Erkenntnistheorie moralischer Überzeugungen: Ein Entwurf 9783110325805, 9783110325119

Menschen haben eine Fülle von moralischen Überzeugungen. Wodurch sind diese Überzeugungen aber gerechtfertigt? In diesem

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Table of contents :
Inhalt
Prolog
1 Einleitung
1.1 Voraussetzungen
1.2 Gründe für die Vernachlässigung moralischer Erkenntnistheorie
1.3 Die Eigenart der Erkenntnistheorie moralischer Überzeugungen
1.4 Ein metaethischer Versuch
1.5 Überblick
2 Moralische Überzeugungen
2.1 Moralische Äußerungen und ihre Deutungen
2.2 Überzeugungen
2.3 Moralische Überzeugungen
2.4 Einwände und Widerlegungen
3 Moralische Wahrheit
3.1 Zwei Wahrheitsbegriffe
3.2 Auseinandersetzung mit epistemischen Wahrheitsauffassungen
4 Gründe für Überzeugungen
4.1 Epistemische Gründe
4.1.1 E-Gründe sind Gründe für Überzeugungen
4.1.2 E-Gründe können doxastisch oder nichtdoxastisch sein
4.1.3 E-Gründe sind im Geist der erkennenden Person
4.2 Die Angemessenheit von E-Gründen
4.3 Die Beziehung des Beruhens
4.4 Verlässliche Vorgänge
4.5 Kognitive Tugenden
5 Nichtmoralische doxastische Gründe
5.1 Nichtmoralische Überzeugungen
5.2 Inferenzielle Rechtfertigung
5.3 Naturalisierungsversuche
5.3.1 Semantischer Reduktionismus
5.3.2 Metaphysischer Reduktionismus
5.3.3 Überwindung von Humes Gesetz
6 Moralische doxastische Gründe
6.1 Moralische Überzeugungen
6.2 Inferenzielle Rechtfertigung
6.3 Die kohärentistische Antwort
6.3.1 Der erkenntnistheoretische Kohärentismus
6.3.2 Kohärentismus in der Ethik: Beispiele
6.3.3 Eine plausible Entfaltung
6.3.4 Auseinandersetzung
6.3.5 Ergebnis
6.4 Eine fundamentistische Antwort
6.4.1 Der erkenntnistheoretische Fundamentismus
6.4.2 Doxastische Fundamentismen in der Ethik: Beispiele
6.4.3 Eine plausible Entfaltung
6.4.4 Auseinandersetzung
6.4.5 Ergebnis
7 Nichtdoxastische Gründe
7.1 Sinneswahrnehmungen
7.2 Intuitionen
7.2.1 Beispiele aus der Philosophiegeschichte
7.2.2 Systematische Auseinandersetzung
7.3 Vorstellungen
7.3.1 Beispiele aus der Philosophiegeschichte
7.3.2 Systematische Auseinandersetzung
7.4 Emotionen
7.4.1 Beispiele aus der Philosophiegeschichte
7.4.2 Systematische Auseinandersetzung
7.5 Wünsche
7.5.1 Beispiele aus der Philosophiegeschichte
7.5.2 Systematische Auseinandersetzung
7.6 Ergebnis
8 Zusammenspiel der Gründe
8.1 Ein Lösungsvorschlag
8.2 Modifikationen
8.3 Das Zusammenspiel der Gründe
9 Klugheit
9.1 Von kognitiven Prozessen zu kognitiven Tugenden
9.2 Einbettung in die Tugendepistemologie
9.3 Anknüpfungspunkt: Thomas von Aquin
9.4 Klugheit als Tugend moralischer Überzeugungsbildung
9.5 Der moralische Einwand
10 Moralische Skeptizismen
10.1 Argument aus der Rechtfertigungsstruktur
10.2 Unfähigkeit, den moralischen Nihilismus auszuschließen
10.3 Argument aus der Absonderlichkeit moralischer Eigenschaften .
10.4 Argument aus der explanatorischen Überflüssigkeit
10.5 Argument aus den moralischen Meinungsverschiedenheiten
10.6 Unfähigkeit, kluges Vorgehen zu identifizieren
11 Ausblick auf moralische Metaphysik
11.1 Ausgangspunkt: Normative Theorien
11.2 Common Sense: Supervenienz
11.3 Identitätsbeziehung
11.4 Konstitutionsbeziehung
Abkürzungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Personenverzeichnis
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Erkenntnistheorie moralischer Überzeugungen: Ein Entwurf
 9783110325805, 9783110325119

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Bruno Niederbacher SJ Erkenntnistheorie moralischer Überzeugungen Ein Entwurf

Philosophische Analyse Philosophical Analysis Herausgegeben von / Edited by Herbert Hochberg • Rafael Hüntelmann • Christian Kanzian Richard Schantz • Erwin Tegtmeier Band 45 / Volume 45

Bruno Niederbacher SJ

Erkenntnistheorie moralischer Überzeugungen Ein Entwurf

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2012 ontos verlag P.O. Box 15 41, D-63133 Heusenstamm www.ontosverlag.com ISBN 978-3-86838-131-3 2012 No part of this book may be reproduced, stored in retrieval systems or transmitted in any form or by any means, electronic, mechanical, photocopying, microfilming, recording or otherwise without written permission from the Publisher, with the exception of any material supplied specifically for the purpose of being entered and executed on a computer system, for exclusive use of the purchaser of the work Printed on acid-free paper FSC-certified (Forest Stewardship Council) This hardcover binding meets the International Library standard Printed in Germany by CPI buch bücher.de

Inhalt Prolog .......................................................................................................... 9

1 Einleitung......................................................................................... 11 1.1 Voraussetzungen ............................................................................. 11 1.2 Gründe für die Vernachlässigung moralischer Erkenntnistheorie ... 12 1.3 Die Eigenart der Erkenntnistheorie moralischer Überzeugungen ... 13 1.4 Ein metaethischer Versuch .............................................................. 16 1.5 Überblick ......................................................................................... 17

2 Moralische Überzeugungen .................................................... 19 2.1 Moralische Äußerungen und ihre Deutungen.................................. 19 2.2 Überzeugungen ............................................................................... 22 2.3 Moralische Überzeugungen............................................................. 25 2.4 Einwände und Widerlegungen ........................................................ 28

3 Moralische Wahrheit .................................................................. 33 3.1 Zwei Wahrheitsbegriffe................................................................... 33 3.2 Auseinandersetzung mit epistemischen Wahrheitsauffassungen .... 38

4 Gründe für Überzeugungen .................................................... 45 4.1 Epistemische Gründe....................................................................... 45 4.1.1 E-Gründe sind Gründe für Überzeugungen .............................. 46 4.1.2 E-Gründe können doxastisch oder nichtdoxastisch sein .......... 48 4.1.3 E-Gründe sind im Geist der erkennenden Person ..................... 48 4.2 Die Angemessenheit von E-Gründen .............................................. 50 4.3 Die Beziehung des Beruhens ........................................................... 53 4.4 Verlässliche Vorgänge .................................................................... 56 4.5 Kognitive Tugenden ........................................................................ 57

Erkenntnistheorie moralischer Überzeugungen

5 Nichtmoralische doxastische Gründe ................................. 59 5.1 Nichtmoralische Überzeugungen ..................................................... 59 5.2 Inferenzielle Rechtfertigung ............................................................ 61 5.3 Naturalisierungsversuche ................................................................. 61 5.3.1 Semantischer Reduktionismus .................................................. 63 5.3.2 Metaphysischer Reduktionismus .............................................. 64 5.3.3 Überwindung von Humes Gesetz ............................................. 65

6 Moralische doxastische Gründe ............................................ 67 6.1 Moralische Überzeugungen ............................................................. 67 6.2 Inferenzielle Rechtfertigung ............................................................ 68 6.3 Die kohärentistische Antwort .......................................................... 69 6.3.1 Der erkenntnistheoretische Kohärentismus .............................. 69 6.3.2 Kohärentismus in der Ethik: Beispiele...................................... 72 6.3.3 Eine plausible Entfaltung .......................................................... 77 6.3.4 Auseinandersetzung .................................................................. 79 6.3.5 Ergebnis .................................................................................... 86 6.4 Eine fundamentistische Antwort ...................................................... 87 6.4.1 Der erkenntnistheoretische Fundamentismus ........................... 87 6.4.2 Doxastische Fundamentismen in der Ethik: Beispiele .............. 88 6.4.3 Eine plausible Entfaltung .......................................................... 90 6.4.4 Auseinandersetzung .................................................................. 94 6.4.5 Ergebnis .................................................................................... 99

7 Nichtdoxastische Gründe ....................................................... 101 7.1 Sinneswahrnehmungen .................................................................. 101 7.2 Intuitionen ...................................................................................... 105 7.2.1 Beispiele aus der Philosophiegeschichte................................. 105 7.2.2 Systematische Auseinandersetzung ........................................ 107

Inhalt

7.3 Vorstellungen ................................................................................ 112 7.3.1 Beispiele aus der Philosophiegeschichte ................................ 112 7.3.2 Systematische Auseinandersetzung ........................................ 113 7.4 Emotionen ..................................................................................... 118 7.4.1 Beispiele aus der Philosophiegeschichte ................................ 119 7.4.2 Systematische Auseinandersetzung ........................................ 123 7.5 Wünsche ........................................................................................ 129 7.5.1 Beispiele aus der Philosophiegeschichte ................................ 129 7.5.2 Systematische Auseinandersetzung ........................................ 131 7.6 Ergebnis ........................................................................................ 136

8 Zusammenspiel der Gründe .................................................. 139 8.1 Ein Lösungsvorschlag ................................................................... 139 8.2 Modifikationen .............................................................................. 141 8.3 Das Zusammenspiel der Gründe ................................................... 145

9 Klugheit .......................................................................................... 149 9.1 Von kognitiven Prozessen zu kognitiven Tugenden ..................... 149 9.2 Einbettung in die Tugendepistemologie ........................................ 151 9.3 Anknüpfungspunkt: Thomas von Aquin ....................................... 154 9.4 Klugheit als Tugend moralischer Überzeugungsbildung .............. 162 9.5 Der moralische Einwand ............................................................... 165

10 Moralische Skeptizismen .................................................... 167 10.1 Argument aus der Rechtfertigungsstruktur ................................. 168 10.2 Unfähigkeit, den moralischen Nihilismus auszuschließen .......... 170 10.3 Argument aus der Absonderlichkeit moralischer Eigenschaften . 172 10.4 Argument aus der explanatorischen Überflüssigkeit ................... 173 10.5 Argument aus den moralischen Meinungsverschiedenheiten...... 176 10.6 Unfähigkeit, kluges Vorgehen zu identifizieren .......................... 181

Erkenntnistheorie moralischer Überzeugungen

11 Ausblick auf moralische Metaphysik ............................ 185 11.1 Ausgangspunkt: Normative Theorien .......................................... 185 11.2 Common Sense: Supervenienz .................................................... 186 11.3 Identitätsbeziehung ...................................................................... 187 11.4 Konstitutionsbeziehung ............................................................... 192 Abkürzungsverzeichnis............................................................................ 195 Literaturverzeichnis ................................................................................. 197 Personenverzeichnis ................................................................................ 209

Prolog Wir Menschen fällen moralische Urteile. Wir urteilen etwa, dass es richtig war, Haiti nach der Erdbebenkatastrophe die Staatsschulden zu erlassen, und dass es schlecht war, sexuellen Missbrauch von Schülern durch Lehrer nicht sofort vor Gericht zu bringen. Wir urteilen, dass es richtig ist, Notleidenden zu helfen, und dass es schlecht ist, Menschen grundlos zu quälen. Wir urteilen, dass man das Gute tun und verfolgen, und das Schlechte meiden soll. Ich vertrete die Auffassung, dass wir durch solche Urteile Überzeugungen moralischen Inhalts zum Ausdruck bringen können. Wenn dies stimmt, stellen sich die Fragen: Worin gründen Überzeugungen dieser Art? Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit sie gerechtfertigt sind? Mit der Erkenntnistheorie moralischer Überzeugungen gehe ich diesen Fragen nach. Ich werde mögliche und bereits begangene Wege vorstellen sowie einen dieser Wege favorisieren. Ich möchte zeigen, dass moralische Überzeugungen gerechtfertigt sind, wenn sie aus einer verlässlichen kognitiven Fähigkeit hervorgehen. Mein Dank gilt den vielen Studierenden, mit denen ich in mehreren Seminaren die Gelegenheit hatte, Fragen der moralischen Erkenntnis nachzugehen und zu diskutieren. Mein Dank gehört den Kollegen an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, denen ich Teile dieser Arbeit vorstellen konnte. Ich danke Prof. DDr. Thomas Schärtl sowie Prof. DDDr. Clemens Sedmak für sehr wertvolle kritische Kommentare zu einer früheren Version des Textes. Ich danke Frau Nina Schallauer, die durch stilistische und inhaltliche Bemerkungen sehr zur Verbesserung des Textes beigetragen hat. Frau Mag. Monika Datterl und P. Christian Bargehr SJ danke ich für das Lektorat. Schließlich danke ich der Gesellschaft Jesu, die mich auf den philosophischen Weg gesandt hat. Dass das Buch dennoch nur ein Entwurf mit Löchern und losen Enden geworden ist, liegt freilich allein an mir. Innsbruck, im Herbst 2011

Bruno Karl Niederbacher SJ

Da es zwei Bestandteile der Seele gibt, die Vernunft haben, wird die Klugheit das Gutsein des einen der beiden sein, und zwar des doxastischen Teils.

Aristoteles, Nikomachische Ethik 1140b, 25-27

1 Einleitung In diesem Buch widme ich mich hauptsächlich zwei Fragen: 1. Welche Gründe sind als epistemische Gründe für moralische Überzeugungen geeignet? 2. Wie rechtfertigen diese Gründe moralische Überzeugungen? Bezüglich der ersten Frage werde ich einen Pluralismus propagieren. Ich werde die These vertreten, dass es zwei Arten von epistemischen Gründen für moralische Überzeugungen gibt: erstens, Gründe, die ihrerseits selbst Überzeugungen sind. Ich nenne sie doxastische Gründe. Zweitens, Gründe, die ihrerseits keine Überzeugungen sind. Ich nenne sie nichtdoxastische Gründe. Bezüglich der zweiten Frage werde ich einen tugendtheoretischen Ansatz vorschlagen. Die vielen Gründe rechtfertigen moralische Überzeugungen, indem sie als Eingangsgrößen (Inputs) einer verlässlichen Fähigkeit der Überzeugungsbildung und -erhaltung fungieren, deren Ausgangsgrößen (Outputs) diese moralischen Überzeugungen sind. Diese Fähigkeit wird traditionell die Tugend der Klugheit genannt. 1.1 Voraussetzungen Wer eine Erkenntnistheorie moralischer Überzeugungen schreibt, setzt voraus, dass es moralische Erkenntnis geben kann, dass eine Version des Kognitivismus richtig ist. Kognitivisten vertreten ungefähr folgende Thesen: (i) Einige moralische Äußerungen sind moralische Behauptungen.1 (ii) Durch moralische Behauptungen werden moralische Überzeugungen ausgedrückt. 1

Mit dieser vorsichtigen Redeweise lasse ich Raum dafür, dass mit moralischen Äußerungen nicht nur Sprechakte des Behauptens, sondern auch andere Sprechakte vollzogen werden können. Kognitivisten können diese Möglichkeit durchaus zulassen.

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Erkenntnistheorie moralischer Überzeugungen

(iii) Überzeugungen sind Einstellungen des Für-Wahr-Haltens von Propositionen. Propositionen sind wahr oder falsch. (iv) Moralische Überzeugungen beinhalten moralische Propositionen. Moralische Propositionen enthalten normative Begriffe. (v) Einige der für wahr gehaltenen moralischen Propositionen sind wahr. (vi) Menschen können epistemisch gerechtfertigt sein, moralische Propositionen für wahr zu halten. Sie können auch moralisches Wissen haben. Alle diese Thesen sind kontrovers. Als Erkenntnistheoretiker beschäftigt mich vor allem die These (vi). Aber auch die Thesen (i) bis (v) werde ich streifen. Will ich nämlich die Frage beantworten, wodurch moralische Überzeugungen gerechtfertigt sind, muss ich vorher zumindest gewichtige Einwände gegen die These entkräften, dass moralische Überzeugungen Einstellungen mit propositionalem Inhalt sind und dass deren Inhalt wahr sein kann. 1.2 Gründe für die Vernachlässigung moralischer Erkenntnistheorie Im deutschen Sprachraum wurden in den letzten Jahrzehnten erkenntnistheoretische Fragen im Zusammenhang mit der Moral selten ausdrücklich gestellt und beantwortet.2 Ich führe dies auf zwei Ursachen zurück: Erstens führe ich es auf einen verbreiteten Nonkognitivismus unter Ethikern zurück. Der Nonkognitivismus basiert auf der sprachphilosophischen Auffassung, der zufolge durch moralische Äußerungen wie Man soll nicht lügen oder Es war nicht richtig, dass der Arzt Dr. Müller den Patienten Anton angelogen hat nicht moralische Inhalte behauptet werden, die wahr oder falsch sind, sondern Emotionen, Imperative oder Pro-/Contra2

Ausnahmen sind Czaniera 2001, der aus seiner Untersuchung allerdings nonkognitivistische Schlüsse zieht, und neuerdings Ernst 2008, der bezüglich Moral kognitivistisch und realistisch argumentiert und vor allem die These von der grundlegenden Verschiedenheit von Moral und Naturwissenschaft angreift. Mein Zugang unterscheidet sich grundlegend von seinem Zugang, da ich nicht der Auffassung bin, man könne nur für dasjenige Objektivität beanspruchen, was von der gleichen Art wie die Naturwissenschaft ist. Siehe dazu: Niederbacher 2009.

Einleitung

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Einstellungen zum Ausdruck gebracht werden. Aus diesem Grund dürfte sich eine Erkenntnistheorie moralischer Überzeugungen für den Nonkognitivismus erübrigen.3 Ein zweiter Grund für die Vernachlässigung moralischer Erkenntnistheorie könnte auf der Ansicht beruhen, dass eine solche Erkenntnistheorie schlicht Anwendung der allgemeinen Erkenntnistheorie sei. Vertreter dieser Ansicht werden zwar Kognitivisten sein und meinen, dass es in der Moral Erkenntnis gibt. Dennoch wird es ihrer Ansicht nach keiner eigenen Erkenntnistheorie bedürfen. Die allgemeine dürfte ausreichen. Diese Ansicht wird durch manche Beiträge zur moralischen Epistemologie genährt, in denen lediglich allgemeine erkenntnistheoretische Thesen aufgestellt und verteidigt werden und das Wort „Überzeugung“ schlicht durch das Wort „moralische Überzeugung“ ersetzt wird.4 Ich vertrete hier gegenüber der ersten Auffassung eine kognitivistische Position und gegenüber der zweiten Auffassung die Ansicht der Eigenart der Erkenntnistheorie moralischer Überzeugungen. Damit meine ich nicht, dass sich eine solche Erkenntnistheorie völlig von einer allgemeinen absetzen würde. Ich meine aber, dass sie spezifische Fragen zu behandeln und somit ihre spezifischen Eigenheiten hat. 1.3 Die Eigenart der Erkenntnistheorie moralischer Überzeugungen Eine Erkenntnistheorie moralischer Überzeugungen setzt sich von einer allgemeinen Erkenntnistheorie insofern nicht ab, als es auch in ihr um die Untersuchung von epistemischen – d. h. in unserem Zusammenhang wahr-

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Damit sei nicht ausgeschlossen, dass es für Nonkognitivisten im Umkreis der Moral viele Sachverhalte gibt, die Gegenstand der Erkenntnis sein können, zum Beispiel dass jemand bestimmte Präferenzen, Gefühle, Einstellungen hat, etc. Lediglich moralische Inhalte wie Man soll nicht lügen oder Es war nicht richtig, dass Dr. Müller den Patienten angelogen hat, etc., können nicht Gegenstand der Erkenntnis sein. Siehe dazu auch unter 2.1. Diesen Eindruck gewinnt man etwa bei Sayre-McCord 1996 oder Shafer-Landau 2003, 267-302.

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Erkenntnistheorie moralischer Überzeugungen

heitshinführenden – Gründen geht.5 Sie weist aber spezifische Eigenheiten auf, die eine eigene Berücksichtigung rechtfertigen: 1. In der Moral kommen Überzeugungen unterschiedlichen Allgemeinheitsgrades vor: - formale allgemeine Überzeugungen wie Das Gute ist zu tun, Man soll dem Gewissen folgen, etc. - materiale allgemeine Überzeugungen wie Man soll anderen Menschen helfen, Man soll niemandem grundlos Schaden zufügen, Man soll nicht lügen, etc. - materiale singuläre Überzeugungen wie Es war nicht richtig, dass der Arzt Dr. Müller den Patienten neulich angelogen hat Bei allen drei Arten von Überzeugungen fragt man nach der epistemischen Rechtfertigung. Vor allem die Beziehung zwischen den Überzeugungen allgemeinen moralischen Inhalts (kurz: Üpam) und den Überzeugungen singulären moralischen Inhalts (kurz: Üpsm) ist zu untersuchen.6 Man könnte meinen, dies stelle keine besondere Herausforderung dar. Wir nehmen einfach an, dass Üpam epistemisch grundlegend und Üpsm deduktiv gerechtfertigt sind – nennen wir diese mögliche Position „Deduktivismus“. Oder umgekehrt: Wir nehmen an, dass Üpsm epistemisch basal und Üpam induktiv oder abduktiv gerechtfertigt sind – nennen wir diese mögliche Position „Induktivismus“. Doch derartige Ansätze scheinen mir nicht angemessen zu sein. Meine Überzeugung Man soll nicht lügen gründet nicht auf den singulären Überzeugungen Hier war es falsch zu lügen und Dort war es falsch zu lügen, etc. Sie scheint auch nicht eine Art von Hypothese zu sein, die dadurch gerechtfertigt ist, dass sie etwas erklärt. Auch ein Deduktivismus ist mit einem Problem konfrontiert: Es kann sein, dass es in einem Einzelfall richtig ist, zu lügen. Die singuläre Überzeugung Es ist richtig, in dieser Situation jetzt zu lügen kann gerechtfertigt sein. Aber 5 6

Ich entfalte dies in Kapitel 4. Der Kürze halber werde ich anstelle des Ausdrucks „Überzeugungen moralischen Inhalts“ auch den Ausdruck „moralische Überzeugungen“ verwenden, und anstelle des Ausdrucks „Überzeugungen allgemeinen bzw. singulären moralischen Inhalts“ auch den Ausdruck „allgemeine bzw. singuläre moralische Überzeugungen“.

Einleitung

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wodurch? Und warum setzt diese gerechtfertigte Überzeugung nicht die Rechtfertigung der Überzeugung allgemeinen Inhalts außer Kraft, dass man nicht lügen soll? 2. Die üblich genannten Quellen der Rechtfertigung werden häufig nach apriori und aposteriori eingeteilt. Apriori gerechtfertigt, so sagt man, sei eine Überzeugung genau dann, wenn sie unabhängig von Sinneserfahrung gerechtfertigt sei, zum Beispiel allein aufgrund der Einsicht in die begrifflichen Zusammenhänge einer Proposition oder Schlussfolgerung. Aposteriori gerechtfertigt hingegen sei eine Überzeugung genau dann, wenn sie aufgrund von Sinneserfahrung gerechtfertigt sei. Nun wird es wohl kaum Philosophen geben, welche behaupten, dass moralische Überzeugungen epistemisch auf sinnlicher Beobachtung beruhen. Sinnliche Beobachtung mag uns zwar moralisch relevante Informationen liefern, aber sie sagt uns nicht, was wir tun sollen. Wir beobachten zwar, dass jemand zum Spaß gequält wird, aber wir beobachten nicht das Schlechtsein dieser Handlung. Andererseits ist es auch unplausibel anzunehmen, alle moralischen Überzeugungen beruhten epistemisch auf der Einsicht begrifflicher Zusammenhänge. Propositionen wie Das Gute ist zu tun und das Schlechte zu meiden oder Versprechen sind prima facie zu halten könnten apriori gerechtfertigt sein. Aber bei Überzeugungen singulären moralischen Inhalts ist dies schwer denkbar. So haben wir im Fall der Rechtfertigung moralischer Überzeugungen das Problem, dass sie weder eindeutig apriori noch eindeutig aposteriori gerechtfertigt zu sein scheinen.7 3. In allgemeinen Erkenntnistheorien und in vielen Bereichserkenntnistheorien werden Emotionen nicht thematisiert. Es wird weitgehend anerkannt, dass Emotionen bei der Rechtfertigung von Wahrnehmungsüberzeugungen, von mathematischen und naturwissenschaftlichen Überzeugungen keine Rolle spielen. Bei moralischen Überzeugungen scheint es aber anders zu sein. Gemäß der aristotelischen Tradition kann man nur dann klug sein, wenn man auch die ethischen Tugenden besitzt. Die ethischen Tugenden befähigen uns, emotional angemessen auf eine Situation zu reagieren. Nur wenn man emotional angemessen auf eine Situation rea7

Vgl. dazu: Ernst 2008, 63. Ich setze mich allerdings von seiner Meinung insofern ab, als dass ich meine, einige Überzeugungen allgemeinen moralischen Inhalts können apriori gerechtfertigt sein (siehe in diesem Buch 6.4.4).

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Erkenntnistheorie moralischer Überzeugungen

giert, kann man auch herausfinden, was in dieser Situation zu tun richtig ist. 4. Dies führt mich zu einer letzten Eigenart moralischer Erkenntnistheorie. Andere Bereichserkenntnistheorien kommen oft mit einer geringen Anzahl von Arten von epistemischen Gründen aus. Bei der Erkenntnistheorie von Wahrnehmungsüberzeugungen beispielsweise tauchen als epistemische Gründe oft bloß sinnliche Eindrücke auf, manchmal auch Hintergrundüberzeugungen. Demgegenüber spielen bei moralischen Überzeugungsbildungen verschiedene Arten von Gründen eine Rolle. Ich unterscheide zwischen Gründen, die selbst Überzeugungen sind und inferenziell rechtfertigen, und Gründen, die etwas anderes als Überzeugungen sind und nichtinferenziell rechtfertigen. Zu ersteren gehören etwa: Überzeugungen allgemeinen und singulären moralischen Inhalts; Überzeugungen über die konkreten Handlungsumstände (Wer? Wo? Wann? Wie? Womit? Warum? Mit welchen Folgen?); weitere Hintergrundüberzeugungen. Zu letzteren gehören unter anderem: Wahrnehmungen, Vorstellungen, Intuitionen, Emotionen, Empfindungen, Wünsche und Neigungen. Diese Gründe bedürfen einer eigenen Erläuterung. Man muss angeben, was sie sind, und prüfen, ob sie als epistemische Gründe für moralische Überzeugungen geeignet sind. Es sind diese Eigenheiten und spezifischen Fragen, welche eine eigene Erkenntnistheorie moralischer Überzeugungen rechtfertigen. 1.4 Ein metaethischer Versuch Wer eine Erkenntnistheorie moralischer Überzeugungen schreibt, betreibt Metaethik, nicht normative Ethik. Am Ende der Untersuchung wird keine normative Theorie stehen, keine Liste von Handlungsweisen, welche von mir als tatsächlich gut oder schlecht erachtet werden. Am Ende wird eine Theorie über die Erkenntnis von moralischen Wahrheiten stehen. Ich untersuche, welche Gründe als epistemische Gründe für moralische Überzeugungen in Frage kommen, und wie die Überzeugungsbildung und -erhaltung vor sich gehen muss, damit man von gerechtfertigten moralischen Überzeugungen sprechen kann.

Einleitung

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1.5 Überblick Die nun folgenden Kapitel 2 bis 4 haben einleitenden Charakter. In ihnen lege ich die Voraussetzungen einer Erkenntnistheorie moralischer Überzeugungen frei und verteidige sie in einem schwachen Sinne, d. h. ich zeige, dass die wichtigsten Einwände gegen die Annahme dieser Voraussetzungen entkräftet werden können. Im Kapitel 2 vertrete ich die Auffassung, dass moralische Überzeugungen im selben Sinn aufgefasst werden sollten wie andere Überzeugungen auch, nämlich als propositionale Einstellungen des Für-Wahr-Haltens. Im Kapitel 3 behaupte ich, dass auch praktische Wahrheit realistisch verstanden werden sollte, und entkräfte einige Einwände, die dagegen vorgebracht werden. Es folgt eine Darlegung des Verständnisses von epistemischen Gründen im Kapitel 4. Die Kapitel 5 bis 7 sind der Beantwortung meiner ersten Hauptfrage gewidmet: Welche Gründe eignen sich als epistemische Gründe für moralische Überzeugungen? Ich vertrete hier die These, dass neben doxastischen Gründen auch nichtdoxastische Gründe für die Rechtfertigung von moralischen Überzeugungen eine Rolle spielen. Ein besonderes Anliegen ist es mir dabei, zu klären, ob nichtdoxastische Gründe wie etwa Intuitionen, Emotionen, Wünsche oder Vorstellungen moralische Überzeugungen epistemisch rechtfertigen können. Die Kapitel 8 bis 10 sind der Beantwortung der zweiten Hauptfrage gewidmet: Wie rechtfertigen diese Gründe moralische Überzeugungen? Im Kapitel 8 untersuche ich mögliche Zusammenspiele der verschiedenartigen Gründe bei der Bildung und Erhaltung von moralischen Überzeugungen singulären Inhalts. Im Kapitel 9 lege ich dar, wie Klugheit als jene kognitive Tugend verstanden werden kann, aufgrund der eine Person aus einer Reihe verschiedenartiger Gründe als Inputs zu gerechtfertigten moralischen Überzeugungen singulären Inhalts als Outputs gelangt. Im Kapitel 10 stelle ich einige skeptizistische Argumente vor und skizziere mögliche Auswege. Das Kapitel 11 schließlich stellt sich den ontologischen Verpflichtungen der Studie und eröffnet so einen Ausblick in moralische Metaphysik.

2 Moralische Überzeugungen In diesem Kapitel entfalte ich die These, dass moralische Überzeugungen Einstellungen des Für-Wahr-Haltens von moralischen Propositionen sind. Ich verteidige diese These im schwachen Sinn, indem ich Einwände gegen sie entkräfte. Als Einstieg verwende ich die Sprachpragmatik und frage, welche Sprechakte Menschen vollziehen, wenn sie moralische Sätze sprachlich äußern. 2.1 Moralische Äußerungen und ihre Deutungen Menschen tätigen moralische Äußerungen. Sie sagen, dass die Landverteilung in vielen Ländern der Erde ungerecht ist. Sie sagen, dass es nicht richtig ist, wenn Kleinkinder verhungern und anderswo Nahrungsmittel vernichtet werden. Sie sagen, dass es moralisch nicht richtig war, den zweiten Irakkrieg zu führen. Sie sagen, dass Menschen nicht mit dem Tod bestraft werden dürfen, auch wenn sie ein noch so schreckliches Verbrechen begangen haben. Sie sagen, dass Embryonen nicht zu Forschungszwecken verbraucht werden dürfen. Sie sagen, dass wir moralisch verpflichtet sind, die Treibhausgase zu reduzieren. Sie sagen, dass es nicht richtig war, dass Anton neulich gelogen hat. Sie sagen, dass man Versprechen halten soll. Sie sagen all dies und noch viel mehr bzw. das Gegenteil davon. Aber was tun Menschen, wenn sie derartige Sätze äußern? Welche Sprechakte vollziehen sie? Manche Philosophen meinen: (1) Sie drücken ihre Emotionen aus.8 Nehmen wir das Beispiel mit der Lüge. Nehmen wir an, Berta hat gesagt: „Es war nicht richtig, dass Anton neulich gelogen hat“. Dieser Deutung entsprechend wird die Äußerung „Es war nicht richtig, dass Anton neulich 8

Dies ist die Position des Emotivismus. Versionen davon wurden zum Beispiel von Ayer 1936 und Stevenson 1944 vertreten.

20

Erkenntnistheorie moralischer Überzeugungen

gelogen hat“ folgendermaßen analysiert: „Anton hat neulich gelogen. Pfui!“ Man kann freilich fragen, ob es wahr oder falsch ist, dass Anton gelogen hat. Man kann auch fragen, ob es wahr oder falsch ist, dass Berta dies gesagt hat. Aber folgende Frage stellt sich nicht: Ist es wahr oder falsch, dass es nicht richtig war, dass Anton neulich gelogen hat? Denn – so die These – Berta, die sich so äußert, behauptet nichts. Vielmehr drückt sie ein Gefühl der Ablehnung aus. Andere Philosophen meinen: (2) Sie fordern zu etwas auf.9 Nehmen wir das Beispiel mit dem Versprechen. Berta sagt: „Man soll Versprechen halten.“ Dieser Deutung entsprechend wird die Äußerung „Man soll Versprechen halten“ folgendermaßen analysiert: „Halte Versprechen!“ Man kann fragen, ob es wahr oder falsch ist, dass Berta dies gesagt hat. Man kann auch fragen, ob Berta berechtigt ist, derartige Aufforderungen zu erteilen, wer die Aufgeforderten sind, usw. Aber die Frage, ob es wahr oder falsch ist, dass man Versprechen halten soll, stellt sich nicht. Denn aufzufordern ist etwas anderes als etwas zu behaupten. Wieder andere Philosophen meinen: (3) Sie drücken ihre Pro/Contra-Einstellungen aus.10 Berta drückt mit ihrer Äußerung „Man soll Versprechen halten“ ihre ProEinstellung aus, ihr Befürworten, dass Versprechen gehalten werden. Freilich kann man fragen, ob es wahr oder falsch ist, dass Versprechen gehalten werden. Man kann auch fragen, ob es wahr oder falsch ist, dass Berta es befürwortet, Versprechen zu halten, also ob es wahr oder falsch ist, dass dem Handlungstyp Versprechen-Halten die Eigenschaft zukommt, von Berta befürwortet zu werden. Dennoch, die Äußerung selbst ist kein Sprechakt des Konstatierens oder Behauptens. Berta drückt keinen Glau9

10

Diese Position läuft unter dem Namen „Präskriptivismus“ oder auch „Imperativismus“. Richard Hare wird üblicherweise als Repräsentant des Präskriptivismus gesehen; es ist mir aber nicht eindeutig klar, ob er genau die These (3) vertreten hat. Dies wird zum Beispiel von Scarano 2001 vertreten.

Moralische Überzeugungen

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bens- oder Überzeugungszustand aus. Daher stellt sich die Frage nach der Wahrheit hier nicht. Alle genannten Deutungen unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht, aber unter einer Rücksicht sind sie gleich: Sie teilen die These, dass moralische Äußerungen keine Behauptungen sind und somit keinen Wahrheitswert haben. Vertreter dieser These werden oft Nonkognitivisten genannt.11 Die These impliziert allerdings nicht notwendigerweise die weiteren Thesen, dass es im Bereich des Moralischen keine Allgemeingültigkeit gäbe oder dass es unmöglich sei, moralische Einstellungen zu begründen. Im Gegensatz zu den eben genannten Deutungen vertreten wieder andere Philosophen die Meinung: (4) Sie drücken ihre Überzeugungen aus.12 Vertreter der These (4) werden oft Kognitivisten genannt. Ihnen zufolge können moralische Äußerungen Behauptungen sein. In solchen Behauptungen werden moralische Überzeugungen ausgedrückt. Damit ist nicht gesagt, dass alle moralischen Äußerungen notwendigerweise Behauptungen sind. Es wird auch nicht ausgeschlossen, dass Behauptungen von Emotionen, Forderungen, etc., begleitet sein können. Kognitivisten könnten auch sagen, dass die moralischen Überzeugungen einer Person ihre Emotionsäußerungen oder Forderungen in Sachen Moral erklären. Warum hat Berta so heftig reagiert, als sie hörte, dass Anton das Geld gestohlen hat? Weil sie überzeugt ist, dass es nicht richtig war, Geld zu stehlen. Warum fordert Berta, dass Versprechen zu halten sind? Warum befürwortet sie es? Weil sie die Überzeugung hat, dass es richtig ist, Versprechen zu halten. Wenn man annimmt, dass moralische Äußerungen Behauptungen sein können und dass darin moralische Überzeugungen zum Ausdruck kom-

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Die aufgezählten nonkognitivistischen Positionen sind nicht die einzigen. Es gibt noch weitere, wie etwa den „Norm-Expressivismus“, vertreten von Gibbard 1990, oder den „Quasirealismus“, vertreten von Blackburn 1993. Moralische Realisten setzen üblicherweise eine solche Position voraus, zum Beispiel Shafer-Landau 2003, Kutschera 2010.

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men, so stellt sich die Frage: Was sind moralische Überzeugungen? Fragen wir aber zunächst: Was sind überhaupt Überzeugungen? 2.2 Überzeugungen Ich setze hier voraus, dass Überzeugungen mentale Einstellungen von Subjekten sind. Einstellungen sind erstens dispositional, d. h. die Subjekte haben die Einstellungen auch dann, wenn sie sie gerade nicht manifestieren, wenn sie etwa schlafen oder mit ganz anderen Dingen beschäftigt sind. Zweitens haben Einstellungen von Subjekten ein Objekt, auf das sie bezogen sind, zum Beispiel Dinge, andere Subjekte, Personen, Sachverhalte, Propositionen. Drittens sind Einstellungen wertend im weitesten Sinn, d. h. die Subjekte sind irgendwie positiv, negativ oder neutral auf die genannten Objekte bezogen. Es gibt sehr verschiedene Arten von Einstellungen. Spezifizieren wir sie weiter vom Objekt her, so erhalten wir als nächste Bestimmung, dass Überzeugungen unter diejenigen Einstellungen fallen, die sich auf Propositionen beziehen. Man spricht daher von propositionalen Einstellungen. Ich nenne einige Beispiele für propositionale Einstellungen: Anton hofft, dass Berta auf ihn wartet. Berta befürchtet, dass Anton es immer noch auf sie abgesehen hat. Cäsar glaubt, dass es morgen regnen wird. Dora wünscht, dass alle ihre Freundinnen zur Party kommen dürfen. Emil ist es egal, dass die CO2-Werte steigen. Friedrich will, dass die Tür geschlossen bleibt. Diesen Personen werden unterschiedliche Einstellungen zugeschrieben: des Hoffens, des Befürchtens, des Glaubens, des Wünschens, etc. Aber allen Einstellungen ist gemeinsam, dass sie sich auf einen propositionalen Inhalt beziehen, der in Form einer Aussage ausgedrückt werden kann und hier mit der Dass-Wendung eingeleitet wird. Schließlich gehören Überzeugungen zu den kognitiven propositionalen Einstellungen. Damit meine ich all jene propositionalen Einstellungen,

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aufgrund welcher ein Subjekt eine Proposition für wahr hält. Dazu gehören die Zustände des Meinens, Wissens, Überzeugtseins. Ich habe nun alle Punkte eingeführt, die nötig sind, um Überzeugungen zu charakterisieren. Da ich in diesem Buch nur Menschen bzw. Personen im Blick habe, werde ich die Thesen personenbezogen formulieren: (1) Eine Person ist nur dann der Überzeugung, dass p, wenn sie es für wahr hält, dass p. Dies impliziert allerdings nicht, dass es auch wahr ist, dass p. Die Person kann sich irren. (2) Überzeugungen sind dispositionale/habituelle Zustände. Man kann einer Person Überzeugungen zuschreiben, auch wenn sie schläft oder sich im Moment nicht bewusst mit ihnen beschäftigt. Zu bestimmten Zeiten kann sie diese dispositionalen Zustände aktualisieren, zum Beispiel wenn sie sich das Für-Wahr-Halten des propositionalen Inhalts vergegenwärtigt. Davon zu unterscheiden sind Sprechakte, zum Beispiel Behauptungen oder andere Handlungen und Verhaltensweisen, in denen sich das Für-WahrHalten eines Inhalts ausdrücken oder zeigen kann. (3) Überzeugungen sind erworbene dispositionale Zustände. Eine Person hat eine Überzeugung nur dann, wenn sie diese Überzeugung zu einem bestimmten Zeitpunkt gebildet hat. Ich unterscheide sie von erwerbbaren dispositionalen Zuständen, etwas für wahr zu halten.13 Diese können kontrafaktisch beschrieben werden: Eine Person würde eine bestimmte Überzeugung bilden, wenn sie sich in bestimmten Umständen befände. (4) Ob Überzeugungen willentlich erwerbbar sind, ist umstritten.14 Der doxastische Voluntarismus besteht in der Ansicht, dass Überzeugungen willentlich hervorgebracht werden.15 Wie bilde ich dieser Auffassung gemäß eine Überzeugung? Ich spreche einem Subjekt ein Prädikat zu und bejahe dieses Zusprechen in einem eigenen Akt. Diese Bejahung beruht

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Manche sprechen hier von impliziten Überzeugungen oder von Dispositionen zu Überzeugungen. Siehe etwa: Audi 1994. Siehe dazu die Auseinandersetzung in: Alston 2005, 62-80. Erkenntnistheoretiker, welche die Rechtfertigung von Überzeugungen stark von epistemischer Pflichterfüllung bei der Überzeugungsbildung abhängig machen, setzen eine Art von doxastischem Voluntarismus voraus. Rene Descartes wird manchmal als Vertreter eines doxastischen Voluntarismus genannt. Es ist allerdings umstritten, ob er einen solchen tatsächlich vertrat. Vgl. Halbach 2002.

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auf einer Entscheidung, ist also willentlich hervorgebracht. „Willentlich hervorgebracht“ heißt entweder (i) (ii)

durch eine Basishandlung hervorgebracht; oder durch eine Handlung weiter oben im Handlungsbaum hervorgebracht.

Nimmt man an, Überzeugungen seien durch Basishandlungen erwerbbar, so könnte man durch bloße Willensakte jegliche Überzeugung erwerben. Ich will überzeugt sein, dass Spaghetti auf Bäumen wachsen und siehe da: Ich habe diese Überzeugung in meinem Repertoire. Es scheint aber offensichtlich, dass wir diese Fähigkeit nicht haben. Verspräche uns jemand eine Million Euro, wenn wir es für wahr halten, dass Spaghetti auf Bäumen wachsen, so könnten wir uns dennoch nicht dazu bringen, dies durch einen bloßen Willensakt für wahr zu halten. Wir könnten uns dies vorstellen, wir könnten so tun, als ob wir es für wahr halten, aber wir könnten es nicht einfach auf Kommando für wahr halten. Wir haben keine direkte Kontrollgewalt über unsere Überzeugungen. Wir können nichts für wahr halten, was wir für falsch halten. Und wir können uns auch nicht dagegen wehren, das für wahr zu halten, was uns klar als wahr erscheint, wenn wir uns in einer bestimmten Situation befinden. Selbst bei Überzeugungen, die nicht offensichtlich wahr oder falsch sind, bei Überzeugungen, die sehr kontrovers sind, scheint es nicht der Fall zu sein, dass wir uns bloß durch Entscheidung auf eine Seite festlegen können. Auch wenn wir bezüglich einer umstrittenen Frage unsere Überzeugung immer wieder ändern, so heißt dies nicht, dass wir dies einfach durch einen bloßen Willensakt herbeiführen könnten. Ein Inhalt erscheint uns im Augenblick der Zustimmung plausibler, schlüssiger, besser gestützt durch Indizien als ein anderer. Die Position (i) scheint mir schwer haltbar zu sein. Gemäß der Position (ii) könnte ich Überzeugungen willentlich erwerben, indem ich verschiedene Mittel einsetze, um mich dazu zu bringen, etwas für wahr zu halten. Dies scheint zwar nicht unmöglich zu sein. Dennoch gibt es bislang keine verlässlichen Methoden, die mich dazu bringen könnten, eine bestimmte Proposition, zum Beispiel dass Spaghetti auf Bäu-

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men wachsen, für wahr zu halten. Auch dieser direkte doxastische Voluntarismus ist also schwer haltbar. Vertretbar ist hingegen ein indirekter doxastischer Voluntarismus bezüglich Überzeugungen in Bereichen, in denen es notorisch schwierig ist, die Wahrheit herauszufinden, etwa im Bereich der Religion oder Moral. Hier scheint es, dass wir indirekt Kontrolle auf unsere Überzeugungen ausüben können: Ich strenge mich an, nach Erkenntnisgründen zu suchen oder nicht, ich versuche die Gründe pro und contra abzuwägen oder nicht. Ich verkehre nur in Kreisen, die meine Überzeugungen teilen, lese nur Bücher, die mich in meinen Überzeugungen bestärken, etc. Auch Haltungen, die wir zum Teil erworben haben, können dazu führen, dass wir schnell von etwas überzeugt sind oder nicht. Schließlich dürften auch Emotionen und Neigungen, sowie unser Einfluss auf sie, eine Rolle bei der Überzeugungsbildung spielen. (5) Das Für-Wahr-Halten einer Proposition lässt Grade zu. Die Grade können mit Hilfe der subjektiven Wahrscheinlichkeit zwischen 0 und 1 angegeben werden. Manche nennen jedes Für-Wahr-Halten eine Überzeugung. Man kann aber das Wort „Überzeugung“ auch nur für hochgradiges Für-Wahr-Halten reservieren, wenn die subjektive Wahrscheinlichkeit weit mehr als 0,5 beträgt: etwa zwischen 0,8 und 1. In diesem Sinn werde ich es verwenden. Meine Explikation lautet also: Eine Person S ist genau dann überzeugt, dass p, wenn S es in hohem Grad für wahr hält, dass p. 2.3 Moralische Überzeugungen Was macht nun das Spezifische von moralischen Überzeugungen aus? Die naheliegende Antwort lautet: Es liegt an dem, was für wahr gehalten wird, am propositionalen Inhalt. Religiöse Überzeugungen haben religiösen Inhalt, ästhetische Überzeugungen ästhetischen, metaphysische Überzeugungen metaphysischen. Sicher, es mag schwierig sein, genau anzugeben, worin ein religiöser, ästhetischer, metaphysischer Inhalt besteht. Dennoch:

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Mir scheint, dass es der Inhalt ist, aus dem die Art der Überzeugung spezifiziert wird. Das Spezifische moralischer Überzeugungen ist der moralische Inhalt, die moralische Proposition. Moralische Propositionen beinhalten deontische Begriffe des moralischen Geboten-, Verboten-, Erlaubtseins, des moralischen Sollens, Nichtdürfens, Dürfens, oder wertende Begriffe des moralisch Richtigen und Falschen, des moralisch Guten und Schlechten, des moralisch Besseren und Schlechteren. Neben diesen „dünnen“ können auch „dicke“ wertende Begriffe wie „gerecht“, „bemitleidenswert“, „verabscheuenswürdig“, „grausam“, etc., Teil der moralischen Proposition sein.16 In moralischen Propositionen werden derartige Begriffe von Handlungstypen und Einzelhandlungen sowie von Haltungen, Motiven, Emotionen und Personen prädiziert. Moralische Propositionen können in Aussagesätzen folgender Art ausgedrückt werden: Es ist moralisch geboten, Notleidenden zu helfen. Es ist moralisch verboten, Menschen grundlos zu schaden. Es ist moralisch erlaubt, Langzeitkomatöse sterben zu lassen. Man soll gegebene Versprechen halten. Es ist moralisch gut, dass Anton sein Versprechen gehalten hat. Es ist moralisch schlecht, unter den gegebenen Umständen zu lügen. Was Anton tat, war ungerecht. Bertas Verhalten ist verabscheuenswürdig. Freilich ist die gegebene Bestimmung der moralischen Proposition nicht sehr erhellend, weil „moralisch“ mit „moralisch“ expliziert wird. Dennoch ist sie für meine Zwecke hier ausreichend.17 Als Stellvertreter für morali16 17

Zur Terminologie von „dünnen“ und „dicken“ moralischen Begriffen siehe: Williams 1985, 129. Eine präzise Analyse ist deshalb schwierig, weil die Prädikate des Geboten-, Verboten-, Erlaubtseins, des Sollens, Nichtdürfens, Dürfens, des Richtigen und Falschen, sowie des Guten und Schlechten und des Besseren und Schlechteren auch in nichtmoralischen Kontexten von Zuständen und Ereignissen, die keine Handlungen sind, aber auch von Handlungen und Handlungstypen ausgesagt werden, zum Beispiel: Man soll Marsrot nicht mit Zinnoberrot kombinieren; oder Diesen Zug darf man mit dem Läufer nicht machen; oder Man soll Orchideen nur selten

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sche Propositionen schreibe ich „pm“. Entsprechend lautet die Analyse des Begriffs der moralischen Überzeugung: Eine Person S ist genau dann überzeugt, dass pm, wenn S es in hohem Grad für wahr hält, dass pm. Diese kognitivistische Deutung ist zwar naheliegend, aber umstritten. Sie ist naheliegend, weil sie unserem alltäglichen Verständnis gerecht wird. Wenn eine Person den Satz äußert Es ist moralisch schlecht, Menschen zum Spaß zu foltern, so meint sie nicht einfach nur, dass sie es ablehnt, dass Menschen zum Spaß gefoltert werden. Sie meint, dass es schlecht ist, so zu handeln. Es wäre selbst dann schlecht, wenn alle dafür wären.18 Es ist auch sinnvoll zu sagen, dass der Satz Es ist moralisch schlecht, Menschen zum Spaß zu foltern wahr ist; und dass eine Person dies wissen kann.19 Wir verwenden derartige Sätze als Prämissen in Argumenten. Sie können verneint werden. Sie können in indirekte Kontexte eingebettet sein, zum Beispiel in Konditionalsätze folgender Art: Wenn es schlecht ist, Menschen zum Spaß zu foltern, dann ist es auch schlecht, den kleinen Bruder zu überreden, Menschen zum Spaß zu foltern. All dies spricht für eine kognitivistische Deutung. Aber eine solche Deutung ist, wie gesagt, umstritten. Es werden gewichtige Einwände gegen sie erhoben, denen ich mich nun stelle.

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düngen. Selbst Sätze wie Es ist erlaubt, Langzeitkomatöse sterben zu lassen sind nicht eindeutig moralisch. Die Handlung könnte bloß aufgrund der Gesetzgebung eines Landes erlaubt sein. Und ein Satz wie Man darf Fleisch essen kann moralisch oder nicht moralisch verwendet werden. Er kann so viel besagen wie Fleisch zu essen ist der Gesundheit nicht abträglich; er kann aber auch besagen: Es ist moralisch nicht falsch, Fleisch zu essen. Ein aussichtsreicher Versuch der Abgrenzung zwischen moralischen und nichtmoralischen Urteilen gelingt vielleicht anhand der von Immanuel Kant vorgeschlagenen Eigenschaften des Kategorischen und Universalisierbaren. Vgl. Schaber 2004, 18. Vgl. Kutschera 1982, 103.

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2.4 Einwände und Widerlegungen Einwand (1): Moralische Einstellungen sind handlungsmotivierend, Überzeugungen nicht. Daher müssen moralische Einstellungen etwas anderes sein als Überzeugungen im oben explizierten Sinn. Antwort auf Einwand (1): Dies stimmt nicht. Nehmen wir die Überzeugungen, dass es 12:00 Uhr ist, ich auf Bahnsteig drei stehe, dieser Zug da nach Rom fährt, etc. Niemand wird bezweifeln, dass es sich hierbei um Überzeugungen handelt. Diese leiten mich sehr wohl in meinem Handeln. Einwand (2): Aber, so wird unser Gegner weiter einwenden, moralische Einstellungen motivieren aus sich heraus, Überzeugungen nicht. Die Überzeugung, dass dieser Zug nach Rom fährt, motiviert nicht aus sich heraus zum Handeln, sondern nur im Zusammenhang mit einem Streben. Der Zusammenhang sieht in etwa folgendermaßen aus: (i) Anton will mit dem Zug nach Rom fahren. (ii) Anton ist überzeugt, dass dieser Zug nach Rom fährt. (iii) Anton will mit diesem Zug fahren. Auf die Frage: Warum sitzt Anton in diesem Zug? kann man daher antworten: Weil er nach Rom fahren will und überzeugt ist, dass dieser Zug nach Rom fährt. In die Handlungserklärung gehen Zielsetzung und Überzeugung von Anton ein. Moralische Einstellungen nehmen in einem praktischen Syllogismus den Platz (i) ein, Überzeugungen aber den Platz (ii). Daher müssen moralische Einstellungen etwas anderes sein als Überzeugungen im oben explizierten Sinn. Antwort auf Einwand (2): Stimmt es, dass Überzeugungen nicht aus sich heraus motivieren? Erklären wir nicht Handlungen manchmal ausschließlich durch die Überzeugungen einer Person? Ich nenne ein Beispiel: Warum hat Anton das Versprechen nicht gebrochen? Weil er überzeugt ist, dass man Versprechen nicht brechen darf.

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Vielleicht gehört ja gerade dies zu den Eigentümlichkeiten von moralischen Inhalten, dass sie motivieren, wenn sie in hohem Grad für wahr gehalten werden. Zumindest wird dies von manchen Motivationsinternalisten vertreten.20 Sie können sagen: (a) Wenn Person S überzeugt ist, dass pm, dann ist S dadurch dazu motiviert, der Überzeugung entsprechend zu handeln. Oder: (b) Wenn Person S überzeugt ist, dass pm, dann handelt S der Überzeugung entsprechend. Gegen (b) spricht die Erfahrung der Akrasie. (a) hingegen ist plausibel. Die Überzeugung, dass pm, ist eine Motivation, zu der noch andere, stärkere, hinzutreten können. Motivationsexternalisten bestreiten (a) und a fortiori auch (b). Ihnen zufolge motivieren Überzeugungen allein überhaupt nicht. Es bedarf immer eines Strebens, Wollens, oder Wünschens. Aber selbst wenn dies wahr wäre, würde daraus nicht folgen, dass in der Äußerung von Anton, es sei moralisch richtig, Versprechen zu halten, nicht eine Überzeugung moralischen Inhalts zum Ausdruck gebracht würde. Die moralische Überlegung könnte ja folgende Struktur haben: (i) (ii)

Anton will das tun, was moralisch richtig ist. Anton ist überzeugt, dass es moralisch richtig ist, Versprechen zu halten. (iii) Anton will Versprechen halten. Ob man nun also Motivationsinternalist oder -externalist ist: In beiden Fällen kann man die These verteidigen, dass moralische Einstellungen Überzeugungen im oben explizierten Sinn sind. 20

Die Verwendung der Ausdrücke „Internalismus“ und „Externalismus“ ist allein im Bereich der Ethik äußerst vielfältig und verwirrend. Es ist jeweils Acht zu geben, welche Thesen genau mit diesen Ausdrücken etikettiert werden. Zu einer Taxonomie siehe: Shafer-Landau 2003, 142-145.

