität auf eklatante Weise ad absurdum geführt werden. Durch Vergleich der Treffer für eine identische Suchanfrage, ausgeführt von verschiedenen Personen bzw. auf verschiedenen Rechnern, bzw. mit unterschiedlichen Browsern, lässt sich schnell feststellen, dass sich die Suchergebnisse unterscheiden. Die genauen Mechanismen hierfür sind nicht bekannt und spätestens seit der Wahl des amerikanischen Präsidenten 2016 auch Gegenstand vieler Spekulationen.³⁰⁷ Die schleichende Einführung und die hohe Akzeptanz dieser neuen Vorgehensweisen ist für gesellschaftliche Prozesse ein wichtiger Vorgang. Der Einzelne verliert das Gespür für die Bedeutung seiner individuellen Aktionen. Er prüft nicht mehr, welche Fähigkeiten zur Herstellung von Plausibilitäten er sich durch Ergebnisse von Algorithmen abnehmen lassen will und darf. Er weiß nicht mehr, ob es überhaupt Möglichkeiten gibt, diese Einflüsse abzuschalten. Informationelle Kompetenz muss mindestens bedeuten, den Möglichkeiten zur Manipulation nicht gleichgültig gegenüberzustehen, idealerweise ein Verstehen der Vorgehensweise anzustreben und bei erkannten Missständen auf Abhilfe zu drängen oder nach Alternativen zu suchen. Es liegt doch auf der Hand, dass personalisierte Suchergebnisse nur möglich sind, weil bereits viel zu viele personenbezogene Daten für Big Data-Auswertungen zur Verfügung gestellt worden sind. Im Ergebnis macht sich der Daten liefernde Nutzer faktisch zum Handlager einer vom ihm möglicherweise gar nicht gewollten Vorgehensweise. Kommen Defizite im Umgang mit den Kulturtechniken des Abstrahierens, des Anwendens von Plausibilitäten und des Ableitens von Schlussfolgerungen hinzu, führt der Weg über die schleichende Aushöhlung des rechtlichen Rahmens (Informationelle Selbstbestimmung) und den Verlust der Informationellen Autonomie zum Informationellen Totalitarismus. Schlussendlich prägen dann tatsächlich Algorithmen die Wertvorstellungen menschlicher Handlungen, wie im Dataismus bereits angelegt.

mationellen Selbstbestimmung gab es in der Vergangenheit eine Reihe von Relativierungen, die daran zweifeln lassen, dass die Berücksichtigung von Sicherheits- und Freiheitsinteressen noch richtig austariert ist. 307 Mit der Wahl zum Deutschen Bundestag 2017 hat das Thema auch Deutschland erreicht. Vgl. etwa: AlgorithmWatch: Datenspende. Weiteres unter: Pressestelle TU Kaiserslautern: Aufruf zur ,Datenspende‘; O’Neil: Angriff der Algorithmen.

6.4 Informationelle Autonomie und Selbstwertgefühl | 199

Wird Informationelle Autonomie nicht mehr als Grundpfeiler des kognitiven Handelns aller Menschen gesehen und durch algorithmisch basierte Werte- und Handlungsvorgaben relativiert, könnte dies zur Entwicklung einer informationellen Schichtenbildung und einer Ständegesellschaft führen. Darin behielte eine für die Zukunftsgestaltung notwendige Eliteschicht ihre Autonomie und alle anderen müssten ihre funktionalisierte Existenz mit autonomen künstlichen Systemen teilen. Autonomie und Informationelle Selbstbestimmung, ja letztlich sogar Menschenrechte und -würde spielten in solchen Szenarien keine tragende Rolle mehr. Die prinzipielle Gleichwertigkeit aller Menschen wäre aufgegeben. Der Verzicht auf die gestaltende Beteiligung aller an der Gesellschaftsordnung zöge eine Regression wichtiger Kulturleistungen nach sich und führte letztlich sogar einen Rückschritt des evolutionären Geschehens herbei. Die für den Dataismus gern verwendeten Vokabeln Post- oder Transhumanismus erwiesen sich tatsächlich nur als Kaschierung eines Antihumanismus. So pessimistisch sich dies lesen mag; gerade aus der Zuspitzung lassen sich auch Argumente dafür ableiten, dass eine solche Entwicklung nicht unvermeidlich sein muss. Lassen wir uns einmal auf die extreme Sicht des Dataismus ein, nach der ein Mensch seinen Wert nur noch über seinen informationellen Beitrag für eine Datensphäre zugeordnet bekommt. Auch ein solcher Mensch muss weiterhin in wesentlichen Teilen seiner physischen Existenz und sozialen Lebensgestaltung informationell autonom handeln und kann nicht alle Handlungsanweisungen über Datenauswertungen der Datensphäre erhalten. Bei Vorgabe externer Handlungsanweisungen muss daraus ein informationeller Zwiespalt entstehen, der enormes psychologisches Konfliktpotenzial enthält. Außerdem wird auch eine dataistische Gesellschaft nicht auf Fortentwicklungen verzichten wollen, die ohne die Kreativität Einzelner nicht möglich sind. Kreativität und Informationelle Autonomie bleiben also wesentliche Bestandteile einer Gesellschaft, die dem Dataismus folgt – allerdings nicht mehr unbedingt für alle ihre Mitglieder.

6.4 Informationelle Autonomie und Selbstwertgefühl Selbstwertgefühl Ein modernes Verständnis des Humanismus weist dem Selbstwertgefühl des Einzelnen eine tragende Rolle zu. Dieses besitzt eine psychologische Orientierung und Verankerung in der sozialen Struktur, die den Einzelnen umgibt. Das Selbstwertgefühl ist damit an Voraussetzungen gebunden, die auch für die Informationelle Autonomie von Bedeutung sind. Beide Komponenten zusammen tragen dazu bei, dem Individuum eine erfolgreiche Rolle in den verschiedenen Handlungsfeldern des sozialen Lebens zu ermöglichen. Einschränkungen oder der Verlust des Selbst-

200 | 6 Informationelle Kompetenz: Gelebte Informationelle Autonomie wertgefühls beeinträchtigen hingegen die Persönlichkeit und können negative Auswirkungen auf soziale Prozesse haben. Die Arbeitswelt ist durch vielfältige Vorgaben gekennzeichnet, die als äußere Einflüsse die Informationelle Autonomie des Einzelnen im Arbeitsprozess einschränken. Entfremdung von der Arbeit und Rückwirkungen auf das Selbstwertgefühl sind plausible Folgeerscheinungen. Ein Fallbeispiel aus der automatisierten Fertigungssteuerung verdeutlicht, dass wir möglicherweise zukünftig verstärkt mit Wechselwirkungen zwischen individuellen Vorstellungen von der Qualität der eigenen Arbeit, informationellen Rahmenbedingungen und dem Selbstwertgefühl konfrontiert sein werden, die weitaus subtiler sind als bisher: In einer empirischen Studie zum Einsatz Flexibler Fertigungssysteme stießen wir auf ein Unternehmen, in dem zwei Jahre lang versucht worden war, ein Steuerungssystem für eine flexibel verkettete und informationstechnisch vernetzte Maschinengruppe zu entwickeln. Das Vorhaben entsprach weitgehend dem damals gültigen ingenieurwissenschaftlichen Denkmodell: Systematische Analyse aller Produktionsbedingungen, deren informationstechnische Abbildung in einem algorithmischen Rechnermodell, und Anwendung in Form einer automatischen Steuerungshierarchie (zentraler Systemrechner steuert einzelne Maschinenrechner). Dieser Versuch wurde nach zwei Jahren mit enormen Kosten, endlosen Problemen und zahllosen Störungen von den verantwortlichen (externen) Systemingenieuren und dem (internen) Management als gescheitert angesehen. Da man aber weiterhin prinzipiell daran glaubte, daß die Zukunft der Produktion in solchen ,Rechnerintegrierten Systemen‘ (CIM) und nicht in qualifizierter Facharbeit liegen würde, setzte man einen internen Ingenieur an die Weiterentwicklung, der zumindest die Benutzbarkeit der teuren Anlage durch die Bedienermannschaft sicherstellen sollte. Innerhalb von weiteren zwei Jahren hatte dieser Ingenieur eine bis dahin einzigartige Benutzerschnittstelle geschaffen, die viele jener Gestaltungsprinzipien vorwegnahm oder realisierte, die in der sozial- und ingenieurwissenschaftlichen Debatte zur Humanisierung des Arbeitslebens gefordert worden waren: Der Mensch steuert das System; das System muß ,benutzerorientiert‘ sein, d. h. menschliche Interventionen zulassen und unterstützen, benutzergerecht (zum Beispiel grafisch) informieren, etc. Das Überraschende und Exemplarische dieses Falles bestand nun allerdings darin, daß der Software-Ingenieur keineswegs stolz auf seine Leistung war, sondern sie eher als Niederlage empfand.³⁰⁸

Mit Informationeller Autonomie verbinden wir freie Entscheidungen und freies Handeln. Beides verkörpert einerseits den Aspekt der Freiheit in gesellschaftlichen Strukturen und andererseits das psychologische Bild vom Menschen, ausgestattet mit einem freien Willen. Ist diese Vorstellung angesichts vielfältiger Versuche, in die Informationelle Selbstbestimmung einzugreifen, noch gerechtfertigt? Exemplarisch genannt sei hier der Vorstoß der Bundesregierung zum Ausspähen von Rechnern und Kom308 Moldaschl: Reflexivität, S. 2.

6.4 Informationelle Autonomie und Selbstwertgefühl | 201

munikationsgeräten aller Art durch einen Staatstrojaner im Jahr 2017.³⁰⁹ Die Antizipation von Unfreiheit findet mittlerweise auch in Bereichen statt, die sich ehemals als Horte eines autonomen Freiheitsbilds verstanden haben und in denen der Einzelne primärer Träger eines Gestaltungsauftrags war. So kann man in einer Stellenanzeige vom Juli 2017 als Anforderung lesen: Sie besitzen die Fähigkeit zur Ausrichtung des eigenen Denkens und Handelns auf die langfristigen Ziele der Hochschule sowie die Fähigkeit, Lösungen gemeinsam und arbeitsteilig zuverlässig zu erarbeiten.³¹⁰

Es geht hier nicht etwa um einen stellvertretenden Referatsleiter in der Hochschulverwaltung, sondern um die Besetzung einer Professur für Informationskompetenz. Welche Parodie des Selbstwertgefühls eines Hochschullehrers wird eingefordert, um der in der Stellenanzeige zum Ausdruck gebrachten ,Fähigkeit‘ entsprechen zu können? Geborgenheit Unter welchen Bedingungen lässt sich das Bild eines informationell autonomen und damit frei handelnden Menschen formulieren? Diese Frage ist besonders im Überlappungsbereich von Philosophie und Kognitionspsychologie umstritten.³¹¹ Sicher scheint aber, dass die emotionale Ebene bei einer Antwort nicht vernachlässigt werden darf. Informationelle Autonomie reicht von den biologischen Überlebensfunktionen bis hin zu abstrakten rationalen Denkprozessen. Menschliches Denken und Handeln ist dabei nicht frei von emotionalen Einflüssen. Emotionen haben oftmals nicht nur eine individuelle und psychologische Basis, sondern sie werden von äußeren Faktoren im Umfeld des Einzelnen mitgeprägt. Ein besonders wichtiger Faktor im Zusammenhang mit Emotionen und Selbstwertgefühl ist Geborgenheit. Geborgenheit ist ein unmittelbares Lebensbedürfnis jedes Individuums, das eng mit frei sein, insbesondere mit frei von Angst sein, verbunden ist.³¹² Sie ist zwar ein auf das Individuum bezogener Zustand, kann aber nur innerhalb einer strukturierten sozialen Umgebung erlebt werden. Dies kann die Familie sein, dies können aber auch verschiedene gesellschaftliche Strukturen sein.

309 Staatstrojaner [Digitalcourage]. 310 https://www.th-koeln.de/mam/downloads/deutsch/hochschule/profil/stellenangebote/ f031701_th_prof_stellenausschreibung_informationskompetenz.pdf. 311 Aus der Fülle an Literatur sei genannt Pauen/Roth: Freiheit, Schuld und Verantwortung. 312 Wir folgen hier den Ansätzen von: Mogel: Geborgenheit; Doi: Amae; Kaminski: Geborgenheit und Selbstwertgefühl.

202 | 6 Informationelle Kompetenz: Gelebte Informationelle Autonomie Das Feststellen von Geborgenheit oder ihres Fehlens kann nur auf der Grundlage eines kommunikativ gestützten, wechselseitigen Informationsverarbeitungsprozesses des Einzelnen erfolgen. Voraussetzung dafür ist seine Informationelle Autonomie; ohne sie kann er nicht frei sein, und der Zustand der Geborgenheit wäre potenziell gefährdet. Geborgenheit ist Teil eines Beziehungsnetzes verschiedener Zustände, wie es in Abbildung 6.1 dargestellt ist. Um so erstaunlicher ist es, dass die Position des Dataismus eine solche Attraktivität hat. Attraktiv genug, um darin eine Perspektive für die eigene Situation, ja die menschliche Entwicklung als Ganzes zu erkennen. Und sogar so attraktiv, dass Errungenschaften aufgegeben werden, die mit den Gedanken der individuellen Freiheit und Autonomie, der selbstbestimmten Lebensgestaltung und der selbst organisierten Schaffung gesellschaftlicher Strukturen eng verbunden sind.

Abb. 6.1: Abhängigkeitsformen individueller Autonomiezustände.

Geborgenheit ist ein starkes Gefühl, das vorwiegend über die Nähe zu anderen Menschen hergestellt wird. Ungeborgen zu sein erzeugt den Wunsch nach Kompensation. Diese kann auch über unbelebte Umgebungen geschaffen werden, zu denen inzwischen auch die virtuellen Welten gehören.³¹³ Geborgenheit in einer vor allem durch rationale Prozesse bestimmten sozialen Umgebung zu finden ist anstrengend, für viele zu anstrengend. Die als Druck empfundene Verpflichtung zur gestalterischen Teilnahme an der Zivilgesellschaft, das Nicht-Verstehen komplexer gesellschaftlicher Zusammenhänge und das Empfinden, nicht dazu zu gehören, wecken das Bedürfnis nach einfachen Ersatzlösungen. Möglichst störungsfreie Rückzugsorte – räumlich oder virtuell – sind das angestrebte Ziel. Der japanische Psychoanalytiker Takeo Doi fasst dies drastisch zusammen: Menschen, die nie die Erfahrung gemacht haben, etwas anzugehören, können kein menschenwürdiges Dasein führen.³¹⁴

313 Dies wird eindrucksvoll belegt durch die Analysen von Doi: Amae. 314 Doi: Amae, S. 164.

6.4 Informationelle Autonomie und Selbstwertgefühl | 203

Vor der Einführung virtueller Welten, Chat Rooms und sozialer Netzwerke blieben als Alternative hauptsächlich die fiktionalen Welten von Romanen und Filmen. Mit den Möglichkeiten digitaler Welten und Netzwerke ist die Flucht in die Cloud an deren Stelle getreten. Als Ausgleich zur Komplexität der Lebenswelt mit ihrer kommunikativen Leere ist eine möglichst großen Zahl von Followern eine attraktive Chance auf Geborgenheit. Die gleichzeitige Zunahme des Bedürfnisses nach Selbstdarstellung überrascht dabei kaum.³¹⁵ Elmar Holenstein hat es in seinem Vorwort zu Takeo Dois Amae schon 1982 beschrieben: Der Verdacht stellt sich ein, daß der Selbständigkeitskult in einem weiten Ausmaß als eigentliche Triebfeder die Aggressivität des zu kurz Gekommenen hat.³¹⁶

Geborgenheit als ein auf den Menschen in seiner Interaktion mit Sozialpartnern bezogenes Konzept impliziert, dass es ein Geborgensein in sich selbst nicht geben kann.³¹⁷ Ob es eine Geborgenheit auch in der Datensphäre geben kann, bleibt noch zu klären. Auszuschließen ist nicht, dass dies einmal so gesehen werden wird. Es wird dann über den Preis nachzudenken sein, den ein solcher Weg fordert. Ob Geborgenheit zur Entwicklung individueller Freiheit beiträgt, wird durchaus kontrovers diskutiert. Manche sehen in der Geborgenheit eines Individuums in einer Gruppe die Gefahr der Abhängigkeit und damit einen Aspekt der Unfreiheit. Wieder andere sehen in dieser Beziehung zur Gruppe das Potenzial zur Selbstentfaltung, also einen Beitrag zur Entwicklung persönlicher Stabilität und Freiheit.³¹⁸ Autorität Ähnlich ambivalent wie bei der Geborgenheit stellt sich das Verhältnis von Freiheit und Abhängigkeit in Bezug auf den Begriff der Autorität dar. Eigentlich müsste in Autorität nicht unbedingt etwas Negatives gesehen werden, allerdings erzeugt die sprachliche Nähe zu ,autoritär‘ häufig eine negative Konnotation.³¹⁹ Nicht immer ist klar, welches Autoritätsmodell als Metapher oder Folie dient, wenn abstrakt von Autorität gesprochen wird. Man kann Autorität haben oder eine sein. Sie kann von einer Person ausgehen, aber auch von einer sozialen Gruppe oder einer gesellschaftlichen Institution. In verschiedenen Bereichen kann der Einzelne

315 Vgl. zu diesem Aspekt: Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. 316 Doi: Amae, S. 12. 317 Kaminski: Geborgenheit und Selbstwertgefühl, S. 19. 318 Für eine gründliche Diskussion derartiger Gesichtspunkte: Doi: Amae. 319 Laut Duden ist Autorität „auf Leistung oder Tradition beruhender Einfluss einer Person oder Institution und daraus erwachsendes Ansehen“ (https://www.duden.de/rechtschreibung/ Autoritaet).

204 | 6 Informationelle Kompetenz: Gelebte Informationelle Autonomie Autorität erfahren, aber auch erleiden. Besondere Autoritätsverhältnisse gibt es beispielsweise in der Arbeitswelt, der Bürokratie, der Kirche oder dem Militär. Die Beziehung zu einer Autoritätsinstanz weist häufig eine komplexe Struktur auf und wird stark von persönlichen Einstellungen geprägt (die sich nicht zwingend als Ursache offenbaren). Ein typisches Verhaltensmuster zur Kompensation eigener Erfolglosigkeit oder zur Stärkung des Selbstbewusstseins ist die Orientierung an einer erfolgreichen Autoritätsfigur. Durch das Folgen der Autorität wird man zu einem Teil ihres Erfolgs und fühlt sich geborgen im Verhältnis zur Autorität. Diese Konstellation weist eine Parallele zur Diskussion um Fake News auf: Die Autorität der Fake News-Urheber wird von den ,Lesern‘ oftmals in einer zunächst unverständlichen Ambivalenz zwischen Entrüstung und verhohlener Bewunderung wahrgenommen. Dies mündet schließlich in unverhohlene und unkritische Bewunderung, um am Erfolg der Fake News-Autorität teilhaben zu können. Präsidenten wie Diktatoren aus Vergangenheit und Gegenwart liefern Beispiele für die gleichzeitige Verachtung und Bewunderung ihres Verhaltens. Eine große Rolle spielen dabei die Bezugnahme auf die paternalistische Autoritätsmetapher und die Übertragung der aus der familiären Umgebung gewohnten Macht-, Herrschaftsund Fürsorgebedingungen auf andere soziale Strukturen: Während des ganzen 19. Jahrhunderts waren paternalistische Bestrebungen von dem Wunsch getragen, persönliche, direkte Kontakte herzustellen, eine Gemeinschaft zu bilden – und zwar in einem Wirtschaftssystem, das die Menschen zum individuellen Ehrgeiz und zur Konkurrenz drängte. Der Rückgriff auf das Bild der Familie, statt auf das der Kirche oder des Militärs, hatte einen sehr genauen Sinn: Die Anspielungen auf die Familie waren ein Versuch, diesen persönlichen Kontakten Wärme zu geben, statt sie mit Frömmigkeit oder einer allgemeinen Aggressivität zu erfüllen.³²⁰

In der paternalistischen Metapher werden Obhut, Macht, Schutz und Gehorsam verbunden. Autorität besitzt derjenige, der seine Stärke einsetzt, um für andere zu sorgen. Für Richard Sennett kann diese Situation zum Problem werden, wenn eine Trennung von der Autorität – gleich ob durch eigene Entscheidung oder durch äußere Einflüsse – als Verlust empfunden wird: Wenn wir beobachten, wie schwer es den der Macht Unterworfenen fällt, jene zu verstoßen, die für sie zu sorgen behaupten, und wenn wir die Enttäuschung beobachten, die der Zurückweisung folgt, dann haben wir Menschen vor Augen, denen der Sinn für eine bestimmte menschliche Dimension von Macht abhanden gekommen ist.³²¹

320 Sennett: Autorität, S. 94. 321 Sennett: Autorität, S. 108.

6.4 Informationelle Autonomie und Selbstwertgefühl | 205

Innere Gefolgschaft erzeugt das Gefühl, Teil eines Erfolgs zu sein, den man aus eigener Kraft nicht hätte erreichen können. Der Rausch des Erfolgs verdrängt dabei alle vorhandenen Kenntnisse über die eventuelle Verwerflichkeit der von der Autoritätsperson vollzogenen Handlungen. Umgekehrt kann die Konstellation einer inneren Gefolgschaft auch einen Nutzen für das Selbstwertgefühl des Einzelnen haben. Autorität kann, wie Geborgenheit, für den Einzelnen Abhängigkeit oder Schutz bedeuten. Autorität ist damit, je nach Kontext, schädlich oder nützlich. Im Hinblick auf den Zusammenhang mit Informationeller Autonomie ist interessant, dass Untersuchungen zur historischen Entwicklung verschiedener Autoritätsformen belegen, dass eine wesentliche Motivation für die Anlehnung an eine Autorität der Wunsch nach Unabhängigkeit ist.³²² Die Beziehung zu Autoritätsinstanzen hat Konsequenzen für das Selbstwertgefühl.³²³ Der ,Selbstständigkeitskult‘, so wie ihn Holenstein beschreibt³²⁴, sollte nicht mit dem individuellen Ich-Bewusstsein, seinem Darstellen nach außen und einem erforderlichen Selbstwertgefühl verwechselt werden: Autonomie erwächst aus dem Selbstausdruck, nicht aus der Selbstverleugnung.³²⁵

Selbstausdruck und Ich-Bewusstsein sind keine plakativen Maßnahmen zur Selbstdarstellung, sondern einem kommunikativen Wechselverhältnis in Sozialgemeinschaften zuzuordnen, in dem sie sich ständig bewähren müssen: Weder kann das Ich im Wahrnehmungsraum als ,Nullpunkt der Orientierung‘ gelten, da dieser Raum vielmehr polyzentrisch organisiert ist, noch rechtfertigt die ,eigentümliche Grammatik des Wortes ich‘ die Vorstellung, die im Ichbewusstsein den sicheren Ausgangspunkt von Erkenntnis sieht; mit dem Gebrauch des Wortes ,ich‘ bezeugt der Sprecher vielmehr seine eigene Relativität und siedelt sich in einem komplexen Rollenspiel zwischen ,Subjekt des Sprechaktes‘ und ,Subjekt der Aussage‘ an.³²⁶

Die Beziehung des Einzelnen zu Autoritätsinstanzen lässt sich auch durch das Verhältnis zwischen Herr (,Für-sich-sein‘) und Knecht (,Für-andere-sein‘) beschreiben, wie es Hegel entwickelt hat.³²⁷ In einer historischen Dimension unterscheidet er 322 Vgl.: Sennett: Autorität. 323 Wir bevorzugen den Begriff ,Selbstwertgefühl‘ gegenüber dem auch verwendeten Ausdruck ,Selbstbewusstsein‘, um damit den Charakter eines inneren Zustands stärker zu betonen; Selbstbewusstsein soll als ein nach außen gerichtetes Verhalten davon unterschieden werden. Selbstbewusstsein kann, muss aber nicht von einem Selbstwertgefühl getragen werden. 324 Vgl.: Doi: Amae, S. 12. 325 Sennett: Autorität, S. 118. 326 Holenstein: Menschliches Selbstverständnis, Vortitelrückseite. 327 Hegel: Phänomenologie des Geistes.

206 | 6 Informationelle Kompetenz: Gelebte Informationelle Autonomie vier Phasen, die aufeinanderfolgen – Sennett nennt sie ,Hegels Reise‘³²⁸ – und die sich verkürzt folgendermaßen beschreiben lassen: Der Stoizismus kehrt sich ab von der äußeren Welt und führt zur Versenkung in die eigene Gedankenwelt – er schafft eine unentwickelte, nach innen gekehrte Freiheit. Der Skeptizismus zweifelt bereits an der Rolle, die er spielt, und ebenso an der moralischen Überlegenheit des Herrn. Der Knecht ist aber immer noch folgsamer Diener. Das unglückliche Bewusstsein wendet dieses skeptische Wissen nach innen; in jedem Menschen wohnt ein Herr und ein Knecht. Das vernünftige Bewusstsein lässt dieses Wissen gesellschaftlich werden; der Mensch sieht seinen eigenen unglücklichen Zwiespalt auch bei anderen.

