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English, French, German Pages 75 [78] Year 1978
Tübinger Europa-Colloquium aus Anlaß des 500jährigen Jubiläums der Eberhard·Karls-Universität
Tühinger Schriften zum internationalen und europäischen Recht Herausgegeben von Thomas Oppermann, Tübingen
Band 7
Tübinger Europa-Colloquium aus Anlaß des 500jährigen Jubiläums der Eberhard-Karls-Universität veranstaltet von
Minister Eduard Adorno für die Landesregierung Baden·Wiirttemberg
Universitätspräsident Adolf Theis für die Eberhard-Karls·Universität Tübingen
Oberbürgermeister Dr. Eugen Schmid für die Europa-Stadt Tübingen
IN WELCHES EUROPA FITHREN DIE DIREKTWAHLEN? - Perspektiven künftiger Verantwortung Herausgeber
Thomas Oppermann o. Profeuor an der Universität Tübingen
DUNCKER &
HUMBLOT
/
BERLIN
Redaktion: Wissenschaftlicher Assistent Werner Hiermaier, Universität Tübingen
Alle Rechte vorbehalten & Humblot, Berlln 41 Gedruckt 1978 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlln 61 Printed in Germany
© 1978 Duncker
ISBN 3 428 04165 8
Vorwort Im Jahre 1977 feierte die Eberhard-Karls-Universität Tübingen ihr 500jähriges Jubiläum. Eingedenk der Tatsache, daß die Gründung der Eberhardo-Carolina schon durch die päpstliche Mitwirkung, wie im Mittelalter üblich, übernationalen und europäischen Charakter hatte, ergab sich zunächst 1976 in Vorgesprächen zwischen Minister Eduard Adorno, dem baden-württembergischen Landesbeauftragten für die Direktwahl zum Europäischen Parlament, Universitätspräsident Adolf Theis und Studiodirektor Dr. Hubert Locher, dem Leiter des Südwestfunkstudios Tübingen, die Idee, der Eröffnung der Jubiläumswoche im Oktober 1977 einen europäischen Akzent zu geben. Was lag näher, als in diesem Zusammenhang in einem grundsätzlichen Sinne an das große Unternehmen der heranrückenden Direktwahlen zum Europäischen Parlament zu denken? In einem Gesprächskreis, dem außer den drei Genannten die Tübinger Professoren Theodor Eschenburg, Rudolf Hrbek, Johannes Neumann, Thomas Oppermann und Ludwig Raiser sowie Oberbürgermeister Dr. Eugen Schmid, Tübingen, angehörten, konkretisierte sich dann die Idee des Tübinger Europa-Colloquiums "In welches Europa führen die Direktwahlen? -Perspektiven künftiger Verantwortung". Erfreulicherweise gelang es, aus vielen Ländern der Europäischen Gemeinschaft, aber auch des "größeren Europas" sachkundige Politiker und Wissenschaftler zu gewinnen, die dem Colloquium im geographischen Sinne wie nach der Beteiligung der "großen politischen Familien" Westeuropas Repräsentativität verliehen. Die Landesregierung von Baden-Württemberg, die Universität Tübingen und die Universitäts- und Europastadt Tübingen haben das Colloquium durch den engagierten Einsatz zahlreicher Mitarbeiter in Vorbereitung und Durchführung wesentlich gefördert. Finanziell ermöglichte Minister Adorno für die Landesregierung das Zustandekommen des Colloquiums, die Universität Tübingen die Drucklegung seiner Ergebnisse. Veranstalter und Herausgeber sind dem Südwestfunk Baden-Baden für die Fernseh-Übertragung großer Teile des Europa-Colloquiums am Abend des 7. Oktober 1977 im Dritten Programm mehrerer Rundfunkanstalten sehr zu Dank verbunden, ebenso dem Europäischen Parlament Luxemburg/Straßburg für die freundliche und großzügige Hilfe seiner Parlamentsdolmetscher.
Vorwort
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Möge der Geist allseitiger bester Zusammenarbeit im Dienste des Anliegens des Colloquiums ein gutes Omen für die Europäischen Direktwahlen sein! Tübingen, im Frühjahr 1978 Thomas Oppermann
Inhaltsverzeichnis Veranstalter und Diskussionsteilnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Eröffnung des Europa-Colloquiums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 I. Teil des Europa-Colloquiums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 II. Teil des Europa-Colloquiums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Rednerverzeichnis
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Sachverzeichnis
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Veranstalter und Diskussionsteilnehmer am Tübinger Europa-Colloquium Eduard Adorno
Minister für Bundesangelegenheiten des Landes BadenWürttemberg, Landesbeauftragter für die Direktwahl zum Europäischen Parlament, Stuttgart I Bonn
Giovanni Bersani
Senator, ehern. Vizepräsident des Europäischen Parlaments, Rom I Luxemburg
Kurt Biedenkopf
Professor für Rechtswissenschaft, Mitglied des Deutschen Bundestages, Bonn
Theodor Eschenburg Professor für Politikwissenschaft, Staatsrat, Tübingen Per Federspiel
Minister a. D., ehern. Präsident der Beratenden Versammlung des Europarates, Kopenhagen I Straßburg
Hans Gresmann
Stellvertretender Chefredakteur beim Südwestfunk, Baden-Baden
Rudolf Hrbek
Professor für Politikwissenschaft, Tübingen
Bruno Kreisky
Bundeskanzler der Republik Österreich, Wien
Jacques Latscha
Professor für Rechtswissenschaft, Mitglied des Vorstandes der französischen Zentrumsunion, Poitiers I Paris
Johannes Neumann
Professor für Kirchenrecht, Tübingen
Thomas Oppermann Professor für Rechtswissenschaft, Tübingen (Gesprächs-
leitung)
Pierre Pescatore
Richter am Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, Luxemburg
Eugen PusiC
Professor für Rechtswissenschaft, Zagreh
Ludwig Raiser
Professor für Rechtswissenschaft, Präsident der Europäischen Rektorenkonferenz, Tübingen
JeanRey
Ehern. Präsident der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Präsident des Rates der Europäischen Bewegung, Brüssel
Eugen Schmid
Oberbürgermeister der Universitätsstadt Tübingen
Sergio Segre
Mitglied der italienischen Abgeordnetenkammer, Rom
Adolf Theis
Präsident der Universität Tübingen
Sir Harold Wilson
Ehern. Premierminister des Vereinigten Königreiches, London
Eröffnung Adorno:
Exzellenzen, Magnifizenzen, meine sehr verehrten Damen und Herren aus Europa! Am 20. September 1976, also vor gut einem Jahr, hat der Ministerrat der Europäischen Gemeinschaften die Dokumente für die formellen Voraussetzungen zur Durchführung der Direktwahl des Europäischen Parlaments verabschiedet. Nach 25 Jahren Integrationspolitik werden die Völker im kommenden Jahr erstmals direkt am Aufbau und der Weiterentwicklung Europas beteiligt. Die Landesregierung Baden-Württemberg, die mich zu ihrem Beauftragten für die Direktwahl bestellt hat, sieht in dieser unmittelbardemokratischen Legitimation des Europäischen Parlaments eine große Chance für die Neubelebung der europäischen Einigungsidee. Sie wird alles in ihren Kräften Stehende unternehmen, um eine weit verbreitete Resignation abzubauen und die Wahl in Baden-Württemberg zu einem Erfolg werden zu lassen. Ohne eine europäische Diskussion in allen grundlegenden Fragen zwischen Staat und Bürger werden wir jedoch keine Fortschritte erzielen. Die Universität und die Europastadt Tübingen waren sich mit mir einig, daß auch hier und heute die Diskussion geführt werden muß. Die Eberhard-Karls-Universität bettet in ihrem Selbstverständnis das Halbjahrtausendereignis in das Kontinuum von Rückblick, Aktualität und Ausblick ein. Zu diesem Selbstverständnis gehört auch die europäische Dimension des Denkens. Daher wurde dem Jubiläum in sichtbarer Weise ein entsprechender Akzent gegeben. Die Fragestellung umfaßt den Bereich der neun Staaten der Europäischen Gemeinschaften, weist aber darüber hinaus auf europäische Gesamtaufgaben hin, die allen relevanten politischen und gesellschaftlichen Gruppierungen in Europa aufgetragen sind. Dementsprechend setzt sich das Colloquium aus Teilnehmern zusammen, die sowohl aus dem Gebiet der Neun als auch aus anderen Staaten kommen. Das rege Interesse der Gesprächsteilnehmer, der zahlreichen Gäste aus vielen Ländern und der Medien läßt ahnen, daß eine tiefgreifende Bereitschaft besteht,
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die europäischen Fragen offenzulegen und die europäischen Probleme mit Tatkraft, Ideenreichtum und Zuversicht einer Lösung zuzuführen. Im selben Jahr nun, in dem die Universität Tübingen ihre Festwoche mit der imposanten Zahl 500 begeht, hat auch unser Bundesland Baden-Württemberg Geburtstag. Wenngleich sich seine 25 Jahre gegen das Halbjahrtausend bescheiden ausnehmen, feiern wir das Landesjubiläum nicht ohne Stolz. Der "Südweststaat" ist ein Beispiel dafür, daß ein Länderzusammenschluß ohne politische oder wirtschaftliche Bevormundung eines Landesteils zum Nutzen und Wohle des Gesamtstaates keine Utopie ist. Der Weg in den Jahren 1950 bis 1952 zum Zusammenschluß der ehemaligen Länder Württemberg-Baden, Württemberg-Hohenzollern und Baden zu einem einheitlichen Staatswesen war schwierig und mühselig, da die Beteiligten nicht frei von Mißtrauen waren und ein großes wirtschaftliches Gefälle zwischen dem Norden und Süden bestand. Wir müssen bis zur Stauferzeit und bis zum Stammherzogtum Schwaben zurückgehen, um eine vergleichbare Einheit im Südwesten der Bundesrepublik Deutschland wiederzufinden. Gleichwohl ist die Einigung geglückt. Aus eher bescheidenen Anfängen ist eines der wirtschaftsstärksten Länder der Bundesrepublik mit der höchsten Industrialisierungsdichte in Deutschland geworden. Europa steht bei uns nicht nur bei feierlichen Anlässen hoch im Kurs, sondern ist ein Stück Alltagspolitik. Durch unsere stark exportorientierte Wirtschaft gibt es tagtäglich tausendfache Kontakte und Verknüpfungen mit Europa. Baden-Württemberg hat zudem die längsten Grenzen zum EG-Bereich und lange gemeinsame Grenzen zur Europäischen Freihandelszone. Grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit Frankreich, Österreich und der Schweiz wird seit Jahren auf allen politischen Ebenen erfolgreich praktiziert. Die Landesgeschichte Baden-Württembergs verstärkt unsere Zuversicht, trotz aller Skepsis und Schwierigkeiten auf ein Weiterwachsen Europas zu vertrauen. Meine Damen und Herren, ich heiße Sie nun alle herzlich willkommen beim Europa-Colloquium zum Auftakt der 500-Jahr-Feier der Eberhard-Karls-Universität Tübingen und freue mich, daß Sie in so großer Zahl Ihr Interesse an der Direktwahl und der Weiterentwicklung Europas bekunden. Ein besonderer Gruß und ein herzliches Wort des Dankes gilt allen auswärtigen und Tübinger Teilnehmern hier auf dem Podium. Wir haben eine Sitzordnung nach einem System gewählt, das eine besonders lange europäische Tradition hat und ein herausragender Mittler europäischen Denkens ist: Ich meine das Alphabet. Dabei haben wir uns die kleine Modifizierung erlaubt, daß die Gesprächsteilnehmer