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Einwand (3): Moralische Einstellungen haben eine andere Ausrichtung als Überzeugungen. Hat eine Person die moralische Einstellung, dass man nicht lügen soll, so möchte sie, dass nicht gelogen wird. Stellt sie fest, dass gelogen wird, so ändert sie ihre Einstellung nicht, sondern findet, dass die Welt sich ändern soll. Ist aber eine Person überzeugt, dass nicht gelogen wird, und stellt sie fest, dass gelogen wird, so ändert sie ihre Überzeugung. Während also Überzeugungen so ausgerichtet sind, dass sie den Tatsachen entsprechen sollten, sind moralische Einstellungen so ausgerichtet, dass die Tatsachen ihnen entsprechen sollten. Sie haben eine andere „direction of fit“, wie man sagt.21 Überzeugungen haben eine Geist-auf-Welt-Ausrichtung. Moralische Einstellungen hingegen haben eine Welt-auf-Geist-Ausrichtung. Daher müssen moralische Einstellungen etwas anderes sein als Überzeugungen im oben explizierten Sinn. Antwort auf Einwand (3): Wir möchten, dass unseren moralischen Einstellungen gemäß gehandelt wird. Und wir ändern unsere moralischen Einstellungen nicht ohne Weiteres, wenn wir feststellen, dass andere Menschen oder gar wir selbst nicht diesen Einstellungen entsprechend handeln. Dies ist richtig. Allerdings folgt daraus nicht, dass moralische Einstellungen keine Überzeugungen sein können. Sie können präskriptiv sein und dennoch eine Geist-auf-Welt-Ausrichtung haben. Die Welt, die man zu erfassen meint, wäre freilich keine nichtmoralische, sondern eine moralische Welt. Sollten wir feststellen, dass die moralischen Dinge anders liegen als wir dachten, so werden wir auch unsere moralischen Überzeugungen entsprechend ändern. Sollten wir zum Beispiel feststellen, dass wir irrtümlicherweise gemeint haben, man dürfe unter keinen Umständen lügen, so werden wir unsere Meinung aufgeben bzw. ändern. Moralische Überzeugungen können also wie alle anderen Überzeugungen auch eine „Geist-auf-Welt-Ausrichtung“ haben, wenn nur die „Welt“ nicht zu klein gedacht wird. Einwand (4): Moralische Einstellungen haben präskriptiven Charakter. Überzeugungen hingegen haben deskriptiven Charakter; sie enthalten Beschreibungen der Welt. Auf die Frage „Was soll ich tun?“ erwarte ich nicht 21

Die Formulierung findet sich bei Anscombe 1958.

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eine Beschreibung über die Beschaffenheit der Welt, sondern Handlungsorientierung.22 Daher sind moralische Einstellungen keine Überzeugungen im oben explizierten Sinn. Antwort auf Einwand (4): Es stimmt, auf die Frage „Was soll ich tun?“ erwarte ich keine Beschreibungen über nichtmoralische Weltzustände. Ich kann aber sehr wohl eine moralische Wahrheit erwarten. Der Einwand setzt zudem voraus, dass alle präskriptiven Inhalte in Imperativform auftreten. Doch dies ist meines Erachtens nicht richtig. Imperative sind nur eine Form von Präskriptionen. Bei Äußerungen in Imperativform wie „Tue dies!“, „Unterlass jenes!“ stellt sich die Frage, ob sie wahr oder falsch sind, nicht. Bei präskriptiven Äußerungen der Form „Dies ist zu tun“, „Man soll dies tun“, hingegen, stellt sich die Frage der Wahrheit ebenso wie bei folgenden Äußerungen: „Es ist geboten, dies zu tun“, „Es ist richtig, dies zu tun“, „Es ist gut, diese Handlung zu vollziehen“, „Diese Handlung ist gerecht“, etc. Ich habe also keinen stichhaltigen Grund gegen die Annahme gefunden, dass es moralische Überzeugungen im oben explizierten Sinn gibt. Solche moralischen Überzeugungen sind wahr oder falsch, genauer: der moralische Inhalt solcher Überzeugungen ist wahr oder falsch. Aber was meint man genau, wenn man sagt: „Eine moralische Überzeugung ist wahr“? Wie ist die Rede von der Wahrheit moralischer Inhalte zu verstehen?

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Siehe: Scarano 2001, 132.

3 Moralische Wahrheit Ziel dieses Kapitels ist es, zwei Wahrheitsverständnisse in der Ethik vorzustellen und zu diskutieren. Ich vertrete die These, dass wichtige Gründe, die gegen eine realistische Wahrheitsauffassung von moralischen Inhalten ins Feld geführt werden, entkräftet werden können.23 3.1 Zwei Wahrheitsbegriffe Häufig trifft man auf die Meinung, dass moralische Propositionen nicht im selben Sinn wahr seien wie nichtmoralische Propositionen. Vertreter dieser Ansicht können auf eine lange Tradition verweisen, in welcher der theoretische Bereich vom praktischen Bereich streng geschieden wurde.24 Die Unterscheidung theoretisch/praktisch wird dabei auf unterschiedliche Größen bezogen: auf Philosophie, Vernunft, Sätze, Wissen, Wahrheit. Jedoch ist nicht von vornherein klar, was die Qualifizierung „praktisch“ jeweils besagt. Eine Antwort könnte lauten: Praktisch sind Philosophie, Vernunft, Sätze, Wissen, Wahrheit, wenn sie auf Handlungen bezogen sind. Allerdings ist diese Bestimmung zu weit. Denn Handlungstheorien beziehen sich auf Handlungen und werden dennoch zur theoretischen Philosophie gerechnet. Eine zweite Antwort könnte lauten:

23

24

Die Frage nach dem Wahrheitsmacher von moralischen Aussagen werde ich hier nicht behandeln. Diese Frage gehört zur moralischen Metaphysik und muss in einer moralischen Erkenntnistheorie nicht behandelt werden. Mir geht es hier vielmehr um die Klärung einer Voraussetzung für moralische Wahrmacher, nämlich, ob moralische Propositionen in einem realistischen Sinn wahr sein können. Zur Problematik dieser Unterscheidung siehe: Puntel 2004, 301-304; Niederbacher 2006, 276.

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Praktisch sind Philosophie, Vernunft, Sätze, Wissen, Wahrheit, wenn sie auf ein Handeln abzielen; theoretisch hingegen, wenn sie auf die Wahrheit abzielen. Aber auch diese Antwort ist problematisch. Ich kann zum Beispiel Metaphysik, ein theoretisches Fach, mit dem Ziel betreiben, Geld zu verdienen. Ich kann Biologie, ein theoretisches Fach, mit dem Ziel betreiben, Lebewesen zu manipulieren. Und umgekehrt kann ich Metaethik und vielleicht sogar normative Ethik, traditionell praktische Fächer, mit dem Ziel betreiben, einfach die Wahrheit herauszufinden. Wie dem auch sei, ich konzentriere mich hier nur auf eine Größe, nämlich Wahrheit, und frage: Was bedeutet die Unterscheidung theoretisch/praktisch, wenn sie auf Wahrheit bezogen wird? Schauen wir uns zunächst den locus classicus zu dieser Frage an. Aristoteles schreibt in der Nikomachischen Ethik (EN 1139a21-30): Was beim Denken Bejahung und Verneinung ist, ist beim Streben das Aufsuchen und Meiden. Also muss, da die charakterliche Tugend eine sich in Vorsätzen äußernde Disposition und der Vorsatz ein überlegtes Streben ist, eben deshalb die Überlegung wahr und das Streben richtig sein, wenn der Vorsatz gut sein soll, und was der denkende Teil bejaht und der strebende Teil verfolgt, muss dasselbe sein. Dies ist das praktische Denken und die praktische Wahrheit. Beim Denken, das betrachtend, das heißt weder handelnd noch herstellend ist, besteht das „auf gute Weise“ oder „auf schlechte Weise“ im Wahren oder Falschen (dies [zu erkennen] ist schließlich die Funktion eines jeden denkenden Teils), während es beim praktischen Denken in der Wahrheit liegt, die mit dem richtigen Streben übereinstimmt.25

Man könnte diese Stelle folgendermaßen deuten: „Wahrheit“ wird im Kontext des theoretischen Denkens in einem anderen Sinn verwendet als im Kontext des praktischen Denkens. Wir haben es mit zwei Wahrheitsbegriffen zu tun. Franz Dirlmeiers Übersetzung scheint auf einer solchen Deutung zu beruhen. Er übersetzt den Schlussteil des Zitats folgendermaßen: Bei der spekulativen Denkbewegung, die nicht auf ein Handeln und nicht auf ein Hervorbringen zielt, ist es anders: da bedeutet „gut“ und „schlecht“ einfach 25

Diese Übersetzung stammt aus: Aristoteles, Nikomachische Ethik, übersetzt von Ursula Wolf. Reinbek bei Hamburg, 2006, 195.

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„wahr“ und „falsch“ – denn dies ist ja die Leistung alles spekulativen Verhaltens. Bei einem denkerischen Verhalten dagegen, welches auf Handeln zielt, liegt die „Wahrheit“ in der Übereinstimmung mit dem richtigen Streben.26

Diese Übersetzung ist jedoch meines Erachtens irreführend. Aristoteles sagt nicht, dass praktische Wahrheit in der Übereinstimmung mit dem richtigen Streben besteht. Er sagt nicht, dass „Wahrheit“ im praktischen Bereich etwas anderes bedeutet als im theoretischen Bereich. Vielmehr sagt er Folgendes: Während für einen habitus theoretischen Denkens der gute Zustand einfach darin besteht, die Wahrheit zu erreichen, besteht der gute Zustand für den habitus praktischen Denkens, d. i. für Klugheit, nicht nur darin, die Wahrheit zu treffen, sondern die Wahrheit in Übereinstimmung mit richtigem Streben zu treffen. Eine weitere Deutung dieser Aristotelesstelle findet man bei Elizabeth Anscombe. Sie schreibt: We now approach the great question: what does Aristotle mean by “practical truth”? He calls it the good working, or the work, of practical judgement; and practical judgement is judgement of the kind described, terminating in action. It is practical truth when the judgements involved in the formation of the ‘choice’ leading to the action are all true; but the practical truth is not the truth of those judgements. For it is clearly that ‘truth in agreement with right desire’ [...] which is spoken of as the good working [...], or the work [...] of practical intelligence. This is brought about – i.e. made true – by action [...].27

Anscombe bestreitet zwar nicht, dass die Urteile im praktischen Syllogismus wahr sein müssen. Aber sie meint, dass praktische Wahrheit nicht in der Wahrheit dieser Urteile besteht und auch nicht in der Konklusion, die man daraus zieht. Sie meint also, dass „Wahrheit“ im praktischen Bereich etwas anderes bedeutet als im theoretischen Bereich. Und sie scheint die Auffassung zu vertreten, dass der Wahrheitsmacher für praktische Wahrheit die Handlung selbst sei. 26 27

Aristoteles: Werke in deutscher Übersetzung. Ethica Nicomachea / Nikomachische Ethik, übersetzt von Franz Dirlmeier. Darmstadt, 1956, 123. Anscombe 1981, 77. Zur Kritik an Anscombes Interpretation siehe auch: Weidemann 2010, 59. Weidemann 2010, 60, deutet „praktische Wahrheit“ dann folgendermaßen: „Die praktische Wahrheit besteht somit darin, dass das, wovon mein Verstand mir sagt, dass ich es in einer gegebenen Situation tun soll, genau das ist, was ich in dieser Situation tun muss, um in dieser Situation sittlich gut zu handeln.“ Diese Deutung würde einer realistischen Auffassung von praktischer Wahrheit nicht widersprechen.

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Meines Erachtens spricht Aristoteles an der oben zitierten Stelle aber nicht über den Begriff der praktischen Wahrheit. Er trifft auch keine Aussage über Wahrheitsbedingungen oder Wahrheitsmacher. Vielmehr scheint er eine ethische und eine epistemologische Bemerkung zu machen. Die ethische Bemerkung lautet: Der gute Zustand besteht bei dem habitus des praktischen Denkens nicht einfach darin, die Wahrheit zu treffen, sondern die Wahrheit in Übereinstimmung mit dem richtigen Streben zu treffen. Bei tugendhaften Personen gibt es Harmonie zwischen Streben und Erkenntnis. Die epistemologische Bemerkung lautet: Man kann im praktischen Bereich die Wahrheit nur dann erkennen, wenn das Streben richtig ist. So schreibt Aristoteles etwas später (1140b14-19): Es wird ja nicht jedes Urteil durch Lust oder Unlust verdorben oder verdreht, zum Beispiel nicht dasjenige, dass die Winkelsumme im Dreieck zwei rechte Winkel beträgt oder nicht, sondern nur solche Urteile, die in den Bereich des Handelns gehören. Denn die Ursprünge des Getanen liegen in ihrem Zweck und in ihrem Grund. Demjenigen aber, der durch Lust oder Unlust verdorben ist, zeigt sich sofort der Ursprung nicht mehr, und auch nicht, dass man zu diesem Zweck oder aus diesem Grund alles wählen und tun soll – denn die Schlechtigkeit verdirbt den Ursprung.28

Über die Aristotelesexegese kann man geteilter Meinung sein. Nun wird die These von den zwei Wahrheitsbegriffen auch unabhängig von Aristoteles vertreten. So fasst Jürgen Habermas Wahrheit im Fall von nichtmoralischen bzw. „deskriptiven“ Überzeugungen realistisch und im Fall von moralischen Überzeugungen epistemisch auf. Im ersten Fall spricht er von „Wahrheit“, im zweiten Fall bevorzugt er den Ausdruck „Richtigkeit“. Er schreibt: „Wahrheit“ ist ein rechtfertigungstranszendenter Begriff, der auch nicht mit dem Begriff ideal gerechtfertigter Behauptbarkeit zur Deckung gebracht werden kann. Er verweist vielmehr auf Wahrheitsbedingungen, die gewissermaßen von der Realität selbst erfüllt werden müssen. Demgegenüber geht der Sinn von „Richtigkeit“ in ideal gerechtfertigter Akzeptabilität auf.29 [...] Die Gültigkeit einer normativen Aussage verstehen wir nicht im Sinne des Bestehens eines Sachverhalts, sondern als Anerkennungswürdigkeit einer entsprechenden Norm, die wir unserer Praxis zugrunde legen sollen.

28 29

Diese Übersetzung stammt wieder aus: Aristoteles, Nikomachische Ethik, übersetzt von Ursula Wolf. Reinbek bei Hamburg, 2006, 200. Habermas 1999, 284-285.

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[...] Die ideal gerechtfertigte Behauptbarkeit einer Norm weist nicht – wie im Fall eines rechtfertigungstranszendenten Wahrheitsanspruchs – über die Grenzen des Diskurses hinaus auf etwas hin, das unabhängig von der festgestellten Anerkennungswürdigkeit „Bestand“ haben könnte.30

Dieser Auffassung zufolge wird der Wahrheitsbegriff innerhalb und außerhalb der Moral nicht univok verwendet.31 Moralische Wahrheit sei etwas anderes als nichtmoralische Wahrheit. Moralische Wahrheit bestehe nicht in der Beziehung einer moralischen Proposition zu einem irgendwie außerhalb liegenden, bestehenden Sachverhalt, sondern in ihrer epistemischen Stärke innerhalb unserer Gedanken, Erfahrungen, Diskurse. Je nach epistemischer Wahrheitsauffassung ist eine moralische Proposition genau dann wahr, - wenn sie mit anderen für wahr gehaltenen Propositionen kohäriert, - oder wenn sie unter idealen epistemischen Bedingungen akzeptiert würde, - oder wenn alle am idealen Diskurs Beteiligten sie anerkennen, - oder wenn eine Person, die umfassend informiert ist und emotional angemessen reagiert, sie für wahr hält, usw.32 Ich nenne ein Beispiel, das Habermas’ Unterscheidung der beiden Wahrheitsbegriffe erläutert: Bertas Überzeugung, dass Schnee weiß ist, ist genau dann wahr, wenn Schnee weiß ist. Bertas moralische Überzeugung hingegen, es sei schlecht, dass Anton neulich gelogen hat, ist genau dann wahr, wenn Berta unter idealen epistemischen Bedingungen gerechtfertigt ist, es für wahr zu halten, es sei schlecht, dass Anton neulich gelogen hat. Aber warum – so frage ich – wird diese These vom zweifachen Wahrheitsbegriff vertreten? Warum kann man moralische Wahrheit nicht auch realistisch 30 31

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Habermas 1999, 297. In einer neuen Studie geht Tatjana Tarkian zwar von einem univoken Wahrheitsbegriff aus, nämlich von einem deflationären, vertritt dann aber die Überzeugung, dieser Wahrheitsbegriff könne in verschiedenen Diskursbereichen durch verschiedene Eigenschaften realisiert werden. Im moralischen Diskursbereich sei diese Eigenschaft Superassertibilität. Da trifft sich ihr Vorschlag mit dem von Habermas. Superassertibilität expliziert sie im Sinn des Kohärentismus. Siehe dazu: Tarkian 2009, 200-210. Zur Gegenüberstellung und Diskussion dieser Wahrheitskonzeptionen siehe: Alston 1996.

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verstehen? Warum sollte man nicht die Auffassung vertreten: Bertas moralische Überzeugung, es sei schlecht, dass Anton neulich gelogen hat, ist genau dann wahr, wenn es schlecht ist, dass er neulich gelogen hat? 3.2 Auseinandersetzung mit epistemischen Wahrheitsauffassungen Vertreter von epistemischen Wahrheitsauffassungen nennen für ihre Positionen eine Reihe von Argumenten, denen ich hier nicht nachgehe.33 Ich werde lediglich fragen: Was könnte aus der Perspektive der Moralphilosophie für diese Theorien sprechen? (1) Vertreter epistemischer Wahrheitsauffassungen in der Ethik könnten sagen: Unsere Wahrheitsauffassung ist von Vorteil, denn sie wird der Semantik präskriptiver Sätze gerecht. Moralische Sätze drücken nicht das Bestehen von Sachverhalten aus, sondern die Verbindlichkeit von Handlungsweisen. Moralische Sätze haben zum Inhalt, wie „Personen sich verhalten sollen, und nicht, wie es sich mit den Dingen verhält“.34 Zu beschreiben ist etwas anderes als vorzuschreiben. Beschrieben werden Tatsachen in der Welt. Solche Beschreibungen können in einem realistischen Sinn wahr sein. Wer aber etwas vorschreibt, beschreibt keine Tatsachen in der Welt. Daher können präskriptive Aussagen nicht in einem realistischen Sinn wahr sein. Dieses Argument kann von zwei Seiten her kritisiert werden. Zum einen kann man seine semantischen Voraussetzungen in Frage stellen. Es stützt sich nämlich auf eine bestimmte Auffassung der Semantik moralischer Äußerungen, die ich bereits im zweiten Kapitel erläutert und kritisiert habe. Zum anderen kann man die ontologischen Voraussetzungen dieses Arguments in Frage stellen. Es stützt sich nämlich auf eine naturalistische Ontologie, die besagt: Die Welt ist alles, was naturalistisch der Fall ist. Dies leuchtet aber nicht von sich aus ein; man müsste schon triftige Argumente dafür ins Feld führen.

33 34

Dazu gibt es bereits eine Fülle ausgezeichneter Literatur. Siehe: Alston 1996; Brendel 1999. Siehe: Habermas 1999, 273.

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(2) Vertreter epistemischer Wahrheitsauffassungen in der Ethik könnten auch sagen: Unsere Wahrheitsauffassung ist von Vorteil. Denn sie erlaubt es, konsistenterweise anzunehmen, dass moralische Überzeugungen wahrheitsfähig und manche von ihnen auch wahr sind, ohne annehmen zu müssen, dass es moralische Tatsachen gibt, die sie wahr machen. Die Annahme moralischer Tatsachen sei nämlich problematisch. Dies habe John L. Mackie mit dem Argument aus der Absonderlichkeit gezeigt.35 Das Argument verläuft ungefähr folgendermaßen: Begriffliche Prämisse: Gäbe es objektive moralische Werte, so müsste es sich dabei um objektive präskriptive Entitäten handeln, Entitäten, welche es in sich haben, vollzogen werden zu sollen. Diese zu erkennen würde eine Person mit zwei Dingen ausstatten: mit einer Überzeugung darüber, was richtig ist, und auch mit einer starken Motivation, entsprechend zu handeln. Existenzielle Prämisse: Nun gebe es aber keine Entitäten, welche diese Eigenschaft haben. Mackie gibt zwei Argumentationsstränge für diese Prämisse. Der erste Strang besteht aus metaphysischen Überlegungen: (i) Keine Entitäten, Qualitäten, Relationen unserer Welt würden die beschriebene Eigenschaft aufweisen. (ii) Andere metaphysische Entitäten wie Substanzen, Zahlen, Identität, Verschiedenheit, etc. ließen sich auf empiristischer Grundlage erklären. (iii) Moralische Tatsachen müssten irgendwie mit natürlichen Tatsachen zusammenhängen. Die moralische Tatsache, dass eine Handlung schlecht ist, müsste irgendwie auf die natürliche Tatsache, dass eine Person einer anderen zum Spaß Schmerzen zufügt, folgen oder auf ihr supervenieren: Die Handlung ist schlecht, weil durch sie einer Person willkürlich Schmerz zugefügt werden. „Aber,“ – so fragt Mackie – „was in der Welt wird durch dieses ‚weil’ bezeichnet?“36 Der zweite Argumentationsstrang besteht aus erkenntnistheoretischen Überlegungen: 35 36

Siehe: Mackie 1977, 38-41; vgl. dazu auch die Analysen von Schaber 1997, 226237; Sinnott-Armstrong 2006, 47. Siehe: Mackie 1977, 44.

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Die Erkenntnis derartiger Entitäten liege völlig im Dunkeln. Es müsste sich um eine Erkenntnis handeln, durch die wir erfassen, dass etwas zu tun richtig/falsch ist und durch die wir motiviert werden, entsprechend zu handeln. Des Weiteren müsste es sich um eine Erkenntnis handeln, durch die wir zugleich die natürlichen Tatsachen, die moralischen Tatsachen und die Beziehung zwischen den beiden erfassen. (ii) Die üblichen Erkenntnisweisen wie Sinneswahrnehmung, Introspektion, Aufstellen und Bestätigen von erklärenden Hypothesen, Schlussfolgerungen, logische Konstruktionen, Begriffsanalysen und Kombinationen davon, könnten keine derartige Erkenntnis liefern. Wir hätten also keinen guten Grund auf der Grundlage unserer üblichen Erkenntnisweisen anzunehmen, dass objektive moralische Werte existieren. (iii) Eine besondere Art von Erkenntnis wie moralische Wahrnehmung oder Intuition dafür anzunehmen, sei nicht überzeugend. Konklusion: Erstens gebe es also keine objektiven moralischen Werte und keine moralischen Tatsachen. Und zweitens könnten moralische Überzeugungen folglich auch nicht wahr sein. Soweit der Versuch einer Rekonstruktion von Mackies Absonderlichkeitsargumenten. Vertreter eines epistemischen Wahrheitsbegriffs ziehen den ersten Schluss, aber nicht den zweiten. Sie sagen mit Mackie, es gebe keine moralischen Tatsachen draußen in der Welt, die unsere moralischen Überzeugungen wahr machen. Aber sie sagen gegen Mackie, dass moralische Überzeugungen dennoch wahr sein können. Nur aus einem realistischen Wahrheitsverständnis heraus folge, dass moralische Überzeugungen nicht wahr sein können, aus einem epistemischen Wahrheitsverständnis heraus hingegen nicht. Allerdings sind Mackies Absonderlichkeitsargumente gegen die Annahme von moralischen Tatsachen auch nicht unproblematisch. In der begrifflichen Prämisse geht er davon aus, dass moralische Tatsachen intrinsisch normativ sind. Weiters geht er von einem Motivationsinternalismus aus, wonach moralische Überzeugungen von sich aus motivieren. Beide Annahmen sind zwar nicht unplausibel, aber auch nicht unumstritten. Es gibt durchaus Alternativen zu diesen Thesen. Ich erwähne dies nur, gehe

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aber nicht weiter auf die Debatte ein. Problematischer scheinen mir die Begründungen für die existenzielle Prämisse. Die metaphysische Begründung der existenziellen Prämisse hängt zum einen von Mackies naturalistischer bzw. empiristischer Auffassung der Wirklichkeit ab. Relativ zu einer naturalistischen Weltsicht müssen alle Entitäten, die nicht naturalistisch sind oder sich nicht auf naturalistische Entitäten zurückführen lassen, absonderlich erscheinen.37 Die Frage lautet, ob diese naturalistische Weltsicht richtig ist. Zweitens folgert er aus der Annahme, dass wir die Supervenienzbeziehung zwischen natürlichen und moralischen Tatsachen nicht verstehen, dass es keine moralischen Tatsachen geben kann. Nun ist es fraglich, ob diese Supervenienzbeziehung für uns wirklich so mysteriös ist. Schenken wir Mackie einmal diese Annahme. Dann folgt jedoch noch immer nicht, dass sie nicht bestehen kann und dass es keine moralischen Tatsachen gibt. Es gibt viele Supervenienzbeziehungen, die wir noch nicht verstehen, zum Beispiel die Beziehung zwischen physischen und biologischen Tatsachen oder zwischen physischen und mentalen Tatsachen. Daraus folgern wir aber nicht ohne Weiteres, dass es keine biologischen oder mentalen Tatsachen gibt.38 Auch die erkenntnistheoretische Begründung der existenziellen Prämisse leuchtet mir nicht ein. Erstens nimmt Mackie an, dass man superveniente Tatsachen nur dann erkennen kann, wenn man die zugrundeliegenden Eigenschaften und das Verhältnis der beiden zueinander erkennt. Doch dies scheint im Allgemeinen falsch zu sein. Angenommen, die mentale Tatsache, dass ich mich langweile, superveniert auf der physischen Tatsache pT. Um zu erkennen, dass ich mich langweile, muss ich weder die physische Tatsache pT erkennen, noch die Beziehung zwischen dieser und meinem Zustand, gelangweilt zu sein.39 Zweitens: Wir sind durchaus in der Lage, ein Bild davon zu zeichnen, wie wir zu unseren moralischen Überzeugungen gelangen. Dies ist keineswegs so rätselhaft, wie Mackie es scheinen lässt. Dazu muss man kein eigenes okkultes Vermögen annehmen, das über unsere allgemeinen kognitiven und rationalen Fähigkeiten hinausgeht. Bei der moralischen Überzeugungsbildung können übliche 37 38 39

Vgl. dazu die Kritik von Audi 1997, 101, und Puntel 2004, 326-327. Siehe: Sinnott-Armstrong 2006, 50. Vgl. dazu: Lemos 2002, 492.

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Erkenntnistheorie moralischer Überzeugungen

Erkenntnisweisen involviert sein: Wahrnehmung, Gedächtnis, Introspektion, induktives, deduktives bzw. vergleichendes Schlussfolgern, etc. Die entscheidenden Fragen lauten, ob wir dadurch zu gerechtfertigten moralischen Überzeugungen und zu moralischem Wissen gelangen. Diese erkenntnistheoretischen Fragen sind sicher schwer zu beantworten. Aber es handelt sich hierbei nicht um spezifisch ethische Probleme. In anderen Bereichen sind diese Fragen ebenfalls schwer zu beantworten. Mackies Überlegungen sind also keineswegs zwingend. Wir müssen weder die Annahme aufgeben, dass es moralische Tatsachen gibt, noch die Annahme, dass der Wahrheitsbegriff in der Moral realistisch verstanden werden kann. (3) Vertreter epistemischer Wahrheitsauffassungen in der Ethik könnten ferner sagen: Die Annahme von moralischen Tatsachen sei deshalb abzulehnen, weil sie dem Verständnis unserer moralischen Urteilsfindung nicht gerecht werde. Wir sind aufgefordert, unser Handeln zu rechtfertigen. Dies geschehe in einem argumentativen Prozess, der letztlich unabgeschlossen sei. Es könnten immer neue Gesichtspunkte in die moralische Urteilsfindung eingebracht werden. Dies habe etwas Konstruktives an sich. Und dies stehe in Spannung zur Auffassung von vorgegebenen moralischen Fakten, die wir einfach wahrnehmen, so wie wir etwa wahrnehmen, dass eine Pflanze Wasser braucht.40 Dieser Einwand überzeugt mich aus zwei Gründen nicht: Erstens wird hier die Erkenntnisfrage mit der metaphysischen Frage vermengt. Es ist eine Sache, wie wir in der moralischen Urteilsfindung vorgehen, und es ist eine andere Sache, was der Sachverhalt ist, der in einem moralischen Urteil als bestehend behauptet wird. Zweitens muss man die Annahme von moralischen Fakten erkenntnistheoretisch nicht mit dem perzeptiven Modell koppeln. Die Erkenntnis moralischer Tatsachen kann durchaus äußerst anspruchsvolle Überzeugungsbildungsprozesse involvieren, Prozesse, die auch Raum für Gründe und Gegengründe lassen. (4) Vertreter epistemischer Wahrheitsauffassungen in der Ethik könnten schließlich sagen: Die Annahme einer moralischen Wirklichkeit, mit der 40

Vgl. dazu: Tarkian 2009, 158: „Moralische Gründe als objektive Sachverhalte zu verstehen, heißt die produktive Dimension moralischer Begründung zu verkennen.“ Sie setzt dieses Argument zwar gegen den moralischen Nonnaturalismus ein, es betrifft aber jeden robusten moralischen Realismus.

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unsere moralischen Überzeugungen übereinstimmen, ist inkohärent. Wir kommen nie zu dem Punkt, an dem wir direkten Zugang zu dieser Wirklichkeit haben. Wir können aus dem Bereich unserer Überzeugungen nie hinausgelangen. Wir erreichen nie die von Realisten angenommene andere Seite. Wir sind in der moralischen Auseinandersetzung immer auf Gründe angewiesen. Eine Überzeugung ist daher genau dann wahr, wenn sie ideal begründet ist. Dieser Begründungsversuch hält aber einer kritischen Prüfung nicht stand. Erstens haben wir auch im Fall von vielen nichtmoralischen Überzeugungen keinen direkten Zugang zur Wirklichkeit. Die Konsequenz müsste dann sein, generell eine epistemische Wahrheitsauffassung anzunehmen. Für die Begründung eines äquivoken Wahrheitsbegriffs – eines realistischen im Bereich von nichtmoralischen Überzeugungen, eines epistemischen im Bereich von moralischen Überzeugungen – reicht dieser Versuch also nicht. Zweitens, auch wenn es stimmt, dass wir keinen direkten Zugang zur moralischen Wirklichkeit haben, so ist es dennoch sinnvoll und richtig, zwischen der Wahrheit von Propositionen und dem epistemischen Status des Für-Wahr-Haltens dieser Propositionen zu unterscheiden. Es kann sein, dass jemand gute Gründe dafür hat, es für wahr zu halten, dass p, und p kann dennoch falsch sein. Umgekehrt ist es auch denkbar, dass es wahr ist, dass p, obwohl niemand es gerechtfertigterweise für wahr hält, dass p. Es mag sein, dass es sehr viele wahre Propositionen gibt, die niemand für wahr hält, geschweige denn, gerechtfertigterweise für wahr hält. Da die Argumente, die zur Annahme eines epistemischen Wahrheitsverständnisses in der Ethik führen, entkräftet werden können, ist es durchaus nicht abwegig anzunehmen, dass moralische Propositionen im selben Sinn wahr sein können wie nichtmoralische Propositionen, und zwar in einem realistischen Sinn.

4 Gründe für Überzeugungen Das Ziel dieses Kapitels besteht darin, die allgemeinen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen offenzulegen, von denen ich ausgehe.41 In Übereinstimmung mit vielen anderen Theoretikern nehme ich an, dass eine Überzeugung, die auf angemessenen Gründen beruht, eine gerechtfertigte Überzeugung ist.42 Oder anders gesagt: Eine Person ist genau dann gerechtfertigterweise überzeugt, dass p, wenn ihre Überzeugung, dass p, auf angemessenen Gründen beruht. Diese Bestimmung lässt noch viel offen. Die Auseinandersetzungen beginnen, sobald man fragt: Was sind Gründe für Überzeugungen? Wann sind derartige Gründe angemessen? Was heißt es, dass die Überzeugung auf diesen Gründen beruhen muss? 4.1 Epistemische Gründe Der Ausdruck „Gründe“ wird hier in einem weiten Sinn verwendet.43 Als Gründe für Überzeugungen verstehe ich all jene Instanzen im Geist einer Person, auf denen Überzeugungen beruhen, die Überzeugungen hervorbringen und erhalten, und die den epistemischen Status von Überzeugun-

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42 43

Den Großteil meiner erkenntnistheoretischen Ansichten, die ich in diesem Kapitel entfalte, habe ich in der Auseinandersetzung mit dem Werk von William Alston erworben. Bekanntlich hat sich Alston in seinen letzten Jahren vom Projekt verabschiedet, notwendige und zusammen hinreichende Bedingungen dafür ausfindig zu machen, dass eine Überzeugung gerechtfertigt ist. Ich werde dennoch von Rechtfertigung sprechen. Mir scheint, dass gerade jene Eigenschaft, die Alston 2005 in seinem Buch Beyond “Justification“. Dimensions of Epistemic Evaluation erkenntnismäßig interessant findet, genau damit zusammenfällt, was er früher unter dem Stichwort „Rechtfertigung“ zu explizieren versuchte. Vgl. Alston 1989a, 227; Swinburne 2001, 152. Im Unterschied zu einer engen Verwendung, wonach Gründe lediglich jene Instanzen sind, welche in die Tätigkeit des Begründens von Überzeugungen eingehen können.

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gen bestimmen. Derartige Gründe werden „epistemische Gründe“, kurz „E-Gründe“ genannt.44 4.1.1 E-Gründe sind Gründe für Überzeugungen E-Gründe für Überzeugungen sind abzugrenzen von Gründen für Handlungen und von Gründen für Propositionen. E-Gründe sind keine Handlungsgründe. Als Handlungsgründe können Zielsetzungen fungieren, wie folgendes Beispiel zeigt: Anton: „Warum hast du Cäsar besucht?“ Berta: „Weil ich dringend Geld benötigte.“ Mit ihrer Antwort drückt Berta eine Zielsetzung aus, die sie durch ihren Besuch zu erreichen glaubte. Derartige Gründe sind keine E-Gründe. Nun können aber – zumindest nach Ansicht von Motivationsinternalisten – auch Überzeugungen als Handlungsgründe fungieren, wie folgendes Beispiel zeigt: Anton: „Warum hast du ihn angelogen und so dein Geldproblem gelöst?“ Berta: „Weil ich überzeugt bin, dass man in Notsituationen lügen darf.“ Mit ihrer Antwort drückt Berta eine moralische Überzeugung aus. Diese Überzeugung scheint ihr Handlungsgrund gewesen zu sein. Obwohl es sich um eine Überzeugung handelt, haben wir es klarerweise nicht mit einem EGrund zu tun. Ein E-Grund wäre etwas, worauf Bertas Überzeugung beruht, wie folgende Gesprächsfortsetzung zeigt: Anton: „Warum glaubst du, dass man in Notsituationen lügen darf?“ Berta: „Weil die Welt sonst noch ungerechter wäre.“ Mit ihrer Antwort drückt Berta eine weitere Überzeugung aus, auf welcher ihre Überzeugung, dass man in Notsituationen lügen darf, beruht. Dies ist

44

Zur Ontologie von Gründen für Überzeugungen siehe: Turri 2009.

Gründe für Überzeugungen

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ein Beispiel für einen E-Grund. E-Gründe sind Gründe für Überzeugungen.45 E-Gründe sind auch von Gründen für Propositionen abzugrenzen. Erkenntnistheorie dreht sich nicht in erster Linie um logische Beziehungen zwischen Propositionen. Sie fragt nicht, ob eine Proposition per se begründet, gerechtfertigt, begründbar oder ableitbar ist. Vielmehr dreht sich Erkenntnistheorie in erster Linie um die Beziehung zwischen Gründen und Überzeugungen von einzelnen Personen. Dagegen könnte man einwenden: Wenn die Überzeugung, dass p, durch die Überzeugungen, dass q und dass r deduktiv gerechtfertigt ist, dann ist es doch die deduktive Beziehung zwischen den Propositionen p, q und r, welche die Rechtfertigung leistet. Es sollten also die Beziehungen der Propositionen zueinander untersucht werden, nicht die Beziehungen zwischen Gründen und Überzeugungen. Dennoch – so meine Antwort – ist eine Person nur dann berechtigt, es für wahr zu halten, dass p, wenn sie den deduktiven Schluss gezogen hat oder wenn in ihr ein Prozess stattgefunden hat, der von den Überzeugungen, dass r und dass q, zur Überzeugung, dass p, geführt hat. Dies ist leicht zu sehen, wenn man sich zwei Personen vorstellt, Anton und Berta, die beide davon überzeugt sind, dass p. Nehmen wir an, Anton hält es für wahr, dass p, weil Anton einen deduktiven Schluss gezogen hat; Berta hingegen hält es für wahr, dass p, weil Berta davon geträumt hat. Wir würden sagen: Nur Anton hält es gerechtfertigterweise für wahr, dass p, Berta hingegen nicht, obwohl auch Berta den deduktiven Schluss hätte ziehen können. Ferner kann man sich ein und dieselbe Person Anton vorstellen, welche sowohl zum Zeitpunkt t1 als auch zum Zeitpunkt t2 überzeugt ist, dass p. Es ist leicht möglich, dass Anton zum Zeitpunkt t1 die Überzeugung, dass p, nicht gerechtfertigterweise vertritt, während er zum Zeitpunkt t2 die Überzeugung, dass p, gerechtfertigterweise vertritt. Für die erkenntnismä45

Entsprechend fragen Erkenntnistheoretiker nicht nach der Rechtfertigung von Handlungen, sondern nach der epistemischen Rechtfertigung von moralischen Überzeugungen. Diese Unterscheidung wird nicht immer hinreichend beachtet. So springt zum Beispiel Audi 1997, 11-31, im Kapitel „Internalism and Externalism in Moral Epistemology“ zwischen der Rede der Rechtfertigung von Handlungen und der Rede der Rechtfertigung von Überzeugungen hin und her.

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Erkenntnistheorie moralischer Überzeugungen

ßige Rechtfertigung der Überzeugung, dass p, reicht es also nicht, dass Gründe erwerbbar sind, welche die Wahrheit von p stützen. Damit die Überzeugung, dass p, gerechtfertigt ist, müssen diese Gründe auch zur Bildung der Überzeugung, dass p, geführt haben. Dass die Untersuchung der Beziehung zwischen Propositionen nicht dasselbe ist wie die Untersuchung der Beziehung zwischen Gründen und Überzeugungen, wird auch aus Folgendem klar: Viele Erkenntnistheoretiker nehmen an, dass es Gründe gibt, die ihrerseits keine Überzeugungen sind. Es mögen zwar Gründe sein, worüber man Überzeugungen bilden kann. Dennoch sind die Gründe als solche keine Überzeugungen. Man denke zum Beispiel an eine Wahrnehmungsüberzeugung. Es ist der Sinneseindruck selbst, der hier als Grund auftritt, nicht eine Überzeugung über den Sinneseindruck. Wenn wir also nach E-Gründen fragen, so fragen wir nach Gründen für Überzeugungen, Überzeugungen im Sinn von propositionalen Einstellungen einzelner Personen.46 4.1.2 E-Gründe können doxastisch oder nichtdoxastisch sein Ich vertrete die Auffassung, dass es, grob gesprochen, zwei Arten von EGründen gibt: solche die selbst Überzeugungen sind, und solche, die etwas anderes als Überzeugungen sind: wie etwa Wahrnehmungserlebnisse, Erinnerungen, Intuitionen, Emotionen, etc. Erstere werden üblicherweise doxastische Gründe genannt, letztere nichtdoxastische Gründe.47 Letztere können, müssen aber nicht propositional strukturiert sein. Beide Arten von Gründen sind E-Gründe, insofern sie geeignet sind, zur Bildung und Erhaltung von Überzeugungen zu führen und ihren epistemischen Status zu bestimmen. 4.1.3 E-Gründe sind im Geist der erkennenden Person Ich nehme an, dass E-Gründe doxastischer wie nichtdoxastischer Art mentale Zustände sind. Damit gehe ich davon aus, dass sie sich irgendwie im Geist der erkennenden Person befinden. Von dieser Annahme ist eine andere These zu unterscheiden, die These nämlich, dass E-Gründe für eine 46 47

Zur Explikation des Begriffs der Überzeugung siehe 2.2. Vgl. dazu: Alston 2005, 83.

Gründe für Überzeugungen

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bestimmte Überzeugung der erkennenden Person jederzeit introspektiv zugänglich sein müssen. Am Thema der Zugänglichkeit von E-Gründen entzünden sich Fragen, die zu einer tiefgreifenden und anhaltenden Debatte in der Erkenntnistheorie geführt haben: der Debatte zwischen Internalismus und Externalismus. Die Intuitionen hinter diesen Positionen sind leicht verständlich zu machen. Internalisten würden etwa sagen: „E-Gründe sind immer Gründe einer Person zu einer bestimmten Zeit. Und diese Gründe sind wahrheitsindikativ, wahrheitsanzeigend für sie. Man könnte auch sagen: Die EGründe sind Wahrheitskriterien. Ein Indikator ist immer ein Indikator für jemanden; ein Kriterium ist immer ein Kriterium für jemanden. E-Gründe können ihre Rolle nur dann spielen, wenn sie Gründe für die erkennende Person sind, d. h. wenn sie ihr introspektiv zugänglich sind.“ Externalisten hingegen würden etwa sagen: „Was uns interessiert, ist Wahrheit und die Mittel, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zu dieser Wahrheit führen. EGründe sind solche Mittel, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Wahrheit führen. Sie können, müssen aber der erkennenden Person nicht introspektiv zugänglich sein. Sie sind nicht notwendigerweise an die Perspektive der erkennenden Person gebunden.“ Um in dieser Debatte Fortschritte zu machen, muss man ins Detail gehen. Die erste Frage lautet: Was versteht man unter „introspektiv zugänglich“? William Alston unterscheidet drei Explikationen von „introspektiv zugänglich“:48 (i) Nur das, was eine Person gerechtfertigterweise für wahr hält oder weiß, kann ein rechtfertigender Grund für eine Überzeugung sein. (ii) Nur das, was einer Person aktual bewusst ist, kann ein rechtfertigender Grund für eine Überzeugung sein. (iii) Nur das, was einer Person „ziemlich direkt“ zugänglich ist, kann ein rechtfertigender Grund für eine Überzeugung sein. Alston argumentiert überzeugend dafür, dass (i) und (ii) schwer haltbar sind. Die Position (i) schließt aus, dass auch nichtdoxastische Zustände, zum Beispiel Wahrnehmungserfahrungen, eine Überzeugung rechtfertigen können. Die Position (ii) ist zum einen zu stark. Denn häufig sind uns die 48

Alston 1989a, 233.

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Erkenntnistheorie moralischer Überzeugungen

Gründe für Überzeugungen nicht aktual bewusst. Zum anderen besteht die Gefahr eines unendlichen Regresses. Nehmen wir an, die Bedingung B sei hinreichend für die Rechtfertigung einer Überzeugung. Nun muss sich die erkennende Person aber dieser Bedingung B bewusst sein. Nennen wir diese Bedingung B1. B1 ist nun aber wieder nicht hinreichend. Auch ihrer muss sich die erkennende Person aktual bewusst sein. So muss man eine noch reichere Bedingung B2 hinzufügen, usw. Am aussichtsreichsten scheint Alston die Position (iii) zu sein, dies aber auch nur mit Einschränkungen. Erstens dürfe man nicht verlangen, dass jeder rechtfertigende Grund für eine Überzeugung zugänglich ist, sondern lediglich, dass er von der Art ist, im Allgemeinen zugänglich zu sein. Zweitens dürfe man nicht verlangen, dass diese Gründe immer sofort zugänglich sind. Mitunter seien sie erst zugänglich aufgrund von hinreichender Reflexion auf die Situation, in der sich die Person befindet.49 Die hauptsächliche Einschränkung ergibt sich aber, wenn man eine weitere Frage stellt: Was genau muss durch Reflexion zugänglich sein: bloß die Gründe, oder die Angemessenheit der Gründe, oder gar das Beruhen einer Überzeugung auf angemessenen Gründen? (iii) wird von Alston nur für die Gründe gefordert, nicht aber für ihre Angemessenheit oder das Beruhen der Überzeugung auf angemessenen Gründen. Um dies zu verstehen, muss man zunächst untersuchen, wann E-Gründe angemessen sind, und was es heißt, dass eine Überzeugung auf solchen Gründen beruht. 4.2 Die Angemessenheit von E-Gründen Eine Person ist genau dann gerechtfertigterweise überzeugt, dass p, wenn ihre Überzeugung, dass p, auf angemessenen Gründen beruht. Mit Gründen sind E-Gründe doxastischer oder nicht doxastischer Art für Überzeugungen gemeint, die sich im Geist der erkennenden Person befinden. Nun stellt sich die Frage: Was heißt es, dass diese Gründe angemessen sind? Die Angemessenheit der E-Gründe hängt davon ab, ob sie geeignet sind, mit Wahrscheinlichkeit zur Bildung und Erhaltung wahrer Überzeugungen 49

Alston 1989a, 237-238.

Gründe für Überzeugungen

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zu führen. E-Gründe können die Wahrheit einer Überzeugung mehr oder weniger wahrscheinlich machen. Entsprechend unterscheide ich zwischen schwachen und starken E-Gründen. Auch schwache E-Gründe können einen Beitrag zur Rechtfertigung von Überzeugungen leisten, zum Beispiel kumulativ, das heißt: zusammen mit anderen E-Gründen. Mit dem Stichwort „Wahrscheinlichkeit“ stoßen wir auf ein kompliziertes Gebiet, das ich hier weder betreten kann noch muss. Für meine Zwecke sind lediglich drei Bemerkungen nötig: Erstens geht es nicht um subjektive, sondern um objektive Wahrscheinlichkeit, das heißt um Wahrscheinlichkeit, die tatsächlich für die Wahrheit der Überzeugung spricht. Zweitens geht es um bedingte Wahrscheinlichkeit, das heißt um Wahrscheinlichkeit, dass die Überzeugung wahr ist, unter der Bedingung, dass sie auf einer bestimmten Art von Gründen beruht. Schließlich geht es um epistemische Wahrscheinlichkeit, das heißt um Wahrscheinlichkeit, welche Gründe und Überzeugungen der erkennenden Person betrifft, und nicht Wahrscheinlichkeit, welche Implikationen von Propositionen betrifft.50 Angemessene E-Gründe machen es zwar wahrscheinlich, dass die auf ihnen beruhende Überzeugung wahr ist, aber sie garantieren dies nicht. Gründe, welche es unter normalen Umständen wahrscheinlich machen, dass eine Überzeugung wahr ist, können im Einzelfall durch andere Gründe zunichte gemacht werden. So kann Sherlock Holmes E-Gründe dafür haben, dass der Mörder der Gärtner ist. Dennoch kann dies falsch sein. Die Leute im Mittelalter hatten exzellente E-Gründe für die Überzeugung, dass die Sonne sich bewegt und die Erde steht, sprach doch ihre alltägliche Erfahrung dafür und kaum etwas dagegen. Heute wissen wir jedoch, dass ihre Überzeugung falsch war. E-Gründe sind also nicht bloß solche Gründe, welche die Wahrheit der darauf gründenden Überzeugung garantieren, sondern auch solche Gründe, welche die Wahrheit der darauf beruhenden Überzeugung wahrscheinlich machen. E-Gründe können, wie erwähnt, durch Gegengründe zunichte gemacht werden. Man sagt deshalb, dass die Rechtfertigung einer Überzeugung durch sie prima facie gilt, das heißt: unter sonst gleichen Umständen. So ist zum Beispiel mein Eindruck, dass dort am Abendhimmel etwas glänzt, ein 50

Für weitere Ausfaltungen siehe: Swinburne 2001, 56-128; Alston 2005, 98-113.

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Erkenntnistheorie moralischer Überzeugungen

E-Grund für meine Überzeugung, dass dort der Abendstern glänzt. Der Grund ist unter sonst gleichen Umständen angemessen und rechtfertigt meine Überzeugung. Nun könnte es aber sein, dass das glänzende Licht von einem nahenden Flugzeug kommt. Erfahre ich dies, so wird die Rechtfertigung meiner Überzeugung zunichte gemacht. In der englischsprachigen Literatur spricht man von defeating, und Instanzen, welche die epistemische Rechtfertigung von Überzeugungen zunichte machen, werden defeaters genannt.51 Auf Deutsch könnte man von Gegengründen, Anfechtungsgründen oder Widerlegungsinstanzen sprechen.52 Üblicherweise unterscheidet man zwei Arten von Gegengründen: widerlegende (rebutting bzw. overriding defeaters) und neutralisierende (undercutting bzw. undermining defeaters) Gegengründe. Widerlegende Gegengründe führen dazu, die Negation der ursprünglich für wahr gehaltenen Proposition für wahr zu halten. Zum Beispiel: Anton erzählt Berta, dass er zu Mittag von Innsbruck nach Salzburg fährt. Das ist für sie ein Grund zu glauben, dass er am Nachmittag in Salzburg ist. Am Nachmittag spaziert Berta durch Innsbruck und sieht ihn eilig um eine Ecke biegen. Sie erwirbt einen widerlegenden Gegengrund, der für die Falschheit ihrer ursprünglichen Überzeugung spricht. Neutralisierende Gegengründe hingegen neutralisieren die rechtfertigende Kraft eines Grundes für eine Überzeugung ohne für die Falschheit der ursprünglichen Überzeugung zu sprechen. Ein bekanntes Beispiel dafür ist folgendes:53 Anton besucht eine Fabrik und sieht auf einem Fließband Teile, die rot aussehen. Er bildet die Überzeugung Die Teile sind rot. Der Fabrikführer erzählt ihm dann, dass die Teile mit rotem Licht angestrahlt werden, damit man eventuelle Risse besser entdecken kann. Anton erwirbt einen neutralisierenden Gegengrund. Er führt dazu, dass die Beziehung zwischen Grund und Überzeugung durchtrennt wird. Er erwirbt keine Überzeugung, die mit der Überzeugung Die Teile sind rot inkompatibel ist, sondern etwas, das den Grund für die Überzeugung, dass sie rot sind, abschneidet. Ihm wird klar, dass die Teile auch dann rot aussehen, wenn sie gar nicht rot sind. Durch einen weiteren auftauchenden Grund kann ein widerlegender oder neutralisierender Gegen51 52 53

Vgl. Pollock 1986, 37. So werden sie beispielsweise von Grundmann 2008, 227, genannt. Entnommen aus Plantinga 1993a, 41.

Gründe für Überzeugungen

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grund seinerseits wieder zunichte gemacht werden. Manche sprechen in solchen Fällen von einem defeater-defeater.54 Kehren wir nun zur Internalismus-Externalismus-Debatte zurück. Ich habe angenommen, dass sich E-Gründe im Geist der erkennenden Person befinden und dass sie ihr in der Regel durch Reflexion zugänglich sein müssen. Dies impliziert allerdings nicht, dass der erkennenden Person auch die Angemessenheit der Gründe reflexiv zugänglich sein muss, damit diese Gründe rechtfertigende Gründe sein können. Internalisten fordern dies. Eine einigermaßen vertretbare Version dieser Forderung könnte lauten: Die erkennende Person muss zumindest die Fähigkeit haben, gerechtfertigte Überzeugungen darüber zu erwerben, dass der E-Grund für eine Überzeugung ein angemessener Grund ist. Doch dies scheint – zumindest in Standardfällen und solange keine unerklärbaren Irritationen auftreten – für das Gerechtfertigtsein einer Überzeugung nicht notwendig zu sein. Man denke an einfache Wahrnehmungsüberzeugungen. Sie sind dadurch gerechtfertigt, dass sie auf angemessenen E-Gründen beruhen, zum Beispiel auf Wahrnehmungserlebnissen. Ein Kind schaut in den Sandkasten und bildet spontan die Überzeugung Mein Spielzeugbagger befindet sich im Sandkasten. Es kann nicht über die Angemessenheit von E-Gründen nachdenken und keine entsprechenden Überzeugungen bilden. Ihm fehlen die Begriffe für derartige Überzeugungen. Dennoch würden wir nicht zögern, seine Überzeugung für gerechtfertigt zu halten. Ebenso ist es auch bei vielen Überzeugungen von Erwachsenen. Mein Schluss lautet also, dass die internalistische Bedingung der reflexiven Zugänglichkeit bezüglich dessen, ob die E-Gründe angemessen sind, nicht für alle Klassen von Überzeugungen und für alle Bereiche gefordert werden kann. 4.3 Die Beziehung des Beruhens Eine Person ist genau dann gerechtfertigterweise überzeugt, dass p, wenn ihre Überzeugung, dass p, auf angemessenen E-Gründen beruht. Zwar kann der bloße Besitz von angemessenen E-Gründen bereits einen gewis54

Vgl. Pollock 1986, 45-58; Plantinga 1993a, 231-237.

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Erkenntnistheorie moralischer Überzeugungen

sen Wert darstellen.55 Aber dafür, dass eine Überzeugung gerechtfertigt ist, bedarf es einer Verbindung zwischen E-Grund und Überzeugung. Üblicherweise wird diese Verbindung mit dem Ausdruck des „Beruhens“ bezeichnet. Man sagt, dass die Überzeugung auf dem Grund beruhen muss. Gemeint ist, dass der E-Grund selbst zur Bildung und/oder Erhaltung einer Überzeugung führt, und nicht ein anderer Grund oder etwas anderes. An dieser Stelle wird die Internalismus-Externalismus-Debatte erneut virulent. Externalisten deuten die Beziehung des Beruhens als kausale Beziehung. Beruhen heißt, dass der E-Grund die entsprechende Überzeugung verursacht, egal ob die erkennende Person dies nun weiß oder nicht. Internalisten hingegen bestreiten dies. Sie behaupten, der kausale Zusammenhang sei (1) entweder nicht hinreichend oder (2) nicht notwendig dafür, dass eine Überzeugung auf einem E-Grund beruht. (1) Der kausale Zusammenhang sei nicht hinreichend: Nehmen wir an, Berta hat hellseherische Fähigkeiten, ohne Kenntnis davon zu haben. Diese Fähigkeiten verursachen die Überzeugung, dass Anton in Salzburg ist. Es gibt aber aus ihrer Perspektive weder etwas, das für, noch etwas, das gegen ihre Überzeugung spricht.56 Ist ihre Überzeugung gerechtfertigt? Viele werden intuitiv mit Nein antworten. Dafür, dass ihre Überzeugung gerechtfertigt ist, so werden Internalisten sagen, bedürfe es der Überzeugung, dass sie diese Fähigkeiten hat, und der Überzeugung, dass es diese Fähigkeiten sind, welche die Überzeugung Anton ist in Salzburg ausgelöst haben. (2) Der kausale Zusammenhang sei nicht notwendig: Nehmen wir an, Anton sei Rassist.57 Seine Überzeugung, dass Mitglieder der Rasse R bald durch eine Seuche dahingerafft werden, wird durch seinen Rassismus kausal ausgelöst. Nun erwirbt er sich durch biologische Studien eine Reihe von Gründen, die dafür sprechen, dass diese Rasse tatsächlich dahingerafft werden wird. Ursache für den Erwerb und Erhalt seiner Überzeugung bleibt aber sein Rassismus. Obwohl sein Rassismus Entstehungs- und Erhaltungsursache für seine Überzeugung ist, sei dies für die Rechtfertigung seiner Überzeugung irrelevant. Seine Überzeugung Rasse R wird durch 55 56 57

Nach Alston 2005, 81-92, kann auch das Haben von Gründen bereits von gewissem epistemischen Wert sein. Dieses Beispiel ist dem von BonJour 1985, 41, nachgebildet. Einen ähnlichen Fall konstruiert Lehrer 1990, 169.