Der Übergang von einer Phase zur anderen ist jeweils mit einer Autoritätskrise verbunden, sobald das Verhältnis zwischen Herr (Autorität) und Knecht (Selbst) bewusst wird und zu Zweifeln an den bestehenden Überzeugungen führt. Der Mensch erkennt Freiheit und Sklaverei in sich selbst, erkennt Freiheit und Sklaverei in anderen und schließlich erkennt er sich selbst in anderen Menschen. Es eröffnet sich die Chance, das Verhältnis zur Autoritätsinstanz zu überprüfen, zu neuen Überzeugungen zu gelangen und damit die nächste Phase zu erreichen. Die Bewältigung der einzelnen Autoritätskrisen verändert das Selbstbewusstsein, und das Durchlaufen aller vier Etappen kann als Weg des Menschen in die Freiheit gesehen werden. Die letzten beiden Phasen markieren eine Veränderung des Menschen, bei der der Knecht dem Herrn so gleichwertig wird, dass auch dieser sein Verhalten ändert. Immer stärker weicht die Macht einer wechselseitigen Anerkennung. Diese gegenseitige Anerkennung erzeugt Freiheit. Freiheit ist in diesem Konzept jedoch nicht gleichbedeutend mit Glück. Freiheit ist hier vielmehr die Einsicht, dass in jedem von uns sowohl der Tyrann als auch der Sklave stecken. Erst mit der Anerkennung dieses Umstands können Menschen hoffen, sich nicht nur in formaler Gleichberechtigung, sondern in verinnerlichter Gleichwertigkeit zu begegnen. Die Anerkennung des Anderen als gleichwertig schmälert nicht mehr das eigene Selbst, sondern stärkt das Ich-Verständnis.

328 Sennett: Autorität, S. 163 ff.

6.4 Informationelle Autonomie und Selbstwertgefühl | 207

Die letzte Stufe wird von Hegel als ,vernünftig‘ bezeichnet, weil der Mensch jetzt seine Wahrnehmungen und sein Handeln mit anderen auf ein gemeinsames Ziel ausrichten kann. Es bedarf keines Kampfs um Anerkennung mehr; das eigene Bewusstsein ist zu der (rationalen) Erkenntnis gelangt, dass bei allen Menschen Zwiespältigkeit vorhanden ist. Es ist die Stufe der Einsicht in die Gleichwertigkeit mit den anderen. Das Erreichen dieser vierten Stufe geschieht nicht zwangsläufig, aber verschiedene Techniken können es befördern. Dazu gehören: – Ablösung von der Autorität (zum Beispiel durch Maskierung, Reinigung, Rollentausch); – Erkennen des ,Inneren Herrn‘ als Projektion der äußeren Autorität; – Entmystifizierung der Autorität; – Umformung der Autorität. Techniken meint dabei, dass es sich nicht ausschließlich um abstrakte Ideen handelt, sondern dass je nach Kontext (zum Beispiel die Arbeitswelt) konkrete Maßnahmen oder Handlungen benannt werden können (zum Beispiel Mitbestimmungsmodelle).³²⁹ In der Anwendung der Hegelschen Phasen auf die moderne Industriegesellschaft kommt Sennett zu dem Schluss, dass der Mensch die ersten beiden Stadien durchlaufen hat, aber noch nicht im Stadium des vernünftigen Bewusstseins zum Erreichen der gleichberechtigten Freiheit angekommen ist.³³⁰ Die Situation ist vielmehr durch den Übergang vom ,Unglücklichen Bewusstsein‘ zum ,Vernünftigen Bewusstsein‘ geprägt.³³¹ In unserer Zeit stellt sich die Frage, ob die Digitalisierung und die Sozialen Netze für das Erreichen des Stadiums des ‚Vernünftigen Bewusstseins‘ eine förderliche oder eher hinderliche Rolle spielen? Virtuelle Welten und Soziale Medien können als Autoritätsinstanz betrachtet werden. Sie scheinen das Potenzial zu bieten, Defizite im Spannungsverhältnis zwischen Autorität, Geborgenheit, Autonomie, Angst und Freiheit auszugleichen und durch die Realisierung von Wunschvorstellungen Wohlbehagen zu erzeugen. Möglich wird dies, weil virtuelle Welten und soziale Medien es erlauben, den Zwiespalt zwischen innerem Herrn und Knecht im Sinn einer Autoritätskrise zu erleben und die Auflösung des Zwiespalts durch Geborgenheit gestatten. Im realen Leben wird die Rolle des ,Für-andere-sein‘ (Knecht sein) erlebt und dabei von vielen Rahmenbedingungen begleitet, die nicht ohne weiteres als veränderbar 329 Für eine ausführliche Darstellung dieser Techniken vgl.: Sennett: Autorität, S. 215 ff. 330 Sennett: Autorität, S. 163 ff. 331 Der von Sennett benutzte Ausdruck ,Bewusstsein‘ deckt sich an dieser Stelle mit dem von uns bevorzugten Ausdruck ,Selbstwertgefühl‘.

208 | 6 Informationelle Kompetenz: Gelebte Informationelle Autonomie erscheinen. In der virtuellen Realität dagegen wird die Rolle des ,Für-sich-sein‘ (Herr sein) eingenommen. Diese zweite Identität ermöglicht es, die Erfolglosigkeit zu kompensieren und zu überwinden. Als Ergebnis entsteht der Eindruck der Überwindung der Knechtrolle. Es kommt zu einer doppelten Illusion: Erstens, dass sich die Mühen des Übergangs zur letzten Phase – also zur inneren und äußeren Freiheit – im realen Leben vermeiden lassen könnten und stattdessen in der virtuellen Welt mit weniger Anstrengungen erreichbar sind. Zweitens, dass sich die Geborgenheit in Freiheit ohne die Orientierung an einer Autoritätsinstanz erreichen lässt. Virtuelle Welten und Soziale Medien können also nur dann einen förderlichen Beitrag zum Erreichen des ‚Vernünftigen Bewusstseins‘ leisten, wenn sie unter Anlegen der gleichen Kriterien einen positiven Einfluss auf die Gestaltung des realen Leben haben und nicht zur abgekapselten Blase werden. Informationelle Autonomie wird am besten durch jenes Verhältnis zwischen Geborgenheit und Autorität unterstützt, in dem die individuelle Freiheit durch das Vorbild einer gelebten Autorität angstfrei gefördert und geschützt wird. Dies wäre der wertvollste Beitrag, den eine vollständig ausgebildete Informationelle Kompetenz übernehmen könnte.

6.5 Informationelle Autonomie, Autorität und Transzendierung Der dauerhafte Erhalt von Informationeller Kompetenz und Informationeller Autonomie sowie die Vermeidung ihrer Defizite und Deformationen setzt voraus, dass man nicht an der grundsätzlichen Sinnhaftigkeit des Lebens aller Menschen und damit auch nicht an der des eigenen Lebens zweifelt. Für oder gegen diesen Zweifel lassen sich keine auf Sinneswahrnehmungen oder Erfahrungen basierenden Argumente anführen. Mit dem Verlassen oder Überschreiten des Erfahrungsbereichs begibt man sich in das erkenntnistheoretische Feld der Transzendenz.³³² Der Begriff ist in der Philosophie und der Religion eindeutig besetzt, kann aber auch allgemeiner aufgefasst werden. Dann meint Transzendierung lediglich die Annahme eines Bereichs außerhalb der eigenen Erfahrungswelt, allgemeiner das Überwinden der Realität eines Objekts. Damit weist Transzendierung Merkmale des rationalen Abstrahierens auf, unterscheidet sich aber durch das Vorhandensein einer emotionalen Komponente. Noch allgemeiner kann Transzendierung als Deutung einer Situation zwecks Übertragung der Bedeutung auf die eigene Lebenssituation verstanden werden.

332 Vgl: Transzendenz [Wikipedia].

6.5 Informationelle Autonomie, Autorität und Transzendierung

| 209

Die kognitiven Basisfunktionen der Informationellen Kompetenz (insbesondere Kontextualisieren und Abstrahieren) spielen eine wichtige Rolle für die erfolgreiche Durchführung einer Transzendierung. Informationelle Autonomie kann dazu beitragen, dass die Transzendierung nicht allein aus einem Glaubensakt besteht, der möglicherweise noch emotional verstärkt wird. Ohne Informationelle Autonomie unterliegt die Transzendierung unkontrollierbaren äußeren Einflüssen, die sich in Abhängigkeit oder Zweifeln bemerkbar machen. Plakativ lässt sich formulieren, dass die Informationelle Autonomie dem einzelnen Individuum die Transzendierung zur Sinnhaftigkeit ermöglicht. Hinsichtlich der Entwicklung einer Beziehung zu Autorität bedeutet Transzendierung die Projektion eigener Ideale und Sehnsüchte in eine Instanz (Person, Institution, Struktur), der das Potenzial zur Realisierung unterstellt wird. Entscheidend ist die Realisierung an sich, weniger die Realisierung durch die eigene Person. Die Projektion erlaubt es, die Realisierung in die Zukunft zu verschieben. Direkte Belohnung für das Handeln ist nicht nötig; die Projektion verspricht eine Vergütung in einem späteren Zustand, auf einer anderen Ebene oder in einer neuen Existenz. Ein typisches Beispiel für eine solche Projektion ist die Autorität des Vaters. Für fast jeden ist sie Gegenstand eigener Erfahrung, die vielleicht nicht immer als positiv erfahren wurde, deren prinzipielle Bedeutung aber kaum in Frage gestellt wird. Diese Autorität wird gern auf den Arbeitgeber übertragen und zeigt damit das gesellschaftliche Gestaltungspotenzial auf. Der Arbeitgeber muss ja nicht eine Person sein, die Übertragung kann sich sogar auf Unternehmen beziehen.³³³ Eine Autorität muss eben nicht nur als Restriktion für eigene Vorstellungen oder gar als Bedrohung wahrgenommen werden. Sie kann vom Einzelnen auch als positive Flankierung einer erleichterten Lebensführung gesehen werden. Autorität kann eine Instanz sein, – die Hoffnung für die Zukunft, ein verändertes Leben oder auch für die Zeit nach dem eigenen Leben macht, unabhängig vom aktuellen Erfolg oder Misserfolg (Kompensation für evtl. aktuell vorhandene Defizite); – die man für berechtigte und unberechtigte Schuldzuweisung benutzen kann; – bei der man Schutz suchen und finden kann, wenn man den geforderten Preis bezahlt; – die die Möglichkeit bietet, Misserfolge zu ertragen, weil darin ein der Autorität zugeschriebener Sinn für das größere Ganze oder die zukünftige Lebensgestaltung gesehen werden kann.

333 Sennett: Autorität, S. 94 ff.

210 | 6 Informationelle Kompetenz: Gelebte Informationelle Autonomie In diesen Funktionen übernimmt die als Autorität akzeptierte Instanz eine wesentliche Rolle für den Sinn der eigenen Lebensgestaltung. Bedingung hierfür ist allerdings eine Transzendierung als Projektion der eigenen Ideale und Sehnsüchte in diese Autorität. Die subjektiven psychologischen Eindrücke des Individuums und die gesellschaftlichen Eindrücke beeinflussen sich gegenseitig. Für den Einzelnen kann dies sowohl zu einem positiven (subjektiv wünschenswerten) als auch zu einem negativen (subjektiv unerwünschten) Ergebnis führen. Zur Analyse dieser Ambivalenz ist es zweckmäßig, der von Max Weber begründeten Unterscheidung zwischen einer legitimen und einer illegitimen Autorität zu folgen (vgl. Abbildung 6.2).³³⁴

Abb. 6.2: Ich – Autorität – Transzendierung.

Vereinfacht ausgedrückt ist der Herrschaftsanspruch einer legitimen Autorität durch die Akzeptanz des Einzelnen oder einen legalisierten Normungsakt im Rahmen einer gesellschaftlichen Gruppe begründet.³³⁵ Eine legitime Autorität mit Transzendierung kann für den Einzelnen eine Vorbildrolle erzeugen und so zu Geborgenheit und Freiheit führen. Im Fall der Autorität ohne Transzendierung 334 Weber: Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft. Vgl. auch: Sennett: Autorität, S. 35. 335 Max Weber spricht von einer Form der Herrschaft, die auf ,gesatzten Regeln‘ basiert. Der Ausdruck ,gesatzte‘ soll dabei die Normierungsberechtigung innerhalb einer gesellschaftlichen Struktur zum Ausdruck bringen.

6.5 Informationelle Autonomie, Autorität und Transzendierung

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wird für den Einzelnen eine Situation der Unsicherheit begünstigt. Verbindet sich Transzendierung mit illegitimer Autorität, sind Angst, Bedrohung und Unterdrückung mögliche Folgen. Es sollte nicht verschwiegen werden, dass Transzendierung das Potenzial zum Missbrauch in sich trägt, wie historische Beispiele belegen. Auch Despoten und Diktatoren bedienen sich der Mechanismen der Transzendierung, um ihre Machtposition als Autorität sicher zu stellen. Wie viele Beispiele in der Geschichte der Gesellschaften zeigen, bewegt sich das reale Geschehen zwischen legal und missbräuchlich bis unterdrückend. Der Machtmissbrauch ist dabei stets mit Einschüchterungen und der Ausübung von Repressalien verbunden. Im schlimmsten Fall kann die autoritäre Verhaltensweise einer einzelnen Person faschistische Züge annehmen.³³⁶ Dieser Zusammenhang hat beispielsweise seinen Niederschlag in der F-Skala (Faschismus-Skala) gefunden, die von Theodor Adorno 1943 mit Kollegen in den USA entwickelt wurde. Anhand einer Liste von Fragen zu bestimmten Einstellungen und Haltungen sollte herausgefunden werden, wer unter den besiegten Deutschen heimlich weiterhin dem Nationalsozialismus hinterhertrauerte – und, mehr noch, ob auch US-Bürger für eine Diktatur zu haben wären.³³⁷ Es ist sehr plausibel, dass bei Nicht-Erfüllung der ersehnten Transzendierung ein Wechsel zu einer neuen Autorität erfolgt, sofern nicht die alte Autorität Machtund Herrschaftsstrukturen aufgebaut hat, die einen Wechsel nicht oder nur unter unerträglichen Bedingungen gestatten würde. Das Aufgeben aller Autoritäten und der Verzicht auf die Transzendierung verspricht möglicherweise ein Leben in vollständiger Freiheit. Bedingung dafür ist allerdings die volle Verantwortung für das eigene Leben. Ausschließlich eigene Antworten sind zulässig, aber auch zwingend nötig. Vollständige Freiheit ist so in einer ausschließlich rationalen Lebensführung zu finden. Dies kann jedoch in Formen von Unsicherheit und Unbehagen münden, denen der Einzelne weder gewachsen ist, noch gewachsen sein will. Tritt dieser Fall ein, beginnt die Suche nach Alternativen. Das führt zur Betrachtung der digitalen Welten. Das Unbehagen eines Lebens in Rationalität kann noch gesteigert werden, wenn mit ihm das Aufgeben von sozialen Kontakten verbunden ist. Selbst wenn Menschen mit technologischen Innovationen und digitalen Kommunikationspraktiken nicht einverstanden sind, ziehen sie sich von den Sozialen Medien nicht zurück, weil sie sonst die soziale Isolation befürchten. Der Gruppendruck Sozialer Medien übt einen Zwang auf das Verhalten der Individuen aus und übernimmt

336 Vgl. Sennett: Autorität, S. 32 ff. 337 Für eine Beschreibung der F-Skala und eine aktualisierte Form des Fragebogens vgl. z. B.: Krogerus: Autorität.

212 | 6 Informationelle Kompetenz: Gelebte Informationelle Autonomie damit die Merkmale einer Autorität. Man folgt ihr, weil sonst die Transzendierung der eigenen Sehnsüchte gefährdet ist. In der Terminologie Searles: Das Soziale Medium ist eine Institutionelle Realität und schafft als Bezugsbereich einen Hintergrund, der nicht mehr die rationale Beschäftigung mit Regeln erfordert (die man sonst vielleicht ablehnen müsste). Stattdessen erzeugt es durch Gewöhnung eine Disposition zur Teilhabe am Geschehen, die durch die Gruppe verstärkt wird. Die technologische Beherrschung der Sozialen Medien zieht häufig eine Umkehrung der traditionellen Erfahrungs- und Lernrollen nach sich. Plötzlich ist es die Enkelgeneration, die als ,kompetent‘ angesehen wird, um die Eltern- und Großeltern in der Handhabung von Hochtechnologie zu unterweisen. Im Unterschied zu früheren Entwicklungen mischen sich in der digitalen Welt Autorität, Transzendierung und technologische Prozesse so, dass die Projektion der Sehnsüchte auf den technologischen Vorgang zielt und die Digitalisierung die Rolle der Autorität übernimmt. Die Dynamik der technologischen Entwicklung führt dabei zu einem zyklischen Prozess, in dem neue Entwicklungen vergleichsweise rasch die bisherigen ablösen. Dauerhaftigkeit ist keine Eigenschaft der digitalen Welt. Dennoch besitzen Digitalisierung und die Sozialen Medien zumindest das Potenzial, für Alltagssituationen als Autorität zu gelten, in die eigene Sehnsüchte projiziert werden. Die Projektion zielt allerdings auf die Technologie, nicht auf deren Sinnhaftigkeit. Technologische Veränderungen allein bieten keine Möglichkeit für die Bestimmung einer Sinnhaftigkeit (gleichsam eine Art Ersatz-Transzendierung), da es nichts dauerhaft Gewohntes gibt, an dem man sich lange genug orientieren könnte. Dieses Problem ließe sich nur lösen, wenn die Projektion die Sinnhaftigkeit einschließen könnte. Es ist zu vermuten, dass dadurch eine angstfreie Geborgenheit unter dem Schutz der Autorität erlebbar wäre. Ausschließlich an Technologie gebundene Projektionen wird man auf Dauer wohl nicht als Geborgenheit erleben können. Mit der Transzendierung einer Autorität ist noch nicht sicher gestellt, dass eine angstfreie Geborgenheit auch erreicht wird. Zu klären ist, welche Faktoren dafür bestimmend sind und welche sie beeinträchtigen oder verhindern können. Ein entscheidender Faktor ist das Selbstwertgefühl einer Person.³³⁸ Das Selbstwertgefühl hat einen entscheidenden Einfluss darauf, ob die Transzendierung zu einer angstfreien Geborgenheit führt oder in Fremdbestimmung mündet (vgl. Abbildung 6.3). Für seine Ausgestaltung lassen sich ein ,eigentliches‘ und ein ,uneigentliches‘ Selbstwertgefühl unterscheiden. Das eigentliche Selbstwertgefühl meint dabei die positive Transzendierung der Autorität in Selbstbestimmung und markiert die Verbindungsstelle zur Informationellen Autonomie.

338 Vgl.: Kaminski: Geborgenheit und Selbstwertgefühl.

6.5 Informationelle Autonomie, Autorität und Transzendierung

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Abb. 6.3: Ich – Selbstwertgefühl.

Das uneigentliche Selbstwertgefühl hingegen meint die Transzendierung der Autorität hin zu Fremdbestimmung, Abhängigkeit, Unmündigkeit und Angst, die zu Informationeller Abhängigkeit führt. Das Erreichen der angstfreien Geborgenheit beschreibt den Zustand der Freiheit und bietet zudem die Möglichkeit, Menschenwürde zur abstrakten Zielprojektion humanistischer Überlegungen und Ideale im Rahmen gesellschaftlicher Gestaltungen zu machen. Abbildung 6.4 zeigt die bisher angegebenen Beziehungsgeflechte in einer Zusammenschau. Die Wechselwirkungen zwischen Angst, Geborgenheit und Freiheit (Abbildung 6.1) werden um das Selbstwertgefühl (Abbildung 6.3) sowie Autorität und Transzendierung (Abbildung 6.2) erweitert und geben so ein Bild von den Zusammenhängen zwischen Autonomie, Totalitarismus, Verantwortung und Resignation im Hinblick auf die Menschenwürde. Die gesellschaftlich relevanten Zusammenhänge sind im Zentrum der Abbildung auf einer mittleren Achse angesiedelt und können durch die Veranschaulichung der rotierenden Pfeile als in ständiger Wechselwirkung und Veränderung gesehen werden. Die darüber und darunter angeordneten Boxen stellen die Einflussbereiche dar, deren innere Zusammenhänge wir bereits diskutiert haben.

214 | 6 Informationelle Kompetenz: Gelebte Informationelle Autonomie

Abb. 6.4: Ich – Autonomie – Totalitarismus.

6.6 Digitale Erinnerungs- und Vergessenskultur Der Erinnerungskultur wird ein prägender Einfluss bei der Herausbildung einer kulturellen Identität beigemessen.³³⁹ In Bezug auf Informationelle Autonomie und Informationelle Kompetenz darf deshalb nicht unberücksichtigt bleiben, welche Veränderungen der Erinnerungs- und Vergessenskultur durch die Digitalisierung eingetreten sind. Vor der Digitalisierung galt das persönliche Vergessen als ein mit fortschreitendem Alter unvermeidlicher Prozess. Fast niemand musste sich damit beschäftigen, dass andere Personen oder Aufzeichnungen verstärkt Quellen eines Erinnerns sein könnten, das über das eigene Erinnern hinausgeht. Dieser Umstand war wenigen Personen der Zeitgeschichte vorbehalten. Erinnern konnte nützlich sein und Vergessen konnte befreien. Daher gab es sogar Anstrengungen, das Vergessen aktiv zu unterstützen, wenn sich vom Erinnern negativ Betroffene davon einen Vorteil

339 Vgl.: Assmann: Das kulturelle Gedächtnis; Welzer: Das kommunikative Gedächtnis; Assmann: Erinnerungsräume; Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen.

6.6 Digitale Erinnerungs- und Vergessenskultur

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versprachen. Umgekehrt kann es auch einen Anspruch auf das Nicht-VergessenDürfen geben. Erinnerungs- und Vergessenskultur haben sich dementsprechend immer um Wege bemüht, einen Ausgleich zwischen den verschiedenen Interessen zu finden. Nun wird von einer radikalen Änderung gesprochen. Das Netz vergisst angeblich nichts. Was bedeutet das? Erfährt das Verhältnis zwischen dem individuellen und dem kollektiven Gedächtnis durch die Digitalisierung eine Veränderung? Man ist sicher versucht, darauf spontan mit ,Ja‘ zu antworten. Schließlich wachsen die Mengen an gespeicherten Daten unaufhörlich weiter. Das Individuum wird zeitlebens mit diesen Daten konfrontiert (auch mit unerwünschten) und weiß nicht, wie es sich davon befreien soll. Beispielsweise wird davor gewarnt, welche Nachteile sich aus digitalen Jugendsünden für Bewerbungsgespräche und das Berufsleben ergeben können. Eine ganze Branche bietet die Dienstleistung an, sich seiner digitalen Spuren wieder zu entledigen. Mit diesen Folgen der Digitalisierung müssen sich inzwischen alle beschäftigen, nicht mehr nur Prominente und bedeutende Personen der Zeitgeschichte. Ob mit der Digitalisierung im Hinblick auf die Erinnerungskultur tatsächlich eine völlig neue Situation entstanden ist, muss möglicherweise differenzierter betrachtet werden. Maurice Halbwachs betont den Einfluss der jeweiligen Gesellschaft auf das kollektive Gedächtnis auch schon vor dem digitalen Zeitalter: Das gesellschaftliche Denken ist wesentlich ein Gedächtnis, dessen ganzer Inhalt aus kollektiven Erinnerungen besteht; nur das an ihnen bleibt, was die Gesellschaft in jeder Epoche mit ihren gegenwärtigen Bezugsrahmen rekonstruieren kann.³⁴⁰ Die Geschichte wird von Epoche zu Epoche neu retuschiert, um sie den aktuellen Denkweisen der Menschen und ihren Vorstellungen von Vergangenheit anzupassen.³⁴¹ Die verschiedenen Gruppen der Gesellschaft, wie Familie, Religionsgemeinschaften oder Klassen, haben jeweils ihr eigenes kollektives Gedächtnis. Das Individuum braucht diese sozialen Rahmen, um sich erinnern zu können und macht sich den Standpunkt der Gruppe zu eigen.³⁴² Zerbricht eine Gruppe, verschwinden die mit ihr verbundenen Erinnerungen. Verändern sich die sozialen Rahmen, passt sich die Konstruktion der Erinnerungen an.³⁴³

340 Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, S. 360. 341 Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, S. 231. 342 Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, S. 199. 343 Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, S. 350.