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der Tübinger Universität die auswärtigen Gäste sowie die Moderatoren in ihre Mitte genommen haben. Ich darf in der dargestellten Reihenfolge nunmehr als Gäste vorstellen und begrüßen: Aus Italien, dem wir Baden-Württemberger gerade im Stauferjahr besonders verbunden sind, Herrn Senator Giovanni Bersani, bis März 1977 Vizepräsident des Europäischen Parlaments; aus Deutschland Herrn Prof. Dr. Kurt Biedenkopf, MdB, bis Frühjahr dieses Jahres Generalsekretär der CDU; aus Dänemark, dem wichtigen Bindeglied zu den skandinavischen Ländern, Herrn Per Federspiel, langjähriges Mitglied der Beratenden Versammlung des Europarates und ihr Präsident, sowie Abgeordneter des Europäischen Parlaments in der schwierigen Übergangsphase; aus Österreich, das mit unserer Geschichte in guten und bösen Tagen eng verflochten ist, Herrn Bundeskanzler Dr. Bruno Kreisky; aus Frankreich, aus dem die Idee der Gewaltenteilung stammt, Herrn Prof. Dr. Jacques Latscha, Dekan der Juristischen Fakultät der Universität Poitiers; aus Luxemburg, dem Sitz des Gerichtshofes der EG und dem Verwaltungssitz des Europäischen Parlaments, Herrn Prof. Dr. Pierre Pescatore, Richter am EG-Gerichtshof und ehemaliger Tübinger Jurastudent; aus Jugoslawien, das u. a. über seine Arbeitnehmer viele Kontakte zu den EG-Ländern aufrecht erhält, Herrn Prof. Dr. Eugen Pusic, Ordinarius für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Zagreb; aus Belgien, dem Sitz der Kommission und der NATO, Herrn Dr. Jean Rey, von 1967 bis 1970 Präsident der EWG-Kommission; ebenfalls aus Italien Herrn Sergio Segre, Mitglied der Italienischen Abgeordnetenkammer, und aus Großbritannien, dem Mutterland der Demokratie, Sir Harold Wilson, langjähriger Premierminister des Vereinigten Königreichs, Member of Parliament. Von der Tübinger Universität nehmen als Disputanten teil: Herr Professor Theodor Eschenburg; Herr Professor Rudolf Hrbek; Herr Professor Johannes Neumann und Herr Professor Ludwig Raiser. Ebenfalls zur Tübinger Ordinarienrunde gehört Herr Professor Thomas Oppermann, der das Gespräch leiten wird. Als weiteren Moderator und namhaften Fernsehjournalisten begrüße ich Herrn Chefredakteur Hans Gresmann vom Südwestfunk Baden-Baden.
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Und nun darf ich mich unserem großen Zuhörerkreis zuwenden. Ich möchte noch einmal betonen, wie sehr wir uns über das starke Echo freuen, das unser Europa-Colloquium ausgelöst hat. Sicher verstehen Sie meine Bitte, meinen Gruß an Sie alle als ein herzliches Willkommen für jeden einzelnen entgegenzunehmen. Zahlreiche Mitglieder des Europäischen Parlaments, des Deutschen Bundestages und des Landtages von Baden-Württemberg repräsentieren die gesetzgebende Gewalt. Ich heiße Sie alle willkommen. Als Stellvertreter des Herrn Ministerpräsidenten begrüße ich den Kultusminister von Baden-Württemberg, Herrn Professor Dr. Wilhelm Hahn. Ich freue mich, als Vertreter des Herrn Bundesaußenministers Frau Staatsminister Dr. Hildegard Hamm-Brücher begrüßen zu dürfen. Aus München ist Herr Staatsminister Dr. Karl Hillermaier zu uns gekommen. Herzlich willkommen! Ich begrüße die Herren Staatssekretäre aus Baden-Württemberg. Seine Exzellenz, den Griechischen Botschafter, Herrn Aristoteles Phrydas, seine Exzellenz, den Schweizerischen Botschafter, Herrn Dr. Michael Gelzer, und den Geschäftsträger der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien, Herrn Gesandten Djordje Stojkovic, heiße ich herzlich willkommen. Den Mitgliedern des Consularischen Corps gilt mein weiterer Gruß. Ich begrüße zahlreiche Rektoren und Universitätspräsidenten aus dem In- und Ausland. Ich begrüße die Herren Ministerialdirektoren und die Herren Präsidenten der Bundes- und Landesbehörden. Die Vertreter der Dritten Gewalt in Bund und Land haben in großer Zahl ihr Interesse an Europa bekundet. Herzlich willkommen! Die Kirchen und die gesellschaftlichen Verbände beehren uns durch hervorragende Persönlichkeiten. Ich begrüße Sie ebenso herzlich wie die Repräsentanten der Wirtschaft und der Gewerkschaften. Ein weiterer Gruß gilt den Herren Vertretern der Bundeswehr und unserer verbündeten Streitkräfte. Ich begrüße den Herrn Präsidenten des Landkreistags und mit ihm die Herren Landräte. Ebenso gilt mein herzlicher Gruß den Herren Oberbürgermeistern und Bürgermeistern. Den Damen und Herren von Presse, Rundfunk und Fernsehen gilt mein besonderer Gruß und Dank, denn sie begleiten mit Interesse und Aufmerksamkeit unsere Veranstaltung. Ich möchte meine Begrüßung nicht schließen, ohne der EberhardKarls-Universität, der Europastadt Tübingen, den Damen und Herren, die für uns dolmetschen, und allen Helfern ein herzliches Wort des Dankes für ihre Mitwirkung bei der Vorbereitung und Durchführung dieses Colloquiums zu sagen.
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Meine Damen und Herren! Als vor genau 500 Jahren die Universität Tübingen gegründet wurde, kamen aus vielen europäischen Ländern Professoren und Studenten und brachten als geistiges Startkapital europäisches Denken in die Hochschule am Neckar ein. Lassen Sie uns heute gemeinsam dieses Kapital aufstocken.
Theis: Herr Bundeskanzler Dr. Kreisky, Sir Harold Wilson, Herr Kultusminister, meine Herren Minister, Frau Staatsminister, Exzellenzen, meine Damen und Herren Abgeordneten, liebe Freunde und Angehörige der Universität und liebe Kollegen! Die Eberhard-Karls-Universität Tübingen möchte aus Anlaß ihres 500jährigen Gründungsfestes mit diesem Europa-Colloquium einen bewußten Akzent setzen, einen Akzent auf die Zusammengehörigkeit und das Aufeinanderangewiesensein in einem Europa, das nur allzulange in nationalen Egozentrismen verhaftet, in einem sterilen Gegeneinander erstarrt sich seines gemeinsamen Schicksals und seiner schicksalhaften Gemeinsamkeit nicht bewußt war. Wer mag uns dabei verdenken, wenn wir mit ganz besonderer Freude und Dankbarkeit unsere ausländischen Gäste auf dem Podium und im Auditorium begrüßen, die durch ihre Anwesenheit bei diesem Universitätsjubiläum dokumentieren, daß der Begriff der Universitas Litterarum eine über die nationalen Grenzen hinausgehende europäische Aussage und Wirkung entfaltet. In gleicher Weise freuen wir uns, daß wir unseren ausländischen Gästen deutsche Gesprächspartner aus unserer Universität an die Seite stellen konnten, die sich bereits seit langen Jahren auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Zusammenarbeit in Europa besonders ausgezeichnet haben. Die Geschichte Europas lehrt uns, neben all den dunklen und leidvollen Erfahrungen, daß dort, wo eine echte europäische Zusammenarbeit stattgefunden hat, nämlich in der Wissenschaft, wirklich Bewegendes vollzogen worden ist. Die Schaffung etwa eines neuen Weltbildes und der Beginn des industriellen Zeitalters gehen beide auf die wissenschaftliche Leistung zurück. Man könnte die Wissenschaft demnach ohne Zwang als die erste multinationale Einrichtung bezeichnen; an dieser Einrichtung hat die Universität Tübingen in ihrer langen Geschichte in mannigfaltiger Weise mitgewirkt. Nicht immer freilich konnte sich der Gedanke der die Grenzen der Weltanschauung überschreitenden Wissenschaft frei von
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Zwängen in unserem Land entfalten. Manches Mal hat auch hier der Provinzialismus mehr gegolten. So mag es auch an einem Novembertag des Jahres 1588 gewesen sein, als ein etwa 40jähriger Südländer namens Giordano Bruno in Tübingen eintraf und sich um eine Privatdozentur an unserer Universität bewarb. Giordano Bruno, dessen wissenschaftliches Wanderleben über Neapel, Rom, Genf, Lyon, Toulouse, Paris, London, Oxford, Mainz, Marburg und Wittenberg nach Tübingen führte, wurde damals vom Senat der Universität abgewiesen. Dies war eine vermutlich finanziell begründete Entscheidung, die in der Folge eine Begegnung etwa zwischen Giordano Bruno und dem jungen Kepler, der knapp ein Jahr nach dieser Episode sein Studium in Tübingen aufnahm, verhinderte. Die Vita Giordano Br~nos, ein Gleichnis für den Internationalismus der Wissenschaft und ihre möglichen Hemmnisse, führt mich zum Ende dieser einleitenden Worte dazu, die Hoffnung auszudrücken, daß dieses Europa-Colloquium ein hilfreicher Beitrag sein möge, das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit Europas zu stärken und Wege zur Lösung der bestehenden Probleme zu finden, und hier vor allem daran zu denken, daß europäische Kooperation und Integration in allererster Linie Fragen der Bereitschaft zum Zusammenleben, nicht aber der politischen Richtungen sein sollten. Vor allem in diesem Sinne wünsche ich diesem Colloquium einen erfolgreichen Verlauf!