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eine Seuche dahingerafft beruhe epistemisch gesehen auf seinen biologischen Studien. Beide Gegenbeispiele scheinen mir allerdings nicht einschlägig zu sein. Im ersten Beispiel findet Berta plötzlich eine Überzeugung über die Außenwelt in sich vor, die nicht auf die für Menschen übliche Weise zustande gekommen ist. Der Leser erfährt, dass diese Überzeugung durch Bertas hellseherische Fähigkeiten verursacht wurde, Fähigkeiten, von deren Besitz Berta aber nichts weiß. Meines Erachtens zeigt das Beispiel, dass Berta Zugang haben sollte zur Art der Gründe, welche üblicherweise Überzeugungen dieser Art hervorbringen. Dies ist jener Zugang zu den Gründen, wie er unter 4.1.3 gefordert wurde. Das Beispiel zeigt aber nicht, dass Berta überzeugt sein muss, dass ihre Überzeugung von diesen Gründen hervorgebracht wurde. Unsere Intuitionen bezüglich dieses Beispiels lassen sich u. a. dadurch erklären, dass Hellseherei üblicherweise nicht als Fähigkeit gilt, durch die wir verlässlich Überzeugungen über die Außenwelt erwerben. Würde man hingegen sagen, Berta habe ihre Überzeugung durch Wahrnehmung erworben, so hätten wir kein Problem, ihre Überzeugung für gerechtfertigt zu halten, selbst wenn sie keine zusätzlichen Überzeugungen über die kausalen Entstehungsprozesse dieser Überzeugung hätte.58 Das zweite Beispiel schildert ein Phänomen, das häufig vorkommt und manchmal „Rationalisierung“ genannt wird: Eine vorhandene Überzeugung wird nachträglich mit Gründen untermauert. Dies zeigt meines Erachtens aber nicht, dass der kausale Zusammenhang zwischen Grund und Überzeugung nicht notwendig ist. Im Gegenteil, das Beispiel spricht sogar dafür. Würde Anton zum Beispiel seine Überzeugung beibehalten, nachdem seine durch biologische Studien erworbenen Gründe zunichte gemacht wurden, so würden wir nicht sagen, dass seine Überzeugung auf diesen Gründen beruht habe, sondern eben auf anderen. Daher nehme ich an, dass es für die Rechtfertigung einer Überzeugung zwar notwendig ist, dass der rechtfertigende Grund die entsprechende Überzeugung tatsächlich auslöst oder hervorbringt, dass aber diese Beziehung der erkennenden Person introspektiv nicht zugänglich sein muss. Damit schließe ich allerdings zwei Dinge nicht aus: Erstens, dass diese 58

Vgl. dazu auch: Alston 2005, 54; Grundmann 2008, 258-259.

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Beziehung der erkennenden Person zugänglich sein kann; zweitens, dass es einen zusätzlichen Wert darstellt, wenn sie Zugang zu ihr hat. 4.4 Verlässliche Vorgänge Die allgemeine Definition einer gerechtfertigten Überzeugung lautete: Eine Person ist genau dann gerechtfertigterweise überzeugt, dass p, wenn ihre Überzeugung, dass p, auf angemessenen E-Gründen beruht. Ich habe eine Deutung dieser Definition vertreten, wonach E-Gründe angemessen sind, wenn sie es wahrscheinlich machen, dass eine darauf beruhende Überzeugung wahr ist, und wonach eine Überzeugung auf diesen E-Gründen beruht, wenn es tatsächlich diese Gründe sind, welche zur Bildung der entsprechenden Überzeugung führen. Ein Beispiel soll dies noch einmal veranschaulichen. Nehmen wir meinen visuellen Eindruck, dass dort eine Orchidee steht, und meine Überzeugung, dass dort eine Orchidee steht. Der visuelle Eindruck ist der E-Grund für meine Überzeugung. Er ist angemessen, wenn er es wahrscheinlich macht, dass die Überzeugung wahr ist. Und die Überzeugung beruht darauf, wenn es dieser E-Grund ist, der zur entsprechenden Überzeugungsbildung führt. Alston hat nun darauf hingewiesen, dass diese Redeweise vom Beruhen einer Überzeugung auf angemessenen Gründen sachlich dasselbe meint wie die Redeweise von verlässlichen Überzeugungsbildungsvorgängen.59 Nehmen wir die Verlässlichkeitstheorie60 in ihrer allgemeinsten Formulierung, so besagt sie: Die Überzeugung, dass p, ist genau dann gerechtfertigt, wenn sie durch verlässliche Prozesse oder Vorgänge hervorgebracht wird. Solche Vorgänge haben Eingangsgrößen bzw. Inputs und Ausgangsgrößen bzw. Outputs. Die Inputs sind die Gründe, die Outputs die Überzeugungen. Die Relation des Beruhens wird in diesem Jargon als Überzeugungsbildungsvorgang beschrieben, der von Inputs einer bestimmten Art zu Überzeugungsoutputs mit einem bestimmten Inhalt führt. Genauer: In einem Überzeugungsbildungsvorgang wird eine Funktion realisiert, aufgrund 59 60

Siehe: Alston 2005, 132-148. „Verlässlichkeitstheorie“ ist eine mögliche Übersetzung für die englische Bezeichnung „Reliabilism“.

Gründe für Überzeugungen

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welcher bestimmte Merkmale des Inputs dem Überzeugungsoutput eines bestimmten Inhalts zugeordnet werden. In unserem Beispiel ist der Input der visuelle Eindruck, dass dort eine Orchidee steht. Der Output ist die Überzeugung, dass dort eine Orchidee steht. Im Erkenntnisvorgang wird eine Input-Output-Funktion aktiviert. Diese Funktion ordnet bestimmte Merkmale des Inputs einer Überzeugung mit dem Inhalt Dort steht eine Orchidee zu. Verlässlich ist dieser Vorgang, wenn er einen Vorgangstyp realisiert, der aufgrund des Inputs einer bestimmten Art verhältnismäßig viele wahre Überzeugungen als Output hervorbringt. 4.5 Kognitive Tugenden Die Redeweise von verlässlichen Vorgangstypen und deren Realisierung ist eine abstrakte Redeweise. In der Erkenntnistheorie fragen wir jedoch, wodurch Personen gerechtfertigt sind, etwas für wahr zu halten. Daher müssen wir die Realisierung von Vorgangstypen als Realisierung von Vermögen verstehen, derartige Vorgänge ablaufen zu lassen bzw. anwenden zu können. Vermögen für verlässliche kognitive Vorgänge können als kognitive Tugenden verstanden werden. Insofern werde ich hier eine Art von Tugendepistemologie vertreten.61 Unter dem Banner „Tugendepistemologie“ stehen heute sehr unterschiedliche Theorien. Sie unterscheiden sich in der Beantwortung der Frage, welche Rolle der Tugendbegriff spielt, was eine Erkenntnistugend ist, welche Haltungen tatsächlich Erkenntnistugenden sind und welche erkenntnistheoretischen Probleme man zu lösen beansprucht.62 Ein Merkmal jedoch, das in jedem Tugendverständnis, ob alt oder neu, auftaucht, ist jenes der Verlässlichkeit. Eine Tugend ist eine erworbene, relativ stabile Disposition einer Person, man könnte auch sagen: eine Fähigkeit oder Kompetenz einer Person, welche sie verlässlich zu einer bestimmten Art von Tätigkeit befähigt. Die moralisch tugendhafte Person handelt verlässlich richtig. Die erkenntnismäßig tugendhafte Person trifft verlässlich die Wahrheit. Sie wendet verlässliche Überzeugungsbil61 62

Tugendepistemologien verschiedener Art werden vertreten von Sosa 1991; Zagzebski 1996; Greco 2010, u.a Vgl. dazu: Niederbacher 2002, 349-351; Niederbacher 2004, 156-165.

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Erkenntnistheorie moralischer Überzeugungen

dungs- und Überzeugungserhaltungsvorgangstypen verlässlich an, weil sie dies internalisiert hat, weil es ihr in Fleisch und Blut übergegangen ist, weil es ihr gleichsam zur zweiten Natur geworden ist. Die kognitive Tugend, welche für die moralische Überzeugungsbildung relevant ist, werde ich im Anschluss an die Aristotelisch-Thomistische Tradition Klugheit nennen. In diese kognitive Fähigkeit der Klugheit gehen verschiedenartige Gründe als Inputs ein. Outputs sind Überzeugungen singulären moralischen Inhalts. Eine derartige Überzeugung ist dadurch epistemisch gerechtfertigt, dass sie durch Ausübung von Klugheit hervorgeht bzw. erhalten bleibt. Kraft der Tugend der Klugheit ist eine Person fähig, zu gerechtfertigten Überzeugungen darüber zu gelangen, was in Einzelsituationen zu tun richtig ist. Damit habe ich die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen offengelegt und auch den Weg gezeichnet, den ich in dieser Studie gehen werde. Es folgt nun die Untersuchung der E-Gründe für moralische Überzeugungen.

5 Nichtmoralische doxastische Gründe Ich vertrete die These, dass für moralische Erkenntnis verschiedene Arten von epistemischen Gründen (E-Gründen) eine Rolle spielen. Eine grundlegende Unterscheidung ist diejenige zwischen doxastischen und nichtdoxastischen E-Gründen. Doxastische E-Gründe sind selbst Überzeugungen; nichtdoxastische E-Gründe sind etwas anderes als Überzeugungen. Ich werde in einem ersten Schritt doxastische E-Gründe für moralische Überzeugungen untersuchen. Diese doxastischen E-Gründe unterscheide ich in moralische und nichtmoralische Überzeugungen. Ich beginne mit der Untersuchung nichtmoralischer Überzeugungen und gehe drei Fragen nach: 1. Was sind nichtmoralische Überzeugungen? 2. Wie können nichtmoralische Überzeugungen zur Begründung von moralischen Überzeugungen beitragen? 3. Beruhen moralische Überzeugungen epistemisch letztlich allein auf nichtmoralischen Überzeugungen? 5.1 Nichtmoralische Überzeugungen Ich schildere zunächst einen etwas komplizierten Fall:63 Ein 69 Jahre alter Mann, der von seinen Kindern entfremdet war und keine weiteren lebenden Verwandten hatte, unterzog sich einer ärztlichen Routineuntersuchung im Hinblick auf eine kurze Reise nach Australien, auf die er sich sehr freute. Der Arzt vermutete ein ernstes Problem und ordnete weitere Untersuchungen an. Die Ergebnisse waren eindeutig: Der Mann hatte ein Karzinom, das nicht operierbar und nicht heilbar war, einen Knoten an der Prostata, der üblicherweise Prostatakrebs genannt wird. Das Karzinom war noch nicht weit fortgeschritten und wuchs nur langsam. Später, wenn die Krankheit fortgeschritten sein würde, wäre eine gute palliative Behandlung möglich. Die Bluttests und Röntgenuntersuchung zeigten an, dass die Nierenfunktion normal war. Der Arzt kannte den Patienten seit vielen Jahren und wusste, dass er unter verschiedenen Rücksichten labil war. Der Mann war neurotisch und hatte eine Geschichte psychiatrischer Krankheiten hinter sich – dennoch fand er sich in der Gesellschaft gut zurecht und war rationaler Überlegung und Entscheidung fähig. 63

Der Fall ist geschildert in Beauchamp / Childress 2001, 418-419. Die Übersetzung stammt von mir (B.N.).

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Erkenntnistheorie moralischer Überzeugungen Vor kurzer Zeit litt er unter einer Depression, sodass er sich irrational verhielt und versuchte, sich umzubringen. Diese Phase folgte unmittelbar auf den Tod seiner Frau, die nach einem schweren und langwierigen Kampf gegen Krebs starb. Es war klar, dass er mit dem Tod seiner Frau nicht zurechtkommen würde. Vor seinem Selbstmordversuch war er für kurze Zeit im Krankenhaus. Gerade als er wieder Boden unter den Füßen bekam, eröffnete sich die Gelegenheit, nach Australien zu fahren. Das war die erste Begeisterung seit Jahren. Dieser Patient litt auch immer an andauernden und schweren Depressionen, wenn er über schwere gesundheitliche Probleme informiert wurde. Er machte sich dann immer größte Sorgen und konnte seine Überlegungen und Entscheidungen nicht rational kontrollieren. Sein Arzt dachte, dass die Mitteilung über das Karzinom in diesem labilen Zustand sicherlich weiteres irrationales Verhalten verursachen würde, das ihn unfähig machen würde, klar über seinen gesundheitlichen Zustand nachzudenken. Als die Tests beendet waren und die Ergebnisse feststanden, kam der Patient zum Arzt. Er fragte aufgeregt: „Bin ich gesund?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, fragte er: „Ich habe doch nicht Krebs, oder?“ Da der Arzt glaubte, dass der Patient während seines Aufenthalts in Australien weder an seiner Krankheit leiden noch ihrer gewahr werden würde, antwortete er: „Es geht dir so gut wie vor zehn Jahren.“ Es gefiel ihm nicht, derart zu lügen, aber er war fest davon überzeugt, dass es gerechtfertigt war.

Sowohl beim Arzt als auch beim Leser dieser Geschichte gehen eine Reihe von nichtmoralischen Informationen in die moralische Überzeugungsbildung ein. Informationen über - das, was der Arzt getan hat - die wahrscheinlichen Folgen seines Handelns - Handlungsalternativen - die wahrscheinlichen Folgen dieser Handlungsalternativen - den Arzt und den Patienten - die Absichten des Arztes - Ort und Zeit der Handlung - die Art und Weise der Handlungsausführung Ich spreche vorsichtig von „Informationen“. Denn es gibt zwei Möglichkeiten, das Erfassen dieser Informationen zu deuten. Die erste und vielleicht naheliegende Möglichkeit besteht darin, sie als Überzeugungen aufzufassen. Es handelt sich dann um Überzeugungen über den Handlungsgegenstand und die Handlungsumstände. Dies sind zwar moralrelevante, aber nichtmoralische Überzeugungen. Nichtmoralische Überzeugungen sind Überzeugungen, deren propositionaler Gehalt keine moralisch deontischen

Nichtmoralische doxastische Gründe

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oder wertenden Begriffe enthält.64 Die zweite Deutungsmöglichkeit besteht darin, diese „Informationen“ nicht als Überzeugungen aufzufassen, sondern als Eindrücke. Diese Möglichkeit der Deutung des Erfassens von moralisch relevanten Handlungsmerkmalen werde ich später in Kapitel 7.1 in Betracht ziehen, wenn ich nichtdoxastische Gründe behandle. 5.2 Inferenzielle Rechtfertigung Wie können nichtmoralische Überzeugungen zur Rechtfertigung moralischer Überzeugungen beitragen? Die naheliegende Antwort lautet: inferenziell. Sie stützen moralische Überzeugungen inferenziell. So kommt unser Arzt zur moralischen Überzeugung, dass er den Patienten jetzt anlügen soll, aufgrund der nichtmoralischen Überzeugungen über die Handlungsumstände. Doch diese reichen nicht aus. Es bedarf auch einer Überzeugung allgemeinen moralischen Inhalts, die in etwa lautet: Es ist moralisch richtig, einen Patienten, der sich in den Umständen U befindet, anzulügen. Die Struktur der Überzeugungsrechtfertigung ist demnach folgende: Üpam Unter den Umständen U ist es richtig, Handlung H zu vollziehen. Üp¬m Ich befinde mich jetzt in den Umständen U. Üpsm Es ist jetzt richtig, H zu vollziehen. Wir haben hier eine Überzeugung allgemeinen moralischen Inhalts (Üpam) als erste Prämisse. Die Überzeugungen nichtmoralischen Inhalts (Üp¬m) gehen in Form der zweiten Prämisse in die Begründung der Überzeugung singulären moralischen Inhalts (Üpsm) ein. 5.3 Naturalisierungsversuche Beruhen moralischen Überzeugungen epistemisch letztlich allein auf nichtmoralischen Überzeugungen? Nennen wir Personen, welche diese 64

Siehe dazu 2.3.

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Erkenntnistheorie moralischer Überzeugungen

Frage bejahen, Rechtfertigungsnaturalisten. Utilitaristen könnten derartige Naturalisten sein. So beginnt Jeremy Bentham sein Werk An Introduction to the Principles of Morals and Legislation folgendermaßen: Nature has placed mankind under the governance of two sovereign masters, pain and pleasure. It is for them alone to point out what we ought to do, as well as to determine what we shall do.65

Bentham scheint der Auffassung zu sein, dass Schmerz und Lust allein die Indikatoren dafür sind, was wir tun sollen. In unserem Zusammenhang und doxastisch gedeutet hieße dies: Überzeugungen nichtmoralischen Inhalts über Schmerz und Lust sind hinreichende E-Gründe für Überzeugungen moralischen Inhalts. Ähnliches finden wir bei John Stuart Mill im vierten Kapitel von Utilitarianism: No reason can be given why the general happiness is desirable, except that each person, so far as he believes it to be attainable, desires his own happiness.66

In unserem Zusammenhang und doxastisch gedeutet hieße dies: Die moralische Überzeugung, dass das allgemeine Glück wünschenswert ist, beruht auf der nichtmoralischen Überzeugung, dass jeder sein eigenes Glück erstrebt. Dies sind zwei Beispiele utilitaristischer Herkunft. Ebenso könnte man andere nennen, wonach zum Beispiel die moralische Überzeugung, die Handlung sei gut, epistemisch letztlich auf der Überzeugung beruht, die Handlung sei gesellschaftlich akzeptiert, oder von Gott geboten, oder der menschlichen Natur entsprechend, oder dem Ergebnis eines idealen Diskurses entsprechend. Die Frage, die ich stelle ist allgemein: Können nichtmoralische Überzeugungen allein angemessene E-Gründe für moralische Überzeugungen sein? Ich werde drei mögliche Strategien einer Bejahung dieser Frage durchspielen: 1. Man argumentiert für einen semantischen Reduktionismus, wonach moralische Ausdrücke dasselbe bedeuten wie bestimmte nichtmoralische Ausdrücke. 65 66

Bentham 1789, ch. 1, § 1. Mill 1863, ch. 4.

Nichtmoralische doxastische Gründe

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2. Man argumentiert für einen metaphysischen Reduktionismus, wonach moralische Eigenschaften/Tatsachen mit bestimmten nichtmoralischen Eigenschaften/Tatsachen identisch sind. 3. Man bestreitet die Gültigkeit von Humes Gesetz.

5.3.1 Semantischer Reduktionismus Die erste Möglichkeit, wie ein Naturalist seine These verteidigen könnte, besteht in einer semantischen Reduktion. Er könnte sagen, es liege kein Fehlschluss vor, weil moralische Ausdrücke mit bestimmten nichtmoralischen Ausdrücken bedeutungsgleich seien. Aber stimmt es, dass sie bedeutungsgleich sind? Zunächst spricht dagegen, dass bis heute keine Einigung darüber besteht, mit welchem nichtmoralischen Ausdruck der Ausdruck „gut zu sein“ gleichbedeutend ist. Es gibt so viele Kandidaten wie normative Theorien: „lustmaximierend zu sein“, „den eigenen Präferenzen zu entsprechen“, „in einer Gesellschaft akzeptiert zu sein“, „von Gott geboten zu sein“, „der menschlichen Natur konvenient zu sein“, „der Einigung einer idealen Diskursgemeinschaft entsprechend zu sein“, usw. Zweitens gibt es prinzipielle Vorbehalte gegen eine semantische Reduktion. George Edward Moores Argument der offenen Frage ist zwar unter mancherlei Hinsicht problematisch und präzisionsbedürftig.67 Dennoch weist es auf einen wunden Punkt jeder semantischen Reduktion: Kein nichtmoralischer Ausdruck vermag den wesentlichen Bedeutungsgehalt von „moralisch gut“ auszudrücken. Nach Richard Hare ist es der Forderungs- oder Verpflichtungscharakter, welcher in einer naturalistischen Reduktion verlorengeht.68 Doch nehmen wir einmal an, „moralisch gut zu sein“ sei gleichbedeutend mit einem nichtmoralischen Ausdruck, zum Beispiel „lustmaximierend zu sein“. Dann bedürfte es in der erkennenden Person immer noch einer Brückenüberzeugung (BÜ) wie etwa: 67 68

Vgl. Moore 1903, 15-17. Eine Reihe verschiedener Einwände gegen das Argument sowie Neuauflagen davon findet man in Miller 2003. Vgl. Hare 1952, 91: „Value terms have a special function, that of commending, and so they plainly cannot be defined in terms of other words which do not perform this function.“

Erkenntnistheorie moralischer Überzeugungen

64 BÜ:

Eine Handlung ist genau dann moralisch gut, wenn sie lustmaximierend ist.

Diese Überzeugung ist aber keine nichtmoralische Überzeugung. Denn sie beinhaltet eine, wenn auch analytische, Bestimmung einer moralisch guten Handlung und erfüllt somit die Definition der moralischen Überzeugung. 5.3.2 Metaphysischer Reduktionismus Der Naturalist könnte einen weiteren Anlauf nehmen. Er könnte nun zwar zugeben, dass der Ausdruck „moralisch gut“ nicht mit einem der genannten nichtmoralischen Ausdrücke intensionsgleich sei, aber behaupten, dass er mit einem dieser Ausdrücke extensionsgleich sei. Die Eigenschaft moralisch gut zu sein sei extensionsgleich mit der nichtmoralischen Eigenschaft lustmaximierend zu sein, oder in einer Gesellschaft akzeptiert zu sein oder von Gott geboten zu sein oder der menschlichen Natur konvenient zu sein oder der Einigung einer idealen Diskursgemeinschaft entsprechend zu sein. Doch auch diese Ansicht führt nicht zum Ziel, nämlich zu zeigen, dass moralische Überzeugungen letztlich epistemisch auf nichtmoralischen Überzeugungen beruhen. Um dies aufzuweisen, muss man die These von der Extensionsgleichheit moralischer und nichtmoralischer Ausdrücke gar nicht bestreiten. Es genügt, darauf hinzuweisen, dass wir uns im Bereich des Erkennens befinden. Und im Bereich des Erkennens spielt es nun einmal eine Rolle, ob die erkennende Person es für wahr hält, dass diese Extensionsgleichheit besteht oder nicht besteht. Sie muss wiederum eine Brückenüberzeugung vertreten: BÜ:

Eine Handlung ist genau dann moralisch gut, wenn sie lustmaximierend ist.

Freilich enthält die rechte Seite des Bikonditionals kein moralisches Prädikat mehr. Die Reduktion ist, wenn sie wahr ist, geglückt. Dennoch, die erkennende Person muss BÜ für wahr halten. Und BÜ ist eine moralische Überzeugung. Denn sie enthält eine Bestimmung darüber, was eine Handlung zu einer guten Handlung macht. Die These, dass moralische Überzeu-

Nichtmoralische doxastische Gründe

65

gungen letztlich auf nichtmoralischen Überzeugungen beruhen können, ist also selbst unter Annahme eines metaphysischen moralischen Reduktionismus nicht haltbar. 5.3.3 Überwindung von Humes Gesetz Dass moralische Überzeugungen letztlich nicht allein auf nichtmoralischen Überzeugungen beruhen können, war bereits die Auffassung von David Hume. Humes Gesetz (HG) kann man für unsere erkenntnistheoretischen Zwecke folgendermaßen formulieren: HG:

Aus nichtmoralischen Überzeugungen allein folgen keine moralischen Überzeugungen.

Wenn HG gilt, fallen nichtmoralische Überzeugungen allein als Begründungsinstanzen für moralische Überzeugungen aus. Aber gilt HG? Logiker könnten Einspruch erheben und sagen: Aus der nichtmoralischen Proposition Die Sonne scheint folgt logisch: Die Sonne scheint oder es ist moralisch falsch zu lügen.69 Eine Person könnte aus der Überzeugung Die Sonne scheint folgern Die Sonne scheint oder es ist moralisch falsch zu lügen. HG ist also falsch. Allerdings wird dies einen antinaturalistischen Erkenntnistheoretiker kaum beeindrucken. Denn es geht um die Frage, ob die nichtmoralische Überzeugung die moralische Überzeugung epistemisch stützt. Und das tut sie nicht.70 Findige Philosophen haben weitere Folgerungen von moralischen aus nichtmoralischen Überzeugungen konstruiert, die logisch richtig erscheinen, zum Beispiel folgende:71 (1) Alles, was Gott für wahr hält, ist wahr. (2) Gott hält es für wahr, dass ich nicht lügen soll. (3) ∴ Es ist wahr, dass ich nicht lügen soll. 69 70 71

Vgl. Kutschera 1982, 29. Ausführlicher in Sinnott-Armstrong 2006, 140-141. Vgl. Nelson 1995; Gensler 1996, 67.

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66 (4)

Wenn es wahr ist, dass ich nicht lügen soll, dann soll ich nicht lügen. (5) ∴ Ich soll nicht lügen. Diese Schlussfolgerung scheint korrekt zu sein. Ein Supranaturalist könnte sie ziehen. Er wäre also überzeugt, dass er nicht lügen soll, und diese Überzeugung würde epistemisch letztlich auf nichtmoralischen Überzeugungen beruhen. HG wäre dann falsch.72 Das Problem steckt in der Überzeugung mit dem Inhalt (2). Die Proposition (2), welche der Supranaturalist für wahr hält, scheint eine nichtmoralische Proposition zu sein. Denn – so könnte man meinen – sie beinhalte lediglich, dass im Geist Gottes eine bestimmte Überzeugung vorkommt. Allerdings muss man sehen, dass der Supranaturalist, der (2) für wahr hält, eine Überzeugung über eine Überzeugung Gottes hat. Der Inhalt der Überzeugung Gottes ist eindeutig ein moralischer. Unser Supranaturalist ist überzeugt, dass Gott überzeugt ist, dass pm. Es ist daher zweifelhaft, ob der Schluss des Supranaturalisten ohne Überzeugung moralischen Inhalts auskommt. Die hier geprüften Vorschläge dafür, dass moralische Überzeugungen epistemisch letztlich auf nichtmoralischen Überzeugungen allein beruhen, scheinen also nicht zum erwünschten Ziel zu führen. Bei der Untersuchung nichtdoxastischer Gründe für moralische Überzeugungen in Kapitel 7 werde ich auf einen weiteren naturalistischen Vorschlag zu sprechen kommen, wonach moralische Überzeugungen auf Beobachtungen beruhen.

72

Manche schränken daher HG ein, zum Beispiel Gensler 1996, 67, der folgende Formulierung vorschlägt: “If B is a consistent nonevaluative truth that doesn’t quantify over truths (or anything similar) and A represents a logically and causally contingent action, then B doesn’t entail that act A ought to be done.”

6 Moralische doxastische Gründe Moralische Überzeugungen können letztlich nicht auf nichtmoralischen doxastischen Gründen allein beruhen. Es bedarf auch moralischer doxastischer Gründe, sprich: moralischer Überzeugungen. Wiederum kann man drei Fragen stellen: 1. Was sind moralische Überzeugungen? 2. Wie können moralische Überzeugungen andere moralische Überzeugungen rechtfertigen? 3. Ist es möglich, dass alle moralischen Überzeugungen letztlich auf anderen Überzeugungen beruhen? Die Antwort auf die ersten beiden Fragen kann kurz ausfallen. 6.1 Moralische Überzeugungen Die erste Frage habe ich bereits im zweiten Kapitel beantwortet. Ich fasse kurz zusammen: Moralische Überzeugungen sind Überzeugungen, die moralische Propositionen zum Inhalt haben. In moralischen Propositionen werden deontische und wertende Begriffe von Handlungstypen und Einzelhandlungen sowie von Haltungen, Motiven, Emotionen und Personen prädiziert. Je nach Allgemeinheitsgrad des Inhalts der Überzeugungen kann man unterscheiden: - formale allgemeine Überzeugungen, zum Beispiel: Das Gute ist zu tun und zu verfolgen, das Schlechte ist zu meiden; Man soll dem Gewissen folgen, etc. - materiale allgemeine Überzeugungen, zum Beispiel: Man soll anderen Menschen helfen; Man soll niemandem grundlos Schaden zufügen; Man soll nicht lügen, etc. - materiale singuläre Überzeugungen, zum Beispiel: Es war richtig, dass der Arzt den Patienten angelogen hat, um ihm eine unbeschwerte Ferienzeit in Australien zu ermöglichen.

Erkenntnistheorie moralischer Überzeugungen

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Die Unterscheidung dieser Arten von moralischen Überzeugungen wird für die Beantwortung der Frage nach der erkenntnismäßigen Rechtfertigung von moralischen Überzeugungen noch eine Rolle spielen. 6.2 Inferenzielle Rechtfertigung Auch die zweite Frage ist einfach zu beantworten: Es handelt sich um inferenzielle Rechtfertigung. Eine moralische Überzeugung ist dadurch erkenntnismäßig gerechtfertigt, dass sie auf anderen Überzeugungen beruht, von denen mindestens eine Überzeugung moralischen Inhalts sein muss. Rechtfertigungen können prinzipiell in zwei Richtungen gehen: (i) (ii)

von Überzeugungen allgemeinen moralischen Inhalts zu Überzeugungen singulären moralischen Inhalts: deduktiv; von Überzeugungen singulären moralischen Inhalts zu Überzeugungen allgemeinen moralischen Inhalts: induktiv, abduktiv.

Ich behaupte weder, dass moralische Überzeugungen immer deduktiv gerechtfertigt sind, noch, dass sie immer induktiv oder abduktiv gerechtfertigt sind. Ich behaupte lediglich, dass moralische Überzeugungen auf diese Weisen als epistemische Gründe (E-Gründe) für weitere moralische Überzeugungen auftreten können. Selbstverständlich können sie nur dann angemessene E-Gründe sein, wenn sie ihrerseits ein gewisses Maß an rechtfertigender Kraft haben. Woher kommt diese Kraft? Worin gründen moralische doxastische Gründe ihrerseits? Ich stelle hier zwei Antwortversuche vor, denen eines gemeinsam ist: Beide nehmen an, dass es nur doxastische E-Gründe gibt, dass also alle moralischen Überzeugungen letztlich wiederum auf moralischen Überzeugungen beruhen. Der erste Antwortversuch ist kohärentistisch. Er besagt, dass die rechtfertigende Kraft von moralischen Überzeugungen daher kommt, dass sie ein kohärentes Netz bilden. Der zweite Antwortversuch ist fundamentistisch. Er besagt, dass es moralische Grundüberzeugungen gibt, die selbstevident sind. Diese haben rechtfertigende Kraft ohne selbst einer Rechtfertigung durch weitere Gründe zu bedürfen.

Moralische doxastische Gründe

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6.3 Die kohärentistische Antwort Es gibt viele Formen des erkenntnistheoretischen Kohärentismus.73 Gemeinsam sind ihnen zwei Thesen: Erstens, alle E-Gründe sind doxastische Gründe. Zweitens, keine doxastischen Gründe sind in dem Sinn epistemisch ausgezeichnet, dass sie ihrerseits keiner weiteren Rechtfertigung bedürften. Jeder doxastische Grund erhält seinen epistemischen Wert durch andere doxastische Gründe. Für die Rechtfertigung moralischer Überzeugungen heißt dies: Moralische Überzeugungen sind immer durch andere Überzeugungen gerechtfertigt: durch moralische und nichtmoralische Überzeugungen. Und auch diese sind ihrerseits dadurch gerechtfertigt, dass sie in einem kohärenten Überzeugungsnetz stehen. Ich werde diese Ansicht nun entfalten und prüfen. Mein Ergebnis wird sein, dass sie unbefriedigend ist. 6.3.1 Der erkenntnistheoretische Kohärentismus Üblicherweise wird die Hauptthese des Kohärentismus (K) folgendermaßen charakterisiert: K: Die Überzeugung, dass p, ist für eine Person S genau dann epistemisch gerechtfertigt, wenn die Überzeugung, dass p, mit den anderen Überzeugungen von S kohäriert. Zu den anderen Überzeugungen einer Person gehören Überzeugungen erster Ordnung, zum Beispiel: Dort steht ein Schaf, aber auch Überzeugungen höherer Ordnung, zum Beispiel: Normalerweise kann ich mich auf meine Wahrnehmung verlassen. Kohärenz erfordert nun: (i) Konsistenz: Eine kohärente Überzeugungsmenge darf keine inkonsistenten Überzeugungen enthalten. Überzeugungen sind inkonsistent, wenn sie sich logisch widersprechen, zum Beispiel wenn Anton es für wahr hält, dass Berta in Innsbruck lebt und es für wahr hält, dass Berta nicht in Innsbruck lebt. Überzeugungen sind auch inkonsistent, wenn sie 73

Für eine detaillierte Ausfaltung und Verteidigung des erkenntnistheoretischen Kohärentismus siehe: Bartelborth 1996 und Sayre-McCord 1996.

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Erkenntnistheorie moralischer Überzeugungen

sich semantisch widersprechen, zum Beispiel wenn Berta glaubt, dass Anton ein unverheirateter Mann heiratsfähigen Alters ist, und glaubt, dass er kein Junggeselle ist.74 Vollständige Konsistenz des gesamten Überzeugungssystems einer Person wird wohl kein Kohärentist fordern. Denn es dürfte kaum Menschen geben, die ein vollständig konsistentes Überzeugungssystem haben. Und es dürfte kaum Menschen geben, die gerechtfertigt sind zu glauben, ein vollständig konsistentes Überzeugungssystem zu haben. Dies wird einem zumindest nahegelegt, wenn man zum Beispiel bei Reiner Hedrich liest: Schon die Überprüfung von nur etwa hundert Überzeugungen auf ihre logische Konsistenz würde bei Verwendung logischer Wahrheitstafeln als einfachster Testinstanz und bei einer um viele Größenordnungen schnelleren Realisierung dieses Testinstrumentariums als der, die unseren kognitiven Möglichkeiten zur Verfügung steht, länger dauern als die bisherige Laufzeit des Universums.75

Folglich wäre keine einzige unserer Überzeugungen gerechtfertigt. Kohärentisten werden daher nur fordern, dass der relevante Überzeugungsmengenausschnitt konsistent sein muss.76 Konsistenz ist freilich nicht hinreichend für die Kohärenz, die Kohärentisten benötigen. Dies ist leicht einzusehen. Nehmen wir einmal an, Anton habe eine sehr kleine Menge von Überzeugungen, zum Beispiel folgende: Es regnet gerade. Meine Tante heißt Burgl. Die Winkelsumme eines Dreiecks beträgt 180 Grad. Ich habe Kopfschmerzen. Menschen dürfen nicht angelogen werden. Diese Überzeugungsmenge impliziert keinen Widerspruch. Aber es stellt sich die Frage: Warum sollte dadurch die Überzeugung, dass man Menschen nicht anlügen darf, epistemisch gerechtfertigt sein? Jeder Kohärentist wird zugeben, dass noch weitere Bedingungen erfüllt sein müssen.

74 75 76

Vgl. Sinnott-Armstrong 2006, 222. Siehe: Hedrich 2002, 319. Vgl. dazu: Sinnott-Armstrong 2006, 223.

Moralische doxastische Gründe

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(ii) Inferenzielle Vernetztheit der Überzeugungen: Gemeint sind hauptsächlich Folgebeziehungen deduktiver, induktiver und abduktiver Art. Zwei Varianten sind denkbar: (a) (b)

Zwischen den Überzeugungen bestehen allein lineare Folgebeziehungen. Zwischen den Überzeugungen bestehen vielfältige Stützungsbeziehungen.

Wer (a) vertritt, hat mit den Schwierigkeiten umzugehen, dass Rechtfertigungsketten entweder zirkulär oder unendlich sind. Daher vertreten viele Kohärentisten die plausiblere Position (b): Die Rechtfertigungsbeziehungen sind nicht linear, sondern holistisch. Überzeugungen sind in viele Richtungen mit anderen Überzeugungen vernetzt.77 (iii) Umfassendheit des Überzeugungssystems: Konsistenz und inferenzielle Vernetztheit allein reichen noch nicht für die Kohärenz, welche Kohärentisten brauchen. Das Überzeugungssystem einer Person muss auch eine gewisse Umfassendheit aufweisen. Denn nur so kann man im Fall von auftauchenden Widersprüchen herausfinden, welche der Überzeugungen aufgegeben werden sollte. Dazu bedarf es auch Überzeugungen höherer Ordnung, zum Beispiel Überzeugungen darüber, unter welchen Bedingungen unsere Wahrnehmung verlässlich ist, ob unser Erinnerungsvermögen verlässlich ist, dass man anderen Menschen in der Regel trauen kann, etc. Der Grad der Kohärenz eines Überzeugungssystems ergibt sich aus der Vernetzungsdichte und Umfassendheit des Überzeugungssystems. Überzeugungssysteme können also mehr oder weniger kohärent sein. In Kapitel 4 nannte ich eine allgemeine Definition von Rechtfertigung. Sie lautete: Eine Person ist genau dann gerechtfertigterweise überzeugt, dass p, wenn ihre Überzeugung, dass p, auf angemessenen E-Gründen beruht. Wie würden Kohärentisten die in dieser Definition genannten Bedingungen näher bestimmen? Sie würden sagen: E-Gründe sind immer andere 77

Quine 1960, 11-12, spricht von „connected fabric“. Er war beeinflusst von Otto Neurath 1932, 206, der meinte: „Wie Schiffer sind wir, die ihr Schiff auf offener See umbauen müssen, ohne es jemals in einem Dock zerlegen zu können und aus besten Bestandteilen neu errichten zu können.“

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Überzeugungen der Person. Angemessen sind diese E-Gründe, wenn sie die Überzeugung, dass p, deduktiv oder induktiv oder abduktiv stützen. Die Beziehung des Beruhens einer Überzeugung auf einem E-Grund könnte so verstanden werden, dass die erkennende Person tatsächlich einen Schluss gezogen hat. Sie könnte aber auch in einem schwächeren Sinn verstanden werden, nämlich so, dass die erkennende Person die rechtfertigenden Überzeugungen in ihrem Repertoire hat und den erwünschten Schluss auf Forderung ziehen könnte. Damit ist der Kohärentismus eindeutig eine internalistische Theorie: Die E-Gründe sind Entitäten im Geist der erkennenden Person, nämlich Überzeugungen; und sowohl diese EGründe selbst als auch ihre Angemessenheit sowie das Beruhen der Überzeugungen auf diesen E-Gründen sind der erkennenden Person introspektiv zugänglich. Dies möge als allgemeine Charakterisierung des epistemologischen Kohärentismus genügen. 6.3.2 Kohärentismus in der Ethik: Beispiele Die These des epistemologischen Kohärentisten in der Ethik (KE) könnte lauten: KE: Die Überzeugung, dass pm, ist für eine Person S genau dann epistemisch gerechtfertigt, wenn die Überzeugung, dass pm, mit den anderen moralischen und nichtmoralischen Überzeugungen von S kohäriert. Wer einen epistemologischen Kohärentismus in der Ethik vertritt, kann, muss aber keinen globalen epistemologischen Kohärentismus vertreten. Der Kohärentismus in der Ethik ist, wenn nicht explizit, so doch implizit weit verbreitet. Ich nenne einige Beispiele: 1. Die Goldene Regel (GR) kann als Verfahren angesehen werden, herauszufinden, was in einer Situation zu tun richtig ist. Eine unverfängliche Formulierung der GR lautet:78

78

Zur Analyse und Herleitung der Goldenen Regel siehe: Gensler 1996, 93-120.

Moralische doxastische Gründe

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GR: Behandle andere nur so, wie du in der gleichen Situation behandelt werden möchtest! Unter erkenntnistheoretischer Rücksicht fordert die GR dazu auf, Inkonsistenzen bestimmter Art zu vermeiden. Eine Person darf folgendes nicht zugleich für wahr halten: (i)

Es ist moralisch richtig, dass ich Person A gegenüber in der Situation S Handlungsweise H realisiere. (ii) Es ist moralisch nicht richtig, dass A mir gegenüber in einer vergleichbaren Situation Handlungsweise H realisiert. (iii) Was in einer Situation zu tun moralisch richtig ist, ist in allen relevant vergleichbaren Situationen auch moralisch richtig, unabhängig von den Individuen, die beteiligt sind. (i) und (ii) zusammen sind nicht inkonsistent. Sie werden es erst, wenn man die Universalisierungsforderung (iii) hinzunimmt. Insofern die GR also eine Konsistenzforderung darstellt, kann sie als Beispiel für einen Kohärentismus in der Ethik gesehen werden. 2. Als zweites Beispiel behandle ich Immanuel Kants Kategorischen Imperativ (KI). Auch der KI kann als Verfahren angesehen werden, herauszufinden, was in einer Situation zu tun erlaubt ist. Ich betrachte hier nur den KI in der Universalisierungsformel. Die Formel lautet: KI: Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.79 Deuten wir das Wollen-Können einmal so: Wir können all das wollen, was irgendwie zu realisieren in unserer Macht steht und keinen Widerspruch impliziert. Der KI fordert nun dazu auf, Inkonsistenzen im Wollen zu vermeiden. Ziehen wir zur Illustration Kants Beispiel des lügenhaften Versprechens heran: Sie sind in einer Notlage und brauchen dringend Geld. Sie müssen es leihen. Sie wissen aber, dass Sie es nicht zurückzahlen wer79

Kant 1785: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten [GMS], 421.

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den können. Sie wissen auch: Wenn Sie nicht versprechen, es zu einer bestimmten Zeit zurückzuzahlen, wird Ihnen nichts geliehen. Ihre Maxime (M) lautet: M: Ich darf, wenn ich im Gedränge bin, ein Versprechen tun, in der Absicht, es nicht zu halten.80 Nun kommt das KI-Verfahren zum Zug. Zuerst müssen Sie Ihre Maxime universalisieren: MU: Jede Person darf, wenn sie im Gedränge ist, ein Versprechen tun, in der Absicht, es nicht zu halten. Dann müssen Sie sich fragen, ob Sie MU akzeptieren können. Nein, sagt Kant, Sie können es nicht, denn Sie können nicht zwei Dinge zugleich wollen, die sich ausschließen. Sie können nicht zugleich wollen, (i) dass man Ihnen glaubt und (ii) dass man Ihnen nicht glaubt. (ii) aber wäre die Folge, wenn alle in der gleichen Situation lügen dürften.81 Ob Kants Idee aufgeht, sei dahingestellt. Mich interessiert hier nur eine mögliche erkenntnistheoretische Deutung seines Verfahrens. Verstehen wir Kant einmal kognitivistisch. Der KI würde dann eine moralische Überzeugung höherer Ordnung – eine Metaüberzeugung (MÜ) – ausdrücken, die ungefähr so formuliert werden könnte: MÜ: Eine Handlungsweise ist nur dann richtig, wenn ich wollen kann, dass alle sie vollziehen. Meine Überzeugung, dass ich in dieser Situation lügen darf, wäre also gerechtfertigt durch MÜ und die Überzeugung, dass ich wollen kann, dass 80 81

Siehe: Kant, GMS, 402. Kant schreibt in der GMS, 403: „[...] denn nach einem solchen würde es eigentlich gar kein Versprechen geben, weil es vergeblich wäre, meinen Willen in Ansehung meiner künftigen Handlungen anderen vorzugeben, die diesem Vorgeben doch nicht glauben [...] mithin meine Maxime, sobald sie zum allgemeinen Gesetze gemacht würde, sich selbst zerstören müsse.“

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alle in derartigen Situationen lügen dürfen. Aber was spricht für die Wahrheit von MÜ? Kohärentisten müssen annehmen, MÜ sei durch andere Überzeugungen gerechtfertigt. Sie könnten sagen: Wir reflektieren auf die Alltagsmoral und finden, dass MÜ hinter jeglicher moralischer Überzeugungsbildung steckt.82 Kant und andere Philosophen also, welche auf Moral reflektieren, könnten gerechtfertigt sein, MÜ für wahr zu halten. Sie wären es aufgrund der Beobachtung der Alltagsmoral. Aber mit dieser Antwort sind zwei Probleme verbunden: Erstens wären die Menschen im Alltag gar nicht gerechtfertigt, MÜ für wahr zu halten. Zweitens würden die Philosophen gegen Humes Gesetz verstoßen. Denn die Tatsache, dass alle beobachtete Moral auf MÜ aufbaut, ist ein nichtnormativer Satz. Er ist daher nicht geeignet, MÜ zu rechtfertigen. Als Alternative bietet sich die These an, MÜ sei eine grundlegend gerechtfertigte Überzeugung. Man 82

So meinte Kant mit dem Kategorischen Imperativ den moralischen Common Sense zu erfassen. In der Kritik der praktischen Vernunft, 122-123, schreibt er: „Die Regel der Urteilskraft unter Gesetzen der reinen praktischen Vernunft ist diese: Frage dich selbst, ob die Handlung, die du vorhast, wenn sie nach einem Gesetze der Natur, von der du selbst ein Teil wärest, geschehen sollte, sie du wohl, als durch deinen Willen möglich, ansehen könntest. Nach dieser Regel beurteilt in der Tat jedermann Handlungen, ob sie sittlich-gut oder böse sind. So sagt man: Wie, wenn ein jeder, wo er seinen Vorteil zu schaffen glaubt, sich erlaubte, zu betrügen, oder befugt hielte, sich das Leben abzukürzen, so bald ihn ein völliger Überdruß desselben befällt, oder anderer Not mit völliger Gleichgültigkeit ansähe, und du gehörtest mit zu einer solchen Ordnung der Dinge, würdest du darin wohl mit Einstimmung deines Willens sein? Nun weiß ein jeder wohl: daß, wenn er sich insgeheim Betrug erlaubt, darum eben nicht jedermann es auch tue, oder wenn er unbemerkt lieblos ist, nicht sofort jedermann auch gegen ihn es sein würde; daher ist diese Vergleichung der Maxime seiner Handlungen mit einem allgemeinen Naturgesetze auch nicht der Bestimmungsgrund seines Willens. Aber das letztere ist doch ein Typus der Beurteilung der ersteren nach sittlichen Prinzipien. Wenn die Maxime der Handlung nicht so beschaffen ist, daß sie an der Form eines Naturgesetzes überhaupt die Probe hält, so ist sie sittlich-unmöglich. So urteilt selbst der gemeinste Verstand; denn das Naturgesetz liegt allen seinen gewöhnlichsten, selbst den Erfahrungsurteilen immer zum Grunde. Er hat es also jederzeit bei der Hand, nur daß er in Fällen, wo die Kausalität aus Freiheit beurteilt werden soll, jenes Naturgesetz bloß zum Typus eines Gesetzes der Freiheit macht, weil er, ohne etwas, was er zum Beispiele im Erfahrungsfalle machen könnte, bei Hand zu haben, dem Gesetze einer reinen praktischen Vernunft nicht den Gebrauch in der Anwendung verschaffen könnte.“

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könnte Kant auch so lesen.83 Dann befände man sich allerdings nicht mehr im kohärentistischen Lager. 3. John Rawls Idee vom „Überlegungsgleichgewicht“, dem „reflective equilibrium“, kann ebenfalls kohärentistisch gedeutet werden.84 Rawls schreibt: We can either modify the account of the initial situation or we can revise our existing judgments, for even the judgments we take provisionally as fixed points are liable to revision. By going back and forth, sometimes altering the conditions of the contractual circumstances, at others withdrawing our judgments and conforming them to principle, I assume that eventually we shall find a description of the initial situation that both expresses reasonable conditions and yields principles which match our considered judgments duly pruned and adjusted. This state of affairs I refer to as reflective equilibrium. […] A conception of justice cannot be deduced from self-evident premises or conditions on principles; instead its justification is a matter of the mutual support of many considerations, of everything fitting together into one coherent view.85

Wir nehmen zwar Ausgangspunkte für unsere moralischen Überlegungen an: moralische Prinzipien (Üpam) oder überlegte moralische Urteile (Üpsm). Diese sind jedoch nicht epistemisch ausgezeichnet. Vielmehr können sie revidiert und verfeinert werden. Die Methode dafür besteht darin, ein Überlegungsgleichgewicht herzustellen, d. h. Kohärenz unter den moralischen und nichtmoralischen Überzeugungen herzustellen. Dies ist dann eine kohärentistische Position, wenn man annimmt, dass Kohärenz die einzige Quelle der Rechtfertigung ist, wenn man also annimmt, dass es 83

84 85

Bei Kant findet man auch Stellen, die auf diese Sicht hinauslaufen. So schreibt er in der Kritik der praktischen Vernunft, 55: „Man kann das Bewusstsein dieses Grundgesetzes ein Faktum der Vernunft nennen, weil man es nicht aus vorhergehenden Datis der Vernunft, z.B. dem Bewusstsein der Freiheit (denn dieses ist uns nicht vorher gegeben) herausvernünfteln kann, sondern weil es sich für sich selbst uns aufdringt als synthetischer Satz a priori, der auf keiner, weder reinen noch empirischen, Anschauung gegründet ist [...].“ Demnach ist der KI semantisch gesehen nicht analytisch, sondern synthetisch. Epistemologisch gesehen drückt er einen Inhalt aus, der nicht a posteriori, sondern a priori erkannt wird, und zwar nichtinferenziell. Die Sicht von Rawls kann, muss aber nicht kohärentistisch gedeutet werden. Siehe: McMahan 2000, 102-106. Siehe: Rawls 1971, 20-21.

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Kohärenz allein ist, welche den einzelnen moralischen Überzeugungen epistemischen Wert verleiht. 6.3.3 Eine plausible Entfaltung Explizit kohärentistische Positionen in der Erkenntnistheorie moralischer Überzeugungen vertreten zum Beispiel Norman Daniels (1979), David Brink (1989), Geoffrey Sayre-McCord (1996), Paul Thagard (2000), Jens Badura (2002) und als moderater Skeptiker auch Walter Sinnott-Armstrong (2006). Ich versuche im Folgenden aus ihren Ausführungen eine möglichst plausible Variante des Kohärentismus herauszuarbeiten. 1. Dieser Kohärentismus könnte ein lokaler sein. Er könnte anerkennen, dass es grundlegend gerechtfertigte empirische Überzeugungen gibt. Andere Überzeugungen hingegen – und darunter besonders moralische Überzeugungen – seien dadurch gerechtfertigt, dass sie in einem kohärenten Netz von weiteren Überzeugungen stehen. Dafür würde erstens sprechen, dass wir im Bereich der Moral keine empirischen Inputs haben, zumindest was seine normativen Gehalte betrifft; zweitens, dass wir bei moralischen Auseinandersetzungen mit Begründungen rechnen; drittens schließlich, dass wir bei unseren moralischen Überlegungen tatsächlich auf Kohärenz achten. Entdecken wir Inkonsistenzen, sind wir veranlasst, Korrekturen und Verfeinerungen vorzunehmen. 2. Kohärenz schließt Konsistenz ein. Allerdings wäre vollständige Konsistenz, wie bereits gesagt, eine Überforderung. Der vernünftige Kohärentist wird lediglich Konsistenz der relevanten Überzeugungsausschnittsmenge verlangen. Doch dies ist freilich noch nicht hinreichend für Kohärenz. Es bedarf auch inferenzieller Vernetzung. 3. Die Vernetzung moralischer Überzeugungen untereinander und mit nichtmoralischen Überzeugungen kann durch unterschiedliche Arten von Schlüssen realisiert sein. Am Beispiel der Diskussion um die Todesstrafe des Schwerverbrechers Paul Bernardo führt Paul Thagard vor, welche Arten von Schlüssen in kohärenten moralischen Überzeugungssystemen vorkommen.86 Da sind deduktive Schlüsse involviert wie: 86

Siehe: Thagard 2000, 125-144. Zur einer allgemeinen Kritik an Thagards Kohärenztheorie siehe: Olsson 2005, 162-170.