216 | 6 Informationelle Kompetenz: Gelebte Informationelle Autonomie Folgt man Halbwachs, so ist das kollektive Gedächtnis nicht mit den Aufzeichnungen auf einer Festplatte zu vergleichen. Bleibt die Frage aus der anderen Richtung: Stellen die gespeicherten Daten auf einer Festplatte (respektive die Summe aller Daten aller Festplatten) ein kollektives Gedächtnis dar? In unserem Sinn kann es sich bei diesen Daten allenfalls um Potenzielle Information handeln, deren Aktivierung zunächst noch eine Selektion, eine Sinnesverarbeitung und einen nachfolgenden kognitiven Prozess voraussetzt. Die Selektion bedarf vorhergehender Entscheidungen, für die Kriterien benötigt werden. Dadurch ist sie hinterfragbar und justiziabel, unterliegt also grundsätzlich gesellschaftlicher Kontrolle. Das unhinterfragte Vertrauen in die Objektivität und die Dauerhaftigkeit digitaler Aufzeichnungen könnte demgegenüber dazu führen, dass die Anstrengungen um den Aufbau einer Erinnerungskultur reduziert werden und der Aufbau eines kollektiven Gedächtnisses Schaden nimmt. Sowohl das eigene als auch das kollektive Gedächtnis sind unverzichtbar für die Gestaltung der Zukunft. Die Unterstützung und Stabilisierung dieser Gedächtnisse und der dafür verantwortlichen kognitiven Prozesse ist wichtiger als der Versuch, den Erinnerungsprozess an der Computermetapher zu orientieren. Es ist beispielsweise bekannt, dass es keinen unmittelbaren digitalen Ersatz für den Kontext gibt, unter dem die Artikel konventioneller gedruckter Enzyklopädien mit jeweils unterschiedlichen Kultur- und Geschichtsauffassungen geschrieben wurden. Dennoch werden inzwischen auch von größeren Bibliotheken bedeutende Enzyklopädien wie die Collier’s Encyclopedia (1966) oder die Encyclopædia Britannica (1962) aus den Beständen ausgesondert.³⁴⁴ Unsere Ausführungen zur Bedeutung von Strukturwissen und Referenzbereichen für die Erzeugung Aktueller Information bei der Rezeption von Potenzieller Information aus externalisierten Informationsquellen belegen die Notwendigkeit des dauerhaften Zugangs zu solchen konventionellen Quellen, um damit einen Beitrag zur Bewahrung und Wertschätzung des kollektiven Gedächtnisses zu leisten. Die aktuellen Wertvorstellungen innerhalb der Gesellschaft sind jedoch sehr widersprüchlich. Einerseits beziehen wir wesentliche Rahmenvorgaben zur Gestaltung unserer Gesellschaft aus weit zurückliegenden Auffassungen und Ereignissen – so beispielsweise, wenn es um die Grundlagen unseres Rechtsverständnisses oder um die Verpflichtung staatlicher Außenpolitik auf historische Ereignisse geht. Andererseits wird an manchen Stellen geradezu alles getan, um die Brücken zur Vergangenheit abzureißen und die Erlösung in der digitalen Neuerfindung zu sehen.

344 E-Mail an InetBib vom 15.03.2018.

6.7 Informationelle Ambivalenz und Vernunft | 217

Wenn man sich vergegenwärtigt, welche Rolle das eigene Gedächtnis bei der Zukunftsgestaltung spielt, sollte dies ein Ansporn sein, die Bedeutung kollektiver Gedächtnisse – und zwar in allen Varianten aufgezeichneter Formen – für die Zukunftsgestaltung der Gesellschaft nicht durch vorschnelle Entscheidungen zu gefährden.³⁴⁵

6.7 Informationelle Ambivalenz und Vernunft Informationelle Autonomie ist für die biologische und soziale Lebensführung des Einzelnen unverzichtbar. Gleichzeitig sind als Folge der Digitalisierung bislang unbekannte Situationen entstanden, in denen die Individuen ihre Entscheidungen und Handlungen in Informationeller Abhängigkeit ausführen. Nahezu alle Menschen leben ständig in diesem Spannungsverhältnis zwischen Informationeller Autonomie (in Grundfunktionen ihrer Lebensführung) und Informationeller Abhängigkeit (in Bereichen, die durch algorithmische Vorgaben oder Datenauswertungen bestimmt sind). Diese Informationelle Ambivalenz zwischen Informationeller Autonomie und Informationeller Abhängigkeit kennzeichnet Situationen, die durch äußere Umstände das eine oder andere Verhalten einfordern, ohne dass der Person zwingend klar sein muss, welches von beiden erforderlich ist. Informationelle Ambivalenz kann durch eine Fehlfunktion Informationeller Autonomie entstehen. Entscheidungsträger beispielsweise, die etwas bewirken wollen, müssen ihr gewolltes Handeln ständig mit dem zulässigen Handeln abstimmen, das ihnen der jeweilige Handlungsrahmen erlaubt. Der Kompromiss lässt sich mit Autonomie vereinbaren, wenn er dem Wollen nachgeordnet und Voraussetzung für das Verhandeln ist. Falls jedoch der Verhandlungserfolg zur alleinigen Richtschnur des Wollens und damit möglicherweise zum Selbstzweck wird, werden die Beschränkungen des Handlungsrahmens zur Bestimmung der eigenen Zielsetzung ,antizipiert‘. Damit werden die Potenziale des Verhandelns nicht mehr umfassend ausgelotet, sondern Opportunitätserwägungen untergeordnet. Gibt man dabei – als alternative Verhaltensweise – wider besseren Wissens Zielsetzungen auf, liegt eine informationelle Selbstbeschneidung vor. In beiden Fällen handelt es sich um informationelle Fremdbestimmung. Noch bedenklicher ist, wenn man sich allein zum Zweck des Erhalts von Einfluss oder Macht bewusst informationell fremdbestimmen lässt.

345 Gerade die Varianten, die über mehr Strukturanteile zur Re-Interpretation der externalisierten Bedeutungen verfügen, verdienen hierbei besondere Aufmerksamkeit.

218 | 6 Informationelle Kompetenz: Gelebte Informationelle Autonomie Obwohl die Informationelle Ambivalenz durch äußere Faktoren verursacht sein und begünstigt werden kann, erfordert das informationelle Verhalten eigene Entscheidungen. Diese sollten im Rahmen eines Konzepts der Informationellen Vernunft erfolgen. Eine etablierte Ausformung eines solchen Konzepts liegt nicht vor. Es ist jedoch möglich, Bedingungen für ein informationell vernünftiges Handeln zu formulieren und Kriterien dafür zu entwickeln, wie man informationell unvernünftiges Handeln erkennen und vermeiden kann (sowohl individuell als auch im gesellschaftlichen Kontext). Versteht man Vernunft als oberstes Erkenntnisvermögen, sind damit alle Formen der Vernunft mit Prozessen der kognitiven Informationsverarbeitung verbunden. Umgekehrt muss nicht jede Form kognitiver Informationsverarbeitung mit Vernunft korrespondieren; es lassen sich durchaus vernunftfreie oder vernunftwidrige Prozesse bzw. Ergebnisse kognitiver Informationsverarbeitung vorstellen. Informationelle Vernunft kann jedoch ausschließlich auf allgemeine Vernunft zurückgeführt werden. Informationelle Vernunft ist das Vermögen menschlichen Denkens, kognitive Prozesse zur Erschließung der Wirklichkeit durchzuführen, die Beobachtungen in Bedeutungen überführen und die durch Reflexionen aufgestellten Regeln und Prinzipien als Handlungsgrundlage bereit stellen. Mit dieser Charakterisierung kann Informationelle Vernunft als Ankerbegriff gesehen werden, da sie das Verständnis für alle anderen informationellen Vorgänge vorgibt. Dementsprechend ist Informationelle Vernunft keine eigene Vernunftform des Informationszeitalters, sondern eine spezifische konzeptionelle Weiterentwicklung allgemeiner Vernunft. Obwohl diese Charakterisierung Informationeller Vernunft die Nähe zur theoretischen Vernunft aufzeigt, ist sie, weil mit moralischen Urteilen verbunden, der praktischen Vernunft zuzuordnen. Um eine solche Zuordnung zu unterstreichen, soll als weiteres Konzept die Gelebte Informationelle Vernunft eingeführt werden. Darunter ist die Befreiung des Menschen aus der selbst verschuldeten informationellen Unmündigkeit zu verstehen. Unmündigkeit meint dabei die Abwesenheit von Informationeller Kompetenz. Mit der Gelebten Informationellen Vernunft ist für den Einzelnen die Verpflichtung zum sachgerechten Gestalten der informationellen Prozesse des Zusammenlebens verbunden. Die Berücksichtigung eines auf Informationeller Autonomie beruhenden Begriffs der Informationellen Kompetenz ist hierfür Voraussetzung. Diese Verpflichtung betrifft sowohl die persönliche als auch die gesellschaftliche Ebene. Ein Programm Informationeller Vernunft im Sinne einer humanistischen Kritik der Informationellen Vernunft ist noch nicht entworfen und bleibt ein Desiderat für die Rechtfertigung einer sich als Informationsgesellschaft verstehenden Form des Zusammenlebens.

7 Gefahren für die Informationelle Autonomie Die Disziplinargesellschaft schafft Verstöße, Übertretungen, Möglichkeiten herauszufallen, nicht dazuzugehören, sich zu verraten, ausgestellt zu werden: Alle sind Schläfer, sagen ein falsches Wort und sind Fatale, Zerstörer, zeigen ihr Wesen. Der Anspruch an die Disziplin auf allen Feldern bringt Querulanten, Hysteriker, Choleriker, Amokläufer hervor, der Anspruch an die Leistungsfähigkeit Versager, Ausgebrannte, Depressive, Menschen, die am Projekt der Selbstwerdung scheitern und sich zwischen den öffentlichen Parametern verlorengehen auf dem Refrain: Ich kann nicht mehr. Ich kann nicht mehr. Roger Willemsen³⁴⁶

Die Informationelle Autonomie des Einzelnen ist in Gefahr. Die Gefährdung kommt von außen, resultiert aber auch aus individuellem Verhalten und kann schlimmstenfalls im Informationellen Totalitarismus enden. Die Sicherstellung von Informationeller Autonomie ist deshalb nicht allein durch staatliche Maßnahmen zu erreichen³⁴⁷, sondern muss um die individuelle Verantwortung ergänzt werden. Informationeller Totalitarismus ist die Steigerung der informationellen Entmündigung, denn Totalitarismus durchdringt alle Bereiche und verbindet mit ihnen seine jeweilige Zielvorstellung: Totalitarismus bezeichnet in der Politikwissenschaft eine diktatorische Form von Herrschaft, die, im Unterschied zu einer autoritären Diktatur, in alle sozialen Verhältnisse hinein zu wirken strebt, oft verbunden mit dem Anspruch, einen ,neuen Menschen‘ gemäß einer bestimmten Ideologie zu formen.³⁴⁸

Unsere Leitthese lautet: Durch Digitalisierung wird eine Veränderung des Wissensverständnisses hervorgerufen, die Verstehen durch das Abrufen von Fakten ersetzt und um algorithmische Auswertungen ergänzt. Im Vergleich zur Leistungsfähigkeit von Maschinen wird der Mensch bei algorithmischen Prozessen und Datenauswertungen jedoch immer der Unterlegene sein. Wird also die Praxis vernachlässigt, Vertrautheit mit erfahrungsbasierten Entscheidungsgrundlagen zu erwerben, verschiebt sich die Werteskala für Beurteilungsvorgänge zugunsten algorithmischer Vorgehensweisen. Das bewirkt einen Verlust an Ausgewogenheit zwischen 346 Willemsen: Wer wir waren, S. 40. 347 Vgl. etwa den Vortrag von Markus Beckedahl anlässlich der Tagung des Chaos Computer Clubs 2017 in Leipzig zu den Gefahren durch die Übernahme von Entscheidungen durch Algorithmen (angeblich ,das‘ Thema der nächsten 3–4 Jahre), in dem er als Lösung die Einrichtung neuer Kontrollorgane vorschlägt (Gieselmann: Netzaktivist fordert bessere Kontrolle bei Künstlicher Intelligenz). Vgl. auch: Lebert: Der netzpolitische Wetterbericht. 348 Totalitarismus [Wikipedia]. https://doi.org/10.1515/9783110620221-007

220 | 7 Gefahren für die Informationelle Autonomie erfahrungsbasierter Entscheidungsfindung und rationaler Parametersteuerung und mündet in einer zuvor nicht bekannten Abhängigkeits- und Unterlegenheitssituation. Informationeller Totalitarismus strebt die Aufhebung der Informationellen Autonomie als individuelle kognitive Eigenschaft an. Entscheidungen und Handlungen des Einzelnen sollen ausschließlich auf der Basis Informationeller Abhängigkeit erfolgen. Die Ideen des Dataismus sind hierfür lediglich ein Beispiel – und vielleicht nicht einmal das gefährlichste. Informationelle Autonomie ist jedoch die Grundlage für die kognitiven Funktionen aller Lebensprozesse und ein wesentlicher Eckpfeiler einer humanistischen Position.

7.1 Analoge versus Digitale Information Viele Menschen sind noch mit der Aneignung externalisierten Wissens aus analogen Quellen vertraut und können diese Fähigkeit als eine alte und für die Entwicklung der Menschheit wichtige Kulturtechnik einordnen. Zunehmend entsteht jedoch der Eindruck, dass nur noch digitalisierte Information wert ist, wahrgenommen zu werden und dass analoge Repräsentationsmöglichkeiten als überholte Erscheinungsformen gelten. Diese Bewertung mag zu einem gewissen Anteil mit dem Umfang des Verfügbaren und der Bequemlichkeit des Zugangs zu erklären sein. Auf die eigene Erfahrung kann sie sich allerdings nicht stützen, denn jedem ist klar, dass sein individuelles Denken und Handeln auf der Grundlage analoger kognitiver Prozesse erfolgt. Der Wissenserwerb aus analogen Quellen hat sich zudem über einen langen Zeitraum zu einer Kulturtechnik mit vertrauten Umgangsformen entwickelt. Für digitale Nutzungsgewohnheiten hat die Dynamik der Entwicklung etwas vergleichbares bislang verhindert: Die Ablösung des Tippens durch das Wischen, des Wischens durch die Sprachsteuerung, der Sprachsteuerung durch … verläuft zu schnell, als dass sich eine dauerhafte Kulturtechnik hätte verfestigen können. Dies lässt vermuten, dass die gewohnten menschlichen Entwicklungs- und Sozialisationsprozesse nicht mehr möglich sein werden, wenn sie allein auf der Basis digital externalisierter Information und den zu ihrer Aneignung erforderlichen Fähigkeiten basieren. Der Zeitgeist sieht das jedoch anders und weist der Digitalisierung und dem Digitalen als Kompetenz eine eindeutig unverzichtbare und positive Rolle zu: Frage: Was bedeutet digitale Führung konkret in einem Unternehmen? Deutsche Konzernchefs fallen nicht unbedingt als digitale Vorreiter auf.

7.1 Analoge versus Digitale Information | 221

Antwort: Es wäre ja auch verwunderlich, wenn deutsche Konzernchefs als digitale Vorreiter auffallen würden. In dieser Rolle sehe ich eher jüngere Leute und da DAX-Vorstände im Schnitt älter als 50 sind, reagieren sie halt auf das, was sie von Dritten so mitbekommen. Wenn ich mich mit meiner 11-jährigen Tochter vergleiche, bin ich auch nicht unbedingt ein digitaler Vorreiter.³⁴⁹

Besonders auffällig ist die Verknüpfung des Digitalen mit dem Thema Lernen und sein möglicherweise förderlicher oder hemmender Einfluss darauf (zum Beispiel beim ,Digitalpakt‘, vgl. Kapitel 5.2). Dabei stehen die hohen Erwartungen in keinem Verhältnis zu den Einschätzungen von Lern- und Bildungsforschern. In einem Interview zum Thema Digitalisierung und Bildung (,Digitale Bildung‘) hält der Erziehungswissenschaftler Heinz-Elmar Tenorth ein starkes Plädoyer dafür, vor Eintritt in die Debatte erst einmal zu klären, was Digitalisierung im Zusammenhang mit Lernen meint oder meinen soll. Besonders bemerkenswert sind Tenorths Ausführungen zur Bildung. Er sieht deren Wesenskern darin, die Auseinandersetzung mit der Welt durch einen selbst gesteuerten konstruktiven Prozess so zu gestalten, dass auch die Bewältigung des Unbekannten möglich wird: Zunächst, glaube ich, darf man den Begriff der Bildung nicht unterschätzen. Der Begriff der Bildung – und das wird vielfach gar nicht gesehen – ist nämlich nicht gleichzusetzen mit Wissenserwerb. Der Begriff der Bildung ist auch nicht gleichzusetzen mit einer – sozusagen den Veränderungen der Welt folgenden nachgehenden – Aufnahme von dem, was ist und der Anpassung an Welt. Bildung ist immer Selbstkonstruktion in Wechselwirkung mit der Welt und Bildung wird erfunden, das ist das zweite, in einer Situation, auch das vergessen wir häufig, in der alle alten Gewissheiten verloren waren. Alle alten Gewissheiten der Tradition, die wir bis 1800 hatten und die die Aufklärung zerstört hat, alle alten Gewissheiten des Milieus, die wir kannten und die durch eine offene, auf Lernen und Individualisierung basierende Leistungsgesellschaft ersetzt worden sind, alle alten Gewissheiten der Religion, der Konfession, der Herkunft. Die Gesellschaft wurde offen, unbestimmt, die Zukünfte waren offen. In der Situation wird unser Bildungsbegriff erfunden und das Wesentliche, was der größte Vordenker, den wir in dem Milieu haben, Wilhelm von Humboldt […] von Bildung für diese offenen Gesellschaften dann erwartet hat, war eine Formel, die ich mit großem Vergnügen immer als das Neueste gerade verkauft finde: Das Lernen des Lernens müssen wir lernen. Das steht bei Wilhelm von Humboldt, 1809. Das heißt, der Bildungsbegriff ist angelegt auf eine Situation, in der ich nicht bestimmt sagen kann, wie die Zukunft wird, in der ich nicht konkret sagen kann, mit welchen Herausforderungen ich konfrontiert werde und in der ich nicht dezidiert und einfach sagen kann, was inhaltlich an Wissensportionen der Einzelne in Schulen zu lernen hat, sondern er hat immer basale grundlegende Kompetenzen erworben, Modi des Zugangs und der Auseinandersetzung mit Welt, und das war die Pointe an Bildung, und deshalb bin ich ganz traditionalistisch zuversichtlich, dass auch die neuesten

349 Ralf Lanwehr in einem Interview (Lanwehr: Beschleunigung, Verunsicherung, Konnektivität und Distanz).

222 | 7 Gefahren für die Informationelle Autonomie Flausen, denen wir begegnen, gelassen im Medium der Bildung abgefedert bewältigt, als Herausforderung begriffen und gestaltet werden können.³⁵⁰

Das Konzept einer ,Digitalen Bildung‘ ist fragwürdig. Es sollte daher geprüft werden, welches Bedrohungspotenzial ein oberflächliches Verständnis von digitaler Information und digitalem Lernen für die Informationelle Autonomie hat. Mindestens sollte die Bedeutung der digitalen Information für zukünftige Entwicklungen relativiert werden. Dies hieße nicht, ihren grundsätzlichen Nutzen in Frage zu stellen, sondern diesen Nutzen deutlich herauszuarbeiten und im Zusammenhang mit kognitiven Informationsprozessen zu betrachten.

7.2 Informationsflut In der ständigen Zunahme der Menge an externalisierter Information wird ein allgemeines Problem gesehen. Grundsätzlich ist das nichts Neues, denn die Produktion von Büchern, Zeitschriften oder anderen Formen bedruckten Papiers wächst seit langem.³⁵¹ Schon Erasmus und Leibniz klagten über die Flut der Neuerscheinungen, die man nicht mehr in der Lage war zu verfolgen.³⁵² Mit der Entwicklung individuell Schritt zu halten und sich wenigstens das Notwendigste anzueignen, wurde zunehmend als nicht mehr zu bewältigende Herausforderung gesehen. Es entstanden jedoch Hilfsmittel und Dienste, die immerhin einen Überblick ermöglichen sollten. Dies waren Bibliografien, fachwissenschaftliche Referateorgane und später Datenbanken. Dort wurden die Inhalte der neu erschienenen Dokumente in zusammengefasster Form angeboten. Damit begann die quantitative Auswertung der Publikationen als eigenes Untersuchungsgebiet, heute Informetrie genannt.³⁵³ Die Digitalisierung wird verantwortlich gemacht für eine nochmalige Steigerung der Informationsmenge, was mit der Metapher ,Informationsflut‘ veranschaulicht wird. Insbesondere aus der Arbeitswelt kommen Klagen, es müssten zu viele Informationen in immer kürzerer Zeit verarbeitet werden. Die Berechtigung dieser Kritik mag strittig sein, aber sie offenbart ein Unbehagen an der aktuellen Situation. Begleiterscheinungen wie steigende Fallzahlen bei Burn-out und die generelle Zunahme von Krankmeldungen sind Indizien für die Ausweglosigkeit, die von den Betroffenen empfunden wird. 350 Vgl.: Heinrich-Böll-Stiftung: Bildung für die digitale Zukunft, Min. 06:40-08:40 (schriftliche Fassung des Interviews von den Verf.). 351 Vgl. die Darstellung bei: Gleick: Die Information, S. 405 ff. 352 Vgl.: Standage: Information overload is nothing new; Blair: Too much to know. 353 Vgl. für die Darstellung der Ursprünge: Price: Little science, big science [1974].

7.2 Informationsflut | 223

Verschiedene weitere Metaphern sind im Umlauf, die eine Informationsflut bei gleichzeitigem Wissensmangel thematisieren. Es ist die Rede vom ,Ertrinken in der Informationsflut‘ und dem ,Dürsten nach Wissen‘. T. S. Eliot hat diesen Zustand schon 1934 charakterisiert: Wo ist die Weisheit, die wir im Wissen verloren haben? Wo ist das Wissen, das wir in der Information verloren haben?³⁵⁴

Es ist nicht allein der Zuwachs an Büchern, Texten, externalisierter Potenzieller Information, oder was auch immer als Quelle der Wissensaneignung betrachtet wird. Eigentlich könnte man es aus Erfahrung besser wissen. Auch ohne hieb- und stichfeste Belege ist sicher, dass die Menge verfügbaren Materials schon immer größer war als die für dessen vollständige Rezeption verfügbare Zeit. Wesentlicher Unterschied zwischen den alten und den aktuellen Klagen ist, dass erstmals nicht nur die mangelnde Zeit als Hemmnis für die Bewältigung der Informationsflut gesehen wird, sondern zusätzlich unterschwellig suggeriert wird, dass man erst alles Verfügbare rezipiert habe müsste, bevor man zu einer kompetenten Handlung befähigt sei. Die Digitalisierung führt also zum ersten Mal zu Zweifeln daran, ob kognitive Fähigkeiten für die Rezeption der verfügbaren (oder benötigten?) Information überhaupt ausreichend sind. Wer sich je mit dem Thema Patientenverfügung beschäftigt hat, wird möglicherweise recherchiert und sich eine mehr oder weniger große Zahl von Webseiten zum Thema angesehen haben. Es gibt eine große Auswahl an Musterformularen. An Angeboten herrscht definitiv kein Mangel, und es bedarf keinerlei spezifischer Kompetenz, sie zu finden. Die Eingabe des Suchworts ,Patientenverfügung‘ ist völlig ausreichend. Die Idee einer Recherche im Internet wird heute niemand mehr als Ausdruck besonders kompetenten Verhaltens bewerten. Die Aufgabe jedoch, das individuell geeignete Formular zu finden oder so zu gestalten, dass der eigene Wille ausgedrückt wird, erfordert Kompetenz. Die Bewältigung der ,Informationsflut‘ erfordert eben nicht nur informationstechnische Verfahren in Form quantitativer Methoden und entsprechender Algorithmen ohne Unterscheidung der Einzelphänomene, sondern auch eine Bewertung und Selektion nach qualitativen Eigenschaften. Dafür gibt es kognitive, an Qualität orientierte Vorgehensweisen, die prinzipiell anders arbeiten als informationstechnische Lösungen. Für diese kognitiven Fähigkeiten muss ein inneres Sensorium entwickelt und geübt werden, das beispielsweise als Gegenstand von Bildung betrachtet werden könnte.