Schmid: Herr Bundeskanzler, meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Bild der Stadt Tübingen ist facettenreich. Die Universität, gegründet in dem Jahre, in dem mit Kar! dem Kühnen eine der faszinierendsten Persönlichkeiten der europäischen Geschichte und mit ihm Burgund vor den Toren von Nancy zugrunde gingen, die Universität dominiert in dieser Stadt. Sie hat den Nährboden bereitet, auf dem nach den fundamentalen Erschütterungen, die der Zweite Weltkrieg diesem Kontinent zufügte und an denen besonders wir Deutschen heute noch leiden, die Europastadt Tübingen wachsen konnte. Seit 1951 ist Tübingen Mitglied im Rat der Gemeinden Europas. Durch ihre Bemühungen um die europäische Idee und für die erfolgreiche partnerschaftliche Zusammenarbeit mit Gemeinden, Städten und Grafschaften in der Schweiz, in Frankreich und in England hat die Stadt den Europapreis für das Jahr 1965 verliehen bekommen. Diese Partnerschaften, meine Damen und Herren, sind voller Leben. Sie haben sich, über die offiziellen Kontakte hinaus, aufgefächert und sind in vielfältigen Verbindungen von Verein zu Verein, von Mensch zu Mensch verankert.
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Europa ist in Tübingen zuhause: das Centre Culturel Franco-Allemand, das Deutsch-Amerikanische Institut, das Europa-Zentrum und andere internationale Organisationen leisten in dieser Stadt und darüber hinaus nüchterne Basisarbeit für ein friedliches und freiheitlich-demokratisches Europa. Die Bundesrepublik Deutschland ist neuerdings in manchen Nachbarländern ins Zwielicht geraten. Die Gewaltakte, scheinbar politisch, und die Behandlung und Verfolgung der Terroristen einerseits, der Fall Kappier und der Hitler-Film andererseits haben Emotionen geweckt und Vorurteile aufleben lassen. Es gab Berichte, die eine Faszination von Blut und Gewalt offenbar werden ließen, eine eklatante Verschlechterung jenes Bereichs, den man intellektuelle Moral oder intellektuellen Dialog nennen mag, war zu spüren. Aber dieses Deutschland, meine Damen und Herren, das wir mitrepräsentieren, das wir auf den Trümmern einer verbrecherischen Politik mit aufgebaut haben und zu dem auch unsere junge, nach dem Krieg geborene Generation bei aller Kritik und bei allem berechtigten Mißtrauen steht, dieses Deutschland ist nicht in Gefahr, in aggressiver Weise nach rechts oder nach links abzudriften. Es gibt keinen demokratischen Erosionsprozeß, und die überwältigende Mehrheit unseres Volkes wird es nicht zulassen, daß Fanatiker und Wahnsinnige den Faschismusknüppel aus dem Sack holen. Ich bin überzeugt, daß unsere Freunde in den Partnerstädten diese Erkenntnis teilen. Die zahlreichen persönlichen Begegnungen tragen ihre Früchte. Gleichwohl, vielen fällt es schwer, sich mit Europa zu identifizieren. Wo sind die Bezugspunkte des Bürgers, des Mannes von der Straße zu diesem Europa? Wo ist seine Hauptstadt? Wo Parlament, Exekutive, und Judikative? Wenn beispielsweise Aix-en-Provence oder Durharn für Tübingen vorstellbare Größen sind, wenn sich mit diesen Kommunen Namen und Menschen verbinden, wenn unsere Kinder mit 15 oder 20 Jahren per Autostop diese Regionen besuchen, dann ist das alles ein Schritt, ein notwendiger Schritt auf dem Wege nach Europa. Aber er genügt nicht. Städte und Gemeinden haben - wie so oft - die Arbeit angepackt, sie muß mit anderen Qualitäten fortgeführt werden. Burgund, jenes Mittelreich, wollte vor mehr als 500 Jahren eine Klammer zwischen Ost und West bilden. Burgund war der Versuch, Menschen und Völkerschaften mit verschiedener Sprache, Tradition und Kultur in einem neuen Staatswesen mit einheitlicher Verwaltung, Rechtspflege und Finanzwesen zu vereinigen und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit zu prägen. Burgund, meine Damen und Herren, Burgund ist aktuell!
2 Tübinger Europa-Colloqudium
Colloquium I. TEIL Oppermann:
Meine sehr verehrten Herren Diskussionsteilnehmer, meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich darf nunmehr die Diskussion eröffnen. - "In welches Europa führen die Direktwahlen? - Perspektiven künftiger Verantwortung" - so lautet unser Thema. Wir haben vereinbart, daß wir drei Hauptpunkte in einem grundsätzlichen politischen Sinne ansprechen wollen: Punkt 1: Die Institutionen Was bedeutet die Direktwahl für die Zukunft der europäischen Institutionen, also für die weitere Entwicklung des Europäischen Parlaments, des Ministerrats, der Europäischen Kommission und des Europäischen Gerichtshofes? Punkt 2: Die Politik Was können die innenpolitischen und die außenpolitischen Ziele einer Vertiefung der Europäischen Gemeinschaft über die Direktwahlen sein, also, mit anderen Worten, eine eventuelle gemeinsame Politik einer künftigen europäischen Union? Punkt 3: Die politischen Grundwerte Welche politischen Grundwerte, um mit dem Bericht des belgischen Ministerpräsidenten Leo Tindemans zu sprechen, welche . gemeinsamen Leitbilder sind eigentlich heute kennzeichnend für das Europa der Europäischen Gemeinschaft und natürlich auch darüber hinaus? Solche Leitbilder müßten ja eigentlich im ersten europäischen Wahlkampf 1978 oder 1979 sichtbar werden. Sehr verehrter Herr Präsident Rey, darf ich Sie im Sinne der ersten Frage ansprechen. Sie haben als Mitglied und als Präsident den inzwischen bereits legendären ersten Kommissionen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft durch viele Jahre wichtige Impulse gegeben. In dem Buche Ihres Kollegen und Freundes Walter Hallstein, der zu unserem großen Bedauern heute nicht hier sein kann, ,Die Europäische 2•
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Gemeinschaft' steht eine sehr wichtige Passage: "Politisch sind die Gemeinschaften Teil eines größeren Ganzen, Zwischenziel auf dem Wege zum Endziel. Dieses Endziel bleibt der Europäische Bundesstaat." Das war die klassische europäische Philosophie der fünfziger und beginnenden sechziger Jahre, die Philosophie, die etwa mit Namen wie Adenauer, De Gasperi, Robert Schuman, Paul-Henri Spaak u. a. verknüpft ist, eine Philosophie, mit der in der EWG viel bewirkt wurde, - der Aufbau der Zollunion, die gemeinsame Agrarpolitik, die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und vieles andere mehr. Kann man aber eigentlich heute im Jahre 1977 diese Direktwahl noch als Bruchstück dieser alten großen Konfession begreifen, in einem Europa, in dem man sich inzwischen in eher kleinlicher Weise um die Höhe des Butterberges, um die Größe der Schweinehälften oder, um etwas anderes zu nennen, um die Farbe eines europäischen Reisepasses zu streiten beginnt? Selbst Ministerpräsident Tindemans, überzeugter Föderalist, hat gesagt, Europa habe den Faden verloren. Trägt dieser alte Idealismus noch? Ein Zyniker meinte sogar, mit den Hoffnungen auf die Direktwahl sei es so, als wolle man einem Gelähmten mit Aspirin aufhelfen. Herr Präsident Rey, was ist Ihre Meinung zu diesen Fragen?