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Die Todesstrafe ist moralisch schlecht. Paul Bernardo wegen seiner Verbrechen zu töten ist ein Vollzug der Todesstrafe. Paul Bernardo zu töten ist moralisch schlecht. Aber auch Befürworter der Todesstrafe können einen deduktiven Schluss gezogen haben: Die Todesstrafe ist für Schwerverbrecher moralisch richtig. Paul Bernardo ist ein Schwerverbrecher. Die Todesstrafe ist im Fall von Paul Bernardo moralisch richtig. Beide Überzeugungssysteme sind gleich kohärent. Hier ergibt sich der Einwand, dass man nicht sieht, wie Kohärenz es wahrscheinlich machen sollte, dass eine der moralischen Überzeugungen wahr ist. Thagard meint, die Kohärenz müsse sich auf mehr erstrecken: Die Voraussetzungen müssten ihrerseits in weitere Überzeugungen eingebunden sein. So werden Gegner allgemeinere moralische Überzeugungen haben wie Es ist schlecht, wehrlose Menschen zu töten. Daraus folgt zusammen mit der Überzeugung, dass Inhaftierte wehrlos sind, die Überzeugung, dass man sie nicht töten darf. Befürworter wiederum könnten die Überzeugung haben, es sei gut, schwere Verbrechen zu verhindern. Von dieser Überzeugung aus können sie dann zu dem Schluss gelangen, dass der Täter mit dem Tod bestraft werden soll. Dafür bedarf es aber solcher Überzeugungen wie Durch die Todesstrafe werden Verbrechen verhindert. Dies ist eine empirische Überzeugung, die ihrerseits gerechtfertigt sein muss. Sie wird sich auf psychologische und soziologische Befunde zu stützen haben. Hier kommen nun Schlüsse induktiver und erklärender Art zum Zug, zum Beispiel dieser: Die beste Erklärung für den Rückgang von Schwerverbrechen im Bundesstaat x ist die Einführung der Todesstrafe. Schließlich nennt Thagard auch „analoge“ Schlüsse: Menschen stützen eine Überzeugung über die Richtigkeit einer Handlungsweise durch Vergleich mit einem ähnlichen Fall, dessen moralischer Status offensichtlicher ist. So können Befürworter der Todesstrafe etwa die Überzeugung haben, dass die Hinrichtung eines Mörders mit einem Akt der Selbstverteidigung vergleichbar sei. Umgekehrt können

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Gegner ihre Überzeugung gegen die Todesstrafe durch die Überzeugung stützen, dass die Hinrichtung eines Gefangenen mit der Hinrichtung eines wehrlosen Opfers vergleichbar sei. Derartige „analoge“ Schlüsse allein können nach Thagard moralische Überzeugungen nicht rechtfertigen, wohl aber insgesamt zur Kohärenz beitragen. 4. Schließlich müsse das moralische Überzeugungssystem eine gewisse Umfassendheit aufweisen, damit man von Kohärenz und Rechtfertigung sprechen könne. Das Überzeugungssystem dürfe nicht nur einen kleinen moralischen Lebensausschnitt im Auge haben, sondern viele moralische Kontexte. Nur ein umfassendes, vielseitig vernetztes und im oben geforderten Sinn konsistentes Überzeugungssystem könne einzelne moralische Überzeugungen rechtfertigen. Damit entgeht der Kohärentist den Einwänden, wonach sogar Sadisten oder egoistische Lustmaximierer in ihren moralischen Überzeugungen kohärentistisch gerechtfertigt sein könnten. 6.3.4 Auseinandersetzung Dass die Kohärenz eines Überzeugungssystems einen Wert darstellt, sei hier nicht in Frage gestellt. Die Frage ist vielmehr, ob dieser Wert ein direkter epistemischer Wert ist, d. h. ob die Kohärenz einer Überzeugung mit einem kohärenten Überzeugungssystem es wahrscheinlich macht, dass diese Überzeugung auch wahr ist. Dazu gibt es Bedenken. Nehmen wir als Ausgangspunkt noch einmal die allgemeine Bestimmung von Rechtfertigung. Gerechtfertigt ist eine moralische Überzeugung genau dann, wenn sie auf angemessenen E-Gründen beruht. Der Kohärentist sagt: Die EGründe sind immer doxastischer Art, also andere Überzeugungen. Diese Gründe sind angemessen, wenn sie für die Wahrheit der moralischen Überzeugung sprechen. Dies setzt allerdings voraus, dass sie ihrerseits in inferenziellen Beziehungen zu anderen moralischen Überzeugungen stehen, die für ihre Wahrheit sprechen. Aber was spricht dafür, dass die moralischen Überzeugungen einer Person allein aufgrund interner Beziehungen wahrscheinlich wahr sind? Es scheint, dass wenig dafür spricht. Dies kann deutlich werden, wenn man sich zwei Personen Anton und Berta vorstellt, die gleich kohärente Überzeugungssysteme haben, d. h. Überzeugungssysteme, die gleich konsistent, gleich inferenziell vernetzt und gleich umfassend sind. Beide haben die Überzeugung, dass es moralisch erlaubt ist,

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in der Situation, in der sie sich befinden, zu lügen. Nun befindet sich aber Anton in einer Situation, in der es tatsächlich moralisch erlaubt ist zu lügen; Berta hingegen in einer Situation, in der es moralisch nicht erlaubt ist zu lügen. Aus der Perspektive des Kohärentisten gesehen, müssten beide gleich gerechtfertigt sein. Aber dies scheint nicht der Fall zu sein, wenn zum Begriff der erkenntnismäßigen Rechtfertigung der Begriff der Wahrheitszuträglichkeit gehört. Hier zeigt sich eine Asymmetrie. Zwar ist ein nichtkohärentes Überzeugungssystem ein Indiz dafür, dass nicht alle Überzeugungen wahr sind; aber ein kohärentes Überzeugungssystem ist kein Indiz dafür, dass der Großteil der Überzeugungen wahr ist. Ein zweites Bedenken ergibt sich aus der Deutung der Beziehung des Beruhens. Der Kohärentist muss annehmen, dass es sich hierbei um inferenzielle Beziehungen handelt. Nun hat er zwei Möglichkeiten, diese inferenziellen Beziehungen zu verstehen: (i) (ii)

entweder so, dass die erkennende Person die Schlüsse aktual gezogen hat; oder so, dass die erkennende Person die Schlüsse ziehen kann.

Die Version (i) würde dem Erfordernis des Beruhens voll Rechnung tragen. Dies scheint aber eine Überforderung zu sein. Denn wer hat schon alle inferenziellen Beziehungen zwischen den moralischen Überzeugungen bewusst und aktual hergestellt? Die Version (ii) ist realistischer. Manche Kohärentisten scheinen sich darauf festzulegen. So schreibt Sinnott-Armstrong: All the believer needs is an ability to infer in the weak sense of having the requisite information encoded somehow in the believer’s brain.87

Jedoch wird diese Version der Forderung des Beruhens nicht gerecht. Es ist nicht einzusehen, wie eine Proposition, die nicht tatsächlich aus anderen gefolgert wurde, für wahr gehalten werden kann, weil sie aus den anderen folgt. Diese Schwierigkeit sieht Sayre-McCord, der selbst einen epistemologischen Kohärentismus vertritt, deutlich:

87

Sinnott-Armstrong 2006, 237-238.

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Clearly, when it comes to working out the details of the basing requirement, coherentists need to make sense of how it is that a justified, though uninferred, belief might still be such as to be held because it is justified.88

Ein weiteres Problem ergibt sich aus der Forderung der Umfassendheit des Überzeugungssystems. Erstens ist Umfassendheit ein unscharfer Begriff. Es stellt sich die Frage, worin Umfassendheit genau besteht und wie umfassend ein Überzeugungssystem sein muss. Zweitens kann man sich leicht zwei Überzeugungssysteme A und B vorstellen, die beide konsistent und vernetzt sind, wobei aber A umfassender ist als B. Es ist dennoch möglich, dass A zum Großteil falsche Überzeugungen enthält, B aber zum Großteil wahre. Ein Beispiel: Das Überzeugungssystem einer Figur in einem Science-Fiction-Roman kann umfassender sein als das Überzeugungsnetz eines zwanzigjährigen Durchschnittseuropäers. Dennoch kann es sein, dass der Großteil der Überzeugungen des Durchschnittseuropäers wahr, der Großteil der Überzeugungen der Romanfigur aber falsch ist. Noch ein weiteres Problem für Kohärentisten ergibt sich aus dem Revisionserfordernis. Wenn Inkonsistenzen im Überzeugungsnetz entdeckt werden, gilt es, Justierungen vorzunehmen. Wir müssen dann entweder die Überzeugungen allgemeinen moralischen Inhalts mit Ausnahmeklauseln versehen oder unsere Überzeugungen singulären moralischen Inhalts aufgeben oder an beiden Veränderungen vornehmen. Aber wie gehen wir vor? Willkür schließe ich aus. Denn Willkür ist nicht wahrheitsindikativ. Wahrheitsindikation ist jedoch gefordert, wenn es um E-Gründe geht. Außerdem setzt Willkür einen direkten kognitiven Voluntarismus voraus. Es ist aber höchst unplausibel anzunehmen, wir könnten unsere moralischen Überzeugungen so mir nichts, dir nichts ändern. Ein Vorschlag besteht darin, den einzelnen moralischen Überzeugungen Ausgangsplausibilitäten zuzuschreiben.89 Wenn die Ausgangsplausibilität der Üpam größer ist als die Ausgangsplausibilität der Üpsm und andere Dinge gleich sind, dann maximiert man die Plausibilität des Überzeugungssystems, wenn man Üpsm aufgibt. Wenn aber die Ausgangsplausibilität der Üpsm größer ist als die Ausgangsplausibilität der Üpam und andere Dinge gleich sind, dann maximiert man die Plausibilität des Überzeu88 89

Sayre-McCord 1996, 183, Fußnote 31. Sinnott-Armstrong 2006, 229-230, schildert und kritisiert diese Methode.

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gungssystems, wenn man Üpam aufgibt oder adjustiert, indem man Klauseln einbaut. Ein Beispiel:90 Ich akzeptiere das allgemeine moralische Prinzip, dass man niemals lügen soll. Nun bin ich in einer Situation, in der eine unschuldige Person getötet werden würde, wenn ich nicht lüge. Akzeptiere ich das Prinzip, dann darf ich nicht lügen. Wenn ich aber lügen soll, muss ich mein allgemeines Prinzip ändern, indem ich Ausnahmen für bestimmte Situationen zulasse. Das Prinzip wird dann weniger generell, aber immer noch allgemein sein. Da die Ausgangsplausibilität des allgemeinen Prinzips kleiner ist als die der Überzeugung, dass ich jetzt lügen soll, um ein Leben zu retten, ändere ich das Prinzip. Nehmen wir nun einen anderen Fall. Ich akzeptiere wiederum das allgemeine moralische Prinzip, dass man niemals lügen soll. Nun bin ich in einer Situation, in der ich Geld verlieren würde, wenn ich nicht lüge. In dieser Situation bleibe ich bei meinem Prinzip, dass man nicht lügen soll, und sage die Wahrheit. Ich würde zwar gerne lügen, um mein Geld zu retten, aber ich ändere das allgemeine Prinzip in diesem Fall nicht und ich folgere, dass ich nicht lügen darf. Denn die Ausgangsplausibilität des Prinzips ist größer als die der singulären Überzeugung, dass ich jetzt lügen soll, um mein Geld zu retten. Die offensichtliche Hauptschwierigkeit dieses Vorschlags von kohärentistischer Seite besteht darin, dass er nicht angeben kann, woher die Ausgangsplausibilitäten kommen. Wenn die Ausgangsplausibilitäten identisch sind mit der Überzeugungsstärke, dann besteht die Gefahr, dass Vorurteile neu gemischt und in ein kohärentes Ganzes gebracht werden. Richard Hare weist darauf hin: The ‘equilibrium’ they have reached is one between forces which might have been generated by prejudice, and no amount of reflection can make that a solid basis of morality.91

Die bisherigen Einwände nähren den Verdacht, dass Kohärenz nicht hinreichend dafür ist, dass eine moralische Überzeugung epistemisch gerechtfertigt ist. Man kann aber auch fragen, ob Kohärenz überhaupt notwendig ist? Kommt es nicht immer wieder vor, dass neue Erfahrungen unser bisheriges Überzeugungssystem über den Haufen werfen? Wenn aber Kohärentisten annehmen, dass Überzeugungen allein durch andere 90 91

Das Beispiel entwickelt Hare 1996, 194. Hare 1981, 12.

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Überzeugungen gerechtfertigt sind, dann hätten solche Neueinsteiger nie eine Chance, das Überzeugungssystem zu beeinflussen. Sie wären einfach relativ zum überkommenen Überzeugungssystem nie gerechtfertigt. Da dies aber unplausibel ist, erhärtet sich der Verdacht, Kohärenz sei nicht einmal notwendig für epistemische Rechtfertigung. Nehmen wir als Beispiel unseren Befürworter der Todesstrafe. Er hat ein kohärentes Netz von Überzeugungen. Er ist überzeugt, dass es moralisch richtig ist, diesen grausamen Verbrecher hinzurichten. Er wohnt seiner Hinrichtung bei. Beim Anblick der Szene verspürt er aber völlig unerwartet Mitleid und die Überzeugung drängt sich ihm auf: Das kann nicht richtig sein. Diese Überzeugung kohäriert nicht mit seinem Überzeugungssystem. Sie ist inkonsistent mit der anderen Überzeugung, dass es richtig ist, diesen grausamen Verbrecher hinzurichten. Kann sie nicht dennoch positiven epistemischen Wert haben? Oder nehmen wir als Beispiel einen reichen Egoisten. Er ist überzeugt, dass genau das zu tun richtig ist, was seinem eigenen Nutzen dient. Diese Überzeugung kohäriert mit seinem Überzeugungssystem. Eines Tages macht er eine Geschäftsreise nach Mumbai und muss mit dem Taxi durch die Slums fahren. Da sieht er ausgehungerte Kinder am Straßenrand, erlebt zum ersten Mal in seinem Leben so etwas wie Mitleid, und die Überzeugung drängt sich ihm auf: Ich sollte etwas für sie tun. Diese neue Überzeugung kohäriert nicht mit seinem Überzeugungssystem. Sie ist inkonsistent mit allem, was er bisher über Moral gedacht hatte. Kann diese Überzeugung nicht dennoch positiven epistemischen Wert haben? Kohärentisten könnten antworten, dass spontane Überzeugungen in ihrer Theorie sehr wohl Platz haben.92 Die Rechtfertigung derartiger Überzeugungen verlaufe über Metaüberzeugungen, das sind Überzeugungen darüber, welche Überzeugungen zuverlässig gebildet wurden und eine hohe Wahrscheinlichkeit haben, wahr zu sein. Wir haben zum Beispiel die Metaüberzeugung, dass unser Gesichtssinn bei schlechtem Licht und weiter 92

Vgl. etwa: BonJour 1985; Sayre-McCord 1996, 173-174. Daniels 2007, 390, spricht von einem weiten Überlegungsgleichgewicht, d.i. von Kohärenz innerhalb eines geordneten Tripels von Überzeugungsmengen einer Person, nämlich (a) von einer Menge von überlegten moralischen Urteilen, (b) einer Menge von moralischen Prinzipien, und (c) einer Menge von relevanten Hintergrundtheorien.

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Entfernung nicht sehr verlässlich ist. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Überzeugungen, die wir unter solchen Umständen gebildet haben, sich häufig als falsch herausgestellt haben. So haben wir eine ganze Reihe von Metaüberzeugungen wie Meine Wahrnehmung ist unter den Umständen U verlässlich, Meine Erinnerung ist verlässlich, etc. Auch im Bereich der Moral können wir Erfahrungen machen, aufgrund deren wir Metaüberzeugungen bilden. So schreibt Sinnott-Armstrong: Most of us have learned by experience that we are more likely to change our moral beliefs later when we form moral beliefs quickly without adequate nonmoral information, when we do not feel confident about our moral beliefs, when we form our moral beliefs under the grip of strong emotions, when we have a personal stake in a certain moral belief, when other people disagree with us, and so on.93

Diese Antwort würde nicht nur das gerade genannte Problem lösen, sondern auch das Problem mit den Ausgangsplausibilitäten. Prüfen wir diese Antwort! Wir haben also eine Metaüberzeugung folgender Art: MÜ1:

Spontane Überzeugungen mit der Eigenschaft E sind in der Regel wahr.

Diese Metaüberzeugung ist ihrerseits induktiv gerechtfertigt. Wir beobachten, unter welchen Umständen moralische Überzeugungsbildung zu moralischen Überzeugungen führt, die sich langfristig halten und auf wenig Widerstand stoßen, und unter welchen Umständen moralische Überzeugungsbildung zu moralischen Überzeugungen führt, die schnell wieder aufgegeben werden. Diese Beobachtungen könnten zum Beispiel zu folgendem Resultat führen: Moralische Überzeugungen, die gebildet wurden, wenn man emotional stark aufgewühlt war, wenn man sich schlecht informiert und kaum überlegt hat, wenn man parteiisch oder befangen war, wenn man nicht den Rat anderer eingeholt hat, etc., wurden in der Regel schnell wieder aufgegeben und als falsch erachtet. Freilich: Diese Beobachtungen können die Metaüberzeugung (MÜ1) nur dann rechtfertigen, wenn wir auch die Überzeugung haben, dass moralische Überzeugungsänderungen Indizien für die Verlässlichkeit bzw. Unverlässlichkeit von Über93

Sinnott-Armstrong 2006, 230-231.

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zeugungsbildungsprozessen darstellen.94 Dafür bräuchte es wieder Gründe. Problematischer für die Annahme der Notwendigkeit von Metaüberzeugungen scheinen mir aber zwei weitere Einwände: 1. Die Bedingungen für Rechtfertigung werden so stark, dass viele unserer Alltagsüberzeugungen sie nicht mehr erfüllen.95 Damit meine Überzeugung, dass p, gerechtfertigt ist, müsste ich in der Annahme gerechtfertigt sein, dass die Überzeugung die Eigenschaft F hat, und dass Überzeugungen mit der Eigenschaft F wahrscheinlich wahr sind. Im Alltag haben jedoch viele Erwachsene diese Metaüberzeugungen nicht, und selbst wenn sie sie haben, leiten sie gewöhnlich ihre Überzeugungen erster Ordnung nicht von solchen Metaüberzeugungen her. Auch viele Überzeugungen von Kindern beruhen nicht auf derartigen Überzeugungen höherer Ordnung. Da wir aber viele dieser Überzeugungen von Erwachsenen und Kindern für gerechtfertigt halten, müssen wir annehmen, dass die kohärentistischen Bedingungen zu stark sind. 2. Es droht ein Regress.96 Ich führe dies anhand eines unserer oben genannten Beispiele vor. Der reiche Egoist hat die spontane Überzeugung: Ü1:

Ich sollte etwas für sie tun.

Dem Kohärentisten gemäß ist Ü1 gerechtfertigt durch die Metaüberzeugung: MÜ1:

Spontane Überzeugungen mit der Eigenschaft E sind in der Regel wahr.

Der Egoist muss aber noch eine weitere Überzeugung haben, damit Ü1 gerechtfertigt ist, nämlich: 94

95 96

Sinnott-Armstrong 2006, 231, macht folgenden Vorschlag: „The general pattern of justification looks like this: S holds first-order moral beliefs A-M and remembers giving up earlier moral beliefs N-Z. S also holds non-moral beliefs A*-Z* about the circumstances under which A-Z are or were held. Together A-Z and A*-Z* enable S to generalize to second-order beliefs about the circumstances under which moral beliefs are reliable or unreliable.” Vgl. Lemos 1994, 173. Vgl. Lemos 1994, 168-169.

Erkenntnistheorie moralischer Überzeugungen

86 Ü2:

Meine spontane Überzeugung, dass ich etwas für sie tun sollte, hat die Eigenschaft E.

Aber auch Ü2 bedarf einer Rechtfertigung durch weitere Überzeugungen, zum Beispiel durch folgende: Ü3:

Es ist mir introspektiv zugänglich, dass meine spontane Überzeugung die Eigenschaft E hat.

Aber auch Ü3 braucht eine Rechtfertigung, beispielsweise durch eine Metaüberzeugung folgender Art: MÜ2:

Introspektiv zugängliche Überzeugungen mit der Eigenschaft F sind in der Regel wahr.

Weiter bedarf es aber noch der Überzeugung: Ü4:

Meine introspektive Überzeugung, dass meine spontane Überzeugung die Eigenschaft E hat, hat die Eigenschaft F.

Man sagt, Kohärentisten hätten ihre Theorie entwickelt, um dem Begründungsregress zu entkommen. Nun sehen wir, wie die Einführung von Metaüberzeugungen schnurstracks zu einem neuen Regress führt. 6.3.5 Ergebnis Zweifelsohne stellt die Kohärenz von Überzeugungen einen Wert dar. Inkonsistenzen innerhalb eines Überzeugungssystems und Inkonsistenzen zwischen Überzeugungssystemen sind ein Zeichen dafür, dass etwas nicht stimmt. Sie sollten uns unruhig machen und uns motivieren, nach Ursachen und Lösungen zu suchen. Dennoch: Die Ansicht, dass moralische Überzeugungen lediglich doxastische Gründe benötigen, die ihrerseits wieder auf doxastischen Gründen beruhen, führt in Regressprobleme. Eine Möglichkeit, diesen zu entkommen, besteht darin, Regressstopper anzunehmen: Moralische Grundüberzeugungen, die für ihre eigene Wahrheit sprechen und daher keines von ihnen unabhängigen Grundes bedürfen.

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6.4 Eine fundamentistische Antwort Fundamentisten, deren Position ich im Folgenden darstelle, teilen mit Kohärentisten die Annahme, dass alle E-Gründe doxastische Gründe sind. Aber sie unterscheiden sich von Kohärentisten insofern, als sie annehmen, manche doxastischen Gründe seien epistemisch ausgezeichnet: Sie hätten epistemischen Wert, ohne diesen Wert von anderen Überzeugungen zu erhalten; sie seien selbstevident. Man könnte Vertreter dieser Theorie doxastische Fundamentisten nennen, um sie von anderen Fundamentisten zu unterscheiden, welche auch nichtdoxastische E-Gründe annehmen. 6.4.1 Der erkenntnistheoretische Fundamentismus Kann der Kohärentismus mit dem Bild vom Netz oder Puzzle eingeführt werden, so ist der Fundamentismus mit dem Bild vom Haus illustrierbar, wo es Fundamente braucht, Grundüberzeugungen, auf denen das gesamte Überzeugungsgebäude einer Person beruht. Auf den allgemeinsten Nenner gebracht, lautet die These des erkenntnistheoretischen Fundamentismus (F): F: Die Überzeugung, dass p, ist für eine Person S genau dann epistemisch gerechtfertigt, wenn die Überzeugung, dass p, durch andere Überzeugungen von S gerechtfertigt ist, oder wenn sie für S grundlegend gerechtfertigt ist. Die verschiedenen Fundamentismen unterscheiden sich darin, welche Überzeugungen sie als rechtmäßige Grundüberzeugungen annehmen. Eine starke Form des Fundamentismus (SF) lässt lediglich drei Arten von rechtmäßigen Grundüberzeugungen zu: SF: Die Überzeugung, dass p, ist für eine Person S genau dann eine rechtmäßige Grundüberzeugung, wenn die Überzeugung, dass p, entweder (i) selbstevident für S, oder (ii) unkorrigierbar für S, oder (iii) evident für die Sinne von S ist.

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Manche Ethiker sind nun der Ansicht, es gebe moralische Überzeugungen, die von sich aus einleuchten, und die daher die hinreichende Bedingung (i) für rechtmäßige Grundüberzeugungen erfüllen. Die Position dieser Art von Fundamentismus in der Ethik (FE) würde demnach lauten: FE Die Überzeugung, dass pm, ist für eine Person S genau dann epistemisch gerechtfertigt, wenn die Überzeugung, dass pm entweder selbstevident ist oder auf selbstevidenten Überzeugungen moralischen Inhalts beruht.

6.4.2 Doxastische Fundamentismen in der Ethik: Beispiele Ich nenne einige mögliche Beispiele für doxastische Fundamentismen in der moralischen Erkenntnistheorie. Man könnte meinen, Thomas von Aquin sei Vertreter eines solchen Fundamentismus.97 In seinem bekannten Artikel über die Frage, ob das natürliche Gesetz eine Vorschrift oder mehrere Vorschriften enthalte, nennt er folgendes erstes Prinzip der praktischen Vernunft:98 (1) Das Gute ist zu tun und zu verfolgen, und das Schlechte ist zu meiden. Dieses Prinzip sei per se notum, und zwar nicht nur secundum se, sondern auch quo ad nos. Per se notum zu sein, ist zunächst eine semantische Eigenschaft einer Proposition. Eine Proposition ist genau dann per se notum, wenn das Prädikat aus dem Begriff des Subjekts stammt.99 Damit ist aber noch nicht gesagt, dass eine derartige Proposition auch quo ad nos d. h. für uns als Erkennende per se notum ist. Für uns ist eine derartige Proposition 97

98 99

Ich formuliere den Satz mit Vorsicht, da man die moralische Epistemologie des Thomas auch anders interpretieren könnte, wonach er neben doxastischen auch nichtdoxastische Gründe für moralische Überzeugungen kennt. Ich werde im Kapitel 9 darauf zurückkommen. Summa Theologiae I II 94, 2: „[…] bonum est faciendum et prosequendum, et malum vitandum.“ Siehe: Summa Theologiae I II 94, 2.

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nur dann per se notum, wenn wir die Definition des Subjektbegriffs kennen. So ist die Proposition Der Mensch ist vernunftbegabt zwar an sich per se notum, für uns aber nur dann, wenn wir die Definition von Mensch kennen. Thomas nimmt an, dass (1) nicht nur per se, auch quo ad nos per se notum ist. Das Für-Wahr-Halten von (1) ist damit klar eine Grundüberzeugung im Sinn des starken Fundamentismus, eine Überzeugung, die für die Person, welche die Bedeutung der verwendeten Ausdrücke kennt, selbstevident ist. „Und darauf“, so Thomas weiter, „bauen alle anderen Vorschriften des natürlichen Gesetzes auf.“100 Dies klingt zunächst sehr nach FE. Es gibt eine moralische Wahrheit, die von sich aus einleuchtet. Sie ist das Fundament. Alle anderen moralischen Überzeugungen beruhen auf ihr. Als zweiten möglichen Vertreter eines doxastischen Fundamentismus könnte man George Edward Moore anführen. Er gilt als klassischer Intuitionist und schreibt: It seems to me quite self-evident that it must always be our duty to do what will produce the best effects upon the whole, no matter how bad the effects upon ourselves may be and no matter how much good we ourselves may lose by it.101

Ich bringe diese Position folgendermaßen auf den Punkt: (2) Eine Handlung ist genau dann moralisch richtig, wenn sie insgesamt die besten Folgen zeitigt, egal wie viel der Einzelne dabei verliert. Moore ist als Prinzipienmonist bekannt. Er scheint der Ansicht gewesen zu sein, es gebe nur ein einziges Prinzip der Moral, eben jenes Utilitaritätsprinzip, das für ihn „quite self-evident“ war. Was für Moore „quite selfevident“ war, kam anderen Intuitionisten hingegen überhaupt nicht selbstevident vor. So lehnte William David Ross (2) ab. Für ihn waren andere – und vor allem mehrere – moralische Überzeugungen selbstevident, unter anderen folgende:102 100 101 102

S.Th. I II 94, 2. Moore 1912, 143. Siehe auch: Moore 1912, 112. Ross 1930, 20-21. Nach Ross beruht jede dieser prima facie-Pflichten auf einem bestimmten Umstand: (3) beruht auf dem Umstand, dass wir ein Versprechen

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(3) Man soll prima facie seine Versprechen halten. (4) Man soll prima facie Schäden, die man anderen zugefügt hat, wieder gut machen. (5) Man soll sich prima facie jenen gegenüber erkenntlich zeigen, die einem Gutes erwiesen haben. (6) Man soll prima facie eine ungerechte Verteilung von Gütern und Lasten verändern oder verhindern. (7) Man soll anderen prima facie Gutes tun. (8) Man soll prima facie seine Tugend und sein Wissen verbessern. (9) Man soll anderen prima facie keinen Schaden zufügen. Diese lassen sich nach Ross nicht aufeinander zurückführen, sind also, epistemologisch gesehen, alle gleichermaßen grundlegend. Von Moore erfahren wir nicht viel darüber, wie er „self-evident“ hier verwendet. Ross hingegen erläutert, was er unter selbstevident versteht und wie wir selbstevidente moralische Inhalte erkennen. Seine Sicht sei im Folgenden näher dargestellt. 6.4.3 Eine plausible Entfaltung Selbstevidenz bestimmt Ross zunächst negativ: Eine selbstevidente Proposition könne nicht bewiesen werden und bedürfe auch keines Beweises. Dass ein Inhalt für uns selbstevident sei, besage jedoch weder, dass er für uns vom Anfang unseres Lebens an selbstevident sei, noch dass sich seine Wahrheit einfach aus einem ersten Verständnis der involvierten Ausdrücke ergebe. Vielmehr bedürfe es hinreichender geistiger Reife und hinreichender Aufmerksamkeit, damit ein derartiger Inhalt selbstevident für uns werde.103 Ross vergleicht die Weise der Überzeugungsbildung moralischer

103

gegeben haben; (4) beruht auf dem Umstand, dass wir etwas Falsches getan haben. Ross beansprucht mit seiner Einteilung keine Vollständigkeit oder Endgültigkeit. Ross 1930, 29-30: „That an act, qua fulfilling a promise, or qua effecting a just distribution of good, or qua returning services rendered, or qua promoting the good of others, or qua promoting the virtue or insight of the agent, is prima facie right, is self-evident; not in the sense that it is evident from the beginning of our lives, or as soon as we attend to the proposition for the first time, but in the sense that when we have reached sufficient mental maturity and have given sufficient attention to the proposition it is evident without any need of proof, or of evidence beyond itself. It

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Wahrheiten mit der mathematischer oder logischer Wahrheiten. Ihm zufolge erkennen wir derartige Prinzipien anhand von Erfahrungen mit Einzelfällen. Wir lernen durch Erfahrung, dass diese zwei Streichhölzer und jene zwei Streichhölzer vier Streichhölzer ergeben, dass diese zwei Kugeln am Rechenschieber zusammen mit jenen zwei Kugeln vier Kugeln ergeben. Durch Reflexion auf diese und ähnliche Entdeckungen würden wir dazu kommen, einzusehen, dass es zum Wesen von zwei und zwei gehört, vier zu ergeben. Im Bereich des Moralischen sei es genau so. Wir sehen die prima facie-Richtigkeit dieser Handlung, welche das Halten eines bestimmten Versprechens darstellt, und die prima facie-Richtigkeit jener Handlung, welche das Halten eines anderen Versprechens darstellt. Bei hinreichender geistiger Reife und entsprechender Reflexion würden wir dann einsehen, dass die prima facie-Richtigkeit zum Wesen des Haltens von Versprechen gehöre.104

104

is self-evident just as a mathematical axiom, or the validity of a form of inference, is evident. The moral order expressed in these propositions is just as much part of the fundamental nature of the universe (and, we may add, of any possible universe in which there were moral agents at all) as is the spatial or numerical structure expressed in the axioms of geometry or arithmetic. In our confidence that these propositions are true there is involved the same trust in our reason that is involved in our confidence in mathematics; and we should have no justification for trusting it in the latter sphere and distrusting it in the former. In both cases we are dealing with propositions that cannot be proved, but that just as certainly need no proof. […].“ Ross 1930, 32-33: „The general principles of duty are obviously not self-evident from the beginning of our lives. How do they come to be so? The answer is that they become to be self-evident to us just as mathematical axioms do. We find by experience that this couple of matches and that couple make four matches, that this couple of balls on a wire and that couple make four balls: and by reflection on these and similar discoveries we come to see that it is of the nature of two and two to make four. In a precisely similar way, we see the prima facie rightness of an act which would be the fulfilment of a particular promise, and of another which would be the fulfilment of another promise, and when we have reached sufficient maturity to think in general terms, we apprehend prima facie rightness to belong to the nature of any fulfilment of promise. What comes first in time is the apprehension of the self-evident prima facie rightness of an individual act of a particular type. From this we come by reflection to apprehend the self-evident general principle of prima facie duty.”

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Nun könnte man meinen: Die Überzeugung allgemeinen moralischen Inhalts basiere epistemisch auf Überzeugungen, die in Einzelsituationen gebildet wurden. Wir hätten es dann mit einer induktiven Generalisierung folgender Art zu tun:

Also:

In Situation S1 war es richtig, H zu tun. In Situation S2 war es richtig, H zu tun. S1 und S2 haben die Merkmale M gemeinsam. In allen Situationen mit den Merkmalen M ist es prima facie richtig, H zu tun.

Aber dies widerspricht Ross’ Erläuterung von „selbstevident“. Selbstevident zu sein, heißt nichtinferenziell gerechtfertigt zu sein. Wir entdecken die allgemeine moralische Proposition zwar durch Reflexion auf Einzelfälle. Aber sie ist nicht gerechtfertigt durch induktive Generalisierung. Ross würde wohl die Entstehungsordnung von der Rechtfertigungsordnung unterscheiden. Ross glaubte wohl, dass diese selbstevidenten Überzeugungen allgemeinen moralischen Inhalts auch eine weitere Bedingung von SF erfüllen, nämlich unkorrigierbar für das Erkenntnissubjekt zu sein, d. h. eine Rechtfertigung zu besitzen, welche nicht zu Fall gebracht werden könne. Nach Ross sind die besagten Überzeugungen allgemeinen moralischen Inhalts selbstevident für uns. Wie aber kommen wir zu den Überzeugungen singulären moralischen Inhalts und wodurch sind sie gerechtfertigt? Man könnte meinen, sie seien durch einen deduktiven Schluss gerechtfertigt, zum Beispiel: (i) (ii)

Man soll seine Versprechen halten. Ich habe Anton versprochen, Berta heute Nachmittag im Krankenhaus zu besuchen. (iii) Ich soll Berta heute Nachmittag im Krankenhaus besuchen. Der Satz (iii) drückt einen singulären moralischen Inhalt aus. Ich bin gerechtfertigt, ihn für wahr zu halten aufgrund meiner Überzeugungen (i) und (ii).

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Aber diese Lösung wäre zu einfach. Das Leben ist kompliziert. Wir befinden uns häufig in Situationen, in denen mehrere prima facie-Pflichten relevant sind. Diese Pflichten können nicht aufeinander zurückgeführt werden. Aber welche unter ihnen ist dann die tatsächliche Pflicht? Dies kann man nicht ableiten. Beim obigen Beispiel kann man sich leicht ein Szenario denken, in dem es moralisch schlecht wäre, das Versprechen zu halten, zum Beispiel wenn ich Zeuge eines schweren Unfalls werde und dringend Hilfe leisten soll. Man könnte meinen, es gebe eine klare Rangordnung der Pflichten. Dann würde bei Pflichtenkollisionen die jeweils obere Pflicht die unteren Pflichten stechen. Aber auch dies trifft nicht zu. Es kann sein, dass es zum Beispiel in einer Handlungssituation, in der mehrere Pflichten im Spiel sind, richtig ist, ein Versprechen zu halten, in einer anderen hingegen nicht. Nach Ross gibt es keine starre Rangordnung. Zwar hat die Pflicht, Versprechen einzuhalten, einen gewissen Vorrang vor der Pflicht zur Wohltätigkeit, aber unter Umständen kann es auch umgekehrt sein, zum Beispiel wenn die Wohltätigkeit drängend, das Versprechen aber vergleichsweise trivial wäre. Auch die Pflicht, anderen nicht zu schaden, bindet prima facie stärker als die Pflicht zur Wohltätigkeit. Aber wiederum: Unter Umständen kann es umgekehrt sein. Entsprechend nüchtern sah Ross den Status von Überzeugungen singulären moralischen Inhalts: Diese seien bloß wahrscheinliche Meinungen. Er schreibt: Our judgments about our actual duty in concrete situations have none of the certainty that attaches to our recognition of the general principles of duty. […] Where a possible act is seen to have two characteristics, in virtue of one of which it is prima facie right, and in virtue of the other prima facie wrong, we are (I think) well aware that we are not certain whether we ought or ought not to do it; that whether we do it or not, we are taking a moral risk. […] we have more or less probable opinions which are not logically justified conclusions from the general principles that are recognized as self-evident.105

Bezüglich Überzeugungen singulären moralischen Inhalts zitiert Ross aus der Nikomachischen Ethik des Aristoteles (NE 1109b23; 1126b4): „Das Urteil besteht in der Wahrnehmung.“ Man muss also irgendwie wahrnehmen, was in einer konkreten Situation zu tun ist richtig ist. Ross schreibt: 105

Ross 1930, 30-31.

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Erkenntnistheorie moralischer Überzeugungen For the rest, aC I‹ 6kH$ H:> « @G¼H>0. This sense of our particular duty in particular circumstances, preceded and informed by the fullest reflection we can bestow on the act in all its bearings, is highly fallible but it is the only guide we have to our duty.106

Damit sprengt Ross bereits den Rahmen eines doxastischen Fundamentismus. Auch wenn er nicht näher ausführt, was mit „Wahrnehmung“ gemeint ist, so denkt er doch vermutlich an eine Fähigkeit moralischer Überzeugungsbildung, die nicht allein mit doxastischen Gründen auskommt. 6.4.4 Auseinandersetzung Ich setze mich mit der beschriebenen fundamentistischen Sicht auseinander, indem ich mögliche Einwände erwäge und prüfe. 1. Ein erster Einwand lautet folgendermaßen: Wenn es selbstevidente moralische Propositionen gäbe, dann müsste jeder Mensch sie für wahr halten, sobald er sie erfasst. Doch dies ist offensichtlich nicht der Fall. Der Böse versteht die Ausdrücke des Satzes Das Gute ist zu tun und das Schlechte ist zu meiden. Dennoch könnte er ihn für falsch halten und vom Gegenteil, nämlich Das Schlechte ist zu tun und das Gute zu meiden, überzeugt sein.107 Ein Sadist versteht den Satz Es ist moralisch schlecht, andere zum eigenen Spaß zu foltern durchaus. Er versteht jedes Wort. Dennoch hält er ihn nicht für wahr. Und sogar Intuitionisten, die an selbstevidente moralische Wahrheiten glauben, streiten darüber, welche und wie viele moralische Propositionen selbstevident sind. Also gibt es keine selbstevidenten moralischen Propositionen. Auf diesen Einwand sind mehrere Antworten möglich. Man kann in Bezug auf die erste Prämisse zunächst klarstellen: Selbstevidenz einer Proposition impliziert nicht, dass jede Person sie für wahr hält, sobald sie diese Proposition erfasst. Dass eine Proposition selbstevident ist, besagt lediglich, dass jede Person, die sie versteht, allein aufgrund dieses Verständnisses gerechtfertigt ist, sie für wahr zu halten. Anders ausgedrückt: Behauptet wird nicht, dass die Einsicht in die Begriffszusammenhänge einer Proposition hinreichend dafür ist, sie für wahr zu halten. Behauptet wird le106 107

Ross 1930, 42. Arthur Schopenhauer erwähnt zum Beispiel die Maxime der Bosheit „Schade allen soviel du kannst!“ Siehe: Schopenhauer 1840, §14.

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diglich, dass die Einsicht in die Begriffszusammenhänge einer Proposition hinreichend dafür ist, diese Proposition gerechtfertigterweise für wahr zu halten.108 Zweitens kann man darauf hinweisen, dass nicht alle selbstevidenten Propositionen so unmittelbar einsichtig sind wie Junggesellen sind unverheiratete Männer oder Das Ganze ist größer als jedes seiner Teile. Es gibt auch komplexe Inhalte. Robert Audi nennt folgendes Beispiel:109 Wenn es keine Geschwister gab, gibt es in der nächsten Generation auch keine Cousinen ersten Grades. Es mag zwar sein, dass wir solche Sätze irgendwie verstehen, aber dennoch die begrifflichen Zusammenhänge nicht durchschauen. Daraus folgt allerdings nicht, dass diese begrifflichen Zusammenhänge nicht bestehen und dass folglich eine Person nicht gerechtfertigt sein könnte, einen derartigen Inhalt für wahr zu halten. Wir müssen also unterscheiden zwischen unmittelbaren selbstevidenten Propositionen, die offensichtlich sind, und mittelbaren selbstevidenten Propositionen, die nicht offensichtlich sind. Drittens darf nicht übersehen werden, dass nicht irgendein Verständnis, sondern ein angemessenes Verständnis einer Proposition nötig ist. Auch Ross fordert hinreichende Aufmerksamkeit (sufficient attention), eine gewisse Erfahrung (experience), Reflexion (reflection) und geistige Reife (sufficient mental maturity). Nun ist der Ausdruck „angemessenes Verständnis“ notorisch unscharf. Wann hat man ein Wort wie „foltern“ angemessen verstanden? Wenn man es in Sätzen korrekt verwenden kann? Wenn man erklären kann, was es bedeutet? Wenn man es in eine andere Sprache übersetzen kann? Ross scheint unter „angemessenem Verständnis“ mehr zu meinen. Er spricht auch von Erfahrung. Vielleicht meint er, dass man zum Beispiel das Wort „foltern“ nur dann angemessen versteht, wenn man zumindest eine Ahnung davon hat, wie es ist, gefoltert zu werden. Diese drei Bemerkungen helfen, mit den im Einwand aufgezählten Beispielen zurechtzukommen. Wenn angenommen wird, der Böse könne sa108 109

Vgl. auch: Audi 1997, 45, und Shafer-Landau 2003, 247. Audi 1997, 46.

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gen, er glaube, dass das Schlechte zu tun und das Gute zu unterlassen sei, würde ich tatsächlich fragen, ob er den Satz Das Gute ist zu tun und das Schlechte ist zu meiden verstanden hat. Er kann freilich meinen, das, was andere für schlecht halten, sei zu tun, und das, was andere für gut halten, sei zu unterlassen. Er kann aber nicht meinen, das, was er selbst für schlecht hält, sei zu tun, und das, was er selbst für gut hält, sei zu unterlassen. Wenn er an einer Sache nichts Gutes findet, nichts, das für ihn unter irgendeiner Rücksicht ein Gut, einen Wert darstellt, dann wird er auch nicht glauben, dass er es verwirklichen solle. Wenn zweitens angenommen wird, ein Sadist könne den Satz Es ist moralisch schlecht, andere zum eigenen Spaß zu foltern verstehen, ohne ihn für wahr zu halten, so stehen zwei Antwortmöglichkeiten zur Verfügung. Die naheliegende Antwort lautet: Der Sadist hat kein angemessenes Verständnis der Ausdrücke. Eine zweite Antwortmöglichkeit wäre folgende: Unser Fundamentist behauptet nicht, alle moralischen Überzeugungen seien selbstevident. Es ist moralisch schlecht, andere zum eigenen Spaß zu foltern könnte zu jenen Propositionen gehören, die nicht selbstevident sind, und daher Inhalt einer Überzeugung sein, welche auf anderen, grundlegenderen Überzeugungen beruht. Wenn schließlich eingewendet wird, dass sogar unter Intuitionisten Uneinigkeit darüber besteht, welche Propositionen selbstevident sind, so kann man darauf antworten, dass es manchmal außerordentlich schwierig ist, begriffliche Zusammenhänge zu sehen. Doch dies ist kein spezifisch ethisches Problem. Dieses Problem gibt es in allen Bereichen der Philosophie. 2. Aber dann – so ein zweiter Einwand – sind Überzeugungen, die für selbstevident gehalten werden, nicht unanfechtbar. Darauf kann man antworten, dass Intuitionisten nicht zur Annahme der Unanfechtbarkeit grundlegender moralischer Überzeugungen verpflichtet sind.110 Die Rechtfertigung grundlegender moralischer Überzeugungen kann auch außer Kraft gesetzt werden. Wie ist das aber möglich, wenn es sich um selbstevidente Propositionen handelt? Nun, wir müssen den Status von Propositionen und den Status von Überzeugungen unterscheiden. Eine 110

Lemos 1994, 144-151, spricht von „modest apriori justification“. Siehe auch: Audi 1997, 37-39.

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Proposition kann selbstevident sein. Dies impliziert jedoch weder, dass alle, die mit ihr konfrontiert sind, sie für wahr halten, noch dass alle, die sie für wahr halten, glauben oder wissen, dass sie selbstevident ist. Die folgenden drei Sätze sind also zu unterscheiden: (i) pm ist selbstevident. (ii) S ist überzeugt, dass pm. (iii) S ist überzeugt, dass pm selbstevident ist. Im Fall von (ii) ist Anfechtung möglich. Eine Person kann gerechtfertigt sein, eine selbstevidente Proposition für wahr zu halten; sie kann aber auch nicht gerechtfertigt sein. Es hängt davon ab, ob sie die Proposition tatsächlich aufgrund eines angemessenen Verständnisses, d. h. aufgrund einer Einsicht in die begrifflichen Zusammenhänge für wahr hält oder nicht. Ein Verständnis der Proposition oder eine Einsicht in die Begriffszusammenhänge sind E-Gründe. Diese können aber außer Kraft gesetzt werden. Auch im Fall von (iii) ist Anfechtung möglich. Man kann sich über den epistemischen Status einer Proposition irren. 3. Es scheint, dass doxastische Fundamentisten dem Regressproblem auch nicht entkommen. Denn für die Rechtfertigung der angenommenen moralischen Grundüberzeugungen sind wiederum Metaüberzeugungen nötig. Es reicht nicht, pm aufgrund eines angemessenen Verständnisses von pm zu glauben; man muss auch glauben, dass es angemessen ist, pm zu glauben. Es reicht nicht, die selbstevidente Proposition pm für wahr zu halten; man muss auch überzeugt sein, dass pm selbstevident ist. Das Erfordernis der Metaüberzeugungen war dem Kohärentisten zum Verhängnis geworden. Den Fundamentisten aber trifft es meines Erachtens nicht. Denn er fordert nicht, dass jede gerechtfertigte Überzeugung durch weitere Überzeugungen gerechtfertigt sein muss. Er kann dem Einwand mit der bekannten Zwei-Ebenen-Unterscheidung begegnen, nämlich: (i) (ii)

S ist gerechtfertigt, es für wahr zu halten, dass p. S ist gerechtfertigt, es für wahr zu halten, dass S gerechtfertigt ist, es für wahr zu halten, dass p.

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Dies sind zwei unterschiedliche Propositionen. (ii) ist eine Überzeugung höherer Ordnung. Im Normalfall muss (ii) nicht erfüllt sein, damit (i) wahr ist. Die Überzeugung, dass pm, muss lediglich selbstevident für S sein, damit sie gerechtfertigt ist. S muss darüber hinaus nicht auch noch gerechtfertigt sein zu glauben, dass ihre Überzeugung, dass pm, gerechtfertigt ist.111 Aufgrund der drei Einwände und ihrer Entgegnungen war es möglich, den Begriff selbstevidenter moralischer Überzeugungen weiter zu entfalten und zu zeigen, dass die Annahme selbstevidenter moralischer Grundüberzeugungen nicht völlig unplausibel ist. Dennoch scheint mir die anfänglich genannte fundamentistische These nicht haltbar zu sein. Diese These lautete, dass alle moralischen Überzeugungen letztlich auf selbstevidenten moralischen Grundüberzeugungen beruhen und dass diese moralischen Grundüberzeugungen epistemisch in sich stehen und keinen Grund außerhalb ihrer selbst haben. Ich nenne im Folgenden einige Schwierigkeiten dieser These: Erstens dürfte die Basis aus selbstevidenten moralischen Überzeugungen zu schmal sein. Nimmt man zum Beispiel die selbstevidente Überzeugung Das Gute ist zu tun und zu verfolgen und das Schlechte ist zu meiden, so hat man lediglich eine formale allgemeine Überzeugung und sieht nicht, wie man von ihr aus zu materialen Inhalten gelangt. Man bräuchte noch Überzeugungen darüber, worin das Gute bzw. Schlechte im allgemeinen oder hier und jetzt besteht. Und derartige Überzeugungen wären nicht mehr selbstevident. Nimmt man wie Ross oder zeitgenössische Intuitionisten einige materiale allgemeine Überzeugungen als selbstevident an, ist die Lage bereits aussichtsreicher. Dennoch ist es fraglich, ob die vielen unserer alltäglichen moralischen Überzeugungen, die wir durchaus für gerechtfertigt halten, auf einigen wenigen selbstevidenten moralischen Überzeugungen beruhen können. Zweitens – und mit der ersten Schwierigkeit verbunden – kann der starke doxastische moralische Fundamentist, den ich hier beschrieben habe, lediglich eine deduktivistische Rechtfertigung von Überzeugungen 111

Vgl. Audi 1997, 37.

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singulären moralischen Inhalts annehmen. Doch dass eine deduktivistische inferenzielle Rechtfertigung von Überzeugungen singulären moralischen Inhalts versagt, hat Ross klar gesehen. Was im Einzelfall zu tun richtig ist, kann nicht einfach deduktiv abgeleitet werden, weil Handlungssituationen komplex und daher häufig mehrere prima facie-Pflichten involviert sind. Die Kombinationsmöglichkeiten von Handlungsumständen sind unendlich. Keine allgemeinen Überzeugungen können alle Eventualitäten beinhalten. Wir müssen im konkreten Einzelfall nicht nur herausfinden, (1) ob die Bedingungen erfüllt sind beziehungsweise die Umstände gegeben sind, welche in einer prima facie-Pflicht genannt werden, und (2) auch nicht nur, wie wir im Einzelnen handeln müssen, um dieser Pflicht nachzukommen, sondern (3) vor allem, welche unter den relevanten prima facie-Pflichten tatsächlich zum Zug kommt. Wenn mehrere prima facie-Pflichten in einer Situation involviert sind, dann können Überzeugungen singulären moralischen Inhalts nicht einfach deduktiv durch Überzeugungen über prima facie-Pflichten begründet sein. Es bleibt also völlig unklar, wodurch Überzeugungen singulären moralischen Inhalts gerechtfertigt sind. Ross spricht im Anschluss an Aristoteles von Wahrnehmung. Damit geht er bereits über den doxastischen Fundamentismus hinaus. Drittens scheinen auch selbstevidente moralische Überzeugungen epistemisch nicht grundlos zu sein. Sie ruhen nicht in sich und sprechen auch nicht für sich. Vielmehr bestehen ihre E-Gründe in einem Verständnis oder einer Einsicht in die begrifflichen Zusammenhänge. Verständnis oder Einsicht in begriffliche Zusammenhänge zu haben, ist ein nichtdoxastischer Zustand, ein Zustand, in dem uns ein Inhalt als wahr erscheint. Wir werden also von diesen vermeintlichen selbstevidenten Überzeugungen auf nichtdoxastische Gründe verwiesen.112 6.4.5 Ergebnis Ich habe dafür argumentiert, dass sich eine moderate Sicht von selbstevidenten moralischen Überzeugungen verteidigen lässt. Diese moderate Sicht impliziert die These, dass einige moralische Überzeugungen im explizierten Sinn selbstevident sind. Sie impliziert allerdings nicht die stärkere 112

Ich werde darauf in 7.3.2 zurückkommen.

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These, dass diese selbstevidenten Überzeugungen irrtumsimmun sind bzw. ihre Rechtfertigung unanfechtbar ist. Obwohl ich für diese moderate Sicht von selbstevidenten moralischen Überzeugungen argumentiert habe, scheint mir ein durchgehender doxastischer Fundamentismus in der Ethik nicht angemessen zu sein. Besonders die Frage der Rechtfertigung von Überzeugungen singulären moralischen Inhalts führt dazu, auch nichtdoxastische Gründe in Betracht zu ziehen.

7 Nichtdoxastische Gründe In diesem Kapitel untersuche ich mögliche nichtdoxastische Gründe für moralische Überzeugungen: Wahrnehmungen, Vorstellungen, Intuitionen, Emotionen, Wünsche. Ich werde sie untersuchen, indem ich jeweils drei Fragen stelle: 1. Handelt es sich um eigenständige Gründe oder lassen sie sich epistemisch auf andere Gründe zurückführen? 2. Sind sie als EGründe für moralische Überzeugungen geeignet? 3. Auf welche Weise können sie E-Gründe für moralische Überzeugungen sein? 7.1 Sinneswahrnehmungen Ich nehme hier – ohne dafür zu argumentieren – an, dass Sinneswahrnehmungen Erfahrungen sind, in denen uns Objekte auf eine bestimmte Art und Weise präsentiert bzw. repräsentiert werden. Diese Erfahrungen können die entsprechenden Überzeugungen, dass das Objekt so-und-so ist, epistemisch rechtfertigen. Denn die Erfahrung bzw. der Eindruck, dass uns etwas, x, als so-und-so erscheint, ist zunächst einmal ein E-Grund zu glauben, dass x so-und-so ist. Damit vertrete ich eine realistische Position: Die Wirklichkeit wird nicht durch Erfahrungen konstituiert, und Erfahrungen werden weder durch Überzeugungen konstituiert noch sind Erfahrungen identisch mit Überzeugungen; sondern die Überzeugungen beruhen auf den Erfahrungen und sind durch diese epistemisch gerechtfertigt. Ich blicke etwa auf eine rote Rose und bilde die Überzeugung Die Rose ist rot. Weder wird die Tatsache, dass die Rose rot ist, konstituiert durch meine Erfahrung, noch ist mein Eindruck, dass die Rose rot ist, identisch mit meiner Überzeugung, dass die Rose rot ist; sondern: Meine Überzeugung, dass die Rose rot ist, beruht auf dem Eindruck, dass die Rose rot ist; und meine Überzeugung, dass die Rose rot ist, ist gerechtfertigt durch den entsprechenden visuellen Eindruck. Diese Rechtfertigung ist erstens nichtinferenziell und zweitens prima facie. Denn sie kann zunichte gemacht werden, indem ich zum Beispiel dahinter komme, dass ich mich täusche.

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Diese fundamentistische These vorausgesetzt, frage ich nun, inwiefern Wahrnehmungen Gründe für moralische Überzeugungen sein können. Manche Moralphilosophen sind der Auffassung, dass wir das Gut- oder Schlechtsein von Handlungen wahrnehmen können, so wie wir etwa wahrnehmen können, dass eine Pflanze Wasser braucht.113 Doch scheint mir hier „Wahrnehmung“ in einem weiten Sinn verwendet zu werden, nicht im Sinn von Sinneswahrnehmung, sondern im Sinn von Intuition oder im Sinn einer komplexen Überzeugungsbildungsweise.114 Im engen Sinn nehmen wir nicht wahr, sehen wir nicht, dass eine Pflanze Wasser braucht, sondern kommen zu dieser Überzeugung mithilfe einer Reihe von zusätzlichen anderen Überzeugungen, Hintergrundüberzeugungen, Beobachtungen und Erfahrungen. Ebenso meine ich, dass wir das Gut- oder Schlechtsein von Handlungen nicht mit den fünf Sinnen wahrnehmen. Dennoch können Sinneswahrnehmungen für die moralische Überzeugungsbildung eine Rolle spielen. Sie spielen diese Rolle, indem sie uns moralrelevante Sachverhalte und Umstände repräsentieren. Im Kapitel 5.1 nannte ich zwei Weisen, wie das Erfassen solcher Umstände in die Rechtfertigung von moralischen Überzeugungen eingehen kann. Die erste Weise ist die doxastische. Wir bilden aufgrund von Sinneswahrnehmungen und Hintergrundüberzeugungen Überzeugungen über die Handlungsumstände. Diese Überzeugungen liefern einen inferenziellen Beitrag bei der Rechtfertigung moralischer Überzeugungen. Die zweite Weise, wie das Erfassen von Umständen in die Rechtfertigung moralischer Überzeugungen eingehen kann, ist eine nichtdoxastische und daher auch eine nichtinferenzielle. Es sind die Eindrücke selbst, die als E-Gründe fungieren können. Dies verstehe ich parallel zur Bildung von Wahrnehmungsüberzeugungen. Wenn ich zum Beispiel die Überzeugung bilde, dass vor mir eine Orchidee steht, dann werde ich zur Überzeugungsbildung bestimmte phänomenale Merkmale herausgreifen, etwa Formmerkmale der Blätter, Blüten, Wurzeln, andere jedoch unbeachtet lassen. Es sind aber nicht notwendigerweise Überzeugungen über die Merkmale, welche in die Überzeugungsbildung eingehen, sondern die phänomenalen Merkmale in 113 114

Vgl. McGrath 2004, 220 ff.; siehe auch: Chappell 2009, 90-94. Intuitionen werden im folgenden Abschnitt 7.2 behandelt.

