Ferdinand Gregorovius in seinem Jahrhundert: Der Historiker und Schriftsteller neu gelesen. Aus Anlass der Edition der Briefe und des 200. Geburtstages [1 ed.] 9783412526511, 9783412526498


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Ferdinand Gregorovius in seinem Jahrhundert: Der Historiker und Schriftsteller neu gelesen. Aus Anlass der Edition der Briefe und des 200. Geburtstages [1 ed.]
 9783412526511, 9783412526498

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ANGELA STEINSIEK (HG.)

Ferdinand Gregorovius in seinem Jahrhundert Der Historiker und Schriftsteller neu gelesen

BEIHEFTE ZUM ARCHIV FÜR KULTURGESCHICHTE IN VERBINDUNG MIT KARL ACHAM, BERNHARD JAHN, EVA-BETTINA KREMS, FRANK-LOTHAR KROLL, TOBIAS LEUKER, HELMUT NEUHAUS, NORBERT NUSSBAUM, STEFAN REBENICH HERAUSGEGEBEN VON

KLAUS HERBERS BAND 98

FERDINAND GREGOROVIUS IN SEINEM JAHRHUNDERT Der Historiker und Schriftsteller neu gelesen Aus Anlass der Edition der Briefe und des 200. Geburtstages

Herausgegeben von Angela Steinsiek

BÖHLAU VERLAG WIEN · KÖLN

Die im Deutschen Historischen Institut in Rom vom 14. bis 15. Oktober 2021 veranstaltete Tagung und der vorliegende Tagungsband wurden durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft ermöglicht.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Karl Lindemann-Frommel, Ferdinand Gregorovius am Schreibtisch in seiner Wohnung in Rom. Via Gregoriana 13 (1874), Bayerische Staatsbibliothek München, Nachlass Fer‐ dinand Gregorovius, Gregoroviusiana 30.a, 9, urn:nbn:de:bvb:12-bsb00002519-8 (Aus‐ schnitt). CC BY-NC-SA 4.0 © 2023 Böhlau, Lindenstraße 14, D-50674 Köln, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schö‐ ningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Wissenschaftlicher Satz: satz&sonders GmbH, Dülmen Druck und Bindung: Hubert & Co BuchPartner, Göttingen Printed in the EU Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-52651-1

Für Norbert Miller

Inhalt

Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Zur Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Antipoden unter sich. Theodor Mommsen und Ferdinand Gregorovius gegenübergestellt Simon Strauß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

Die Römer, der Papst und der Kaiser. Zur Darstellung der Rom- und Italienzüge der deutschen Herrscher in Ferdinand Gregorovius’ „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“ Uwe Ludwig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41

„Die Epoche des Mittelalters ist abgelaufen; die neue Zeit schlägt Wurzel“. Ferdinand Gregorovius, der Katholizismus, das Papsttum und der römische „Weltknoten“ Martin Baumeister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69

Ferdinand Gregorovius und das Judentum Günther Wassilowsky . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

95

Der in die Politik verirrte Dichter. Gregorovius’ Erzählung von Cola di Rienzo in der „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“ Markus Bernauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Felix Dahn und Ferdinand Gregorovius. Geschichtserzählung in der Kritik Roman Lach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Die deutsche Sendung. Ferdinand Gregorovius und Richard Wagner Angela Steinsiek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

Die Kultur der Renaissance im Italien der Kaiserzeit. Ferdinand Gregorovius über die Villa Hadriana Patrick Bahners . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177

8

Inhalt

Geschichte der Familie Cotta im Mittelalter. Zum Gang der Verlagsverhandlungen zwischen Ferdinand Gregorovius und der J. G. Cotta’schen Buchhandlung Helmuth Mojem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 „Mentre loro godono le tiepide aure di Ronzano, noi altri . . . “. Ferdinand Gregorovius in seinen Briefen an Giovanni Gozzadini Katharina Weiger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Gregorovius und Florenz Anna Maria Voci . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245

Ferdinand Gregorovius als Forscher in italienischen Archiven und Bibliotheken Alberto Forni . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 „. . . für Interessenten jederzeit erreichbar“. Die Gregoroviusiana in der Bayerischen Staatsbibliothek Maximilian Schreiber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Eine lange Geschichte der Edition der Briefe von Gregorovius kurz erzählt Angela Steinsiek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 „Ich war sehr thätig – das ist die beßte Neuigkeit von mir“. Die digitale Edition der Briefe von Ferdinand Gregorovius Jörg Hörnschemeyer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Ferdinand Gregorovius als römischer Korrespondent der „NationalZeitung“ in Berlin. Ausgewählte Artikel Angela Steinsiek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Zu den Beiträgerinnen und Beiträgern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359

Vorbemerkung

Der vorliegende Band ist aus einer im Oktober 2021 veranstalteten Tagung am Deutschen Historischen Institut (DHI) in Rom, „Ferdinand Gregorovius in sei‐ nem Jahrhundert. Der Historiker und Schriftsteller neu gelesen“, hervorgegangen. Den äußeren Anlass für die Veranstaltung bildete – mit einer pandemiebedingten neunmonatigen Verzögerung – Gregorovius’ 200. Geburtstag am 19. Januar 2021. Den entscheidenden wissenschaftlichen Impuls gab die seit 2017 in Bearbeitung befindliche, von Angela Steinsiek zusammen mit dem römischen DHI und der Ber‐ lin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaft erstellte, von DFG und Gerda Henkel Stiftung geförderte Online-Edition der Gregorovius-Briefe, die ein knap‐ pes Drittel der ca. 3.300 bislang nachgewiesenen Briefe, davon die meisten unver‐ öffentlicht, in einer kritischen, umfassend kommentierten „Born digital“-Edition open-access präsentiert. Bereits 1991, 30 Jahre zuvor, hatten der damalige Direktor des DHI in Rom, Arnold Esch und sein Stellvertreter Jens Petersen eine Konferenz anlässlich des 100. Todestages des Geschichtsschreibers der Stadt Rom im Mittelalter organisiert. Der 1993 publizierte Tagungsband 1 kann bis heute als ein Referenzwerk der Gre‐ gorovius-Studien gelten und fügt sich ein in eine weiterhin anhaltende Konjunktur von Forschungen zur Historiographiegeschichte der deutschsprachigen Länder im 19. Jahrhundert im Kontext der Verwissenschaftlichung, Professionalisierung und Institutionalisierung der modernen Geschichtswissenschaft im Zeitalter des Histo‐ rismus. Das fortdauernde Interesse an diesem Themenkomplex lässt sich in einer Reihe großer Editionsunternehmen, von Werkausgaben und Briefkorpora sowie von wissenschaftsgeschichtlichen und biographischen Studien, die in den vergan‐ genen drei Jahrzehnten initiiert bzw. vorgelegt wurden, nachverfolgen. In erster Linie richtet es sich auf die Ende des 18. und im frühen 19. Jahrhundert gebore‐ nen führenden akademischen Fachvertreter Leopold von Ranke (1795–1886) und Johann Gustav von Droysen (1808–1884), aber auch auf die Generationsgenossen von Gregorovius, Theodor Mommsen (1817–1903) und Jacob Burckhardt (1818– 1897). Gregorovius selbst bleibt weitgehend im Schatten dieser Gründungs- und Leitfiguren, auch wenn in den letzten Jahren die Aufmerksamkeit für ihn und sein

1 Arnold Esch, Jens Petersen (Hg.), Ferdinand Gregorovius und Italien. Eine kritische Würdigung (= Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom, Bd. 78), Tübingen 1993.

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Vorbemerkung

Werk keineswegs erloschen ist und Teile seines Briefwechsels sowie seiner journalis‐ tischen Arbeiten neu ediert wurden. 2 Die Online-Briefedition bedeutet für die Gregorovius-Forschung sowie für die Historiographie-, Ideen- und Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts zweifelsohne einen bedeutenden qualitativen Sprung. Das Briefkorpus wird nunmehr quasi gren‐ zenlos verfügbar, auch etwa für die Einbeziehung in die akademische Lehre, und überdies zugänglich für vielfältige umfassende Recherchen und Auswertungen. Die Edition eröffnet jedoch auch neue Perspektiven der Verknüpfung, der Erschließung und Kontextualisierung, macht Gregorovius’ Korrespondenz an eine prinzipiell of‐ fene Zahl weiterer verwandter Korpora anschlussfähig und bahnt den Weg zu ihrer Nachnutzung als Forschungsdaten mit Instrumenten der Digital Humanities. Mit der digitalen Bereitstellung ist jedoch lediglich ein erster Schritt getan. His‐ torische Quellen werden zum Leben erweckt und zum Sprechen gebracht durch das Interesse, das an sie herangetragen wird, d. h. durch die Fragen, die Leser und Lese‐ rinnen an sie stellen, und durch die Methoden, mit denen sie untersucht werden. Und hier liegt ein entscheidender Punkt für die Bedeutung des Editionsunterneh‐ mens. Drei Jahrzehnte nach der römischen Tagung von 1991 hat sich der Interessenund Fragenhorizont gegenüber dem Säkulum Gregorovius’ offenkundig merklich verändert. 2006 stellte Paul Nolte kategorisch fest, das 19. Jahrhundert habe nach einer langen Phase hoher Relevanz nach der Jahrtausendwende seinen ehemals zen‐ tralen Ort in der Historiographie verloren, 3 eine These, die sich wohl auch für die Literaturwissenschaft und manch andere in historischen Dimensionen operierende geisteswissenschaftliche Disziplin hätte formulieren lassen. Gegen die Auffassung vom Bedeutungsverlust wurde letzthin allerdings auf das anhaltende Interesse der Forschung verwiesen. Dies resultiere aus der wachsenden Distanz, die Bedeutungs‐ verschiebungen und neue Fragehorizonte für das vorletzte Jahrhundert mit seinen fließenden, sich je nach Standpunkt und Fragestellung ändernden Epochengrenzen hervorbringe und es heutigen Zeitgenossen und Zeitgenossinnen zugleich fremd und doch wiederum vertraut erscheinen ließe. 4 Es muss sich noch erweisen, was der wachsende zeitliche Abstand für den Um‐ gang mit Ferdinand Gregorovius, einem Kind des 19. Jahrhunderts, dessen Le‐ 2 Ferdinand Gregorovius, Briefe nach Königsberg, hg. von Dominik Fugger und Nina Schlüter, München 2013; Ders., Europa und die Revolution. Leitartikel 1848–1850, hg. von Dominik Fugger und Karsten Lorek, München 2017. 3 Paul Nolte, Abschied vom 19. Jahrhundert oder auf der Suche nach einer anderen Mo‐ derne, in: Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 2006, Bd. 22, Wege der Gesellschafts‐ geschichte, S. 103–132, hier S. 130. 4 S. Karen Hagemann, Simone Lässig (Hg.), Discussion Forum: The Vanishing Ni‐ neteenth Century in European History?, in: Central European History, Bd. 51 (2018), S. 611–695; Birgit Aschmann (Hg.), Durchbruch der Moderne? Neue Perspektiven auf das 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M., New York 2019.

Vorbemerkung

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ben sich über sieben Jahrzehnte von der nachnapoleonischen Zeit bis ins wilhel‐ minische Zeitalter erstreckte, bedeuten mag. Wenn etwa David Blackbourn The‐ men wie transnationale Lebensläufe, Kulturtransfer oder die Aneignung fremder kultureller Formen als Ansatzpunkte einer „Rückholung“ des 19. Jahrhunderts in die Geschichtswissenschaft nennt, 5 könnte man in diesem Sinn auch Gregorovius’ Grenzgängertum zwischen Deutschland und Italien, seine langjährige, von tief ver‐ wurzelten nationalen und konfessionellen Befindlichkeiten geprägte Auseinander‐ setzung mit dem mittelalterlichen Rom, seine Italienerfahrungen sowie, allgemein, sein Selbstverständnis und sein Wirken als Historiker und Journalist in den Blick nehmen. Gregorovius’ vielfache Beschwörung Roms als universaler „Weltknoten“ ruft geradezu danach, ihn, nicht nur angesichts der Forderung nach einer „Pro‐ vinzialisierung Europas“, in die Untersuchung der zeitgenössischen Debatten um die Ursprünge der europäischen Moderne einzubringen und seine Bedeutung für Fragen nach zivilisatorischen Werteordnungen, Selbstvergewisserungen und Zu‐ gehörigkeiten neu herauszuarbeiten. Dabei gilt es, den Schriftsteller, Journalisten und historischen Privatgelehrten, der sich mit dem geschriebenen Wort sein Brot verdiente und zugleich hohe akademische Anerkennung erarbeitete, ungeachtet al‐ ler von ihm gerne verwendeten Bescheidenheits- und Außenseitertopoi, nicht als Ausnahme- oder Randerscheinung zu betrachten, sondern als Gelehrten und poli‐ tischen Intellektuellen, der für sich eine besondere Deutungskompetenz und Au‐ torität beanspruchte und in Vielem, gerade auch in seinen Widersprüchen – wie den Spannungen zwischen demokratischem Impuls und elitärem Habitus, zwischen Fortschrittspathos und kulturpessimistischen Vorbehalten gegenüber der Moderne, zwischen kosmopolitischem Selbstbild und national-protestantischem Superiori‐ tätsbewusstsein, zwischen postromantischem, jeglicher Spekulation abholdem Rea‐ lismus und der Zuflucht zum Mythos – für manche Paradoxien seiner Klasse und seiner Epoche repräsentativ erscheinen mag. Die Briefedition bietet, auch in Verbindung mit den in diesem Band präsentier‐ ten, bislang unbekannten journalistischen Arbeiten eine erweiterte und – was die Digitalisierung anbelangt – gewissermaßen optimierte empirische Grundlage, um Gregorovius in seinem Jahrhundert zu verstehen und ihn somit zugleich für unsere Zeit neu zu entdecken. Es ist zu wünschen, dass sie diesen Zweck erfüllt und auch der vorliegende Band dafür konkrete Anregungen geben mag. Martin Baumeister

5 David Blackbourn, Nineteenth Century German History: Dangling in Space?, in: Ha‐ gemann, Lässig, Discussion Forum (wie Anm. 4), S. 618–622, hier S. 619–621.

Zur Einführung

Gregorovius gehört zu den großen Historikern der 19. Jahrhunderts, und er gehört es, wenn man die bis heute anhaltende Rezeption vor Augen hat, auch weit über Deutschland und Italien hinaus. Die „Wanderjahre in Italien“ und die „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“ zählen zu den großen Bucherfolgen des 19. und auch des 20. Jahrhunderts, wenn man sich die Auflagen und die vielen Übersetzungen vor Augen führt. Im Falle der „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“ ist dies erstaunlich, weil es sich um ein vermeintlich eng begrenztes thematisches Feld han‐ delt, auf dem man nur Spezialisten vermuten würde. Im Falle der „Wanderjahre“ vielleicht weniger, weil diese zu den hinreißenden Reiseessays des 19. Jahrhunderts gehören. Erstaunlich ist hier aber, dass sich der Historiker als Schriftsteller so frei betätigt hat. Oder ist es vielleicht erstaunlicher, dass der Schriftsteller zu einem so bedeutenden Historiker geworden ist? In dem vorliegenden Band haben wir Ferdi‐ nand Gregorovius als Schriftsteller und Historiker nachgespürt. Für Gregorovius beruhte seine Beschäftigung mit der Geschichte zuallererst auf dem Bedürfnis, die Vergangenheit in ihrem Bezug zur Gegenwart zu deuten. Seine Geschichtsschreibung begriff er stets in Abhängigkeit von der eigenen historischen Position. Sein auf die Zukunft ausgerichtetes Denken und Hoffen – die Bildung eines deutschen Nationalstaates, das Ende des Kirchenstaates und die Einigung Ita‐ liens – prägte sein Bild von Altertum und Mittelalter ebenso wie es sein Interesse an tagespolitischen Themen bestimmte. Dreh- und Angelpunkt seines historischen Denkens ist dabei die Geschichte der Religion als ein zivilisatorischer Prozess, der von der katholischen Kirche begonnen wurde. Die Reformation Luthers hält er „für die größte Umwälzung der Menschheit seit der Entstehung des Christentums“ 1, die mit ihrem Vorläufer, dem Staufer Friedrich II. begann, der sich offen gegen die po‐ litische Einflussnahme des Papstes gestellt hatte. Ohne diesen „Vorläufer der Refor‐ mation“ 2 – so darf man ergänzen – waren Gregorovius weder die italienischen Ein‐ heitsbestrebungen noch der deutsche Reichsgründungsgedanke vorstellbar. Und so hatte er seinem Verleger Johann Georg Cotta, der sich vor der Verlagsannahme der „Geschichte der Stadt Rom“ vorsichtshalber erkundigt hatte, „ob das Werk in 1 Ferdinand Gregorovius, Der Hegelianer Augusto Vera, in: Zeitschrift für Allgemeine Geschichte, Kultur-, Litteratur- und Kunstgeschichte, Bd. 4, Stuttgart 1887, S. 561–576, hier S. 567 (aufgenommen in seine Kleinen Schriften zur Geschichte und Cultur, Bd. 3, Leipzig: Brockhaus 1892, S. 43–71, hier S. 56). 2 Ferdinand Gregorovius, Palermo, in: Ders., Siciliana. Wanderungen in Neapel und Si‐ cilien, Leipzig: Brockhaus 1861, S. 91–168, hier S. 164.

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Zur Einführung

katholischen Landen Eingang finden, oder staatlich prohibirt, auch von strengen Katholiken gekauft oder nicht gekauft werden dürfte“ 3, ganz überzeugt davon, dass die nahe Geschichte ohnehin Fakten schaffen werde, mitteilen können: Die Einleitung wird sofort zeigen, daß sich der Verfaßer auf einen durchaus objecti‐ ven Standpunkt gestellt hat. Alles Tendenziöse, und Confessionelle ist vermieden, die ruhigste Würde bei Beurteilung der Dinge angestrebt worden, obwol gewiße philoso‐ phische Grundsätze mit Liberalität behauptet worden sind, wie sie die Pflicht des den‐ kenden Geschichtsschreibers fordert. Es ist daher kein Anstoß zu fürchten, wenigstens nicht bei den deutschen Katholiken. 4

Als ein geschichtsphilosophisches Werk hat Gregorovius seine „Geschichte der Stadt Rom“ gleichwohl nicht verstanden wissen wollen. Vielmehr bezeichnet er das philosophische System Hegels in einem späten Aufsatz als „speculative Gym‐ nastik“ 5, die er auch in den Schriften des ihm befreundeten Hegelianers Raffele Mariano (1840–1912), der ihm von Karl Rosenkranz zugeführt worden war, be‐ mängelte. Er rät ihm brieflich zu: „Mehr Erde! mehr Erde!“ 6 In einem Empfeh‐ lungsbrief an den Herausgeber der Cotta’schen „Allgemeinen Zeitung“ schreibt Gregorovius über die Studien seines zwanzig Jahre jüngeren Freundes, der zahl‐ reiche seiner Werke ins Italienische übersetzte und 1886 Professor für Kirchenge‐ schichte in Neapel wurde: Seine große Bewunderung des hegel’schen Systems verleitet ihn bisweilen zu Extre‐ men, wie auch aus seiner übertriebenen Auffassung des Zusammenhanges hervorgeht, in welchem meine Geschichte Roms zu jenem stehen soll; da er der wunderlichen An‐ sicht ist, daß dieselbe eine Evolution von hegelschen Formeln sei. 7 3 Brief von Johann Georg Cotta an Gregorovius vom 24. Mai 1858 (Konzept: DLA Marbach, Cotta-Archiv, Cotta-Briefe, 14a). 4 Gregorovius an Johann Georg Cotta, 22. Juni 1858 (in: Ferdinand Gregorovius, Poe‐ sie und Wissenschaft. Gesammelte deutsche und italienische Briefe [digitale Edition], hg. von Angela Steinsiek, Deutsches Historisches Institut in Rom 2017–2023, URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000116). Cotta blieb im Antwortbrief vom 9. Juli 1858 skeptisch: „Indeßen wüßte ich zwischen den deutschen und den italieni‐ schen Katholiken keinen Unterschied mehr zu machen, zur Zeit wenigstens nicht. Ja ich glaube die italienischen sind eben jetzt viel freisinniger als die deutschen. Sie haben viel‐ leicht keine genaue Kunde von dem was seit Ihrer Abwesenheit in Deutschland in dieser Beziehung vorgegangen ist“ (Konzept: DLA Marbach, Cotta-Archiv, Cotta-Briefe, 15a). 5 In seinem Aufsatz über den neapolitanischen „Hegelianer Augusto Vera (1887)“ (in: Kleine Schriften zur Geschichte und Cultur, Bd. 3, Leipzig: Brockhaus 1892, S. 46). 6 Gregorovius an Raffaele Mariano, 7. Juni 1876 (in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe [wie Anm. 4], URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/let‐ ters/G000203). 7 Gregorovius an Otto Braun, 10. August 1873 (ebd., URL: https://gregorovius-edition.dhiroma.it/letters/G000355).

Zur Einführung

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Eben diese Hegel’sche Formel war seiner „Geschichte der Stadt Rom“ von einem damals namhaften Rezensenten unterstellt worden, über den Gregorovius in unge‐ wöhnlicher Deutlichkeit an einen Freund schreibt: [Adolf ] Stahr hat [. . . ] einen wahrhaften Blödsinn über meine Geschichtsauffassung losgelassen [. . . ]. Nach seiner Idee halte ich nämlich die Geschichte nicht für ein Pro‐ duct natürlicher Entwicklung, und des Zusammenhanges von Ursache und Wirkung, sondern für das eines vorherbestimmten göttlichen Plans, oder eines Fatums, und ich erscheine ihm geradezu als Anhänger des furchtbaren Judengottes. Es ist unglaublich was Menschen faseln können, zumal so seichte Schwätzer. Auf jeder Seite meines Werks ist das Gesetz der Causalität zu lesen, und ich habe das an verschiedenen Stellen ausgesprochen. Man muß in Wahrheit froh sein, wenn man in der Welt wenigstens nur so geschildert wird, daß man nicht geradezu als ein Monstrum mit zwei Köpfen, oder gar ohne Kopf erscheint. 8

Wie also ist dieser Widerspruch zu erklären? Die „speculative Gymnastik“ beginnt für Gregorovius da, wo ein Historiker die Vergangenheit geschichtsphilosophisch, nämlich von einem spekulativ gesetzten Ziel der Zukunft aus beurteilt. Er selbst deutet die Geschichte von einem in der nahen Vergangenheit stattgehabten Ereignis (der Revolution von 1848) und von einem in der nahen Zukunft angenommenen Ziel aus – dem Ende der weltlichen Macht des Papstes und die Konstituierung eines deutschen und italienischen Nationalstaates. Die Vorstellung geistesgeschichtlicher Entwicklung findet sich bereits in dem 1821 an der Preußischen Akademie der Wissenschaften gehaltenen Vortrag Wil‐ helm von Humboldts „Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers“ 9. Für den His‐ toriker und den Schriftsteller Gregorovius ist es ein Schlüsseltext. Humboldt hatte postuliert, dass sich in historischen Personen weltgeschichtliche Ideen offenbaren, die im Fortgang der Geschichte mit immer mehr Macht zur Wirklichkeit drängen. Analog zum menschlichen Individuum strebe jede Epoche einem in ihr angeleg‐ ten Ziel entgegen, das zur Verwirklichung dränge, ohne jedoch von ihr gewusst zu werden. 10 Aus diesem Grunde hatte sich Humboldt gegen jede teleologische Geschichtsschreibung ausgesprochen. Mit dem von ihm verehrten Wilhelm von Humboldt lehnte Gregorovius es ab, der geschichtlichen Entwicklung ein letztes Ziel zu unterstellen. Gregorovius’ synonyme Begriffsverwendung von der Freiheit des Geistes, der Aufklärung und der lutherischen Reformation geht indes auf seine über Rosenkranz vermittelte hegelianische Prägung zurück. 8 Gregorovius an Franz Rühl, 20. Februar 1873 (ebd., URL: https://gregorovius-edition.dhiroma.it/letters/G000360). 9 Wilhelm von Humboldt, Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers [1821] (in: Ders.: Werke in fünf Bänden, hg. von Andreas Flitner und Klaus Giel, Darmstadt 1960, Bd. 1: Schriften zur Anthropologie und Geschichte, S. 585–606.) 10 Ebd., S. 603–604.

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Zur Einführung

Die Unvereinbarkeit seines Schreibens als Schriftsteller und seiner Forschung als Historiker hat Gregorovius nie gesehen. Vielmehr erklärte er die Philosophie zusammen mit den schriftstellerischen Fähigkeiten zu den notwendigen Grund‐ lagen einer jeden Geschichtsschreibung: Über den Bologneser Archäologen und Lokalhistoriographen Giovanni Gozzadini urteilt er: „Es fehlten ihm freilich mit den wesentlichen Eigenschaften des Schriftstellers auch manche andere, zumal die philosophischen, welche den Geschichtsschreiber erst zu dem machen, was er sein soll.“ 11 Seine historischen und seine schriftstellerischen Werke führte Gregorovius auf eine künstlerische Inspiration zurück. Vier Jahre vor dem Erscheinen des ersten Bandes seiner „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“, im Dezember 1855, er‐ klärt Gregorovius dem Seniorverleger Heinrich Brockhaus die Anlage seines Werks: Für die „Ausführung [des] nur 1 Bändigen Werks“ sei er darangegangen, einen schon 3jährigen Lieblingsplan ins Leben zu bringen, den mir nicht allein die Engländer, sondern auch die Franzosen gern bezahlen werden. Es ist dies die Ge‐ schichte der Stadt und Volks von Rom im Mittelalter und ihrer Kämpfe um die Selb‐ ständigkeit, ein Studium das so unendlich intereßant ist, wie wenige andere in der Historie. Das Werk wird heißen Chronik der Stadt Rom im Mittelalter. Ich schreibe es ohne die Pedanterei deutscher Gelehrten, mit künstlerischem Bewußtsein, und doch mit gediegenem Quellenstudien, denn mehr als 100 Werke habe ich nach und nach bereits dafür benutzt. 12

Für dieses Werk hatte Gregorovius ein Jahr zuvor im Tagebuch in einem Akt der Selbststilisierung nach der „höchste[n] Disposition“ verlangt, „ja, so recht einen Auftrag vom Jupiter Capitolinus selbst“ erfleht – schließlich hatte er damals schon an eine Aufgabe gedacht, die seinem „Leben Inhalt gäbe“. 13 Eine strikte Trennungslinie zwischen den Gattungen lehnte er auch in späten Jahren vehement ab. Ausgehend von den literarisierten Landschaften und Volks‐ szenen, von den Beschreibungen antiker Ruinen und mittelalterlicher Monumente 11 In seinem Aufsatz über „Die Villa Ronzano. Ein Musensitz der Gozzadini von Bologna“, in dem das Ehepaar über Jahrzehnte einen prominent besuchten Salon unterhielt (in: Fer‐ dinand Gregorovius, Kleine Schriften zur Geschichte und Cultur, Bd. 3, Leipzig 1892, S. 97–120, hier S. 115–116). Im Erstdruck (in: Nord und Süd, Bd. 23, H. 69 Breslau, Berlin 1882, S. 312–321), den Gregorovius auf Wunsch des Grafen Giovanni Gozzadini (1810– 1887) als Erinnerung an die Gräfin Maria Teresa Serego Alighieri Gozzadini (1812–1881) eilig geschrieben hatte, fehlt diese erst nach dem Tod des Grafen beigefügte Charakterisie‐ rung. 12 Gregorovius an Heinrich Brockhaus, 11. Dezember 1855 (Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe [wie Anm. 4], URL: https://gregorovius-edition.dhiroma.it/letters/G000056). 13 Siehe Ferdinand Gregorovius, Römische Tagebücher 1852–1889, hg. von Hanno-Wal‐ ter Kruft und Markus Völkel, München 1991, Eintrag vom 3. Oktober 1854, S. 53.

Zur Einführung

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seiner „Wanderjahre in Italien“ hatte Gregorovius erst zur eigenen Form, zu seiner ihm eigenen Poetik der Historiographie in der „Geschichte der Stadt Rom im Mit‐ telalter“ gefunden: Die aus dem Studium selbst erlebte magische Verlebendigung der geschichtlichen „Lokale“ wie der schriftlichen Quellen waren die Vorausset‐ zung seiner Geschichtsschreibung. Gregorovius sah sich in der Tradition Wilhelm von Humboldts, der in dem genannten Vortrag eben dieses Auffüllen der Lücken urkundlich überlieferter Geschichte mit „Ahndungsvermögen und Verknüpfungs‐ gabe“ zur Bedingung historischer Erkenntnis erklärt hatte. Mit der nackten Absonderung des wirklich Geschehenen ist aber noch kaum das Gerippe der Begebenheit gewonnen. Was man durch sie erhält, ist die nothwendige Grundlage der Geschichte, der Stoff zu derselben, aber nicht die Geschichte selbst. 14

Eine Formulierung, die auch von Gregorovius stammen könnte, der immer wieder betonte, dass Geschichtsschreibung sich nicht in der Darlegung eines geschichtli‐ chen Prozesses erschöpfe und er sich „nie unter die Gelehrten gezählt“ habe, es aber zufrieden sei, „ein römisches Epos verfasst zu haben, welches doch auf dem festen Grunde der umfassendsten und gediegensten Studien in den Archiven ruht.“ 15 Gre‐ 14 Humboldt, Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers (wie Anm. 9), S. 586–587. 15 Im Erstdruck des Tagebucheintrags vom 9. Juni 1875 heißt es: „Solche Vorgänge [die Spie‐ gelung eines Idealbildes im Inneren des Betrachters] sind künstlerischer Natur. Die Pedan‐ ten in Deutschland, unter welche ich viele namhafte Kathederprofessoren, selbst Ranke, Mommsen und Giesebrecht zählen darf, haben das sehr wohl herausgefunden. Keiner von ihnen läßt mich gelten. Sie haben von ihrem Katheder aus vollkommen recht. Ich selbst habe mich nie unter die Gelehrten gezählt. Aber ich bin zufrieden ein römisches Epos verfaßt zu haben, welches doch auf dem festen Grunde der umfassendsten und gediegens‐ ten Studien in den Archiven ruht. Vielleicht wird sich an ihm der Ausspruch Wilhelm von Humboldts bewahrheiten, daß nur der ein lebendiges Geschichtswerk schreiben kann, welcher die Gabe des Dichters besitzt“ (Heinrich Hubert Houben, Das sterbende Rom. Ungedruckte Tagebuchblätter von Ferdinand Gregorovius, in: Westermanns Monatshefte, Jg. 59, Bd. 117, T. 1, Braunschweig 1914, S. 151). Vgl. die Edition von Gregorovius’ „Römischen Tagebüchern“ (wie Anm. 13, S. 356), wo diese Passage ohne einen erklären‐ den Kommentar im Apparat erheblich gekürzt und z. T. verändert gedruckt wurde. Abwei‐ chend von dem Editionsprinzip „der maximalen Information“ (Kruft, ebd., S. 16) wurde Gregorovius’ Ausführung über die „Kathederprofessoren“ in dem edierten Text getilgt, statt „römisches Epos“ heißt es „geistiges Totalbild Roms“ und aus der „Gabe des Dichters“ ist „die Gabe der Distanz“ geworden, was im Zusammenhang mit der Schrift Humboldts wenig Sinn macht. Die Überprüfung an dem in München aufbewahrten Manuskript der nachrömischen Tagebücher (Bayerische Staatsbibliothek, Nachlass Gregorovius, Gregoro‐ viusiana 1) hat ergeben, dass der Text bei Houben vollständig und korrekt wiedergeben wurde. Im Manuskript ist die Stelle „Die Pedanten in Deutschland [. . . ] unter die Gelehr‐ ten in Deutschland gezählt.“ mit einer Wellenlinie durchgestrichen und somit nur noch mit Mühe zu entziffern; „geistiges Totalbild Rom“ ist eine Variante zu „römisches Epos“ (gestrichen), die „Gabe der Distanz“ ist eine Fehllesung.

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gorovius’ Brief an einen Rezensenten seines Spätwerks, die „Geschichte der Stadt Athen im Mittelalter“, der diese als poetisch „verzierte“ Geschichtsschreibung ge‐ deutet hatte, gipfelt in dem verärgerten Ausruf: „Wilhelm von Humboldt hat sehr gut nachgewiesen, in welchem Maße der Geschichtschreiber ein Dichter sein soll und muß.“ 16 Auch Ranke verabscheute jene Geschichtsphilosophie, die – folgt man Reinhart Koselleck – im philosophischen Kampf des aufklärerischen Bürgertums gegen die absolute Monarchie und ihre aristokratischen Auswüchse ihre Anfänge und in He‐ gel ihren Höhepunkt gefunden hatte; aber er zog einen anderen Schluss daraus, wenn er Objektivität als historische Wahrheit verlangte. Ranke ist offensichtlich komplizierter (und als Nichthistorikerin will ich mich näher auf ihn auch gar nicht einlassen), als es die berühmte Stelle im Vorwort der frühen „Geschichten der ro‐ manischen und germanischen Völker von 1494–1535“ nahelegt, aber sie hat dem Historiker gleichsam sein Äußeres gegeben, auf das sich Nachahmer und Gegner, und so auch Gregorovius, immer wieder beziehen konnten: Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beygemessen; so hoher Aemter unterwindet sich gegen‐ wärtiger Versuch nicht: er will bloß sagen, wie es eigentlich gewesen. 17

Dass Rankes Historie nicht „magistra vitae“ sein wolle, richtet sich vielleicht weni‐ ger gegen den 1824 schon altbackenen Anspruch „zu sagen, wie es eigentlich gewe‐ sen“, als vielmehr gegen die Einsicht, dass man sie auf das Leben, das es zu belehren gilt, ausrichten müsste. Eine solche Ausrichtung aber hat Gregorovius durchaus im Sinne, wenn auch er natürlich nicht an die „historia magistra vitae“ denkt. Auch er verwirft die Geschichtsphilosophie Hegel’scher Prägung, aber er tut dies in der Einsicht, dass Geschichtsschreibung ohne Perspektive nicht sein kann. Ranke weist allerdings dem Historiker-Ich eine Position zu, die Gregorovius in der Radikalität der formelhaften Bestimmung mit Sicherheit fremd war. Rankes Formel, die in‐ teressanterweise oft falsch zitiert wird, lautet in der „Englischen Geschichte“ von 1860: Ich wünschte mein Selbst gleichsam auszulöschen, und nur die Dinge reden, die mäch‐ tigen Kräfte erscheinen zu lassen, die im Laufe der Jahrhunderte mit und durch ein‐ ander entsprungen und erstarkt, nunmehr gegen einander aufstanden und in einen 16 Gregorovius an Wilhelm Goldbaum vom 26. Juni 1889 (in: Fritz T. Callomon, Ein un‐ bekannter Brief von Ferdinand Gregorovius, in: Archiv für Kulturgeschichte, Bd. 37, H. 1, Münster, Köln 1955, S. 98–100). Die Rezension von Wilhelm Goldbaum war unter dem Titel „Athen im Mittelalter“ in der Wiener „Neuen Freien Presse“ erschienen (Nr. 8917, Wien 22. Juni 1889, S. 1–3, Morgenblatt). 17 Leopold von Ranke, Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494– 1535, Bd. 1: Vorwort, Leipzig, Berlin 1824, S. V – VI.

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Kampf geriethen, der, indem er sich in blutigen und schrecklichen Schlägen entlud, zugleich für die wichtigsten Fragen der europäischen Welt eine Entscheidung in sich trug. 18

Dem Historismus der Ranke’schen Schule und der nachfolgenden Generation eines Fachs, das sich in kleinteiligen Spezialstudien auszudifferenzieren begann, setzte Gregorovius eine idealistisch-klassizistische Vorstellung entgegen, dass die Geschichte Roms „als ein in sich Bestehendes und Ganzes noch vorhanden“ sei 19. In einem bislang unpublizierten Konzept zur „Geschichte der Stadt Rom“, das er Heinrich Brockhaus im März 1858 geschickt hat, der das Werk dann allerdings ab‐ lehnte, formulierte er dahingehend sein Programm einer Kulturgeschichte: Der Plan meines Werks ist universell, was die Geschichte der Stadt betrifft; es be‐ schränkt sich nicht auf die politischen Dinge, sondern umfaßt das gesamte Leben der Stadt, ihre Metamorphosen, die Geschichte ihrer Ruinen, ihrer Transfiguration in verschiedenen Epochen, der Sitten und Gebräuche, der Kunst, der Sagen, die im Local entstanden und mit den Monumenten zusammenhängen; es verwebt dieses or‐ ganisch in die Geschichte der Stadt, es stellt die römische Gestalt des Christentums dar, und entwickelt den Charakter Roms und der Römer im Verhältniß zum Papsttum wie zu dem Kaisertum. Das Werk beansprucht für Deutschland eine gewiße Natio‐ nalität, weil es der beständigen Beziehungen Roms zum römischen Reich Deutscher Nation, die Romfahrten der Kaiser etc notwendig in sich aufnehmen muß. Eine mehr als fünfjährige Kenntniß und Erforschung Roms in diesem Sinne, der Zusammenhang mit den römischen Gelehrten, die Bekanntschaft mit allen dahingehörigen Quellen berechtigt mich diese Geschichte zu schreiben, von welcher ich nunmehr die 2 ersten Bände vollendet habe. 20

Gregorovius beschreibt hier ein eigenes Konzept der Kulturgeschichte, vergleichbar jenem, das Jacob Burckhardt in seiner Vorlesung „Einleitung in das Studium der Geschichte“ bereits im Sommer 1851 entwickelt hatte; darin heißt es: [. . . ] der universelle Standpunkt; das Sammeln der Facta nicht mehr allein nach gewis‐ sen äußerlichen Beziehungen, sondern als Charakteristik der Zeiten. Plötzliche Bedeu‐ tung zahlloser, einzelner Data; neben die Staatsgeschichte etc. stellt sich eine endlos weite Culturgeschichte; [. . . ] alles Erhaltene wird zum redenden Zeugniß der betreffen‐ 18 Leopold von Ranke, Englische Geschichte vornehmlich im sechszehnten und siebzehnten Jahrhundert, Bd. 2, Berlin 1860, S. 3. 19 Siehe im Vorwort zu Ferdinand Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter, Bd. 1, Stuttgart: Cotta 1859, S. 3. 20 Beilage zum Brief von Gregorovius an Eduard Brockhaus, 7. März 1858 (in: Gregoro‐ vius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe [wie Anm. 4], URL: https://gregoro‐ vius-edition.dhi-roma.it/letters/G000035).

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den Epoche, zum Monument. [. . . ] Auf den geschichtlichen Gehalt aller Monumente hinzuweisen, wäre Hauptaufgabe für uns. 21

Die Verbindung von Gregorovius und Burckhardt war lose, immerhin waren beide 1853 gleichzeitig in Rom. Zwei Jahre nach Burckhardts Basler Vorlesung besuch‐ ten sie gemeinsam die vatikanischen Sammlungen 22 und reisten zusammen nach Paestum 23. Danach trennten sich ihre Wege, zumindest persönlich. 1875 würdigt Gregorovius in Burckhardts „Cultur der Renaissance in Italien“ (Basel 1860) dessen eminent durchdringenden „Geist der Kritik“. 24 Von Vertretern der akademischen Geschichtsschreibung – von Gregorovius als „Kathederprofessoren“ disqualifiziert – wurde ihm insgesamt eine zu große Nähe zur Belletristik, seiner „Geschichte der Stadt Rom“ eine zu italianisierende Ten‐ denz 25 und eine „bemerkbare Sucht, Neues zu entdecken“ vorgeworfen 26. Jacob Burckhardt hingegen erkannte seine Verdienste als Historiker zwar an, doch kriti‐ sierte er, dass Gregorovius der Phantasie zu viel Raum lasse. 27 Dass Gregorovius sei‐ nerseits nicht mit abfälligen Bemerkungen über seine Fachkollegen sparte, versteht sich. Die „feindlich geschloßene Phalanx“ der „Professorenzunft“, die Gregorovius noch in hohem Alter gegen ihn, den Privatgelehrten unter den Geschichtsschrei‐ bern, am Werke sah, 28 hat es indes nie gegeben. Vielmehr wurden ihm ab den frühen 21 Jacob Burckhardt, Über das Studium der Geschichte. „Weltgeschichtliche Betrachtun‐ gen“, München 1982, S. 84 (Hervorhebungen im Original). 22 Siehe Friedrich Althaus, in: Vorwort zu Gregorovius, Römische Tagebücher, Stuttgart 1892, S. XVI. 23 Im Juli 1853 unternahmen sie zusammen mit Friedrich Althaus (1829–1897) und dem großherzoglich mecklenburgischer Hofbaurat Georg Adolf Demmler (1804–1886) eine Reise von Neapel nach Paestum über Castellamare, Pompeji und Salerno (siehe Grego‐ rovius, Römische Tagebücher [wie Anm. 13], Eintrag vom 24. Juni 1853, S. 47). 24 Gregorovius an die J. G. Cotta’sche Buchhandlung, 27. August 1875 (in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe [wie Anm. 4], URL: https://gregorovius-edi‐ tion.dhi-roma.it/letters/G067837). 25 Siehe Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 13), Eintrag vom 2. Dezem‐ ber 1871, S. 313. 26 Von Leopold von Ranke soll auch die Charakterisierung von Gregorovius als einem Belle‐ tristen stammen (siehe Sigmund Münz in der biographischen Einführung zu: Ferdinand Gregorovius und seine Briefe an Gräfin Ersilia Caetani Lovatelli, hg. von Dems., Berlin 1896, S. 43.) 27 In einem Gespräch mit dem Historiker Ludwig von Pastor äußerte Jacob Burckhardt: „Gre‐ gorovius hat seine Verdienste, aber er läßt der Phantasie zu viel Spielraum.“ (Ludwig Frei‐ herr von Pastor, Tagebücher – Briefe – Erinnerungen, hg. von Wilhelm Wühr, Heidel‐ berg 1950, Eintrag von 18. März 1895, S. 276). 28 Gregorovius an Hermann von Thile, 18. September 1887 (in: Briefe von Ferdinand Grego‐ rovius an den Staatssekretär Hermann von Thile, hg. von Herman von Petersdorff, Berlin 1894, S. 195–196).

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1860er Jahren immer wieder Professuren angetragen, die er sämtlich unter Verweis auf seine geistige Unabhängigkeit „cum devotione“ abgelehnt hatte. 29 Die Diskussion um Gregorovius als Historiker oder als Schriftsteller setzt sich bis heute fort. Vielleicht ist das ‚oder‘ nur falsch. Wie dem auch sei, wir haben jetzt eine neue und eine sehr breite Diskussionsgrundlage. Zuvor, und nicht zuletzt, bleibt mir Dank auszusprechen. Der Deutschen For‐ schungsgemeinschaft für die großzügige Finanzierung. Tagung und vorgängige Le‐ sung aus den Briefen von Gregorovius von dem großen Schauspieler und Spre‐ cher Friedhelm Ptok fanden in Zusammenarbeit mit der Gerda Henkel Stiftung statt, die von beiden Veranstaltungen einen Videomitschnitt erstellt hat, der auf dem L. I. S.A. Wissenschaftsportal der Stiftung online zur Verfügung steht. Hier‐ für möchte ich Angela Kühnen und George Chatzoudis auch persönlich herzlich danken. Martin Baumeister hat als Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Rom einen nicht kleinen Teil der finanziellen Mittel für die Veranstaltungen bereitgestellt. Vor allem aber hat er als Wissenschaftler mit mir zusammen das Gre‐ gorovius-Projekt initiiert, und er hat auch die Vorbereitung der Tagung mit Neugier und Engagement begleitet. Danken möchte ich ferner allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Instituts für die tatkräftige Unterstützung bei der Vorbereitung und Durchführung der Tagung, namentlich Paola Fiorini, die als Eventmanagerin zusammen mit Monika Kruse für unsere Unterbringung und unser leibliches Wohl gesorgt haben, und Claudia Gerken in Sachen der Presse und Öffentlichkeitsarbeit. Danken möchte ich besonders auch Kristian Bojack Lombardi, der die technische Umsetzung vor Ort wie für die Zuhörerinnen und Zuhörer am Bildschirm gezau‐ bert hat. Angela Steinsiek

29 Siehe den Brief von Gregorovius an Hermann von Thile vom 15. November 1862 über das Angebot einer Professur in München, die ihm Adolf Friedrich Graf von Schack im Namen König Maximilians II. von Bayern überbrachte (in: Gregorovius, Gesammelte deut‐ sche und italienische Briefe [wie Anm. 4], URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma. it/letters/G000157 – siehe auch den diesbezüglichen Brief von Gregorovius an Schack vom 11. September 1862, ebd., URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/ G000161).

Antipoden unter sich Theodor Mommsen und Ferdinand Gregorovius gegenübergestellt Simon Strauß

Mommsen und Gregorovius mochten sich nicht. Dafür gibt es zahlreiche Belege. Zu den markantesten zählt eine Begebenheit, die im März 1873 im Salon der italieni‐ schen Gräfin Ersilia Caetani Lovatelli stattfand. Davon berichten unterschiedliche Gäste rückblickend in ihren Lebenserinnerungen, unter anderem der Historiker und späte Gregorovius-Freund Robert Davidsohn: Der Geschichtsschreiber des antiken war dem des mittelalterlichen Rom nicht lange vor dieser Zeit im Salon der Gräfin Ersilia Lovatelli [. . . ] begegnet. [. . . ] Vor jener Begegnung der beiden war Mommsen an demselben Abend bereits verschiedentlich durch die Frage bedrängt worden, wann sein vierter Band [zur römischen Geschichte, der niemals erschien] zu erwarten sei, und unseliger Weise richtete auch Gregorovius dieselbe an ihn. In der Beherrschung seiner Stimmungen und Verstimmungen war Mommsen kein Meister, und er antwortete nach der Erzählung der Nächstbeteiligten mit den höhnischen Worten: „Ach was, es gibt viel dringendere Aufgaben, die noch ungelöst sind, zunächst sollte einmal eine ernst zu nehmende Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter geschrieben werden!“ Dass Gregorovius dieses Abtun seiner Le‐ bensarbeit, dass er die unverdiente Beleidigung niemals verwunden hat, ist sehr be‐ greiflich. 1

Auch Bernhard von Bülow, Mitte der 1870er Jahre Attaché an der deutschen Bot‐ schaft in Rom, berichtet in seinen Lebenserinnerungen von Mommsens handfester Beleidigung: Das Gespräch wandte sich den Schicksalen der Ewigen Stadt zu, in der sich die beiden großen Männer begegneten. Gregorovius erzählte mit Geist und Feuer manches Neue 1 So berichtet Robert Davidsohn (1853–1937). Vgl. ders., Menschen, die ich kannte. Erin‐ nerungen eines Achtzigjährigen, hg. von Martin Baumeister und Wiebke Fastenrath Vinat‐ tieri unter Mitarbeit von Wolfram Knäbich, Berlin: Duncker & Humblot 2020, S. 183– 186. Sowie: Sigmund Münz, Ferdinand Gregorovius, in: Die Nation. Wochenschrift für Politik, Volkswirtschaft und Literatur, Jg. 8, Nr. 34, Berlin 1891, S. 523–526, hier S. 523: „Er hatte längst seine ‚Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter‘ geschrieben, als ein grosser deutscher Gelehrter, der in einer gastfreundlichen Adelsfamilie Roms [den Caetani], aus deren Hause ein berühmter Papst des Mittelalters hervorgegangen ist, bei Tische neben Gregorovius zu sitzen kam, die sarkastische Bemerkung machte: ‚die Geschichte Roms im Mittelalter sollte doch endlich geschrieben werden‘.“

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über das römische Mittelalter. Darauf Mommsen als Gregorovius eine kleine Pause machte: „Ich will Ihnen etwas sagen, schreiben Sie eine Geschichte Roms im Mittelal‐ ter.“ 2

Der gekränkte Gregorovius fasste die Episode in seinem Tagebuch bitter zusammen: Mommsen kam nach Rom, wo er sich noch aufhält. Nur zufällig begegnete ich ihm bei einem Diner. Er ist offenbar, wie Richard Wagner, an Größenwahn krank. Die Ka‐ thederprofessoren lassen mich nicht gelten, weil ich in freier Tätigkeit schaffe, keine Beamtenstelle einnehme und sogar horribile dictu einiges Dichtertalent besitze. Mei‐ nen Sinn für schöne Form verzeiht man mir nicht. Mit Schweigen und Achselzucken ist von den Pedanten Deutschlands meine Geschichte der Stadt Rom aufgenommen worden. 3

Das, was die beiden Historikerheroen ihrer Zeit trennt, wird hier schon recht deut‐ lich: Gregorovius, der die Geschichtsschreibung als Spielart der Dichtung verstand und bei seiner Schilderung historischer Zusammenhänge einem genuin literarisch‐ künstlerischen Anspruch folgte, 4 fühlte sich von dem einflussreichen Verfechter einer unter dem systematischen Ordnungsgebot stehenden kritischen Wissenschaft nicht ernstgenommen. Die Erwähnungen des Namens Mommsen gehen in seinem Tagebuch „mit zunehmender Feindschaft und Gehässigkeit“ einher: „Gregorovius sah in Mommsen als Historiker und Person seinen Antipoden“, 5 so lautet das Dik‐ tum der – bislang eher übersichtlichen – 6 Beziehungsforschung zwischen den zwei eigensinnigen Wissenschaftlern.

2 Bernhard von Bülow, Denkwürdigkeiten, Bd. 4: Jugend- und Diplomatenjahre, Ber‐ lin 1931, S. 327 f.; eben diese Begebenheit berichtet auch der Modeneser Kunsthistoriker Adolfo Venturi in: Memorie autobiografiche. Mailand 1911, S. 157 f. 3 Ferdinand Gregorovius, Römische Tagebücher 1852–1889, hg. von Hanno-Walter Kruft und Markus Völkel, München 1991, Eintrag vom 30. März 1873, S. 330. Vgl. dazu auch Johannes Hönig, Ferdinand Gregorovius. Eine Biographie, Stuttgart 1944, S. 359. 4 Siehe den Brief vom 25. August 1858 an Georg von Cotta: „Ich suche Forschung und künstlerische Darstellung zu vereinigen und wünsche auch, dass man mir zugäbe, die Kunst des Erzählens zu besitzen, welche in Deutschland nicht häufig ist.“ In: Ferdinand Grego‐ rovius, Poesie und Wissenschaft. Gesammelte deutsche und italienische Briefe (digitale Edition), hg. von Angela Steinsiek, Deutsches Historisches Institut in Rom 2017–2023, (URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000114). 5 Hanno-Walter Kruft, Der Historiker als Dichter. Zum 100. Todestag von Ferdinand Gre‐ gorovius. Öffentlicher Vortrag, gehalten am 2. Dezember 1991, München 1992, S. 9. 6 Es gibt, soweit ich sehe, nur eine detailliertere wissenschaftliche Studie zum Verhältnis der beiden Generationsgenossen, die über Anekdoten hinausgeht. Darin wird wie folgt argu‐ mentiert: „Gregorovius championed a form of passionate historical scholarship that stood

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Im Mai 1876 trafen sich die beiden bei einem Abendvortrag in der Accademia dei Lincei wieder – es blieb bei einem stummen Kopfnicken. 7 Anschließend berich‐ tet Gregorovius, Mommsen habe „im April alle Blätter von sich reden gemacht“, nämlich bei einer Abendgesellschaft, die der Mineraloge und Politiker Quintino Sella zu Ehren des Grafen Moltke gegeben hatte. 8 Mommsen soll während des Diners einen feurigen nationalistischen Toast aus‐ gegeben haben. Und Gregorovius hielt, angewidert vom angeberischen Tonfall des Kollegen, in seinem Tagebuch fest: „Mommsen ist nicht nur einer der ausgepichtes‐ ten Typen des deutschen Pedantendünkels, sondern auch ganz persönlich mit hoch‐ gradiger Arroganz begabt. [. . . ] Von der wahren Blüte der Bildung, welche urbanitas heißt, besitzen diese Narren nichts.“ 9 Obgleich beide von derselben Einheitssehn‐ sucht fürs Vaterland ergriffen waren, erschien dem einen die Umgangsform des an‐ deren offensichtlich als so unerträglich, dass er jedes noch so richtige Wort von ihm als Provokation empfand. In einem Brief an seinen Freund Hermann von Thile schreibt Gregorovius zehn Jahre später, im Mai 1885 nach einer Begegnung mit Mommsen in München übri‐ gens nahezu wortgleich: Gegenwärtig ist Mommsen hier – und ich mache die Bemerkung, wie selten doch deut‐ sche Gelehrte zu dem gelangen, was in der Zeit des Cicero als die Blüte der Bildung

at odds with the professionalized distance advocated by the leading German historians of his generation“, gemeint ist Mommsen. Eine interessante zeitliche Interferenz zwischen der Veröffentlichung von Mommsens „Römischer Geschichte“ und Gregorovius’ Buch über Roms Mittelalter bemerkt Hanno-Walter Kruft, Historiker als Dichter (wie Anm. 5), S. 8 f.; vgl. auch ders., Gregorovius und die Anschauung Roms, in: Ferdinand Gregorovius und Italien. Eine kritische Würdigung, hg. von Arnold Esch und Jens Petersen, Tübingen 1993, S. 1–11, hier S. 4 f. In „Kürschners Deutscher Gelehrten-Kalender: Bio-bibliographi‐ sches Verzeichnis deutschsprachiger Wissenschaftler der Gegenwart“ (1950, Berlin 2020, S. 827) findet sich ein Hinweis auf einen Beitrag von Hönig zu Gregorovius und Momm‐ sen in der „Schlesischen Volkszeitung“ von 1938. Er erschien in der Sonntagsbeilage der Schlesischen Volkszeitung, Jg. 70, Nr. 49, Breslau 4. Dezember 1938, S. 193 f. Leider war es mir bisher nicht möglich, diesen einzusehen. 7 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 3), Eintrag vom 29. Mai 1876, S. 369 f. Gregorovius berichtet zuerst von einem Vortrag am 21. Mai 1876: „Anwesend war auch Mommsen, welcher mich am Schluß der Sitzung wortlos und mit einer Kopfbewegung grüßte, was ich in gleicher Weise erwiderte.“ 8 Ebd., S. 370. 9 Siehe ebd.; vgl. auch Maya Maskarinec, Ferdinand Gregorovius versus Theodor Momm‐ sen on the City of Rome and Its Legends, in: History of Humanities, Bd. 1, Nr. 1 (2016), S. 101–128, darin S. 101, FB.

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galt, urbanitas. Die Italiener und Franzosen begreifen nicht, dass an uns noch immer ein Stück Bärenfell kleben geblieben ist, aus dem Teutoburger Walde her. 10

Mommsen einen Mangel an „urbanitas“, an „feiner Lebensart“ vorzuwerfen, war die Rache des vornehmen Kosmopoliten am fachlich überragenden, aber gesellschaft‐ lich eben ungeschmeidigen Zeitgenossen. „Zu kritisch, um an seinem Werke zu mä‐ keln, wendet er sich gegen seine Persönlichkeit“. 11 Die erste Notiz zum Generationsgenossen Mommsen findet sich aber schon gute zehn Jahre zuvor, nämlich 1862, 12 als Mommsen gerade seine Professur für Römische Geschichte und Epigraphik an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin angetreten – und die Arbeit am „Corpus Inscriptionum Latinarum“, kurz CIL, die bis heute bedeutendste Dokumentation lateinischer Inschriften, aufge‐ nommen hatte. Mommsens energische Zusammenführung von Historie, Philologie und Rechtswissenschaft unter dem Banner einer fächerübergreifend interessierten Altertumswissenschaft machte zu dieser Zeit europaweit großen Eindruck. Er war nach Rom gekommen, um Mitstreiter für seine wissenschaftlichen Großprojekte, insbesondere eben die epigraphische Grundlagenforschung zu suchen. Gregorovius wohnte da schon zehn Jahre lang in Rom und schrieb an seinem Opus magnum. Begonnen hatte er damit 1854, im Erscheinungsjahr von Momm‐ sens „Römischer Geschichte“. Kein Zufall, wie einige Interpreten meinen: 13 Der angeblich so verachtete Antikenpedant war ihm eben offensichtlich nicht nur An‐ tipode, sondern auch Ansporn. In seinem Tagebuch hielt Gregorovius jedenfalls über die erste Begegnung unter römischem Himmel fest: Theodor Mommsen befindet sich hier. In seiner Erscheinung ist er ein eigentümliches Gemisch von Juvenilität und von schulmeisterlicher Gewissenhaftigkeit. Dies erklärt mir vieles im Wesen seines durch kritische, destruktive Schärfe und Gelehrsamkeit ausgezeichneten Werks, welches aber eher ein Pamphlet als eine Geschichte ist. 14

Mehr Pamphlet als richtige Geschichte? Dass Gregorovius, der später selbst von vielen als feuilletonistischer Dilettant verunglimpft wurde, seinem Kollegen hier vorwirft, keine „richtige Geschichte“ geschrieben zu haben, ist erstaunlich. Zeichnet sich doch auch Gregorovius’ Stil 10 Gregorovius an Hermann von Thile vom 17. Mai 1885, in: Gregorovius, Gesam‐ melte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 4), URL: https://gregorovius-edition. dhi-roma.it/letters/ed_a4h_lrz_ssb. 11 Johannes Hönig, Ferdinand Gregorovius als Dichter, Stuttgart 1914, S. 52. 12 Siehe Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 3), Eintrag vom 2. März 1862, S. 144. 13 Kruft, Historiker als Dichter (wie Anm. 4), S. 8–9. 14 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 3), Eintrag vom 2. März 1862, S. 144.

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durch einen Sinn für das atmosphärische Detail und einen moralisierenden, frei‐ giebig Zensuren an historische Größen verteilenden Ton aus. Während Mommsen einen Cicero etwa einen „politischen Achselträger“ nennt, die römische Aristokra‐ tie als „Junkertum“ diffamiert und Caesar als weltgeschichtliches Ereignis feiert, bezeichnet Gregorovius beispielsweise Attila als „furchtbare[n] Würger“ und nennt niemand geringeren als Napoleon einen „Barbar“ 15. So groß sind die Unterschiede zwischen den beiden „Geschichten“ möglicher‐ weise gar nicht. Beide Werke sind mit flotter und spitzer Feder geschrieben, beide Werke werden viel gelesen, beiden Werken wirft die Fachwissenschaft aber eben auch vor, zu leidenschaftlich, zu moralisierend, zu ästhetisierend zu sein. Aber gehen wir die Gegenüberstellung der beiden Figuren erst einmal lebens‐ weltlich an: Beide stammen aus protestantischen Pfarrfamilien, Mommsens Vater ist evangelischer Pfarrer in Holstein, Gregorovius kommt aus einer mehr als drei‐ hundert Jahre in Masuren ansässigen protestantischen Predigerfamilie polnischen Ursprungs – beide entfliehen dem Nachfolgedruck des Elternhauses durch das geisteswissenschaftliche Studium: Gregorovius studiert Theologie und Literatur, Mommsen Rechtswissenschaften. Der eine promoviert über die Ästhetik Plotins, der andere über das römische Vereinswesen. Erstaunlich synchron verläuft auch die erste literarische Produktion. Im selben Jahr, 1843, veröffentlichen beide ihre poetischen Debüts. Sie legen jeweils Zeug‐ nis für ihre spezifische Sozialisierungssituation ab: Gregorovius’ anti-jesuitische Sa‐ tire „Konrad Siebenhorn’s Höllenbriefe“ entsteht aus dem Kreis um den jüdischen Radikaldemokraten Johann Jacoby heraus, Mommsens an Mörike geschultes „Lie‐ derbuch dreier Freunde“ manifestiert die Beziehung zum Dichterfreund Theodor Storm und seinem Bruder Tycho. Beide Historiker wollen zuerst Dichter werden und nutzen Freundeskreise, Burschenschaften und sonstige ‚Cliquen‘ zur literari‐ schen Erprobung.

15 „In der Geschichte des Papsttums werden ewig zwei Szenen glänzen und die geistige Größe der Päpste dartun: Leo, vor welchem der furchtbare Würger Attila zurückweicht, und Gre‐ gor, vor dem Heinrich IV. im Büßerhemde kniet. Aber das Gefühl des Betrachters dieser weltberühmten Szenen wird ungleich von ihnen bewegt, denn die erste wird ihn mit Ehr‐ furcht vor einer reinen moralischen Höhe erfüllen, die andere ihn nur zur Bewunderung eines fast übermenschlichen Charakters zwingen. Indes, der waffenlose Sieg des Mönchs hat mehr Anrecht auf die Bewunderung der Welt als alle Siege eines Alexander, Caesar oder Napoleon. Die Schlachten, welche die Päpste des Mittelalters schlugen, wurden nicht durch Eisen und Blei, sondern durch moralische Macht erkämpft, und die Anwendung oder die Wirkung so feiner geistiger Mittel ist es, welche das Mittelalter bisweilen über unsere Zeit erhebt. Ein Napoleon erscheint einem Gregor gegenüber nur als Barbar.“ (Ferdinand Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter, Bd. 4, Stuttgart: Cotta 1862, S. 197 f.)

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Die Parallele geht noch ein gutes Stück weiter: Beide werden erst Hausleh‐ rer – Mommsen an einer Mädchenschule in Altona, Gregorovius an einer Privat‐ schule in Königsberg – und dann politisch bewegte, mit der Revolution von 1848 große Hoffnungen verbindende Journalisten. Im Revolutionsjahr werden beide vom plötzlichen Schwung der Erneuerung in Redakteursämter gehoben: Mommsen übernimmt bei der neu gegründeten „Schleswig-Holsteinischen Zeitung“ die Auf‐ gabe, die sogenannte „Provisorische Regierung“ Schleswig-Holsteins publizistisch gegen das konservative Landesparlament zu unterstützen – leidenschaftlich tritt er für die Aufnahme des dänisch regierten Herzogtums Schleswig in den Deutschen Bund ein und träumt von einer nationalen Einigung unter Preußens Führung. Als ihm Zensur angedroht wird, tritt er im Oktober 1848 von seinem Posten zurück. Gregorovius schreibt bis zu ihrem Ende im Juni 1850 für die ebenfalls liberal gesinnte „Neue Königsberger Zeitung“. Auch in seinen Leitartikeln drückt sich der neu gemischte Geist aus radikalem Nationalsinn und leidenschaftlichem Libera‐ lismus aus, der in jener Zeit den größtmöglichen Fortschritt verspricht. Gregoro‐ vius’ zeitpolitische, der Unabhängigkeit von Nationen energisch zugewandte An‐ teilnahme in diesen Jahren zeigt sich unter anderem in seiner Schrift „Die Idee des Polentums“ (1848). Mommsen hingegen bringt 1849 anonym einen viel verkauften Kommentar zu den in Frankfurt ausgearbeiteten Grundrechten des deutschen Volkes heraus, pole‐ misiert heftig gegen den Partikularismus des Sächsischen Landtags und ruft gar zu einer Bürgerwehr auf, um den Dresdner Aufständischen zu Hilfe zu eilen. In seinem Kommentar heißt es: [. . . ] es muss ein Jeder von Euch dafür wirksam sein, dass diese Rechte zur That und Wirklichkeit werden. Von all den Lasten, welche die Thorheit und die Noth früherer Geschlechter auf euch vererbt haben, von der polizeilichen Bevormundung durch den Staat, von den Fesseln, welche die Feudalknechtschaft dem Landmann, der Gewerbe‐ zwang dem Städter angelegt hat, von der Gewohnheit des blinden Gehorsams gegen den Herrn Amtmann und des albernen Respekts gegen den Herrn Grafen müsst ihr Euch selbst befreien. 16

Gregorovius nimmt kurzzeitig als Abgeordneter an den demokratischen Provinzial‐ kongressen in Königsberg teil und versucht sich in sozialistischen Freiheitsidealen. Bis zu diesem Zeitpunkt also wenig wirkliche Unterschiede zwischen den bei‐ den angeblichen Antipoden. Dann aber kommt die entscheidende Weggabelung: Mommsen wird mit einunddreißig Professor der Rechte in Leipzig, Gregorovius schreibt mit siebenundzwanzig ein modernisierendes, von seiner Enttäuschung 16 Theodor Mommsen, Die Grundrechte des deutschen Volkes. Mit Belehrungen und Erläu‐ terungen, Neudruck mit einem Nachwort von Lothar Wickert, Frankfurt am Main 1969 [1849], S. 8.

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über die fehlgeschlagene Revolution gekennzeichnetes Tragödiendrama über den „Tod des Tiberius“ (1851). Und er beginnt, von Italien zu träumen. Mommsen war zu diesem Zeitpunkt schon dort gewesen. 1844 geht er mit Hilfe eines dänischen Reisestipendiums nach Italien – weniger aus Sehnsucht nach dem Süden als aus protestantischem Arbeitsethos: Geschult an Savignys Diktum, dass man anhand des historischen römischen Rechtes auch etwas über die Geschichte des römischen Volkes lernen könne, sammelt er für ein Editionsprojekt antike lateini‐ sche Inschriften. „Die Archive der Vergangenheit ordnen“ lautet bald der Schlacht‐ ruf des jungen, ehrgeizigen Wissenschaftlers. Schon Mommsens erste Begegnung mit der Stadt ist paradigmatisch: Spät am Abend des 30. Dezembers 1844 kommt er nach Rom und steigt gleich auf den Ka‐ pitolshügel. In seinem Tagebuch vermerkt er später: „Da bin ich auf dem Capitol und höre den Wind um meinen Hügel pfeifen, wie er wohl um Romulus gepfif‐ fen hat. Doch via! An den glauben wir ja nicht mehr“. 17 Der Ausruf ist durchaus programmatisch zu verstehen – statt Fiktionen und Legenden soll es der modernen Wissenschaft nach Mommsens Ansicht nur noch um verlässliche Quellen gehen, die systematisch gesammelt und historisch-kritisch editiert werden. Noch bevor er sich für die politische Revolution begeistert, ist Mommsen schon ein glühender An‐ hänger der „epigraphischen Revolution“. 18 Er ist Teil jener historisierenden Bewe‐ gung, die mit der klassizistischen Entrückung und neuhumanistischen Idealisierung Roms radikal bricht. Eben jenen Traditionen fühlt sich aber nun der innig mit Literatur und Kultur‐ geschichte im Austausch stehende Gregorovius weiterhin verbunden: Er, der 1852, also acht Jahre später als Mommsen, allerdings mit finanzieller Unterstützung von Freunden nach Rom kommt und dort zweiundzwanzig Jahre bleibt, lässt sich von der Stadt direkt inspirieren. „Ergriffen vom Anblick der Stadt“ fasst er den Plan zu seiner Geschichte. Ihm liefern die historischen Legenden, Sagen, Fabeln und Märchen Stoff für seine Erzählung, er nennt Anekdoten, die Mommsen so nachdrücklich verdammt, „schön“ und „sinnreich“, denn ihm sind sie „Agenten der Geschichte“. 19 Deutlich wird diese Differenz auch schon daran, dass beide die Volksfeste, die sie im zeitgenössischen Rom erleben, sehr unterschiedlich bewerten. Während Gre‐ gorovius etwa von den rituellen katholischen Festen fasziniert ist, 20 beschreibt 17 Theodor Mommsen, Tagebuch der französisch-italienischen Reise, 1844/1845, hrsg. von Gerold und Brigitte Walser, Bern 1976, Eintrag vom 30. Dezember 1844, S. 124. 18 Stefan Rebenich, Ecco Montsene. Theodor Mommsen in Rom, in: Rombilder im deutschsprachigen Protestantismus. Begegnungen mit der Stadt im „langen 19. Jahrhun‐ dert“, hg. von Martin Wallraff, Michael Matheus und Jörg Lauster, Tübingen 2011. S. 38– 58, hier S. 54. 19 Maskarinec, Ferdinand Gregorovius versus Theodor Mommsen (wie Anm. 9), S. 118. 20 Gregorovius, Römische Tagbücher (wie Anm. 3), Eintrag vom 2. Juni 1861, S. 131: „Rom kehrt das Mittelalter wieder stark hervor. Der Papst weihte beim Fest des Filippo

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Mommsen sie aus der Perspektive eines kulturell überlegenen Feldforschers, der das Ganze als „obligate Tollheit“ 21 durchschaut. Während Mommsen auch bei der historischen Arbeit penibel zwischen lebens‐ frohen Fabeln und beweisenden Fakten unterscheidet und daher beispielsweise in seiner „Geschichte“ kein gutes Haar an Livius’ Gründungserzählung der Stadt Rom lässt, ist für Gregorovius ganz in Hayden White’scher Manier erst einmal alles his‐ torisch interessant, was in der vergangenen Gegenwart als Mittel der Sinnstiftung gedient hat. Man kann den Unterschied zwischen den beiden viel gelesenen Historikern im Grunde als umgekehrte Hierarchie des Kräfteverhältnisses zwischen Agent und Re‐ ferenz beschreiben: Für Mommsen ist der Forscher aktiv und die Quelle passiv, für Gregorovius ist es umgekehrt: Er schreibt dem historischen Material eine modifizie‐ rende Kraft zu, die sich im Akt der Aneignung freisetzt und beim Aufnehmenden unterschiedliche Dynamiken auslöst. Die durch den Beobachter erzeugte Beobach‐ tung verändert auch den Beobachter. Die Vergangenheit ist somit für ihn zugleich Gegenstand wie Effekt der Transformation. 22 Die „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“ ist deshalb auch „ein Werk historischer Anschaulichkeit, das ohne den ständigen Kontakt des Historikers mit den Handlungsorten der Geschichte nicht vorstellbar ist“. 23

Neri seinen neuen Wagen ein (die Vergoldung kostet 6000 Scudi); ihm ritt vorauf der Cru‐ cifer auf einem weißen Maultier, in ganz mittelalterlicher Weise, wie sonst nur bei den Pos‐ sessen des Laterans geschieht.“ Dieses Zitat verdanke ich dem Hinweis in Maskarinec, Ferdinand Gregorovius versus Theodor Mommsen (wie Anm. 9), S. 119. Vgl. übrigens auch ebd. S. 115: „This prevalence and their sympathetic treatment is in particular contrast to the explicitly disparaging treatment that legendary material receives in Mommsen’s Römische Geschichte“. 21 Brief an Gerhard vom 6. Februar 1847 (siehe Lothar Wickert, Theodor Mommsen. Eine Biographie, Bd. 2, Wanderjahre: Frankreich – Italien, Frankfurt am Main 1964, S. 183). 22 „Transformationen sind als komplexe Wandlungsprozesse zu verstehen, die sich zwischen einem Referenz- und einem Aufnahmebereich vollziehen. Aus dem Referenzbereich wird durch einen [. . . ] Agenten ein Aspekt ausgewählt, wobei im Akt der Aneignung nicht nur die Aufnahmekultur modifiziert, sondern insbesondere auch die Referenzkultur konstru‐ iert wird. [. . . ] Dieses Verhältnis der Wechselwirkung wird im Folgenden mit dem Begriff Allelopoiese, abgeleitet aus griech. ‚allelon‘ (gegenseitig) und ‚poiesis‘ (Herstellung, Erzeu‐ gung), bezeichnet.“ Vgl. Hartmut Böhme, Lutz Bergemann [u. a.], Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels, in: Dies.: Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels, Leiden 2011, S. 39–56, hier S. 39. 23 Kruft, Historiker als Dichter (wie Anm. 5), S. 4. Siehe auch Maskarinec, Ferdinand Gregorovius versus Theodor Mommsen (wie Anm. 9), S. 125: „Without a deep apprecia‐ tion for urban culture, including its legendary outgrowths, erudition was meaning-less. The city, not the historian, should dominate its history.“

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Und die andere, die Mommsen’sche Geschichte? Kam mit erstaunlich wenig An‐ schauung aus. 24 Die in den frühen 1850er Jahren, wohl auch aus Finanznot zu Pa‐ pier gebrachte „Römische Geschichte“ schrieb Mommsen überwiegend in Zürich, wohin er nach einem politisch motivierten Rauswurf aus der Leipziger Universität als Professor emigriert war. Das mehrbändige, explizit gegen Niebuhrs schwerfälligen, in der römischen Frühzeit steckengebliebenen Versuch gerichtete Buch wurde ein enormer Erfolg, nicht nur weil es sein überbordendes Material übersichtlich darstellte, sondern eben auch, weil es im provokant modernistischen Stil des journalistisch geprägten, scharf urteilenden Meinungsmachers geschrieben war. Mommsens (damals?) oft kritisier‐ ter ‚Realismus‘ drückt sich in einer Äußerung gegenüber seinem Freund Wilhelm Henzen aus, dem er anvertraute, dass es ihm bei seiner „Römischen Geschichte“ darum gegangen sei, „die Alten herabsteigen zu machen von dem phantastischen Kothurn, auf dem sie der Masse des Publikums erscheinen, sie in die reale Welt, wo gehaßt und geliebt und gesägt und gezimmert, phantasiert und geschwindelt wird, den Lesern zu versetzen – darum muss der Konsul ein Bürgermeister werden“ 25. Konnte dieses Plädoyer für eine mitreißende, vermittelnde Sprache Gregorovius so fremd erscheinen? Und war ihm nicht überhaupt Mommsens Drang, etwas Umfassendes, Ganzes, eine Synthese schaffen zu wollen, sehr vertraut? Von den frühsten Anfängen bis in die spätrömische Kaiserzeit – das war Mommsens ursprünglicher, bekanntlich nie ganz in Erfüllung gegangener Plan. Dieser Plan wird in der Tat Einfluss gehabt haben auf das wenig später begonnene Großunterfangen seines mediävistischen An‐ tipoden. Dessen zentrale programmatische Selbsterklärung, festgehalten in seinem Tagebuch 1875, lautet: Ich schrieb mein Werk, um meiner selbst und des Gegenstandes willen, von dem ich mit einer leidenschaftlichen Glut erfüllt war. Ich tat es nicht um der abstrakten Wis‐ senschaft willen: denn diese als solche hat mich stets kaltgelassen. Ich habe sie nie um ihrer selbst willen geliebt. Mein Verhältnis zu ihr war stets ein persönliches und künstlerisches. Der wissenschaftliche Stoff hat für mich nur Bedeutung als Material für die gestaltende Idee. 26

24 Vgl. dazu die Bemerkung von Gertrud von le Fort, wonach Mommsen im Unterschied zu Gregorovius ein Historiker war, der „nicht dabei gewesen“ sei (Hönig, Ferdinand Grego‐ rovius [wie Anm. 3], S. 419). 25 Zit. nach Rebenich, Theodor Mommsen und Adolf Harnack. Wissenschaft und Politik im Berlin des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Mit einem Anhang: Edition und Kommen‐ tierung des Briefwechsels, Berlin 2012, S. 34, FN. Siehe auch Lothar Wickert, Theodor Mommsen. Eine Biographie, Bd. 3, Wanderjahre, Leipzig [u. a.] 1969, S. 627 f. 26 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 3), Eintrag vom 9. Juni 1875, S. 356.

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Nein, zum jungen Mommsen und zu seiner „Römischen Geschichte“ ist von Grego‐ rovius aus kein fundamentaler Gegensatz zu konstruieren. Beide Autoren teilen die Abneigung gegenüber dem kühl ‚Abstrakten‘ und die Vorliebe für das hitzig Reale, für die Gegenwart der Vergangenheit und für eine umfassend gestaltende Idee. Und auch die kritische Rezeption ihrer Werke durch die Fachwelt ist durchaus ähnlich: Ein Rezensent von Gregorovius’ „Geschichte“ verglich sie mit einem „guten Journa‐ listenartikel“, 27 Mommsens „Römischer Geschichte“ warf man ebenfalls vor, allzu rhetorisch und journalistisch zu sein und zu stark zu modernisieren. Mommsen kenne nicht mehr „die Andacht zum Altertum“, klagte etwa noch ein Friedrich Gundolf, „ja er hat sie zerstört und ersetzt durch abstandslose Gegenwart“. 28 Gregorovius und Mommsen – also doch eher verkappte Brüder im Geiste? Die bisher angestellten Beobachtungen könnten dies nahelegen. Allerdings ist der jüngere Mommsen eben nicht der spätere Mommsen. Bald schon nach dem um‐ jubelten Erfolg seiner „Römischen Geschichte“ legte er die leidenschaftliche Per‐ sona des Schriftstellers ab und zog sich immer stärker hinter die schwere Rüstung des systemtreuen Forschers zurück. Sein historisches Erkenntnisinteresse konzen‐ trierte sich bald schon ganz auf die antiquarische Sammlung unterschiedlicher In‐ schriften, aus denen er detaillierte staatsrechtliche Zusammenhänge erschloss. So schnell der Historiker den Juristen überholt hatte, so schnell holte der Jurist den Historiker auch wieder ein. Den Typus des Geschichtsschreibers erklärte Mommsen dann 1874 in seiner Berliner Rektoratsrede „mehr den Künstlern als den Gelehrten“ 29 zugehörig und wird mit diesem, bald zum geflügelten Wort avancierten Ausdruck sehr wahrschein‐ lich auch jenen deutsch-römischen Historikerpoeten gemeint haben, den er ein Jahr zuvor beim römischen Abendessen im Haus der Gräfin so schwer beleidigt hatte. Mommsens Blick auf die römische Geschichte war bald ganz durch seine Arbeit am Inschriftencorpus geprägt, das historiographische Paradigma verlor im weite‐ ren Verlauf seines Lebens für ihn nahezu jede Anziehung. An dessen Stelle trat der Ehrgeiz, quellengesättigte Detailuntersuchungen über Spezialprobleme anzu‐ stellen. Mehr als tausend Publikationen zählt Mommsens Bibliografie. Das meiste davon sind Aufsätze, Sammelbände und Fachpublikationen für den kleinsten Kreis. Auch seine späteren fundamentalen Standardwerke, das Römische Staats- und 27 Vgl. Wilhelm Maurenbrechers Rezension zum 1.–3. Band von Gregorovius’ „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“: „[. . . ] aber, eine historische Arbeit ist ein ganz anderes Ding, als eine Reihe von guten Journalartikeln oder eine geistreiche Reisebeschreibung“ (in: His‐ torische Zeitschrift, Bd. 6, München, Berlin 1861, S. 488–494, hier S. 489). 28 Friedrich Gundolf, Caesar im 19. Jahrhundert, Berlin 1926, S. 60 (zit. nach Christian Meier, Mommsens Römische Geschichte, in: Berichte und Abhandlungen der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften, 11, 2006, S. 433–452, hier S. 447). 29 Theodor Mommsen, Rede bei Antritt des Rektorats am 15. Oktober 1874, in: Ders., Re‐ den und Aufsätze, hg. von Otto Hirschfeld, Berlin 1905, S. 3–16, hier S. 11.

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Strafrecht werden bis heute in der historischen Zunft nicht viel gelesen, sondern lieber als rechtssystematisch komplexe Fachpublikationen abgewertet. Was neben‐ bei bemerkt ein großer Irrtum ist: Insbesondere in Mommsens „Staatsrecht“ steckt schon viel von dem, was sich einige Jahrzehnte später unter dem Namen Gesell‐ schaftsgeschichte als große Innovation feiern sollte. Der Verlust seiner literarischen Persona ist Mommsen jedenfalls schmerzlich be‐ wusst. Sein wehmütiger Ausruf in der Leibniz-Rede von 1895 lautet: „Aber die Bes‐ ten von uns empfinden, dass wir Fachmänner geworden sind.“ Mommsens Leiden am eigenen preußischen Pflichtbewusstsein bricht sich immer wieder Bahn: „Wie viel lieber als anderen Leuten Ziegel machen, baute ich selbst Häuser“, stöhnt er, den der eigene Ordnungswahn, die penible Systematisierungssucht in immer größere Verzweiflung treibt. Aber er kann nicht mehr anders, zu den Meistererzählungen seiner Jugend kehrt Mommsen nie mehr zurück. Vielmehr zeigt sich der fortan be‐ stimmende Wesenszug schon 1849, als er der fast 32-jährigen Auguste Henzen, der Ehefrau seines Freundes und Fachgenossen Wilhelm Henzen, gesteht: „Am Ende, wie man das Leben auch wendet, wenn man es recht fasst, ist es Resignation, bei den Klugen ein für allemal, bei dem Schwachen von heute auf morgen.“ 30 Und woran leidet Gregorovius? Vor allem am veränderten römischen Stadtbild, an der Zerstörung dessen, was ihn einmal so ergriffen hat. 31 Viele der ihn inspi‐ rierenden Handlungsorte der Geschichte werden nach der Erhebung Roms zur ita‐ lienischen Hauptstadt überbaut oder in anderen Zusammenhang gerückt. Im Ja‐ nuar 1873, kurz vor seiner Abreise, schreibt er in sein Tagebuch: Neu-Rom gehört dem neuen Geschlecht; ich gehöre zum alten Rom, in dessen zauber‐ voller Stille meine „Geschichte der Stadt“ entstanden ist. Wenn ich heute nach Rom käme, so würde und könnte ich nimmermehr den Plan zu diesem Werke fassen. 32

Während also dem einen die Details und Fachprobleme den Blick auf die römische Geschichte verbauen, trüben die modernen Straßenzüge und umgebauten Mauern den Blick des anderen. Beide fühlen sich zusätzlich von ihrer Zunft missverstanden. Weil sie eben mehr sind und sein wollen als bloße Historiker. Der eine fühlt sich zu 30 So im zweiten Brief an Auguste Henzen vom 17. Oktober 1849, zit. nach Wickert, Theo‐ dor Mommsen, Bd. 2 (wie Anm. 21), S. 253. 31 Vgl. dazu die Anekdote in Alberto Forni, Der Erfolg von Gregorovius in Italien, in: Fer‐ dinand Gregorovius und Italien (wie Anm. 6), S. 12–41, hier S. 25, wonach ein deutscher Historiker den amtierenden Bürgermeister 1876 „mit erregter Stimme gefragt habe, was die italienische Regierung mit Rom zu tun gedenke“. 32 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 3), Eintrag vom 12. Januar 1873, S. 329. Zu Gregorovius’ Engagement gegen die Zerstörungen im Zuge des Umbaus Roms zur Hauptstadt Italiens siehe auch: Zeitenwende. Lesung von Friedhelm Ptok, moderiert von Angela Steinsiek, https://lisa.gerda-henkel-stiftung.de/gregorovius_lesung_ptok (letzter Zugriff am 23. 12. 2021).

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sehr als Staatsrechtler, der andere zu sehr als Schriftsteller. Also sitzen sie, obgleich an unterschiedlichen Enden, doch im selben Boot. Überhaupt – mehr als die Unterschiede fallen in der Gesamtsicht die Gemein‐ samkeiten auf. Denn gegen die beispielsweise von Maskarinec vorgeschlagene Gegenüberstellung vom quellentreuen Mommsen und dichtenden Gregorovius 33 spricht einerseits die von Arnold Esch eindrücklich hervorgehobene Quellennähe von Gregorovius und andererseits die oben angedeutete Modernisierungstendenz von Mommsens „Ge‐ schichte“. Was ihre beiden „Geschichten“ eigentlich trennt, ist die Struktur. Mommsen konzentriert sich auf die Ereignisgeschichte, auf verschiedene historische Akteure, auf römische Kultur- und Militärgeschichte, geht aber etwa auf die architektonische Entwicklung der Stadt selbst nur am Rande ein. Gregorovius nimmt hingegen einen urbanistischen Blickwinkel ein, konzentriert sich auf die Geschichte der Stadt Rom und blickt selten über dessen Mauern hinaus. Seine zentrale These, nach dem die christliche Bedeutung Roms auf dessen imperialer Vergangenheit beruhte, bedeutet für ihn, „die eigentümliche Doppelnatur Rom’s“ 34 anzuerkennen, ohne sich einge‐ hend mit der Entwicklung der Peripherie zu beschäftigen. Beiden, Mommsen wie Gregorovius, wird dann interessanterweise im Verlauf ih‐ rer Rezeption vorgeworfen, kein wirkliches Verständnis für wirtschaftliche und so‐ ziale Zusammenhänge gehabt zu haben. Dabei sind in beiden Werken immer wieder Verweise auf die Alltagsgeschichte des römischen Volkes, auf deren Festkultur, ihre Sitten und Bräuche vorhanden. Beide Werke nehmen damit im Grunde schon vor‐ weg, was sich im Laufe des 20. Jahrhunderts als Sozial- bzw. Gesellschaftsgeschichte herausbilden sollte. Nicht nur politisch, sondern eben auch methodologisch dachten die beiden an‐ geblichen Antipoden fortschrittlich – nur eben auf ganz unterschiedliche Weise. Der eine weigerte sich im quasi konstruktivistischen Sinne zwischen Fakten und 33 Maskarinec, Ferdinand Gregorovius versus Theodor Mommsen (wie Anm. 9), S. 103. Vgl. die Darstellung bei Hönig, Ferdinand Gregorovius (wie Anm. 3), S. 416 f., der ausgie‐ big einen Nachruf von Karl Krumbacher zitiert (aus: Münchener Neueste Nachrichten, Nr. 213 und Nr. 215, 12.–13. Mai 1891). Vgl. auch Hönig, Ferdinand Gregorovius als Dichter (wie Anm. 11), S. 9: „[. . . ] er ist entfernt von der epigrammatischen Schärfe und der kernigen, gedankenschweren Straffheit, welche wir an Mommsen bewundern; was sein Wesen und seine Stärke ausmacht, ist vielmehr jene in epischer Breite hinfließende, durch behaglich geführte Vergleiche und wirkungsvolle Bilder belebte, farbenreiche, selbst vor Wiederholungen nicht zurückscheuende, aber immer durch sittliche Wärme und vorneh‐ men Ton gehobene Erzählungsweise, die seit den Tagen Homers das Gemüt der Menschen bei der Mitteilung geschichtlicher Begebenheiten am meisten gefesselt hat.“ 34 Ferdinand Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter, Bd. 3, Stuttgart: Cotta 1860, S. 550.

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Narrativen zu trennen, der andere war überzeugt davon, dass Geschichte nur noch im Gehäuse eines starken Systems darstellbar sei. Politisch waren Mommsen und Gregorovius wie schon angedeutet sehr ähnlich gesinnt: Beide waren nationalliberale Befürworter einer Einigung des deutschen Reiches und übertrugen ihre Sehnsucht nach einem verbundenen Staatsgefüge auch in ihr historisches Werk. Ihr Diskurs über das antike beziehungsweise mittelalterli‐ che Rom und der Diskurs über die aktuelle Nationenbildung verschmolzen, die ers‐ ten beiden Bände von Mommsens „Römischer Geschichte“ könnten, so etwa Stefan Rebenich, „als die Programmschrift für eine nationale Einigung Deutschlands und Italiens gelesen werden“. 35 Während Gregorovius vor allem politisch publiziert, etwa seiner vaterländischen Begeisterung im Angesicht des deutsch-französischen Krieges in der „Allgemeinen Zeitung“ mit Artikeln über „die Schuld und die Strafe Frankreichs“ Ausdruck ver‐ leiht oder patriotische Verse über „Straßburg“ dichtet, 36 schmeißt Mommsen sich selbst ins politische Tagesgeschäft. Er, der es für den größten Fehler hält, „wenn man den Rock des Bürgers auszieht, um den gelehrten Schlafrock nicht zu kompro‐ mittieren“, 37 begreift in der Politik neben der Wissenschaft seinen entscheidenden Handlungsraum. Für unterschiedliche liberale Gruppierungen sitzt er als Abgeord‐ neter sowohl im Preußischen Abgeordnetenhaus wie auch im Reichstag, wo er sich etwa im Verfassungskonflikt mit Bismarck anlegt, ihn als „Schwindler“ bezeichnet und dafür mit einer Beleidigungsklage überzogen wird. Während Rom für Gregorovius wohl vor allem als Chiffre für ein europäisches Epochengefühl und ein geschichtspoetisches Kraftzentrum stand, begriff Momm‐ sen den Ortsnamen vor allem auch als persönlich verpflichtenden Impuls. Jene typisch römische Wesensverwandtschaft zwischen politischem Engagement und sozialem Rang, jene durch und durch republikanische Vorstellung von ‚Bürgerlich‐ keit‘ prägte zeitlebens sein Bewusstsein. Mommsens politisches Denken ist von ei‐ nem enormen Handlungs- und Möglichkeitsoptimismus durchzogen, wie Chris‐ tian Meier feststellt: „Bei Mommsen können fast alle Situationen grundsätzlich gemeistert werden.“ 38 Die Vorstellung, dass der Mensch größer sei als die Verhält‐ nisse, die ihn umgeben, dass er sich nicht als Untergebener, sondern als Beweger fühlen könne, dieser entschieden säkulare Impuls steckte tief in ihm. Und keimte in abgewandelter Form auch in Gregorovius.

35 Rebenich, Ecco Montsene (wie Anm. 18), S. 55. 36 Siehe Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 3), Eintrag vom 16. Septem‐ ber 1870, S. 292. Der Eintrag enthält eine Auflistung seiner Beiträge für die „Allgemeine Zeitung“. 37 Vgl. Wickert, Theodor Mommsen (wie Anm. 21), S. 297 sowie Rebenich, Theodor Mommsen und Adolf Harnack (wie Anm. 25), S. 377. 38 Meier, Mommsens Römische Geschichte (wie Anm. 28).

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Kein Wunder also, dass beide sich auch in ihrem Verhältnis zur Religion ähneln. Zwei Kulturprotestanten ohne institutionalisierbaren Glauben, aber voller Über‐ zeugungen: Am Führungsanspruch protestantischer Wissenschaft bestand für sie auch im Zentrum der katholischen Christenheit keinerlei Zweifel. Und wenn Gre‐ gorovius kurz vor seinem Abschied aus der Stadt selbstbewusst festhält, „ich schuf was noch nicht da war, ich klärte elf dunkle Jahrhunderte der Stadt auf, und gab den Römern die Geschichte ihres Mittelalters“ 39, dann ist leicht vorstellbar, als was für eine Provokation das der katholische Geist in der Stadt empfinden musste. Dazu kam in seiner „Geschichte“ eine „übermäßige Fülle von Spott und Hohn gegen reli‐ giöse Empfindungen“, wie sein (katholischer) Biograph Johannes Hönig 1914 ver‐ stört bemerkte; „derartige taktlose Verstöße“ belasten den „Charakter eines Man‐ nes, der in dem damals noch päpstlichen Rom ungehindertes Gastrecht und freien Zutritt zu kirchlichen und klösterlichen Bibliotheken und Archiven genoß.“ 40 Die‐ ses uneingeschränkte Benutzungsrecht endete allerdings, als zwischen 1874 und 1882 fünf seiner Werke auf den päpstlichen Index kamen, unter anderem sogar der fünfte Band seiner „Wanderjahre“, weil Gregorovius dort darüber spekuliert hatte, dass die vertriebenen Monsignori jemals wieder in den Palast des Kardinallegaten zurückkehren würden. Viele Verantwortliche im Vatikan lasen Gregorovius’ Werk offenbar als „leidenschaftliche Kampfschrift eines Liberalen gegen das Papsttum“, weil der Autor in der Kirche eben eine historische, nicht von Gott eingesetzte Insti‐ tution sehen wollte. 41 Bei Mommsen waren die antikatholischen Affekte sogar noch stärker. Katho‐ lische Feste, die er während eines Aufenthalts zu Ostern in Rom miterlebte, wa‐ ren ihm „ein Graus“, katholische Wissenschaftler nahm er nicht wirklich ernst, Rom war ihm eine „Stadt von Pfaffen und Prälaten regiert“, die „sich obstinat den Segnungen verschloss“. 42 Ihren Höhepunkt fand seine antikatholische Haltung in einem Zwischenfall, der sich nach den Berichten mehrerer Augenzeugen 1885 in der Vatikanischen Bibliothek zutrug: Unangekündigt wurde da nämlich Papst Leo XIII. durch den Lesesaal getragen, woraufhin sich sofort alle Besucher ehrfürch‐ tig erhoben. Alle – außer Mommsen. Der blieb angeblich demonstrativ sitzen und sorgte damit für einen Skandal, den die internationale Presse genüsslich ausschlach‐ tete und der zu ernsthaften diplomatischen Verstimmungen führte. Interessant ist, dass Mommsen dieses ‚Zetergeschrei‘ insbesondere in Deutschland als Hetzkam‐ pagne gegen ihn als Liberalen wertete und zum Anlass für seine berühmte Testa‐ mentsklausel nahm: „[. . . ] auf meinem Grabe soll weder ein Bild noch ein Wort, 39 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 3), Eintrag vom 14. Juli 1874, S. 343. 40 Siehe Hönig, Ferdinand Gregorovius als Dichter (wie Anm. 11), S. 54. 41 Vgl. Esch, Gregorovius’ Geschichte der Stadt Rom und das Ende des Kirchenstaates, in: Rombilder im deutschsprachigen Protestantismus (wie Anm. 18), S. 25–37, hier S. 34. 42 So pointiert zum Ausdruck gebracht von Rebenich, Ecco Montsene (wie Anm. 18), S. 52.

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nicht einmal mein Name stehen, denn ich will von dieser Nation ohne Rückgrat persönlich so bald wie möglich vergessen sein“. Die leichtverletzliche Eitelkeit war wohl ebenfalls ein Wesenszug, den die beiden hier gegenüber gestellten Männer teilten. Über deren Ursprung kann man natürlich nur spekulieren – aber möglicherweise hat sie eine Herkunft in dem empfindlich gestörten Selbstbewusstsein zweier epigonaler Dichter. Mommsen, der in seiner Jugend Eduard Mörike, Klopstock und Lord Byron bewunderte, scheiterte bei dem Versuch, selbst Dichter zu werden. Hölzern und bildungsversessen klingen die über sechzig Gedichte, die er 1843 zusammen mit sei‐ nem Bruder Tycho und dem Studienfreund Theodor Storm in dem romantisieren‐ den „Liederbuch dreier Freunde“ in Kiel herausgab. Während Storm schwärmt und strömt, reimt Mommsen technisch und ohne Herz, ganz so, als ob es sich dabei um eine Grammatikübung handelte. Bis ins hohe Alter hinein fabriziert der zu Depres‐ sionen neigende Althistoriker allerdings Verse und bringt beispielsweise unter dem Titel „Carducci 24. Dezember 1879“ auch Übersetzungen und Nachdichtungen im Privatdruck heraus. Gregorovius schreibt ebenfalls sein ganzes Leben lang Gedichte – erfolglos zwar, aber von seinem schillerhaften Talent fest überzeugt. Seinem Ruf als ernstzuneh‐ mender Dichter ist allerdings auch die Veröffentlichung von Gregorovius’ Lyrik nach seinem Tod in Buchform nicht förderlich. 43 Interessant – und in mancher Hinsicht sehr zeitgemäß – daher, dass sich die beiden gescheiterten Literaten in geradezu emphatischer Weise auf den Größten ihres unbeherrschten Faches berufen: Aus Goethes „Faust“ kann Mommsen noch in hohem Alter große Partien auswendig rezitieren und wendet sich bei Berliner Banketts unversöhnlich ab, wenn eine vorlaute Sitznachbarin irgendein für ihn iko‐ nisches Goethe-Zitat nicht erkennen will. Gregorovius veröffentlicht schon 1849 ein Buch über „Goethes Wilhelm Meis‐ ter in seinen sozialistischen Elementen“ und versucht darin, den Dichterkönig als einen Vorläufer weltbürgerlicher Vorstellungen zu profilieren. Später bildet Goe‐ thes „Italienische Reise“ für ihn den „inneren Bezugspunkt“ als er nach Italien kommt und in seinen „Römischen Figuren“ sehen manche Interpreten einen „Wett‐ streit mit Goethes ‚Römischem Karneval‘“. 44 Bei Goethe trafen sich die beiden Antipoden also. Hätten sie bei jenem denk‐ würdigen Abendessen bei der römischen Gräfin über „Dichtung und Wahrheit“ gesprochen statt über die Geschichte Roms – wer weiß, ob Mommsen und Gregoro‐ vius nicht mehr voneinander gehalten hätten. Wahrscheinlich ist es allerdings nicht. 43 Ferdinand Gregorovius, Gedichte, hg. von Adolf Friedrich Graf von Schack, Leipzig: Brockhaus 1892. Siehe dazu auch HÖnig, Ferdinand Gregorovius. Der Geschichtsschrei‐ ber der Stadt Rom. Mit Briefen an Cotta, Franz Rühl und andere, Stuttgart 1921. 44 Kruft, Historiker als Dichter (wie Anm. 5), S. 7.