354 Eliot: The Rock.

224 | 7 Gefahren für die Informationelle Autonomie Ein beträchtlicher Teil der vermeintlichen Informationsflut wird aktuell über die Medien und diverse Internet-Dienste (Foren, Blogs, Messenger, Chat rooms, Vlogs etc.) angeboten und vielfach herrscht im beruflichen wie privaten Umfeld der Eindruck, dass man es sich nicht leisten dürfe, die auf diesen Wegen vermittelten Informationen zu verpassen. Dank der digitalen Darbietungsform lassen sich zahlreiche Analyseverfahren anwenden, um einen Überblick zu bekommen. Diese liefern Ergebnisse, sagen aber nichts über den Stellenwert und die Bedeutung des einzelnen Beitrags für den jeweiligen Leser aus. Analysen dokumentieren, wenn ein Blog kontinuierlich von vielen Personen verfolgt wird und erzeugen damit den Eindruck seiner (vermeintlichen) Wichtigkeit. Dieser Eindruck wiederum suggeriert, man müsse wegen dessen Popularität jeden Beitrag des Blogs zur Kenntnis nehmen. Gruppendruck und das Bedürfnis nach sozialer Anerkennung können dieses Gefühl verstärken. Ein Gedankenexperiment: Jeden Tag sind ganz viele, nicht persönlich bekannte Menschen an einem Bahnhof einer großen Stadt anzutreffen. Es gibt keinerlei verspürten Druck, deren Äußerungen wahrzunehmen oder mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Gleichzeitig wird diese Tatsache nicht als Mangel empfunden. Warum ist das bei Twitter-Nachrichten anders?

7.3 Entscheidungsfindung und Informationelle Überforderung Der Trend, Datenaggregation an den Beginn eines Entscheidungsprozesses zu stellen, fußt auf der mittlerweile etablierten Annahme, dass sich Entscheidungen besser treffen lassen, wenn sie sich auf (vermeintlich) vollständige Informationen stützen. Die Lebenserfahrung zeigt aber, dass man auch dann Entscheidungen treffen muss, wenn man nicht über genügend Informationen verfügt oder meint, keine ausreichenden Informationen zu haben. Entscheidungsträger in Wirtschaft und Politik agieren häufig sogar gegen die rational und durch Datenaggregation abgesicherte Informationslage – und werden dafür sogar bewundert, falls die Entscheidungen Positives bewirken. Ihr Prinzip lautet: Aus der vergangenen Erfahrung wird per Analogie, Abstraktion oder auf der Basis von Heuristiken die Entwicklung der Zukunft prognostiziert.³⁵⁵ Derartige ,Bauchentscheidungen‘ sind ein geeignetes Mittel gegen Informationelle Überforderung und Überlastung. Diese entsteht, wenn zu viele Parameter als Grundlage für einen Entscheidungs- oder Handlungsprozess gleichberechtigt herangezogen werden müssten, die aufgrund begrenzter kognitiver Kapazitäten

355 Vgl. etwa: Gigerenzer: Bauchentscheidungen.

7.3 Entscheidungsfindung und Informationelle Überforderung

| 225

aber nicht verarbeitet werden können. Die kognitiven Verarbeitungskapazitäten können nicht beliebig gesteigert werden. Alles, was Aufmerksamkeit bindet, beansprucht kognitive Ressourcen. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um formal Belangloses oder inhaltlich Bedeutsames handelt. Der Unterschied kann nur durch das Setzen von Prioritäten bestimmt werden. Damit mündet eine Situation des Informationellen Overload in ein Optimierungs- oder Entscheidungsproblem. Auch bei der Rezeption aus medialisierten Quellen können Situationen entstehen, die zu einer Informationellen Überforderung führen. Falls für das Verständnis der externalisierten Information eine zu große Zahl an Referenzbereichen erforderlich ist, kann dies gemäß der Cognitive Load Theory als ein auslösender Faktor gesehen werden. Die mediale Repräsentation von Inhalten wird ebenfalls zu einer kognitiven Belastung, wenn die Anforderungen der medialen Form zu wenig Kapazität für die Beschäftigung mit den Inhalten übrig lassen. Denkbar ist, dass die Inhalte dadurch nicht oder missverstanden werden und deshalb versucht wird, dem Informationellen Overload durch eine algorithmische Auswertung der medialisierten Daten zu entgehen. Prinzipiell sind solche Situationen beherrschbar. Lösungswege sind bekannt: zum Beispiel die Anwendung einer multikriteriellen Pareto-Optimierung.³⁵⁶ Es gibt Beispiele, in denen derartige Vorgehensweisen hervorragend funktioniert haben. Dennoch stehen ihrer Alltagstauglichkeit zwei entscheidende Problemfelder entgegen: Erstens kann der Aufwand zur Übertragung des Problems in die dafür benötigte Sprache der Optimierung so groß werden, dass man ihn nicht leisten kann oder will. Zweitens muss das Ergebnis einer multikriteriellen Optimierung nicht eindeutig zu einer einzigen Lösung führen. Es kann mehrere gleichberechtigte Lösungen geben, zwischen denen (mittels eines der Optimierung nicht zugänglichen Kriteriums) entschieden werden muss. Dafür bedarf es ausreichender Informationeller Autonomie. Kann einer Unsicherheit in Entscheidungssituationen zuverlässig vorgebeugt werden? Nicht alle Menschen gehören zu den wenigen erfolgreichen Entscheidungsträgern, sondern die meisten werden im Leben auch mit Versagen und Misserfolg konfrontiert. Falls ihnen also bewusst ist, dass sie eine Entscheidung treffen müssen (oder getroffen haben), obwohl relevante Daten nicht oder nicht umfassend ausgewertet wurden, können die Folgen der Entscheidung nicht zuverlässig abgeschätzt werden und es bleibt ein ungutes Gefühl der Unsicherheit oder sogar des Unterlassens zurück. Es ist schwer abzuschätzen, welche Konsequenzen ein solches Geschehen im Hinblick auf das informationelle Selbstwertgefühl und die Informationelle Autonomie hat.

356 Vgl. zum Einstieg: Pareto-Optimierung [Wikipedia].

226 | 7 Gefahren für die Informationelle Autonomie

7.4 Soziale Netze und Informationelle Selbstbestimmung Niemand hat mehr Instagram-Follower. Instagram hat einen neuen König: Fußball-Star Cristiano Ronaldo verdrängt Selena Gomez von der Spitze.³⁵⁷

Die Sozialen Medien sind zu einem gesellschaftlichen Massenphänomen des 21. Jahrhunderts geworden. Hintergrund der oben genannten Meldung ist, dass der Fußballspieler Cristiano Ronaldo mit mehr als 144 Millionen Follower auf der ,sozialen‘ Plattform Instagram die Schauspielerin und Sängerin Selena Gomez als Spitzenreiterin abgelöst hat. Es ist anzunehmen, dass die Follower glauben, dass ihnen die Person, der sie folgen, etwas zu sagen hat (was auch immer dies im Fall von Fußballspielern oder Popstars sein mag). Selbst medienaffine Politiker können da nicht mithalten. Kein klassisches Medium verfügt über eine Reichweite wie die Sozialen Medien und hat einen vergleichsweise großen potenziellen Einfluss auf rational erworbene Einstellungen oder affektiv geprägte Ansichten der Rezipienten. Informationelle Selbstbestimmung kann durch äußere Bedingungen eingeschränkt werden, zum Beispiel durch staatlichen Maßnahmen. Sie kann aber auch durch das eigene Handeln beeinträchtigt werden. Die ,Spielregeln‘ Sozialer Medien und die Handlungen ihrer Nutzer haben daher Konsequenzen für die Informationelle Selbstbestimmung.³⁵⁸ In der Beteiligung an sozialen Netzen wird gern, mit positiver Konnotation, eine demokratische Praxis gesehen. Theoretisch ist hier jeder dem anderen in der Kommunikation gleichgestellt und kann seine Position in gleichberechtigter Weise einbringen. Die reale Kommunikationspraxis zeigt jedoch, dass dem nicht so ist. Die Herausbildung von Meinungsführern und Mitläufern erfolgt wie in anderen sozialen Strukturen auch. Vor allem die Möglichkeit, auf einfachste Weise Beifall oder Missfallen zum Ausdruck zu bringen (Likes, Emoijs), scheint eher das Herdenprinzip als die Gleichberechtigung und individuelle Unabhängigkeit zu begünstigen. Die Zahl der Follower bestimmt den Meinungsführer und wird zur Messlatte, nicht die Aussage selbst oder deren Qualität. Soziale Medien erlauben den Aufbau digitaler Identitäten mit eigenen Profilen in eigens dafür geschaffenen Identitätswelten. Die Rückwirkungen solcher Parallelwelten auf die Realität sind noch nicht ausreichend untersucht und bekannt. Ein positiver Einfluss ist aber wohl eher unwahrscheinlich.

357 Selena Gomez [Gala]. 358 Vgl. für einen umfassenden Überblick zur Thematik Sozialer Medien z. B.: Schmidt/ Taddicken (Hrsg.): Handbuch Soziale Medien.

7.4 Soziale Netze und Informationelle Selbstbestimmung

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Soziale Medien müssen dennoch nicht zwangsläufig eine Bedrohung für die Informationelle Selbstbestimmung darstellen; da sie eine Selbstdarstellung ermöglichen, könnte man ihnen auch eine unterstützende Funktion bei der eigenen Persönlichkeitsentwicklung zutrauen. Gleichzeitig weist jedoch kein anderes informationelles Geschehen eine vergleichbar große Diskrepanz zwischen dem vermeintlichen Nutzen und den möglichen Risiken auf. Besonders bemerkenswert ist dabei die Bereitschaft, den teilweise an Gruppenzwang erinnernden Vorgaben zu entsprechen, auch wenn sie im Widerspruch zur eigenen Überzeugung stehen. Mit informationstechnischen Möglichkeiten werden ökonomische Interessen umgesetzt. Die technische Machbarkeit führt dabei mit Berufung auf visionäre Ziele zu höchst problematischen Endprodukten, die teilweise ethische Standards bewusst missachten. Das Nutzerverhalten funktioniert nicht als Korrektiv, weil Informationelle Kompetenz nicht in hinreichender Weise zur Wahrung der Informationellen Selbstbestimmung eingesetzt wird. Die den sozialen Netzen überlassenen Daten werden zum Aufbau von Nutzerprofilen verwendet (Kaufverhalten, Bewegungsdaten). Daraus wird längst kein Geheimnis mehr gemacht, denn der Datenverkauf ist fester Bestandteil des Geschäftsmodells.³⁵⁹ Berichte über Missbräuche der in sozialen Netzen gesammelten Benutzerdaten gibt es daher regelmäßig. Im März 2018 wurde die unberechtigte Auswertung von Daten aus Facebook-Benutzerprofilen mit Vorliebens- und Verhaltensangaben durch die Firma Cambridge Analytica von großer medialer Aufmerksamkeit begleitet.³⁶⁰ Wenn zunächst auch nicht ganz klar war, wer wann was gemacht oder gewusst hatte, das Ausmaß der Datenweitergabe belegte die besondere Schwere des Falls. Hinzu kamen Spekulationen um eine mögliche Beeinflussung der amerikanischen Präsidentenwahl 2017 oder der britischen BrexitEntscheidung. Noch ist offen, ob dieser Vorgang Veränderungen des Verhaltens im Umgang mit sozialen Medien zur Folge haben wird. Der Ankündigung von Marc Zuckerberg, zukünftig für mehr Datenschutz zu sorgen, misstraute sogar die Bundesdatenschutzbeauftragte Andrea Voßhoff :

359 Nicht einmal das Recht an selbst erzeugten Daten ist in manchen sozialen Netzen eine Tabuzone. Beispielsweise verliert man auf Ebay das Recht an einem selbst gemachten Foto, wenn man es im Rahmen einer Online-Auktion auf den Seiten der Auktions-Plattform einstellt. Vgl.: Nutzung von Bildern [Ebay]. 360 Aus der Vielzahl von Meldungen zu dem Thema sei hier nur exemplarisch genannt: Wittenhorst: Trump-Wahlhelfer Cambridge Analytica.

228 | 7 Gefahren für die Informationelle Autonomie Das Geschäftsprinzip von Facebook ist ja gerade, Daten zu generieren und sie gewinnbringend zu vermarkten. So gesehen würde ich jetzt nicht unbedingt behaupten wollen, dass ich ihm das per se glaube, aber er kann es ja auch unter Beweis stellen.³⁶¹

Wie sehr die wirtschaftliche Sichtweise das Denken bereits beeinflusst, zeigt der Kommentar in einem Newsletter der Informationsbranche, in dem die Einflussmöglichkeit politischer Entscheidungen deutlich relativiert wird: Ob es für Facebook ein ,Weiter-So‘ geben kann, werden die Kurse auf den Aktienmärkten, das weitere Investment der Werbekunden und vielleicht sogar die Politik unserer Justizministerin Katharina Barley, die Facebook mit hohen Strafen im Falle illegalen Verhaltens droht, zeigen.³⁶²

Angesichts der längst erreichten Wirtschaftsmacht der Internet-Konzerne und der Durchdringung des Alltags mit ihren Produkten wird es wahrscheinlich bei Forderungen nach besserer Absicherung der Daten und effizienterer Überwachung bleiben und die Realisierung von Persönlichkeits- oder Datenschutz nicht oder nicht in ausreichendem Maß erfolgen. Aktuelle Studien geben kaum Hinweise darauf, dass die Nutzer Sozialer Medien die von ihnen als unbefriedigend empfundenen Zustände zum Anlass nehmen, die eigene Informationelle Kompetenz zu erweitern. Die bereits in Kapitel 5.1 zitierte repräsentative Umfrage der Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers (PwC) ,Vertrauen in Medien‘ unter 1.000 Bundesbürgern erbrachte unter anderem folgende Ergebnisse: 30 Prozent halten es für die Aufgabe der Nutzer, Maßnahmen gegen Datenmissbrauch zu ergreifen, nur für acht Prozent tragen die Nutzer eine Mitverantwortung. 32 Prozent sehen den Gesetzgeber in der Pflicht. 44 Prozent der Nutzer haben auf den Cambridge-Analytica-Vorfall reagiert: Sieben Prozent haben ihr Profil gelöscht, 18 Prozent ihre Datenschutzeinstellungen überprüft. Bemerkenswert ist, dass vier von zehn Deutschen die Weitergabe ihrer Daten nicht stört, wenn dafür das Angebot kostenlos ist. Nur jeder Zehnte möchte tatsächlich wissen, was mit den eigenen Daten passiert. 23 Prozent wollen zumindest sehr sensible persönliche Daten geschützt wissen, neun Prozent nehmen die Weitergabe bewusst in Kauf, um Gratisangebote zu erhalten und acht Prozent möchten wissen, wohin die Daten genau gehen. Ein lockerer Umgang mit den eigenen Daten ist vor allem bei den 18- bis 29-Jährigen erkennbar: In dieser Altersgruppe versuchen nur 35 Prozent die Preisgabe ihrer Daten auf ein Minimum zu beschränken.³⁶³

361 Zitiert nach: Bünte: Bundesdatenschutzbeauftragte bezweifelt Facebooks Datenschutzversprechen. 362 Ihre Kommunikationsstrategie als Puzzlespiel [Password]. 363 PricewaterhouseCoopers: Vertrauen in Medien.

7.4 Soziale Netze und Informationelle Selbstbestimmung

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Am 25.05.2018 trat die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) in Kraft. Der verbesserte gesetzliche Schutz hatte für zahlreiche Geschäftsbereiche zur Folge, dass zusätzliche Einverständniserklärungen zu unterschreiben waren. Der Umgang mit den neuen Datenschutzerfordernissen führte aber auch zu neuen Unsicherheiten. Die Einführung eines ,Rechts auf Löschung‘ für abgespeicherte persönliche Daten betraf nun auch Datenbestände, die im unterstellten Interesse einer Allgemeinheit archiviert und recherchierbar angeboten wurden. Als Konsequenz aus der Einführung der DSGVO hat sich daher der Betreiber mehrerer fachlicher Mailinglisten dazu entschlossen, die Archivfunktion der Listen abzuschalten und begründet dies wie folgt: Damit ist in Artikel 17 das Recht auf Löschung (Recht auf Vergessenwerden) geregelt: eine betroffene Person kann verlangen, dass die sie betreffende personenbezogenen Daten ohne unangemessene Verzögerung gelöscht werden. Dementsprechend wäre ein entsprechendes Löschkonzept für die Archivfunktion von unseren Mailinglisten zwingend notwendig. Da ein solches nur mit unverhältnismäßig hohem personellen Aufwand zu bewerkstelligen und somit nicht wirtschaftlich wäre, haben wir uns entschieden, ab sofort die Archivfunktion in unseren Mailinglisten abzuschalten.³⁶⁴

Mit dem Abschalten der Archivfunktion wurde zweifelsohne der schärfsten Interpretation der Datenschutzgrundverordnung entsprochen. Gleichzeitig wurden damit alle Erwartungen aufgegeben, die an eine Archivierung von elektronischer Kommunikation geknüpft worden waren. So spielte es für Mailinglisten früher eine Rolle, ob sie eher einen Small-Talk-Charakter hatten oder als Publikationsmedium angesehen wurden, dessen Beiträge zitierfähig erhalten werden sollten; damit verbundene wissenschaftlichen Interessen hätten dann sogar verfassungsrechtlichen Schutz. Der sachgerechte Umgang mit derartigen Herausforderungen ist ein großes Betätigungsfeld für Informationelle Kompetenz. Soziale Netze stellen eine neue gesellschaftliche Struktur dar, in der bekannte Interaktionsphänomene gar nicht mehr, nur begrenzt oder in anderer Form als bisher Gültigkeit haben. Informationelle Autonomie erfordert es demgegenüber, die individuelle Freiheit zur Anwendung der kognitiven Basiseigenschaften im Rahmen einer durch Vorbild gelebten Autorität angstfrei zu fördern und zu schützen. Mit dieser Charakterisierung ist man den Werten eines aufgeklärten Humanismus als Leitvorstellung für die Gestaltung und die Praxis sozialer Netze verpflichtet. Der Dataismus bemisst den Wert des Menschen am Umfang der von ihm bereitgestellten Daten. Ist das in sozialen Netzen grundsätzlich anders? Wie weit sind wir noch von dem Punkt entfernt, ab dem die Nicht-Bereitstellung von Daten sanktioniert wird? Dave Eggers hat in seinem Roman Der Circle eine visionäre Vor364 Graf: Katastrophal [Archivalia].

230 | 7 Gefahren für die Informationelle Autonomie ausschau der möglichen Arbeits- und Lebensbedingungen unter den Prämissen des virtuellen sozialen Lebens gegeben.³⁶⁵ Protagonistin der Erzählung ist die 24-jährige Mae Holland. Sie ist überglücklich, weil sie einen Job in der hippsten Firma der Welt – dem Circle – bekommen hat. Diese Firma ist eine Mischung aus Google, Apple, Facebook und Twitter und stattet alle Kunden mit einer Internetidentität aus, über die einfach alles abgewickelt werden kann. Die Vision der Firma: Mit dem Wegfall der Anonymität im Netz wird die Welt eine bessere, denn niemand kann mehr unbemerkt etwas Böses tun. Jeder Fehltritt wird von den Mitgliedern des Netzes beobachtet und ist damit für alle transparent. Die Protagonistin stürzt sich voller Begeisterung in ihre Arbeit und genießt gleichzeitig die besonderen Circle-Angebote in vollen Zügen: SterneKöche kreieren kostenlose Mahlzeiten, internationale Stars geben Gratis-Konzerte und fast jeden Abend finden Partys statt. Mae wird zur Vorzeigemitarbeiterin und lässt die Philosophie des Unternehmens auch zur Maxime ihrer eigenen Lebensgestaltung werden. Allen Nutzern des Circle präsentiert sie ihr Leben per Life-Video. Sie möchte Vorreiterin für die völlige Transparenz in der Netz-Öffentlichkeit sein. Auf diese Weise findet sie Millionen Follower und erfährt viel Bestätigung für ihr Handeln. Mit der Realisierung derartiger Ideen blieben Grundrechte wie beispielsweise die Informationelle Selbstbestimmung auf der Strecke. Apologeten sozialer Netzwerke sehen diese Entwicklungen dennoch nicht kritisch.³⁶⁶ Informationelles Geltungsbedürfnis Soziale Medien belegen, dass sich Menschen in virtuellen Umgebungen anders verhalten als im realen Leben. Viele der dabei zu beobachtenden Verhaltensweisen erinnern an jene, die Josef Weizenbaum bereits im Zusammenhang mit seinem ,Diagnosesystem‘ ELIZA beschrieben hat.³⁶⁷ Einerseits wähnt man sich mit seinen (virtuellen) Handlungen in vermeintlicher Anonymität und verkennt oder ignoriert die tatsächliche Transparenz. Man offenbart Details über sich, die man in einem direkten persönlichen Kontakt gegenüber anderen Menschen niemals preisgeben würde. Gäbe es so etwas wie informationellen Nudismus, würde er dieses Verhalten gut beschreiben. Andererseits kann man dem Drang nicht widerstehen, die eigenen Fähigkeiten im Umgang mit informationstechnischen Geräten als Maßstab auszuweisen. Dabei spielt es interessanterweise keine Rolle, ob dieses ,Angeben‘

365 Eggers: Der Circle. 366 Stock/Fietkiewicz: ,Social Live‘-streaming services. 367 Weizenbaum: Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft, S. 15 ff.; vgl. auch für neuere Aktivitäten: Becker: Auf dem Weg zum Psychotherapie-Bot.

7.5 Bedatete und vermessene Menschen |

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im Rahmen direkter persönlicher Interaktion oder vermittelt über Chats, Blogs, Diskussionsforen oder andere Netzmedien stattfindet. Hauptsache ist, dass das übersteigerte informationelle Darstellungsbedürfnis kundgetan werden kann. Derartige Verhaltensweisen sind typisches Gruppenverhalten. Die Gruppe, bzw. die Netz-Community, wird als Schutzraum exzessiver und unberechtigter Selbstdarstellung empfunden. In einer solchen Umgebung ist ein Eingeständnis der eigenen Defizite (im Umgang mit informationellen Problemen) nicht mehr möglich. Informationelles Geltungsbedürfnis lässt sich somit als ein Verhalten charakterisieren, das den Anschein erwecken will, einem informationellen Problem unter allen Umständen gewachsen zu sein – und dabei eigene Defizite ignoriert. Informationelles Geltungsbedürfnis eignet sich als Kriterium zur Unterscheidung zwischen Informationskompetenz und Informationeller Kompetenz. Informationskompetenz bindet sich an die Ausübung von Fertigkeiten. Ein als Mangel empfundener Zustand bei der Bedienung eines Geräts oder der Nutzung einer App wird durch den Erwerb der instrumentellen Fertigkeit kompensiert. Informationelle Kompetenz begrenzt die Defizitanalyse nicht auf die Bedienung, sondern beschreibt die Differenz zum gewünschten Zustand in einem umfassenderen Sinn. Im Erwerb einer neuen instrumentellen Fertigkeit oder der Erfüllung von Bedienungsanforderungen einer App sieht sie keinen grundsätzlichen Mehrwert. Sie ist eine wünschenswerte Spielart Informationeller Selbstbeschränkung, deren Geltungsbedürfnis sich auf Fähigkeiten mit einem Potenzial zur Übertragbarkeit auf neue Situationen beschränkt.