Rey: Herr Präsident der Universität, Herr Vorsitzender, meine sehr verehrten Damen und Herren! Wie uns Herr Professor eingeladen hat, will ich versuchen, meine Rede auf deutsch zu halten. Sie werden sehen, ob es möglich ist, das zu verstehen. Wie gesagt, ich ersetze hier meinen Freund, meinen sehr lieben Freund, Walter Hallstein, meinen Freund und meinen Vorgänger als Präsident der Kommission und meinen Vorgänger als Präsident der Europäischen Bewegung, der ich noch zur Zeit bin. In der Tat, zu Hallstein, zu dem wir große Dankbarkeit haben, kann ich nichts anderes sagen, als das, was ich vor zehn Jahren zu General de Gaullegesagt habe, als ich im Herbst 1967 meinen ersten Besuch als Präsident in den verschiedenen Hauptstädten, bei den ersten Ministern gemacht habe. Im Oktober habe ich einen Besuch im Elysee-Palast bei General de Gaulle gemacht, und da, wie jeder weiß, der General nicht ganz unschuldig an dem Rücktritt von Präsident Hallstein von seinem hohen Posten war, hielt ich es für absolut notwendig, dem General zu sagen, wie große Dankbarkeit wir in Brüssel für Hallstein hatten. "Monsieur
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le President, Präsident Hallstein ist der große Berater von dem großen Bundeskanzler Adenauer in europäischen Sachen gewesen, er war der Verhandler der Bundesrepublik für die drei Verträge von Paris und von Rom, er ist der erste Präsident in den ersten schwierigen zehn Jahren der europäischen wirtschaftlichen Gemeinschaft gewesen, und wir haben wirklich große Dankbarkeit für ihn." De Gaulle hörte das mit großer Courtoisie und großer Aufmerksamkeit und sagte zu mir: "Oui, oui, j'ai de la consideration pour le Professeur Hallstein" und dann beugte er sich auf sein Bureau und fuhr mit der Stimme eines französischen Adjutanten fort: "Entre nous," dit-il, "vous ne croyez pas qu'il etait reste assez longtemps?"- Was konnte ich antworten? Soviel zu Hallstein. Zweitens zu der Universität, die uns die Ehre gemacht hat, uns heute einzuladen. Ich glaube, die beste Definition der Universität habe ich im Zweiten Weltkrieg gehört durch einen Dean von Oxford. Er war Kriegsgefangener wie ich selbst in einem deutschen Lager, und er hatte uns erklärt, daß es im 1. Jahr des Ersten Weltkrieges 1914/15 in England noch nicht eine Wehrpflicht gab. So the recruting sergeants were occupied, I will tell that in English, they were occupied to recrute the boys in the street, and one day in the streets of Oxford, they met a post-graduate, with his cap sitting wonderfully and asked him: "Well, Sir, don't you want to join the Army to fight for the civilization?", and the boy proudly: "I am the civilisation for which they fight" ... Das sind Sie, Herr Präsident der Universität Tübingen, und ich glaube, keine von unseren europäischen Universitäten kann besser das vertreten als die uralte historische, modernisierte und ganz moderne Universität in Tübingen. Dann zu Ihrer Frage, Herr Präsident: Wo stehen wir? Wir stehen in der Situation, daß die Zeit der ganz unabhängigen Länder vorbei ist, langsam vorbei, aber vorbei. Es gibt noch in der Hauptversammlung der Vereinigten Nationen 150 sogenannte unabhängige Staaten. Das ist theoretisch. Die Vereinigten Staaten sind ein Kontinent, Rußland ist ein Kontinent, und auch die anderen haben angefangen, sich auf der Ebene der Kontinente zu organisieren. Die Europäer, die Lateinamerikaner, die Afrikaner. So langsam ändert sich unsere ganze Erde. Es ist sehr merkwürdig, daß wir als Erste in Europa angefangen haben, wir Europäer, in einem Teil der Welt, in welchem die verschiedenen Sprachen, die Kriege, die wir gegeneinander geführt haben, das wirklich schwieriger machen als vielleicht in den Vereinigten Staaten vor zwei Jahrhunderten. Doch es ist so, wir haben angefangen, wir sind auf dem Weg.- Was haben wir beschlossen? Wir haben beschlossen, daß unsere Gemeinschaft der Kern ist, und wir haben angefangen mit 6 Ländern. Die 6 Länder
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wollten das annehmen, gerade so wie die Schweiz mit 3 Kantonen angefangen hat - nun sind es 22. Die Amerikaner begannen mit 13 Staaten, sie sind 50 geworden. Wir haben mit 6 Mitgliedern angefangen, nun sind wir 9, und 3 andere möchten kommen, vielleicht auch noch mehr. Wir sind auf dem Weg, unseren Kontinent zu bauen. Welchen Kontinent? Eine Demokratie. Wir haben das zu General Franeo gesagt, wir haben das zu Papadopoulos gesagt. Eine Demokratie muß ein Parlament haben, ein Parlament muß ein gewähltes Parlament sein. Es ist so beschlossen vor 20 Jahren in Artikel 138 des EWG-Vertrages. Es dauerte etwas lange, das zu realisieren. Nun, diese Schwierigkeiten sind vorbei, alle unsere neun Staaten haben zusammen beschlossen, daß die Zeit gekommen ist. Sie haben das Datum gewählt, die Regierungen, nicht unser Europäisches Parlament in Straßburg, und sie haben gesagt, die Wahl wird im April oder Mai 1978 stattfinden. Wir sind auf dem Weg, ein wirkliches europäisches Parlament zu haben, und das ist natürlich ein wesentlicher Teil des Aufbaues eines demokratischen Europas. Oppermann:
Vielen Dank, Herr Präsident Rey, für diese Erklärung, die schon von der sprachlichen Seite her eine europäische Erklärung war. Darf ich Sie, Herr Premierminister Wilson, zu demselben Fragenkomplex ansprechen. Sie waren, wie wir alle wissen, derjenige, der mit dem zweiten Beitrittsantrag Großbritannien in die Gemeinschaft geführt hat, in Ihrer ersten Zeit als Premierminister. Sie waren gleichzeitig im Jahre 1975 derjenige, der Großbritannien durch die Veranstaltung des Referendums in der EWG gehalten hat. Aber ich habe in einer Zeitung auf der anderen Seite zum englischen Europabewußtsein einen Satz gelesen: "Soul remained unconvinced" -die Seele blieb unüberzeugt. Man könnte die Frage stellen, und manchmal außerhalb Großbritanniens stellt man sich diese Frage: War es eigentlich eine Liebesheirat oder war es eine Vernunftehe zwischen Großbritannien und der EWG? Sie kommen jetzt vom Labour-Parteitag in Brighton, der Anfang dieser Woche begann, und wir haben hier in der Presse gelesen, daß das Papier des Labour-Parteitages einerseits gesagt hat, England bleibt endgültig in der EWG, auf der anderen Seite als zweite Feststellung, es sind radikale innere Reformen der EWG nötig, und dort fiel auch der Satz: "Es ist notwendig, einen Kampf gegen zu starke föderalistische Tendenzen in der EWG zu führen." Darf ich die Frage vielleicht so stellen: Gehört eine Streichung der Direktwahl mit zu dem Kampf gegen die föderalistischen Tendenzen?
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Wilson:
Mr. President, JOmmg with my fellow-guests in congratulating the City and the University on their celebrations this week, I would like to begin by saying that, in my view, it is essential to establish the Parliament on the basis of direct elections, as we have all agreed over a period of time, by 1978. Indeed, I very much agree with Monsieur Jean Rey in what he said that any country which has signed the Treaty of Rome, which has joined its membership, is automatically committed by article 138, as he has said, to the creation of an elected, a directly elected European Parliament. That was my position as Prime Minister, once the issue of British membership had been made clear beyond all doubt. I should perhaps slightly correct something you said in your welcome to me: I was not the Prime Minister responsible for taking Britain into the EEC, that was in fact Edward Heath, but not only did my party disagree with some of the terms which were, from our point of view, succesfully renegotiated later, but we felt that the matter had never been adequately debated in Parliament or put to the British people. Hence the referendum! The then Foreign Secretary, now Prime Minister, and myself, who had been involved in the renegotiations, made a very firm recommendation to our Cabinet and to the House of Commons and to the People that in the referendum the vote should be 'YES'. Yes to continue membership of the Community, and we all went over the country campaigning, and we had a vote of more than 2:1 on a secret ballot of the British people, and the majority in favour was in fact higher in total votes than has ever been gained by any Parliament in the whole history of British democracy. So that was quite decisive, and with it came, as Monsieur Rey and I have both said, the implications for Parliament. As I understand the position, the bill will be introduced, - we had some trouble with it last year -, the bill will be introduced into the House of Commons at the beginning of the new session which starts in a month's time, and it will be a Government measure; a free vote will be allowed on one issue and that is as to the method of voting whether it should be direct, whether it should be, what wein Britain call "First past the post"; that is in each parliamentary constituency the chap who gets most gets into our Parliament whether he has got a plurality of the votes over all or not. That is one idea which is our traditional method. The other one is a regional list on a Iist-system, Operated by parties; and this will be decided in the Parliamentary votes. Now, I feel that this European Parliament is going to have a lot to do. I do not believe that its main task is just to sit there and say what