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Zu stark ausgeprägt war ihr Konkurrenzgefühl. Wer sich am Ende wem unterlegener wähnte, ist gar nicht leicht zu sagen – höheres Ansehen im geschichtswissenschaft‐ lichen Fachkollegium genoss zweifellos Mommsen, aber gelesen, und das heißt eben auch: gern gelesen, wurde Gregorovius in der Breite sicherlich mehr. 45 Und das nahm ein so eifriger Tageszeitungsleser wie Theodor Mommsen natürlich zur Kenntnis. Im Gespräch mit dem oben schon erwähnten Freund Henzen bemerkte er (angeblich) despektierlich, dass es sich bei Gregorovius um einen „Schriftsteller für Damen“ 46 handle. Dass Gregorovius’ Werke auch in seiner Bibliothek standen, bevor diese zum Schrecken der gesamten Geistesöffentlichkeit in Flammen aufging, ist durchaus an‐ zunehmen. Über etwaige Lektüreeindrücke allerdings gibt es keine Belege. Mommsen und Gregorovius – das sind zwei Inbegriffe des neunzehnten Jahr‐ hunderts. Zwei Geschichtsgrößen, bei denen der Glaube an die Wissenschaft an die Stelle des Gottesglaubens getreten ist und die etwaige ständische Privilegien durch die Anerkennung in der bürgerlichen Leistungsgesellschaft eintauschten. Momm‐ sen, der von Zürich über Breslau 1857 nach Berlin kommt, wo er als Professor für römische Altertumswissenschaft seine zweite Lebenshälfte verbringt, entwickelt aus der eigenen, an Wilhelm von Humboldt erinnernden enzyklopädischen Inter‐ essenslage heraus eine generalstabsmäßige Organisation von Wissenschaft. Über‐ all stößt er Forschungsprojekte an, lässt unteritalienische Dialekte, spätantike In‐ schriften und republikanische Münzen sammeln, leitet Kommissionen zum Limes und macht hinter den Kulissen Berufungspolitik. Mommsens Hang zum systemati‐ schen Ordnen und sein ins Große gerichteter Wille steht über allem – über persön‐ licher Freiheit, Freundschaft und Familie. Nur die Politik kann ihn ähnlich in die Pflicht nehmen wie die Wissenschaft. Gregorovius, der nach seinen römischen Jahren den Lebensabend in Mün‐ chen verbringt, teilt Mommsens Willen für das Große, teilt auch das spezifische, wahrscheinlich wirklich zeitbedingte ‚Könnensbewusstsein‘. Und insbesondere die Überzeugung, dass es keine wichtigere geistige Aufgabe in der Gegenwart geben könne, als über ihre Vergangenheit Zeugnis abzulegen. In der Form ihres Zeugnisses unterscheiden sich die beiden Historiker, und doch überschreiten beide gleicher‐ maßen visionär die Grenzen ihres Faches – der eine hin zur Literatur beziehungs‐ weise Konstruktion, der andere, zumindest in seinen älteren Jahren, hin zur Rechts‐ wissenschaft beziehungsweise Systematik. In gewisser Weise liefern die zwei damit

45 Vgl. Forni, Der Erfolg von Gregorovius in Italien (wie Anm. 31), S. 25 zur Beliebtheit von Gregorovius auch bei der italienischen Leserschaft. 46 So berichtet zumindest Joseph von Kopf, Lebenserinnerungen eines Bildhauers, Stuttgart, Leipzig 1899, S. 419.

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die beiden entscheidenden Stichworte für die Geschichtswissenschaft des 20. Jahr‐ hunderts. Gregorovius und Mommsen – das sind zwei unbedingte Zeitgenossen, die es begeistert begrüßen, „wenn die Weltgeschichte um die Ecke biegt“, 47 also eine Schlacht bei Königgrätz geschlagen wird oder ein Garibaldi vor den Toren Roms steht. Das sind zwei nationalliberal Überzeugte, die ihre hohen Ideen von Fort‐ schritt leichthändig mit den konservativen Leistungswerten des Kulturprotestan‐ tismus vereinen. Die ihr eigenes Leben für das große Werk hingeben und die Frei‐ heit ihres Denkens energisch gegenüber Kirche, Staat und auch den meisten ihrer Kollegen verteidigen. Nach Mommsen und Gregorovius sollte Rom in der deutschsprachigen Ge‐ schichtswissenschaft nie wieder eine solche Bedeutung erlangen wie durch sie. Das wiederum spürten beide Ehrenbürger Roms gleichermaßen. Und so ist neben all den süffisanten Bemerkungen, die sie übereinander verlieren, eben doch auch hier und da Wertschätzung zu finden, etwa wenn Gregorovius im Juni 1875 angesichts zunehmender italienischer Skepsis gegenüber ausländischer Geschichtsschreibung in seinem Tagebuch festhält: „Aber Gibbon, Niebuhr, Mommsen [. . . ] und meinen eigenen Namen wird man doch nicht mehr in Rom verlöschen können.“ 48 Nein, das konnte in der Tat nicht geschehen. Ihre Namen stehen heute weit oben in der ewigen Bestenliste deutscher Romkenner – gar nicht so weit entfernt vom beidseitig so verehrten Goethe. 49 Man lasse sich nicht hinters Licht führen von jener „Tücke des Widerspruchsgeistes, welcher der spezielle Satan des Gelehrten 47 So Mommsen an seinen Bruder Tycho am 18. Juli 1866, zit. nach: Rebenich, Theodor Mommsen. Eine Biographie, München 2007, S. 167. Auch Rebenich, Theodor Momm‐ sen und Adolf Harnack (wie Anm. 25), S. 335. 48 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 3), Eintrag vom 9. Juni 1875, S. 356. Bei Mommsen hingegen scheint sich nichts Derartiges zu finden, nur Jacob Burckhardt äußerte sich über Gregorovius, so zumindest berichtet Ludwig von Pastor: „Gregorovius hat seine Verdienste, aber er läßt der Phantasie zu viel Spielraum“ (Ludwig Freiherr von Pas‐ tor, Tagebücher – Briefe – Erinnerungen, Heidelberg 1950, Eintrag von 18. März 1895, S. 276); siehe Norbert Miller, in: Poetisch erschlossene Geschichte. Ferdinand Gregoro‐ vius’ „Wanderjahre in Italien“ und seine Dichtung über den Garten von Ninfa, in: Zeit‐ schrift „Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken“, Bd. 96 (2016), S. 389–411, hier S. 394 (im „Abstract“, S. 389, fälschlich Mommsen zugeschrie‐ ben); Angela Steinsiek, Das epistolarische Werk von Ferdinand Gregorovius. Eine Be‐ standsaufnahme, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliothe‐ ken, Bd. 97, 2017, S. 290–315, hier S. 292. 49 Siehe Forni, Der Erfolg von Gregorovius in Italien (wie Anm. 31), S. 39. In der Zeit des Faschismus wurde Gregorovius an der Seite von Mommsen und Gibbon in die Reihe „Le monumentali storie di Roma“ aufgenommen, wogegen nationalistische Akademiker auf‐ begehrten, die forderten, dass die römische Historiographie von italienischen Historikern dominiert sein solle.

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ist“, 50 und den schon der junge Mommsen als seinen Dämon erkannt hatte! Der polemische Systemtheoretiker mit der kantigen Nase und dem spöttischen, „mali‐ ziöse[n] Antlitz“ 51 und der vornehme Historikerpoet mit dem schwarzen Vollbart, der „mit hoher offener Stirn und lebhaft blickenden dunklen Augen“ 52 – so sehr sie sich auch im Äußerlichen unterschieden, so viel Inhalt hatten sie doch gemein. Gregorovius und Mommsen: zwei Männer, die einander fremd gegenüberstanden und doch am selben Faden spannen. 53

50 Im oben zitierten Brief an Auguste Henzen (wie Anm. 30) bemerkt Mommsen: „[. . . ] die Tücke des Widerspruchsgeistes, welcher der spezielle Satan des Gelehrten ist, soll mich dies‐ mal nicht zum Streit verleiten.“ 51 Zit. nach Rebenich, Theodor Mommsen (wie Anm. 47), S. 19. 52 Zit. als Aussage eines „Zeitgenossen“ in Hans Lippold, Ferdinand Gregorovius, in: Ost‐ land. Zeitschrift für den gesamten Osten, 13. Juli 1934, 331, https://dlibra.bibliote‐ kaelblaska.pl/Content/51381/28.pdf (letzter Zugriff 31. 01. 2021). 53 Siehe Hönig, Ferdinand Gregorovius als Dichter (wie Anm. 11), S. 53.

Die Römer, der Papst und der Kaiser Zur Darstellung der Rom- und Italienzüge der deutschen Herrscher in Ferdinand Gregorovius’ „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“ Uwe Ludwig

Die „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“ von Ferdinand Gregorovius, aus acht Bänden bestehend und in 14 Bücher gegliedert 1, niedergeschrieben am Ort der Handlung in einem fast ununterbrochenen Arbeitsprozess von gut 15 Jahren zwischen 1856 und 1871/72 2, ist eines jener berühmten Werke der Geschichts‐ schreibung des 19. Jahrhunderts, die unter anderem deshalb so ehrfurchteinflößend wirken, weil man sich heute kaum mehr vorstellen kann, dass eine einzelne Person zu einer solch gewaltigen Leistung fähig wäre oder sich auch nur einer derart enor‐ men Herausforderung stellen würde 3. Und der Anspruch von Gregorovius war es ja, nicht nur reine Stadtgeschichte zu bieten, sondern auch das Verhältnis der Univer‐ salgewalten Papsttum und Kaisertum zu Rom und zum römischen Volk in die Be‐ 1 Zugrunde gelegt ist hier – wenn nicht anders angegeben – die Ausgabe letzter Hand: Für die Bände 1 und 2 ist dies die 5. Auflage (Ferdinand Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter, Stuttgart, Berlin 1903), für die Bände 3–8 die 4. Auflage (Ferdinand Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter, Stuttgart 1890–1896). Siehe dazu die Angaben bei Waldemar Kampf, Editorische Hinweise, in: Ferdinand Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter, hg. von Dems., Bd. 4: Einführung – Anhang – Register, 2. Aufl., München 1988, S. 5–63, hier S. 57 f. – Zitiert werden die einzelnen Bände und Bücher des Werks in folgender Kurzform: Gregorovius 2, 4 (= Ferdinand Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter, Bd. 2, Buch 4). 2 Ferdinand Gregorovius, Römische Tagebücher 1852–1889, hg. und kommentiert von Hanno-Walter Kruft und Markus Völkel, München 1991, Einträge vom 12. Novem‐ ber 1856, S. 64, und vom 19. Januar 1871, S. 302. Siehe dazu Waldemar Kampf, Entste‐ hung, Aufnahme und Wirkung der „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“, in: Gre‐ gorovius, Geschichte der Stadt Rom, 1988 (wie Anm. 1), S. 7–54, hier S. 26–29. – End‐ gültig fertiggestellt und für die Drucklegung eingerichtet war der 8. Band allerdings erst am 19. Februar 1872, als Gregorovius das „Finis“ daruntersetzte: Ferdinand Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter, Bd. 8, 14, 1. Aufl., Stuttgart 1872, S. 659. Vgl. Johannes Hönig, Ferdinand Gregorovius. Eine Biographie, Stuttgart 1944, S. 353 f. 3 Dass sich Gregorovius der gigantischen Dimensionen der Aufgabe von Anfang an bewusst war, zeigt sein Tagebucheintrag vom 26. Dezember 1855, in: Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 2), S. 58: „Es ist ein Ozean, auf den ich mich wage, so allein auf mich gewiesen, und so mittellos, daß ich mir kaum ein Buch erschwingen kann.“ Dazu Hönig, Ferdinand Gregorovius (wie Anm. 2), S. 287–293.

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trachtung einzubeziehen, insofern also aus dem Blickwinkel des „Weltknotens“, wie er Rom nannte 4, Weltgeschichte zu schreiben 5. Ob ihm dies Unterfangen gelungen ist, darüber waren sich schon die Zeitgenossen uneinig. Wilhelm Maurenbrecher sah den Versuch, die Geschichte der Stadt Rom mit der Geschichte des Papsttums zu verknüpfen, als missglückt an. 6 Dagegen bezeichnete Henry Simonsfeld die „Ver‐ einigung von Stadt- und Papstgeschichte“ als äußerst gelungen. 7 Wenn an einem Achtung gebietenden Monument dieses Ranges Kritik geübt wird, so besteht immer die Gefahr, dass sie ins Kleinliche, ins Beckmesserische und Besserwisserische abgleitet – weil die Kritik letztlich nur einzelne Details heraus‐ greift und damit als krämerhafte Mäkelei am großen Wurf, am in sich stimmigen Bild der eindrucksvollen Gesamtkomposition erscheinen mag. 8 Die hohe Bedeu‐ tung des Werks als Zeugnis der Historiographie des 19. Jahrhunderts kann in keiner Weise in Frage gestellt werden, und zwar nicht allein aufgrund der Anlage und des Umfangs sowie der oft hervorgehobenen Sprachkraft und künstlerischen Darstel‐ lungsform. 9 Knut Schulz hat die „noch immer unübertroffene und in ihrer Art un‐ 4 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 2), Eintrag vom 31. Dezember 1865, S. 203. 5 Siehe hierzu Arnold Esch, Gregorovius als Geschichtsschreiber der Stadt Rom: sein Spät‐ mittelalter in heutiger Sicht, in: Ferdinand Gregorovius und Italien. Eine kritische Würdi‐ gung, hg. von Arnold Esch und Jens Petersen (= Bibliothek des DHI Rom, Bd. 78), Tübin‐ gen 1993, S. 131–184, hier S. 133. 6 Wilhelm Maurenbrecher, Besprechung von: F. Gregorovius. Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter, Bde. 1–3, Stuttgart 1859–1860, in: Historische Zeitschrift, Bd. 6 (1861), S. 488–494, hier S. 488 f. Maurenbrecher stellt Gregorovius als einen „in Rom lebende[n] deutsche[n] Schriftsteller“ vor, der sich einer „ihm von früheren Arbeiten noch ankle‐ benden journalistischen Arbeitsweise“ befleißige. Das vorgelegte Werk falle häufig „fast in geistreiche Journal-Artikel auseinander“, „eine historische Arbeit“ sei aber „ein ganz an‐ deres Ding.“ Obwohl Maurenbrecher den Ausführungen von Gregorovius bei aller Kritik im Detail in zahlreichen Einzelfragen zustimmt (ebd., S. 490–494), ist er entschieden der Auffassung, dass dem Autor die Verschmelzung von Stadtgeschichte und Papstgeschichte „keineswegs geglückt ist.“ Vor allem aber hält er ihm vor, sich häufig einer deplatzierten Ausdrucksweise zu bedienen, sich als Verfasser zu sehr in den Mittelpunkt zu stellen, in unangemessener Form moderne Vorstellungen in die Vergangenheit zu übertragen und un‐ angebrachte Verbindungslinien zwischen den historischen Vorgängen und dem aktuellen politischen Geschehen zu ziehen. 7 Henry Simonsfeld, in: Beilage zu Nr. 106 der Allgemeinen Zeitung, München 8. Mai 1891, S. 3, zitiert nach Kampf, Entstehung (wie Anm. 2), S. 32 und 33 f. – Zur zeitgenössischen Kritik an dem Werk siehe ebd., S. 30–46. 8 Die im Folgenden in den Anmerkungen aufgeführten neueren Forschungsarbeiten dürfen nicht als ‚Messlatte‘ missverstanden werden, die an die Aussagen und Einschätzungen von Gregorovius anzulegen sind, sondern sollen dem Leser Hinweise auf den aktuellen For‐ schungsstand geben. 9 Siehe dazu Hönig, Ferdinand Gregorovius (wie Anm. 2), S. 293 f.: „Diese starke gefühls‐ mäßige Anteilnahme an einem Werke, das der Wissenschaft gelten sollte, läßt am deutlichs‐

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übertreffliche Schilderung der Geschichte der Stadt Rom“ gerühmt. 10 Und Arnold Esch hat in einer mit großer Akribie durchgeführten Untersuchung, die sich mit der Darstellung der zweiten Hälfte des 14. und ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts in der „Geschichte der Stadt Rom“ beschäftigt, hervorgehoben, dass sich Grego‐ rovius „als selbständiger, den verfügbaren Quellenbestand kritisch auswertender Historiker“ erweist und darin viele seiner Zeitgenossen übertrifft. 11 Bekanntlich hat Gregorovius nicht nur in Rom, wo ihm zu seinem Leidwesen das Vatikanische Archiv versperrt blieb, intensive Archivstudien betrieben und vielfach neue Quel‐ len entdeckt, auf die er sich in seinem Werk stützen konnte. 12 Gregorovius selbst hat im August 1858 in einem Brief an Cotta seinen Anspruch so formuliert: „Ich suche Forschung und künstlerische Darstellung zu vereinigen, und wünsche auch, daß man mir zugäbe, die Kunst des Erzählens zu besitzen, welche in Deutschland nicht häufig ist.“ 13

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ten erkennen, daß die Arbeit für Gregorovius wie die an einer Dichtung zum künstlerischen Erlebnis geworden war; denn was das Werden des Kunstwerks von dem der wissenschaft‐ lichen Leistung besonders unterscheidet, das ist ja gerade das Überwiegen der gefühlsmä‐ ßigen gegen die verstandesmäßigen Willensäußerungen, wie es bei der Abfassung der Ge‐ schichte Roms ohne alle Frage der Fall war.“ Ebd., S. 342: „[. . . ] Gregorovius schreibt hier als deutscher Dichter, wie er die Charakterbilder der Könige Theoderich, Totila und Teja poe‐ tisch verklärt und die Kämpfe um Rom als Höhepunkt seiner Darstellung erscheinen läßt.“ Ebd., S. 346: „In der Wiedergabe der Legende von der heiligen Cäcilia ist seine Gestaltung von hoher dichterischer Schönheit, er kritisiert nicht, sondern schildert mit der natürlichen Anmut, mit der ein Künstler diesen Stoff erfassen würde [. . . ].“ Ebd., S. 358: „Geschichte und Dichtung sind in diesem Werke vereinigt.“ Vgl. Kampf, Entstehung (wie Anm. 2), S. 47–54; Esch, Gregorovius als Geschichtsschreiber (wie Anm. 5), S. 131, wo die Frage ge‐ stellt wird, „[. . . ] ob das Geheimnis ihres [der „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“, U. L.] anhaltenden Erfolgs, eben die darstellerische Kraft, auf Kosten der Wissenschaftlichkeit gegangen ist und ausschließlich in der Dramatisierung des historischen Stoffes begründet liegt [. . . ]“. Siehe auch Arnold Esch, Ferdinand Gregorovius (1821–1891). Ewiges Rom: Stadtgeschichte als Weltgeschichte, in: Denker, Forscher und Entdecker. Eine Geschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in historischen Portraits, hg. von Dietmar Willoweit, München 2009, S. 150–162, hier S. 150–153. Knut Schulz, „Denn sie lieben die Freiheit so sehr . . . “. Kommunale Aufstände und Ent‐ stehung des europäischen Bürgertums im Hochmittelalter, Darmstadt 1992, S. 137. Esch, Gregorovius als Geschichtsschreiber (wie Anm. 5), S. 150. Kampf, Entstehung (wie Anm. 2), S. 17–22; Esch, Gregorovius als Geschichtsschreiber (wie Anm. 5), besonders S. 149 und 158–164. Siehe dazu den Beitrag von Alberto Forni in diesem Band. Ferdinand Gregorovius an Johann Georg Freiherr Cotta von Cottendorf, 25. August 1858, in: Ferdinand Gregorovius, Poesie und Wissenschaft. Gesammelte deutsche und italie‐ nische Briefe (digitale Edition), hg. von Angela Steinsiek, Deutsches Historisches Institut in Rom 2017–2023, URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000114.

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Am Anfang seiner vorhin erwähnten Untersuchung stellt Esch die Frage, ob die „Geschichte der Stadt Rom“ dem heutigen Historiker „noch etwas zu sagen hat [. . . ] und ob vielleicht nicht nur der Forschungsstand, sondern auch die Zeitgebunden‐ heit der Perspektive, der Begriffssprache usw. dieses Werk rettungslos veraltet sein läßt.“ 14 Eine der auffälligsten Eigenheiten des Textes ist es, dass der Autor bei der Darstellung historischer Kontroversen und Konflikte, seien sie politischer, sozialer oder religiös-kirchlicher Natur, stets Partei ergreift und die eigenen weltanschauli‐ chen und politischen Standpunkte zum Maßstab für die Bewertung der Denkwei‐ sen und Handlungen historischer Persönlichkeiten macht. Wenngleich Waldemar Kampf Gregorovius eher den kulturgeschichtlich orientierten Historikern wie Ja‐ cob Burckhardt zurechnet und von den hauptsächlich am staatlich-politischen Ge‐ schehen interessierten Historikern wie Heinrich von Sybel abhebt, 15 so liegt doch Gregorovius mit Sybel darin auf einer Linie, dass es keine objektive und unpartei‐ ische Geschichtsschreibung geben könne, dass der Autor eines Geschichtswerks also aufgefordert sei, seiner auf grundsätzlichen Überzeugungen fußenden Einstellung gegenüber den Akteuren sowie ihren Auffassungen und Taten deutlich Ausdruck zu verleihen 16. So bezieht also Gregorovius immer wieder rückhaltlos zugunsten jener Seite Position, auf der er das historische Recht sieht. Der ihm wohlgesinnte Johannes Hönig hat zu Recht festgestellt, dass es ihm bei der Schilderung der Aus‐ einandersetzungen zwischen den Stadtrömern und dem Papsttum schwerfällt, „die Größe der Gegenpartei anzuerkennen, weil sein Herz den Römern gehört [. . . ]“. Er rechtfertigt aber diese Parteinahme, weil sie „aus des Verfassers persönlicher Welt‐ anschauung [erwächst], mit der lauteren Absicht, durch Bewertung und Ausdeu‐ tung der geschichtlichen Tatsachen dem für ihn im reformatorischen Charakter der deutschen Geistesgeschichte begründeten ideellen Fortschritt der Menschheit zu dienen. Darüber hinaus erscheint manches, wofür er sich innerlich erwärmt, zur subjektiven Gewalt der Dichtung gesteigert“. 17 Grundüberzeugung von Gregorovius ist es, dass Geschichte ein einheitlicher, kontinuierlicher Prozess ist, der als Fortschritt der Menschheit auf ihrem Weg zu 14 Esch, Gregorovius als Geschichtsschreiber (wie Anm. 5), S. 131. 15 Kampf, Entstehung (wie Anm. 2), S. 11–15. 16 Heinrich von Sybel, Über die neueren Darstellungen der deutschen Kaiserzeit. Festrede zur Feier des Geburtsfestes Maximilian II., Königs von Bayern, gehalten in der öffentli‐ chen Sitzung der königlichen Akademie der Wissenschaften am 28. November 1859, in: Universalstaat oder Nationalstaat. Macht und Ende des Ersten deutschen Reiches. Die Streitschriften von Heinrich v. Sybel und Julius Ficker zur deutschen Kaiserpolitik des Mittelalters, hg. und eingeleitet von Friedrich Schneider, 2. Aufl., Innsbruck 1943, S. 1– 18, hier S. 8. Friedrich Schneider, Einleitung, ebd., S. XI–XXXVI, hier S. XIV, spricht von der „politisierten Wissenschaft“; Kampf, Entstehung (wie Anm. 2), S. 14, von „Politi‐ sierende[n] Historiker[n]“. 17 Hönig, Ferdinand Gregorovius (wie Anm. 2), S. 344.

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Freiheit und Gerechtigkeit begriffen werden kann. In dieser Entwicklung kommt dem Mittelalter, das nicht als Epoche des politischen und sozialen Stillstands und des unproduktiven kulturellen Verharrens, sondern – bei aller von Gregorovius geübten Kritik an der „Barbarei“ des Zeitalters – als Periode des ständigen Wan‐ dels und der konfliktreichen geistigen Auseinandersetzungen betrachtet wird, eine wichtige Funktion zu. 18 Welches sind die politischen Leitideen, von deren hoher Warte aus Gregorovius als streitbarer und engagierter Geschichtsschreiber das von ihm dargestellte histori‐ sche Geschehen beurteilt? Es ist erstens die Idee des Nationalstaats als gewisserma‐ ßen natürliche politische Organisationsform einer im Grunde seit jeher, also auch schon im Mittelalter, existierenden und der Realisierung ihrer staatlichen Einheit zustrebenden Nation. Alle geschichtlichen Vorgänge kommen bei Gregorovius auf den Prüfstand, ob sie der Verwirklichung nationaler Ziele dienen oder schaden. Als euphorischer Befürworter der nationalen Einigung Italiens, die in den Jahren der Abfassung der „Geschichte Roms“ Gestalt annahm und schließlich vollendet wurde 19, missbilligt er das Tun aller geschichtlichen Mächte, die sich in der Ver‐ gangenheit der Formierung des italienischen Nationalstaats entgegenstellten. Aller‐ dings lehnt Gregorovius im Unterschied zu der „gothaischen“ Richtung der klein‐ deutsch eingestellten Historiker, deren einflussreichster Vertreter von Sybel war, 20 die mittelalterliche Kaiserpolitik nicht grundsätzlich als den nationalen Interessen Deutschlands und Italiens widersprechend und schädlich ab, sondern sieht in ihr eine den Deutschen aufgetragene Mission, einen opfervollen Kampf jenseits der Alpen zu führen, um sich selbst und die gesamte Menschheit von kirchlich-päpst‐ licher Bevormundung zu befreien 21. Heinz Gollwitzer zählt Gregorovius daher ne‐ 18 Zur Geschichtsauffassung und zum Mittelalterbild von Gregorovius siehe die grundlegen‐ den Bemerkungen von Friedrich Carl Scheibe, Mittelalterbild und liberaler Fortschritts‐ glaube in der Geschichtsschreibung von Ferdinand Gregorovius, in: Archiv für Kulturge‐ schichte, Bd. 61 (1979), S. 191–230, besonders die Seiten 196, 203 f., 206 f. und 218. 19 Wie das aktuelle politische Ringen um die Verwirklichung der Einheit Italiens die Abfas‐ sung der „Geschichte der Stadt Rom“ begleitete, ist an zahlreichen Einlassungen des Autors im Werk selbst, aber auch an vielen Einträgen in seinem Tagebuch ablesbar: Kampf, Ent‐ stehung (wie Anm. 2), S. 23–26; Arnold Esch, Gregorovius’ Geschichte der Stadt Rom und das Ende des Kirchenstaates, in: Rombilder im deutschsprachigen Protestantismus. Begegnungen mit der Stadt im „langen 19. Jahrhundert“, hg. von Martin Wallraff, Michael Matheus und Jörg Lauster, Tübingen 2011, S. 25–37, hier S. 27–29. 20 Heinz Gollwitzer, Zur Auffassung der mittelalterlichen Kaiserpolitik im 19. Jahrhun‐ dert. Eine ideologie- und wissenschaftsgeschichtliche Nachlese, in: Dauer und Wandel der Geschichte. Aspekte europäischer Vergangenheit. Festgabe für Kurt von Raumer zum 15. Dezember 1965, hg. von Rudolf Vierhaus und Manfred Botzenhart, Münster 1966, S. 483–512, hier S. 484–492 und S. 498–512. 21 Dieser Standpunkt schlägt sich bereits in einem Artikel nieder, den Ferdinand Gregorovius 1848 in der „Neuen Königsberger Zeitung“ veröffentlichte, zitiert nach Hönig, Ferdinand

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ben Wilhelm von Giesebrecht zu den prominentesten Repräsentanten des liberalprotestantischen Ghibellinismus unter den Historikern der Zeit nach der Mitte des 19. Jahrhunderts. 22 Da die Existenz des Kirchenstaats aus der Sicht von Gregorovius das größte Hin‐ dernis auf dem Weg zur Verwirklichung der staatlichen Einheit Italiens ist, bestrei‐ tet er von allem Anfang an die Legitimität der weltlichen Herrschaft des Papsttums über Rom und das Patrimonium Petri. 23 Der zweite Leitgedanke ist also die bei einem liberalen Protestanten nicht überraschende Überzeugung, dass die Ausübung des Dominium temporale durch das Oberhaupt der römischen Kirche eine Abkehr von der Lehre des Evangeliums und von den Prinzipien des Urchristentums ist, die den Papst in politische und militärische Händel verstricken und ihm die Erfüllung seiner priesterlichen, auf das jenseitige Heil der Gläubigen gerichteten Aufgaben unmöglich machen muss. So hatten für Gregorovius die Römer vom frühen Mittel‐ alter bis in seine Gegenwart das ganz natürliche und selbstverständliche Ziel, dem Papsttum die angemaßte weltliche Gewalt zu entreißen, „[. . . ] die, wie die Römer noch am heutigen Tag behaupten, an den apostolischen Füßen des Papstes nur ein Bleigewicht ist, das ihn vom Himmel, seiner unbestrittenen Domäne, in ein ihm völlig fremdes Territorium hinunterzieht.“ 24 Gregorovius (wie Anm. 2), S. 333 f.: „Das ganze Mittelalter hindurch reiften die Geschicke Europas in Italien, und wir Deutsche haben sie ausgesät. Karls d. Gr. Kaisertum, die Idee des Staates, war unsere Tat. In schweren Kämpfen haben wir sie endlich gegen das hierarchische Papsttum durchgefochten, und mit unzähligen Opfern haben wir den großen Satz erstrit‐ ten, daß das Reich Gottes von dieser Welt sei, daß der Staat die Berechtigung seiner Existenz nicht in demütigem Glauben an das mystische Kreuz der Erlösung und an den Krummstab, sondern in der göttlichen Kraft der Arbeit und des Gedankens habe. Um die Menschheit von der Pfaffenlüge zu befreien und sie mündig zu sprechen, geschah es, daß der deutsche Heinrich auf dem Schloßhofe zu Canossa im Büßerhemd stand, daß die großen Schwaben‐ kaiser in Italien untergingen, daß der Jüngling Konradin in Neapel auf dem Blutgerüste fiel. Welch ein anderes Volk kann solche welthistorischen Größen aufweisen als das deutsche, welches das Volk der Reformation ist, des Geistes und seiner ewigen Selbstbefreiung.“ 22 Gollwitzer, Zur Auffassung der mittelalterlichen Kaiserpolitik (wie Anm. 20), S. 501– 512. 23 Allgemein zur Charakterisierung der römischen Päpste durch Gregorovius siehe Alberto Forni, L’idea del medioevo di Roma in Gregorovius e Reumont, in: Das Mittelalter. An‐ sichten, Stereotypen und Mythen zweier Völker im neunzehnten Jahrhundert: Deutsch‐ land und Italien, hg. von Reinhard Elze und Pierangelo Schiera (= Jahrbuch des italienischdeutschen historischen Instituts in Trient, Beiträge 1), Bologna, Berlin 1988, S. 283–297, hier S. 291–294. 24 Gregorovius 3, 6, S. 431. – Seine Haltung in der Frage, ob Rom seine politische Eigen‐ ständigkeit bewahren oder Teil des italienischen Nationalstaats werden sollte, ist allerdings nicht frei von Schwankungen und Widersprüchen. Am 13. November 1864 bezeichnet er in seinem Tagebuch (Gregorovius, Römische Tagebücher [wie Anm. 2], S. 188), als er auf die bevorstehende Verlegung der Hauptstadt des Königreichs Italien nach Florenz und

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Als von dem Scheitern der 48er-Revolution tief enttäuschter Liberaler 25 sucht und findet Gregorovius die freiheitlichen Bewegungen, die seinem Ideal des po‐ litisch-gesellschaftlichen Fortschritts entsprechen, in den aufstrebenden italieni‐ schen Städten des hohen Mittelalters, die sich in der Rechtsform der autonomen, sich selbst verwaltenden und die Herrschaft über Stadt und Umland beanspru‐ chenden Bürgergemeinde, der Kommune, organisieren. Im Zentrum des Interes‐ ses steht für Gregorovius naturgemäß die römische Kommune, deren Ursprünge er bereits im 8. Jahrhundert in dem Recht der Römer, an der Papstwahl mitzuwir‐ ken, erkennen möchte. 26 Römische Machthaber wie Alberich II. in der Zeit Ot‐ tos des Großen 27 und Crescentius, der von Otto III. 998 als Rebell hingerichtet wurde 28, verteidigt er vehement gegen den Vorwurf, Tyrannen zu sein. Sie sind ihm vielmehr Vorkämpfer der Freiheit, „weil sie sich nicht sklavisch den Kaisern und Päpsten unterwarfen“. Denn: „Die Vaterlandsliebe ist eine heilige Tugend und von dem höchsten sittlichen Begriff des Menschen, der Freiheit, unzertrennlich. Der Nationalhaß der Römer gegen die Fremden, ihr Widerwille gegen das Regiment der Priester war zu jeder Zeit erklärlich, weil in der Natur der Dinge begründet.“ 29 Der dritte Leitgedanke von Gregorovius ist also die Idee der bürgerlichen Freiheit, die von einzelnen herausragenden Vertretern des römischen Volkes und sodann von

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die damit beabsichtigte Erhöhung des politischen Drucks auf Rom zu sprechen kommt, König Viktor Emanuel II. als letzten Nachfolger der mittelalterlichen Herrscher von Ais‐ tolf über die Ottonen und Salier bis hin zu den Staufern, „welche alle auf dies eine Ziel, den Sturz des weltlichen Papsttums, und alle vergebens, ihre verzweifelte Kraft gerichtet hat‐ ten.“ Erstaunlicherweise plädiert er dann aber nicht für einen Anschluss Roms an Italien, sondern fährt fort: „Meine Ansicht war immer: Rom zur Republik zu erklären, dem Papst die Stadt und ihren Distrikt zu lassen, den Römern aber das italienische Bürgerrecht zu geben. So bliebe der kosmopolitische Charakter Roms erhalten. Wenn er ausgelöscht wird, so wird eine Lücke in der europäischen Gesellschaft entstehen.“ Die Sorge von Gregorovius, Rom werde bei seinem Aufgehen im entstehenden Nationalstaat seine freiheitliche Eigen‐ art und Weltoffenheit einbüßen, spiegelt sich auch in seiner folgenden Bemerkung: „Alles wird Rom verlieren, seine republikanische Luft, seine kosmopolitische Weite, seine tragi‐ sche Ruhe“ (zitiert nach Hönig, Ferdinand Gregorovius [wie Anm. 2], S. 318). Siehe auch Andreas Beyer, Leben in Gegenwart des Vergangenen. Carl Justi, Jacob Burckhardt und Ferdinand Gregorovius in Rom vor dem Hintergrund der italienischen Einigung, in: Rom – Paris – London. Erfahrung und Selbsterfahrung deutscher Schriftsteller und Künstler in den fremden Metropolen. Ein Symposion, hg. von Conrad Wiedemann (= Germanistische Symposien. Berichtsbände, Bd. 8), Stuttgart 1988, S. 289–300, hier S. 294–298. Siehe Scheibe, Mittelalterbild (wie Anm. 18), S. 191 f. Gregorovius 2, 4, S. 294. Zu ihm siehe unten S. 52–55. Zu Crescentius siehe Carlo Romeo, Crescenzio Nomentano, in: Dizionario Biografico degli Italiani, Bd. 30, Rom 1984, S. 661–664; Gerd Althoff, Otto III., Darmstadt 1996, S. 86 f. und S. 100–113. Gregorovius 3, 6, S. 403 f.

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der römischen Kommune verkörpert wird, die aber in harten Auseinandersetzun‐ gen mit dem päpstlichen Stadtherrn und häufig auch mit dem Kaiser durchgesetzt werden muss. Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, wie Gregorovius in seiner „Geschichte der Stadt Rom“ vor dem Hintergrund der skizzierten Leitgedanken die Italien- und Romzüge der mittelalterlichen deutschen Herrscher darstellt und beur‐ teilt. In einem knappen Beitrag kann dies natürlich nicht in umfassender und syste‐ matischer Weise geschehen, sondern nur an einzelnen Beispielen und ausgewählten Aspekten. Da sich Girolamo Arnaldi vor Jahren in einem Aufsatz den Romzügen Karls des Großen und Ottos III. gewidmet hat, 30 befasse ich mich hier mit Pippin dem Jüngeren, der bekanntlich nicht bis Rom gelangt ist, aufgrund seines Eingrei‐ fens in Italien und der seinen Namen tragenden Schenkung für das fränkisch-päpst‐ liche Verhältnis jedoch von zentraler Bedeutung ist, sowie mit Otto dem Großen und mit Friedrich I. Barbarossa – also mit fränkischen und deutschen Königen des 8., 10. und 12. Jahrhunderts. Die Romzüge der fränkischen und deutschen Herrscher, jene groß angelegten, mit politischen, diplomatischen und militärischen Anstrengungen verbundenen und von zahlreichen Unwägbarkeiten begleiteten Unternehmungen, welche in der durch den Papst in St. Peter vorgenommenen Kaiserkrönung des fränkischen und – in seiner Nachfolge – des deutschen Königs gipfelten, gehören zu den Phänomenen, welche das Mittelalter als Epoche zu charakterisieren vermögen. 31 Die Tradition, die mit dem Akt vom Weihnachtstag des Jahres 800 begründet wurde, endete in der Zeit der beginnenden Kirchenspaltung, als Karl V. 1530 schon nicht mehr in dem von den deutschen Landsknechten kurz zuvor heimgesuchten Rom, sondern in Bologna, aber noch aus den Händen des Papstes, nämlich Clemens’ VII., die Kaiserkrone empfing. Mit dem Tod Clemens’ VII. im Jahre 1534 lässt Gregorovius seine „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“ ausklingen. 32 Wenn Gregorovius in der Einleitung zu seinem Werk eine Rechtfertigung dafür sucht, dass nicht ein Italiener, sondern er als Deutscher „sich an dies schwierige Unternehmen wagt“ 33, so verweist er darauf, dass das deutsche unter allen Völ‐ kern im Mittelalter die intensivsten Beziehungen zu Rom unterhielt, deren An‐ fänge er bereits in der Herrschaft der Goten Theoderichs über die Stadt und in den 30 Girolamo Arnaldi, Gregorovius als Geschichtsschreiber der Stadt Rom: das Frühmittel‐ alter. Eine Würdigung, in: Ferdinand Gregorovius und Italien (wie Anm. 5), S. 117–130. 31 Neuere Ansätze der Untersuchung mittelalterlicher Rom- und Italienzüge präsentiert der Band: Der „Zug über Berge“ währende des Mittelalters. Neue Perspektiven der Erforschung mittelalterlicher Romzüge, hg. von Christian Jörg und Christoph Dartmann (= Trierer Beiträge zu den historischen Kulturwissenschaften, Bd. 15), Wiesbaden 2014. 32 Gregorovius 8, 14, S. 656–659. 33 Gregorovius 1, 1, S. 3.

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als Befreiung und Wiederaufrichtung Roms gedeuteten, gegen Langobarden und Byzantiner gerichteten Italienzügen der Franken Pippins des Jüngeren und Karls des Großen erkennt 34. Damit habe für Deutschland ein über viele Jahrhunderte andauerndes äußerst enges Verhältnis zu Rom begonnen: Im Rahmen des „germa‐ nisch-römische[n] Reich[es]“ 35, wie er es nennt, sei die Geschichte der Stadt im Mittelalter ein „unzertrennlicher Bestandteil der Geschichte Deutschlands selbst geworden“. 36 Und so ist es nicht nur das persönliche Erlebnis der Ewigen Stadt, die „Betrachtung“ Roms, die ihn nach eigener Aussage zur Feder greifen lässt, sondern daneben auch die „Macht nationaler Erinnerungen“, die Verbindung Roms mit sei‐ ner eigenen „deutschen“ Geschichte. 37 Dementsprechend bilden zwei Ereignisse den zeitlichen Rahmen seiner Darstellung, die man in gewisser Weise ebenfalls als Romzüge „germanisch-deutscher“ Akteure bezeichnen könnte, auch wenn sie un‐ ter den Bewohnern der Stadt Rom sicher weitaus geringere Begeisterung ausgelöst haben als die späteren Besuche fränkischer und deutscher Kaiser: Gemeint sind die Einnahme Roms durch die Westgoten Alarichs im Jahre 410 und der Sacco di Roma, die Eroberung und Ausplünderung Roms durch die deutschen Landsknechte und spanischen Soldaten Karls V. im Jahre 1527. 38 Zwar feiert Gregorovius gleich im ersten Absatz seines Werkes die Intervention Pippins in Italien als Befreiung Roms von Langobarden und Byzantinern, eine Ruh‐ mestat, die er für die Deutschen in Anspruch nimmt. 39 Während er aber hier, wo es um die Darlegung der Grundidee des Buches geht, den Akzent auf die Stadt selbst legt und das Papsttum völlig ausblendet, rückt er im entsprechenden Abschnitt seines Werkes, im 2. Buch des 2. Bandes, „die Stiftung des Kirchenstaats“ 40 und damit das Verhältnis zwischen dem fränkischen König und dem Bischof von Rom ins Zentrum der Betrachtung. Zunächst ereifert sich Gregorovius über ein vermeintliches Täuschungsmanöver Papst Stephans II., der einen seiner an Pippin adressierten Hilferufe, gegen die Lan‐

34 Ebd. 35 Ebd. 36 Ebd., S. 4. – Zur weitverbreiteten Gleichsetzung von Germanisch und Deutsch im 19. Jahr‐ hundert siehe Carlrichard Brühl, Deutschland – Frankreich. Die Geburt zweier Völker, Köln, Wien 1990, S. 19–22, sowie den Band: Zur Geschichte der Gleichung „germanischdeutsch“. Sprache und Namen, Geschichte und Institutionen, hg. von Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer und Dietrich Hakelberg (= Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 34), Berlin, New York 2004. 37 Gregorovius 1, 1, 2. Aufl., Stuttgart 1869, S. 4. Diese Aussage fehlt in den späteren Auf‐ lagen. 38 Gregorovius 1, 1, S. 4. 39 Ebd., S. 3. 40 Gregorovius 2, 4, S. 289–295.

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gobarden einzuschreiten, dem hl. Petrus in die Feder diktiert hatte. 41 Seine Empö‐ rung gilt dabei weniger dem Umstand, dass man aus seiner Sicht von römischer Seite die Leichtgläubigkeit der Franken ausnutzen wollte 42, als der Tatsache, dass sich die Päpste in der Vergangenheit auch bei der Abwehr der gefährlichsten Irrlehren – genannt werden Arianismus und Nestorianismus – niemals der Stimme des Apo‐ stelfürsten bedient hätten, zu dieser List aber in dem Augenblicke griffen, als es um materiellen Besitz und Herrschaftsrechte ging. „Diese merkwürdige Erdichtung“, so folgert Gregorovius, indem er sich Worte aus Claude Fleurys zwischen 1691 und 1720 erschienenen Kirchengeschichte zu eigen macht, „ist eins der gültigsten Zeug‐ nisse von dem rohen Geist nicht allein jenes Jahrhunderts, sondern auch der dama‐ ligen Kirche selbst, welche sich nicht scheute, die heiligsten Motive der Religion für weltliche Angelegenheiten zu mißbrauchen.“ 43 An der Pippinischen Schenkung, der Unterstellung des Exarchats von Ravenna und der Pentapolis unter die weltliche Hoheit des Papstes, der bereits den Dukat von Rom beherrschte 44, übt Gregorovius gleich in zweifacher Hinsicht massive Kritik, die durchaus als dezidierte Stellungnahme in den damals aktuellen politi‐ schen Auseinandersetzungen verstanden werden kann. Indem er konstatiert, Pip‐ pin habe durch diesen Akt „die Einheit Italien’s für lange Jahrhunderte unmöglich gemacht“, 45 ergreift Gregorovius unverblümt Partei für die italienische Einigungs‐ bewegung, die im Begriffe war, eine Fehlentwicklung rückgängig zu machen, die das

41 Schreiben Papst Stephans II. an König Pippin vom Februar 756, in: Codex epistolaris Caro‐ linus. Frühmittelalterliche Papstbriefe an die Karolingerherrscher, hg., übersetzt und ein‐ geleitet von Florian Hartmann und Tina B. Orth-Müller (= Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe, Bd. 49), Darmstadt 2017, Nr. 3 (10), S. 38–45. – Die Einzigartigkeit dieses Schreibens unter den Papstbriefen betont Achim Thomas Hack, Codex Carolinus. Päpstliche Epistolographie im 8. Jahrhundert. Erster Halbband (= Päpste und Papsttum, Bd. 35, 1), Stuttgart 2006, S. 110 f. 42 Gregorovius 2, 4, S. 287, mutmaßt, dass „die seltsame Erfindung“ dem „Verstande eines Königs selbst jener rohen Zeit“ ein Lächeln abgenötigt habe, dass aber Pippin den Brief dazu eingesetzt habe, die widerstrebenden Franken von der Notwendigkeit eines Feldzugs gegen die Langobarden zu überzeugen, durfte er doch „den heiligen Petrus nicht vor der Menge bloßstellen“. 43 Ebd., S. 285 mit Anm. 1, wo auf Claude Fleury, Histoire Ecclésiastique, an. 755 n. XVII verwiesen wird. 44 Zur Entstehung des Kirchenstaates siehe Thomas F. X. Noble, The Republic of St. Peter, 680–825, Philadelphia 1984, S. 90–98, der die Rolle König Pippins und Papst Stephans II. allerdings nicht überschätzen möchte. Siehe auch Girolamo Arnaldi, Le origini del Patri‐ monio di S. Pietro, in: Girolamo Arnaldi, Pierre Toubert, Daniel Waley, Jean-Claude Maire Vigueur und Raoul Manselli, Comuni e signorie nell’Italia nordorientale e centrale. Lazio, Umbria e Marche, Lucca (Storia d’Italia 7, 2), Turin 1987, S. 1–151, hier S. 117–139. 45 Gregorovius 2, 4, S. 292.

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fränkisch-päpstliche Bündnis des 8. Jahrhunderts angebahnt hatte. Die Vorwürfe, die er gegen Pippin erhebt, sind nicht zu überhören, auch wenn er dem fränkischen Herrscher zubilligt, nicht „mit bewußter Absicht einen Kirchenstaat“ geschaffen zu haben. 46 Fundamentaler ist die Kritik, die er gewissermaßen aus ‚urkirchlichprotestantischer‘ Perspektive an der Rolle des Papsttums bei der Errichtung des „Tempelstaat[s]“ 47, wie er das Patrimonium Petri nennt, äußert. „Mit dessen Grün‐ dung“, so sagt er, endete die rein bischöfliche und priesterliche, die schönste und rühmlichste Epoche der römischen Kirche. Diese verweltlichte; die Päpste, welche wider die Grundsätze des Evangelium und der Lehre Christi das Priestertum mit dem Königtum verbanden, konnten fortan nicht mehr die Reinheit ihres apostolischen Amts festhalten. Ihre sich selbst widersprechende Doppelnatur zog sie tiefer und tiefer in das Treiben ehrgeiziger Politik hinab [. . . ]. 48

Waren die Franken auf der einen Seite also nicht schuldlos an der als Deformierung des ursprünglichen Auftrags der römischen Kirche aufgefassten Herausbildung ei‐ nes mit Hoheitsrechten ausgestatteten päpstlichen Territoriums, so war aus der Sicht von Gregorovius auf der anderen Seite die bloße Existenz des Frankenreichs „ein Glück für Europa“ 49. Indem er nämlich ganz allgemein auf die Machtlosigkeit des oströmischen Kaisers und auf Pläne der Päpste, „ihrer geistlichen Suprematie eine praktische Grundlage zu geben“ 50, verweist, geht er so weit, die Gefahr der „Entstehung eines abendländischen Kalifats in Rom“ 51 zu beschwören – und die Verwirklichung eben dieses Vorhabens hätte das Frankenreich als Bollwerk gegen das Streben der Päpste nach weltlicher Herrschaft verhindert 52. 46 47 48 49 50 51 52

Ebd., S. 291. Ebd., S. 293. Ebd. Ebd. Ebd., S. 292. Ebd., S. 293. In Entsprechung hierzu sieht Gregorovius 3, 5, S. 7 f. in dem Verzicht Karls des Großen, Rom nach der Kaiserkrönung zur Hauptstadt seines Reiches zu machen, eine für die Frei‐ heit der europäischen Völker und die Eigenständigkeit der Kirche folgenreiche Entschei‐ dung. Denn: „In diesem Falle wären Kaisertum und Papsttum in eine unermeßliche Gewalt zusammengeflossen, und eine hierarchische Despotie, schrecklicher als die alte Cäsaren‐ herrschaft, würde Europa verschlungen haben. Carl verzichtete darauf, Rom zur Haupt‐ stadt seiner Monarchie zu machen, und dies war eine der folgenschwersten Thatsachen der Geschichte. Denn dadurch wurde die selbständige Entwicklung der abendländischen Völker, und endlich die der Kirche möglich gemacht. [. . . ] Die germanisch-römischen Ge‐ gensätze trennten für immer die Kaisergewalt von der Gewalt des Papstes; der Zwiespalt dieser beiden Mächte, welche sich gegenseitig behinderten und beschränkten, rettete die Freiheit Europa’s.“

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Das Eingreifen der Franken Pippins in Italien und die damit verbundene Über‐ tragung der weltlichen Gewalt im Patrimonium Petri auf den Papst stellen also für Gregorovius in mehrfacher Hinsicht eine tiefgreifende Zäsur dar, die sich auf die Geschicke Roms in der Zukunft entscheidend auswirken sollte: „Denn seit der Gründung des Kirchenstaats“, so formuliert er, „gerieten die drei Rechte, welche in Rom ihre Wurzeln hatten, in dauernden Kampf mit einander: das uralte, munici‐ pale Recht des Volks, das antike Recht der kaiserlichen Monarchie, und das jüngste zur Thatsache gewordene Recht der Päpste“. 53 Und er zieht daraus die auch für seine Darstellung grundlegende Schlussfolgerung: „Die Geschichte der Stadt Rom ist daher in langen Jahrhunderten nur die Entwicklung des Streites dieser drei Prin‐ cipien mit und gegen einander.“ 54 Wie sehr Gregorovius in zeittypischer Form – und das heißt: auf höchst ana‐ chronistische Weise – geneigt ist, das politische Geschehen des frühen Mittelal‐ ters mit Hilfe nationaler Kategorien zu erklären, zeigt sich auch an seinen Ausfüh‐ rungen zur Erneuerung des abendländischen Kaisertums durch Otto den Großen. Obwohl er zutiefst von der welthistorischen Sendung des deutschen Volkes über‐ zeugt ist, 55 muss hervorgehoben werden, dass er sich niemals zu einem engstirnigen „deutschnationalen“ Urteil verleiten lässt. Im Gegenteil: Als er auf die Intervention Ottos des Großen in Italien im Jahre 951 zu sprechen kommt, macht er den itali‐ schen Adelsgruppen und Papst Agapit II., die den Sachsen eingeladen hatten, mas‐ sive Vorwürfe: „[. . . ] sie alle richteten ihre Blicke auf Deutschland. Statt an eine na‐ tionale Ordnung ihres Landes die Hand zu legen, riefen sie wieder einen Fremdling nach Italien.“ 56 Otto, der Gregorovius nicht nur aufgrund seiner Schlachtensiege und erfolgreichen Herrschaft, sondern auch wegen seiner „Weisheit ein zweiter Carl der Große“ 57 ist, wird der von 932 bis 954 Stadt und Dukat von Rom dominierende princeps und Senator Alberich II. 58 gegenübergestellt, der in höchsten Tönen ge‐ rühmt wird 59. Hätte Italien, so Gregorovius, „dieses an Gesittung und Bildung den

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Gregorovius 2, 4, S. 295. Ebd. Siehe oben S. 45 f. mit Anm. 21 und unten S. 58 mit Anm. 83. Gregorovius 3, 6, S. 311. Ebd., S. 312. Zu ihm siehe Willi Kölmel, Rom und der Kirchenstaat im 10. und 11. Jahrhundert bis in die Anfänge der Reform. Politik, Verwaltung; Rom und Italien (= Abhandlungen zur Mittleren und Neueren Geschichte, Bd. 78) Berlin-Grunewald 1935, S. 10–25; Girolamo Arnaldi, Alberico di Roma, in: Dizionario Biografico degli Italiani, Bd. 1, Rom 1960, S. 647–656; Harald Zimmermann, Papstabsetzungen des Mittelalters, Graz [u. a.] 1968, S. 75–78; Pierre Toubert, Une révision: le principat d’Albéric de Rome (932–954), in: Ders., Études sur l’Italie médiévale (IXe–XIVe s.) (= Variorum Reprints. Collected Studies Series, Bd. 46), London 1976, Nr. V. 59 Gregorovius 3, 6, S. 280–315.

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damals noch halbbarbarischen Deutschen weit überlegene Land in der Mitte des 10. Jahrhunderts einen einheimischen großen Fürsten zu seinem Könige aufzustel‐ len vermocht, wie es Alberich war, so wäre der Zug Ottos von Deutschland nicht erfolgt“. 60 Unverkennbar drückt Gregorovius hier sein Bedauern darüber aus, dass der italienische Partikularismus – ebenso wie in der Gegenwart des Autors – einer gemeinsamen Willensbildung und vermeintlich nationalen Interessen dienenden Lösung im Wege stand. 61 Aus der Sicht von Gregorovius wäre Alberich eigentlich prädestiniert gewesen, diese Führungsrolle zu übernehmen und der Zerrissenheit 60 Ebd., S. 312. 61 In der 2. Auflage findet sich an dieser Stelle – im Anschluss an die Schilderung des Eingrei‐ fens Ottos in Italien und seiner Vermählung mit Adelheid – ein in den späteren Fassungen nicht mehr enthaltener, mit deutlichem Gegenwartsbezug formulierter exkursartiger Ein‐ schub, in dem Gregorovius über das Schicksal Italiens in den zurückliegenden 1.400 Jahren sinniert. Dabei schlägt er den Bogen von den Einfällen und Einwanderungen germanischer Völker im frühen Mittelalter über die Herrschaft der Franken und der Deutschen bis hin zur Besetzung Roms durch die Truppen Napoleons III. in seiner eigenen Zeit und stellt den politischen Fähigkeiten der Italiener, die schon immer ohne Rücksicht auf ihre natio‐ nalen Interessen fremde Mächte, häufig als Befreier, ins Land gerufen hätten, ein denkbar schlechtes Zeugnis aus. Da dieser Passus, der für die Urteilsmaßstäbe des Autors von zentra‐ ler Bedeutung ist, in den heute gängigen Ausgaben fehlt, sei er hier in Gänze wiedergegeben: „Dies schöne Land ward nun durch ein inneres Fatum an Deutschland gekettet, und hier, auf einer Scheidegrenze von Epochen, mag man gern einen Augenblick verweilen und der wunderbaren Notwendigkeit nachdenken, welche die germanischen Völker immer wieder nach Italien und Rom gewendet hat; hier mag man sich freudiger der edeln Gothen erin‐ nern, die einst auf den Trümmern Rom’s so heroisch gefallen waren. Die langlebigen Lan‐ gobarden waren ihnen gefolgt; durch die Franken verdrängt, hatten sie doch germanisches Wesen weit und breit und unvertilgbar durch die italischen Lande ausgegossen. Nun war auch die Frankendynastie verlöscht, und die Deutschen traten in Italien auf. Nicht mehr wandernd wie einst die Gothen und die Langobarden [. . . ] kamen sie als das Heer eines mächtigen Staats, den König an der Spitze, um dies Land zu erobern, zu beherrschen, doch nicht es zu bewohnen. Rom murrt heute nicht mehr unter dem Scepter deutscher Kaiser, doch es ist von fran‐ zösischen Truppen schon viele Jahre lang besetzt. Piemont, Lombardien haben die Heere Napoleons III. als Befreier vom verhaßten Oesterreich hereingerufen; die Ebene des Po ward wieder mit Leichen bedeckt, und die Welt erwartet mit Spannung, welche Stellung das gerufene Frankreich in Italien einnehmen werde. Diese Kämpfe sind alt, wie die Spiele der Politik leider ewig dieselben; Befreier werden gerufen, sie befreien und dann gebieten sie. Nachdem seit 14 Jahrhunderten die Fürsten Italien’s, die Päpste, die Städte, die Provin‐ zen als Verkäufer ihrer Nationalität hereingezogen haben Gothen, Vandalen, Langobarden, Byzantiner, Franken, Saracenen, Ungarn, Franzosen, Deutsche, Normannen, Spanier, ja selbst die Türken, beklagen sich die Italiener noch immer über den Zorn des Himmels, der ihr classisches Paradies verdammt habe, den Fremden oder den Barbaren zu dienen. Der Freund der Freiheit und des Rechts muß sie bemitleiden, aber rechtfertigen kann er sie nicht, denn das Urteil der Geschichte weist ihnen nur zu oft politische Unfähigkeit,

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Italiens ein Ende zu bereiten, werden ihm doch nicht nur außerordentliche po‐ litische Fähigkeiten, sondern sogar „Genie“ attestiert. 62 Ja, Gregorovius geht be‐ merkenswerterweise noch einen Schritt weiter, indem er Alberich aufgrund seiner historischen Leistungen „unter allen Bürgern Roms im Mittelalter die höchste Eh‐ renstelle“ zuerkennt. Wörtlich fährt er fort: „Alberich ist ein Ruhm des damaligen Italien’s; denn dies war ein Mann und würdig Römer zu sein. Er verdiente von seiner Zeit den Namen des Großen [. . . ].“ 63 Neben diesem überschwänglichen Lob des großen Mannes, der den Geschicken Italiens eine andere Wendung hätte geben können, steht die nüchterne, kritische Quellenanalyse und das vorsichtig abwägende Urteil in der Sache. Nachdem Otto der Große im Herbst 951 Pavia, die Hauptstadt des Regnum Italiae, eingenom‐ men und sich mit Adelheid, der Witwe König Lothars, vermählt hatte, um seinen Herrschaftsanspruch südlich der Alpen zusätzlich abzusichern 64, schickte er dem Bericht des westfränkischen Geschichtsschreibers Flodoard zufolge eine Gesandt‐ schaft nach Rom, die über „seine Aufnahme (pro susceptione sui)“ in der Stadt ver‐ handelte 65. Die heutige Forschung ist sich weitgehend einig, dass Otto in Rom bei Papst Agapit II. um die Kaiserkrönung nachsuchte, 66 eine Bitte, die auf Ablehnung gestoßen sei. Viel zurückhaltender formuliert Gregorovius, wenn er diese Vorgänge

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ewige Zersplitterung durch eigene Schuld, und ewige Bulerei mit dem Ausland um kleiner jämmerlicher Parteizwecke nach.“ (Gregorovius 3, 6, 2. Aufl., Stuttgart 1870, S. 336 f.) Gregorovius 3, 6, S. 314. Ebd., S. 315. Stefan Weinfurter, Kaiserin Adelheid und das ottonische Kaisertum, in: Frühmittel‐ alterliche Studien, 33 (1999), S. 1–19, hier S. 7–10; Hagen Keller, Entscheidungssitua‐ tionen und Lernprozesse in den Anfängen der deutschen Geschichte. Die Italien- und Kaiserpolitik Ottos des Großen, ebd., S. 20–48, hier S. 34–36; Hagen Keller und Gerd Althoff, Die Zeit der späten Karolinger und der Ottonen. Krisen und Konsolidierungen 888–1024 (= Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte), 10. Aufl., Bd. 3, Stuttgart 2008, S. 186–188. Vgl. auch die Erwägungen von Johannes Laudage, Otto der Große (912–973). Eine Biographie, Regensburg 2001, S. 165–169, zum Zeitpunkt der Hochzeit. Les Annales de Flodoard, hg. von Philippe Lauer (= Collection de textes pour servir à l’étude et à l’enseignement de l’histoire, Bd. 39), Paris 1905, S. 133. Gerd Althoff und Hagen Keller, Heinrich I. und Otto der Große. Neubeginn auf ka‐ rolingischem Erbe (= Persönlichkeit und Geschichte, Bde. 122/23 und 124/25), Göttin‐ gen, Zürich 1985, S. 166; Brühl, Deutschland – Frankreich (wie Anm. 36), S. 535; Hagen Keller, Die Kaiserkrönung Ottos des Großen, in: Otto der Große, Magdeburg und Eu‐ ropa 1: Essays, hg. von Matthias Puhle, Mainz 2001, S. 461–480, hier S. 465; Ernst-Dieter Hehl, Kaisertum, Rom und Papstbezug im Zeitalter Ottos I., in: Ottonische Neuanfänge. Symposion zur Ausstellung „Otto der Große, Magdeburg und Europa“, hg. von Bernd Schneidmüller und Stefan Weinfurter, Mainz am Rhein 2001, S. 213–235, hier S. 222; Elke Goez, Papsttum und Kaisertum im Mittelalter, Darmstadt 2009, S. 31. – Skeptisch dagegen Werner Maleczek, Otto I. und Johannes XII. Überlegungen zur Kaiserkrönung von 962, in: Mediaevalia Augiensia. Forschungen zur Geschichte des Mittelalters, hg. von

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beschreibt: Otto habe den Erzbischof von Mainz und den Bischof von Chur nach Rom gesandt, um mit dem Papst über seinen Empfang in der Ewigen Stadt und „wol über viel wichtigere Dinge“ 67 zu sprechen. Indem er diese für unterschiedli‐ che Interpretationen offene Formulierung wählt, vermeidet es Gregorovius ganz offensichtlich mit Bedacht, Otto dem Großen bereits für 951/952 ausdrücklich Kaiserpläne zu unterstellen, für die es in der Tat keine expliziten Belege gibt. Im Ein‐ klang mit der neueren Forschung 68 schreibt Gregorovius die Zurückweisung von Ottos Anfrage, Rom aufsuchen zu dürfen, nicht Papst Agapit II. zu, sondern dem römischen Machthaber Alberich, wofür er ihm bezeichnenderweise erneut größtes Lob zollt: „[. . . ] die entschiedene Weigerung“, so sagt er, „ihn aufzunehmen, kam von Alberich, und sie macht der Energie dieses Römers nicht wenig Ehre. Der große König wurde vom Senator aller Römer abgewiesen [. . . ].“ 69 Es hört sich wie eine Klage an, wenn Gregorovius zum Tode Alberichs im Jahre 954 bemerkt, er sei „vom Schauplatz der Geschichte [. . . ] in der Blüte seiner Kraft“ 70 abgetreten. Als Trost kann er immerhin konstatieren: „Das Glück gönnte es ihm, den Fall seines Vater‐ landes unter ein neues Kaiserjoch nicht mit Augen zu sehn.“ 71

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Jürgen Petersohn (= Vorträge und Forschungen, Bd. 54), Stuttgart 2001, S. 151–203, der auf den Seiten 188–190 die Möglichkeit erörtert, Otto habe Rom besuchen wollen, um mit Alberich einen politischen modus vivendi zu suchen oder um an den Heiligengräbern zu beten und Reliquien zu erwerben; auch Gerd Althoff, Die Ottonen. Königsherrschaft ohne Staat, Stuttgart [u. a] 2000, S. 99, spricht im Zusammenhang mit der Gesandtschaft nicht direkt von Kaiserplänen Ottos, sondern wesentlich allgemeiner von einem „weiteren Eintritt Ottos in karolingisches Erbe“. Gregorovius 3, 6, S. 313. Dazu ebenfalls Maleczek, Otto I. (wie Anm. 66), S. 190. Gregorovius 3, 6, S. 313. Ebd., S. 314. Ebd. – Der kämpferische Geist, von dem Gregorovius beseelt ist, wenn er von Alberich spricht, hebt sich deutlich von dem ganz anderen und eher negativen Blickwinkel ab, unter dem der mit Gregorovius eng befreundete Giesebrecht in seinem nur wenige Jahre zuvor erschienenen ersten Band der „Geschichte der deutschen Kaiserzeit“ die Person Alberichs bewertet: Zwar billigt er „Alberich ohne Zweifel“ zu, ein „außerordentlicher Mann“ ge‐ wesen zu sein, „wenigstens unter den Italienern dieser Zeit die seltenste Erscheinung“. Auch räumt er ein, dass Alberich die innere Ordnung in Rom wiederhergestellt und bei der Gründung und Reform von Klöstern Erfolge erzielt habe. Im Unterschied zu Grego‐ rovius betrachtet er ihn aber nicht als Vorkämpfer für die Freiheitsrechte der Römer gegen das päpstliche Machtstreben und für die Selbstbehauptung der „Italiener“ gegen auswärtige Eindringlinge, sondern als Tyrannen, der willkürlich über den Stuhl des hl. Petrus verfügt, in den Päpsten seine „Werkzeuge“ gesehen und die universale Geltung der römischen Kirche der eigenen Machtinteressen wegen beschnitten habe: „Rom, das der Mittelpunkt der Welt sein sollte und wollte, war abgeschlossen und getrennt von allen Staaten der Christenheit. Der Papst, der oberste Lenker und Richter der gesammten Kirche, war ganz in den Händen eines Stadttyrannen und mußte seinen untergeordneten Interessen dienen.“ (Wilhelm von

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Mit dieser Feststellung, aus der deutlich hervorgeht, dass er sich in seinem Ur‐ teil nicht von nationaler Voreingenommenheit bestimmen lässt, leitet Gregorovius zu der Schilderung der Kaisererhebung Ottos des Großen im Jahre 962 über. 72 Seine Bewertung der Erneuerung des abendländischen Kaisertums durch den ost‐ fränkisch-deutschen Herrscher, der damit einhergehenden Schutzverpflichtungen gegenüber der römischen Kirche und der Verbindung der deutschen mit der italie‐ nischen Königswürde im am 24. März 1859 abgeschlossenen dritten Band des Wer‐ kes 73 ist auch vor dem Hintergrund der gerade damals aufflammenden Kontroverse zwischen Heinrich von Sybel und Julius Ficker über die Sinnhaftigkeit der Itali‐ enpolitik der mittelalterlichen deutschen Kaiser zu beurteilen 74. In diesem Streit standen sich die Verfechter der kleindeutsch-preußischen und der großdeutsch‐ österreichischen Lösung der deutschen Frage gegenüber und bemühten sich, ihre gegenwartsbezogenen politischen Positionen – gerade auch im Hinblick auf die 1859 von Österreich in Italien erlittenen militärisch-politischen Niederlagen – mit historischen Argumenten zu untermauern. 75 Für Sybel war der Griff Ottos des Großen nach der römischen Kaiserwürde und der Herrschaft über Italien der erste Schritt auf dem Weg in eine Sackgasse, an deren Ende der Untergang der Staufer im 13. Jahrhundert und damit das Scheitern der Italienpolitik gestanden habe. 76 Für Julius Ficker hingegen gab es zu der Ausrichtung der ostfränkisch-deutschen Politik auf den Süden gar keine realistische Alternative, ging er doch ganz allgemein – auch für seine eigene Gegenwart – von einem „Mangel an staatenbildender Kraft bei dem italienischen Volke“ aus, dem nur die Deutschen abhelfen konnten, wenn im Inter‐ esse des gesamten Abendlandes südlich der Alpen eine stabile Ordnung aufgerichtet werden sollte 77: In dieser Vereinigung Deutschlands, Italiens und Burgunds zu einem Gesamtreiche vermag ich nun nicht lediglich ein Resultat blinder Eroberungssucht unserer Herr‐ scher oder einer mit den kirchlichen Interessen verwachsenen mystisch-religiösen Auf‐ fassung der Kaiserwürde zu sehen; sie scheint mir vielmehr das Ergebnis sehr realer

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Giesebrecht, Geschichte der deutschen Kaiserzeit, Bd. 1: Geschichte des zehnten Jahr‐ hunderts, Braunschweig 1855, S. 351 f.) Gregorovius 3, 6, S. 316–327. Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 2), Eintrag vom 2. April 1859, S. 78. Die einschlägigen Streitschriften Sybels und Fickers sind abgedruckt in dem Band: Univer‐ salstaat oder Nationalstaat (wie Anm. 16). Dazu Schneider, Einleitung (wie Anm. 16), S. XIII–XV. Sybel, Die Deutsche Nation und das Kaiserreich. Eine historisch-politische Abhandlung, in: Universalstaat oder Nationalstaat (wie Anm. 16), S. 159–260, hier S. 190–224. Julius Ficker, Das Deutsche Kaiserreich in seinen universalen und nationalen Beziehun‐ gen, in: Universalstaat oder Nationalstaat (wie Anm. 16), S. 19–158, hier S. 76 f.

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Bedürfnisse zu sein; sie war fast mit Notwendigkeit in der damaligen Lage der Verhält‐ nisse vorgezeichnet; es wurden durch sie Aufgaben erfüllt, welche im gemeinsamen Interesse des Abendlandes, wie jeder einzelnen Nation nicht ungelöst bleiben durften und welche nur die deutsche Nation lösen konnte. 78

Aus heutiger Perspektive liegt die Zeitgebundenheit der in diesem wissenschaftli‐ chen Disput vertretenen Positionen offen zutage, werden doch nationalstaatliche Interessen ins Feld geführt, die für die frühmittelalterlichen Akteure als handlungs‐ leitende Motive von vorneherein ausscheiden. Gregorovius operiert zwar seinerseits – wie bereits gesagt – in der für seine Zeit charakteristischen Weise mit dem Begriff der Nation, die als sich ihrer selbst bewusste, handlungsfähige Einheit verstanden wird. „Das Römische Reich wurde jetzt durch die deutsche Nation erneuert“ 79, so seine Interpretation der Erhebung Ottos des Großen zum Kaiser. Aber obgleich er als engagierter Beobachter der ak‐ tuellen politischen Geschehnisse unmissverständlich gegen die Präsenz Österreichs auf der Apenninenhalbinsel und für die Einigung Italiens Stellung nimmt 80 – in dieser Beziehung also eher die Linie Sybels vertritt –, liegt es ihm doch fern, Ot‐ tos Intervention in Italien und die Kaiserkrönung von 962 als Beginn eines Irr‐ wegs zu betrachten. Die Wiederaufrichtung des abendländischen Kaisertums nach jahrzehntelanger Vakanz sieht Gregorovius gewissermaßen als einen Otto und den Deutschen vom Schicksal erteilten Auftrag, der nicht nur ehrenvoll, sondern zu‐ gleich eine schwere Bürde gewesen sei. Otto sei aufgrund seiner Siege über Ungarn, Slawen und Dänen, seiner Erfolge bei der Ausbreitung des Christentums und seiner hegemonialen Stellung in Europa zu einem „neue[n] Carl“ herangewachsen. „Er“, so drückt es Gregorovius aus, „brachte jetzt die römische Reichsgewalt dauernd an die deutsche Nation, und dieses kräftige Volk übernahm die ruhmvolle, aber un‐

78 Ebd., S. 78. 79 Gregorovius 3, 6, S. 323. 80 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 2), Eintrag vom 16. Juni 1860, S. 80: „Heute kam die Nachricht vom Tode Metternichs [. . . ] Der letzte Repräsentant der veralte‐ ten Zeit erlebte noch den kläglichen Sturz seines papistisch-habsburgischen Lügensystems. Die Lombardei ist für Österreich verloren, und das wird ein Glück sein. Dieser Rest der mittelalterlichen Reichsgewalt hat Deutschland nur Unheil gebracht, da seinetwegen Ös‐ terreich zum engsten Anschluß an das Papsttum und zum Aufgeben seiner Mission an der Donau genötigt worden ist. Alle hiesigen Deutschen sind fanatisch für Österreichs Sache, und ich schweige still.“ Vgl. Hönig, Ferdinand Gregorovius (wie Anm. 2), S. 309 f.

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dankbare Aufgabe, der Atlas der Weltgeschichte zu sein.“ 81 Deutschland konnte die hohe Verantwortung, die ihm als Träger des Reiches zufiel, aus der Sicht von Grego‐ rovius – und hier unterscheidet er sich deutlich von Sybel – nicht einfach zurück‐ weisen. Denn „Deutschland und Italien“, die als „die reinsten Repräsentanten anti‐ ker und germanischer Natur, und die schönsten Provinzen im Reich menschlicher Gedankenmacht“ verklärt werden, sind laut Gregorovius „durch eine geschichtliche Notwendigkeit in diese lang dauernde Beziehung gebracht worden“. 82 Und hieran schließt er als Deutscher die Mahnung an seine Landsleute an, den höheren Sinn der engen Verbindung mit Italien nicht zu verkennen, der doch darin bestanden habe, das Fundament einer gemeinsamen europäischen Kultur zu schaffen: [. . . ] deshalb dürfen es die Enkel nicht beklagen, daß jenes römische Reich wie ein Schicksal auf unser Vaterland gelegt wurde und dasselbe zwang, Jahrhunderte lang sein Blut jenseits der Alpen zu verströmen, um die Grundlagen der allgemeinen europäi‐ schen Cultur zu schaffen, welche die moderne Menschheit wesentlich der Verbindung Deutschlands mit Italien zu danken hat. 83

Gegenüber der positiven Einschätzung Ottos des Großen, dessen Krönungszug nach Rom eine geradezu providenzielle Bedeutung beigemessen wird, wirkt die Dar‐ stellung Friedrich Barbarossas bei Gregorovius erstaunlich distanziert, wenn man sie mit der begeisterten Lobpreisung des idealisierten Stauferkaisers vergleicht, wel‐ che die deutsche Geschichtsschreibung im Zeitalter der nationalen Einigung an‐ stimmt. 84 Zwar gilt Barbarossa auch Gregorovius als der „unsterbliche Held“, aber wenn er auf der einen Seite „der Ruhm Deutschlands“ ist, so auf der anderen „der 81 Gregorovius 3, 6, S. 324. 82 Ebd. 83 Ebd., S. 324 f. In der 2. Auflage (Gregorovius 3, 6, 2. Aufl., Stuttgart 1870, S. 349) kommt der Nationalstolz des Autors noch deutlicher zum Ausdruck, wenn er dieses Ver‐ dienst allein Deutschland zuspricht: „[. . . ] , welche die moderne Menschheit wesentlich Deutschland zu verdanken hat.“ – Vergleicht man die Ausführungen von Ficker und Gre‐ gorovius zur herrschaftlichen Anbindung Italiens an das ostfränkisch-deutsche Reich und zur Erneuerung der Kaiserwürde durch Otto den Großen, so lassen sich teilweise bis in die Wortwahl hinein gewisse Parallelen feststellen: Während aber Ficker den Grund ganz nüchtern in den praktischen Erfordernissen der Aufrichtung eines politischen Ordnungs‐ rahmens in Europa sieht, erkennt Gregorovius die Wirksamkeit einer übergeordneten Idee, welche die Deutschen mit einer die gesamte Menschheit fördernden kulturellen Sendung nach Italien hinabsteigen lässt. 84 Zum Barbarossabild in Literatur und Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts siehe František Graus, Lebendige Vergangenheit. Überlieferung im Mittelalter und in den Vor‐ stellungen vom Mittelalter, Köln, Wien 1975, S. 343–349; Arno Borst, Die Staufer in der Geschichtsschreibung, in: Die Zeit der Staufer. Geschichte – Kunst – Kultur. Katalog der Ausstellung, Bd. 3: Aufsätze, Stuttgart 1977, S. 263–274, hier S. 270–272; Stefanie Bar‐ bara Berg, Heldenbilder und Gegensätze. Friedrich Barbarossa und Heinrich der Löwe im Urteil des 19. und 20. Jahrhunderts, Hamburg 1994, S. 37–158.

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Schrecken Italiens“. 85 Und wenn es um die Bewertung der Politik Barbarossas in Italien geht, so liegen die Sympathien von Gregorovius unzweideutig bei dessen italienischen Gegenspielern, nämlich bei den nach politischer Autonomie und wirt‐ schaftlicher Handlungsfreiheit strebenden Kommunen. Dabei bedient er sich der politischen Begrifflichkeit seiner eigenen Zeit, wenn er mit Blick auf die Beteiligung aufstrebender sozialer Schichten am städtischen Regiment und auf die Verdrängung der bisherigen, meist geistlichen Stadtherren durch kommunale Selbstverwaltungs‐ organe von „Demokratien“, von „Republiken“ und vom „dritten Stand“ spricht. 86 Die „Freiheitsglut der italienischen Republiken“ 87 und der seit dem Investiturstreit geführte Kampf „des sich befreienden Bürgertums“ 88 gegen den Feudalismus habe ein neues Zeitalter anbrechen lassen: „Nach den finstern Heroen der dogmatischen Alleingewalt, nach Päpsten wie Gregor, nach Kaisern wie Heinrich, ist es erfreulich, Martirer der Freiheit kommen zu sehn, die in ihren Händen die Fahne einer edleren Menschlichkeit und die unblutige, aber furchtbare Waffe des forschenden Gedan‐ kens und des freien Willens tragen.“ 89 Als Liberaler und Republikaner macht Gregorovius keinen Hehl aus seiner Par‐ teinahme für den Lombardenbund, die Allianz der oberitalienischen Städte, die sich gegen das Restaurationsprogramm des Kaisers militärisch zur Wehr setzten 90. Friedrich Barbarossa hält Gregorovius, auch wenn er seinem Mut im letztlich aus‐ sichtslosen Ringen mit dem übermächtigen Städtebund Bewunderung zollt, „Ver‐ blendung“ vor, da „er die Kraft des Reiches im Kampf mit dem stärkeren Geist der Zeit erschöpfte“. 91 In Anspielung auf den wenige Jahrzehnte zurückliegenden Frei‐ heitsaufstand der Griechen 92 formuliert er: „Der Kampf des lombardischen Bundes gegen Friedrich hat Italien mit einem reinen Glanz, wie vom edeln hellenischen Geist, für Jahrhunderte geschmückt. Nach so finstern Zeiten ist das machtvolle

85 Gregorovius 4, 8, S. 488. 86 Ebd., S. 452 ff. – Zur Begriffssprache von Gregorovius siehe die Bemerkungen bei Esch, Gregorovius als Geschichtsschreiber (wie Anm. 5), S. 170 f. 87 Gregorovius 4, 8, S. 452. 88 Ebd., S. 453. 89 Ebd. – Siehe hierzu auch Scheibe, Mittelalterbild (wie Anm. 18), S. 215–217. 90 Siehe dazu allgemein Gina Fasoli, Friedrich Barbarossa und die lombardischen Städte, in: Friedrich Barbarossa, hg. von Gunter Wolf (= Wege der Forschung, Bd. 390), Darmstadt 1975, S. 149–183; Knut Görich, Die Ehre Friedrich Barbarossas. Kommunikation, Kon‐ flikt und politisches Handeln im 12. Jahrhundert (= Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Studien zur Geschichte, Literatur und Kunst), Darmstadt 2001, S. 186–302; Knut Görich, Friedrich Barbarossa. Eine Biographie, München 2011, S. 287–387. 91 Gregorovius 4, 8, S. 559. 92 Gustav, einer der Brüder von Gregorovius, war „Philhellene“ und hatte von 1833–1835 unter König Otto I. von Griechenland gedient: Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 2), Eintrag vom 20. November 1862, S. 155.

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Erblühen der bürgerlichen Freiheit das schönste Phänomen des Mittelalters.“ 93 Der römischen Kirche wirft Gregorovius in diesem Zusammenhang ein unaufrichtiges Spiel vor. Wenn sich Papst Alexander III. in dieser epochalen Auseinandersetzung mit den Lombarden verbündet, also auf die Seite der „bürgerlichen Freiheit“ gestellt habe, so sei dies nicht aus innerer Überzeugung geschehen, sondern aus taktischen Überlegungen. „Es wäre für die Kirche ein hoher Ruhm, wenn die Beförderung der bürgerlichen Freiheit ihre freiwillige That gewesen wäre. Aber die Päpste bekämpf‐ ten diese in Rom [. . . ], und sie begünstigten sie zugleich in der Lombardei“. 94 Die römische Kirche profitierte so vom Sieg der lombardischen Liga im Konflikt mit Friedrich Barbarossa: Für Gregorovius war dies „der Sieg der Demokratie, welcher das Papsttum aus dem Schisma und der kaiserlichen Dictatur rettete“ 95 – gemeint ist die von 1159 bis zum Frieden von Venedig 1177 währende Kirchenspaltung, in welcher Alexander III. auf der einen und von Friedrich Barbarossa gestützte und abhängige Päpste auf der anderen Seite um ihre Anerkennung als rechtmäßiges Kir‐ chenoberhaupt rangen. 96 Ausgehend von diesen das Geschichtsbild von Gregorovius prägenden poli‐ tisch-ideologischen Überzeugungen ist seine Darstellung des Verhältnisses zwi‐ schen Stadtrömern, Papst und römisch-deutschem Herrscher in der Zeit vor und während des Ersten Romzugs Barbarossas zu betrachten. Die Entstehung der rö‐ mischen Kommune mit der Formierung eines sich nach antikem Vorbild als Senat bezeichnenden Leitungsgremiums 1143/1144 97 stellte die bisher unbestrittene Po‐ sition des Papstes als Stadtherr in Frage. Die kommunale Opposition gegen den 93 Gregorovius 4, 8, S. 560. In der 2. Auflage wird der Kampf des Lombardenbundes gegen Barbarossa auch noch als „eine der herrlichsten Erscheinungen der Geschichte“ gefeiert (Gregorovius 4, 8, 2. Aufl., Stuttgart 1870, S. 559). 94 Gregorovius 4, 8, S. 559 f. 95 Ebd., S. 560. 96 Siehe dazu Johannes Laudage, Alexander III. und Friedrich Barbarossa (= Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Impe‐ rii, Bd. 16), Köln [u. a.] 1997, S. 103–221; Görich, Friedrich Barbarossa (wie Anm. 90), S. 389–461. 97 Zur Herausbildung und frühen Geschichte der römischen Kommune siehe Ingrid Baum‐ gärtner, Rombeherrschung und Romerneuerung. Die römische Kommune im 12. Jahr‐ hundert, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken, Bd. 69 (1989), S. 27–79; Schulz, „Denn sie lieben die Freiheit so sehr . . . “ (wie Anm. 10), S. 133– 161; Romedio Schmitz-Esser, In Urbe, quae caput mundi est. Die Entstehung der rö‐ mischen Kommune (1143–1155). Über den Einfluss Arnolds von Brescia auf die Politik des römischen Senats, in: Innsbrucker Historische Studien 23/24 (2004), S. 1–42; Ders., Erneuerung aus eigener Kraft? Die Entstehung der Römischen Kommune im 12. Jahrhun‐ dert, in: Rom – Nabel der Welt. Macht, Glaube, Kultur von der Antike bis heute, hg. von Jochen Johrendt und Romedio Schmitz-Esser, Darmstadt 2010, S. 67–85; Jürgen Peter‐ sohn, Kaisertum und Rom in spätsalischer und staufischer Zeit. Romidee und Rompolitik

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Papst nahm an Radikalität zu, als der Prediger Arnold von Brescia, der sich für die strikte Besitzlosigkeit der Kirche und für den Verzicht des Papstes auf alle weltli‐ chen Herrschaftsansprüche aussprach, in Rom zunehmend an Einfluss gewann. 98 Mehrfach musste der Papst in diesen Auseinandersetzungen aus der Stadt weichen und im Umland Zuflucht suchen, ehe ihm die Aushandlung eines Kompromisses mit der Stadtgemeinde vorübergehend die Rückkehr an seinen Sitz ermöglichte. Diese Entwicklungen werden von Gregorovius auf der Basis der Quellen sehr de‐ tailliert nachgezeichnet, 99 wobei er in der für ihn typischen Manier immer wie‐ der direkte Verbindungslinien von dem Geschehen der Mitte des 12. Jahrhunderts zu seiner eigenen Gegenwart zieht, um aufzuzeigen, dass sich die Probleme mit der Herrschaft des Papstes im Kern nicht verändert hätten: „[. . . ] die Römer“, so schreibt er, „welche im 12. Jahrhundert das Dominium Temporale des Papsts be‐ kämpften, sprachen sich darüber so klar und entschieden aus, wie ihre Enkel am heutigen Tag.“ 100 Und an anderer Stelle stellt er fest, daß die Kluft, welche die Römer des 12. Jahrhunderts von dem weltlichen Papsttum trennte, gerade so tief war, gerade mit so klarem Bewußtsein ausgesprochen wurde, wie am heutigen Tage, wo die späten, waffenlosen Enkel unter denselben altersgrauen Trümmern des Forum und Capitols sich noch immer versammeln, noch immer gegen die Civilgewalt des Papsts protestiren und Nachts Placate an die Straßenecken heften, welche mit dem Rufe schließen: ‚Es lebe der Papst – Nicht-König!‘ 101

In den Bemühungen der Kommune, den Papst zu entmachten, erkennt Gregorovius Parallelen zu ähnlichen Vorkommnissen unter der Herrschaft Alberichs im zehnten

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von Heinrich V. bis Friedrich II. (= Monumenta Germaniae Historica. Schriften, Bd. 62), Hannover 2010, S. 82–94. Zu Arnold von Brescia und seiner Rolle bei der Formierung der frühen römischen Kom‐ mune siehe Arsenio Frugoni, Arnaldo da Brescia, in: Dizionario Biografico degli Italiani, Bd. 4, Rom 1962, S. 247–250; Jürgen Strothmann, Arnold von Brescia. Christentum als soziale Religion, in: Theologie und Glaube, 87 (1997), S. 55–80; Romedio SchmitzEsser, Arnold von Brescia im Spiegel von acht Jahrhunderten Rezeption. Ein Beispiel für Europas Umgang mit der mittelalterlichen Geschichte vom Humanismus bis heute, Wien, Berlin 2007, S. 35–49; Ders., In Urbe, quae caput mundi est (wie Anm. 97); Ders., Er‐ neuerung aus eigener Kraft? (wie Anm. 97), S. 73–76. Gregorovius 4, 8, S. 428–494. Ebd., S. 455. Ebd., S. 481. In der Anmerkung gibt Gregorovius die folgende Erläuterung: „Proclamation zum Carneval 1862: Römer! Wer seine Würde liebt, wer die erhabene Geschichte fühlt, welche die Vorsehung Italien und seiner Hauptstadt vorbehalten hat, dem bieten das alte Forum Rom’s und alle andern Orte, die an die alte Größe erinnern, Vergnügen genug. Da erblickt der wahre Bürger Rom’s, in der Erinnerung an die Größe der Ahnen, den Grund unserer baldigen Wiedergeburt nach so vielen Jahrhunderten der Schmach. Viva il Pontefice non Re! Roma, 20. Febr. 1862“ (ebd., S. 481 f.).

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Jahrhundert und schließt daran – offenbar mit Blick auf seine eigene Zeit – die rhetorische Frage an: „Darf man nicht Rom die ewige Stadt nennen, da ihre Schick‐ sale sich so ganz gleich geblieben sind?“ 102 Wenn Gregorovius darauf zu sprechen kommt, dass Papst Hadrian IV. in seinem Aktionsradius zu Beginn des Jahres 1155 von der Kommune auf die jenseits des Tiber gelegene Leostadt beschränkt wurde, so kommentiert er das mit einem Hinweis auf die gerade aktuellen politischen Diskus‐ sionen: „Was Italien heute dem Papst vorschlägt, sich mit der Leonina zu begnügen, wo er gleichsam wie ein großer Abt in einer Klosterfreiheit wohnen dürfe, hatten die Römer damals ausgeführt“. 103 Gregorovius sieht in Arnold von Brescia nicht allein den Repräsentanten des „bürgerlichen Freiheitsstrebens“ der römischen Kommune und den Widerpart von Papst und deutschem König. Arnolds Ziele seien viel umfassender gewesen: Er sei mit der Absicht nach Rom gekommen, die verfassungsrechtliche Umwälzung dazu zu nutzen, „sein kirchlich-sociales Ideal durch den Sturz des Dominium Temporale“ zu verwirklichen, also ein Programm auszuführen, dass noch weit über Rom hinaus‐ wies: Nichts konnte ihm erfreulicher sein, als die Gründung der römischen Gemeinde; wenn es hier gelang, dem Papst die Civilgewalt zu entreißen, so fielen dadurch alle üb‐ rigen Kirchenstaaten, und die christliche Gesellschaft näherte sich wieder dem demo‐ kratischen Zustande der ersten unpolitischen Kirche. Es mußte demnach die Haupt‐ aufgabe Arnolds sein, eine Republik in Rom aufrichten zu helfen, auf den Grundlagen der bürgerlichen Freiheit. 104

Die Vertreter der römischen Kommune reklamierten in ihrer gegen den weltlichen Herrschaftsanspruch des Papstes gerichteten Politik unter Berufung auf antike Überlieferungen, wohl auf die sogenannte „Lex Regia“, auch das Recht, über die Kaiserkrone zu verfügen. Sowohl Konrad III. als auch Friedrich Barbarossa sahen sich mit dem Angebot konfrontiert, die Kaiserwürde aus den Händen des römi‐ schen Volkes entgegenzunehmen – und beide lehnten es als unvereinbar mit der fest verwurzelten Tradition der päpstlichen Krönung ab. 105 Gregorovius widmet sich eingehend dem berühmten Schreiben Wezels an Friedrich aus dem Jahre 1152, 106 in dem der neu gewählte König in äußerst schroffem Ton gerügt wird, weil er es, unter dem Einfluss von Mönchen und Klerikern stehend, durch deren Lehre Gött‐ liches und Menschliches verwirrt werde, versäumt habe, sich an die Repräsentanten 102 103 104 105

Ebd., S. 462. Ebd., S. 497. Ebd., S. 474 f. Matthias Thumser, Die frühe römische Kommune und die staufischen Herrscher in der Briefsammlung Wibalds von Stablo, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters, 57 (2001), S. 111–147; Petersohn, Kaisertum und Rom (wie Anm. 97), S. 96–108. 106 Gregorovius 4, 8, S. 489.

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der Stadt Rom, der Herrin der Welt und Schöpferin aller Kaiser, zu wenden. Die Konstantinische Schenkung verhöhnt Wezel als Fabel, über die selbst alte Weiber lachen würden. Da sich das Kaisertum von der Majestät des römischen Volkes her‐ leite, stehe ihm allein das Recht zu, Kaiser ‚zu machen‘. Friedrich wird aufgefordert, umgehend Gesandte nach Rom zu schicken, um das Kaisertum auf eine rechtlich sichere Grundlage zu stellen und eine gegen ihn gerichtete Erhebung zu vermei‐ den. 107 Diesen in einer recht undiplomatischen Tonlage verfassten und mit einer un‐ verhohlenen Drohung endenden Brief, den Barbarossa als äußerst ehrverletzend empfunden haben dürfte, 108 kommentiert Gregorovius mit der lakonischen Be‐ merkung: „Große Fortschritte hatte der menschliche Verstand glücklich zurückge‐ legt!“ 109 Was er damit meint, wird anschließend in einem exkursartigen Einschub erläutert, der einmal mehr seine politischen Grundanschauungen widerspiegelt, wenn er von der in seiner Zeit maßgeblichen Idee des Nationalstaats und von dem Prinzip der demokratischen und säkularen Begründung staatlicher Gewalt ausgeht: „Die heutigen Römer,“ so sagt er, „welche die weltliche Gewalt des Papstes be‐ kämpfen, leiten ihre Gründe aus der Majestät der italienischen Nation her, deren Hauptstadt Rom sei und deren natürlichem Recht das blos historische der Päpste weichen müsse.“ 110 Da der römischen Kommune der Mitte des 12. Jahrhunderts „das Princip der unteilbaren Nation unbekannt“ gewesen sei, habe man sich auf „die Majestät des römischen Volks“ als „Quelle aller Macht“ berufen, wonach „der Kaiser die durch das Volk erwählte und eingesetzte Obrigkeit der Republik“ sei. 111 Besonders wichtig ist Gregorovius der Umstand, dass die Konstantinische Schen‐ kung als Fälschung entlarvt worden war und damit alle daraus hergeleiteten An‐ sprüche des Papstes auf die Ausübung weltlicher Herrschaft und die Einsetzung weltlicher Obrigkeiten hinfällig waren. 112 Daraus leitet er die Schlussfolgerung ab: Die Stadtrömer „sprachen [. . . ] den vernünftigen Grundsatz aus, daß es kein Kö‐ nigtum von Gottesgnaden gebe, sondern daß die Gewalt der Krone nur ein dem Volk entflossenes Amt sei.“ 113 Mit Bedauern stellt Gregorovius fest, dass Barba‐ rossa – vor die Wahl gestellt, die Kaiserkrone vom Papst oder von der Kommune zu empfangen – „vorsichtig und conservativ“, wie er zu Beginn seiner Herrschaft war, auf eine „demokratische“ Legitimation seiner Kaiserwürde verzichtete und sich in 107 Zu diesem Brief und seinen ideologischen und politischen Hintergründen siehe Thumser, Die frühe römische Kommune (wie Anm. 105), S. 135–147; Petersohn, Kaisertum und Rom (wie Anm. 97), S. 135–137. 108 Görich, Friedrich Barbarossa (wie Anm. 90), S. 224. 109 Gregorovius 4, 8, S. 489 f. 110 Ebd., S. 490. 111 Ebd. 112 Ebd. 113 Ebd.

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althergebrachter Weise vom römischen Kirchenoberhaupt durch „Gottes Gnade“ krönen ließ. 114 Auf dem Romzug traf Barbarossa im Frühjahr 1155, kurz vor seiner Ankunft in der Ewigen Stadt, mit einer Delegation des römischen Senats zusammen, die das Angebot erneuerte, ihm im Namen des römischen Volkes die Kaiserwürde zu über‐ tragen – gegen die Zahlung von 5.000 Mark Silber und die eidliche Verpflichtung, Gesetze und Gewohnheiten der Stadt zu achten. Barbarossa wies den Vorschlag als anmaßend zurück und betonte, dass seine Vorfahren, Karl der Große und Otto der Große, die Herrschaft über Rom und Italien nicht jemandes Gnade verdankten, sondern sie mit dem Schwert erworben hätten. Gregorovius gibt den von Otto von Freising in den „Gesta Friderici“ stilisierten Dialog zwischen dem König und den Boten der Kommune 115 im Wortlaut wieder, 116 kann sich aber nicht enthalten, die Römer ob ihres „Unverstand[es]“ zu geißeln, den mächtigen Herrscher mit ihrer Prahlerei provoziert zu haben, auch wenn er dies mit „ihren hohen Ideen von der Majestät der ewigen Stadt“ erklärt. 117 Nicht als Historiker, sondern als über den Dingen stehender Beobachter, im Gewande eines „über den Gedankenkreis seiner Zeit erhabenen Mann[es]“, der über diesen Disput – gewissermaßen von einem realpolitischen Standpunkt aus – gelächelt hätte, rechtfertigt er die Position der Stadtrömer damit, „daß Friedrich selbst die phantastischen Vorstellungen von der

114 Ebd., S. 491. – Erwartungsgemäß höchstes Lob zollt Gregorovius 4, 11, S. 142 f., da‐ gegen Ludwig dem Bayern, der „sich ohne Bedenken [entschloß], dem Papst zum Trotz, dieses Volk als die Quelle des Imperium anzuerkennen“. Um die Ansprüche des Papsttums zurückzuweisen, überließ „Ludwig mit kühnem Entschluß den Römern die Entscheidung über das Kaisertum. Seine demokratische Entscheidung war ein prächtiges, in Rom uner‐ hörtes Schauspiel“. Mit der Deutung der 1328 vollzogenen Kaiserkrönung Ludwigs des Bayern als vom römischen Volk legitimiert vertritt Gregorovius jene Position, welche die Forschung in dieser Frage bis in die jüngste Vergangenheit fast einhellig eingenommen hat. Siehe dazu jetzt aber die neueren Untersuchungsergebnisse von Frank Godthardt, Mar‐ silius von Padua und der Romzug Ludwigs des Bayern. Politische Theorie und politisches Handeln (= Nova Mediaevalia. Quellen und Studien zum europäischen Mittelalter, Bd. 6), Göttingen 2011, S. 221–311, welche der traditionellen Vorstellung von einer „stadtrömi‐ schen Kaiserkrönung“ den Boden entziehen. Vgl. auch Michael Menzel, Die Zeit der Ent‐ würfe 1273–1347 (= Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte, 10. Aufl., Bd. 7a), Stuttgart 2012, S. 172 f. 115 Otto von Freising und Rahewin, Die Taten Friedrichs oder richtiger Cronica, über‐ setzt von Adolf Schmidt, hg. von Franz-Josef Schmale. Mit einem Nachtrag von Fabian Schwarzbauer (= Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe, Bd. 17), 4. Aufl., Darmstadt 2000, II, 31–32, S. 342–352. 116 Gregorovius 4, 8, S. 502–508. 117 Ebd., S. 508. In der 2. Auflage spricht Gregorovius noch etwas weniger zurückhaltend von den „schwärmerischen Begriffen von Rom“, welche das Handeln der Römer bestimmt hät‐ ten: Gregorovius 4, 8, 2. Aufl., Stuttgart 1870, S. 507.