7.5 Bedatete und vermessene Menschen Was mutet uns eine Welt zu, in der selbst elementare Alltagsverrichtungen zunehmend in Form datengesteuerter Vorgänge vollzogen werden müssen? Wie verändert dies unser Verhalten? Philip Davis und Reuben Hersh haben dies bereits 1988 so charakterisiert: Damit ich Tag und Nacht über Geld verfügen kann, ermutigt man mich, eine Zauberkarte zu erwerben und mich an ein Nummernsystem zu halten. Ich habe keinerlei Zweifel, daß ich in wenigen Jahren einige vorbereitende Programmierungen durchzuführen haben werde, um eine öffentliche Toilette benützen zu können. Einfach ein Geldstück in den Schlitz zu werfen, wird zu den geheiligten Einfältigkeiten der Vergangenheit gehören. Ertrinken wir in Ziffern? […] Ist das Ende in Sicht? Ja, wir ertrinken, aber das Ende ist noch nicht in Sicht. Hinter all den Ziffern steht die Tatsache, daß unsere Zivilisation computerisiert worden ist. Wir befinden uns in den Fängen der Symboljongleure und Zahlenknacker. Die wahre Natur dieser Sklaverei wird oft übersehen. Sie ist nämlich keine Knechtschaft gegenüber einem einzelnen Computer; vielmehr entsteht sie aus der totalen Computerisierung der ,Informati-

232 | 7 Gefahren für die Informationelle Autonomie onsquellen‘ und der ,Kommunikationsmöglichkeiten‘. Jedesmal, wenn ein Zahnarzt einen hohlen Zahn füllt, findet das irgendwo ein Computer heraus und schickt eine Rechnung. Dem Computernetzwerk entkommen? Keine Chance! Ihr Schwiegersohn hat vielleicht einen guten Job als Programmierer eines Reklamefeldzuges für Computer. Der Zahnarzt besitzt selbst IBM-Aktien.³⁶⁸

Heute können wir beurteilen, welche dieser Befürchtungen Realität geworden sind. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für das Bild des Menschen, sein Selbstverständnis und seinen Wert? Definiert sich der Mensch durch sein Sein, sein Denken und Handeln oder nur noch durch Kennziffern? Die Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen³⁶⁹ und das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland sind sich einig: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“.³⁷⁰ Mit dem Dataismus hingegen ist eine vollständige Neuorientierung verbunden, die sich mit dieser humanistischen Sicht nicht mehr vereinbaren lässt. Angesichts ihrer Radikalität wird man die Ideen des Dataismus in Bezug auf eine schnelle Realisierung zunächst vermutlich nicht besonders ernst nehmen. Dennoch gibt es deutliche Anzeichen dafür, dass der Mensch nicht mehr anhand seines Selbstwerts sondern über eine Vielzahl von Parametern beurteilt wird. Es ist deshalb nicht auszuschließen, dass es sich um einen schleichenden Prozess handelt, an dessen Ende die Schöpfungsidee einer entmenschlichten Dataisierung gesellschaftlicher Werthaftigkeit steht. In der Welt der Wissenschaft hat die Bewertung des Menschen anhand von Daten mittlerweile eine große Bedeutung und ist – im Unterschied zur Alltagswelt – dort fast zum Normalfall geworden. Im Rahmen von Berufungsverfahren für Professoren oder bei der Vergabe von Forschungsmitteln waren lange Zeit qualitative Überlegungen für Entscheidungen maßgeblich. Inzwischen orientiert man sich zunehmend an numerischen Kennziffern, die eine Vielzahl von Parametern berücksichtigen. Dies können unter anderem sein: – – – –

die Zahl der Publikationen; die Zahl der Publikationen mit Co-Autoren;³⁷¹ die Zahl der Publikationen in Konferenz-Proceedings; die Zahl der Zitate in anderen Publikationen;

368 Davis/Hersh: Descartes’ Traum, S. 35. 369 Vereinte Nationen: Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. 370 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. 371 Hat man früher viel Wert auf den Ausweis der individuellen Leistung durch alleinige Autorenschaft gelegt, so drückt sich nach weit verbreiteter Meinung heute durch die Vielzahl von Beiträgen mit Co-Autoren in besonderer Weise eine Kooperationskompetenz aus.

7.5 Bedatete und vermessene Menschen |

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der Hirsch-Index;³⁷² die Zahl der Doktoranden; die Zahl der verantwortlich geleiteten Projekte; der Umfang der bereits eingeworbenen Drittmittel; die Zahl der eigenen Patente.

Der Berücksichtigung weiterer Parameter sind keine Grenzen gesetzt. Darüber hinaus kann jeder Parameter gewichtet werden. Die Zahl der Publikationen lässt sich beschränken auf solche in Peer-reviewed-Journals, oder für die Zahl der Publikationen mit Co-Autoren kann verlangt werden, dass diese selbst über einen eigenen hohen Hirsch-Index verfügen müssen.³⁷³ Bestimmt werden diese Scoring- oder Ranking-Verfahren allein von quantitativen Parametern. Die Ableitung einer qualitativen Substanz kann nur auf indirektem Weg erfolgen und basiert auf einer für plausibel gehaltenen Annahme: Die Berücksichtigung von Publikation in Peer-reviewed-Journals unterstellt beispielsweise, dass bereits andere Personen eine qualitative Bewertung der Publikation vorgenommen haben, die verlässlich ist. Quantitative Parameter können eine eigene qualitative Bewertung aber nicht ersetzen. Sie können auch keine Gewähr dafür bieten, dass die zugrunde gelegten Daten nicht manipuliert wurden, was die Aussagekraft des ,Scores‘ in Frage stellen würde. Den Beteiligten ist die Bedeutung der quantitativen Parameter für die eigene wissenschaftliche Karriere natürlich bewusst. Sie werden daher alles unternehmen, um ihre Chancen im Wettbewerb um Stellen und Gelder zu verbessern. Ob die dafür geeigneten Maßnahmen zu einer Erhöhung der wissenschaftlichen Qualität führen, lässt sich durch eine quantitative Bewertung allein nicht feststellen. Die Anpassung an die auf quantitativen Daten basierenden Vermessungsmechanismen dient dazu, diese zu überlisten, wenn nicht sogar auszuhebeln. Mit einer vergleichbaren Intention arbeiten auch die Verfahren der sogenannten Suchmaschinenoptimierung.³⁷⁴ Entgegen einer unbefangenen Erwartung sind damit nicht die Verbesserung der Funktionalität von Suchmaschinen oder Maßnahmen

372 Vgl.: Hirsch: An index to quantify an individual’s scientific research output; Hirsch: An index to quantify an individual’s scientific research output that takes into account the effect of multiple coauthorship. 373 Erstaunlicherweise hat sich die in der Mathematik vertraute Erdös-Zahl noch nicht auf andere Disziplinen übertragen. Paul Erdös war der produktivste Mathematiker der Neuzeit und hat viele Mathematiker zu ihren Ergebnissen inspiriert. Die Erdös-Zahl 1 bringt zum Ausdruck, dass man eine Publikation gemeinsam mit Paul Erdös verfasst hat – eine besondere Auszeichnung. Die Erdös-Zahl 2 signalisiert, dass man mit einem Co-Autoren von Paul Erdös einen Beitrag verfasst hat und so fort. 374 Suchmaschinenoptimierung [Wikipedia].

234 | 7 Gefahren für die Informationelle Autonomie für deren verbesserte Handhabung gemeint. Es geht vielmehr um die Implementierung von Tricks, um die Positionierung einer Webseite in der Trefferliste der Suchmaschine zu verbessern. Ziel ist die Überlistung des Bewertungs-Algorithmus der Suchmaschine, um einen Vorteil gegenüber Wettbewerbern zu erreichen, die sich derartiger Tricks nicht bedienen. Die Interessen geleitete Manipulation besiegt die rationale Vorgehensweise. Die zunehmende Tendenz, quantitative Analysen auf alles und jedes anzuwenden, hat eine eigene Disziplin entstehen lassen, die als Szientometrie oder Informetrie bezeichnet wird.³⁷⁵ Hier wird versucht, die digitale Welt zu vermessen und daraus Schlussfolgerungen für das nicht-digitale Leben abzuleiten. Es gab und gibt Kritik an dieser numerischen Messbarkeitssucht, ohne dass dies bislang zu entscheidenden Veränderungen geführt hätte. Ein aktueller Beitrag kommt etwa zu folgendem Resümee: Although these criticisms have been noted, they have been largely brushed aside or ignored, not addressed head on. This may be for a number of reasons, but we believe the main one is that these criticisms undermine the desire to have an easy ,scientific‘—that is, quantitative—method of evaluation.³⁷⁶

Die Vermessung wird sich nicht auf den Wissenschafts- und Forschungsbereich beschränken. Erste Anzeichen signalisieren, dass die aus der Informetrie bekannten Vorgehensweisen auch auf unser Alltagsleben angewendet werden. Im Rahmen der sogenannten Soziometrie wird der bedatet vermessene Menschen thematisiert.³⁷⁷ Kerstin Witte-Petit fasst ihre Befürchtungen (am Ende eines Artikels über Screenings, Ratings, Rankings und Scorings von Menschen) so zusammen: Am Ende könnten Zahlen die ganze Existenz bestimmen – und kein Bürger könnte genau nachvollziehen, warum ihn der allmächtige Staatsalgorithmus auf die hinteren Plätze verweist.³⁷⁸

Besonders nachdenklich macht die Entwicklung von Systemen, die eine Bewertung der Sozialverträglichkeit von Mitgliedern einer Gesellschaft zum Ziel haben. Bekannt geworden sind derartige Zielsetzungen durch die App Ehrliches Shanghai,

375 Es sind weitere terminologische Spielarten bekannt, wie Bibliometrie oder Webometrie. Der Startpunkt wurde gesetzt durch: Price: Little science, big science [1963]; deutsch: Price: Little science, big science [1974]. 376 MacRoberts/MacRoberts: The mismeasure of science, Abstract. 377 Vgl. z. B.: Mau: Das metrische Wir. 378 Witte-Petit: Der menschliche Kurswert.

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über die seit dem Jahr 2017 in den Medien berichtet wird.³⁷⁹ Anhand von mehreren tausend Parametern, die von Ämtern und Behörden bereitgestellt werden, wird ein Sozialkreditsystem mit Punktekonten aufgebaut, das der Bestrafung gesellschaftlichen Missverhaltens oder der Belohnung von Wohlverhalten dient. Damit wird ein Scoring der Sozialverträglichkeit erstellt, das an Börsen-Notierungen erinnert – nur eben für Menschen. Ziel ist die gesellschaftliche Überwachung und Sicherstellung der Entwicklung eines – im Staatssinn – moralisch einwandfreien Menschen. Das Scoring ist Basis für Negativ-Kennzeichnungen und Ausgrenzung und gleichzeitig Quelle für Vergünstigungen (die ersten Berichten zufolge große Beliebtheit genießen und gern in Anspruch genommen werden). Da es sich um eine chinesische Entwicklung handelt, hat man das Attribut ,Diktatur‘ schnell zur Hand, auch wenn Berichte von einer großen Akzeptanz innerhalb der einheimischen Bevölkerung sprechen. Die Frage ist, wann solch ein System auch in demokratisch verfassten Ländern Schule machen wird und wie sich deren Einwohner dann verhalten werden?³⁸⁰ Bewertungssysteme in einer quantifizierten Gesellschaft werden nicht einfach die Ungleichheiten in der Welt abbilden, sondern können letztlich mitentscheiden bei der Verteilung von Lebenschancen. Es muss dabei nicht gleich der ,Staatsalgorithmus‘ sein, dem man verständlicherweise misstraut. Die Vielzahl von selbst bedienten Algorithmen, die man als einzelne für wenig problematisch hält, kann in einem nicht durchschaubaren Zusammenspiel ebenfalls zu einer neuen Bemessungsform führen. Viel problematischer als direkte staatliche Eingriffe können für künftige Entwicklungen die eigenen Verhaltensweisen auf der Grundlage von Gewöhnung und Fehleinschätzung sein.

7.6 Grenzen Informationeller Autonomie Informationelle Autonomie ist eine Grundbedingung für die Bewältigung des menschlichen Lebens. Mit Einführung des Begriffs der Informationellen Abhängigkeit haben wir bereits Grenzen der Informationellen Autonomie angesprochen (vgl. Kapitel 2.7). Grundsätzlich können diese in äußeren Faktoren oder in eigenen Verhaltensmustern liegen. Zum Teil lassen sich die Grenzen durch eigene Entschei379 Vgl. exemplarisch: Dorloff: Chinas Weg in die IT-Diktatur; Eisenberg: Freiwillige digitale Knechtschaft. 380 Aufforderungen zur Selbstüberwachung werden offensichtlich leichter akzeptiert, wenn mit ihnen finanzielle Vergünstigungen verbunden sind. Ansätze für ,Überwachungsrabatte‘ gibt es in der Auto- und Krankenversicherungsbranche. Vgl.: Siedenbiedel: Überwachtes Fahrverhalten; Nocun: Tracking durch die Versicherung.

236 | 7 Gefahren für die Informationelle Autonomie dungen beeinflussen, teilweise sind sie aber auch unveränderbare Eigenschaften der Prozesse kognitiver Informationsverarbeitung. Eine derart begrenzende Bedingung ist beispielsweise die kognitive Strukturdeterminiertheit. Grenzen Informationeller Autonomie können auch bewusst herbeigeführt werden, wie etwa im Fall einer selbst gewählten Beschränkung oder des Verzichts auf die faktische Ausübung von Autonomie. Ist es ein Beleg für Informationelle Autonomie, wenn man dieser selbst Grenzen setzt? Nehmen wir einmal an, es könnte gelingen, einen optimal informationell kompetenten Menschen und eine Gesellschaft mit optimalen Bedingungen zur Realisierung individueller Informationeller Autonomie zu entwickeln. Dann wären zum Erreichen und für den Erhalt dieses abstrakten Optimums umfassende Qualifikation, Ausbildung und Schulung nötig. Und selbst wenn die notwendigen Programme gestaltbar wären, wie könnten sie allen Menschen aller Altersstufen, aller sozialen Schichten, aller Bildungsniveaus, aller Arbeitswelten, aller Veranlagungen und Interessensphären zur Verfügung gestellt werden? Ließe sich die Zahl der Anforderungen und deren kompetente Beherrschung beliebig erweitern? Wäre eine Anpassung an die Fähigkeiten der Adressaten durch individuelle Zuschnitte möglich, oder müsste diese durch allgemeine Verflachung (im Sinne einer Nivellierung nach unten) vorgenommen werden? Andererseits: Soll es den informationell kompetenten Menschen überhaupt geben oder soll er nur über die nötigen instrumentellen Fertigkeiten zur Nutzung des informations- und kommunikationstechnischen Angebots verfügen? Legt man allein ökonomische Interessen zugrunde, ist Informationelle Kompetenz als ,Verstehen‘ weder erforderlich noch zweckmäßig. Es braucht also schon ein übergeordnetes Bild vom Menschen und dessen Fähigkeiten, um zu einer qualitativen Bestimmung Informationeller Kompetenz zu kommen. Wird die Welt der Daten als rationale Alternative zur realen Welt angenommen und das Abtreten von Entscheidungen an Algorithmen zur Leitlinie zukünftigen Handelns, wird man dafür einen Preis bezahlen müssen. Zunächst mag man ihn billigend in Kauf nehmen und erst, wenn es zu spät ist, bemerken, dass er viel zu hoch war. Idealerweise sollte Informationelle Kompetenz über Komponenten für das Erkennen von Überforderung verfügen sowie die Fähigkeit einschließen, darauf ohne Autonomieverlust zu reagieren. Aber was geschieht, wenn die Ausübung Informationeller Autonomie für den Einzelnen zu sehr zu einer Verpflichtung wird und daraus eine Überforderung entsteht, die zu einem Ausweichverhalten führt, das wir nachfolgend als Informationelle Selbstentmündigung bezeichnen wollen?

7.6 Grenzen Informationeller Autonomie |

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Informationelle Selbstbeschränkung und Informationelle Selbstentmündigung Die Begrenzung Informationeller Autonomie durch die individuelle kognitive Strukturdeterminiertheit ist nicht vermeidbar, ihre Beschränkung durch Informationelle Selbstentmündigung schon: Es liegt dabei eine Verhaltensweise vor, in der eine Person äußere Faktoren zum Anlass nimmt, um eine Grenze der eigenen Entscheidungs- und Verhaltensweisen zu markieren. Ein tatsächlicher äußerer Zwang ist nicht der Grund für diese Entscheidung; das Verhalten kann aus freiem Willen erfolgen oder durch einen schleichenden Prozess hervorgerufen werden. Mit der Zahl der Kanäle, über die Informationen bereitgestellt und nachgefragt werden, steigt auch die Zahl der Möglichkeiten, sich von der individuellen Verantwortung für eventuelle Versäumnisse oder Mängel zu befreien. Dieser Effekt wird durch arbeitsteilige Verfahren zur Erstellung von Informationsangeboten – etwa für Webseiten – noch verstärkt. Mit jeder hinzu kommenden Person bzw. Instanz steigt die Chance, die Verantwortlichkeit an eine andere Stelle abschieben zu können. Ein Beispiel: Eine Arztpraxis stellt Angaben über ihre Öffnungs- und Sprechzeiten als Teil eines umfangreichen und sorgfältig gepflegten Web-Angebots bereit. Trotzdem kommt es zu einer Falschangabe über die Regelung an einem Brückentag zwischen einem Wochenende und zwei folgenden Feiertagen. Im Web-Angebot wird die Praxis mit normalen Öffnungszeiten ausgewiesen, obwohl sie geschlossen ist.³⁸¹ Auf Nachfrage versichert das Praxispersonal, es habe keinen Einfluss auf die Angaben, man solle sicherheitshalber vor dem Besuch der Praxis anrufen. Man mag dieses Beispiel als Banalität abtun oder als in Kauf zu nehmende Panne im Umgang mit moderner Technologie werten. Ungeachtet dessen offenbart die Reaktion des Personals eine Ohnmachtshaltung gegenüber Zuständen, an denen sie nicht unbeteiligt ist. Auf der Suche nach der Verantwortung für den unbefriedigenden Zustand lassen sich (mindestens, je nach Standpunkt) drei mögliche Beteiligte identifizieren: Der Patient, dessen Mitschuld darin gesehen werden könnte, dem Web-Angebot zu vertrauen und nicht lieber nachzufragen. Der Administrator des Web-Angebots, der möglicherweise einen fehlerhaften KalenderAlgorithmus für die Öffnungszeiten implementiert hat. Das Praxispersonal, dass das Web-Angebot hätte kontrollieren müssen, um sicher zu gehen, dass die Öffnungszeiten auch für die Ausnahme korrekt sind. Der Hinweis des Praxispersonals kann als stillschweigende Resignation verstanden werden. Wie häufig in solchen Situationen führt die Arbeitsteiligkeit bei 381 Eine korrekte Angabe über die Nicht-Öffnung am Brückentag hätte die Ausnahme vom Mehrjahreskalender berücksichtigen müssen, da es sich im Jahr 2017 beim Reformationstag als Reaktion auf den 500. Jahrestag des Thesenanschlags von Martin Luther ausnahmsweise um einen gesetzlichen Feiertag handelte.

238 | 7 Gefahren für die Informationelle Autonomie der Suche nach dem Verursacher zu einer Delegation ins Anonyme. Dadurch entledigt man sich der Verantwortung für einen unguten Zustand und wertet das Geschehen als unvermeidlich. Hier liegt ein Akt der Informationellen Selbstbeschränkung vor. Informationelle Selbstbeschränkung ist einerseits dadurch charakterisiert, dass der eigene Kenntnisstand oder die vorhandene Informationelle Kompetenz nicht zur Lösung eines Problems eingesetzt werden. Gründe können Bequemlichkeit, Rücksichtnahme auf andere Interessen oder sanktionsbewehrte Direktiven sein. Andererseits gibt es eine Ausprägung der Informationellen Selbstbeschränkung, deren Wirkmechanismen weitaus subtiler sind und die damit bei oberflächlicher Betrachtung als weniger problematisch eingestuft werden. Dieser Typus findet sich unter anderem in Debatten über die möglichen Auswirkungen neuer Technologien auf die Gesellschaft. Hier stehen handelnde Personen einem Geschehen (unter häufig ethischen Gesichtspunkten) zwar kritisch bis ablehnend gegenüber, akzeptieren aber gleichzeitig maßgebliche Faktoren in der eigenen Argumentation als unveränderbar und ziehen andere wichtige Faktoren erst gar nicht mehr in Betracht. Beobachten lässt sich diese Spielart der Informationellen Selbstbeschränkung beispielsweise bei Wolfram Henn, einem Mitglied des Deutschen Ethikrats, der in einem Beitrag zur ,Gefahr durch KI‘ behauptet, dass „wir Menschen […] das Ancien Régime des 21. Jahrhunderts [sind]“.³⁸² Mit Argumenten, die der Evolutionsbiologie und den Verheißungsszenarien der Künstlichen Intelligenz entstammen, belegt Henn, dass der Weg in die autonome Intelligenz künstlicher Systeme den Menschen zu einem Auslaufmodell machen wird, falls wir ihn nicht durch ethisch begründete Verbote reglementieren. Dabei werden Parolen, die im Umfeld der KI-Entwicklung anzutreffen sind, vorschnell als Argumente akzeptiert, statt anzuerkennen, dass es notwendig wäre, sie zunächst auf den Prüfstand zu stellen. Es werden Konsequenzen aus Entwicklungen gezogen, die weder eingetreten sind, noch für wünschenswert gehalten werden. Zwar wird implizit davor gewarnt, sich des kritischen Blicks zu berauben und sich freiwillig in Abhängigkeit zu einer künstlichen Autonomieinstanz zu begeben; durch die unkritische Verwendung von Leitmetaphern der abgelehnten Entwicklung wird die Argumentation jedoch selbstbezüglich und unterstützt die Eskalation des Geschehens, vor dem gewarnt wird: Jedenfalls ist es noch nie vorgekommen, dass eine biologisch oder militärisch überlegene Spezies oder Kultur aus Sentimentalität gegenüber einem Ancient Régime darauf verzichtet hätte, ihren Entwicklungsvorsprung rücksichtslos in Herrschaft umzumünzen. Und wir Men-

382 Henn: Gefahr durch KI.

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schen sollten uns nicht der Illusion hingeben, dass uns ein solches Schicksal erspart bliebe, wenn wir unsere auf bislang konkurrenzlose Intelligenz gegründete globale Dominanz an irgendjemanden – oder irgendetwas – verlieren würden. Das bedeutet also: Sobald wir nur noch die Zweitklügsten auf der Erde sein werden, wird es uns wohl an den Kragen gehen. […] Betrachtet man die technischen Voraussetzungen dafür, dürften in der elektronischen Evolution sowohl die maximal erreichbare kognitive Leistungsfähigkeit der Systeme als auch das mögliche Tempo der Entwicklung weit über das in der biologischen Evolution Erlebte hinausreichen […]³⁸³

Es ist sehr fraglich, ob das Bild vom Verdrängungsdarwinismus als Leitlinie evolutionsbiologischer Prozesse, erst recht gesellschaftlicher Prozesse, gelten darf. Die Verwendung von Wertungen aus dem Umfeld der Computermetapher und die Beschränkung auf einen ausschließlich rational verstandenen Intelligenzbegriff (‚Zweitklügsten‘) sind noch fragwürdiger und suggerieren, allein maschinelle Faktoren seien Maßstab der Entwicklung: Die elektronischen Mittel zur Durchsetzung des Herrschaftsanspruchs einer der unseren überlegenen, non-humanen Intelligenz wären im Zeitalter des Cyber warfare zweifellos vorhanden – von der bewaffneten Drohne im Großen bis zur Herzschrittmacher-Software im Kleinen. Auch hier drängt sich eine Parallele aus der Geschichte auf: Wenn Machthaber für Kriege gegeneinander rüsten, kann es ihnen leicht widerfahren, dass ihre eigenen Sklaven die dafür geschaffenen Waffen gegen sie selbst richten.³⁸⁴

Das Denken dreht sich im Kreis: Mittels einer fatalistischen Argumentation wird das vermeintlich zwangsläufige Eintreten einer nicht gewünschten Entwicklung herbeigeredet. Die so als unausweichlich akzeptierte Entwicklung lässt sich dann auch nicht mehr aufhalten – weder mit Argumenten noch mit dem Einfordern ethisch begründeter Verbote. Letztere sind zur Stabilisierung einer gesellschaftlichen Verhaltensnormierung zweckmäßig, aber nur zu erreichen, wenn ihre Einführung durch Informationelle Autonomie unterstützt wird. Relativierung durch Informationelle Selbstbeschränkung ist eher schädlich. Empirische Befunde zeigen, dass eine stillschweigende Entmündigung auch durch eine Art Gewöhnungsvorgang ausgelöst werden kann. Die Ergebnisse einer Umfrage unter 1.200 Angestellten in Großbritannien zu den Folgen der Automatisierung, Digitalisierung und der Einführung von Robotern in der Arbeitswelt zeigen, dass die Gewöhnung an digitale Assistenten die kritische Distanz reduziert:

383 Henn: Gefahr durch KI. 384 Henn: Gefahr durch KI.

240 | 7 Gefahren für die Informationelle Autonomie Junge Menschen würden eher Aufgaben in der Arbeit an Roboter delegieren. Frage ist, was das bedeutet: Mangel an Kompetenz oder Widerstand gegen die alte Arbeitswelt? Wir sind es mittlerweile gewöhnt, mit digitalen Assistenten zu sprechen, und wir richten unsere Wohnungen für den Saugroboter ein, der möglichst freie Fahrt haben soll. Auch ansonsten wandern technische Aliens in unsere Alltagswelt ein, vor denen wir offenbar weniger Angst entwickeln als vor Zuwanderern, obgleich die Roboter und KI-Systeme uns garantiert Arbeitsplätze streitig machen werden. Roboter ziehen auch in die zwischenmenschlichen Beziehungen ein, Sexroboter machen Prostituierten bereits Konkurrenz und ersetzen womöglich den menschlichen Geschlechtspartner.³⁸⁵

Anfänglich bilden wir uns noch ein, ein algorithmisches Assistenzsystem zu kontrollieren. Allmählich haben wir uns aber längst so sehr an seine Benutzung gewöhnt, dass wir ohne dieses System nicht mehr leben wollen, vielleicht irgendwann nicht mehr leben können. Yuval Harari sieht darin so etwas wie einen unvermeidbaren Prozess, der den Algorithmus zum – wie er es nennt – ,Souverän‘ macht: Wir stellen eine Frage, das Orakel antwortet, aber es bleibt uns überlassen, die Entscheidung zu treffen. Gewinnt das Orakel jedoch unser Vertrauen, besteht der nächste logische Schritt darin, dass es zu einem Akteur wird. Wir übermitteln dem Algorithmus lediglich ein Endziel, und er realisiert dieses Ziel eigenständig ohne unsere Überwachung.³⁸⁶

Da Informationelle Autonomie zur Grundausstattung des Menschen gehört und unverzichtbare Voraussetzung seiner kognitiven Leistungen ist, sollte sie als Kernbestand menschlichen Seins nicht in Frage gestellt werden. Insofern ist es erstaunlich, dass ihrer Verteidigung nicht mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird, wenn man einmal von der juristischen Diskussion um Informationelle Selbstbestimmung absieht.³⁸⁷ Es scheint, als ob sie als zu selbstverständlich gilt und zu wenig bewusst wahrgenommen wird. Die Erfahrung ihrer Selbstverständlichkeit bei den elementaren Lebensprozessen ist prägend und wird auf andere Bereiche übertragen. Das verhindert möglicherweise, dass die mit der Digitalisierung entstandenen neuen Anforderungen überhaupt als mögliche Gefahr für die Informationelle Autonomie wahrgenommen werden. Die Informationelle Selbstentmündigung als Folge der nicht (ausreichend) gelebten Informationellen Autonomie entsteht auch durch sozialen Druck, der teilweise zum Mobbing wird. Die folgenden Fragen unterstellen dem TeilnahmeVerweigerer technologische Zurückgebliebenheit oder überzogene Ansprüche an 385 Rötzer: Junge Generation will menschliche Interaktion vermeiden. 386 Harari: Homo Deus, S. 460–461. 387 Vgl. zur Diskussion dieser Frage in der Bundesrepublik Deutschland: Bull u. a. (Hrsg.): Zukunft der informationellen Selbstbestimmung.