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fine chaps we all are and isn't it nice to be there and to be elected in our own right, and make a lot of vague speeches about Europe and not deal with some of the pressing problems of Europe. One of the problems that we see in our country is the need to have under the aegis of the Parliament a proper system for financial control, for the control of expenditure. Money is wasted on a prodigious scale in the Community. There is no adequate system of control, admittedly, I am prejudiced -, we have in our Parliament a body called Public Accounts Committee, which is the terror of the bureaucrats. I have known bureaucrats who were never frightened of any Minister, whoever walked in, but did not sleep the night before they came before the Public Accounts Committee. I was Chairman of it in its centenary year; it is an all-party committee; you never push a party point there, but it does have the right to query every penny of expenditure of the tax-payer's money. Now, I pressed this in a nurober of speeches as Prime Minister, and since so far as Europe is concerned they have got now a little tiddler of a Committee, a very small fish indeed, but nothing that it going to put the fear of God into anybody; until you do, you won't get expenditure under control. It is not that I want to cut down the expenditure radically. I would like to see it more usefully spent, because if you cut out waste, you can spend on other things, and, of course, it will have to Iook at the whole agricultural system. Nobody really, I hope, joined the Community with the idea of building all these mountains of butter and all the rest of it, which even when they get so big, we can't cut some bits down and send them to the poorer people in our countries. We give them away to the Soviet Union! I know nothing in the Treaty of Rome requiring that to happen. And it is not only mountains, we have got lakes, lakes of wine! I could think of a very good use to have that wine put to! - So let's have some control over expenditure, over the bureaucracy and the Commission. No one can criticize the bureaucracy for not genuinely seeking work. It is seeking work avidly all the time, not all of it vitally necessary. I think one of the mistakes is that we have, frankly, too many commissioners, and the amount of work sought by the bureaucrats there is as the square of the number of commissioners. I am not alone in this point of view. There was a proposal, Monsieur Rey will know, that we did discuss, - President Giscard, Chancellor Schmidt and myself -, it was a useful proposal to say that no country should have more than one commissioner, because four contries have two. I qualify to say that France, Germany, Italy and Britain should give up their extra-commissioner. There is no need for them, in my view, but
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whichever nation has the Presidence of the Commission should be allowed to have another commissioner during that period. I hope furthermore that the market has got over its standardization period. There was a time when we looked like having a common Eurosausage and we were not allowed to eat any other, the bread had to be the same. I like French bread, as weH as English bread sometimes. When we got to standardizing beer, I thought we were going to be in real trouble. I have had some excellent German beer since I came, and I like to drink it, but I like to have the choice as weH, wherever I go in Europe. But I think that standardization period has largely disappeared, if not, it will be the job of Parliament to watch it. But there are other areas, I think it was myself who took the initiative at the European Summit, what is now officially called the European Council, which started on President Giscard's initiative and has been very valuable for trying to settle disputes when they weren't settled by the Council of Ministers and elsewhere. That was a coming together to work together as a community to fight a problern which is not purely a national problem, but is a European and indeed an international problern - and that is the problern of violence and the movement of violent men from one part of Europe or of the world to another. Now, with regard to the European Union and the reference that has been made to federalism, it is a fact - as has been mentioned - that the Prime Minister in Britain a week ago sent a letter to the National Executive, proposing discussions with them on some changes, not in the Constitution of Europe, not in the Treaty of Rome, but in some of the working of it on a more informal basis, and also including a rejection, which I think most people in Britain, but not all, by any means do share, namely it becoming at some point totally federal and the superstate overriding all our separate countries and Parliaments. I referred just now to standardization, to the Euro-sausage and all these other things. I think, the appeal the Community has for very very many people in all our countries, including my own, is not a desire to see things standardized, but a desire to join something bigger which is distinguished by the wide variety of its cultures. It is a privilege for any British student to come to different European countries to be able to sample something of the art, the literature, the music, the philosophy, and to feel in this country for example that he is breathing the very air that Immanuel Kant was breathing, whom he has been studying with some difficulty in his own country. It is because of the differences of Europe that I think the amalgam of Europe becomes more attractive to the citizen of each individual
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country. So don't let us try and standardize and destroy or in any way diminish those qualities which each country can bring into the common undertaking; let us, on the contrary, seek to foster and encourage the development of small communities within the great Community, of characteristics of small areas as well as of nations. Let us do that, and then all of us will gain the more from our membership in the Community as a whole. Oppermann:
Vielen Dank, Herr Premierminister Wilson. Ich glaube, Ihre letzten Bemerkungen entsprachen ziemlich exakt unserem deutschen Verständnis des Föderalismus! Herr Gresmann, Sie hatten eine Zusatzfrage! Gresmann:
Ja, Sir Harold, ich glaube, damit wir uns nicht gleich am Anfang in die präzise Undeutlichkeit verlieren, müssen Sie sich eine kurze Frage gefallen lassen. Was bedeuten die Ankündigungen des britischen Premierministers und die Beschlüsse des Parteitages in Brighton, die auf eine, wie es heißt, "radikale Reform" europäischer Institutionen und Modelle hinauslaufen? Ganz konkret, bedeutet dies eine Verstärkung der schon vorhandenen und geplanten Integration, oder läuft dies auf eine Reduzierung hinaus? Wilson:
I think, it is very difficult for anyone always to be able to construe the decisions of the Labour Party Conference. I have been trying to do it for some 25 years, not least when I was Prime Minister; and I then interpreted the conclusions very very carefully in such terms as those which would enable the Government to get on with its job the better. I have no doubt that my successor, Mr. Callaghan, will so interpret these conclusions. And indeed, he seemed to be doing so in a broadcast in London last night. But with regard to the decision taken by Conference, a considerable proportion of my Party are against a continued membership- though obviously a majority of them must have voted for it in the national referendum. I think the resolution passed is what we call a composite resolution, that is an English mispronounciation which means 'it's all things to all men', and the composite resolution in fact enables those who are opposed to membership of the Community to get it off their chests and feel better for it. It does nothing, of course, to weaken the commitment made by the
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Government and by Parliament so far as membership is concerned. Mr. Callaghan's initiative in proposing 'let's get tagether about some things', weil, that is a proposal which I think is welcome, I hope the Community will never be unwilling to consider any suggestions for better working. I have mentioned some of these this afternoon, for example on control of expenditure and all that sort of thing. Mr. Callaghan, whose timing in circulating this was extremely relevant and well-calculated, recognizes that Britain is one of nine members and no changes will be made that are not agreed to by nine members. But he, like myself, and like some, but not all keen Europeans would like to see, of course, Europe further extended by the addition of other countries. W e would like to see Norway back, as it were, having lost that referendum, and of course there are other applicants which might take the numbers to twelve or thirteen. Some, I think, of the original founders are against this or are not very keen on it, on the ground that it will dilute the Community, as weil as creating problems for individual countries, for example in certain agricultural products. But, I think, the more we can widen the membership of Europe, the more we shall be able to fulfill some of the hopes which were expressed by Monsieur Jean Rey a few minutes ago. Oppermann:
Vielen Dank, Herr Premierminister. Herr Minister Federspiel, ich sehe, daß Sie sich zu dieser Frage auch äußern wollen. Bitteschön! Federspiel:
Das möchte ich sehr gerne. Ich sehe eigentlich nicht, daß ein großer Unterschied ist zwischen diesen Gedanken über Union, Föderation, Konföderation oder wie man das nennt. Eigentlich besteht ja eine ganz klare Trennung, zwischen dem, was den Gemeinschaften gehört und was den nationalen Parlamenten gehört. Deshalb bin ich auch gegen diese Diskussion über Doppelmandate und was das bedeutet. Das ist eine menschliche Frage, man kann nicht zwei solche Mandate ausüben. Aber zu dieser Frage der Entwicklung der Institutionen, da muß man ja immer damit rechnen, daß man in der Politik nicht die Buchstaben der Verträge in allen Situationen benutzen kann. Die Politik entwickelt sich dynamisch. Man darf natürlich nicht gegen die Verträge handeln, aber etwas passiert, was nicht vorausgesehen war, und etwas Neues ist in den letzten Jahren passiert, besonders seit 1970. Wir haben eine neue Institution geschaffen, nämlich den sogenannten Europäischen Rat, d. h . die Leiter der Regierungen treten zusammen, was wir popu-