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legitimen Gewalt des römischen Kaisers über die Welt mit den Senatoren in gleicher Überspannung teilte.“ 118 Gregorovius begleitet den Aufstand der Römer, der kurz nach der Krönung Friedrichs I. in St. Peter ausbrach und in einem blutigen Gemetzel endete, mit ei‐ nem gewissen Verständnis. Die Tatsache, dass die Krönungszeremonie unter den Bedingungen des Belagerungszustandes „in der päpstlichen Vorstadt vollzogen“ wurde, in der beständigen Furcht, „die Römer, von denen die Kaiser ihren Ti‐ tel trugen“, könnten über den Tiber hinweg einen Angriff wagen, macht seiner Ansicht nach deutlich, „wie schattenhaft das mittelalterliche Kaisertum in Rom selber war“. 119 Den Konflikt zwischen Barbarossa und der römischen Kommune führt er einerseits auf „die unausfüllbare Kluft der Bildung, der Bedürfnisse, der Abstammung“ zurück, welche „die Kaiser germanischer Nation von den Römern“ trennte. 120 Andererseits sind es aus seiner Sicht auch ganz persönliche politische Fehler Friedrichs, welche die Gegensätze unnötig verschärft haben. Man wird es Gregorovius nicht anlasten, dass er die erst von der neueren Forschung deutlich herausgearbeiteten Leitvorstellungen Barbarossas und seiner Umgebung, die auf die Anerkennung und Wahrung des honor imperii, der Ehre, des Ranges und der Würde des Reiches und des Kaisers abzielten und den Handlungsspielraum des Herrschers gegenüber den auf ihre Selbständigkeit pochenden Kommunen von vornherein erheblich einengten, 121 nicht angemessen berücksichtigt hat 122. Gregorovius hält Barbarossa vor, nicht kompromissbereit gewesen zu sein, unterstellt dabei aber still‐ 118 119 120 121

Gregorovius 4, 8, S. 508 f. Ebd., S. 510. Ebd. Siehe dazu die grundlegende Untersuchung von Görich, Die Ehre Friedrich Barbarossas (wie Anm. 90), S. 182–302 und die grundsätzlichen Überlegungen, S. 1–16. 122 Bezeichnend ist in dem Zusammenhang, dass Gregorovius 4, 8, S. 502 f., dem Vorfall von Sutri, bei dem es im Juni 1155 wenige Tage vor der geplanten Kaiserkrönung zwischen dem König und dem Papst über das als Ehrerweisung zu verstehende Ritual des Marschallund Stratordienstes zu einem heftigen Disput kam, ohne jedes Verständnis gegenübersteht. Er kann sich nur darüber wundern, dass ein „Steigbügel [. . . ] zum Gegenstande langer und ernster Verhandlung zwischen den höchsten Würdenträgern der Christenheit“ wurde. Zwar nannten sich die Päpste „in Erinnerung an die Demut Christi Knechte der Knechte Gottes, aber sie forderten zugleich, daß die Kaiser ihnen als Stallknechte dienten. Es ist komisch zu sehn, welchen panischen Schreck die bloße Nichtachtung dieses Hofdienstes unter den Kardinälen verbreitete“. Schließlich bewogen die Fürsten den Herrscher, „in dieser kindischen Angelegenheit nachzugeben. Der machtvollste Kaiser verwandelte sich folgenden Tags in den Stallknecht des Vicars Christi“. Zu dem Eklat von Sutri und sei‐ nen Hintergründen siehe Görich, Die Ehre Friedrich Barbarossas (wie Anm. 90), S. 94– 106; Achim Thomas Hack, Das Empfangszeremoniell bei mittelalterlichen Papst-KaiserTreffen (= Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters, Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii, Bd. 18), Köln [u. a.] 1999, S. 516–527.

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schweigend, dass der Staufer in seiner Politik weniger von Ehr- und Rangbegrif‐ fen bestimmt wurde, sondern konsequent einem zweckrational begründeten Ziel folgte, also in gewissem Sinne als ‚Realpolitiker‘ agierte. In Rom habe Friedrich „wenig Voraussicht“ bewiesen: [. . . ] statt die römische Demokratie mit ernstem Wolwollen auf ein ihm bequemes Maß zu beschränken (was ihm leicht geworden wäre), sie aber dann dem Einfluß des Papstes zu entziehen und unter Reichsautorität zu stellen, stieß er sie voll blinder Ver‐ achtung von sich, verfeindete sich mit vielen anderen Städten, und sah endlich doch alle seine übertriebenen Pläne zu Grunde gehn. 123

Entschieden verurteilt Gregorovius die von Barbarossa angeordnete Auslieferung Arnolds von Brescia an den Papst. Barbarossa habe dadurch nicht nur schwere Schuld auf sich geladen, sondern auch „eine glänzende Kraft“ zerstört, welche ihm später noch hätte nützlich werden können. 124 Gregorovius schreibt: Der Rauch vom Scheiterhaufen Arnold’s verfinsterte die junge, schon blutige Majestät des Kaisers, dessen augenblicklichen Bedürfnissen 125 er zum Opfer fiel; aber schon lebten seine Rächer, die Bürger der lombardischen Städte, die einst Friedrich zwingen sollten, das ruhmvolle Werk der Freiheit anzuerkennen, wozu der Geist Arnold’s so mächtig mitgewirkt hatte. 126

Arnold wird von Gregorovius nicht nur als Vorkämpfer der bürgerlichen Freiheit, sondern auch als Prophet der nationalen Einigung Italiens im Zeichen dieser Frei‐ heit gefeiert: Arnold von Brescia eröffnet die Reihe der berühmten Martirer der Freiheit, welche auf dem Scheiterhaufen starben, deren kühner Geist jedoch wie ein Phönix den Flammen entstieg, um durch die Jahrhunderte fortzudauern. Man könnte ihn einen Propheten nennen, so klar blickte er in das Wesen seiner Zeit, so weit eilte er ihr voraus einem Ziele zu, welches Rom und Italien erst 700 Jahre nach ihm zu erreichen hoffen. 127

Und er fügt mit direktem Bezug auf den Zeitpunkt der Niederschrift dieser Zeilen hinzu: „Seine Lehre war von solcher Lebensfähigkeit, daß sie noch im Jahre 1862 123 Gregorovius 4, 8, S. 516 f. 124 Ebd., S. 516. 125 In der 2. Auflage folgt an dieser Stelle im Text der Passus „und falscher Politik“: Grego‐ rovius 4, 8, 2. Aufl., Stuttgart 1870, S. 514. Damit wird das Vorgehen Barbarossas noch negativer beurteilt, denn es ergibt sich nicht nur aus den Notwendigkeiten der aktuellen Situation, sondern ist den politischen Prinzipien des Herrschers geschuldet. 126 Gregorovius 4, 8, S. 516. 127 Gregorovius 4, 8, S. 517. – Dieser Aspekt („Arnold als Präfiguration des geeinten Ita‐ lien bei Ferdinand Gregorovius“) wird m. E. bei Schmitz-Esser, Arnold von Brescia (wie Anm. 98), S. 505–509, etwas zu einseitig betont.

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zeitgemäß ist, und Arnold von Brescia wäre noch heute der volkstümlichste Mann Italien’s.“ 128 Die Ausführungen zu Arnold von Brescia und zu den höchst wechselvollen Kämpfen der römischen Kommune um Autonomie und Freiheit geben Gregoro‐ vius ein weiteres Mal Gelegenheit, grundlegende Reflexionen zu den Wesenszügen der Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter anzustellen und dabei einen Wider‐ spruch zu berühren, den er selbst nicht auflösen kann: Einerseits ist die Größe und Bedeutung der Stadt im Mittelalter nicht durch Bevölkerungszahl, politisches Ge‐ wicht oder wirtschaftliche Stärke bestimmt, sondern durch ihr geistiges und ma‐ terielles Erbe aus der Antike, das sie zum Bezugspunkt einer weit ausstrahlenden vielgestaltigen Romidee macht, 129 sowie durch ihre enge, oft als Last empfundene Verbindung mit den beiden höchsten Gewalten der Christenheit, dem Papsttum und dem Kaisertum. 130 Andererseits stellen gerade diese Kräfte, die das Interesse des Geschichtsschreibers Gregorovius auf Rom lenken, jene Faktoren dar, welche die ihm so kostbare ‚bürgerliche Freiheit‘ in der Ewigen Stadt nicht zur Entwicklung kommen lassen und immer wieder einschränken und unterdrücken. Das ‚tragische Schicksal‘ der Stadt, von dem Gregorovius spricht, ist eben gerade das ‚Mittelal‐ terliche‘ an ihr, und davon kann es nur ‚Erlösung‘ geben durch das Aufgehen in einem größeren italienischen Vaterland. Dem Eintreten dieses Ereignisses weiß sich Gregorovius ganz nahe, als er in dem der Kaiserkrönung Friedrich Barbarossas ge‐ widmeten Kapitel über die Römer Folgendes schreibt: Ihre ererbten Ansprüche und ihre Kämpfe gegen die Päpste, die den politischen Be‐ griff der Stadt auszulöschen strebten, haben ihrer Geschichte für Jahrhunderte einen tragischen Charakter aufgedrückt, welcher ohne Gleichen in der Menschheit ist. In diesem noch bis zum heutigen Tage, wo wir diese Geschichte der Stadt unter seinem Eindrucke schreiben, fortgesetzten Ringen mit einem und demselben Schicksal waren die alleinigen Bundesgenossen der Römer die aurelianischen Mauern, der Tiber, die Malaria und die Schatten wie die Monumente der großen Ahnen. Erst heute, wo die Stadt Rom nichts mehr begehrt, als zu dem gewöhnlichen Range der Hauptstadt ei‐ nes Landes herabzusteigen, hat sie an der italienischen Nation selbst ihren Helfer und Bundesgenossen gefunden. 131

128 Gregorovius 4, 8, S. 518. 129 Verwiesen sei hier – außer auf Petersohn, Kaisertum und Rom (wie Anm. 97) und die Beiträge in dem Band: Rom – Nabel der Welt (wie Anm. 97) – nur noch auf Michael Seidlmayer, Rom und Romgedanke im Mittelalter, in: Rom als Idee, hg. von Bernhard Kytzler (= Wege der Forschung, Bd. 656), Darmstadt 1993, S. 158–187. 130 Gregorovius 4, 8, S. 511: „Während andere Städte durch Reichtum und Macht glänzten, war der einzige Stolz dieser, Rom zu sein.“ 131 Ebd., S. 512.

„Die Epoche des Mittelalters ist abgelaufen; die neue Zeit schlägt Wurzel“ Ferdinand Gregorovius, der Katholizismus, das Papsttum und der römische „Weltknoten“ Martin Baumeister

Die Literatur zu Ferdinand Gregorovius hat sich bislang lediglich am Rande für sein Verhältnis zur Religion interessiert. Auch in der Historiographiegeschichte im Allgemeinen finden sich nur wenige grundsätzliche Untersuchungen zu konfessio‐ nellen, in erster Linie protestantischen Einflüssen und Dispositionen im deutschen Historismus 1 – ein Umstand, der im Fall des „Geschichtsschreibers der Stadt Rom“ besonders erstaunen mag, rührt diese Frage doch an den Kern seines Weltbildes und professionellen Selbstverständnisses und lässt sich, entgegen vielleicht naheliegen‐ den Erwartungen, keineswegs mit voreiligen einlinigen Antworten lösen. Solche Antworten lassen sich in den von ihm hinterlassenen Texten auf verschie‐ denen Ebenen suchen: in seinen mit Blick auf die Nachwelt redigierten Tagebü‐ chern, in seiner der Öffentlichkeit zunächst entzogenen weitgespannten brieflichen Kommunikation, die sich durch die Online-Edition nunmehr zu substanziellen Teilen in neuer Weise erschließen lässt, in seinen weitgestreuten journalistischen Arbeiten, von Reisebeschreibungen bis zum politischen Kommentar, und natürlich in seinem historiographischen Werk. Daraus ergibt sich ein vielstimmiges, in Teilen durchaus mehrdeutiges Bild, das sich nicht nur mit Blick auf die von Gregorovius bedienten unterschiedlichen Genres, rhetorischen Register und diversen Adressa‐ ten, sondern auch aus den inneren Spannungen und Widersprüchen seiner Posi‐ tionierung zum Christentum, seinen religiösen Einstellungen und Impulsen heraus erklären lässt. Diese Probleme sollen hier hinsichtlich der Auseinandersetzung von Gregorovius mit Katholizismus, katholischer Kirche und Papsttum nachgezeichnet werden. Dazu wird seine Prägung durch den Protestantismus und sein Verhältnis zur christlichen Religion im Allgemeinen kurz erläutert. In einem weiteren Schritt werden seine Ansichten, Darstellungen und Interpretationen des Katholischen als wesentliche Elemente seiner Erfahrungen des Fremden und zentrales Thema sei‐ 1 So Dominik Fugger, Erlösung durch Arbeit. Ferdinand Gregorovius und die Geschichte als existentielle Erfahrung, in: Transformationen des Historischen. Geschichtserfahrung und Geschichtsschreibung bei Ferdinand Gregorovius, hg. von Dems., Tübingen 2015, S. 1–23, hier S. 1 – dieser Aufsatz bietet die bislang einzige Auseinandersetzung mit Grego‐ rovius’ Verhältnis zum Protestantismus.

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nes Lebensprojekts als Historiker, der lange Jahre in Italien lebte und sich wie nur wenige seiner gebildeten Zeitgenossen zwischen Deutschland und Italien bewegte, an ausgewählten Beispielen behandelt. Abschließend geht es um die Bedeutung sei‐ ner Bewertung von Papsttum und Katholizismus für sein historiographisches Werk. Präsentiert werden Materialien und Thesen für eine vertiefte, weiterführende Be‐ trachtung, die Gregorovius nicht als Außenseiter und singuläre Größe, sondern viel‐ mehr als Repräsentanten von Geschichtswissenschaft und Geschichtsbildern seiner Zeit kontextualisiert. Gregorovius stammt aus einer ostpreußischen, quasi idealtypischen protestanti‐ schen bürgerlichen Familie, in der Juristen im Staatsdienst wie sein Vater, Pastoren wie sein Großvater väterlicherseits und sein ältester Bruder Rudolf und Pastoren‐ töchter wie seine Großmutter väterlicherseits prägend waren. 2 Gregorovius selbst schloss 1841 im Alter von 20 Jahren in Königsberg das erste theologische Examen ab, um dann zur Philosophie zu wechseln. In einem an seinen Pastorenbruder Ru‐ dolf gerichteten Brief bekräftigte Gregorovius kurz nach Abschluss seiner philoso‐ phischen Dissertation Anfang 1844 seinen festen Entschluss, auf keinen Fall eine Pfarrstelle anzustreben, wies zugleich jedoch mit Nachdruck den Vorwurf der Irre‐ ligiosität zurück: Ich habe einen Gott und keine Götter neben ihm, ich habe einen Christus ἄθεος und ἀνοµούσιος, so wie wir alle ἄθεοι sind, ohne gottlos zu sein, ich habe kein Wissen und keinen Glauben als an den heiligen Geist, der wir alle sind, und dann habe ich noch ein Herz, wo Frühling und Winter beisammen liegt, wo die Sphinx unter Blumen liegt und mir viel Räthsel aufgibt, die ich nicht zerhauen kann. 3

Die Abwendung vom Kirchenglauben und der Bruch mit dem christlichen Dogma, wie es u. a. im nicäanischen Glaubensbekenntnis formuliert ist, auf das Gregorovius mit seinem Begriff des ἀνοµούσιος anspielte, erfolgten unter dem durch seinen aka‐ demischen Lehrer Karl Rosenkranz vermittelten Einfluss Hegels und der Theologie von David Friedrich Strauß – eine Entwicklung, die ihm, wie er es ein Vierteljahr‐ hundert später in seinem Tagebuch notierte, die Rückkehr zum „positiven Chris‐ tusglauben“ unmöglich machte. 4 In seiner Zurückweisung der von der Romantik, 2 Siehe die Angaben zur protestantischen Prägung von Gregorovius ebd., S. 5–12 sowie Do‐ minik Fugger., Einführung. Ein Leben als Privatgelehrter, in: Ferdinand Gregorovius, Briefe nach Königsberg, hg. von Dominik Fugger, Nina Schlüter, München 2013, S. 7–27. 3 Ferdinand Gregorovius an Rudolf Gregorovius vom19. Januar 1844, in: Ferdinand Gre‐ gorovius, Wanderjahre in Italien. Auswahl in zwei Bänden, hg. von Heinrich Hubert Houben. Bd. 2, Leipzig 1912, Biographisches Nachwort, S. 238 f. Der erste Teil des Zitats (bis „[. . . ] der wir alle sind.“) auch bei Fugger, Einführung (wie Anm. 2), S. 11. 4 Ferdinand Gregorovius, Römische Tagebücher 1852–1889, hg. von Hanno-Walter Kruft und Markus Völkel, München 1991, Eintrag vom 11. April 1869, S. 257 – siehe auch Fugger, Einführung (wie Anm. 2), S. 11 f.

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namentlich von Eichendorff vorgetragenen Kritik am Protestantismus betonte der junge Gregorovius Anfang 1848 wiederum „das lebhafte Bedürfnis religiöser Le‐ bensdurchdringung, die auf anderem Wege werden muß, als dem des Sectenfanatis‐ mus, mag er rationalistisch oder orthodox sein“. 5 Man kann annehmen, dass dieses religiöse Bedürfnis jenseits eines persönlichen Christusglaubens, das er im Brief an den Bruder in das poetische Bild der in seinem Herzen unter Blumen verborgenen Sphinx fasste, eine Konstante auch in Gregorovius’ weiterem Leben darstellte. Gre‐ gorovius’ intellektueller Weg führte zur Geschichtsschreibung über die Theologie und die Philosophie. Theologie, Philosophie und Historiographie bilden in seinem Weltbild und Geschichtsverständnis ein unauflösliches Kontinuum. Aus den wenigen hier angefügten Zeugnissen geht deutlich hervor, dass das Ur‐ teil des mit dem Gelehrten persönlich bekannten liberalen Katholiken Franz Xaver Kraus, Gregorovius’ Verhältnis zum Christentum sei ein „rein negatives“ gewesen, 6 nicht den Punkt trifft. Man kann Gregorovius als keineswegs untypischen Vertre‐ ter des kulturprotestantischen Bürgertums beschreiben, nicht im Sinne der Zuord‐ nung zu einer bestimmten theologischen Richtung, sondern aufgrund gewisser Dis‐ positionen und Verhaltensmuster, zu der u. a. Weltfrömmigkeit, ein ausgeprägtes Arbeitsethos, eine Bildungsemphase bis hin zur Wissenschaftsgläubigkeit im Sinn einer säkularen Religion und eine Affinität zum politischen Liberalismus zählen. 7 Die Emanzipation von der kirchlich gebundenen Religion schwächte – wie Stefan Rebenich für den „intransigenten Apostaten“, den fünf Jahre vor Gregorovius ge‐ borenen Pastorensohn Theodor Mommsen konstatiert hat – keineswegs das Kon‐ fessionsbewusstsein. 8 Gregorovius’ politischer Liberalismus wie seine Geschichts‐ 5 Ferdinand Gregorovius, Die Romantik und Eichendorf ’s jüngstes Buch (Schluß), in: Baltische Blätter für Literatur, Kunst und Theater, Jg. 1, Nr. 6, 10. Januar 1848, S. 43 f., hier S. 44; zit. auch bei Fugger, Erlösung (wie Anm. 1), S. 8. 6 Franz Xaver Kraus, Ferdinand Gregorovius, in: Deutsche Rundschau 24, Bd. 93 (1897), S. 145–149, hier S. 148; siehe auch Jens Petersen, Das Bild des zeitgenössischen Italien in den Wanderjahren von Ferdinand Gregorovius, in: Ferdinand Gregorovius und Italien. Eine kritische Würdigung, hg. von Arnold Esch und Jens Petersen (= Bibliothek des Deut‐ schen Historischen Instituts in Rom, Bd. 78), Tübingen 1993, S. 73–97, hier S. 90. 7 Gangolf Hübinger, Drei Generationen deutscher Kulturprotestanten, in: Protestanti‐ sche Mentalitäten, hg. von Johannes Dantine, Wien 1999, S. 181–193, hier S. 181; siehe auch ders., Kulturprotestantismus und Politik. Zum Verhältnis von Liberalismus und Pro‐ testantismus im wilhelminischen Deutschland, Tübingen 1994. 8 Stefan Rebenich, Theodor Mommsen. Eine Biographie, München 2002, S. 14; die For‐ mulierung vom „intransigenten Apostaten“ in: Ders., Die Deutschen und ihre Antike. Eine wechselvolle Beziehung, Stuttgart 2021, S. 106; dort S. 98–116 zu Theodor Momm‐ sen, Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff und Adolf von Harnack als drei durchaus unter‐ schiedlichen kulturprotestantisch geprägten Repräsentanten der Altertumswissenschaften, u. a. auch zur Relevanz ihrer konfessionellen Prägung für ihre wissenschaftliche Arbeit und ihre politischen Einstellungen.

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auffassung – auch hier gibt es Gemeinsamkeiten mit Mommsen – wurzelten tief im Protestantismus und verbanden sich mit einer national-romantischen Verklärung Luthers und einem ausgeprägten konfessionellen Superioritätsbewusstsein, wie im Folgenden zu zeigen sein wird. Es ist bekannt, dass der Wechsel des studierten protestantischen Theologen, He‐ gelianers, Leitartiklers der demokratischen „Neuen Königsberger Zeitung“, des er‐ folglosen Dichters und gescheiterten Aspiranten auf eine Hochschullaufbahn vom baltischen Norden in den mediterranen Süden für Gregorovius keineswegs vorge‐ zeichnet war. 9 Eine umständehalber angetretene Reise des Dreißigjährigen zu ei‐ nem Freund in Italien, beflügelt von einer vagen Sehnsucht nach dem Süden, stellte die Weichen für sein ganzes weiteres Leben. Diese Reise hatte auch zur Folge, dass er vier seiner sieben Lebensjahrzehnte in einem katholischen bzw. katholisch ge‐ prägten Umfeld verbrachte, davon mehr als 20 Jahre im Herzen der katholischen Christenheit. Es mag wie eine Ironie des Schicksals erscheinen, dass ein vom Ideal der deutschen Republik begeisterter junger protestantischer Intellektueller auf der Flucht vor politischer Repression und geistiger Enge sich ausgerechnet die Haupt‐ stadt des Kirchenstaats nur wenige Jahre nach der Niederschlagung der römischen Republik und der von französischen Schutztruppen garantierten Restauration der absolutistischen Papstherrschaft zum Lebensmittelpunkt wählte. Und damit nicht genug: Als Lebensaufgabe nahm er dort die Erstellung einer „Chronik“ der Stadt der Päpste im Mittelalter, wie er sein Projekt zunächst nannte, in Angriff, 10 machte sich aber zunächst mit zahlreichen historischen Reiseschilderungen, die der Brock‐ haus-Verlag seit 1856 in den später so benannten fünf Bänden der „Wanderjahre in Italien“ in zahlreichen Auflagen publizierte, einen Namen beim deutschen bil‐ dungsbürgerlichen Publikum. Gregorovius lange „Wanderjahre“ als Reiseschriftsteller und Historiker brachten ihn, gewissermaßen zwangsläufig, in direkte Berührung mit dem Katholizismus und der katholischen Kirche. Seine katholische Umwelt und die Papstkirche wurden zu einem wichtigen Thema seiner Texte; zugespitzt gesagt, verlief diese Begegnung und Auseinandersetzung in zwei höchst unterschiedlichen, sich jedoch einander ergän‐ zenden und verstärkenden Modi von Faszination und ablehnender Kritik. Beide waren mit starken Gefühlen, aber durchaus konträren Urteilen verbunden. Faszination gegenüber der fremden Welt lässt sich immer wieder aus den Reise‐ schilderungen herauslesen, in denen Gregorovius einen quasi ethnografischen Blick 9 Z. B. Golo Maurer, Italien als Erlebnis und Vorstellung. Landschaftswahrnehmung deut‐ scher Künstler und Reisender 1760–1870, Regensburg 2015, S. 323. 10 Gregorovius an Heinrich Brockhaus, 11. Dezember 1855, in: Ferdinand Gregorovius, Poesie und Wissenschaft. Gesammelte deutsche und italienische Briefe (digitale Edition), hg. von Angela Steinsiek, Deutsches Historisches Institut in Rom 2017–2023, URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000056/nm2k_m1p_qlb.

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und empfindsame Landschaftsschilderungen mit historischen Ausführungen ver‐ band. Faszination ist gerade auch dort im Spiel, wo es um den Katholizismus geht, zumal wenn sich der deutsche bürgerliche Protestant dem „einfachen Volk“, sei es in Rom oder auf dem Land, anzunähern versucht. Dabei arrangierte er Beschreibun‐ gen katholischer Volksfrömmigkeit immer wieder als malerisch-sinnliches Schau‐ spiel, das den distanzierten und zugleich gebannten Zuschauer-Autor ergreifen und so auch die Leser und Leserinnen mit einbeziehen sollte: „Eine Wallfahrt wird selbst auf denjenigen, der sich nicht zu der Kirche bekennt mit welcher sie zusammen‐ hängt, einen Reiz ausüben“. 11 Ein Vergleich seiner Schilderung von Eindrücken aus Genazzano in der römischen Campagna mit der Darstellung von Frömmigkeits‐ praktiken in Rom kann dies illustrieren. Die Predigt eines Augustinermönchs bei einer nächtlichen Bittprozession auf dem Land, die angeführt wird von einer Statue des Heiligen Antonius von Padua, erscheint als eine sonderbare Scene: der gesticulierende Mönch, das Heiligenbild, die schwarzen Kreuze, die weißen Sottanen der Chorknaben, die roten Schleier der Weiber, grelle Streiflichter der Fackeln, dunkle Bäume, und die herrlichste Bläue über so mächtiger Landschaft; und all dies, um Regen vom Himmel herabzuziehn. 12

Die Wallfahrt zur Madonna del Buon Consiglio von Genazzano bietet sich Grego‐ rovius dar wie ein großer, schöner, doch ernster Maskenzug, was sich auf der herrlichsten Scene der Natur vorüberbewegt; immer verschiedene Costüme und Farbenzusammenstel‐ lungen, auch verschiedene Physiognomien. [. . . ] Seht die Schaar von Sora! oliven‐ dunkle Gesichter vom schönsten Oval! Die Frauen phantastisch aussehend, wie Wei‐ ber Arabiens; dicke Korallenschnüre oder goldene Ketten schlingen sich um den Hals, schwere goldene Ohrgehänge schmücken sie. [. . . ] Kurz ist das Kleid, die Farbe bren‐ nend rot oder blau, und der Saum ist gelb. Und diese großen und dunkeln Augen, unter schwarzen und kühngezognen Brauen! 13

In Rom erlebte Gregorovius einen weißgewandeten Prediger im Pantheon wäh‐ rend der „Todtenwoche“ um Allerseelen und Allerheiligen im Dämmerdunkel der Rotonda vor den knienden Gruppen der Gläubigen als „Todtenbeschwörer“; er warf einen „schaudernde[n] Blick in das merkwürdige Wesen des Christen‐ tums selbst“ angesichts der „erschrecklich“ und „grauenerregend“ anmutenden, mit menschlichen Knochen geformten „Arabesken“ der Unterkirche von Santa Ma‐ 11 Ferdinand Gregorovius, Aus der Campagna von Rom. 1856, in: Ders., Wanderjahre in Italien, Bd. 2: Lateinische Sommer, Leipzig 1864, S. 47–125, hier S. 87. 12 Ebd., S. 78. 13 Ebd., S. 89 f.

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ria dell’Orazione e della Morte 14 und studierte die katholische Frömmigkeit in der Darstellung von biblischen Szenen und Märtyrergeschichten mittels „mit viel malerischem Verstand“ drapierter Wachsfiguren oder beim Besuch von Kinderpre‐ digten in Santa Maria in Ara Coeli. Diese war ihm, zusammen mit den Marionet‐ tentheatern, die er mit dem Ernst des deutschen Gelehrten besuchte, ein Beweis da‐ für, dass „dies ernstmelancholische und düstere Rom in seiner Physiognomie auch einen kindlichen Zug zeigen kann“. 15 Seine Stadtbegehungen brachten ihn zu der Erkenntnis: „Der Cultus Roms, ja das ganze innere Leben der Stadt hat wesentlich den Charakter der Procession, denn Rom ist die Stadt der Processionen.“ Zugleich erschien ihm die katholische Religiosität in ihren vielfältigen Manifestationen als Teil des „Puppenspiel[s] des Lebens, als wesentliches Element der „wunderliche[n] Figurenwelt“, als welche er Rom vorstellt und begreift. 16 In dem von Gregorovius gezeichneten römischen ‚Welttheater‘ verfließen die Grenzen zwischen sakral und profan, zwischen belebter und unbelebter Welt, zwi‐ schen dem Reich der Toten und der Lebenden und damit zwischen den Zeiten und Epochen. Der Sinn für jederlei szenische Darstellung oder Gruppierung, den der Autor Römer und Römerinnen attestiert, findet seinen Ausdruck im Religiösen, ob in der figürlichen Darstellung biblischer Szenen, von Legenden, Weihnachtsund Passionsvorstellungen in Kirchen, in frommen Prozessionszügen im öffentli‐ chen Raum ebenso wie in der profanen Alltagswelt, im bühnenmäßig anmutenden kunstvollen Arrangement der Waren in den Verkaufsbuden oder in den Umzügen von Vereinen und Körperschaften. In einer romantisch gefärbten nächtlichen Vi‐ sion brachte Gregorovius seine Vorstellung von der ‚Weltbedeutung‘ Roms, das er als surreales Figurenspiel imaginiert, auf einen phantastischen Punkt: Die ganze Entwicklungsgeschichte der Erde ist hier in Figuren zu finden, von den Mu‐ seen des Vatikans und des Kapitols und den Kirchen herab bis auf die Springbrunnen des Bernini und die Marionettentheater. Wenn alle diese Figuren lebendig würden, so könnten sie das römische Volk austreiben, und es sollte eine lustige Gesellschaft sein, die dann Rom bewohnte. 17 14 Ferdinand Gregorovius, Römische Figuren, in: Ders., Wanderjahre in Italien, Bd. 1: Figuren. Geschichte, Leben und Scenerie aus Italien, 2., verm. Aufl., Leipzig 1864, S. 179– 256, hier S. 182, S. 185, S. 184. 15 Ebd., S. 191, S. 209. 16 Ebd., S. 233 f., S. 232, S. 194. 17 Ebd., S. 194; eine Zusammenstellung von Wortbildungen Gregorovius’, die – wie „Welt‐ bezug“, „Weltwesen“, „Weltknoten“ oder „Welthauch“ – die welthistorische Relevanz der ‚ewigen Stadt‘ hervorheben, findet sich bei Arnold Esch, der dem Königsberger Historiker emphatisch zustimmt: „Die Geschichte dieser Stadt ist Stadtgeschichte als Weltgeschichte.“ Siehe Arnold Esch, Gregorovius als Geschichtsschreiber der Stadt Rom. das Spätmittelal‐ ter. Eine Würdigung, in: Ferdinand Gregorovius und Italien (wie Anm. 6), S. 117–184, hier S. 133 inkl. Anm. 8.

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Kern dieser Imagination war die in seinen Ausführungen zur Religion immer wie‐ der ins Spiel gebrachte Vorstellung von der Auflösung der Ordnung der Zeiten, vom ‚Kollabieren‘, vom Ineinandergreifen und Ineinanderfallen der Epochen, von der ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘ und der mythischen Rekurrenz und Prä‐ senz älterer Zeitschichten in der Gegenwart, 18 das er als Wesen der Stadt Rom aus‐ machte, das aber auch in seinen Schilderungen aus der römischen Campagna zum Ausdruck gebracht wurde. Teilnehmer einer Prozession in den Straßen Roms schie‐ nen ihm „dem tiefsten Mittelalter“ anzugehören, „wie dessen Gestalten von Giotto oder Ghirlandajo und Sandro Botticelli gemalt sind“. 19 In der Wallfahrt zur Ma‐ donna del Buon Consiglio „zieht das Mittelalter vorüber“ 20, mehr noch: „Es scheint sich das Fest des Jupiter Latialis vor unsern Augen zu erneuern“. 21 In der Bittpro‐ zession von Genazzano sah er ein Beispiel dafür, wie Heilige die Stelle der Götter einnehmen. Die Madonna beschrieb er als eine „Gottheit“, die „durch ganz Latium eines Rufs, welcher demjenigen alter Orakel der Heiden gleichkommt“, genieße. 22 Kurzum, in den Praktiken und Äußerungen katholischer Frömmigkeit sah er das Fortdauern der heidnischen Antike ebenso wie das Weiterleben eines vormodernen archaischen Christentums. Religion bzw. Konfession verstand Gregorovius, ganz zeittypisch, als wesentliche Ausprägung national-kultureller Charakteristika. So finden sich in seinen Beschrei‐ bungen katholischer Volksfrömmigkeit im deutschsprachigen Raum markante Un‐ terschiede zu seinen Schilderungen des italienischen Katholizismus. Beim Besuch eines bäuerlichen Passionsspiels in der „romantischen Einsamkeit“ der Berge des Kufsteiner Landes 23 machte ihn das „urdeutsche Wesen“ der „mit handwerksmä‐ ßigem Naturalismus“ vorgetragenen Inszenierung der „erhabene[n] Mythe“ „ganz glücklich“, wie er mit einem für seine Person ungewöhnlichen Enthusiasmus in sei‐ nem Tagebuch notierte. 24 Religion bot sich Gregorovius als Ausdrucksform natio‐ naler Eigenheit in Analogie zur bildenden Kunst dar: Die Frauengestalten des Pas‐ sionsspiels erschienen ihm wie „wandelnde Bilder altdeutscher Malerei“: „Nichts überraschte mich so tief, als diese Wahrnehmung, und der Vergleich des deutschen 18 Zum Begriff der „Rekurrenz“ siehe Reinhart Koselleck, Zeitschichten, in: Ders., Zeit‐ schichten. Studien zur Historik. Mit einem Beitrag von Hans Georg Gadamer, Frankfurt a. M. 2000, S. 19–26. 19 Gregorovius, Römische Figuren (wie Anm. 14), S. 233. 20 Gregorovius, Aus der Campagna (wie Anm. 11), S. 88. 21 Ebd., S. 85. 22 Ebd., S. 84. 23 Ferdinand Gregorovius, Passionsspiele. II. Das deutsche Passionsspiel in Tyrol, in: Ders., Kleine Schriften zur Geschichte und Cultur, Bd. 3, Leipzig 1892, S. 190–221, hier S. 192. 24 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 4), Eintrag aus Kufstein vom 30. Juli 1865, S. 197.

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Wesens mit dem des italienischen Kunst-Ideals, selbst in den Gemälden der ältesten Schule von Siena und Florenz.“ 25 In der „uralte[n] Tradition“ der Tiroler Bauern‐ passion manifestierte sich für ihn „wirkliches Leben“: „Wie wenn die Quellen der Poesie, Kunst, Sitte, Religion und des ganzen geistigen Prozesses der christlichen Gesellschaft aufgedeckt würden.“ 26 Auch in seinen Bildern italienischer katholi‐ scher Volksfrömmigkeit ging es ihm um Ganzheit und Authentizität. Im Unter‐ schied zu den ernsten alpenländischen Bauern schien ihm das Volk von Rom mit seiner barocken Frömmigkeit und seinen weltlichen Vergnügungen jedoch an der Schwelle zum Erwachsenenalter stehengeblieben: „Glückliches, kindlich heiteres, aber auch kindisches Volk! Haben sie doch Alles, die ganze Weltgeschichte und den Pulcinella, die Kunst und die Sonne des Südens, Blumen, Früchte und Wein in unerschöpfter Fülle.“ 27 Den ‚Süden‘ als Paradies fand er auch in der Bauernprozes‐ sion zur Madonna del Buon Consiglio, wo sich in seinen Augen „der heitere Him‐ mel, die Nüchternheit und Bedürfnißlosigkeit des Südländers [. . . ]; die Schönheit der Form [. . . ], die herrlichen Costüme der Frauen, ihre Wolgestalt und natürliche Grazie“, frei von jeglicher plebejischer Gemeinheit und Rohheit, auf harmonische Weise miteinander verbanden. 28 Beide Passagen ordnen die katholische Frömmig‐ keit Italiens dem ‚Süden‘ zu. Dessen Darstellung oszillierte allerdings, recht am‐ bivalent, zwischen der Infantilisierung des kindlich-kindischen Volkes und einer malerisch-ästhetischen Stilisierung. So rekurrierte Gregorovius in der Beschreibung der Wallfahrt von Genazzano gar auf orientalisch anmutende Bilder, die mit einer Prise – freilich durch protestantische Sittlichkeit wohl gezügelte – Erotik angerei‐ chert wurden. In offenkundiger Spannung zu diesen farbigen Schilderungen katholischen Volkslebens steht seine Sicht der Institution der katholischen Kirche im Allgemei‐ nen und des Papsttums im Besonderen. Bereits Ende 1848 verkündete der junge Journalist Gregorovius in einem Leitartikel der „Neuen Königsberger Zeitung“ zur Vertreibung von Pius IX. aus Rom durch die Anhänger der Republik, die Freiheit vom Papsttum sei die politische Wiedergeburt Italiens. 29 Pius selbst habe durch die liberalen Reformen zu Beginn seines Pontifikats die Grundlagen seiner Herrschaft beschädigt: Das Papsttum könne sich „nur auf den Fundamenten unbedingter Ab‐ solutie“ erhalten. Die Folgen des „gewaltigen Ereignisses“ der römischen Revolution könnten allerdings „erst in der unausbleiblichen katholischen Reformation und der

25 26 27 28 29

Gregorovius, Passionsspiele (wie Anm. 23), S. 203. Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 4), Eintrag vom 30. Juli 1865, S. 197. Gregorovius, Römische Figuren (wie Anm. 14), S. 193 f. Gregorovius, Aus der Campagna (wie Anm. 11), S. 87 f. Ferdinand Gregorovius, Die römische Revolution. Neue Königsberger Zeitung (NKZ), 29. Dezember 1848, in: Ders., Europa und die Revolution. Leitartikel 1848–1850, hg. von Dominik Fugger und Karsten Lorek, München 2017, S. 104–106, hier S. 106.

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endlichen Zertrümmerung der katholischen Staatskirche ganz sichtbar werden“. 30 Im Frühjahr 1850, kurz vor Schließung der „Neuen Königsberger Zeitung“, po‐ lemisierte er gegen die Restauration des „mittelaltrige[n] Feudalstaat[s], welchen die europäische Reaction unter dem Scheine constitutioneller Formen wiederher‐ zustellen versucht“. Die europäische Demokratie mußte den Stul Petri stürzen, wie sie jede absolute Ge‐ walt stürzen muß – die europäische Reaction mußte ihn wieder aufrichten, wie sie sich bemühen muß, jede absolute Gewalt wieder aufzurichten. [. . . ] Die Rückkehr des Papstes ist nur ein Signal, welches das Mittelalter überhaupt wieder wachgerufen hat. 31

In diesen, mehrere Jahre vor seinem Wechsel nach Italien verfassten journalisti‐ schen Kommentaren finden sich bereits wesentliche Konstanten von Gregorovius’ Bewertung des Papsttums: die grundsätzliche Ablehnung des Dominium tempo‐ rale, die Einordnung des Papsttums in die großen politischen Kämpfe der Zeit, die Zuordnung der Papstkirche zum feindlichen Lager der Reaktion und ihre Kenn‐ zeichnung als feudale Macht des ‚Mittelalters‘, das mit dem Scheitern der europäi‐ schen Revolution von 1848/1849 wiederzukehren drohe. In seinen ersten römischen Jahren, in denen Gregorovius seinen Weg als His‐ toriker begann, erschien Kritik an Papsttum und katholischer Kirche, ob bezogen auf vergangene oder gegenwärtige Verhältnisse, in seinen Publikationen allenfalls mittelbar oder am Rande. Seine Zurückhaltung in öffentlichen Äußerungen lässt sich zweifelsohne vornehmlich mit seiner Sorge um den Zugang zu kirchlichen Ar‐ chiven und Bibliotheken, auf den er existenziell angewiesen war, erklären. Für die Arbeit an seiner „Geschichte der Stadt Rom“ blieb ihm bis zuletzt die Nutzung des Vatikanischen Geheimarchivs verwehrt. Im März 1861, kurz nach der Proklama‐ tion des Königreichs Italien, beklagte er sich bei seinem Freund Hermann von Thile über die Benachteiligung gegenüber anderen Gelehrten wie dem norwegischen His‐ toriker Peter Andreas Munch, dem die Benutzung des Geheimarchivs dank seiner Kontakte zum päpstlichen Archivar Augustin Theiner ermöglicht wurde, während er selbst Camouflage betreiben müsse, um den Zugang zur Vatikanischen Bibliothek zu erhalten und gelegentlich Einsicht in vatikanische Quellen nehmen zu können. Ihn demütige das Gefühl, dass die Wissenschaft noch auf Schleichwegen gehen und er, „[v]erkappt in der Maske eines antiquarius innocuus, als welcher topographische Dinge erforscht“, Einsicht in den einen oder anderen vatikanischen Codex erha‐

30 Ebd., S. 105 f. 31 Ferdinand Gregorovius, Die katholische Kirche, NKZ, 15. Mai 1850, in: Ders., Europa und die Revolution (wie Anm. 28), S. 273–276, hier, S. 273 f.

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schen müsse. 32 Auch mit Blick auf sein deutsches Lesepublikum spielten konfessio‐ nelle Erwägungen bei Autor und Verlag eine wichtige Rolle. Kurz nachdem er das Manuskript der ersten beiden Bände der „Geschichte der Stadt Rom“ zur Ansicht an den Verleger versandt hatte, sah sich Gregorovius vor dem definitiven Vertrags‐ abschluss veranlasst, Bedenken Cottas gegenüber Inhalten auszuräumen, an denen katholische Leser möglicherweise hätten Anstoß nehmen können: Ein Parteistandpunkt wird mir nicht vorgeworfen werden dürfen, aber gut heißen kann ich an Rom nicht, was selbst der Verstand der Katholiken nicht mehr zu ver‐ teidigen im Stande ist. Dogmatische Discussionen, welche den Geschichtsschreiber in ein entschiedenes oder scharfes Urteil von selbst drängen müßten, liegen außerhalb der Grenzen des Werks, und ich habe die Theologie der Kirchengeschichte gern überlaßen.

Ohnehin handle es sich „um die Geschichte der Stadt Rom und nicht der Kirche“. 33 Noch bei der Unterzeichnung des Vertrags musste sich der Autor Cotta gegenüber verpflichten, auch in den Folgebänden „in diesem Tone und Haltung fortzufahren“, d. h. wie Gregorovius seinem Verleger gegenüber resümierte, „nicht über die schon ausgesprochenen Principien gegenüber dem Dogma und Cultus“ hinauszugehen. 34 Einzelne Episoden zeigen, dass die Sorgen von Gregorovius um seinen Leumund in katholischen Kreisen nicht unbegründet waren. Über den Geschäftsträger der preußischen Gesandtschaft am Heiligen Stuhl, Kurd von Schlözer, erfuhr er im Sommer 1864 von heftigen Angriffen eines österreichischen Priesters, Alois Flir, gegen seine Person. Kurzzeitig erwog er, in Verwahrung gegen den „Verläumder an meiner bescheidenen und zurückgezogenen Person“ gerichtliche Schritte gegen den „heftigen Ultramontanen“ einzuleiten, in Unkenntnis dessen, dass der Autor der von ihm inkriminierten „Römischen Briefe“ bereits vor deren Publikation verstor‐ ben war. 35 In dem Band Flirs fand sich eine durch persönliche Invektiven gegen Gregorovius angereicherte scharfe Kritik an dem 1858 erstmals in vollständiger Fassung im „Deutschen Museum“ erschienenen Beitrag „Subiaco“, 36 der, so Flir, 32 Gregorovius an Hermann von Thile, 17. März 1861, in: Gregorovius, Gesammelte deut‐ sche und italienische Briefe (wie Anm. 10), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/ letters/G000132. 33 Gregorovius an Johann Georg Cotta von Cottendorf, 20. Juli 1858, ebd., URL: https:// gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000115. 34 Gregorovius an Johann Georg Cotta von Cottendorf, 25. August 1858, ebd., URL: https:// gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000114/nuz3_w55_5lb. Das Zitat Cottas fin‐ det sich dort im Kommentar (Cotta an Gregorovius, 18. August 1858; h: DLA Marbach, Cotta-Archiv, Cotta-Briefe, 18a). 35 Gregorovius an Kurd von Schlözer, 8. September 1864, ebd., URL: https://gregoroviusedition.dhi-roma.it/letters/G000210; dort im Kommentar ausführliche Hinweise zu Flir, Schlözers Sicht der Dinge sowie zum inkriminierten Artikel von Gregorovius. 36 Der Artikel war kurz zuvor im 2. Band der „Wanderjahre“ wieder abgedruckt worden, was sicherlich zur erhöhten Besorgnis von Gregorovius beitrug: Subiaco, das älteste Benedicti‐

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den Ruf nach einer Ausweisung von Gregorovius aus Rom habe laut werden lassen. In dem monierten Artikel hatte Gregorovius eine Würdigung der zivilisatorischen Leistung des sich von Subiaco aus verbreitenden Benediktinerordens mit einer Dar‐ stellung des benediktinischen Klosternetzes als „Colonien der Hierarchie Roms“ und Instrument des Papstes, die Länder Europas an sich zu ketten, verbunden. Solche Wertungen konnten zeitgenössischen Lesern und Leserinnen durchaus als Kritik am Ultramontanismus avant la lettre erscheinen. 37 Wiederholten Bitten des Münchner Kirchenhistorikers Ignaz von Döllinger, eines der schärfsten Kritiker des auf dem Ersten Vatikanischen Konzil von Pius IX. durchgesetzten Dogmas der päpstlichen Infallibilität, ihm für seinen publizistischen Kampf Nachrichten über den Gang des Konzils zukommen zu lassen, verschloss Gregorovius sich mit der Begründung, er sei aufgrund seiner wissenschaftlichen und persönlichen Stellung in Rom zum Schweigen genötigt. 38 Nur wenige Tage vor Ende des Kirchenstaats verfiel er in geradezu panikartige Bestürzung, als er, unterwegs in Deutschland, von einer unautorisierten, mit seinem Namen gezeichneten italienischen Übersetzung eines, wie er selbst zugab, „etwas heftigen Artikel[s]“ „über den Untergang des po‐ litischen Papstthums“ in der römischen Zeitung „La Libertà“ erfuhr, den er im Juli in Cottas „Allgemeiner Zeitung“, lediglich mit seiner Sigle γρ gezeichnet, veröf‐ fentlicht hatte. 39 Gregorovius empörte sich, dass man seinen Artikel, wie er sich ausdrückte, in ganz Rom ausgeschrien und ihn durch den Schmutz des niedrigsten Boulevardjournalismus geschleppt habe. Vor allem aber befürchtete er nun, dass ihm in Zukunft die Vatikanische und überhaupt jede Bibliothek Roms auf immer verschlossen bleiben würde. Angesichts solcher Ängste und Bedenken finden sich kritische Ansichten zu Kirche und Papsttum bevorzugt im geschützten Raum des Tagebuchs und seiner persönlichen Korrespondenz. Allerdings lässt sich gerade dort auch eine gewisse Ambivalenz im Urteil über die Kirche feststellen. Dem ihm vertrauten klassischen nerkloster des Abendlandes. 1858, in: Gregorovius, Lateinische Sommer (wie Anm. 11), S. 1–45. 37 Ebd., S. 4. In der Einleitung zum ersten Band seiner „Geschichte der Stadt Rom im Mittel‐ alter“ verglich Gregorovius – in einer weitaus nüchterneren Analogie zwischen dem römi‐ schen Reich und der mittelalterlichen katholischen Kirche – „die Klöster in allen Ländern“ als „Burgen oder Stationen der geistlichen Herrschaft Rom’s und der Cultur“ mit „den alten Römercolonien“ (2. durchgearbeitete Aufl., Stuttgart 1869, S. 18). 38 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 4), Eintrag vom 9. Dezember 1869, S. 269. 39 Gregorovius an Ersilia Caetani Lovatelli, 6. September 1871, in: Gregorovius, Gesam‐ melte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 10), URL: https://gregorovius-edition. dhi-roma.it/letters/G000451/nj42_5xw_lnb. Der Artikel war erschienen unter dem Titel: Der Sturz des Papstthums in Rom, in der Beilage zu Nr. 206 der „Allgemeinen Zeitung“, 25. Juli 1871, S. 3685–3686, und ist wieder abgedruckt in: Ferdinand Gregorovius und Italien (wie Anm. 6), S. 281–285.

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Philologen Theodor Heyse teilt er Ende 1856 sein Entsetzen über den Eintritt sei‐ nes engsten Freundes der frühen römischen Zeit, des Grafen Paolo Perez, in den Or‐ den der Rosminianer mit: Gregorovius erschien dieser Schritt als völlig unvereinbar mit der „inneren Freiheit“, er empfand ihn als „moralischen und physischen Selbst‐ mord“ eines „in den Abgrund Thomistischer Meditation gestürzte[n] Gemüts“. 40 Noch wenige Jahre zuvor hatte er sich zur römischen Kirche bzw. zum Papst in Rom, ebenfalls in einem vertraulichen Brief, voller Zustimmung geäußert. Im Früh‐ ling 1854, anderthalb Jahre nach seiner Ankunft in der ‚ewigen Stadt‘, berichtete er seinem akademischen Lehrer, dem Königsberger Philosophen Karl Rosenkranz, in schwärmerischen Tönen von seiner Romerfahrung, die ihm die ersehnte Freiheit und Sonne beschere: Man lebe hier „in der allergrößten Republik und wahrhafti‐ gen Weltdemokratie, wovon der Apoll von Belvedere und der Papst die Präsidenten sind“. 41 Südliches Licht und Wärme, das Erbe der klassischen Antike und kosmo‐ politische Offenheit standen nicht nur in harmonischem Einklang mit der katho‐ lischen Kirche, sondern gar unter dem Schutz von deren Oberhaupt. Um dieselbe Zeit pries er Rom dem Germanisten Friedrich Althaus gegenüber als „Mittelpunkt der idealen und die wahrhafte Republik der Geister, die dafür sorgen, daß nicht das ewige Feuer der Vesta in der Welt ausgeht“. 42 Allerdings änderte sich der Ton‐ fall nur wenige Monate später, im Dezember 1854, angesichts der „Verkündigung des absurden Dogmas von der unbefleckten Empfängnis“ 43 durch Papst Pius IX. grundlegend: Mittlerweile ist hier krasses Mittelalter und die ganze Dogmengeschichte seit Nicäa eingekehrt. Heilige verdrehen die Augen, Mönchsorden streiten um die unbefleckte Geburt der Maria, der Papst verkündet quel domma divino come una luce dentro al cielo della chiesa. 44

40 Gregorovius an Theodor Heyse, 24. Dezember 1856, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 10), URL: https://gregorovius-edition.dhiroma.it/letters/G000025. Vgl. auch die wesentlich zurückhaltender formulierten Einträge in den Römischen Tagbüchern, Einträge vom 19. September und 2. Oktober 1856, (wie Anm. 4), S 63 f. 41 Gregorovius an Karl Rosenkranz vom 6. April 1854, in: Gregorovius, Briefe nach Kö‐ nigsberg (wie Anm. 2), S. 173. 42 Gregorovius an Friedrich Althaus, 21. April 1854, in: Gregorovius, Gesammelte deut‐ sche und italienische Briefe (wie Anm. 10), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/ letters/G000015. 43 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 4), Eintrag vom 31. Dezember 1854, S. 54. 44 Gregorovius an Karl Rosenkranz, 20. Dezember 1854, in: Gregorovius, Briefe nach Kö‐ nigsberg (wie Anm. 2), S. 175 (kursiv im Orig.).

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Gerade in Fragen der „dogmatischen Discussionen“ 45 zeigte sich für ihn, wie über‐ haupt für den Protestantismus und liberalen Mainstream, wie sich die Papstkirche im Gegensatz zu den Zeittendenzen bewegte. Neben dem Mariendogma gehörten dazu insbesondere auch der zehn Jahre später veröffentlichte Syllabus errorum so‐ wie das im Dezember 1869 von Pius IX. einberufene Erste Vatikanische Konzil, das im Juli 1870, zwei Monate vor dem Fall des Kirchenstaats, dem Dogma der Infalli‐ bilität zustimmte. 46 Gregorovius’ Aufregung über das Konzil 1870, die erst durch seine alsbald in Be‐ geisterung umschlagende Anteilnahme am deutsch-französischen Krieg verdrängt wurde, hatte eine längere Vorgeschichte, die, wie bemerkt, bis auf seine publizisti‐ schen Arbeiten der Königsberger Jahre zurückreicht. Seit Ende der fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts äußerte er sich, angetrieben von den Wechselfällen der italieni‐ schen Einigungsbestrebungen in den Risorgimento-Kriegen, die er mit gemischten Gefühlen verfolgte, 47 vermehrt zu dem ihm unausweichlich erscheinenden Ende des Kirchenstaates, den er mit Bildern der Stagnation, der Erstarrung, von Tod und Verwesung bedachte. Im Sommer 1858 notierte er im Tagebuch, die weltli‐ che Herrschaft des Papstes hielte sich nur noch als „Larve“ dank der französischen Schutztruppen. 48 Im April des folgenden Jahres wiederholte er sein Urteil über die Papstherrschaft: Auf dem „faulsten Fleck Europas“ lebe man ungeachtet der Kriegsereignisse wie im Traume fort, allein die fremden Mächte verteidigten die „Mumie, die noch Kirchenstaat heißt“. 49 Ende 1860 verglich er in einem Brief an Hermann von Thile das Papsttum mit dem Kolosseum: Es erschiene ihm wie „eine große moralische Ruine, die durch schlechte neue Mauern festgehalten wird“. 50 An 45 Siehe den oben zit. Brief von Gregorovius an Johann Georg Cotta von Cottendorf, 20. Juli 1858 (wie Anm. 32). 46 Zum „syllabierte[n] Blödsinn“, der nur das „kindisch gewordene Alter“ der Institution Kirche beweise, siehe Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 4), Eintrag vom 31. Dezember 1864, S. 191; zur Eröffnung des Konzils ebd., Eintrag vom 9. Dezem‐ ber 1869, S. 269. In den Tagebucheinträgen ab Januar 1870 bis zur Abreise von Gregorovius aus Rom Anfang Juli des Jahres, zwei Wochen vor der Abstimmung des Konzilplenums über die Konstitution zur päpstlichen Unfehlbarkeit am 18. Juli, dominieren die Themen Konzil und Infallibilität in den Tagebucheinträgen, siehe ebd., S. 273–285. 47 Siehe Petersen, Das Bild des zeitgenössischen Italien in den Wanderjahren von Ferdinand Gregorovius (wie Anm. 6), S. 73–96, der, entgegen der Titelformulierung unter Berück‐ sichtigung nicht nur der „Wanderjahre“, sondern auch der Tagebücher, Briefe und anderer Schriften von Gregorovius, dessen Haltung gegenüber den risorgimentalen Bestrebungen als „eine aus Skepsis und Sympathie gemischte Distanz“ bewertet (S. 78). 48 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 4), Eintrag vom 10. Juni 1858, S. 71. 49 Ebd., Eintrag vom 2. April 1859, S. 78. 50 Gregorovius an Hermann von Thile, 16. und 22. Dezember 1860, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 10), URL: https://gregoroviusedition.dhi-roma.it/letters/G000127. Vgl. auch die ironische Passage in seinem Brief an

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denselben Adressaten gewandt, formulierte er wenige Monate später seine Diagnose zum „historischen Mythos“ der katholischen Kirche und zu ihrem Verhältnis zum Glauben der Gegenwart: Ihm schien es, als befinde sich das christliche Rom bereits in der Epoche, in der sich das heidnische zur Zeit der Kritik Lucians befand. Man spottet über die Götter oder Idole, aber man kann sie noch wegen des Kalenders und der Feste nicht entbehren. Indeß dürfte doch die Zeit nicht ferne sein, wo das Blut des heiligen Januarius zum letzten Male flüßig wird, um dann aus der Flasche gegoßen zu werden. 51

Mit der ironischen Anspielung auf das in regelmäßigen Rhythmen erwartete Blut‐ wunder des neapolitanischen Stadtpatrons San Gennaro kommt ein weiteres, für einen protestantischen Liberalen wenig überraschendes Element der Katholizis‐ muskritik ins Spiel: die Verurteilung der katholischen Religion als Aberglauben, ob in Formen der Volksfrömmigkeit, im Wunderglauben oder in einer sich in reiner Äußerlichkeit erschöpfenden Ritualisierung. 52 Der Frömmigkeit des Volkes, die er für einen Ausdruck anhaltender „einfache[r] Naturzustände“ hielt, begegnete er mit einer Mischung aus romantischer Faszination und Befremden über den „nai‐ ven Glauben“ des italienischen Landvolkes, „daß die unerschütterlichen Gesetze der Natur durch Gebet und Geschrei um Gnade könnten aufgehoben, verändert oder beschleunigt werden.“ 53 Sarkastisch äußerte er sich gegenüber pompösen liturgi‐ schen Festlichkeiten, zumal im Petersdom, den er häufig als neugieriger Zuschauer aufsuchte. In seinen Tagebüchern finden sich satirische Passagen wie die zum Be‐ ginn der Osterfeierlichkeiten in St. Peter 1867. Einen Akt der Reliquienverehrung schilderte er als groteske Theaterszene: Das Erscheinen der Reliquienmänner in den weißen Sottanen oben auf der Loge, wo‐ bei geklingelt wurde, ihr Hin- und Herwenden mit dem blitzenden Heiligtum, die unten kniende Menge der Fanatiker: dies machte ganz den Eindruck eines solennen Karl Rosenkranz in Königsberg. Rom, 20. Dezember 1854, in: Gregorovius, Briefe nach Königsberg (wie Anm. 2), S. 175: „Es ist doch ein wunderbares Institut, diese katholische Kirche, auch noch in den Ruinen ehrwürdig; aber Papst und Kirchenfürsten stehen jetzt und sehen jetzt gerade so aus, wie das Kolosseum und andere Trümmer in Rom. Was steht nicht alles in unserer Welt als Ruine da und wird nur durch Pietät und Restauration gefris‐ tet!“ Das Bild vom Papsttum als „Ruine“ und als „ein moralisches Kolosseum“ findet sich ebenfalls im Brief an Karl Rosenkranz in Königsberg. Rom, 31. Oktober 1859, ebd., S. 178. 51 Gregorovius an Hermann von Thile, 17. März 1861, in: Gregorovius, Gesammelte deut‐ sche und italienische Briefe (wie Anm. 10), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/ letters/G000132. 52 Zum weiteren Kontext antikatholischer Glaubenskritik siehe Lisa Dittrich, Antiklerika‐ lismus in Europa. Öffentlichkeit und Säkularisierung in Frankreich, Spanien und Deutsch‐ land (1848–1914) (= Religiöse Kulturen der Neuzeit; Bd. 3), Göttingen 2014, S. 334–342. 53 Gregorovius, Aus der Campagna (wie Anm. 11), S. 79, S. 77.

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Aktes der Zauberei. Zauberei ist überhaupt ein Bestandteil der katholischen Religion, und zwar ein sehr wesentlicher. 54

Prunkvolle liturgische Zurschaustellungen verglich er bissig mit altorientalischen Mysterienkulten „für Isis und Osiris und den Ochsen Apis“. Mit „großer Scha‐ denfreude“ beobachtete er, wie die „Standarte des gräßlichen Inquisitors Pedro de Arbues“ während einer Prozession auf dem Petersplatz beim Niedersinken einige Menschen mit sich riss. 55 Unwissen und Aberglauben sah er als quasi unerschütterliches Fundament eines fanatischen Klerikalismus, den er, schwankend zwischen Resignation und Hoff‐ nung auf Wandel, kritisch kommentierte. Im Sommer 1862 versicherte er seinem Freund Friedrich Althaus in London, die Zivilgewalt des Papstes sei unhaltbar, „und dies Priesterreich im Prinzip schon wirk‐ lich tot“, und fügte ironisch hinzu, dass nur der gerichtliche Akt der Ausstellung des Totenscheins noch Schwierigkeiten bereite. 56 Im selben Jahr zeigte er sich über‐ zeugt, dass „die Bedürfniße unserer neuen Zeit“ das Dominium temporale früher oder später zerstören würden, während er zugleich über seine Rückkehr nach Rom „in dies dumpfe Hospital des Pfaffentums“ stöhnte. 57 1864 berichtete er begeistert von seinen Erfahrungen aus den von der päpstlichen Herrschaft befreiten Regionen Umbrien und der Sabina in der tiefsten ländlichen Provinz: Ich fand überall ein neues Leben; entstehende Laienschulen, aufrichtigen Trieb nach Fortbildung. Die Epoche des Mittelalters ist abgelaufen; die neue Zeit schlägt Wurzel, und das Dominium Temporale kann nicht mehr hergestellt werden, selbst wenn irgend ein gewaltsamer Sturz es für einen Moment zu restauriren scheinen sollte. 58

Nur wenige Jahre später hingegen beklagte er seiner Freundin Malwida von Mey‐ senbug gegenüber die „innere Verkommenheit“ Italiens. Trotz der Fortschritte der 54 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 4), Eintrag vom Gründonnerstag (18. April) 1867. 55 Ebd., Eintrag vom 8. Juli 1867, S. 226 – siehe dort S. 225 f. auch die weiteren Details seiner Schilderung der Feierlichkeiten zum Fest Peter und Paul 1867. Pius IX. erscheint als Ochse Apis ebenfalls in seinem Briefwechsel: Gregorovius an Malwida von Meysen‐ bug, 25. Juni 1867, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 10), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000253/nu3z_ br5_gmb; Gregorovius an Raffaele Mariano, 8. Dezember 1877, ebd, URL: https://gre‐ gorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000232; Gregorovius an Raffaele Mariano, 3. Ja‐ nuar 1878, ebd., URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/ed_zkr_cqv_zkb. 56 Gregorovius an Friedrich Althaus, 24. Juni 1862, ebd., URL: https://gregorovius-edition. dhi-roma.it/letters/G000146. 57 Gregorovius an Hermann von Thile, 15. November 1862, ebd., URL: https://gregoroviusedition.dhi-roma.it/letters/G000157. 58 Gregorovius an Hermann von Thile, 5. August 1864, ebd., URL: https://gregorovius-edi‐ tion.dhi-roma.it/letters/G000209.

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nationalen Einigung dauere die Priesterherrschaft an; man wate in „Pfaffheit [. . . ] Ein trostloses Schauspiel ausgebrannten Lebens.“ 59 Gregorovius’ Auseinandersetzung mit Kirche und Papst, den er von seiner Woh‐ nung in der Via Gregoriana gleichsam vor Augen hatte, 60 war eingebettet in ein Hegel’sches Geschichtsbild, wonach sich der Historiker, erfüllt von hohem Pathos, in den Rang eines Augenzeugen des Wirkens des Weltgeistes erhoben sah. Greif‐ bar wird diese Selbststilisierung insbesondere in der Parallelführung zwischen dem Gang der Weltgeschichte und der Abfassung des eigenen historischen Werks. Die „Beobachtung der Gegenwart, welche ein Werk ausführt, woran die Jahrhunderte verzweifelt haben“, sei für den Geschichtsschreiber der „Kämpfe und Leiden Roms im Mittelalter [. . . ] etwas gar nicht genug zu Schätzendes“. 61 Im Sommer 1866 ver‐ merkte er in seinem Tagebuch: „Meine Arbeit begleitet die geschichtliche Bewegung Roms, welche durch die Umwälzung Italiens und das Sinken des Papsttums die wichtigste in Europa wurde.“ Vor seinen Augen erfolge ein Weltkampf, woraus der Geist der Völker verjüngt hervorgehen wird, ein Scheidungs‐ prozeß, worin die morschen Autoritäten der alten Zivilisation untergehen. Rom hält noch deren Formel, es hat sie im ‚Syllabus‘ ausgesprochen. Diesen römischen Weltkno‐ ten wird eine Revolution Europas im letzten und wichtigsten Drittel des XIX. Jahr‐ hunderts gewaltsam lösen. 62

Was Rom betrifft, so erreichte Gregorovius’ Stimmung als Zeitzeuge mit den Ereig‐ nissen des Vatikanischen Konzils den absoluten Tiefpunkt: Der Fanatismus ist grenzenlos. Wir haben das Gefühl der Sicherheit verloren, und nach 18 Jahren meines Lebens in Rom fühle ich mich hier fremder als am ersten Tag. Die Luft ist moralisch vergiftet; mich ekelt vor dem Anblick dieses Götzendienstes, dieser alten und neuen Idole und dieses ewigen Zustandes von Lüge, Heuchelei und Aberglauben. 63

Der 20. September 1870, den er unterwegs in Deutschland erlebte, war für ihn dem‐ nach nur die Verwirklichung eines seit langem erwarteten historischen Moments, 59 Gregorovius an Malwida von Meysenbug, 25. Juni 1867, ebd., URL: https://gregoroviusedition.dhi-roma.it/letters/G000253. 60 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 4): „Ich sehe oft nachts aus meinem Zimmer den finsteren Vatikan, wo nur ein einsames Licht geisterhaft brennt. Ist es das Licht, bei welchem der sorgenvolle Papst wacht?“ (Eintrag vom 2. Dezember 1866, S. 216). 61 Ebd., Eintrag vom 7. November 1860, S. 113. Siehe auch Gregorovius an Hermann von Thile, 16. und 22. Dezember 1860: „Die gegenwärtige Bewegung accompagnirt meine Ar‐ beit auf eine seltsame Weise, und unterstützt sie nicht wenig.“ In: Gregorovius, Gesam‐ melte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 10), URL: https://gregorovius-edition. dhi-roma.it/letters/G000127. 62 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 4), Eintrag vom 27. Juni 1866, S. 210. 63 Ebd., Eintrag vom 19. Juni 1870, S. 284.

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der nunmehr allerdings im Schatten des deutsch-französischen Kriegs stand: „Un‐ ter anderen Verhältnissen würde dies Ereignis die Welt aufgeregt haben, heute ist es nur eine kleine Episode des großen Weltdramas.“ 64 Im Juli 1871 publizierte er einen polemischen Artikel zum „Sturz des Papstthums in Rom“, um die öffentliche Meinung in Deutschland, „die sich nicht überall der gewaltsamen Transformation des römischen Staates günstig gezeigt hat, ein wenig zu beeinflussen.“ 65 Hier wurde das Ende des Dominium temporale für das deutsche Lesepublikum nochmals als Re‐ sultat eines quasi gesetzmäßigen historischen Prozesses, als „Consequenz der inne‐ ren Auflösung eines für unsere Civilisation unerträglichen Zustandes“ dargestellt: „Jeder Mensch, der an die Fortschritte der Cultur glaubt, jubelt über den Untergang der geschworenen Feindin der modernen Freiheit und Civilisation.“ Gregorovius deutete das Ende des Kirchenstaats allerdings nicht nur im Blick auf die Befrei‐ ung der Italiener, die vom Hass gegen die weltlichen Papstherrschaft „als den Pfahl im Fleisch ihrer Nation [. . . ], als den Alp ihrer Freiheit, und das chronische Ue‐ bel welches die Heilung ihres zerrissenen Lebens unmöglich machte“, erfüllt seien. Vielmehr stellte er es in einen engen Zusammenhang mit der deutschen Natio‐ nalgeschichte. In einem durchaus kühn zu nennenden Kurzschluss begriff er das „Erlöschen der Papstgewalt“ als Ergebnis eines langen, durch „die stätige unabläs‐ sige Arbeit des reformatorischen Gedankens in Staat und Kirche“ angetriebenen historischen Prozesses: „Die Deutschen haben den Italienern zum Besitz von Rom verholfen, weniger durch die Riesenschlacht von Sedan, als durch die viel riesigere Arbeit der rationalistischen, die Welt überall reformirenden Ideen.“ 66 Gregorovius’ hier zu Tage tretendes ‚schwarzes‘ Bild von Papsttum und Katho‐ lizismus, die sich in seinen Augen durch blinden Autoritätsglauben, Dogmatismus, Fanatismus, Klerikalismus und die Feindschaft zu den Kräften des Fortschritts, der Nation und der Moderne auszeichneten, ist jedoch keineswegs so eindeutig und widerspruchsfrei, wie es sich auf den ersten Blick darbieten mochte. In seinen Schriften kann man durchaus auch positive Wertungen der Realität des Kirchenstaats seiner Zeit lesen, obgleich das in seinem Reisebericht 1859 for‐ mulierte Lob über die „wolthuende republicanische Atmosphäre in römischen Lan‐ den“ in seinen schriftlichen Äußerungen eher eine Ausnahme bildet: Im Römischen herrscht ein Zug von Ernst, Bedächtigkeit und Maß, von ungezwunge‐ ner und freier Haltung, ja von Liberalität, zumal in der Rede, die sich hier seit Alters

64 Ebd., Eintrag vom 23. September 1870, S. 293. 65 Gregorovius an Ersilia Caetani Lovatelli, 6. September 1871, in: Gregorovius, Gesam‐ melte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 10), URL: https://gregorovius-edition. dhi-roma.it/letters/G000451/nj42_5xw_lnb; Angaben zum Artikel in Anm. 38. 66 [Gregorovius,] Der Sturz des Papstthums, in: Ferdinand Gregorovius und Italien (wie Anm. 6), S. 283, S. 284, S. 281, S. 285.

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frei erhalten hat, und auch sonst bemerkt man wenigstens im Gewährenlassen eine gewisse Sorglosigkeit. 67

Bemerkenswert ist die explizit politische Begründung, mit der Gregorovius seinen Befund im Kontrast zu den Zuständen im Königreich beider Sizilien, dem südli‐ chen Nachbarn des Kirchenstaats, erklärte: eine schwach ausgeprägte staatliche Ge‐ walt, die fehlende Bedrückung durch ein stehendes Heer, die lange Tradition eines durch Vertrag und Statuten geförderten Munizipalismus sowie das Fehlen einer erblichen Landesdynastie – ein Bild der päpstlichen Herrschaft, das sich deutlich abhebt von den scharfen Verurteilungen klerikaler Autokratie, wie man sie bei Gre‐ gorovius sonst häufig findet. Dieser ließ es sich überdies nicht nehmen, seine Auffassung vom Wesen der his‐ torischen Sendung des Papsttums auch gegenüber kritischen Landsleuten hervor‐ zuheben oder gar offensiv zu verteidigen. An Weihnachten 1865 begleitete er den Philosophieprofessor Kuno Fischer bei einem Besuch der Lateranbasilika. In sein Tagebuch notierte er, dass der prominente Hegelianer durchdrungen gewesen sei „vom Eindruck, welchen die Kirche und ihr Kultus als geschichtlicher Organismus auf ihn macht“, und ergänzte apodiktisch: „Rom ist ein Weltknoten; es läßt sich durch protestantische Kritik nicht auffasern.“ 68 In der Diskussion mit dem radikal‐ liberalen Historiker Georg Gottfried Gervinus verteidigte er gegen die Auffassung seines Gesprächspartners, die Zeit sei reif für die Abschaffung des Papsttums, des‐ sen Geschichtsmächtigkeit und Überlebensfähigkeit unter Verweis auf ein Zitat des britischen Historikers Thomas Macaulay, das in seiner Bildlichkeit geradezu kon‐ genial zu Gregorovius’ Geschichtsauffassung erscheint: „Das Papsttum wird noch dauern, wenn einst ein Reisender aus Neuseeland auf einem zerbrochenen Bogen von London Bridge steht, um die Ruinen von St. Paul zu betrachten.“ 69 Diese Ver‐ teidigung der Papstkirche gegen die „Urteile der Protestanten“ wie Gervinus, denen er eine falsche Auffassung von der lateinischen Welt vorwarf, implizierte freilich eine radikale national-kulturelle Begrenzung der Wirkungs- und Geltungsmacht der katholischen Kirche: „Das Papsttum ist eine lateinische Form und wird nur mit 67 Ferdinand Gregorovius, An den Ufern des Liris. 1859, in: Ders., Lateinische Sommer (wie Anm. 11), S. 225–275, hier S. 237 f. 68 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 4), Eintrag vom 31. Dezember 1865, S. 203. 69 Ebd., Eintrag vom 16. Dezember 1866, S. 220. Das leicht abgeänderte Zitat Macaulays stammt aus dessen 1840 veröffentlichter Besprechung von Leopold von Rankes „Ge‐ schichte der Päpste“: „The Papacy remains, not in decay, not a mere antique, but full of life and youthful vigour. [. . . ] And she may still exist in undiminished vigour when some traveller from New Zealand shall, in the midst of a vast solitude, take his stand on a broken arch of London Bridge to sketch the ruins of St. Paul’s“ (Thomas Babington Macaulay, Critical and Historical Essays contributed to the Edinburgh Review, 5. Aufl. in 3 Bänden, Bd. 3, London 1848, S. 208 f.).

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der lateinischen Rasse aufhören.“ 70 Aufschlussreich für Gregorovius’ Auffassung vom historischen Ort des römischen Bischofs ist auch ein Disput mit seinem Über‐ setzer, dem italienischen Hegelianer Raffaele Mariano. Als dieser 1873 einen auf Gregorovius’ „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“ basierenden historischphilosophischen Essay veröffentlichte, der im Sinne von Marianos Hegel’scher Ge‐ schichtsauffassung die Entwicklung der Stadt vom Mittelalter in einem weiten Spannungsbogen bis hin zur Gründung des italienischen Nationalstaats behandelte, reagierte Gregorovius überaus ungehalten. Stein des Anstoßes waren Passagen in einem Kapitel, das den endgültigen Verlust der kommunalen Autonomie der ‚ewi‐ gen Stadt‘ und die Durchsetzung der päpstlichen Herrschaft im 15. Jahrhundert zum Gegenstand hatte. 71 Gregorovius ärgerte sich nicht nur über einen in seinen Augen überflüssigen Exkurs zur „essenza della libertà“, sondern vor allem über eine lückenhafte und verfälschende Übersetzung seines Gedankengangs durch Mariano, die offenkundig ein Schlüsselargument des ‚Geschichtsschreibers der Stadt Rom‘ zur ‚Weltbedeutung‘ der Stadt der Päpste betraf: Den Verlust der munizipalen Frei‐ heit, so Gregorovius, habe „eine Zeit lang die Natur Rom’s und die des Papsttums durch ein großartiges, keiner anderen Stadt der Erde eigenes Wesen“ ersetzt, in dessen kosmopolitischer Luft sich alles Monarchische und Dynastische verzehrt. Es ist der moralische Weltbezug Rom’s, der Welthauch, der darin weht, die Weltidee der Kirche, die sich noch im Papsttum abspiegelt, wodurch die Alma Roma diejenigen bezaubert, die in ihr leben und zu dem Bekenntniß zwingt, daß nirgend der Mensch sich freier von Vorurteilen empfinde, als in dieser Weltrepublik. 72

Gregorovius maß also selbst nach dem Ende des Kirchenstaats der Idee vom „Welt‐ bezug“ Roms eine geradezu programmatische Bedeutung bei, wie seine Verärgerung 70 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 4), Eintrag vom 8. Juli 1867, S. 226; siehe auch seine Diagnose für die Zukunft der katholischen Kirche nach dem Ende des Kirchenstaats in der „Beschränkung des Papstthums auf die romanischen Kirchen“, in: Gregorovius, Der Sturz des Papstthums, in: Ferdinand Gregorovius und Italien (wie Anm. 6), S. 285. 71 Raffaele Mariano, Roma nel Medio Evo, Rom 1873; siehe dort S. 182–199 das Kapitel XII. „Tentativi di una costituzione comunale in Roma“. 72 Ferdinand Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter, Bd. 7, 2., durchges. Aufl., Stuttgart 1873, S. 134 (Hervorhebung im Original). Siehe dazu den Brief von Gre‐ gorovius an Raffaele Mariano, zwischen Januar und Juni 1873 (?), in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 10), URL: https://gregoroviusedition.dhi-roma.it/letters/G000215. In dem auf Italienisch verfassten Brief zitiert Gre‐ gorovius den Anfang seines eigenen Textes bis inkl. „Es ist der moralische Weltbezug etc.“ weitgehend wörtlich auf Deutsch – wobei er allerdings die Einschränkung „eine Zeit lang“ weglässt, was seine Aussage noch weiter generalisiert – und spitzt dann seinen Vorwurf zu: „Veda dunque quanti anelli Ella abbia tolto dalla catena del sillogismo mio, onde costituirne, per dirlo francamente, una mostruosità dell’autore.“

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über den von ihm durchaus geschätzten Mariano verrät, zu dem er im Laufe der Jahre ein quasi väterliches Vertrauensverhältnis aufbauen sollte. Ein Jahr vor dem Brief an Mariano, am 19. Januar 1872, hatte Gregorovius den „Schluß der Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“ geschrieben. 73 Dort hob er zum wiederholten Mal den Parallelismus zwischen seinem eigenem Werk und der historisch-politischen Entwicklung hervor. Sein historisches Werk sei in langjäh‐ riger Arbeit in den Archiven Roms und Italiens entstanden, während er zugleich Augenzeuge der großen, die „letzte Katastrophe Rom’s“ herbeiführenden Umwäl‐ zungen Italiens, „des letzten Ringens von Rom um seine endliche Wiedergeburt zu einem freien Volk von Bürgern“ sein durfte. Für die Vollendung des Werks 1871 habe es keinen „mehr bedeutenden und beziehungsvollen Moment“ geben können. Nun könne er sich glücklich preisen, „weil die Geschichte der Stadt Rom im Mittel‐ alter diesen wirklichen Abschluss gefunden hat“. 74 Gregorovius hob jedoch nicht nur die Koinzidenz der Fertigstellung seines Werks mit dem Ende des Kirchenstaa‐ tes als „geschichtliche Notwendigkeit“ hervor. Der Endpunkt seiner historischen Darstellung – der Beginn der Reformation – griff in seiner Sicht dem Jahr 1870 voraus: Die auf den Tod Clemens’ VII. folgenden drei Jahrhunderte würden „dem Geschichtsschreiber der Stadt einen nur spärlichen Inhalt darbieten, und fast aus‐ schließlich zur Geschichte des in immer engere Grenzen moralischer Macht sinken‐ den Papsttums werden“. 75 Anders gewendet: Der Fall des Kirchenstaats war somit letztlich auch als Vollendung des Werks der Reformation zu verstehen. Gregorovius’ Interpretation implizierte den Gedanken einer besonderen, in der ‚ewigen Stadt‘ zusammenlaufenden italienisch-deutschen Verflechtungsgeschichte: Rom sei der Knotenpunkt, in dem sich die Fäden des geschichtlichen Gewebes, das die lateinische und germanische Welt umschlinge, verbinden. Italien und Deutschland, diese beiden feindlich verketteten Schicksalsgeschwister der Geschichte, aus deren wechselseitiger Beziehung im Mittelalter die Cultur Europa’s wesentlich entstanden ist, wurden durch die Freiheit voneinander abgetrennt und endlich [d. h. durch den Fall des Papsttums und die Verwirklichung der nationalen Einheit in beiden Ländern, M.B.] miteinander versöhnt. 76

Ablehnung und Faszination, die harsche Verurteilung der Papstkirche und die far‐ bigen Schilderungen eines pittoresken exotischen Volksglaubens sind bei Gregoro‐ vius zwei Seiten einer Medaille. Beide sind auf einer Nord-Süd-Achse eingelagert in das Beziehungsgefüge zwischen Deutschland und Italien bzw., auf einer allgemei‐ 73 So die Überschrift des Schlusskapitels von Ferdinand Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter, Bd. 8, 2., durchges. Aufl., Stuttgart 1874, S. 645–658, dort S. 658 das Datum. 74 Ebd., S. 647, S. 658. 75 Ebd., S. 653, S. 647. 76 Ebd., S. 650.

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neren Ebene, zwischen der germanischen und lateinischen Welt, um in der Sprache des Geschichtsschreibers der Stadt Rom zu bleiben. Gregorovius steht mit seinem Denken und seinem Werk im größeren Kontext einer Neuverhandlung Europas als Raumkonstellation, Kultur- und Werteordnung seit der Aufklärung, in welcher der ‚Süden‘ zum Repositorium des ‚Anderen‘ der westlichen Zivilisation, zum Gegen‐ bild von Fortschritt, Vernunft und Ordnung definiert wurde, als statische Sphäre, die zunehmend zurückfiel hinter die Dynamik der Moderne. 77 In diesem verräum‐ lichten Zeitmodell spielt Religion eine zentrale Rolle, bei Gregorovius quasi ideal‐ typisch erfassbar in seinem hegelianischen Verständnis der Reformation als Beginn der Neuzeit, als Ursprung moderner Subjektivität, Rationalität und Freiheit. Für den Katholizismus, verkörpert durch das auf dem Dominium temporale beharrende Papsttum, blieb damit in erster Linie die Rolle des Widerparts, des Gegenlagers zur Moderne als Kraft eines ‚Mittelalters‘, das nicht vergehen will. Das schloss jedoch die andere Seite, den ‚Süden‘, der aus der Moderne fällt, jedoch keineswegs aus: seine Strahlkraft als ‚Kompensationsraum‘, als Ort der Ursprünge, der Ganzheit, Authentizität und Schönheit. Dieses sich in Gregorovius’ Äußerungen und Werk manifestierende Weltverständnis, das deutliche Züge des Orientalismus aufweist 78 und mit einem universalen Anspruch auftritt, trägt freilich unverkennbar Ansprü‐ che auf Macht und Vorrang in sich: nicht nur in der Infantilisierung des ‚einfachen‘ Volks von Rom und des Latium, sondern vor allem in der Superioritätsbehauptung des Germanischen, das der Welt die Reformation und unseren „Helden Luther“ 79 geschenkt hat, über das Lateinisch-Romanisch-Katholische. Deutschland trenne von Italien mit „seiner im römischen Katholicismus dumpf gewordenen Geistes‐ welt“ „eine schwer auszugleichende Verschiedenheit der Race, der Religion und der ganzen hier lateinischen, dort germanischen Bildung“. 80 Seiner Freundin Malwida von Meysenbug versicherte Gregorovius 1865, mitten im italienischen Einigungs‐ prozess, überschwänglich, die Deutschen seien „doch das wahre Messias-Volk der Erde, so viel auch die Fremden uns schmähen“, während er zugleich Klage führte 77 Siehe Roberto Dainotto, A South with a view: Europe and its other, in: Nepantla: Views from South, I / 2 (2000), S. 375–390; Ders., Europe (in theory), Durham, NC 2007. 78 Zur Orientalisierung des Katholizismus und Roms in kirchenkritisch-antiklerikalen Dis‐ kursen siehe Manuel Borutta, Antikatholizismus. Deutschland und Italien im Zeitalter der europäischen Kulturkämpfe, Göttingen 2007 (= Bürgertum Neue Folge, Bd. 7), S. 47– 154. 79 Gregorovius an Hermann von Thile, 19. November 1871, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 10), URL: https://gregorovius-edition.dhiroma.it/letters/G000373. 80 Ferdinand Gregorovius, Andria. 1874. 1875, in: Ders., Wanderjahre in Italien, Bd. 5: Apulische Landschaften, 2. Aufl., Leipzig 1880, S. 133–169, hier S. 151 f.; dort S. 153 auch zur „Heldengestalt“ Luther, „diesen größesten Freiheitshelden der modernen Cultur“, den die Italiener heute mehr und mehr begreifen würden.

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über Italien, wo seine momentan in der Schweiz weilende Freundin „nur Einsam‐ keit, Enttäuschung, und das Gefühl eines unpraktischen Zustandes“ erwarten wür‐ den. 81 Was die katholische Kirche betraf, so erschien ihm nicht nur das Papsttum als eine „große moralische Ruine“: 82 Vielmehr erkenne man, dass alle vom Katho‐ lizismus beherrschten Länder, wie Spanien, Österreich und Italien, moralisch und politisch verfallen seien, „so vielleicht selbst Frankreich, welches nur ein übertünch‐ tes Grab ist“ – eine Aussage, die er mehr als ein Jahrzehnt vor der französischen Niederlage im Krieg von 1870/1871 machte. 83 „Auch muß ein katholisch gläubiger Autor vorweg darauf verzichten, ein Denker zu sein“, wie Gregorovius mit Blick auf seinen Rivalen Alfred von Reumont kategorisch formulierte. 84 Was aber bleibt Gregorovius nach dem ‚Ende der Geschichte‘, nach dem Ab‐ schluss seines historischen Werks und der Vollendung des historischen Prozesses der doppelten Nationalstaatsgründung in Deutschland und Italien, verbunden mit dem „Sturz des Papstthums“? Bereits im Sommer 1866 hatte Gregorovius in sei‐ nem Tagebuch von einer „moralischen Grenze“ gesprochen, die die „Weltbewegung der Gegenwart“ in zwei Generationen scheide: Was „drüben steht, wird veralten, was hüben, wird dem Genius auf neuen Bahnen folgen“. 85 Mit dem Überschrei‐ ten dieser Grenze, dem Ende der päpstlichen Herrschaft und dem von ihm bitter beklagten „Umbau Roms“ zu einer modernen europäischen Metropole und Haupt‐ stadt des jungen italienischen Nationalstaats lief die „die alte Weltstadt“ für Gre‐ gorovius Gefahr, ihren kosmopolitischen Charakter und ihre ‚Weltbedeutung‘ zu verlieren. In jedem Fall würden jedoch die „großen Erinnerungen und die Monu‐ mente der Geschichte den Bezug der Stadt Rom auf die Geschichte der Menschheit dauernd wach erhalten“. 86 Der Geschichtsschreiber reagierte auf den von ihm lange 81 Gregorovius an Malwida von Meysenbug, 24. August 1865, in: Gregorovius, Gesam‐ melte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 10), URL: https://gregorovius-edition. dhi-roma.it/letters/G000233. 82 Gregorovius an Hermann von Thile, 16. und 22. Dezember 1860, ebd., URL: https://gre‐ gorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000127. 83 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 4), Eintrag vom 10. Juni 1858, S. 71. Bereits Jahre zuvor hatte Gregorovius seinem „Ekel vor den Zuständen in Frankreich“ un‐ ter Louis Napoléon Ausdruck gegeben: Gregorovius an Friedrich Althaus, 21. April 1854, Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 10), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000015. 84 Gregorovius an Adolf Friedrich von Schack, 15. Januar 1882, ebd., URL: https://gregoro‐ vius-edition.dhi-roma.it/letters/ed_bhr_1m4_r4b. Zum Verhältnis zwischen Gregorovius und Reumont: Alberto Forni, La questione di Roma medievale. Una polemica tra Grego‐ rovius e Reumont, Rom 1985. 85 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 4), Eintrag vom 27. Juni 1866, S. 210. 86 Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter, Bd. 8 (wie Anm. 72), S. 655 f.; zu Gregorovius’ Reaktionen auf den urbanistischen Wandel Roms einige Beobachtungen bei Cesare de Seta, Gregorovius und die Polemiken über den Wandel des römischen Stadt‐

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herbeigesehnten Sieg des Fortschritts nach anfänglichem Enthusiasmus keineswegs mit optimistischer Zukunftsgewissheit, sondern mit Melancholie und Nostalgie auf die, wie er 1889 über die anhaltende Leidenschaft des greisen Ranke für die Weltgeschichte schreibt, „stolta favola del mondo“, die törichte Fabel von der Welt, „diese[s] ewige[n] Einerlei, wo sich nichts verändert als die Namen der Menschen und ihrer Götter“. 87 Eine ähnliche Äußerung legt er einem „grauen Einsiedler“ auf dem Palatin, mit dem er über den bevorstehenden Abriss von dessen Kloster und das Verschwinden des alten historischen Roms bei einem Besuch der ‚ewigen Stadt‘ 1888 ins Gespräch kommt, in den Mund: „Die Welt ist eine Flut, welche auf und ab wogt; nichts steht stille, alles kommt und geht; wer am Irdischen haftet, muß am Leben verzweifeln, aber dort oben ist alles fest und ewig.“ 88 Mit dieser postromanti‐ schen Hinwendung zum Mythos, die im Einklang mit seiner späten Annäherung an Schopenhauer steht, 89 kehrte Gregorovius zu seinen römischen Anfängen zurück, als ihm die monumentale Vergangenheit der Stadt „Ewigkeit und ein Kultus“ waren, „da der Mensch aus dem Profanen in das Mysterium aufgenommen wird“. 90 Im Unterschied etwa zu Theodor Mommsen, dem Rom, ähnlich wie für Gregorovius, emotional und wissenschaftlich zur „seconda patria“ geworden war, der jedoch mit‐ tels der konsequenten Historisierung des Altertums und eines modernen Realismus auf eine Entmythisierung der ‚ewigen Stadt‘ hinarbeitete, 91 verharrte Gregorovius bei seiner Sicht vom „Weltknoten“, auch als das „alte Europa zu Grunde geht“, nach

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bildes nach 1870, in: Ferdinand Gregorovius und Italien (wie Anm. 6), S. 202–216 sowie Anna Maria Voci, Deutscher Widerstand gegen die „Vernichtung Roms“ im Jahre 1886. Neue Quellen zu einem alten Thema, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft, 43 (2016), S. 125–147. Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 4), Eintrag vom 11. Oktober 1889, S. 429. Das Zitat stammt aus: Iacopo Nardi, Le Istorie della Citta di Fiorenza, Lyon 1582, Libro Sesto, S. 158; siehe zum Brief von Gregorovius an Raffaele Mariano, 12. Septem‐ ber 1877, in Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 10), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000152. – Gregorovius bezog die Formel in seinen Briefen gelegentlich selbstironisch auf sein eigenes Werk: Gregorovius an Wilhelm Heyd, 25. Dezember 1867, ebd., URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/ letters/G000260/nzx4_bv5_gmb. Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 4), Eintrag vom 11. Oktober 1889, S. 428. Siehe Gregorovius an Ersilia Caetani Lovatelli vom 28. Juli 1885, in: Ferdinand Gregoro‐ vius und seine Briefe an Gräfin Ersilia Caetani Lovatelli, hg. von Sigmund Münz, Berlin 1896, S. 137. Gregorovius an Karl Rosenkranz, 20. Dezember 1854, in: Gregorovius, Briefe nach Kö‐ nigsberg (wie Anm. 2), S. 174. Siehe Stefan Rebenich, Ecco Montsene. Theodor Mommsen und Rom, in: Rombilder im deutschsprachigen Protestantismus. Begegnungen mit der Stadt im „langen 19. Jahrhun‐ dert“, hg. von Martin Wallraff, Michael Matheus, Jörg Lauster, Tübingen 2011, S. 38–58, hier S. 54.

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dem Ende der weltlichen Herrschaft des Papstes, der es als „Stift“, als Achse zusam‐ mengehalten habe. 92 Der ersehnte Fortschritt erwies sich für den Geschichtsschrei‐ ber als eine Geschichte des Verlusts, die in ein unheimliches Bedrohungsszenario zu münden drohte: „[. . . ] ich sehe nur in der Gegenwart hier den gähnenden Ab‐ grund der Revolution, dort den aufgesperrten Polizeirachen der Reaction.“ 93 Seine hier artikulierte geradezu panikartige Reaktion auf die zwei Attentate auf Kaiser Wilhelm I. im Frühsommer 1878, der entsetzte Anblick des „Medusenhaupts“, wie er seine Erfahrung zu beschreiben versuchte, mögen symptomatisch erscheinen für seinen wachsenden Pessimismus und die Stärkung einer melancholischen Grund‐ disposition. 94 In der wenige Jahre vor seinem Tod niedergeschriebenen Tagebuchminiatur vom Palatin deutet sich eine romantisch anmutende Empathie mit der katholischen Kir‐ che als Opfer der noch 1866 voller Zuversicht diagnostizierten „Weltbewegung der Gegenwart“ an. Während der graue Mönch angesichts des Abbruchs seines Klos‐ ters jedoch gen Himmel blickt, findet der Geschichtsschreiber selbst, wie er be‐ reits 1854 seinem Lehrer Karl Rosenkranz versichert hatte, seine (Selbst-)Erlösung in dieser Welt: in der Verehrung der Monumente einer erhabenen Vergangenheit und in der Arbeit des Geschichtsschreibers, 95 die sich im Mythos der „Weltstadt“ Rom unlösbar miteinander verbinden. Man kann die „Geschichte der Stadt Rom“ des Königsberger Historikers demnach durchaus als Frucht seines 1848 geäußer‐ ten Bedürfnisses nach „religiöser Lebensdurchdringung“ interpretieren, zugleich aber als Monument einer historistischen „Geschichtsreligion“, der zufolge Ideen als quasi metaphysische Kräfte den Gang der Historie bestimmen. 96 Nicht zuletzt auf‐ grund dieser von Wilhelm von Humboldt formulierten, von Leopold Ranke weiter‐ entwickelten und von ihm und Historikerkollegen wie Gregorovius praktizierten ‚Ideenlehre‘, nach der sich die Geschichte in den Bahnen übergreifender Gesetzmä‐ 92 Gregorovius an Mathilde von Humboldt, 30. Juni 1878, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 10), URL: https://gregorovius-edition.dhiroma.it/letters/ed_e23_kv4_5mb/nd54_qw4_5mb. Das mechanistische Bild vom „Stift“ benutzt Gregorovius auch im Gespräch mit Gervinus mit Bezug auf den Papst als „den großen Stift“, um den sich die „noch unzerbrochene Maschinerie der katholischen Kirche“ bewege; siehe Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 4), Eintrag vom 16. De‐ zember 1866, S. 220. 93 Gregorovius an Mathilde von Humboldt, 30. Juni 1878 (wie Anm. 92). 94 Vgl. Maurer, Italien als Erlebnis (wie Anm. 9), S. 323–336 zur Schaffung des neuen Typus einer „melancholischen“ südlichen Landschaft, in der die Suche nach den Spuren der Ge‐ schichte mit den Erfahrungen von Schwermut, Stille und Einsamkeit verschmilzt, in einem frühen Reiseessay von Gregorovius, „Idyllen vom lateinischen Ufer“ (1854). 95 Gregorovius an Karl Rosenkranz, 20. Dezember 1854, in: Gregorovius, Briefe nach Kö‐ nigsberg (wie Anm. 2), S. 175; siehe auch Fugger, Erlösung (wie Anm. 1), S. 14. 96 Siehe dazu den grundlegenden Aufsatz von Wolfgang Hardtwig, Geschichtsreligion – Wissenschaft als Arbeit – Objektivität, in: Historische Zeitschrift, 252 (1991), S. 1–32.