7.6 Grenzen Informationeller Autonomie

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den Daten- und Persönlichkeitsschutz und grenzen ihn dadurch bewusst aus: ,Warum meldest Du dich nicht bei Facebook an?‘ ,Warum partizipierst Du nicht an den Möglichkeiten sozialer Netze‘? Andererseits: Was für eine Art von Problem wird durch die Registrierung bei Facebook oder einem sozialen Netzwerk gelöst? Ein informationelles Problem oder ein soziales Problem? Im ersten Fall stünde man mit der Entscheidung für oder gegen die Registrierung in einer Konkurrenzsituation zur Benutzung eines anderen Informationssystems, das ebenfalls eine Lösung anbietet. Diese Konkurrenzsituation könnte durch Anwendung bewährter Kriterien entschieden werden. Soziale Probleme wiederum gehören zum Alltag und können mit Hilfe des gesunden Menschenverstands durch Abwägen der Gründe für und wider eine Handlungsweise gelöst werden. Keinesfalls handelt es sich bei einer Facebook-Registrierung um etwas, das Rückschlüsse auf die Informationelle Kompetenz des Handelnden zuließe. Informationelle Kompetenz ist gelebte Informationelle Autonomie. Warum überhaupt sollte begründet werden, warum etwas ,nicht‘ getan wird? Eine derartige Erwartung wäre ausschließlich gerechtfertigt, wenn es um eine Begründung dafür ginge, etwas ,nicht unterlassen‘ zu wollen, obwohl es durch ein Gesetz oder durch eine gesellschaftlich gesatzte Ordnung verboten ist; beispielsweise eine Begründung dafür, warum eine Straftat nicht unterlassen wurde.³⁸⁸ Aber muss man begründen, warum eine Straftat nicht begangen wurde oder zukünftig nicht begangen werden wird? Es ist legitim, neue Verfahren oder Techniken als Grundlage für ein Geschäftsmodell zu nehmen und es dem Markt und den Kunden zu überlassen, ob sie davon Gebrauch machen wollen. Die Verlockung dadurch zu vergrößern, dass vermutete oder erhoffte Vorteile suggeriert werden, ist es auch noch. Wenn Nutzer allerdings dazu gebracht werden, sich informationell selbst zu entmündigen, sollten diese Geschäftsmodelle hinterfragt werden. Das gilt ganz besonders für den Bereich der eigenen Gesundheit und für die Erhebung medizinischer Daten. Welche (legitimen) Bedürfnisse mit dem von 23andMe³⁸⁹ angebotenen (kostengünstigen) Gentest für Privatpersonen befriedigt werden, sollte eher nicht allein dem Marktgeschehen überlassen werden.³⁹⁰

388 Wir verwenden hier ausdrücklich die Formulierung ,gesatzte Ordnung‘, um die Normierungsberechtigung innerhalb einer gesellschaftlichen Struktur zu betonen. 389 Vgl.: DNA genetic testing & analysis [23andMe]. 390 CEO des Unternehmens ist Anne Wojcicki, die Ehefrau des Google-Mitgründers Sergej Brin. Google gehört zu den Wagniskapitalgebern. Es gibt in verschiedenen Ländern unterschiedliche rechtliche Rahmenbedingungen für die Durchführung und den Umfang der Analysen. Vgl. auch die Ausführungen in: Harari: Homo Deus, S. 445 ff.

242 | 7 Gefahren für die Informationelle Autonomie Es wird nun deutlicher, warum es so verführerisch sein kann, sich einen Siegeszug der Künstlichen Intelligenz zu wünschen und damit einen Beitrag zur Informationellen Selbstentmündigung zu leisten. Wichtig ist dabei die Unterscheidung in berechenbare und nicht-berechenbare Prozesse der kognitiven Informationsverarbeitung. Nicht-Berechenbares entstammt der Gefühlswelt und den Affekten. Daher ist es im algorithmischen Verständnis nicht modellierbar und damit nicht in die Welt der rationalen Steuerungsmechanismen Künstlicher Intelligenz einzubauen. Eine Welt, die ihre Entscheidungsfindung immer stärker von Kennziffern, Algorithmen und berechenbaren Erwartungen abhängig macht, wird daher versuchen, das Nicht-Berechenbare zu eliminieren. Die stärkste Form der Elimination bestünde daraus, die nicht-berechenbaren Vorgänge nicht als Prozesse der Informationsverarbeitung zu werten, weil sie nicht mehr dem herrschenden Paradigma von Informationsverarbeitung entsprechen (,Computermetapher‘). Eine schwächere Form könnte ihre Legitimation lediglich in Frage stellen. Künstliche Intelligenz betont in besonderer Weise die Vorzüge von Berechenbarkeit und verweist auf außergewöhnliche Erfolge im gesuchten Wettbewerb mit der natürlichen Intelligenz (Schach, Go etc.). Dies geschieht häufig in artifiziellen Welten, die allenfalls ein reduziertes Intelligenzverständnis repräsentieren. Die dort erzielte Überlegenheit der Computer gestützten Algorithmen wird dann gern als Hinweis auf die zukünftige Ablösung kognitiver Intelligenzleistungen interpretiert. Ein besonders wichtiger Erfolgsbereich der KI bleibt jedoch häufig außerhalb jeder Betrachtung, weil er keine Korrelation zu algorithmischen Intelligenzleistungen aufweist: die Renditehöhe von Geschäftsmodellen. In der Welt des Shareholder value und der Finanzlotterie-Produkte entsprechen die Renditen der klassischen Wertschöpfungsketten des produzierenden Gewerbes nicht mehr den Erwartungen. Unternehmen der Informationstechnologie, darunter auch Unternehmen mit Geschäftsfeldern im Bereich der Künstlichen Intelligenz (aber auch Unternehmen, deren Geschäftsmodell aus Versprechen auf die Zukunft besteht), haben den Beweis angetreten, dass weit höhere Renditeerwartungen befriedigt werden können. Da ist es nur konsequent, wenn auch das produzierende Gewerbe dazu übergeht, seine Renditeerwartungen mit vagen Verheißungen auf die Geschäftsfelder der Zukunft zu verbinden. Ist dieser Schritt erst einmal vollzogen, fällt es selbst bei aufkommenden Zweifeln schwer, die Kehrtwende einzuleiten. Eigentlich handelt es sich um ein typisches Spielerverhalten. In einer Welt vordergründig rationaler Entscheidungsorientierung bemüht man lieber das naturwissenschaftliche Paradigma, dass die Antworten noch nicht bekannt seien, statt einzugestehen, dass man bereits vorhandene Lösungen nicht realisieren will. Die vermeintlich rationale Haltung zur Künstlichen Intelligenz muss vielleicht eher als Hoffnung auf das Eintreten von etwas Nicht-Berechenbarem gewertet werden,

7.7 Informationelle Abhängigkeit als Preis der Rationalität | 243

denn als eine durch Wahrscheinlichkeiten gestützte Prognose auf die Realisierung von etwas Berechnetem. Steuern wir auf Verhältnisse zu, in denen festgestellt werden muss, dass Menschen mit der Lösung überlebensnotwendiger Aufgaben überfordert sind? Da heute mit den meisten Aufgaben informationelle Prozesse verbunden sind, könnte diese Überforderung als Rechtfertigung für das Beschneiden Informationeller Autonomie verwendet werden und in die Suche nach technischen Ersatzlösungen münden. Es würde die paradoxe Situation eintreten, dass sich der Mensch eine Situation geschaffen hat, in der ihm immer mehr Informationelle Autonomie versagt werden muss. Und das nur, weil er sich als unfähig erwiesen hat, die zu ihrer Aufrechterhaltung notwendigen Handlungen eigenständig und eigenverantwortlich zu vollziehen.

7.7 Informationelle Abhängigkeit als Preis der Rationalität Es ist keinesfalls sicher, dass der Mensch den vielfältigen Anforderungen, wie sie in einem informationstechnisch geprägten Zeitalter (zum Beispiel durch komplexe Strukturen, globale Wirtschaft, Medien und algorithmische Prozesse) eingefordert werden, überhaupt noch gewachsen ist. Denkbar ist, dass die Anforderungen an rationales Verhalten auf zu vielen Ebenen und in zu vielen neuen Handlungsfeldern zur Informationellen Abhängigkeit und zu einem Verlust der Informationellen Autonomie beitragen. Informationstechnische Anwendungen haben Strukturen höchster Rationalität geschaffen, die grundsätzlich einem Menschenbild entgegenkommen, das der Rationalität verpflichtetet ist. Andererseits ist für die Umsetzung eines rationalen Umgangs mit der Welt immer mehr hoch entwickeltes Fach- oder Spezialwissen erforderlich, dessen Distanz zum Durchschnittswissen immer größer wird. Dies mag einer der Gründe dafür sein, dass es ein zunehmendes Bedürfnis nach Alternativen zur Rationalität gibt (Emotionalität, Esoterik, Religion, Verschwörungstheorien etc.), und dass diese Alternativen auch dann zur Entscheidungsgrundlage werden, wenn eine rationale Herangehensweise zweckmäßiger gewesen wäre. Schon Gottfried Wilhelm Leibniz misstraute der menschlichen Handlungsfähigkeit zur Umsetzung seiner rationalen Überlegungen. Er hat deshalb vorgeschlagen, die Probleme der Welt durch rationale Rechenvorgänge zu lösen und die menschliche Unzulänglichkeit in rationalen Entscheidungsprozessen durch Algorithmen zu ersetzen (vgl. Kapitel 5.10). Leibniz ist damit zum Vorreiter der Künstlichen Intelligenz geworden. Zu seiner Zeit war maschinelles rationales Vorgehen allerdings noch eine Utopie. Inzwischen ist es möglich geworden und belegt darüber hinaus, dass bei einer Orientierung allein an rationalen Vorgehensweisen

244 | 7 Gefahren für die Informationelle Autonomie der Mensch dem Computer unterlegen ist. Für die Bewahrung der Entwicklungsfähigkeit des Menschen darf Rationalität nicht das alleinige Kriterium sein. Dieses ist durch Eigenschaften zu ergänzen, die den Spezifika menschlicher Denk- und Handlungsweisen gerecht werden. Nichts spricht dabei dagegen, die rationalen Potenziale des Menschen zu stärken. Fragwürdig ist aber, sie den Möglichkeiten Rechner gestützter Vorgehensweisen unterzuordnen. Die Aufklärung hat ein Bild vom Menschen entworfen, das dem Einzelnen sowohl für sein persönliches Verhalten als auch für die Herstellung gesellschaftlicher Strukturen die Orientierung an rationalen Prozessen abverlangt. Moderne Gesellschaften, die sich in der Tradition der Aufklärung sehen, fordern für wichtige gesellschaftliche Ziele und Werte rationale Begründungen ein. Dafür werden ausgeprägte Fähigkeiten zum Abstrahieren und Schlussfolgern mit einer klaren Trennung zwischen den Voraussetzungen und der eingesetzten Schlussweise (Logik) benötigt. Beispiele hierfür sind die entsprechenden Begründungen der Konzepte ,Toleranz‘, ,Solidarität‘, ,Gerechtigkeit‘ und ,Verantwortung‘. Sie sind dem Einzelnen möglicherweise unmittelbar auf der Basis von Überzeugungen oder religiösen Bindungen wichtig. Ihre Bedeutung als Zielkonzepte gesellschaftlicher Gestaltung sowie ihre Verteidigung gegenüber konkurrierenden und vielleicht weniger wünschenswerten Konzepten können sie nur im Rahmen rationaler Überlegungen erfahren.³⁹¹ Diese Anforderung ist hoch und deshalb eine mögliche Ursache für eine Überforderung, die unter anderem bei gesellschaftlichen Veränderungsprozessen deutlich wird. Die heftigen Diskussionen um Überfremdung und Leitkultur und die unschönen Begleiterscheinungen dieser nicht-rationalen Auseinandersetzung mit dem Thema, sind Symptome einer Überforderung. Die Vereinbarung einer gesellschaftlichen Konsensethik benötigt offenkundig deutlich mehr Zeit als die Herstellung der faktischen Verhältnisse. Moderne säkulare Gesellschaften geben dem Menschen individuelle Freiheitsrechte, verpflichten ihn aber gleichzeitig zur Neutralität im öffentlichen Raum. Das Verhältnis zwischen beiden Anforderungen ist labil und kann auch als Widerspruch verstanden werden. Wenn nicht alle Mitglieder der Gesellschaft zum rationalen Konsens bereit oder fähig sind, können sich daraus Konflikte entwickeln. Es gibt viele Beispiele dafür, dass rational vergleichbare Tatbestände zu unterschiedlichen gesellschaftlichen Bewertungen führen können. Dabei erfolgt die Bewertung eben nicht allein rational, sondern wird durch einen kulturellen 391 Vgl. etwa die Argumentation von John Rawls im Rahmen seiner Gerechtigkeitstheorie: Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit; Rawls: Gerechtigkeit als Fairneß. Vgl. auch die kommunikationstheoretischen Letztbegründungen für ethische Normen von Karl-Otto Apel: Apel: Diskurs und Verantwortung.

7.7 Informationelle Abhängigkeit als Preis der Rationalität | 245

oder religiösen Wertehintergrund beeinflusst, wie beispielsweise bei den folgenden Themen: Das Aufhängen von Kruzifixen in öffentlichen Einrichtungen, wie Schulen oder Gerichten.³⁹² Das Tragen von Kopftüchern im öffentlichen Dienst oder in privaten Arbeitsverhältnissen.³⁹³ Das Übertragen der in Teilen der Gesellschaft tolerierten Tradition einer Asylgewährung durch christliche Kirchengemeinden auf Moscheen.³⁹⁴

Der Einzelne steht in der modernen aufgeklärten Gesellschaft in einem Spannungsverhältnis zwischen rationaler Handlungserfordernis und einer Werteordnung, die möglicherweise aus transzendenten Quellen eines kulturellen Hintergrunds gespeist wird. Auf die Notwendigkeit, verschiedene kulturelle Hintergründe rational austarieren zu müssen, ist der Einzelne vielleicht nicht ausreichend vorbereitet. Das hat auch damit zu tun, dass menschliche Entscheidungen und Handlungen nie frei von emotionalen Einflüssen sind. Die Dynamik der Moderne mit ihren gestiegenen Anforderungen an das ,Ich-Verständnis‘³⁹⁵ des Einzelnen hat die Balance zwischen Rationalität und Emotionalität verloren gehen lassen. Die emotionale Seite konnte sich (noch) nicht ausreichend auf die neuen Anforderungen einstellen, um die mangelnden Fähigkeiten zum rationalen Handeln auszugleichen. Der Einzelne benötigt für sein Selbstwertgefühl und sein Wohlbefinden eine Grenze, die eine Schutz- oder Geborgenheitszone schafft. Diese muss er selbst jederzeit überschreiten oder verlassen können, während andere sie nicht ohne seine Zustimmung betreten dürfen. Ist die Funktion einer solchen Grenze nicht (mehr) vorhanden, kommt es zu Bedrängung, Angst, dem Verlust des Gefühls, Freiheit über die eigenen Entscheidungen zu haben und schließlich zum Verlust des Selbstwertgefühls. Resultat ist der Verlust von Geborgenheit, der als enormes Defizit empfunden wird. Die sich daraus entwickelnde Sehnsucht nach Geborgenheit endet möglicherweise in irrationalen Kompensationsbemühungen. Mit Blick auf die Gestaltung gesellschaftlicher Strukturen ist zu fragen: 1. Welche Rolle hat die Informationelle Autonomie für den Erhalt des individuellen Freiheitsbilds in der Zivilgesellschaft? 2. Kann auf Informationelle Autonomie als Grundausstattung und unverzichtbarem Eckpfeiler menschlicher Eigenschaften überhaupt verzichtet werden? 392 393 394 395

BVerfG, 16.05.1995 – 1 BvR 1087/91. Vgl. BVerfG, 24.09.2003 – 2 BvR 1436/02; BVerwG, 26.06.2008 – 2 C 22.07. Vgl. Asyl in der Kirche [Kirchenasyl]; Gorzewski: Kein Asyl in Moscheen. Vgl. hierzu: Kaufmann: Die Erfindung des Ich.

246 | 7 Gefahren für die Informationelle Autonomie

3.

Würden im Fall eines solchen Verzichts die Grundrechte des Menschen, seine Selbstbestimmung und seine Verantwortung verletzt? Welchen Zusammenhang gibt es zwischen Informationeller Autonomie, Freiheit und Verantwortung des Individuums in der Zivilgesellschaft?

Freiheit im gesellschaftlichen Kontext ist kein Geschenk oder selbstverständliches Privileg. Wichtige Voraussetzung für ihre Verwirklichung ist Informationelle Autonomie. Daraus erwächst die Verantwortung, die Informationelle Autonomie in einer Gesellschaft zu verteidigen.³⁹⁶ Das ist in der Praxis nicht einfach. Angesichts der Komplexität der informationstechnischen Durchdringung heutiger Gesellschaften stellt sich leicht ein Gefühl der Ohnmacht ein, das auch in Resignation übergehen kann. Die Vermeidung eines Informationellen Totalitarismus führt zu einem ständigen Kreisen zwischen Verantwortung und Resignation (vgl. Abbildung 6.4). Wer keine Verantwortung übernehmen will, wird eine behütete Umgebung suchen, die keine Forderungen an die Selbstentfaltung oder die eigenständige Persönlichkeitsbildung erhebt. Dies suggeriert Geborgenheit, schränkt aber die Freiheit ein und begünstigt die Ausprägung totalitärer Strukturen. Freiheitsbeschränkung muss also nicht von außen kommen, sondern kann dem Wunsch des Individuums entsprechen, die Verantwortung für das eigene Tun an andere zu delegieren und trotzdem ein bequemes Leben zu führen. Geborgenheit in Freiheit erfordert die Übernahme individueller Verantwortung für die Bewahrung der Autonomie. Dies sichert dem Individuum seine Würde und Selbstachtung. Noch ist nicht geklärt, welches Verständnis von Verantwortung – jenseits des strafrechtlichen – mit Freiheit und Geborgenheit kompatibel wäre. Um es zu etablieren, wäre dessen Nutzen zu begründen, ohne zu sehr den moralischen Zeigefinger zu erheben. Es scheint, als könne dies nur der Diskurs in der Gesellschaft leisten. Zu hoffen bleibt, dass ein solcher Diskurs nicht durch unbelebte Systeme und Algorithmen begleitet oder gar ersetzt werden soll. Die Möglichkeit des Einzelnen, Verantwortung zu übernehmen, wird begrenzt durch die Notwendigkeit politischer Herrschaft. Zwischen der Entfaltung der Persönlichkeit des Individuums und ihrer Begrenzung durch politische Herrschaft muss eine Vereinbarkeit hergestellt werden. Informationelle Kompetenz als gelebte Informationelle Autonomie jedes Einzelnen könnte als eine Gestaltungsbasis für eine solche Diskussion gesehen werden. Nötig ist sie, denn weder wurde Per-

396 Für eine rationalistische Begründung des Verantwortungsbegriffs, vgl.: Nida-Rümelin: Verantwortung; Nida-Rümelin: Über menschliche Freiheit; Nida-Rümelin: Tief in unserer Lebenswelt verwurzelt.

7.8 Unbelebte autonome Systeme

| 247

sönlichkeit zu allen Zeiten allen Mitgliedern einer Gesellschaft zugestanden, noch können wir sicher sein, dass die derzeitigen Rahmenbedingungen nicht doch wieder aufgeweicht und zur Schaffung von Klassenstrukturen genutzt werden. Digitalisierungsprozesse schaffen neue Grenzen, die zum Aufbau von Eliten und zur Herrschaftsausübung genutzt werden könnten. Falls Digitalisierung unter humanistischen Vorzeichen zu einer stabilen Säule der Gesellschaft werden soll, muss allen Mitgliedern die Teilhabe daran ermöglicht werden. Informationelle Autonomie und Verantwortung müssen als gleichberechtigte Partnerkonzepte allen Angehörigen einer Zivilgesellschaft zukommen.