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lär die Gipfeltreffen nennen. Das hat überhaupt keine Grundlage in dem Römischen Vertrag, das ist etwas ganz anderes als das, was wir in dem Ministerrat oder in der Kommission haben, und es hat besonders überhaupt keine Verbindung mit dem Parlament. Da gehe ich vielleicht etwas über das Thema hinaus, das Sir Harold Wilson erörtert hat, aber es hängt doch damit zusammen. Wir erinnern uns ja: Ich glaube dreimal haben diese Staatsleiter uns versprochen, vor 1980 eine echte europäische Union mit einer Zusammenarbeit aller unserer Verbindungen zu schaffen. Das ist heute nicht Realpolitik. Was sie aber geschafft haben, ist der Beschluß, die Direktwahlen im nächsten Jahre zu halten. Aber wie? Die Verbindung im Sinne eines echten demokratischen Dialogs zwischen diesem Rat, der versucht, eine gewisse Rolle zu spielen, und dem Parlament liegt im Augenblick im Unklaren. Deshalb stelle ich die Frage: Wer sollen eigentlich die Gesprächspartner des neuen Parlaments sein? Das neue Parlament, das hat genau dieselben Befugnisse wie heute. Es passiert nichts Neues mit der Macht des Parlaments nach 1978, aber es wird wahrscheinlich ein anderer Personenkreis sein. Das natürliche Organ für ein solches Parlament als Gesprächspartner wären eigentlich die Regierungschefs. Sie sollten z. B. zwei-, dreimal im Jahre zu einer Debatte mit dem Parlament zusammentreten. Dadurch würden diese Regierungschefs die Möglichkeit haben, eine wirkliche Sondierung über die europäische Union zu bekommen. Sonst haben sie nur einander und ihre eigenen Parlamente. Das genügt nicht. Warum denn? Wir haben ja versucht zu verstehen, warum diese Beschlüsse der Regierungschefs, die unter großer Publizität zusammentreten, eigentlich überhaupt keine Bedeutung haben und nur in einem Fall zu etwas geführt haben. Ich glaube, das liegt daran, daß sie keinen Apparat haben. Das andere im Römischen Vertrag ist durchdacht: Ministerrat, Kommission und Parlament. Das Parlament steht im Vertrag im ersten Rang, aber es hat bis jetzt nur eine sekundäre Bedeutung als Beratende Versammlung. Nun, was könnte man daraus machen? Es ist ganz notwendig, falls diese Gipfeltreffen institutionalisiert werden sollen, daß sie einen administrativen Apparat haben. Sonst geht es überhaupt nicht. Sie sitzen um einen Tisch, und es ist sehr wesentlich, daß sie einander kennenlernen, aber es kommt nichts heraus, wenn nicht eine Exekutive dazugehört. Deshalb wäre das das Erste, was das Parlament aufnehmen soll, wie man diese Gipfeltreffen, die wesentlich sein könnten, wirklich in Handlungen umsetzen kann. Nicht über den Kopf der Regierungen und der Kommission hinweg, aber doch so, daß diejenigen, die eigentlich politisch verantwortlich in ihren eigenen Ländern sind, die Möglichkeit haben, mit einem autono-
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men Europäischen Parlament wirklich Beschlüsse zu treffen. Vielleicht werden diese Beschlüsse nicht in allen Fällen angenehm für ihre eigenen Parlamente sein, gut, dann stellt man einen Mißtrauensantrag in den einzelnen Parlamenten. Aber das bedeutet nicht, daß die Beschlüsse nicht getroffen werden können und besonders, wie ich erwähnt habe, mit einem administrativen Apparat, der das durchführen kann. Oppermann:
Vielen Dank, Herr Minister Federspiel. Wenn ich es seinerzeit richtig verstanden habe, hat man allerdings den Europäischen Rat gerade deswegen gegründet, weil die Regierungschefs ohne Apparat einmal unter sich sein wollten. Aber vielleicht war das nicht die richtige Entscheidung. Federspiel:
Das war wohl richtig, aber das muß entweder weiterentwickelt werden oder als rein private Treffen ohne Öffentlichkeit behandelt werden. Oppermann:
Herr Professor Hrbek! Hrbek:
Sir Harold hat ja in einer für einen europäischen Parlamentarier sehr begrüßenswerten Klarheit gesagt, daß in diesem Europäischen Parlament nicht nur Reden, - Sonntagsreden -, gehalten werden sollten, sondern daß diese Parlamentarier die Aufgaben, die es hier in Europa gibt, anpacken sollten. Ich finde das eine sehr bemerkenswerte Aussage. Diese Aussage kontrastiert aber für mein Verständnis, wenn ich die Presseberichte über den vergangenen Labour-Parteitag noch einmal bemühen darf, ein bißeben mit der Grundeinstellung, die von vielen Vertretern dort vorgetragen wurde, nämlich, daß auf gar keinen Fall auch nur Elemente der nationalen Zuständigkeit und Verfügungsgewalt nach Luxemburg abdriften sollten. Ich glaube, man muß hier ganz einfach zu einer gewissen Konsequenz bereit sein. Wenn man der Auffassung ist, es gäbe einen Berg von Aufgaben in dieser Gemeinschaft und die europäische Parlamentarierversammlung in Luxemburg sei nun eine der Instanzen, die an der Lösung dieser Aufgaben mitzuwirken habe, dann sollte man nicht eine Reservatio mentalis mit sich herumtragen und sich weigern, diesem Europäischen Parlament - ich
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will nicht sagen, umfassende Kompetenzen im Sinne eines Bundesstaates zu geben, das wäre sicherlich Zukunftsmusik- aber doch mit einem gewissen Entgegenkommen eine Rolle als Mitspieler zu geben. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auf einen zweiten Punkt hinweisen: Es war hier davon die Rede, daß mehr kontrolliert werden müßte. Natürlich, wir sind das gewohnt, alle, die wir Parlamentarismus gelernt haben: Parlamente sind auch dazu da zu kontrollieren. Nur weiß ich nicht so recht, ob man das auch auf diesen Fall - die Entstehung des europäischen Parlamentarismus - in einfacher Analogie anwenden kann. Denn ich möchte einmal die Frage stellen: Wird denn eigentlich in der EG zu viel entschieden - und das unkontrolliert -, oder ist nicht gerade ein Mangel an Entscheidungen zu verzeichnen, nämlich an Entscheidungen, um mit Aufgaben fertig zu werden, um Probleme zu lösen! Ich bin der Auffassung, daß die Akzente, gerade was die Aufgaben des Europäischen Parlaments angeht, teilweise etwas schief gesetzt werden. Man sollte weniger auf das Element Kontrolle setzen und sehr viel stärker auf das Element, Entscheidungen herbeizuführen. Ein drittes: Man kann natürlich die Frage stellen, wäre denn ein solches Europäisches Parlament, direkt gewählt und vielleicht personell anders ausgestattet, mit prominenteren, bedeutenderen Persönlichkeiten bestückt, wäre denn ein solches Parlament überhaupt imstande, insbesondere wenn es etwas mehr an Kompetenzen hätte, seine Kompetenzen im Sinne von Entscheidungen zu nutzen? Wäre dieses Parlament, wenn ich das einmal auf diese Frage zuspitzen darf, überhaupt entscheidungsfähig? Das heißt ja, wäre es fähig, in den Fraktionen selbst einen Konsens zu finden, und wären die Fraktionen untereinander imstande, Koalitionen zu bilden, um eben dann solche Entscheidungen herbeiführen und mittragen zu können? Das hat noch nichts mit umfassenden Legislativbefugnissen zu tun, sondern da reichen bereits die jetzigen Befugnisse, mit denen sich dieses Parlament nachdrücklich in den Entscheidungsprozeß einschalten kann. Freilich, wenn man sich das Profil der Fraktionen, die wir dort haben, ansieht, wenn wir uns auch ansehen, was jetzt in diesen Parteiföderationen, diesen Parteibünden, entsteht, so scheint mir, sind mindestens drei der großen Parteibünde - Herr Segre mag uns vielleicht über die Kommunistischen Parteien im Europäischen Parlament eines besseren belehren -, so sind mindestens die drei anderen Parteibünde noch nicht sehr weit auf diesem Gebiet, einen gemeinsamen Nenner zur Aufgabenbewältigung zu finden. Aufgabenbewältigung, das heißt etwa Standort für Kernkraftwerke und Entsorgungsanlagen, oder - Sir Harold hat darauf hingewiesen -
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Abbau der Agrarüberproduktion, der "Berge". Ich fände es ganz interessant, wenn die Vertreter der Politik auf diesem Podium, vielleicht auch anschließend aus dem Teilnehmerkreis, gerade zu dieser Frage eines möglichen Zusammenhalts dieser Fraktionen etwas sagen könnten. Ob sie etwa in den künftigen Wahlkampf gemeinsam hineingehen. Denn wenn diese Direktwahlen zum Europäischen Parlament eine Stärkung der Gemeinschaft bedeuten sollen, dann ja nicht zuletzt, weil man sich eine mobilisierende Wirkung des Wahlkampfes verspricht. Die Vorstellung, es könnte ein Wahlkampf nur mit nationalen Parolen sein, wäre vielleicht eine nicht gerade ideale Pointe für die ersten Direktwahlen. Oppermann:
Vielen Dank! Wir sind bei der Kompetenzfrage. Sie, Herr Professor Biedenkopf, haben, wenn ich es richtig gelesen habe, noch am 20. Sep-
tember 1976 - damals noch als Generalsekretär der CDU - eine Erklärung abgegeben für die CDU, die Direktwahl genüge nicht, es bedürfe mehr Kompetenzen, also vielleicht auch der Kompetenz zur Finanzkontrolle, die Sir Harold eben gefordert hat. Andererseits gibt es nicht zu unterschätzende Kräfte, die dieser Kompetenzerweiterung nicht gerade wohlgesonnen sind, etwa die Töne, die von dem LabourParteitag kamen, aber beispielsweise auch die gaullistische Partei in Frankreich und möglicherweise auch - wir werden sicher noch mehr darüber sprechen- die sogenannten Eurokommunisten. Wenn wir das zusammen sehen, glauben Sie, Herr Professor Biedenkopf, daß man in sehr rascher Weise über die Direktwahl hinaus Kompetenzen, zusätzliche Kompetenzen, für das Europäische Parlament fordern muß und daß man sie auch durchsetzen kann? Riedenkopf:
Ich habe, als Sir Christopher Soames noch in Brüssel war, diese Frage einmal mit ihm diskutiert. Er hat damals gesagt, ein Parlament, welches von den Regierungen Kompetenzen erhalten habe, sei ihm unbekannt. Er kenne nur Parlamente, die sich die Macht selbst genommen hätten. Ich glaube, daß der Zugang zum Problem über die Institutionen der falsche Weg ist. Ich glaube, daß man ein politisches Europa - wir sprechen ja von einem politischen Europa, nicht von einer administrierten Staatengruppe -, daß man ein politisches Europa nur auf dem Weg einer politischen Auseinandersetzung über das gemeinsame politische und kulturelle Erbe überhaupt herstellen kann. Ich habe deshalb in dem direkt gewählten Europäischen Parlament, wenn es