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ßigkeiten bewegte, resultiert die tiefgehende Ambivalenz in Gregorovius’ Bild von Papsttum und katholischer Kirche: Zum einen ist es geprägt durch kulturprotes‐ tantische, orientalistisch gefärbte antikatholische Vorbehalte und Affekte, zum an‐ deren durch die emphatisch vorgebrachte Vorstellung von dem seit dem Mittelalter durch die Päpste repräsentierten und garantierten „Weltknoten“ Rom, der sich, so das Glaubensbekenntnis des Geschichtsschreibers, letztlich auch nicht durch pro‐ testantische Kritik auffasern ließe. 97

97 Siehe oben Anm. 17.

Ferdinand Gregorovius und das Judentum Günther Wassilowsky

In den allerersten Wochen und Monaten seines langjährigen Romaufenthaltes wurde Ferdinand Gregorovius (1821–1891) auf seinen „unablässigen“ 1 Stadtspa‐ ziergängen immer wieder auch in das Gebiet des zwischen dem Kapitolshügel und dem nördlichen Tiberufer gelegenen Rione Sant’Angelo geführt. Seit 1555 befand sich dort das Ghetto der römischen Juden. 2 Der Stadtteil muss eine so große Fas‐ zination auf Gregorovius ausgeübt haben, dass es ihn immer wieder dorthin zog und er sich schließlich entschied, einen umfangreichen Essay mit dem Titel „Der Ghetto und die Juden in Rom“ zu verfassen. Am 19. Mai 1853, 3 also siebeneinhalb Monate nach seiner ersten Ankunft in Rom, konnte Gregorovius den fertigen Text an die Redaktion der „Allgemeinen Zeitung“ nach Augsburg schicken, wo er im September desselben Jahres in fünf Folgen erstmalig im Druck erschien. 4 Er fand Aufnahme in Gregorovius’ Band „Figuren. Geschichte, Leben und Scenerie in Ita‐ lien“ von 1856 5 und ist dann ab 1864 immer wieder in den zahlreichen Auflagen der „Wanderjahre in Italien“ abgedruckt worden. 6 Der Essay nimmt in mehreren Hinsichten eine Schlüsselstellung im Werk des Geschichtsschreibers Gregorovius ein und setzt gewissermaßen ein Fanal. Zusam‐ men mit den „Römischen Figuren“ 7 ist es der erste Text aus seiner Feder, der 1 Ferdinand Gregorovius, Römische Tagebücher 1852–1889, hg. von Hanno-Walter Kruft und Markus Völkel, München 1991, Eintrag vom 10. November 1852, S. 45. 2 Kenneth Stow, Il Ghetto di Roma nel Cinquecento. Storia di un’acculturazione, Rom 2014 und Daniel B. Schwartz, Ghetto. The History of a Word, London 2019. 3 Ferdinand Gregorovius an die Redaktion der Allgemeinen Zeitung, 19. Mai 1853, in: Fer‐ dinand Gregorovius, Poesie und Wissenschaft. Gesammelte deutsche und italienische Briefe (digitale Edition), hg. von Angela Steinsiek, Deutsches Historisches Institut in Rom 2017–2023, URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000005/nhc3_jfz_ klb. In seinem Tagebuch nennt er den 20. Mai 1853 als Versanddatum, siehe Gregoro‐ vius, Römische Tagebücher (wie Anm. 1), Eintrag vom 21. Mai 1853, S. 46. 4 Ferdinand Gregorovius, Der Ghetto und die Juden in Rom. I–V., in: Beilage zu Nr. 250, 252, 255, 259 und 264 der Allgemeinen Zeitung, Augsburg 7., 9., 12., 16. und 21. Septem‐ ber 1853. 5 Ferdinand Gregorovius, Der Ghetto und die Juden in Rom, in: Ders., Figuren. Ge‐ schichte, Leben und Scenerie in Italien, Leipzig: Brockhaus 1856, S. 57–138. 6 Ferdinand Gregorovius, Der Ghetto und die Juden in Rom, in: Ders., Wanderjahre in Italien, Bd. 1: Figuren. Geschichte, Leben und Scenerie aus Italien, Leipzig: Brockhaus 1864, S. 53–128. 7 Gregorovius, Römische Figuren, in: Ders., Figuren (wie Anm. 5), S. 233–310.

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Rom zum Gegenstand nimmt. Während die „Römischen Figuren“ eine ethnolo‐ gisch dichte Beschreibung der theatralischen Kultur des nach wie vor vom katho‐ lischen Barock geprägten gegenwärtigen Rom bieten, unterteilt Gregorovius den Ghetto-Text in zwei gesonderte Abschnitte, nämlich einen historischen, in dem er die Geschichte des römischen Judentums seit Pompeius (106 v. Chr. – 48 v. Chr.) rekonstruiert, und einen wiederum eher ethnologisch ausgerichteten, in dem er die sich seinen eigenen Augen bietende gegenwärtige Gestalt des römischen Judentums einzufangen versucht. Damit liegt mit dem Ghetto-Essay der erste Text überhaupt vor, in dem Gregorovius zumindest im ersten Abschnitt einen genuin historischen Durchgang von der Antike über das Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit und Mo‐ derne zu einem Thema der römischen Stadtgeschichte unternimmt. Für unsere Frage, wie Gregorovius das Judentum wahrgenommen und gedeu‐ tet hat, ist der Text von großer Aussagekraft. Zumindest, und das will ich gleich einschränkend vorausschicken, für den frühen Gregorovius. Denn unser Autor ist gerade einmal jugendliche 32 Jahre alt und noch längst kein arrivierter Romhisto‐ riker (geschweige denn ein Kenner der jüdischen Religion), als er diese Zeilen zu Papier bringt. Das ist gewiss ein Umstand, der bei der Bewertung der Perspektive und Ergebnisse des Ghetto-Textes berücksichtigt werden muss. Aber was ist es nun, das den jungen Neu-Römer bei seinen Streifzügen durch das jüdische Ghetto in seinen Bann zog? Für Gregorovius ist die Judengemeinde von Rom „die allein noch lebende Ruine des Alterthums“. 8 Während vom antiken Rö‐ mertum nichts als tote Steine übrig geblieben sind, sieht Gregorovius in den Juden Roms eine Gruppe lebendiger Menschen existieren, die in ungebrochener Tradition zur Antike stehen und die im Gegensatz zu allem anderen die Jahrtausende bis ins Heute überdauert haben. Das ist für Gregorovius umso erstaunlicher, insofern die Juden Roms im Zentrum des Imperium Romanum und der Christenheit ja geradezu auf der für sie „gefährlichsten Stelle der Welt nisteten“. 9 Wenn Gregorovius also auf die Menschen blickt, die sich zwischen den Säulen des Portikus der Octavia bewegen, dann erkennt er in ihnen die einzigen Überbleib‐ sel antiker Vergangenheit, die eben nicht tot und von Efeu umrankt, sondern die nach wie vor am Leben sind und in geschichtlicher Unmittelbarkeit zur römischen Antike stehen. Das ist es, was für Gregorovius im Kern das historische Faszinosum des römischen Judentums ausmacht. Seine Nachzeichnung der konkreten Geschichte dieser Religionsgruppe in der Stadt am Tiber fällt dann relativ konventionell und schemenhaft aus. Gregoro‐ vius betont die Wechselhaftigkeit der Beziehungsgeschichte gemäß der persönli‐ chen Vorliebe und Gunstbereitschaft der jeweiligen Obrigkeiten. Weitgehende Dul‐ 8 Gregorovius, Ghetto (wie Anm. 5), S. 59. 9 Ebd., S. 64.

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dung und Zugeständnisse relativ freier Religionsausübung erfahren die römischen Juden seiner Meinung nach in kaiserzeitlicher Epoche, insbesondere unter Augus‐ tus (63 v. Chr. – 14 n. Chr.), Hadrian (76–138) und Vespasian (9–79). Das sollte sich ändern, als die Juden dann – wie er es nennt – unter die „Fußsohlen des Paps‐ tes“ 10 kamen. Unbeschadet der Tatsache, dass Gregorovius auch ausgesprochen ju‐ denfreundlich gesinnte Päpste wie etwa Leo X. Medici (1475–1521, ab 1513 Papst) anführt, kulminiert für ihn die vorherrschend repressive Haltung der päpstlichen Stadtherren in der Errichtung des Ghettos im Zeitalter der päpstlichen Gegenre‐ formation. 11 Bis hierher wird man Gregorovius’ Darstellung der mittelalterlichen und früh‐ neuzeitlichen Beziehungsgeschichte zwischen dem päpstlichen Christentum und dem römischen Judentum auch für seine Zeit als historiographisch nicht beson‐ ders originell einstufen können. In einem Punkt jedoch ist das anders, nämlich dort, wo Gregorovius auf ein wenig bekanntes und recht interessantes Phänomen aufmerksam macht. 12 Gregorovius ist offensichtlich bei seinen ersten romhistori‐ schen Recherchen auf ein Ritual gestoßen, das beim Zeremoniell des sogenannten Possesso immer wieder stattgefunden hat. 13 Der Possesso ist wörtlich die Inbesitz‐ nahme des römischen Bischofsstuhles und setzt ein mit einer hoch aufwendig ge‐ stalteten Reiterprozession des neu gewählten und gekrönten Papstes vom Vatikan durch die ganze Stadt bis zur Lateranbasilika. 14 Bei eben dieser Prozession zu Ponti‐ fikatsbeginn kommt es seit dem Hochmittelalter zu einer symbolischen Begegnung und Kommunikation zwischen den neuen Pontifices und Vertretern der römischen Judengemeinde. Das Ritual, das in den Quellen als ‚repraesentatio legis‘ bezeichnet wird, unterliegt starken Wandlungen. Man muss es sich aber im Kern als die Her‐ beibringung und das feierliche Zeigen einer Thora-Rolle vorstellen. 15 In die Sym‐ 10 Ebd., S. 65. 11 Als Überblick zum Verhältnis der Päpste zum Judentum vgl. Thomas Brechenmacher, Der Vatikan und die Juden. Geschichte einer unheiligen Beziehung vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2005. 12 Gregorovius, Ghetto (wie Anm. 5), S. 90–96. 13 Vermutlich ist er auf die quellengesättigte Possesso-Studie von Francesco Cancellieri (1751–1826) gestoßen: Francesco Cancellieri, Storia de’ solenni Possessi de’ Sommi Pontefici detti anticamente processi o processioni dopo la loro coronazione dalla Basilica Vaticana alla Lateranense, Rom 1802. 14 Irene Fosi, Court and City in the Ceremony of the Possesso in the Sixteenth Century, in: Court and Politics in Papal Rome, 1492–1700, hg. von Gianvittorio Signorotto und Maria Antonietta Visceglia, Cambridge 2002, S. 31–52. 15 Vgl. die Beschreibung des Rituals im „Caeremoniale Romanum“ (1488) von Agostino Pa‐ trizi Piccolomini (1435–1495): „Cum pontifex pervenerit ad montem Iordanum, Iudei illi obviam veniunt et genuflexi legem pontifici offerunt, lingua hebrea legem laudantes, et hortantes pontificem ut illam veneretur.“ (L’œeuvre de Patrizi Piccolomini ou le cérémo‐ nial papal de la première Renaissance, hg. von Marc Dykmans, Vatikanstadt 1980, S. 81)

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bolhandlung integriert ist ein Dialog zwischen dem Papst und den Juden, bei dem die Juden den Papst auffordern, den göttlichen Ursprung des jüdischen Gesetzes, das sie in Gestalt der Thora-Rolle auf ihren Schultern tragen, zu bezeugen und ihre Gemeinschaft als die legitimen Tradenten dieses Gotteswortes zu bestätigen. 16 Gregorovius interpretiert das Ritual als Demütigungsritual, zu dem die Juden seiner Meinung nach gezwungen wurden und das sie und ihre Deutung der Schrift zurückweisen sollte. Ich halte eine solche Deutung für irrig. In der Perspektive der neueren historischen Ritualforschung 17 wird man diese Symbolhandlung vielmehr als konstitutives interaktives Rechtsritual interpretieren, mittels dessen die römi‐ schen Juden ihren neuen Stadtherrn je neu darauf verpflichteten, ihnen ein Leben nach dem göttlichen Gesetz zu gewähren. Sie taten dies bewusst innerhalb eines Zeremoniells, das ganz die Sprache imperialer Triumphzüge sprach und bei dem sie den neuen Papst leicht daran erinnern konnten, dass ihnen genau dieses Recht zur Befolgung der Thora einst von den römischen Kaisern (und seinen päpstlichen Nachfolgern) garantiert worden ist. Die ‚repraesentatio legis‘ muss also als ein von den römischen Juden selbst angestrebtes Ritual zur Einklage relativer Religionsfrei‐ heit und damit zur Identitätssicherung einer religiösen Minderheit in einem hege‐ monial christlichen Kontext begriffen werden. Es ist das Verdienst von Gregorovius, auf dieses Ritual aufmerksam gemacht und ihm für das jüdisch-christliche Verhältnis eine Bedeutung zugeschrieben zu haben, auch wenn seine konkrete Interpretation falsch sein mag. Seine Deutung ist geprägt von einer grundsätzlichen Sichtweise, welche die Juden in der Geschichte nicht als Akteure, sondern als rein passive Erdulder ihres Schicksals, als – in den Worten von Gregorovius – „sklavisch [. . . ] mehr als alle anderen Sklaven“ 18 sieht. Als Leo Baeck (1873–1956) den Ghetto-Text im Jahr 1935 (also gewiss politisch motiviert) im Berliner Schocken Verlag als Einzelpublikation noch einmal promi‐ nent herausgibt, stellt er ihm ein ziemlich kritisches Geleitwort voran und wirft Gregorovius vor allem Folgendes vor: „Von dem, was in den Menschen lebte, was ihr Wille, ihre Gewißheit, ihre Hoffnung, ihr Suchen, ihr Erkennen war, davon weiß er wenig, danach fragt er kaum. Zu dem Schrifttum dieser Gemeinde des Buches, 16 „Pontifex vero, illis auditis, in hanc sententiam respondet: ‚Sanctam legem, viri hebrei, et laudamus et veneramur, utpote que ab omnipotenti Deo per manus Moysi patribus vestris tradita est. Observantiam vero vestram, et vanam legis interpretationem damnamus atque improbamus, quia salvatorem quem adhuc frustra expectatis, apostolica fides iam pridem advenisse docet et predicat Dominum nostrum Iesum Christum, qui cum Patre et Spiritu Sancto vivit et regnat Deus in secula seculorum‘“ (ebd.). 17 Gerd Althoff, Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter, 2. Aufl., Darmstadt 2013; Barbara Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe – Thesen – Forschungsperspektiven, in: Zeitschrift für historische Forschung, 31 (2004), S. 489–527; Dies., Rituale, Frankfurt a. M. 2013. 18 Gregorovius, Ghetto (wie Anm. 5), S. 64.

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zu ihrem Denken und Dichten, zu ihrer inneren, in ihnen selbst bestimmten Ge‐ schichte gelangt er nicht hin.“ 19 Leo Baeck benennt hier die Grenze einer ‚monumentalen Geschichtsschrei‐ bung‘, 20 die ganz von der äußeren Anschauung ausgeht und von den in der Ge‐ genwart übriggebliebenen Erscheinungsformen her historische Rückschlüsse zieht. Ein solcher Zugang gelangt, wenn nicht andere Quellen einbezogen werden, eben nur sehr schwer zu mentalen Vorstellungswelten, den Motiven und Antriebskräften intentional handelnder historischer Subjekte. Problematischer noch müssen dem heutigen Leser des Ghetto-Textes bei kri‐ tischer Lektüre jedoch die Stereotype vorkommen, mittels derer Gregorovius von ihm identifizierte äußere Erscheinungsformen des römischen Ghettos wahrnimmt, beschreibt und schließlich erklärt. Dass sich bei den Juden alles ums Geld dreht und das Ghetto voller Zinswucherer ist, sieht Gregorovius als sich durchziehendes Kon‐ tinuum der Geschichte und als Tatsache erwiesen. 21 Antijüdische und misogyne Deutungsmuster verbinden sich dann in seinen Darlegungen zu den sogenannten „Judenweibern“, die sich als magische Wahrsagerinnen und hexerische Zauber‐ künstlerinnen aus dem Ghetto in die Stadt schleichen würden, um „vornehmen Damen Träume zu deuten, Liebestränke zu verkaufen und Lustmittel anzubie‐ ten“. 22 Als historische Belege hierfür werden eine Satire Juvenals und eine nicht weniger judenfeindliche Bulle Pius’ V. von 1569 zitiert. Aber Gregorovius ist sich auch für seine Zeit sicher: „Ich zweifle übrigens nicht daran, daß noch heute Juden‐ weiber solche Zauberkünste und Liebestränke heimlich in die Häuser tragen.“ 23 Als Gregorovius schließlich im zweiten Textteil ein Bild des gegenwärtigen Ghet‐ tos zu zeichnen versucht, wird die Szenerie noch einmal von einer ganz anderen Tä‐ tigkeit der Juden dominiert: nämlich dem Sammeln und Flicken von Alttextilien. Israel sitzt bei Gregorovius vor seinen Hütten auf Bergen von Lumpen, Lappen, Fetzen, durchwühlt diese und näht sie in rastloser Geschäftigkeit wieder zusammen. „Ich habe nimmer ähnlichen Plunder gesehen“, so schreibt er, „sie wühlen in dem Meer von Flicken, als suchten sie nach Schätzen, wenigstens nach einem versunke‐ nen Goldbrokätchen.“ 24 19 Ferdinand Gregorovius, Der Ghetto und die Juden in Rom. Mit einem Geleitwort von Leo Baeck, Berlin: Schocken Verlag 1935, S. 5 f. 20 Siehe hierzu auch Michael Borgolte, Zwischen „englischem Essay“ und „historischer Studie“. Gregorovius’ „Grabmäler der Päpste“ von 1854/81, in: Ferdinand Gregorovius und Italien. Eine kritische Würdigung, hg. von Arnold Esch und Jens Petersen, Tübingen 1993, S. 97–116, hier S. 115 f. 21 Dieses Judenbild scheint immer wieder im gesamten Ghetto-Text durch, vgl. z. B. Grego‐ rovius, Ghetto (wie Anm. 5), S. 109 f. 22 Ebd., S. 79. 23 Ebd., S. 80 f. 24 Ebd., S. 124.

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Gerade in diesen Textteilen oszilliert die Darstellung in eigentümlicher Weise zwischen einfühlendem Mitleid und schreckender Abstoßung. Einerseits wird das Elend der römischen Juden in aller Drastik geschildert: die Not des „Plunderge‐ schäftes“, die grassierende Armut, die Enge und der Schmutz der Gassen, das Leben mit der ständigen Bedrohung durch das Tiberhochwasser, all die Menschen mit „braungelbem Angesicht“, ohne „Schönheit der Gesichtszüge“. Gleichzeitig sind es gerade diese Dinge, von denen sich der Autor mit einiger Abscheu schreibend distanziert. Noch problematischer jedoch: Weder die von den Juden notgedrungen betriebe‐ nen Bank- und Geldgeschäfte noch den Handel mit Altmaterialien erklärt Gregoro‐ vius von den kontextuellen ökonomischen Rahmenbedingungen her, die den Juden obrigkeitlich gesetzt waren. Etwa, dass den römischen Juden ab Mitte des 18. Jahr‐ hunderts durch päpstliche Edikte jeglicher Handel mit anderen Gütern jenseits von Alttextilien strikt untersagt wurde. 25 Stattdessen leitet er diese Phänomene von einem – wie er es formuliert – „echt jüdischen Wesen“ und einem „Naturell der Hebräer“ her. 26 Diese Art des historischen Essenzialismus kulminiert schließlich in der Behaup‐ tung, dass die Juden selbst in ihrer spezifischen Eigenart die Ursache dafür wären, dass sie in der Geschichte stets verachtet und schließlich separiert worden sind: „Ich möchte behaupten, daß die Schuld jener in allen Zeiten gleich großen Judenverach‐ tung in dem Naturell der Hebräer selbst lag, welche den Römern durch eine an die Karikatur streifende Persönlichkeit lächerlich sein mussten.“ 27 Neben dem ‚Karikierten‘ und ‚Lächerlichen‘, das nach Gregorovius im Sein der Juden liegt, wäre es ihr überstarker „Nationalstolz“, eine „Verachtung gegen jeden anderen Glauben“ und ihre „kastenhafte Absonderung“, welche die „gesitteten Eu‐ ropäer“ dazu geführt hätten, die Juden „in die Menagerie eines Ghettos“ einzusper‐ ren. 28 Zusammenfassend lässt sich also festhalten: Wir begegnen im Ghetto-Aufsatz einem ganzen Set von zeittypischen, zur Jahrhundertmitte weit verbreiteten negati‐ ven Stereotypen der Judentumswahrnehmung und Judentumsdeutung. Ein solcher Befund ist umso signifikanter, da wir es bei unserem 32-jährigen Autor mit einem gewiss nicht prinzipiell judenfeindlich eingestellten, sondern vielmehr – wie ich nach wie vor sagen würde – einem grundsätzlichen Sympathisanten jüdischer Min‐ derheiten und einem dezidierten Befürworter ihrer gesellschaftlichen Emanzipa‐ tion und bürgerrechtlichen Gleichstellung zu tun haben. Vergleicht man Gregoro‐ 25 Marina Caffiero, Storia degli ebrei nell’Italia moderna. Dal Rinascimento alla Restaura‐ zione, Rom 2014. 26 Gregorovius, Ghetto (wie Anm. 5), S. 80. 27 Ebd. 28 Ebd.

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vius’ Text mit den eindeutig antijüdischen Ghetto-Schilderungen anderer nicht-jü‐ discher Autoren aus derselben Zeit, wie etwa die eines Jacob Burckhardt (1818– 1897) 29 oder des ja durchaus liberaldemokratisch gesinnten Schriftstellers Ernst Willkomm (1810–1886) 30, dann tritt der Unterschied deutlich zutage. 31 Aber selbst die Perzeption und Interpretation eines grundsätzlich vom Judentum fas‐ zinierten und ihm geneigten Autors wie Gregorovius kommt offensichtlich nicht ohne die herrschenden judenabwertenden Vorstellungen, Denkfiguren, Bilder und Ressentiments aus. Gregorovius lässt seinen Ghetto-Essay schließlich enden mit einer Beschreibung der jüdischen Liturgie des Pessachfestes, der er während seiner ersten römischen Os‐ tertage in einem der Tempelsäle des Cinque scuole-Gebäudes beiwohnte. 32 Absolut bemerkenswert und für seine Zeit sicher singulär ist, wie sehr er in diesem Zusam‐ menhang die fundamentale Verwurzelung des Christlichen im Jüdischen hervor‐ hebt. Und auch die Stadt Rom sieht er nach seinen Gängen durch das Ghetto und nach dieser Pessachfeier als zutiefst vom Judentum geprägt. Weder das Christentum noch die Stadt Rom sind ohne das Judentum verstehbar. Vom Mose des Michel‐ angelo über die Sixtinische Decke bis zum Miserere der päpstlichen Kar-Liturgie: „[. . . ] überall springt in die Augen Geist und Gestalt des Hebräertums“. 33 Diese Ambiguität des Ghetto-Essays, der eben changiert zwischen der Repro‐ duktion negativer Stereotype über das ‚Wesen‘ des Judentums und der Wertschät‐ zung seiner kulturellen Leistungen und Prägekraft, dürfte im Folgenden dann auch verantwortlich sein für die widersprüchliche Aufnahme des Textes. Um nur einige Schlaglichter auf die komplexe Rezeptionsgeschichte zu werfen: Zustimmend, aber ganz im Dienst einer gezielt antijüdischen Propaganda zitiert beispielsweise die ka‐ tholische „Wiener Kirchenzeitung“ die Stellen über das „Naturell“ und die „Schuld“ der Juden. 34 Aufgrund derselben Aussagen wird Gregorovius vom jüdischen Pu‐ blizisten Leopold Kompert (1822–1886) scharf kritisiert und der Gefühlskälte ge‐

29 Jacob Burckhardt, Schilderungen aus Rom, in: Unbekannte Aufsätze Jacob Burck‐ hardt’s aus Paris, Rom und Mailand, hg. von Josef Oswald, Basel 1922, S. 135–149. 30 Ernst Willkomm, Italienische Nächte. Reiseskizzen und Studien, Bd. 1, Leipzig 1847, S. 374–377. 31 Aram Mattioli, Das Ghetto der „ewigen Stadt“ im Urteil deutschsprachiger Publizisten (1846–1870), in: Zwischen Selbstbehauptung und Verfolgung. Deutsch-jüdische Zeitun‐ gen und Zeitschriften von der Aufklärung bis zum Nationalsozialismus, hg. von Michael Nagel, Hildesheim [u. a.] 2002, S. 159–186. 32 Gregorovius, Ghetto (wie Anm. 5), S. 129–135. 33 Ebd., S. 137. 34 Wiener Kirchenzeitung vom 9. Oktober 1861 (Nr. 41), S. 652: „[. . . ] daß selbst der freund‐ liche Gregorovius mitten in seinem Lobe seinen Tadel über das ‚Karikierte und Pulcinellar‐ tige im echt jüdischen Wesen‘ nicht unterdrücken kann“.

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genüber jüdischem Leid bezichtigt. 35 Auf der anderen Seite waren 1856 Auszüge des Ghetto-Textes auch in einem jüdischen Blatt abgedruckt worden. 36 Und auch Leo Baeck hätte ihn – bei aller Kritik – bestimmt nicht wiederveröffentlicht, wenn er in ihm eine eindeutig judenfeindlich gesinnte Schrift gesehen hätte. Dass der Text dann in der Zeit des Nationalsozialismus für viel zu judenfreundlich gehal‐ ten worden sein muss, dafür spricht, dass er in die Ausgaben der „Wanderjahre in Italien“, die in unterschiedlichen Verlagen in den Jahren 1937, 1938, 1939 und 1942 in Wien 37, Berlin 38 und Dresden 39 erschienen, bezeichnenderweise komplett nicht aufgenommen wurde. Unabhängig von dieser paradoxen Rezeption steht au‐ ßer Frage, dass der Ghetto-Text enorm anregend wirkte für die Erforschung der Geschichte des römischen Judentums. So gehen die beiden 1893 und 1896 erschie‐ nenen gleich betitelten, ersten Monographien zur „Geschichte der Juden in Rom“ von Abraham Berliner (1833–1915) 40 sowie Hermann Vogelstein (1870–1942) und Paul Rieger (1870–1939) 41 nachweislich auf das von Gregorovius angemeldete Desiderat zurück. Was wir aber abschließend – und durchaus über Gregorovius hinaus – festhal‐ ten können: Noch Mitte des 19. Jahrhunderts, das heißt vor den großen antisemi‐ tischen Polarisierungswellen, konnten in ein und demselben Text grundsätzliche Sympathie mit dem Jüdischen und antijüdisch-abwertende Denkfiguren eng mit‐ einander verbunden sein. Aber machen wir noch einen Sprung in eine spätere Zeit, genauer in das Jahr 1884, als Gregorovius Rom längst verlassen hatte und bereits seit einem Jahrzehnt in München lebte. Der Kontext ist dreißig Jahre nach dem Ghetto-Essay ein völlig anderer. Das diskursive Feld der Judenfrage im Kaiserreich war nun ganz wesentlich strukturiert einerseits durch die politische Organisation eines neuartigen Rassen‐

35 Leopold Kompert, Auf dem Monte Pincio, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 7: Ver‐ streute Geschichten, Leipzig 1887, S. 94–122. 36 Jeschurun. Ein Monatsblatt zur Förderung jüdischen Geistes und jüdischen Lebens in Haus, Gemeinde und Schule, Jg. 2, H. 12, Frankfurt a. M. 1856, S. 664–672 und Jg. 3, H. 2, S. 88–100. 37 Bernina Verlag 1937, 1942. 38 Deutsche Buch-Gemeinschaft 1937, 1939, 1942. Im Vorwort der Ausgabe von 1937 heißt es lapidar: „[. . . ] die veränderten Zeitumstände haben es jedoch notwendig gemacht, einige Aufsätze wegzulassen.“ Deutsche Bibliothek 1938. 39 Wolfgang Jess Verlag 1939. 40 Abraham Berliner, Geschichte der Juden in Rom von der ältesten Zeit bis zur Gegenwart, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1893. 41 Hermann Vogelstein und Paul Rieger, Geschichte der Juden in Rom, 2 Bde., Berlin 1895.

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antisemitismus, 42 wie ihn etwa die 1878 vom protestantischen Berliner Hofpre‐ diger Adolf Stoecker (1835–1909) gegründete „Christlich-Soziale Arbeiterpartei“ verkörperte. 43 Und andererseits hatte der sogenannte „Berliner Antisemitismus‐ streit“ 44 von 1879/1880 die beiden Lager der deutschnational gesinnten Anhänger Heinrich von Treitschkes (1834–1896) und der Liberalen hinter Theodor Momm‐ sen (1817–1903) hervorgebracht. Öffentliche Stellungnahmen von Gregorovius zu diesen Debatten liegen nicht vor. Einem Brief aus dem Spätjahr 1880 an seinen Freund, den katholischen Kirchenhistoriker Raffaele Mariano (1840–1912), kann man jedoch entnehmen, dass Gregorovius Adolf Stoecker für einen pseudo-christli‐ chen Judenhetzer hielt und dass er eine von Mommsen und 74 anderen Persönlich‐ keiten des öffentlichen Lebens unterzeichnete, in der Berliner „National-Zeitung“ erschienene Erklärung, die eine „Antisemiten-Petition“ verurteilte und sich gegen das Treitschke-Lager richtete, sehr begrüßte. 45 Das ist in groben Zügen der Hintergrund, um wiederum einen GregoroviusBrief von 1884 – diesmal von Anfang an für die Veröffentlichung bestimmt – ange‐ messen einordnen zu können. In ihm finden sich die grundsätzlichsten Überlegun‐ gen zum Judentum aus der Feder des Dreiundsechzigjährigen. Entstanden ist diese Quelle als Antwort auf eine Intellektuellenbefragung, in welcher der jüdische Wie‐ ner Journalist Isidor Singer (1857–1927) 54 prominente Europäer aus Literatur, Kunst, Kultur und Wissenschaft um ihre Meinung zum Antisemitismus und zur

42 Peter Schäfer, Kurze Geschichte des Antisemitismus, München 2020, S. 187–228; Anti‐ semitismus im 19. Jahrhundert aus internationaler Perspektive, hg. von Mareike König und Oliver Schulz, Göttingen 2019. 43 Imke Scheib, Christlicher Antisemitismus im deutschen Kaiserreich. Adolf Stoecker im Spiegel der zeitgenössischen Kritik, Leipzig 2021; Vom Anti-Judaismus zum Anti-Israe‐ lismus. Der Wandel der Judenfeindschaft in theologisch-kirchlichen Diskursen, hg. von Ekkehard W. Stegemann und Wolfgang Stegemann, Stuttgart 2021. 44 Zum Berliner Antisemitismusstreit siehe: Der Berliner Antisemitismusstreit, hg. von Wal‐ ter Boehlich, Frankfurt a. M. 1965 (Neuauflage 1988); Karsten Krieger, Der ‚Berliner Antisemitismusstreit‘ 1879–1881. Eine Kontroverse um die Zugehörigkeit der deutschen Juden zur Nation, 2 Bde., München 2003; Ders., Berliner Antisemitismusstreit, in: Hand‐ buch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, hg. von Wolf‐ gang Benz, Bd. 4: Ereignisse, Dekrete, Kontroversen, Berlin 2011, S. 41–45. 45 Gregorovius an Raffaele Mariano, 21. November 1880, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 3), URL: https://gregorovius-edition.dhiroma.it/letters/ed_fxr_wnc_tlb/nnc2_tj5_5lb.

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„Judenfrage“ gebeten hatte. 46 1885 erschienen die Ergebnisse dieser Befragung un‐ ter dem Titel „Briefe berühmter christlicher Zeitgenossen über die Judenfrage“. 47 Gleich zum Einstieg bekundet Gregorovius hier in aller Eindeutigkeit seinen „Widerwillen gegen den Antisemitismus und jene Ausbrüche des rohen Volkshas‐ ses, welche dargethan haben, dass die gepriesene Humanität unseres Zeitalters oft nur ein Firniss ist, der eine alte, stets sich wieder regende Barbarei verdeckt. Meine Sympathie für die lange gemisshandelten Bekenner des Judenthums habe ich nie verleugnet.“ 48 Dann folgt eine Art kulturgeschichtliche Einordnung des jüdischen Volkes. Gre‐ gorovius stellt das Judentum auf eine Stufe mit seinem geliebten antiken Griechenund Römertum. Allen dreien schreibt er eine kosmopolitische, das heißt auf das gesamte Menschengeschlecht bezogene Bedeutung und „Mission“ zu. Während die Griechen der Menschheit die humane Bildung und die freiheitliche Staatsidee und die Römer das bürgerliche Recht gebracht hätten, ginge auf das Judentum die Ent‐ deckung des Monotheismus zurück, aus dem seiner Meinung nach die Vorstellung menschlicher Gottebenbildlichkeit und damit die fundamentalste Grundlegung der Menschenwürde erwächst. Hier wird also nun inhaltlich gefüllt, worin der zivi‐ lisatorische Beitrag und das spezifische Erbe jener im Ghetto-Aufsatz bewunderten „alleine noch lebenden Ruine des Altertums“ besteht. Ähnlich wie im Ghetto-Aufsatz betont Gregorovius die jüdische Durchdrin‐ gung des Christentums: „Die großen Grundgedanken in ihm sind jüdisch.“ 49 „Das Christentum war eine Evolution des Mosaismus.“ 50 Allerdings sei auch „manches Verderbliche von diesem auf die christliche Kirche übergegangen“. 51 Nirgends tritt so deutlich der protestantische Hintergrund von Gregorovius zutage, 52 wie wenn 46 Thomas Gräfe, Der Hegemonieverlust des Liberalismus. Die „Judenfrage“ im Spiegel der Intellektuellenbefragungen 1885–1912, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung, 25 (2016), S. 73–100. 47 Isidor Singer, Briefe berühmter christlicher Zeitgenossen über die Judenfrage. Nach Ma‐ nuskripten gedruckt und mit Autorisation der Verfasser zum ersten Male herausgegeben, mit biographischen Skizzen der Autoren und einem Vorwort versehen, Wien 1885, S. 68– 75 (Brief von Gregorovius an Singer vom 17. Juni 1884). Jetzt neu ediert und kommentiert: Gregorovius an Isidor Singer, 17. Juni 1884, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 3), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/ ed_r1w_kcb_dsb. 48 Brief Gregorovius an Singer (wie Anm. 47), S. 69. 49 Ebd., S. 71. 50 Ebd. 51 Ebd., S. 74. 52 Dominik Fugger, Erlösung durch Verehrung und Arbeit. Ferdinand Gregorovius und die Geschichte als existentielle Erfahrung, in: Transformationen des Historischen. Geschichts‐ erfahrung und Geschichtsschreibung bei Ferdinand Gregorovius, hg. von dems., Tübingen 2015, S. 1–23.

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der ehemalige Königsberger Theologiestudent allgemeine Religionskritik betreibt. Das ist in seinen Tagebüchern genauso zu greifen, wie wenn er in seinen Italienschil‐ derungen katholische Frömmigkeitspraktiken beschreibt. Auch die Parallelisierung von Judentum und römischem Katholizismus als Religionen des äußerlichen Kul‐ tes, des Wunder- und Aberglaubens, als Religionen mit einer Priesterkaste und einer typischen Überheblichkeit gegenüber dem Staat – das alles sind feste Elemente aus dem Arsenal protestantischer Kontroverstheologie seit der Reformation gegenüber den judaisierenden Papisten. 53 Ich möchte als meinen letzten Punkt noch auf einen Fragenkomplex eingehen, der im Brief von 1884 eine zentrale Rolle spielt, mit dem bestimmte Ideen des Essays von 1853 aufgegriffen, aber doch auch weiterentwickelt werden, und anhand des‐ sen man Gregorovius in der zeitgenössischen Debatte nach dem „Berliner Antisemi‐ tismusstreit“ recht gut verorten kann. Gregorovius ringt in seinem Brief für Isidor Singer mit einer Antwort auf die Gretchenfrage nach dem Grund des Judenhasses in Geschichte und Gegenwart. Von seiner Auffassung, dass die Ursache in einem kol‐ lektiven „Wesen“ und „Charakter“ der Juden selbst liegt, lässt er auch 30 Jahre nach dem Ghetto-Aufsatz nicht ab. Immer noch besteht für ihn eine zentrale Eigenart des Judentums in einer Haltung der „Absonderung“ 54 gegenüber allem Nicht-Jü‐ dischen, das von einem Selbstbild singulärer göttlicher Auserwähltheit herrührt und zu einer „kastenartigen Ausschließlichkeit“ hinführt. Eine solche „nationale Abgeschlossenheit“ gegenüber dem Fremden wäre ursprünglich allen Völkern eigen gewesen. Aber während alle anderen Kulturvölker dieses Selbstbild im Laufe der Geschichte abgelegt hätten, hätte das Volk der Juden daran festgehalten. Nicht zu‐ letzt deswegen, weil ihm nach Vertreibung und Zerstreuung ein territorialer Staat fehlte. Dieser Habitus der Absonderung und Überhebung hätte das Judentum zwar in seinem Bestand erhalten (und das, obwohl ihm ein Staat fehlte), aber eben in den Kontexten, in denen Juden lebten, zu Hass, Marginalisierung und Separation geführt. Wörtlich heißt es: Die Unfähigkeit, die Lebensweise der gesitteten Culturvölker anzunehmen, hat für die Juden schon seit dem Alterthume die Ausschließung von vielen Rechten und Gütern der Civilisation zur Folge gehabt, und endlich zum Verluste ihrer Bürgerrechte und zur Absperrung im Ghetto des Mittelalters die Veranlassung gegeben. Mauern und Thore schützten sie dort gegen die Verfolgung der Christen, so dass diese Massregel eine wohltätige gewesen ist. 55

53 Zu Gregorovius’ Wahrnehmung des Katholizismus vgl. den Beitrag von Martin Baumeister in vorliegendem Band. 54 Brief Gregorovius an Singer (wie Anm. 47), S. 73. 55 Ebd., S. 74.

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Also zumindest für Antike und Mittelalter galt: soziale (und durchaus protektive) Ausschließung jener, die sich sozial ausschließen. Freilich ist eine solche These aus heutiger Sicht irritierend. Dahinter stehen jedoch eine gewisse Zivilisationstheorie und eine bestimmte Auffassung davon, was die Moderne und den modernen Natio‐ nalstaat für Gregorovius ausmacht. Von Treitschke, Mommsen und auch Gregorovius teilten allesamt die Grundan‐ nahme einer religiös-ethnischen ‚Sonderart‘ der Juden, die sie im deutschen Natio‐ nalstaat ‚abzustreifen‘ hatten und angesichts derer alle drei die Forderung nach um‐ fassender Assimilation und Anpassung stellten. Für Treitschke mussten die Juden als potenzielle „Reichsfeinde“ endlich „innerlich deutsch“ werden. 56 Bei Mommsen waren sie schon Deutsche, 57 mussten aber, wie jüdische Kommentatoren befürch‐ teten, bei ihm „um des Deutschthums willen“ 58 Christen werden. Gregorovius setzt hier viel grundsätzlicher an. Er sieht den „Culturgeist Euro‐ pas“ vor allem darin bestehen, jede Form kultureller Ausschließung und Überheb‐ lichkeit zu überwinden. Für ihn sind die europäischen Nationen von einem viel‐ fältigen kulturellen Erbe geprägt und der Nationalstaat nicht auf der Grundlage weltanschaulicher oder religiöser, ethnischer oder gar rassischer Homogenität zu errichten, sondern eben auf der Grundlage der zivilisatorischen Errungenschaft der Überwindung eines Geistes der Abschließung. Eine solche Sicht der Dinge kann man für ziemlich zukunftweisend halten. Die Warnung vor Ausgrenzung und Überhebung gilt für Gregorovius allen religiösen Bekenntnissen – und auch dem Nationalstaat. Daher ist es dieser Punkt, bei dem die liberalen Reformer des Juden‐ tums seiner Meinung nach auf ‚Assimilierung‘ hinwirken müssen. Gregorovius lässt seinen Brief von 1884 mit einer gesellschaftlichen Vision en‐ den: „Ich habe es schon ehedem für wahrscheinlich gehalten, dass dem 20. Jahr‐ hunderte die grosse Aufgabe zufallen wird, die Gesellschaft neu zu gestalten.“ Und dann träumt er von einer Art Völkerbund, „worin es keine sich ausschliessenden 56 Heinrich von Treitschke, Unsere Ansichten, in: Preußische Jahrbücher, 44 (1879), S. 559–576; Ulrich Wyrwa, Genese und Entfaltung antisemitischer Motive in Hein‐ rich von Treitschkes „Deutscher Geschichte im 19. Jahrhundert“, in: Antisemitische Ge‐ schichtsbilder, hg. von Werner Bergmann und Ulrich Sieg, Essen 2009, S. 83–102; Karsten Krieger, Treitschke, Heinrich Gotthard von, in: Handbuch des Antisemitismus. Juden‐ feindschaft in Geschichte und Gegenwart, hg. von Wolfgang Benz, Bd. 2: Personen, Berlin 2009, S. 838–839. 57 Theodor Mommsen, Auch ein Wort über unser Judenthum, Berlin 1880; Wolfgang Benz, Antisemitismus als Zeitströmung am Ende des Jahrhunderts, in: Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts, hg. von Hanna Delf von Wolzogen und Helmuth Nürnberger, Würzburg 2000, S. 157–168; Krieger, Mommsen, Theodor, in: Handbuch des Antise‐ mitismus, Bd. 2 (wie Anm. 56), S. 559–561. 58 Ludwig Philippson, Rezension der Broschüre Mommsens, in: Allgemeine Zeitung des Judenthums, Jg. 44, Nr. 52, 28. Dezember 1880, S. 821.

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Glaubensbekenntnisse und Kirchen mehr geben wird“. 59 Man könnte den Satz so verstehen, dass Gregorovius hier das Ideal einer grundsätzlich religionsfreien Mo‐ derne herbeisehnt. Ich würde den Satz eher als Kritik an religiösem ‚Konfessiona‐ lismus‘ und als Plädoyer für die weltanschauliche und religiöse Pluralität von Staat und Gesellschaft lesen. In jedem Falle scheint es mir eine lohnende, weiterführende Forschungsfrage zu sein, ob diese doch recht wegweisende Erkenntnis in Gregorovius nicht bei seinen Spaziergängen durch das jüdische Ghetto Roms und durch das von vielen Kulturen und Religionen geprägte kosmopolitische Rom, das sich nur dem oberflächlichen Blick als eine homogen christlich-päpstliche Stadt darstellt, ganz wesentlich gereift ist.

59 Brief Gregorovius an Singer (wie Anm. 47), S. 75.

Der in die Politik verirrte Dichter Gregorovius’ Erzählung von Cola di Rienzo in der „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“ Markus Bernauer

Ein Irrtum stehe am Anfang: Die Lektüre des elften Buches der „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“ eben abgeschlossen, bin ich auf der Suche nach literari‐ schem Stoff für den Vortrag in einem Antiquariatsportal auf die Übersetzung von Eduard Bulwer-Lyttons Roman „Rienzi“ gestoßen (Abb. 1). Das Titelblatt gibt kein Jahr, der Händler datierte nicht; bei einer Suche anhand des Verlages war das Jahr 1937 zu finden. Plausibel angesichts des penetrant darge‐ stellten römischen Grußes und dem heutigen Wissen, dass „Rienzi“ das von Hitler bevorzugte Musikdrama Wagners war. 1 Nur war das Buch über Fernleihe nicht zu

Abb. 1: Edward Bulwer Lytton, Rienzi, der letzte der Tribunen, Berlin [1909]. Ausgabe des Verlags A. Weichert mit der Umschlaggestaltung von Max Honegger

1 Siehe Hans Rudolf Vaget, „Den liebe ich besonders“. Hitlers Rienzi, in: Wagnerspectrum, 5, Jg. 2009, H. 1 (Schwerpunkt: Wagner und seine Dirigenten), S. 129–149.

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bekommen, es traf mehrfach ein bilderloser Einband mit einem anderen Titelblatt ein. Das Rätsel löste sich nur durch viel Aufwand: Der schöne Einband gehört zur Ausgabe, die von August Weichert 1909 herausgebracht, auch durch den GlobusVerlag vertrieben wurde und in den dreißiger Jahren einen Neudruck erlebte. Die Einbandzeichnung ist mit „M. H.“ signiert: Max Honegger, dem auch Karl May‐ Bände ihr Erscheinungsbild verdanken. 2 Honegger bediente sich des am Fuße des Kapitols nach dem Entwurf von Girolamo Masini 1887 aufgestellten Denkmals (Abb. 2), das eine Form des römischen Grußes zeigt, möglicherweise in Variation auf die Geste der Reiterstatue Marc Aurels oben (die Hand ist umgedreht). 3 Das Jahr 1937, Wagner und Hitler im Kopf, habe ich auf der kleinen Fotografie des Einbandes den römischen Gruß Mussolinis zu erkennen geglaubt – eine Täuschung. Mir ist also beim Anblick des Umschlags die Geschichte in die Quere gekom‐ men. Mit Cola di Rienzo hat dieses Versehen nur indirekt zu tun, aber dieses wohl: Die Nachwelt hat den Revolutionär nach ihrem eigenen Verhältnis zur staatlichen und sozialen Ordnung beurteilt, angefangen mit der Biographie eines unbekannten römischen Autors, die Lodovico Antonio Muratori in die Sammlung der „Antiqui‐ tates italicae medii aevi“ aufnahm, 4 über jene Dramatik, die sich seit dem späten 17. Jahrhundert Revolutionären widmet – neben Cola di Rienzo etwa Masaniello – 2 August Weichert gab es seit 1872 in Berlin als Verlag für Kolportage, später auch für Ju‐ gendbücher und Abenteuerromane. Zuletzt in Hannover, wurde er 1999 von Sauerländer übernommen. Der Globus-Verlag, der mit eigenem Titelblatt die Ausgabe von Weichert vermutlich in Lizenz verkaufte (ein Exemplar besitzt die Oberösterreichische Landesbi‐ bliothek Linz, Sign. I-25266), war der Verlag des Warenhauses Wertheim. Siehe Reinhard Würffel, Lexikon deutscher Verlage von A – Z. 1071 Verlage und 2800 Verlagssignete vom Anfang der Buchdruckerkunst bis 1945. Adressen – Daten – Fakten – Namen, Berlin 2000, S. 278 f. und S. 967 f. Bei dem Neudruck – so weist ihn auch das GV aus – handelt es sich um eine buchstabengenaue (einschließlich Druckfehlern!) Neuauflage auf besse‐ rem Papier und mit verändertem Titelblatt und ohne Honeggers Einbandgestaltung mit dem römischen Gruß. Hintergrund der neutralen Neugestaltung könnte gewesen sein, dass 1933 über 30.000 Titel von Weichert der Vernichtung anheimfielen und der Verlag durch NS-Behörden auf eine schwarze Liste gesetzt wurde. Der Badener Max Honegger (1860– 1955) war zeitweilig Professor für Buchgestaltung an der Akademie in Leipzig. 3 Die Statue wurde erst 1887 aufgestellt, also zwei Jahre nach Masinis Tod, dessen Be‐ schäftigung mit dem Volkstribunen freilich auf das Jahr 1871 zurückgeht. Siehe Simona Sperindei, Art. „Masini, Girolamo“, in: Dizionario Biografico degli Italiani, Bd. 71, Rom 2008, S. 621–623 sowie Flavia Matitti, „Era belo uomo“. La fortuna iconografica di Cola di Rienzo, in: Cola di Rienzo. Dalla storia al mito, hg. von Gabriele Scalessa, Rom 2009, S. 285–306, hier S. 303 f. Matitti interpretiert die Mimik und die Gestik als rhetorische Gesten bei einer Ansprache zum Volk. 4 Lodovico Antonio Muratori (Hg.), Antiquitates italicae medii aevi, Bd. 3, Mailand 1740, Sp. 251–548 u. d. T. Historiae Romanae Fragmenta, mit einer neulateinischen Überset‐ zung von Pietro Ercole Gherardi. Eine moderne Ausgabe bietet Anonimo Romano, Cro‐ nica. Edizione critica, hg. von Giuseppe Porta, Mailand 1979.

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Abb. 2: Girolamo Masini, Denkmal für Cola di Ri‐ enzo. Rom, Kapitol, 1887. Foto: Markus Bernauer

und die Historiographie des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts – also Edward Gibbon, Jean-Charles-Léonard Simonde de Sismondi und natürlich Lud‐ wig Ferdinand Huber in der von Friedrich Schiller herausgegebenen „Geschichte der merkwürdigsten Rebellionen und Verschwörungen der mittlern und neuern Zeiten“, deren erster und einziger Band 1788 noch vor dem Sturm auf die Bastille erschien, bis zu den Romantikern. Cola di Rienzos Erscheinung und Erfolg verdan‐ ken sich dem Verfall Roms, dem Exil des Papstes in Avignon und der Kontrolle, die die großen, sich bekämpfenden Familien über die Stadt gewinnen. Umgekehrt besteht – bei allen Unterschieden – Kontinuität in der Einschätzung der Person: Er habe zwischen Licht und Dunkel geschwankt, sei mehr beredt als urteilsfähig, mehr unternehmungsfreudig als entschieden und nie von klarer Vernunft geleitet gewesen – so Gibbon. 5 Huber nennt seine Ideen „überspannt“; und auch er lässt 5 Edward Gibbon, Decline and Fall of the Roman Empire, Bd. 3, New York (The Modern Library) o. J., S. 832 f. (Kap. LXX).

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durchblicken, dass es eine große, aber mit Verschleierungen arbeitende Rhetorik war, die ihm zum Durchbruch verholfen habe. 6 Und dann: Rienzi fing nun an, die Eindrücke, die seine Reden gemacht hatten, im strengsten Verstande zu versinnlichen. Dies geschah durch ein allegorisches Gemälde, da[s] er öffentlich ausstellte, wo er den traurigen Zustand Roms, die verschiedenen Leiden der Einwohner, die Laster und Verbrechen ihrer kleinen Tirannen in allerlei Sinnbildern ausgedrückt hatte. 7

Die Episode ist keine Erfindung Hubers, sondern verdankt sich dem Anonimo Ro‐ mano und taucht bei Bulwer-Lytton wieder auf. Aber mit dem Begriff der „Ver‐ sinnlichung“, der bekanntlich in der Ästhetik Schillers wichtig ist 8, schreibt Huber dem angehenden Volkstribunen ein quasi künstlerisches Handeln zu, das ihn zum Politiker macht. Die romantischen Ästheten allerdings sahen in ihm zwei oder drei Dezennien später mehr den Feuerkopf, der sie selbst gerne gewesen wären. Byron widmet ihm die Stanze 114 im IV. Gesang von „Childe Harold’s Pilgrimage“: Then turn we to her latest tribune’s name, From her ten thousand tyrants turn to thee, Redeemer of dark centuries of shame – The friend of Petrarch – hope of Italy – Rienzi! last of Romans! While the tree Of freedom’s wither’d trunk puts forth a leaf, Even for thy tomb a garland let it be – The forum’s champion, and the people’s chief – Her new-born Numa thou – with reign, alas! too brief. 9

Cola wird gefeiert als Freund Petrarcas und neugeborener Numa Pompilius zu‐ gleich – der mythische zweite König von Rom, der dem Volk und der urbs eine neue Ordnung gegeben hat. Für Byron liegt die Betonung auf dem „new-born“, 6 Ludwig Ferdinand Huber, Revolution in Rom durch Nikolaus Rienzi, im Jahre 1347, in: Geschichte der merkwürdigsten Rebellionen und Verschwörungen der mittlern und neuern Zeiten, hg. von Friedrich Schiller, Bd. 1, Leipzig 1788, S. 12. 7 Ebd., S. 21. 8 Siehe Kai Puntel, Die Struktur künstlerischer Darstellung. Schillers Theorie der Versinn‐ lichung in Kunst und Literatur, München 1986. 9 [George Gordon, Lord] Byron, Poetical Works, ed. by Frederick Page. A new edition, cor‐ rected by John Jump. London [u. a.] 1970, S. 242. Deutsch in der Übersetzung von Otto Gildemeister: „Von ihren tausend Zwingherrn blicken wir / Zum letzten Volkstribunen dieser Stadt, / Petrarcas Freund, Italiens Hort, zu dir, / Der Säcula der Schmach gesühnet hat, / Rienzi, letzter Römer! Jedes Blatt, / Das noch am welken Freiheitsbaum gediehn, / Sei wie ein Kranz für deine Ruhestatt, / Du Hirt des Volks, des Forums Paladin, / Der zweite Numa Roms! Zu bald verlor es ihn.“ (George Gordon, Lord Byron, Sämtliche Werke, Bd. 1: Childe Harolds Pilgerfahrt und andere Verserzählungen, München 1977, S. 145).

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das mit dem Attribut des „last of the Romans“ korreliert und mit der Freundschaft zu Petrarca, die Byron für seinen Traum von der Restitution Roms immer wieder anführt. Der Dichter selbst hat sich bekanntlich für ein solches Restitutionsprojekt, die Auferstehung Griechenlands, eingesetzt und sein Leben dabei gelassen. Die Stanze aus „Childe Harold’s Pilgrimage“ steht als Motto über Bulwer-Lyt‐ tons 1835 erschienenem „Rienzi. Last of the Roman Tribunes“ (und ist auch im Titel präsent). „Rienzi“ ist ein historischer Roman in der Nachfolge der ‚Waverley Novels‘, und wie Walter Scott in „Waverley, or, ’Tis sixty years since“ von 1814 ar‐ beitet er mit einer erfundenen Figur zwischen den Parteien in einem historischen Konflikt (Georg Lukács wird eine solche später einen ‚mittleren Helden‘ nennen), in diesem Fall Adrian Colonna, der sich in Colas Schwester Irene verliebt – beide übrigens von Wagner operngerecht weiterverwendet. Waverley oder Ivanhoe bei Scott, Adrian und Irene bei Bulwer-Lytton ermöglichen es nicht nur, parteiüber‐ greifend zu erzählen, sondern dienen den ihrerseits in Romanfiguren verwandelten historischen Gestalten als Spiegel, in dem sich ein Charakter in seiner Alltäglichkeit versinnlichen und verständlich machen lässt. Von epischen Erfindungen ist Gregorovius’ „Geschichte der Stadt Rom im Mit‐ telalter“ frei, auch wenn sie brillant erzählt ist. Aber natürlich weiß der Dichter des kleinen Versepos „Euphorion“ um Möglichkeit, Aufgabe und Grenzen der Fiktion in der Bearbeitung historischer Stoffe, und er spielt in der „Geschichte der Stadt Rom“ an den Rändern mit den Möglichkeiten, die ihm fiktives Erzählen eröffnet. Die altbackene Grundsatzdiskussion um die Fiktivität in historischen Erzählun‐ gen 10, die bloß zeigt, wie hoch die Mauern zwischen Historikern und Literaturwis‐ senschaftlern sind, bleibe beiseite, nur eines: Die „Geschichte der Stadt Rom“ steht bis heute bei Wissenschaftlern, deren Feld die Kunst des Mittelalters in Rom und Italien ist, im Regal als Standardwerk zur römischen Geschichte des Mittelalters – ein Standardwerk von hoher Plausibilität im Ganzen bei aller Korrekturbedürf‐ tigkeit im Einzelnen. Doch spätestens mit der großen Briefausgabe verschiebt sich die Perspektive auf Gregorovius, es kommen als Bestandteil eines wissenschaftsge‐ schichtlichen Interesses die Modalitäten der Entstehung des monumentalen Werks in den Blick. Aber so erfolgreich, wie dieses zu einem doch den meisten Lesern nicht wirklich naheliegende Thema war, und zwar von seinem ersten Erscheinen bis heute, so muss die Lektüre seit je von einem anderen Interesse geleitet gewesen sein als der Referenzialität, nämlich an der Erzählung selbst, an ihrer inneren Folgerich‐ tigkeit und ihrer Sprache. Dieses Interesse dürfte – wie für alle großen Historiker von der Antike bis ins 18. Jahrhundert – auch für Gregorovius mit der Zeit gewach‐ sen sein. Anders ausgedrückt: Vielleicht ist es jetzt so, dass uns Gregorovius selbst 10 Im Zusammenhang mit Cola di Rienzo ausführlich diskutiert von Gustav Seibt, der (na‐ turgemäß) vorsichtig den Historikern zuneigt: Anonimo romano. Geschichtsschreibung in Rom an der Schwelle zur Renaissance, Stuttgart 1992, S. 184 ff.

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zur Geschichte wird und sich seine Geschichtsschreibung in Literatur verwandelt und ihre Lektüre mehr von ästhetischem als von wissenschaftlichem Interesse grun‐ diert wird. Zurück zu Cola di Rienzo: Gregorovius’ Erzählung vom römischen Tribunen nimmt einen Großteil des elften Buches der „Geschichte der Stadt Rom im Mittel‐ alter“ ein; sie erschien 1867 im vierten Band und danach 1871, 1878 und 1893, je‐ weils zurückhaltend überarbeitet. 11 Eine Bemerkung in einem Brief an Louis Roth vom 24. Juni 1863, er werde „die Geschichte des Cola di Rienzo nach Urkunden entwickeln“ 12, legt das beabsichtigte Verfahren offen: Weder stützt er sich vorran‐ gig auf die 1841 erschienene, materialreiche Monographie des jung verstorbenen Felix Papencordt (Abb. 3), dessen aus dem Nachlass herausgegebene Materialien zur Geschichte der Stadt Rom er wenig schätzte (über „Cola di Rienzo“ habe ich nichts gefunden), noch auf eine ältere Darstellung aus zweiter Hand (Gibbon hatte sich etwa auf die „Conjuration de Nicolas Gabrini, dit de Rienzi, tyran de Rome en 1347“ des Jesuiten Jean-Antoine du Cerceau von 1733 berufen). 13 Er greift viel‐ mehr auf die Biographie des Anonimo Romano aus dem 14. Jahrhundert in einer modernisierten Ausgabe von 1828 zurück (Abb. 4) und weicht damit den zeitgenös‐ sischen Historikern ebenso aus wie dem historischen Roman mit seinen poetischen Erfindungen. 14 Dabei streift seine Erzählung die epische Fiktion, etwa wenn es um 11 Über Cola di Rienzo bei Gregorovius siehe Luigi Pirri, Cola di Rienzo giudicato dal Gre‐ gorovius (saggio critico), in: Il popolo Ernico e suoi rapporti con Roma – Cola di Rienzo giudicato dal Gregorovius, Frosinone 1909, S. 23–37 und Johannes Bartuschat, Der „letzte Römer“. Cola di Rienzo in der deutschen Kultur des 19. Jahrhunderts, in: Bilder und Zerrbilder Italiens, hg. von Alexandra Locher [u. a.], Wien [u. a.] 2010, S. 101–121. Während Pirri bemängelt, dass Gregorovius sich zu sehr an der Biographie des Anonimo Romano entlang hangle, versteht Bartuschek die Erzählung im Rahmen von Gregorovius’ Zugehörigkeit zur liberalen 48er-Bewegung und sieht darin die Rückkehr zu einer älteren, zwiespältigen Einschätzung des Tribuns. 12 Gregorovius an Louis Roth, 24. Juni 1863, in: Ferdinand Gregorovius, Poesie und Wis‐ senschaft. Gesammelte deutsche und italienische Briefe (digitale Edition), hg. von Angela Steinsiek, Deutsches Historisches Institut in Rom 2017–2023, URL: https://gregoroviusedition.dhi-roma.it/letters/G000178. 13 Felix Papencordt, Cola di Rienzo und seine Zeit, Hamburg-Gotha 1841. Papen‐ cordt gibt auch einen bis in die jüngste Zeit reichenden Abriss vom „Nachruhm Colas“ (S. 305 ff.). 14 Vgl. auch Papencordts Kritik an der jüngeren Historiographie. Bei der von Gregorovius verwendeten Ausgabe des Anonimo Romano handelt es sich um eine in die italienische Hochsprache übertragene und kommentierte Fassung: La Vita di Cola di Rienzo, tribuno del Popolo Romano, scritta da incerto autore nel secolo decimo quarto, ridotta a migliore lezione, ed illustrata con note ed osservazioni storico-critiche da Zefirino Re cesenate. Forlì: Bordandini 1828 (eine zweite Auflage erschien 1854). Auf diese Fassung der Biographie stützte sich auch Edward Bulwer-Lytton, wie man in der ersten Ausgabe von 1835 aus den Mottos zu mehreren der Bücher und der Überschrift von Kap. I / 9 ablesen kann.

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Abb. 3: Felix Papencordt, Cola di Rienzo und seine Zeit, Hamburg, Gotha 1841

mögliche erste Begegnungen mit Petrarca geht: Dessen Blick könnte, so vermutet der Erzähler, 1337 in Rom auf einen ärmlich gekleideten jungen Mann gefallen sein, der in Ruinen Inschriften entzifferte; bei der Dichterkrönung auf dem Kapitol „mag unser Blick den aufgeregten, von Erinnerungen trunkenen Cola di Rienzo gewahren“. 15 Die vorausdeutende Platzierung bei Petrarcas Ehrung geht einher mit einer Kon‐ turierung des Dichters, die sein Erscheinen als Anzeichen eines neuen Zeitalters deutet: „Mit dem Auftreten Petrarca’s kommt in die Geschichte der Stadt Rom ein memoirenhafter Zug persönlichen Lebens und schon völlig moderner Menschlich‐ keit, wodurch zum ersten Mal handelnde Personen der Zeit in voller Leibhaftigkeit vor uns treten.“ 16 Gregorovius hat das „memoirenhaft“ später gestrichen, zu sehr mag es ihm auf die Darstellung abgefärbt haben. Das ändert nichts daran, dass er in das „persönliche Leben“ und in die „volle Leibhaftigkeit“ bei Cola di Rienzo mehr 15 Ferdinand Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter, Bd. 6, Stuttgart: Cotta 1867, S. 206 und 213. 16 Ebd., S. 207

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Markus Bernauer Abb. 4: Die wichtigste Quelle von Gregorovius Er‐ zählung der Geschichte des Cola di Rienzo, die Vita des Anonimo Romano, herausgegeben von Zefirino Re. Hier die zweite Auflage von 1854

als bei Petrarca ausgreift (was sicherlich nicht der „Vie de Pétrarque“ des Abbé de Sade zu verdanken ist, die Gregorovius trotz seiner Urkundenversessenheit verwen‐ det hat). Die erzählerische Nähe zur Figur, das gleichsam romanhafte Interesse an der Psychologie schlägt sich in Bildern nieder, die die Anlagen Colas immer von Neuem umkreisen. Ein Beispiel ist das berühmte Bad im Taufbecken in San Gio‐ vanni in Fonte, dem lateranischen Baptisterium, jener antiken Wanne, worin der Legende nach Konstantin der Große von Papst Silvester getauft worden sein soll (Abb. 5). 17 Voraus geht dem Bad die Absicht, so etwas wie eine italienische Nationalver‐ sammlung zusammenzurufen, doch dieses Programm scheitert schon an der Kon‐ stitution Colas: Er lebte in allgemeinen Theorien; er verstand sie mit logischer Consequenz zu einem großartigen Gedankensystem zu machen, aber er wurde sofort unpraktisch, mutlos und schwach, wenn ihm die wirkliche Welt entgegentrat. Der Gipfel von Ruhm und 17 Vgl. auch Papencordt, Cola di Rienzo (wie Anm. 13), S. 127. Dass die Legende von Kon‐ stantins Taufe darin falsch war, war schon lange vor Gregorovius und Papencordt bekannt.

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Abb. 5: San Giovanni in Fonte, Taufbecken: Spätan‐ tike Wanne und Abdeckung mit den Reliefs der „Taufe Christi“ und der „Taufe Konstantins durch Papst Silvester“ von Cirro Ferri und Carlo Spagna (1675/8). Foto: Markus Bernauer

Glanz verwirrte ihn; die Eitelkeit bemächtigte sich seines schwachen Verstandes, und eine unvergleichliche Phantasie, um welche die größesten Dichter ihn würden benei‐ det haben, löste vor seinem Blick die wirklichen Dinge in zauberischen Schein auf. 18

Großartige Ideen, aber kein Realitätsbewusstsein, ein Philosoph oder Theologe (in späteren Ausgaben ist das Gedankensystem „scholastisch“), aber kein Mann der Tat – das kommt Gibbon nahe. Anders die Bilder von den Feierlichkeiten, die „einen Zug aus den Ritterromanen von Amadis und Parcival“ in die Geschichte Roms bringen: Cola steht „in goldgesticktem Kleide von weißer Seide“ vor dem Volk, in der Wanne „reinigte er sich in duftendem Rosenwasser von allen Flecken der Sünde“. 19 Er lässt ein Dekret verlesen, das in Karikatur zu dem päpstlichen Segen ‚Urbi et Orbi‘ eine ähnliche Wirkung entfalten soll – „eine staunenswerte Phantasie genialen Wahnsinns“ –, er legt sich ebenso phantastische Titel zu und ist bei der Verteidigung seines Frevels doch der „geistvolle Ritter“, wobei das Attribut „geistvoll“ der Verteidigung, nicht dem Ritter gilt. 20 Zur Schau trägt er seine Eitelkeit auch mit einer grotesk anmutenden Verklei‐ dung, als er den päpstlichen Legaten treffen soll: Der Tribun ertränkte zwei ‚Ritter Hunde‘, die er Rinaldo und Jordan getauft hatte, im Bach von Marino, hob die Belagerung auf und zog nach Rom. Sofort ließ er den Palast Orsini bei S. Celso niederreißen, und ritt mit seiner Reiterei nach dem Vatican. Nichts ist ergötzlicher als der Besuch des Tribunen beim Cardinal. Von Kopf bis zu Fuß gepanzert, aber zugleich mit der in Perlen und Gold gestickten Dalmatica bekleidet, 18 Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom (wie Anm. 15), S. 267. 19 Ebd., S. 269. 20 Ebd., S. 270 f.

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welche die Kaiser bei ihrer Krönung zu tragen pflegten und die er nun in der Sakristei über seine Rüstung gezogen hatte, so schritt er wild blickend die Treppe des Palastes hinan, die silberne Tribunenkrone auf dem Haupt, den stälernen Scepter in der Hand; Trompeten schmetterten vor ihm her. ‚Du hast nach mir geschickt,‘ so sagte er zum Cardinal, ‚was steht zu Dienst?‘ Der erstaunende Legat antwortete: ‚Ich habe einige Informationen von unserm Herrn dem Papst.‘ – ‚Was sind dies für Informationen?‘ rief der Tribun mit erhobner Stimme. Der Legat sah ihn an, und schwieg. Der Tribun kehrte ihm verächtlich den Rücken, ging in seiner Kaiserdalmatica mit fantastischem Lächeln aus dem Palast, stieg aufs Pferd und brach wieder nach Marino auf. 21

Vielleicht war Gregorovius ob seiner literarischen Eingriffe selbst nicht ganz wohl, als er vor der Anrede an den Kardinal mittels Fußnote auf die Quelle wies: „Terri‐ bile e fantastico parea.“, heiße es beim Anonimo Romano. Aber das gesucht Ope‐ rettenhafte, das Gregorovius dem Auftritt mittels der vielen Hyperbeln verleiht, stützt und mildert das nicht, es ist seiner gestalterischen Absicht geschuldet: Die Dalmatica ist nicht nur mit Perlen, sondern auch mit Gold bestickt; wild blickend schreitet Cola einher, die Tribunenkrone ist silbern und das Zepter stählern, Cola geht verachtungsvoll und mit einem „fantastischen Lächeln“ ab. 22 Der Historiker baut eine Bühne vor dem inneren Auge des Lesers auf und inszeniert die Auftritte 21 Ebd., S. 295 f. 22 Beim Anonimo Romano in der von Gregorovius verwendeten Ausgabe lautet die Stelle (La Vita di Cola di Rienzo, tribuno del Popolo Romano, scritta da incerto autore nel secolo XIV, ridotta a migliore lezione, ed illustrata con note ed osservazioni storico-critiche da Zefirino Re cesenate, Florenz: Le Monnier 1854, S. 86 f.): „Poi guastò la mola, poi mosse tutta sua oste e tornò a Roma, perchè le lettere del Legato infrettavano. La dimane per tempo diéo per terra le belle palazza in piede di santo Pietro in fronte di santo Celso, poi ne gío con sua cavallería a santo Pietro, entrò ne la sagrestia, e sopra tutte le armi si vestío la dalmatica già stata d’imperatori; quella dalmatica vestono l’imperatori quando s’incoronano; tutta è di minute perle lavorata, ricco è quel vestimento. Con tale veste sopra le armi a modo de’Cesari salío al palazzo del Papa con trombe sonanti, e fu dinanti al Legato . Sua bacchetta in mano, sua corona in capo, terribile e fantastico parea. Quando fu pervenuto al Legato, parlò lo Tribuno e disse: mandaste per noi, che vi piace di comandare? rispose lo Legato: noi avemo molte informazioni di nostro signore lo Papa. Quando lo Tribuno ciò udío, gettò una voce assai alta e disse: che informazioni sono queste? Sentendo lo Legato sì rampognosa risposta, tenne a sè, e stette zitto . Diéo la volta a retro lo Tribuno, e fe guerra contro Marino, e Marino contro Romani.“ (Dann zerstörte er die Mühle, verlegte sein gesamtes Heer und kehrte nach Rom zurück, gedrängt durch Briefe des Legaten. Am folgenden Tag machte er die schönen Paläste am Fuße des Petersdoms vor San Celso dem Erdboden gleich und ver‐ fügte sich dann mit seinen Berittenen nach San Pietro, trat in die Sakristei und kleidete sich in die Dalmatica, einst Krönungshabit der Kaiser, ein prächtiger, ganz mit kleinen Perlen besetzter Stoff. Wie ein Kaiser in die Dalmatica gewandet, betrat er unter Trompetenstößen den päpstlichen Palast und trat vor den Legaten. In der Hand das Zepter, auf dem Haupt die Tribunenkrone, sah er schrecklich und fantastisch aus. Als er vor dem Legaten stand, sprach der Tribun: Ihr habt mich gerufen, wie lauten Eure Befehle? Der Legat antwortete:

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des Volkstribunen theaterhaft. Die Sache hat er in späteren Ausgaben beim Namen genannt, nach dem Sieg über die Barone trete Cola di Rienzo wie ein „Komödiant“ vor das Volk. 23 Das ist auch das Urteil über seine Wirkung im Ganzen: „Der Volks‐ tribun hatte den Römern, in ihrer tiefen Verlassenheit, ein classisches Carnevalspiel gegeben, und die Herrlichkeit der antiken Welt in einem glänzenden Triumfzug vor ihren Augen vorübergeführt.“ 24 Der Regisseur dieses Karnevalsspiels ist – wie könnte es anderes sein – auch ein großer Demagoge: Sein erstes allegorisches Gemälde, das Huber über die Versinnli‐ chung des Geistes hatte sinnieren lassen, vergleicht Gregorovius mit den Pressema‐ nifesten moderner Demagogen, die das Volk in Glut bringen wollen. Der Abschnitt schließt allerdings mit einer erstaunlichen Gleichung: Bußprediger und Demagogen im 14. Jahrhundert hätten Redefreiheit besessen, „wie heute Prediger oder Redner im freien England.“ 25 Der Ausdruck Demagoge, für uns ein Schimpfwort, ist im 19. Jahrhundert nicht so einseitig: Goethe benutzt ihn unentschieden für Volks‐ führer wie für Volksverführer; ‚Demagoge‘ war ein obrigkeitlicher Ausdruck für die nationalrevolutionären Studentenschaften (oder was die verfolgenden Obrigkeiten für nationalrevolutionär hielten) ab den Karlsbader Beschlüssen 1819, und ‚Dem‐ agogenverfolgungen‘ nannte man das Vorgehen gegen sie – Gregorovius selbst hat in Königsberg die letzte Phase davon erlebt. Gewiss nennt der Historiker Cola di Rienzo auch einen „eiteln, in phantastische Pracht gehüllten Demagogen“ 26, aber eher wird er mit dem Ausdruck erhoben; in den späteren Auflagen heißt er auch einmal „kühne[r] Demagoge“ (wo es 1867 noch „kühne[r] Plebejer“ hieß). 27 Er sieht also eine ähnliche Kraft wie das zum Beispiel von Studenten an deutschen Universitäten oder von den Carbonari in Italien getragene nationalrevolutionäre Programm im „geniale[n] Tribun“ am Werk, der „die neuen Bundesartikel eines freien und einigen Italiens auf erzne Tafeln schreiben, und alter Sitte gemäß im Capitol aufstellen lassen“ wollte. 28 Von seinem „nationale[n] Programm, ein eini‐ ges Italien mit dem Mittelpunct Rom aufzustellen“, so kühn, dass er davor selbst

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Wir haben Informationen von unserem Herrn, dem Papst. Als der Tribun dies vernahm, antwortete er mit lauter Stimme: Welche Informationen? Als der Legat diese verdrießliche Antwort hörte, zog er es vor zu schweigen. Der Tribun wandte sich von ihm ab und führte Krieg gegen Marino, und Marino kämpfte gegen die Römer.) In dieser Formulierung erst in der 5., noch von Gregorovius selbst revidierten Auflage: Fer‐ dinand Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter, Bd. 6, Stuttgart 1908, S. 298. Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom, Bd. 6 (1867, wie Anm. 15), S. 309. Ebd., S. 235 f. Ebd., S. 267. Ebd., S. 292. Ebd., S. 291.

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zurückschreckt 29, oder auch von „hohen nationalen Ideen“ ist die Rede. 30 Für Gre‐ gorovius hängt daran sein Nachruhm: Es bleibt gewiß der unzerstörbare Ruhm Cola’s di Rienzo, daß er diese nationale Idee in seiner elenden Zeit auszusprechen vermochte; doch dies ist schwer zu sagen, was vorwurfsvoller für die Italiener sei, daß sie auch damals, wo das Papsttum in der Ver‐ bannung, das Kaisertum in Niedrigkeit lag, unfähig blieben, die politische Nation zu schaffen, oder daß dieser nationale Gedanke ihnen von einem Manne geboten wurde, der darüber selbst zum Narren wurde. 31

Colas Scheitern ist nicht allein seinen Anlagen geschuldet, ja, vielleicht sind die Anlagen nicht einmal der Person geschuldet, sondern der Nation, in die diese hin‐ eingeboren ist. Das würde etwas mehr als fünfhundert Jahre nachher anders werden, Gregoro‐ vius hat den Ton der unfreundlichen Bemerkung über die Italiener in späteren Auf‐ lagen abgemildert. 32 Dass er Cola di Rienzo in das Museum des Risorgimento ge‐ stellt wissen will, macht auch ein einschlägiges Notat im römischen Tagebuch vom 20. September 1862 über den in La Spezia verwundet darnieder liegenden Garibaldi deutlich: „Er liest Tacitus, wie Cola di Rienzo Livius im Gefängnis las.“ 33 Darin, den letzten der Tribunen für das Risorgimento in Anspruch zu nehmen, ist Grego‐ rovius nicht alleine, davon zeugt auch die Statue am Fuß des Kapitols von Girolamo Masini (Abb. 2), dessen erste Beschäftigung mit dem Tribunen durch eine im Sep‐ tember 1871 ausgestellte Gipsbüste belegt ist. 34 Er ist es auch nicht, wenn er immer und immer wieder Colas Studium der römischen Literatur und dessen Überzeu‐ gung, man müsse das römische Reich wieder erstehen lassen, herausstreicht. Schon Edward Gibbon, der keineswegs die nationale Sendung im Auge haben konnte, son‐ dern sein Hauptverdienst darin sah, dass er die Ordnung in Rom und Mittelitalien wiederhergestellt und die Sicherheit der Menschen gewährleistet habe 35, findet im Antikenstudium des Tribuns ein wichtiges Movens seines Handelns.

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Ebd., S. 267. Ebd., S. 250. Ebd., S. 292. Siehe Ferdinand Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter, Bd. 6, 2. Aufl., Stuttgart 1871, S. 293. 33 Ferdinand Gregorovius, Römische Tagebücher. 1852–1889, hg. und komm. von Hanno-Walter Kruft und Markus Völkel, München 1991, S. 155. 34 Weitere, teils entlegene Beispiele führen verschiedene Beiträge auf in: Cola di Rienzo. Dalla storia al mito, hg. von Gabriele Scalessa, Rom 2009. 35 Gibbon, Decline and Fall of the Roman Empire (wie Anm. 5), S. 828 f.

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Aber Gregorovius verarbeitet die Voraussetzungen zu einem sehr eigenen Ge‐ misch. Das zeigt eine (nicht kürzbare) Stelle gleich am Anfang der Erzählung, deren erste Sätze bis zum Selbstgespräch sich übrigens ganz ähnlich bei Gibbon finden 36: Der junge Römer lernte mehr durch Selbstunterricht, von der Natur, den Schriften der Alten und den Monumenten Rom’s, als von den Magistern seiner Vaterstadt, deren verkommene Universität er indeß besuchen mochte. Seine Briefe zeigen, daß er mit der Bibel und den Kirchenvätern, selbst mit dem canonischen Recht wohl bekannt war. Livius, Seneca, Cicero, Valerius Maximus, und die alten Poeten waren ihm ver‐ traut; sie übten seinen lateinischen Styl, machten ihn beredtsam, nährten seinen Geist mit pomphaften Bildern und erfüllten ihn mit Sehnsucht nach dem Ideal des großen Altertums. Man hörte ihn oft sagen: ‚Wo sind jene guten alten Römer? Wo ist ihre hohe Gerechtigkeit? Könnte ich mich in der Zeit wiederfinden, wo diese Männer blühten!‘ Das unwissende Volk seiner Region staunte den jungen Menschen an, der von schöner Gestalt war, und um dessen Mund ein phantastisches Lächeln zu spielen pflegte, wenn er antike Statuen und Reliefs erklärte, oder Inschriften von den Marmortafeln las, mit denen Rom überstreut war. Diese prunkvollen Inschriften, unter Ruinen geisterhafte Sprüche aus einer verschwundenen großen Welt, waren es, welche seine dichterische Phantasie reizten, sich selbst in die Stelle jener Helden und Consuln hineinzudenken, und sich mit ähnlichen Prädikaten oder Titeln zu schmücken, die er sich in der Stille seiner Träume schon längst beigelegt haben mochte. Es waren ferner die Geschichten der Alten, in die er sich lesend vertiefte, welche bei ihm, wie bei Petrarca, die Grenze zwischen Jetzt und Einst aufhoben und ihn so schwärmerisch begeisterten, daß er „was er lesend gelernt hatte, handelnd zu unternehmen beschloß.“ 37

Cola di Rienzo ist Autodidakt. Nur als Autodidakt kann er der verkommenen Ge‐ lehrsamkeit, die an der – nota bene neu gegründeten – Universität gelehrt wird, entgehen: Seine Weise zu lernen (die „Natur“ entfällt in späteren Auflagen) ver‐ schafft ihm erstens einen breiten Kanon und regt ihn an, die römischen Autoren mit den Monumenten Roms in Verbindung zu bringen. Sie verschafft ihm zweitens hohe rhetorische Kompetenz, die er später als Tribun gebrauchen wird. Sie zaubert ihm drittens eine Gegenwelt zu seinem Rom vor das innere Auge – es verschwindet die Grenze zwischen den Zeitaltern, die Wirklichkeit jetzt und die Traumbilder des Einst verschwimmen in einem Mischmasch, der sich aus „Sehnsucht nach dem Ideal“ und schwärmerischer Begeisterung nährt. Die Lektüre der alten Inschrif‐ ten, die Erklärung der Statuen und Reliefs befördern den Wahn, sein Lächeln ist „phantastisch“, wenn er dem unverständigen Volk die geheimnisvollen Botschaften aus dem Geisterreich („geisterhafte Sprüche“) erklärt, und er versetzt sich selbst in „seiner tief träumerischen Natur“ (dieses Epitheton steht in einem Nachsatz zu der 36 Ebd., S. 826. 37 Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom, Bd. 6 (1867, wie Anm. 15), S. 231–233.

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Stelle in späteren Auflagen 38) an die Stelle seiner in der Phantasie geschauten Fi‐ guren. Tagträume werden Cola di Rienzos Auftritte zunehmend bestimmen, wobei die Vergegenständlichung des Geisterreichs operettenhafte Züge erhält. Dass nach seinem bizarren Segen die Erscheinung des „kranken Tribuns“ auf die Römer nicht lächerlich wirkt, verdankt sich nur einem: „Die Erinnerung war das Fatum der Rö‐ mer.“ 39 In Rom ist das Totenreich lebendig, Cola di Rienzos Inszenierung fällt auf fruchtbaren Boden. Eine Fußnote holt die Szene freilich in die Vorvergangenheit des Historikers und indirekt auch in die Gegenwart der 1860er Jahre. Sie erinnert an die Krönung Napoleons durch den Papst und an des Kaisers Träume von der Wiederherstellung des Reichs: „[. . . ] bisweilen erscheint Cola di Rienzo in ihm wie‐ der, doch in colossalem Maßstabe.“ 40 Der Ausdruck „colossal“ indes lenkt den Blick auf die immensen Unterschiede beider. Gregorovius’ Erzählung ist wegen der Züge des Wahnsinns, die sie ihrem Prot‐ agonisten zuschreibt, ebenso hochgelobt wie in alle Abgründe verdammt worden, Letzteres von Paul Piur in einer Studie über Cola di Rienzo, die ihrem Vorgänger den „Monomanen, Hysteriker, Psychopathen“ übel nimmt und Cesare Lombro‐ sos „Genio e follia“ von 1872 für einen abwertend gedachten Vergleich bezieht. 41 Lombroso, der seinerseits einen Aufsatz über „Cola di Rienzo monomane“ veröf‐ fentlicht hatte 42, rückte das Genie, vor allem das künstlerische, auf allerdings be‐ denkliche Weise in die Nähe des Wahnsinns. Dass Gregorovius bei Cola di Rienzo den Wahnsinn mit seiner dichterischen Anlage und der großen Gelehrsamkeit zu‐ sammen sieht, übergeht Piur in seiner Polemik. Cola ist zunächst ein „Antiquar“ 43, der aus seiner wenn auch autodidaktischen Gelehrsamkeit das Material zu seinen Inszenierungen gewinnt. Diese sind einer „dichterischen Phantasie“ entsprungen, „um welche die größesten Dichter ihn würden beneidet haben“. 44 Vor allem um die‐ sen Komplex des Dichtens kreist Gregorovius’ Erzählung insistent, deswegen stellt er Cola Petrarca zur Seite. Mit dessen Krönung findet der Weg des Volkstribuns

38 Siehe Ferdinand Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter, Bd. 6, 3. Aufl., Stuttgart 1878, S. 225. 39 Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom, Bd. 6 (1867, wie Anm. 15), S. 272 f. 40 „Napoleons Krönung und Salbung durch den Papst, der theatralische Pomp seines Kaiser‐ hofs, und seine Ideen von der Wiederherstellung des Reichs seiner Vorgänger sind von den Scenen Cola’s nur durch vier und ein halbes Jahrhundert entfernt. Der ‚Consul‘ und ‚Impe‐ rator‘ Napoleon nahm antik-römische Reminiszenzen wieder auf; bisweilen erscheint Cola di Rienzo in ihm wieder, doch in colossalem Maßstabe.“ Ebd., S. 273. 41 Paul Piur, Cola di Rienzo. Darstellung seines Lebens und seines Geistes, Wien 1931, S. 226. 42 Fanfulla della Domenica, Jg. 1890, Nr. 46, 16 November 1890 (der Beitrag wird von Piur und danach gerne falsch auf 1880 datiert!). 43 Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom, Bd. 6 (1867, wie Anm. 15), S. 236. 44 Ebd., S. 267.

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seinen Anfang, ist doch Petrarca wie Cola „von Freiheitsideen trunken wie ein Ja‐ cobiner der französischen Revolution“ und erkennt daher die Fehler Colas nicht. 45 „Petrarca und Cola begegneten sich in gleichen Ansichten, auf dem Capitol wie vor dem Tron zu Prag.“ 46 Petrarca ist ein Bewunderer des alten Rom und wie bei Cola ist „die Grenze zwischen Jetzt und Einst auf[ge]hoben“ 47, wenn er sich (so kann man hier ergänzen) in dem merkwürdigen Epos „Africa“ als derjenige selbst historisiert, der die historische Erinnerung an Rom revitalisiert. 48 Es gibt auch bei Petrarca Momente, in denen die Imagination über die Realität zu obsiegen scheint: „Was in Rom geschah, entzückte ihn, wie eine Magie, deren Zauberer er war, und in der That war sein Geistesbruder Cola sein eigener Adept.“ 49 Gregorovius hat den Satz in späteren Auflagen gestrichen, allzu nahe kommen sich die beiden in diesem Bild. Denn auch wenn Cola di Rienzo ein Adept des Dichters sein mag, so hat sich dieser doch nie als der Zauberer versucht, als den die Erzählung Cola für einen Moment erscheinen lässt. Es ist gerade dies die Wand, die die beiden trennt. „In Cola’s Geist erzeugte die Phantasie ein seltsames Gewebe von erfinderischem Trug und wirklicher Ueberzeugung“ 50; dieses Gewebe, das Gregorovius als politi‐ sche Wahnvorstellungen entwirrt, sucht der Tribun Wirklichkeit werden zu lassen, eine Vorstellung, die dem Dichter fremd ist, dessen Gewebe die Berührung mit der Wirklichkeit gar nicht erträgt. „Unfähig, das Glück zu ertragen, verwandelte sich der Mann des Volks in einen schwelgenden Tyrannen.“ – so das Urteil über den gegen die Colonnas und Orsinis siegreichen Tribunen. Petrarca hingegen, der sich den Freund des alten Stefano Colonna nennt, sieht vor der Wirklichkeit des Bürgerkrieges seine Ideale zerstört, beklagt den Untergang von Colas „Genius“ und „begann sich seiner eignen lyrischen Begeisterung zu schämen“. 51 Anders gesagt: Gregorovius erzählt hier nicht von einer Entzweiung zwischen einem idealistischen Dichter und einem napoleonischen Machtpolitiker – er nennt beide in den letzten Ausgaben unterschiedslos „Idealisten“ 52 und beklagt in der Erzählung von Gefangensetzung und Freilassung der römischen Patrizier Furcht und Schwäche des Tribunen. Vielmehr sind es zwei scharf unterschiedene Formen des Dichterseins, die die beiden trennen: Petrarca schreibt und urteilt, gibt sich 45 46 47 48 49 50 51 52

Ebd., S. 286. Ebd., S. 340. Ebd., S. 233. Vgl. auch ebd., S. 659 f. (Anfang des 7. Kapitels im 12. Buch). Ebd., S. 260. Ebd., S. 340. Ebd., S. 303 f. „So begegneten einander beide Idealisten, Petrarca und Cola, in gleichen Ansichten auf dem Capitol wie vor dem Trone zu Prag.“ (Ferdinand Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom, Bd. 6, 5. Aufl., Stuttgart 1908, S. 340) Vgl. dagegen die Urfassung der 1. Aufl., zitiert oben auf dieser Seite.

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seiner lyrischen Begeisterung hin und revitalisiert in der Phantasie die römische Welt, aber diese Revitalisierung bleibt ein Traum wie der Traum Scipios in „Africa“. Cola jedoch macht aus seinem phantastischen „Gewebe“ Wirklichkeit, er übersetzt Dichtung in Wirklichkeit. Zwar sei er in Avignon zum Scheiterhaufen verurteilt worden, doch man sagt, daß sein Leben durch das Gerücht gerettet worden sei, er sei ein großer Dichter, und daß man in Avignon, wo alles Verse machte, den Gedanken nicht ertragen konnte, ein göttliches Talent durch Henkershand zu vernichten. Es ist nicht bekannt, daß Cola jemals Verse schrieb, aber sein ganzes Leben war ein Gedicht, und er selbst nur der in die Politik verirrte größte Poet seiner Zeit. 53

Der Traum des Dichters als Antriebskraft zum politischen Handeln wird noch in einer anderen Szene zum Gegenstand: Der geniale Träumer und der mystische Heilige [der Eremit Fra Angelo] saßen in der Bergwildniß in tiefen Betrachtungen über die neue Weltepoche, und der verwit‐ terte Anachoret entfaltete Pergamentrollen, worauf die Prophezeiungen Merlin’s zu lesen waren. Sie deuteten offenbar auf Cola und dessen vergangene, wie kommende Laufbahn; er erkannte dies mit Entzücken; er sah ein, daß sein Exil nur die vorherbe‐ stimmte Pause zur Prüfung, und daß er noch immer der Gesandte des heiligen Geistes, und zur Weltbefreiung berufen sei. In seiner Seele mischten sich tiefsinnige kirchliche Phantasien mit politischen Absichten. 54

Der träumende Leser findet sich in der Dichtung und wird sich selber zur Figur, und in ihm entsteht eine Gemengelage von religiösen und politischen Vorstellungen. Die Idee des in die Politik ausgreifenden Dichters, der sich selbst zur Dichtung wird, gehört natürlich nicht ins 14., sondern ins beginnende 19. Jahrhundert. Zwar nicht auf die Dichter, sondern auf die Gelehrten gemünzt, aber damit immerhin partiell auf Cola di Rienzo anwendbar, hat Gregorovius seine Missbilligung einer solchen, man möchte fast sagen: dilettantischen Grenzüberschreitung gegenüber dem Historiker Franz Rühl 1881 geäußert: Ihre Benachrichtigung, daß Sie sich zu einem Wahlcandidaten für den Reichstag auf‐ gestellt haben oder haben aufstellen laßen, hat mich nicht erfreut, sondern wahrhaft betrübt. Erlauben Sie mir aufrichtig zu sein, denn ich darf das Ihnen gegenüber: meine Überzeugung ist, daß Sie die Ihnen natur- und geistgemäße Laufbahn durch eine Zweite durchbrechen, die sich niemals mit der ersten verbinden läßt. Ich würde, wenn ich einen Staat zu formiren hätte, die Gelehrten aus dessen Parlament grundsätzlich verbannen, und mich auf die Erfahrungen des politischen Lebens berufen, welche darthun, daß die Wirksamkeit der Professoren in ihm stets unter dem Grad dessen 53 Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom, Bd. 6 (1867, wie Anm. 15), S. 347. 54 Ebd., S. 336.

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geblieben ist, was sie in der Wissenschaft geleistet haben. Denken Sie an unser Pro‐ fessorenjahr 1848, und sehen Sie sich in dieser Hinsicht noch heute in den Kammern aller Länder um. Es ist unmöglich, ein Licht an beiden Enden zu brennen. 55

Die Nationalversammlung in der Paulskirche stand bekanntlich bei den Gegnern, aber auch bei den Demokraten im Ruf, ein Professorenparlament und ein Debat‐ tierclub zu sein. Theodor Mommsen, als Zeitungsredakteur gerade entlassen und bald außerordentlicher Professor für Jura in Leipzig, schrieb am 5. August 1848 an seinen Freund Otto Jahn aus Frankfurt: Während draußen Krieg und Unfrieden tobt und der alte tausendjährige Bau in allen Fugen kracht, geht hier die gemütliche Parlamentsidylle ihren Gang, und die verschie‐ denen Wirren sind hier nur Redestoffe. Es ist wie eine Studierstube im Großen, das Parlament macht seine Risse und lässt sich nicht stören, wie Archimedes in Syrakus. 56

Ob der Äußerungen von Mommsen und später von Gregorovius kommt bei un‐ sereinem allerdings die Frage nach einem Gefühl auf, das man gelehrten Selbsthass nennen möchte. Auf weltfernes Gelehrtentum und Debattierclub passt die Geschichte Cola di Rienzis indes nicht. Sie passt aber auf jene politischen Romantiker, die den Welten‐ traum ihrer Dichtungen in die politische Wirklichkeit zu überführen dachten: Shelley, Byron, Victor Hugo oder Wagner. Gerade die Briten hegten zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Vorliebe für historische Stoffe aus der italienischen Ge‐ schichte, in denen zu übelsten Bösewichtern dämonisierte Gestalten wie historisch gewordene Figuren aus den Gothic Novels auftraten (Shelley, „The Cenci“, 1819) oder in denen Idealisten ein tyrannisches Regime bekämpfen (Byron, „Marino Fa‐ liero“, 1821). 57 In diesem Zusammenhang stand Byrons Faszination für Cola di Rienzo. Gregorovius wiederum muss Byron in seiner Königsberger Zeit gelesen haben, er hat jedenfalls seinem Freund Ludwig Bornträger mit einer Widmung Adolf Böttgers Ausgabe der „Briefe und Tagebücher“ geschenkt, die die „Gedanken und Bemerkungen über Litteratur, Leben und politische Zustände“ versprachen. 58 Wie Byrons poetische Träumereien mit dem Engagement im griechischen Freiheits‐ 55 Gregorovius an Franz Rühl, 20. März 1881, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 12), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/ ed_b5f_pbh_ynb. 56 Theodor Mommsen, Otto Jahn, Briefwechsel 1842–1868, hg. von Lothar Wickert, Frankfurt a. M. 1962, S. 72. 57 Charles Peter Brand, Italy and the English Romantics. The Italianate Fashion in Early Nineteenth-Century England, Cambridge 1957, S. 187–195. 58 Byrons Briefe und Tagebücher. Nach Thomas Moore von Adolf Böttger, Bd. 1, Leipzig 1842, Vorwort n. p. Die Widmung datiert Königsberg, den 13. September 1851 ( Johannes Hönig, Ferdinand Gregorovius. Eine Biographie, Stuttgart 1944, S. 451). Ludwig Born‐ träger (geb. 1828) war ein in Pisa bereits 1852 verstorbener Königsberger Maler.

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kampf sich in die Wirklichkeit übersetzten, war ihm natürlich gegenwärtig, ebenso Byrons Untergang. Zweimal fällt der Name in „Corsica“, das erste Mal wegen der Übersetzung durch Salvatore Viale, das zweite Mal (ausgerechnet!) im Vergleich zum großen klassizistischen Dichter Vittorio Alfieri, den Gregorovius „aristokra‐ tisch stolz und straff egoistisch wie Byron“ nennt und „voll Tyrannhaß“. 59 In Deutschland fand Byron nur unter einem Teil jener Autoren, die wir Spätro‐ mantiker nennen, Nachfolger, bei Wilhelm Müller beispielsweise, dem Dichter der „Griechenlieder“, aber auch der „Winterreise“. Die meisten deutschen Spätroman‐ tiker erstarrten in restaurativen Ideen oder im Katholizismus, flüchteten sich in ein neues Preußen- oder gar Germanentum oder verkrochen sich – biedermeierlich – in der kleinen Welt. Die, die all das bekämpften, die jüngere Generation, die wir heute undifferenziert als Vormärzautoren bezeichnen, gerierten sich als politische Auto‐ ren und bekämpften die romantische Bewegung, Heinrich Heine zum Beispiel, der große Verehrer Byrons. 60 Die Selbstermächtigung des Dichters steht im Gedicht in der Mitte der „Harzreise“ von 1824: Gegenüber einem kleinen Kind bekennt das Ich zunächst harmlos seinen Glauben an den Heiligen Geist: Dieser tat die größten Wunder, Und viel größre tut er noch; Er zerbrach die Zwingherrnburgen, Und zerbrach des Knechtes Joch. Alte Todeswunden heilt er, Und erneut das alte Recht: Alle Menschen, gleichgeboren, Sind ein adliges Geschlecht. Er verscheucht die bösen Nebel Und das dunkle Hirngespinst, Das uns Lieb und Lust verleidet, Tag und Nacht uns angegrinst. Tausend Ritter, wohl gewappnet, Hat der heilge Geist erwählt, Seinen Willen zu erfüllen, Und er hat sie mutbeseelt. Ihre teuern Schwerter blitzen, Ihre guten Banner wehn! 59 Ferdinand Gregorovius, Corsica, Stuttgart, Tübingen 1854, Bd. 1, S. 258 (III / 9) und Bd. 2, S. 28 (I / 6). 60 Über Heine und Byron vgl. Alexandra Böhm, Heine und Byron. Poetik eingreifender Kunst am Beginn der Moderne, Berlin, Boston 2013 sowie im Kontext Gerhart Hoffmeis‐ ter, Byron und der europäische Byronismus, Darmstadt 1983 (= Erträge der Forschung, Bd. 188), S. 108–112.