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meinem Gesichtsfeld selbst. In ähnlicher Weise könnte das phänomenale Erfassen von Merkmalen der Handlungssituation ohne Umweg über Überzeugungen einen direkten Beitrag für die Rechtfertigung moralischer Überzeugungen leisten. Nun zur Beantwortung der drei Fragen: Diese Gründe können erstens einen eigenständigen Beitrag zur Rechtfertigung von Überzeugungen singulären moralischen Inhalts liefern. Denn derartige Überzeugungen können nur dann gerechtfertigt sein, wenn auch die partikulären Handlungsumstände erfasst werden. Das Erfassen der Handlungsumstände kann teilweise auch auf Wahrnehmung beruhen. Somit spielt Wahrnehmung entweder eine direkte oder indirekte Rolle bei der Rechtfertigung von Überzeugungen singulären moralischen Inhalts. Zweitens sind diese Gründe EGründe. Ihr Vorhandensein und ihre kausale Rolle bei der moralischen Überzeugungsbildung tragen zur Wahrscheinlichkeit bei, dass die moralische Überzeugung auch wahr ist. Schließlich verstehe ich die Art und Weise, wie derartige Gründe rechtfertigen, parallel zur Art und Weise, wie Eindrücke im Allgemeinen Überzeugungen rechtfertigen. Sie rechtfertigen nichtinferenziell und prima facie. Wahrnehmungen allein sind freilich nicht hinreichend, um moralische Überzeugungen zu rechtfertigen. Sie stellen lediglich einen Teil der Rechtfertigungsgründe dar. Denn sie liefern keine moralischen bzw. normativen Inhalte. Eine Alternative zu dieser Deutung besteht darin anzunehmen, Wahrnehmungen bzw. Beobachtungen würden direkt zu moralischen Inhalten führen und ihr Für-Wahr-Halten im Sinn eines Schlusses auf die beste Erklärung des Beobachteten rechtfertigen. Ich nenne zunächst ein alltägliches nichtmoralisches Beispiel: Wir beobachten etwas und bilden spontan eine Überzeugung, welche das Beobachtete erklärt. Wir beobachten, dass die Straße nass ist, und bilden spontan die Überzeugung Es hat geregnet. Die Beobachtung der nassen Straße ist für uns ein Grund, es für wahr zu halten, dass es geregnet hat. Und unsere Überzeugung Es hat geregnet ist dadurch epistemisch gerechtfertigt, dass sie die Tatsache der nassen Straße besser erklärt als Alternativen. Die Straße ist nass, weil es geregnet hat. Und nun

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ein moralisches Beispiel:115 Anton beobachtet, dass Jugendliche eine Katze anzünden, und bildet spontan die Überzeugung Die Jugendlichen sind moralisch verkommen. Die Beobachtung des Handelns der Jugendlichen ist für Anton ein Grund, es spontan für wahr zu halten, dass die Jugendlichen moralisch verkommen sind. Aber was wird im moralischen Beispiel eigentlich erklärt? Will man den Fall parallel zum Regenbeispiel verstehen, müsste man antworten: Es wird die Tatsache erklärt, dass die Jugendlichen die Katze anzünden. Sie haben es getan, weil sie moralisch verkommen sind. Antons Überzeugung Die Jugendlichen sind moralisch verkommen wäre entsprechend dadurch epistemisch gerechtfertigt, dass sie das Handeln der Jugendlichen besser erklärt als andere Alternativen. Damit hätte Antons Beobachtung direkt zu einer Überzeugung moralischen Inhalts geführt. Dieser Vorschlag scheint jedoch nicht zielführend zu sein. Bereits beim Regenbeispiel bedarf es einer zusätzlichen Überzeugung, nämlich dass nasse Straßen häufig auf Regen zurückzuführen sind, sowie weiterer Hintergrundüberzeugungen darüber, dass alternative Erklärungen unwahrscheinlich sind. Diese Überzeugungen müssen ihrerseits induktiv gerechtfertigt sein. Beim moralischen Beispiel bedarf es ebenfalls einer zusätzlichen moralischen Überzeugung, nämlich dass derartiges Handeln auf moralisch verkommene Charaktere zurückzuführen ist. Darüber hinaus verstehen wir unsere moralischen Bewertungen in den meisten Fällen nicht als Erklärungen von Handlungen. Daher halte ich diesen Versuch, Wahrnehmungen bzw. Beobachtungen als nichtdoxastische Gründe für Überzeugungen moralischen Inhalts zu deuten für problematisch.

115

Das Beispiel formuliere ich in Anlehnung an Harman 1977, und die Debatte, die er ausgelöst hat (siehe dazu: Sturgeon 1988; Sturgeon 2006; Thomson, in Harman / Thomson 1996; McGrath 2004). Allerdings geht es mir hier nicht um die Stoßrichtung, die Harman verfolgt, nämlich ob die Annahme moralischer Tatsachen den Beobachtungsvorgang und das moralische Spontanurteil besser erklärt als etwaige Alternativen. Darauf werde ich im Kapitel 11 kurz eingehen. Hier interessiert mich lediglich eine mögliche Anwendung seiner Idee für meine Fragestellung.

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7.2 Intuitionen In der Beschreibung und Erklärung der moralischen Urteilsbildung verwendet man häufig den Ausdruck „Intuition“. Man „spürt“, „sieht“, „nimmt wahr“, was zu tun richtig ist. Ich nenne wiederum einige Beispiele für diese Position. 7.2.1 Beispiele aus der Philosophiegeschichte Es wird viel darüber gerätselt, was Aristoteles gemeint haben könnte, wenn er schreibt, dass es Klugheit mit dem Letzten zu tun hat, „von dem es keine Wissenschaft gibt, sondern Wahrnehmung, nicht jene, welche die so genannten eigentümlichen Sinnesobjekte erfasst, sondern eine, wie die ist, durch die wir innewerden, dass das letzte Mathematische das Dreieck ist. Denn auch hier hält man ein und geht man nicht weiter.“116 Aristoteles macht klar, dass er bei dieser Art von Wahrnehmung nicht an Sinneswahrnehmung denkt. An anderen Stellen unterscheidet er zwischen erscheinen (phainestai) und meinen (dokein, doxa).117 Diese Unterscheidung führt er u. a. ein, um Täuschungen und andere Phänomene erklären zu können. So erscheint uns die Sonne auch dann noch einen Fuß breit zu sein, wenn wir wissen, dass es sich anders verhält. Erscheinen und Meinen sind zwei unterschiedliche kognitive Zustände. Der erste ist ein nichtdoxastischer Zustand, der zweite hingegen ein doxastischer. Mit dieser besonderen Art der Wahrnehmung könnte Aristoteles also auf die Fähigkeit der phantasia Bezug nehmen, kraft der uns Dinge als so und so erscheinen. In moralischen Kontexten wäre es die „zweite Prämisse“, die wir auf diese Weise erfassen. Gemeint ist das partikuläre Ziel, das wir in einer bestimmten Situation verfolgen sollen, zum Beispiel: Jetzt zu sagen Das hast du gut gemacht, ist ein Fall von Freundlich-Sein. So könnte man Aristoteles folgendermaßen deuten: Es gibt Intuitionen darüber, was man in einer konkreten Situation tun soll. Diese Intuitionen sind keine Überzeugungen, sondern nichtdoxastische Zustände, in denen uns etwas als gut/schlecht erscheint. Diese 116 117

Nikomachische Ethik 1142a27-29. Vgl. Aristoteles, De Anima 427a 17-429a 9; Aristoteles, De Insomniis 460b3461b7.

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Erkenntnistheorie moralischer Überzeugungen

nichtdoxastischen Zustände sind die E-Gründe für die Überzeugungen singulären moralischen Inhalts. Als zweites Beispiel greife ich einen klassischen Intuitionisten heraus: Henry Sidgwick. Ihm zufolge gibt es in unserer bewussten Erfahrung das Phänomen der offensichtlichen Wahrnehmung bzw. des Urteils, dass eine Handlung in sich richtig oder gut ist. Dieses Phänomen nennt er Intuition. Es handle sich nicht um das Ergebnis einer Folgerung, sondern um ein unmittelbares Erfassen von moralischen Qualitäten. Nach Sidgwick können Intuitionen ein Element des Irrtums enthalten. Diesbezüglich seien sie visuellen Wahrnehmungen ähnlich, die auch teilweise täuschend und irreführend sein könnten. Moralische Intuitionen würden auch leicht mit anderen Geisteszuständen verwechselt, zum Beispiel mit blinden Impulsen zu bestimmten Arten von Handlungen, vagen Gefühlen der Präferenz für etwas, Schlüssen aus übereilten und halbbewussten Denkprozessen oder läufigen Meinungen, denen die Gewohnheit einen illusorischen Hauch von Selbstevidenz gegeben habe.118 Wenn Sidgwick von Intuitionen als Ur118

Siehe: Sidgwick 1874, book III, ch. I, § 4: „But the question may be raised, whether it is legitimate to take for granted (as I have hitherto been doing) the existence of such intuitions? And, no doubt, there are persons who deliberately deny that reflection enables them to discover any such phenomenon in their conscious experience as the judgment or apparent perception that an act is in itself right or good, in any other sense than that of being the right or fit means to the attainment of some ulterior end. I think, however, that such denials are commonly recognised as paradoxical, and opposed to the common experience of civilised men: - at any rate if the psychological question, as to the existence of such moral judgments or apparent perceptions of moral qualities, is carefully distinguished from the ethical question as to their validity, and from what we may call the ‘psychogonical’ question as to their origin. The first and second of these questions are sometimes confounded, owing to an ambiguity in the use of the term ‘intuition’; which has sometimes been understood to imply that the judgment or apparent perception so designated is true. I wish therefore to say expressly, that by calling any affirmation as to the rightness or wrongness of actions ‘intuitive’, I do not mean to prejudge the question as to its ultimate validity, when philosophically considered: I only mean that its truth is apparently known immediately, and not as the result of reasoning. I admit the possibility that any such ‘intuition’ may turn out to have an element of error, which subsequent reflection and comparison may enable us to correct; just as many apparent perceptions through the organ of vision are found to be partially illusory and misleading: indeed the sequel will show that I hold this to be to an important extent the case with moral intuitions commonly so called. […]

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teilen spricht, könnte er Überzeugungen im Sinn haben, also doxastische Zustände. Diese Auffassung von Intuition wäre in unserem Zusammenhang hier nicht relevant. Aber sein Vergleich mit der Wahrnehmung bietet auch eine andere Lesart, wonach Intuitionen nichtdoxastische Zustände sind, die als Gründe für moralische Überzeugungen geeignet sind. 7.2.2 Systematische Auseinandersetzung Es gibt, grob gesprochen, zwei Auffassungen darüber, was Intuitionen sind: (1) Nach einer ersten Auffassung sind Intuitionen Überzeugungen. So spricht Robert Audi von einer Intuition als „a psychological state like (and perhaps a kind of) belief“.119 Er schlägt Intuitionen also eher auf die Überzeugungsseite und charakterisiert sie des Weiteren erstens als nichtinferenziell; das heißt, dass sie nicht auf anderen Überzeugungen beruhen, sondern grundlegend sind. Zweitens charakterisiert er sie als einigermaßen fest; das heißt, dass es sich bei Intuitionen nicht bloß um Neigungen handelt, etwas zu glauben, sondern um „convictions“. Drittens müssen Intuitionen im Licht eines angemessenen Verständnisses ihres propositionalen Objekts gebildet werden. Viertens schließlich sind Intuitionen vortheoretisch. Damit meint er, dass sie erkenntnismäßig weder von Theorien abhängen noch selbst theoretische Hypothesen sind. (2) Gemäß einer anderen Auffassung sind Intuitionen eine Art von Erscheinen bzw. Scheinen. Wir sagen im Alltag: „Die Sonne scheint mir ein Fuß breit zu sein“ oder „Mir scheint, ich habe diese Person schon einmal irgendwo gesehen“, oder auch „Dieser Syllogismus erscheint mir als richtig“. Freilich zeigt nicht jeder Gebrauch des Ausdrucks „Mir scheint“ das Vorhandensein besagten Scheinens an. Häufig verwenden wir den Ausdruck auch, um die Unsicherheit einer Meinung auszudrücken. Intuitionen

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experience leads me to regard men as often liable to confound with moral intuitions other states or acts of mind essentially different from them, - blind impulses to certain kinds of action or vague sentiments of preference for them, or conclusions from rapid and half-unconscious processes of reasoning, or current opinions to which familiarity has given an illusory air of self-evidence.” Audi 1997, 39. Auf Seite 40 sagt er dann ausdrücklich: „In the contexts that concern us, intuitions will typically be beliefs, including cases of knowing.“

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sind eine bestimmte Art des Erscheinens, nämlich intellektuelles Erscheinen.120 George Bealer definiert Intuition als eine irreduzible, natürliche, propositionale Einstellung sui generis, die episodisch abläuft.121 Als Beispiele für intellektuelle Intuitionen nennt Bealer Einsichten in der Logik, etwa das erste De Morgansche Gesetz: Betrachtet man es zum ersten Mal, dann scheint es zunächst weder wahr noch falsch. Nach kurzer Reflexion geschieht aber etwas: Es erscheint einem als wahr. Entsprechende Erlebnisse gebe es auch im Bereich der Moral. Michael Huemer nennt: Freude ist besser als Leid oder Es ist ungerecht, jemanden für eine Tat zu bestrafen, die er nicht begangen hat. Propositionen wie diese würden uns als wahr erscheinen, bevor wir irgendwelche Argumente dafür gehört hätten und unabhängig von solchen Argumenten. Mit dem Wort „Intuition“ kann man sich auf unterschiedliche Größen beziehen: auf die Fähigkeit, Intuitionen zu haben, auf den Akt des Intuierens, sowie auf den propositionalen Inhalt eines solchen Aktes. Gemäß der Auffassung (2) ist eine Intuition ein Akt, der sich freilich immer auf einen propositionalen Inhalt bezieht. Kommen wir zur Beantwortung der drei Fragen. Sind Intuitionen eigenständige Gründe oder lassen sie sich auf andere Gründe zurückführen? Versteht man Intuitionen gemäß der Auffassung (1) als doxastische Zustände, dann geben sie für meine Fragestellung hier nichts her. Dann handelt es sich lediglich um Überzeugungen, und wir werden auf den doxastischen Fundamentismus zurückverwiesen. Versteht man hingegen Intuitionen gemäß der Auffassung (2) als eine eigene Art von nichtdoxastischen Zuständen, dann können sie als eigenständige Gründe für Überzeugungen fungieren. Dafür, dass Intuitionen nicht einfach Überzeugungen sind oder von Überzeugungen abhängen, sprechen Fälle, wo es uns scheinen kann,

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So der moralische Neointuitionist Huemer 2005, 102: „An initial, intellectual appearence is an ‘intuition’. That is, an intuition that p is a state of its seeming to one that p that is not dependent on inference from other beliefs and that results from thinking about p, as opposed to perceiving, remembering, or introspecting.” Bealer 1998, 207: „The view I will defend ist hat intuition (this type of seeming) is a sui generis, irrdeucible, natural (i.e., non-Cambridge-like) propositional attitude that occurs episodically.” Ähnlich auch Sosa 2007, 52.

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dass p, w wir es abeer für falsch haltenn, dass p. p Wir ken nnen die Müller-L LyerTäuschuung aus deem Bereicch der Waahrnehmu ung:

Die oberre Linie erscheint e uns kürzeer als diee untere, auch a nachhdem wirr uns davon übberzeugt haben, dass d sie ggleich lan ng sind. Derartige D Fälle gib bt es auch beii intellektuellem Erscheine E en, also bei b Intuittionen. G George Beealer nennt daas Vereinnigungsax xiom derr Mengen ntheorie: Ihm schheine, ess sei wahr, obbwohl er nicht n glau ube, es seei wahr, weil w er diee mengent ntheoretiscchen 122 Paradoxiien kennee. Freilich muss man nich ht die These vertreeten, Intu uitionen bliebben immeer besteheen, nachddem man sich von ihrer Fallschheit überü 123 zeugt hab abe. Daas Beispieel soll leddiglich zeiigen, dasss Intuitionnen und dazu d kontradikktorische Überzeu ugungen nebenein nander bestehen b können, und soll dam mit auch zeeigen, dasss Intuitioonen nich ht Überzeu ugungen sind. Man kkönnte veersuchen, Intuitionnen sonst irgendwie auf Übberzeugun ngen zurückzuuführen. So S könnte man annnehmen,, Intuition nen seienn nichts anderes als ddas Bewuusstwerdeen von Ü Überzeug gungen, die d man bbereits hatte. h Dann wüürden die Überzeugungen dden Intuitiionen vorrausgehenn und folg glich keine eiggenständiigen Grü ünde seinn. Dagegeen spricht allerdinngs, dass wir manchm mal Intuitionen hab ben, wo w wir noch keine Üb berzeugunngen gefo ormt Logikstu haben. B Bealer neennt als Beispiel B udenten, die d es nooch nichtt für wahr hallten, dass man den n Satz „D Die Anzah hl der Plan neten ist nnotwendiiger122 123

Bealerr 1998. 2088. Radtkee 2009, 40,, konstruierrt das Beisspiel einer Person, weelche sowoohl die Intu uition als aucch die Übeerzeugung hat, mordeen sei geneerell morallisch falschh. In Auseinandersetzzung mit dem d Hitler--Attentat änndert sie ih hre Überzeeugung. Raadtke kann n sich nun kaaum vorsteellen, dass sie weiterrhin ihre In ntuition beehält. Dam mit zeigt er aber nur, daass nicht jeede Intuitio on bleibt, nnachdem man m sich von v deren G Gegenteil überü zeugt hhat.

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weise größer als sieben“ auf zweifache Weise verstehen kann. Nach einiger Zeit der Reflexion sehen begabte Studenten beide Verständnisse. Sie haben eine Intuition, und diese geht ihrer Überzeugungsbildung voraus.124 Man könnte meinen, Intuitionen seien spontane Neigungen zu Überzeugungen. Dagegen spricht allerdings, dass Neigungen zu Überzeugungen nicht episodisch auftreten wie Intuitionen es tun.125 Man könnte auch die Meinung vertreten, Intuitionen seien unbewusst gefolgerte Ergebnisse von Überzeugungen. Dagegen spricht aber, dass sich Intuitionen nicht immer von den Überzeugungen herleiten lassen, die wir haben.126 Hier sind zwei bekannte Beispiele aus der Moralphilosophie: Fall 1: Eine Ärztin hat fünf Patienten. Zwei brauchen jeweils einen Lungenflügel, zwei brauchen jeweils eine Niere, einer braucht ein Herz. Wenn die Ärztin innerhalb der nächsten 24 Stunden nicht die passenden Organe auftreibt, werden alle sterben. Da taucht ein Mann auf, der gesund ist und sich zu einer Routineuntersuchung in die Klinik begibt. Er hat genau die richtige Blutgruppe. Soll die Ärztin den gesunden Patienten töten, um die fünf anderen Patienten zu retten? Fall 2: Ein Lokführer fährt mit einer Bahn (trolley) über eine Schiene, die abwärts führt. Er biegt um eine Kurve und sieht plötzlich, dass fünf Arbeiter am Geleise stehen. Er will bremsen, aber die Bremsen greifen nicht. Der Wagen rollt, und ein schrecklicher Unfall mit fünf Toten scheint unausweichlich. Nun sieht er, dass es noch eine Weiche gibt, die er vom Wagen aus stellen kann. So könnte er auf das andere Geleis gelangen. Aber er stellt fest, dass dort ein Arbeiter tätig ist. Weder dieser noch die fünf anderen können rechtzeitig vom Geleise abspringen. Um es drastisch zu sagen: Ein Toter oder fünf Tote. Soll er die Weiche stellen? Viele antworten intuitiv auf den Fall 1 mit Nein, auf den Fall 2 mit Ja. Selbst Aktkonsequenzialisten dürften spontan so antworten, obwohl sie 124 125 126

Siehe: Bealer 1998, 210. Siehe: Bealer 1998, 209. Siehe: Huemer 2005, 103-104.

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aufgrund ihrer Überzeugungen zu einem anderen Ergebnis kommen müssten. Moralische Intuitionen über Fälle können im Widerspruch stehen zu moralischen Überzeugungen. Sie scheinen also relativ unabhängig von moralischen Überzeugungen zu sein. Dies macht sie auch brauchbar, um moralische Prinzipien zu testen. Die zweite Frage lautet: Sind moralische Intuitionen als E-Gründe für moralische Überzeugungen geeignet? Sind sie geeignet zur moralischen Wahrheit hinzuführen? Im Alltag und auch im Bereich der Naturwissenschaften setzen wir gewöhnlich folgendes erkenntnistheoretische Prinzip voraus: Wenn uns etwas, x, als so-und-so erscheint, so ist dies zunächst ein angemessener Grund dafür anzunehmen, dass x so-und-so ist.127 Warum sollte dies nicht auch bei der moralischen Erkenntnis gelten? Viele Einwände gegen moralische Intuitionen beruhen auf überzogenen Forderungen, zum Beispiel auf der Forderung, dass moralische Intuitionen täuschungsimmun sein müssen. Diese Forderung muss man aber nicht akzeptieren. Der Anspruch ist viel niedriger. Moralische Intuitionen rechtfertigen moralische Überzeugungen prima facie. Diese Rechtfertigung kann zunichte gemacht werden. Dies bringt uns zur dritten Frage. Die Rechtfertigung von moralischen Überzeugungen durch moralische Intuitionen ist strukturell auf gleiche Weise zu verstehen wie die von Wahrnehmungsüberzeugungen. Das Erscheinen von etwas, x, als so-und-so, rechtfertigt die Überzeugung, dass x so-und-so ist, nichtinferenziell und, wie gesagt, prima facie. Dabei ist „sound-so“ Platzhalter für ein moralisches Prädikat. Moralische Intuitionen können allgemein oder singulär sein. Beispiele für Intuitionen allgemeinen Inhalts wurden oben genannt: Freude ist besser als Leid oder Es ist ungerecht, jemanden für eine Tat zu bestrafen, die er nicht begangen hat. Als Beispiele für Intuitionen singulären Inhalts können jene gelten, die wir angesichts der Schilderung von Einzelfällen haben wie etwa jener der Ärtztin und des Lokführers. Intuitionen gemäß der Auffassung (2) können also einen Beitrag bei der Rechtfertigung von moralischen Überzeugungen leisten. Sie sind Teil der 127

Huemer 2005, 99, nennt dieses Prinzip „the principle of Phenomenal Conservatism”.

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Gründe, die als Eingangsgrößen in einen komplexen moralischen Überzeugungsbildungsvorgang eingehen. Intuitionen gemäß der Auffassung (1) hingegen wären meiner Ansicht nach eher die moralischen Überzeugungen, die aus einem solchen Überzeugungsbildungsvorgang als Ergebnis hervorgehen. 7.3 Vorstellungen Ich komme zu einem weiteren möglichen Kandidaten für nichtdoxastische E-Gründe für moralische Überzeugungen: Vorstellungen oder Imaginationen. Häufig wird angenommen, dass die Fähigkeit, sich in der Vorstellung hypothetisch in eine andere Person bzw. Lage zu versetzen, für die moralische Überzeugungsbildung eine wesentliche Rolle spielt. Ich nenne im Folgenden einige Beispiele. 7.3.1 Beispiele aus der Philosophiegeschichte 1. Zu den Anwendungsbedingungen der Goldenen Regel gehört, dass die aufgeforderte Person in der Vorstellung einen Standpunktwechsel vornehmen kann. Sie muss sich vorstellen können, wie es ist, in den Schuhen des anderen zu gehen. Sie muss sich vorstellen können, sich am anderen Ende der Handlung zu befinden, also nicht die handelnde, sondern die von der Handlung betroffene Person zu sein. Sie muss sich so lebendig wie möglich vorstellen können, wie es ist, unter den gegebenen Umständen auf eine gewisse Art behandelt zu werden. 2. In seinem Werk The Theory of Moral Sentiments erklärt Adam Smith moralische Überzeugungsbildung mit dem, was er „Sympathie“ nennt. Sympathie ist die Fähigkeit, mit anderen Personen in ihren jeweiligen Situationen mitzufühlen. Sie funktioniert mit Hilfe der Vorstellungskraft (imagination). Smith schreibt: By the imagination we place ourselves in his situation, we conceive ourselves enduring all the same torments, we enter as it were into his body, and become in some measure the same person with him, and thence form some idea of his sen-

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sations, and even feel something which, though weaker in degree, is not altogether unlike them.128

Wenn wir uns in der Vorstellung in die Lage der anderen Person versetzen und fragen, wie wir unter den gegebenen Umständen reagieren würden, so entstehen in uns ähnliche Gefühle wie in der betroffenen Person, oder auch nicht. Meinen wir, dass wir genauso reagieren würden, so besteht vollkommene Sympathie. Es kommen dann ähnliche Gefühle in uns auf, wenn auch nicht so starke wie bei der betroffenen Person selbst, und wir sind uns der Übereinstimmung bewusst. Finden wir hingegen, dass jemand zu stark oder zu schwach reagiert, so kommt kein volles Mitgefühl auf und wir sind uns dieses Unterschieds bewusst. Vorstellungen werden also häufig als relevant für die moralische Überzeugungsbildung erachtet. Nun müssen wir genauer verstehen, was Vorstellungen sind, ob sie auf andere mentale Zustände zurückgeführt werden können, ob Vorstellungen E-Gründe sein können und wie sie einen Beitrag zur Rechtfertigung moralischer Überzeugungen leisten können. 7.3.2 Systematische Auseinandersetzung Der Ausdruck „Vorstellung“ ist – wie viele mentale Ausdrücke – notorisch mehrdeutig. Mit Vorstellung kann (i) das Vermögen des Vorstellens gemeint sein, (ii) der Vorgang bzw. die Tätigkeit des Vorstellens. Es kann aber auch (iii) das Vorgestellte, der intentionale Gehalt der Vorstellung gemeint sein. Trotz mannigfaltiger Meinungsverschiedenheiten scheint es Konsens darüber zu geben, dass Vorstellungen im Sinn von (ii) eine eigene Art von mentalen Akten oder Vorgängen sind.129 Vorstellungen sind erstens zu unterscheiden von Überzeugungen. Vorstellungen kommen zwar mit Überzeugungen darin überein, dass sie Sachverhalte repräsentieren, dass sie eine Rolle im schlussfolgernden Denken einnehmen und dass sie unsere affektiven Systeme aktivieren können. Dennoch sind Vorstellungen keine Überzeugungen. Ich kann mir vorstellen, dass p, ohne die geringste Neigung zu haben, zu glauben, dass p. Ich kann mir jetzt vorstellen, dass ich in 128 129

Smith 1759, I.i.1.1. Einen Überblick über Konvergenzen und Divergenzen in der zeitgenössischen Debatte zu propositionalen Vorstellungen gibt Nichols 2006, 8-10.

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der Nordsee schwimme, und zugleich wissen, dass ich nicht in der Nordsee schwimme. Zwar kann der Gehalt der Vorstellung semantisch gleich strukturiert sein wie der einer Überzeugung. Und eine Vorstellung kann auch von vielen Überzeugungen abhängen. Dennoch ist Vorstellen, dass p, etwas anderes als Für-Wahr-Halten, dass p. Ein weiterer Unterschied zwischen Vorstellungen und Überzeugungen besteht darin, dass man Vorstellungen direkt willentlich hervorbringen kann. Ich kann jemanden oder mich selbst auffordern, sich bzw. mir etwas vorzustellen. Ich behaupte nicht, dass alle Vorstellungen immer willentlich hervorgebracht werden. Manchmal finden wir uns einfach mit einer Vorstellung vor. Dennoch kann man behaupten, dass Vorstellungen in der Regel direkter willentlicher Kontrolle zugänglich sind.130 Zweitens sind Vorstellungen auch keine Wünsche. Ich kann mir zum Beispiel vorstellen, von einem Bären verfolgt zu werden; aber ich bin weit davon entfernt, mir dies zu wünschen. Ferner sind Vorstellungen auch keine Absichten. Zwar spielen Vorstellungen beim Wünschen und Beabsichtigen eine Rolle. Ich stelle mir Ziele vor, male mir etwa aus, wie es ist, unter einer Südseepalme zu liegen und Kokosmilch zu trinken. Dies löst Emotionen der Lust oder der Abscheu aus, Wünsche und Absichten können sich darauf richten. Aber Vorstellungen sind nicht identisch mit ihnen. Vorstellungen sind also mentale Akte sui generis. Sie können nicht auf andere mentale Akte reduziert werden. Innerhalb der Vorstellungen kann man verschiedene Unterscheidungen vornehmen, die relativ zu verschiedenen Zielsetzungen sinnvoll sind. Eine für meine Zielsetzung sinnvolle Unterscheidung finde ich bei Zeno Vendler: jener zwischen objektiven und subjektiven Vorstellungen.131 Bei objektiven Vorstellungen repräsentiere ich einen Sachverhalt, zum Beispiel dass ich in der Nordsee schwimme. Bei subjektiven Vorstellungen hingegen repräsentiere ich ein Bewusstsein: mein eigenes oder das eines anderen, darüber, wie es ist, in der Nordsee zu schwimmen.132 Dabei ist unsere Vorstellung begrenzt durch unsere Erfahrung. Ohne Erfahrung und deren Extrapolationen gibt es keine Vorstellun130 131 132

Vgl. McGinn 2004, 12-17. Vendler 1984, 43. Vendler 1984, 43: „[…] in the subjective case I fancy experiencing what it would be like to be in such a situation.”

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gen darüber, wie es ist, in einem bestimmten Zustand zu sein. Wir können uns nicht vorstellen, wie es ist, eine Fledermaus zu sein, weil wir keine Erfahrungen machen können, die jenen von Fledermäusen gleichen, wenn sie die Außenwelt erfassen.133 Wir können uns in alltäglichen Fällen jedoch vorstellen, wie es für andere Menschen ist, in einer bestimmten Situation zu sein.134 Denn wir nehmen an, dass wir eine relevante Ähnlichkeit zu ihnen besitzen. Vorstellungen dieser subjektiven Art sind es, die für moralische Überzeugungsbildung als relevant erachtet werden. Die für uns wichtige Frage lautet nun: Können solche Vorstellungen eine epistemisch relevante Rolle innehaben? Manche bejahen dies. So meint etwa Alvin Goldman, Einfühlung (Empathie) aufgrund von Identifikation in der Vorstellung bzw. Simulation sei ein – wenn auch primitives und ergänzungsbedürftiges – epistemisches Mittel zur Aufspürung von mentalen Zuständen anderer Personen und damit zur moralischen Urteilsbildung.135 Um diese Ansicht zu prüfen, ist es hilfreich, etwas näher auf eine Debatte einzugehen, welche in den letzten Jahrzehnten zur Frage geführt wurde, wie wir uns und anderen mentale Zustände zuschreiben.136 Auf der einen Seite steht die Theorietheorie. Ihr zufolge bilden wir Überzeugungen über mentale Zustände anderer, indem wir aus gesetzesmäßigen Verallgemeinerungen und Beobachtungen Schlüsse ziehen. Demnach haben wir eine alltagspsychologische Theorie. Zu dieser Theorie gehört die Überzeugung, dass Menschen sich in der Regel so und so fühlen, wenn sie sich so und so verhalten oder sich in einer Situation der Art S befinden. Aufgrund dieser Überzeugung plus der Beobachtung des Verhaltens einer Person gelangen wir zu Überzeugungen über den mentalen Zustand dieser Person. In der Theorietheorie nimmt die Vorstellung keinen wesentlichen Platz ein. Anders verhält es sich bei der Simulationstheorie. Ihr zufolge bilden wir Überzeugungen über mentale Zustände anderer, indem wir uns in der Vorstellung in ihre 133 134 135 136

Vgl. Nagel 1974. Ich mache die Einschränkung „alltägliche Fälle”, um zum Beispiel Menschen in außergewöhnlichen Situationen oder psychisch kranke Menschen auszunehmen. Goldman 2006, 295-298. Siehe zum Beispiel: Davies / Stone 1995; Koppelberg 2002; Lenzen 2005; Goldman 2006; Nichols 2006.

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Lage versetzen, auf diese Weise herausfinden, wie es für uns wäre, in der gleichen Lage zu sein, und dann einen Schluss von uns auf die andere Person ziehen. Mit Hilfe der Vorstellung würden wir zwei Dinge in Erfahrung bringen: erstens, dass die andere Person in einem bestimmten Zustand ist, und zweitens, wie es sich für sie anfühlt, in einer derartigen Situation zu sein. Indem ich mich zum Beispiel in meiner Vorstellung in eine Person hineinversetze, die des Nachts von einer Bande überfallen und brutal zusammengeschlagen wird, kann ich erstens herausfinden, dass diese Person sehr leidet, und zweitens, wie es für sie ist, in diesem Zustand zu sein.137 Wie wir faktisch vorgehen, ob wir immer auf die Weise der Theorietheorie oder immer auf die Weise der Simulationstheorie vorgehen, oder ob wir schließlich einmal so und einmal anders vorgehen, – sind letztlich empirische Fragen, denen ich hier nicht weiter nachgehen kann. Aber angenommen, wir bilden tatsächlich manchmal Überzeugungen über mentale Zustände anderer mit Hilfe der Vorstellung: Wären diese Überzeugungen gerechtfertigt aufgrund der Vorstellung? Können Vorstellungen dieser Art E-Gründe sein? Nähern wir uns diesen Fragen, indem wir zuerst überlegen, welche Überzeugungen es wären, die auf Vorstellungen beruhen könnten. Es wären keine Überzeugungen allgemeinen oder singulären moralischen Inhalts. Es wären lediglich Überzeugungen darüber, dass eine andere Person sich in einem bestimmten mentalen Zustand befindet, und Überzeugungen über ihre Wünsche bzw. Präferenzen. Denn zu wissen, wie es ist, in einer bestimmten Situation zu sein, heißt, einige der Folgen und Auswirkungen von Handlungen sowie Präferenzen und Wünsche im Hinblick auf diese Folgen zu kennen.138 Vorstellungen wären also Gründe für Überzeugungen wie Anton leidet, aber auch für Überzeugungen über seine Präferenzen wie Anton wünscht es sich nicht, so behandelt zu werden oder Anton zieht die Handlungsweise A der Handlungsweise B vor. Allerdings würden gemäß 137

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Holton / Langton 1999, 212: „We shall take it that mental simulation – imaginatively projecting oneself into another’s shoes – is claimed to give us both (a) knowledge, via modelling, that someone is in a certain state, and (b) knowledge of what it is like to be them, in that state.” Holton und Langton sind allerdings skeptisch, ob wir durch Simulation tatsächlich zu diesem Wissen gelangen können. Vgl. Hare 1981, 90.

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der Simulationstheorie, wie ich sie oben kurz beschrieben habe, auch diese Überzeugungen nicht unmittelbar durch Vorstellung gerechtfertigt sein. Es bedürfte auf jeden Fall eines Schlusses. Denn direkt gerechtfertigt wären höchstens Überzeugungen wie Wäre ich in der Lage von Anton, würde ich fürchterlich leiden und Wäre ich in der Lage von Anton, würde ich es vorziehen, nicht so behandelt zu werden. Dann bedürfte es einer Schlussfolgerung mit Hilfe der Überzeugung Anton ist mir relevant ähnlich um zur Überzeugung zu gelangen Anton leidet fürchterlich und Anton wünscht es sich, in dieser Situation nicht so behandelt zu werden. Die Rechtfertigung wäre also bedingt. Sie wäre erstens von der Überzeugung abhängig, was ich in einer bestimmten Situation fühlen und wünschen würde. Sie wäre zweitens von der Überzeugung abhängig, dass Anton mir relevant ähnlich ist. Nun wurde eine Variante der Simulationstheorie vorgeschlagen, welche den Anspruch erhebt, diesen Umweg zu vermeiden. Die Idee ist folgende: Wir kommen zu Überzeugungen über mentale Zustände anderer, indem wir in der Vorstellung zur anderen Person werden. Ich stelle mir nicht vor, wie es für mich wäre, in einer bestimmten Lage zu sein, und ziehe dann einen Schluss von mir auf die andere Person, sondern ich stelle mir vor, die andere Person zu sein.139 Dies ist keine inkonsistente Vorstellung, die etwa darin bestünde, dass ich, Bruno, Anton bin, sondern es ist die Vorstellung, dass ich Anton bin. „Ich“ bezieht sich in der Vorstellung auf Anton selbst.140 So wäre ich unmittelbar gerechtfertigt zu glauben, dass Anton furchtbar leidet und dass er es sich wünscht, nicht so behandelt zu werden. Doch es ist fraglich, ob ein bloßer Wechsel in der Vorstellung von Ich bin Bruno zu Ich bin Anton epistemisch einen Unterschied in der Art der Rechtfertigung meiner Überzeugung ausmacht. Um verlässlich zu wahren Überzeugungen über Antons Präferenzen zu gelangen, müsste ich bereits 139

140

Siehe dazu: Gordon 1995, 56: „[…] once a personal transformation has been accomplished, there is no remaining task of mentally transferring a state from one person to another, no question of comparing [the agent] to myself.” Siehe dazu auch die Ausführungen von Hare 1981, 119-121, der sich seinerseits auf Vendler 1976 beruft. Allerdings meint Hare nicht, dass die Vorstellung uns über die mentalen Zustände anderer verlässlich informiert. Er setzt in seiner Ausführung voraus, dass wir bereits wissen, wie es für die andere Person ist, in einer bestimmten Situation zu sein.

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viel über Anton wissen. Ich müsste viele seiner Überzeugungen und Präferenzen kennen. Es ist schwer zu sehen, wie eine bloße Verschiebung der Referenz von „Ich“ in der Vorstellung dies gewährleisten kann.141 Ich komme also zu einem vorsichtigen Schluss. Vorstellungen im hier erläuterten Sinn sind keine eigenständigen E-Gründe. Sollen sie etwas zur epistemischen Rechtfertigung von Überzeugungen beitragen, so sind sie ihrerseits von einer wahren Situationsbeschreibung, sprich: von anderen wahren Überzeugungen, abhängig. Was wir über Vorstellungen jedoch herausfinden können, sind unsere aktualen Wünsche und Emotionen im Hinblick auf eine hypothetisch vorgestellte Situation. Auf diesen Wünschen und Emotionen können Überzeugungen beruhen wie Ich wünsche mir jetzt, dass ich, wenn ich in Situation S wäre, so und so behandelt würde oder Ich habe jetzt bezüglich der vorgestellten Situation S das Gefühl G. Diese Überzeugungen könnten zusammen mit moralischen Überzeugungen moralische Überzeugungen rechtfertigen. Auf diese Weise könnten Überzeugungen über unsere Emotionen und Wünsche in die Rechtfertigung moralischer Überzeugungen eingehen. Aber vielleicht könnten nicht nur Überzeugungen über Emotionen und Wünsche E-Gründe sein, sondern die Emotionen und Wünsche selbst, die wir hinsichtlich einer vorgestellten oder realen Situation formen. Diese Möglichkeit werde ich nun näher entfalten und prüfen. 7.4 Emotionen Dass Emotionen bei der moralischen Überzeugungsbildung eine Rolle spielen, wird von kaum jemandem bestritten. Wir erleben es, dass unsere emotionale Reaktion unsere Sicht einer Situation färbt und so die Urteilsbildung darüber beeinflusst, was hier und jetzt zu tun richtig ist. Auch in der Philosophie wurde der Zusammenhang von Emotionen und moralischer Überzeugungsbildung immer wieder thematisiert. Bevor ich zur Behandlung meiner systematischen Fragen komme, greife ich einige Beispiele aus der Philosophiegeschichte heraus und kommentiere sie kurz. 141

Siehe dazu: Currie / Ravenscroft 2002, 56-57; Koppelberg 2002, 222.

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7.4.1 Beispiele aus der Philosophiegeschichte Die nun genannten Beispiele aus der Philosophiegeschichte unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht. Sie kommen lediglich insofern überein, als sie behaupten, dass Emotionen, affektive Zustände, Gefühle bei der moralischen Überzeugungsbildung eine Rolle spielen. 1. Aristoteles macht in der Nikomachischen Ethik (1140b14-19) folgende Bemerkung: Es wird ja nicht jedes Urteil durch Lust oder Unlust verdorben oder verdreht, zum Beispiel nicht dasjenige, dass die Winkelsumme im Dreieck zwei rechte Winkel beträgt oder nicht, sondern nur solche Urteile, die in den Bereich des Handelns gehören. Denn die Ursprünge [Anfänge, Prinzipien] des Getanen liegen in ihrem Zweck und in ihrem Grund. Demjenigen aber, der durch Lust oder Unlust verdorben ist, zeigt sich sofort der Ursprung nicht mehr, und auch nicht, dass man zu diesem Zweck oder aus diesem Grund alles wählen und tun soll – denn die Schlechtigkeit verdirbt den Ursprung.

Aristoteles spricht von der Verderbung oder Verdrehung von Urteilen, die das Handeln betreffen, durch Lust und Unlust. Lust und Unlust können das Erfassen der Zielsetzungen vernebeln und damit zu schlechtem Handeln führen. Das Zitat erweckt den Anschein, als hätten Emotionen eine bloß negative Wirkung auf Überzeugungsbildung und -erhalt. Sie stören oder verzerren die Überzeugungsbildung. Doch dieser Schein trügt. Nach Aristoteles ist die angemessene emotionale Reaktion erforderlich, um verlässlich wahre moralische Überzeugungen zu bilden. Klugheit ohne die ethischen Tugenden, welche unser emotionales Leben ordnen, kann es nicht geben. Wie uns eine Situation erscheint, welche Aspekte einer Situation wir herausgreifen, wie wir diese gewichten und gegeneinander abwägen, – all dies hängt auch von unseren Emotionen und Neigungen ab. Emotionen folgen Wahrnehmungen und Vorstellungen. Emotionen erzeugen aber auch Vorstellungen und Meinungen. Furchtsame Menschen zum Beispiel neigen dazu, die schwierigen Aspekte einer Situation herauszugreifen, sich zu viele Schwierigkeiten vorzustellen. Verwegene Menschen hingegen neigen dazu, nur die attraktiven Seiten einer Situation herauszugreifen, sich zu wenige Schwierigkeiten vorzustellen. Aufgrund unterschiedlicher emotionaler Reaktionen kommen furchtsame und verwegene Menschen somit zu

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unterschiedlichen Einschätzungen der Lage und daher auch zu unterschiedlichen Überzeugungen darüber, was zu tun richtig ist.142 2. Adam Smith hat moralische Gefühle ins Zentrum seiner Ethik gestellt. In seinem bereits genannten Werk The Theory of Moral Sentiments schreibt er über den Zusammenhang von Emotionen und moralischer Billigung: To approve of the passions of another, therefore, as suitable to their objects, is the same thing as to observe that we entirely sympathize with them; and not to approve of them as such, is the same thing as to observe that we do not entirely sympathize with them.143

Ich deute dieses kurze Zitat folgendermaßen: Die Billigung eines Verhaltens basiert auf aktual erlebtem Mitgefühl. Der Grund für die moralische Überzeugung ist das Erlebnis von Sympathie oder Antipathie. Moralische Urteile/Überzeugungen basieren demnach auf emotionalen Erlebnissen. Dies ist zunächst eine Behauptung über die Entstehung eines moralischen Urteils. Die Behauptung bekommt aber dann normative und erkenntnistheoretische Bedeutung, wenn Smith von angemessenen Emotionen spricht. Wenn die Emotion des Mitgefühls angemessen ist, dann sind die darauf beruhenden Überzeugungen gerechtfertigt. Angemessen ist die Emotion des Mitgefühls nach Smith genau dann, wenn sie mit jener Emotion übereinstimmt, welche ein bestimmter Typ von Person, nämlich der unparteiische und wohl informierte Zuschauer, in der gleichen Situation haben würde. 3. Ich greife schließlich die Sicht eines Wertphänomenologen heraus, nämlich jene von Franz Brentano in seiner Vorlesung Grundlegung und Aufbau der Ethik von 1876 und seinem Vortrag Vom Ursprung der sittlichen Erkenntnis von 1889. Den Schlüssel zum Verständnis von Brentanos Erkenntnistheorie moralischer Überzeugungen bildet der Vergleich mit selbstevidenten Urteilen. Er meint damit Inhalte, die von sich aus einleuchten. Dabei erfasst man, so Brentano, mit dem Inhalt zugleich dessen Selbstevidenz. Freilich gibt es auch viele Urteile, die nicht in diesem Sinn evident sind. Brentano nennt sie „blinde“ Urteile.

142 143

Vgl. Niederbacher 2007, 42-58. Smith 1759, I.i.3.1.

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Ein blindes Urteil mag mit einem evidenten in allen anderen Stücken übereinstimmen, solange wir aber über etwas nicht mittelbar oder unmittelbar evident urteilen, können wir über seine Wahrheit oder Falschheit nicht entscheiden. Für ein evidentes aber bedarf es einer solchen Entscheidung nicht. Es ist als richtig charakterisiert.144

Ähnlich sei es bei den Gemütstätigkeiten des Liebens/Gefallens und des Hassens/Missfallens von etwas. Es gibt ein Gefallen von etwas, wo die Richtigkeit des Gefallens miterlebt wird. Und es gibt ein Missfallen von etwas, wo die Richtigkeit des Missfallens miterlebt wird. Aber es gibt auch etwas den „blinden“ Urteilen Ähnliches, nämlich ein Gefallen oder Missfallen von etwas, wo die Richtigkeit nicht miterfahren wird. Brentano schreibt: Indem wir uns als etwas mit einer als richtig charakterisierten Liebe liebend erkennen, erkennen wir es als gut; indem wir uns als etwas mit einer als richtig charakterisierten Bevorzugung vorziehend erkennen, erkennen wir es als besser. Es erwies sich somit die Vermutung, dass die Prinzipien der Ethik Erkenntnisse von Gefühlen seien, als richtig. Hier also und aus solchen Erfahrungen einer als richtig charakterisierten Liebe entspringt uns die Erkenntnis, dass etwas wahrhaft und unzweifelhaft gut ist […].145

Durch diese affektiven Erfahrungen erkennen wir das Objekt nicht bloß als geliebt oder liebbar, sondern als liebenswert. Brentanos spärliche Andeutungen lassen mindestens zwei verschiedene Deutungen zu: (i) Die Erfahrung der Liebe zu x als richtig, rechtfertigt direkt die Überzeugung, dass x gut ist. (ii) Die Erfahrung der Liebe zu x als richtig, rechtfertigt die Überzeugung, dass ich x auf die Weise W liebe, und diese Überzeugung rechtfertigt ihrerseits über die Brückenüberzeugung Wenn ich x auf die Weise W liebe, dann ist x gut, die Überzeugung x ist gut. Ich vermute, dass Brentanos Auffassung eher der Deutung (i) entspricht. Die moralische Überzeugung beruht auf der Erfahrung selbst, nicht auf Überzeugungen über die Erfahrung. Somit können Emotionen E-Gründe 144 145

Brentano, zitiert nach 1978, 145. Brentano, zitiert nach 1921, 21.

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sein. Der Vergleich dieser Emotionen mit dem selbstevidenten Urteil legt die Vermutung nahe, dass Brentano an Erfahrungen denkt, die täuschungsimmun sind. Überzeugungen, welche auf derartigen Erfahrungen beruhen, sind „Erkenntnisse“. Demnach behauptet er also: Genau dann, wenn eine Person ihre Liebe zu x als richtig erfährt und auf diesem Grund die Überzeugung bildet, dass x gut ist, weiß sie, dass x gut ist. Doch diese Behauptung scheint mir zu stark zu sein. Sind Werterfahrungen tatsächlich täuschungsimmun? Kann es nicht sein, dass ich die Liebe zu x als richtig erfahre und mich darin täusche, dass x gut ist, so wie es auch sein kann, dass ich eine Proposition für evident halte, obwohl sie es nicht ist? Es wäre plausibel, Brentanos Behauptung abzuschwächen:146 Genau dann, wenn eine Person ihre Liebe zu x als richtig erfährt und auf diesem Grund die Überzeugung bildet, dass x gut ist, dann ist sie prima facie gerechtfertigt zu glauben, dass x gut ist. Aber auch diese Behauptung scheint noch zu stark zu sein. Muss ich tatsächlich Liebe zu x als korrekt erfahren, damit ich prima facie gerechtfertigt bin, zu glauben, dass x gut ist? Oft haben wir überhaupt keine emotionalen Erfahrungen im Zusammenhang mit moralischen Überzeugungen, geschweige denn etwas so Anspruchsvolles wie die emotionale Erfahrung von etwas als korrekt. Wenn Brentano Recht hätte, wären nur wenige unserer moralischen Überzeugungen tatsächlich epistemisch gerechtfertigt. Plausibler erscheint mir die Annahme, dass die Erfahrung der Liebe zu x als korrekt zwar einen Beitrag für die prima facie-Rechtfertigung einer moralischen Überzeugung leisten kann, und im Idealfall vielleicht hinreichend, aber nicht notwendig ist. So könnte man sagen:

146

Vgl. dazu: Lemos 1994, 186.

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Immer dann, wenn eine Person ihre Liebe zu x als richtig erfährt und auf diesem Grund die Überzeugung bildet, dass x gut ist, dann ist sie prima facie gerechtfertigt zu glauben, dass x gut ist. Dies ist eine plausible Position. Es bleibt aber noch offen, weshalb und wie eine Emotion wie Liebe überhaupt ein E-Grund sein kann. Die genannten Beispiele aus der Philosophiegeschichte sind eine interessante Spur, die ich nun weiterverfolgen möchte. Dazu muss ich erstens genauer verstehen, was Emotionen sind, zweitens, ob sie tatsächlich eigenständige Gründe sind oder ob sie auf andere reduzierbar sind, drittens, ob Emotionen E-Gründe sein können und schließlich viertens, auf welche Weise Emotionen moralische Überzeugungen epistemisch rechtfertigen können. 7.4.2 Systematische Auseinandersetzung Emotionen gehören neben Empfindungen, Gefühlen und Stimmungen zu den affektiven Zuständen. Emotionen unterscheiden sich in der Regel von Empfindungen, Gefühlen und Stimmungen vor allem dadurch, dass sie ein intentionales Objekt haben, das heißt: sich auf etwas beziehen. Man liebt oder hasst jemanden/etwas, fürchtet jemanden/etwas, freut sich über etwas, ekelt sich vor jemandem/etwas, ist stolz auf jemanden/etwas, schämt sich für etwas, bereut etwas, ist zornig oder eifersüchtig auf jemanden wegen etwas, etc. Emotionen setzen Wahrnehmungen, Erinnerungen, Vorstellungen, Vorwegnahmen und Überzeugungen als Auslöser voraus. Sie haben eine kognitive Grundlage.147 Aber sie involvieren – neben einer Gefühlskomponente, einer Komponente körperlicher Veränderung (inklusive Gesichtsausdruck) und einer Verhaltenstendenz – auch ein wertendes kognitives Element. Auf die Deutung dieses kognitiven Elements kommt es hier an. Vier Deutungen bieten sich an: (1) Emotionen folgen immer auf Bewertungsüberzeugungen: Ich bin überzeugt, dass Bären gefährlich sind und dass vor mir ein Bär steht. Meine Furcht vor dem Bären setzt diese Überzeugungen voraus. Ich bin überzeugt, dass es ungerecht war, wie Berta mich behandelt hat. Mein Zorn auf 147

Vgl. Mulligan 1998, 161.

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Berta setzt diese Überzeugung voraus. Dieser Deutung zufolge ist das kognitive Element selbst nicht Teil von Emotionen, sondern der Auslöser bzw. die Ursache von Emotionen. Emotionen sind demnach affektive Reaktionen auf Bewertungsüberzeugungen. (2) Emotionen enthalten Bewertungsüberzeugungen. Dieser Deutung zufolge sind Bewertungsüberzeugungen konstitutiver Teil von Emotionen. Die Bewertungsüberzeugung ist eine Komponente von Emotionen neben anderen, zum Beispiel Gefühlszuständen, körperlichen Veränderungen, Handlungstendenzen. (3) Emotionen sind Bewertungsüberzeugungen. So vertrat Robert Solomon die Ansicht, meine Scham sei mein Urteil darüber, dass ich mich in einer äußerst peinlichen Lage befinde, meine Traurigkeit, mein Kummer, meine Trauer seien Urteile unterschiedlicher Stärke darüber, dass ich einen Verlust erlitten habe.148 Dieser Deutung zufolge sind Emotionen identisch mit bestimmten Arten von Bewertungsüberzeugungen oder Bewertungsurteilen. (4) Emotionen enthalten eine Art von Bewertung149, aber keine Bewertungsüberzeugungen: Die Emotion der Furcht präsentiert den Bär als gefährlich. Die Emotion des Zorns präsentiert Bertas Tat als beleidigend. Dieser Deutung zufolge ist, im Unterschied zu (1), das kognitive Element nicht die Ursache von Emotionen, sondern ein Teil von Emotionen. Im Unterschied zu (2) wird das kognitive Element selbst nicht als Überzeugung, sondern als eine eigene Art von Zustand gedeutet: Eine Emotion präsentiert bzw. repräsentiert etwas (etwa eine Person, einen Zustand oder ein Ding) als so-und-so, und diese Präsentation ist in den Standardfällen mit einem Gefühl verknüpft. „So-und-so“ ist Platzhalter für ein Bewertungsprädikat. Emotionen präsentieren Merkmale der Welt auf werthafte

148

149

Solomon 1977, 185-186: „My embarrassment is my judgment to the effect that I am in an exceedingly awkward situation [...] my sadness, my sorrow and my grief are judgments of various severity to the effect that I have suffered a loss.“ „Bewertung“ verwende ich hier in einem weiten Sinn, nicht im eingeschränkten Sinn von Urteilsakt oder Überzeugungsbildung.