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zustandekommt, immer die Chance gesehen, eine europäische Konstituante zu haben, ein Parlament, in dem jetzt nicht ein Streit über die Frage ausbricht, ob über den Butterberg von der Kommission oder vom Parlament befunden werden soll, sondern ein Parlament, in dem aus Anlaß konkreter Fragen die Voraussetzungen für politische Integration überhaupt erst entstehen. Ich habe den Eindruck - ich bin kein Sachverständiger für Europa-Fragen, ich sehe das eigentlich mehr als Abgeordneter-, daß wir im Begriff sind, die europäische Vereinigung durch die Institutionalisierung aller möglicher Formen der Kooperation eher zu erschweren. Und zwar deshalb, weil auf diese Weise der Eindruck entsteht, Europa sei "machbar" - und Europa ist nicht machbar! Wenn nicht eine politische, eine drängende Notwendigkeit von den Menschen in Europa empfunden wird, dieses Europa als eine politische Einheit zu erleben, dann bleiben alle diese Institutionen hohl. Sie ritualisieren Europa, aber es findet keine wirkliche Integration statt. Sie brauchen nur ein zentrales Gebiet zu nehmen, was die Menschen draußen mehr interessiert als das meiste andere, und das ist ihre Zukunftssicherheit. Wir können ja Europa nicht nur mit den Parlamentariern machen und mit den Funktionären der Regierungen und der politischen Parteien und mit den Beamten, sondern Europa muß getragen sein von seiner Bevölkerung. Wenn ich mir vorstelle, ich gehe in eines der großen deutschen oder französischen oder englischen Industriegebiete und rede über Europa, dann fragen die Leute: "Was bringt mir das?", "Was ändert sich in meinem Leben, wenn das Europa kommt?"- Diese Frage muß man beantworten, und diese Frage muß nach meiner Auffassung in dem Europäischen Parlament beantwortet werden, weil dort die Repräsentanten dieser Menschen versammelt sind, die dann darüber streiten können. Ich sehe hier auch ganz wesentliche Aufgaben, wie die Auseinandersetzung mit der Bedrohung, unter der Europa steht. Aber das ist ja Thema zwei und drei, deshalb möchte ich jetzt dazu nichts mehr sagen. Ich wollte nur noch sagen, daß ich es für sehr wichtig halte, wie die Rolle des Europäischen Rates beschaffen ist. Ich bin da etwas anderer Auffassung als Per Federspiel. Ich bin nicht sicher, daß die Regierungschefs der geeignete Gesprächspartner für das Europäische Parlament sind. Sie sind ja eher eine Art Bundesrat, d. h. ein Zusammentreten der nationalen Souveränitäten in ihrer direktesten Form, und ob gerade diese Gruppe bereit ist, ein Europäisches Parlament als kontrollierenden Gesprächspartner anzuerkennen, scheint mir sehr fragwürdig. Ich glaube, daß man das Europäische Parlament nur inhaltlich ausfüllen kann mit Fragestellungen, die auch von der Bevölkerung für wesentlich, um nicht zu sagen für dramatisch gehalten werden. Und daß sich dann aus dieser Ausfüllung ein europäischer
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Konsens entwickelt. Das ist sicher auch eine Frage der Männer, die dorthin gehen. Oppermann:
Ich glaube, wir sollten im Rahmen der Fragen um die Institutionen durchaus im Sinne Ihrer Aufforderung, Herr Professor Biedenkopf, bereits auf die Aufgaben, die dahinterstehen, in den folgenden Interventionen mit eingehen. Sie, Herr Professor Latscha, stehen als Politiker, als Mitglied des Vorstandes der französischen Zentrumsunion, des CDS, wahrscheinlich im allmählich beginnenden französischen Wahlkampf, in dem die Frage Europa auch eine große Rolle spielt. Vielleicht können Sie uns über das Pro und Contra aus der Sicht Frankreichs einige Aufklärung geben. Latscha:
Je voudrais d'abord remercier et saluer cette assemblee et lui pr~ senter egalement le salut du President Poher qui, vous le savez, est un des plus anciens Europeens et un des premiers collaborateurs de Robert Schuman, et qui devait venir a ma place ici. Je suis tres frappe depuis que cette seance a commence de la gravite et du caractere tres direct des questions qui sont posees, en meme temps d'ailleurs que de l'attention avec laquelle les Parlamentaires presents suivent cette discussion. Le grand problerne qui nous preoccupe en France, pour ceux qui sont des Europeens de la premiere heure et qui sont, aujourd'hui, des Europeens inquiets, je ne le cacherais pas, est de savoir qu'elle est finalement la logique interne qui a preside a la decision de faire elire le Parlement Europeen au suffrage universel. J 'ai ete tres frappe d'entendre tout a l'heure Monsieur le Ministre Federspiel dire que les chefsd'Etat dans le cadre de ce qu'on appelle maintenant le Conseil Europeen, avaient d'abord promis que l'union economique et financiere se ferait avant 1980 et il a ajoute: L'union economique et financiere ne s'est pas faite et elle ne se fera pas. Alors, la question que l'on se peut poser, c'est de savoir si cette election au suffrage universei du Parlement Europeen n'est pas en quelque sorte un succedane du problerne essentiel qui se pose a nous tous au sein de la Communaute Europeenne. Ce problerne me parait etre le suivant: La Communaute Europeenne a commence par assurer la libre circulation des marchandises et elle a atteint dans ce domaine son but, puisque nous sommes dans un grand ensemble de libre echange interne. Elle a ensuite fait quelques progres dans un certain nombre de domaines, mais on ne peut pas se 3 Tübinger Europa-eonoqu.lium
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cacher que, depuis neuf ou dix ans, la Communaute Europeenne se trouve en quelque sorte bloquee, et je dirais d'ailleurs, que les Fran~ais portent dans ce domaine, taut au moins un certain nombre d'entre eux, une part non negligeable de responsabilite. Elle se trouve bloquee, pourquoi? Farce que, comme le disaient certains des deputes fran~ais lors du dernier debat a !'Assemblee Nationale au mois de juin, la volonte politique de passer a la deuxieme phase, qui est la phase economique et monetaire et qui suppose donc une mutation au niveau politique, ou n'existe pas, ou - en tout cas - n'a pas suffisamment de force pour vaincre les difficultes et les obstacles qu'elle rencontre sur son chemin. Ce sont souvent d'ailleurs des obstacles dus a des egoismes nationaux. Nous pensons que, aujourd'hui, cette reforme de l'election du Parlement au suffrage universei est une reforme importante dans la mesure ou eile donnera plus de poids au Parlement. Mais qu'elle ne doit etre con~ue que comme un point de depart pour realiser d'une fa~on tres pragmatique, comme le souhaitait Monsieur Biedenkopf, une augmentation des pouvoirs des organes de la Communaute, sans vouloir entrer dans un debat sur la question de savoir quels sont les organes et qui doivent augmenter leur pouvoir. Car, faute de cette Operation qui consiste en une interiorisation de la Communaute Europeenne, qui nous parait aussi importante que son elargissement, nous nous contenterons de vivre dans une zone de libre echange et l'essentiel des ambitions qui ont preside a la naissance de la Communaute Europeenne se trouveront abandonnees. Alors, on me demande plus precisement de vous dire autour de ces quelques reflexions qui forment le fand du debat, en France comme d'ailleurs dans les autres pays, quelle est l'opinion des partis politiques fran~ais sur ce problerne de l'election au suffrage universei du Parlement Europeen. Excusez-moi de sortir un ou deux papiers parce que j'ai lä justement une tres belle photo de l'hemicycle de !'Assemblee Nationale a Paris et une serie de declarations de deputes. En fait, vous savez combien la situation politique en France a d'abord ete manicheenne pendant quelques annees, jusqu'a tout recemment; depuis une dizaine de jours On a le Sentiment que les icebergs ont commence a bouger, que, bien entendu, on ne voit que la partie visible de l'iceberg mais pas ce qui se passe dessous, et on ne sait pas tres bien quelles vont etre les mutations qui vont intervenir. Or, ces mutations concernent directement l'election europeenne. Pourquoi? Farce que dans chacune des branches de la vie politique qui separe le pays ä peu pres en deux, nous le savons tous, i1 y a des Europeens soucieux d'aboutir a une Europe politique, et il y a des Europeens, disans des Europeens resignes ou a la limite des anti-
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Europeens qui souhaiteraient que cette Europereste bloquee au niveau ou elle est. Alors, le debat reste toujours le meme. Je prends une declaration de Monsieur Michel Debre dont vous connaissez quelle est, comment dirais-je, « l'attirance » pour l'Europe supranationale. M. Michel Debre qui est l'un des Ieaders les plus ecoutes des gaullistes actuellement, dit: « L'Assemblee Europeenne aura tendance a s'affirmer contre les Gouvernements!» Donc il pose le debat immediat du Parlement Europeen contre les Gouvernements nationaux. Au contraire, l'un des representants du Parti Socialiste, donc de l'union de Ia gauche, dit: « Associer les populations a l'entreprise Europeenne teile va etre Ia consequence de l'election du Parlement au sauffrage universel. » Quant aux deputes communistes, Ia position qu'ils ont prise est une position qui peut paraitre un peu subtile. Elle peut se resumer de la fa!;on suivante: « La construction de l'Europe suppose le renversement des souverainetes nationales. » Et on retrouve au fond, a !'heure actuelle, dans la situation politique fran!;aise une conjoncture qui se rapproehe de celle que nous avons connue il y a une vingtaine d'annees, notamment du Traite de Ia Communaute Europeenne de Defense, c'est-a-dire le rapprochement des positions de Ia tendance gaulliste d'un cöte et des parlementaires communistes de l'autre, et puis entre les deux, au centre droit ou au centre gauche, des positions pro-Europeennes decidees a faire avancer et a approfondir le Traite de Rome, ce qui nous parait absolument essentiel. Oppermann:
Vielen Dank! - Herr Bundeskanzler Kreisky, wir haben hier im Saale die Fahnen des Europarates und die Karte des großen Europa nicht nur zur Theorie aufgehängt, sondern wir freuen uns ganz besonders, daß wir in dieser Debatte auch etwas über die Europäische Gemeinschaft hinausgreifen können. Man könnte ja beinahe sagen, Österreich-Ungarn ist bis 1918 das erste Modell eines supranationalen Staates gewesen, und Sie verfolgen heute als Mitglied des Europarates den weiteren Weg der EG sicherlich mit Interesse. Darf ich die Frage einmal an Sie weitergeben: Von außen gesehen, was erscheint Ihnen eigentlich sinnvoller, eine EG, die sich im Sinne der verschiedenen vorangegangenen Bemerkungen immer weiter vertieft, durch stärkere Institutionen, vielleicht auch durch mehr Kompetenzen, durch einen breiteren Konsensus, die aber sich dadurch möglicherweise auch gegen die Außenwelt etwas stärker abkapselt, - oder eine Fortsetzung der EWG, wie etwa in der Sicht von Premierminister Callaghan, die in Richtung eines mehr lockeren Staatenbundes steuert. Wie denken Sie über diese grundsätzliche Frage?