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Ei, du möchtest wohl, mein Kindchen, Solche stolze Ritter sehn? Nun, so schau mich an, mein Kindchen, Küsse mich und schaue dreist; Denn ich selber bin ein solcher Ritter von dem heilgen Geist. 61

Der Dichter als Ritter des Heiligen Geistes, der die Zwingburgen niederbrennt. Die Strophen verdienen unsere Aufmerksamkeit, weil sie in der neueren Heine-Philolo‐ gie eine einschlägige Interpretation gefunden haben: Im Hinblick darauf, dass Cola di Rienzo sich selbst als „Spiritus Sancti miles“ bezeichnete, stelle sich hier Heine in dessen Nachfolge. 62 Heine ist natürlich kein neuer Cola di Rienzo, aber Gregoro‐ vius’ Volkstribun trägt Züge des modernen Dichters, seiner Selbstermächtigung zur Politik und seiner Eloquenz, mit der dieses vorgetragen wird. Weil die Jungdeut‐ schen die höchste Form des Gedichts im politischen Handeln finden wollen, zeigt Gregorovius auch einen Abscheu vor ihnen. Wiederum an seinen Freund Ludwig Bornträger schreibt er am 30. November 1851, wenige Wochen, nachdem er ihm Byron geschickt hatte, nach der Lektüre von Ludwig Börnes „Briefen aus Paris“: Sie sind ein schmerzliches Dokument der deutschen Misère und der phantastischen Politik unserer romantischen Nation. Ich weiß kaum, was mich in dieser Zeit mehr verletzt hätte, die Albernheit der Heineschen Schreibart oder die Forciertheit des Börne. Du siehst, ich beschäftige mich jetzt wieder mit beiden – eigentlich sollte der Poet oder der Literaturhistoriker unserer Gegenwart sein Geschäft dem Arzte abtre‐ ten; denn mir scheint, daß der größte Teil unserer Literatur nach Goethe nur noch von dem Physiologen kann beurteilt werden. 63

Dass die Kunst nach Goethe eine Aufgabe für den Arzt sei, in diesem verhängnis‐ vollen und im Übrigen verbreiteten Urteil 64, dürfte ihn erst recht jener Romantiker 61 Heinrich Heine, Sämtliche Schriften, hg. von Klaus Briegleb, Bd. 2, hg. von Günter Häntz‐ schel, München 1969, Reisebilder, Erster Teil: Die Harzreise, S. 133 f. 62 Norbert Altenhofer: Harzreise in die Zeit. Zum Funktionszusammenhang von Traum, Witz und Zensur in Heines früher Prosa (1972), in: Ders., Die verlorene Augensprache. Über Heinrich Heine, Frankfurt a. M., Leipzig 1993, S. 7-57, hier S. 39–42. Die Formel vom „Spiritus Sancti miles“ konnte Heine etwa Hubers „Revolution in Rom“ von 1788 (wie Anm. 6, S. 53) entnehmen. 63 Gregorovius an Ludwig Bornträger, 30. November bis 2. Dezember 1851 (in: Ferdinand Gregorovius, Briefe nach Königsberg, hg. von Dominik Fugger und Nina Schlüter, München 2013, S. 185–187, hier S. 185). 64 Viel zitiert wird Goethes Bemerkung in den Gesprächen mit Eckermann (2. April 1829). Vor allem E. T. A. Hoffmann wurde, auch als Exempel, häufig „krank“ genannt, nicht nur in Deutschland. Siehe etwa Jean Paul im Vorwort zur zweiten Auflage der „Unsichtbaren Loge“ 1822 (in: Werke, hg. von Norbert Miller, 5. Aufl., München 1989, S. 18 f.) und Wal‐

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bestärkt haben, der überzeugt war, dass nur seine Musikdrama gewordenen dichteri‐ schen Träume die kaputte moderne Welt regenerieren würden, weil ohnehin nur die Kunst die Welt retten könne, denn nur der Künstler müsse sich nie die Hände als Politiker schmutzig machen: Richard Wagner. 65 Gregorovius hat ihn wohl verab‐ scheut, bevor er mit seinen Musikdramen konfrontiert war. Nachzuweisen ist 1854 zumindest eine grobe Kenntnis von Wagners musikdramatischer Programmatik; 66 und 1860 wohnt er einer Aufführung des „Tannhäuser“ bei, der ihm gar nicht ge‐ fällt. 67 Dass er die ‚Große Oper‘ „Rienzi“, die seit ihrer Uraufführung in Dresden 1842 in mehreren Fassungen kursierte, gehört hätte, ist nicht nachzuweisen. Sein Abscheu gegen die politische Romantik hat auch, aber nicht allein ästhe‐ tische Gründe. Diese lassen sich an einem zugegebenermaßen zweckentfremdeten Zitat aus einem Brief an Friedrich Rückerts Tochter Marie festmachen: „Das Beste was Schriftsteller sind, pflegt zwischen den Pappdeckeln zu liegen, nicht in ihrer Persönlichkeit.“ 68 – oder in einem Gewebe, das aus ihren Träumen in die Wirk‐ lichkeit wuchert. Literatur hat zwischen Buchdeckeln zu bleiben. Dass die Poe‐ sie und das Leben in keinem direkten Wirkungszusammenhang stehen, schon gar, dass die romantischen Träume, einmal aus den Traumwelten herausgetreten, den schlimmsten Schaden anrichten, dass sie gleichsam gegen den vernünftigen Gang der Geschichte wirken – dazu sagt ein Satz im Anschluss an Cola di Rienzos ‚Taufe‘ alles: „Es bedurfte noch einer langen Arbeit der Geschichte, ehe die Menschheit die Dogmen der Vergangenheit überwand, und selbst bis in die jüngste Zeit herab hat sie sich noch ab und zu immer wieder in die mystische Badewanne von Constantin getaucht.“ 69 Die Geschichte ist für Gregorovius ein Prozess, den die Romantiker, so sie die Menschheit in eine „mystische Badewanne“ tauchen, nur behindern – oder dessen Werkzeug sie bestenfalls werden. Mit diesem Blick hat er übrigens auch Wag‐

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ter Scott, Essay On the Supernatural in Fictitious Composition; and particularly on the Works of Ernest Theodore William Hoffman, in: The Foreign Quarterly Review, Bd. 1, 1827, H. 1 ( Juli), S. 60–98. Siehe zu diesem Komplex: Markus Bernauer, Die Ästhetik der Masse, Basel 1990, S. 174– 180. „Mit der Oper, welche Wagner stürzen will, ist es wie mit gewissen Mosaiken, Arabesken und Dekorationen in der Architektur; an gehöriger Stelle gesehen, macht es doch gute Wirkung.“ An Louis und Johanna Köhler, 6. April 1854, in: Gregorovius, Briefe nach Königsberg (wie Anm. 63), S. 48. – Siehe hierzu im vorliegenden Band „Die deutsche Sen‐ dung. Ferdinand Gregorovius und Richard Wagner“ von Angela Steinsiek. „Ich sah im Opernhause den 2. Act von Tannhäuser, wurde aber gar nicht ergriffen, oder erregt“. An Hermann von Thile, 9. August 1860, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 12), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/let‐ ters/G000122. Gregorovius an Marie Rückert, 4. September 1869, ebd., URL: https://gregorovius-edition. dhi-roma.it/letters/G000336. Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom, Bd. 6 (1867, wie Anm. 15), S. 273.

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ner missverstanden, weil er dessen Musikdramen als historische Dramen gelesen hat: Sie zwingen „uns in die Eiszeit des Germanentums mit ihren Recken, Lindwürmern und Hölenbären zurück.“ 70 Als den Roman eines politischen Romantikers, zurückversetzt ins Mittelalter, kann man die Erzählung von Cola di Rienzo im 11. Buch der „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“ lesen. Aber die Abneigung gegen seine Zeitgenossen brachte Gregorovius seinem Helden nicht entgegen. Vielleicht gibt es auch bei ihm eine verborgene Faszination für all das, was er in den Briefen so heftig bekämpft: Denn der „geniale Träumer“, der Dichter, ist ein Visionär, seine Stellung in der Geschichte sichert ihm vorausgreifende Ahnungen: die eines vereinigten Italiens – oder: „Er sprach jetzt, wie die Monarchisten, die Bedürfnisse der Menschheit nach einer Re‐ formation aus, und dies ist die ernste Bedeutung jenes wunderbaren Römers, die ihm seine geschichtliche Stelle sichert.“ 71 In Cola di Rienzo einen politischen Ro‐ mantiker zu sehen, darin war Gregorovius nicht allein: Mit gleichem Zwiespalt ist dem römischen Revolutionär der junge Friedrich Engels in einem Fragment geblie‐ benen Drama begegnet und hat ihm in Battista einen ‚echten‘ Mann aus dem Volk zur Seite gestellt. 72 Die literarische Wirkungsgeschichte des römischen Volkstribunen will ich hier nicht weiter verfolgen. Interessanter ist im vorliegenden Kontext eine Überlegung zu den Wegen, die die vorangehende Lektüre von Gregorovius gegangen ist, und zwar im Rückgriff auf Hans-Georg Gadamers „Wahrheit und Methode“. Gadamer hat die Verbindung der Romantiker zur Historiographie des 19. Jahrhunderts daran festgemacht, dass diese „die geschichtliche Wirklichkeit selbst“ als einen „zu ver‐ stehende[n] Text“ behandeln. 73 Methodisch erst von Wilhelm Dilthey ausbuch‐ stabiert, zieht die Philosophie um 1800 daraus die Konsequenz, die Geschichte als Totalität, als Buch mit Anfang und Ende zu verstehen – Gadamer hat hier natürlich gerade den Antiromantiker Hegel im Sinn. Für Gadamer hingegen ist dieses Buch „für jede Gegenwart ein im Dunkel abbrechendes Fragment“ und unterscheide sich gerade darin von der „Abgeschlossenheit, die für den Philologen ein Text besitzt“. Auch wenn wir den Gedanken der Abgeschlossenheit eines ästhetischen Textes im strengen Sinne heute mit dem gleichen Stirnrunzeln behandeln wie die Idee, ab‐ geschlossene Abschnitte der Vergangenheit, sogenannte Epochen, würden sich „zu

70 Gregorovius an Ludwig Friedländer, 22. Dezember 1876, in: Gregorovius, Briefe nach Königsberg (wie Anm. 63), S. 126. 71 Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom, Bd. 6 (1867, wie Anm. 15), S. 342. 72 Friedrich Engels Cola di Rienzi. Ein unbekannter dramatischer Entwurf, hg. von Michael Knieriem, Wuppertal 1974. 73 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Her‐ meneutik, 4. Aufl., Tübingen 1975, S. 186.

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einem fertigen Sinnganzen, einem in sich verstehbaren Text“ 74 formieren, bleibt eine Differenz doch bestehen: Die Teile eines ästhetischen Textes ordnet die Philo‐ logie in wechselseitigen Relationen einander zu, während die Historik ihre Texte als Hilfsmittel zur Beschreibung einer außerliterarischen Wirklichkeit sieht und entsprechend beurteilt. „Zwar macht es einen Unterschied, ob man einen Text als ein literarisches Gebilde auf seine Absicht und Komposition zu verstehen sucht, oder ob man ihn als Dokument für die Erkenntnis eines größeren historischen Zu‐ sammenhangs zu verwerten sucht“, heißt es bei Gadamer in diesem Kontext. 75 Auf ihre Absicht hin – nicht allerdings auf ihre Komposition (die hier nur im größeren Ganzen untersucht werden könnte) – habe ich Gregorovius’ Erzählung von Cola di Rienzo beleuchtet, und nicht im Hinblick auf den darin untersuchten Gegenstand. Die Absicht herauszustreichen, konvergiert mit einem von Gregorovius’ Fun‐ damenten der Geschichtsschreibung: Der streng philologisch vorgehende Histori‐ ker hatte die „speculative Gymnastik“ der Hegel’schen Philosophie in einem späten Aufsatz zumindest für die Geschichtswissenschaft verworfen 76 und damit die Idee einer Totalität der Geschichte preisgegeben. Das Dunkel, in dem das „Fragment der Geschichte“ damit aber notwendig abbrechen muss, hoffte er – ausbuchstabiert schon 1854 in „Corsica“ – mit einer Fackel, die er an der eignen Gegenwart entzün‐ dete, zu erleuchten. 77 Die Geschichte hat keinen gewissermaßen absoluten Sinn, aber wir können und sollen die Vergangenheit nicht losgelöst von unseren eigenen Voraussetzungen verstehen. Anders ausgedrückt: Es gibt kein Buch der Geschichte, aber wir sollten so tun, als gäbe es eines; und wir selbst sind das Ende, aber eben nur das vorläufige. Gregorovius hat sich der Geschichte also implizit hermeneutisch ge‐ nähert. Darin ist er der Zeitgenossenschaft verpflichtet, verblüffend ist seine Nähe zu Droysen. 78 Er ist es hingegen dort nicht, wo der Historismus nach bedingungs‐ 74 Ebd., S. 187. 75 Ebd., S. 186. 76 Ferdinand Gregorovius, Der Hegelianer Augusto Vera (1887), in: Kleine Schriften zur Geschichte und Cultur, Bd. 3, Leipzig 1892, S. 46. 77 Siehe etwa Gregorovius an Johann Georg Freiherr Cotta von Cottendorf, 9. April 1853, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 12), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000002. Hier verspricht er, dass „dem Leser die Parallelen zur unmittelbaren Gegenwart überall zukommen,“ doch habe „ich stets mein subjectives Meinen zurückgehalten, um ihm nicht zu schaden.“ 78 Johann Gustav Droysen hat in seinen Vorlesungen zur Historik, die er von 1857 bis 1882/1883 17-mal hielt, die aber erst 1937 gedruckt wurden, das Verstehen (und die In‐ terpretation) als „Inbegriff der historischen Methode“ behandelt (so die Überschrift von Kap. 1, § 5 der Einleitung) und insistent diesen Inbegriff durch die Vorlesungen hindurch verfolgt (siehe Johann Gustav Droysen, Historik, Historisch-kritische Ausgabe, hg. von Peter Leyh, Stuttgart 1977, Bd. 1, S. I und S. 22–28). Interessant sind außerdem zwei Stel‐ len im Abschnitt des ersten Teils zur Methodik „Die Apodeixis“: Gegen Georg Gottfried Gervinus gewandt, dem Gregorovius zumindest persönlich nahestand, verwirft Droysen

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loser Objektivität ruft und jede Gesellschaft und jede Epoche für sich betrachtet wissen will. 79 Schon Gadamer hat sich gegen eine „Kunst der Interpretation“ zur Wehr gesetzt, die glaubte, sich in die zeitgenössische Leserschaft versetzen zu müs‐ sen und damit so etwas wie ein „wahres“ Urteil abgeben zu können: Das Vorurteil des Lesers ist nicht nur Ballast, sondern geradezu Voraussetzung seiner Lektüre, 80 das Bewusstsein der „Geschichtlichkeit seines eigenen Verstehens“ 81 vom Leser als produktiv einzufordern. Auf Literatur bezogen heißt dies, dass sich diese nur in ei‐ nem Kanon festzusetzen vermag, solange sie Lesern einen Zugang bietet, weswegen der Kanon sich, das zeigen gerade die letzten drei Jahrzehnte, immer wieder neu konstituiert. Das einfache hermeneutische Prinzip, dass nicht nur der Text, sondern auch der Leser das Verständnis bestimmt, gilt deshalb, wollen wir ihn nicht in die Geschichte der Wissenschaft verbannen, ebenso für Gregorovius und im Kontext dieses Vortrags für die Erzählung von Cola di Rienzo. Zu den erstaunlichen Mo‐ menten darin gehört, dass sie nicht nur dem noch zeitgenössischen Typus des in die Politik verirrten Dichters nachspürt, sondern dass sie darüber hinaus und weitrei‐ chender, als ihr Verfasser vermuten konnte, Formen der politischen Inszenierung, ja die Politik überhaupt als Inszenierung eines Demagogen, eines Volkstribunen, der gegen die etablierte Politik antritt, skizziert und die ästhetischen Mittel einer sol‐ chen Inszenierung aufblitzen lässt. Für den Leser heute, den Leser nach Stalin und Hitler, der die großen und kleinen, die gelungenen und misslungenen politischen Inszenierungen seiner Gegenwart beobachtet, mutet das so gar nicht mittelalterlich an. Die kleine Eingangsanekdote von der falschen Datierung des Einbands zu Bul‐ wer-Lytton steht, zum Ende gesagt, für jenes Verstehen, das Gregorovius’ Erzählung von Cola di Rienzo nicht in die antiquarische Sphäre verbannt wissen will, sondern darin eine über ihren Gegenstand und ihre Zeitgenossenschaft hinausreichende energisch den Gedanken, in der Historik „die Theorie der künstlerischen Behandlung der Geschichte, eine Untersuchung über den Kunstcharakter der Geschichtsschreibung zu se‐ hen“. Doch dann umreißt er unter den Arten der historischen Darstellung die „erzählende“; diese gebe „eine Mimesis des Werdens; und eben darum hat man diese Form die künstleri‐ sche genannt“ (ebd., S. 217 und S. 220). 79 Abgesehen von Leopold von Rankes inzwischen als geflügeltes Wort weitergegebene For‐ mulierung: „[. . . ] jede Epoche ist unmittelbar zu Gott, und ihr Wert beruht gar nicht auf dem, was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst, in ihrem eigenen Selbst.“ (Über die Epochen der neueren Geschichte. Vorträge dem Könige Maximilian II. von Bay‐ ern im Herbst 1854 zu Berchtesgaden gehalten. Erster Vortrag vom 25. September 1854, in: Leopold von Ranke, Weltgeschichte. Text-Ausgabe, hg. von Alfred Dove [u. a.], Bd. 4, 3. Aufl., Leipzig 1910, S. 529) vgl. Friedrich Meinecke, Die Entstehung des Historismus (1936), hg. von Carl Hinrichs, München 1959 (die Vorbemerkung enthält eine Klärung des Begriffs). 80 Gadamer, Wahrheit und Methode (wie Anm. 73), S. 251. Gadamers Polemik richtet sich gegen Emil Staiger. 81 Ebd., S. 250.

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Relevanz sieht. Und Colas Kampf gegen die Eliten, seine Korrumpierbarkeit und seine politische Ahnungslosigkeit tragen eine solche literarische Figur auch in die Diskussionen um den Populismus heute – gerade auch im Verhältnis zu den älteren und neueren Formen der Ästhetisierung der Politik gesehen. Gregorovius muss im Übrigen durchaus die Offenheit des literarischen auch im historischen Text gewollt haben; er verabscheute naive Materialzusammenstellun‐ gen und sich an einem vermeintlichen „So war es wirklich“ entlanghangelnde Dar‐ stellungen: Als Felix Papencordt mit dreißig starb und ein Freund seine Hinterlas‐ senschaft herausgab, äußerte er sich gegenüber seinem Kollegen und Konkurrenten Alfred von Reumont etwas herablassend: „Der arme Papencordt würde wahrschein‐ lich nicht seine Einwilligung zur Herausgabe bloßer Materialien gegeben haben; so schätzbar diese Studien sind und so groß der daran verwandte Fleiß, so wenig geben sie doch eine Geschichte der Stadt Rom.“ Und, das eigene Programm umreißend: „Man darf eine solche nicht schreiben, ohne sich so viel als möglich allseitig über ihr Leben zu verbreiten, ohne die Geschichte ihrer Ruinen, ihrer Metamorphosen ins Geistliche zu geben, und sich so gut mit Kunst, Literatur, religiösen Gebräuchen als mit den civilen und politischen Dingen gründlich zu beschäftigen.“ 82 Und, so muss man ergänzen, mit der Psychologie der Handelnden – und sich damit auf das Wagnis einlassen, die Grenze zum Roman immer wieder einmal zu überschreiten.

82 Gregorovius an Alfred von Reumont, 8. November 1857, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 12), URL: https://gregorovius-edition.dhiroma.it/letters/G000048.

Felix Dahn und Ferdinand Gregorovius Geschichtserzählung in der Kritik Roman Lach Achtung, in seinem Schädel rumort Ledern die Weisheit von tausend Jahren! Arno Holz, „Felix Dahn“

Wenn man den Namen Felix Dahn im Kontext von Ferdinand Gregorovius recher‐ chiert, wird man zunächst wahrscheinlich auf Gregorovius’ missmutige Bemerkun‐ gen über dessen gerade erschienenen Roman „Ein Kampf um Rom“ und das in der Literatur grassierende „Vandalentum“ in seinem Brief an Ludwig Friedländer vom 22. Dezember 1876 stoßen: Ihr Freund Dahn ist, wie ich vernahm, hier gewesen; es war mir schon recht, daß er mich nicht aufsuchte, denn so ersparte er mir die Verlegenheit, ihm etwas über seinen gothischen Roman zu sagen. D. stürzt sich, wie ich sehe, kopfüber in den Teutonis‐ mus – dieser Rückschritt der Deutschen, ein falsches Streben nach Nationalität in der Literatur, macht sich ja schon seit längerer Zeit geltend, wie Freitag und Schef‐ fel zeigen, und dies Wesen wurde selbst in der musikalischen Welt zum Wahnsinn in Wagner. Ich kann Ihnen nicht genug sagen, wie mich dieses Vandalentum anwidert. Die Größe des deutschen Genius, ja seine wahrste und innerste Nationalitat, bestand bisher in seiner kosmopolitischen und humanen Idee – nun sollen diese geweihten Gefilde verlassen werden, und man zwingt uns in die Eiszeit des Germanentums mit ihren Recken, Lindwürmern und Hölenbären zurück. Dieser Anachronismus wird sich rächen, und er wird hoffentlich einen Rückschlag fordern. Aber erst wenn der Ekel an dieser Sindflut von Romanen und Novellen allgemein geworden ist, wird ein neuer Dichtergeist erstehen. 1

Der Altphilologe Friedländer, Verfasser einer bedeutenden Sittengeschichte Roms, stand in Verbindung mit Dahn, seit dieser 1872 eine Professur in Königsberg an‐ getreten hatte. Er fühlte sich ihm freundschaftlich verbunden und stand, vielleicht auch aufgrund seiner eigenen prekären Stellung als konvertierter Jude, auf Dahns Seite, wenn in wissenschaftlichen Kreisen Vorbehalte gegen den „Theaterdichter“ geäußert wurden. 2 Dahn hat seinen „Kampf um Rom“ dem Kollegen Ludwig Fried‐ 1 Ferdinand Gregorovius, Briefe nach Königsberg, hg. von Dominik Fugger und Nina Schlüter, München 2013, S. 126–127. 2 Ludwig Friedländer, Aus Königsberger Gelehrtenkreisen, in: Ders., Erinnerungen, Re‐ den und Studien, Straßburg 1905, S. 113, 1.

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länder gewidmet. Bereits mehrfach hatte Friedländer versucht, einen Kontakt zwi‐ schen seinen beiden Freunden Dahn und Gregorovius herzustellen. Gregorovius hatte zunächst noch freundlich grüßen lassen, war aber, seitdem er im Novem‐ ber 1875 Dahns historisches Drama „König Roderich“ gesehen hatte, skeptischer im Ton geworden 3 und hatte sich nach dem Erscheinen des „Kampf um Rom“ immer ablehnender geäußert. 4 Ob Gregorovius bekannt war, dass es sich bei dem Freund seines Freundes Friedländer um den ihm als Autor zwar gewogenen, gegen‐ über seinen Thesen aber scharf kritischen Rezensenten seiner „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“ in den „Blättern für literarische Unterhaltung“ aus dem Jahre 1860 handelte, zu der gleich mehr zu bemerken sein wird, ist mir nicht bekannt. Mit seiner in obigem Brief erstmals ausführlich geäußerten Kritik nicht allein an Dahn, sondern an einem insgesamt grassierenden Germanenkult in Literatur und Musik, stellt Gregorovius einen Zusammenhang zwischen Dahn und den erst kürz‐ lich erschienenen ersten Bänden von Gustav Freytags historischer Romanreihe „Die Ahnen“: „Ingo“ und „Ingraban“ (1872) sowie zu Viktor von Scheffels „Ekkehard“ (1855) her. Beide Autoren hatten den historischen Roman von der durch Walter Scott geprägten Form einer den Objektivitätsgestus der Geschichtsschreibung auf die fiktionale Literatur übertragenden, ihre Zwischenstellung zwischen Literatur und Sachdarstellung bewusst reflektierenden Erzählweise abkehrend weiterentwi‐ ckelt. Zwar hatte auch Scott in einzelnen Szenen einen Historie vergegenwärtigen‐ den Illusionismus betrieben, dies jedoch stets durch das Geschehen einordnende und reflektierende Kommentare eingerahmt, wogegen in den Romanen Freytags und Scheffels insbesondere durch sprachliche Mimikry Geschichtssimulationen an‐ gestrebt wurden. 5 Die zeitgenössische Kritik am „Kampf um Rom“ hatte eine sol‐ che Nähe zu Freytag oder Scheffel sonst nicht diagnostiziert, eher die Entfernung von diesen beklagt. Rudolf Gottschall etwa wird im Mai des Folgejahres Dahns ungefügen, gehetzten, stilistisch uneinheitlichen Roman heftig kritisieren, der zu‐ 3 Gregorovius an Ludwig Friedländer, 21. November 1875, in: Gregorovius, Briefe nach Königsberg (wie Anm. 1), S. 121. 4 „Es ist eine patriotische Ader in ihm, welche ihn im Vaterland beliebt machen wird, und da die Deutschen in Bezug auf ihr Land centrifugale Wesen sind, so ist das sehr hoch anzu‐ schlagen. Ich thue das auch (nämlich das anschlagen), wenn ich auch bekenne, daß der lange Verkehr mit den Göttern Griechenlands mich für den Genuß der zu specifisch nibelungen‐ haften, gothischen und tüdesken Formen und Figurenwelt verdorben hat.“ – Gregorovius an Ludwig Friedländer vom 13. Februar 1876, ebd., S. 124. 5 Vgl. auch Mark-Georg Dehrmann, Studierte Dichter. Zum Spannungsverhältnis von Dichtung und philologisch-historischen Wissenschaften im 19. Jahrhundert, Berlin, Bo‐ ston 2015, S. 359, sowie Roman Lach, „Ein starker Hall aus Auerhorn“. Germanische Simulationen im historischen Roman der Gründerzeit, in: Mythos Ursprung. Modelle der Arché zwischen Antike und Moderne, hg. von Martin Disselkamp und Constanze Baum, Würzburg 2011, S. 151–175.

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gleich eine „einförmige Wirkung“ ausübe, die von der „fortwährende[n] Blech‐ musik“, die in dessen Instrumentation gewissermaßen ertöne, ausgehe, wogegen Freytags Romane geradezu als beschauliche Genrebilder erschienen. 6 Der Roman ermangele des für die breite Erzählung unabkömmlichen „epische[n] Behagen[s]“, und der Versuch, ganze Völker zu Helden zu erheben, müsse misslingen, denn „Völ‐ ker sind nur Helden in der Philosophie der Geschichte, nicht im Roman.“ 7 Am germanischen Gegenstand, wie Gregorovius dies tut, stießen sich die Zeitgenossen ansonsten weniger. Am ehesten wird sich noch der Publizist Paul Lindau in Bezug auf Freytags „Ahnen“ fünf Jahre später kritisch über eine grassierende Teutonisie‐ rung und Archaisierung des Tons mokieren, der vom historischen Roman ausge‐ hend selbst in der Presse Einzug gehalten habe. 8 Felix Dahn erklärt in seinen „Erinnerungen“ das Jahr 1858, als er das Herauf‐ dämmern des Sardinischen Krieges, des Zweiten italienischen Unabhängigkeits‐ kriegs, der im Folgejahr ausbrechen sollte, bereits vorausgeahnt zu haben meint, zum Initiationsmoment seines literarischen Hauptwerks, „Ein Kampf um Rom“. Dabei lässt er keinen Zweifel an den politischen Parallelen, die er zwischen dem Niedergang der Herrschaft der Goten und ihrer Vertreibung aus Italien nach dem Tod des Theoderich und den europäischen Konstellationen im Italienisch-österrei‐ chischen Krieg zieht, und der Rolle, die die Franzosen unter Napoleon III. hierbei spielen. Der heilige Vater, vor Allem auf die eigne weltliche Macht bedacht, die Italiener, in sittlich berechtigter, allein gegen die Verträge verstoßender und häufig in Verbrechen, in Verschwörungen, in Verrath, in Meuchelmord österreichischer Schildwachen aus‐ brechender geschichtlich-nationaler Erhebung, die Oesterreicher, freilich in manchem Betracht keine Gothen, aber formal im vollen Recht, lange Jahre vergeblich beflissen, 6 Rudolf Gottschall, Felix Dahn’s „Ein Kampf um Rom“, in: Blätter für literarische Un‐ terhaltung, Nr. 18, Leipzig 3. Mai 1877, S. 273–278, hier S. 273. 7 Ebd., S. 274. 8 Paul Lindau, Die Ahnen: Ein Roman von Gustav Freytag, in: Nord und Süd, Bd. 16, Heft 47, Breslau 1881, S. 218–284. Siehe auch Ders., Gustav Freytags neuester Roman. Ingo und Ingraban, in: Die Gegenwart, Bd. 2, Nr. 45 und 47, Berlin 30. November und 14. Dezember 1872, S. 344–347 und S. 372–374 (hier S. 347): „[. . . ] ich habe, um individu‐ ell zu sprechen, eine unüberwindliche Abneigung gegen die hochgeschraubte Vornehmheit in der Sprache; möglich, dass dieselbe im Freytag’schen Roman am rechten Platz ist, aber sie nistet sich auch da ein, wohin sie gar nicht gehört: in modernen Zeitschriften, und dort ist sie einfach unausstehliches Pathos. Dieselben Worte, die Freytag mit Vorliebe gebraucht – künden, fügen, sorgen ob, jauchzen, reihen etc. etc. – ferner die ungebräuchlichen, über die man nur mit Hülfe des Grimm’schen Wörterbuches genaue Rechenschaft abgeben kann, dieselbe launische Weglassung des Artikels, welche den schlichtesten Satz sofort zum Parvenü macht, findet man auch häufig in den publicistischen Aufsätzen allermodernsten Schlages.“ (wieder abgedruckt in: Ders., Gesammelte Aufsätze. Beiträge zur Literaturge‐ schichte der Gegenwart. Berlin 1875, S. 29–81, hier S. 43).

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durch Verhätschelung das knirschende Mailand, das gährende Venedig zu gewinnen, und jedenfalls bärenhaft tapfer, endlich Justinian in Byzanz vergleichbar, der listige Imperator an der Seine, der, schöne Worte von Freiheit im Munde führend, selbsti‐ sche Ränke spann, seine Franzosen knechtete, nach Cayenne schickte (wie Justinian seine ‚Romäer‘ in die Bergwerke) und für Italien das Nationalitätsprinzip verkün‐ dete, während er gewiß Elsaß-Lothringen nicht Deutschland herausgab oder gönnte, ja selbst nach der Oberherrschaft in Italien trachtete und bald Savoyen und Nizza ein‐ steckte. Das war ein ‚Kampf um Rom‘ all over again. Und so begann ich im Laufe des Jahres 1858 den Entwurf des Romans und die Anfänge der Ausarbeitung niederzuschreiben, durch die Fragen der Gegenwart angefeuert, und jene Gedanken mir völlig klar zu legen, welche schon lange vorher als philosophische, geschichtliche, nationale, patrio‐ tische Aufgaben mich beschäftigt hatten. 9

An dieser Stelle muss kurz die historische Situation auseinandergesetzt werden. Der Krimkrieg (1853–1856) hatte das „Wiener System“ 10, die Machtbalance der europäischen Bündnisse, die aus dem Wiener Kongress hervorgegangen war, aus‐ gehebelt, womit sich einige dieser Mächte erstmals seit 40 Jahren wieder als Geg‐ ner gegenüberstanden. Diese Entwicklung setzte sich im Sardinischen Krieg fort. Österreich sah sich innerhalb des Deutschen Bundes isoliert, wo man zögerte, es gegen Frankreich und Italien zu unterstützen. In diesem Kontext kommt erstmalig der Begriff der „Realpolitik“ auf, auf den sich auch Dahn gerne bezieht. Statt sich an Verpflichtungen in überkommenen Bündnissen zu halten, favorisiert man eine „Politik der freien Hand“, wie Dahn den preußischen Außen- und Handelsminis‐ ter Alexander von Schleinitz zitiert. 11 Nationale Interessen werden jetzt über die 40 Jahre lang ins Feld geführte Legitimität gestellt. Napoleon unterstützt nationale Ansprüche anderer Nationen (Italien), wo es seinen Interessen förderlich ist. Das sich hier abzeichnende dynamische Netz von Interessengemeinschaften, Interessen‐ konflikten und Gegnerschaften habe Dahn die Parallele zum Weströmischen Go‐ tenreich zwischen den Interessen der Kirche, dem Kaiser in Byzanz und den durch den geschickt taktierenden und manipulierenden „letzten Römer“ Sixtus Cethegus repräsentierten Römern eingegeben.

9 Felix Dahn, Erinnerungen, Bd. 3: Die letzten Münchener Jahre (1854–1863), Leipzig 1892, S. 368–369. 10 Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 572. 11 Dahn, Erinnerungen (wie Anm. 9), S. 366: „Hie Preußen – hie Österreich – hier Go‐ thaer – hie Großdeutsche: hie die ‚Politik der freien Hand‘, d. h. Neutralität des Bundes – hier Bundeshilfe für Oesterreich, falls Napoleon Piemont unterstützt – hie Heinrich von Sybel – hie Julius Ficker, v. Wydenbrug und Anderen!“

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Auch mich wie alle meine Jugendgenossen zog die große Frage in diesen tosenden Stru‐ del: und zwar waren wir in München (wie in Süd-Deutschland überhaupt die große Mehrzahl) abgesehen selbstverständlich von den um Heinrich Sybel gescharten Nord‐ deutschen – ‚großdeutsch‘, d. h. Wir wollten Oesterreich nicht aus dem Deutschen Bunde gestoßen sehen. Und so sehr wir den Italienern Freiheit und Einheit gönnten, falls sie dieselbe selbst und allein erringen konnten, wollten wir den Oesterreichern, den ‚deutschen Brüdern‘ deutsche Waffenhilfe gegen das tief von uns gehaßte und mehr noch gefürchtete Frankreich nicht versagt wissen. Thöricht – wie wir nach 1866 einsahen. Aber damals voll begreiflich. 12

Das Aufbrechen der europäischen Ordnung, der Zwiespalt zwischen Italien und Österreich, der eine Parteinahme schwierig und fragwürdig macht – und der Um‐ stand, dass das Kalkül Napoleons III. das verkomplizierende Prinzip einer rein in‐ teressenorientierten Politik ins Spiel bringt – stehen also am Anfang eines histo‐ rischen Romanprojekts, das auf der Grundlage der Dreierkonstellation zwischen Goten, Römern und Byzanz den Aufbau bei Scott erweitert, der immer einen Kon‐ flikt von zivilisatorischen und archaischen Kräften zum Grundriss hat. In „Ein Kampf um Rom“ dagegen geht es nicht mehr um eine Darstellung des Zivilisati‐ onsprozesses, sondern um ein Gegeneinander divergierender Interessen. So bricht Dahn mit den Gepflogenheiten des Genres ebenso, wie ein anderer Roman, mit dessen Niederschrift nach jahrelangen Vorbereitungen ungefähr zur selben Zeit, im Jahr 1859, begonnen wird: Adalbert Stifters „Witiko“. 13 Allerdings wird Dahns 12 Dahn, Erinnerungen (wie Anm. 9), S. 367. Ferdinand Gregorovius dagegen zeigt sich wäh‐ rend des Sardinischen Krieges, den er als einen „politischen Sommernachtstraum“ bezeich‐ net (Gregorovius an Alfred von Reumont, 28. September 1859, in: Ferdinand Grego‐ rovius, Poesie und Wissenschaft. Gesammelte deutsche und italienische Briefe [digitale Edition], hg. von Angela Steinsiek, Deutsches Historisches Institut in Rom 2017–2023, URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000098/nb2s_pl3_xlb), zwar auf der Seite der Italiener gegen Österreich, macht sich aber ebensowenig wie Dahn Illusio‐ nen über die Absichten Napoleons und ist sehr skeptisch gegenüber den republikanischen Hoffnungen Italiens. „Auch meine Wünsche für die Befreiung der Italiener sind warm und lebhaft, da ich 7 Jahre unter ihnen gelebt habe, aber meine Hoffnungen sind sehr klein. Im günstigsten Falle werden sie ein Joch mit dem andern vertauschen, und das uralte Spiel italienischer Geschichte, welches ich gründlich aus ihren Annalen studirt habe, wird sich in infinitum wiederholen. Ich liebe die Italiener nach meinem Vaterlande am meisten, aber ich traue ihnen nicht die Kraft einer neuen Organisation zu. Diesem unglücklichen und völlig demoralisirten Lande ist nicht anders zu helfen als durch einen energischen Dicta‐ tor, einen Absolutismus im Sinne der Freiheit.“ (Gregorovius an Malwida von Meysenbug, 7. Mai 1859, ebd., URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000101). 13 Stifter beabsichtigte wie Dahn einen Roman zu schreiben, in dem das „Völkerleben in brei‐ teren Massen auftritt“ (Stifter, Sämmtliche Werke, Bd. 19: Briefwechsel dritter Band, hg. von Gustav Wilhelm, Prag 1929, S. 282), wie er am 8. Juni 1861 an den Freund und Verleger Heckenast schreibt: „Es erscheinen da bei dieser Art die Völker als großartige Na‐

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Projekt noch 1858 wieder unterbrochen (Osterkamp vermutet, dass in sehr verlang‐ samtem Tempo noch bis Ende 1863 daran weitergearbeitet wird 14) und erst 1871 wieder aufgenommen. Schon 1859 begegnet Dahn dem Stoff aber erneut, als er eine Rezension des ersten Bandes von Ferdinand Gregorovius’ „Geschichte der Stadt Rom im Mittelal‐ ter“ für Robert Eduard Prutz’ „Deutsches Museum“ verfasst, in dem auch Gregoro‐ vius publiziert. Vor allem begrüßt Dahn hier das ambitionierte Unternehmen und die „Schönheit der Darstellung unter Weglassung des gelehrten Apparates“ 15 und wünscht, dass sich die Gelehrten an Autoren wie Gregorovius ein Beispiel nähmen, und sich befleißigten, „ihr Metall auch schön [zu] stückeln und [zu] prägen“, um der Geschichtskenntnis in Deutschland gerade auch unter gebildeten Laien und Frauen zu größerer Verbreitung zu verhelfen. Mommsens „herrliche ‚Römische Ge‐ schichte‘“ führt er hier beispielhaft an. 16 Es gäbe jedoch durchaus Punkte, kündigt Dahn in den einleitenden Absätzen seiner Rezension an, denen er widersprechen müsse. 17 Und diesen Widerspruch knüpft Dahn ausdrücklich an eine Jahreszahl, an das Jahr 1859, in dem die ersten beiden Bände von Gregorovius’ „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“ erscheinen und Dahn die Rezension des ersten Bandes verfasst. In dem späteren Wiederabdruck seines Beitrags innerhalb der „Bausteine“ wird er die Jahreszahl der Abfassung (die nicht mit dem Erscheinungsdatum im Ok‐ tober 1860 übereinstimmt) am Ende des Beitrags wiederholen und sogar mit einem Ausrufezeichen versehen. Von denjenigen Fragen, für welche sich uns eine andere Beantwortung ergibt, mag hier nur eine hervorgehoben werden, welche heutzutage (1859), da man über die Lehre von Legitimität und von dem Recht der Thatsachen im Völkerrecht so wundersame prak‐ tische Uebungen anstellt, manches sinnige Lesergemüth interessieren könnte, nämlich

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turprodukte aus der Hand des Schöpfers hervorgegangen, in ihren Schicksalen zeigt sich die Abwicklung eines riesigen Gesetzes auf, das wir in Bezug auf uns das Sittengesetz nennen, und die Umwälzungen des Völkerlebens sind Verklärungen dieses Gesetzes. Es hat das et‐ was geheimnisvoll Außerordentliches. Es erscheint mir daher in historischen Romanen die Geschichte die Hauptsache und die einzelnen Menschen die Nebensache; sie werden von dem großen Strome getragen und helfen den Strom bilden.“ Geradezu als Replik hierauf erscheint Rudolf Gottschalls Vorwurf, den er gegenüber Dahns Roman erhebt: „Doch Völ‐ ker sind nur Helden in der Philosophie der Geschichte, nicht im Roman.“ (Gottschall, Felix Dahn’s „Ein Kampf um Rom“, [wie Anm. 6], S. 274). Ernst Osterkamp, Felix Dahn oder Der Professor als Held, München 2019, S. 57. Dahn, Rom im Mittelalter, in: Deutsches Museum. Zeitschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben, hg. von Robert Prutz, Nr. 42, Leipzig 8. Oktober 1860, S. 569–579, hier S. 570, erneut (mit kleineren Abweichungen) in: Ders., Bausteine. Gesammelte kleine Schriften, zweite Reihe, Berlin 1880, S. 235–249, hier S. 236. Ebd. Ebd.

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die Frage nach dem völkerrechtlichen und staatsrechtlichen Charakter der frühesten Versuche der Germanen, Italien zu beherrschen. 18

Der ironische, leicht höhnische Ton, den Dahn gern anschlägt, wenn er jemandem widerspricht, weist darauf hin, dass die hier angesprochene Frage von höchster Be‐ deutung im Dahn’schen weltanschaulichen System ist. Er lobt zwar Gregorovius’ Hervorhebung des schonenden Umgangs der Goten mit den römischen Bauten und Denkmälern, dass er hier also mit alten Vorurteilen aufräumt, bezweifelt aber dessen mehrfach wiederholte Vermutung, diese Bauten und die Stadt Rom selbst seien durchaus noch bedeutend gewesen: „Rom“ habe „politisch nicht die Bedeu‐ tung mehr“ gehabt, „welche ihm zugeschrieben“ werde. 19 Noch wichtiger ist Dahn allerdings die Frage des Herrschaftsanspruchs der gotischen Könige. Gregorovius legt großen Wert darauf, dass Theoderich als Verehrer römischer Kultur sich sowohl der römischen Regierungsform angepasst habe, als auch aktiv um den Erhalt der römischen Denkmäler bemüht gewesen sei: In der Helden-Gestalt Theoderich’s erscheint der erste Versuch der Germanen, auf den Trümmern des Reichs jene neue Weltordnung einzurichten, welche sich allmäh‐ lich aus der Verbindung der nordischen Barbaren mit der römischen Cultur und Na‐ tionalität ergeben mußte. Er war der Vorläufer Karls des Großen. Er zuerst zwang die noch flutende Völkerwanderung zum Stillstande [. . . ] und sein kühner Plan war, alle deutschen und lateinischen Völkerschaften wie ein Kaiser in einem Lehnreich zu ver‐ einigen. 20

Theoderich wird bei Gregorovius zu einem – wenn auch vorerst gescheiterten – Beförderer einer Entwicklung, die, wie dieser zuvor schon ausgeführt hat, von der Zerstörung des Reichs über dessen Verjüngung durch das Germanentum bis zu ei‐ nem „reichgegliederten Organismus selbstständiger Nationen“ 21 reicht, dessen alles vereinender Überbau schließlich die Kirche bilden sollte. Es sind vor allem seine erhaltenden Bestrebungen, insbesondere der Bauten und Kunstdenkmäler, durch die sich Theoderichs Legitimität für Gregorovius manifes‐ tiert. Als eine Szene des Frevels und der Barbarei schildert er daher auch die von Prokopius in seiner Geschichte der Gotenkriege überlieferte Verzweiflungstat der Römer, die bei der Belagerung Roms durch die Goten das Grabmal des Hadrian verteidigten, indem sie die Meisterwerke der griechisch-römischen Bildhauerei, die dort aufgestellt waren, auf die Angreifer hinabwarfen: 18 Ebd., S. 572, hier zitiert nach Dahn, Bausteine (wie Anm. 15), S. 239. Die in Klammern gesetzte Jahreszahl ist nur in der späteren Fassung vorhanden. 19 Ebd., S. 571, bzw. Dahn, Bausteine (wie Anm. 15), S. 238. 20 Ferdinand Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter, Bd. 1, 4. Aufl., Stutt‐ gart: Cotta 1886, S. 320–321. 21 Ebd., S. 253.

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Die zerbrochenen Meisterwerke, Bildsäulen von Kaisern, Göttern und Heroen, stürz‐ ten als ein Hagel wuchtiger Fragmente herunter; der stürmende Gothe wurde von den Leibern schöner Idole zerschmettert, die vielleicht schon die Tempel Athens als Werke des Polyklet oder des Praxiteles geziert hatten oder die vor vierhundert Jahren in Werkstätten Rom’s waren geschaffen worden. 22

Man wird sich der eindrucksvollen Schilderung dieser Szene im Kampf um Rom erinnern, die nicht nur Jan Philipp Reemtsma begeistert hat: Mit Grauen blickte Cethegus auf das furchtbare Werk der Zerstörung, das sein Wort angerichtet. Aber es hatte gerettet. [. . . ] ‚Unseliger, was hast du getan?‘ jammerte Kallistratos und starrte auf die Trümmer. ‚Das Notwendige!‘ antwortete Cethegus und schleuderte den Rest von Zeus, dem Er‐ retter, über den Wall. ‚Siehst du wie das traf ? – zwei Barbaren auf einen Schlag‘ – und zufrieden blickte er hinab. 23

Als der Kunstfreund Kallistratos, der sich schützend vor einen Apoll gestellt hat, von einem gothischen Pfeil durchbohrt wird und stirbt, lässt ihn Cethegus unter der von ihm geschützten Statue beisetzen und folgenden ironischen Spruch in einen Stein meißeln: „Kallistratos von Korinth ist hier für Rom gestorben; er hat den Gott, der Gott nicht ihn gerettet.“ 24 Während Gregorovius bemüht ist, durch derartige Szenen, die die Missachtung der Römer für die eigenen Kunstschätze veranschaulichen, und den wiederholten Hinweis, dass es vor allem Raubbau der Römer selbst war, der für den Verlust zahl‐ reicher antiker Schätze verantwortlich zu machen ist, die Eigenschaften der Goten als ‚gute Herrscher‘ herauszustellen, scheint Felix Dahn in seiner Rezension fast beflissen, diese Seite der gotischen Leistungen in Italien kleinzureden. „Odoracher“ (in der Schreibung der Namen grenzt sich Dahn in seiner Rezension plakativ von Gregorovius ab, der etwa in diesem Fall „Odoaker“ schreibt; in der Fassung der „Bausteine“ schreibt Dahn dann „Odovakar“) sei „keineswegs als ein erobernder König in Italien eingedrungen“ und hätte „den Thron der Cäsaren siegreich ge‐ stürzt“, 25 sondern letzten Endes sei er ein Aufrührer gewesen, der eine Revolte von unzufriedenen „deutschen Söldner[n]“ angeführt und dessen Herrschaft „auf äußerst unsicherem Boden“ 26 gestanden habe. Der Kaiser Zeno habe sich sodann 22 Ebd., S. 374. 23 Dahn, Ein Kampf um Rom. Historischer Roman. Erstes bis fünftes Buch, in: Ders., Gesammelte Werke. Erzählende und poetische Schriften, Neue wohlfeile Gesamtausgabe. Erste Serie, Bd. 1, Leipzig, Berlin 1929, S. 662 f. 24 Ebd., S. 668. 25 Dahn, Rom im Mittelalter (wie Anm. 15), S. 572 (Ders., Bausteine [wie Anm. 15], S. 239). 26 Ebd.

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Theoderichs bedient, um „sich eines der Germanenfürsten durch den andern zu entledigen“ 27. Und nicht so sehr Verehrung für „antike Cultur“ habe Theoderich nach Italien gezogen, sondern „Auch minder idealistische Gründe drängten.“ Das große Volk der Gothen, mit Weib und Kind und Knechten viele Hunderttausende zählend, mit Wagen, Vieh und Habe belastet, war seit vielen Jahren unstet [. . . ] her‐ umgezogen [. . . ]. Das Volk litt Mangel und war tief verstimmt [. . . ]: wenn Theoderich nicht bald eine große, rettende, alle Wünsche des Volks befriedigende Auskunft fand, konnte er selbst mit den Seinen verderben. 28

Noch deutlicher wird sich Dahn 1872 in einem Aufsatz über Theoderich gegen die Idee einer germanischen „Italiensehnsucht“ wenden: Wie die ganze sogenannte Völkerwanderung nicht aus dem artistischen Drang der Vandalen nach den Kunstschätzen oder der Naturschönheit Italiens oder gar aus mys‐ tischer Sehnsucht der Gothen nach den Wohlthaten des kaiserlich byzantinischen Christenthums hervorgegangen ist, wie man uns in der Schule gelehrt hat, sondern aus dem sehr realen Bedürfniß nach Brot, Acker, Land, da die alten Sitze der (seit dem Uebergang von Jagd und Viehzucht zu Ackerbau nach dem überall beobachteten Gesetz) sehr rasch vermehrten Bevölkerung nicht mehr genügten und von nachdrän‐ genden andern Stämmen bedroht waren. 29

Anschließend präsentiert Dahn, nicht ohne Genugtuung, ein Dokument, das seine alte These belegt, Theoderich habe sich gegen Odoaker sogar heimtückisch verhal‐ ten. 30 Warum ist es Dahn so wichtig, die Idealisierung Theoderichs zu korrigieren? Warum ist neben diesem auch das „allzu günstig“ geratene Bild der Tochter Theo‐ derichs, Amalaswinthas, ein Punkt, auf den sich seine Kritik an Gregorovius ins‐ besondere richtet? Gregorovius habe sich durch Amalaswinthas „römisch-helleni‐ sche Bildung und ihr unglückliches Ende“ für eine Verräterin einnehmen lassen, die „durch ihre blinde Verehrung für das Fremde und ihre Lossagung von dem natio‐ nalen Geist zu ihrem und ihres Volkes Untergang [. . . ] beigetragen [. . . ] für Verrath des Vaterlandes aber an den Erbfeind ist keine Strafe zu groß.“ 31 Es scheint mitunter, als würde Dahn, wenn er sich in germanische Angelegen‐ heiten hineinbegibt, sich immer der Gefahr einer allzu großen Identifikation mit dem Gegenstand aussetzen, als würde mitunter der Germane mit ihm durchgehen. 27 Ebd., S. 575 (Ders., Bausteine [wie Anm. 15], S. 243). 28 Ebd. 29 Dahn, Theoderich der Große und Odovakar (1872), in: Ders., Bausteine, zweite Reihe (wie Anm. 15), S. 272–275, hier S. 272–273. 30 Ebd., S. 274. 31 Dahn, Rom im Mittelalter (wie Anm. 15), S. 579 (Ders., Bausteine [wie Anm. 15], S. 249). Vgl. auch ders., Ein Kampf um Rom (wie Anm. 23), Viertes Buch, sechstes Kapitel, S. 319–326.

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An dieser Stelle eilt er wie die gute Fee herbei, um seine harschen Worte durch ein überschwängliches Lob des Verfassers auszugleichen, mit dem er seine Rezension beschließt: Uebrigens sei gern eingeräumt, daß diese Aussetzungen an dem ausgezeichneten Werk Dinge betreffen, welche mit seinem eigentlichen Gegenstand nicht unmittelbar zu‐ sammenhängen und in keiner Weise dem Lobe Abbruch thun können und wollen, welches die erfreuliche Arbeit nach Form und Inhalt verdient. 32

Hier kreuzen sich Dahns Rechtsdenken und völkische Ideologie. Hybridität und auf das Exotische gerichtetes Begehren werden strikt zurückgewiesen. Zugleich wird damit aber auch das politische Phantasma der germanischen Italiensehnsucht verworfen. Die im „Kampf um Rom“ veranschaulichte These ist, dass sich ohne Volk kein Staat machen lässt. Aufgrund dessen muss am Ende selbst der Meister‐ intrigant Cethegus scheitern, weil er zwar der letzte Römer ist, aber kein römisches Volk mehr hinter sich habe. Und deshalb habe auch das Gotenreich in Italien un‐ tergehen müssen, weil auch die Italiener – „und wir wollen uns hüten, solche Ge‐ sinnung zu verdammen“, wie sich zu Beginn des zweiten Buchs plötzlich eine bisher unter „der Instrumentation eine[r] fortwährende[n] Blechmusik“ 33 verborgen ge‐ haltene auktoriale Stimme in modern anmutendem ermahnenden Tonfall zu Wort meldet – „aufs tiefste die Schmach der Fremdherrschaft“ fühlten. 34 Jan Philipp Reemtsma hat 2004 in einer lesenswerten, bescheiden „Fußnote zu Felix Dahns Kampf um Rom“ genannten Studie Dahns aus heutiger Sicht überra‐ schend modern erscheinende rechtstheoretische Auffassungen insbesondere zum Kriegsrecht und zum Völkerrecht herangezogen und auf das Hauptwerk und den darin verhandelten Konflikt bezogen. 35 Zu Recht führt er aus, dass Dahn eine tiefe Skepsis gegenüber teleologischen Geschichtskonzeptionen empfinde; seine Über‐ zeugung ist, dass das, was im „Unlogischen und Unconsequenten, in dem Unver‐ nünftigen und Unbegreiflichen, in dem ohne Grund Wechselnden, welches dem Menschen als Laune, Willkür, ja als Hohn und Grausamkeit erscheint“, unter dem „Begriff des Schicksals“ stehe. 36 Damit begründe Dahn einerseits die von ihm oft 32 Dahn, Rom im Mittelalter (wie Anm. 15), S. 579 (nur in der Fassung des „Deutschen Mu‐ seums“). 33 Gottschall, Felix Dahn’s „Ein Kampf um Rom“ (wie Anm. 6), S. 273. 34 Dahn, Ein Kampf um Rom (wie Anm. 23), S. 59. 35 Jan Philipp Reemtsma, Untergang. Eine Fußnote zu Felix Dahns „Kampf um Rom“, in: Rechtsgeschichte – Legal History. Journal of the Max Planck Institute for Legal History and Legal Theory, Rg 5 (2004), S. 74–106. Online unter: http://dx.doi.org/10.12946/ rg05/076-106 (letzter Zugriff am 05. 05. 2022). 36 Dahn, Prokopius von Caesarea. Ein Beitrag zur Historiographie der Völkerwanderung und des sinkenden Römerthums, Berlin 1865, S. 226, siehe Reemtsma, Untergang (wie Anm. 35), S. 95.

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beschworene „tragisch-heroische Weltanschauung“ 37, andererseits sähe er aber im Recht die einzige Richtschnur und den einzigen Maßstab zur Beurteilung histo‐ rischen Handelns. Dies habe er in Schriften wie „Vom Werden und Wesen des Rechts“ ausgeführt, wo er einen Rechtsbegriff vertrete, der Rechtskonzepte jeweils als historisch gewachsene Problemlösungsstrategien einzelner Völker begreife, die jeweils relativ zueinander stehen. 38 Dabei geht Reemtsma aber so weit, zu behaup‐ ten, aus diesem Grunde sei Dahn „keineswegs völkisch gesinnt“, für ihn sei aus‐ schließlich der Staat – ethnisch homogen oder nicht – die Organisationsform der Spezies Mensch. 39 Den Dichter der Verse „Das höchste Gut des Mannes ist sein Volk / Das höchste Gut des Volkes ist sein Staat / Des Volkes Seele lebt in seiner Spra‐ che“ 40 wird man aber von einer derartigen Gesinnung nicht freisprechen können. In seiner Schrift „Über Naturrecht und Staat“ weist Dahn vielmehr einen Rechts‐ begriff zurück, der ein allgemeines Recht der ganzen Menschheit als ewiges Natur‐ recht beanspruche. Dies sei eine „juristisch bemalte Ethik“. Wir wissen heutzutage, daß der Staat nicht auf willkürlichem Vertrag, sondern nothwendig auf dem Wesen des Menschen ruht, daß es einen ‚Naturstand‘ in jenem Sinne nie gegeben hat, daß das Recht verschieden vom Ethos, daß es Selbstzweck der Vernunft ist, und daß es ein abstractes, allgemein menschliches Naturrecht, außer und oberhalb der historisch nationalen Rechte, nicht gibt. Wir wissen, daß es eine abstracte Menschheit nicht gibt, sondern nur eine concret in den Völkern erscheinende; wir wissen, daß es kein allgemein menschliches Naturrecht gibt, so wenig wie eine Na‐ tursprache, Naturkunst, Naturreligion, welche allen Menschen gemeinsam wäre. Die Idee des Rechts wie der Kunst und Religion ist freilich allgemein menschlich, aber sie erscheint nur in der Verschiedenheit der Völker und Zeiten. 41

Der Hauptfehler in Gregorovius’ Darstellung der Gotenkriege liege demzufolge in der Verkennung des unauflösbaren Rechtskonflikts, in dem Theoderich und die nachfolgenden Gotenkönige stehen: 37 38 39 40

Vgl. z. B. Dahn, Erinnerungen, Bd. 2: Die Universitätszeit, Leipzig 1891, S. 37. Reemtsma, Untergang (wie Anm. 35), S. 88. Ebd., S. 86. Vgl. Kurt Frech, Felix Dahn. Die Verbreitung völkischen Gedankenguts durch den histori‐ schen Roman, in: Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871–1918, hg. von Uwe Pusch‐ ner, Walter Schmitz, Justus H. Ulbricht, München [u. a.] 1996, S. 685–698, hier S. 686. Frech blendet allerdings Dahns entschieden anti-essenzialistische (vgl. Reemtsma, Un‐ tergang [wie Anm. 35], S. 87), historisch-relativierende Rechtsauffassung, seine sehr mo‐ dernen völkerrechtlichen Ansichten, insbesondere zum Kriegsrecht, auf die Reemtsma zu Recht aufmerksam macht (vgl. ebd., S. 100–101!), völlig aus. Der Versuch einer Darstellung von Dahns Rechtsauffassung im Widerspruch zu seiner quasi-religiösen Überhöhung des Volks und der Völker (Frech, Felix Dahn, S. 690) wäre ein interessantes Vorhaben. 41 Dahn, Naturrecht und Ethik, in: Ders., Bausteine, vierte Reihe, erste Schicht: Rechtsphi‐ losophische Studien, Berlin 1883, S. 18–19.

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Gregorovius hat die Hauptgesichtspunkte [der Herrschaft Theoderichs] richtig, wenn auch bei weitem nicht erschöpfend angegeben. Hier werde nur das statsrechtliche Verhältniß zu Byzanz skizzirt. Es litt von vornherein an einem unheilbaren logischen Widerspruch. Theoderich’s Machtstellung ruhte auf zwei verschiedenen, ja sich auf‐ hebenden Principien: er herrschte über die Gothen, welche in Italien angesidelt waren, als gothischer Volkskönig, über die Italiener als Statthalter des Kaisers. Aber in Wahrheit herrschte er doch auch über die Italiener infolge der Eroberung, durch seine Waffen, in eigenem Namen. Sehr wohl wußten die Römer, daß der Kaiser in Byzanz die gothische Niederlassung und Herrschaft in Italien nur als ein nothwen‐ diges Uebel ansah, das man eben dulden mußte, solange die Umstände nicht gestatte‐ ten, der Barbarenherrschaft ein Ende zu machen [. . . ]. 42 Als aber nach dem Tode Theoderich’s unter den schwachen, thörichten und unwür‐ digen Nachfolgern aus dem Hause der Amelungen die Macht des Gothenreichs sank und sank, da trat nackter und nackter die eigentliche Auffassung des byzantinischen Hofs hervor: die legitimen Herren in Byzanz von freilich auch sehr zweifelhafter An‐ ständigkeit des Machterwerbs, hatten in ihrem tiefsten Herzen den Gothen niemals als legitim anerkannt [. . . ]. 43

Dagegen sieht Gregorovius in Theoderich den „erste[n] Versuch der Germanen, auf den Trümmern des Reichs jene neue Weltordnung einzurichten, welche sich allmä‐ lig aus der römischen Cultur und Nationalität ergeben musste.“ 44 Die sich hier an‐ bahnende „Metamorphose der Welt“, die die Kirche fortsetzen wird, wird das Werk der Wiederherstellung des Reichs schließlich in einem langen Prozess vollenden. Dieses „großartigste Drama der Geschichte und der glänzendste Triumf des in ihm sich ordnenden und entwickelnden Menschengeistes“ 45 bildet den teleologischen Faden der Geschichte Roms im Mittelalter von Gregorovius. Dahn hingegen lehnt jede Art von Geschichtsteleologie rigoros ab. Diese Ablehnung bringt er bereits kurze Zeit nach seiner Rezension in einem Gregorovius gewidmeten Gedicht zum Ausdruck. Ernst Osterkamp hat Dahn den „Widmungstitan in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts“ genannt 46 und den Umstand, dass es so gut wie keine seiner Pu‐ blikationen ohne Widmung an irgendwen gibt, auf Dahns „Zweit- und Drittran‐ gigkeit“ 47 zurückgeführt, die es erforderlich gemacht habe, sich Gunst und Un‐ terstützung namhafter Kollegen zu ‚erwidmen‘ – mit Ausnahme einiger weniger 42 Dahn, Rom im Mittelalter (wie Anm. 15), S. 576 (Ders., Bausteine [wie Anm. 15], S. 245). 43 Ebd., S. 577 (Dahn, Bausteine [wie Anm. 15], S. 247). 44 Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom (wie Anm. 20), S. 321. 45 Ebd., S. 242. 46 Osterkamp, Felix Dahn (wie Anm. 14), S. 108. 47 Ebd., S. 107.

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Freundschaftswidmungen. Nun verfasst er bereits 1860 ein Gedicht, das Ferdinand Gregorovius gewidmet ist: „Der Leichenzug Otto III.“. 48 Wieder einmal, wie so oft bei Felix Dahn, geht es um einen Untergang. Otto III., der letzte der ottonischen Kaiser, der das Römische Reich hatte wiederherstellen wollen und in jungen Jahren in Paterno verstarb, während die Stadt gegen ihn im Aufruhr war, soll in Aachen neben Karl dem Großen bestattet werden. Der Zug durch Italien wird von zahlrei‐ chen Angriffen durch italienische Aufständische unterbrochen und gestaltet sich als blutiger Rückzug: Ihr Welschen, weicht und gebt uns Raum Und scheut die grimmen Streiche: Wir tragen einen Kaisertraum Und eine Kaiserleiche.

Die Eröffnungsstrophe nimmt motivisch das Lied vorweg, das der Sänger Adalgoth am Ende des „Kampfes um Rom“ anstimmt, vor dem toten Teja einherschreitend zum Schiff der Wikinger, die die letzten überlebenden Goten nach Thuleland brin‐ gen werden: Gebt Raum, ihr Völker, unserm Schritt: Wir sind die letzten Goten! Wir tragen keine Krone mit – Wir tragen einen Toten. 49

Dass Otto III. für Felix Dahn einen Fall jener verhängnisvollen Italiensehnsucht der Germanen repräsentiert, die er als geschichtsphilosophisches Argument ablehnt, ist deutlich. Auch, dass die Auseinandersetzung mit den Fragen, die sich für Dahn aus der Beschäftigung mit Gregorovius ergeben, zum Konzept des „Kampfes um Rom“ beigetragen haben und sich bis in dessen Schlusstableau fortzeichnen. Ferdinand Gregorovius fand in Otto III. (980–1002) einen „jungen, ruhmbegierigen, vom Ideal alter Herrlichkeit berauschten Kaiser, der eine neue Aera des Reichs von sich selbst zu datiren hoffte“. 50 48 Dahn, Leichenzug Otto III., in: Ders., Gesammelte Werke. Erzählende und poetische Schriften, Ser. 2, Bd. 5: Gedichte und Balladen, Leipzig 1912, S. 308–311. Autograph im Bestand der Bayerischen Staatsbibliothek, datiert auf 1860, nach Veronika Keller, Fe‐ lix Dahn: Werkmanuskripte und Briefkorrespondenz. Ein Repertorium, Wiesbaden 2016, S. 93. 49 Dahn, Ein Kampf um Rom. Historischer Roman. Sechstes bis siebtes Buch, in: Ders.: Gesammelte Werke. Erzählende und poetische Schriften, Neue wohlfeile Gesamtausgabe. Erste Serie, Bd. 2, Leipzig, Berlin 1929, S. 683. 50 Ferdinand Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter, Bd. 3, 4. Aufl., Stutt‐ gart 1890, S. 458 (vgl. in der 1. Aufl., 1860, S. 502).

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Otto III. ist vielleicht das glänzendste geschichtliche Opfer des Enthusiasmus der Deutschen für die schöne südliche Welt Italien’s, wohin sie stets ein idealistischer Trieb gezogen hat. Andere Völker alter und neuer Zeit haben sich mit der Begier poli‐ tischer Triebe in das Ausland gewendet; unsere einzige Eroberung war im Grunde Ita‐ lien, das Land der Geschichte, der Schönheit und der Poesie, welches uns selbst wieder‐ holt herbeigerufen hat. Die Innerlichkeit des religiösen Gefühls machte die Deutschen zu Beschützern der römischen Kirche und fesselte sie mit Notwendigkeit an Rom. Der Drang nach dem Wissen trieb sie zu den Schatzkammern des Altertums, und er wird uns dies Land Italien und Rom ewig teuer machen. Die politischen Combinationen schufen die Idee des Reichs, deren Träger Deutschland wurde. Um dieser allgemeinen Form willen, der Kirche und des Reichs, welche die friedlichen Beziehungen der Völ‐ ker zueinander ordnen und erhalten sollten, haben die Deutschen ihre eigene Natio‐ nalität geschwächt. Ihre Könige haben sie Jahrhunderte lang über die Alpen geführt, um für ein politisch-religiöses Ideal zu sterben, aber doch machte dies Deutschland zu einer auserwählten Nation. Immer gerichtet auf die höchsten Ziele der Menschheit, wurde es fähig, das Centrum der befreienden, geistigen Arbeit Europa’s zu werden. [. . . ] Die Gestalt dieses für alles Große begeisterten Jünglings gehört fast mehr der Dichtung als der Geschichte an, in welcher er keine bedeutende Spur zurückgelassen hat. 51

Gregorovius hatte 1860 selbst die Absicht, ein Otto-Drama zu schreiben, von dem auch zwei Akte vollendet wurden, die er jedoch schließlich verbrannte. Die Geschichte Otto’s III. in Rom [. . . ] reizte mich in der Zeit, als die lombardische Furie [italienisch-österreichischer Krieg] begann, und die römische Frage wieder an‐ geregt ward: so daß ich fast 2 Acte auf der Campagna niederschrieb. 52

1873 hatte Gregorovius in einem Brief an Hermann von Thile erklärt, in seiner Monographie über Lucrezia Borgia 53 habe er „an die Stelle eines hergebrachten Romans die Geschichte gesetzt“. 54 In Otto III. wiederum erscheint die Geschichte 51 Ebd., S. 476–478 (vgl. in der 1. Aufl., 1860, S. 521–523). 52 „Ich fürchte, daß dieser Stoff an der epischen Breite leiden wird, welche als ein Fluch al‐ len Sujets deutscher Geschichte in Beziehung auf dramatische Behandlung eigen zu sein pflegt. Während Crescentius als ein dramatischer Charakter völlig klar und bestimmt her‐ ausspringt, löst sich die Gestalt eines Kaisers kaum von einem undramatischen System ab, und die ungeheuern politischen Dimensionen, die Ausbreitung von Plänen, Entwürfen ins Unermeßliche, machen es schwer, solch ein Wesen auf einen dramatischen Punct zu concentriren.“ (Gregorovius an Hermann von Thile, 11. Januar 1860, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe [wie Anm. 12], URL: https://gregoroviusedition.dhi-roma.it/letters/G000093). 53 Ferdinand Gregorovius, Lucrezia Borgia, 2 Bde. Stuttgart 1874. 54 Gregorovius an Hermann von Thile, 14. September 1873, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 12), URL: https://gregorovius-edition.dhiroma.it/letters/G000364/ninr_wms_tlb.

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selbst wie Dichtung. Weil Literatur für den Hegelianer Gregorovius das Telos, sich in Geschichte aufzuheben, bereits in sich trägt, fallen beide im besten Falle in eins. So erklärt sich auch, dass in einer ästhetischen „Sehnsucht nach Italien“ sich ein geschichtsphilosophischer Auftrag verbirgt und erfüllt. Es ist, wie Dominik Fug‐ ger bemerkt, „nicht ohne Ironie, dass Felix Dahn, der von Gregorovius, vorsichtig gesprochen, nur bedingt geschätzte Kollege, Otto III. belletristisch bemeistert“, 55 indem ihm im Jahr 1860 zumindest ein Gedicht aus diesem Stoff gelingt. Dahn wiederum erklärt, „zwischen Wissenschaft und Dichtung, scharf getrennt, dop‐ pelte Buchhaltung“ zu praktizieren, „Phantasie, kühne Einfälle, verwegene Vermu‐ thungen über Menschen und Dinge in dem geschichtlichen Roman: – aber in der Geschichte strengste, quellenmäßige, nüchternste Gegenständlichkeit“ 56 walten zu lassen. Zwar hält ihn das nicht davon ab, sich auch in seinen literarischen Wer‐ ken immer wieder als historische Zusammenhänge erörternde Instanz zwischen‐ zuschalten, aber in seiner Arbeit als Wissenschaftler erlaubt er sich nicht, der, wie er erklärt, naheliegenden Versuchung nachzugeben, „auch in die Wissenschaft, zu‐ mal in die Erforschung des germanischen Alterthums, das Dichterische eingrei‐ fen zu lassen, was die Einbildungskraft als schön, edel, schwungvoll, dichterisch befriedigte, in unbewußter Selbsttäuschung auch in der Geschichte zu finden“. 57 Bezugnehmend auch auf August von Platens „Klaglied Kaiser Otto III.“, dessen schlanken, historisch anspielungsreichen Hildebrandstrophen Dahn balladenkon‐ ventionellere Chevy-Chase-Strophen entgegensetzt, ist Dahns Gedicht eine An‐ klage der in die Geschichte treten wollenden Poesie, eines „Romantikers auf dem Thron“. Nicht stellt er Ottos Resignation dar, sondern sein Gedicht repräsentiert die Stimme des Volkes, das die falschen Ideale des Königs verwirft. Fast die gesamte erste Hälfte widmet sich dabei den Anfeindungen der Italiener, den Angriffen auf den Sarg und dem Hohn, den Otto erfährt. Anders als bei Platen oder Gregorovius wird dem Traum Ottos vom wiedererstehenden Reich kein Platz eingeräumt. Aus der Sicht des im Gedicht zu Wort kommenden Kollektivs sind dessen romantische Träume nur Superbia. Diese Kollektivstimme hat dabei weder Verständnis für das, was Otto bewegt, noch ist in diesem Gedicht, wie es im „Kampf um Rom“ der Fall sein wird, Platz für den auktorialen Einwurf des Gelehrten, der historische Aner‐ kennung für die Berechtigung des Aufstands der Italiener einfordert.

55 Dominik Fugger, Ein Leben als Privatgelehrter. Ferdinand Gregorovius in seinen Briefen nach Königsberg, in: Gregorovius, Briefe nach Königsberg (wie Anm. 1), S. 20. 56 Dahn, Erinnerungen (wie Anm. 37), S. 23–24. Vgl. auch: Barbara Besslich, Abtrünnig der Gegenwart. Julian Apostata und die narrative Imagination der Spätantike bei Friedrich de la Motte Fouqué und Felix Dahn, in: Imagination und Evidenz: Transformationen der Antike im ästhetischen Historismus, hg. von Ernst Osterkamp und Thorsten Valk, Boston, Berlin 2011, S. 155–170, hier S. 164–165. 57 Dahn, Erinnerungen (wie Anm. 37), S. 20–21.

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Dem Jüngling schien zu nebelgrau Das schlichte Land der Sachsen, Ihn zog’s nach Südens goldner Au, Wo stolz die Lorbeern wachsen. Der Romstadt, die am Tiber prangt, Ihr galten seine Taten: – Die Römer haben’s ihm gedankt, Und haben ihn verraten. 58

Aus den Träumen Ottos gehen nichts als Blut und Zerstörung hervor. Auf die Licht‐ gestalt folgt das Gemetzel: Und als sein Blick den Glanz verlor Da stand das Haus in Flammen: Wir aber brachen aus dem Tor Und hieben sie zusammen. Da gab’s ein mächtig Schrein und Fliehn, Der Tiber ging in Leichen, Das Forum und der Palatin Erscholl von deutschen Streichen. [. . . ] Und fall’n sie uns zur Nachtzeit an, – Sie finden wache Herzen, Wir zünden ihre Dörfer an Zu roten Leichenkerzen. Haut nieder, was heran sich wagt, Schont Weiber nur und Kinder, Und jeder, den ihr niederschlagt, Das ist ein Todfeind minder. 59

Am Ende wird Otto seinem Wunsch gemäß in Aachen beigesetzt („Die mir die Treue brachen, / Zerbrächen mein Gebein: / Beim großen Karl in Aachen / Will ich bestattet sein.“ hatte es bei Platen geheißen), doch Schwaben, Bayern, Franken und Sachsen, die im Tragen dieser „heil’ge[n] Last“ eine Art Gemeinschaftsstiftung als Deutsche erfahren, sind letzten Endes Ausführende eines ihnen unverständlich bleibenden Vorgangs. Der Vergleich mit Karl dem Großen, an dem sich bei Platen in der abschließenden Pointe das Vergehen des politischen Träumers in seiner Passivi‐ tät erweist: „Und legt den tatenlosen / Zum tatenreichsten Mann!“, bleibt bei Dahn aus. Wieder einmal ist es die Erfahrung einer Niederlage, die bei Dahn Identität stiftet, der aber kein positives Bild entgegengesetzt wird. 58 Dahn, Leichenzug Otto III. (wie Anm. 32), S. 308. 59 Ebd., S. 309

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Ernst Osterkamp hat eindrucksvoll dargestellt, inwiefern die Teilnahme an der Schlacht bei Sedan für Felix Dahn ein Versuch war, sich in einer persönlichen Kri‐ sensituation einer Art Gottesgericht auszusetzen. 60 Eigentlich als Sanitäter einge‐ teilt, nimmt er einem Verwundeten das Gewehr ab und stürzt sich in die Schlacht: „Wie ich näher und näher dem feindlichen Feuer kam, wie die ersten Granaten hoch ob meinem Haupte platzten und die Stücke um mich her verstreuten, schrie ich laut auf vor Freude, vor einer Art von Wollust, nahm den Hut ab und rannte, was ich rennen konnte und noch rascher vorwärts, ‚hinein!‘“ 61 In seinem lyrischen „Radaubruder-Stil“ 62, der sicher zu seinem anrüchigen Image selbst dort beigetragen hat, wo man ihm womöglich politisch sogar nahe‐ stand, 63 ergeht sich Dahn immer wieder in Gemetzeln, die wie im Falle des vor‐ liegenden Gedichts eigenartig sinnentleert, als Ausdruck roher Rauflust den Krieg feiern, ohne dabei, wie in den Romanen, eine Relativierung durch eine objektivie‐ rende Instanz oder die Außenperspektive zuzulassen, die er dort Stellvertreter-Fi‐ guren wie dem byzantinischen Historiker Prokopius im „Kampf um Rom“ in den Mund legt. Dieser hat auch seine Freude an der Kraft und dem Heldenmut Belisars, wenn ihm manchmal die blinde Lust, dreinzuschlagen, durch alle seine Feldherrnpläne braust. Mich freut’s, wenn ich ihn in der Schlacht mitten unter die Feinde jagen sehe und kämpfen, wie ein schäumender Eber haut. Freilich, sagen darf ich’s ihm nicht, daß mir das gefällt; denn sonst wär’s nicht auszuhalten: in drei Tagen wär’ er in Stücke ge‐ hauen. Im Gegenteil; ich halte ihn zurück: ich bin sein Verstand, wie er mich nennt. 64

Dichtung, so scheint es, ist der Ort, diese blinde Lust auszuleben, der Ort des Trie‐ bes. Wo es die Aufgabe des Historikers ist, den Zusammenhang der Dinge zu über‐ schauen, erlaubt die Literatur ein blindes „Hinein!“ in den Augenblick, der außer‐ halb der sinnstiftenden Paradigmen der Geschichtsschreibung liegt, dennoch aber immer wieder historisch wirksam wird. 60 Osterkamp, Felix Dahn (wie Anm. 14), S. 21–38. 61 Dahn, Erinnerungen, Bd. 4, 1, S. 221, zit. nach Osterkamp, Felix Dahn (wie Anm. 14), S. 28. 62 So in einem Brief von Theodor Fontane an Hermann Scherenberg vom 2. Januar 1894 (in: Theodor Fontane, Briefe, Bd. 4: 1890–1898, hg. von W. Keitel, München 1982, S. 319) in Erinnerung an sein zu Beginn der fünfziger Jahre nach einer Lesung Felix Dahns geäu‐ ßertes Lob, „Na, das ist ja armsdicke Poesie“, das Felix Dahn in seinen Erinnerungen stolz zitiert hatte und Fontane jetzt peinlich war. Fontanes Äußerung bezieht sich also eigentlich auf die eigene Bemerkung, spiegelt aber auch den Duktus der Dahn’schen Lyrik. 63 Bis 1872 zählte Dahn sich zum „damaligen alleräußersten Flügel der Nationalliberalen“, von da an sah er sich „an der Gränzscheide zwischen Nationalliberalen und Freiconser‐ vativen“, also den Bismarck-Anhängern. Siehe Jürgen Manthey, Königsberg. Geschichte einer Weltbürgerrepublik, München 2005, S. 532. 64 Dahn, Ein Kampf um Rom (wie Anm. 23), S. 537.

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Je mehr die Geschichtsschreibung mit dem Aufstieg Preußens und der schließli‐ chen Reichseinigung an Bedeutung gewinnt und zur staatstragenden Wissenschaft wird, desto stärker macht sich eine Kluft zwischen wissenschaftlicher und litera‐ rischer Geschichtsverarbeitung bemerkbar. Während Gregorovius trachtet, Lite‐ ratur im Hegel’schen Sinne in Geschichtsschreibung aufzuheben und dabei der Geschichte ein ästhetisches Telos – „Italiensehnsucht“ – unterlegt, 65 ist die pro‐ grammatische Abtrennung des Wissenschaftlers vom Dichter bei Dahn auch eine Methode, die in der Geschichte wirksamen inkommensurablen oder auch irratio‐ nalen Faktoren abzusondern und in einem zweiten Schritt dann auch wieder als potenziellen Gegenstand der Forschung in den Blick zu nehmen, gegebenenfalls – seine vier Bände in fünf voluminösen Teilbänden umfassenden Erinnerungen legen Zeugnis davon ab – auch in der eigenen Person.

65 Ganz in diesem Sinne wird, nebenbei bemerkt, Karl Haushofer, der Begründer der Geo‐ politik, 1924 zur Beflügelung der „geopolitischen Sehnsucht“ nach dem pazifischen Raum, zur Neubelebung und Weitererhaltung einer „uralte[n] Germanensehnsucht nach den wei‐ ten, warmen Meeren“ durch Ästhetik und Kunst aufrufen (Karl Haushofer, Geopolitik des pazifischen Ozeans, Studien über die Wechselbeziehungen zwischen Geographie und Geschichte, 2. ergänzte Aufl., Berlin 1927, S. 7).

Die deutsche Sendung Ferdinand Gregorovius und Richard Wagner Angela Steinsiek

Ferdinand Gregorovius und Richard Wagner in einem Atemzug zu nennen, hätte beiden Genannten Kopfzerbrechen bereitet. Natürlich könnten der bekennende Humanist und der bekennende Antisemit – um nur jeweils eine Eigenschaft zu nennen, die sie trennt – gar nicht verschiedener sein. Was Gregorovius von Wag‐ ner hielt, wird in einem Brief zusammengefasst, den dieser am 18. Januar 1883 an eine Freundin richtet, nachdem er in München Zeuge der von Cosima Wagner wohlinszenierten Überführung des einbalsamierten Leichnams von Richard Wag‐ ner von Venedig nach Bayreuth geworden war: Gestern kam hier der todte Parcival durch, in 1 venetianischen Militärwagen, worauf geschrieben stand trenta cinque uomini – so stark ist dieser Mensch gewesen, wie 35 Mann, wog mehr als 1 ganzes Rudel von Königen, und soll noch 1 rechter Teufel dazu gewesen sein. Nun meldet Ihnen meine Wenigkeit und Nullität, daß ich am Ende die‐ ses grauen Monats Febbraio nach Rom gehe – ich denke noch immer über Mailand. 1

Der Komponist und Schriftsteller, der sich als Heilsbringer stilisierte und Könige in den Dienst seiner Kunst gestellt hatte, befand sich auf dem letzten Triumph‐ zug durch die Stadt des seinem romantischen Wahn verfallenen Ludwig II., der wesentliche Teile seines „Rings des Nibelungen“, des Festspielhauses und der Villa Wahnfried finanziert hatte, bevor er 1876 dem „großen Götzenfest in Baireut“ bei‐ gewohnt hatte – so in etwa wäre dieser spöttische Bericht von Gregorovius auszu‐ formulieren. Und doch ist es ein das 19. Jahrhundert kennzeichnender Gedanke, der ein Nebeneinanderhalten beider Autoren nahelegt: die Überzeugung, dass das eigene Werk von nationalem Interesse ist. Am 9. April 1853, ein Jahr nachdem er italienischen Boden betreten hatte, trug Gregorovius Johann Georg von Cotta den Verlag seines „Corsica“ an. In einem dem Manuskript beiliegenden Schreiben erläutert er ausführlich Inhalt und Form seines italienischen Erstlings:

1 Gregorovius an Charlotte Klumpp, 18. Februar 1883, in: Ferdinand Gregorovius, Poe‐ sie und Wissenschaft. Gesammelte deutsche und italienische Briefe (digitale Edition), hg. von Angela Steinsiek, Deutsches Historisches Institut in Rom 2017–2023, URL: https:// gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/ed_a5b_1wc_2qb.

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Soll ich von den ernsten Zwecken reden, die mich bei dieser Arbeit leiteten, so wa‐ ren sie zweierlei; einmal die Erneuerung des historischen Andenkens eines heroischen Volkes [. . . ]; das andere mal will mein Buch unserer durch empfindelnde Lyrik und den breitgestoßenen Unterhaltungsroman verweichlichten Literatur gegenüber auch eine frische und heilsame Erscheinung sein. Und was kann man einem rechts wie links viel‐ fach von exzentrischen Theorien und rhetorischen Phrasen beherrschten Publicum in unseren Tagen Besseres zu bieten versuchen, als die ruhigen Charakterzüge starker, handelnder und vaterlandsliebender Männer in Weise der Alten? Es sollte mir daher dies Buch gleichsam als ein neuer Plutarch wirken und zu edlen und positiven Empfin‐ dungen auch die Jugend anregen, welche es begierig lesen wird. Wenn Sie einen Blick in seine Menschen geworfen haben, werden Sie meine Meinung, so hoffe ich, nicht für eine bloße Illusion erkennen. Durchweg habe ich das Buch sachlich, maßvoll und untendenziös gehalten, und reden allein die Dinge; und obwol dem Leser die Paralle‐ len zur unmittelbaren Gegenwart überall zukommen, habe ich stets mein subjectives Meinen zurückgehalten, um ihm nicht zu schaden. 2

Über den ersten, für das Schreiben von Gregorovius ganz zentralen Programm‐ punkt, eine Alternative zur „verweichlichten Literatur“ des Unterhaltungsromans bieten zu wollen, klärt uns auch Roman Lach im vorliegenden Band auf. Interessant ist hier zunächst einmal der zweite didaktische Ansatz, dass er seine historische Dar‐ stellung unter einer Idee zusammengefasst habe, die überall „Parallelen zur unmit‐ telbaren Gegenwart“ habe. Auf welche Weise der enttäuschte Königsberger Revo‐ lutionär und Leitartikler sein Buch verstanden wissen wollte, darauf hatten bereits einige seiner vorab in der „Allgemeinen Zeitung“ abgedruckten Artikel hingewie‐ sen, die in den ersten Band seines „Corsica“ (1854) eingegangen waren: 3 Neben den „Wanderungen durch Corsica“ 4 hatte Gregorovius unter dem Titel „Sampiero. Ein Heldenbild aus der Geschichte der Corsen“ eine lange Folge von Artikeln dem korsischen Freiheitskämpfer und Volkshelden Sampièro di Bastelìca (1497–1567) gewidmet, 5 der 1553 mit französischer und osmanischer Hilfe den korsischen Auf‐ stand gegen Genua angeführt hatte. In seiner Buchpublikation behandelte Gregoro‐ 2 Gregorovius an die J. G. Cotta’sche Buchhandlung und Johann Georg Cotta, 9. April 1853, ebd., URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000002. 3 Ferdinand Gregorovius, Corsica, Bd. 1, Stuttgart: Cotta 1854, S. 34–53. 4 Sie erschienen in einer Folge von fünfzehn Artikeln vom 29. September – 24. Dezem‐ ber 1852 in der Beilage zur „Allgemeinen Zeitung“. 5 Sie wurde in sieben Folgen vom 16.–23. Februar 1853 in der Beilage zur „Allgemeinen Zei‐ tung“ gedruckt. Das abenteuerliche Leben des korsischen Volkshelden war vor Gregorovius’ „Corsica“ von dem österreichischen Dramatiker Friedrich Halm (1806–1871) als Trauer‐ spiel in fünf Akten bearbeitet worden, das am 22. Januar 1844 im Wiener Hofburgtheater uraufgeführt worden war (Druck: Wien: Carl Gerold’s Sohn 1857) und nach ihm von Emil Hopffer (1838–1877) unter dem Titel „Sampiero. Trauerspiel in fünf Aufzügen“ (Berlin: Hoffschläger 1864).

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vius auch den deutschen Abenteurer Theodor Freiherr von Neuhoff (1694–1756), der kurzeitig die korsische Unabhängigkeitsbewegung gegen Genua anführte und der erste und einzig frei gewählte König Korsikas war, sowie den korsischen Revo‐ lutionär und Widerstandskämpfer gegen die Genueser und die Franzosen, Pasquale Paoli (1725–1807). Sie alle, so ließ Gregorovius den Seniorverleger wissen, seien als „Voraussetzung des Napoleonischen Wesens lehrreich“. Der Kerngedanke seines Buches sei also der durch die historische Herleitung zu erbringende Nachweis, dass Korsika, deren Bewohner seit jeher „romantisch, theatralisch, abenteuerlich“ gewe‐ sen waren, 6 mit historischer Folgerichtigkeit einen Napoleon hervorbrachte, nach dem ein ganzes Zeitalter benannt wurde, eine beispielhafte historische Figur, die die Geschichte der Menschheit, welche durch die politische Regel in Verknöcherung versank und in einem legitimen Kastenwesen erstarrte, gewaltsam durchbrochen, neu bewegt, mit neuem Geist erfüllt und den Mann über das politische Schicksal gestellt [hat]. Es hat die Menschenkraft und Menschenleidenschaft vom Bann der Ständebe‐ schränkungen losgerissen [. . . ]. Nicht in seinen Schlachten, sondern in seinem revolu‐ tionären Wesen liegt seine weltgeschichtliche Größe. Er hat die legitimen Götter der Politik gestürzt. [. . . ] Auch die Geschichte ist Natur. Es gibt eine Kette von Ursachen und Wirkungen, und was wir Genie oder einen großen Menschen nennen, ist immer das notwendige Erzeugniß bestimmter Bedingungen. 7

Gregorovius wird hier nicht an den Abenteurer und Welteroberer Napoleon als Produkt der Französischen Revolution gedacht haben, den er in seiner korsischen Jugend noch „unangetastet von der besudelnden Hand des Eigennutzes“ gesehen hat, bevor „das schöne Menschenbild nach und nach sich zertrümmert und von uns zu denen gestellt wird, welche gewöhnliche Despoten waren“. 8 Er wird vor allem an seine Pius VII. aufgenötigte Kaiserkrönung und insbesondere an das mit dem Papst geschlossene Konkordat vom 15. Juli 1801 gedacht haben, das die Religionsfreiheit in Frankreich besiegelte und 1905 zuletzt die radikale Trennung von Kirche und Staat nach sich ziehen sollte. Die Trennung von Kirche und Staat ist bekanntlich einer der Leitgedanken seines späteren Hauptwerks, der „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“ (1859–1872). In diesem Sinne schreibt Gregorovius Jahrzehnte später, im Jahre 1888: Die durch die französische Revolution und Napoleon aus den Angeln gehobene Welt hatte sich im Jahre 1815 wieder eingefügt, das Papsttum sich in Rom neu eingerichtet, und die Ewige Stadt war in ihr altes göttliches Nirwana, in jene von der Geschichte

6 Ferdinand Gregorovius, Corsica, Bd. 2, Stuttgart: Cotta 1854, S. 157. 7 Ebd., S. 117–118. 8 Ebd., S. 129.

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gesättigte, zeitlose Stille zurückgesunken, deren narkotischer Odemzug auf alle idealen Naturen immer wie ein Zaubertrank gewirkt hat. 9

Mit anderen Worten: Das durch Napoleon in die Welt getragene Prinzip der Re‐ volution, aber auch das der republikanischen Nationalität verschwand mit dem Wiener Kongress einstweilen aus der Welt. 10 Die Aufgabe des Geschichtsschreibers begriff Gregorovius schon in seinem ersten, in Italien entstandenen Text in Abhän‐ gigkeit von seiner eigenen Position als die eines Aufklärers, der mit der Schilderung historischer Biographien (und literarischer Traditionen) Korsikas eine identifika‐ torische Folie und eine Bilanz für die Gegenwart erstellt, warum der Kampf gegen die Fremdherrschaft auf Korsika mutig verfolgt, aber gescheitert war. Dabei ist das Zielpublikum von Gregorovius freilich nicht in Korsika, sondern im nachrevolutio‐ nären Preußen zu verorten, dessen Kampf um einen demokratischen gesamtdeut‐ schen Nationalstaat fehlgeschlagen war. Auch Richard Wagner hatte sich in seinen jungen Jahren von Dresden aus in Presseartikeln auf die Seite der Revolutionäre geschlagen. Im Mai 1848 hatte er einen Brief an den sächsischen Abgeordneten Franz Jacob Wigand (1807–1885) mit einen Vierpunkteplan geschickt, den die Frankfurter Nationalversammlung den Landesfürsten zur Unterzeichnung vorzulegen hätten. Nach dem Verlust seiner Stellung als Musikdirektor des Hoftheaters dachte Wagner im „Dresdner Anzeiger“ darüber nach, wie sich „republikanische Bestrebungen dem Königtume gegenüber“ verhalten 11 und forderte früh, was Robert Schumann spöttisch als „Theaterrepu‐ blik“ 12 bezeichnete, eine Republik, in der Kunst und Volk eins sein sollten. Die publizistischen Beiträge und öffentlichen Reden Wagners, mit denen er sich zu den republikanischen Reformbestrebungen in Sachsen zu Wort meldete und seine 9 Ferdinand Gregorovius, Die Villa Malta in Rom und ihre deutschen Erinnerungen, in: Unsere Zeit. Deutsche Revue der Gegenwart, Bd. 2, Leipzig 1888, S. 6. 10 Dass die von seinem Neffen, Napoleon III., angeordnete Aufführung von Wagners „Tann‐ häuser“ in der Pariser Oper am 18. März 1861 wegen des in der Gand Opera regelwidrigen Verzichts auf eine Ballettszene am Beginn des zweiten Aktes einen riesigen Skandal verur‐ sachte, sei hier nur erwähnt. 11 In einer Rede Wagners im Dresdener Vaterlandsverein, die mit der Verfasserangabe „Ein Mitglied des Vaterlandsvereines“ am 15. Juni 1848 in der Beilage des „Dresdner Anzeigers“ erschien (wieder abgedruckt in Richard Wagner, Gesammelte Schriften und Dichtungen, Volksausgabe, Bd. 12, Leipzig [1911], S. 218–227). 12 So Robert Schumanns Eintrag in seinem Notizbuch vom 14. Mai 1848 nach einem per‐ sönlichen Zusammentreffen mit Wagner, in dem sie wohl über dessen „Entwurf zur Or‐ ganisation eines deutschen Nationaltheaters für das Königreich Sachsen“ (1849) gespro‐ chen hatten (siehe Armin Gebhardt, Robert Schumann. Leben und Werk in Dresden, Marburg 1998, S. 191), den Wagner am 11. Mai 1849 beim sächsischen Kultusministerium eingereicht hatte (abgedruckt in Richard Wagner, Gesammelte Schriften und Dichtungen [wie Anm. 11], S. 233–272).

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Abb. 1: Richard Wagner: Die Kunst und die Revo‐ lution. Leipzig: Otto Wigand 1849 (BSB München, Sign. L.eleg.g. 434 e, Titelblatt)

Teilnahme am Dresdener Maiaufstand im Jahr 1849 führten schließlich zu seiner steckbrieflichen Verfolgung und zu seinem Exil in Zürich. Statt der Gewissheit von Gregorovius, dass sich in der Geschichte trotz etwaiger Rückschritte eine Idee des Fortschritts erwiesen habe und erweisen werde, vertraute Wagner nur auf die Macht der Kunst. In seiner 1848–1849 entstandenen Schrift „Die Kunst und die Revolu‐ tion“ (Abb. 1) forderte er eine radikale Veränderung der politischen und sozialen Verhältnisse, eine „große Menschheitsrevolution“. Diese müsse das Primat des Ka‐ pitals hinter sich lassen und würde damit die Theater revolutionieren, um die Vor‐ aussetzung für eine neue „wahre Kunst“ zu schaffen 13 – nicht etwa um ihrer selbst willen, sondern um eine neue „ästhetische Weltordnung“ zu erschaffen. 14 Wagner träumte vom Primat der Kunst über die Politik. Deswegen führte seine Lektüre von Georg Wilhelm Friedrich Hegels „Vorlesun‐ gen über die Philosophie der Geschichte“ (1837), die etwa gleichzeitig mit der von 13 Richard Wagner, Die Kunst und die Revolution, Leipzig 1849, S. 39, S. 44 14 Siehe Udo Bermbach, „Ästhetische Weltordnung“: Zum Verhältnis von Politik, Kunst und Kunstreligion bei Richard Wagner, in: Gott und Götze in der Literatur der Moderne, hg. von Reto Sorg und Stefan B. Würffel, München 1999, S. 221–234.