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Weise. Sie sind Werterfahrungen, die sich auf charakteristische Weise anfühlen.150 Die Deutung (4) ist meines Erachtens die vorteilhafteste. Sie erklärt das Phänomen, dass eine Emotion auch ohne ein entsprechendes Urteil oder eine entsprechende Überzeugung vorhanden sein kann, besser als die anderen Deutungen. Sie erklärt auch besser, warum es möglich ist, dass wir eine Emotion erleben, obwohl wir glauben, dass sich die Welt nicht so verhält, wie die Emotion sie präsentiert. So können wir Zorn erleben und zugleich überzeugt sein, dass dieser Zorn jeglicher Rechtfertigung entbehrt. Wir können in uns Eifersucht entflammen spüren und zugleich überzeugt sein, dass sie unberechtigt ist. Wir können Furcht vor Mäusen erleben, obwohl wir wissen, dass Mäuse völlig harmlos sind. Akrophobiker können Todesängste ausstehen, obwohl sie wissen, dass die Höhe, auf der sie sich befinden, gering und die Gefahr gleich Null ist. Die Deutung (4) erklärt diese Phänomene in Parallele zu gewissen Phänomenen aus der Wahrnehmung. Wie uns die Müller-Lyer-Linien auch dann noch ungleich lang erscheinen, wenn bzw. obwohl wir wissen, dass sie gleich lang sind, und wie uns derselbe Grünton inmitten verschiedener Farben einmal als grün und einmal als blau erscheint, obwohl wir wissen, dass es sich um dieselbe Farbe handelt, so kann auch eine Emotion weiterhin etwas als sound-so präsentieren, obwohl wir wissen, dass das Gegenteil davon der Fall ist.151 Die Deutung (4) schließt nicht aus, dass Bewertungsüberzeugungen Emotionen auslösen können. Sie schließt lediglich die Position (1) aus, wonach Emotionen immer Bewertungsüberzeugungen als Auslöser voraussetzen. Da es in unserem Zusammenhang lediglich um die Frage geht, ob Emotionen überhaupt als E-Gründe für moralische Überzeugungen geeignet sind, wäre es nicht nötig, hier eine bestimmte Taxonomie von Emotionen 150

151

Viele Emotionstheoretiker vertreten mittlerweile eine derartige Auffassung, zum Beispiel de Sousa 1987; Roberts 2003, 92, bestimmt Emotionen als „verisimilar concern-based construals“. Zagzebski 2004, 69, schreibt: „Emotion is a type of value perception that feels a characteristic way.“ Ich orientiere mich in meinen Ausführungen vor allem an Roberts und Zagzebski. Vgl. dazu: D’Arms / Jacobson 2000, 67; ebenfalls: Döring / Peacocke 2002, 95 und 97.

126

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zu vertreten. Dennoch lege ich eine mögliche Einteilung vor, damit die Untersuchung mehr an Kontur gewinnt. Ich stütze mich hier auf eine Einteilung des Sozialpsychologen Jonathan Haidt.152 Ihm zufolge sind moralische Emotionen eine Unterart der Emotionen. Er identifiziert moralische Emotionen aufgrund zweier Kriterien: ihrer nicht auf Eigeninteresse bezogenen Auslöser (disinterested elicitors) und ihrer sozial ausgerichteten Verhaltenstendenzen (prosocial action tendencies). So kommt er zu vier Emotionsfamilien: - andere verurteilend: Zorn, Ekel, Verachtung - sich selbst verurteilend: Scham, Verlegenheit, Schuld - das Leiden Anderer betreffend: Mitleid - andere lobend: Dankbarkeit, Ehrfurcht, Erbauung Außerdem erwähnt Haidt noch Furcht, Schadenfreude und Agape-Liebe als mögliche moralische Emotionen, die allerdings seine Kriterien nicht ganz erfüllen. Kommen wir nun zur Beantwortung der drei für mein Thema relevanten Fragen: 1. Handelt es sich bei Emotionen um eigenständige Gründe oder lassen sie sich auf andere Gründe zurückführen? Wenn die Deutung (4) des kognitiven Anteils von Emotionen korrekt ist, dann sind Emotionen eigenständige nichtdoxastische Gründe. Sie lassen sich nicht auf doxastische Gründe zurückführen. 2. Sind sie als E-Gründe geeignet? Viele werden dies bezweifeln. Sie werden einwenden: „Emotionen sind subjektiv. Was subjektiv ist, kann mit objektiver Wahrheit, mit objektiven Werten nichts zu tun haben.“ Hinter dieser Meinung mag aber erstens die Verwechslung von E-Gründen mit Wahrheitsbedingungen stecken. Ich behaupte freilich nicht, dass diese subjektiven emotionalen Zustände zu den Wahrheitsbedingungen oder Wahrheitsmachern von moralischen Überzeugungen gehören und dass folglich moralische Werte nicht realistisch verstanden werden können. Wohl aber behaupte ich, dass sie zu den E-Gründen gehören, also wahrheitsförderlich sein können. Im englischen Jargon gesagt: Sie sind keine „truthmakers“, sondern können „truthtrackers“ sein. Subjektive Zustände 152

Siehe: Haidt 2003. Gegenüber rationalistischen Zugängen räumt er mit seinem „Social Intuitionist Model“ moralischen Emotionen eine ausschlaggebende Rolle in der moralischen Urteilsbildung ein. Siehe auch: Haidt 2001.

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können sich nach der moralischen Wirklichkeit richten, sie können diese anzeigen. Wir können durch sie Aspekte von Wirklichkeit spüren, registrieren, erfassen. Zweitens mag hinter dem Schlagwort „Emotionen sind subjektiv“ auch die Meinung stecken, subjektive Zustände könnten grundsätzlich nicht verlässlich sein. Aber auch diese Meinung ist zu relativieren. Denn alle epistemisch relevanten Zustände sind insofern subjektive Zustände, als sie die Zustände eines Erkenntnissubjekts sind. Die Tatsache, dass sie subjektiv sind, impliziert also nicht eo ipso, dass sie unzuverlässig sind. Ein zweiter Einwand lautet: „Emotionen sind häufig übertrieben. Es kommt leicht dazu, dass wir emotional überreagieren. Im ruhigen Zustand urteilen wir anders, und es zeigt sich häufig, dass moralische Urteile, die im Affekt getroffen werden, nicht haltbar sind. Emotionen können daher keine E-Gründe sein, weil sie es nicht wahrscheinlich machen, dass die auf ihnen basierende Überzeugung wahr ist.“ Freilich kommt es vor, dass man häufig emotional über- oder unterreagiert. Es gibt auch das Phänomen emotionaler Abstumpfung und Verrohung. Dies zeigt aber nicht, dass Emotionen prinzipiell als E-Gründe diskreditiert sind.153 Es zeigt jedoch, dass Emotionen lediglich prima facie rechtfertigen. Diese Rechtfertigung kann auf zwei Weisen zunichte gemacht werden: Zum einen dadurch, dass die Person aus anderer Quelle eine Überzeugung erwirbt, welche mit der gegebenen Überzeugung im Widerspruch steht, zum Beispiel, dass eine Handlung gar nicht ungerecht war; zum anderen kann die Rechtfertigung dadurch zunichte gemacht werden, dass die Person die Überzeugung erwirbt, dass die eigenen Emotionen einer bestimmten Art oder in einem bestimmten Bereich in der Regel nicht verlässlich sind. Ein dritter Einwand lautet: „Emotionen sind theoriegeladen. Daher sind sie nicht geeignet, moralische Wahrheit anzuzeigen.“ Darauf würde ich antworten: Die Tatsache, dass ein Grund theoriegeladen ist, impliziert nicht seine Unbrauchbarkeit als E-Grund. Wahrnehmungen dürften auch theoriegeladen sein. Dennoch wird ihnen von vielen Erkenntnistheoreti153

Eine übertriebene emotionale Reaktion kann immer noch eine Übertreibung der richtigen Art von Reaktion sein. Wir erleben vielleicht zuviel Angst, zuviel Zorn in bestimmten Situationen. Daraus folgt aber nicht, dass die Art der Emotion der Situation unangemessen ist. Siehe dazu: Zagzebski 2009, 79.

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kern eine wesentliche Rolle bei der Rechtfertigung von Wahrnehmungsüberzeugungen zugestanden. Folglich sollte auch eine mögliche Theoriegeladenheit von Emotionen kein Hindernis darstellen, ihnen eine epistemische Rolle zuzugestehen. Ein weiter Einwand könnte lauten: „Es sind nicht irgendwelche Emotionen, die rechtfertigen, sondern nur qualitativ ausgezeichnete Emotionen. Lediglich die als richtig charakterisierten Emotionen rechtfertigen moralische Überzeugungen. Dies ist auch die traditionelle Auffassung: Lediglich die Emotionen der tugendhaften Person rechtfertigen moralische Überzeugungen.“ Darauf würde ich mit der Unterscheidung zwischen prima facie- und ultima facie-Rechtfertigung antworten. Die traditionelle, klassische Auffassung entwirft ein Ideal: Die tugendhafte Person reagiert emotional angemessen, trifft auf epistemisch rechte Weise das praktisch Wahre und verwirklicht es im Handeln. Ihre Emotionen rechtfertigen ultima facie. Meine Behauptung hier ist schwächer: Emotionen sind EGründe und rechtfertigen moralische Überzeugungen lediglich prima facie. 3. Wie können Emotionen E-Gründe für moralische Überzeugungen sein? So wie Sinneserfahrungen nichtinferenzielle prima facie-Gründe für Wahrnehmungsüberzeugungen sein können, so können auch emotionale Erfahrungen nichtinferenzielle prima facie-Gründe für moralische Überzeugungen sein. Dies verstehe ich so: Emotionen haben ein intentionales Objekt. In einem emotionalen Zustand wird etwas auf gewisse Weise präsentiert oder repräsentiert. Etwas erscheint einem als so-und-so unter einer bestimmten Beschreibung. Die Beschreibung ist wertend. Diese emotionale Präsentation kann völlig spontan geschehen, auch unbewusst. Zorn ist beispielsweise eine Emotion, durch die eine Handlung als ungerecht repräsentiert wird. Die affektive Repräsentation des Zorns ist ein E-Grund für die Überzeugung, dass die Handlung ungerecht war, dass sie nicht hätte vollzogen werden dürfen. Scham ist eine Emotion, durch die eine eigene Handlung als schändlich repräsentiert wird. Diese affektive Repräsentation ist ein E-Grund für die Überzeugung, dass die Handlung schändlich ist. Mitleid ist eine Emotion, durch die eine Person, ein Volk als mitleidenswürdig repräsentiert wird. Die affektive Repräsentation des Mitleids ist ein E-Grund für die Überzeugung, dass die Person bemitleidet werden soll. Furcht ist eine Emotion, durch die jemand oder etwas als gefährlich reprä-

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sentiert wird. Die affektive Repräsentation der Furcht ist ein E-Grund für die Überzeugung, dass x gemieden werden soll. Gründe dieser Art rechtfertigen moralische Überzeugungen nichtinferenziell. Denn es ist der kognitive Gehalt der Emotion selbst – und nicht eine Überzeugung über den kognitiven Gehalt –, welcher die moralische Überzeugung rechtfertigt.154 Zweitens ist die Rechtfertigung lediglich prima facie. Wir sehen also, dass Emotionen E-Gründe für moralische Überzeugungen sein können und dass die Art und Weise, wie sie moralische Überzeugungen rechtfertigen, nicht mysteriöser vorgestellt werden muss, als die Art und Weise wie Sinneswahrnehmungen Wahrnehmungsüberzeugungen rechtfertigen. 7.5 Wünsche Neben Emotionen wird auch das Streben, das Wollen, das Wünschen oft im Zusammenhang mit moralischer Überzeugungsbildung gesehen. Wiederum führe ich zuerst einige Beispiele aus der Philosophiegeschichte an. 7.5.1 Beispiele aus der Philosophiegeschichte 1. Als erstes Beispiel nenne ich wieder die Goldene Regel (GR). Sie gilt als Verfahren der moralischen Überzeugungsbildung und lautet: GR: Behandle andere nur so, wie du in der gleichen Situation behandelt werden möchtest! Die Reflexion auf das eigene Wollen spielt in dieser Regel die zentrale Rolle in der Urteilsbildung. Die aufgeforderte Person soll sich fragen, wie sie selbst behandelt zu werden wünscht, wie sie selbst wollen würde, dass man mit ihr in der gleichen Situation verfährt.

154

Döring / Peacocke 2002, 96 sprechen metaphorisch: „Den repräsentationalen Inhalt einer Emotion für bare Münze nehmen…“. Dies ist allerdings zweideutig: (i) Der kognitive Inhalt der Emotion wird Inhalt einer Überzeugung und diese Überzeugung rechtfertigt dann eine weitere Überzeugung; (ii) der kognitive Inhalt der Emotion selbst rechtfertigt die Überzeugung.

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2. Als zweites mögliches Beispiel sei Thomas von Aquin genannt. Bei der Erkenntnis von Vorschriften des natürlichen Gesetzes bringt er natürliche Neigungen ins Spiel, die dem Menschen als Menschen zukommen. Zu diesen Neigungen gehören: sich am Leben zu erhalten, Sex zu haben und Nachwuchs aufzuziehen, in Gemeinschaft zu leben, rational vorzugehen, die Wahrheit herauszufinden. Welche Funktion für die Erkenntnis des Guten haben diese zum Wesen des Menschen gehörenden Neigungen? Thomas schreibt: […] all das, wozu der Mensch eine natürliche Neigung hat, erfasst die Vernunft auf natürliche Weise als Ziel und folglich als Handlungen, die zu vollziehen sind.155

Nun könnte man diese Stelle folgendermaßen deuten: Neigungen richten sich nach der Erkenntnis. Also haben sie keine kognitive Funktion. Vielmehr setzen sie Erkenntnis voraus. Dies wäre eine berechtigte Interpretation. Denn nach Thomas setzt das Streben im Allgemeinen das Erfassen von etwas als gut voraus. Man könnte diese Stelle aber auch anders deuten und sagen: Die natürlichen Neigungen selbst sind Erkenntnisgrund des Guten. Über die Neigungen wird uns bewusst, dass bestimmte Handlungen zu vollziehen oder nicht zu vollziehen sind. Den natürlichen Neigungen würde dann eine kognitive Funktion zukommen. 3. Auch Immanuel Kants Kategorischer Imperativ (KI) in der Universalisierungsformel enthält ein Wollen-Können: KI: Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.156 Dieses Wollen-Können ist zwar nicht als ein unqualifiziertes Streben oder Wünschen, sondern als ein rationales Wollen-Können zu verstehen. Dennoch ist es ein Wollen-Können, das Kant als Kriterium für die Richtigkeit der Maxime angibt. 155

156

Summa Theologiae I II 94, 2: „Quia vero bonum habet rationem finis, malum autem rationem contrarii, inde est quod omnia illa ad quae homo habet naturalem inclinationem, ratio naturaliter apprehendit ut bona, et per consequens ut opere prosequenda, et contraria eorum ut mala et vitanda.“ Grundlegung zur Metaphysik der Sitten [GMS], 421.

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4. Schließlich vertreten auch Wertphänomenologen, dass sich in der Erfahrung des Vorziehens moralischer Wert zeigt. So schreibt etwa Max Scheler: […] dass sich alle ethische Erkenntnis zu stützen hat auf die im Fühlen und Vorziehen erfolgende Werterfahrung – ganz so, wie sich alles theoretische Denken auf Sinneserfahrung zu stützen hat.157

Die Rolle, welche Sinneserfahrungen für unsere Wahrnehmungsüberzeugungen und alle sich darauf stützenden Überzeugungen spielen, spielen Werterfahrungen für unsere moralischen Überzeugungen. Werterfahrungen sind nach Scheler neben dem Fühlen auch konstituiert durch ein Vorziehen.158 Diese spärlichen Ausführungen verweisen auf eine verfolgenswerte Spur, der ich nun genauer nachgehen werde. Ich möchte mehr Klarheit darüber schaffen, ob das Wollen bzw. Wünschen, kognitiv gesehen, tatsächlich ein eigenständiger E-Grund sein kann, oder ob es auf Überzeugungen zurückführbar ist. Ferner untersuche ich wiederum, ob Wünsche als EGründe geeignet sind und wie sie moralische Überzeugungen rechtfertigen können. 7.5.2 Systematische Auseinandersetzung Im Folgenden verwende ich den Ausdruck „Wunsch“ im weitesten Sinn für ein Streben. Wünsche haben intentionale Objekte. Wir wünschen uns etwas. Man kann auch sagen: Wünsche sind propositionale Einstellungen. Wir wünschen uns, dass etwas der Fall ist. Wir wünschen uns, dass die Sonne scheint, dass wir zum Geburtstag große und teure Geschenke bekommen, dass der Mörder endlich gefunden und bestraft wird, dass der Welthunger aufhört und die Erderwärmung gestoppt wird. Die für meine Zwecke entscheidende Frage lautet wiederum, wie das kognitive Element im Zusammenhang mit Wünschen zu deuten ist. Ich nenne zwei Möglichkeiten: (1) Wünsche setzen immer Bewertungsüberzeugungen voraus. Wünsche sind lediglich Reaktionen auf Überzeugungen darüber, was unter irgendei157 158

Scheler, zitiert aus: Gesammelte Werke, Band 2, 1954, 339. Scheler 1954, 274. Vgl. Mulligan 2008.

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ner Rücksicht wertvoll oder gut ist. Überzeugungen darüber, was gut ist, lösen Wünsche aus. (2) Wünsche sind Erfahrungen von Wert. Auf diesen Werterfahrungen können Wertüberzeugungen beruhen. Damit wird nicht behauptet, dass Wünsche überhaupt keine Überzeugungen voraussetzen oder dass sie nie auf Bewertungsüberzeugungen beruhen. Es wird lediglich behauptet, dass das Erfassen von Werten auch durch Wünsche erfolgen kann. Kommen wir nun zu den drei Fragen: 1. Sind Wünsche eigenständige Gründe für Wertüberzeugungen? Wenn die Auffassung (1) korrekt ist, sind Wünsche für meine Fragestellung nicht interessant. Denn dann können sie keine eigenständigen Gründe für Wertüberzeugungen und moralische Überzeugungen sein. Wertüberzeugungen und moralische Überzeugungen haben dann immer von Wünschen unabhängige E-Gründe. Meiner Ansicht nach ist jedoch die Auffassung (2) plausibler. Der Grund dafür ist wiederum einfach. Ich kann den Wunsch haben, dass p, ohne die Überzeugung zu haben, dass p wertvoll ist; ich kann sogar den Wunsch haben, dass p, und glauben, dass p nicht wertvoll ist, so wie ich auch den Sinneseindruck haben kann, dass der Stab im Wasser gebrochen ist, obwohl ich glaube, dass er nicht gebrochen ist. Und umgekehrt ist es auch möglich, dass ich die Überzeugung habe, dass p wertvoll ist und getan werden soll, ohne den entsprechenden Wunsch zu haben, es zu tun. Wünsche könnten demnach also als eigenständige Gründe gelten. 2. Sind Wünsche aber als E-Gründe geeignet? Viele verneinen diese Frage. Wünsche genießen epistemisch gesehen keinen guten Ruf. Sie gelten häufig sogar als Paradigma für nichtepistemische Gründe. Ich stelle mich hier den wichtigsten Einwänden. (i) Man denke an einen schwer kranken Mann, der überzeugt ist, wieder gesund zu werden, allein aufgrund der Tatsache, dass er sich dies wünscht. Man denke an eine Witwe, die überzeugt ist, dass sie ihren verstorbenen Mann in einer anderen Welt wiedersehen wird, allein aufgrund der Tatsache, dass sie sich dies wünscht. Diese Überzeugungen können unter verschiedener Rücksicht für die Betroffenen hilfreich sein. Unter erkenntnistheoretischer Rücksicht werden sie jedoch zumeist mit dem Stempel

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Wunschdenken versehen. Warum sollte es im Bereich des Moralischen anders sein? Um diesen Einwand zu entkräften, muss man genauer erfassen, was ich behaupte. Ich behaupte nicht, dass der Wunsch, dass p, einen E-Grund für die Überzeugung darstellt, dass p der Fall ist. Ich behaupte etwas ganz anderes, nämlich: Der Wunsch, dass p, ist ein E-Grund für die Überzeugung, dass p unter irgendeiner Rücksicht Wert hat. Mein Wunsch, dass die Sonne scheint, ist freilich kein E-Grund für die Überzeugung, dass die Sonne scheint. Wohl aber kann mein Wunsch, dass die Sonne scheint, ein EGrund für die Überzeugung sein, dass es unter einer bestimmten Rücksicht gut ist, wenn die Sonne scheint. Antons Wunsch, dass Berta geholfen wird, ist kein E-Grund für Antons Überzeugung, dass Berta geholfen wird; aber er kann ein E-Grund für Antons Überzeugung sein, dass es unter einer bestimmten Rücksicht gut ist, Berta zu helfen, dass man ihr helfen soll. Durch Wünsche erleben wir, dass etwas unter einer bestimmten Rücksicht wertvoll ist. Wünsche sind Werterfahrungen. Wünsche präsentieren uns Sachverhalte als gut oder schlecht. Wünsche sind keine Wertüberzeugungen. Wertüberzeugungen können aber epistemisch auf Wünschen beruhen. Graham Oddie drückt dies so aus: Wünsche ich, dass p, dann übe p eine bestimmte Anziehung auf mich aus. Es zeige sich als etwas, das herbeigeführt bzw. vollzogen werden soll. Nun ist das Gute genau das, was herbeigeführt bzw. vollzogen werden soll. Daher würde mein Wunsch, dass p, das Gut-Scheinen von p involvieren. Der Wunsch, dass p, scheine also nichts anderes als die Erfahrung von p als gut zu sein.159 159

Siehe: Oddie 2005, 41: „When I desire that P, P has a certain magnetic appeal to me. It presents itself to me as something needing to be pursued, or promoted, or embraced. Now, the good just is that which needs to be pursued, or promoted, or embraced. So my desire that P involves P’s seeming good (seeming to be worth pursuing). So the desire that P looks as though it just is the experience of P as good.“ Den gleichen Vorschlag findet man auch bei Lycan 1986, 89. Tenenbaum 2007 verteidigt eine ähnliche Sicht, die er im Anschluss an Kant (KpV 103) „die alte Formel der Schulen“ nennt. Gemeint ist die scholastische These, dass wir etwas nur dann anstreben, wenn es uns zumindest unter einer Rücksicht als gut erscheint. Tenenbaum 2007, 17, schreibt: „I argue that desires are best conceived of as appearances of the good from a certain perspective (just as in the realm of theoretical reason we can talk about certain claims appearing to be true in light of certain evidence or in light of certain perceptual experiences).“

134

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(ii) Dagegen könnte eingewandt werden, dass Wünsche Dispositionen sind. Man kann Menschen auch dann Wünsche zuschreiben, wenn sie nicht daran denken oder sogar, wenn sie schlafen. Erlebnisse oder Erfahrungen hingegen sind aktuale Abläufe. Wie können Wünsche dann Werterfahrungen sein? Die einfachste Antwort auf diesen Einwand besteht darin, zwischen der Disposition, etwas zu wünschen, und dem aktualen Wünschen zu unterscheiden. Nur aktual vorliegende Wünsche sind Werterfahrungen, Dispositionen, etwas zu wünschen, hingegen nicht.160 (iii) Angenommen, aktual vorliegende Wünsche sind tatsächlich so etwas wie Werterfahrungen. Solche Werterfahrungen sind aber epistemisch nur dann bedeutsam, wenn sie zum Großteil veridisch sind. Aber ist dies bei Wünschen der Fall? Wünsche liefern, so lautet ein weiterer Einwand, nicht bloß ab und zu schlechte Wertdaten, sondern sie liefern systematisch schlechte Wertdaten. Daher sind sie als E-Gründe für moralische Überzeugungen nicht geeignet. Dass Wünsche systematisch schlechte Wertdaten liefern, kann man sich leicht klar machen. Anton wartet auf eine Spenderniere, ebenso wartet eine ihm nicht weiter bekannte Person Dora auf eine Spenderniere. Anton wünscht sich stärker, dass er die nächste Niere bekommt, als dass Dora sie bekommt. Und umgekehrt wünscht sich Dora stärker, dass sie die nächste Niere bekommt, als dass Anton sie bekommt. Dabei wissen beide, dass das Leben des jeweils anderen nicht weniger wertvoll ist als das eigene. Dennoch kann Anton sich nicht in dem Maß wünschen, dass Dora die Niere bekommt, wie er wünscht, dass er sie bekommt. Die Parallele mit der Wahrnehmung, die ständig gezogen wurde, scheint hier zusammenzubrechen. Es kommt selten vor, dass Anton etwas ein Baum zu sein scheint, Dora aber dasselbe ein Haus. Es ist aber sehr leicht denkbar, dass die beiden entgegengesetzte Wünsche haben. Ihre Wünsche sind daher keine E-Gründe dafür, dass die eine Handlungsoption besser als die andere ist. Noah M. Lemos bringt diesen Einwand folgendermaßen auf den Punkt:

160

Vgl. dazu: Oddie 2005, 55-56.

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135

And the fact that A prefers as such A’s being happy and B’s being sad to B’s being happy and A’s being sad is no reason for A to think that the former state of affairs is intrinsically better than the latter.161

Gemäß diesem Einwand können Wünsche Werte nicht repräsentieren. Denn Werte sind, zumindest nach realistischer Auffassung, agensneutral, Wünsche hingegen nicht. Dieser Einwand sieht einen richtigen Punkt: Wünsche präsentieren uns Dinge nicht aus einem Blick from nowhere, sondern aus einer Perspektive. Doch dies ist selbst bei der Wahrnehmung der Fall. Die Dinge erscheinen uns je nach dem, wie wir als Betrachter ihnen gegenüber situiert sind. Aus 20 Metern Entfernung erscheint der Baum kleiner als aus drei Metern Entfernung. Daraus folgt weder, dass der Baum keine betrachtungsunabhängige Größe hat, noch, dass unsere Wahrnehmung uns täuscht. Im Gegenteil, wir können sogar erklären, warum uns der Baum aus unterschiedlichen Perspektiven unterschiedlich groß erscheint. Ebenso könnte man sagen, dass uns durch Wünsche Werttatsachen unterschiedlich erscheinen, je nach dem, wie wir ihnen gegenüber positioniert sind. Diesen Gedanken hat Oddie ausgeführt: […] even though facts about value are valuer-neutral, experience of value can and should be valuer-relative, since they depend on exactly where the valuer is situated with respect to the objects of desire. In general, we do not require that a perceiver’s experiences be isomorphic to reality for him to be perceiving appropriately. […] the perspectival nature of value experiences no more undermines their claim to yield a glimpse of value, than the perspectival nature of ordinary perception undermines its claim to yield data about the material world.162

Wenn Wünsche eine perspektivische Erfahrung von Werten sind, dann sind sie zwar epistemisch gesehen mit einiger Vorsicht zu genießen, sie sind aber nicht epistemisch wertlos. Der Einwand zeigt nicht, dass Wünsche nicht einen Beitrag zur prima facie-Rechtfertigung von moralischen Überzeugungen leisten können. Er zeigt aber wohl, dass eine Erkenntnistheorie moralischer Überzeugungen mit Wünschen als alleinigen Gründen nicht zu bestreiten ist. 3. Wie rechtfertigen Wünsche moralische Überzeugungen? Wenn Wünsche Werterlebnisse sind, wenn sich in einem Wunsch also ein Sachverhalt 161 162

Lemos 1994, 193. Oddie 2005, 63.

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als gut bzw. als etwas, das verfolgt werden soll, präsentiert, dann ist auch die Frage nicht mehr schwer zu beantworten, wie Wünsche moralische Überzeugungen rechtfertigen können. Wiederum ist der Vergleich mit der Wahrnehmung hilfreich.163 Wenn ich die visuelle Erfahrung einer roten Rose mache, erscheint mir die Rose als rot. Diese visuelle Erfahrung ist ein Grund für meine Überzeugung, dass die Rose rot ist. Dieser Grund kann zunichte gemacht werden, zum Beispiel wenn ich erfahre, dass die Rose von rotem Licht bestrahlt wird, oder dass ich unter Drogen stehe. Dann habe ich weiterhin den Eindruck einer roten Rose, aber ich glaube nicht mehr, dass die Rose rot ist. Ich kann also den Eindruck ohne Überzeugung haben, genauso wie ich die Überzeugung ohne Eindruck haben kann. Der Eindruck ist nicht selbst die Überzeugung. Parallel dazu kann man Wünsche als Erfahrungen von Wert ansehen: Ein Sachverhalt erscheint mir als gut. Diese Erfahrung ist ein Grund für meine Überzeugung, dass der Sachverhalt gut ist; ein Grund, der ebenfalls zunichte gemacht werden kann, wenn sich zum Beispiel herausstellen sollte, dass meine Wünsche in der Regel abnorm und daher nicht verlässlich sind, oder wenn ich die Überzeugung erwerbe, dass sie etwas beinhalten, das nicht wirklich gut ist. Wir sehen also, dass auch Wünsche als nichtdoxastische E-Gründe für moralische Überzeugungen in Frage kommen können. Sie können moralische Überzeugungen nichtinferenziell prima facie rechtfertigen. 7.6 Ergebnis Ich habe in diesem Kapitel einige Kandidaten für nichtdoxastische EGründe untersucht. Ich beanspruche nicht, dies erschöpfend getan zu haben. Wohl aber scheint mir, dass ich einige der interessanteren Kandidaten untersucht habe. Ich habe jeweils zu zeigen versucht, inwiefern sie als EGründe für moralische Überzeugungen in Frage kommen. Ich bin zum Schluss gekommen, dass Intuitionen, Emotionen und Wünsche E-Gründe für moralische Überzeugungen sein können. Die Struktur war immer die gleiche: Etwas erscheint uns als so-und-so, wobei „so-und-so“ ein Platz163

Vgl. dazu: Oddie 2005, 40.

Nichtdoxastische Gründe

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halter für ein Bewertungsprädikat ist. Dieses Scheinen ist ein mentaler nichtdoxastischer Zustand. Diesen Zustand drücken wir in Sätzen aus wie „Mir scheint, dass dies so-und-so ist“ oder „Mir erscheint dies so-und-so.“ Hinzu kommt ein erkenntnistheoretisches Prinzip, das da lautet: Wenn einer Person etwas, x, als so-und-so erscheint, dann ist sie prima facie gerechtfertigt zu glauben, dass x so-und-so ist. Dieses Prinzip setzen wir sowohl im Alltag als auch in wissenschaftlichen Kontexten ständig voraus. Es sind dann diese nichtdoxastischen Zustände selbst, welche die darauf beruhenden Überzeugungen erkenntnismäßig rechtfertigen, nicht die Überzeugungen über die Zustände. Die Beziehung des Beruhens verstehe ich im starken Sinn, wonach es die nichtdoxastischen Zustände selbst sind, welche zur Überzeugungsbildung oder -erhaltung beitragen. Diese Zustände befinden sich im Geist der erkennenden Person. Sie sind ihr auch introspektiv zugänglich. Das heißt allerdings nicht, dass ihr jeder dieser nichtdoxastischen Zustände immer und sofort introspektiv zugänglich ist, sondern nur, dass er von der Art der Zustände ist, welche ihr im Allgemeinen durch Reflexion zugänglich sind. Ferner vertrete ich auch nicht die Ansicht, dass es für die Rechtfertigung der entsprechenden Überzeugung notwendig ist, dass die Angemessenheit dieser Gründe oder auch die Tatsache, dass die gebildete Überzeugung tatsächlich auf diesen Gründen beruht, introspektiv zugänglich sein muss. Die Gründe müssen nur angemessen sein und die Überzeugung muss lediglich auf diesen Gründen beruhen. Bisher habe ich mögliche E-Gründe für moralische Überzeugungen isoliert untersucht. Nun stellt sich die Frage wie verschiedene E-Gründe bei der moralischen Überzeugungsbildung bzw. -erhaltung zusammenlaufen können.

8 Zusammenspiel der Gründe Mögliche E-Gründe für moralische Überzeugungen habe ich entfaltet und geprüft. Neben doxastischen Gründen habe ich auch eine Reihe von nichtdoxastischen Gründen unter die Lupe genommen. Der nächste Schritt besteht in der Untersuchung des möglichen Zusammenspiels dieser verschiedenartigen Gründe bei der Bildung und Erhaltung von moralischen Überzeugungen singulären Inhalts. 8.1 Ein Lösungsvorschlag Als Ausgangspunkt wähle ich den Lösungsvorschlag von Russ ShaferLandau.164 Seine Frage ist: Wie gelangen wir von den selbstevidenten Üpam zu Üpsm? Die vorherrschende Antwort lautet: Wir gelangen zu ihnen durch Deduktion. Üpsm sind inferenziell gerechtfertigt, in hierarchischer Ordnung, an deren Grund ein selbstevidentes allgemeines moralisches Prinzip steht. Wenn man diese vorherrschende Sicht aufgrund der bereits genannten Schwierigkeiten verwirft, dann bleiben nur zwei Optionen: der Partikularismus und der Prima-facie-Zugang. Partikularisten verneinen jegliche Ableitung von allgemeinen moralischen Prinzipien, da jede Situation einzigartig sei, und selbst gleichbleibende Merkmale in ihrer moralischen Relevanz kontextabhängig seien. Der Prima-facie-Zugang besagt, es gebe mehrere allgemeine moralische Prinzipien, es sei aber nicht von vornherein klar, welches von ihnen in einer Handlungssituation tatsächlich zum Zug komme. Wie dann die epistemischen Beziehungen zwischen Üpam und Üpsm aussehen, bleibe rätselhaft: Here is a typical case: we begin with pro tanto principles that enjoin beneficence and fairness. We are in a situation in which benefiting another means making an exception of him. We come to a considered belief about what to do. Can such a belief be justified? If so, how? What is the relation that a justified verdictive be-

164

Shafer-Landau 2003, 267-302.

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lief must bear to pro tanto principles? It isn’t deduction. It isn’t induction. It isn’t very clear at all.165

Zur Lösung dieser Frage schlägt Shafer-Landau die Verlässlichkeitstheorie vor, deren Hauptthese folgendermaßen lautet:166 Die Überzeugung, dass p, ist für eine Person S genau dann epistemisch gerechtfertigt, wenn diese Überzeugung Ergebnis eines verlässlichen Entstehungs- und/oder Erhaltungsvorgangs ist. Derartige Vorgänge bzw. Prozesse haben Eingangsgrößen (Inputs) und Ausgangsgrößen (Outputs), in unserem Fall die resultierenden Überzeugungen. Zum Überzeugungsbildungsvorgang, welcher zu Üpsm führt, gehört Shafer-Landau zufolge die Aufmerksamkeit auf Üpam sowie auf andere Grundüberzeugungen, zum Beispiel über Umstände und anderes mehr. Dennoch sei Üpsm nicht inferenziell gerechtfertigt. Er schreibt: My thought is that, rather than look to the content of grounding and verdictive beliefs, and then seek to establish some deductive, inductive, or other kind of evidential relation, we should shift our focus to the sorts of successful processes that get us from a variegated, disparate battery of grounding beliefs to firm, settled verdictive moral beliefs. These processes may be reliable even if there is no kind of inferential relation that transmits justification from the grounding beliefs to verdictive moral beliefs.167

Wir haben also auf der Prozessinputseite begründende allgemeine moralische und andere Überzeugungen, auf der Prozessoutputseite Überzeugungen singulären moralischen Inhalts. Es müsse keine inferenzielle Beziehung zwischen Input und Output vorhanden sein, welche die Rechtfertigung vom Input zum Output überträgt. Es müsse lediglich ein verlässlicher Prozess ablaufen, der vom einen zum anderen führt. Die singulären moralischen Überzeugungen am Ende des Prozesses seien gerechtfertigt aufgrund der Tatsache, Ergebnisse eines verlässlichen Prozesstyps zu sein. Daher seien sie nach Shafer-Landau nichtinferenziell gerechtfertigt. 165

166

167

Shafer-Landau 2003, 270. Die Fußnote, die in diesem Text vorkommt, habe ich weggelassen. Mit „verdictive beliefs“ sind meine Üpsm gemeint, und mit „pro tanto principles“ meine Üpam, die prima facie gelten. Ich meine damit Theorien, die im englischen Sprachraum unter dem Stichwort „Reliabilism“ behandelt werden. Siehe dazu: Goldman 1979; Goldman 1986. Im deutschen Sprachraum wird der Reliabilismus vor allem von Grundmann 2003 und 2008 vertreten. Shafer-Landau 2003, 274.

Zusammenspiel der Gründe

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8.2 Modifikationen An Shafer-Landaus Lösungsvorschlag werde ich weiterbauen. Ich werde seine verlässlichkeitstheoretische Stoßrichtung übernehmen, sie aber an einigen Stellen modifizieren: 1. Shafer-Landau nimmt als Eingangsgrößen moralischer Überzeugungsbildungsvorgänge lediglich Überzeugungen, also doxastische Gründe an. Er spricht von einer „disparate battery of grounding beliefs“. Doch dies ist meines Erachtens zu eng. Auch nichtdoxastische Zustände wie Wahrnehmungen, Intuitionen, Emotionen und Wünsche gehören zu den Eingangsgrößen. Die Verlässlichkeitstheorie erlaubt, nichtdoxastische Gründe als Inputs aufzunehmen. 2. Shafer-Landau vertritt eine Hybridtheorie: durch Selbstevidenz gerechtfertigte Überzeugungen allgemeinen moralischen Inhalts (Üpam) auf der einen Seite; durch verlässliche Prozesse gerechtfertigte Überzeugungen singulären moralischen Inhalts (Üpsm) auf der anderen Seite. Er meint dann, Üpam seien zwar Teil der Eingangsgrößen, würden aber dennoch keine inferenzielle Rolle in der Rechtfertigung von Üpsm spielen. Vielmehr seien alle Üpsm nichtinferenziell gerechtfertigt. So versucht er, die Skylla des Deduktivismus und die Charybdis des Partikularismus zu umschiffen. Es bleibt aber völlig im Dunkeln, welche Rolle Üpam bei der Bildung und Rechtfertigung von Üpsm nun tatsächlich spielen. Wie kann eine Üpam eine Üpsm rechtfertigen, ohne sie inferenziell zu rechtfertigen? 3. Damit verbunden ist ein weiteres Problem. Shafer-Landau spricht zwar von Erkenntnisprozessen im Plural. Aber er erwähnt nur jene Prozessart, welche zu nichtinferenziell gerechtfertigten Überzeugungen führt. Dies scheint jedoch in vielen Fällen eine unangemessene Beschreibung unserer moralischen Urteilsbildung zu sein. Es mag Fälle geben, wo wir ganz spontan die Überzeugung bilden Das ist eine furchtbare Untat. Eine derartige Überzeugung könnte vielleicht nichtinferenziell gerechtfertigt sein. Es kommt aber häufig vor, dass moralische Überzeugungsbildung eingehende Überlegungen und Reflexionen voraussetzt. Nehmen wir zum Beispiel an, jemand ist nach langer Überlegung zur Überzeugung gekommen Es ist moralisch richtig, einem Komapatienten eine Magensonde zu legen. Seine Überzeugung beruht unter anderem auf der Überzeugung Ma-

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gensonden sind lediglich Mittel der Ernährung, und der Überzeugung Jeder Mensch hat ein Recht auf Ernährung, wenn sie möglich ist. Bei solchen Fällen ist es meines Erachtens falsch zu sagen, die resultierende Überzeugung sei nichtinferenziell gerechtfertigt. Die Verlässlichkeitstheorie hätte auch die Ressourcen, die Probleme 2 und 3 zu lösen, denn ihr stehen drei Arten von Prozesstypen zur Verfügung: (i) Verlässliche Prozesstypen, deren Eingangsgrößen lediglich doxastische Gründe sind. (ii) Verlässliche Prozesstypen, deren Eingangsgrößen lediglich nichtdoxastische Gründe sind. (iii) Verlässliche Prozesstypen, deren Eingangsgrößen gemischt sind. Zu (i): Verlässliche Prozesstypen, deren Eingangsgrößen lediglich doxastische Gründe sind. Solche Prozesstypen sind leicht zu benennen, zum Beispiel deduktive oder induktive Inferenzen und andere bekannte Schlusstypen. Sie resultieren in inferenziell gerechtfertigten Überzeugungen. Diese Prozesstypen sind abhängig von Überzeugungen und daher bedingt verlässlich.168 Sie sind verlässlich, wenn die Inputs wahr sind. Im Bereich der Moral: Wenn Überzeugungen singulären moralischen Inhalts auf doxastischen Gründe beruhen, so haben diese Gründe ihrerseits entweder moralischen oder nichtmoralischen Inhalt. Doxastische Gründe mit nichtmoralischem Inhalt allein können moralische Überzeugungen nicht rechtfertigen. Dies ergaben die Überlegungen im Kapitel 5. Es bedarf immer auch moralischer doxastischer Gründe. Die Rechtfertigung der Überzeugungsoutputs wäre dann inferenziell. Ein Beispiel: Die Überzeugung, dass ich Bertas Rad nicht nehmen soll, wäre gerechtfertigt durch die Überzeugung, dass Bertas Rad zu nehmen Diebstahl wäre, und der Überzeugung, dass man unter sonst gleichen Umständen nicht stehlen soll, und der Überzeugung, dass die Umstände gleich und keine weiteren Gesichtspunkte vorhanden sind. Man könnte – wie Alston es tut – die Beziehung zwischen Input und Output mit Hilfe des Begriffs der Funktion beschrei-

168

Siehe dazu: Goldman 1979, 13.

Zusammenspiel der Gründe

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ben.169 Eine Funktion ist eine Beziehung zwischen zwei Mengen, die jedem Element der einen Menge ein Element der anderen Menge zuordnet. Bei einem Erkenntnisvorgang wird demnach eine Funktion realisiert, welche von Eingangsgrößen zu bestimmten Ausgangsgrößen, nämlich den resultierenden Überzeugungen, führt. Das aktivierte Funktionsschema wäre hier jenes von Deduktionen: die Überzeugung Wenn p dann q, und die Überzeugung, dass p → die Überzeugung, dass q. Im Kapitel 6 habe ich einige Gründe angeführt, warum die Annahme rein inferenzieller Prozesstypen der Art (i) bei der Rechtfertigung moralischer Überzeugungen nicht angemessen ist. Ein moralischer Deduktivismus scheint insbesondere wegen der Vielzahl wechselnder Handlungsumstände zu versagen. Wir müssen im konkreten Einzelfall nicht nur herausfinden, ob die Bedingungen erfüllt sind beziehungsweise die Umstände gegeben sind, welche in einer prima facie-Pflicht genannt werden, und auch nicht nur, wie wir im Einzelnen handeln müssen, um dieser Pflicht nachzukommen, sondern vor allem, welche unter den relevanten prima facie-Pflichten tatsächlich zum Zug kommt. Dies kann man durch Deduktion allein nicht herausfinden. Außerdem beruhen auch die rechtfertigenden Überzeugungen, von denen man ausgeht, ihrerseits auf Gründen, letztlich auf nichtdoxastischen Gründen. Ich habe dafür argumentiert, dass auch selbstevidente Überzeugungen nichtdoxastische E-Gründe haben. Zu (ii): Verlässliche Prozesstypen, deren Eingangsgrößen lediglich nichtdoxastische Gründe sind: Sie resultieren in nichtinferenziell gerechtfertigten Überzeugungen. Sehen wir uns die Überzeugungsbildung aufgrund von Sinneswahrnehmung an: Input ist hier ein direktes Gewahrsein eines Objekts, das bestimmte sinnliche Qualitäten aufweist. Und die Funktion hat die Form: Erfahrung, in der x als A erscheint (plus relevante Hin-

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Alston 2005, 126: „Thus every belief formation involves the activation of a psychologically realized function. That activation yields a belief with a propositional content that is a certain function of the proximate input. This function will determine both what features of the input have a bearing on the belief output and what bearing they have, that is, how the content of the belief is determined by those features.“

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tergrundüberzeugungen) → Überzeugung, dass x A ist.170 Nehmen wir zum Beispiel meine Überzeugung Dort steht eine Orchidee. Zu den Eingangsgrößen wird ein sinnlicher Eindruck gehören. Das Objekt sieht auf eine bestimmte Weise aus. Der aktivierte habitus wird dabei bestimmte phänomenale Merkmale wie zum Beispiel Formmerkmale der Blätter, Blüten, Wurzeln bzw. bestimmte Farbmerkmale herausgreifen, andere hingegen unbeachtet lassen. Hätte ich eine Überzeugung über die Größe der Orchidee gebildet oder darüber, ob die Pflanze krank ist, wären andere Merkmale herausgegriffen worden. Es hängt also ganz von der aktivierten Funktion ab, welche Merkmale herausgegriffen werden. Nun zum Bereich der Moral: Wenn Überzeugungen singulären moralischen Inhalts nichtdoxastische Gründe haben, so können diese Gründe moralisch wertende Begriffe involvieren oder nicht: (a) Wenn sie moralisch wertende Begriffe involvieren, wären diese Gründe allein fähig, moralische Überzeugungen zu rechtfertigen. Die Rechtfertigung der moralischen Überzeugungen wäre dann nichtinferenziell. Solche Gründe könnten zum Beispiel Emotionen sein. Sie präsentieren uns Situationen als so-und-so, wobei „so-und-so“ ein Platzhalter für einen wertenden Begriff ist. Die Emotion des Zornes präsentiert eine Handlung als ungerecht. Dieser nichtdoxastische Zustand würde dann die Überzeugung, dass die Handlung ungerecht war, nichtinferenziell rechtfertigen. Das Funktionsschema wäre hier in Parallele zum Funktionsschema bei der Bildung von Wahrnehmungsüberzeugungen zu verstehen: Erfahrung, in der x als A erscheint → Überzeugung, dass x A ist. In ähnlicher Weise wie Emotionen könnten auch Wünsche gedeutet werden. Wenn Wünsche Werterfahrungen sind, wenn sie uns etwas als wertvoll bzw. gut präsentieren, dann könnten sie ähnlich wie Emotionen Üpsm nichtinferenziell rechtfertigen. Der Wunsch, dass Berta geholfen wird, wird dann als Erfahrung gedeutet, dass es gut ist, Berta zu helfen. Und diese Erfahrung könnte die Überzeugung rechtfertigen, dass man Berta helfen soll. Das Funktionsschema wäre wiederum: Erfahrung, in der x als A erscheint → Überzeugung, dass x A ist. Ähnliches würde für Intuitionen gelten.

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Siehe: Alston 1991, 185.

Zusammenspiel der Gründe

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(b) Wenn die nichtdoxastischen Gründe aber keine moralisch wertenden Begriffe involvieren, können sie allein moralische Überzeugungen nicht rechtfertigen. Sie können es nur in Zusammenhang mit doxastischen oder nichtdoxastischen Gründen, welche wertende Begriffe enthalten. Relevante Handlungsumstände können zum Beispiel auch nichtdoxastisch erfasst werden. Die Handlungsumstände werden dann zwar wahrgenommen oder erfasst und gehen so als Eingangsgrößen in den Überzeugungsbildungsvorgang ein. Es werden aber keine Überzeugungen über die Handlungsumstände gebildet. Man kann dies in Parallele zu dem oben beschriebenen Fall der Erkenntnis deuten, dass vor mir eine Orchidee steht. Die Wahrnehmung bestimmter Merkmale von Form, Blättern und Blüten geht in die Überzeugungsbildung ein. Ich habe aber keine Überzeugungen über diese Merkmale gebildet und einen Schluss gezogen. Ebenso können Merkmale einer Handlungssituation wahrgenommen oder spontan erfasst werden ohne entsprechende Überzeugungen zu bilden. Dennoch können sie ihren Beitrag zur Rechtfertigung von Üpsm leisten, aber nicht sie allein. Sie können es nur zusammen mit Gründen, die wertende Begriffe enthalten. Zu (iii): Verlässliche Prozesstypen, deren Eingangsgrößen gemischt sind. Die resultierenden Überzeugungen sind dann teilweise inferenziell gerechtfertigt. Üpsm könnten demnach gemischte Gründe haben: doxastische und nichtdoxastische. Diese können ihrerseits moralisch wertende Begriffe involvieren oder nicht. Der Kürze halber nenne ich Gründe, die moralisch wertende Begriffe involvieren, „moralische Gründe“. Dann ergeben sich Kombinationen aus folgenden Gründen: doxastisch moralisch / doxastisch nichtmoralisch / nichtdoxastisch moralisch / nichtdoxastisch nichtmoralisch. 8.3 Das Zusammenspiel der Gründe Prozesstypen der Art (iii) erlauben, dass eine Vielzahl verschiedenartiger Inputs in die moralische Überzeugungsbildung eingehen. Es seien kurz mögliche Weisen angedeutet, wie die verschiedenen Gründe an der Recht-

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fertigung der moralischen Überzeugung singulären Inhalts zusammenwirken können: Eine erste Weise, wie verschiedenartige Gründe zusammenwirken können, ist jene der additiven Verstärkung: Ein Grund kann durch einen weiteren hinzukommenden Grund die Wahrscheinlichkeit der Wahrheit der resultierenden moralischen Überzeugung verstärken. Auf diese Weise können auch schwächere E-Gründe einen Beitrag zur Rechtfertigung von Überzeugungen leisten. So kann etwa eine moralische Überzeugung, die auf doxastischen Gründen beruht, noch durch eine hinzukommende Emotion gestützt werden. Oder umgekehrt: Eine auf einer Emotion beruhende moralische Überzeugung kann durch doxastische Gründe zusätzlich gestützt werden. Eine zweite Weise, wie verschiedenartige Gründe zusammenwirken können, ist jene der Verzahnung, wo ein Grund am Auftreten eines anderen Grundes involviert ist. So sind Wünsche am Auftreten von Emotionen involviert. Wir regen uns zum Beispiel über etwas auf, weil wir ein Interesse, einen Wunsch haben. Hätten wir diesen Wunsch nicht, hätten wir auch die entsprechende Emotion nicht. Drittens schließlich können verschiedenartige Gründe insofern zusammenspielen, als sie als Widerlegungsinstanzen auftreten. Eine prima facie gerechtfertigte moralische Überzeugung kann durch den Erwerb neuer Gründe und Überzeugungen zunichte gemacht werden. Einige Möglichkeiten seien skizziert: (1) Die prima facie-Rechtfertigung einer moralischen Überzeugung kann zum Beispiel durch eine Emotion oder einen Wunsch aufgrund von allgemeinen moralischen Überlegungen außer Kraft gesetzt werden. Aufgrund der spontan aufkommenden Emotion des Mitleids kann Anton etwa zur Überzeugung gelangen, dass es richtig ist, dem Bettler Geld zu schenken. Die Rechtfertigungskraft dieser Emotion kann allerdings dann durch allgemeine Überlegungen zunichte gemacht werden. (2) Aber auch das Umgekehrte ist möglich. Eine Person hat aufgrund allgemeiner Überlegungen Üpsm gebildet. Nehmen wir an, sie ist dadurch prima facie gerechtfertigt. Zugleich drängt sich der Person jedoch eine Emotion auf, welche das Gegenteil von Üpsm rechtfertigen würde. Als Beispiel dafür kann der Zustand von Raskolnikow in Fjodor Dostojewskijs

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Roman Verbrechen und Strafe gesehen werden. Aufgrund utilitaristischer Überlegungen bildet er die Überzeugung, dass es richtig ist, die Gläubigerin zu ermorden und zu berauben, um sein Studium fortsetzen und so einen größeren Nutzen für die Menschheit hervorbringen zu können. Zugleich hat er von Anfang an eine emotionale Abneigung gegen diesen Gedanken: Raskolnikow war völlig verstört, als er die Wohnung verlassen hatte. Diese Verstörung wuchs zusehends. Während er die Stufen hinabstieg, hielt er sogar einige Male an, wie verblüfft. Und schließlich, bereits auf der Straße, rief er aus: „O mein Gott! Wie widerlich ist das alles! Ist es möglich, dass ich … Nein, Unsinn, das ist absurd!“ fügte er entschieden hinzu. „Ist es möglich, auf so etwas Entsetzliches zu verfallen? Wessen ist mein Herz nicht alles fähig! Vor allem: schmutzig, ekelhaft, widerwärtig, widerwärtig! … Und ich, ich habe einen ganzen Monat lang …“171

Hier taucht die Emotion der Abneigung als ein Anfechtungsgrund der inferenziell gebildeten Überzeugung auf. Ebenso können gelegentlich auch Wünsche die prima facie-Rechtfertigung von moralischen Überzeugungen außer Kraft setzen. So könnte man den Gesinnungswandel von Huckleberry Finn gegenüber dem Sklaven Jim in Mark Twains Roman The Adventures of Huckleberry Finn deuten.172 Huck glaubt, es sei falsch, einem Sklaven zur Flucht vor seinem rechtmäßigen Besitzer zu verhelfen. Er sieht darin zunächst Mithilfe bei einem Diebstahl. Zugleich stellt er zu seinem eigenen Erstaunen fest, dass er es nicht wünscht, Jim den Kopfgeldjägern auszuliefern; und er folgt diesem Wunsch. Der Wunsch übertrumpft seine ursprüngliche Überzeugung. (3) Die Rechtfertigung von Überzeugungen durch Wünsche kann nicht nur durch allgemeine Überlegungen, sondern auch durch Wünsche höherer Ordnung zunichte gemacht werden. So kann zum Beispiel der Wunsch, sich an Berta zu rächen, die Überzeugung, dass es gut ist, sich an Berta zu rächen, prima facie rechtfertigen. Die Rechtfertigung der Überzeugung kann nun nicht nur durch allgemeine Überlegungen zunichte gemacht werden, wie etwa der, dass man sich nicht rächen sollte, sondern auch durch einen Wunsch zweiter Ordnung, den Wunsch erster Ordnung nicht zu haben. 171 172

Dostojewskij, zitiert nach der Übersetzung von Geier 1996, 15. Auf dieses Beispiel hat mich Dr. Mathias Zech aufmerksam gemacht. Dieses Beispiel nennt Oddie 2005, 65.

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(4) Zu den Anfechtungsgründen gehören auch Überzeugungen über eigene Neigungen, Dispositionen, emotionale Reaktionsbereitschaften, Wunschdispositionen. Wer etwa aufgrund von Erfahrungen weiß, dass er dazu neigt, in bestimmten Situationen emotional überzureagieren, hat einen Anfechtungsgrund. Dadurch wird die Rechtfertigungskraft spontan auftauchender Emotionen unter bestimmten Umständen zunichte gemacht. In diesem Kapitel habe ich mögliche Zusammenspiele von E-Gründen doxastischer und nichtdoxastischer Art skizziert. Im Folgenden werde ich dies in eine allgemeine Erkenntnistheorie integrieren. Diese wird die reliabilistische Stoßrichtung von Shafer-Landau beibehalten, aber in zwei Punkten darüber hinausgehen: Erstens nehme ich, an, dass bei der moralischen Überzeugungsbildung und -erhaltung verschiedene Typen von kognitiven Prozessen eine Rolle spielen. Zweitens mache ich einen Schritt von kognitiven Prozessen zu kognitiven Fähigkeiten bzw. Tugenden.