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Kreisky: Ja, in der Tat ist Österreich nur ein interessierter Beobachter. Wir sind aufgrund unserer immerwährenden Neutralität ein Zaungast der Integration, wenn ich so sagen darf. Ich möchte aber doch sehr deutlich sagen, daß wir an einer Weiterentwicklung der europäischen Integration in besonderem Maße interessiert sind, weil ich glaube und darüber werden wir vielleicht im 2. Teil noch sprechen -, daß in dem Maße, als es in Europa zu einer Weiterentwicklung der Entspannung kommen wird oder kommen könnte, auch für andere Staaten, z. B. für Österreich - ich kann nur für Österreich sprechen - eine Möglichkeit für ein neues Nahverhältnis sui generis entstehen könnte. Ich halte das nicht für Sache einer fernen Zukunft, allerdings unter der Voraussetzung, daß die Entspannungspolitik weitere Fortschritte macht. Darf ich jetzt in diesem Zusammenhang als ein interessierter Beobachter eine Bemerkung zu der Diskussion über das Europäische Parlament machen, als einer, der halt mit Parlamenten schon viel und lange Zeit zu tun hat. Ich glaube, daß nach dem, was ich hier gehört habe und, wie soll ich sagen: unvorbereitet wie ich mich habe, das Europäische Parlament so ein bißchen an die Parlamente der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts erinnert. Es ist ein Begegnungsplatz sehr avancierter Politiker - es wird hoffentlich so sein! - aber es kann nichts anderes sein als das, weil eine Parallele mit nationalen Institutionen der Demokratie schon deshalb nicht hergestellt werden kann, weil es im Bereich der Europäischen Gemeinschaften schon eine Kontrollinstanz gibt. Also mit dem Kontrollgedanken allein, da teile ich die Ansichten, die hier geäußert wurden, wird man nicht viel ausrichten, denn es lassen sich die Regierungen der Mitglieder der Gemeinschaften doch dieses Kontrollrecht gar nicht nehmen. Die sind ja in Wirklichkeit die Kontrolleure der vorhandenen Institutionen! Das ist der große Unterschied zu unserer nationalen Demokratie. Es wird also so ein Parlament in einer Konkurrenzsituation zu den Regierungen stehen, es wird zu einer Konkurrenzsituation zu den nationalen Parlamenten kommen. Da soll man sich nicht täuschen, diese Parlamente haben die Eigenschaft - fast möchte ich sagen, ich muß mich entschuldigen, daß ich deutsch red', die Österreicher reden ja ein sehr unkorrektes Deutsch -, diese nationalen Parlamente werden sich zwar so lange großartig für das Europäische Parlament schlagen, als ihnen nicht Kompetenzen weggenommen werden. Ich erlebe das in meinem Land immer wieder - zwischen unseren beiden Kammern gibt es so lange ein gutes Verhältnis, solange die eine Kammer nicht die Kompetenzen der anderen beansprucht. Dann stößt sie auf den unerbitt-
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liehen Widerstand, und das wird dem Europäischen Parlament natürlich auch passieren, denn so großzügig wird man, glaube ich, nicht sein. Ich glaube also, um das abzuschließen, daß schon sehr viel erreicht ist damit, wenn das Europäische Parlament einen politischen Querschnitt Europas darstellt, wenn aber gleichzeitig - was wir von den nationalen Parlamenten nicht verlangen können, wir wollen ja, daß sie die Bevölkerung in adäquatester Weise widerspiegeln -, wenn dieses Europäische Parlament gleichzeitig aber auch die große geistige Repräsentanz der Europäischen Politik ist. Dann wird es sich jenes Ansehen verschaffen, dem sich weder Regierungen noch nationale Parlamente, vor allem außereuropäische Institutionen, werden entziehen können. Das erscheint mir für den Anfang doch das Wichtigste zu sein, das heißt, es wird also auf die europäischen Parlamentarier in erster Linie ankommen. Oppermann:
Vielen Dank, Herr Bundeskanzler Kreisky. Herr Professor Neumann, bitte! Neumann:
Herr Bundeskanzler, ich glaube, daß Sie eine realistische Einschätzung der tatsächlichen Probleme und Schwierigkeiten gegeben haben. Aber auf der anderen Seite hat Herr Kollege Eiedenkopf darauf hingewiesen, daß Parlamente noch niemals Kompetenzen zugebilligt bekommen haben, und mir scheint, gerade der Hinweis, den unser Oberbürgermeister gegeben hat: ,Burgund lebt' -, daß diese tatsächliche Schubkraft der politischen Entscheidungen, wenn sie einmal getroffen sind, eine Eigenständigkeit und eine historische Dynamik entfalten, die nachher von den betroffenen und sich aus Eigeninteresse entgegenstellenden Institutionen nicht mehr aufgehalten werden k~n nen. Sie haben mit Recht die Parlamente der achtziger Jahre angesprochen. Ich möchte noch einen Schritt weitergehen und auf ein Parlament des Jahres 1848 verweisen, nämlich auf unsere deutsche Paulskirchenversammlung, deren Beschlüsse ja niemals Gesetzeskraft erhalten haben. Und dennoch hat wohl kaum jemals ein Parlament eine solche historische Wirkung gehabt wie gerade diese Paulskirchenversammlung. Ich könnte mir durchaus denken, daß jetzt die Entscheidung zugunsten europäischer Direktwahlen zunächst einmal in der ersten Phase lediglich das Interesse der mehr oder weniger sich eine Pfründe suchenden Politiker findet, daß aber danach, wenn hier einmal eine politisch wirksame Willensbildung möglich ist, in der zweiten oder dritten parlamentarischen Legislaturperiode, eben durch
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die Legitimation unmittelbarer Wahl einerseits und zweitens durch die Qualität der dort geleisteten Arbeit nicht nur die Regierungen, sondern auch die nationalen Parlamente in Zugzwang geraten. Sie müßten dann das tun, worüber heute theoretisiert wird, nämlich wieviel an eigener Souveränität aufgegeben werden müsse. In dem geschichtlichen Vollzug würde das dann eine sekundäre Frage, nämlich eine Folge der tatsächlichen politischen Entwicklung aufgrund des politischen Ansehens, das diesem Gremium zukommt, wenn es sich dieses Ansehen verschafft hat.
Oppermann: Diese Hoffnungen hängen natürlich aufs engste mit der Bildung effektiver europäischer Parteien zusammen. Herr Professor Raiser, Sie wollten anschließen!
Raiser: Ich wollte nur eine skeptische Frage anschließen: Herr Bundeskanzler Kreisky hat von der großen geistigen Repräsentanz des politischen Europa gesprochen und Herr Kollege Neumann hat erinnert an die Faulskirehe von 1848. Frage an die hier anwesenden Politiker, europäischen Politiker unter uns: Glauben Sie, daß man bedeutende Politiker veranlassen kann, sich für das Europäische Parlament wählen zu lassen? In ein Parlament, das einstweilen keine großen Aufgaben hat? In dieser Hinsicht war die Situation 1848 geistig und politisch eine völlig andere als heute. Müssen wir nicht damit rechnen, daß unsere führenden Politiker, die voll ausgelastet sind mit den politischen Aufgaben jeweils in ihrem eigenen Land, keine Neigung haben, ihre Kräfte zu zersplittern und nach Straßburg zu gehen? Also: Können wir damit rechnen, bedeutende Köpfe für dieses Parlament zu bekommen? Daranscheint mir Wesentliches für den Erfolg dieses Parlaments zu hängen.
Oppermann: Herr Professor Pescatore, Sie haben als Wissenschaftler und als Richter am Europäischen Gerichtshof sehr viel über die richtige Balance der europäischen Institutionen nachgedacht. Können Sie etwas dazu sagen? Vielleicht auch zu der letzten Frage von Professor Raiser?
Pescatore: Ich möchte von einem Satz von Herrn Bundeskanzler Kreisky ausgehen. Er hat uns gesagt, der Kontrollgedanke genügt nicht, um die
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Notwendigkeit eines Europäischen Parlaments zu begründen, denn, sagte er, der Kontrolleur, der große Kontrolleur in den Gemeinschaften ist vorhanden, nämlich in den Regierungen, die sind, hat er gesagt, die Kontrolleure der vorhandenen Institutionen. Mit allem Respekt für den Herrn Bundeskanzler möchte ich sagen, daß dieses den Tatsachen nicht entspricht. Ich kenne sehr gut mindestens eine Institution, die der Kontrolle der Regierungen nicht unterworfen ist, ganz im Gegenteil - eine Institution, der es gerade obliegt, die Rechtskontrolle, die Rechtsstaatlichkeitskontrolle über die Regierungen und das gesamte Gemeinschaftssystem auszuüben, das ist der Gerichtshof.
Kreisky: Entschuldigen Sie, Herr Professor, das ist er ja in keiner Demokratie! P~scatore: Nun, ein zweites: Die Kommission, die gemeinsame Exekutive; meiner Ansicht nach unterliegt sie auch nicht der Kontrolle der Regierungen. Sie hat es ohne Zweifel - und das weiß Herr Präsident Rey am besten - viel schwerer als der Gerichtshof, sich unabhängig zu machen und ihre Rolle als Wahrer des gemeinsamen Interesses zu spielen, aber doch haben wir es hier mit einem unabhängigen Faktor zu tun, mit dem auch die Regierungen rechnen müssen. Und das bringt mich dann zu dem Thema dieses Colloquiums: Wie ist es nun mit dem Parlament? Bisher, wenn wir einmal auf die Geschichte zurückblicken, wurde in der Gemeinschaft Großes geleistet mit einem noch nicht gewählten Parlament. Wenn Sie bedenken, daß doch schließlich der Freihandel realisiert wurde, ein Wettbewerbsrecht, ein Agrarrecht ist uns jetzt allen gemeinsam, die Freizügigkeit wurde realisiert, die soziale Sicherheit für alle Europäer, unser Verhältnis zu Übersee wurde definiert, eine gemeinsame Handelspolitik ist operativ, ein gewaltiges Pensum der Harmonisierung der Gesetzgebung, all dieses wurde realisiert ohne gewähltes Parlament. Und die Frage ist die: Was wird jetzt die Direktwahl des Parlaments für neue Elemente ins Spiel bringen? Ich glaube, das ist die erste Frage, die wir uns stellen müssen. Ich habe den Eindruck, daß wir am Beginn unserer Diskussion eigentlich das wesentliche Problem übersprungen haben. Die Frage wurde gestellt, wenn einmal das Parlament gewählt ist, welches werden die neuen Machtbefugnisse, die neuen Machtvollkommenheiten sein, die sich dieses Parlament zulegen soll. Ich glaube, wir sollten zunächst einmal die Frage stellen, was wird anders werden, wenn nun einmal das Parlament gewählt sein wird, wenn wir es nicht mehr mit einem Parlament zusammengesetzt aus parlamentarischen Delegiertenvertretern zu tun haben, sondern mit einem Parlament, das eine eigene Legitimation durch eine direkte Wahl hat. Meiner Ansicht nach wird die Balance der Gewalten dadurch entscheidend beeinflußt werden. Auch
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hier möchte ich darauf hinweisen, daß wir doch in den Europäischen Gemeinschaften etwas haben, was völkerrechtlich gesehen, internationalrechtlich gesehen, völlig erstmalig und einmalig ist. Zum ersten Mal wurde durch sechs und danach durch neun Staaten ein System aufgebaut, das auf dem Gedanken der Gewaltenteilung aufgebaut ist. Ein System, in dem ein Zusammenspiel stattfindet zwischen dem Ministerrat als Vertreter der nationalen Interessen, der Kommission als gemeinsamer Exekutive, dem Parlament als Vertreter der Völker und dem Gerichtshof als Wahrer des Rechts- und wie wird dieses Zusammenspiel der Gewalten durch die Direktwahl des Parlaments beeinflußt werden? Meiner Ansicht nach in sehr entscheidender Weise. Dadurch nämlich, daß das Parlament zum ersten Mal jetzt wirklich seine Rolle als integrierender Faktor spielen kann; dadurch, daß die Mitglieder des Parlaments auf einer europäischen Plattform gewählt sein werden; dadurch, daß die Mitglieder dieses Parlaments unabhängig von ihrem eigenen politischen System mit einem europäischen Mandat versehen sein werden; dadurch, daß auch innerhalb dieses kollegialen Organs, in dem jedes Mitglied nach seinem eigenen Gewissen und in politischer Freiheit handelt, innerhalb dieses Gremiums keine nationale Gruppe mehr den Ausschlag geben kann. Daraus wird eine neue Kraft in Europa entstehen. Oppermann:
Herr Präsident Rey, darf ich das Wort an Sie weitergeben?
Rey: Ja, Herr Präsident, ich wollte nur auf die Frage von Professor Raiser antworten, soweit ich kann. Letztes Jahr haben wir den Kongreß in Brüssel, den großen Kongreß der Europäischen Bewegung gehabt. Herr Willy Brandt war anwesend und er hat uns erklärt, er würde kandidieren für die Wahl des Parlaments 1978, und das zu einer Zeit, wo wirklich die Befugnisse des Parlaments noch nicht weitergehen. Fran~ois Mitterand war anwesend, sofort hat er das Wort erbeten und hat gesagt: "