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Gregorovius erfolgt sein dürfte, zu einem vollkommen anderen Ergebnis. Grego‐ rovius machte sich später mit mildem Spott über Hegels System als „speculative Gymnastik“ lustig, 15 weil er nicht über die Geschichte, sondern in der Geschichte denken wollte. Wagner hingegen dachte in Formen der Kunst, er gab Geschichte und Geschichtsphilosophie auf und wandte sich Arthur Schopenhauers „Die Welt als Wille und Vorstellung“ (Leipzig 1819) zu, einem auf die Musik zugeschnitte‐ nen metaphysischen System. 16 Denn Schopenhauer hatte die Musik – anders die Literatur und die bildenden Künste, die Abbilder der Ideen und der Erscheinungen seien – dem Willen, also dem ‚Ding‘ an sich, zugeordnet, was man durch Introspek‐ tion, wenn auch nicht erkennen, so doch erfahren könne. 17 Am Anfang der Zuwendung zu Schopenhauer steht indes eine persönliche Krän‐ kung Wagners, ein demütigendes Gutachten des Generaldirektors des Königlich Sächsischen Hoftheaters in Dresden, gefolgt von der Gewissheit, dass dieses den Bedingungen für seine Kunst entgegenstehe. Nach der gescheiterten Revolution, nachdem Wagner seinen Posten in Dresden verloren und ins Exil vertrieben wurde, äußerte er 1850 die Überzeugung, dass „jede politische Revolution überhaupt un‐ möglich geworden ist“, denn beim Anblick der gesellschaftlichen und künstleri‐ schen Zustände in Paris sei er sich über die „Zukunft der welt“ klar geworden, nämlich dass er „an keine andere revolution mehr glaube, als an die, die mit dem Niederbrande von Paris beginnt“, um nach der „feuerkur“ die „lebendigen über‐ reste unsrer alten kunst“ zusammenzurufen und als Drama in einem „schnell her‐ gerichteten holzbauwerke“ den Menschen zu zeigen, „was kunst ist“. 18 Nicht die Geschichte, sondern der Mythos müsse Gegenstand des musikalischen Dramas sein. Nach „Rienzi“, einer Grand Operà mit historischem Stoff, und nach „Der flie‐ gende Holländer“ und „Tannhäuser“ hatte Wagner als Ergebnis intensiver Studien altgermanischer und altdeutscher Literatur mit „Siegfrieds Tod“ (1848) den Stoff dieses „Kunstwerks der Zukunft“ 19 bereits in Dresden gefunden, den er mit „Lo‐ 15 So im Aufsatz über den neapolitanischen „Hegelianer Augusto Vera (1887)“ (in: Ferdinand Gregorovius, Kleine Schriften zur Geschichte und Cultur, Bd. 3, Leipzig: Brockhaus 1892, S. 46). 16 Arthur Schopenhauer, Zur Metaphysik der Musik, in: Ders., Bd. 2, Kap. 39, S. 520– 532. Siehe hierzu auch Ulrike Kinzle, Das Weltüberwindungswerk. Wagners „Parsifal“ – ein szenisch-musikalisches Gleichnis der Philosophie Arthur Schopenhauers, Laaber 1992. 17 Gregorovius sah in Schopenhauer indes den letzten Philosophen „in einer langen Reihe“ seit Kant, der „bedeutender noch als geistvoller Schriftsteller“ war – ähnlich wie später Thomas Mann, siehe den Brief von Gregorovius an Jean Bourdeau, 3. April 1883, in: Gre‐ gorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 1), URL: https://gre‐ gorovius-edition.dhi-roma.it/letters/ed_rzn_ycy_2qb/neyq_zfy_2qb. 18 Richard Wagner an Theodor Uhlig, 22. Oktober 1850 (in: Richard Wagner, Sämtliche Briefe, Bd. 3, hg. von Gertrud Strobel und Werner Wolf, Leipzig 1983, S. 460–461). 19 „Das Kunstwerk der Zukunft“, so der Titel der im Folgejahr erschienenen kunsttheoreti‐ schen Schrift Wagners (Leipzig: Otto Wigand 1850).

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hengrin“ 20 und „Tristan und Isolde“ 21 konsequent weiterverfolgte. In Dresden war schon Wagners Studie „Die Wibelungen. Weltgeschichte aus der Sage“ (1850) ent‐ standen (Abb. 2), nachträglich als vorbereitende Schrift für den „Ring des Nibelun‐ gen“ zu lesen. 22 Darin hatte er nicht nur auf der historischen Wirkungsmacht von Mythen bestanden, die sich schon in der „mythische[n] Identität des fränkischen Königsgeschlechts mit jenen Nibelungen der Sage“ im Blick der Nachwelt zeigte. 23 Er hatte auch – am Beispiel Barbarossas – behauptet, der Mythos, also die Götter‐ geschichten, würden zu Sagen, Heldengeschichten, und diese wiederum materiali‐ sierten sich in realer Historie, die dann ihrerseits sich wieder in Mythen und Sagen verwandelte, ein Kreislauf, den bekanntlich der Schluss der „Götterdämmerung“ auf die Bühne brachte. In diesem Kreislauf konnte sein Musiktheater für die Re‐ mythisierung der Gesellschaft entscheidend wirken. Er hatte in den „Wibelungen“ außerdem die Stellung des „bösen nagenden Wurm[s] der Menschheit“, 24 des Ei‐ gentums, in diesem Kreislauf untersucht – auch das ein Thema des „Rings des Nibe‐ lungen“. „Die Wibelungen“ sind ein krauses Gebilde, weil sich daraus zwanglos ein Anspruch der Deutschen auf die „Weltherrschaft“ 25 ableiten ließ. Wie brandgefähr‐ lich eine solche ästhetisch-politisch motivierte deutsche Sendung wurde, ist nicht Gegenstand dieses Vortrags. Gregorovius jedenfalls hielt die Operntexte Wagners für einen nicht nur literarischen Rückschritt; als Historiker musste ihm die Idee der Remythisierung der Gesellschaft aus dem Musiktheater abstrus vorkommen. Dass Gregorovius Wagners Schriften im thematischen Umfeld seiner Kunst‐ theorie 26 aus eigener Lektüre kannte, ist nicht nachweisbar. Allerdings ist er schon früh über seinen Jugendfreund Louis Köhler (1820–1886) 27 mit Wagners Kunst‐ vorstellungen in Berührung gekommen, der einer der ersten leidenschaftlichen An‐ hänger und Verteidiger Wagners war, mit dem er auch korrespondierte. Der Kom‐ ponist Köhler war 1845–1847 als zweiter Dirigent des Stadttheaters nach Königs‐ 20 Franz Liszt selbst hatte die Uraufführung des in Dresden verweigerten „Lohengrin“ am 28. August 1850 in Großherzoglichen Hoftheater in Weimar geleitet. 21 Die Uraufführung hatte am 10. Juni 1865 im Königlichen Hof- und Nationaltheater Mün‐ chen unter der Leitung von Hans von Bülow stattgefunden. 22 Siehe hierzu Markus Bernauer, Richard Wagners Wibelungen und Nibelungen, in: My‐ thos Ursprung. Modelle der Arché zwischen Antike und Moderne, hg. von Constanze Baum und Martin Disselkamp, Würzburg 2011, S. 139–150. 23 Richard Wagner, Die Wibelungen. Weltgeschichte aus der Sage, Leipzig 1850, S. 12. 24 Ebd., S. 75. 25 Ebd., S. 58. 26 Im Züricher Exil von 1849–1858 entstehen die drei, Wagners Kunsttheorie umreißenden Hauptschriften: Neben der genannten Broschüre „Die Kunst und die Revolution“ (1849), „Das Kunstwerk der Zukunft“ (1849) und „Oper und Drama“ (1850). 27 Köhler war seit 1844 Mitarbeiter der „Signale für die musikalische Welt“, in den Revolu‐ tionsjahren war er Musikkritiker bei der „Königsberger Hartungschen Zeitung“, ab 1852 auch bei der „Neuen Zeitschrift für Musik“ und anderen Journalen.

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Angela Steinsiek Abb. 2: Richard Wagner: Die Wibelungen. Weltge‐ schichte aus der Sage. Leipzig: Otto Wigand 1850 (BSB München, Sign. H.misc. 315 m, Titelblatt)

berg gekommen; unter dem Eindruck Wagner’scher Opern machte er sich bald als Musikkritiker und Autor musiktheoretischer Schriften sowie als Klavierpädagoge einen Namen: Das Beste, was ich lernte war, daß ich einsah, wie die damalige Opernmacherei den Teufel nichts tauge und dass ich auf einen warten müsse, der mir’s zeige, wie man’s mache. Und da kam denn, wie auf Bestellung, Richard Wagner, dem man’s leider nicht nachmacht, auch wenn man’s ebenso macht. 28

Diese neue Musikwelt hatte Köhler zu seiner Schrift, „Die Melodie der Sprache in ihrer Anwendung besonders auf das Lied und die Oper“ (Leipzig 1853; Abb. 3) veranlasst, eine Studie über den phänomenologischen Zusammenhang zwischen ge‐ sprochener und gesungener Sprache. 29 Gregorovius hatte um deren Übersendung 28 Ohne Quellenangabe in Erwin Kroll, Louis Köhler, in: Zeitschrift für Musikwissen‐ schaft, Jg. 17, Leipzig 1935, S. 232–235, hier S. 232. 29 Siehe hierzu auch Martin Knust, Sprachvertonung und Gestik in den Werken Richard Wagners. Einflüsse zeitgenössischer Rezitations- und Deklamationspraxis (= Greifswalder

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Abb. 3: Louis Köhler: Die Melodie der Sprache in ihrer Anwendung besonders auf das Lied und die Oper. Leipzig: J. J. Weber 1853 (BSB München, Sign. Mus.th. 1781, Titelblatt)

gebeten, auf die vorgängigen Ausführungen Köhlers und über die Thesen seiner Broschüre aber mit Kopfschütteln reagiert: Ich habe Dich, lieber Köhler, gebeten, mir Deine Broschüre über die Melodie der Stimme über Leipzig zu schicken, wenn Du noch eine für mich hast. Ich werde sie gern lesen und Dich ungeheuer loben, obwol ich von Musik nichts verstehe. Mit der Oper, welche Wagner stürzen will, ist es wie mit gewissen Mosaiken, Arabesken und Dekorationen in der Architektur; an gehöriger Stelle gesehen, macht es doch gute Wirkung. [. . . ] Glaubst Du in jetzigen Zeiten an einen neuen musikalischen Genius? Ich meine wir sind allenthalben in allgemeiner großer Dekadenz, und werden noch tiefer heruntergehen, wenn sich nicht Deutschland aufrafft. 30

Im vorhergehenden Brief hatte Köhler seinem Freund offenbar von seinem Be‐ such in Weimar im Mai 1853 erzählt, wohin ihn Franz Liszt zu einer „Lohen‐ Beiträge zur Musikwissenschaft. Bd. 25), Berlin 2016, S. 52–55, zugl. Diss. Univ. Greifs‐ wald 2016. 30 Gregorovius an Louis und Johanna Köhler, 6. April 1854, in: Ferdinand Gregorovius, Briefe nach Königsberg, hg. von Dominik Fugger und Nina Schlüter, München 2013, S. 48–49.

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grin“-Aufführung eingeladen hatte, die dann aber nicht stattfand 31. Die intensiven Gespräche, die Köhler dort mit Wagners Förderer und späterem Schwiegervater ge‐ führt hatte, hallen in den oben zitierten Zeilen von Gregorovius noch nach, denn auch Liszt hatte von der „architektonischen Ordnung“ des „Lohengrin“ geschrie‐ ben und von der „Struktur der herrlichen Bauten Wagner’s“, dem es gelungen sei, ein „eben so außergewöhnlicher Symphonist, als großer Dramaturge zu sein“. 32 Für Wagners gegen die französische und italienische Tradition durchkomponierte Mu‐ sikdramen jedenfalls 33 brachte Gregorovius kein Verständnis auf, „schon deshalb weil sie mir zu lang sind“, schrieb er 1882 an Köhler, bliebe er bei „Mozart, Betho‐ ven, Weber und Rossini“ 34 – noch weniger hielt Gregorovius es überhaupt aber für denkbar, dass durch die Kunstform Oper eine gesellschaftliche oder gar politische Revolution herbeizuführen sei. Die Probe aufs Exempel scheint er erst Jahre spä‐ ter gemacht zu haben, als er im August 1860 eine Aufführung des „Tannhäuser“ im Danziger Stadttheater besuchte, 35 über die er berichtete, dass sie ihn „gar nicht ergriffen, oder erregt“ habe. 36 In seinem Tagebuch dokumentierte Gregorovius im Juli 1870 zudem (kommentarlos) den Besuch des letzten Aktes einer der ersten Aufführungen von Wagners „Walküre“ im Königlichen Hof- und Nationaltheater in München. 37 Stand Gregorovius den musikalischen Neuerungen Wagners weitgehend gleich‐ gültig gegenüber, verhielt es sich mit dem Dichter, vor allem aber mit dem gesell‐

31 Im Jahr 1853 wurde „Lohengrin“ in Weimar nur am 5. März 1853 gegeben, als letzte Oper des von Franz Liszt ab dem 27. Februar 1853 veranstalteten Wagner-Zyklus (nach dem „Holländer“ und „Tannhäuser“). 32 Franz Liszt, Richard Wagner’s Lohengrin und Tannhäuser (Aus dem Französischen). Mit Musik-Beilagen, Köln 1852, S. 79. 33 Dies sorgte 1861 bei der von Napoleon III. angeordneten Pariser Erstaufführung des „Tannhäuser“ trotz Einfügung des Venusberg-Bacchanal-Balletts und auch bei der Mailän‐ der Aufführung des „Lohengrin“ im Jahr 1871 in der musikalischen Welt für Skandale und Tumulte. 34 Gregorovius an Johanna und Louis Köhler, 21. Januar 1883, in: Gregorovius, Briefe nach Königsberg (wie Anm. 30), S. 144. 35 Gregorovius hielt sich vom 3. bis 14. August 1860 in Danzig auf, siehe Ferdinand Gre‐ gorovius, Römische Tagebücher 1852–1889, hg. und kommentiert von Hanno-Walter Kruft und Markus Völkel, München 1991, Eintrag vom 6.–19. August 1860, S. 107. 36 Gregorovius an Hermann von Thile in Heiden, 9. August 1860, in: Gregorovius, Ge‐ sammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 1), URL: https://gregorovius-edi‐ tion.dhi-roma.it/letters/G000122. 37 Siehe Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 35), Eintrag vom 24. Juli 1870, S. 286. Vermutlich hatte Gregorovius die Vorstellung am 22. Juli 1870 besucht. Der von Ludwig II. erzwungenen Uraufführung am 26. Juni 1870 unter der Leitung von Franz Wüllner (1832–1902) war Wagner aus Protest ferngeblieben, während Franz Liszt aus Wei‐ mar angereist war.

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schaftlichen Visionär Wagner gänzlich anders. In den Briefen von Gregorovius gibt es kaum einen Schriftsteller, der häufiger als Richard Wagner genannt wird. Das liegt freilich zum einen darin begründet, dass neben Louis Köhler zahlreiche „Pries‐ terinnen des Wagnerkultus“ zu seinem näheren Bekanntenkreis gehörten, denen Gregorovius regelmäßig in unterschiedlichen Zusammenhängen begegnete. 38 Zum anderen aber berührte der Dramatiker und Schriftsteller Wagner ein Gebiet, von dem sich Gregorovius als Historiker und Schriftsteller selbst einen positiven iden‐ tifikatorischen Impuls für das Vaterland versprach. Entsprechend schreibt Gregorovius anlässlich der Uraufführung vom „Ring des Nibelungen“ bei den ersten Bayreuther Festspielen im August 1876 an Louis Köh‐ ler, der das Wagner’sche Werk dort das erste und einzige Mal unter dessen eigener künstlerischer Leitung erlebt hatte: Ich höre von Dir und den Deinigen selten, aber oft begegne ich Deinem Namen in der Hartungschen Zeitung [. . . ]. Ich hörte auch, daß Du auf dem großen Götzenfest in Baireut gewesen bist, und freute mich, daß Du nicht zu denen gehörtest, die sich aus Begeisterung unter die Räder des Götzenwagens geworfen haben – doch etwas Enthusiasmus scheinst Du immerhin in dein Feuilleton ausgeströmt zu haben. Da ich 22 Jahre lang unter den Göttern Griechenlands gelebt habe, so ist mir all das urteutoni‐ sche Spukwesen von Undinen, Zwergen, Drachen der Edda ein unerträglicher Gräul – selbst ein Äschylos vermöchte heute nichts mehr nicht einmal mit griechischen My‐ thenstoffen anzufangen. Ich finde es daher auch naturgemäß, daß Wagner als Dichter den absurdesten und lächerlichsten Text geschrieben hat – im Tollhaus bestellt und von den auserlesensten Narren geschrieben, könnte er nicht absurder ausfallen – wenn aber Wagner ein großer Musiker ist, so muß man es beklagen, daß er sein Genie an solche Stoffe verschwendet hat. Baireut brachte mich aber darauf, oder vielmehr es bestätigte in mir den Gedanken, daß die Deutschen sich ein olympisches Festtheater irgendwo, etwa bei Frankfurt erbauen sollten, um sich dort zu produziren – ich meine nicht nackt, denn dazu sind wir nicht schön genug, sondern auf allen Gebieten ihrer nationalen Künste. Jedoch würde dieser Plan schon an sich an zwei großen Fehlern unseres Volkes scheitern, an seiner Armut und an seiner Unmäßigkeit im Trinken. 39

38 Darunter Marie Gräfin von Schleinitz (1807–1885); die einflussreiche Berliner Salonnière und Ministergattin war eine enge Freundin Cosima Wagners und gehörte zu den wich‐ tigsten Mäzenatinnen des Komponisten mit ihrer Mutter Marie Fürstin von HatzfeldtTrachenberg (1820–1897), Marie Gräfin von Dönhoff (1848–1929), Emma Freifrau von Wöhrmann (1839–1881), Laura von Troschke (1824–1894) und nicht zuletzt Franz von Lenbach (1836–1904), der die berühmten Porträts von Richard und Cosima Wagner schuf. Siehe Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 35), S. 332. 39 Gregorovius an Louis und Johanna Köhler, 19. Dezember 1876, in: Gregorovius, Briefe nach Königsberg (wie Anm. 30), S. 124–125.

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Deutlicher hat Gregorovius seine Absage an Wagners ahistorische Opernstoffe und an dessen auf die antike Aufführungspraxis zurückgreifende Festspielidee niemals ausgesprochen, die für ihn eine fehlgeleitete Sakralisierung der Kunst in Analogie zur katholischen Kirche und ein auf die Spitze getriebener Nationalismus in der Literatur gleichermaßen war. Literarisch ist es das Fehlen an Gegenwartsbezug, ja sogar an Welthaltigkeit, das Gregorovius den Libretti von Wagners „Ring des Ni‐ belungen“ attestiert: „Man sollte an unwiederholbare Tatsachen der Literatur nicht mehr rühren und Homer Homer sein lassen“, schrieb Gregorovius über das 1867 erschienene „Nibelungen“-Epos in Stabreim von Wilhelm Jordan, das dieser fortan in Europa und Amerika mit großem Erfolg vortrug. 40 Der ausgesprochen moderne Gedanke einer vom bürgerlichen Leben losgelösten Kunst Wagners, die nur aus sich selbst schaffen will, war einem Gregorovius, den die zeitgenössische schöngeistige Literatur vor allem insofern interessierte, als er sie für die „sittliche Erhebung des Volksgeistes“ für dienlich hielt oder sie einen „Wollaut in der Seele“ zurückzulassen vermochte, schlichtweg fremd. Eine solche „sittliche Erhebung“ beim Leser herbei‐ zuführen, habe seit Heinrich Kleist mit „Michael Kohlhaas“ (1810) nur Gottfried Keller mit seiner Novelle „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ (1856) gemeistert, doch habe sie trotz „plastische[r] Kraft in der Gestaltung wie durch Composition“, keinen „Wollaut in der Seele“ zurückgelassen 41 – so schrieb Gregorovius dem fran‐ zösischen Schopenhauer-Übersetzer und Essayisten Jean Bourdeau, der ihn in der „Revue des Deux Mondes“ in einem langen Artikel als deutschen Geschichtsschrei‐ ber und Schriftsteller gewürdigt hatte. 42 Als Bourdeau ihn um Ratschläge für seine literarischen Studien über die humoristische Literatur Deutschlands bat, erklärte Gregorovius, er „lese keine Romane. Nichts Bedeutendes wird in ihr gegenwärtig bei uns hervorgebracht“ und verwies ihn auf die Novellen Paul Heyses und auf Adolf Friedrich Graf von Schack als einen „Dichter von idealer Richtung“. 43 Als ein Poet „idealer Richtung“ war Gregorovius in jungen Jahren mit seiner Tra‐ gödie „Der Tod des Tiberius“ (1851) und mit seinem vielfach aufgelegten kleinen Versepos „Euphorion“ (1858) einst selbst an die Öffentlichkeit getreten; die Muse Klio hatte ihm treuer zur Seite gestanden als Melpomene und Kalliope. Gregorovius hatte in Rom, ganz im goetheschen Sinne, den engen Kosmos Preußens verlassen und den Historiker in sich gefunden. Er hatte sich von dem universalgeschichtli‐ 40 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 35), Eintrag vom 23. März 1878, S. 399. 41 Gregorovius an Jean Bourdeau, 27. Januar 1884, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 1), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/let‐ ters/ed_eh4_g2q_zrb. 42 Jean Bourdeau: Historiens de l’Allemagne. M. Ferdinand Gregorovius, in: Revue des Deux Mondes, Jg. 52, Ser. 3, Paris 1. Juli 1882, S. 27–61. 43 Gregorovius an Jean Bourdeau, 3. April 1883, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 1), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/let‐ ters/ed_rzn_ycy_2qb.

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chen Kosmos der ewigen Stadt hinreißen lassen. „Rom ist ein Weltknoten. Er lässt sich durch protestantische Kritik nicht auffasern“, hatte er 1865 nach dem Besuch einer Weihnachtsmesse im Lateran mit dem Hegelianer Kuno Fischer in seinem Ta‐ gebuch festgehalten 44 – und doch schrieb Gregorovius seine „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“ als Deutscher und als Protestant, der die von den Italienern, namentlich von Ludovico Muratori, zusammengetragenen Quellen durch eigene Forschung und Anschauung ergänzte und einer Deutung zuführte, weil die Italie‐ ner selbst eben noch „keine pragmatische Geschichte des Mittelalters ihrer Stadt geschrieben“ hatten und „kein anderes Volk einen näheren und gleich nationalen Bezug auf die Geschichte Rom’s in Mittelalter hat, als das deutsche“, heißt es in der Einleitung. 45 Seine „pragmatische Geschichte“ sollte den Deutschen ihre in Ita‐ lien mit Friedrich II. begründete und mit der Reformation weitergeführte Aufklä‐ rungsleistung vor Augen führen, und den Italienern die der kulturgeschichtlichen Bedeutung des Papsttums, die in der historischen Herleitung von Gregorovius mit dem Ende des Kirchenstaates erfüllt sein würde und auf einen modernen National‐ staat Italien hinausliefe. Es ist vor diesem Deutungshintergrund nur folgerichtig, dass Gregorovius als Publizist zugleich seiner Königsberger Herkunft als Leitartik‐ ler treu blieb, der eine große Zahl tagespolitischer Artikel verfasste und zudem fast zehn Jahre lang als römischer Korrespondent für die liberale Berliner „NationalZeitung“ geschrieben hat. Mit anderen Worten: Der Historiker Gregorovius, dessen quellenkritisches Bewusstsein übrigens ausgesprochen ausgeprägt war – auch das lässt sich durch die neu edierten Briefe immer wieder im Einzelnen nachverfolgen –, dieser Historiker ist ohne den politischen Kopf und wachen Beobachter, der sich lebhaft an öffentlichen Diskursen seiner Zeit beteiligte, nicht zu denken. Die pa‐ triotischen, anti-französischen Töne, die Gregorovius beim Ausbruch des DeutschFranzösischen Krieges anschlug, unterscheiden sich grundsätzlich von denen Wag‐ ners, der in Paris kulturell nur Oberflächlichkeit und gesellschaftliche Dekadenz wahrgenommen hatte und der den Aufbruch in die Moderne immer wieder im Bild des Niederbrandes von Paris dachte. Für Gregorovius war „der große Kampf“ ge‐ gen den „Erbfeind“ unausweichlich, 46 weil das nach territorialer Expansion trach‐ tende Frankreich, dessen Truppen auch den Kirchenstaat schützten, damit anderen 44 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 35), Eintrag vom 31. Dezember 1865, S. 203. 45 Siehe Ferdinand Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter, Bd. 1, Stutt‐ gart: Cotta 1859, S. 4. 46 „Die Italiener werden, so denke ich, Rom überfallen, wenn der große Krieg ausbricht [. . . ] einmal muß doch der große Kampf gekämpft werden, der uns einig und stark machen soll“ heißt es unmittelbar vor Ausbruch des Krieges im Brief an den Sohn seines Freundes Karl Lindemann-Frommel: Gregorovius an Manfred Lindemann-Frommel, 17. Juli 1870, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 1), URL: https:// gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000333/nbcj_j1t_kmb.

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Nationen verweigerte, was es selbst erreicht hatte: die Bildung eines souveränen Nationalstaats und damit auch die Begründung eines föderativen Europas, einer „europäischen Völkerfamilie“, wie Gregorovius es nennt, in dem Frankreich ein „wichtiges und unentbehrliches Glied“ 47 darstelle, weil es wie Deutschland zu den „großen Culturländern“ zähle. 48 Lange vor Kriegsende sah Gregorovius die Gefahr einer Demütigung Frankreichs: [. . . ] nur mit Schrecken kann ich an ein wirkliches Bombardement der Zwei-Millio‐ nenstadt [Paris] denken, nachdem ich [die Zerstörung in] Straßburg gesehen habe. Ich wünsche sehnlich, daß eine so ungeheure Thatsache uns Deutschen und den An‐ nalen der Menschheit überhaupt erspart bleibe. Wir sind wol alle müde des Krieges und seufzen nach dem Frieden. Möchte aus ihm unser Vaterland als einiger und wahr‐ haft freier Nationalstaat hervorgehen, ohne daß dies unselige Frankreich, nach seiner wolverdienten Züchtigung, in einen Zustand moralischen Verfalls versetzt werde, der die traurigsten Rückwirkungen auf Europa haben müßte. 49

Wagner dagegen, der sein gesellschaftlich-politisches Urteil stets mit seiner eigenen künstlerischen Mission in Abgleich brachte, hatte in der „Walküre“ seiner „weltan‐ schauung [. . . ] ihren vollendetsten künstlerischen Ausdruck“ geben wollen. 50 Zu Beginn des Deutsch-Französischen Krieges lässt Gregorovius die Arbeit an seiner „Geschichte der Stadt Rom“ ruhen und reist ins Vaterland, um die Zeitenwende aus eigener Anschauung mitzuerleben. Wagner verharrt im schweizerischen Tribschen, er arbeitet an seiner „Beethoven“-Schrift über die apriorische Rolle der Musik für das Drama und denkt über die Erschaffung der „vollendetsten Kunstform“ nach, 51 47 So Gregorovius an Hermann von Thile, 15. Oktober 1870, in: Briefe von Ferdinand Grego‐ rovius an den Staatssekretär Hermann von Thile, hg. von Herman von Petersdorff, Berlin 1894, S. 84. 48 Gregorovius an Jean Bourdeau, 9. Juli 1882, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 1), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/let‐ ters/ed_qcf_cmf_fpb. Die „französische Nation [ist] der deutschen in vielen und seltenen Eigenschaften weit überlegen“, heißt es in einem späteren Brief von Gregorovius an Jean Bourdeau vom 3. April 1883 (ebd., URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/ ed_rzn_ycy_2qb). 49 Gregorovius an Georg Gottfried Gervinus, 14. Oktober 1870, in: Oswald Dammann, Fer‐ dinand Gregorovius und Georg Gottfried Gervinus. Mit elf unveröffentlichten Gregoro‐ vius-Briefen, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, N. F., Bd. 56. Karlsruhe im Br. 1943, S. 635–636. 50 Wagner an Theodor Uhlig, 31. Mai 1852, in: Richard Wagner, Sämtliche Briefe, Bd. 4, hg. von Gertrud Strobel und Werner Wolf, Leipzig 1979, S. 385. 51 „Die Musik, welche nicht die in den Erscheinungen der Welt enthaltenen Ideen darstellt, dagegen selbst eine, und zwar eine umfassende Idee der Welt ist, schließt das Drama ganz von selbst in sich, da das Drama wiederum selbst die einzige der Musik adäquate Idee der Welt ausdrückt. [. . . ] Wir dürften somit nicht irren, wenn wir in der Musik die aprioristi‐

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um bald darauf die Komposition der „Götterdämmerung“ voranzutreiben. Wie er von Weitem durch den Ausbruch des Krieges beflügelt wird, schreibt er seinem Ber‐ liner Verehrer Hans Herrig unmittelbar nach Kriegsausbruch: Ich bin jetzt auf dem Punkt vor der musikalischen Ausarbeitung des I Aktes meiner ‚Götterdämmerung‘ ein wenig auszuruhen. In dieser Mussezeit beabsichtigte ich et‐ was Eingehenderes über ‚Beethoven und die deutsche Nation‘ auszuarbeiten. Die krie‐ gerische Catastrophe schien mir zunächst die Ausführung dieser Absicht unmöglich zu machen: doch kehrt mir die Besinnung wieder, und ich glaube ein gutes Zeugniss für meinen Glauben an die Bestimmung der Deutschen abzulegen, wenn ich gerade jetzt meine Abhandlung ausarbeite. [. . . ] Die Franzosen prahlen mit einem ‚kurzen‘ Krieg; Besonnenere meinen, ein längerer Krieg sei einfach durch den Finanzstand der Staaten unmöglich gemacht. Ich muss dagegen annehmen, dass wenn der Krieg kurz abgemacht wird, er nicht viel taugen kann. Wer hat es deutlicher im Gefühle als ich, dass nur eine furchtbare Anstrengung die Deutschen nicht nur aus dieser augenblickli‐ chen Bedrohung, sondern überhaupt für ihre Bestimmung retten könne? Auch meine Kunst wäre in den Sand geschrieben, wenn jene schrecklich-erquickliche Annahme nicht in Erfüllung ginge. 52

Zu patriotischen Gedichten fühlten sich beide veranlasst. Gregorovius hatte nach dem Besuch des zerstörten Straßburg ein gleichnamiges Gedicht an die „Allgemeine Zeitung“ gegeben, 53 Wagner ließ das seine „An das deutsche Heer vor Paris“ be‐ titelte Gedicht anlässlich der Versailler Kaiserkrönung am 18. Januar 1871 Otto von Bismarck zukommen, erntete allerdings nur einen höflichen Dank. 54 Wagner hielt indes unbeirrt an seiner Festspielidee und seiner so verstandenen deutschen sche Befähigung des Menschen zur Gestaltung des Drama’s überhaupt erkennen wollten.“ (Richard Wagner, Beethoven, in: Gesammelte Schriften und Dichtungen, Bd. 9, Leipzig, 1873, S. 75–151, hier S. 128.) 52 Wagner an Hans Herrig, 21. Juli 1870, in: Richard Wagner, Sämtliche Briefe, Bd. 22: Briefe des Jahres 1870, hg. von Martin Dürrer, Wiesbaden, 2012, S. 179. 53 Ferdinand Gregorovius, Straßburg, in: Beilage zu Nr. 245 der Allgemeinen Zeitung, Augsburg 2. September 1870, S. 3900 – es wurde unter anderem unter dem Titel „Sturm auf Straßburg“ als faksimilierte Handschrift wieder abgedruckt in: Lieder zu Schutz und Trutz. Gaben deutscher Dichter aus der Zeit des Krieges in den Jahren 1870 und 1871, gesammelt und hg. von Franz Lipperheide, Vierte Sammlung, Februar bis Juli 1871, Berlin 1871, S. 111–112. 54 Siehe den Brief von Wagner an Allwina Frommann vom 1. Februar 1871, in: Richard Wag‐ ner, Sämtliche Briefe, Bd. 23: Briefe des Jahres 1871, hg. von Andreas Mielke, Wiesbaden 2015, S. 37, S. 55–58. Bismarck schreibt in seinem Dankesbrief vom 21. Februar 1871: „So sehr ich mich geehrt fühle, daß Sie dieses vaterländische Gedicht, wie mir gesagt wird, für mich allein bestimmen, so sehr würde ich mich freuen, es veröffentlicht zu sehen.“ (Wer‐ ner Otto, Richard Wagner. Ein Lebens- und Charakterbild in Dokumenten und zeit‐ genössischen Darstellungen, Berlin 1990, S. 452). Eine Veröffentlichung erfolgte erst im

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Sendung fest, für die Gregorovius ihm Größenwahn bescheinigte. 55 Schon ent‐ schlossen durch die von Ludwig II. erzwungene Uraufführung der „Walküre“ am 26. Juni 1870 gründete Wagner Ende 1871 einen eigenen Verwaltungsrat, 1872 folgte seine Übersiedlung nach Bayreuth, dessen Stadtverordnete ihn mit offenen Armen empfingen. Trotzdem der bayerische König – den Gregorovius immer wie‐ der als „halb Lohengrin, halb Caligula“ beschreibt 56 – Wagner wesentliche Teile sei‐ nes Werks, des Festspielhauses (Richtfest 1871) und der später so benannten Villa Wahnfried finanziert hatte, mussten die ursprünglich schon für 1873 geplanten ersten Festspiele wegen der prekären finanziellen Planung und der explodierenden Kosten immer wieder verschoben werden. Daran änderten auch die seit 1871 ge‐ gründeten Wagner-Vereine und die mit großem Werbeaufwand betriebene, aber zu Wagners Empörung äußerst schleppende Ausgabe von Patronatscheinen nichts, mit deren Erwerb Kartenanrechte verbunden waren. Um finanzielle Unterstützung seines Festspielunternehmens werbend, über‐ sandte Wagner im Juni 1873 seine druckfrische Broschüre „Das Bühnenfestspiel‐ haus zu Bayreuth“ an potenzielle Gönner, darunter auch an Reichskanzler Otto von Bismarck mit einem Begleitschreiben, der es allerdings lediglich an sein Büro zur späteren Entscheidung weiterleiten ließ. 57 Angesichts der in Wagners Brief nahezu unverhohlen zum Ausdruck kommenden Missbilligung für die Teilnahmslosigkeit der politischen Elite an seinem Projekt und Bismarck, den „grossen Neubegründer deutscher Hoffnungen“, als ihrem Repräsentanten, den er um Lektüre der Schluss‐ seiten der Broschüre ersucht – vor allem aber angesichts der mehr als selbstbe‐ wussten Kernaussage und Schlusswendung seiner Broschüre –, verwundert dessen Reaktion kaum: Immerhin schließt diese mit dem „Blick auf das dem deutschen Wesen überhaupt Noththuende“, weil die „kürzlich gewonnenen ungeheueren Er‐ folge der deutschen Politik nicht das Geringste dazu vermochten, den Sinn und

August 1873 in Wagners „Gesammelten Schriften und Dichtungen“ (Bd. 9, Leipzig 1873, S. 1–3). 55 Siehe Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 35), Eintrag vom 30. März 1873, S. 330. 56 Beispielsweise im Brief von Gregorovius an Ersilia Caetani Lovatelli, 25. Oktober 1876, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 1), URL: https:// gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G067871. 57 Wagner an Otto von Bismarck, 24. Juni 1873, in: Richard Wagner, Sämtliche Briefe, Bd. 25: Briefe des Jahres 1873, hg. von Angela Steinsiek, Wiesbaden 2017, S. 162. Cosima Wagner hatte den Versand des „schönen Brief[es]“ ihres Mannes dokumentiert (siehe Co‐ sima Wagner, Die Tagebücher 1873–1877, Bd. 2, 2. Aufl., München, Zürich 1982, Ein‐ trag vom 24. Juni 1873, S. 698).

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den Geschmack der Deutschen von einem blöden Bedürfnisse der Nachahmung des ausländischen Wesens abzulenken“. 58 Zu den ersten Bayreuther Festspielen (Abb. 4) im August 1876 reiste dann zu Gregorovius’ Empörung dennoch ein Großteil der deutschen Prominenz aus Politik und Kultur in die fränkische Provinz, um der von Wagner inszenierten Urauffüh‐ rung des „Ring des Nibelungen“ beizuwohnen. 59 Hatte der Historiker Gregorovius doch lebenslang peinlich jede Vereinnahmung durch die Politik und durch Landes‐ fürsten vermieden, um sich nicht in die Gelehrten und Schriftsteller einzureihen, die als „Zierpflanzen eines literarischen Treibhauses“ „dem König auf der Tasche lie‐ gen“. 60 Seine im obigen Briefzitat formulierte Forderung nach einem in Frankfurt angesiedelten „olympischen Festtheater“, in dem sich das junge Kaiserreich „auf allen Gebieten“ seiner „nationalen Künste“ präsentiere, reflektiert insofern nicht nur spöttisch, was er, Gregorovius, von der Festspielidee Wagners hielt; sie verweist auch auf die Finanzierung der Bayreuther Festspiele, die Wagners Diktum, dass das „Kunstwerk der Zukunft“ sich von dem Kapital zu emanzipieren habe und von ei‐ ner Kunst, die mit dem Volk eins sein sollte, ad absurdum geführt hatte. Bereits im November 1871 hatte Wagner aufgrund der begeisterten Telegramme und Briefe, die ihn nach den ersten Bologneser „Lohengrin“-Aufführungen er‐ reichten, beschlossen, „einen öffentlichen Brief [. . . ] nach Italien“ zu schreiben. 61 Am 7. November 1871 beschwor Wagner im Schreiben an den Komponisten Arrigo Boito, der 1869 Wagners „Rienzi“ ins Italienische übersetzt hatte und ein großer Bewunderer seiner Musik war, ein künftiges „Kunstwerk“, das zuvor „einer neuen Begattung des Genies der Völker“ bedürfe. „Uns Deutschen“, so heißt es dort wei‐ ter, „leuchtet hierfür keine schönere Liebeswahl entgegen, als diejenige, welche den Genius Italiens mit dem Deutschlands vermählen würde.“ 62 58 Richard Wagner, Das Bühnenfestspielhaus zu Bayreuth, Leipzig 1873, S. 28 – wieder ab‐ gedruckt in Wagners „Gesammelten Schriften und Dichtungen“ (Bd. 9, Leipzig 1873, S. 384–408). Die Schrift war zudem Marie von Schleinitz gewidmet, Wagners größter Gön‐ nerin, deren Salon Bismarck seit langem mit größtem Argwohn beobachtete. 59 Zugegen waren neben Franz Liszt unter anderem Anton Bruckner, Karl Klindworth, Peter Tschaikowski, Lew Tolstoi, Friedrich Nietzsche, Gottfried Semper, Kaiser Wilhelm I. und König Karl von Württemberg – der scheue Ludwig II. von Bayern hatte nur den General‐ proben beigewohnt. 60 Gregorovius an Hermann von Thile, 15. November 1862, in: Gregorovius, Gesam‐ melte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 1), URL: https://gregorovius-edition. dhi-roma.it/letters/G000157/ns4s_z2y_1mb. 61 Siehe auch Cosima Wagner, Die Tagebücher 1873–1877, Bd. 1, 2. Aufl., München, Zü‐ rich 1982, Eintrag vom 2. und 5. November 1871, S. 455 und S. 456. 62 Richard Wagner, Norddeutsche Allgemeine Zeitung, Berlin 19. November 1871 (Sonn‐ tags-Beilage). – In der italienischen Übersetzung von Arrigo Boito, die dieser verschiedenen italienischen Blättern zum Abdruck gab, lautet die Stelle: „Forse è necessario un nuovo connubio del genio dei popoli e in tal caso a noi Tedeschi non potrebbe sorridere una più

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Angela Steinsiek Abb. 4: Theaterzettel über die erste Aufführung von Richard Wagners „Der Ring des Nibelungen“ in Bayreuth, 1876 (BSB München, Sign. Mus.th. 3545-15)

Die in diesem Moment auf das Deutsch-Nationale verengte Perspektive Wag‐ ners und vieler seiner Zeitgenossen teilte Gregorovius bei aller Genugtuung über die Deutsche Reichsgründung nicht. Schon als er am 18. März 1871 als Hauptredner der Friedensfeier der Deutschen in Rom in den Palazzo Poli geladen wurde, hatte er zu Bescheidenheit aufgerufen und von der deutschen „Mission für den Frieden der Welt“ gesprochen, die von der „sittlichen Kraft des Volkes“ auszugehen habe. 63 Dass die „Deutschen in Bezug auf ihr Land centrifugale Wesen sind“, 64 davon ging auch Gregorovius aus, doch hatte er seine Bilanz der gesellschafts-politischen Ver‐ hältnisse mit den Mitteln der Historiographie gezogen: Schon kurz vor dem zweiten deutschen Einigungskrieg hatte Gregorovius geschrieben, dass sich in Deutschland bella scelta d’amore che quella che accoppierebbe il genio d’Italia col genio di Germania.“ – zitiert nach „Gazzetta musicale“ di Milano, Jg. 26, 19. November 1871, S. 393. 63 Ferdinand Gregorovius, Rede gehalten bei der Friedensfeier der Deutschen in Rom (ge‐ druckt in: Beilage zu Nr. 99 der Allgemeinen Zeitung, Augsburg 9. April 1871, S. 1729– 1730). 64 Gregorovius an Ludwig Friedländer, 13. Februar 1876, in: Gregorovius, Briefe nach Königsberg (wie Anm. 30), S. 124.

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„im geistigen Proceß der Wissenschaft die völlige Emancipation von der Hegel‐ schen Art“ vollzogen habe 65 – oder anders ausgedrückt: die Geschichtsphilosophie Hegels ist selbst Gegenstand geschichtlicher Forschung geworden. Nicht das Nach‐ denken über Geschichte von einem spekulativ gesetzten Ziel der Zukunft aus, 66 sondern die kritische Quellenforschung der jüngeren Geschichtswissenschaft hatte für ihn den Weg in die Moderne gewiesen, der durch die deutsche Reichsgründung und das Ende des Kirchenstaates markiert wurde. Die Gegenwart, ließ Gregorovius die Zuhörer seiner letzten Akademierede wissen, sei damit „aus den Regionen der Philosophie in das Gebiet des wirklichen Lebens übergetreten“. 67 Als Historiker, der „in den Ideen und im Realen sich bemüht“ (so in einem Brief an Theodor Heyse), 68 war er schon in jungen Jahren angetreten, nicht nur den Spekulationen der Geschichtsphilosophie, sondern auch der „verweichlichten Literatur“ der Deut‐ schen entgegenzuwirken – in diesem Punkt traf Gregorovius sich in gewisser Weise durchaus mit Wagner, der im „verweichlichten“ Geschmack des Opernpublikums die Wurzel allen Übels sah; nur verurteilte der Historiker die Schlüsse, die der Komponist daraus gezogen hatte: dessen deutsch-nationale Gesinnung ebenso, wie dessen pseudoreligiöse Opern-Inszenierung, und erst recht Wagners in die Politik ausgreifende Anmaßung: [. . . ] ein falsches Streben nach Nationalität in der Literatur, macht sich ja schon seit längerer Zeit geltend, wie [Gustav] Freitag und [Victor von] Scheffel zeigen, und dies Wesen wurde selbst in der musikalischen Welt zum Wahnsinn in Wagner. Ich kann Ihnen nicht genug sagen, wie mich dieses Vandalentum anwidert. Die Größe des deutschen Genius, ja seine wahrste und innerste Nationalität, bestand bisher in seiner kosmopolitischen und humanen Idee – nun sollen diese geweihten Gefilde verlassen werden, und man zwingt uns in die Eiszeit des Germanentums mit ihren Recken, Lind‐ würmern und Hölenbären zurück. 69

Für Gregorovius lieferte die Kunst die Begleitmusik zu den politischen und gesell‐ schaftlichen Anachronismen im jungen Kaiserreich. In seinen anfänglichen Fort‐ 65 Gregorovius an Ludwig Friedländer, 5. März 1866, ebd., S. 92. 66 Siehe hierzu auch Ferdinand Gregorovius’ „Der Hegelianer Augusto Vera (1887)“ (in: Ders., Kleine Schriften zur Geschichte und Cultur, Bd. 3, Leipzig 1892, S. 46). 67 Ferdinand Gregorovius, Die grossen Monarchien oder die Weltreiche der Geschichte. Festrede gehalten in der öffentlichen Sitzung der k. b. Akademie der Wissenschaften zu München am 15. November 1890, München 1890, S. 22 (wieder abgedruckt in: Kleine Schriften zur Geschichte und Cultur, Bd. 3, Leipzig 1892, S. 223–263, hier S. 259). 68 Gregorovius an Theodor Heyse, 20. Dezember 1855, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 1), URL: https://gregorovius-edition.dhiroma.it/letters/G000027/nuq4_sjp_qlb. 69 Gregorovius an Ludwig Friedländer, 22. Dezember 1876, in: Gregorovius, Briefe nach Königsberg (wie Anm. 30), S. 126–127.

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schrittsoptimismus mischen sich daher bald kritische Töne, die in seiner Korre‐ spondenz einen zunehmend hohen Stellenwert einnehmen: Ob es um den Erlass Kaiser Wilhelms I. geht, der seine Beamten zur politischen Gefolgschaft zwang, die Erfolge Ludwig Windthorsts und seiner konfessionell-katholischen Zentrumspar‐ tei, 70 die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zum Vatikan oder den Umbau Roms zur italienischen Hauptstadt, das er den prosaischen Mächten der Spekulanten ausgeliefert sah. Dem entgegenzuwirken hatte Gregorovius in den Anfangsjahren des deutschen Kaiserreichs, dem Leitgedanken Wilhelm vom Humboldts, „Nur wer die Vergan‐ genheit kennt, hat eine Zukunft“, folgend, geplant, mit patriotisch-aufklärerischem Impetus ein populäres Geschichtswerk über die Hohenstaufen zu schreiben: 1874 trug er dem Cotta-Verlag ein „monumentales Album Hohenstaufischer Erinnerun‐ gen“ deutscher und italienischer Monumente und Schauplätze an, zu dessen italie‐ nischem Teil er selbst die Texte und der ihm eng befreundete Landschaftsmaler Karl Lindemann-Frommel die Illustrationen liefern sollte (Abb. 5). Es sollte die historische Verbundenheit der Deutschen mit den Italienern in Text und Bild illustrieren, oder vielmehr die kulturvermittelnde Rolle der römisch-deut‐ schen Staufer in Italien. Da der Verlag dieses Vorhaben nach langen fruchtlosen Ver‐ handlungen aus Kostengründen schließlich ablehnte, stellte Gregorovius aus den bereits geschriebenen Texten einen fünften Band seiner „Wanderjahre in Italien“, die „Apulischen Landschaften“ zusammen. 1877, im Jahr seines Erscheinens, ist zudem erstmals von einem auf zwei Bände angelegten Geschichtswerk über den Deißigjährigen Krieg die Rede „als ein[em] Buch, welches das deutsche Volk lesen soll“. 71 Nach umfangreichen Vorarbeiten gab er diesen Plan erst 1881 zugunsten seiner Griechenlandstudien auf, 72 die ihn bis zu seinem Lebensende beschäftigten. Back to the roots, könnte man meinen. Ganz so ist es aber nicht. Denn Grego‐ rovius hatte 1880 unter großem Engagement mit Mathilde von Humboldt, der ihm eng befreundeten Enkelin Wilhelm von Humboldts, ein Bändchen „Briefe Alexan‐ der’s von Humboldt an seinen Bruder Wilhelm“ anonym herausgegeben (Stuttgart: Cotta 1880), weil den Deutschen noch immer fehle, „was Italiener, Franzosen und 70 Siehe den Brief von Gregorovius an Adolf Friedrich von Schack in Palermo, 15. Ja‐ nuar 1882, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 1), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/ed_bhr_1m4_r4b/ndb4_bq4_r4b. 71 Gregorovius an Cotta, 3. Oktober 1877, in: Johannes Hönig, Ferdinand Gregorovius, der Geschichtsschreiber der Stadt Rom, Stuttgart, Berlin 1921, S. 400–401. 72 Gregorovius an Hermann von Thile, 14. Januar 1881, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 1), URL: https://gregorovius-edition.dhiroma.it/letters/ed_hsm_rdz_xnb. Es blieb bei seiner Studie „Urban VIII. im Wider‐ spruch zu Spanien und dem Kaiser. Eine Episode des dreißigjährigen Kriegs“ (Stuttgart: Cotta 1879).

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Abb. 5: Liste der Illustrationen zu den Geschichtlichen Denkmälern der Hohenstaufen in Italien, Beilage zum Brief von Ferdinand Gregorovius an Cotta, 24. September 1874 (DLA Marbach, Cotta-Archiv, Cotta-Briefe, 208a, 1 r)

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Engländer, ja selbst jene halbtürkischen Griechen reichlich besitzen, den Stolz auf unsre geistigen Größen, welcher 1 Teil des Nationalbewußtseins legitimer Weise ausmachen darf.“ 73 Zeitgleich zum Entstehen dieses Bändchens nutzte er ein Schreiben des CottaVerlags, der beabsichtigte, eine Geschichte der Völkerwanderung und Kreuzzüge herauszugeben, 74 diesen davon zu überzeugen, dass diese historischen Stoffe „von dem heutigen Interesse des Publicums etwas entfernt“ liegen. Stattdessen machte er den Vorschlag, statt „bloßer gelehrter Katheder- und Stubenforschung“ eine popu‐ lär geschriebene „Bibliothek deutscher Geschichte und Cultur“ ins Leben zu rufen, die sich thematisch „vorzugsweise oder zunächst ausschließlich auf Deutschland“ beschränken sollte, für die er auch mögliche Autoren benannte. 75 Das von ihm vor‐ geschlagene Programm reichte von der „Geschichte der Deutschen“ überhaupt über die „Geschichte Barbarossa’s“ und eine „Geschichte der Musik in Deutschland“ bis hin zu einer „Geschichte der deutschen Entdeckungen“ und einer „Geschichte der Stadt Nürnberg“ – für die „Geschichte Carls des Großen“ schlug er übrigens dann Felix Dahn vor. 76 Cotta ging bereitwillig auf den Vorschlag seines Erfolgsautors ein. Als Leiter des Unternehmens war Heinrich von Sybel im Gespräch, dessen Beteili‐ gung Gregorovius aber von vorn herein für unwahrscheinlich hielt. Auch er selbst lehnte jede „praktische Teilnahme“ an dem Unternehmen ab, übersandte Cotta aber einen Musterbrief, mit dem der Verlag an etwaige Autoren herantreten konnte (Abb. 6). 77 Weder mit dem ihm besonders wichtigen Aspekt der Kulturgeschichte, der schon von Sybel scharf zurückgewiesen worden war, 78 konnte sich Gregorovius durchsetzen, noch mit der von ihm gewünschten populären Darstellung. Nach dem Bonner Historiker Wilhelm Maurenbrecher, an dessen Ausscheiden Gregorovius durch das langjährige Vertrauensverhältnis zwischen ihm und dem Cotta-Verlag

73 Gregorovius an Mathilde von Humboldt, 7. Juni 1880 (Staatsbibliothek zu Berlin, derzeit Biblioteka Jagiello´nska Krakau) – Gregorovius stellte der deutsch-französischen Edition den umfänglichen Essay „Geschichtliche Übersicht ihres Lebensganges bis zum Jahr 1835“ voran. 74 Cotta an Gregorovius, 1. Juli 1879 (Abschrift: DLA Marbach, Cotta-Archiv, Gelehrtenco‐ pierbuch X, 137–138). 75 Gregorovius an die J. G. Cotta’sche Buchhandlung, 3. und 10. Juli 1879, in: Hönig, Ferdi‐ nand Gregorovius der Geschichtsschreiber (wie Anm. 71), S. 416–419. 76 Gregorovius an die J. G. Cotta’sche Buchhandlung, 28. Juli 1879, in: Gregorovius, Ge‐ sammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 1), URL: https://gregorovius-edi‐ tion.dhi-roma.it/letters/ed_pvq_qsv_nnb. 77 Siehe Gregorovius an die J. G. Cotta’sche Buchhandlung, 6. August 1879, in: Hönig, Fer‐ dinand Gregorovius der Geschichtsschreiber (wie Anm. 71), S. 420–422. 78 Cotta an Heinrich von Sybel, 13. August 1879 (Abschrift: DLA Marbach, Cotta-Archiv, Gelehrtencopierbuch X) und von Sybel an Cotta, 18. August 1879 (ebd., Cotta Briefe).

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nicht unbeteiligt war, 79 wurde der in Graz als Direktor der Steiermärkischen Lan‐ desbibliothek tätige Historiker Hans von Zwiedineck-Südenhorst (1845–1906) mit der weiteren Planung betraut. Dieser reduzierte das Reihenprogramm noch weiter auf die politische Geschichte deutscher Herrscher von den Hohenstaufern bis zu den Hohenzollern. 80 Als Bearbeiter wurden sämtlich Autoren akademischer Herkunft verpflichtet. Glücklicher war das Engagement von Gregorovius in einem weiteren kultur‐ geschichtlichen Projekt, für das der Cotta-Verlag ihn um ein Gutachten bat: Der Herausgeber der vorgenannten Reihe, Hans von Zwiedineck-Südenhorst, trug dem Verlag 1883 ein Programm für eine wissenschaftlich-populäre Zeitschrift an, von dessen Erfolg sich Gregorovius überzeugt zeigte: Die Lebensfähigkeit desselben [Projekts] bei einer entsprechenden Durchführung von Seiten aller daran sich Beteiligenden ist so offenbar, daß es keiner weiteren Auseinan‐ dersetzung bedarf, um sie zu erweisen. [. . . ] Ich glaube, daß dieser Versuch eine solche Zeitschrift für das große Publicum ins Leben zu bringen jeder Mühe wert, und auch des Erfolges sicher ist. 81

Die „Zeitschrift für Allgemeine Geschichte, Kultur-, Litteratur- und Kunstge‐ schichte“, die auch von anderen führenden deutschen Historikern unterstützt wurde, erschien ab Januar 1884. Gregorovius lieferte ab dem ersten Jahrgang, be‐ ginnend mit „Aus den Ruinen von Sardes“, 82 regelmäßig Beiträge. Ihr Erscheinen musste allerdings mangels Absatz nach dem fünften Jahrgang 1888 eingestellt wer‐ den. Wagner hingegen hatte einige Jahre zuvor, während er an seiner letzten großen Oper, dem „Parsifal“, arbeitete, in seiner 1878 neu gegründeten Hauszeitschrift, den „Bayreuther Blättern“, im Aufsatz „Publicum und Popularität“ über die „öf‐ fentlichen Kunstzustände“ in Deutschland nachgedacht. Er war hierin zu dem 79 Gregorovius an die J. G. Cotta’sche Buchhandlung, 23. Januar 1880, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 1), URL: https://gregorovius-edi‐ tion.dhi-roma.it/letters/ed_lkv_brx_xnb. 80 Siehe hierzu Martin Nissen, Zwischen Wissenschaft und Wissensvermittlung: Die Biblio‐ thek deutscher Geschichte im J. G. Cottaverlag, in: Wissenschaftsverlage zwischen Profes‐ sionalisierung und Popularisierung, hg. von Monika Estermann und Ute Schneider, Wies‐ baden 2007, S. 47–60. Die „Bibliothek deutscher Geschichte“ erschien mit sehr mäßigem buchhändlerischem Erfolg in den Jahren von 1887 bis 1912 in zwölf zwei- bis dreibändigen Titeln. 81 Gregorovius an die J. G. Cotta’sche Buchhandlung, 22. Oktober 1883, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 1), URL: https://gregorovius-edi‐ tion.dhi-roma.it/letters/ed_khz_w4z_hqb. 82 Ferdinand Gregorovius, Aus den Ruinen von Sardes (1882), in: Zeitschrift für Allge‐ meine Geschichte, Kultur-, Litteratur- und Kunstgeschichte, Bd. 1, Stuttgart 1884, S. 721– 754.

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Abb. 6: Programm und Musterbrief für die Bibliothek deutscher Geschichte und Cultur, Beilage zum Brief von Ferdinand Gregorovius an Cotta, 6. August 1879 (DLA Marbach, Cotta-Archiv, Cotta-Briefe, 308a, 1 r)

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Schluss gekommen, dass eine Kunst, die „von vornherein für eine Darbietung an das Publicum berechnet sei“, zwangläufig „unter der Gestalt des Mittelmäßigen“ litte. 83 Im Jahr darauf erklärte er in seinem Aufsatz „Wollen wir hoffen?“, sein Festspielpro‐ jekt als Nationaltheater für gescheitert, weil sein Kunstwerk der Zukunft bei den Bayreuther Aufführungen nur auf einzelne Personen gewirkt habe, ein kollektives Erlebnis aber ausgeblieben sei. 84 Seinen „Parsifal“ hatte Wagner dennoch allein in Bayreuth aufführen lassen wollen. In Bayreuth war Gregorovius nie. Was er über die Festspiele und die Musikdra‐ men Wagners dachte, schrieb er 1876 an Mathilde von Humboldt: Hier [in München] haben wir die Kunstausstellung – und hatten das große Fest des Wischnu in Bayreuth, wo die fanatisirte Frauenwelt sich förmlich von dem großen Götzenwagen hat zerquetschen lassen – es soll schauderhaft gewesen sein – Hitze, Hunger, Finsterniß und stundenlanger Blödsinn aus der Edda mit Lindwürmern, un‐ geheuren Riesen, daumengroßen Zwergen, der Frau von Schleinitz, der Dönhoff etc etc. 85

83 Bayreuther Blätter, hg. von Heinrich von Wolzogen, Bd. 1, H. 4, Bayreuth 1878, S. 85– 92, hier S. 87. 84 Bayreuther Blätter, Bd. 2, Bayreuth 1879, S. 121–135. 85 Brief vom 3. September 1876, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 1), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G067880.

Die Kultur der Renaissance im Italien der Kaiserzeit Ferdinand Gregorovius über die Villa Hadriana Im Andenken an Karl Christ zum hundertsten Geburtstag am 6. April 2023 Patrick Bahners

Sein letztes Belegstück ein zerbröckelndes Krokodil aus Beton. Durs Grünbein, Tänzerin in Tivoli

Werner Kaegi legt im dritten Band seiner Biographie Jacob Burckhardts dar, dass Burckhardt sich gerade wegen seiner Überzeugung von der fundamentalen Bedeu‐ tung der römischen Architektur auch für die nachantike Zeit berechtigt gesehen habe, bei der Präsentation römischer Überreste in den bauhistorischen Partien des „Cicerone“ selektiv zu verfahren. Ihn interessierte an den römischen Bauformen das Allgemeine der gefundenen Lösungen, der monumentale Charakter, den er auch an den Nutzbauten erkannte. Ein „Handbuch der italienischen Altertümer“ mit Anspruch auf Vollständigkeit „wollte er keineswegs geben“, so Kaegi. Burckhardts literarischem Ideal einer übersichtlichen, dem römischen Geist durch Bündigkeit kongenialen Darstellung kam dabei in der Sicht des Biographen der damalige Stand der italienischen Ausgrabungen entgegen, der sozusagen noch vorwissenschaftliche Zustand dieses Ausschnitts seines Gegenstandes. „Noch lag vieles unter dem Boden, das er heute nicht ohne archäologischen Kommentar hätte lassen können.“ Das Begleitbuch für den Bildungsreisenden durfte demnach bei dieser Thematik 1855 noch an der Oberfläche bleiben. Spätere Leser hätten erwartet, zum Forschungs‐ stand auch bei einzelnen Bauwerken Details zu erfahren. Kaegi merkt in diesem Zu‐ sammenhang an, dass für den Forschungsreisenden Burckhardt die Autopsie eine Grenze hatte, wobei offenbleibt, ob diese Grenze pragmatisch oder prinzipiell war: „[. . . ] nicht einmal der Villa Adriana bei Tivoli, aus deren Boden schon damals so Erstaunliches ans Licht gestiegen, hat er die Ehre eines Besuches gegönnt“. 1 Der Begriff der Ehre klingt an dieser Stelle doppeldeutig. Ein Kulturtourist er‐ weist einem Baudenkmal die diesem in den Augen der Gebildeten gebührende Ehre, indem er die Mühe einer Reise auf sich nimmt, um es aufzusuchen. Gleichzeitig ehrt er den Bauherren beziehungsweise dessen Andenken. Im Fall des Kaisers Ha‐ drian, der sich die Villa bei Tivoli bauen ließ, handelt es sich um einen Amtsträ‐ 1 Werner Kaegi, Jacob Burckhardt, Bd. 3: Die Zeit der klassischen Werke, Basel 1956, S. 493.

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ger, dessen Existenz schon zu Lebzeiten durch die kontinuierliche Entgegennahme von Ehrenbezeigungen bestimmt wurde. Aber wenn der Besucher Jacob Burckhardt heißt, dann bedeutet jedenfalls aus der Perspektive eines Historikers, der diesem Vorgänger eine Lebensbeschreibung in acht Bänden widmete, die Gegenwart eines solchen berühmten, in seinen Büchern Ruhm verwaltenden und verteilenden Gas‐ tes eine besondere Ehre für den besuchten, mutmaßlich überwucherten, anderwei‐ tig entstellten oder vielleicht sogar unscheinbaren Ort. Kaegi verweist in einer Fuß‐ note auf Burckhardts diesbezügliche Fehlanzeige aus seinem Itinerar im Text des „Cicerone“. Dort findet sich dieser Aspekt der Geschichte des modernen Ruhms noch nicht gespiegelt, der Rollentausch, dass ein nachgeborener Bürgerlicher einer kaiserlichen Schlossanlage die Besichtigung gönnt, das heißt als Gönner auftritt – obwohl sich auch jeder namenlose Besucher in einen Mäzen verwandelt, sobald ein Eintrittsgeld erhoben wird oder der Tourismus auch nur indirekt zur Unterhaltung der Anlage beiträgt. In Burckhardts Text sind die Rangverhältnisse und die aus ih‐ nen für kultivierte Menschen folgenden Bescheidenheitspflichten noch eindeutig. Burckhardt nennt den Besuch der Villa „sehr lohnend“ und fügt in Klammern ein: „welchen ich bisher versäumt zu haben bedaure“. Anscheinend hat er das Versäum‐ nis nie gutgemacht. „Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens“ stellt der Untertitel des „Cicerone“ in Aussicht. 2 Gemeint ist die Art von Genuss, die mit Anstrengung ver‐ bunden ist, mit einer Arbeit der Vorstellungskraft, die auch der kundigste Führer dem Kunstbetrachter nicht abnehmen kann, weshalb dieser Kenner auch nicht un‐ bedingt selbst am Ort gewesen sein muss. Burckhardt warnt den Leser: „Die Villa Hadrians unterhalb Tivoli verlangt in ihrem jetzigen Zustande, nach dem totalen Verlust ihrer Steinbekleidung und ihrer Säulenbauten, eine starke Phantasie, wenn man die einzelnen, meist nicht sehr bedeutenden Räume noch für das erkennen soll, was sie einst waren“. Lohnend ist der Besuch genau dann, wenn man neben beziehungsweise statt Burckhardts Buch ein spezielles Hilfsmittel zur Hand hat, dessen Studium das Wiedererkennen der dem modernen Besucher unbekannten Funktionen der Räume ermöglicht: „[. . . ] sobald man sich mit dem Plan der Villa (von Fea) versehen hat; in diesem wird nämlich die ehemalige Bedeutung der einzel‐ nen Bauten angegeben“. 3 Leider wird in der Kritischen Gesamtausgabe von Jacob Burckhardts Werken nicht angegeben, in welcher Publikation von Carlo Fea man den Plan findet.

2 Dazu Christine Tauber, Jacob Burckhardts „Cicerone“: Eine Aufgabe zum Genießen (= Reihe der Villa Vigoni, Bd. 13), Tübingen 2000. 3 Jacob Burckhardt, Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Architektur und Sculptur, hg. von Bernd Roeck, Christine Tauber und Martin Warnke (= Jacob Burckhardt Werke, Bd. 2), München, Basel 2001, S. 56 f.

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Die „Geschichte des römischen Kaisers Hadrian und seiner Zeit“ von Ferdinand Gregorovius erschien 1851 in Königsberg. 4 Der Autor hatte Italien damals noch nicht betreten und das Werk schon vier Jahre zuvor niedergeschrieben. 5 Diese erste wissenschaftliche Biographie Hadrians gilt als „Meilenstein“ und wird „auch noch heute in wissenschaftlichen und literarischen Beiträgen zu Hadrian rezipiert“. 6 1884, nachdem die in Rom konzipierte, ausgearbeitete und vollendete „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“ ihn berühmt gemacht hatte, ließ Gregorovius eine überarbeitete Fassung seines Hadrian-Buchs erscheinen, mit neuem Titel: „Der Kaiser Hadrian. Gemälde der römisch-hellenischen Welt seiner Zeit“. 7 Am 24. Oktober 1852, drei Wochen nach seiner Ankunft in Rom, wanderte Gregorovius mit einem englischen Architekten nach Tivoli. Ende Mai 1853 unter‐ nahm er noch einmal einen Ausflug dorthin. In der von Hanno-Walter Kruft und Markus Völkel veranstalteten Ausgabe der „Römischen Tagebücher“ ist eine auf den 27. Mai 1853 datierte Zeichnung der Villa Hadriana abgebildet. 8 Drei Wochen spä‐ ter reiste er gemeinsam mit Jacob Burckhardt, im Tagebuch als Freund des Kunst‐ historikers Franz Kugler verzeichnet, nicht nach Osten, sondern in den Süden, nach Pompeji und Paestum. Obwohl also der Autor der „Geschichte des römischen Kai‐ sers Hadrian“ die Villa nur aus Büchern kannte, beschwört er im Kapitel über Ha‐ drians italienische Bauwerke mit einem Maximum an Anschaulichkeit den ersten Eindruck, den die Ruine auf den Besucher macht. 9 Wie Burckhardt bestimmt Gre‐ gorovius die Aufgabe, aus den erhaltenen Teilen das verlorene Ganze zu erschließen, als Herausforderung für die Phantasie. „Das verschiedene Mauerwerk, die Säulen, 4 Von einem Hadrian-Spezialisten: Peter Kuhlmann, Ferdinand Gregorovius’ HadrianGeschichte im Kontext ihrer Zeit, in: Transformationen des Historischen. Geschichtser‐ fahrung und Geschichtsschreibung bei Ferdinand Gregorovius, hg. von Dominik Fugger, Tübingen 2015, S. 43–60. 5 Ferdinand Gregorovius an Franz Rühl, 5. August 1881, in: Johannes Hönig, Ferdinand Gregorovius der Geschichtsschreiber der Stadt Rom, Stuttgart 1921, S. 457. 6 Susanne Mortensen, Hadrian. Eine Deutungsgeschichte, Bonn 2004, S. 1 f. Entgegen dem im Titel angekündigten und in der Einleitung formulierten Anspruch, die Hadrianbil‐ der „in ihrer historischen Bedingtheit“ darzustellen, trägt die Arbeit von Mortensen zum historischen Verständnis eines Buches wie des „Hadrian“ von Gregorovius wenig bei, da das Leitinteresse der Verfasserin ein innerfachliches ist: Sie glaubt, ein „möglichst ideolo‐ giefreies Verständnis“ der „Person“ des Kaisers dadurch begründen zu können, dass sie ihre Autoren nach der Verlässlichkeit der von ihnen benutzten Quellen sortiert (S. 22). 7 Stuttgart 1884 (ausgeliefert Ende 1883). Zitate aus beiden Ausgaben, im Folgenden nach‐ gewiesen mit Jahr und Seitenzahl. 8 Ferdinand Gregorovius, Römische Tagebücher 1852–1889, hg. von Hanno-Walter Kruft und Markus Völkel, München 1991, Abb. 9 neben S. 48. 9 Hönig, Ferdinand Gregorovius (wie Anm. 5), S. 63 befand, die Schilderung „der Trüm‐ merstätte des Lustschlosses von Tibur“ sei so gut gelungen, dass „man kaum glauben sollte“, dass ihr „noch keine eigene örtliche Anschauung zugrunde lag“.

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Mosaikböden, Sculpturen, Gebälke, Marmoreinfassungen und Becken lassen kein geordnetes Ganze mehr überschauen, aber die Phantasie hat hier vollauf zu thun, jene Wunderwelt in ihrer ehemaligen Pracht sich wieder aufzubauen.“ (S. 212) Ein solches verfallenes Gebäude zu begreifen heißt es im Geist nachzubauen, also den Bauherrn zu imitieren. Wo Burckhardt sich in seiner Anleitung aber damit begnügt, dem Leser die Wiederherstellung der funktional verstandenen Ordnung aufzuge‐ ben, indem er sich von Fea darüber aufklären lassen soll, wie die Räume mit ihren für Besucher aus der bürgerlichen Gesellschaft nicht auf Anhieb offenkundigen Zwecken zueinander angeordnet waren, da ist das Ganze, auf das Gregorovius die Phantasie seines Lesers ausrichtet, mehr als eine solche topographisch schlüssige Summe der Bauteile. 10 Es hat selbst phantastischen Charakter. Die rekonstruierte Ordnung soll so etwas wie einen Überschuss von Unordnung freisetzen, einen äs‐ thetischen Mehrwert des funktional nicht Subsumierbaren: Was in aller ehemaligen Pracht wiederauferstehen soll, ist eine Wunderwelt. Mit diesem Stichwort wird die Sphäre des Märchens und der Zauberei evoziert. Es ist die Wirkung der Zeit, der ruinöse Zustand des Baukomplexes, die diese As‐ soziation hervorruft, denn so hat Gregorovius vor dem zitierten Satz die Szenerie entworfen, ausgehend von einem bauhistorischen Vergleich mit einem allseits be‐ kannten, ja sprichwörtlichen Denkmal aus heimatlichen Gefilden: Die Trümmer dieses einstigen Sanssouci eines römischen kaiserlichen Sophisten und Kunstfreundes bedecken jetzt einen Raum von beinahe zehn Miglien und gewähren den Anblick eines Feenirrgartens voll überraschender und kostbarer Ruinen, welche die Natur durch eine üppig wuchernde Vegetation von Bäumen, Blumen und Ranken‐ gewinden zu ehren scheint. (1851, S. 212) 11 10 In der Doktorarbeit über die Ästhetik Plotins, die Gregorovius bei dem Hegelschüler Karl Rosenkranz anfertigte, definiert er die Phantasie als „ein nicht an das Sinnliche gebundenes Vermögen“, das „in der Natur des Künstlers“ herrsche; bei Plotin sei die „erste Ahnung von dem“ aufgegangen, „was wir Genialität nennen“ (Ferdinand Gregorovius, Grundlinien einer Aesthetik des Plotin, in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, N.F. 26 [1855], S. 113–146, hier S. 127; dazu Jens Halfwassen, Gregorovius als Leser Plotins, in: Transformationen des Historischen [wie Anm. 4], S. 25–42, hier S. 33). Dass für Grego‐ rovius das Erfinderische und Konstruktive den Begriff der Phantasie ausmachte, geht auch aus seiner Charakterisierung des von ihm bewunderten Kuno Fischer hervor: „Dies ist ein wahrhafter Denker, von einer ungewöhnlichen Praecision der Rede, und großer Klarheit des Verstandes – ich glaube, solche Köpfe können kein philosophisches System erfinden, weil ihnen das Medium der Phantasie fehlt, worin die Schöpfung vor sich geht, aber sie können Geschaffenes mit wunderbarer Klarheit durchdringen.“ (Gregorovius an Ludwig Friedländer, 5. März 1866, in: Ferdinand Gregorovius, Briefe nach Königsberg 1852– 1891, hg. von Dominik Fugger und Nina Schlüter, München 2013, S. 92) 11 Ähnlich 1884, S. 486: „Die Trümmer dieses Sanssouci eines weltbeherrschenden Kunsten‐ thusiasten bedecken jetzt noch einen Raum von zehn Millien Umfang, und sie gewähren den Anblick eines Irrgartens voll versunkener Kaiserpracht.“

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Hier trügt der Schein, wenn man zuerst glauben möchte, die Feen hätten erst nach dem Tod des Hausherrn, eines Sophisten, das heißt eines philosophisch aus‐ gebildeten Rationalisten und Berufsdenkers, von der Liegenschaft Besitz ergriffen. Hadrians Wohnwelt soll in geistig wiederhergestellter Gestalt das Wundersame be‐ halten, das sie von Anfang an hatte, ja, dieser Effekt des Wunders soll noch gestei‐ gert werden. Kostbar und überraschend dürften Abwechslung und Kombination der Materialien und Formen wohl schon gewirkt haben, als die Villa noch nicht in Trümmern lag. Gregorovius gibt dem Leser den Wink, dass der Kaiser es von vorn‐ herein auf die Schaffung eines Irrgartens angelegt haben könnte. Dass die heutige Gesamtwirkung die Intention des Erbauers nicht verdeckt, sondern freilegt, sugge‐ riert die merkwürdige Formulierung, dass die Natur die Ruinen durch den üppigen Bewuchs der Bruchstücke ehre – wie eine Besuchergruppe, die sich vor lauter Be‐ wunderung des zauberhaften Ortes dort häuslich einrichtet. Triumphiert nicht die Natur über die Kultur, wenn sprießt und sich ausbreitet, was nicht gesät worden ist? Nein, bei Tivoli scheinen umgekehrte Verhältnisse zu herrschen. Bäume und Blumen zwischen Mauerresten und Säulenstümpfen brin‐ gen den architektonischen Plan zur Geltung, die Rankengewinde sind Pendants der Marmoreinfassungen. Wo Feen das Regiment führen, da ist die Zeitordnung außer Kraft gesetzt. Das schließt hier das aus der Antike überkommene historiographi‐ sche Grundschema der Epochenabfolge ein, das in mehrfacher Hinsicht klassische Verlaufsmodell: Blüte und Verfall – nach dieser Formel lassen sich Baugeschichte und Nachgeschichte der Villa Hadriana nicht auseinanderhalten. Im Vorwort seines Buches hat sich Gregorovius ausführlich zum Problem der Periodisierung der römischen Geschichte geäußert. Hadrian markiert demnach die Scheidelinie zweier Zeitalter der Kaisergeschichte, die der Verfasser historiogra‐ phiegeschichtlich, vielleicht darf man sogar sagen: historiographiegeschichtstheore‐ tisch unterscheidet. Die Verfassung der Zeiten zeigt sich an der Art von Geschichte, die von den ersten Männern des Staates geschrieben werden kann. Zuerst kom‐ men, beginnend mit Augustus, die starken Individuen, die vom Historiker eine Darstellung verlangen, welche in Worten die Eigenschaften zweier Gattungen der bildenden Kunst vereinen müsste, der Malerei und der Bildhauerei, als „plastisches Gemälde“. Eine solche sozusagen aus der Fläche der Chronistik heraustretende Kaisergeschichte ist bislang über „Versuche“ noch nicht hinausgekommen (1851, S. VII): So das strenge kritische Urteil des jungen Gregorovius, der sich beschei‐ den „nicht als ein Geschichtschreiber von Fach“ vorstellt, „sondern als ein Freund der Geschichte und des Altertums“ (1851, S. V). Es folgen in der zweiten Periode schwache, für die Historiker schwer greifbare Persönlichkeiten, die im Guten wie im Bösen nur nachahmen und ausführen, was die Fürsten der Gründerzeit vorgege‐ ben und vorgelebt haben, die dadurch im Rückblick zu „Typen“ werden. „Caracalla und Heliogabalus was sind sie noch, wenn es einen Tiberius und einen Nero gab?“ Wenn nun Hadrian „in der Mitte der beiden Hälften der römischen Kaiserwelt“

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steht (1851, S. VIIIf.), bedeutet das im Stofflichen, dass er noch ein relativ mar‐ kanter Charakter ist, aber unter seiner Herrschaft die klassischen Handlungen der Reichsgeschichte nicht mehr zu Buche schlagen: Vor allem die auf Expansion des Reiches gerichteten Kriege sind an ihr Ende gekommen. Edward Gibbon hatte die Ära der Adoptivkaiser auch deshalb zur glücklichsten Episode in der Geschichte der Menschheit stilisiert. Gregorovius gibt sich an der von Hadrian bezeichneten Epochenschwelle in einem pathetischen Anfall dem Schrecken vor der Leere hin. Ihm eröffnet das zweite Jahrhundert die Aussicht auf „eine Sandwüste in der Cultur der Menschheit, deren unermeßliche Ausdehnung uns verzweifeln läßt“ (1851, S. VIII). Wo alle Größenmaßstäbe zu verschwinden drohen, da verfolgt Gregorovius gleichwohl ein Ideal in der Tradition des an Tacitus geschulten gedrungenen Stils, der durch Knappheit des Ausdrucks die Einzelheit zum Sprechen bringt. 12 Ihm „war es darum zu tun, in Kürze doch ein möglichst vollständiges Bild von den Zu‐ ständen zu geben, weil Hadrian’s Regierungsgeschichte selbst an Ereignissen arm ist“. Die Handlung, die nicht mehr weltbewegend genannt werden kann, gewinnt Aussagewert als Indiz oder Symptom für überpersönliche Vorgänge, die nicht ohne Weiteres augenfällig sind. „Ich nahm“, sagt Gregorovius, „den merkwürdigen Mann als einen Anhaltspunkt für die Schilderung der römischen Welt seiner Periode, wo‐ bei ich auf ihre Voraussetzungen zurückgehn mußte.“ Merkwürdig ist der Mann nicht durch Züge, die ihn von den Zeitgenossen abheben: „Die plastische Charak‐ terzeichnung tritt in den Hintergrund, weil Hadrian selbst, wol als hervorragender Repräsentant seiner wunderlichen Welt, die er nach allen Seiten in seiner Indivi‐ dualität abspiegelt, nicht aber als große Individualität auftritt.“ (1851, S. IX) Im Kaiseramt folgt auf die Akteure der Repräsentant, in der Kaiserhistorie der passive auf den aktiven Modus. 13 Der Held tritt in den Hintergrund – und nimmt zugleich die gesamte Bildfläche ein. Ironisch kommentierte der Rezensent der „Heidelberger 12 Gerrit Walther, Der „gedrungene“ Stil. Zum Wandel der historiographischen Sprache zwischen Aufklärung und Historismus, in: Historismus in den Kulturwissenschaften. Ge‐ schichtskonzepte, historische Einschätzungen, Grundlagenprobleme, hg. von Otto Ger‐ hard Oexle und Jörn Rüsen (= Beiträge zur Geschichtskultur, Bd. 12), Köln 1996, S. 99– 116. 13 Dass es Gregorovius bei der Wahl des Gegenstandes des mit dieser Charakteristik Hadrians eingeleiteten Buches „eher um den Reiz des Kuriosen“ ging (Kuhlmann, Hadrian-Ge‐ schichte [wie Anm. 4], S. 48), zeigt also kein Desinteresse an Verfassungsgeschichte an. Ihm gelang „ein Paradox: Der mächtigste Mann der damaligen Welt wird zum Gegenstand einer paradigmatischen Biographie, einer Biographie also, die ihre Hauptfigur nicht als Gordi‐ sche Knoten durchschlagenden Helden, sondern als Spiegel und Ergebnis der Zeitläufte vorstellt“ (Uwe Walter, Ein feines Gesellenstück, wieder zugänglich: Gregorovius’ Ha‐ drian, F. A. Z.-Blog Antike und Abendland, 27. Juli 2011, URL: https://blogs.faz.net/ antike/2011/07/27/ein-feines-gesellenstueck-wieder-zugaenglich-gregorovius-hadrian/, letzter Zugriff: 31. 05. 2022).

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Jahrbücher“ die von Gregorovius angestellte Spekulation, dass die mit dem politi‐ schen System gegebenen Kontingenzerfahrungen („Der Imperator ist das Werk ei‐ ner Stunde“) die Kaiser zu geborenen Epikureern gemacht hätten: Nicht vorgreifen wolle er „dem Urtheil unserer Leser über derartige Producte der neuesten Schulphi‐ losophie, die hier auf die römische Kaiserzeit in einer bisher wohl kaum geahneten Weise angewendet wird“. 14 Wäre der kaiserliche Sophist nicht auch ein Kunstfreund gewesen, hätte man auch die Idee vom Spiegelstadium der Reichsverfassungsgeschichte als Einfall der philosophischen Mode abtun können. Aber durch Schilderung von Hadrians För‐ derung der Künste kann Gregorovius das von ihm vorausgesetzte Repräsentations‐ verhältnis ins Bild setzen. Die wunderliche Welt der Verkehrsformen des Zeital‐ ters und die Wunderwelt von Hadrians prächtigem Refugium illustrieren einander wechselseitig, gesellschaftlicher Makrokosmos und ästhetischer Mikrokosmos, ver‐ mittelt durch den merkwürdigen Mann. Der Aufriss der Villa zeigt das Spiegelka‐ binett der Dreiecksbeziehung von Bau, Bauherr und beherrschter Welt, die Bühne eines triadischen Staatsballetts: [Das Tiburtinum] muß in seiner Vollendung ein wunderbares Abbild alles dessen ge‐ wesen sein, was Hadrian’s vielgestaltige Natur selbst gewesen war, und wenn sich von dem gesammten Kaiserreiche mit allen seinen Ländern, Städten, Nationen und deren Köstlichstem ein Bild geben ließe, so hatte Hadrian in seiner Villa davon ein Panorama geschaffen, in dessen Zauberreich er auch mit einem Male das Ganze seiner Herrschaft fühlen und genießen mochte. (1851, S. 212)

Hadrian mochte dort seine Herrschaft genießen, wie die Leser des „Cicerone“ den kunstreich eingerichteten Ort genießen sollten, im Geist ergänzt um alles mit der Zeit Verlorene. Das Zauberreich des Landhauses diente als Verdopplung des Welt‐ reiches: Hadrian selbst war der Feenkönig. Gregorovius beeindruckt den Leser mit diesem Prospekt einer Märchenherr‐ schaft und gibt zugleich zu verstehen, dass sie eine Sache der optischen Technik war. Der Begriff „Panorama“ verweist auf die begehbaren Rundgemälde, die als Hohlkörper der belehrenden Massenunterhaltung ortsfest installiert waren oder auf Tournee geschickt wurden. 15 Robert Barker ließ sich seine Erfindung 1787 un‐ ter dem Namen „la nature à coup d’oeil“ patentieren: Der zahlende Besucher sollte das täuschend echt gemalte Reich der Natur auf einen Blick erfassen, wie Hadrian im symbolischen Universum der Villa das Ganze seines Herrschaftsbereichs. Wo aber ein kommerzielles Panorama auf viele Gäste berechnet ist, die Schlange ste‐ 14 Rez. Ferdinand Gregorovius, Geschichte des römischen Kaisers Hadrian und seiner Zeit, in: Heidelberger Jahrbücher der Literatur, Jg. 45 (1852), S. 466–469, hier S. 469. 15 Vance Byrd, A Pedagogy of Observation: Nineteenth-Century Panoramas, German Lite‐ rature, and Reading Culture (= New Studies in the Age of Goethe), Lewisburg 2017.

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hen, da war die Villa zugeschnitten auf die Person des Erbauers, der allfällige An‐ wandlungen von Einsamkeit durch die Vielheit der in ihm versammelten Naturen kompensieren konnte. Die wunderkammerhafte Ausstattung machte die Villa zum Selbstporträt des imperialen Proteus. Was aber war dort tatsächlich zu sehen? Burckhardts konzise Angaben vermit‐ teln eine klare Vorstellung. „Hadrian hatte hier die berühmtesten Localitäten der alten Welt im Kleinen nachahmen lassen und auch von den Gattungen des römi‐ schen Prachtbaues immer je ein kleines Specimen errichtet, das Ganze in einem Umfang von mehr als einer Stunde.“ 16 Demnach zeichnete ein doppelter Universa‐ lismus das Bauprogramm aus, ein geographischer und ein formaler. Hadrian hatte sowohl Kopien von Sehenswürdigkeiten, vielbesuchten Orten anfertigen lassen als auch Modelle von Musterhäusern aller Gattungen der repräsentativen Architektur. Zweimal hebt Burckhardt den verkleinerten Maßstab dieser Schaustücke hervor. Will man den Charakter des Ortes bestimmen, kommt uns Heutigen der Begriff des Vergnügungsparks in den Sinn. Die berühmtesten Lokalitäten an einem Ort zu‐ sammenzuführen: Das ist das Prinzip von Disneyland und Las Vegas, aber auch dem Europa-Park Rust, Legoland und dem 1992 stillgelegten Minidomm bei Ratingen. Burckhardts Zweiteilung des Bauinventars nach Ort und Gattung ist ein Pro‐ dukt der ordnenden Phantasie. Sie systematisiert eine Angabe der Biographie Ha‐ drians in der Historia Augusta. 17 Gregorovius führt diesen einen Satz über den wunderbaren Bau der Villa wörtlich an. „Er verzeichnete darauf die berühmtesten Namen aus den Provinzen und Städten, so das Lyceum, die Akademie, das Pry‐ taneum, den Canopus, die Poekile, das Tempe, wie er seine Gebäude benannte.“ Der Biograph spricht nur von der Benennung einzelner Teile nach berühmten Pro‐ vinzen und Orten; in der Liste der Beispiele stehen einerseits Ortsnamen wie das Tempe-Tal und andererseits etwa das Prytaneum, das Versammlungshaus griechi‐ scher Städte, als Gebäudetypus. Gregorovius weist auf die Kürze dieser Mitteilung über die Villa hin, die er eine „Beschreibung“ nennt. Seine kommentierende Pa‐ raphrase gerät emphatisch, ist aber bei näherem Hinsehen in der Sache durchaus vorsichtig. 18 Ob man sich die Abfolge der ausgeschilderten Räume als eine Serie von 16 Burckhardt, Der Cicerone (wie Anm. 3), S. 57. 17 Sehr kritisch zur Benutzung dieser unter dem Autorennamen Spartianus überlieferten Vita durch Gregorovius Johannes Plew, Quellenuntersuchungen zur Geschichte des Kaisers Hadrian nebst einem Anhange über das Monumentum Ancyranum und die kaiserlichen Autobiographien, Straßburg 1890, S. 2: „Auch noch in der zweiten Bearbeitung seines Ha‐ drian ist Gregorovius dieser Hauptquelle gegenüber oft völlig ratlos.“ 18 Ebenso 1884, S. 487 f.: „Einzelne Teile trugen Namen von Bauwerken Athens. Es gab dort das Lyceum, die Akademie, das Prytaneum, die Pökile, selbst das vom Peneus durchflossene Tal Tempe, und sogar das Elysium und den Tartarus.“ Einen Bau zeichnet die Zweitausgabe ausdrücklich als architektonische Kopie aus, das „Nachbild des berühmten Serapis-Tem‐ pels“ in dem „Bezirk“, der „den Wundern des Nil geweiht“ war und den Namen Canopus

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Nachbildungen vorstellen soll, als begehbares Lehrbuch der Baugeschichte, lässt er offen. 19 Seine eigene Beschreibung hebt eher auf die Wirkung der kreativen Na‐ mensgebung ab. Aus dieser geringen Angabe sieht man vor der Hand wenigstens, dass Hadrian in seiner Villa das Herrlichste zu vereinigen suchte, was das Altertum geschaffen hatte, und daß er hier historische, künstlerische und auch religiöse Productionen des Menschengeis‐ tes, mochten sie Wahrheit oder Dichtung sein, als Erinnerungen anschaulich hinzau‐ berte. (1851, S. 212)

Gregorovius beschreibt hier den durch die Benennungen hergestellten Verweiszu‐ sammenhang, der sich beim Rundgang erschloss, als mnemotechnisches System, ohne die technische Begrifflichkeit dafür zu bemühen. Dass die Namen Erinne‐ rungen weckten, durfte Hadrian für sicher halten, weil er die Villa für den eigenen Gebrauch entwarf und er selbst schon leibhaftig an den hier geistig ins römische Vorland versetzten Orten insbesondere Griechenlands gewesen war. Die meisten der in der Historia Augusta aufgezählten Namen bezeichnen Orte in Athen; an an‐ derer Stelle hebt Gregorovius Hadrians Verehrung für Athen hervor. Denkbar weit weg von dem Katalog architektonischer Miniaturen, zu dem man mit Burckhardt die Angabe aus der Hadrian-Biographie ausbauen soll, ist der Gedanke von Grego‐ rovius, dass der Kaiser Geistesprodukte habe magisch vergegenwärtigen wollen, und zwar unabhängig von ihrem Wahrheitswert. Warum kommen bei Gregorovius Wahrheit und Dichtung ins Spiel, wenn in der Historia Augusta von Provinzen und Orten die Rede ist? Es gab schließlich tatsächlich im Gebiet der Stadt Athen Orte mit den Namen Akademie und Ly‐ zeum, auch wenn in den Jahrhunderten seit der großen Zeit der an diesen Orten angesiedelten Institutionen Legenden von ihnen ausgegangen sein mögen, so dass man sagen kann, dass Erinnerungen sich nicht nur an berühmte Orte knüpfen, son‐ dern sich auch von ihnen lösen. Es war wohl die Wirkungsweise der Benennung, die Gregorovius die Ahnung eingab, dass Hadrians Bauprojekt einen Zug ins Fiktive hatte, sich in einem ontologischen Schwebezustand entfaltete. Unbewusst ging der moderne Historiker hier dann sozusagen von der eigenen Situation aus: Für den

erhalten hatte, „nach dem zauberhaften Luftort der Alexandriner“. Hier wurde auch die Anreise simuliert: „[. . . ] auf einem Canal konnte man zu ihm im Schiff gelangen“ (S. 488). 19 Anders bei Ludwig Friedländer, Darstellungen aus der Sittengeschichte Roms in der Zeit von August bis zum Ausgang der Antonine, Bd. 3, Leipzig 1871, S. 103 mit Verweis auf Gregorovius: Die Villa „enthielt architektonische und ohne Zweifel auch landschaftliche Nachbildungen der Orte und Gegenden, die das Interesse Hadrians auf seinen mehrjähri‐ gen Reisen durch alle Provinzen seines Reichs am meisten erregt hatten“.

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Königsberger Lehrer, Journalisten und Privatgelehrten war die Macht der antiken Erinnerungen ein Namenzauber. 20 Die Neuausgabe des Hadrian-Buchs von 1884 ist über weiteste Strecken neu ge‐ schrieben. Beim Wiederlesen der Erstausgabe war Gregorovius der „wissenschaftli‐ che Grund“ immer noch „brauchbar“ vorgekommen, aber im Stil hatte er sich nicht mehr wiedererkannt. 21 Er gab sich dem Gefühl hin, dass sich ein Kreis geschlossen hatte, der „Ring“ seiner „kleinen literarischen Thätigkeit“, wie er an den Großher‐ zog von Sachsen-Weimar schrieb. 22 In mehreren Briefen wendet er das Wort auf sich an, dass Cassius in Shakespeares Cäsar-Drama spricht, bevor er sich von seinem Sklaven erstechen lässt: „time is come round, / And where I did begin, there shall I end“. 23 Prophetisch liest sich vor diesem Hintergrund, wie sich Gregorovius in der Erstfassung in die Gemütslage des alten Kaisers hineinversetzte: „Es ist, als hätte er seine Reisebilder hier plastisch ausgearbeitet, wo er, nachdem ihm Müdigkeit, Krankheit und Alter das Umherschweifen unmöglich gemacht hatten, wenigstens für die Imagination die Welt seiner Sehnsucht um sich her ausbreitete.“ (1851, S. 212) Eigentlich, möchte man meinen, konnte Gregorovius 1851 das Produkti‐ onsverfahren seiner historiographischen Berufsarbeit noch gar nicht kennen, da er noch nicht gereist war. 24 Auch er sollte seine Reisebilder plastisch ausarbeiten; und 20 Über die süditalienische Exkursion mit Gregorovius im Sommer 1853, an der zeitweise auch Burckhardt teilnahm, berichtet Friedrich Althaus, Ferdinand Gregorovius. Ein Lebensbild, in: Nord und Süd, Bd. 23 (1882), S. 322–337, hier S. 324: „Dabei war seine Phantasie immer thätig. Die bloßen Ortsnamen riefen ihm unwillkürlich geschichtliche Erinnerungen wach und in wenigen an Ort und Stelle gesprochenen Worten entwarf er oft ein Charakterbild der umgebenden Landschaft, das diese dem innern Sinne unauslöschlich einprägte.“ 21 Gregorovius an Franz Rühl, 5. August 1881, in: Hönig, Ferdinand Gregorovius (wie Anm. 5), S. 458. 22 Gregorovius an Carl Alexander von Sachsen-Weimar-Eisenach, 13. Dezember 1883, in: Ferdinand Gregorovius, Poesie und Wissenschaft. Gesammelte deutsche und italieni‐ sche Briefe (digitale Edition), hg. von Angela Steinsiek, Deutsches Historisches Institut in Rom 2017–2023, URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/ed_msd_qzp_ 3qb. 23 Gregorovius an Hermann von Thile, 16. September 1883, ebd., URL: https://gregoro‐ vius-edition.dhi-roma.it/letters/ed_glg_nc2_hqb. Über Shakespeares „Julius Caesar“ als Vorbild der Tiberius-Tragödie siehe Ernst Osterkamp, Vom Ideal der „mäßigen Form“: Ferdinand Gregorovius als Dichter, in: Ferdinand Gregorovius und Italien. Eine kritische Würdigung, hg. von Arnold Esch und Jens Petersen (=Bibliothek des Deutschen Histori‐ schen Instituts in Rom, Bd. 78), Tübingen 1993, S. 185–202, hier S. 187. 24 Auch so erschloss er sich schon das Potenzial des Reiseberichts als einer Urform der Kultur‐ geschichte: Wenn er „eine Reisestation des Kaisers darstellt, wird in diesem Kapitel häufig auch die Vorgeschichte dieser Stadt oder dieses Landes bis zur Zeit Hadrians nacherzählt, was den Erzählfluss entsprechend unterbricht“ (Kuhlmann, Hadrian-Geschichte [wie Anm. 4], S. 49). Der Philologe Kuhlmann sortiert diese Passagen als Exkurse ein – vielleicht

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zwar sogar zweimal: zuerst, indem er seine Reiseeindrücke in die Geschichtsland‐ schaftsbeschreibungen übersetzte, die in den „Wanderjahren“ gesammelt sind, und dann noch einmal, indem er diese von ihm selbst hergestellten historischen Ansich‐ ten als Topos-Reservoir für sein historiographisches Hauptwerk nutzte. Plastisch ließ Hadrian von seinen Handwerkern die inneren Bilder ausführen, die er von seinen Reisen mitgebracht hatte: Das soll wohl mehr bedeuten als dreidi‐ mensional. Plastisch heißt bei Gregorovius auch das Ideal der historiographischen Darstellung, dem die modernen Nachfolger des Tacitus noch nicht genügen. Die von Hadrian erbaute Villa ist ein Alterswerk, und zwar sowohl im wörtlichen als auch im symbolischen, geschichtsphilosophischen Sinne. Der alternde Kaiser hat am Ende seines Lebens sozusagen sein Reich eingeholt, das schon gealtert war, als er die Herrschaft antrat. Wie das Reich unter Hadrian die Expansionspolitik ein für allemal nicht mehr fortsetzte, so zog er sich zuletzt in seine Villa außerhalb der Hauptstadt zurück. Paradoxerweise wird nun die Jugendzeit, die das römi‐ sche Reich um die Zeit der Regierung Hadrians gemäß der Darstellung von Gre‐ gorovius hinter sich zurückließ, im konventionellen weltgeschichtlichen Epochen‐ schema Altertum genannt. In den zwei Zeiten, zwischen denen Hadrian steht, wird man, wählt man nur einen hinreichend weiten Fokus, die zwei Hälften der Welt‐ geschichte erkennen, die alte Zeit und unsere Zeit. Denn Hadrian verhält sich zu seiner Welt schon wie ein Zeitgenosse von Burckhardt und Gregorovius. Er durch‐ misst sein Reich nicht mehr in Eilmärschen, um an die Grenzen zu gelangen und diese auszubauen, in weitere Ferne von Rom zu verlegen oder zu verteidigen. Er macht auch nicht unterwegs Halt, um Aufstände niederzuschlagen und den Zerfall des Reiches abzuwenden. Stattdessen bereist er das Reich zu Bildungszwecken. Und nach der Rückkehr von einer fast lebenslangen Bildungsreise betrachtet er, was er erlebt hat. Dabei handelt es sich eben um Bildungserlebnisse, das heißt seine Be‐ trachtung gilt mehr dem, was er aufgenommen, als dem, was er getan hat. Er hat ein „Album von Weltwundern“ angelegt (1884, S. 489). Der Schlossherr „versenkte sich“ in „die Erinnerungen seines odysseischen Wanderlebens, denn diese Villa, nach seinen eigenen Zeichnungen entworfen, war Abbild und Spiegel des Liebsten und Schönsten, was er in der Welt bewundert hatte“ (1884, S. 487). 25 Ludwig Fried‐ kann man in umgekehrter Perspektive auch von einem Verfahren historiographischer Inte‐ gration sprechen. 25 Die Eigenhändigkeit der Entwurfszeichnungen ist eine der Parallelen zu Sanssouci. Siehe Jacob Burckhardt, Das Zeitalter Friedrichs des Großen. Aus dem Nachlaß unter Mit‐ wirkung von Bernd Klesmann und Philipp Müller erstmals ediert und bearbeitet von Ernst Ziegler, München 2012, S. 19: „Sanssouci wurde von ihm entworfen; es ist sein Ge‐ schmack.“ – Zur Identifikation von Gregorovius mit Odysseus siehe Norbert Miller, Poetisch erschlossene Geschichte. Ferdinand Gregorovius’ „Wanderjahre in Italien“ und seine Dichtung über den Garten von Ninfa, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken, 96 (2016), S. 389–411, hier S. 404.