9 Klugheit Ziel dieses Kapitels ist es, meine bisherigen Ergebnisse systematisch in eine Erkenntnistheorie zu integrieren. Diese Erkenntnistheorie wird eine Art von Tugendepistemologie sein. In unserem Fall wird die kognitive Tugend der Klugheit im Mittelpunkt stehen. Ich werde darlegen, wie Klugheit als jene kognitive Tugend verstanden werden kann, aufgrund der eine Person aus einer Reihe verschiedenartiger Gründe als Inputs zu gerechtfertigten moralischen Überzeugungen singulären Inhalts als Outputs gelangt. 9.1 Von kognitiven Prozessen zu kognitiven Tugenden Die These, die ich nun erläutern und prüfen werde nenne ich Klugheitsthese (KLU) und sie lautet folgendermaßen: KLU:

Die Überzeugung, dass psm, ist genau dann gerechtfertigt für eine Person, wenn Üpsm durch Ausübung von Klugheit hervorgeht bzw. erhalten wird.

Diese These geht über den allgemeinen Prozessreliabilismus, wie ShaferLandau ihn für Moral vorschlägt, hinaus. Ich mache einen Schritt von verlässlichen Prozessen bzw. Vorgängen zu verlässlichen kognitiven Fähigkeiten, zu kognitiven Tugenden. Drei Gründe sprechen dafür: Erstens ist die Redeweise von Typen und deren Instanziierungen eine abstrakte. In der Erkenntnistheorie fragen wir aber, wodurch Erkenntnissubjekte epistemisch gerechtfertigt sind, etwas für wahr zu halten. Wir müssen daher die Aktualisierung von verlässlichen kognitiven Prozesstypen als Aktualisierung von Vermögen bzw. Fähigkeiten für derartige Prozesse verstehen. Vermögen aber für verlässliche kognitive Prozesse sind kognitive Tugenden.

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Zweitens will jede Erkenntnistheorie bloß zufällige Treffer ausschließen. Daher wird Verlässlichkeit auch so groß geschrieben. Nun kann es aber sein, dass eine Person zufälligerweise einen verlässlichen Prozesstyp anwendet und so zu einer wahren Überzeugung gelangt.173 Dennoch zögern wir, diese Überzeugung als gerechtfertigt gelten zu lassen. Es reicht nicht, einen Prozesstyp zu aktualisieren; die Verwendung derartiger Prozesstypen muss im Erkenntnissubjekt auch verankert sein. Genau dies ist aber mit Tugend im klassischen Sinn gemeint: eine dauerhafte, schwer veränderliche, verlässliche Disposition. Die kognitiv tugendhafte Person ist fähig, verlässliche Überzeugungsbildungsweisen verlässlich anzuwenden. Drittens wird der Tugendbegriff der Komplexität moralischer Überzeugungsbildung gerecht. Wir haben gesehen, dass in der Moral verschiedene Vorgangstypen gebraucht werden. Je nach Situation wird das Zusammenspiel der Gründe ein unterschiedliches sein. Moralische Überzeugungsbildung ist komplex. Sie unterscheidet sich von einfachen logischen Deduktionen, mathematischen Berechnungen oder Stichprobenverfahren. Sie operiert mit einer Menge von Gründen und Gesichtspunkten. Sie kann oft nicht durch ein einfaches Funktionsschema beschrieben werden. Der Tugendbegriff kann dieser Komplexität Rechnung tragen. Die kluge Person hat die Fähigkeit, je nach Situation verlässliche Prozesse anzuwenden. Sie hat die verlässlichen Prozesstypen samt Defeater-System internalisiert. Die Klugheit befähigt sie, die Vielzahl der Gründe und Gesichtspunkte einzubeziehen, sie abzuwägen und so verlässlich zu Überzeugungen darüber zu gelangen, was in konkreten Handlungssituationen zu tun richtig ist. Diese Überzeugungen sind gerechtfertigt, insofern sie durch Ausübung von Klugheit zustande kommen bzw. erhalten werden.

173

Greco 2010, 149, erzählt die Geschichte eines gleichgültigen Mathematikstudenten, der zufällig einen korrekten Algorithmus anwendet und so eine Aufgabe richtig löst: „By hypothesis, the algorithm is the right one, and so using it to solve the problem constitutes a reliable process. It seems wrong to say that S thereby knows the answer to the problem, however.“

Klugheit

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9.2 Einbettung in die Tugendepistemologie Wer den Begriff der kognitiven Tugend ins Spiel bringt, betreibt eine Art von Tugendepistemologie.174 Tugendepistemologien lassen sich anhand der Beantwortung folgender Fragen unterscheiden: (1) Welche Rolle spielt der Begriff der kognitiven Tugend innerhalb einer Tugendtheorie? (2) Welche erkenntnistheoretischen Probleme beansprucht man zu lösen? (3) Was wird unter einer kognitiven Tugend verstanden? Anhand der Antwort auf diese Fragen, kann ich jene Tugendepistemologie herausarbeiten, in welche KLU eingebettet ist. Zu (1): Tugendepistemologien sind von Tugendethiken inspiriert. Tugendethik gilt als Alternative zu zwei dominanten moralphilosophischen Entwürfen, dem Deontologismus und dem Konsequenzialismus. Beide Entwürfe sind in dem Sinn handlungsbezogen, als sie Handlungen und ihre normativen Eigenschaften zu bestimmen suchen. Der Begriff der Tugend wurde in derartigen Theorien als sekundär erachtet. Es bedarf des Begriffs der Tugend nicht, um zu bestimmen, was eine gute Handlung ist. Tugendethik hingegen macht den Begriff der Tugend zu einem primären Begriff. In der Erkenntnistheorie wurde nun eine ähnliche Wende vollzogen. Man stellte fest, dass die dominanten erkenntnistheoretischen Entwürfe in dem Sinn überzeugungsbezogen waren, als sie Überzeugungen und ihre epistemischen Eigenschaften zu bestimmen suchten. Kognitive Tugenden spielten bei der Bestimmung des epistemischen Status von Überzeugungen keine Rolle. Sie waren höchstens sekundäre Begriffe innerhalb der Theorie. Tugendepistemologie räumt ihnen nun einen Vorrang ein. Dieser Vorrang kann begrifflich, ontologisch oder kriteriologisch verstanden werden: (i)

174

begrifflich: Der Begriff der kognitiven Tugend sei begrifflich grundlegender als die Begriffe der gerechtfertigten Überzeugung Einen Überblick über Tugendepistemologien findet man bei Greco / Turri 2011.

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Erkenntnistheorie moralischer Überzeugungen

bzw. des Wissens. Der Begriff der gerechtfertigten Überzeugung bzw. des Wissens sei durch den Begriff der kognitiven Tugend zu definieren, nicht umgekehrt. (ii) ontologisch: Die Überzeugung, dass p, sei gerechtfertigt bzw. Wissen, weil sie aus der Ausübung kognitiver Tugenden hervorgehe. (iii) kriteriologisch: Ob ein Fall von gerechtfertigter Überzeugung oder Wissen vorliege, erkenne man daran, dass eine kognitiv tugendhafte Person unter den gegebenen Umständen eine solche Überzeugung haben würde. Mit KLU vertrete ich nicht (i). Im vorhergehenden Kapitel habe ich mögliche Zusammenspiele von Gründen in der moralischen Überzeugungsbildung angedeutet. Dafür habe ich den Begriff der Klugheit nicht gebraucht. Man könnte im Einzelfall Inputs und Weisen der Überzeugungsbildung angeben, ohne auf den Begriff der Klugheit zurückzugreifen. Ich führe den Begriff der Klugheit ein, weil ich nicht sehe, wie man eine allgemeine Formulierung der verschiedenen Weisen, wie verschiedenartige Inputs zur Rechtfertigung des Outputs beitragen, geben kann. Klugheit ist jener habitus der moralischen Überzeugungsbildung, der zu den verschiedenen verlässlichen Weisen, von Input zu Output zu gelangen, befähigt. Ich vertrete eine Version von (ii): Die Ausübung von Klugheit bei der Überzeugungsbildung und -erhaltung macht die Üpsm zu einer gerechtfertigten Überzeugung. Die Ausübung der Klugheit ist notwendig und hinreichend für die Rechtfertigung der Üpsm. Zu (iii) werde ich im Kapitel über den Skeptizismus zu sprechen kommen. Zu (2): Häufig versuchen Tugendepistemologen die traditionellen Probleme der Erkenntnistheorie zu lösen. Sie führen den Begriff der kognitiven Tugend ein, um eine bessere Analyse oder Erklärung von Wissen zu erzielen, das Gettier- und Wert-Problem zu lösen, die Debatte zwischen Fundamentismus und Kohärentismus zu umgehen, eine Antwort auf den Skeptizismus zu finden, etc.175 Andere Tugendepistemologen hingegen greifen auf kognitive Tugenden zurück, um vernachlässigte Themen in die Erkenntnistheorie einzuführen wie etwa die Bedeutung des Verstehens und 175

So etwa: Sosa 1991, Zagzebski 1996, Greco 2010.

Klugheit

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der Weisheit.176 Da ich der Frage der epistemischen Rechtfertigung moralischer Überzeugungen nachgehe, liegt mein Projekt eher in der ersten Gruppe. Ich möchte verstehen, wodurch moralische Überzeugungen gerechtfertigt sind, und führe zu diesem Zweck den Begriff der kognitiven Tugend der Klugheit ein. Zu (3): Was wird unter einer kognitiven Tugend verstanden? Grob gesprochen lassen sich wieder zwei Lager unterscheiden. Im einen Lager befinden sich jene, die meinen, kognitive Tugenden seien Erkenntnisvermögen oder Erkenntnisfähigkeiten einer Person wie Wahrnehmung, Erinnerung, Introspektion, Schlussfolgern.177 Man nennt ihre Vertreter VirtueReliabilists. Kognitive Tugenden sind ihnen zufolge Vermögen oder Fähigkeiten, die verlässlich relativ viele wahre Überzeugungen hervorbringen.178 Im anderen Lager befinden sich jene, die kognitive Tugenden eher als Charaktervorzüge von Personen ansehen, wie intellektuelle Aufgeschlossenheit, Gründlichkeit, Ausdauer, Umsicht, Vorsicht, intellektueller Mut etc.179 Man nennt Vertreter dieses Lagers Virtue-Responsibilists. Kognitive Tugenden sind ihnen zufolge mit bestimmten Willenseinstellungen bzw. Motivationen verbunden.180 Die beiden Positionen werden oft als sich ausschließend einander gegenübergestellt. Ein Grund dafür besteht darin, dass man bestrebt ist, mit Hilfe des Begriffs der kognitiven Tugend notwendige und hinreichende 176 177

178

179 180

So etwa: Roberts / Wood 2007, Baehr 2011. Als Vertreter gelten Ernest Sosa, Alvin Goldman, John Greco. Ich würde auch Alvin Plantinga (Plantinga 1993a) dazurechnen, insofern er von richtig funktionierenden kognitiven Vermögen spricht, sowie William Alston (Alston 1991, 155), der unter einer doxastischen Praxis die Ausübung einer Konstellation von habitus der Überzeugungsbildung versteht. Vgl. Greco 2002, 287: „On this view, intellectual virtues are innate faculties or acquired habits that enable a person to arrive at truth and avoid error in some relevant field.“ Als Vertreter gelten Linda Zagzebski, James Montmarquet, Christopher Hookway, Jason Baehr. So definiert Zagzebski 1996, 270, einen Akt intellektueller Tugend folgendermaßen: „An act of intellectual virtue A is an act that arises from the motivational component of A, is something a person with virtue A would (probably) do in the circumstances, is successful in achieving the end of the A motivation, and is such that the agent acquires a true belief (cognitive contact with reality) through these features of the act.“

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Bedingungen für Wissen anzugeben. Und dann scheint es, dass jemand wissen kann, dass auf dem Feld ein Schaf steht, auch wenn er die anspruchsvollen Charaktervorzüge des Virtue-Responsibilism nicht besitzt. Und umgekehrt kann jemand sehr verantwortlich vorgegangen sein, und dennoch kein Wissen erreichen. Die kognitiven Tugenden scheinen also weder notwendig noch hinreichend für Wissen zu sein.181 Ein zweiter Grund für die Entgegensetzung der beiden Positionen besteht darin, dass man meint, Virtue-Responsibilists müssten einen doxastischen Voluntarismus vertreten. Dieser Voluntarismus wird jedoch von vielen Erkenntnistheoretikern abgelehnt. Unsere Überzeugungen würden wirksamer willentlicher Kontrollierbarkeit nicht unterliegen. Ich werde diese Entgegensetzung etwas aufweichen. Als Vorbild dient mir das Klugheitsverständnis von Thomas von Aquin. 9.3 Anknüpfungspunkt: Thomas von Aquin Die Klugheit, welche Thomas in der Tradition des Aristoteles als recta ratio agibilium, d.h. als rechtes Überlegen-Können in Bezug auf das Handeln definiert,182 ist eine kognitive Tugend, eine Erkenntnistugend. Ihr Träger (subiectum) ist der Intellekt. Wie die anderen Erkenntnistugenden (Weisheit, Einsicht, wissenschaftliches Wissen, Herstellungswissen) ist auch die Klugheit eine Tugend, durch die wir die Wahrheit herausfinden: die Wahrheit darüber, was in einer Einzelsituation zu tun richtig ist.183 Was ist eine Tugend? Menschen sind von Natur aus mit einer Reihe von Vermögen ausgestattet. Manche dieser Vermögen sind durch Erziehung, Belehrung, Übung und Gewöhnung formbar, sodass sie zu einem Verhalten, Tätigsein und Handeln befähigen, welches zum Gedeihen des Menschen in der menschlichen Gemeinschaft führt. Die optimale Formung 181 182 183

Argumente dafür findet man bei Baehr 2011, 36-45. Summa Theologiae I II 56, 3; Summa Theologiae I II 57, 4. Siehe: Quaestio disputata de virtutibus in communi 1, 6 ad 1: „Sed ad prudentiam pertinet recte iudicare de singulis agibilibus, prout sint nunc agenda […]“. „Zur Klugheit gehört es, richtig zu urteilen über Einzelhandlungen, insofern sie jetzt zu vollziehen sind.“ Die Übersetzungen aus dem Lateinischen stammen von mir (B.N.).

Klugheit

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eines menschlichen Vermögens wird Tugend genannt. Tugend besagt, so Thomas in einer ersten Annäherung, eine gewisse Vollendung eines Vermögens.184 Sie disponiert das Vermögen, prägt es, formt es, dass es gut tätig ist. Eine Tugend ist eine gute Disposition, eine gute Verfassung – um es mit dem technisch treffenden Ausdruck zu sagen: ein guter habitus. Gut tätig zu sein heißt, mit Erfolg das Ziel des jeweiligen Vermögens zu erreichen. Tugenden befähigen, verlässlich, prompt und mit einer gewissen Leichtigkeit, einem gewissen Genuss, ein bestimmtes Ziel zu erreichen.185 Man könnte auch sagen: Tugenden befähigen, verlässlich einen bestimmten Wert hervorzubringen. Entsprechend den beiden Grundvermögen, nämlich dem Vermögen, etwas anzustreben, und dem Vermögen, etwas zu erkennen, unterscheidet man zwei Arten von Tugenden:186 moralische Tugenden, welche das Strebevermögen vollenden, und dianoetische bzw. intellektuelle Tugenden, welche das Erkenntnisvermögen vollenden. Zu den moralischen Tugenden zählen Tapferkeit, Maß, Gerechtigkeit und viele weitere Tugenden, die ihnen zugeordnet werden können. Zu den dianoetischen Tugenden gehören Einsicht, Wissen, Weisheit, Klugheit und viele weitere ihnen zugeordnete Tugenden. Die beiden Arten von Tugenden erfüllen den Begriff der Tugend in unterschiedlicher Weise. Thomas unterscheidet: Eine Tugend verleiht (i) die Fähigkeit für eine gute Tätigkeit (ii) den guten Gebrauch dieser Fähigkeit.187 Bestimmte unserer Vermögen können hervorragend funktionieren und mit Erfolg das jeweilige Gut hervorbringen. Unser Erkenntnisvermögen in einem Bereich kann verlässlich wahre Überzeugungen hervorbringen. Damit erfüllt es (i). Dennoch kann jemand diese Fähigkeit schlecht gebrauchen, d. h. für einen schlechten Zweck gebrauchen, und damit (ii) nicht erfüllen. So kann beispielsweise jemand seine Fähigkeit, Wissen in Physik zu erlangen, für einen schlechten Zweck einsetzen, etwa zur Herstellung 184 185 186 187

Summa Theologiae I II 55, 1. Näheres zum Begriff des habitus und der Tugend findet man bei Niederbacher 2004, 93-107. Quaestio disputata de virtutibus in communi 1, 1. Von den theologischen Tugenden sehe ich hier ab. Summa Theologiae I II 56, 3 und 57, 1.

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Erkenntnistheorie moralischer Überzeugungen

von Massenvernichtungswaffen. Die dianoetischen oder intellektuellen Tugenden, welche das Erkenntnisvermögen vollenden, erfüllen lediglich den ersten Teil des Tugendbegriffs. Eine Ausnahme bildet jene Tugend, um die es mir hier in erster Linie geht: die Klugheit. Obwohl sie eine Vollendung des Erkenntnisvermögens ist, funktioniert sie nur dann richtig und verlässlich, wenn sie neben (i) auch (ii) erfüllt. Klugheit erfordert eine Beziehung zum rechten Streben.188 Man kann nach Thomas nur dann klug sein, wenn man auch moralisch tugendhaft ist. Erst zusammen mit den moralischen Tugenden kann die kluge Person herausfinden, was hier und jetzt zu tun richtig ist. Moralische Tugenden ordnen auch das Emotionsleben (passiones). Und die Emotionen sind es, welche die moralische Überzeugungsbildung positiv oder negativ beeinflussen können. Thomas schreibt: […] so scheint dem Begierigen, wenn die Begierde siegt, das gut zu sein, was er begehrt, obwohl es gegen das allgemeine Urteil der Vernunft ist. Und wie daher der Mensch durch den natürlichen Intellekt oder durch den habitus des Wissens dazu disponiert wird, sich den allgemeinen Prinzipien gegenüber richtig zu verhalten, so muss er, um sich gegenüber den partikulären Prinzipien des Handelns, welche Ziele sind, richtig zu verhalten, durch irgendwelche habitus vollendet werden, aufgrund derer es für den Menschen irgendwie konnatural wird, recht über das Ziel zu urteilen. Und dies geschieht durch die moralische Tugend. Der Tugendhafte urteilt nämlich richtig über das Ziel der Tugend, weil: „wie einer beschaffen ist, so erscheint ihm das Ziel“, wie es heißt. Und daher bedarf es zum rechten Überlegen im Bereich der Handlungen, welche die Klugheit ist, dass der Mensch moralische Tugend hat.189

188 189

Summa Theologiae I II 56, 3. Summa Theologiae I II 58, 5: „Contingit enim quandoque quod huiusmodi universale principium cognitum per intellectum vel scientiam, corrumpitur in particulari per aliquam passionem, sicut concupiscenti, quando concupiscentia vincit, videtur hoc esse bonum quod concupiscit, licet sit contra universale iudicium rationis. Et ideo, sicut homo disponitur ad recte se habendum circa principia universalia, per intellectum naturalem vel per habitum scientiae; ita ad hoc quod recte se habeat circa principia particularia agibilium, quae sunt fines, oportet quod perficiatur per aliquos habitus secundum quos fiat quodammodo homini connaturale recte iudicare de fine. Et hoc fit per virtutem moralem, virtuosus enim recte iudicat de fine virtutis, quia qualis unusquisque est, talis finis videtur ei, ut dicitur in III Ethic. Et ideo ad rectam rationem agibilium, quae est prudentia, requiritur quod homo habeat virtutem moralem.“

Klugheit

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Unsere Einschätzung dessen, was im Einzelfall gut ist, was wir im Einzelfall tun sollen, hängt von unserem Emotionsleben ab. Je nach emotionaler Disposition und entsprechender emotionaler Reaktion erscheinen uns Einzeldinge als zuträglich oder unzuträglich. Emotionen sind Erlebnisse des Angezogenseins durch Gutes bzw. Abgestoßenseins durch Übel. Die Vermögen, emotional zu reagieren, erfahren im Lauf der Zeit eine Formung. Man gibt ihnen eine Prägung, indem man immer wieder Tätigkeiten gleicher Art vollzieht. Durch Einübung und Ausübung erwerben wir feste Haltungen, habitus. Die gute Haltung befähigt, in einer Situation emotional angemessen zu reagieren. Die tugendhafte Person erlebt jene Dinge als anziehend, welche erstrebenswert, gut sind. Und sie erlebt jene Dinge als abstoßend, die nicht erstrebenswert, schlecht sind. Insofern befähigen Tugenden, richtig über die partikulären Ziele zu urteilen. Um im Einzelfall richtig überlegen zu können, muss man demnach emotional angemessen auf die Situation reagieren. Wer emotional über- oder unterreagiert, wer schlechte Gewohnheiten hat, wer eine schlechte natürliche Ausstattung hat, kann schwer zur richtigen Entscheidung kommen. Klugheit, so haben wir bis jetzt gesehen, funktioniert nach Thomas nur im Verbund mit moralischen Tugenden. Sie funktioniert weiters nur im Verbund mit anderen Erkenntnisvermögen und -tugenden.190 Dazu gehören: - Gedächtnis (memoria):191 Klugheit betrifft den Bereich des Handelns, des Kontingenten. Dafür bedarf es Überzeugungen darüber, was in den meisten Fällen (ut in pluribus) vorfällt. Und diese Überzeugungen erwirbt man nur im Lauf der Zeit, indem man Erfahrungen sammelt. Dies setzt Erinnerung voraus. Denn Erfahrung entsteht aus vielen erinnerten Geschehnissen. - Unmittelbares Erfassen (intellectus):192 Klugheit ist das richtige Überlegen-Können, wenn es ums Handeln geht, und zwar nicht nur im Allgemeinen, sondern vor allem im Partikulären. Damit man richtig überlegt, muss man von richtigen allgemeinen, aber auch partikulären Aus190 191 192

Thomas spricht von integralen Bestandteilen der Klugheit, die für eine vollendete Tätigkeit der Klugheit zusammenlaufen müssen: Summa Theologiae II II 48, 1. Summa Theologiae II II 49, 1. Summa Theologiae II II 49, 2.

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Erkenntnistheorie moralischer Überzeugungen

gangspunkten ausgehen. Zur Erläuterung verwende ich wieder einen Ausschnitt praktischen Überlegens: (i) (ii)

Es ist nicht richtig, jemandem Schaden zuzufügen. Dem Anton sein Gut, das er bei mir hinterlegt hat, jetzt nicht zurückzugeben, ist ein Fall von Schaden zufügen. (iii) Es ist nicht richtig, Anton sein Gut nicht zurückzugeben. Inhalte der Art (i) erfasst man nach Thomas entweder durch den habitus der Synderesis oder durch den habitus des praktischen Wissens. Dies sind verlässliche Überzeugungsbildungsweisen. Um jedoch einen Schluss darüber ziehen zu können, was hier und jetzt zu tun ist, bedarf es einer weiteren Prämisse (ii). Diese Prämisse hat einen singulären Inhalt. Dieser Inhalt wird durch jenes Vermögen erfasst, das Thomas in Anlehnung an Aristoteles auch „intellectus“ nennt. Aristoteles spricht bei dieser Fähigkeit auch von Wahrnehmung: „Diese [zweite Prämisse] muss man also durch Wahrnehmung [aisthēsis] erfassen, und diese Wahrnehmung ist Einsicht [nous].“193 Nach Thomas ist damit weder die Fähigkeit des Intellekts noch die der eigentlichen Wahrnehmung gemeint, sondern der innere Sinn, die Einschätzungskraft: jene Fähigkeit, partikuläre Ziele richtig einzuschätzen.194 Der Ausdruck „Wahrnehmung“ ist insofern passend, als auch hier Einzelnes erfasst wird, nämlich das singuläre Handlungsziel. Der Ausdruck „Intellekt“ ist insofern passend, als es sich um ein unmittelbares Erfassen handelt. Die Prämisse (ii) wird „wie durch sich erkannt“195, also wie ein Prinzip als ein Erstes angenommen, das – epistemisch gesehen – nicht inferenziell, sondern grundlegend ist. - Belehrbarkeit (docilitas): Als Teil der Klugheit nennt Thomas die Belehrbarkeit durch andere, erfahrene Menschen. Belehrbarkeit ist notwendig, weil Handlungen sich im Partikulären abspielen. Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, wie Handlungsumstände zusammengesetzt sein können. All die Umstände, die in Betracht kommen können, kann ein einzelner 193 194 195

Aristoteles, Nikomachische Ethik 1143b 4-5. Siehe auch: Summa Theologiae II II 47, 3 ad 3; Summa Theologiae II II 49, 2 corpus und ad 1; ebenfalls: In decem libros Ethicorum, VI, 7. Summa Theologiae II II 49, 2; und Summa Theologiae II II 49, 2 ad 3.

Klugheit

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Mensch auch nach langer Zeit und mit viel Erfahrung nicht überblicken. Daher muss er auch von anderen lernen. Damit weist Thomas auf die bedeutende soziale Rolle im moralischen Erkenntniserwerb hin. Aufgrund der Belehrbarkeit ist eine Person fähig, richtige Meinungen von anderen zu erwerben.196 - Scharfsinn (solertia): Neben der Fähigkeit, richtige Meinungen über Handlungen durch andere zu lernen, brauchen kluge Leute auch die Fähigkeit, selbst richtige Einschätzungen über Handlungen auf spontane Weise herauszufinden. Scharfsinn befähigt, dass „der Mensch sich gut verhält beim selbständigen Erwerb von rechten Einschätzungen.“197 Thomas definiert den Scharfsinn in Anlehnung an Aristoteles auch als „leichtes und promptes Einschätzen bei der Auffindung des Mittelbegriffs.“198 In einem Syllogismus bezieht sich der Mittelbegriff üblicherweise auf die Ursache. Wer den Mittelbegriff erfasst, erfasst die Ursache, warum sich etwas so verhält wie es sich verhält. Das Beispiel von Aristoteles lautet: Jemand sieht, dass der Mond das Leuchtende stets gegen die Sonne gerichtet hat, und erfasst sofort, warum dies so ist: weil er von der Sonne her leuchtet.199 In unserem Beispiel wäre der Mittelbegriff Schaden zufügen. Schaden zufügen ist die Ursache für das Falschsein der Handlung. Die Handlung, Anton sein hinterlegtes Gut nicht zurückzugeben, ist falsch, weil sie ein Fall von Schaden zufügen ist. Scharfsinn ist notwendig, weil wir uns oft in Situationen befinden, wo wir prompt erfassen müssen, worum es geht.200 - Vernunft (ratio): Da kluge Personen darüber zu Rate gehen, wie zu handeln ist, und das Zu-Rate-Gehen ein Prozess ist, bei dem man vom einen zum anderen fortschreitet, müssen sie auch gut im Überlegen sein, im Ziehen von Schlüssen.201 - Weitsicht (providentia): Klugheit befähigt zur Handlungsplanung. Sie ist also mit dem Bereich der zukünftigen kontingenten Dinge beschäftigt, 196 197 198 199 200 201

Summa Theologiae II II 49, 3 und 4. Summa Theologiae II II 49, 4. Summa Theologiae II II 49, 4: „Solertia autem est facilis et prompta coniecturatio circa inventionem medii.“ Siehe dazu: Aristoteles, Analytica posteriora 89b10-11. Aristoteles, Analytica posteriora 89b11-12. Summa Theologiae II II 49, 4 ad 2. Summa Theologiae II II 49, 5.

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insofern sie durch den Menschen beeinflusst werden können. Weitsicht ist die Fähigkeit, das Gegenwärtige auf das zeitlich Entfernte hinzuordnen.202 - Umsicht (circumspectio): Handlungen sind nicht isoliert, sondern eingebettet in eine Handlungssituation. Die relevanten Umstände der Handlung müssen berücksichtigt werden. Denn es kann sein, dass eine Handlung zwar in sich betrachtet gut und zielführend ist, aufgrund der gegebenen Umstände jedoch schlecht oder nicht zielführend wäre. Thomas nennt ein Beispiel: Jemandem Zeichen seiner Liebe zu geben, ist in sich betrachtet angemessen, um den anderen zur Liebe zu locken. Wenn sie aber im anderen Stolz auslösen oder Verdacht auf Schmeichelei, dann wären diese Zeichen nicht zielführend.203 Es braucht Umsicht, die Berücksichtigung der gegebenen Handlungsumstände. Nur dann kann man auch eine kluge Entscheidung treffen. - Vorsicht (cautio): Als Teil der Klugheit nennt Thomas auch eine gewisse Vorsicht. Wiederum begründet er dies mit der Kontingenz der Handlungen. Aufgrund der Vielförmigkeit der Handlungen könne sich Gutes leicht mit Schlechtem vermischen oder Schlechtes den Schein des Guten annehmen.204 Diese verschiedenen Erkenntnisvermögen und -tugenden müssen zusammenlaufen, damit Klugheit vollendet tätig sein kann.205 Die vollendete Tätigkeit besteht darin, richtig mit sich über das Handeln zu Rate zu gehen (consiliari), richtige Urteile zu treffen (iudicare) und – hauptsächlich sogar – effizient anzuordnen (praecipere),206 und zwar im Hinblick auf das ganze menschliche Leben. Thomas schreibt: [...Jene] ist wahre und vollendete Klugheit, die im Hinblick auf das Gut des gesamten Lebens richtig berät, urteilt und vorschreibt. Diese allein nennt man Klugheit schlechthin.207 202 203 204 205 206 207

Summa Theologiae II II 49, 6. Summa Theologiae II II 49, 7. Summa Theologiae II II 47, 8. Summa Theologiae II II 48, 1. Summa Theologiae II II 47, 8. Summa Theologiae II II 47, 13: „Tertia autem prudentia est et vera et perfecta, quae ad bonum finem totius vitae recte consiliatur, iudicat et praecipit. Et haec sola dicitur prudentia simpliciter.“ So unterscheidet Thomas die echte Klugheit von defizitären oder falschen Formen von Klugheit. Siehe auch: Summa Theologiae II

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Klugheit ist nach Thomas eine komplexe Überzeugungsbildungsweise. Sie nimmt eine Vielzahl von Ergebnissen anderer Erkenntnisvermögen und Erkenntnistugenden auf und verarbeitet sie verlässlich zu motivierenden Überzeugungen singulären moralischen Inhalts. Klugheit ist also jener erworbene kognitive habitus, welcher Menschen befähigt, im Hinblick auf das Gut des gesamten menschlichen Lebens richtig zu überlegen, richtig zu urteilen und effektiv vorzuschreiben, was in einer Situation zu tun ist. In unserem Jargon ausgedrückt: Klugheit befähigt, verlässlich wahre und motivierende Überzeugungen singulären moralischen Inhalts zu bilden. Soweit habe ich das thomasische Klugheitsverständnisses kurz dargestellt. Daran knüpft meine Sicht von Klugheit in folgenden Punkten an: Ich übernehme die Sicht von Tugend als einer tiefsitzenden Disposition, einer Fähigkeit, aufgrund der eine Person verlässlich ein bestimmtes Gut hervorbringen kann. Ferner übernehme ich die Sicht, dass Klugheit eine kognitive Tugend ist, welche eine Person befähigt, verlässlich Überzeugungen darüber zu bilden, was in Einzelsituationen zu tun richtig ist. Schließlich übernehme ich die Idee der Abhängigkeit der Klugheit von anderen Tugenden sowie Erkenntnisfähigkeiten. In der Aufzählung der Teile der Klugheit finden sich sowohl Erkenntnisfähigkeiten, welche eher dem Virtue-Reliabilism zuzuordnen sind, als auch Erkenntnisfähigkeiten, die eher dem Virtue-Responsibilism zuzuordnen sind. So wird die Entgegensetzung zwischen beiden Positionen aufgeweicht. Dafür sprechen mehrere Gründe: Erstens werden auch die Tugenden des Virtue-Responsibilism als verlässliche Überzeugungsbildungsfähigkeiten verstanden. Ihre Ausübung führt mit mehr Wahrscheinlichkeit dazu, dass in schwierigen Erkenntnisbereichen die Wahrheit herausgefunden wird. Dies entspricht der Definition der kognitiven Tugend im Sinn des Virtue-Reliabilism.208 Zweitens impliziert nicht jeder Virtue-Responsibilism einen direkten doxastischen Voluntarismus. Mit Thomas könnte man die Rolle des Willens bei der Überzeugungsbildung genauer fassen. Er unterscheidet zwi-

208

II 55, wo Thomas Laster behandelt, die eine Ähnlichkeit mit der Klugheit aufweisen. Vgl. dazu: Baehr 2011, 52.

Erkenntnistheorie moralischer Überzeugungen

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schen der Ausführung eines Aktes (quantum ad exercitium actus) und der Bestimmung des Aktes (quantum ad determinationem actus).209 Die Ausführung eines Aktes kann willentlicher Kontrolle unterliegen, die Bestimmung dieses Aktes aber nicht bzw. oft nicht. Es liegt an mir, die Augen zu öffnen oder zu schließen, es liegt aber nicht an mir, rot zu sehen und die Überzeugung zu bilden, dass das Ding vor mir rot ist. Es liegt an mir zu bestimmen, ob ich mit einer Untersuchung fortfahre oder sie unterbreche, es liegt aber nicht an mir zu bestimmen, welche Überzeugung am Ende herauskommt. So können Willenseinstellungen oder Motivationen durchaus kognitiv relevant sein. Dennoch aber impliziert diese Ansicht keinen inakzeptablen direkten doxastischen Voluntarismus. Drittens schließlich gibt es Bereiche und Umstände, in denen man mit bloß richtig funktionierenden Wahrnehmungsfähigkeiten, Gedächtnis, Introspektion und simplem Schlussfolgern allein nicht immer zur Erkenntnis gelangt. Moral dürfte ein solcher Bereich sein. 9.4 Klugheit als Tugend moralischer Überzeugungsbildung Nach der Einbettung in eine Tugendepistemologie und der Darlegung des Klugheitsverständnisses von Thomas von Aquin kann ich die Klugheitsthese nun systematisch entfalten. Sie lautet: KLU:

Die Überzeugung, dass psm, ist genau dann gerechtfertigt für eine Person, wenn Üpsm durch Ausübung von Klugheit hervorgeht bzw. erhalten wird.

(1) Klugheit wird als habitus verstanden. Ein habitus ist eine stabile Disposition einer Person. Er kann zu verschiedenen Zeiten aktualisiert werden. Ein habitus, welcher verlässlich Ergebnisse von Wert hervorbringt, wird Tugend genannt.

209

Siehe: Summa Theologiae I II 9, 1. In Summa Theologiae 17, 6 räumt Thomas die Möglichkeit auch einer willentlichen Kontrolle quantum ad determinationem actus ein. Siehe dazu: Niederbacher 2004, 60-66.

Klugheit

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(2) Wir müssen verstehen, was es heißt, dass etwas/jemand verlässlich ist. Erstens sprechen wir im Alltag von der Verlässlichkeit von Thermometern, Autos, allgemein von Maschinen, auch von Enzyklopädien, Medikamenten und von Menschen. Ein Thermometer ist verlässlich, wenn es regelmäßig die richtige Temperatur anzeigen kann. Ein Auto ist verlässlich, wenn es regelmäßig am Morgen anspringen und normal fahren kann. Ein Medikament ist verlässlich, wenn es regelmäßig die angekündigte und erwartete Wirkung tatsächlich hervorbringen kann. Diese Dinge sind also verlässlich, wenn sie regelmäßig, mit einem hohen Erfolgsprozentsatz, die erwünschten Ziele herbeiführen können. Ich sage: können. Denn Verlässlichkeit ist ein Dispositionsbegriff. Selbst wenn etwas noch nie eingesetzt wurde und somit seine Verlässlichkeit noch nie gezeigt hat, kann es verlässlich sein. Sagen wir von Vorgängen bzw. Prozessen, sie seien verlässlich, so meinen wir nicht Einzelvorgänge, sondern Vorgangstypen bzw. Vorgangsweisen. Einzelvorgänge sind Fälle von Vorgangsweisen. Und eine Überzeugung ist dem Prozessreliabilismus zufolge gerechtfertigt, wenn der Überzeugungsbildungsvorgang, welcher zu dieser Überzeugung geführt hat, ein Fall eines verlässlichen Überzeugungsbildungsvorgangstyps ist. Verlässlich ist er genau dann, wenn er die Neigung hat, wahre Überzeugungen hervorzubringen. Zweitens ist eine Einschränkung bezüglich der Erfolgsquote zu machen. Vertreter von Verlässlichkeitstheorien behaupten, dass ein Vorgangstyp bzw. eine Erkenntnisfähigkeit lediglich eine hohe Neigung haben muss, wahre Überzeugungen hervorzubringen. Niemand verlangt, 100 % der hervorgebrachten Überzeugungen müssten wahr sein, um von Verlässlichkeit sprechen zu können. So ist zum Beispiel die Fähigkeit der Personenidentifikation normalerweise in hohem Grade verlässlich, auch wenn wir gelegentlich Personen verwechseln. Ein Vorgangstyp bzw. eine Fähigkeit ist schon dann verlässlich, wenn verhältnismäßig viele wahre Überzeugungen daraus resultieren. Entsprechend ist zu sagen, dass es sich bloß um eine prima facie-Rechtfertigung handelt, die durch neu erworbene Gründe oder Überzeugungen zunichte gemacht werden kann. Schließlich ist noch auf eine weitere Einschränkung hinzuweisen: Verlässlich ist etwas immer relativ zu einer Umgebung. Ein Thermometer ist verlässlich auf unserer Erde mit den Naturgesetzen, die hier gelten. In einer

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Erkenntnistheorie moralischer Überzeugungen

anderen Welt mit anderen Naturgesetzen wäre es nicht verlässlich. Ein Auto ist verlässlich relativ zu den Straßen, die es bei uns gibt. In der Steppe oder im Dschungel wäre es nicht verlässlich. Dies gilt auch für unsere kognitiven Prozesse und Fähigkeiten. Sie müssen nicht in allen möglichen Welten verlässlich sein. Sie müssen lediglich in Welten verlässlich sein, welche unserer Welt relevant ähnlich sind.210 (3) Individuiert wird der habitus der Klugheit aus dem Objekt: aus den Überzeugungen singulären moralischen Inhalts. (4) Klugheit wird als erworbene Überzeugungsbildungsfähigkeit verstanden. Sie ist nicht angeboren. Angeboren sind die zugrundeliegenden natürlichen Vermögen. Diese bedürfen der Formung und Ausbildung. Nach klassischem Verständnis erwerben wir Tugenden durch Einübung, durch das Sammeln von Erfahrungen mit sich und anderen in menschlicher Gemeinschaft. (5) „Ausübung“ verstehe ich sehr allgemein im Sinn von Realisierung, Verwirklichung, Aktualisierung. Man kann auch von Akten bzw. Tätigkeiten der Klugheit sprechen. Diese Redeweise ist weit genug, um sowohl relativ unbewusste und spontane als auch sehr bewusste und reflektierte Überzeugungsbildungsvorgänge zu umfassen. (6) Eingangsgrößen dieser Aktualisierungen sind die bereits behandelten verschiedenartigen doxastischen und nichtdoxastischen Gründe. Diese Gründe können doxastischer Natur und daher Ergebnis anderer Überzeugungsbildungsweisen sein. Sie können aber auch nichtdoxastischer Natur sein. Unter diesen stammen etwa Emotionen und Wünsche aus dem Bereich des Strebens. Ergebnis der Ausübung der Klugheit sind die Überzeugungen singulären moralischen Inhalts. Gerechtfertigt sind diese Überzeugungen dadurch, dass sie aufgrund der Ausübung von Klugheit hervorgehen bzw. erhalten werden. Die These betrifft also nicht bloß die Entstehung, sondern auch die Erhaltung von Überzeugungen. (7) Klugheit ist keine isolierte kognitive Tugend, sondern funktioniert nur im Verbund mit anderen Erkenntnisfähigkeiten. So verdanken sich die 210

Vgl. Alston 1995, 10: Nach Alston ist ein Vorgang verlässlich, wenn er eine hohe Wahrheitsquote über einen weiten Bereich von Situationen der Art, die wir typischerweise antreffen, ergeben würde („wide range of situations of the sort we typically encounter“).

Klugheit

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Gründe, welche als Inputs in die Ausübung der Klugheit eingehen, oft weiteren Erkenntnisfähigkeiten, sowohl solcher im Sinn des Virtue-Reliabilism als auch solcher im Sinn des Virtue-Responsibilism. Außerdem setzt auch das Defeater-System, das zur Klugheit gehört, für seine Funktion andere Erkenntnisfähigkeiten voraus. Das Defeater-System ist ein System von Vorgehensweisen, Überzeugungen zu prüfen, wenn sie verdächtig erscheinen. 9.5 Der moralische Einwand Jemand könnte einwenden: Verlässlichkeitstheorien sind in der Regel externalistische Theorien. Externalistische Theorien fordern lediglich, dass verlässliche Überzeugungsbildungsprozesse ablaufen, dass verlässliche Fähigkeiten aktiviert werden. Sie fordern nicht, dass die erkennende Person introspektiven Zugang zu diesen Fähigkeiten und Prozessen und ihrer Verlässlichkeit hat. Moralische Überzeugungen sind gerechtfertigt, wenn sie aus Klugheit hervorgehen. Nun mögen Verlässlichkeitstheorien angemessen sein im Fall von Wahrnehmungsüberzeugungen oder Erinnerungsüberzeugungen oder anderen Arten von Überzeugungen, welche relativ automatisch gebildet werden. Verlässlichkeitstheorien sind aber unangemessen, wenn es um komplexere Wissensbereiche geht; und sie sind sehr unangemessen, wenn es um moralische Überzeugungen geht. Denn Moral fordert, dass man begründet handelt. Würde eine Person aus Überzeugungen handeln, deren Gründe sie nicht kennt, so würde sie unmoralisch handeln. Kurz: Moral fordert introspektiven Zugang zu den Gründen. Ein erkenntnistheoretischer Externalismus ist mit Bezug auf moralische Überzeugungen also geradezu unmoralisch. Nur ein erkenntnistheoretischer Internalismus kann der Forderung der Moral gerecht werden. Ich versuche diesen Einwand mit zwei Gegengründen zurückzuweisen. Zum einen scheint mir, dass der Einwand nicht hinreichend zwischen Gründen für Handlungen und Gründen für Überzeugungen unterscheidet. Freilich sollen Handlungen auf Gründen beruhen. Diese Gründe können moralische Überzeugungen sein. Und es ist keine Frage, dass auch in externalistischen moralischen Erkenntnistheorien die Outputs, nämlich die

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Erkenntnistheorie moralischer Überzeugungen

Überzeugungen singulären moralischen Inhalts, dem erkennenden Subjekt kognitiv zugänglich sind. Davon zu unterscheiden sind die epistemischen Gründe, auf denen diese Überzeugungen ihrerseits beruhen. Diese müssen dem erkennenden Subjekt nicht unmittelbar zugänglich sein. Zum anderen hat die vorgeschlagene Theorie mindestens drei internalistische Bestandteile. Der erste internalistische Bestandteil besteht darin, dass die Art der Gründe zumindest im Allgemeinen – zwar nicht immer sofort, aber doch nach hinreichender Reflexion – zugänglich sind.211 Besonders die doxastischen Gründe dürften ihrerseits relativ leicht zugänglich sein. Der zweite internalistische Bestandteil besteht in der Abhängigkeit der Klugheit von Erkenntnisfähigkeiten im Sinn des Virtue-Responsibilism. Der dritte internalistische Bestandteil schließlich besteht im Defeater-System, das zur Klugheit gehört. Eine Überzeugung singulären moralischen Gehalts kann nur dann gerechtfertigt sein, wenn die erkennende Person auch mögliche Anfechtungsgründe gegen die Rechtfertigung moralischer Überzeugungen kennt.

211

Siehe unter 4.1.4.

10 Moralische Skeptizismen Erkenntnistheoretiker stellen in Bezug auf gerechtfertigte Überzeugungen zumeist zwei Fragen: Wodurch ist eine Überzeugung gerechtfertigt? Gibt es gerechtfertigte Überzeugungen? Ich habe bis jetzt für den Bereich der Moral lediglich eine Antwort auf die erste Frage gegeben. Ich habe Bedingungen formuliert, die erfüllt sein müssen, damit eine Überzeugung moralischen Inhalts gerechtfertigt ist. Damit habe ich noch nichts zur zweiten Frage gesagt, ob irgendeine moralische Überzeugung diese Bedingungen auch erfüllt, also gerechtfertigt ist. Bezüglich dieser zweiten Frage könnten Skeptiker auftreten und bestreiten, dass es überhaupt eine gerechtfertigte Überzeugung moralischen Inhalts gibt oder geben kann. Derartigen skeptischen Positionen wende ich mich nun zu. Dabei werde ich mich einschränken - auf moralische Bereichsskeptizismen im Unterschied zu globalen Skeptizismen;212 - auf Skeptizismen, die sich gegen die Möglichkeit epistemischer Rechtfertigung von moralischen Überzeugungen richten im Unterschied zu Skeptizismen, die sich gegen die Möglichkeit von moralischem Wissen richten. Derartige Skeptizismen bestreiten nicht, dass moralische Äußerungen Behauptungen sein können und dass in solchen Behauptungen Überzeugungen ausgedrückt werden. Sie bestreiten bzw. bezweifeln jedoch, dass die 212

Globale Skeptiker bezweifeln die Existenz von gerechtfertigten Überzeugungen im Allgemeinen. Wenn es überhaupt keine gerechtfertigten Überzeugungen gibt, dann gibt es auch keine gerechtfertigten Überzeugungen moralischen Inhalts. Zu verschiedenen globalen skeptischen Argumenten und ihren Schwächen siehe: Grundmann 2003. Einen Überblick über verschiedene Formen des moralischen Skeptizismus findet man bei: Sinnott-Armstrong 2006, 9-13.

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Erkenntnistheorie moralischer Überzeugungen

moralischen Überzeugungen von Menschen jemals epistemisch gerechtfertigt sein können. Es sind fünf skeptische Argumente, die ich im Folgenden untersuche: 1. das Argument aus der Rechtfertigungsstruktur; 2. das Argument aus der Unfähigkeit, den moralischen Nihilismus auszuschließen; 3. das Argument aus der explanatorischen Überflüssigkeit moralischer Tatsachen; 4. das Argument aus moralischen Meinungsverschiedenheiten; 5. das Argument aus der Unfähigkeit festzustellen, dass eine moralische Überzeugung aus Klugheit hervorgeht. 10.1 Argument aus der Rechtfertigungsstruktur Das Argument aus der Rechtfertigungsstruktur kann kurz folgendermaßen dargestellt werden:213 (1) Überzeugungen moralischen Inhalts müssen entweder grundlegend oder inferenziell gerechtfertigt sein. (2) Es gibt keine grundlegend gerechtfertigten Überzeugungen moralischen Inhalts. (3) Also müssen Überzeugungen moralischen Inhalts inferenziell gerechtfertigt sein. (4) Es gibt aber keine inferenziell gerechtfertigten Überzeugungen moralischen Inhalts. (5) Also gibt es keine gerechtfertigten Überzeugungen moralischen Inhalts. Dieses Argument beginnt mit der These, dass gerechtfertigte moralische Überzeugungen entweder Grundüberzeugungen oder Folgeüberzeugungen, also abgeleitete Überzeugungen sein müssen. Im Schritt (2) werden ge213

Das Argument ist bekannt und häufig präsentiert worden, zum Beispiel in: SinnottArmstrong 2006, 74-77.

Moralische Skeptizismen

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rechtfertigte moralische Grundüberzeugungen vom Skeptiker ausgeschlossen. Dieser Ausschluss könnte zum einen (2a) darauf beruhen, dass wir im Alltag für moralische Behauptungen Begründungen erwarten. Wenn jemand eine Wahrnehmungsüberzeugung ausdrückt und sagt: „Dort steht ein Schaf.“, so fragen wir unter normalen Umständen nicht: „Warum hältst du das für wahr?“ Wenn aber jemand eine moralische Überzeugung ausdrückt und sagt: „Es war nicht richtig, dass Amerika einen Krieg gegen den Irak begonnen hat“, so fragen wir: „Warum glaubst du das?“ Zum anderen (2b) könnte der Ausschluss von gerechtfertigten moralischen Grundüberzeugungen auch auf einem Fundamentismus beruhen, der die Bedingungen für gerechtfertigte Grundüberzeugungen so stark macht, dass keine moralischen Überzeugungen sie erfüllen können. Im Schritt (4) wird sodann ausgeschlossen, dass es gerechtfertigte moralische Folgeüberzeugungen gibt. Dieser Ausschluss beruht zum Teil auf dem Humeschen Gesetz: Aus nichtmoralischen Überzeugungen allein folgen keine moralischen Überzeugungen. Für die Rechtfertigung moralischer Folgeüberzeugungen bräuchte es immer auch moralische Überzeugungen. Um rechtfertigungsfähig zu sein, müssen diese moralischen Überzeugungen ihrerseits gerechtfertigt sein. Grundlegend gerechtfertigt können sie gemäß (2) nicht sein. So bleibt nur, dass sie inferenziell gerechtfertigt sind. Doch dies führt entweder in einen unendlichen Regress oder in einen Zirkel. Beide Wege werden von den meisten Erkenntnistheoretikern abgelehnt. Es folgt die skeptische Konklusion (5), dass niemals jemand eine gerechtfertigte Überzeugung moralischen Inhalts hat. Dieses Argument kann von verschiedenen Seiten angegriffen werden. Vor allem die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen des Schritts (2) sind problematisch. Zum einen wird in (2a) nicht zwischen der Tätigkeit des Rechtfertigens und dem Gerechtfertigtsein von moralischen Überzeugungen unterschieden. Auch wenn jemand nicht in der Lage wäre, eine Rechtfertigung für seine Überzeugung anzugeben, könnte es dennoch sein, dass die Überzeugung gerechtfertigt ist. Zum anderen dürfte der Fundamentismus, den das Argument in (2b) voraussetzt, kaum haltbar sein. Nehmen wir einmal an, dieser Fundamentismus ließe neben Überzeugungen, die unkorrigierbar sind, auch selbstevidente und für die Sinne evidente Überzeugungen als grundlegend gelten. Dann könnte er erstens nicht alle

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Erkenntnistheorie moralischer Überzeugungen

moralischen Überzeugungen als Grundüberzeugungen ausschließen. Denn zumindest einige moralische Überzeugungen können die von Philosophen aufgestellten Bedingungen für Selbstevidenz erfüllen.214 Und zweitens würde ein solcher Fundamentismus weitere Schwierigkeiten aufwerfen: Der Vertreter eines solchen starken Fundamentismus müsste Folgendes für wahr halten: SF: Die Überzeugung, dass p, ist für eine Person S genau dann eine rechtmäßige Grundüberzeugung, wenn die Überzeugung, dass p, entweder (i) selbstevident für S, oder (ii) unkorrigierbar für S, oder (iii) evident für die Sinne von S ist. Man kann nun fragen, wodurch Vertreter von SF epistemisch gerechtfertigt sind, SF für wahr zu halten. Denn SF wird für sie weder selbstevident noch unkorrigierbar noch evident für ihre Sinne sein. SF kann für sie also nicht grundlegend gerechtfertigt sein. SF müsste dann also durch andere Überzeugungen gerechtfertigt sein. Aber eine überzeugende Darstellung ihrer inferenziellen Stützung wurde noch nicht geliefert.215 Vertreter von SF wären demnach also nicht gerechtfertigt, SF für wahr zu halten. Ferner habe ich in dieser Arbeit zu zeigen versucht, dass neben doxastischen auch nichtdoxastische Gründe für Überzeugungen moralischen Inhalts epistemisch brauchbar sind. 10.2 Unfähigkeit, den moralischen Nihilismus auszuschließen Dieses Argument ist eine Anwendung der cartesianischen Traum- bzw. Täuschungsüberlegung. Damit ich gerechtfertigt bin, etwas über die Außenwelt für wahr zu halten, muss ich die Hypothese ausschließen können, dass ich träume oder dass ich systematisch getäuscht werde oder dass ich ein Hirn in einem Tank bin. Moralische Bereichsskeptiker könnten nun folgendermaßen argumentieren:

214 215

Siehe 6.4. Siehe zu dieser Debatte: Plantinga 1983, 59 ff.

Moralische Skeptizismen

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(1) Eine Person ist nur dann gerechtfertigt, es für wahr zu halten, dass pm, wenn sie fähig ist, den moralischen Nihilismus epistemisch auszuschließen. (2) Nun kann aber keine Person den moralischen Nihilismus epistemisch ausschließen. (3) Keine Person ist gerechtfertigt, es für wahr zu halten, dass pm. Der moralische Nihilismus (MN) besteht in der ontologischen These, wonach es moralischen Eigenschaften nicht gibt. Man kann die These folgendermaßen formulieren: MN: Es gibt nichts, das moralisch gut, schlecht, geboten, verboten, erlaubt, etc. ist. Wenn MN wahr ist, dann gibt es keine gerechtfertigten moralischen Überzeugungen – keine moralischen Überzeugungen, welche in einem wahrheitszuträglichen Sinn gerechtfertigt sind; dann haben wir nie angemessene Gründe für unsere moralischen Überzeugungen. Warum sollten wir MN als relevante Hypothese überhaupt in Betracht ziehen? Skeptiker sagen, MN sei in sich konsistent und logisch mit allen nichtmoralischen Überzeugungen kompatibel. Dies allein ist meines Erachtens jedoch nicht hinreichend dafür, MN für wahr zu halten. Denn viele Sachverhalte erfüllen diese Bedingungen. Dennoch halten wir ihr Bestehen nicht für wahr, geschweige denn gerechtfertigterweise für wahr, solange nicht etwas dafür spricht. Es ist in sich konsistent und logisch mit allen nichtmoralischen Überzeugungen kompatibel, dass mich heute Außerirdische besuchen und zu einem Ausflug ins All mitnehmen. Dennoch halte ich dies nicht für wahr, geschweige denn gerechtfertigterweise für wahr, solange ich nicht angemessene Gründe dafür habe. Wenn es also keine Gründe für MN gibt, muss man diese Hypothese auch nicht für relevant halten. Im Gegenteil, wir haben eine Reihe von moralischen Überzeugungen, die mit MN inkompatibel sind. Zum Beispiel glaube ich fest, dass die Ermordung von sechs Millionen Juden im Dritten Reich moralisch schlecht war. Dies scheint mir wahr zu sein. Die aus MN resultierende These hingegen, dass diese Tat nicht schlecht war, scheint mir falsch zu sein. Ich

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habe angemessene Gründe, ersteres für wahr zu halten. Derartige Gründe habe ich jedoch für MN nicht. Nun meint Sinnott-Armstrong, dass MN von intelligenten Leuten vertreten werde, die Gründe vorlegen, welche für MN sprechen.216 Es wird also darauf ankommen, wie gut diese Gründe sind. Sollte sich herausstellen, dass ich sie nicht entkräften kann, dann muss ich MN ernst nehmen. Sollte sich jedoch herausstellen, dass sie entkräftet werden können, dann muss ich MN auch nicht als relevante Hypothese in Betracht ziehen. Zu den Gründen für MN gehören: das Argument aus der Absonderlichkeit moralischer Eigenschaften, das Argument aus der mangelnden Erklärungskraft moralischer Tatsachen und das Argument aus den moralischen Meinungsverschiedenheiten. Wenden wir uns daher diesen Argumenten zu. 10.3 Argument aus der Absonderlichkeit moralischer Eigenschaften Dieses Argument, das von John L. Mackie stammt, habe ich bereits in Kapitel 3 vorgestellt und kurz besprochen. Die hier relevante Stelle lautet: If there were objective values, then they would be entities or qualities or relations of a very strange sort, utterly different from anything else in the universe. […] The Form of the Good is such that knowledge of it provides the knower with both a direction and an overriding motive; something’s being good both tells the person who knows this to pursue it and make him pursue it.217

Das Argument kann folgendermaßen dargestellt werden: (1) Gäbe es moralisches Gut- und Schlechtsein, so müssten sie intrinsisch motivierend sein. (2) Es gibt sonst nichts, das intrinsisch motivierend ist. (3) Moralisches Gut- und Schlechtsein gibt es nicht. Das Argument ist problematisch. Erstens ist es nicht schlüssig. Um schlüssig zu sein, müsste (2) stärker formuliert werden: Entweder 216 217

Sinnott-Armstrong 2006, 81: „The hypothesis of moral nihilism is coherent, some intelligent people believe it, and they give reasons to believe it.“ Mackie 1977, 38-40.