7.8 Unbelebte autonome Systeme Informationelle Autonomie haben wir bislang charakterisiert als eine Eigenschaft von menschlichen autopoietischen Systemen. Das lässt die Frage zu, ob keinem anderen System diese Eigenschaft zugesprochen werden kann, genauer: Soll oder kann Informationelle Autonomie für unbelebte Systeme dasselbe bedeuten wie für Menschen? Unsere Welt ist durchdrungen von technischen Unterstützungssystemen. Zumeist sind dies Assistenzsysteme, die menschliche Entscheidungen in Handlungssituationen unterstützen (zum Beispiel Diagnosesysteme in Kfz-Werkstätten) oder mechanische Arbeiten verrichten, die von Menschen nicht mehr durchgeführt werden sollen (zum Beispiel Schweißroboter). Prognosen – insbesondere aus den Bereichen der Künstlichen Intelligenz und der Wirtschaft – sagen voraus, dass das Einsatzspektrum derartiger Systeme nicht auf die Assistenz für Menschen begrenzt bleiben wird. Es wird vielmehr angenommen, dass die Systeme den Menschen in vielen Situationen ersetzen und dabei auch Entscheidungen übernehmen werden, die bisher dem Menschen vorbehalten waren. Dies könnten dann sogar Entscheidungen sein, die gegen den Menschen gerichtet wären.³⁹⁷ Die Frage liegt also nahe: Sind autonome Fahrzeuge, Roboter oder Kampfdrohnen Systeme, denen wie Menschen die Eigenschaft der Informationellen Autonomie zugesprochen werden kann? Derartige Systeme handeln im Rahmen der ihnen zugewiesenen Aufgabenstellung insofern autonom, als ihre Entscheidungs- und Handlungsabläufe durch Algorithmen und senso-motorische Schnittstellen zur Außenwelt gesteuert werden. Noch ist deren grundsätzliche Aufgabenstellung aber auf enge Segmente begrenzt

397 Vgl. z. B.: Schmidt/Cohen: Die Vernetzung der Welt.

248 | 7 Gefahren für die Informationelle Autonomie und die Systeme arbeiten in einem durch rationales Kalkül zu beschreibenden, in der Regel eindeutig vordefinierten Rahmen. Autopoietisch sind diese Systeme nicht. Ihnen fehlt die Doppelfunktion der Informationellen Autonomie, die sowohl für die Aufrechterhaltung aller eigenen Lebensvorgänge gilt als auch für die rationale Entscheidungsfindung in Kooperation mit anderen Menschen und Systemen. Empfindungen (bis hin zum Zweifel an der eigenen Eignung oder Existenzberechtigung) sind keine Eigenschaften derartiger Systeme.³⁹⁸ Ethische Handlungsnormen können sie nicht auf der Basis eigenen Tuns gewinnen oder rückkoppeln, sie müssen ihnen über den Algorithmus mitgeteilt werden. Um solche ,Ethik-Module‘ gestalten zu können, sind von Menschen ausgesprochen artifizielle Vorüberlegungen anzustellen und in Regeln zu fassen. Ein Vorgehen, das zu inzwischen öffentlich diskutierten Fragen führt: Soll der Algorithmus eines autonomen Fahrzeugs der wahrscheinlich geringeren Opferzahl den Vorzug geben, um eine höhere Opferzahl zu vermeiden?³⁹⁹ Was passiert, wenn die Wahrscheinlichkeit falsch berechnet wurde, weil der Algorithmus nicht alle in Frage kommenden Parameter berücksichtigt hat? Muss hierfür jemand Verantwortung übernehmen?⁴⁰⁰ Ein früher propagiertes Leitbild der Technik als Organersatz sah im neuzeitlichen Menschen ein Mängelwesen, das keine unmittelbare Überlebensfähigkeit mehr besitzt.⁴⁰¹ Um die Mängel auszugleichen und um sich die Überlebensfähigkeit auch in einer teilweise unwirtlichen Umgebung sichern zu können, müssen sich die Menschen technische Hilfsmittel schaffen. Das Defizit auf der einen Seite wird durch ein Abhängigkeitsverhältnis auf der anderen Seite ausgeglichen: das Werkzeug kann nicht seine Handlungserfordernis generieren, nicht selbst zum handelnden Subjekt werden. Unbelebte autonome Systeme wären demgegenüber keine Werkzeuge mehr. Sie könnten ihr Handlungserfordernis selbst generieren, womit eine grundlegende Veränderung des Menschenbilds einherginge, für die zwei Varianten denkbar sind: 1. Unbelebte autonome Systeme werden den Menschen ähnlich gemacht; dies schließt die Ausstattung mit einer ,Seele‘ ein (verstanden als Empfänglichkeit

398 Die Konsequenzen der Entwicklungen, wie sie durch den Beitrag von Briggs und Scheutz zur Befehlsverweigerung von Robotern thematisiert werden, können wir noch nicht abschätzen (Briggs/Scheutz: Computerwissenschaft). 399 Entsprechend den Empfehlungen der Ethik-Kommission Automatisiertes und Vernetztes Fahren vom 20.06.2017. Vgl. auch den Beitrag: Rojas: Die Tugend des Roboters. 400 Derartige Überlegungen werden vom Deutschen Ethikrat angestellt, vgl. etwa das Programm der Veranstaltung ,Autonome Systeme: Wie intelligente Maschinen uns verändern‘: Deutscher Ethikrat: Autonome Systeme. 401 Vgl.: Rapp: Fortschritt.

7.8 Unbelebte autonome Systeme

2.

| 249

für Einflüsse aus nicht rationalen Bereichen wie Emotionen, Empfindlichkeiten, Zweifel usw.). Menschen werden auf algorithmisch arbeitende Systeme reduziert und ihr Handeln wird nur noch an jenen Werten gemessen, die einer Parametrierung zugänglich sind.

Was wäre mit der Variante 1 gewonnen? Die Schaffung von unbelebten Systemen mit allen Unzulänglichkeiten und Defekten der belebten Systeme, deren Beseitigung angeblich Anlass ihrer Entwicklung war? Unterstellen wir, dass es gelingt, für das Ethik-Modul des autonomen Fahrzeugs eine Erfahrungsfunktion zu programmieren, die dem Fahrzeug autonome Bewertungen des eigenen Handelns ermöglicht. In der Konfliktsituation zwischen vielen oder wenigen Opfern hat das Fahrzeug mehrfach gemäß der Vorgabe des Ethik-Algorithmus für die geringere Zahl der Opfer entschieden. Die nachträgliche Auswertung ergibt, dass unter den Opfern ein bedeutender Mensch war. Das EthikModul bekommt Zweifel an seinem Tun und möchte zukünftig lieber umgekehrt entscheiden. Besitzt das autonome Fahrzeug damit auch ethische Entscheidungsfähigkeiten, die als Vorbild für entsprechende Funktionen anderer unbelebter autonomer Systeme gelten können? Was wäre mit Variante 2 gewonnen? Informationeller Totalitarismus mit unaufhaltsamer Annäherung an einen ,Algorithmischen Menschen‘? Wie könnte solch ein ,Algorithmischer Mensch‘ beschrieben werden? Ist er ein belebtes System mit der Informationellen Autonomie eines unbelebten autonomen Systems? Also ein Lebewesen, das einerseits zur Lebenserhaltung informationell autonom handelt, andererseits seine rationalen Prozesse aber nach den Maßstäben und Vorgaben von Algorithmen gestaltet? Darf dieses Lebewesen die Grenze zwischen autonom und nicht-autonom selbst bestimmen oder wird es von unbelebten autonomen Systemen fremdbestimmt? Handelt es sich bei einem Algorithmischen Menschen noch um ein Individuum? Die Entscheidungsfindung von Menschen berücksichtigt körperliche Empfindungen (wie Hunger oder Schmerz), Emotionen (wie Freude, Wut, Trauer, Hoffnung, Enttäuschung, Zuneigung, Unsicherheit oder Scham) aber auch Zweifel. All dies steht in Verbindung mit der Würde und Selbstachtung des Menschen. Sollen diese Empfindungen und Emotionen auch zum Spektrum der informationellen Eigenschaften von autonomen Maschinen gemacht werden, oder soll, umgekehrt, ein Menschenbild geschaffen werden, das ein Verständnis von Informationeller Autonomie ohne diese Eigenschaften etabliert?

250 | 7 Gefahren für die Informationelle Autonomie Selbst wenn man die Auffassung teilt, Emotionen seien komplexe Algorithmen⁴⁰², wäre dies noch kein Argument dafür, auch menschliche Entscheidungen und menschliches Handeln durch Algorithmen steuern oder ersetzen zu wollen. Entscheidungsorientierte Algorithmen ohne autopoietische Lebensfunktionen besitzen keine Informationelle Autonomie. Sie benötigen für ihre Handlungsfähigkeit Vorgaben, die Werte und Sinnhaftigkeiten durch Präferenzen zum Ausdruck bringen. Diese Werte und Sinnhaftigkeiten müssen von Akteuren bereit gestellt werden, die am realen Leben teilnehmen. Diese Teilhabe wiederum erfordert die Autopoiese als Grundlage der Lebensvorgänge und die kontinuierliche rückgekoppelte Interaktion mit anderen Akteuren. Entscheidungen und Handlungen auf importierte Parameter bzw. Daten zu stützen (wie es selbst bei ständig aktualisierten Algorithmen außerhalb autopoietischer Systeme der Fall wäre), ist keine Informationelle Autonomie. Wie stünde es um die Brauchbarkeit der Ergebnisse algorithmischer Verfahren, wenn unbelebte autonome Systeme Zweifel an ihren Handlungen entwickeln und diese sogar zum Anlass nehmen würden, zukünftig anders zu entscheiden? Welchen Unterschied könnte man dann noch im Vergleich zu menschlichen Handlungen sehen? Folgerichtig wäre, dass gerade die Ausstattung unbelebter autonomer Systeme mit Selbstkorrekturfunktionen zu deren Handlungsunfähigkeit führt, mindestens aber deren Einsatz wegen nicht vorhandener Eindeutigkeit der Ergebnisse als absurd erscheinen lässt. Die Debatte, welche kognitiven Leistungen durch Künstliche Intelligenz ersetzt oder gesteigert werden könnten oder sollten, führt nicht weiter, wenn am Ende der Entwicklung doch nur wieder ein nach den Maßstäben des Anfangs mängelbehaftetes Produkt steht. In einer Konkurrenzsituation, in der reines algorithmisches Prozessieren (,Denken‘) gefragt ist, kann der Mensch nicht gegen die Maschine gewinnen; unabhängig davon, ob diese autonom agiert oder nicht. Die Gefahr des Verlusts der Autonomie besteht dann, wenn autonomes Denken nicht mehr geübt wird und wenn der Wert der kognitiven Leistungen von Menschen durch Algorithmen definiert ist. Das Ideal besteht in der Vereinbarkeit von rationalem und erfahrungsbasiertem Vorgehen. Die Koexistenz beider Welten ist nötig, und es ist unsinnig, die Mechanismen der einen durch die der anderen ersetzen zu wollen. Der Mensch kann seinen Wert nur durch die Leistungen autonomen Denkens und autopoietischen Lebens beziehen, das auch widersprüchlich und durch Zweifel gekennzeichnet sein darf. Und es gibt genau einen entscheidenden Unterschied zwischen dem Menschen und einer Maschine: um ein Ganzes zu werden, muß der Mensch auf immer ein Erforscher seiner inne402 Harari: Homo Deus, S. 149, 158, 194.

7.8 Unbelebte autonome Systeme

| 251

ren und äußeren Realitäten sein. Sein Leben ist voller Risiken, die er jedoch mutig auf sich nimmt, weil er wie der Forscher lernt, seinen eigenen Fähigkeiten zu vertrauen, durchzukommen und auszuhalten. Was für eine Bedeutung könnte es haben, von Risiko, Mut, Ausdauer und Durchhaltevermögen zu sprechen, wenn von Maschinen die Rede ist?⁴⁰³

403 Weizenbaum: Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft, S. 366.

8 Schluss Die Würde des Menschen ist unantastbar. Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland⁴⁰⁴

Der Leitsatz ,Informationelle Kompetenz ist gelebte Informationelle Autonomie‘ hat zur Behandlung eines breiten Spektrums von Themen geführt. Sie alle haben eine Bedeutung für die Umsetzung dieses Leitsatzes in die Praxis. Informationelle Kompetenz ist ein vielschichtiges und komplexes Thema mit vielleicht nicht immer großem Tiefgang, aber mit großer Breite. Diese Breite besteht nicht allein aus einer zunehmenden Zahl an instrumentellen Fertigkeiten zum Bedienen diverser Geräte, sondern wird insbesondere markiert durch die Vielzahl der daraus resultierenden Probleme und die Suche nach Lösungsmöglichkeiten. Unsere Lebenswelt ist von Informationstechnik durchdrungen, deren unbefangene Benutzung die Vorschulen erreicht hat. Die Gestaltung der Zukunft soll (vor allem unter ökonomischen Gesichtspunkten) sogar durch deren noch weitere Steigerung gesichert werden. Parallel dazu hält sich hartnäckig die Meinung vieler Menschen, man könne Nutzer komplexer Technik sein, ohne sich mit deren Grundlagen näher beschäftigen zu müssen. Keine andere Technologie vergleichbarer Komplexität wird so unbefangen auf die Menschen losgelassen, aber auch von ihnen akzeptiert. Umso wichtiger ist es, dem Ideal einer Zivilgesellschaft näherzukommen, in der die Informationelle Autonomie des Einzelnen die Digitale Vernunft der Gesellschaft unterstützt und so die Wahrung der Würde der Menschen im Rahmen einer Zivilgesellschaft sicherstellt. Für die Erreichung dieses anspruchsvollen Ziels gibt es kein einfaches Rezept. Es gibt jedoch einen Faktor, den man zweifelsfrei als Schlüsselfaktor identifizieren kann. Dieser Faktor heißt ,Zeit‘. Es braucht Zeit, sich (dem angeblich unvermeidbaren) Fortschritt anzupassen. Aber die Komplexität der Prozesse ist so groß, dass möglicherweise nicht ausreichend Zeit zur Verfügung steht, um das für die Beherrschung dieser Komplexität erforderliche Rüstzeug zu erwerben. Professioneller Umgang mit dem Lösen von Problemen geht grundsätzlich davon aus, dass es einen Prozess geben muss, der die anfangs nicht oder nicht ausreichend vorhandene Kompetenz in den Zustand der Kompetenz überführt. Ein solcher Prozess kann äußerst aufwendig sein und ist deshalb in vielen Fällen nur durch Spezialisierung und Arbeitsteilung zu bewältigen. Zahlreiche solcher

404 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art. 1(1), Satz 1. https://doi.org/10.1515/9783110620221-008

254 | 8 Schluss Prozesse erfordern ein Mehrfaches an Zeit. Manches lässt sich durch Standardisierung und durch eine kognitive Informations- und Wissensverarbeitung abfedern (vgl. Kapitel 2). Ein nicht präzise zu bestimmender Mindestaufwand an Zeit wird jedoch nicht zu unterschreiten sein. Soll eine instrumentell und an Fertigkeiten orientierte Informationskompetenz zu einer selbstverständlichen Kulturtechnik im Sinne von Informationeller Kompetenz werden, muss man sich zunächst den bestehenden Problemen mit großer Aufmerksamkeit widmen und gründliche Analysen vornehmen. Im darauffolgenden Schritt wäre zu prüfen, welche Maßnahmen ergriffen werden sollten, um die erforderliche Kompetenz zu erlangen. Hierbei wäre eine enge Zusammenarbeit mit den staatlichen und anderen Bildungsträgern unverzichtbar, um möglichst viele Menschen einbeziehen zu können. Bessere Schulungen (PC-, Internet- oder Smartphone-,Führerscheine‘) sind nicht ausreichend. Schon der Vergleich der Dynamik der technischen Entwicklung mit den Planungs- und Realisierungszyklen lizensierter Bildungsträger verdeutlicht den Widerspruch zum Schlüsselfaktor ,Zeit‘. Lediglich die Entwicklung einer Kulturtechnik, die den Erwerb abstrakter Fähigkeiten stärkt, mit Hilfe derer der Einzelne die Instantiierung auf den Einzelfall selbst durchführen kann, ist der geeignete Prozess, um die notwendige Kompetenz zu erwerben. Dieser Weg ist grundsätzlich unverträglich mit der derzeitigen Parameter orientierten und durch Rankings und Scorings dominierten Bildungslandschaft.⁴⁰⁵ Untrennbarer Bestandteil dieser Kulturtechnik ist allerdings die Informationelle Autonomie als unveräußerbare Grundeigenschaft menschlicher Kognition. Die Konsequenz daraus sollte die Suche nach gesellschaftlichen Vorgaben und Entwicklungen sein, die die Informationelle Autonomie stärken und fördern, statt sie in Frage zu stellen oder zu ihrem Abbau beizutragen. Wenn der Wert des Menschen ausschließlich an seiner Funktion als Datenlieferant für Big Data-Auswertungen gemessen wird, sein Handeln dem Primat des Rationalen, des algorithmischen Prozessierens untergeordnet ist, sind Informationelle Autonomie und Menschenwürde längst der Informationellen Entmündigung gewichen. Dann ist der Mensch der maschinellen Intelligenz unterlegen und muss sich von ihr Handlungsanweisungen geben lassen, um keine Fehler zu machen. Sind algorithmisch geprägte Kriterien also ausschlaggebend für digitale Zugehörigkeit oder Ausgrenzung? Wie kann das mit der Menschenwürde vereinbar sein? Ist es möglich, diesen Prozess – der vom Menschen selbst initiiert wird – aufzuhalten oder zu verhindern? Wird Informationelle Vernunft zu einem gelebten Bestandteil ,aller‘ Menschen oder ent-

405 Vgl. hierzu auch: Liessmann: Geisterstunde.

8 Schluss |

255

wickelt sich eine geschichtete Gesellschaft von Menschen mit unterschiedlicher Informationeller Autonomie? Die Visionen einer Gesellschaft auf der Basis Künstlicher Intelligenz sehen die Defizite und Unterschiede der bestehenden Gesellschaften und Kulturen als obsolet an und prognostizieren eine universalistische Kultur der Superintelligenz. Folgt man allerdings den Analysen kultureller Vielfalt und ihrer historischen Entwicklung, wird deutlich, wie wenig realistisch derartige Vorstellungen sind. François Jullien führt den Nachweis, dass die Suche nach einer kulturellen Identität in einer kulturellen Ganzheit münden müsste, die alle bekannten einzelnen Kulturen als Sonderfälle oder Ausdifferenzierungen enthält.⁴⁰⁶ Seine Analysen bestehender Kulturen zeigen aber, dass sich kein generisches Konzept zur Bestimmung der Gemeinsamkeiten verschiedener Kulturen finden lässt, das als kulturell universell angesehen werden könnte. Selbst das der westlichen Tradition entstammende Konzept der ,Menschenwürde‘ wird nicht von allen der westlichen Tradition verbundenen philosophischen Denkrichtungen akzeptiert und auch von der gelebten Praxis nicht als unhinterfragtes Attribut betrachtet. Es bedurfte einer normativen Setzung, um ihm zum heutigen (abstrakten) Stellenwert zu verhelfen, was ihm aber noch lange nicht die gelebte Beachtung sichert. Ein realisierter kultureller Universalismus würde die Möglichkeit einer ausbaufähigen Identität verhindern, denn das Aufgeben von Unterschieden führt zum Ende jeder Entwicklungsfähigkeit. Die Isolierung des Besonderen führt zum Erstarren. Das Bestehende wird klassifiziert, festgeschrieben und zugeordnet. Entwicklungspotenzial hat es nicht mehr: Die Ablehnung des Abgegrenzten führt zu einem Verlust an Gestaltungspotenzial, für das eine Wertschätzung der Veränderung nötig wäre. Nur die Akzeptanz der Vielfalt und die Nutzung der Ressourcen, die sich in den unterschiedlichen Kulturen finden, sichert demgegenüber eine lebendige Weiterentwicklung. Ignoranz hat kein Potenzial dazu. Nur die Wahrnehmung des Abstandes zum anderen und die Auseinandersetzung mit den Unterschieden zwischen den eigenen und den fremden Vorstellungen bieten Gestaltungsraum. Wünscht man eine Verständigung zwischen den Systemen, möglicherweise einen Dialog, so braucht es dafür eine gemeinsame Sprache, die aber wieder nicht nur ,eine einzige‘ Sprache sein kann. Die Lebendigkeit verschiedener Systeme drückt sich auch über die Lebendigkeit ihrer jeweiligen Sprache aus. Lebendigkeit erzeugt allerdings auch Unschärfen. Es wird daher immer einen Bereich geben, der nicht eindeutig ist, der den Abstand zum anderen kennzeichnet und für den Unterschied steht. Informationstechnisch geprägte Ideen für Metasprachen sind kein Ersatz, weil sie die Nuancen des Unterschieds nur durch Verflachungen abbilden

406 Jullien: Es gibt keine kulturelle Identität.

256 | 8 Schluss können; Daten orientierte Codierung im Sinne eines universalen Dialogsystems ist ebenso keine Lösung. Informationelle Kompetenz ist letztlich also auch die Voraussetzung für die Fähigkeit, den Unterschied zwischen kulturellen Zuständen wahrzunehmen. Sie hat dadurch das Potenzial zur Stärkung der eigenen Person. Die Wahrnehmung dieses Unterschieds tritt dabei an die Stelle der Abgrenzung und Differenzierung. Informationelle Kompetenz weist jedem Mitglied eines kulturellen Raums eine Würde zu, die nicht durch ein spezifisches Verhalten, durch Bedingungen oder Merkmale gerechtfertigt werden muss.

The endless cycle of idea and action, Endless invention, endless experiment, Brings knowledge of motion, but not of stillness; Knowledge of speech, but not of silence; Knowledge of words, and ignorance of the Word. All our knowledge brings us nearer to death, But nearness to death no nearer to God. Where is the Life we have lost in living? Where is the wisdom we have lost in knowledge? Where is the knowledge we have lost in information? The cycles of heaven in twenty centuries Brings us farther from God and nearer to the Dust.

T. S. Eliot⁴⁰⁷

407 Choruses from ,The Rock‘ (Eliot: The Rock).

Glossar Im Glossar sind jene Begriffe enthalten, die im Rahmen der Argumentation des Buches eine Bedeutungsgebung erfahren, die nicht zwingend mit der allgemein üblichen übereinstimmt. Es handelt sich nicht um ein vollständiges Glossar aller verwendeten Fachausdrücke. Abstrahieren ist die Fähigkeit, Muster des Wissens zu erkennen und anzuwenden. (Kapitel 4.2) Aktuelle Information ist das kognitive Verarbeitungsmuster eines strukturdeterminierten Systems aus Anlass der Wirklichkeitserzeugung oder des Informationsaustauschs zwischen zwei kognitiven Strukturen im Rahmen eines direkten Kommunikationsaktes. Die Aktuelle Information wird auf dem Wege der selbstständigen kognitiven Reaktivierung oder der durch äußere Sinneswahrnehmung angestoßenen Informationsverarbeitung zu einem bestimmten Zeitpunkt bewusst. (Kapitel 3.1) Bewusstsein ist ein mentaler Grundzustand, der die Fähigkeit einschließt, eine spontane und autonome Entscheidung über die Auswahl des Teilbereichs eines Gegenstandsumfelds zu treffen, dem selektive Aufmerksamkeit gewidmet werden soll. Dies schließt eine Auswahl der Bereiche ein, denen man keine Aufmerksamkeit schenken will. (Kapitel 2.7) Computermetapher ist der Platzhalterausdruck für alle Versuche, Vorgänge der kognitiven Informationsverarbeitung durch Rückgriffe auf ein informationstechnisches Verständnis von Information interpretieren zu wollen. (Kapitel 1.2) Daten werden als elementare Einheiten sowohl für informationstechnisch verstandene als auch kognitive Verarbeitungsprozesse angesehen. (Kapitel 2.1 und 2.5) Sie sind in Form gebrachte Sinneseindrücke oder Ergebnisse eines Theorie geleiteten Messprozesses. (Kapitel 3.4) Für die Nutzung im Rahmen eines kognitiven Prozesses ist eine Theoriebindung erforderlich. (Kapitel 2.6 und 3.4) Gelebte Informationelle Vernunft ist die Befreiung des Menschen aus der selbstverschuldeten Informationellen Unmündigkeit. (Kapitel 6.7) Information ist Gegenstand der kognitiven Verarbeitung und kann durch Sinneswahrnehmung mit der Außenwelt und anderen Menschen verbunden aber auch Gegenstand eines rein selbstreferentiellen Prozesses sein. (Kapitel 2.5 und Kapitel 2.1) Informationell steht für die Gesamtheit aller informationserschließenden Abläufe, die durch Sinneswahrnehmung oder selbstreferentielle Prozesse eines autopoietischen Systems angestoßen werden. (Kapitel 2.5) Informationelle Abhängigkeit liegt vor, wenn eine Person nicht entscheiden kann, ob ein Informationsverarbeitungsprozess von ihr selbst angeregt oder von außen angestoßen wird; sie liegt auch vor, wenn über den Input der Sinneswahrnehmungen oder Daten eine andere Instanz entscheidet und nicht die Person, die diesen Input für einen kognitiven Informationsprozess nutzt. (Kapitel 2.7) Informationelle Ambivalenz ist ein Zustand, in dem eine Person nicht weiß, ob sie gemäß Informationeller Autonomie oder gemäß Informationeller Abhängigkeit handelt. (Kapitel 6.7) Informationelle Autonomie ist die Fähigkeit zur kognitiven Informationsverarbeitung selbst angeregter oder durch Sinneswahrnehmung angestoßener Zustände und der damit verbundenen Rezeption externalisierter Information. Sie wird durch ein Verständnis des Verhältnisses von Geborgenheit zu Autorität unterstützt, das die individuelle Freiheit

https://doi.org/10.1515/9783110620221-009

260 | Glossar zur Anwendung kognitiver Basiseigenschaften im Rahmen einer durch Vorbild gelebten Autorität angstfrei fördert und schützt. (Kapitel 2.7 und 6.5) Informationelle Kompetenz ist gelebte Informationelle Autonomie. (Kapitel 2.8) Informationelle Selbstentmündigung ist eine Verhaltensweise, in der eine Person äußere Faktoren zum Anlass nimmt, um die Grenze eigener Informationeller Autonomie zu markieren. (Kapitel 7.6) Informationelle Überforderung ist das gleichzeitige Vorliegen einer größeren Zahl von Parametern, die als Grundlage für einen Entscheidungs- oder Handlungsprozess gleichberechtigt herangezogen werden müssten, aber aufgrund begrenzter kognitiver Kapazitäten nur bedingt oder gar nicht verarbeitet werden können. (Kapitel 7.3) Informationelle Vernunft ist das Vermögen menschlichen Denkens, kognitive Prozesse zur Erschließung und Konstruktion der Wirklichkeit durchzuführen; dabei werden Beobachtungen in Bedeutungen überführt und die durch Reflexionen aufgestellten Regeln und Prinzipien als Grundlage für Handlungen bereitgestellt. (Kapitel 6.7) Informationeller Totalitarismus ist ein Zustand, in dem die Entscheidungen und Handlungen des Einzelnen auf der Basis Informationeller Abhängigkeit erfolgen sollen; dabei wird eine Aufhebung der Informationellen Autonomie als kognitive Eigenschaft in Kauf genommen oder herbei geführt. (Kapitel 7) Informationelles Geltungsbedürfnis ist ein Verhalten, das ohne Berücksichtigung eventuell vorhandener Defizite den Anschein erwecken will, einem informationellen Problem gewachsen zu sein. (Kapitel 7.4) Instantiieren (oder Spezifizieren) ist die Fähigkeit, ein Wissensmuster zur Kennzeichnung einzelner Objekte zu benutzen. (Kapitel 4.2) Kompetenz ist die Fähigkeit, für ein Defizit angeben zu können, welche Maßnahmen erforderlich sind und welcher Aufwand damit verbunden ist, um die Differenz zwischen den Defizitzustand und dem gewünschten Zustand herzustellen. (Kapitel 2.8) Potenzielle Information ist externalisierte Information, die für die Zwecke der Rezeption unter Berücksichtigung von Referenzbereichen um Strukturinformation ergänzt ist. (Kapitel 3.1 und 5.3) Transzendierung ist die Deutung einer Situation zwecks Übertragung auf die eigene Lebenssituation oder die Projektion eigener Ideale und Sehnsüchte in eine Instanz (Person, Institution, Struktur), der das Potenzial zu deren Realisierung unterstellt wird. (Kapitel 6.5) Wissen ist das Ergebnis einer Wirklichkeitskonstruktion. (Kapitel 2.2)