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länder, der Professor für Klassische Philologie in Königsberg, mit dem Gregorovius über Jahrzehnte in enger brieflicher Verbindung stand, belegte in seinem vielfach aufgelegten Standardwerk zur römischen Kulturgeschichte mit dem „Hang zum Wandern“, der „Hadrian durch alle Provinzen seines Reiches führte“, dass „Reisen, die aus Wanderlust, aus Verlangen nach Veränderung, aus dem Wunsch, neue Ein‐ drücke aufzunehmen, sich durch sie zu bilden oder zu unterhalten, unternommen wurden“, das heißt, dass die „Reisen von Touristen“ damals „kaum weniger häufig“ gewesen seien „als in der neueren Zeit“. 26 Gregorovius beschließt seine Beschreibung von Hadrians Leben in der Villa, wie er es sich aufgrund der Notiz der Historia Augusta vorzustellen vermag, mit einer Sentenz, die er in die Form einer Ansprache ans Publikum kleidet. Der Satz hat Bekenntnischarakter, obwohl doch nur ein kulturgeschichtlicher Gedanken‐ gang zur Lebensweise eines antiken Monarchen zum Abschluss gebracht wird, die Zusammenschau einer Schriftquelle und eines archäologischen Befunds. Der Le‐ ser wird förmlich zu einem Geständnis aufgefordert, in einem Ton feierlicher In‐ timität: „Gestehn wir, daß Hadrian zu reproduciren und zu genießen verstand.“ (1851, S. 212) Das Wort „Bildung“ fällt hier nicht, aber es sei die These formuliert, dass Gregorovius am Beispiel Hadrians zwei Komponenten des Bildungsbegriffs be‐ stimmt. Der Gebildete versteht zu genießen, dank Studium und Übung – genau das meint der Untertitel des „Cicerone“, der vier Jahre nach der Erstausgabe der „Ge‐ schichte Hadrians“ herauskam. Und dieser Genuss richtet sich in gewissem Sinne 26 Ludwig Friedländer, Sittengeschichte Roms (wie Anm. 19), Bd. 2, Leipzig 1864, S. 40. Gregorovius bedankte sich 1862 bei Friedländer für die Zusendung des ersten Bandes der „lehrreichen und mit so großer Gelehrsamkeit ausgeführten Sittengemälde des Kaisertums“ (Gregorovius an Ludwig Friedländer, 10. Dezember 1862, in: Gregorovius, Briefe nach Königsberg [wie Anm. 10], S. 86) und nannte das Werk nach dem Erscheinen des zweiten Bandes, den der Autor ihm gewidmet hatte, ein „Denkmal“ ihrer „Freundschaft“ (Grego‐ rovius an Ludwig Friedländer, 7. Mai 1864, ebd., S. 88). Gregorovius regte die 1874 er‐ schienene italienische Übersetzung der „Sittengeschichte“ durch den Grafen Augusto di Cossilla an, der auch seine „Wanderjahre“ übertrug (Gregorovius an Ludwig Friedländer, 13. April, 26. Mai, 21. Dezember 1872 und 26. Januar 1875, ebd., S. 102 f., S. 110 und S. 119), und beriet Friedländer in Sachen der Honorare für die Neuauflagen (Gregorovius an Ludwig Friedländer, 7. April 1874, ebd., S. 115). Friedländers Aufsatz „Ueber die neueren Bearbeitungen und den gegenwärtigen Stand der römischen Kaisergeschichte“ (in: Deutsche Rundschau, Bd. 5 [1875], S. 266–282) erwähnt Gregorovius, dem der Autor ihn zuschickte (Gregorovius an Ludwig Friedländer, 21. November 1875, in: Gregorovius, Briefe nach Königsberg [wie Anm. 10], S. 120), schon deshalb nicht, weil er Studien über „einzelne Regierungsperioden“ (S. 271) ausklammert. Eine Wiedergewinnung des im acht‐ zehnten Jahrhundert von Gibbon erreichten Niveaus war nach Friedländer allerdings nur auf der Grundlage der „Monumentalforschung“ (S. 279), insbesondere der Erfassung der Inschriften denkbar. Das aus der literarischen Überlieferung erarbeitete Hadrian-Buch sei‐ nes Freundes hätte er damit als methodisch veraltet einordnen müssen.

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nicht auf die Sachen selbst, die im Unterschied zu Speisen durch das Genossenwer‐ den schließlich nicht verschwinden. Zwischen die Sachen und den Genießer sind Bilder gelagert, im wörtlichen und im übertragenen Sinne, materielle und mentale Duplikate der Kunstwerke und anderer Höchstleistungen des menschlichen Geis‐ tes. Die Bildungswelt ist eine Verdopplung der Welt, eine Zusammenstellung von Reproduktionen. Als Gebildeter kann ein Auftraggeber wie Hadrian das Reprodu‐ zieren nicht den von ihm beschäftigten Bildhauern, Malern und Architekten allein überlassen. Er ist nicht bloß ein Konsument. Reproduktion ist die in Aktivität zu‐ rückverwandelte Passivität. Warum der konfessionelle Duktus, der Appell an die Ehrlichkeit der Leser‐ schaft? Weshalb sollte man sich widerwillig eingestehen müssen, dass Hadrian sich auf die Vergegenwärtigung seiner schönsten Ferienerlebnisse und auf die Freude an solchem Nachvollzug verstand? „Gestehn wir“: Man kennt diesen Befehlstonfall von Schiller, aus der Ballade vom Ring des Polykrates. „Gestehe, dass ich glück‐ lich bin“: Die Ironie dieser Anredesituation besteht darin, dass der Beherrscher von Samos in seinem ägyptischen Amtskollegen einen geborenen Neider vermutet, den es Überwindung kosten muss, öffentlich das Glück seines Konkurrenten an‐ zuerkennen – während der Angesprochene, philosophisch gesonnen, von sich aus schon das wahre Interesse des Polykrates bedenkt, nicht durch Hybris den Neid der Götter zu provozieren, das heißt eine von aller menschlichen Missgunst unab‐ hängige objektive Ungunst der Dinge zu vergessen, den metaphysischen oder na‐ türlichen Vorbehalt, unter dem alle Glücksgaben stehen. Zu gestehen, dass Hadrian die ungeheuer kostspielige Welt seiner Reproduktionen auch tatsächlich zu genie‐ ßen wusste – dazu lädt Gregorovius nicht deshalb ein, weil einzelne Leser der Neid packen mag angesichts der Bilder aus Tivoli, da sie sich vielleicht noch nicht einmal die Reise an den zauberhaften Ort leisten könnten. Neid wird man auf den Haus‐ herrn einer Luxusvilla ja nur dann empfinden, wenn man annimmt, dass er dort glücklich gewesen ist. Eher mag der Autor einen gewissen Dünkel im Sinn gehabt haben, mit dem man bei Käufern von Büchern über die Kultur vergangener Zeiten vielleicht rechnen muss. Wir sollen ruhig zugeben, dass Hadrian offenbar wirklich ein Kenner und Liebhaber des Schönen gewesen ist und sich nicht nur deswegen mit Kunstwerken umgab, weil das Mode unter den Superreichen war. Um die Spekulation über die beiläufige Formulierung noch etwas weiter zu trei‐ ben, könnte man ferner bedenken, dass hier in einer tieferen Schicht auch so etwas wie ein Selbstzweifel der Gebildeten angesprochen sein könnte, die sich mit vol‐ lem Recht für Seelenverwandte des von Gregorovius porträtierten Kaisers halten dürfen, ein Unbehagen in der Kultur. 27 Gestehen wir, hieße das dann, dass wir das 27 Kuhlmann, Hadrian-Geschichte (wie Anm. 4), S. 54 weist darauf hin, dass der Privatge‐ lehrte Gregorovius das kaiserzeitliche Phänomen der sozialen Mobilität durch Bildung kri‐ tisch bewertet: „Gleichheit und allgemeine Zugänglichkeit der Bildung“ hätten „Legionen

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Beste aus unserem Leben gemacht haben, obwohl wir uns der Kontemplation der Vergangenheit weihen. Im Hadrian-Buch skizziert Gregorovius eine erste Version seiner historiogra‐ phischen Ästhetik. Nach plastischer Gestaltung verlangt unter den Stoffen der römischen Kaiserzeit vorrangig die Reihe der ersten Kaiser, die durch ihre „Ur‐ sprünglichkeit“ herausragen. „Genialität“ müsste der Historiker zeigen, um die‐ sem Gegenstand gerecht zu werden. Was kann bei Tiberius, Nero oder Caligula Ursprünglichkeit bedeuten? Die Fähigkeit, einen Anfang zu setzen, einen prak‐ tischen Unterschied zu machen. Um einen Begriff Christian Meiers zu verwen‐ den: Der Historiker benötigt eine eigene Art von Könnensbewusstsein, einen Be‐ griff von Handlungsfähigkeit, unter den auch scheinbares Nichthandeln fällt wie „die diabolische Greisenhaftigkeit des finstern Eremiten Tiberius“ – dem Grego‐ rovius daher eine Tragödie widmen konnte, die er gleichzeitig mit der HadrianBiographie und sozusagen als Gegenstück herausbrachte. Auch in pathologischen Verhaltensweisen, deren anekdotische Beweisstücke die Kaiserbiographien Suetons überliefern, der Hofbeamter unter Hadrian war, erhält sich, was in der allerjüngs‐ ten Geschichtstheorie unserer Zeit „agency“ heißt. Die „Genialität des Wahnsinns in einem Caligula“ und „die titanenhafte Jugendlichkeit in einem Schwärmer, wie Nero“, sind Abarten von Handlungsmacht (1851, S. VII). Mit der Aufgabe des Geschichtsschreibers übernimmt Gregorovius zugleich Werthaltungen: Den Form‐ prinzipien der historiographischen Darstellung entsprechen Leitvorstellungen ei‐ ner Ethik, deren Ideal das freie, durchgreifende, weltverändernde Handeln ist. 28 Schon durch die Disposition signalisiert die Monographie, als die Gregorovius sein Hadrian-Buch bezeichnet, 29 dass diese Geschichte im Zeichen des Handlungs‐ machtverfalls oder auch des Handlungsmachtverzichts steht: Die Kulturgeschichte nimmt ebenso breiten Raum ein wie die Politikgeschichte, der Autor „beschreibt die Bevölkerung des Prinzipats quasi als Volk im Vorruhestand“. 30 Es ist das Di‐ lemma der vom stehenden Beiwort des Klassischen begleiteten Bildung, dass sie von ihren Adepten andere Tugenden verlangt, als sie in den klassischen Texten beschrie‐ ben werden, das Unterscheiden, auch das Geltenlassen. Das Verbindliche ist von jeher das Alte, aber früher oder später endgültig Vergangene: Dieser im Gang der von mittelmäßigen Köpfen“ hervorgebracht, „die sich durch die Wissenschaft Geltung zu verschaffen suchten“. 28 Ein Grundgedanke der Plotin-Dissertation von Gregorovius ist „die Einheit des Ästheti‐ schen und des Ethischen nicht nur bei Plotin, sondern im Denken der Antike überhaupt“ (Halfwassen, Leser Plotins [wie Anm. 10], S. 33). 29 Auch später noch: Gregorovius an Adolf Friedrich von Schack, 15. Januar 1882, und an Ersilia Caetani Lovatelli, 10. Februar 1882, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 22), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/ ed_bhr_1m4_r4b und https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/ed_etw_tgq_2nb. 30 Kuhlmann, Hadrian-Geschichte (wie Anm. 4), S. 54.

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Welt unvermeidliche Zwiespalt macht bei Gregorovius Hadrians Stellung zwischen den Zeiten aus. Ein Rezensent der Neuausgabe von 1884 empfahl das Werk, ge‐ rade weil der Stoff dem Bedürfnis von Lateinschülern „nach frischen, fröhlichen Thaten, nach Helden und freundlichen Gestalten“ nicht entgegenkam. „Es bedarf einer gereiften Welterfahrung, um zu erkennen, wie lehrreich für den modernen Menschen das Studium von Zuständen ist, deren Aufbau auf einer großartigen An‐ sammlung von Kultur, materieller und geistiger Macht so manche Parallele mit der Gegenwart bietet.“ 31 Gregorovius stellt einige der auf dem Gelände der Villa geborgenen, jetzt auf die europäischen Museen verteilten Dekorationsstücke vor 32 und widerspricht der Ansicht Winckelmanns, das berühmte Mosaikbild einer Wasserschale mit vier le‐ bensechten Tauben sei zu fein gearbeitet, um ein Werk der Zeit Hadrians zu sein. „Die technische Fertigkeit bildet sich indeß immer mehr aus, wenn die eigentliche Genialität der Kunstschöpfung zurücktritt, und wie es in dem Zeitalter Hadrian’s, der sich eben so bemühte zu der Einfachheit alter Stile zurückzugehn, als er alle ver‐ einigt zu haben scheint, der Fall ist, der Nachahmung Platz macht.“ (1851, S. 214) Hier finden wir eine kulturkritische Theorie der Kunstentwicklung vor, die der Bildung eine kompensatorische Funktion zuweist. Sie kann die Kosten ihres Fort‐ schritts bis zu einem gewissen Grade ausgleichen: Technik ersetzt das Genie, Kennt‐ nisse helfen, wo Spontaneität verschwunden ist. In späteren Zeiten sind auch die Künstler selbst in erster Linie Kunstkenner; ihre Produktion ist zu großen Teilen arbeitsteilige Reproduktion. 33 Umgekehrt gehörte es zum Selbstverständnis eines Kenners wie Hadrian, in den bildenden und literarischen Künsten schöpferisch tä‐ tig sein zu wollen. 34 Und wie Friedrich II. gab sich Hadrian der Beschäftigung „mit Compositionen und Flötenbläsern“ hin. 35 „So entsteht Kunst in Kunst aus Kunst, ein Prozeß zunehmender Abstraktion vom Lebenssubstrat der Kunst, der schließlich im Dekorativen versandet.“ Nach 31 M., Rez. Ferdinand Gregorovius, Der Kaiser Hadrian. Gemälde der römisch-hellenischen Welt zu seiner Zeit, in: Zeitschrift für allgemeine Geschichte, Kultur-, Litteratur- und Kunstgeschichte, Bd. 1 (1884), S. 73–76, hier S. 73. 32 Franz Rühl berichtet, Gregorovius habe „stets mit einer besonderen Wärme“ von dem „selt‐ samen Kaiser“ und „seinen Anlagen gesprochen, deren Reste die Museen Europa’s bevölkert haben“ (Franz Rühl, Rez. Der Kaiser Hadrian. Gemälde der römisch-hellenischen Welt zu seiner Zeit, in: Beilage zu Nr. 24 der Allgemeinen Zeitung, 24. Januar 1884, S. 345 f., hier S. 345). Dankesbrief des Rezensierten: Gregorovius an Franz Rühl, 24. Januar 1884, in: Hönig, Ferdinand Gregorovius (wie Anm. 5), S. 481. 33 „Vermuthlich war in Rom ein zahlreiches, zum Ineinandergreifen wohl organisirtes kleines Heer von Künstlern und Kunsthandwerkern, wie Hadrian es auf seinen Reisen mit sich führte, im kaiserlichen Dienste fortwährend beschäftigt“ (Friedländer, Sittengeschichte Roms [wie Anm. 19], Bd. 3, S. 281). 34 Vgl. Friedländer, ebd., S. 307: „[. . . ] in der Malerei dilettierte er noch als Kaiser“. 35 So der Rhetoriker Fronto, der Lehrer Mark Aurels, zit. ebd., S. 367.

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diesem von Ernst Osterkamp aufgestellten Gesetz vollzog sich die Produktion der poetischen Werke von Gregorovius wie des Versepos „Euphorion“, dessen Titel‐ held die „Rollenproblematik des Künstlers“ illustriert, der sich in nachklassischer Zeit sklavisch an die Freiheitsästhetik Winckelmanns fesselte. 36 Wenn Gregoro‐ vius die Hadriansvilla ein Sanssouci nennt, geht er selbst vor wie Hadrian, der die Villa mit den berühmtesten Ortsnamen schmückte. So wiederholen sich die Orte wie die Zeiten: Die Figur des fürstlichen Dilettanten findet ihre Erklärung nicht nur in der Rollenproblematik des Monarchen, der angemaßten Alleskönnerschaft, sondern hat ihre zivilisationsgeschichtliche Zwangsläufigkeit. 37 Am Kunstinteresse Hadrians interessiert Gregorovius das Symptomatische. 38 Wenn Gregorovius recht hat, dann ist das Mosaik der durstigen Tauben in einem höheren Sinne täuschend echt: Es ist so sorgfältig gemacht, dass Winckelmann glaubte, es müsse das von Pli‐ nius erwähnte Bild aus dem Fußboden eines Tempels in Pergamon sein und keine spätere Kopie. Aber am kaiserlichen Musterschüler einer Kunstübung im Namen der historischen Ausführungspraxis macht Gregorovius das Tragische oder doch hoffnungslos Widersprüchliche der Kreativität im Zeitalter der Nachahmung deut‐ lich. 39 Hadrian wollte einerseits auf die Einfachheit alter Stile zurückgehen und vereinigte andererseits in seiner Kunstförderung und Kunstpraxis alle Stile, alte und neue. Damit sind zwei ästhetische Strategien bezeichnet, die auf die Vergänglichkeit des Verbindlichen reagieren. Wir können sie Primitivismus und Historismus nen‐ nen. Gregorovius entdeckt in der Epoche Hadrians das Nachantike in der Antike. An exponiertem Ort, in der Vorrede der ersten Auflage, bringt er diesen Zug der Zeit auf den Begriff, der für die Epoche nach der Antike bereitliegt. „Ich möchte 36 Osterkamp, Vom Ideal der „mäßigen Form“ (wie Anm. 23), S. 198. 37 Die dichterische Aktivität der Kaiser von Augustus bis Hadrian ist für Friedländer, Sit‐ tengeschichte Roms (wie Anm. 19), Bd. 3, S. 414 ein Indiz für „eine sehr allgemeine Ver‐ breitung des poetischen Dilettantismus in der gebildeten Gesellschaft“ des ersten und der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts. 38 Diese Sachdimension der biographischen Perspektive verkennt Mortensen wegen ihrer Fix‐ ierung auf die Frage der Bewertung der Person Hadrians. „Überwiegend positiv“ habe sich Gregorovius über die künstlerischen Seiten des Kaisers geäußert, im Kontrast zu Histori‐ kern, die „wegen seines Dilettantismus“ negativ geurteilt hätten (Mortensen, Hadrian [wie Anm. 6], S. 249). Auch bei Gregorovius ist „enthusiastischer Dilettantismus“ (1884, S. 244) aber ein Hauptzug Hadrians. Auf Dilettantismus lautete der Vorwurf gegen Grego‐ rovius, der in Rezensionen deutscher Fachhistoriker „am häufigsten geäußert wurde“ und den Autor „am empfindlichsten traf“ (Arnold Esch, Gregorovius als Geschichtsschreiber der Stadt Rom: sein Spätmittelalter in heutiger Sicht, in: Ferdinand Gregorovius und Ita‐ lien [wie Anm. 23], S. 131–184, hier S. 132). 39 Vgl. über die „seit Hadrians Zeit sehr gesteigerte Richtung auf das Alterthümliche, selbst die Incunabeln der Kunst“, Friedländer, Sittengeschichte Roms (wie Anm. 19), Bd. 3, S. 291. Wie in der bildenden Kunst, so in der Literatur: „Allem Anscheine nach gewann die Partei der Alterthümler die Oberhand unter Hadrian“ (ebd., S. 381).

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sie das römische Mittelalter nennen, dessen Grenzen freilich in festen Linien gar nicht zu bestimmen sind.“ (1851, S. IX) Der Rezensent von „Menzels Literatur‐ blatt“ hat an dieser Begriffswahl Anstoß genommen: Im Vergleich mit dem echten, dem christlichen Mittelalter fehle das Wesentlichste: der organische, hierarchische Gesellschaftsbau. 40 Gregorovius will mit dem Epochennamen Mittelalter allerdings gerade den „Übergang“ als den Wesenszug der Zeit Hadrians herausstellen, also das Gegenteil von Statik. Der Historiker dieser Zeit sieht sich einem „Auflösungspro‐ zess“ gegenüber (1851, S. IX); stofflich legt die Assoziation mit dem Mittelalter vor allem religionsgeschichtliche Entwicklungen nahe, wie das Vordringen des Aber‐ glaubens auch in der Gelehrtenkultur. Mit dem Mittelalterlichen meint Gregoro‐ vius das Moderne, und an einem weiteren exponierten Ort des Buches von 1851, in der Überschrift des ersten Kapitels der kulturgeschichtlichen Hälfte, charak‐ terisiert er den Geist der Zeit Hadrians mit dem weltanschauungstypologischen Begriff, der sich in seiner Zeit für die moderne Mittelalterbegeisterung eingebür‐ gert hatte: „Römische Romantik“. Auch Hadrian war ein Romantiker auf dem Thron, 41 und zwar als „ironische Persönlichkeit“. Seinem „öffentlichen, unruhvoll umherschweifenden Leben“ – im Vorbeigehen sei auf das Adjektiv „unruhvoll“ als apartes, positives Synonym für das konventionelle „ruhelos“ hingewiesen – ent‐ sprach im Privatleben eine problematische Mischung intellektueller Aktivitäten. „Er repräsentirt vollständig seine Zeit, deren Ironie, Mystik, Wunderglauben und Unglauben, deren Schwärmerei und stoische Mönchhaftigkeit er seltsam vereint.“ (1851, S. 149) Fast denkt man an einen Zeitungsleser, wenn Franz Rühl die Dar‐ stellung von Hadrians kulturellen Interessen zusammenfasst: „Er verfolgt alles, er hat zu allem irgendein Verhältniß.“ 42 Jenseits des Psychologischen beziehungsweise im Kollektivpsychologischen steht das Romantische für einen allseitigen Universa‐ lismus, ein „Weltbewusstsein“ als Innenseite der römischen Weltherrschaft (1851, S. 145). 43 Ein Jahr nach der Hadrian-Monographie von Gregorovius veröffent‐ 40 Rez. Ferdinand Gregorovius, Geschichte des römischen Kaisers Hadrian und seiner Zeit, in: Wolfgang Menzels Literaturblatt, Nr. 75, 18. September 1852, S. 309–311. 41 Ebd., S. 311: „Eine ähnliche Ansicht hat Strauß in seiner Kritik des Romantikers auf dem Thron ausgesprochen.“ Die Schrift „Der Romantiker auf dem Thron der Cäsaren, oder Julian der Abtrünnige“ von David Friedrich Strauß, eine Satire auf König Friedrich Wil‐ helm IV. von Preußen, war 1847 erschienen. Dankbar erfuhr Gregorovius 1874, dass sich Strauß „teilnehmend über die Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter ausgesprochen“ hatte (Gregorovius an Otto Roquette, 2. August 1874, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe [wie Anm. 22], URL: https://gregorovius-edition.dhiroma.it/letters/G067749). 42 Rühl, Rez. Der Kaiser Hadrian (wie Anm. 32), S. 346. 43 Als kritische Gegendarstellung zu Johann Gustav Droysens „Geschichte des Hellenismus“ deutet Kuhlmann, Hadrian-Geschichte (wie Anm. 4), S. 55 ff. diese Zusammenführung des Schwärmerischen und des Kosmopolitischen.

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lichte Ludwig Friedländer seine Abhandlung „Über den Kunstsinn der Römer“, in der er die Malerei der Nazarener als Parallele zur retrospektiven Wende der Künste im Zeitalter Hadrians anführte. „Wer erinnert sich hierbei nicht der ‚Rücktendenz nach dem Mittelalter‘ im Anfange dieses Jahrhunderts, die obwohl aus ganz ande‐ ren Ursachen hervorgegangen, ganz ähnliche Erscheinungen besonders in der deut‐ schen Malerei herbeiführte, so dass man z. B. den Meister des Kölner Dombildes über Rafael setzte.“ 44 Karl Rosenkranz, der Doktorvater von Gregorovius, legte 1855 eine philosophi‐ sche Universalgeschichte der Literatur vor. Der Begriff der Romantik bezeichnet in diesem Werk, mit dem der Autor seine älteren, an den „Strömungen der roman‐ tischen Schule“ ausgerichteten literaturgeschichtlichen Studien hinter sich lassen wollte, 45 sowohl einen Typus als auch eine Epoche der Dichtung: eine Wendung des dichterischen Vermögens ins Subjektive, welche die Abwendung der Dichter von ihrer Zeit begünstigt. Romantische Poesie ist so gesehen ihrer Natur nach anachro‐ nistisch, und im Laufe der Literaturgeschichte ist sie immer wieder anzutreffen, in jeder neuen Spätzeit. Romantisch nennt Rosenkranz das „Ideal“ der „Freiheit“, das „zur Auflösung der Abgeschlossenheit der Form hinstrebt“. 46 In geschichtsphiloso‐ phischer Überblendung des Gattungs- und Epochenbegriffs kann Rosenkranz den antiken Roman als „eine neue Production der griechischen Poesie“ bestimmen, „in welcher sich die Hinwendung derselben zur modernen Romantik manifestirt“. In einem „kritisch gelehrten Zeitraum“ entstand diese neue Form der Erzählung, die „den objectiven Standpunkt der alten Epik durchbricht“. Soziologisch betrachtet ist sie das Produkt „der bureaukratischen disciplinirten bürgerlichen Gesellschaft“, wie sich im Kulturvergleich bestätigt: Der „Griechische Roman“ hat „mit dem Chi‐ nesischen in formaler Rücksicht die größte Aehnlichkeit“; überall sucht der Roman „das Schöne im Interessanten“. 47 Rosenkranz sandte das 758 Seiten dicke Buch sei‐ nem Schüler Gregorovius nach Rom, mit Worten des Dankes: „Sie werden darin bei der Römischen Epoche Ihren Hadrian mannigfach benutzt finden, was Ihnen viel‐ leicht Freude macht.“ 48 Rosenkranz verweist auf Gregorovius im Abschnitt über den berühmtesten antiken Roman, den „Goldenen Esel“ des Apuleius, 49 sowie bei der Erwähnung der „Wundergeschichten“ des Phlegon von Tralles, eines Freigelasse‐

44 Ludwig Friedländer, Ueber den Kunstsinn der Römer in der Kaiserzeit, Königsberg 1852, S. 38 f. 45 Karl Rosenkranz, Die Poesie und ihre Geschichte. Eine Entwicklung der poetischen Ideale der Völker, Königsberg 1855, S. VIII. 46 Ebd., S. 737. 47 Ebd., S. 214 f. 48 Karl Rosenkranz an Gregorovius, 21. September 1855, in: Gregorovius, Briefe nach Kö‐ nigsberg (wie Anm. 10), S. 58. 49 Rosenkranz, Die Poesie und ihre Geschichte (wie Anm. 45), S. 252.

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nen Hadrians, 50 dem der Kaiser in der tiburtinischen Villa seine Memoiren diktiert haben soll (1884, S. 490). Das Kapitel „Römische Romantik“ des Hadrian-Buches empfiehlt Rosenkranz als „treffliche Analyse des Römischen Weltreichs“, die den Zusammenhang von formaler Entgrenzung und politischem Universalismus ver‐ deutlicht: Durch „die Emancipation der subjectiven, schon über alle localen und nationalen Schranken hinausgehenden Freiheit“ löste sich „die Plastik“ der griechi‐ schen Poesie „ins Romantische“ auf. 51 Schon lange habe er sich von Rosenkranz ein solches „System der Weltliteratur“ gewünscht, beteuerte Gregorovius; nun sehe er seine Wünsche übertroffen. 52 Als einen „essai“ vom Standpunkt „der protestantischen Freiheit“ hatte Rosenkranz sein Werk angelegt. 53 Beim Wiederlesen erschien es ihm noch nicht essayistisch genug. Die Form des formgeschichtlichen Entwurfs war unfrei geblieben, wie es das Schicksal von „Professorenarbeiten“ war. Rosenkranz hatte wegen mangelnder Distanz zum eigenen Schaffen sein „künstlerisches Bedürfnis“ nicht befriedigen können, wie er gegenüber Gregorovius in einem weiteren Brief nach Rom gestand. In dieser Hinsicht haben Sie große Vorzüge. Ihr Hadrian hatte auch noch eine gewisse gelehrte Königlich Preußische Königsberger akademische Physiognomie, obwohl auch er sehr gut geschrieben ist. Aber mit Ihrem Corsica sind Sie ganz zu einer so schö‐ nen, anschauungsvollen durchsichtigen Darstellung vorgeschritten, daß Sie in solcher Weise unzweifelhaft noch Schöneres produciren werden. 54

Gregorovius hatte 1854 seinen eigenen Aufsatz über die römischen Papstgräber, so‐ zusagen die Urzelle des Dombaus seines großen Geschichtswerks, als „so einen eng‐ lischen Essay“ charakterisiert. 55 Er nahm damit Bezug auf die Tradition einer antiklassischen Gattung; der Verweis auf England galt dem Idealbild einer literarischen Öffentlichkeit, die „neben der geistigen Freiheit auch die politische“ nutzt und för‐ dert. 56 Bei der Lektüre von „Die Poesie und ihre Geschichte“ glaubte Gregorovius 50 Ebd., S. 220. 51 Ebd., S. 214. 52 Gregorovius an Karl Rosenkranz, 17. März 1856, in: Gregorovius, Briefe nach Königs‐ berg (wie Anm. 10), S. 176. 53 Ebd., S. 58. Über die Form des Hadrian-Buches von 1884 urteilte Rühl, nach Würdigung der umfassenden Berücksichtigung der Spezialforschung: „Trotzdem bleibt das Buch, was es von Anfang an gewesen ist, ein Essay.“ (Rühl, Rez. Der Kaiser Hadrian [wie Anm. 32], S. 345) 54 Karl Rosenkranz an Gregorovius, 30. Mai 1856, in: Gregorovius, Briefe nach Königs‐ berg (wie Anm. 10), S. 66. 55 Gregorovius an Friedrich Althaus, 21. April 1854, in: Gregorovius, Gesammelte deut‐ sche und italienische Briefe (wie Anm. 22), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/ letters/G000015. 56 Michael Borgolte, Zwischen „englischem Essay“ und „historischer Studie“: Gregoro‐ vius’ „Grabmäler der Päpste“ von 1854/81, in: Ferdinand Gregorovius und Italien (wie

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wieder bei Rosenkranz im „Collegio“ zu sitzen, wie er ihm versicherte. 57 Er erkannte im Werk seines Lehrers die Königsberger akademische Physiognomie wieder – und empfand sie als unvorteilhaft, wie er Albrecht Pancritius verriet, der wie er bei Ro‐ senkranz studiert hatte und sein Kollege als Lehrer an einer Königsberger Mädchen‐ schule gewesen war. Der „Trieb“ der Königsberger „zu Compendien und Bücher‐ aufspeicherung“ sei ein schrecklicher Gegenstand „für einen Psychologen“, der „die Entstehung solcher Dinge in der menschlichen Phantasie“ studiere. „Ihr seid rechte Byzantiner oder Alexandriner, gelehrte Papparbeiter – und es fehlt überall der elek‐ trische Lebensfunken.“ Er sei froh, „jene Luft“ nicht mehr zu atmen; „sie hat auch Rosenkranz Geschichte der Ideale der Poesie ziemlich verdorben“. 58 Mit anderen Worten: Die Königsberger Professoren waren universalgelehrte Epigonen, wie sie Hadrian an seinen Hof gezogen hatte. 59 Als Gregorovius 1851 „eine unfruchtbare Vielwisserei, ein aufgeblasenes, pedantisches Gelehrtentum“ als Konsequenz „der Erschlaffung eines innerlich marklosen Lebens“ karikierte (1851, S. 154), standen ihm wohl lebende Vorbilder vor Augen. „Die Bücherwelt mußte natürlich mit je‐ der Regierung wachsen“, also auch in tyrannischer oder restaurativer Zeit; „zu Ha‐ drian’s Zeit war das Bücherstudium schon ungemein groß“ (1851, S. 155) – viel‐ leicht zu groß. In der Zweitfassung der Hadrian-Monographie von 1884 haben die Begriffe des Mittelalters und der Romantik ihre orientierende Funktion verloren. An ihre Anm. 23), S. 97–116, hier S. 106. Borgolte verweist auf Thomas Babington Macaulays ur‐ sprünglich in der „Edinburgh Review“ erschienenen Essay aus Anlass von Rankes „Päpsten“ als Vorbild. Macaulay war ein Lieblingsautor des deutschen nationalliberalen Bildungsbür‐ gertums und hatte vorgemacht, wie aus einem berühmten Essayisten ein noch berühmterer Historiker werden konnte; siehe Patrick Bahners, Zorn und Eifer. Der tiefe Stachel der deutschen Leser Macaulays, in: Historikerdialoge. Geschichte, Mythos und Gedächtnis im deutsch-britischen kulturellen Austausch 1750–2000, hg. von Stefan Perger, Peter Lam‐ bert und Peter Schumann (=Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 179), Göttingen 2003, S. 157–196. „Der Essayist, der Lücken lassen durfte und seine Reflexionen höchst ungleichmäßig anstellen sollte, war als Historiker zu einer Systema‐ tik und Vollständigkeit gezwungen, die sein Stoff nicht hergab.“ Borgolte (S. 109 f.) be‐ stimmt das Problem von Gregorovius wie Peter Ghosh das Dilemma Macaulays; siehe P. R. Ghosh, Macaulay and the Heritage of the Enlightenment, in: English Historical Review, 112 (1997), S. 358–395. 57 Gregorovius an Karl Rosenkranz, 17. März 1856, in: Gregorovius, Briefe nach Königs‐ berg (wie Anm. 10), S. 176. 58 Gregorovius an Albrecht Pancritius, 1. Juni 1857, ebd., S. 68. – In der Korrespondenz mit dem Lehrer diktierte ihm die Pietät ein anderes Urteil. Gregorovius an Karl Rosenkranz, 2. April 1857, ebd., S. 176: „Ihre Geschichte der Ideale der Poesie ist mir eine fortdauernde Quelle der Belehrung.“ 59 Über das „Epigonenbewusstsein“ von Gregorovius mit Bezug auf die klassische Epoche der deutschen Literatur siehe Osterkamp, Vom Ideal der „mäßigen Form“ (wie Anm. 23), S. 185 ff.

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Stelle ist ein anderer Epochenbegriff getreten, den Jacob Burckhardt zwar nicht erfunden, aber mit ungeheurer Resonanz definiert hat. In Briefen an Wolfgang Er‐ hardt und Hermann von Thile berichtete Gregorovius 1883 aus dem Fortgang der Revision des Hadrian-Buches, dass er besondere Sorgfalt auf „die Capitel über die Renaissance der hellenistischen“ oder „hellenischen Kunst“ beziehungsweise „die Renaissance der Kunst zur Zeit Hadrians“ verwende. 60 In diesem Sinne empfahl er das fertige Buch dem Wohlwollen des Großherzogs von Sachsen-Weimar: Den Fürsten würden vielleicht neben den „Perspectiven“ auf den Kaiser als den „großen Wandrer“, den der Verfasser „auf seinen rastlosen Reisen durch die Länder und Städte des Reichs“ begleite, 61 „auch die Betrachtungen über die letzte Renaissance der hellenischen Kunst im Zeitalter Hadrians“ interessieren, „wenn gleich auch hier das Material der Forschung trümmerhaft genug ist“. 62 Eine aus den Dokumenten gehobene Geschichte Hadrians 63 ist eine Arbeit von der Art der archäologischen Rekonstruktion der Villa Hadriana, ein „Zusammenstoppeln und Mosaiciren von tausend Fragmenten und Scherben, nur um am Ende einen Schatten und ein Unge‐ fähr von Wirklichkeit zu Stande zu bringen“. 64 Die Quellenlage ist eine Trümmer‐ landschaft. „Das Leben Hadrians ist uns so trümmerhaft überliefert worden, daß 60 Gregorovius an Wolfgang Erhardt, 19. Januar 1883, an Hermann von Thile, 10. Mai 1883, und an Sophie und Wolfgang Erhardt, 25. Juli 1883, in: Gregorovius, Gesammelte deut‐ sche und italienische Briefe (wie Anm. 22), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma. it/letters/ed_nw3_rfb_dqb, https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/ed_gyd_qhj_ gqb und https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/ed_nw2_rrv_gqb sowie Gregoro‐ vius an Hermann von Thile, 4. Februar 1883, in: Briefe von Ferdinand Gregorovius an den Staatssekretär Hermann von Thile, hg. von Herman von Petersdorff, Berlin 1894, S. 140. 61 Ähnlich Gregorovius an Hermann von Thile, 16. September 1883, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 22), URL: https://gregoroviusedition.dhi-roma.it/letters/ed_glg_nc2_hqb: So „dürftig und mangelhaft“ auch das über‐ arbeitete Buch sei, „so führt es doch den Leser wie auf Reisen durch die schönsten Länder der civilisirten Welt“. – Die Leser bilden so etwas wie eine Reisegruppe, die sich auf den Spuren des Kaisers der kundigen Führung des Verfassers anvertraut: Laut Kuhlmann ist diese Leser-Ansprache unter Gebrauch der ersten Person Plural in der zweiten Auflage noch markanter als in der ersten – der Darstellung gehe es um das „zwar fiktiv-virtuelle, aber doch gemeinsame Erleben der Reisestationen“ (Kuhlmann, Hadrian-Geschichte [wie Anm. 4], S. 51). 62 Gregorovius an Carl Alexander von Sachsen-Weimar-Eisenach, 13. Dezember 1883, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 22), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/ed_msd_qzp_3qb. 63 An der ersten Auflage fällt auf, dass sie „noch eine Vielzahl von Quellen in den Original‐ sprachen Griechisch und Latein ohne Übersetzung aufweist, die häufig in den Fließtext integriert sind“ (Kuhlmann, Hadrian-Geschichte [wie Anm. 4], S. 49). 64 Gregorovius an Hermann von Thile, 24. Dezember 1882, in: Briefe an Hermann von Thile (wie Anm. 60), S. 138. Ähnlich Gregorovius an Ersilia Caetani Lovatelli, 17. Februar 1884, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 22), URL:

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die Biographie dieses geistreichen Kaisers kaum noch eine einheitliche Darstellung zuläßt. Ich habe daher nur Fragmente musivisch zusammengesetzt, wie man zer‐ trümmerte Inschriften zusammenfügt“ 65 – also beinahe in der Manier von Theo‐ dor Mommsen. Bei der Überarbeitung seiner „juvenilen Schrift“ nahm Gregorovius tatsächlich „1 Unmaße“ nicht nur „von Literatur“, sondern auch „von Inschriften, von Münzen etc.“ durch. 66 Das Buch enthielt „Noten“, war „wissenschaftlich, ob‐ wol für das große Publikum, geschrieben“. 67 Mit den Trümmern beschwor Grego‐ rovius eine Leitmetapher seiner historiographischen Ästhetik. Trümmer haben Ge‐ wicht, so dass ihr Sammeln stabilisierend wirken kann – in einem Bekenntnisbrief an Rosenkranz hatte Gregorovius 1859 dem Bildmotiv, das man als forschender Rom-Besucher zwangsläufig auflas, diese frappante Drehung mitgegeben: „Mein schwankendes Lebensschiff, noch eigentlich ziellos, als ich es in das italienische Meer hinabließ, habe ich mit dem Trümmerballast Roms gefüllt, und ich fühle seit‐ her zum erstenmal Sicherheit unter mir.“ 68 Für Gregorovius blieb das Hadrian-Buch, seine „erste wissenschaftliche Ar‐ beit“ 69 beziehungsweise „erste wissenschaftliche Jugendarbeit“ 70, denkwürdig „als noch lebensfähiges Product“ seiner „Königsberger Zeit“. 71 Als musterhaftes Werk‐ stück historischer Forschung sah das Buch sein treuer Königsberger Lehrer an, der die Überarbeitung, eine „vollkommne Erneuerung dieser Schrift“, 72 nicht mehr

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https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/ed_w4v_4vb_xrb/nb2h_zyb_xrb: „das Porträt oder, besser gesagt, der Schatten des Hadrianus Augustus“. Gregorovius an Carl Alexander von Sachsen-Weimar-Eisenach, 13. Dezember 1883, ebd., URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/ed_msd_qzp_3qb. Ähnlich Grego‐ rovius an Jean Bourdeau, 27. Januar 1884, ebd., URL: https://gregorovius-edition.dhiroma.it/letters/ed_eh4_g2q_zrb/na13_dmq_zrb: „Für mich hat dies Buch einen hohen persönlichen Wert; dieser muss für die Mängel einstehen; denn diese sind gross und liegen schon in dem ganz trümmerhaften Stoff, welcher nur eine Composition von Fragmenten erlaubte.“ Gregorovius an Franz Rühl, 8. Dezember 1882, ebd., URL: https://gregorovius-edition. dhi-roma.it/letters/ed_mnb_smw_gpb. Gregorovius an die J. G. Cotta’sche Buchhandlung, 21. August 1883, ebd., https://grego‐ rovius-edition.dhi-roma.it/letters/ed_jbr_vqx_gqb. Gregorovius an Karl Rosenkranz, 31. Oktober 1859, in: Gregorovius, Briefe nach Kö‐ nigsberg (wie Anm. 10), S. 178. Gregorovius an Hermann von Thile, 16. September 1883, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 22), URL: https://gregorovius-edition.dhiroma.it/letters/ed_glg_nc2_hqb. Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 8), S. 424. Gregorovius an Raffaele Mariano, 3. August 1881, in: Gregorovius, Gesammelte deut‐ sche und italienische Briefe (wie Anm. 22), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/ letters/ed_ccz_gfg_3mb/nsnn_xyg_r4b. Gregorovius an Hermann von Thile, 16. September 1883, ebd., URL: https://gregoroviusedition.dhi-roma.it/letters/ed_glg_nc2_hqb. Er setzte „in den alten Ramen dieser Jugend‐

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erlebte. Im Wintersemester 1871 stellte Rosenkranz in der Einführung zu seiner Vorlesung über die Philosophie der Geschichte Gregorovius in Anwesenheit von dessen älterem Bruder Julius als philosophischen Geschichtsschreiber dar, der sich aus der Anschauung zum Begriff erhoben habe. Rosenkranz zog dabei nicht allein das damals kurz vor der Vollendung stehende Hauptwerk heran. „Ich nahm aber noch etwas specieller Ihren Tiberius durch, Sie als Dichter, Ihren Hadrian, Sie als Forscher, Ihr Corsica, Sie als kritischen Wanderhistoriker zu malen.“ 73 Als Wanderkaiser beschrieb der Historiker Hadrian, als er nach 33 Jahren auf den ersten Gegenstand seiner biographischen Forschung zurückkam. „Spartian sagt von ihm, er sei so wanderlustig gewesen, daß er alles, was er von den Orten der Erde gelesen hatte, mit den Augen habe sehen wollen, und Tertullian hat ihn den Erforscher aller Merkwürdigkeiten genannt.“ (1884, S. 62) Indem „der große Va‐ gabund“ 74 seine Welt durchquerte, drängte er über seine Zeit hinaus. „In seiner Natur lag etwas von dem, was dem Menschen der Renaissance des fünfzehnten Jahr‐ hunderts angehört hat, außer der tiefen Liebe zum Hellenentum, der Drang, alles Wissenswerte zu erfassen und alles Geheimnisvolle zu ergründen.“ Der Leser darf an Petrarca denken. 75 „Mit den Empfindungen eines modernen Menschen besteigt Hadrian hohe Berge, um das Schauspiel des Sonnenaufgangs und die Aussicht über Land und Meer zu genießen.“ Der Leser mag auch an sich selbst denken, an eigene Bildungsreisen. Hadrian war hier: „Er schreibt wie ein sentimentaler Reisender sei‐ nen Namen der Statue des Memnon ein.“ (1884, S. 62) Hadrian „hat aus seinen Reisen ein System gemacht“ (1884, S. 60) – sie dokumentieren sein methodisches, auf abschließende Erschließung gerichtetes Weltverhältnis analog zu seiner Villa in Tivoli: „Erst Hadrian hat das Reich als ein einheitliches Ganzes, und alle seine Teile als einander und auch Rom gleichberechtigt angesehen.“ (1884, S. 61) Die einzelnen Stationen von Hadrians Itinerar waren nicht abschließend zu ermitteln. Ein „guter Fortschritt in der freilich nie zu lösenden Frage“ 76 wurde gerade rechtzeitig für die

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schrift ein neues Gemälde“ (Gregorovius an Thile, 24. Dezember 1883, in: Briefe an Her‐ mann von Thile [wie Anm. 60], S. 146). Karl Rosenkranz an Gregorovius, 28. Dezember 1871, in: Gregorovius, Briefe nach Kö‐ nigsberg (wie Anm. 10), S. 99. Über den Zusammenhang zwischen den „Wanderjahren“ als Sammeltitel der italienischen Studien von Gregorovius und der Aufwertung von „Wilhelm Meisters Wanderjahren“ in der von Rosenkranz angeregten Abhandlung „Göthe’s Wilhelm Meister in seinen socialistischen Elementen entwickelt“ (1849) siehe Miller, Poetisch er‐ schlossene Geschichte (wie Anm. 25), S. 409 f. Gregorovius an Raffaele Mariano, 8. Dezember 1883, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 22), URL: https://gregorovius-edition.dhiroma.it/letters/ed_nl2_q2b_3qb. Jacob Burckhardt, Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch, hg. von Mikkel Mangold (= Jacob Burckhardt Werke, Bd. 4), München, Basel 2018, S. 203. Gregorovius an Franz Rühl, 8. Dezember 1882, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 22), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/let‐

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Neufassung durch die Wiener Dissertation von Julius Dürr über „Die Reisen des Kaisers Hadrian“ 77 erreicht. Neben der Einarbeitung der neuen Literatur nutzte Gregorovius bei der „Umformung der Biographie Hadrians“ nun auch das Erkennt‐ nismittel, auf das er in den Königsberger Tagen hatte verzichten müssen: die durch Ortsveränderung ermöglichte Autopsie. Meine wenn auch nur flüchtige Reise auf den Theatern des hadrianischen Itinerarium kommt mir ein wenig dabei zu statten. Ich habe mir zum mindesten die Anschauung von Memphis, Alexandria, Jerusalem, Beirut, Damascus, von der griechisch-orientali‐ schen Inselwelt, von Smyrna, Ephesus, Sardes, den Küsten der Troas und endlich von Byzanz erworben. 78

ters/ed_mnb_smw_gpb/nwkr_bsw_gpb. Rühl hebt in seiner Besprechung die auch von Gregorovius mit all seiner Kunst nicht gelösten Darstellungsprobleme hervor, die das Reise‐ kaisertum erzeugt. Hadrian entzieht sich sozusagen der politischen Geschichte: Der Kaiser „verschwindet“ uns „gelegentlich jahrelang aus den Augen“. Gregorovius muss die von Ha‐ drian ins Werk gesetzten Veränderungen der Reichsverfassung strukturgeschichtlich dar‐ stellen; es „entgeht ihm die Möglichkeit, Veranlassung und allmähliche Entwicklung der neuen Einrichtungen im Einzelnen zu überschauen“ (Rühl, Rez. Der Kaiser Hadrian [wie Anm. 32], S. 345). 77 Julius Dürr, Die Reisen des Kaisers Hadrian (= Abhandlungen des Archäologisch-epigra‐ phischen Seminares der Universität Wien, Heft 2), Wien 1881. Das positive Urteil von Gregorovius über den „jungen Mann“, von dem er erfahren hatte, dass er „jetzt Stipendiat des Archäologischen Instituts“ in Rom sei (Gregorovius an Franz Rühl, 8. Dezember 1882, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe [wie Anm. 22], URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/ed_mnb_smw_gpb/nwkr_bsw_gpb), und dem er „eine nicht gewöhnliche wissenschaftliche Zukunft“ prophezeite (Gregorovius an Wilhelm Henzen, 7. Januar 1883, ebd., URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/let‐ ters/ed_ehf_kzl_cqb/nvpr_wbm_cqb), steht in bemerkenswertem Kontrast zur Ansicht des jungen Mannes über die Arbeit des älteren: „Die Darstellung der Reisen Hadrians in der Schrift von Ferd. Gregorovius [. . . ] ist oberflächlich und steht hinter den Leistungen der Vorgänger stark zurück. Die Arbeiten der letzteren, mit Ausnahme von Tillemont und Eckhel, sind dem Verfasser unbekannt geblieben und auch die Quellen selbst sind ganz un‐ genügend verwerthet.“ (S. 8) Im Einzelnen kritisiert Dürr, Gregorovius setze den Beginn der Reisen zu früh an (S. 24) und schiebe zwischen die beiden großen Reisen im Westen und Osten des Reiches einen unwahrscheinlichen Rom-Aufenthalt ein (S. 28). Gregoro‐ vius ließ Dürr ein Exemplar der Neuausgabe zukommen (Gregorovius an Wilhelm Henzen, 20. Dezember 1883, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe [wie Anm. 22], URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/ed_qsd_l2w_3qb/ndcp_ yfw_3qb). 78 Ferdinand Gregorovius an Alfred von Reumont, 7. Januar 1883, ebd., URL: https://grego‐ rovius-edition.dhi-roma.it/letters/ed_mg3_wqt_cqb.

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Im Frühjahr 1883 verfügte sich Gregorovius von München nach Rom, um das Ma‐ nuskript abzuschließen. 79 Die Vollendung fand dann allerdings doch erst nach der Rückkehr nach München statt. 80 Dem Verlag legte er nahe, in der Werbung zu er‐ wähnen, dass seine „Erstlingsschrift“ ihm „den Wunsch eingeflößt hatte, Rom zu sehen“, und dass er „die Localfarben zu diesem Gemälde“ sich aus seinen „eigenen Reisen in Hellas und dem Orient“ geholt habe. 81 Von der mit eigenen Augen erworbenen Kenntnis des Ortes hat die Behandlung der tiburtinischen Villa in der Neuausgabe ganz erheblich profitiert; 82 der Momm‐ sen-Schüler Paul von Rohden empfahl „die ausführliche Schilderung“ im HadrianArtikel im ersten Band von Paulys Realenzyklopädie. 83 Die Schilderung beginnt mit der Würdigung der Lage – und einem mit dem Baugrund das Ganze ins Auge fassenden Geschmacksurteil im Modus des Vorbehalts. „Man darf zweifeln, ob die Stelle, die er dafür aussuchte, glücklich gewählt war.“ Wer sich in dieser Form kri‐ tisch äußert, muss selbst hinreichend weit gereist sein. Hadrians Raumbedarf dik‐ tierte, dass er keinen Bauplatz in Frascati oder Tusculum wählte, wo die Villen „alle freier und schöner gelegen“ waren. Der Platz der Kaiservilla war immer noch schön genug. „Sie lag auf einer sanften Erhebung tief unter Tibur, wo der Blick auf der einen Seite durch die nahen Berge beschränkt wird, auf der andern aber Rom und sein majestätisches Gefilde bis zum Meer umfaßt.“ (1884, S. 486 f.)

79 Gregorovius an Eduard Brockhaus, 20. Februar 1883, und an Luigi Frati, 15. März 1883, ebd., URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/ed_vjz_xfj_2qb und https:// gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/ed_lcs_twg_dqb/ncxm_fyg_dqb. 80 Gregorovius an Ersilia Caetani Lovatelli, 8. Oktober 1883, ebd., URL: https://gregoroviusedition.dhi-roma.it/letters/ed_vlg_151_3qb. 81 Gregorovius an die J. G. Cotta’sche Buchhandlung, 30. November 1883, ebd., URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/ed_s2c_gtz_hqb. Der Rezensent des Buchs in der von Cotta verlegten „Allgemeinen Zeitschrift für Geschichte“ lobte den Ertrag des Verfahrens: „Welchen Einfluss es auf die Geschichtschreibung nimmt, wenn der Erzäh‐ ler die Stätten selbst aus eigener Anschauung kennt, die er zu schildern hat, wird in diesem Buche jedem Leser sofort auffallen.“ (M., Rez. Der Kaiser Hadrian [wie Anm. 31], S. 75) Gregorovius nahm diese Rezension gleichwohl äußerst unleidlich auf, weil er eine Würdi‐ gung des Zusammenhangs mit seiner Geschichte der Stadt Rom vermisste: Gregorovius an die J. G. Cotta’sche Buchhandlung, 21. Januar 1884, in: Gregorovius, Gesammelte deut‐ sche und italienische Briefe (wie Anm. 22), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/ letters/ed_tf3_tqk_zrb/nep4_jvp_zrb. 82 Ronald M. Burrows, ein Schüler von Gilbert Murray, hob das in seiner Besprechung der englischen Übersetzung von Mary E. Robinson hervor: „The chapters on Art are the best, especially that on the villa at Tivoli, where Gregorovius’s local knowledge makes his touch firmer and surer.“ (Ronald M. Burrows, Gregorovius’s Hadrian, in: The Classical Review, 13 [1899], S. 455 ff., hier S. 455) 83 RE I (1894) Sp. 493–520, hier Sp. 513, s. v. Aelius Nr. 64 (v. Rohden).

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Der Rezensent der „Zeitschrift für allgemeine Geschichte, Kultur-, Litteraturund Kunstgeschichte“ wählte das Reisethema, um zu demonstrieren, dass trotz der mit diesem Thema gegebenen Anforderungen detailgenauer Sachforschung das „antiquarische“ Interesse im „Hadrian“ weit hinter „dem eigentlich historischen“ zurücktrete: „Die Bedeutung der Reisen des Kaisers wird in einer Weise dargelegt, daß sie nicht als etwas Aeußerliches, sondern als eine Bethätigung seiner Indivi‐ dualität, seiner Weltanschauung aufgefaßt werden müssen.“ 84 Eigentlich historisch bedeutet dann innerlich, psychologisch: So ist das „Erwachen der Individualität“ das Zentralmotiv der Renaissance nach Burckhardt. 85 Robert Davidsohn rühmte in seiner Besprechung, die im „Berliner Börsen-Courier“ unter der Überschrift „Ein Herrscher der Welt“ erschien, Hadrian habe endlich einen Biographen gefunden, der „dieser interessanten, modern anmuthenden Imperatorengestalt“ gemäß sei; Gregorovius stelle „die eigenthümlich interessante Individualität Hadrian’s“ so vor den Leser hin, dass dieser „innig mit der Wesenheit jenes Kaisers, innig aber auch mit jener Periode der ersten Renaissance Hellenischer Antike vertraut“ werde. 86 „Auf das Höchste gefesselt“: So beschrieb Davidsohn in seinen Memoiren die Stim‐ mung, in der er die Besprechung verfasste. 87 Sie sollte sich als wissenschaftshisto‐ risch außerordentlich folgenreich erweisen. Als sie erschien, war der aus Danzig gebürtige Davidsohn Geschäftsführer des „Börsen-Couriers“ und gemeinsam mit seinem Bruder George, der die Zeitung gegründet hatte, Redaktionsleiter. Grego‐ rovius bewog ihn, das Studium der Geschichtswissenschaft aufzunehmen – so dass Davidsohn der Gregorovius von Florenz wurde. 88 In den Memoiren hob er hervor, 84 M., Rez. Der Kaiser Hadrian (wie Anm. 31), S. 74. 85 Burckhardt, Die Cultur der Renaissance (wie Anm. 75), S. 94. 86 R[obert] D[avidsohn], Rez. Ferdinand Gregorovius, Der Kaiser Hadrian. Gemälde der römisch-hellenischen Welt seiner Zeit, in: Berliner Börsen-Courier, Nr. 17, 1. Beilage, 10. Januar 1884, S. 1. Dankesbrief des Rezensierten: Gregorovius an Robert Davidsohn, 16. Januar 1884, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 22), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/ed_dbm_tjk_zrb/nv32_ fmk_zrb. 87 Robert Davidsohn, Menschen, die ich kannte. Erinnerungen eines Achtzigjährigen, hg. von Martin Baumeister und Wiebke Fastenrath Vinattieri (= Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts, hg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 77), Berlin 2020, S. 182. 88 Steffi Roettgen, Dal „Börsen-Courier“ di Berlino al „Genio“ di Firenze. Lo storico Ro‐ bert Davidsohn (1853–1937), in: Storia dell’arte e politica culturale intorno al 1900. La fondazione dell’Istituto Germanico di Storia dell’Arte di Firenze, hg. von Max Seidel, Ve‐ nedig 1999, S. 313–338. Im Anhang druckt Roettgen das Gregorovius-Kapitel einer unpu‐ blizierten, von Davidsohn auf Italienisch verfassten Abhandlung aus dem Jahr 1935 über den deutschen Anteil an der Geschichtsschreibung Italiens im neunzehnten Jahrhundert ab. Davidsohn geht dort (S. 329 f.) ausführlich auf die Kapitel des Hadrian-Buches zur Re‐ ligionsgeschichte und insbesondere zum Bar-Kochba-Aufstand ein.

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dass „die farbenreiche Schilderung römisch griechischer Kultur im zweiten Jahr‐ hundert unserer Zeitrechnung“ im fesselnden Buch von Gregorovius die Schilde‐ rung „ihrer, zum Teil leider höchst modern anmutenden Zeichen des Verfalls“ ein‐ schließt. 89 Das Systematische machte aus Hadrians Reisetätigkeit „ein einziges Phänomen in der Geschichte aller antiken und modernen Fürsten“ (1884, S. 60). Vier Jahre nach der Veröffentlichung der Neuausgabe des Hadrian-Buches begegnete Grego‐ rovius das Phänomen in Person eines modernen Fürsten wieder. Es erschien zu‐ nächst wiederum einzigartig, ließ sich aber im welthistorischen Vergleich erhel‐ len. „Diese historischen Visiten des jugendlichen ‚Hadrian‘ sind wol ein unicum, um so mehr als der Kaiser sie als Apostel des Friedens unternimmt.“ 90 Der Wie‐ dergänger Hadrians, von dem Gregorovius in einem Brief an Hermann von Thile schrieb, den früheren preußischen Gesandten in Rom, war Wilhelm II. Kurz nach seiner Thronbesteigung hatte der deutsche Kaiser einen Antrittsbesuch in Rom ge‐ macht, der Hauptstadt des jungen, mit dem jungen Deutschen Reich verbündeten Königreichs Italien. Historisch war dieser Staatsbesuch in einem doppelten Sinne: als Vollzug einer politischen Handlung, als persönliche, nach den diplomatischen Gepflogenheiten wohl noch ungewöhnliche Bekräftigung des Bündnisses der Staa‐ ten 91 – und zugleich als Akt des Nachvollzugs, als eine Art Wiederaufführung des aus der deutschen Geschichte bekannten Schauspiels des Kaiserbesuchs in Rom, nur unter völlig veränderten Bedingungen, nach dem Untergang der weltlichen Macht des Papsttums. 92 Bei „der Darstellung von Rom-Zügen spätmittelalterlicher deut‐ scher Könige“ kann der Leser der „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“ mit Arnold Esch „die Pein“ des Autors spüren, „das Kaisertum bei allem zeremoniellen Aufwand so klein zu sehen“. 93 Dieser Schmerz war nun geheilt. Rom, die Welt‐

89 Davidsohn, Menschen, die ich kannte (wie Anm. 87), S. 182. 90 Gregorovius an Hermann von Thile, 14. Oktober 1888, in: Briefe an Hermann von Thile (wie Anm. 60), S. 213. 91 John C. G. Röhl, Wilhelm II. Der Aufbau der persönlichen Monarchie 1888–1900, 2. Aufl., München 2010, S. 66: „Wilhelm II. war der erste regierende Monarch, der Italien einen Staatsbesuch abstattete“. 92 Sehr optimistisch hatte Gregorovius fünf Jahre zuvor auch schon die Wirkungschancen des Rom-Besuchs des Vaters von Wilhelm II., des damaligen Kronprinzen Friedrich Wilhelm, beurteilt, vor dem welthistorischen Hintergrund der Romzüge Theoderichs und Karls des Großen: „Ich bin überzeugt, daß wir in seiner ritterlichen Persönlichkeit den allerbeßten Repräsentanten des deutschen Reichs der Gegenwart gehabt haben.“ (Gregorovius an Wil‐ helm Henzen, 20. Dezember 1883, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italieni‐ sche Briefe [wie Anm. 22], URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/ed_qsd_ l2w_3qb). 93 Esch, Gregorovius als Geschichtsschreiber der Stadt Rom (wie Anm. 38), S. 169.

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hauptstadt, von der aus Hadrian seine Reisen unternommen hatte, lag jenseits der Grenzen des Reiches, in dem der König von Preußen, wenn man sich an den Buch‐ staben der Verfassung hielt, einem Bund fürstlicher Standesgenossen präsidierte. Wenn Gregorovius Wilhelm II. gleichwohl zum Nachfolger der römischen Impe‐ ratoren stilisieren konnte, sprach daraus wohl ein in seiner Korrespondenz viel‐ fach dokumentiertes Gefühl kultureller Überlegenheit der Deutschen gegenüber den Italienern. 94 Deutschland war für ihn „die größte Geistesmacht der Welt“: 95 So mochte ihm die deutsch-italienische Verbindung als eine Art Wiederherstellung der abendländischen Einheit des Mittelalters erscheinen, unter ideeller Führung der Vormacht des Kulturprotestantismus. 96 Auch die kulturpolitische Bedeutung des eigenen Werkes verstand Gregorovius in diesem Sinne: Den Deutschen komme das „historische Recht“ zu, die historiographische Gattung „Geschichte der Stadt Rom“ zu begründen. 97 Ein „junger Prinz des Hauses Hohenzollern“, so malte Gregoro‐ vius, der nicht dabei gewesen war, die Szene aus, war „unter dem Jubel des S. P. Q. R. in die ewige Stadt eingezogen“ 98 – als hätte das römische Volk den deutschen Kaiser per Akklamation adoptiert, wie er selbst von den Römern zum Ehrenbürger ernannt worden war. 94 Siehe etwa Gregorovius an Moritz Hartmann, 10. Dezember 1859, an Malwida von Mey‐ senbug, 24. August 1865, an Friedrich Althaus, 18. Dezember 1870, und an Jean Bour‐ deau, 9. Juli 1882, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 22), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000080, https://gre‐ gorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000233, https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/ letters/G000340 und https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/ed_qcf_cmf_fpb/ nt5l_nrf_fpb. 95 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 8), S. 211, Eintrag vom 14. Juli 1866; siehe dazu Jens Petersen, Das Bild des zeitgenössischen Italien in den Wanderjahren von Ferdinand Gregorovius, in: Ferdinand Gregorovius und Italien (wie Anm. 23), S. 73–96, hier S. 87. 96 Ein solches geschichtsphilosophisches Konzept deutscher Sendung bringen, noch reichlich grobschlächtig, schon die Leitartikel zur italienischen Politik zum Ausdruck, die Gregoro‐ vius in der Revolutionszeit in der kurzlebigen „Neuen Königsberger Zeitung“ veröffent‐ lichte. Siehe etwa: Ein Blick auf Italien, 9. Juli 1848, in: Ferdinand Gregorovius, Eu‐ ropa und die Revolution. Leitartikel 1848–1850, hg. von Dominik Fugger und Karsten Lorek, München 2017, S. 49–52, hier S. 50: „Nur den reformatorischen Deutschen war es möglich, Italien zugleich zu bekämpfen und sich anzueignen, und so brachten sie von dort her den Genius Griechenlands heim und erweckten mitten aus den Trümmern der versteinerten Geschichte Roms, tiefsinnig betrachtend und unablässig forschend, den Geist des Humanismus wieder.“ 97 Gregorovius an Alfred von Reumont, 14. Juni 1868, in: Gregorovius, Gesammelte deut‐ sche und italienische Briefe (wie Anm. 22), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/ letters/G000265. 98 Gregorovius an Hermann von Thile, 14. Oktober 1888, in: Briefe an Hermann von Thile (wie Anm. 60), S. 213.

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Den Auslöser für den Vergleich bildete offenbar die herausgehobene Stellung, die das Stichwort des Friedens in der Propaganda beider reiselustiger Kaiser ein‐ nahm. In seiner Thronrede am 25. Juni 1888 hatte Wilhelm II. gesagt: „Ich bin gesonnen, Frieden zu halten mit jedermann, so viel an Mir liegt.“ 99 Gregorovius äußerte die Hoffnung, dass dieses „Motto unseres Imperator pacificus“ sich als „echt und wahr“ erweisen werde. 100 So hatte Hadrian aus der Pax Romana sei‐ ner Vorgänger eine persönliche Mission gemacht. „Er durchzieht die Länder als Segenstifter und Friedensbote von den Gränzen Caledoniens bis zu den Gesta‐ den des roten Meeres, von den Säulen des Herkules am Ocean bis zur Oase Pal‐ myra in der Wüste Syriens.“ (1884, S. 61) Die Reisediplomatie sollte das Bild Wil‐ helms II. prägen, als Spiegel des Selbstverständnisses eines Monarchen, der partout eine historische Rolle spielen wollte; ein Nationalliberaler wie Gregorovius konnte nach Wilhelms Herrschaftsantritt zunächst noch glauben, dass er eine schöne Fi‐ gur machen werde. Acht Jahre nach dem Tod des Autors brachte der Londoner Verlag Macmillan eine englische Übersetzung des Hadrian-Buches heraus, mit ei‐ ner Einleitung von Henry Francis Pelham, dem Camden Professor of Ancient His‐ tory der Universität Oxford, der einige kritische Warnhinweise aus fachlicher Sicht gab. Eine Rezension griff Pelhams Monitum auf, dass dem Leser die „master-idea“ Hadrians – das Herrschaftskonzept des Kaisers – nicht deutlich werde. Dem Re‐ zensenten fiel der Vergleich mit dem seit elf Jahren regierenden Deutschen Kai‐ ser ein – der für ihn gegen das Buch sprach. Dem Leser würden ständig neue „glimpses“ des vielgewandten Monarchen geboten, des Dichters und Malers, Ar‐ chitekten und Verwalters; atemlos reise man Hadrian von einem Ende des Rei‐ ches zum anderen hinterher. „He is as ubiquitous, as interesting, and as elusive as the German Kaiser is to newspaper readers“ – und man bekomme keinen Begriff von der wahren „greatness“ des Mannes, der zwanzig Jahre lang mit einer nach modernen Maßstäben kleinen Armee den Frieden der „civilized world“ erhalten habe. 101 Die Beschreibung der Kaiservilla in der Erstausgabe der Hadrian-Monographie geht über in einen Katalog der „Antinousdenkmäler“, der plastischen Porträts des kaiserlichen Favoriten, von denen etliche typische Exemplare auf dem Gelände der

99 Zur Wirkung auf die Zuhörer siehe Röhl, Wilhelm II. (wie Anm. 91), S. 26 ff. 100 Gregorovius an Hermann von Thile, 14. Oktober 1888, in: Briefe an Hermann von Thile (wie Anm. 60), S. 213. 101 T. E. Page, The Emperor Hadrian, The Bookman, Februar 1899, S. 148 f. Für Page, einen Lehrer an der Charterhouse School, der 1912 zum ersten Herausgeber der Loeb Classical Library ernannt wurde, bewies „the senseless ostentation of Hadrian’s villa“ den Nieder‐ gang der römischen Kultur (S. 149).

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Villa geborgen worden sind. 102 In der Zweitausgabe zeigt der Geschichtsschreiber der Stadt Rom im Mittelalter seine Handschrift, indem er ausführlich die nachan‐ tiken Schicksale der Anlage schildert. Nicht erst von barbarischen Invasoren wurde sie „geplündert“, sondern wohl schon von Konstantin bei der Verlegung seiner Re‐ sidenz von Rom nach Byzanz. Während der Gotenkriege „stand sie noch als eine verödete Wunderwelt da“, so dass sie zur Truppenunterbringung requiriert werden konnte. Über Jahrhunderte wurde die Villa als Steinbruch genutzt, aber die „Erin‐ nerung, daß diese zaubervolle Trümmerwildnis einst das Lustschloß Hadrians ge‐ wesen war, dauerte fort“. Diese Kontinuität der ortsgebundenen Erinnerung schuf den Boden für das moderne historische Interesse, als dessen Pionier bei Gregoro‐ vius „der geistreiche Papst Pius II.“ auftritt. Lange vor dem Beginn der Ausgra‐ bungen „hat er diese Ruinen besucht“ und in seinen Commentarii „mit melancho‐ lischen Worten geschildert“, die Gregorovius ausführlich zitiert (1884, S. 490 f.). Diese Zeugenrolle entspricht der epochalen Symbolfunktion, die Burckhardt im Abschnitt über „Die Wiedererweckung des Alterthums“ dem Humanisten auf dem Papstthron zuweist: „Pius II. ist ganz erfüllt von antiquarischem Interesse, und wenn er von den Alterthümern Roms wenig redet, so hat er dafür denjenigen des ganzen übrigen Italiens seine Aufmerksamkeit gewidmet und diejenigen der Umge‐ bung der Stadt in weitem Umfange zuerst genau gekannt und beschrieben.“ 103 In der Charakteristik des Piccolomini-Papstes in der „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“ hat Arnold Esch eine Anspielung auf Burckhardt freigelegt: 104 „Man hat daher vollkommen Recht, in diesem vielgewandten, vielbegabten Tos‐ caner voll der reizendsten Anlagen den Spiegel zu sehen, worin sich seine Epoche am deutlichsten reflectirt.“ 105 Burckhardt hatte festgestellt, „daß in wenigen An‐ dern das Bild der Zeit und ihrer Geistescultur sich so vollständig und lebendig spie‐ gelte“. 106

102 Diese Erörterung hat Gregorovius in der Zweitausgabe vorgezogen: Eine „Uebersicht der in der Villa Hadrians gefundenen Kunstwerke“ gibt er dort im einundzwanzigsten Kapi‐ tel, vor der Schilderung der Villa im vierundzwanzigsten. 103 Burckhardt, Die Cultur der Renaissance (wie Anm. 75), S. 125. Ähnlich im Abschnitt über „Die Entdeckung der Welt und des Menschen“: „Hier interessirt er uns als der erste, welcher die Herrlichkeit der italienischen Landschaft nicht bloß genossen sondern mit Begeisterung bis ins einzelne geschildert hat.“ Als Papst hatte er „die Mittel, sich auf dem Tragsessel über Berg und Thal bringen zu lassen, und wenn man die Genüsse der folgenden Päpste damit vergleicht, so erscheint Pius, dessen höchste Freude Natur, Alterthum und mäßige, aber edelzierliche Bauten waren, wie ein halber Heiliger“ (ebd., S. 204 f.). 104 Esch, Gregorovius als Geschichtsschreiber der Stadt Rom (wie Anm. 38), S. 144. 105 Ferdinand Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter, Bd. 7, Stuttgart 1870, S. 210. 106 Burckhardt, Die Cultur der Renaissance (wie Anm. 75), S. 204.

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Burckhardt vermerkt, dass „die Ruinen als solche“ eine vom archäologischen In‐ teresse abgelöste Teilnahme weckten. Eine klassische Stelle für diese „Ruinensen‐ timentalität“ sind die von Gregorovius zitierten Worte: „Vollkommen sentimental äußert sich dann Pius II. zumal bei der Beschreibung von Tibur“. 107 Den Begriff des Sentimentalen für diese Verselbständigung des Gefühls für die dinglichen Überreste einer großen Vergangenheit und deren Duplikate verwendet auch Gregorovius, in einem Werturteil, das er allerdings als hypothetisches kennzeichnet, indem er es aus der Perspektive eines Zeitgenossen Hadrians formuliert: Der stoische Philosoph „Epiktet hätte die kaiserliche Spielerei“ mit kulturhistorischen Souvenirs „als Senti‐ mentalität belächelt, und vielleicht ist die weltberühmte Villa Hadrians ein Zeugniß des in das Barocke verfallenen Geschmacks jener Zeit gewesen“ (1884, S. 489 f.). Vielleicht – besuchen kann man nur noch ihre Ruine. Vielleicht trieb dort die an‐ tike Renaissance im Überschwang des Geschmacks am Klassischen den Stil einer unklassischen Folgezeit hervor. Schärfer, ohne solche vorsorgliche Rücksicht auf die Beschränktheit des eigenen Blickfelds, urteilte der von Gregorovius bewunderte 108 französische Althistoriker Victor Duruy: „Er wollte also gewissermassen ein grosses Weltmuseum sich schaffen; freilich mussten bei der Ausführung dieses an sich nicht unglücklichen Gedankens manche Dinge doch recht dürftig ausfallen.“ Nämlich zu klein: Das Thal Tempe mit Bergen, die durch Menschenhand aufgeschüttet waren; diese in ziemlich kümmerlichen Verhältnissen nachgebildeten, und in weiter Entfernung von dem natürlichen und dem historischen Hintergrund ihrer Entstehung aufgestellten Denkmäler könnten wirklich nur als eine Verirrung des Geschmackes gelten, – hätte Hadrian, rasch gealtert und ermüdet, wie er jetzt war, in seiner Villa etwas Anderes gesucht, als das wohlberechtigte Vergnügen, hier bei jedem Schritte auf einen Gegen‐ stand zu stoßen, der ihn an Erlebnisse aus seinen schönsten Jahren erinnerte. 109

Viel präziser als Gregorovius oder auch Burckhardt stellte sich der frühere fran‐ zösische Unterrichtsminister die Proportionen des Denkmalensembles vor; das

107 Ebd., S. 129. 108 Gregorovius an Jean Bourdeau, 26. November 1882, und an Franz Rühl, 8. De‐ zember 1882, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 22), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/ed_lmx_bs5_fpb und https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/ed_mnb_smw_gpb. 109 Victor Duruy, Geschichte des römischen Kaiserreichs von der Schlacht bei Actium und der Eroberung Aegyptens bis zu dem Einbruche der Barbaren. Aus dem Französischen übersetzt von Prof. Dr. Gustav Hertzberg, Bd. 2, Leipzig 1886, S. 435 f. Gregorovius be‐ nutzte für die Bearbeitung des „Hadrian“ die französische Originalausgabe: Histoire des Romains depuis les temps les plus reculés jusqu’a la fin du règne des Antonins, Bd. 5, Paris 1883. Dort S. 102: „un musée du monde“.

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entwickelte wissenschaftliche Geschichtsbewusstsein verlangte in positivistischer Selbstsicherheit eine Homogenität der Lokalität. Die Ausgrabungen begannen unter Papst Alexander VI., den Gregorovius an die‐ ser Stelle nicht näher vorstellt, aber seinen Lesern auch schwerlich vorstellen muss; der Tochter des berühmtesten Repräsentanten der Familie Borgia hatte er 1874 seine zweite biographische Monographie gewidmet. Die Aufhebung des Kirchen‐ staates, mit der die Weltgeschichte während der Arbeit von Gregorovius an seinem großen Werk den „ebenso dramatischen wie definitiven Schlusspunkt“ setzte, 110 auf den es der Idee nach zulief, bedeutete auch eine Zäsur für die archäologische Zone bei Tivoli. „Im Jahre 1871 ist die Villa Hadrians in den Besitz der italienischen Regierung übergegangen, und die Ausgrabungen werden fortgesetzt.“ Allerdings kam die Verstaatlichung dieses speziellen päpstlichen Patrimoniums, was das Inter‐ esse der Wissenschaft angeht, zu spät. Obwohl Gregorovius einzelne schöne Funde wie eine Bacchus-Statue gezeigt worden sind, haben die neuen Ausgrabungen insge‐ samt „keinen großen Erfolg gehabt; denn alles Wesentliche ist im 18. Jahrhundert aufgedeckt worden“ (1884, S. 492). Abschließend lässt der Historiker seinen Blick über die Umgebung schweifen. Was er sehen kann, bleibt in wesentlichen Teilen unbestimmt, so dass er, bevor er im folgenden Kapitel nach Rom zurückkehrt, im Stil von Pius II. von der Villa Abschied nimmt, mit melancholischen Worten: „Der ehemalige Zweck vieler anderer Gebäude und Ruinen ist dunkel, und vergebens be‐ müht sich die Vorstellung, die Glieder dieser Zauberwelt zu einem übersichtlichen System wieder zu vereinigen, dessen Mittelpunkt die Wohnung des Kaisers gewesen sein mag.“ (1884, S. 493) Burckhardt schließt den Abschnitt zur Villa Hadriana im „Cicerone“ mit einem Aufruf zur Vorsicht ab: „Wenn andere Bauherren ähnliche Phantasien ausführten, so lässt sich denken, wie schwer gewisse Ruinen römischer Villen und Paläste ein‐ leuchtend zu erklären sein müssen.“ Hadrians Bildprogramm behielt für Burck‐ hardt also etwas Esoterisches, das durch Gelehrsamkeit nicht aufzulösen war. Au‐ toren haften nicht für ihre Leser, aber Kollegen, die den „Cicerone“ lasen, sollten es sich demnach zweimal überlegen, ob sie neue Baustellen ungesicherter Deutungen aufmachen wollten. Von Burckhardt ist über Gregorovius wohl wirklich nur das viel zitierte Diktum überliefert, das er im Gespräch mit dem katholischen Papsthistoriker Ludwig von Pastor fallen ließ: „Gregorovius hat seine Verdienste, aber er lässt der Phantasie zu viel Spielraum.“ 111 Burckhardt musste erleben, dass der Rezensent der zweiten Aus‐ gabe des Hadrian-Buches im „Literarischen Centralblatt für Deutschland“ über die 110 Gustav Seibt, Sühne für Leiden. Ferdinand Gregorovius: „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. April 1988, S. 26. 111 Ludwig Freiherr von Pastor, Tagebücher – Briefe – Erinnerungen, hg. von Wilhelm Wühr, Heidelberg 1950, S. 276.

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Ausnutzung und Ausfüllung dieses Spielraums durch Gregorovius urteilte: „Seine Manier der Darstellung erinnert vielfach an Jacob Burckhardt’s Meisterwerk: Cul‐ tur der Renaissance.“ 112

112 Rez. Ferdinand Gregorovius, Der Kaiser Hadrian. Gemälde der römisch-hellenischen Welt seiner Zeit, in: Literarisches Centralblatt für Deutschland, Nr. 32, 2. August 1884, Sp. 1077 f., hier Sp. 1077. Ein Gefühl dafür, sich in einem Wettstreit mit Burckhardt zu befinden, kann man vielleicht aus dem Brief herauslesen, in dem Gregorovius gegen‐ über seinem Verlag die besondere Bedeutung des siebten Bandes seiner Stadtgeschichte betonte: „Der Band umfaßt die wichtige Renaissancezeit, für deren Culturgeschichte ich allein 4 große Capitel habe verwenden müßen, während die früheren Bände nur 1 der‐ artiges enthalten.“ (Gregorovius an die J. G. Cotta’sche Buchhandlung, 7. Februar 1869, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe [wie Anm. 22], URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000289) „Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch“ war 1860 erschienen. Dazu D. S. Chambers, Ferdinand Grego‐ rovius and Renaissance Rome, in: Renaissance Studies, Bd. 14 (2000), S. 409–434, hier S. 416: „Almost as frustrating as the lack of letters between them is Gregorovius’s silence, in his diary and correspondence, concerning Burckhardt’s book, which had been published only seven years after their meeting of 1853. He certainly derived ideas from it which affected his final volumes.“ – In einem brieflichen Gutachten über das Manuskript ei‐ ner Boccaccio-Biographie erklärte Gregorovius später das wissenschaftliche Ansehen von Burckhardts Buch: Es zeige sich dort „ein so eminenter und durchdringender Geist der Kritik“, dass das Fehlen neu beigebrachter Archivquellen nicht vermisst werde (Gregoro‐ vius an die J. G. Cotta’sche Buchhandlung, 27. August 1875, in: Gregorovius, Gesam‐ melte deutsche und italienische Briefe [wie Anm. 22], URL: https://gregorovius-edition. dhi-roma.it/letters/G067837/nct4_nbn_dmb).

Geschichte der Familie Cotta im Mittelalter Zum Gang der Verlagsverhandlungen zwischen Ferdinand Gregorovius und der J. G. Cotta’schen Buchhandlung Helmuth Mojem

Bücher haben bekanntlich ihre Schicksale, die unter anderem auch dadurch be‐ stimmt werden, bei welchem Verlag sie unter welchen Umständen erscheinen. Die Werke Ferdinand Gregorovius’ wurden hauptsächlich bei Brockhaus und bei Cotta publiziert und in der retrospektiven Betrachtung erscheint es selbstverständlich, dass ein bedeutender Autor auch in bekannten Verlagen veröffentlicht hat. Bei ge‐ nauerem Hinsehen erweist es sich jedoch nicht selten, dass solche quasi natürlich anmutenden Verhältnisse oft umweghaft angebahnt, durch zufällige Erscheinungen befördert oder überhaupt durch kuriose Momente geprägt wurden. Das wäre an und für sich nicht weiter bemerkenswert, wenn sich aus der näheren Betrachtung eines solchen Autor-Verleger-Verhältnisses – zugegeben: eine recht eingeschränkte Perspektive – nicht doch manchmal die eine oder andere Erkenntnis zu Wesen und Eigenart sowohl des Autors wie auch des Verlegers gewinnen ließe. Im Falle von Ferdinand Gregorovius erlaubt die umfassende Briefedition von Angela Steinsiek nun genauere Einblicke in die Entwicklung dieser Verlagsbeziehung; 1 zumindest die Anfangszeit, als Georg von Cotta (1796–1863) als Ansprechpartner des Autors fungierte, sei hier beleuchtet. Die J. G. Cotta’sche Buchhandlung gilt in der Literaturgeschichte gemeinhin als der Verlag Goethes und Schillers. Ebenso gut könnte man sie jedoch auch als den Verlag Alexander von Humboldts ansprechen, ist doch dessen gesamtes wirkungs‐ mächtiges Werk von der Beschreibung der Südamerika-Reise bis hin zum „Kosmos“ bei Cotta in Stuttgart und Tübingen erschienen. 2 Und in gleicher Weise wie der Ruhm, das angestammte Verlagshaus der Weimarer Klassiker zu sein, Cotta auch noch im 19. Jahrhundert so ziemlich alles zuführte, was in der Literatur Rang und 1 Ferdinand Gregorovius, Poesie und Wissenschaft. Gesammelte deutsche und italieni‐ sche Briefe (digitale Edition), hg. von Angela Steinsiek, Deutsches Historisches Institut in Rom 2017–2023, URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it. – Ich danke Angela Steinsiek für Einsicht in noch unpubliziertes Material aus ihrer Briefedition und für hilf‐ reiche Hinweise zu Ferdinand Gregorovius. 2 Zur Geschichte der traditionsreichen J. G. Cotta’schen Buchhandlung ist nach wie vor unentbehrlich: Lieselotte Lohrer, Cotta. Geschichte eines Verlags. 1659–1959, Stuttgart 1959. Siehe daneben: Helmuth Mojem, Cotta. Der Verleger der Horen, Stuttgart 2013, zu Humboldt bes. S. 70–83.

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Namen hatte, so wurden dort auch zahlreiche geographische oder völkerkundliche Werke sowie Reiseberichte bis hin zur Abenteuerliteratur verlegt. Diese Sparte be‐ schränkte sich keineswegs nur auf den Buchverlag, auch im publizistischen Sektor, ohnehin ein zentraler Stützpfeiler des Hauses, war sie markant vertreten. Auf Hum‐ boldts „Hertha. Zeitschrift für Erd-, Völker- und Staatenkunde“ (1825–1829) folgte das langlebige „Ausland. Ein Tagblatt für Kunde des geistigen und sittlichen Lebens der Völker“ (1828–1893); zudem erschienen zahlreiche einschlägige Arti‐ kel in den beiden publizistischen Flaggschiffen des Verlags, dem „Morgenblatt für gebildete Leser“ und der „Allgemeinen Zeitung“. 3 Redakteure dieser Journale wie Eduard Widenmann, Hermann Hauff und Oscar Peschel waren es denn auch, die als Herausgeber einer umfangreichen Reihe von „Reisen und Länderbeschreibun‐ gen“ verantwortlich zeichneten, unter deren zwischen den Jahren 1835 und 1860 erschienenen 44 Bänden auch als Nr. 41 und 42 eine Beschreibung von Korsika auftaucht, verfasst von dem Historiker Ferdinand Gregorovius. Die Reihe scheint ein Lieblingskind des Verlegers Georg von Cotta gewesen zu sein, denn im Ver‐ lagskatalog aus seinem Todesjahr 1863 sind noch sämtliche darin enthaltene Titel aufgelistet, 4 wohingegen die nachfolgenden Kataloge die Reihe überhaupt nicht mehr führen und ein späteres Gesamtverzeichnis der Verlagsproduktion nahezu je‐ den Einzelband als vergriffen markiert; allein Gregorovius’ „Corsica“ firmiert in der dritten Auflage von 1878, was sich allerdings möglicherweise auch der Popu‐ larität des Autors verdankt, die er sich durch seine anschließend verfassten Werke erschrieben hatte. 5 Die „Reisen und Länderbeschreibungen“ galten sowohl entlege‐ nen Weltgegenden – „Reisen in Indien und nach Bukhara“, „Südafrikanische Skiz‐ zen“, „Mexikanische Zustände“, „Reise in Abyssinien“, „Beschreibung von Kordo‐ fan“, „Wanderungen zwischen Hudson und Mississippi“ – als auch europäischen Regionen, die sich ihre Exotik damals gleichwohl noch bewahrt hatten: „Skizzen aus Irland“, „Montenegro und die Montenegriner“, „Istrien und Dalmatien“. Zu diesen fügte sich auch Gregorovius’ „Corsica“, der sich somit im Cotta-Verlag nicht etwa als Historiker weltgeschichtlicher Entwicklungen einführte, sondern vielmehr als Reiseschriftsteller und Chronist einer abgelegenen Provinz. Zu Cotta war Gregorovius über die „Allgemeine Zeitung“ gekommen, wo seine „Wanderungen durch Corsica“ im Herbst 1852 erschienen waren. 6 Im Jahr darauf 3 Zu diesen Periodika siehe jeweils: Bernhard Fischer, Der Verleger Johann Friedrich Cotta. Chronologische Verlagsbibliographie 1787–1832. Aus den Quellen bearbeitet, Mar‐ bach am Neckar, München 2003. 4 Vgl. den Verlags-Catalog der J. G. Cotta’schen Buchhandlung. Stuttgart und Augsburg, Ja‐ nuar 1863, S. 120–123. 5 Verlags-Katalog der J. G. Cotta’schen Buchhandlung in Stuttgart. 1640–1882, Sp. 169– 172 bzw. Sp. 79. 6 Ferdinand Gregorovius, Wanderungen durch Corsica I – X, in: Allgemeine Zeitung, Jg. 1852, Nr. 273–279, 304–307, 311, 329, 338–339.

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druckte das Blatt noch „Ein Besuch auf Elba“ und „Sampiero. Ein Heldenbild aus der Geschichte der Corsen“, gleichfalls in mehreren Fortsetzungsfolgen, 7 und da‐ mit war der Boden bereitet für die Herausgabe des die verschiedenen Einzelbeiträge zusammenfassenden und fortschreibenden Buches. Der Chefredakteur der „Allge‐ meinen Zeitung“, Gustav Kolb, hatte schon zuvor an den Verleger Georg von Cotta geschrieben: „Gregorovius ist, wie ich höre, zu haben. Ich bleibe dabei, daß ein Mann wie Gregorovius Ihrer Zeitg. neuen Glanz geben würde. Ich halte ihn für den brillantesten Stylisten, den wir jetzt haben.“ 8 Und er bekräftigte diese Einschätzung noch nach dem Abdruck der Artikelserie: In dieser Beziehung [auf „französische Geschichte, namentlich über Napoleonische Zeit“] waren die Wanderungen durch Corsica vom spannendsten Intereße. Der Ver‐ faßer, Dr Gregorovius – von Droysen auf wärmste empfohlen, hat in diesem Sommer auch Elba besucht, und ähnliche Skizzen von dort versprochen. Leider hat er von Rom, wo er den Winter zubringt, noch keine Adresse eingeschickt. Ich habe ihn nun poste restante aufgefordert sich an Sie zu wenden. 9

Bevor Gregorovius dies tat, versuchte er noch – allerdings vorerst vergeblich – auch mit dem zweiten Cotta’schen Großjournal, dem „Morgenblatt“ anzuknüpfen. Kurz darauf, am 9. April 1853 wandte er sich dann an den Verleger persönlich und trug ihm die Herausgabe seines Buches „Corsica“ an. 10 Aus der Argumentation des angehenden Cotta-Autors und späteren Histori‐ kers kann man einiges über seine Intentionen mit diesem Buch erfahren; ebenso zeichnet sich seine Verhandlungsstrategie gegenüber dem Inhaber der berühmten Buchhandlung ab. Zunächst verwies Gregorovius auf den Vorabdruck in der ver‐ lagseigenen „Allgemeinen Zeitung“, der auf reges Interesse gestoßen sei und der ihm nun als Garant für einen Erfolg auch des selbständigen Werkes erscheinen wollte. Gleich darauf setzte er sich jedoch schon wieder von seinen Zeitungsartikeln ab, die er nun „flüchtig und unkünstlerisch“ nannte, was implizit die überlegte und aus‐ gewogene Komposition seines nunmehrigen Buches unterstrich. An inhaltlichen Gesichtspunkten nannte Gregorovius zuallererst das generelle Zeitinteresse an den bekanntlich in Korsika wurzelnden „Napoleonischen Dingen“ – wenige Monate 7 Ferdinand Gregorovius, Ein Besuch auf Elba I – VI, in: Allgemeine Zeitung, Jg. 1853, Nr. 13–14, 17–18, 21–22 bzw. ders., Sampiero. Ein Heldenbild aus der Geschichte der Corsen I – VII, ebd.: Nr. 141, 146, 153–154, 157–158, 161, 163. 8 Gustav Kolb an Georg von Cotta, 4. April 1852 (DLA Marbach, Cotta-Archiv, Briefe Kolb, Nr. 979). 9 Gustav Kolb an Georg von Cotta, 6. Dezember 1852 (DLA Marbach, Cotta-Archiv, Briefe Kolb, Nr. 989). 10 Siehe zu den nachfolgenden Zitaten: Gregorovius an Georg von Cotta, 9. April 1853, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 1), URL: https:// gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000002.

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zuvor war ja Louis Bonaparte, nachdem er den 18. Brumaire seines Onkels nach‐ gespielt hatte, zum Kaiser der Franzosen gekrönt worden – und außerdem die Neu‐ heit des Gegenstandes. Denn sein Buch enthalte keine ephemeren Reiseskizzen, es vereine wissenschaftlichen Gehalt mit künstlerischer Form und folge zudem einer bestimmten Programmatik: „Ich habe den Versuch gemacht, das Leben eines merk‐ würdigen Volkes durch alle Jahrhunderte bis auf den heutigen Tag darzustellen und seine Geschichte mit seinem Lokale organisch zu vereinigen.“ Diese prononcierte Vereinigung des Historischen mit dem Lokalen machte Gregorovius zu einem der Pioniere in der Geschichte der Reiseführerliteratur – in der Tat bin ich seinem Titel zuerst vor vielen Jahren in der Bibliographie eines Korsika-Reiseführers begegnet –, andererseits befreite er die Erfahrung des Historischen aus der angestaubten At‐ mosphäre der Studierstube und sei es auch nur imaginär, denn die meisten seiner Leser werden sich das „Lokale“ Korsikas in Verbindung mit seiner Geschichte dann doch auf dem heimischen Sofa vergegenwärtigt haben. Dazu kommt, dass es um die Geschichte eines „merkwürdigen“ Volkes geht, das zwar durchaus in der damaligen Gegenwart lebte, gleichwohl aber nach Gregorovius von antiker Prägung war, eines „heroischen Volkes, welches unter allen modernen Völkern das Wesen der Lacedä‐ monier wunderbar erneut“. Und die Anschauung solchen spartanischen Geistes soll heilsam wirken gegenüber „unserer durch empfindelnde Lyrik und den breitgesto‐ ßenen Unterhaltungsroman verweichlichten Literatur“ ebenso wie gegenüber „ex‐ zentrischen Theorien und rhetorischen Phrasen“, „rechts wie links“. Kurz, Grego‐ rovius empfahl sein Buch, das Geschichte aus unmittelbarer Anschauung von Men‐ schen und Landschaften schöpfte, als Antidot wider die dekadenten Tendenzen der Gegenwart, er spielte die archaischen Bräuche der Korsen gegen die konfliktbela‐ dene Zerrissenheit moderner Lebensgestaltung, die Exotik edler Halbwilder gegen die alltägliche Kleinlichkeit unserer wohlbehüteten Verhältnisse aus, ja sogar in ei‐ ner an Karl Marx’ berühmte Formulierung anklingenden Nebenbemerkung die my‐ thische Größe Napoleons gegen die politische Inszenierung seines Imitators: „Aber die Toten stehen nicht mehr auf. Nach den Göttern kommen die Gespenster und nach der Welttragödie das Satirspiel.“ 11 Mit anderen Worten, Gregorovius bot sei‐ nen in bürgerlicher Beengtheit gefangenen Lesern heroische Authentizität, so wie sie seine Exklamation angesichts eines korsischen Landschaftspanoramas spiegelt: „Der Anblick war groß, fremd und südlich“, 12 er bot ihnen das, was viele von uns nach wie vor und heute mehr denn je sommers mit der Seele suchen, wenn wir (blech)lawinengleich über die Höhen der Alpen in mediterrane Regionen einfallen, sei es ins Land der Griechen, sei es auch in das der Korsen. Die durchaus originelle Argumentation des Autors scheint bei Cotta verfangen zu haben, was sich in dessen positiver Antwort auf den Publikationsantrag nieder‐ 11 Ferdinand Gregorovius, Corsica, 2 Bde., Stuttgart: Cotta 1854, Bd. 2, S. 160. 12 Ebd., S. 1.