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(2*) Es gibt nichts, das intrinsisch motivierend ist. oder (2**) Es ist unmöglich, dass etwas intrinsisch motivierend ist. Nun kann man sich fragen, was für (1) und (2*) bzw. (2**) spricht. (1) ist deshalb problematisch, weil es durchaus alternative Auffassungen der Eigenschaften des Gut- und Schlechtseins gibt, zum Beispiel den Motivationsexternalismus.218 Was spricht für (2*)? Mackie folgert (2*) offensichtlich aus (2). Doch aus der der Tatsache, dass alle anderen empiristisch bekannten Entitäten nicht die Eigenschaft aufweisen, intrinsisch motivierend zu sein, folgt nicht, dass es überhaupt keine solche Entitäten gibt, geschweige denn (2**), dass ihre Existenz unmöglich ist. Das Argument aus der Absonderlichkeit moralischer Eigenschaften ist also kein angemessener Grund, MN für wahr zu halten. 10.4 Argument aus der explanatorischen Überflüssigkeit Das Argument aus der explanatorischen Überflüssigkeit moralischer Tatsachen kann Gilbert Harman’s The Nature of Morality entnommen werden. Dort schreibt er: You need to make assumptions about certain physical facts to explain the occurrence of the observations that support a scientific theory, but you do not seem to need to make assumptions about any moral facts to explain the occurence of the so-called moral observations I have been talking about.219

Harman geht der Frage nach, ob sich moralische Prinzipien auf ähnliche Weise empirisch testen und bestätigen lassen wie naturwissenschaftliche Prinzipien. Seine Antwort ist negativ. Während man physikalische Fakten annehmen müsse, um bestimmte Beobachtungen zu erklären, die eine wissenschaftliche Theorie stützen, müsse man keine moralischen Fakten annehmen, um bestimmte moralische Beobachtungen zu erklären. Man könne 218 219

Siehe dazu 2.4. Harman 1977, 6.

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moralische Beobachtungen einfacher erklären, zum Beispiel mit Hilfe von moralischen Einstellungen von Personen, welche moralische Beobachtungen machen. Harman illustriert seine These mit folgenden mittlerweile bekannten Beispielen: (i) Ein Physiker beobachtet, dass sich in der Nebelkammer ein Kondensstreifen bildet, und urteilt spontan Da fliegt ein Proton. (ii) Jemand, nennen wir ihn Anton, beobachtet, dass Jugendliche eine Katze mit Benzin übergießen und anzünden, und urteilt spontan Was die da tun, ist schlecht. Im Fall (i), so Harman, spreche die Tatsache, dass der Physiker diese Beobachtung macht, für die physikalische Theorie. Denn diese Theorie erkläre das Proton, das Proton erkläre den Kondensstreifen, der Kondensstreifen erkläre den Beobachtungsvorgang und das Spontanurteil des Physikers. Im Fall (ii) hingegen spreche die Tatsache, dass Anton seine Beobachtung macht, nicht für das moralische Prinzip, zum Beispiel dass man Tiere prima facie nicht quälen soll. Denn dieses Prinzip erkläre nicht den Beobachtungsvorgang und das Spontanurteil von Anton. Die Wahrheit dieses moralischen Prinzips sei kein notwendiger Teil einer vollständigen Erklärung von Antons Beobachtung und Spontanurteil. Um die Beobachtung und das Spontanurteil von Anton zu erklären, brauche man lediglich einige Annahmen über seine moralischen Überzeugungen, seine moralische Sensibilität: It would seem that all we need assume is that you have certain more or less well articulated moral principles that are reflected in the judgments you make, based on your moral sensibility. It seems to be completely irrelevant to our explanation whether your intuitive judgment is true or false.220

Anders ausgedrückt: Die beste Erklärung für den Beobachtungsvorgang und das Spontanurteil im Fall (i) besteht nach Harman darin, dass es Protonen gibt und dass Protonen unter den gegebenen Versuchsbedingungen Kondensstreifen bilden. Die beste Erklärung für den Beobachtungsvorgang und das Spontanurteil im Fall (ii) hingegen besteht nach Harman nicht darin, dass es moralisches Schlechtsein gibt und dass moralisches 220

Harman 1977, 7.

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Schlechtsein zu derartigen Handlungen führt, sondern darin, dass Anton eine Reihe von moralischen Überzeugungen hat. Für die Erklärung seines spontanen moralischen Urteils sei es völlig irrelevant, ob diese Überzeugungen auch wahr seien. Das Argument kann in folgende Form gebracht werden: (1) Wir sind nur dann gerechtfertigt zu glauben, dass es x gibt, wenn x eine nichteliminierbare Rolle bei der Erklärung des Beobachtungsvorgangs von x und bei der Überzeugungsbildung, dass es x gibt, spielt. (2) Moralische Tatsachen braucht es nicht, um moralische Beobachtungsvorgänge und Überzeugungsbildungen zu erklären. Sie sind explanatorisch überflüssig. (3) Wir sind nicht gerechtfertigt zu glauben, dass es moralische Tatsachen gibt. Manche moralischen Realisten bestreiten die Prämisse (2). So hat Nicholas Sturgeon zu zeigen versucht, dass moralische Tatsachen manchmal durchaus herangezogen werden, um bestimmte Phänomene zu erklären, nämlich das Handeln der Menschen, die Beobachtung dieses Handelns sowie die darauf basierende Überzeugungsbildung.221 Die Tatsache der moralischen Verkommenheit der Jugendlichen ist Teil der Erklärung des Handelns der Jugendlichen, ihr Handeln ist Teil der Erklärung von Antons Beobachtungsvorgang, und sein Beobachtungsvorgang ist Teil der Erklärung von Antons Überzeugungsbildung, dass die Tat der Jugendlichen schlecht ist. Nun bestreite ich nicht, dass wir im Alltag Handlungen manchmal mit dem Hinweis auf den moralischen Charakter einer Person erklären. Dennoch scheint mir die eigentliche Erklärung von Handlungen ohne moralische Tatsachen auszukommen. Sie können hinreichend mit der Angabe der Wünsche und Überzeugungen einer Person erklärt werden, und diese Überzeugungen können auch falsch sein. Insofern gebe ich Harman Recht.222 221 222

Sturgeon 1988 und 2006. Siehe dazu: Niederbacher 2011.

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Problematischer erscheint mir Prämisse (1): Erstens setzt Harman offensichtlich eine kausale Erkenntnistheorie voraus, wonach die Wahrheitsmacher einer Überzeugung eine Überzeugung verursachen müssen. Diese Erkenntnistheorie wird jedoch kaum mehr vertreten, da sie beispielsweise für Überzeugungen mit mathematischen, modalen und zukunftsbezogenen Inhalten nicht brauchbar ist. Zweitens scheint es, dass in der Physik nicht die Beobachtungsakte und spontanen Urteile des Physikers erklärt werden, sondern beobachtete Tatsachen oder Abläufe. Würde man die spontanen Urteile des Physikers erklären, so könnte man sie – wie bei moralischen Urteilen – ebenfalls mit den anderen Überzeugungen des Physikers erklären, deren Wahrheit für die Erklärung der Urteile völlig irrelevant ist. Schließlich kann man das Prinzip angreifen, das Harmans Kritik zugrunde liegt, nämlich: Etwas existiert nur dann, wenn es kausal wirksam sein kann. Dagegen lässt sich einwenden, dass es mathematische Tatsachen oder modale Tatsachen gibt, die kausal nicht wirksam sein können. Ferner kann man vorbringen, das Prinzip sei selbstbezüglich inkohärent. Es sei nur dann eine Tatsache, wenn es kausal wirksam sein könne. Das sei aber nicht der Fall.223 Das Argument aus der explanatorischen Überflüssigkeit moralischer Tatsachen ist also kein zwingender Grund MN zu akzeptieren. 10.5 Argument aus den moralischen Meinungsverschiedenheiten Wie beim vorhergehenden Argument handelt es sich auch bei diesem um ein Argument aus der besten Erklärung. Das zu Erklärende sind nun massive, andauernde, zum Teil bisher unauflösbare moralische Divergenzen. Die beste Erklärung für diese moralischen Meinungsverschiedenheiten sei die Annahme, dass Menschen durch moralische Ansichten ihre unterschiedlichen Lebensformen zum Ausdruck bringen. Diese Hypothese sei eine bessere Erklärung für die Meinungsverschiedenheiten als die Hypothese, dass es moralische Tatsachen gebe, zu denen manche besseren, manche schlechteren kognitiven Zugang hätten. John L. Mackie hat ein derartiges Argument vorgeführt: 223

Siehe dazu: Lemos 2002, 484-486.

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In short, the argument from relativity has some force simply because the actual variations in the moral codes are more readily explained by the hypothesis that they reflect ways of life than by the hypothesis that they reflect perceptions, most of them seriously inadequate and badly distorted, of objective values.224

Bringen wir das Argument in folgende Form: (1) Es gibt viele moralische Meinungsverschiedenheiten. (2) Dass Menschen mit ihren moralischen Meinungen ihre Lebensformen ausdrücken, ist eine bessere Erklärung für die moralischen Meinungsverschiedenheiten, als dass sie moralische Tatsachen wahrnehmen und sich oft täuschen. (3) Diese bessere Erklärung bedarf nicht der Annahme moralischer Tatsachen. (4) Also gibt es keine moralischen Tatsachen. (5) Also ist MN wahr. Viele richten ihre Aufmerksamkeit auf Prämisse (1). Als Kognitivist wird man freilich nicht leugnen, dass es moralische Meinungsverschiedenheiten gibt. Wohl aber wird man sich bemühen zu zeigen, dass die moralischen Meinungsverschiedenheiten entweder in ihrem Ausmaß nicht so groß sind wie zunächst angenommen oder auf eine Weise erklärbar sind, die nicht MN impliziert.225 Kommen wir zuerst zur Frage des Ausmaßes der Meinungsverschiedenheiten. Hier ist es hilfreich, verschiedene Ebenen zu unterscheiden: (i)

(ii)

224 225

Überzeugungen singulären moralischen Inhalts: Es war nicht richtig, dass Anton das Geld stahl / Es war richtig, dass Anton das Geld stahl. Überzeugungen allgemeinen moralischen Inhalts: Diebstahl ist prima facie moralisch schlecht / Diebstahl ist prima facie moralisch richtig.

Mackie 1977, 37. Zur Auseinandersetzung mit Mackies Argument siehe: ShaferLandau 1994 und Loeb 1998. Siehe dazu: Kutschera 1982, 210-212; Lemos 2002, 481-484; Huemer 2005, 128154; Parfit 2011, Vol. II, 543-569.

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(iii) Überzeugungen, welche die normative Theorie betreffen und Überzeugungen der Art (i) und (ii) begründen wollen: Es war nicht richtig, dass Fritz das Geld gestohlen hat, weil dadurch die Lust auf Erden insgesamt abgenommen hat. Oder: Diebstahl ist in der Regel schlecht, weil dadurch die Lust auf Erden minimiert wird. Oder: (…), weil dadurch das Opfer instrumentalisiert und nicht als Selbstzweck gesehen wird. Meinungsverschiedenheiten der Art (iii) kommen in philosophisch-ethischen Diskursen häufig vor. Doch ist erstens zu beachten, dass es dabei um Theorienbildungen geht. Die Meinungsverschiedenheiten ergeben sich hier aus unterschiedlichen philosophischen Voraussetzungen. Zweitens betreffen die Meinungsverschiedenheiten in philosophischen Auseinandersetzungen häufig die Ebene der Begründungen, nicht die Ebene der materialen moralischen Inhalte. Das Beispiel in (iii) veranschaulicht dies. So kommen Regelutilitaristen und Kantianer zur selben materialen Auffassung, nämlich, dass man in der Regel nicht stehlen soll. Uneins sind sie bezüglich der Begründung. Meinungsverschiedenheiten der Art (ii) kommen häufig vor. Man denke an Reizthemen wie Embryonenforschung, Abtreibung, Euthanasie, Todesstrafe, Homosexualität, Krieg, etc. Selbst nach langen Auseinandersetzungen wurde in diesen Bereichen keine Einigkeit erzielt. Schlimmer: Es gibt noch nicht einmal eine berechtigte Aussicht auf Einigkeit in der Zukunft. Auf der anderen Seite stellt man im Bereich der Moral auch viel Übereinstimmung fest. Synchron gesehen gibt es ein beträchtliches Ausmaß an Übereinstimmung. Kulturübergreifend und innerhalb ein und derselben Kultur finden wir dieselben moralischen Grundwerte: Achtung des menschlichen Lebens, Hilfsbereitschaft, Ehrlichkeit, Gerechtigkeit, Meiden von Mord und Diebstahl, etc. Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte zeigt ebenfalls, in welch großem Ausmaß sich fast alle Staaten dieser Erde über Grundwerte einig sind. Diachron gesehen sind durchaus Entwicklungen und massive Änderungen festzustellen, zum Beispiel bei Themen wie Sklaverei, Wahlrecht und Gleichstellung von Frauen, etc. Dennoch ist auch das Ausmaß gleichbleibender Werte groß: Die Werte, die in den zehn Geboten, im Kodex des babylonischen Königs Hammurapi, im

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Konfuzianismus, in der Nikomachischen Ethik oder in anderen religiösen oder philosophischen Schriften zum Ausdruck kommen, decken sich mit vielen unserer heutigen Moralvorstellungen. Hier gibt es Konstanz über Jahrtausende hinweg. Dies kann zum Beispiel von naturwissenschaftlichen Überzeugungen nicht behauptet werden.226 Man muss also die moralischen Meinungsverschiedenheiten in Relation sehen zu den vielen diachronen und synchronen moralischen Übereinstimmungen. Ferner sind Widersprüche manchmal nur scheinbare und rühren nicht von der Annahme verschiedener Grundwerte selbst her, sondern von der Anwendung dieser Grundwerte auf unterschiedliche kulturelle Bedingungen und Situationen. Ich verweise auf ein häufig zitiertes Beispiel, das Herodot berichtet: Dareios ließ einmal, als er König war, die Hellenen, die in seiner Umgebung waren, rufen und fragte sie, um welchen Preis sie bereit wären, ihre verstorbenen Väter zu verspeisen. Und sie sagten, um keinen Preis würden sie das tun. Und danach ließ Dareios die Kallatier, ein indisches Volk, rufen, die ihre Väter aufessen, und fragte sie, in Gegenwart der Hellenen, die durch einen Dolmetscher erfuhren, was gesprochen wurde, um welchen Preis sie bereit wären, ihre gestorbenen Väter im Feuer zu verbrennen; die aber schrien laut auf und sagten, er solle nicht so gottlos reden.227

Die Kallatier und Hellenen hatten zwar verschiedene Auffassungen darüber, wie man die Verstorbenen ehrt. Der Wert im Hintergrund dürfte aber derselbe gewesen sein, nämlich der Respekt vor den verstorbenen Vätern. Ebenso lassen sich auch andere Moralvorstellungen deuten, zum Beispiel die Vorstellung des Erlaubtseins von Kindstötung oder Tötung von alten Menschen bei Inuit, usw. Meinungsverschiedenheiten der Art (i) müssen nicht auf unterschiedlichen moralischen Überzeugungen, sondern können auch auf unterschiedlichen Überzeugungen über die Umstände beruhen. Moralische Meinungsverschiedenheiten rühren häufig von nichtmoralischen Überzeugungen her, von Überzeugungen, welche verschiedene Handlungsumstände, biologische und soziologische Tatsachen, Gottes-, Welt- und Menschenbilder betreffen. Diese Überzeugungen gehen als Hintergrundüberzeugungen oder direkte Prämissen in die moralische Überzeugungsbildung ein. Mora226 227

Vgl. Ernst 2008, 125. Herodot, Geschichten und Geschichte III, 38.

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lische Meinungsverschiedenheiten rühren auch daher, dass man manche Umstände nicht kennt oder noch nicht kennt. Bedenkt man all dies, dann kommt man vielleicht zum Schluss, dass es weniger moralische Meinungsverschiedenheiten gibt als zunächst angenommen. Wie steht es mit der Prämisse (2)? Als alternative Hypothese nennt Mackie hier eine nicht weiter spezifizierte Wahrnehmungstheorie, welche die moralischen Meinungsverschiedenheiten dadurch erklärt, dass die moralische Wahrnehmung nicht besonders gut funktioniert. Mackie findet diese Hypothese jedoch weniger plausibel als die von ihm vorgeschlagene Alternative. Mir wird allerdings nicht klar, warum sein Alternativvorschlag besser ist. Setzt man zudem anstelle der unspezifizierten Wahrnehmungstheorie die von mir vertretene Erkenntnistheorie moralischer Überzeugungen, so kann man die moralischen Übereinstimmungen und Meinungsverschiedenheiten auch gut erklären. Teile der Erklärung sind: - Moralische Wirklichkeit zu erfassen ist schwieriger, als mittelgroße Gegenstände bei gutem Licht zu sehen. - Wir können Faktoren benennen, welche Verzerrungen erklären: zum Beispiel emotionale Über- oder Unterreaktion, Egoismus, Vorurteile, schräge Neigungen, Ausgang von falschen Voraussetzungen, Ignoranz der Umstände, Missachten von Ratschlägen erfahrener Mitmenschen, schlampiges und übereiltes Überlegen. - Klug zu sein ist eine Kompetenz, deren Aneignung Erfahrung, Erziehung und Übung erfordert. Nicht alle Menschen erreichen diese Kompetenz. Und selbst wenn die beste Erklärung für moralische Meinungsverschiedenheiten darin bestehen sollte, dass Menschen darin ihre Lebensform zum Ausdruck bringen, so folgt daraus nicht (4). Denn Mackie zeigt nicht, dass es im Bereich der Moral nur und nichts anderes als Meinungsverschiedenheiten gibt. Seine Hypothese erklärt also bloß die moralischen Meinungsverschiedenheiten, nicht aber die vielen Übereinstimmungen. Diese könnten immer noch daher stammen, dass Menschen moralische Tatsachen erfassen und wahre Überzeugungen über sie bilden.228 Der Vorteil meiner Hypothese besteht darin, dass sie beides erklären kann. Zieht man in Be228

Siehe dazu: Sinnott-Armstrong 2006, 39.

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tracht, dass es neben moralischen Meinungsverschiedenheiten auch viele Übereinstimmungen gibt, zieht man ferner in Betracht, dass manche moralischen Meinungsverschiedenheiten aus unterschiedlichen nichtmoralischen Überzeugungen bzw. dem Nichtkennen relevanter Umstände resultieren, nimmt man schließlich das Erklärungspotential meiner moralischen Erkenntnistheorie samt dazugehörigem Defeater-System mit in den Blick, sinkt das Erklärungspotential von Mackies Hypothese. Das Argument aus den moralischen Meinungsverschiedenheiten ist dann kein angemessener Grund, MN für wahr zu halten. 10.6 Unfähigkeit, kluges Vorgehen zu identifizieren In den letzten drei Abschnitten habe ich zu zeigen versucht, dass die Argumente für MN nicht überzeugend sind. Ich ziehe daraus den Schluss, dass MN keine relevante Hypothese ist. Nun könnten Skeptiker ein weiteres Argument vorbringen und sagen: (1) Wir können nur dann gerechtfertigterweise behaupten, dass eine moralische Überzeugung gerechtfertigt ist, wenn es uns gelingt, festzustellen, dass sie aus Klugheit hervorgegangen ist. (2) Wir sind jedoch nicht imstande festzustellen, dass eine moralische Überzeugung aus Klugheit hervorgegangen ist. (3) Also können wir nicht gerechtfertigterweise behaupten, dass es gerechtfertigte moralische Überzeugungen gibt, sondern müssen uns eines Urteils darüber enthalten. Dieses Argument spricht nicht gegen die normative Erkenntnistheorie wie sie bis Kapitel 9 vorgetragen wurde. Sie spricht auch nicht gegen die Möglichkeit, dass Menschen gerechtfertigte moralische Überzeugungen haben. Wohl aber läuft es darauf hinaus, dass wir von keiner moralischen Überzeugung gerechtfertigterweise behaupten können, sie sei gerechtfertigt. Und dies wäre ziemlich unbefriedigend. Was spricht für (2)? Skeptiker könnten sagen: „Klugheit impliziert Verlässlichkeit. Verlässlichkeit hängt von der Wahrheitsbilanz ab. Nun ist uns aber moralische Wahrheit nicht

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Erkenntnistheorie moralischer Überzeugungen

unabhängig von unseren Überzeugungsbildungsweisen zugänglich. Um herauszufinden, dass jemand verlässlich die moralische Wahrheit trifft, müssen wir eine verlässliche Überzeugungsbildungsweise anwenden. So kreisen wir erneut in epistemischen Zirkeln oder fallen in bodenlose Regresse.“ Ich zweifle, dass es darauf eine Antwort gibt, welche Skeptiker restlos zufriedenstellen wird. Dennoch versuche ich zwei Möglichkeiten zu skizzieren: Eine erste Möglichkeit besteht darin, Wahrheitskriterien für das Vorliegen moralischer Wahrheit zu entwickeln. Wahrheitskriterien sind sowohl von Wahrheitsbedingungen als auch von Bedingungen für epistemische Rechtfertigung zu unterscheiden. Wahrheitskriterien sind Indizien, um festzustellen, ob Wahrheit vorliegt. Diese Indizien müssen nicht dem strengen Notwendig-Hinreichend-Muster entsprechen. Sie können eine Art von heuristischen Leitlinien vorgeben. So könnte zum Beispiel die Kohärenz, wie sie in Kapitel 6.3 entfaltet wurde, ein hilfreiches Indiz für das Vorliegen von Wahrheit sein.229 Die Kohärenz einer moralischen Überzeugung mit einer einigermaßen etablierten Menge von moralischen Überzeugungen wäre dann ein Indiz für ihre Wahrheit. Eine zweite Möglichkeit sehe ich in einem Verfahren, mit dem man über die Identifizierung von moralischen Vorbildern zur Identifizierung von gerechtfertigten moralischen Überzeugungen gelangen kann. Die Idee ist folgende: Wir betrachten, wie sich Menschen, die allgemein und zeitüberdauernd für moralisch vorbildlich gehalten werden, in verschiedenen Handlungssituationen bewegt haben, wie sie vorgegangen sind, welche Aspekte sie berücksichtigt haben, wie sie entschieden haben, worauf sie geachtet haben, wie sie ihre Überzeugungen gebildet haben. Und wir betrachten, wie sich Menschen, die allgemein für moralisch tadelnswert gehalten werden, in verschiedenen Handlungssituationen bewegt haben, welche Entscheidungen sie in bestimmten Handlungssituationen getroffen haben und wie sie zu ihren Entscheidungen gekommen sind. Auf diese Weise könnten wir Kriterien finden, die uns helfen, kluges von unklugem Vorgehen zu unterscheiden. Eine gerechtfertigte moralische Überzeugung

229

Vgl. auch: Shafer-Landau 2003, 295.

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würde entsprechend dann vorliegen, wenn sie so gebildet und erhalten wird, wie moralische Vorbilder sie bilden und erhalten würden. Dagegen wird man einwenden: Um eine tugendhafte Person zu identifizieren, muss man bereits wissen, was Tugend ist. Um moralische Vorbilder zu finden, muss man bereits eine verlässliche moralische Überzeugungsbildungsweise anwenden. Das Verfahren ist zirkulär. Es stimmt: Das Verfahren ist in einem Sinn zirkulär, dennoch aber nicht völlig unbrauchbar. Denn es könnte sein, dass es für uns einfacher ist, Menschen zu identifizieren, die auf einem Gebiet kompetent sind, als herauszufinden, wie diese Menschen zu ihren Ergebnissen gelangen. Ich kann einen Weinkenner identifizieren, ohne genau zu wissen, wie er es anstellt, Weine zu erkennen und zu analysieren. Und wenn ich bei ihm in die Lehre gehe, werde ich Einiges über seine Vorgehensweisen lernen und herausfinden. Ähnlich könnte es in der Moral sein: Wir identifizieren Vorbilder für tugendhafte und lasterhafte Menschen. Unser Vertrauen in diese Vorbilder ist nicht unbegründet. Denn die Einschätzung dieser Vorbilder hat sich oft über lange Zeit und durch kritische Hinterfragungen hindurch gehalten. Anhand der Vorbilder lernen wir etwas über kluge und unkluge Vorgehenswiesen.230 Wie gesagt, das Verfahren ist in einem Sinn zirkulär. Da haben Skeptiker Recht. Falls es sich um moralische Bereichsskeptiker handelt, könnte man sie aber darauf hinweisen, dass andere Überzeugungsbildungsweisen, die wir im Alltag für verlässlich halten, auch nicht besser dastehen. Man denke an unsere Wahrnehmungsüberzeugungen, Erinnerungsüberzeugungen, u ä. William Alston hat ausführlich gezeigt, dass sich die Verlässlichkeit von den am weitest verbreiteten und am besten etablierten Überzeugungsbildungsweisen wie zum Beispiel der Weise, aus Sinneserfahrungen Wahrnehmungsüberzeugungen zu bilden, auch nicht zeigen lässt, ohne ihre Verlässlichkeit bereits vorauszusetzen.231 Moralische Bereichsskeptiker sollten an moralische Überzeugungen nicht höhere Maßstäbe ansetzen als an andere Arten von Überzeugungen.

230 231

Vgl. dazu: Shafer-Landau 2003, 296-300. Siehe etwa: Alston 1993.

11 Ausblick auf moralische Metaphysik Dies war der Entwurf einer Erkenntnistheorie moralischer Überzeugungen auf dem Hintergrund der zeitgenössischen erkenntnistheoretischen Diskussion. Dabei habe ich einen moralischen Realismus vorausgesetzt: - bei der Deutung moralischer Äußerungen als moralischer Überzeugungen; - bei der realistischen Auffassung von praktischer Wahrheit; - bei der Sicht von E-Gründen als Instanzen, welche mit gewisser Wahrscheinlichkeit zur moralischen Wahrheit hinführen. Nun könnten Leser aufschreien und sagen: „Du setzt ständig voraus, dass es moralische Eigenschaften und Tatsachen gibt. Aber was in aller Welt sind diese moralischen Entitäten? Halte uns nicht länger hin! Gib uns zumindest einen Wink, was man sich darunter vorstellen kann!“ Damit verlasse ich die Erkenntnistheorie und stecke die Nase in das Zelt des Metaphysikers.232 11.1 Ausgangspunkt: Normative Theorien Werfen wir zunächst einen Blick auf einige normative Thesen. Normative Thesen formulieren Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit eine Handlung gut oder schlecht ist. So behaupten manche Utilitaristen: Eine Handlung ist genau dann gut, wenn sie im Vergleich mit möglichen Handlungsalternativen das maximale Wohlbefinden aller Beteiligten zeitigt. Kantianer würden vielleicht sagen:

232

Das Folgende ist eine kürzere Version von Niederbacher 2011.

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Erkenntnistheorie moralischer Überzeugungen

Eine Handlung ist genau dann gut, wenn sie in der Absicht vollzogen wird, eine verallgemeinerbare Maxime zu erfüllen. Kontraktualisten würden behaupten: Eine Handlung ist genau dann gut, wenn sie einem impliziten Gesellschaftsvertrag entspricht. Und Supranaturalisten würden vielleicht sagen: Eine Handlung ist genau dann gut, wenn sie dem Willen Gottes entspricht. Alle diese Thesen drücken aus, dass die Eigenschaft des Gutseins einer Handlung genau dann vorhanden ist, wenn andere, nichtmoralische Eigenschaften an der Handlung vorhanden sind. Was steckt aber metaphysisch hinter dem „genau dann, wenn?“ Wir können besser verstehen, was moralische Entitäten sind, wenn wir die Beziehung zwischen den beiden Eigenschaftsarten besser verstehen. 11.2 Common Sense: Supervenienz Zu den zentralen Annahmen der Alltagsmoral gehört erstens, dass zwei Handlungen, die in ihren nichtmoralischen Eigenschaften übereinstimmen, auch in ihren moralischen Eigenschaften übereinstimmen. Das Umgekehrte gilt nicht. Zwei Handlungen können in ihren moralischen Eigenschaften übereinstimmen, beide können zum Beispiel gut sein, dennoch aber sehr unterschiedliche nichtmoralische Eigenschaften haben. Dieses moralische Alltagsverständnis wurde mit Hilfe des Begriffs der Supervenienz zum Ausdruck gebracht. Supervenienz ist eine Beziehung zwischen Eigenschaften bzw. Eigenschaftsmengen. Sind A und B zwei Eigenschaften bzw. Eigenschaftsmengen, dann superveniert B genau dann über A, wenn es keinen Unterschied in den B-Eigenschaften ohne einen Unterschied in den A-Eigenschaften gibt. Das Umgekehrte gilt nicht. Für die Moral nehmen

Ausblick auf moralische Metaphysik

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wir an, dass die Supervenienzbeziehung zwischen den beiden Eigenschaftsarten nicht kontingent, sondern notwendig ist. Wenn zwei Handlungen hinsichtlich ihrer nichtmoralischen Eigenschaften übereinkommen, dann müssen sie auch hinsichtlich ihrer moralischen Eigenschaften übereinkommen.233 Zweitens gehört es zu den zentralen Annahmen unserer Alltagsmoral, dass eine Handlung ihre moralischen Eigenschaften kraft der nichtmoralischen Eigenschaften besitzt. Wir sagen, dass die eine Eigenschaft vorhanden ist, weil die anderen Eigenschaften vorhanden sind. Eine Handlung ist beispielsweise schlecht, weil sie eine Zufügung von Schmerzen rein aus Spaß ist. Die Beziehung zwischen den beiden Eigenschaftsarten weist unserem moralischen Alltagsverständnis gemäß also zwei Merkmale auf: (i) (ii)

Jede Handlung, welche moralische Eigenschaften besitzt, besitzt diese kraft der nichtmoralischen Eigenschaften. Zwei Handlungen, die in ihren nichtmoralischen Eigenschaften übereinstimmen, müssen auch in ihren moralischen Eigenschaften übereinstimmen. Das Umgekehrte gilt nicht.

Moralische Metaphysiker versuchen nun diesen beiden Merkmale zu erklären. 11.3 Identitätsbeziehung Diese beiden Merkmale könnten folgendermaßen erklärt werden: Die moralischen Eigenschaften sind identisch mit den nichtmoralischen Eigenschaften, und letztere sind alles, was es letztlich gibt. Es mag zwar sein, dass moralische Ausdrücke eine andere Bedeutung haben als nichtmoralische Ausdrücke. Dennoch greifen wir mit moralischen Ausdrücken dieselben Eigenschaften heraus wie mit nichtmoralischen Ausdrücken. Entsprechend sind die Wahrheitsmacher von moralischen Propositionen nichtmo233

Weiters kann man sich fragen, ob es sich um lokale oder globale Supervenienz handelt. Siehe dazu: Majors 2009, 36; Smith 2004, 214; Niederbacher 2011.

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Erkenntnistheorie moralischer Überzeugungen

ralische Tatsachen. Da viele Identitätstheoretiker annehmen, dass es letztlich nur natürliche Eigenschaften gibt, d.h. Eigenschaften welche durch naturwissenschaftliche Methoden zugänglich sind, verstehen sie unter nichtmoralischen Tatsachen schlicht und einfach natürliche Tatsachen. Dieser reduktive Naturalismus kann einen Vorteil für sich verbuchen: Er gibt uns eine einfache Vorstellung davon, was moralische Tatsachen sind. Moralische Tatsachen sind identisch mit bestimmten natürlichen Tatsachen. Sie sind Teil der uns vertrauten Welt. Da ist nichts Absonderliches, nichts Okkultes, nichts, das unsere gewöhnliche Vorstellungskraft übersteigt. Entsprechend behauptet Michael Smith, Bewertungsbehauptungen müssten immer durch andere Behauptungen wahr gemacht werden.234 Gemeint ist, dass moralische Propositionen durch natürliche Fakten wahr gemacht werden. Dies zeige sich in unserer alltäglichen Praxis. Sagt jemand, ein bestimmtes Leben sei gut, so habe er auch eine Idee von den Merkmalen, die es gut machen. Würde er behaupten: „Es wird nicht von anderen Merkmalen gut gemacht; es ist einfach gut!“, so würde er die Regeln, die zum Gebrauch des Wortes „gut“ gehören, verletzen. Smith hat meines Erachtens Recht, wenn er meint, bestimmte nichtmoralische Merkmale würden eine Handlung zu einer guten oder schlechten Handlung machen. Allerdings folgt daraus nicht, dass moralische Propositionen durch nichtmoralische Fakten wahr gemacht werden. Mir scheint, Smith verwechselt den Gutmacher von Handlungen mit dem Wahrmacher von moralischen Propositionen. Ein Problem für den reduktiven Naturalismus besteht darin, dass die Identitätsbeziehung symmetrisch, die Beziehung zwischen moralischen und nichtmoralischen Eigenschaften jedoch nicht symmetrisch ist. Wenn x mit y identisch ist, dann ist auch y mit x identisch. Eine Symmetrie zwischen moralischen Eigenschaften und natürlichen Eigenschaften wird uns aber von unserem moralischen Alltagsverständnis nicht nahegelegt. Es ist zwar der Fall, dass zwei Handlungen mit den gleichen natürlichen Eigenschaften auch die gleichen moralischen Eigenschaften haben. Aber das Umgekehrte gilt nicht: Zwei Handlungen mit den gleichen moralischen 234

Smith 2004, 225: „Evaluative claims must always be made true by other claims.“

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Eigenschaften haben nicht notwendigerweise die gleichen natürlichen Eigenschaften. Frank Jackson legt einen Lösungsvorschlag zu diesem Problem vor. Dabei geht er von notwendiger und globaler Supervenienz aus und formuliert: (S) Für alle w und w* gilt: Wenn w und w* deskriptiv genau gleich sind, dann sind sie auch moralisch genau gleich.235 Nach Jackson sei es eine Folge von (S), dass jede Behauptung von Handlungen mit Hilfe von moralischen Ausdrücken äquivalent ist mit einer Behauptung über sie mit Hilfe von rein deskriptiven, d.h. nichtmoralischen, Ausdrücken. Nehmen wir irgendein moralisches Prädikat M, zum Beispiel „ist eine gerechte Handlung“, und nehmen wir an, eine Handlung erfülle dieses Prädikat. Dann würde es eine vollständige deskriptive Beschreibung dieser Handlung und der Welt, in der sie vorkommt, geben. Nennen wir das deskriptive Prädikat dieser Beschreibung N1. Handlungen, die in deskriptiver Hinsicht ununterscheidbar sind und in ununterscheidbaren Welten vollzogen werden, müssten auch moralisch ununterscheidbar sein. Es sei unmöglich, dass eine Handlung N1 erfülle, ohne M zu erfüllen. N1 impliziere also M aufgrund der Supervenienz. Aber M impliziert nicht N1. Denn es wird Handlungen in dieser Welt und anderen möglichen Welten geben, welche M erfüllen, aber nicht N1, sondern andere deskriptive Prädikate, etwa N2, N3, N4, … Bilden wir nun ein Riesenprädikat, bestehend aus einer Disjunktion aller relevanten deskriptiven Prädikate N1 – Nn. Nennen wir dieses Prädikat N. M impliziere dann N. Denn wann immer eine Handlung gerecht ist, sei ein deskriptives Prädikat im disjunktiven Riesenprädikat erfüllt. Und N impliziert M. Denn wenn N erfüllt ist, dann muss irgendeines seiner Disjunkte N1 – Nn erfüllt sein, und dieses impliziert M. Daraus folge, so Jackson, dass moralische Eigenschaften natürlichen Ei-

235

Jackson 1998, 119: „ […] the global supervenience of the ethical on the descriptive is special in that an unrestricted form, namely (S) For all w and w*, if w and w* are exactly alike descriptively then they are exactly alike ethically is both a priori true and necessary.“

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genschaften sind.236 Moralisches Vokabular könne zwar in der Praxis unverzichtbar sein, aber moralische Eigenschaften seien dennoch disjunktive deskriptive Eigenschaften, vielleicht sogar unendliche disjunktive Eigenschaften. Es gebe nichts darüber hinaus, auf das sich moralische Ausdrücke beziehen. Im Prinzip könnten wir alles in deskriptiver Sprache, d.h. mit nichtmoralischem Vokabular, sagen.237 Dieser Lösungsversuch arbeitet mit disjunktiven Riesenprädikaten und disjunktiven Rieseneigenschaften. Dies ist ontologisch gesehen nicht unproblematisch. Abgesehen davon könnte man fragen, ob wir mit notwendigerweise koextensiven Ausdrücken nicht dennoch unterschiedliche Eigenschaften herausgreifen können? Man denke an die Ausdrücke „dreieckig“ und „dreiseitig“. Alles, was dreieckig ist, ist auch dreiseitig, und alles, was dreiseitig ist, ist auch dreieckig. Greifen wir nicht dennoch mit den beiden Ausdrücken unterschiedliche Eigenschaften heraus? Jackson verneint dies. Aber hat er Recht? „Seiten zu haben“ und „Ecken zu haben“ sind ebenfalls koextensiv. Was Seiten hat, hat auch Ecken, und was Ecken hat, hat auch Seiten. Dennoch scheinen wir mit den beiden Ausdrücken unterschiedliche Eigenschaften herauszugreifen.238 Derek Parfit zeigt mit einem anderen Beispiel, dass notwendige Koextension von Begriffen nicht Referenz auf dieselbe Eigenschaft impliziert. Die beiden Begriffe die einzige gerade Primzahl zu sein und die Quadratwurzel aus 4 zu sein sind notwendigerweise koextensiv. Sie referieren auf Eigenschaften, welche nur die Zahl 2 hat, aber sie referieren nicht auf die Zahl 2. Es sind zwei unterschiedliche Eigenschaften der Zahl 2. Dies ist nicht zu verwechseln mit den Begriffen die einzig gerade Primzahl und die Quadratwurzel aus 4, welche tatsächlich beide auf die Zahl 2 referieren.239 Jackson nennt weitere Gründe gegen die Auffassung, dass wir mit moralischen Ausdrücken und natürlichen Ausdrücken unterschiedliche Eigenschaften herausgreifen. Ein erster Grund lautet: Die Deutung, dass ein Sprecher mit einem M-Prädikat und dem entsprechenden N-Prädikat unter236

Jackson 1998, 123: „It follows that ethical properties are descriptive properties.“ Jackson 1998, 124-125: „There is no ‚extra‘ feature that the ethical terms are fastening onto, and we could in principle say it all in descriptive language.“ 238 Das Argument stammt von Shafer-Landau 2003, 91. 239 Parfit 2011, Vol. II, 296-297. 237

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schiedliche Eigenschaften herausgreift, sei kaum zu rechtfertigen, wenn wir wissen, dass es eine vollständige Beschreibung in N-Prädikaten davon gibt, wie und wann der Sprecher das M-Prädikat verwendet. Dieses Argument setzt allerdings bereits voraus, dass es eine vollständige N-Beschreibung einer Handlung gibt. Der Streit besteht ja darin, ob mit einer N-Beschreibung bereits alles über die Handlung gesagt ist. Jackson argumentiert ferner, es sei schwer zu sehen, welche Rolle zusätzliche moralische Eigenschaften spielen könnten. Würden wir uns nicht wundern, wenn jemand sagte: „Ich sehe, dass diese Handlung vielen Menschen das Leben kostet und niemanden rettet. Aber das ist nicht hinreichend für die Rechtfertigung ihrer Unterlassung. Ausschlaggebend ist, ob diese Handlung die zusätzliche Eigenschaft hat, die man nur mit einem MPrädikat herausgreifen kann, z.B. ‚moralisch schlecht zu sein‘.“ Dieses Argument von Jackson scheint wiederum die Eigenschaften, welche eine Handlung schlecht machen, mit der Eigenschaft des Schlechtseins zu verwechseln. Es stimmt, dass wir im Alltag das Gut- oder Schlechtsein von Handlungen mit der Angabe von N-Eigenschaften begründen. „Diese Handlung ist schlecht, weil sie vielen Menschen das Leben kostet.“ Wir begründen das eine durch das andere, meinen aber nicht, dass beides identisch ist. Machte Jackson eine derartige Äußerung, würde er eine Tautologie von sich geben: „Diese Handlung kostet vielen Menschen das Leben, weil sie vielen Menschen das Leben kostet.“ Jackson nennt ein weiteres Argument für seine Position: Niemand nehme an, dass es im Allgemeinen für jede deskriptive Eigenschaft notwendigerweise eine koextensiv nichtdeskriptive Eigenschaft gebe. Um es im Bereich der Moral anzunehmen, bedürfte es besonderer Gründe. Aber die scheine es nicht zu geben. Die Zwillingsbildung auf den Bereich der Moral zu beschränken sei dann eher willkürlich. Mir scheint jedoch, dass es nicht willkürlich ist. Es gibt eben Bereiche wie Moral und Ästhetik, wo unsere Erfahrungen es nahelegen, dass es Eigenschaften gibt, die über die natürlichen Eigenschaften hinausgehen. In anderen Bereichen machen wir derartige Erfahrungen hingegen nicht. Ein Hauptproblem für den reduktiven Naturalismus besteht darin, dass er der Normativität des Moralischen nicht gerecht werden kann. Zwar ist es

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notorisch schwierig, genau anzugeben, worin diese Normativität besteht.240 Dennoch kann man kaum leugnen, dass moralischen Tatsachen ein normativer Zug zukommt, der nichtmoralischen Tatsachen nicht zukommt. Ein Beispiel: „Anton hat das Geld gestohlen, indem er heimlich in das Haus der Müllers einbrach, den Safe knackte, das Geld einsteckte, unbemerkt davonschlich. Er ging damit ins Spielkasino und verspielte alles. Die Müllers aber erlitten großen Schaden.“ Damit habe ich eine nichtmoralische Beschreibung von Antons Handlung und ihren Umständen gegeben. Diese Beschreibung unterscheidet sich aber von der moralischen Beschreibung: „Antons Tat war schlecht. Er hätte dies unter diesen Umständen nicht tun dürfen.“ Wenn moralische Tatsachen letztlich nichtmoralische Tatsachen sind, geht dieser normative Zug verloren. 11.4 Konstitutionsbeziehung Wenn die Erklärung der oben genannten Merkmale (i) und (ii) durch die Identität der Eigenschaftsarten unbefriedigend ist, was bleibt dann noch? Eine zweite Möglichkeit besteht darin, eine Konstitutionsbeziehung anzunehmen. Demnach sind moralische Eigenschaften konstituiert bzw. realisiert durch nichtmoralische Eigenschaften, sie sind aber nicht identisch mit nichtmoralischen Eigenschaften.241 Konstitution ist eine Beziehung von Einheit ohne Identität zwischen zwei grundlegend verschiedenen Arten von Dingen.242 Wir kennen dies auch sonst: ein Stück Bronze und eine Statue, ein bedrucktes Stück Papier und ein 10 Euro-Geldschein. Ebenso kann man die Beziehung zwischen nichtmoralischen und moralischen Eigenschaften sehen. Diese Beziehung der Konstitution erklärt, warum die moralischen Eigenschaften mit den nichtmoralischen Eigenschaften kova240 241

242

Dazu gibt es eine Reihe von Vorschlägen. Siehe: Copp 2004, 7-45; Dancy 2006, 122-145. So etwa: Brink 1989, 158: „Moral facts and properties, so construed, are constituted, composed or realized by organized combinations of natural and social scientific facts and properties.” Ebenso Shafer-Landau 2003, 77: „Moral facts necessarily covary with descriptive ones because moral properties are always realized exclusively by descriptive ones.” Zur Beziehung der Konstitution siehe: Rudder Baker 1997.

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riieren. So wie etwa Größe oder Gewicht eines Buches durch andere Eigenschaften dieses Buches fixiert und konstituiert bzw. realisiert sind, so sind auch moralische Eigenschaften durch nichtmoralische Eigenschaften fixiert und konstituiert. Sind die gleichen nichtmoralischen Eigenschaften vorhanden, dann müssen auch die gleichen moralischen Eigenschaften vorhanden sein. Das Umgekehrte gilt nicht. Es gibt viele Weisen, wodurch eine moralische Eigenschaft realisiert sein kann. Diese Sichtweise der Konstitutionsbeziehung von nichtmoralischen und moralischen Eigenschaften können sich sowohl nichtreduktive Naturalisten wie auch Nichtnaturalisten zu eigen machen. Nichtreduktive Naturalisten gehen von einer naturalistischen Weltsicht aus, wonach alles, was existiert, empirischer Forschung prinzipiell zugänglich ist.243 Ihnen zufolge gehören moralische Eigenschaften zur natürlichen Welt. Dies impliziert jedoch nicht, dass sie identisch sind mit anderen Eigenschaften, die wir mit Hilfe nichtmoralischer Ausdrücke herausgreifen.244 Zu dieser Auffassung, dass moralische Eigenschaften zu den Eigenschaften der natürlichen Welt gehören, führen Überlegungen über die kausale Rolle von Eigenschaften. Wenn moralische Eigenschaften eine nichteliminierbare Rolle in Erklärungen einnehmen können, so ist dies ein guter Grund anzunehmen, dass es sie gibt und dass sie zu den Bausteinen unserer natürlichen Welt gehören.245 Nun könne man leicht Erklärungen finden, in denen das moralische Gut243

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Als Hauptvertreter dieser Richtung, die nach der Cornell University auch „Cornell Realismus“ genannt wird, gelten Richard Boyd, Nicholas Sturgeon und David Brink. Siehe dazu: Miller 2003, 138-177. Sturgeon 2006a, 99: „[…] there is no assurance that, if ‚good‘ or some other transparently ethical term stands for a natural property, this must be a property that we can (or even will be able to) also represent with nonethical terminology.“ Ebenfalls Copp 2004, 7: „Moral Naturalism holds that in thinking of things as morally right or wrong, good or bad, we ascribe moral properties to these things – properties such as moral rightness and wrongness, goodness and evil. It holds that there are such properties, and it adds that these properties are ordinary gardenvariety natural properties – properties that have the same basic metaphysical and epistemological status as the properties a tree can have of being deciduous, and the property a piece of paper can have of being an Australian twenty dollar bill.“ Sturgeon 2006, 100-101: „[…] a philosophical naturalist will believe that the mere fact that a property plays a causal role in the natural world provides a good reason for thinking that it is itself a natural property.“

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sein, die Gerechtigkeit oder die moralische Verkommenheit als Ursachen für irgendwelche Vorkommnisse fungieren. Warum haben die Jugendlichen die Katze mit Benzin übergossen und angezündet? Weil sie moralisch verkommen sind. Warum gibt es Aufstände in Lybien? Weil das Regime ungerecht ist. Ich habe mich bereits in Abschnitt 10.4 kritisch zur Ansicht derartiger Erklärungen sowie zur kausalen Rolle moralischer Tatsachen geäußert. Wenn man diese Ansicht, dass moralische Tatsachen eine kausale Rolle spielen, ablehnt, bleibt immer noch der klassische Nichtnaturalismus à la Moore und Ross übrig. Moralische Eigenschaften sind ihnen zufolge Eigenschaften sui generis. Das heißt nicht, dass man sich darunter völlig ausgefallene, weltfremde Entitäten vorstellen muss. Sie sind Teil unserer Welt, und wir sind täglich dutzende Male mit ihnen konfrontiert. Moralische Eigenschaften sind abhängig von und konstituiert durch nichtmoralischen Eigenschaften. Wir schreiben moralische Eigenschaften Handlungen und Personen zu und bewerten sie dadurch moralisch. Das Spezifische moralischer Tatsachen besteht darin, moralische Eigenschaften zu exemplifizieren, Eigenschaften, auf die wir allein durch deontische, moralisch wertende und dicke moralische Ausdrücke Bezug nehmen können. Als solche weisen moralische Tatsachen die Eigenart auf, einen normativen Zug zu haben. Dieses Merkmal zeichnet sie aus und macht sie zu dem, was sie sind. Diese Eigenart hat Mackie als abartig empfunden. Abartig ist sie aber nur relativ zu einer engen empiristischen Weltanschauung. Eine offenere Zugangsweise sollte auch Lebenserfahrungen im weiteren Sinn ernst nehmen, unter anderem die moralische Erfahrung, aufgrund der uns bestimmte Sachverhalte mit einem normativen Zug erscheinen.

Abkürzungsverzeichnis A, B, C BÜ F FE GR HG E-Gründe K KE KI KLU M MU MN MÜ SF p, q, r pm pam psm p¬m S Ü Üp Üpam Üpsm Üp¬m x, y

Prädikate Brückenüberzeugung Fundamentismus Fundamentismus in der Ethik Goldene Regel Humes Gesetz Epistemische Gründe Kohärentismus Kohärentismus in der Ethik Kategorischer Imperativ Klugheitsthese Maxime Universalisierte Maxime Moralischer Nihilismus Metaüberzeugung Starker Fundamentismus Propositionenvariable moralische Proposition allgemeine moralische Proposition singuläre moralische Proposition nichtmoralische Proposition Erkenntnissubjekt/erkenndende Person Überzeugung Überzeugung, dass p Überzeugung allgemeinen moralischen Inhalts Überzeugung singulären moralischen Inhalts Überzeugung nichtmoralischen Inhalts Individuenvariable

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Personenverzeichnis Alston 23, 37, 38, 45, 48, 49, 50, 51, 54, 55, 56, 142, 143, 144, 153, 164, 183 Anscombe 30, 35 Aristoteles 34, 35, 36, 93, 99, 105, 119, 154, 158, 159 Audi 23, 41, 47, 95, 96, 98, 107 Ayer 19 Badura 77 Baehr 153, 154, 161 Bartelborth 69 Bealer 108, 109, 110 Beauchamp 59 Bentham 62 Blackburn 21 BonJour 54, 83 Boyd 193 Brendel 38 Brentano 120, 121, 122 Brink 77, 192, 193 Chappell 102 Childress 59 Copp 192, 193 Currie 118 Czaniera 12 D’Arms 125 Dancy 192 Daniels 77, 83 Davies 115 De Sousa 125 Dirlmeier 34, 35

Döring 125, 129 Dostojewskij 146, 147 Ernst 12, 15, 179 Gensler 65, 66, 72 Gibbard 21 Goldman 115, 140, 142, 153 Gordon 117 Greco 57, 150, 151, 152, 153 Grundmann 52, 55, 140, 167 Habermas 36, 37, 38 Haidt 126 Halbach 23 Hare 20, 63, 82, 116, 117 Harman 104, 173, 174, 175, 176 Hedrich 70 Herodot 179 Holton 116 Hookway 153 Huemer 108, 110, 111, 177 Hume 65, 75, 169 Jackson 189, 190, 191 Jacobson 125 Kant 27, 73, 74, 75, 76, 130, 133 Koppelberg 115, 118 Kutschera 21, 27, 65, 177 Langton 116 Lehrer 54 Lemos 41, 85, 96, 122, 134, 135, 176, 177 Lenzen 115 Loeb 177

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Lycan 133 Mackie 39, 40, 41, 42, 172, 173, 176, 177, 180, 181, 194 Majors 187 McGinn 114 McGrath 102, 104 McMahan 76 Mill 62 Miller 63, 193 Montmarquet 153 Moore 63, 89, 90, 194 Mulligan 123, 131 Nagel 115 Nelson 65 Neurath 71 Nichols 113, 115 Niederbacher 12, 33, 57, 120, 155, 162, 175, 185, 187 Oddie 133, 134, 135, 136, 147 Olsson 77 Parfit 177, 190 Peacocke 125, 129 Plantinga 52, 53, 153, 170 Pollock 52, 53 Puntel 33, 41 Quine 71 Radtke 109 Ravenscroft 118 Rawls 76 Roberts 125, 153 Ross 89, 90, 91, 92, 93, 94, 95, 98, 99, 194 Rudder Baker 192 Sayre-McCord 13, 69, 77, 80, 81, 83

Scarano 20, 31 Schaber 27, 39 Scheler 131 Schopenhauer 94 Shafer-Landau 13, 21, 29, 95, 139, 140, 141, 148, 149, 177, 182, 183, 190, 192 Sidgwick 106 Sinnott-Armstrong 39, 41, 65, 70, 80, 81, 84, 85, 167, 168, 172, 180 Smith, Adam 112, 113, 120 Smith, Michael 187, 188 Solomon 124 Sosa 57, 108, 152, 153 Stevenson 19 Stone 115 Sturgeon 104, 175, 193 Swinburne 45, 51 Tarkian 37, 42 Tenenbaum 133 Thagard 77, 78, 79 Thomas von Aquin 88, 89, 130, 154, 155, 156, 157, 158, 159, 160, 161, 162 Thomson 104 Turri 46, 151 Vendler 114, 117 Weidemann 35 Williams 26 Wolf 34, 36 Wood 153 Zagzebski 57, 125, 127, 152,153