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Sach- und Personenregister Abhängigkeit – Informationelle Abhängigkeit, 78, 192, 259 Abstrahieren, 58, 96, 110, 131, 209, 259 Abstraktionsbeziehung, 63 Adorno, Theodor, 211 Äquivalenz, 127 Aktuelle Information, 85, 146, 259 Alembert, Jean-Baptiste le Rond d’, 144 Algorithmische Informationstheorie, 71 Algorithmischer Mensch, 249 Algorithmisches Handeln, 78, 180 Algorithmus, 19, 21, 179 – Autonomer Algorithmus, 24 – Lernender Algorithmus, 22 Alltagswissen, 118 Alternative Fakten, 131 Ambivalenz – Informationelle Ambivalenz, 259 Amunts, Katrin, 5 Analoge Information, 220 Analogie, 122 Antihumanismus, 199 Ars Combinatoria, 180 Aspektierung, 69 Assoziation, 116 Assoziationsbeziehung, 63 Aufklärung, 177 Autonome Fahrzeuge, 27, 82 Autonome Systeme, 247 Autonomer Algorithmus, 24 Autonomie, 73 – Autorität, 74 – Grenzen, 235 – Informationelle Autonomie, 26, 74, 81, 155, 209, 259 – Kognitive Autonomie, 73 Autopoiese, 19, 73, 87, 248, 250 Autoren-Identifikation, 168 Autorität, 203 – Autonomie, 74 – Illegitime Autorität, 210 – Legitime Autorität, 210 – Paternalismus, 204, 209 – Transzendierung, 210 https://doi.org/10.1515/9783110620221-011

Bedateter Mensch, 231 Bedeutungsebene, 58 Bedingung – Hinreichende Bedingung, 127 – Notwendige Bedingung, 126 Begriff, 57 – Zeitbindung, 69 Begriffliches Navigieren, 118 Begriffsbeziehung – Abstraktionsbeziehung, 63 – Assoziationsbeziehung, 63 – Partitionsbeziehung, 63 Begriffsdefinition, 58, 68 Begriffsdreieck, 57 Begriffsebene, 58 Begriffssystem, 63 – Abgeschlossenheit, 69 – Aspektierung, 69 – Struktur, 63 Benennungsebene, 60 Beobachter, 42 – Externer Beobachter, 43 – Interner Beobachter, 43 Bewerten, 176 – Suchergebnis, 137 Bewertung, 232 Bewusstsein, 6, 37, 76, 259 – Selbstbewusstsein, 205 – Unglückliches Bewusstsein, 207 – Vernünftiges Bewusstsein, 207 Bildung – Digitale Bildung, 100, 142, 166, 221 Boolesche Verknüpfungen, 126 Bourbaki, Nicolas, 122 Brin, Sergej, 139, 241 Chaitin, Gregory J., 71 Chinesisches Zimmer, 13 Chomsky, Noam, 60 Computermetapher, 5, 11, 18, 65, 172, 179, 242, 259 Conduit-Metapher, 30, 35, 63 Dataismus, 1, 75, 178, 199, 229

282 | Sach- und Personenregister Daten, 11, 22, 66, 86, 96, 259 – Form und Inhalt, 161 – Fragmentierung, 167 – Theoriebindung, 97, 161 Davis, Philip, 231 Deep Learning, 103 Determiniertheit – Strukturdeterminiertheit, 39, 42, 74, 236 Diderot, Denis, 144 Digitale Bildung, 100, 142, 166, 221 Digitale Information, 220 Digitale Kompetenz, 80 Digitale Medien, 151 Digitale Mündigkeit, 187 Digitale Würde, 254 Digitales Gedächtnis, 215 Digitales Lernen, 100, 142, 221 DIKW-Pyramide, 98 Doi, Takeo, 202 Domain-Wissen, 23 Drei-Welten-Theorie, 45, 54 – Welt 1, 46, 52 – Welt 3, 46, 52, 67, 86 Dritte-Person-Ontologie, 49, 51 Eco, Umberto, 112 Eggers, Dave, 229 Eigentliches Selbstwertgefühl, 212 Eliot, Thomas Stearns, 223 Emotionale Intelligenz, 18 Empirisches Erkenntnismodell, 41 Entlinearisierung von Text, 170 Entscheidbarkeit, 14 Entscheiden, 176, 224 – Freies Entscheiden, 200 – Information, 107 – Pareto-Optimum, 225 Entscheidungen, 119 Enzyklopädie, 143 – Hypertext, 171 – Multimedia-Enzyklopädie, 146 Erinnerungskultur, 214 Erkenntnis, 218 Erkenntnismodell, 41, 85 – Empirisches Erkenntnismodell, 41 – Konstruktivistisches Erkenntnismodell, 41, 85

Erste-Person-Ontologie, 49, 52 Ethik – Konsensethik, 244 – Rationalität, 244 Expertensystem – Wissensrepräsentation, 118 Externalisierte Information, 85, 143, 189 – Informationsgleichheit, 148 – Kommunikationserfolg, 143 – Rezeption, 93 – Rezeptionserfolg, 146 Externalisiertes Wissen, 67, 102 Externalisierung – Information, 99, 141 – Digitale Medien, 151 – Form und Inhalt, 151 – Referenzbereiche, 143 – Wissen, 141 Externalisierungsmodell – Transparenz, 156 Externer Beobachter, 43 F-Skala, 211 Facette, 117 Fachsprache, 67 Fake News, 131 Fakten, 96 – Alternative Fakten, 131 Faktisches Wissen, 65 Flores, Fernando, 90 Flusser, Vilem, 99 Form und Inhalt, 149, 161, 164 Fortschritt, 4 – Genetischer Fortschrittsbegriff, 82 – Normativer Fortschrittsbegriff, 82 Fragmentierung – Daten, 167 – Text, 173 – Wissen, 167, 174 Freies Entscheiden, 200 Freies Handeln, 200 Freiheit, 206 Freiheitsbild – Zivilgesellschaft, 245 Geborgenheit, 245 – Selbstwertgefühl, 201

Sach- und Personenregister | 283

Gedächtnis, 6, 99, 115 – Digitales Gedächtnis, 215 – Kollektives Gedächtnis, 215 – Kulturelles Gedächtnis, 151 Gelebte Informationelle Vernunft, 259 Geltungsbedürfnis – Informationelles Geltungsbedürfnis, 231, 260 Genetischer Fortschrittsbegriff, 82 Gesellschaft – Verantwortung, 246 – Zivilgesellschaft, 1, 9, 114, 202, 253 Gesellschaftsmodelle, 181, 199 Gessmann, Martin, 116 Gestaltwahrnehmung, 37 Gigerenzer, Gerd, 119 Glaubwürdigkeit – Informationelle Glaubwürdigkeit, 189 Gödel, Kurt, 21 Grafische Integrität, 123 Halbwachs, Maurice, 215 Handeln – Algorithmisches Handeln, 78, 180 – Freies Handeln, 200 Handlungen, 176 Handlungswissen, 64 Harari, Yuval Noah, 2, 3, 182, 240 Hegel, Georg Wilhelm, 205 Hegels Reise, 206 Henn, Wolfram, 238 Hersh, Reuben, 231 Heuristiken, 119 Hierarchie, 116 Hinreichende Bedingung, 127 Hintergrund, 174 Hirsch-Index, 178, 233 Holenstein, Elmar, 134, 203, 205 Humanismus, 177 – Antihumanismus, 199 – Transhumanismus, 1, 7, 25, 199 Husserl, Edmund, 37 Hyperlink, 170 Hypertext, 170 Hypothesen, 120

Ich-Verständnis, 26, 37, 205, 206, 212 – Rationalität, 245 – Soziale Medien, 207 – Virtuelle Identität, 226 – Zivilgesellschaft, 246 Identität – Ich-Verständnis, 26, 37, 205, 206, 212 – Virtuelle Identität, 226 Illegitime Autorität, 210 Imaginationswirkung – Mediale Repräsentation, 152 Individualname, 111 Individuelles Wissen, 66 Information, 11, 29, 70, 259 – Aktuelle Information, 85, 146, 259 – Analoge Information, 220 – Aspekte, 33 – Digitale Information, 220 – Entscheiden, 107 – Externalisierte Information, 85, 143, 189 – Rezeption, 93 – Externalisierung, 99, 141 – Digitale Medien, 151 – Form und Inhalt, 151 – Kommunikativ ausgetauschte Information, 56, 85 – Potenzielle Information, 85, 146, 260 – Rezeption, 85, 99, 141 – Vollständigkeit, 107 – Wissen, 70 Information Retrieval, 135 Informationell, 71, 259 Informationelle Abhängigkeit, 3, 78, 192, 259 – Rationalität, 243 Informationelle Ambivalenz, 259 Informationelle Autonomie, 26, 74, 81, 155, 209, 259 – Grenzen, 235 – Verantwortung, 246 Informationelle Entmündigung, 197 Informationelle Glaubwürdigkeit, 189 Informationelle Kompetenz, 79, 129, 186, 260 – Informationskompetenz, 231 – Invarianten, 81 – Zeitbindung, 81 Informationelle Selbstbeschränkung, 231, 238 Informationelle Selbstbestimmung, 191, 226

284 | Sach- und Personenregister Informationelle Selbstentmündigung, 237, 260 – Soziale Medien, 240 Informationelle Überforderung, 224, 260 Informationelle Unmündigkeit, 218 Informationelle Vernunft, 218, 260 – Gelebte Informationelle Vernunft, 259 Informationeller Overload, 224, 236, 244 Informationeller Totalitarismus, 219, 249, 260 Informationelles Geltungsbedürfnis, 231, 260 Informationelles Selbstwertgefühl, 225 Informationsflut, 222 Informationsgleichheit, 147 – Externalisierte Information, 148 – Kommunikation, 90 Informationskompetenz, 79, 81, 129, 185, 220 – Informationelle Kompetenz, 231 Informationssystem – Erstellen, 156 – Skalierbarkeit, 157 Informationstechnische Informationsverarbeitung, 189 Informationstheorie, 29 – Algorithmische Informationstheorie, 71 Informationsverarbeitung, 81 – Informationstechnische Informationsverarbeitung, 189 – Kognitive Informationsverarbeitung, 11, 19, 36, 71, 74, 77, 85, 107, 189, 218, 242 – Selbstreferentielle Informationsverarbeitung, 71, 86 Informetrie, 122, 168, 178, 222, 234 Inhalt – Form und Inhalt, 149, 161, 164 Instantiieren, 110, 260 Instanz, 117 Institutionelle Realität, 49, 57, 175 – Sprache, 62 Integrität – Grafische Integrität, 123 Intelligenz, 16 – Emotionale Intelligenz, 18 – Künstliche Intelligenz, 7, 13, 16, 19, 78, 242 – Schwarmintelligenz, 121 Intentionale Analyse, 38 Intentionalität – Kollektive Intentionalität, 50

Interner Beobachter, 43 Interpretation, 37 Intuition, 118 – Kreativität, 120 Invarianten Informationeller Kompetenz, 81 Jullien, François, 255 Kanisza-Dreieck, 36 Kausalität, 126, 127 Kennziffernorientierung, 178, 232 Klassifikationssystem, 158 Kodifiziertes Wissen, 66 Kognition – Rationalität, 9 Kognitive Autonomie, 73 Kognitive Informationsverarbeitung, 11, 19, 36, 71, 74, 77, 85, 107, 189, 218, 242 Kognitive Operatoren, 108 Kognitive Plastizität, 20, 39, 90, 148, 154 Kognitive Struktur, 39, 85 Kognitive Überlastung, 145 – Paradigmenwechsel, 154 – Referenzbereiche, 154 Kollektive Intentionalität, 50 Kollektives Gedächtnis, 215 Kollektives Wissen, 49 Kommunikation – Erfolg, 90, 117 – Feedback-Kommunikation, 88 – Informationsgleichheit, 90 – Mensch-Maschine-Kommunikation, 173 Kommunikationserfolg – Externalisierte Information, 143 Kommunikativ ausgetauschte Information, 56, 85 Kompentenz – Medienkompetenz, 185 Kompetenz, 80, 81, 166, 220, 253, 260 – Digitale Kompetenz, 80 – Informationelle Kompetenz, 79, 129, 186, 260 – Informationskompetenz, 79, 81, 129, 185, 220 Komprimierung, 31 Konkordanz – Ordnungssysteme, 159

Sach- und Personenregister | 285

Konsensethik – Rationalität, 244 Konsensuelle Parallelisierung, 88, 143 Konstruktivismus – Radikaler Konstruktivismus, 41 Konstruktivistisches Erkenntnismodell, 41, 85 Kontext, 23, 72, 108, 174 – Theoriebindung, 165 Kontextualisieren, 109, 209 Konzeptualisieren, 90, 92 Kreativität – Intuition, 120 – Soziale Medien, 121 Kübeltheorie, 48, 63 Künstliche Intelligenz, 7, 13, 16, 19, 78, 242 – Wissensrepräsentation, 99 Kuhn, Thomas, 70 Kultureller Universalismus, 255 Kulturelles Gedächtnis, 151 Legitime Autorität, 210 Leibniz, Gottfried Wilhelm, 180, 243 Lernen, 22, 91 – Deep Learning, 103 – Digitales Lernen, 100, 142, 221 – Maschinelles Lernen, 23 Lernender Algorithmus, 22 Levesque, Hector, 15 Linked Open Data, 103 Linné, Carl von, 130 Logische Verneinung, 126 Lügner-Paradoxon, 14 Lullus, Raimundus, 181 Maschinelle Sprachverarbeitung, 15 Maschinelles Lernen, 23 Mediale Repräsentation – Imaginationswirkung, 152 Medialisierung – Form und Inhalt, 149 – Referenzbereiche, 143, 154 Medien – Digitale Medien, 151 – Soziale Medien, 131, 203, 224, 226 Medienkompetenz, 185 Meditation, 38

Mensch – Algorithmischer Mensch, 249 – Bedateter Mensch, 231 – Quantifizierbarkeit, 232 – Vermessener Mensch, 232 Mensch-Maschine-Kommunikation, 173 Metapher, 11 – Computermetapher, 11, 18, 65, 172, 179, 242, 259 – Conduit-Metapher, 30, 35, 63 – Pipeline-Metapher, 30, 35, 63 Metzinger, Thomas, 5 Monyer, Hannah, 116 Moral, 177 Moralisches Urteil, 177 Multimedia, 150 Multimedia-Enzyklopädie, 146 Multimediale Präsentation, 153 Navigieren – Begriffliches Navigieren, 118 Nelson, Ted, 170 Neugebauer, Reimund, 114 Nicht-Wissen, 66, 70 Nida-Rümelin, Julian, 25 Normativer Forschrittsbegriff, 82 Notwendige Bedingung, 126 Nürnberger Trichter, 11, 63, 100 Objektebene, 58 Objektive Realität, 49, 57 Ontologie, 102 – Dritte-Person-Ontologie, 49, 51 – Erste-Person-Ontologie, 49, 52 Optimierungssituation, 225 Ordnen, 128 Ordnungssysteme, 158 – Konkordanz, 159 – Wissensordnung, 158 Page, Larry, 139 PageRank, 139 Paradigmenwechsel – Kognitive Überlastung, 154 Paradoxon – Lügner-Paradoxon, 14

286 | Sach- und Personenregister Pareto-Optimum – Entscheiden, 225 Partitionsbeziehung, 63 Paternalismus – Autorität, 204, 209 Peer Review, 134 Penrose, Roger, 21 Pertinenz, 138 Phaidros-Sokrates Dialog, 151 Pipeline-Metapher, 30, 35, 63 Plastizität, 173 – Kognitive Plastizität, 20, 39, 90, 148, 154 Platon, 151 Plausibilität, 123, 131, 141, 190 Popper, Karl, 45, 67 Potenzielle Information, 85, 146, 260 Proust, Marcel, 149 Quantifizierbarkeit des Menschen, 232 Radikaler Konstruktivismus, 41 Randow, Gero von, 181 Ranking, 122 – Relevance Ranking, 138 Ranking-Algorithmen, 138 – PageRank, 139 Rationalität – Ich-Verständnis, 245 – Informationelle Abhängigkeit, 243 – Kognition, 9 – Konsensethik, 244 Realität, 57 – Institutionelle Realität, 49, 57, 175 – Objektive Realität, 49, 57 – Sprache, 62 – Virtuelle Realität, 152 Redundanz, 31 Referenzbereiche, 42, 55, 85, 93, 95 – Externalisierung, 143 – Kognitive Überlastung, 154 – Medialisierung, 143, 154 Relevance Feedback, 140 Relevance Ranking, 138 Relevanz, 138 ResearchGate, 169 Resource Description Framework, 103

Rezeption – Information, 85, 99, 141 – Wissen, 45, 48 Rezeption externalisierter Information, 93 – Erfolgstest, 146 Rosch, Eleanor, 38 Schank, Roger, 7 Scheinwerfertheorie, 48 Schlussfolgern, 125, 131 Schriftkultur, 151 Schwarmintelligenz, 121 Scoring, 233 – Sozialscoring, 234 Searle, John, 13, 49, 76 Selbstbeschränkung – Informationelle Selbstbeschränkung, 231, 238 Selbstbestimmung – Informationelle Selbstbestimmung, 191, 226 Selbstbewusstsein, 205 Selbstentmündigung – Informationelle Selbstentmündigung, 237, 260 Selbstreferentialität, 36, 143 Selbstreferentielle Informationsverarbeitung, 71, 86 Selbstwertgefühl, 199, 212, 245 – Eigentliches Selbstwertgefühl, 212 – Geborgenheit, 201 – Informationelles Selbstwertgefühl, 225 – Uneigentliches Selbstwertgefühl, 213 Semantic Web, 172 Semantische Anreicherung, 171 Semantische Interoperabilität, 172 Semantische Technologien, 103 Semantisches Umfeld, 116 Semiotisches Dreieck, 57 Sennett, Richard, 12, 204, 207 Shannon, Claude, 29 Singer, Wolf, 13 Skalierbarkeit von Informationssystemen, 157 Snow, Charles Percy, 4 Solipsismus, 42 Soziale Medien, 131, 203, 224, 226 – Ich-Verständnis, 207 – Informationelle Selbstentmündigung, 241

Sach- und Personenregister | 287

– Kreativität, 121 – Transzendierung, 211 – Vertrauen, 227 – Wissenschaft, 121 Sozialscoring, 234 Soziometrie, 234 Spezifizieren, 110 Sprache, 58, 60, 86 – Fachsprache, 67 – Institutionelle Realität, 62 – Maschinelle Sprachverarbeitung, 15 – Wirklichkeitskonstruktion, 15 Sprechkultur, 151 Steinbuch, Karl, 100 Strukturdeterminiertheit, 39, 42, 74, 236 Strukturelle Kopplung, 85, 89, 93, 143 Strukturelles Driften, 40 Strukturieren, 128 Strukturwissen, 63, 65, 95, 142, 156, 158 Suchergebnis – Bewerten, 137 – Pertinenz, 138 – Relevance Feedback, 140 – Relevance Ranking, 138 – Relevanz, 138 – Unvollständigkeit, 136 Suchmaschinen, 163 Suchmaschinenoptimierung, 233 Systematik, 158 Systematisieren, 128 Szientometrie, 234 Tegmark, Max, 3, 16, 18, 179 Temporale Ursache, 126 Tenorth, Heinz-Elmar, 221 Text – Entlinearisierung, 170 – Fragmentierung, 173 – Hypertext, 170 Theoriebindung – Daten, 97, 161 – Kontext, 165 – Wissenselemente, 96 Thompson, Evan T., 38 Transhumanismus, 1, 7, 25, 199 Transparenz des Externalisierungsmodells, 156

Transzendierung, 208, 260 – Autorität, 210 – Soziale Medien, 211 Tufte, Edward, 124 Turing, Alan, 18 Turingmaschine, 13, 18, 72 Turingtest, 13 Überforderung – Informationelle Überforderung, 224, 260 Uneigentliches Selbstwertgefühl, 213 Unglückliches Bewusstsein, 207 Universalismus – Kultureller Universalismus, 255 Universalität, 113 Unmündigkeit – Informationelle Unmündigkeit, 218 Unvollständigkeit – Suchergebnis, 136 Ursache – Temporale Ursache, 126 Urteil – Moralisches Urteil, 177 Varela, Francisco J., 38 Velmans, Max, 62 Verantwortung – Gesellschaft, 246 – Informationelle Autonomie, 246 Vergessenskultur, 215 Vermessener Mensch, 232 Verneinung – Logische Verneinung, 126 Vernünftiges Bewusstsein, 207 Vernunft – Informationelle Vernunft, 218, 260 Verstehen, 37, 219 – Ich-Verständnis, 26, 37, 205, 206, 212 – Wissensverständnis, 219 Vertrauen – Soziale Medien, 227 Virtuelle Identität, 226 Virtuelle Realität, 152 Vollständigkeit an Information, 107 Voßhoff, Andrea, 227 Wahlster, Wolfgang, 8

288 | Sach- und Personenregister Wahrheit, 123, 125 Wahrnehmung, 35, 40 – Gestaltwahrnehmung, 37 Weaver, Warren, 29 Web 2.0, 171 Weber, Max, 210 Weizenbaum, Josef, 230 Welt 1, 46, 52 Welt 3, 46, 52, 67, 86 Wiener, Norbert, 11 Winograd Schema Challenge, 15 Winograd, Terry, 15, 90 Wir-Vorstellung, 52 Wirklichkeit, 41 Wirklichkeitskonstruktion, 35, 42, 44, 54, 77 – Sprache, 15 Wissen, 43, 65, 71, 86, 98, 260 – Alltagswissen, 118 – Domain-Wissen, 23 – Externalisiertes Wissen, 67, 102 – Externalisierung, 141 – Faktisches Wissen, 65 – Fragmentierung, 167, 174 – Handlungswissen, 64 – Individuelles Wissen, 66 – Information, 70 – Kodifiziertes Wissen, 66 – Kollektives Wissen, 49 – Medialisierung – Form und Inhalt, 149 – Nicht-Wissen, 66, 70

– Referenzbereiche, 55 – Rezeption, 45, 48 – Strukturwissen, 63, 65, 95, 142, 155, 158 Wissenschaft – Soziale Medien, 121 Wissenselemente – Theoriebindung, 96 Wissenserwerb, 45, 95, 143 – Modell, 10 Wissensformen, 65 Wissenskomponenten, 57 Wissensordnung, 158 Wissensrepräsentation – Expertensystem, 118 – Künstliche Intelligenz, 99 Wissensverständnis, 219 Witte-Petit, Kerstin, 234 Wittgenstein, Ludwig, 61, 164 Wojcicki, Anne, 241 Würde, 254 – Digitale Würde, 254 Zeitbindung, 81 Zeitbindung Informationeller Kompetenz, 81 Zeitbindung von Begriffen, 69 Zemanek, Heinz, 72 Zitierregeln, 169 Zivilgesellschaft, 1, 9, 114, 202, 253 – Freiheitsbild, 245 – Ich-Verständnis, 246 Zuckerberg, Marc, 227 Zukunftsgestaltung, 4