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schlug. Nicht nur, dass der Verleger in seinem Brief den Eindruck erweckte, es sei nach längerer Abwesenheit von zu Hause sein erstes Geschäft gewesen, Gregoro‐ vius’ Manuskript durchzusehen, er spendete auch reichlich Lob: „Darf ich nachdem ich somit den Total-Eindruck Ihres Werkes in mir trage, Ihnen meine große Be‐ friedigung über dasselbe aussprechen“. 13 Ob dieser Bewertung allerdings wirklich eigene Lektüre zugrunde lag, steht dahin. Nur fünf Tage zuvor hatte Cotta nämlich ein offenbar schon früher eingefordertes Gutachten Hermann Hauffs zu Grego‐ rovius’ „Corsica“ bekommen, das bei allen kritischen Einschränkungen doch eine klare Empfehlung enthielt, freilich nach dem bis in die einzelnen Formulierungen hineinwirkenden Prinzip, wonach die Negation des Negativen schon an sich ein Positivum darstelle: Ew. Hochwohlgeboren erhalten hier das Manuscript von Gregorovius wieder zurück. Ich habe verschiedene Hauptparthieen gelesen, namentlich solche, die nicht in der Allgem. Zeitung standen. Durch die Artikel in dieser ist der Verf. als ein Mann von viel Talent und Kenntniß bekannt geworden und er schreibt auch recht gut. Das Buch hat allerdings, wie der Verf. sagt, keinen Vorgänger in Deutschland; es gibt viel Neues und Ansprechendes, und die geschichtliche Ausbeute scheint mir nicht gering; nur hätte ich weniger literarhistorische Excurse à la Reumont 14 gewünscht. Im Ganzen ist das Buch nach meinem Urtheil ein bedeutendes und an sich der Publication gewiß sehr werth. Als Poet dürfte sich der Verf. freilich etwas mehr beschränken, indessen besteht das Poetische, das er gibt, meist in Übertragungen, die formell nicht mißlungen sind, und an seinen eigenen Dichtungen ist mir nach Form und Inhalt nichts sehr Anstößi‐ ges aufgefallen. – Wie sich die materiellen Ansprüche des Verf. zum möglichen oder muthmaßlichen Erfolg seines Buches verhalten, darüber steht mir kein Urtheil zu. 15

Diese prekäre Relation von materiellen Ansprüchen des Autors zum mutmaßlichen Erfolg seines Buches schlug sich in dem Verlagsvertrag nieder, den Cotta, der Hauffs grummeliges Gutachten wohl richtig einzuschätzen wusste, Gregorovius postwen‐ dend zuschickte und in dem die von diesem gewünschte Auflage von 2.000 Exem‐ plaren auf 1.200 reduziert war – im selben Verhältnis verminderte sich auch das geforderte Honorar; gleichzeitig ging der Verleger wie selbstverständlich von einer Integration des Corsica-Buches in die einschlägige Verlagsreihe der „Reisen und Länderbeschreibungen“ aus, die ja von Hermann Hauff mitherausgegeben wurde. 13 Georg von Cotta an Gregorovius, 10. Mai 1853 (DLA Marbach, Cotta-Archiv, Briefe Gre‐ gorovius, Nr. 2a). 14 Alfred von Reumont (1808–1887), Diplomat und Historiker, der hauptsächlich über Ita‐ lien schrieb und unter anderem auch bei Cotta publizierte, vor allem aber zahlreiche Artikel für die „Allgemeine Zeitung“ lieferte. 15 Hermann Hauff an Georg von Cotta, 5. Mai 1853 (DLA Marbach, Cotta-Archiv. Briefe Hermann Hauff, Nr. 278A).

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Dagegen verwahrte sich nun wiederum der Autor, der sein Werk als etwas Eige‐ nes, als spezifische Geschichtsschreibung aus dem Geist der Landschaft betrachtet wissen wollte, die bei Einverleibung in die Cotta’sche Reisebeschreibungen-Serie Gefahr laufe, ihre „insularische Natur“ zu verlieren. In diesem Zusammenhang wie‐ derholte Gregorovius, nun mit anderen Worten, die Programmatik seines Buches: „[. . . ] da ich es betrachten möchte als ein plastisches Historiengemälde, und als Ge‐ schichte, welche nur in anderer Weise, aus Local und Natur angeschaut und her‐ ausgestellt worden ist.“ 16 Zudem schlug er als Kompromiss eine Auflagenhöhe von 1.500 Exemplaren vor sowie das dementsprechende Honorar. Georg von Cotta griff in seiner abschlägigen Antwort auf diese Vorstellungen zu einer im Verlagswesen nicht selten geübten Mystifikation, indem er seine Ab‐ wesenheit vom Geschäft vortäuschte und eigenhändig ein Briefkonzept im Namen seiner Buchhandlung niederschrieb; der ausgefertigte Brief hat sich nicht erhalten, er war aber zweifellos nicht von Cotta selbst, sondern von der vorgeschobenen J. G. Cotta’schen Buchhandlung unterzeichnet. Bei dem Konzept kann man den Wechsel von der spontan verwendeten Ich-Form zur hineinkorrigierten Wir-Form bereits am ersten Satz ablesen. Hieß es ursprünglich: „Der Eingang Ihres Schreibens vom 20 dieses, das eben einläuft, hat mich recht sehr gefreut.“, so wird daraus durch Korrekturen und Einfügungen: „Der Eingang Ihres Schreibens vom 20 dieses, das eben in Abwesenheit des Herrn von Cotta einläuft, hat uns recht sehr gefreut.“ 17 Dieses Verfahren hätte ihm wohl noch Spielraum gelassen, die unnachgiebige Posi‐ tion der Buchhandlung zu relativieren und gegebenenfalls auch zu revidieren, doch insistierte Gregorovius nicht weiter und gab sich mit den ihm vom Verlag diktier‐ ten Bedingungen zufrieden, zu denen ihm noch obendrein eine melancholische Betrachtung des vielerfahrenen Verlegers zuteil wurde: „Das Beßere und Beste ist nicht immer des größeren Absazes sicher, den das Mittelmäßige unbegreiflicher und unverdienter Weise öfter davon trägt.“ 18 Ein süßsaurer Trost für all jene, die sich zu den Besseren und Besten zählen. Bis zum Erscheinen von Gregorovius’ „Corsica“ verging jedoch noch fast ein ganzes Jahr, was den Autor zunehmend erboste: Mein Korsika ist nun endlich heraus. Ganz unverantwortlich hat Cotta an ihm ge‐ handelt und sich in sein eigenes Fleisch geschnitten. Wäre es vor sechs Monaten er‐ schienen, so würde es in eine dumpfe Zeit gefallen sein und hätte sich wie eine erzene Schlachttrompete können hören lassen. Nun kann’s lange trompeten, das Kalbfell und 16 Gregorovius an Georg von Cotta, 20. Mai 1853, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 1), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/let‐ ters/G000006. 17 Georg von Cotta an Gregorovius, 31. Mai 1853 (DLA Marbach, Cotta-Archiv, Briefe Gre‐ gorovius, Nr. 3a). 18 Ebd.

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die Kanonen von Napier machen es mausetot. Indessen ist es doch da und kann aus dem Register der Lebendigen nicht mehr gestrichen werden. 19

War es zunächst die Eingliederung seines von ihm doch als Historiographie empfun‐ denen Buches in die Verlagsreihe der „Reisen und Länderbeschreibungen“ gewesen, die Gregorovius verärgert hatte, so missfiel ihm nun dessen verzögerte Publikation just zu dem Zeitpunkt, an dem der Wiedergänger des großen Korsen auf Frank‐ reichs Thron in den russisch-türkischen Krieg eintrat. Der militärische Lärm des Tagesgeschehens – versinnbildlicht im Kanonendonner der britischen Ostseeflotte, deren Admiral Charles Napier (1786–1860) war –, der medial allgegenwärtige Krimkrieg also übertönte Gregorovius’ „erzene Schlachttrompete“, die ursprüng‐ lich als Gegensatz zu „dumpfer Zeit“, dem faden, ereignislosen, biedermeierlichen Alltag, angelegte exotische Geschichte der heroischen Korsen. Solcher Kritik ungeachtet ließ sich das Verhältnis des Autors zum Cotta’schen Verlag damals recht gut an. In der „Allgemeinen Zeitung“ waren mehrere Beiträge von ihm erschienen, was sich in den nächsten Jahren fortsetzen sollte, 20 und auch im „Morgenblatt“ und im „Ausland“ von 1854 war Gregorovius präsent. Gustav Kolb gab für die „Allgemeine Zeitung“ eine ausführliche Rezension des KorsikaBuches in Auftrag, die dann allerdings erst Ende März 1855 erschien 21 und lobte gegenüber dem Verleger in so stereotyper wie nachdrücklicher Weise den Stil des Autors: „Auch über Gregorovius Corsika habe ich etwas vorbereitet. Er ist jetzt die brillanteste Feder die ich kenne.“ 22 Ja, er erwog offenbar sogar, Gregorovius als seinen festen Mitarbeiter oder gar Nachfolger in der Redaktion der „Allgemeinen Zeitung“ zu installieren. Jedenfalls schrieb er am 29. März 1855 an Cotta: Kurz, mir scheint, Sie müßen für die Zukunft der Allg. Ztg. einen Mann haben, deßen litterarische und Charakterhaltg. Ihnen die nöthigen Garantien gäbe. In diesem Ge‐ danken, den ich seit Peschels Ausscheiden in mir trage, bin ich auf Gregorovius gefal‐ len, der jetzt in Deutschland vielleicht die brillanteste Feder führt, und den Sie, wie ich

19 Gregorovius an Friedrich Althaus, 21. April 1854, in: Gregorovius, Gesammelte deut‐ sche und italienische Briefe (wie Anm. 1), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/ letters/G000015. 20 Siehe Bernhard Fischer, Die Augsburger „Allgemeine Zeitung“ 1798–1866. Register der Beiträger / Mitteiler, Teil 3: 1850–1866, München 2005, S. 154–155. 21 Ferdinand Gregorovius, Corsica, in: Allgemeine Zeitung, Nr. 89 vom 30. März 1855. Verfasser der ausführlichen Besprechung war der Erlanger Theologe Veit Engelhardt (1791–1855). 22 Gustav Kolb an Georg von Cotta, [Anf. Oktober 1854] (DLA Marbach, Cotta-Archiv, Briefe Kolb, Nr. 1066).

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höre, unter nicht sehr onerosen 23 Bedingungen für Ihre Journal-Institute gewinnen könnten. Ich hielte die Acquisition für die bedeutendste, die Sie machen könnten. 24

Dazu kam es jedoch nicht. Zwar hatte der Verlag Gregorovius großzügig die Rechte für eine Übersetzung des Buches in fremde Sprachen abgetreten – wohl weil man aufgrund der allgemeinen Rechtsunsicherheit auf diesem Gebiet ohnehin nicht mit nennenswerten Einnahmen rechnen konnte –, als dieser aber wegen der Herausgabe eines neuen Buches – des ersten Bandes der später so erfolgreichen „Wanderjahre in Italien“ – im Mai 1855 bei Georg von Cotta anfragte, lehnte dieser den Verlag des Werkes mit Hinweis auf die schlechten Absatzzahlen von „Corsica“ rundheraus ab: Was also mich persönlich betrifft, so würde ich unbedingt Alles drucken, was Sie schreiben. Aber wenn ich auch eine Stimme in den Geschäften der J. G. Cotta’schen Buchhandlung habe, so ist dieß doch nur meine Stimme und diese schlägt nicht durch gegen die Zahlen und Nachweisungen der Geschäftsleute dieser Buchhandlung. 25

Auch das darf als transhistorische Konstante im Autor-Verleger-Verhältnis angese‐ hen werden: Was bedeutet ein noch so brillanter Stil, was bedeutet eine neuartige, aus Anschauung gewonnene Geschichtsschreibung gegen die pekuniären Zahlen der Geschäftsleute! Gregorovius war dennoch höchst verstimmt, zumal „Corsica“ im Ausland in nicht weniger als drei englischen Übersetzungen verbreitet war und ihm auch der greise Alexander von Humboldt einen äußerst lobenden Brief dar‐ über geschrieben hatte, so dass er sich zunächst dem Brockhaus-Verlag zuwandte und erst wieder zu Cotta zurückkehrte, als der Leipziger Verlag nun seinerseits die Herausgabe seiner „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“ abgelehnt hatte, was Georg von Cotta wiederum bereitwillig zusagte – nicht ohne dabei auf Gregoro‐ vius’ „Corsica“ zurückzublicken, doch diesmal nicht durch die scharfe und offenbar doch verzerrende Brille des Geschäftsmannes: Außerdem kann es mir im allgemeinen nur angenehm seyn wenn es gelingen könnte den Verfaßer von Corsica wieder in Verlagsbeziehungen zur J. G. Cottaschen Buchhandlung treten zu sehen, denn ich für meine Person werde hinter keinem Freunde Ihres Corsica in Verehrung dieses Werkes zurückstehen, selbst hinter keinem Engländer, welche in dieser Beziehung sich höher stellen als meine Landsleute. 26

Freilich, die Verkaufszahlen blieben mäßig; 1863, neun Jahre nach Erscheinen des Buches, waren 846 Exemplare abgesetzt, also noch fast ein Drittel der Auflage auf 23 beschwerlichen. 24 Gustav Kolb an Georg von Cotta, 29. März 1855 (DLA Marbach, Cotta-Archiv, Briefe Kolb, Nr. 1084). 25 Georg von Cotta an Gregorovius, 11. Juli 1855 (DLA Marbach, Cotta-Archiv, GelehrtenCopierbuch IV, S. 328). 26 Georg von Cotta an Gregorovius, [ Juni 1858] (DLA Marbach, Cotta-Archiv, Briefe Gre‐ gorovius, Nr. 14a).

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Lager. 27 Erst 1869 ergab sich eine zweite und 1878 dann eine dritte Auflage, denen im 20. Jahrhundert noch etliche Neudrucke folgten. Zum Gehalt seines Werkes äu‐ ßerte sich Gregorovius auch 15 Jahre nach seinem ersten Erscheinen trotz veränderter Zeitumstände noch in genau gleicher Weise; er verstand es als Gegenmittel zu nach wie vor beklagten Dekadenzerscheinungen, auch und gerade in literarischen Dingen: Ich habe mittlerweile schon viele Aushängebogen von Corsica empfangen, worüber ich eine große Freude empfand. Dies Buch lag mir sehr am Herzen: es ist eine schöne Jugend darin. Waldluft und Meeresgeruch aus jener wundervollen Insel, was zu spüren mich gleichsam selbst verjüngte. Es wird nun schneller circuliren, als die erste Auf‐ lage, und wie ich wünsche und hoffe eine kräftigende Lectüre für das aufstrebende Geschlecht sein, zumal gegenüber der vielen faden und entnervenden Feuilleton-Lite‐ ratur, womit auch Deutschland überschwemmt ist. 28

Doch nun zu Gregorovius’ Hauptwerk, der „Geschichte der Stadt Rom im Mit‐ telalter“, die Cotta übernahm, nachdem Brockhaus davor zurückgescheut war; die Dinge hatten also den im Vergleich zum letzten Mal umgekehrten Verlauf genom‐ men. In seinem Antrag vom 20. Mai 1858 knüpfte Gregorovius denn auch zunächst an sein bei Cotta erschienenes „Corsica“ an, machte aber zugleich deutlich, dass es sich bei dem neuen Buch um ein viel gewichtigeres Projekt handele; er erwähnte wohl nicht zufällig seine bislang dreijährige Arbeit daran. 29 Das Werk selbst be‐ schrieb er als ein Unternehmen, das von Verschiedenen seit hundert Jahren be‐ absichtigt, aber nie ausgeführt worden sei, das also den unbestreitbaren Reiz des Neuen für sich haben werde. Auch sei die von ihm universal konzipierte Geschichte Roms im Mittelalter wegen der engen Verbindung mit dem deutschen Kaisertum eigentlich ein Werk von nationalem Interesse. Nach weiteren Angaben zu Inhalt und Umfang des geplanten Großwerks beschrieb er dessen Charakter und Eigen‐ art als „streng wißenschaftlich“, „doch leicht in der Form und allen lesbar“ und verdeutlichte dies in einer Passage, die Georg von Cotta als wesentliche Aussage des Briefes durch Anstreichung markierte: „Es wird das Werk im Charakter ähn‐ lich sein den Arbeiten des Sismondi und Gibbon; ich schreibe es aus allem mir zugänglichen Material, sowol Urkunden als gedruckten Schriften; und ich lebe seit 27 Diese Zahl geht aus einer Übersicht des Verlags zur Rentabilität von Gregorovius’ „Corsica“ hervor (DLA Marbach, Cotta-Archiv, Briefe Gregorovius, Nr. 56a). 28 Gregorovius an Carl von Cotta, 26. Oktober 1869 (DLA Marbach, Cotta-Archiv, Briefe Gregorovius, Nr. 99). – Zu Gregorovius’ „Corsica“ siehe ferner den instruktiven Aufsatz von Francis Pomponi, Gregorovius entdeckt Corsica, in: Ferdinand Gregorovius und Ita‐ lien. Eine kritische Würdigung, hg. von Arnold Esch und Jens Petersen, Tübingen 1993, S. 42–58. 29 Siehe zu den nachfolgenden Zitaten: Gregorovius an Georg von Cotta, 20. Mai 1858, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 1), URL: https:// gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000085.

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6 Jahren in Rom.“ Neben dem Hinweis auf bewährte Vorbilder 30 und umfassen‐ des Quellenstudium scheint mir vor allem Gregorovius’ Betonung seines Wohnorts Rom bemerkenswert. Hatte er schon bei „Corsica“ versucht, die Geschichte eines Volkes „mit seinem Lokale zu vereinen“, so war ihm offenbar auch in diesem Fall, wo es ja um noch viel länger zurückliegende Ereignisse ging, die unmittelbare An‐ schauung der Örtlichkeit, der genius loci, Gewähr für eine intuitive Erfassung seines Gegenstands. Cotta hat diese Argumentation anscheinend nachvollziehen können; jedenfalls würdigte er außer dieser Stelle nur noch Gregorovius’ Honorarforderung einer Anstreichung, solchermaßen das Wesentliche an dem Verlagsantrag bündig zusammenfassend. Der nur im Konzept erhaltene Antwortbrief des Verlegers trägt zwar von frem‐ der Hand das Datum 24. Mai 58, muss aber wohl deutlich danach anzusetzen sein, da Cotta seine verspätete Reaktion mit der „leidigen Grippe“ entschuldigte, die ihn „vier Wochen ans Bett“ gefesselt habe; vermutlich bezeichnet der 24. Mai den Ein‐ gang von Gregorovius’ Schreiben vom 20. 31 Allerdings behauptete Cotta auch, dass er wegen seiner Krankheit den Brief habe diktieren müssen, dabei liegt ein eigen‐ händiges Konzept von ihm vor. Wie dem auch gewesen sei, der Verleger zeigte sich sehr angetan von Gregorovius’ Thematik und durchaus bereit, dessen Buch zu ver‐ legen. Zwar gab er zu bedenken, „dass die J. G. Cotta’sche Buchhandlung sich nicht ganz in ihm personificirt finde“, doch gehen seine Bemerkungen zu Umfang und Form des Werks sowie zu der projektierten Zahl der Bände schon so sehr ins Detail, dass die Entscheidung für eine Übernahme des Manuskripts schon gefallen scheint. Eine dringliche Nachfrage hatte er jedoch, und hier ist das Konzept aussagekräftiger, als es der (offenbar nicht erhaltene) ausgefertigte Brief gewesen wäre. Dort wird es wohl ebenso geheißen haben wie in der endgültigen Fassung des Konzepts: „Ich gehe zu dem Inhalt Ihrer Schrift über.“ Die ursprüngliche und dann gestrichene Ver‐ sion lautete jedoch: „Ich gehe zu den Bedenken über welche der Inhalt Ihrer Schrift hervorruft“. Das Cotta’sche Bedenken bezog sich auf die konfessionelle Neutralität von Gregorovius’ Werk oder anders, dahinter verbarg sich die Befürchtung, es habe eine antikatholische Tendenz, was den Verleger, der um den Absatz seiner Bücher in katholischen Landesteilen fürchtete, zu einer anderen Kalkulation oder gleich zur Ablehnung von Gregorovius’ Antrag gezwungen hätte. Dass es dazu nicht kam, hatte jedoch neben Gregorovius’ beflissenen Versiche‐ rungen noch einen weiteren Grund: Fast mehr noch als für die „Geschichte der 30 Von dem Schweizer Historiker Jean Charles Léonard Simonde de Sismondi (1773–1842) stammt eine umfassende „Histoire des républiques italiennes du Moyen-Age“ (1809– 1818), der britische Geschichtsschreiber Edward Gibbon (1737–1794) verfasste die be‐ rühmte „History of the Decline and Fall of the Roman Empire“ (1776–1789). 31 Siehe zu den nachfolgenden Zitaten: Georg von Cotta an Gregorovius, [ Juni 1858] (wie Anm. 26).

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Abb. 1: Engelbert Seibertz: Der hl. Erlembald empfängt von Papst Alexander II. die Fahne des hl. Petrus und wird zum Gonfaloniere (Bannerträger) der Kirche geweiht. Umrisspause (Sauerland-Museum des Hochsauer‐ landkreises Arnsberg, Inv.-Nr. 81–571)

Stadt Rom im Mittelalter“ interessierte sich der Verleger für die Geschichte der Familie Cotta im Mittelalter, und hier gab es einen Berührungspunkt mit Grego‐ rovius’ Vorhaben. Kaum dass er auf dessen Verlagsangebot zu sprechen gekommen war, schweifte Cotta schon wieder ab: Zufällig ist eben jezt ein großes historisches Bild, von mir vor 2 Jahren bestellt, fer‐ tig geworden wegen deßen ich viel italienische Geschichte getrieben habe. Es ist der Akt wie der heilige Vater Herlembald Cotta, nachdem er an einem Kreuzzug theil genommen, mit der Sturmfahne der katholischen Christenheit betraut, und ihn zum praefectus romanae urbis ernent (anno 1063.) 32

Bei dem Bild handelt es sich um ein offenbar verschollenes Ölgemälde des His‐ torienmalers Engelbert Seibertz (1813–1905), von dem sich immerhin eine Skizze 32 Ebd.

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erhalten hat (Abb. 1), 33 bei Erlembaldo Cotta (gest. 1075) um den politischen und militärischen Führer einer kirchlichen Reformbewegung in Mailand. 34 Georg von Cotta, der Sohn des 1817 geadelten Großverlegers Johann Friedrich Cotta, führte den Ursprung seiner davor im Sächsischen beheimateten Familie auf ein lombar‐ disches Adelsgeschlecht zurück – dem Erlembaldo angehört hatte –, das wiederum seine Ahnen in der altrömischen Familie der Cotta gehabt habe, der unter ande‐ rem die Mutter Julius Caesars entstammte. 35 Folgerichtig kam Georg von Cotta am Ende seines Briefes erneut auf die eigene Familiengeschichte zurück: Nun noch eine Privatangelegenheit zur Bereicherung meiner Studien über die Ge‐ schichte meiner Familie eine Frage. In einem im Morgenblatt abgedruckten Aufsaz Ihrer Hand führen Sie Gian Antonio Cotta als Vizekönig von Corsica im Jahre 1463 an. Ich möchte Sie nun bitten mir zu sagen in welchem Geschichtswerk ich etwas über denselben finden kann, oder aus welchem Sie dieses factum entnommen haben? 36

Von der konfessionellen Neutralität von Gregorovius’ Geschichtswerk überzeugte sich Cotta, nachdem er das Manuskript der ersten beiden Bände begutachtet hatte, ebenso klärten sich im nachfolgenden Briefwechsel die Fragen nach der Zahl der Bände, nach dem voraussichtlichen Zeitpunkt, da das Werk abgeschlossen sein würde, und nicht zuletzt jene des Honorars – auch wenn alle diese Punkte im Nachhinein noch Veränderungen erfahren sollten. Ein stehendes Thema in nahezu allen gewechselten Briefen blieb aber die Cotta’sche Familiengeschichte. Der Ver‐ leger fragte nach, bat um Literaturhinweise, um Abschriften entlegener Chroni‐ ken, und der Historiker erläuterte, lieferte Material, bemühte sich und andere, die Wünsche seines Gegenübers zu erfüllen. Wohl im Bewusstsein, hier einen unmit‐ telbaren Zugang zu dem sonst etwas unnahbaren Cotta gefunden zu haben, postu‐ lierte Gregorovius geradezu: „Den Herlembaldus Cotta [. . . ] will ich im besonderen nach mittelaltriger Weise zum Protector bei Ihnen selber ernannt wißen.“ 37 Georg 33 Zu dem Maler und seinem Verhältnis zu Georg von Cotta siehe Andrea Teuscher, En‐ gelbert Seibertz 1813–1905. Leben und Werk eines westfälischen Porträt- und Histori‐ enmalers, Paderborn 2005, bes. S. 146–148, S. 303–304 und S. 314–315, dort auch eine Abbildung der Skizze. 34 Siehe Jörg W. Busch und Hagen Keller, Erlembaldo, santo, in: Dizionaro Biogra‐ fico degli Italiani, Bd. 43 (1993), URL: https://www.treccani.it/enciclopedia/santoerlembaldo (Dizionario-Biografico, letzter Zugriff 20. 05. 2022). 35 Vgl. Lohrer, Cotta (wie Anm. 2), S. 11. 36 Georg von Cotta an Gregorovius, [ Juni 1858] (wie Anm. 26). – Bei dem angesprochenen Beitrag handelt es sich um die Übersetzung einer Novelle des korsischen Schriftstellers Salvatore Viale (1787–1861), „Das Gelübde des Petrus Cyrnäus“, in: Morgenblatt für ge‐ bildete Leser, Nr. 41–42 vom 7. und 14. Oktober 1855; hier Nr. 41, S. 961. 37 Gregorovius an Georg von Cotta, 22. Juni 1858, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 1), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/let‐ ters/G000116.

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von Cotta ließ sich diese Schirmherrschaft seines angeblichen Vorfahren über das Gregorovius’sche Projekt gern gefallen und sprach nur die Erwartung aus: „Werden wir einig über die Geschichte Roms im Mittelalter, wie ich hoffe und wünsche, so darf ich wohl auch hoffen, daß Sie Herlembald in derselben, wenn auch ganz kurz, anführen“. 38 Und ebenso ahnenstolz erkundigte er sich nach den Schicksalen des zweiten von Gregorovius erwähnten Cotta, die dieser einer etwas obskuren italie‐ nischen Darstellung entnahm: „Der Auszug aus Limperani wird mir willkommen sein, wie jede Andeutung auf Gianantonio, weil der Mahler, der Herlembald’s Be‐ lehnung mit dem Gonfalon der katholischen Kirche ausgeführt hat, gerne an die Landung Gianantonios in Corsica ginge.“ 39 Der Maler war wie gesagt Engelbert Sei‐ bertz, der sich Cotta durch einen Illustrationszyklus zu Goethes „Faust“ empfohlen hatte und nun offenbar mit einer fiktiven Ahnengalerie der Cottas beauftragt war. Außer dem damals schon fertiggestellten Gemälde zu Erlembaldo verfolgte man noch ein Projekt zum Thema „Bonaventura Cotta erhält von Kaiser Sigismund ein neues Wappenschild“, das dann doch nicht realisiert wurde; allerdings hat sich eine Kompositionsstudie dafür im Cotta-Archiv erhalten (Abb. 2). Neben dieses Vorha‐ ben schob sich nun der durch Gregorovius ins Spiel gebrachte Gian Antonio Cotta. Zwar reagierte Seibertz zunächst reserviert auf das neue Thema: „Des Vicekönigs Gian Ant. Cotta Landung in Corsica muß wohl auch ein guter Gegenstand seyn, ich kenne aber die Zeit nicht, da ich den Namen im Stammbaum nicht gefunden.“ 40 Bald aber ließ er sich von Cottas Begeisterung anstecken, wohl auch, um den gut dotierten Auftrag nicht zu verlieren: Sehr große Freude hatte ich über Ihre freundliche Mittheilung, daß Sie für Ihr zweites Bild eine feste Wahl getroffen und zwar eine so dankbare für die malerische Darstel‐ lung. Herr Gregorovius wird das versprochene Geschichtsbuch wohl bald senden, und ich werde dann nicht säumen, Ihnen meine Auffassung einer entsprechenden Skizze vorzulegen. Wie sehr ich mich auf die Arbeit freue; wie gleich wichtig diese Aufträge, mit denen Sie mich beehren, für meine geistige Anregung, wie das materielle meiner Existenz sind, diß bedarf wohl keiner Versicherung. 41

Letztlich musste Seibertz auf die geistige Anregung verzichten und das Materielle seiner Existenz anderweitig bestreiten, denn aus dem Auftrag wurde dann doch nichts, so dass der korsische Vizekönig in der Cotta’schen Familiengeschichte un‐ 38 Georg von Cotta an Gregorovius, 18. August 1858 (DLA Marbach, Cotta-Archiv, Briefe Gregorovius, Nr. 18a). 39 Ebd. 40 Engelbert Seibertz an Georg von Cotta, 5. April 1858 (DLA Marbach, Cotta-Archiv, Briefe Seibertz, Nr. 86). 41 Engelbert Seibertz an Georg von Cotta, 26. Juli 1858 (DLA Marbach, Cotta-Archiv, Briefe Seibertz, Nr. 89).

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Abb. 2: Engelbert Seibertz: Bonaventura Cotta erhält von Kaiser Sigismund ein neues Wappenschild. Komposi‐ tionsstudie (DLA Marbach. Cotta-Archiv, Briefe Seibertz, Nr. 84a)

verherrlicht blieb; er hätte einen hübschen Bogen zurück zu Gregorovius’ Erstlings‐ werk bei Cotta geschlagen. Stattdessen gingen die Verhandlungen zur Übernahme von Gregorovius’ Haupt‐ werk weiter; sie sollten bei aller grundsätzlichen Übereinstimmung doch nicht ganz harmonisch verlaufen. In seine Zusage, die reichlich Weihrauch für Gregorovius streute: Mein Erstes war es mir das Manuscript der zwei ersten Bände Ihrer Geschichte Roms im Mittelalter geben zu lassen, und diese zu durchlesen. Gestern Nacht bin ich da‐ mit zu Ende gekommen, und zwar mit hohem und anerkennungsvollem Beifall für Ihre grandiose Leistung. Einzelne Persönlichkeiten treten einem in plastischer Wirk‐ lichkeit aus Ihrem Werke entgegen und das Ganze macht einen imponierenden Ein‐ druck. 42 42 Georg von Cotta an Gregorovius, 18. August 1858 (wie Anm. 38).

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– in diese Lobeshymne mischte Cotta eine im Grunde unbegreifliche Taktlosigkeit, die sich allenfalls daraus erklären lässt, dass er die Produktion seines Verlags geistig nach verschiedenen Sparten ordnete, die jeweils von einem maßgebenden Autor be‐ stimmt wurden, in gleicher Weise wie es Lieselotte Lohrer in ihrer Verlagsgeschichte hundert Jahre später retrospektiv darstellen sollte. Zur Geschichtsschreibung im Cotta-Verlag heißt es da nach Erwähnung der historischen Schriften von Jakob Philipp Fallmerayer, Andreas David Mordtmann und Onno Klopp: „Der Höhe‐ punkt jedoch wurde erreicht mit Leopold von Rankes ‚Französischer Geschichte‘ (1852–62), einem seiner Meisterwerke. Dazu trat die nicht minder berühmte ‚Ge‐ schichte der Stadt Rom im Mittelalter‘ von Ferdinand Gregorovius.“ 43 Bei Georg von Cotta hörte sich das allerdings noch nicht so gleichrangig an, vielmehr lautet der Anschlusssatz an die oben zitierte Preisrede: „Im Style haben Sie Ranke sich genähert, wie mir scheint, ihn aber nicht ganz erreicht. Uebrigens gebe ich zu, daß es nicht blos einen historischen Styl gebe, wenn uns gleich ein idealer Prototyp des‐ selben vorschwebt, mit dessen Maas man zu messen gewohnt ist.“ 44 In seinem Ant‐ wortbrief verwahrte sich Gregorovius energisch und mit Selbstgefühl gegen diese Einordnung, nachdem er zunächst seiner grundsätzlichen Befriedigung über die er‐ zielte Einigung Ausdruck verliehen hatte: Möchte nun das Werk glücklich fortgehn, und ich dem ersten Verlag Deutschlands die Mittel verdanken, es der Aufgabe würdig zu vollenden! Wenn es ein ganzes sein wird, mag es in sich beweisen, daß Stil und Behandlung ihm angemeßen ist; die Stoffe erzeugen aus ihrem eignen Wesen und Element den Stil, das Individuum thut nur den einen Teil dazu. Ich bin nicht Schüler Herrn Ranke’s (es zu sein würde mir gewiß Ehre bringen); meine Individualität ist gänzlich von der Weise des berühmten Mannes ver‐ schieden, und ich verfolge allein meinen Weg. Ich suche Forschung und künstlerische Darstellung zu vereinigen, und wünsche auch, daß man mir zugäbe, die Kunst des Er‐ zählers zu besitzen, welche in Deutschland nicht häufig ist. 45

Georg von Cotta mag sich bei diesen selbstbewussten Worten der Einschätzung sei‐ nes Chefredakteurs Gustav Kolb erinnert haben, der ihm Gregorovius mehrfach als derzeit brillantesten Stilisten Deutschlands angepriesen hatte; zudem bestätigte ja das Korsika-Buch trotz der noch ausstehenden zweiten Auflage die von Gregoro‐ vius beanspruchte Fähigkeit des Erzählens und der künstlerischen Darstellung – Cotta kam jedenfalls nicht mehr auf die Stildiskussion und daraus resultierende Rangfolgen zurück. Eine ganz unkünstlerische Rangfolge ergab sich allenfalls in 43 Lohrer, Cotta (wie Anm. 2), S. 108. 44 Georg von Cotta an Gregorovius, 18. August 1858 (wie Anm. 38). 45 Gregorovius an Georg von Cotta, 25. August 1858, in: Gregorovius, Gesammelte deut‐ sche und italienische Briefe (wie Anm. 1), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/ letters/G000114.

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der Honorierung der beiden Historiker: Ranke erhielt 5 Friedrichsd’or für den Bogen, Gregorovius in etwa 4, wobei die Auflage im ersten Fall 1.500, im zweiten nur 1.000 Exemplare betrug; dennoch kam es bei Ranke schneller zu einer zweiten Auflage als bei Gregorovius: dort dauerte es bei den einzelnen Bänden zwischen drei und sechs, hier zwischen zwei und zehn Jahren, wobei sich die Zeitspannen bei Gregorovius zunehmend verkürzten, wohingegen Rankes französische Geschichte nach der zweiten Auflage in den Verlag von Duncker & Humblot überging, wo sie noch etliche weitere Auflagen erlebte. 46 Buchhändlerisch gesehen war also Ranke zunächst das bessere Geschäft für Cotta, allerdings holte Gregorovius mit der Zeit auf und dürfte sich angesichts der zahlreichen Nachauflagen für den Verlag län‐ gerfristig mehr gelohnt haben. Hinsichtlich der Leserakzeptanz, die sich ja hinter diesen kaufmännischen Zahlen verbirgt, stand es also so ziemlich unentschieden zwischen dem „Historiker für Touristen“ und dem Verfasser von Anmerkungen zu historischen Bildergalerien. 47 Festhalten kann man jedenfalls, dass es goldene Zeiten für Historiker und ihre Bücher waren, selbst wenn sie allesamt hinsichtlich Auflagen und Honorierung (zehn Friedrichsd’or pro Bogen!) weit im Schatten des uneinholbar enteilten Alexander von Humboldt standen. 48 Es bleibt noch ein etwas grotesker Nachtrag, der wie ein satirischer Kommentar zu Cottas Ahnenstolz anmutet. Gregorovius hatte ja versprochen, den von Georg von Cotta als Vorfahr beanspruchten Erlembaldo Cotta zu gegebener Zeit in sei‐

46 Diese Zahlen lassen sich den Verlagsverträgen der beiden Historiker mit Cotta entnehmen (Rankes vom 29. September 1851, Gregorovius’ vom 5. September 1858, DLA Marbach, Cotta-Archiv, jeweils Verträge 1). Während darin bei Ranke fünf Friedrichsd’or für den Bogen festgelegt sind, sollte Gregorovius 600 Taler pro Band bekommen, der 25 bis 30 Bogen umfassen sollte. 600 Taler entsprechen 120 Friedrichsd’or; da Gregorovius’ erste beide Bände aber jeweils 34 Bogen umfassen (die späteren noch mehr), kam er auf weni‐ ger als 4 Friedrichsd’or für den Bogen, bei allerdings geringerer Auflagenhöhe, auch gab es später noch Zusatzzahlungen. – Die fünf Bände von Rankes „Französischer Geschichte“ erschienen in erster / zweiter Auflage in den folgenden Jahren: Bd. 1 (1852/1856), Bd. 2 (1854/1857), Bd. 3 (1855/1859), Bd. 4 (1856/1862), Bd. 5 (1861/ – ). Die acht Bände von Gregorovius’ „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“ erschienen in erster / zweiter / dritter Auflage in folgenden Jahren: Bd. 1 (1859/1869/1875), Bd. 2 (1859/1869/1875), Bd. 3 (1860/1870/1876), Bd. 4 (1862/1870/1877), Bd. 5 (1865/1871/1878), Bd. 6 (1867/1871/1878), Bd. 7 (1870/1873/1880), Bd. 8 (1872/1874/1881). Insgesamt er‐ schienen bei Cotta sieben Auflagen des Werks. 47 Siehe zu diesen wechselseitigen Malicen der beiden Historiker den Kommentar Steinsieks zu dem Brief von Gregorovius an Cotta vom 25. August 1858, in: Gregorovius, Gesam‐ melte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 1), URL: https://gregorovius-edition. dhi-roma.it/letters/G000114. 48 Vgl. Lohrer, Cotta (wie Anm. 2), S. 119.

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nem Werk zu würdigen. Im vierten Band war es nun soweit und am 14. Januar 1862 meldete der Historiker Vollzug: Der Miles Sancti Petri Herlembaldus Cotta hat als einer der bedeutendsten Charak‐ tere jener Zeit seine passende Stelle gefunden. Gibt es für Ihre Familie keine Docu‐ mente, welche deren Zusammenhang mit den Mailändern beweisen? In diesem Falle hätte ich mich in einer Note darauf bezogen; so aber mußte ich davon abstehen, weil man mir dies als Schmeichelei würde ausgelegt haben. Die Mailänder Cotta’s hatten im Wappen eine Art von Wams, aber die Ableitung des Namens von dem hebräischen ‚Kot‘, das heißt Kleid, scheint mir allzu gesucht. Sicher kam das Geschlecht in altrömi‐ scher Zeit mit Colonien herüber. Es hat auch Männer der Wissenschaft erzeugt, auch einen Poeten. 49

Georg von Cotta scheint von der hebräischen Etymologie seines Namens nicht erbaut gewesen zu sein, auch dürften ihm die klanglichen Assoziationen dieser Herleitung Unbehagen bereitet haben, jedenfalls versicherte Gregorovius gleich im nächsten Brief, dass er Cottas „Wunsch gemäß die das Wappen der Mailänder Cotta betreffende Stelle, und die Puricelli’sche Namenserklärung“ weglassen werde. 50 Stattdessen findet sich im Buchtext nach der Erwähnung der Mailänder Cottas eine Bemerkung, die den Bogen vom Mittelalter in die Gegenwart schlägt: „Wann die Cotta nach Deutschland einwanderten, ist mir unbekannt. Dieser altrömische und mailändische Name ziert den Titel dieser Geschichte der Stadt Rom.“ 51 Hatte Gregorovius früher davon gesprochen, dass Erlembaldo Cotta ihm zum Protector bei Georg von Cotta werden solle, so war diese Schirmherrschaft über Autor und Werk nun auf die neuzeitliche Verlegerfamilie übergegangen. Carl von Cotta (1835–1888), der Sohn des im Jahr darauf verstorbenen Georg von Cotta, sollte sie getreulich bis zum achten und letzten Band der „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“ samt allen ihren Nachauflagen ausüben, ebenso wie über die ande‐ ren historischen Schriften Ferdinand Gregorovius’, die allesamt unter dem Signet der J. G. Cotta’schen Buchhandlung erschienen. Und auch der Autor wars zufrie‐ den. In einem Brief an Ludwig Friedländer vom 1. September 1869 heißt es: „Ich bin doch sehr glücklich in diese Cottasche Verbindung getreten zu sein. Dies sind wahrhafte gentlemen, die ich nur preisen kann.“ 52 49 Gregorovius an Georg von Cotta, 14. Januar 1862, in: Gregorovius, Gesammelte deut‐ sche und italienische Briefe (wie Anm. 1), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/ letters/G000141. 50 Gregorovius an Georg von Cotta, [nach dem 14. Januar 1862], ebd., URL: https://grego‐ rovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000143. 51 Ferdinand Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter, Bd. 4, Stuttgart 1862, S. 123. 52 Gregorovius an Ludwig Friedländer, 1. September 1869, in: Ferdinand Gregorovius, Briefe nach Königsberg, hg. von Dominik Fugger und Nina Schlüter, München 2013, S. 94.

„Mentre loro godono le tiepide aure di Ronzano, 1 noi altri . . . “ Ferdinand Gregorovius in seinen Briefen an Giovanni Gozzadini Katharina Weiger

Spero, che Ella, gentilissimo signor Conte, abbia passato bene l’estate su quelle graziose alture di Ronzano, di dove il mondo si mira come cosa astronomicamente bassa. E così si devono mirare tutte le cose della vita, direbbe Paolo [Perez], e diciamo forse anche noi altri senza alcuna misantropia. 2

Wie das Zitat im Titel des hier vorliegenden Beitrags stammen auch diese Zeilen aus einem Brief von Ferdinand Gregorovius an den Bologneser Grafen Giovanni Gozzadini (1810–1887). Und wie viele weitere Erinnerungen, Beschreibungen und Vergleiche in seinen Schreiben sowie in seinem Tagebuch referieren sie auf einen Ort, der im Leben von Gregorovius aus vielerlei Hinsicht eine bedeutende Rolle spielte: Ronzano, circa zwei Kilometer südlich von Bologna auf einem Hügel ge‐ legen (Abb. 1) und im Jahre 1140 von einer Bologneser Adligen als Einsiedelei gegründet, 3 war zu Gregorovius’ Zeit der Sommerwohnsitz seiner Freunde, der Familie Gozzadini, und wenn nicht schon allein deshalb, dann spätestens wegen 1 „Während sie die laue Atmosphäre von Ronzano genießen, wir unsererseits. . . “. Ich danke Cristina Firriolo für ihre Hilfe bei der Übersetzung der Zitate sowie Katharine Stahl‐ buhk für ihre kritische Lektüre meines Beitrags. – Ferdinand Gregorovius an Giovanni Gozzadini, 3. Oktober 1877, in: Ferdinand Gregorovius, Poesie und Wissenschaft. Ge‐ sammelte deutsche und italienische Briefe (digitale Edition), hg. von Angela Steinsiek, hier unter Mitarbeit von Katharina Weiger, Deutsches Historisches Institut in Rom 2017– 2023, URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/ed_ihq_vnd_ykb. 2 „Ich hoffe, dass Sie, lieber Herr Graf, den Sommer gut auf den anmutigen Höhen von Ronzano verbracht haben, von wo aus man die Welt als etwas astronomisch Niedriges betrachtet. Und so muss man alle Dinge des Lebens betrachten, so würde [Gregorovius’ Freund] Paolo [Perez] sagen, und wir anderen vielleicht auch, ohne jegliche Misanthropie.“ Ferdinand Gregorovius an Giovanni Gozzadini, 5. Oktober 1868, ebd., URL: https://gre‐ gorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000440. 3 Nach der Gründung der Einsiedelei durch Cremonina de’ Piatesi ließ deren Urenkelin Raimondina 1209 an diese angrenzend eine kleine, der Heiligen Dreifaltigkeit geweihten Kirche errichten. Zur Gründung und Geschichte Ronzanos bezugnehmend auf Vincenzo Lucchese Salati, L’eremo bolognese di Ronzano. Da sede dei frati Gaudenti a residenza ottocentesca dell’archeologo conte Giovanni Gozzadini, in: Architettura eremitica. Sistemi progettuali e paesaggi culturali, hg. von Stefano Bertocci und Sandro Parrinellon, Florenz 2012, S. 338–345, hier S. 340.

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seiner Abgelegenheit in schönster emilianischer Landschaft Sehnsuchtsort für den Deutschen. Im 13. Jahrhundert im Besitz des Ritterordens der Frati Gaudenti 4 und ab dem späten 15. Jahrhundert in jenem der Dominikaner, fiel Ronzano im Zuge der napoleonischen Unruhen 1798 in Privatbesitz und konnte 1848 vom Grafen und der Gräfin Gozzadini erworben werden. 5 Sie restaurierten Kloster und Kir‐ che nach Ratschlägen befreundeter Restauratoren und Architekten 6 und machten den Ort, dessen eklektische Ausstattung an Residenzen wie beispielsweise jene des Frederick Stibbert (1838–1906) in Florenz denken lässt (Abb. 2), 7 zu einem der Treffpunkte der Intellektuellen Bolognas, Italiens und des Auslandes. Ronzano war für Gregorovius folglich ein wichtiger Anlaufpunkt, um am gesellschaftlichen Le‐ ben der Wissenschaftler, Politiker und Künstler seines Gastlandes teilzunehmen. 8 Im Salon der Gozzadinis konnte er Kontakte für seine Forschungsreisen und Ar‐ chivarbeiten knüpfen sowie nicht zuletzt auch auf sich aufmerksam machen. Dass 4 1277 überließ Loderingo degli Andalò (ca. 1210–1293/1295) Einsiedelei und Kirche dem Ritterorden Milizia dei Frati Gaudenti, an dessen Gründung er beteiligt gewesen und wel‐ cher 1261 von Papst Urban IV (vor 1200–1264) anerkannt worden war. Siehe Lucchese Salati, L’eremo bolognese di Ronzano (wie Anm. 3), S. 340. Ronzano wurde zum ersten Sitz des Ordens. Von dort breitete er sich in vielen Städte der Lombardei, Toskana, Ro‐ magna und in der Marca Trevigiana aus. Mit dem Tod seines letzten Mitglieds starb die Bruderschaft im Jahre 1589 aus. Siehe Thomas Turley, Frati Gaudenti, in: Medieval Italy. An encyclopedia, Bd. 1, A to K, hg. von Christopher Kleinhenz, New York, London 2004, S. 380–381. 5 Die Dominikaner erwarben den Klosterkomplex 1475, erweiterten ihn 1480 und ließen die vergrößerte Kirche ihrem Mitbruder und Heiligen Vincenzo Ferreri (1350–1419) weihen. In diese Zeit der Umbauten fällt auch die dekorative Ausschmückung mit Fresken, die Ma‐ lern der Bologneser Schule – Francesco Francia (um 1447–1517), Bartolomeo Ramenghi (1484–1542), Amico Aspertini (1474/75–1552) und deren Schülern – zugeschrieben wer‐ den. Siehe Lucchese Salati, L’eremo bolognese di Ronzano (wie Anm. 3), S. 340–342. Zum notariellen Erwerb der Immobilie durch die Gräfin am 30. September 1848 siehe Re‐ nato Santi, Giovanni Gozzadini a Ronzano. La redenzione dello storico eremo, in: Strenna storica bolognese, Jg. 22, Bologna 1972, S. 329–384, hier S. 337–338. 6 Unter anderem Alfonso Rubbiani (1848–1913) und Camillo Boito (1836–1914), siehe Lucchese Salati, L’eremo bolognese di Ronzano (wie Anm. 3), S. 342–343. Inwiefern Ronzano in den Jahren nach dem Ankauf durch die Gozzadinis in politische Entwicklun‐ gen involviert war, beispielsweise durch die Okkupation österreichischer Truppen im Jahre 1849, und welche weiteren Schicksalsschläge die Grafen hinsichtlich ihrer Einsiedelei er‐ tragen mussten, ist ausführlich beschrieben von Renato Santi, I Gozzadini all’eremo di Ronzano nella luce del Risorgimento, in: Strenna storica bolognese, Jg. 23 und 24, Bologna 1973 und 1974, S. 279–318 und S. 279–305. 7 Vgl. den Anhang mit Fotografien von Massimo Listri in: Simona di Marco, Frederick Stibbert. 1838–1906. Vita di un collezionista, Turin [u. a.] 2008, S. 133–164. 8 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Text verallgemeinernd das generische Mas‐ kulinum verwendet. Dieses umfasst gleichermaßen weibliche, männliche und nichtbinäre Personen; alle sind selbstverständlich gleichberechtigt angesprochen.

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Abb. 1: Villa Ronzano, Außenansicht mit sitzendem Giovanni Gozzadini 1887 (Bologna, Biblioteca dell’Archi‐ ginnasio, Carte Gozzadini e Da Schio, 74.10.3)

Ronzano schließlich sogar zum Gegenstand einer seiner essayistischen Abhandlun‐ gen wurde, hat darüber hinaus einen weiteren, ganz spezifischen Grund, doch dazu später mehr. Zu den rund 650 italienischen, größtenteils unbekannten Briefen von Gregoro‐ vius zählen auch seine Schreiben an den Grafen Gozzadini sowie an dessen Frau Ma‐ ria Teresa Serego Alligheri Gozzadini (1812–1881). Ihre Korrespondenz umfasst drei Jahrzehnte, ist thematisch vielfältig und, was im Fall von Gregorovius durchaus bemerkenswert ist, heute noch erhalten, zum Großteil in Abschriften, aber auch in Autografen. Damit ist das Konvolut an Gregorovius-Briefen, die nach Bologna zu den Freunden gingen, eines der größten unter den italienischen Korrespondenzen und es nicht nur aufgrund der historischen Relevanz seiner Verfasser, sondern auch wegen seiner inhaltlichen Bandbreite wert, eingehender untersucht zu werden. Be‐ vor hier jedoch die Briefe und insbesondere deren Archivgeschichte ins Zentrum rücken, sind die zwei Korrespondenten von Gregorovius, welche sowohl auf pri‐ vater als auch beruflicher Ebene zu seinen wichtigsten Bezugspersonen in Italien zählten, vorzustellen. Giovanni Gozzadini wird am 15. Oktober 1810 als Nachkomme einer der ältes‐ ten, illustren Häuser Bolognas, welches „schon in den Tagen des Kaisers Barbarossa

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Katharina Weiger Abb. 2: Villa Ronzano, In‐ nenansicht aus der Zeit des Besitzes der Familie Da Schio mit der Originalein‐ richtung der Gozzadinis 1905–1921 (Bologna, Bi‐ blioteca dell’Archiginnasio, Carte Gozzadini e Da Schio, 67.12.6)

namhaft gewesen war, und große Epochen der Republik Bologna in Erinnerung bringt“ 9, ebendort geboren. 10 Er erfährt eine private Ausbildung und interessiert sich, die Bibliothek des Vaters und das Familienarchiv nutzend, bereits in jungem Alter für die Lokalgeschichte seiner Heimatstadt und das archivarische Erbe seiner Vorfahren. Diesem Interesse folgen ab 1835 Publikationen zur Familien- und Stadt‐ geschichte. Im Jahre 1841 heiratet Giovanni seine Cousine Maria Teresa Serego

9 Ferdinand Gregorovius, Die Villa Ronzano. Ein Musensitz der Gozzadini von Bolo‐ gna, in: Nord und Süd. Eine deutsche Monatsschrift, Bd. 23, H. 69, Breslau, Berlin 1882, S. 312–321, hier S. 313. 10 Für die biographische Einführung zu Giovanni Gozzadini bezugnehmend auf Maria Gra‐ zia Bollini, Il fondo speciale Carte Gozzadini e Da Schio della Biblioteca comunale dell’Archiginnasio, in: L’Archiginnasio, Bd. 114, Bologna 2019, S. 245–328, hier S. 264– 266.

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Allighieri. 1845 kommt ihre gemeinsame Tochter Gozzadina Gozzadini (†1899) zur Welt; ein 1842 geborener Sohn verstarb mit drei Monaten. Auf seinem Grundstück in Villanova di Castenaso, im Umkreis Bolognas, ent‐ deckt der Graf 1853 Spuren einer frühen, eisenzeitlichen Kultur, eine weitere archäologische Kampagne leitet er in den 1860er Jahren in Marzabotto, ebenfalls Bologneser Provinz, wo er Reste einer Nekropole ausfindig macht. Seine Entde‐ ckungen dokumentiert Gozzadini in zahlreichen Veröffentlichungen. 11 Zunächst Präsident der Commissione per i musei, biblioteche ed archivi wird er 1882 Generaldirektor des Museo civico di Bologna und ist zeit seines Lebens Präsident der Deputazione di storia patria per le province di Romagna sowie füh‐ rendes Mitglied verschiedener kulturerhaltender Kommissionen. 12 Darüber hinaus betätigt sich der Archäologe und Historiker politisch sowohl auf lokaler als auch auf nationaler Ebene, zunächst als Stadtrat für Bologna, 1859 als Abgeordneter der Romagna und schließlich ab 1860 als Senator für das Königreich Italien. Gozzadini ist Träger mehrerer Ordenstitel und seit 1881 Mitglied der Accademia dei Lincei. Er stirbt am 25. August 1887 in seinem Anwesen in Ronzano und hinterlässt neben seinen wissenschaftlichen Errungenschaften einen beachtlichen Grundbesitz, eine Kunstsammlung, zahlreiche Grabungsobjekte, eine Bibliothek und das Familienar‐ chiv. Neben Giovanni ist dessen Ehefrau Maria Teresa eine wichtige Bezugsperson für Gregorovius und vor allem seine erste Anlaufstelle, wenn es um einen ihrer Cousins, namentlich den Dante-Forscher Paolo Perez (1822–1879), geht. Diesem Freund, dessen Eintritt in den Rosminianer-Orden Gregorovius tief bedauert und den er in einem seiner Briefe an die Gräfin als „un uomo par suo, di mente filosofica e di vena da poeta“ 13 beschreibt, hat er seine in den 1850er Jahren beginnende Bekanntschaft zum Hause Gozzadini zu verdanken. 14

11 Unter anderem Giovanni Gozzadini, Di un sepolcreto etrusco scoperto presso Bologna. Relazione del conte Giovanni Gozzadini, Bologna 1854; Ders., Di un’antica necropoli a Marzabotto nel bolognese. Relazione del conte Giovanni Gozzadini, Bologna 1865. 12 Commissione consultiva conservatrice dei monumenti d’arte ed oggetti d’antiquariato della provincia di Bologna (Vizepräsident), Commissione consultiva conservatrice dei monu‐ menti d’arte e oggetti di antichità di Bologna (Präsident), Direzione generale degli scavi (Inspektor), Commissario per i musei e gli scavi dell’Emilia e delle Marche (Kommissions‐ mitglied). Siehe Bollini, Il fondo speciale Carte Gozzadini e Da Schio (wie Anm. 10), S. 264. 13 „ein Mann wie er selbst, mit einem philosophischen Verstand und der Ader eines Dichters“, in: Gregorovius an Maria Teresa di Serego Alighieri Gozzadini und Giovanni Gozzadini, 28. Oktober 1864, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 1), hier unter Mitarbeit von Anna Maria Voci, URL: https://gregorovius-edition. dhi-roma.it/letters/ed_fjk_4wf_t4b. 14 Siehe Gregorovius, Die Villa Ronzano (wie Anm. 9), S. 317.

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Maria Teresa Serego Allighieri (auch Alighieri), Tochter einer Veroneser Adels‐ familie und Nachfahrin Dante Alighieris (1265–1321), wird am 8. Dezember 1812 in Verona geboren und zunächst im Convento della Visitazione in Venedig auf‐ gezogen. 15 Anschließend erfährt sie ihre Bildung durch ihre charakterstarke und patriotisch engagierte Mutter, Anna Da Schio (1791–1829), nach deren Tod sie die Tradition eines im eigenen Haus untergebrachten Salons für Literaten und Pa‐ trioten fortführt, ab 1841 auch als Gattin des Grafen Gozzadini in Ronzano. Maria Teresa unterstützt die archäologischen Vorhaben ihres Mannes und übernimmt fe‐ derführende Aufgaben bei den Ausgrabungen in Villanova. Die Gräfin stirbt nach kurzer Krankheit am 25. September 1881 in Bologna. Die Archivgeschichte von Gregorovius’ Schreiben an die Familie Gozzadini ist kompliziert. Sie lässt sich nicht durch einen unmittelbaren Eingang ins Archiv er‐ zählen, ist Gegenstand familiärer Erbstreitigkeiten und wirft, da der Großteil der Briefe nur in Abschriften von fremder Hand überliefert ist, Fragen auf. Dabei be‐ ginnt die Geschichte im Jahre 1889 schlicht mit einer wohlgemeinten Schenkung: 16 Um das Andenken ihres Vaters zu ehren und der Heimatstadt Glanz zu verleihen, vermacht Gozzadina Gozzadini Zucchini 17 das Familienarchiv, die Bibliothek und die Waffensammlung sowie die von den Eltern aufgefundenen, archäologischen Objekte der Gemeinde Bologna. Die Stadt nimmt den Nachlass an und verpflichtet sich, bei räumlicher Kapazität, das Material unter dem Namen „Museo e Biblioteca Gozzadini“ im Museo civico auszustellen. 1890 lässt Gozzadina das Inventar des Fa‐ milienarchivs, geordnet durch den Juristen und späteren Direktor des Staatsarchivs von Bologna (1924–1929) Umberto Dallari (1865–1930), publizieren 18 und über‐ gibt, um das Werk des Vaters mittels einer Veröffentlichung bekannt zu machen, Giovanni Gozzadinis Korrespondenz zur Sichtung, Auswahl und Abschrift mög‐ licher zu veröffentlichender Briefe dem Grafen Nerio Malvezzi (1856–1929). 19 1898 erscheint der erste Band der „Lettere di storia e di archeologia a Giovanni

15 Hier und für das Folgende bezugnehmend auf Bollini, Il fondo speciale Carte Gozzadini e Da Schio (wie Anm. 10), S. 272–273. 16 Ebd., S. 246. 17 Die Tochter von Giovanni und Maria Teresa hatte 1865 den Grafen Antonio Zucchini (* 1846) geheiratet, von dem sie sich bereits nach fünf Jahren zivilrechtlich trennte, siehe ebd., S. 276 und den diesbezüglichen Kommentar zum Brief von Gregorovius an Maria Teresa Serego Alighieri Gozzadini und Giovanni Gozzadini, 28. Oktober 1864, in: Gre‐ gorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 1), URL: https://gre‐ gorovius-edition.dhi-roma.it/letters/ed_ fjk_4wf_t4b / nq3y_vdb_wrb. 18 Umberto Dallari, L’archivio della famiglia Gozzadini. Riordinato per cura della contessa Gozzadini Gozzadini Zucchini, Bologna 1890. 19 Siehe ebd., S. 15.

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Gozzadini“, 20 der die Briefe aus den Jahren 1820–1864 umfasst; ein zweiter sollte die Schreiben aus den Jahren 1865–1887 enthalten, wird allerdings nie publiziert. 21 Ebenfalls im Jahre 1898 erheben Verwandte der 1881 verstorbenen Maria Te‐ resa Gozzadini, die Da Schios, den Vorwurf, aufgrund schwerer gesundheitlicher Probleme sei deren Tochter, die Gräfin Gozzadina, nicht in der Lage, das Ver‐ mächtnis der Eltern zu verwalten und fordern ihre gerichtliche Entmündigung, welcher jedoch nicht stattgegeben wird. 22 Daraufhin verfasst Gozzadina am 9. De‐ zember 1898 heimlich ihr Testament und benennt die Zentralverwaltung der Bo‐ logneser Krankenhäuser als Universalerbin ihres Nachlasses. Mit einem zweiten, öffentlichen Testament (24. Februar 1899) bestätigt sie das vorherige und erklärt, mit dem eingesetzten Universalerben habe sie das Ospedale Maggiore di Bologna gemeint. Wenige Tage später, am 3. März 1899, verstirbt sie. Die Eröffnung der zwei Testamente offenbart, dass die Gräfin ihren beiden engsten Mitarbeitern ein beachtliches und höherwertiges Erbe vermacht hat als jenes, welches den Da Schios zusteht, was in der Öffentlichkeit und der lokalen Presse für Aufsehen sorgt. Nicht zu dem Erbe gehört die von der Gozzadina bereits 1889 der Stadt Bologna zuge‐ sprochene Schenkung, sprich das Archiv, die Bibliothek, die Grabungsobjekte und die Waffensammlung. Da die Gemeinde ihrer Verpflichtung einer Einrichtung des Nachlasses im Museo civico zum Todesdatum der Gräfin allerdings noch nicht nachgekommen ist, verbleiben die Sammlungen und das Archiv, deren Trennung testamentarisch untersagt worden war, bis Ende Juli 1902 im Palazzo Gozzadini in der Via Santo Stefano 58. Ab diesem Zeitpunkt beginnen die Arbeiten in der Biblioteca dell’Archiginnasio, wo im zweiten Stock drei Räume für einen Teil des Nachlasses der Gozzadinis freigelegt werden. Die Schenkung der Gozzadina geht schließlich unter dem Namen „Archivio“ und „Raccolta Gozzadini“ im Septem‐ ber 1902 in die kommunale Bibliothek Bolognas ein. Dieser archivarische Bestand ist für die Gregorovius-Briefedition deshalb von Bedeutung, weil er neben wertvollen Handschriften und Arbeitsmaterialien von Giovanni Gozzadini auch einen Teil von dessen Korrespondenz enthält. 23 Die al‐ phabetisch nach Absendern geordneten Briefe sind in fünf Kartons aufbewahrt,

20 Lettere di storia e archeologia a Giovanni Gozzadini, hg. von Nerio Malvezzi, con prefa‐ zione di Giosuè Carducci, Bd. 1, Bologna 1898. 21 Siehe Bollini, Il fondo speciale Carte Gozzadini e Da Schio (wie Anm. 10), S. 246. 22 Das Gericht bestätigt das am 22./23. August 1898 ausgesprochene Urteil mit der Zurück‐ weisung dieser Forderung nach einer durch den Staatsanwalt eingelegten Berufung am 25. November endgültig, siehe ebd., S. 246–247; für das Folgende ebd. 23 Für einen kontinuierlich aktualisierten Überblick zum Bestand, seinem Inhalt und eine ausführliche Bibliografie siehe http://badigit.comune.bologna.it/fondi/fondi/136.htm (letzter Zugriff 20. 05. 2022).

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wobei die Briefe von Gregorovius unter der Signatur Gozz. 442 zu finden sind. 24 Dabei handelt es sich um 53 Briefe aus den Jahren 1867–1886, nur drei davon Autografen (Abb. 3), 50 in Abschriften einer anderen Hand. Die Tatsache, dass auch die Briefe der anderen Absender in Gozzadinis Nachlass Abschriften dersel‐ ben Hand und in der gleichen Weise redaktionell eingerichtet sind (Abb. 4a und 4b), 25 lässt an eine Vorbereitung der Schreiben zur Veröffentlichung denken. Das von der Gozzadina in die Wege geleitete Publikationsprojekt mit dem ersten Band der Briefe an den Vater aus den Jahren 1820–1864 lässt vermuten, in den Abschrif‐ ten der Signatur Gozz. 442 die für den Nachfolgeband bestimmten Schreiben zu sehen. Bekanntlich sollte dieser den Briefen aus der Zeit von 1865–1887 gewidmet sein. 26 Während sich also mit dem Eingang der Schenkung der Gozzadina Gozzadini in das Archiginnasio einerseits die Archivgeschichte eines Teils der Gregorovius-Briefe an den Grafen Gozzadini erklären und die These einer möglichen Publikation die‐ ser Schreiben aufstellen lässt, wirft sie andererseits die Frage nach den Briefen aus der Zeit vor 1867 auf, von welchen einige im ersten Band der „Lettere di storia e di archeologia a Giovanni Gozzadini“ abgedruckt sind. Gingen diese eventuell erst nach ihrer Einrichtung für eine mögliche Publikation, sprich zu einem späteren Zeitpunkt in die Bibliothek ein? Diese Frage steht am Beginn des zweiten Teils der Archivgeschichte der Briefe von Gregorovius im Gozzadini-Nachlass, bei dem weitere familiäre Erbstreitigkei‐ ten eine bedeutende Rolle spielen werden. Nach dem Tod der Gozzadina beruft deren Cousin, Alvise Francesco Orso Da Schio (1840–1920), ein in einem bereits am 24. Dezember 1889 von der Gräfin eigenhändig verfassten Testament eingesetz‐ ter Erbe, das Ospedale Maggiore und die anderen Erbberechtigten vor Gericht, um das Testament der Verstorbenen vom 24. Februar 1899 anzufechten. 27 Dem folgt ein komplexer, fünfjähriger Prozess, an dessen Ende es im Mai 1905 zu einem Ver‐ gleich zwischen Da Schio und den Mitarbeitern der Gräfin kommt, so dass Ersterer in den Besitz des Familienpalastes der Gozzadini in der Via Santo Stefano und in den der Villa Ronzano gelangt. 28 Neben Möbeln und Kunstobjekten fällt ihm da‐ 24 Ich danke Patrizia Busi, Handschriftenabteilung der Biblioteca dell’Archiginnasio, für ihre wertvolle Hilfe bei der Aufarbeitung der Archivgeschichte der Gregorovius-Briefe im Gozzadini-Nachlass. 25 Telefonische Auskunft von Patrizia Busi, Handschriftenabteilung der Biblioteca dell’Archiginnasio. 26 Siehe Bollini, Il fondo speciale Carte Gozzadini e Da Schio (wie Anm. 10), S. 246. 27 Der Cousin plädierte darauf, dass die zwei im Testament vom 24. Februar 1899 als Erben benannten Mitarbeiter die mentale Instabilität der Gozzadina ausgenutzt hätten, um sie dazu zu bewegen, ihnen einen Großteil ihres Vermögens zu überlassen, siehe ebd., S. 247– 248. 28 Siehe ebd., S. 248.

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Abb. 3: Brief von Ferdinand Gregorovius an Conte Giovanni Gozzadini vom 8. Juni 1873 (Bologna, Biblioteca dell’Archiginnasio, Ms. Gozzadini 442, 16, 1 r mit Umschlag)

bei auch ein Teil der sogenannten „Carte Gozzadini“ zu, darunter unter anderem Korrespondenz von Giovanni und Maria Teresa. Die Hauptverwaltung der Bolo‐ gneser Krankenhäuser erhält, als von der Gozzadina eingesetzte Universalerbin, die Verwaltungsakten und Buchführung der Familie, zu der ebenfalls Schriften und Korrespondenz von Giovanni gehören. Diesen Nachlassteil übergibt die Kranken‐ hausverwaltung 1908 als Geschenk an die Biblioteca dell’Archiginnasio, womit die Archivgeschichte allerdings noch immer nicht ihr Ende findet. Als neuer Besitzer eines Teils der „Carte Gozzadini“ nimmt Alvise Francesco Orso Da Schio das von der Gozzadina initiierte Publikationsprojekt zu den Briefen des Vaters wieder auf und kontaktiert, um die Veröffentlichung des zweiten Bandes in die Wege zu leiten, den Grafen Malvezzi. Da dieser das Vorhaben aufgrund an‐ derweitiger Verpflichtungen jedoch nicht weiter verfolgt, bemühen sich Alvise und vor allem dessen Sohn Giulio (1877–1918) um die Sortierung der Korrespondenz der Gozzadinis nach Absendern, bringen die sich als schwierig gestaltende Auf‐ gabe jedoch nicht zum Abschluss. Mit dem Tod Alvises im Jahre 1920 gehen die „Carte Gozzadini“ an dessen gleichnamigen Enkel, der sie aufbewahrt und Teile der Dokumente zu Ronzano und den Gozzadinis den seit 1922 im dortigen Anwesen

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Katharina Weiger Abb. 4a: Brief von Ferdinand Gregorovius an Conte Giovanni Gozzadini vom 14. September 1882 (Ab‐ schrift: Bologna, Biblioteca dell’Archiginnasio, Ms. Gozzadini 442, 45, S. 1)

lebenden Serviten übergibt. 29 Seinen Eingang in die Bibliothek des Archiginnasio findet der Bestand „Carte Gozzadini e Da Schio“ schließlich durch drei Ankäufe sowie einer Schenkung durch Giulio Da Schio in den Jahren zwischen 2010 und 2015. Dieses Material, von der Bibliothek als „fondo speciale Carte Gozzadini e Da Schio“ bezeichnet, ist zum „fondo speciale Gozzadini“, welchen die Gozzadina 1889 der Kommune Bologna vermacht hatte, inhaltlich analog, und die verzweigte Archivgeschichte des Nachlasses schließt sich. Von Gregorovius lassen sich 26 bislang unbekannte Briefe an die Gräfin Maria Teresa und neun an den Grafen Giovanni in den „Carte Gozzadini e Da Schio“ sowie 13 Gegenbriefe von Giovanni an den Deutschen ausmachen. 30 Es handelt sich um 48 Autografe, welche die oben aufgeworfene Frage nach möglichen Briefen von Gregorovius aus den 1850er und 1860er Jahren an die Freunde in Bologna be‐ antwortet: Offensichtlich war es insbesondere die Gräfin, mit welcher Gregorovius in den ersten Jahren ihrer Freundschaft schriftlich verkehrte, denn immerhin 13

29 Ebd., S. 249. 30 Carte Gozzadini e Da Schio, busta 38, fasc. 20; busta 9, fasc. 37; busta 19, fasc. 37.

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Abb. 4b: Brief von Ferdinand Gregorovius an Conte Giovanni Gozzadini vom 14. September 1882 (Abschrift: Bologna, Biblioteca dell’Archiginnasio, Ms. Gozzadini 442, 45, S. 2)

neu aufgetauchte Briefe an sie stammen aus den Jahren zwischen 1856 und 1858. 31 Zwei weitere unter diesen frühen Schreiben sowie ein später datierter sind die Ori‐ ginale der von Zanichelli 1898 gedruckten Briefe beziehungsweise die Originale jener Briefe, welche Giovanni in der seiner verstorbenen Frau gewidmeten Gedächt‐ nisschrift 1882 veröffentlichte. 32

31 17. September 1856, 3. Oktober 1856, 18. Dezember 1856, 8. März 1857, 8. April 1857, 4. Juni 1857, 5. Oktober 1857, 21. Oktober 1857, 23. Dezember 1857, 26. Dezember 1857, 13. Januar 1858, 26. Februar 1858, 5. Juli 1858. 32 Brief vom 3. November 1856, in: Lettere di storia e archeologia a Giovanni Gozzadini (wie Anm. 20), S. 180–181 und in: Giovanni Gozzadini, Maria Teresa di Serego-Alli‐ ghieri Gozzadini, Bologna: E. Fava e Garagnani 1882, S. 304–305 (stark gekürzt); hier auch die Briefe vom 31. Januar 1857 und 9. Oktober 1867, ebd., S. 305–307 (stark gekürzt). Vgl. die ungekürzt edierten Briefe in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italieni‐ sche Briefe (wie Anm. 1), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000389, URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000394 und URL: https://grego‐ rovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000437.

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Es war diese Gedenkschrift, die zumindest zeitweilig für Spannung im Verhältnis zwischen Gregorovius und Gozzadini sorgte: 33 Dem Bologneser Grafen war bei der Abschrift eines Briefes von Gregorovius an die Gräfin ein Kopierfehler unterlaufen, was dazu geführt hatte, dass dessen Beschreibung seiner Motivation, die Geschichte der Stadt Rom fortzusetzen, sinnentstellt in der erwähnten Gedenkschrift erschie‐ nen war. 34 Um den darüber verzweifelnden Freund zu beruhigen, reagiert Grego‐ rovius zwar zunächst mit dem Trost, die Fehlstelle sei dem Leser als Druckfehler vermittelbar, teilt jedoch im Folgenden deutlich mit, was er nun erwartet: „Il caso però, per poco importante egli sia, pur mi approva la giustezza del mio desiderio, già ripetute volte espresso ai miei amici, e alcune volte anche esaudito, ed è, che essi straccino quante lettere di me posseggono.“ 35 (Abb. 4a) Wie er hinzufügt, hat er das Zerreißen im Fall seiner Briefe an Paolo Perez bereits selbst besorgt: „Così per la gentilissima intercessione della signora Contessa ho potuto ricuperare le mie lettere dirette al nostro Paolo, e poi distruggerle tutte quante.“ 36 An der Vernichtung seiner Briefe war Gregorovius über den konkreten Anlass hinaus auch deshalb gelegen, weil er die Kontrolle über sein Bild in der Öffentlich‐ keit weder zu Lebzeiten noch nach seinem Tod verlieren wollte: 37 Ogni autore di qualche fama, sia essa pure mediocre quanto la mia, si vede esposto alla casualità della iproduzione di lettere, che lo scrittore o non avrebbe scritto punto, o scritto in altro modo, ove egli nel momento dello scrivere si fosse imaginato, che un dì sarebbero stampate. Se Ella dunque, gentilissimo signor Conte, crede di dovermi far qualche ammenda per un fallo così insignificante, il modo a me più grato sarebbe questo, di stracciare quelle mie lettere, che Ella troppo onora conservandole fra carte

33 Hier bezugnehmend auf den noch unveröffentlichten, mir dankenswerterweise überlasse‐ nen Vortrag von Angela Steinsiek, Private und öffentliche Kommunikationsstrategien in den Korrespondenzen und Briefen von Ferdinand Gregorovius, in: Soziales Medium Brief. Sharen, Liken, Retweeten im 18. und 19. Jahrhundert. Neue Perspektiven auf die Briefkultur, hg. von Markus Bernauer [u. a.]. Darmstadt (im Druck). 34 Gregorovius’ Worte „i miei studi“ in seinem Brief vom 31. Januar 1857 hatte Gozzadini mit „gli amici slavi“ transkribiert; siehe Gregorovius an Raffaele Mariano, 13. Septem‐ ber 1882, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 1), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/ed_bj5_5j5_mpb. 35 „Der Fall aber, so unwichtig er auch sein mag, bestätigt mir doch die Richtigkeit meines Wunsches, den ich meinen Freunden gegenüber schon wiederholt geäußert habe und der manchmal sogar erfüllt wurde, nämlich dass sie so viele meiner Briefe zerreißen, wie sie ha‐ ben.“ Gregorovius an Giovanni Gozzadini, 14. September 1882, ebd., hier unter Mitarbeit von Anna Maria Voci, URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/ed_gp2_bjj_ 4pb. 36 „So konnte ich durch die gütige Fürsprache der Gräfin meine Briefe an unseren Paolo wie‐ derfinden und sie dann alle vernichten.“ 37 Siehe Steinsiek, Private und öffentliche Kommunikationsstrategien (wie Anm. 33).

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preziose, le quali come documenti di rapporti importanti meritano il posto nel suo archivio famigliare. 38

Gozzadini korrigierte seinen Transkriptionsfehler in der 1884 erscheinenden Neu‐ auflage der Gedächtnisschrift zwar, 39 doch offensichtlich hatte ihn die Entrüstung des Deutschen über die unautorisierte Publikation seiner Briefe nicht dazu veran‐ lasst, dessen Bitte nachzukommen: Im Archiginnasio befinden sich 101 Briefe aus der Korrespondenz zwischen Gregorovius und den Gozzadinis, 88 davon Briefe des Deutschen an die Bologneser Freunde. Doch was sind, neben dem Missgeschick in der Gedächtnisschrift, die anderen Sujets, welche die beiden brieflich miteinander verhandelten? Die thematische Bandbreite im Briefwechsel zwischen Gregorovius und Gozzadini reicht von deren wissenschaftlichen Tätigkeiten und Forschungsvorhaben über aktuelle politische und gesellschaftliche Ereignisse sowie historische Themen bis hin zu Reisen und persönlichem Befinden. Gemeinsame Bekannte wie beispielsweise die römische Archäologin Ersilia Caetani Lovatelli (1840–1925) und ihr Vater Mi‐ chelangelo Caetani, Herzog von Sermoneta (1804–1882), allen voran jedoch Paolo Perez, sind genauso regelmäßiger Gegenstand der Schreiben wie Informationen über familiäre Belange und das Schweifen in Erinnerung an gemeinsam verbrachte Stun‐ den, insbesondere jene in Ronzano. In zahlreichen Briefen bittet Gregorovius den Grafen um Literatur, Auskünfte und Empfehlungen für Archive sowie Bibliotheken, wofür er sich mit gelegentlichen Buchsendungen oder Berichten über den Fortschritt seiner Arbeiten revanchiert. Dankbar erwähnt er die mittels Gozzadini erhaltenen Einladungen zu bestimmten Anlässen und dessen Engagement bei der Rettung des venezianischen Verlags Tipografia di Giuseppe Antonelli, der die italienische Übersetzung der „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“ 40 besorgte, 41 bei seiner 38 „Jeder Autor von gewissem Ruhm, selbst auch von mittelmäßigem wie meinem, ist der Zu‐ fälligkeit der Vervielfältigung von Briefen ausgesetzt, die der Schreiber entweder gar nicht oder auf andere Weise geschrieben hätte, wenn er beim Schreiben geahnt hätte, dass sie eines Tages gedruckt werden würden. Wenn Sie also glauben, lieber Herr Graf, dass Sie mir eine Wiedergutmachung für einen so unbedeutenden Fehler schulden, so wäre es für mich die wünschenswerteste Art, diese meine Briefe zu zerreißen, die Sie zu sehr ehren, indem Sie sie unter kostbaren Papieren aufbewahren, welche als Dokumente wichtiger Beziehun‐ gen ihren Platz in Ihrem Familienarchiv verdienen.“ Gregorovius an Giovanni Gozzadini, 14. September 1882 (wie Anm. 35). 39 Giovanni Gozzadini, Maria Teresa di Serego-Allighieri Gozzadini. Seconda edizione am‐ pliata con prefazione di Giosuè Carducci, Bologna: Nicola Zanichelli 1884, S. 445–446. 40 Ferdinand Gregorovius, Storia della città di Roma nel Medio Evo dal secolo V al XVI, Prima traduzione italiana sulla seconda edizione tedesca di Renato Manzato, 9 Bde, Vene‐ dig, Turin: Giuseppe Antonelli 1872–1876. 41 „Sono rimasto debitore di Lei come per molte cose, così anche per causa dell’ultima sua lettera. Lei ha accolto con benevolenza i desiderj dell’editore veneto a proposito della col‐

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Ernennung zum korrespondierenden Mitglied der Deputazione di Storia Patria per le Romagne 42 und die dringend notwendige, seine eigene Arbeit erleichternde Neuordnung der Bologneser Archive, welcher Gozzadini mitunter vorstand. 43 Ist der Briefwechsel insgesamt zwar vom Duktus freundschaftlicher Vertrautheit und gegenseitiger Wertschätzung geprägt, lassen die Schreiben der frühen 1880er Jahre doch erkennen, dass bestimmte Themen im Austausch der beiden zumindest bei Gregorovius für Verstimmung sorgten. Erwähnt wurden die von ihm entrüstet aufgenommene, unautorisierte Publikation seiner Briefe in der Gedächtnisschrift für die Gräfin und der Gozzadini unterlaufene Kopierfehler. Dabei ging es dem deutschen Historiker neben seinem Ansehen in der Nachwelt ebenso darum, dass ihm die eigene Korrespondenz mit den Freunden für eine Veröffentlichung zu pri‐ vat erschien, 44 wie sein Kondolenzschreiben zum Tod der Gräfin belegt. 45 Darüber hinaus war Alfred von Reumont (1808–1887) Gregorovius mit einem Nachruf auf die Verstorbene in der „Allgemeinen Zeitung“ zuvorgekommen, wie er Gozzadini berichtet: [. . . ] io, per dire il vero, ne fu quasi dolente, vedendomi tolto da esso lui nell’Allgemeine Zeitung il posto, che per dovere di pietà e gratitudine avrei desiderato di occupare io

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lezione istorica, e particolarmente ha voluto onorar di sua protezione la versione italiana della mia storia di Roma.“ Gregorovius an Giovanni Gozzadini, 12. Mai 1867, in: Grego‐ rovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 1), URL: https://grego‐ rovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000435. „Onorevole Signor Presidente, sono in possesso della graziosa lettera, data di Bologna addì 29. Maggio, colla quale la Signoria Vostra Illustrissima mi da parte della mia nomina a Socio corrispondente della Regia Deputazione di Storia Patria per le provincie di Romagna. Con lieta gratitudine accolgo questo generoso atto di simpatia verso di me e i miei studj, che per ben molti anni e durante una lunga dimora in Italia dedicai interamente alla Storia medioevale di Roma e di quella gloriosa terra, madre di ogni civiltà.“ Gregorovius an Gio‐ vanni Gozzadini, 1. Juni 1873, ebd., URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/ G067731. „La speranza poi che mi dà, di veder cioè principarsi almeno il riordinamento degli archivi di Bologna, i quali noveransi fra i più rilevanti dei comuni d’Italia, risveglia in me una vera gioja, e altrettanta [. . . ] in chiunque si occupi in Germania della storia d’Italia.“ Gregorovius an Giovanni Gozzadini, 30. Dezember 1874, ebd., URL: https://gregorovius-edition.dhiroma.it/letters/G067754. Siehe Steinsiek, Private und öffentliche Kommunikationsstrategien (wie Anm. 35). „Unterdeß ist die Gedächtnißschrift des Grafen Gozzadini ‚Maria Teresa etc‘ erschienen; Sie werden davon 1 Copie in Rom vorfinden. Da dies Buch 1 Object der Pietät ist, enthalte ich mich des Urteils darüber, nur beklage ich den Gebrauch den der Graf von vielen Briefen und Billeti machte, unter denen auch 1 paar meiner Hand sind.“ Gregorovius an Raffaele Mariano, 13. September 1882, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 1), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/ed_bj5_5j5_ mpb.

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stesso in quella dolorosa circostanza. Ora purtroppo non si può più ritornare sullo stesso argomento nello stesso giornale. 46

Der Möglichkeit beraubt, selbst einen Nekrolog zu veröffentlichen, plant er des‐ halb, so heißt es im weiteren Briefverlauf, eine Abhandlung über Ronzano und die dortigen Aktivitäten der Gozzadinis zu verfassen, womit sich der Bogen zum Be‐ ginn vorliegender Ausführungen schließt: Nei miei diari manoscritti, dove ho deposto alcune memorie di mia lunga vita in Italia, avvi qualche pagina, in cui ho fissato le dolcissime impressioni lasciatemi nell’anima dal mio soggiorno presso Loro in Ronzano. Le completerò, e può darsi, che quelle pagine un dì, quando mi sarò liberato dell’eccesso dei lavori, mi serviranno per lo scopo meditato, di stendere cioè una relazione su Ronzano e su quelle attività, con la quale Lor Signori hanno dato significato nuovo a quel sito antico. 47

Die Briefstelle verdeutlicht ein weiteres Mal Gregorovius’ Sehnsucht nach dem An‐ wesen der Freunde und weist auf seine noch im selben Jahr erscheinende Schrift über Ronzano voraus. 48 An ihr lässt sich außerdem ablesen, wie der Autor seine Texte über das Zusammenführen von bereits in anderen Kontexten erfassten Auf‐ zeichnungen konzipierte. In ähnlicher Weise hatte sich Gregorovius nämlich bereits einen Monat zuvor gegenüber Gozzadini geäußert und ihn um Auskünfte für seine Publikation über Ronzano gebeten: Or la pregherei, caso non ritenesse la mia domanda per indiscreta, di fornirmi di alcuni appunti sulle vicende della villa fino all’epoca, che Ella ne fece acquisto; e poi ancora 46 „[. . . ] ich war, um die Wahrheit zu sagen, fast betrübt, als ich mich durch ihn in der All‐ gemeinen Zeitung des Platzes genommen sah, den ich aus Pflicht zur Pietät und Dankbar‐ keit bei diesem schmerzlichen Umstand hätte einnehmen wollen. Nun kann man leider nicht in derselben Zeitung auf dasselbe Thema zurückkommen“ (Gregorovius an Giovanni Gozzadini, 29. Januar 1882: Bologna, Biblioteca dell’Archiginnasio, Ms. Gozzadini 442, 40). 47 „In meinen handgeschriebenen Tagebüchern, in denen ich einige Erinnerungen an mein langes Leben in Italien niedergeschrieben habe, habe ich einige Seiten begonnen, auf denen ich die sehr süßen Eindrücke festgehalten habe, die mein Aufenthalt bei Ihnen in Ronzano in meiner Seele hinterlassen hat. Ich werde sie vervollständigen, und vielleicht werden mir diese Seiten eines Tages, wenn ich mich von dem Übermaß an Arbeit befreit habe, für den angestrebten Zweck dienen, nämlich einen Bericht über Ronzano und über die Aktivitäten zu schreiben, mit denen Ihre Exzellenzen dieser alten Stätte eine neue Bedeutung verliehen haben.“ (ebd.) 48 Gregorovius, Die Villa Ronzano (wie Anm. 9) aufgenommen in: Ders., Kleine Schrif‐ ten zur Geschichte und Cultur, Bd. 3, Leipzig: Brockhaus 1892, S. 97–120, zudem in ita‐ lienischer Übersetzung von Raffaele Mariano in die von Gozzadini 1882 besorgte Ge‐ dächtnisschrift „Maria Teresa di Serego-Allighieri Gozzadini“ (wie Anm. 32), S. 408–424, wieder abgedruckt in der 2. Aufl. Gozzadini, Maria Teresa di Serego-Allighieri Gozzadini (wie Anm. 39), S. 596–610.

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di accennarmi le persone distinte, che nel corso del tempo ebbero la fortuna di trovarsi in commercio letterario e amichevole con lei e colla signora Contessa, così a Bologna, come a Ronzano. 49

Abgesehen von der Geschichte des Ortes und seinen illustren Besuchern ist in Gre‐ gorovius’ Essay „Die Villa Ronzano. Ein Musensitz der Gozzadini von Bologna“, der im Erstdruck 1882 in der Zeitschrift „Nord und Süd“ erschien, schließlich auch eine erklärende Beschreibung seines Empfindens gegenüber Ronzano zu finden, die im komparatistischen Zitat im Titel dieses Aufsatzes seinen Ausdruck findet: Geschichtliche Erinnerungen und die schöne Einsamkeit des Orts hatten die Gozzadini bewogen, Ronzano zu ihrem Aufenthalt zu erwählen, welchen sie nur in den Wintermonaten mit ihrem städtischen Palast in der Straße San Stefano ver‐ tauschten. Sie führten dort, fern von dem Lärm und den Leidenschaften der großen Welt, ein zurückgezogenes, nur den Idealen der Kunst und Wissenschaft geweihtes Leben; zufrieden mit ihrem Tusculum in einer ländlichen, fast noch klösterlichen Einfachheit des Daseins und beglückt durch die entzückende Lage des Landhauses auf der Höhe, von welcher der Blick die große alterthümliche Stadt in der Tiefe, und die schönsten Gartengefilde Italiens umfassen kann. 50

49 „Nun würde ich Sie bitten, wenn Sie meine Frage nicht für indiskret halten, mir einige Angaben zur Geschichte der Villa bis zu dem Zeitpunkt zu machen, an dem Sie sie erworben haben, und mir auch von den bedeutenden Persönlichkeiten zu erzählen, die im Laufe der Zeit das Glück hatten, sowohl in Bologna als auch in Ronzano in freundschaftlichem litera‐ rischen Kontakt mit Ihnen und der Gräfin zu stehen.“ Gregorovius an Giovanni Gozzadini, 29. Dezember 1881, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 1), hier unter Mitarbeit von Anna Maria Voci, URL: https://gregorovius-edition. dhi-roma.it/letters/ed_jr2_n3q_xnb. 50 Gregorovius, Die Villa Ronzano (wie Anm. 9), S. 315.

Gregorovius und Florenz Anna Maria Voci

Johannes Hönig, der 1921 zur hundertjährigen Wiederkehr von Gregorovius’ Ge‐ burtstag die erste Biographie des Historikers vorlegte, 1 behauptete in einem zwei Jahre später in der „Deutschen Rundschau“ erschienenen Aufsatz: „Nur zu wenigen Orten in Italien außer Rom hat Gregorovius in so engen Beziehungen gestanden wie zu Florenz, namentlich im ersten Jahrzehnt seines italienischen Aufenthalts.“ 2 Florenz war eine der ersten Städte, die Gregorovius während seiner ersten Ita‐ lienreise im Frühling 1852 besuchte. Wir wissen, dass er dorthin eilte, um Klara Bornträger zu treffen, die Mutter seines Freundes Ludwig Bornträger, der als Maler in Italien lebte und ihm 300 Taler für eine Italienreise angeboten hatte. Bevor aber Gregorovius seinen Freund wiedersehen konnte, verstarb dieser in Pisa. In Florenz blieb Gregorovius dann sechs Wochen. 3 Rom, sein eigentliches Ziel, erreichte er erst im Oktober nach einer Reise nach Korsika und Elba. Etwas mehr als sechzig Jahre zuvor hatte Goethe auf seiner Hinfahrt Florenz am 23. Oktober 1786 nur gestreift und sich keine drei Stunden dort aufgehalten, während er sich erst 1788 bei seiner Rückreise zwischen den letzten April- und den ersten Maitagen näher mit der Stadt auseinandersetzte. Eine besondere Begeisterung für Florenz kam allerdings bei Goe‐ the auch jetzt nicht auf. Zwischen seinen zwei Aufenthalten in Florenz standen die für ihn weit gewaltigeren Erfahrungen von Rom und dem Süden (Neapel, Sizilien). Es stellt sich daher die Frage, ob man Ähnliches auch für Gregorovius sagen könnte,

1 Johannes Hönig, Ferdinand Gregorovius. Der Geschichtsschreiber der Stadt Rom. Mit Briefen an Cotta, Franz Rühl und andere, Stuttgart, Berlin 1921. 2 Johannes Hönig, Der Geschichtsschreiber der Stadt Rom an den Geschichtsschreiber von Florenz. Briefe von Ferdinand Gregorovius an Robert Davidsohn, in: Deutsche Rundschau, Bd. 196 (1923), S. 143–160, hier S. 145. 3 Ferdinand Gregorovius an Theodor Heyse, 20. Dezember 1855, in: Ferdinand Gregoro‐ vius, Poesie und Wissenschaft. Gesammelte deutsche und italienische Briefe (digitale Edi‐ tion), hg. von Angela Steinsiek, Deutsches Historisches Institut in Rom 2017–2023, URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000027. Siehe auch Ferdinand Grego‐ rovius, Römische Tagebücher, hg. von Hanno-Walter Kruft und Markus Völkel, Mün‐ chen 1991, S. 44, sowie Ferdinand Gregorovius’ „Corsica“, wo es heißt: „Es gibt viel‐ leicht keinen größeren Gegensatz als den zwischen Florenz und Corsica, und mir selbst war im Anfange wunderlich zu Sinn, da ich nach einem sechswöchentlichen Leben in Florenz von den Madonnen Raphaels unmittelbar unter die Banditen Corsica’s mich verschlagen fand [. . . ]“ (Bd. 1, 2. Aufl., Stuttgart 1869, S. 141).

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zumal, wie Hanno-Walter Kruft 1991 schrieb, Goethes „Italienische Reise“ für ihn „den inneren Bezugspunkt bilden“ musste, als er nach Italien kam. 4 Der erste Aufenthalt von 1852 war für Gregorovius Anlass, zwei Aufsätze über das Dominikanerkloster San Marco und über die öffentlichen Monumente von Flo‐ renz zu schreiben. Nach einem vergeblichen Versuch, den Aufsatz über San Marco im „Morgenblatt für gebildete Leser“ unterzubringen, erschien dieser Essay erst 1855 im „Deutschen Museum“. 5 Der Essay über die öffentlichen Monumente von Florenz wurde dann 1856 in den „Hausblättern“ veröffentlicht. 6 Beide wurden spä‐ ter in die „Wanderjahre“ aufgenommen. Während aber der Aufsatz über San Marco von Gregorovius selbst in die zweite, 1864 gedruckte Auflage der „Wanderjahre“ und dann in die folgenden Auflagen eingefügt wurde, 7 blieb der andere Aufsatz über die öffentlichen Monumente von Florenz unberücksichtigt und wurde erst nach Gregorovius’ Tod in jene Sammlung aufgenommen. Wir wissen nicht, warum Gregorovius diese Entscheidung getroffen hat. Diese beiden Florentiner Essays bilden jedenfalls wahrhaftig nicht die besten Stücke jener Essaysammlung, denn sie tragen einen eher didaktischen, ja ein wenig großtuerischen Zug. Otto Speyer (1821–1894), ein Schriftsteller, der selbst lange Zeit in Florenz gelebt und 1859 ein Werk über Italien veröffentlicht hatte, 8 besprach 1864 die zweite Auflage der „Wanderjahre“. Er meinte, alle kunsthistorischen Exkurse des Aufsatzes über San Marco, so treffend im Übrigen auch die Bemerkungen sein möchten, brächten in ihrer fragmentarischen Form „stets einen mehr störenden als befriedigenden Ein‐ druck hervor, und flößen dem Leser den [. . . ] Verdacht ein, daß der Verfasser die Gelegenheit herbeigezogen habe, um seine Gelehrsamkeit auf den Markt und an den Mann zu bringen.“ 9 Florenz war nicht imstande, Gregorovius zu jenen reizvol‐ len, zum Teil fast lyrischen Beschreibungen und Gedanken zu inspirieren wie die römische Campagna, das Volsker-Gebirge oder das „lateinische Ufer“ (Anzio, Net‐ tuno, Terracina, Circeo, Torre Astura), welche alle einige wunderbare Landschafts‐

4 Hanno-Walter Kruft, Der Historiker als Dichter. Zum 100. Todestag von Ferdinand Gre‐ gorovius. Öffentlicher Vortrag, gehalten am 2. Dezember 1991, in: Bayerische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse. Sitzungsberichte, H. 2, München 1992, S. 3–18, hier S. 7. 5 Ferdinand Gregorovius, Das Dominikanerkloster San Marco in Florenz und seine Re‐ action gegen den Realismus, in: Deutsches Museum, Nr. 31–32, Leipzig 1855, S. 153–163 und S. 199–209. 6 Ferdinand Gregorovius, Die öffentlichen Monumente von Florenz, in: Hausblätter, Bd. 2, Stuttgart 1856, S. 54–62 und S. 138–160. 7 Dort mit dem abgekürzten Titel „San Marco in Florenz“. 8 Otto Speyer, Bilder italienischen Landes und Lebens. Beiträge zur Physiognomik Italiens und seiner Bewohner, 2 Bde., Berlin 1859. 9 Otto Speyer, Gregorovius’ „Wanderjahre in Italien“, in: Blätter für literarische Unterhal‐ tung, Bd. 2, Nr. 27, Leipzig 1. Juli 1864, S. 481–489, hier S. 484.

Gregorovius und Florenz

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gemälde aus seiner Feder fließen ließen, die von der Geschichte sowie von klassischantiken Reminiszenzen belebt sind. Auffällig bleibt jedenfalls die Tatsache, dass er nach diesen beiden Versuchen weder der Stadt am Arno noch anderen toskanischen historischen Stätten einen weiteren größeren Aufsatz widmete. Anders verfuhr er dagegen mit Apulien und Sizilien und deren wichtigsten Orten. Theodor Elwert behauptete mit Recht, dass der Essay über die öffentlichen Mo‐ numente von Florenz [. . . ] aus der Perspektive der geistigen Kreise des damaligen Florenz einen Überblick über die kulturellen Leistungen der Stadt gibt. Man muß wissen, daß es eine beson‐ ders im Florentiner Kreis beliebte Form vaterländischer Gesinnungsäußerung war, den großen Männern der Vergangenheit Denkmäler zu setzen. Als Gregorovius 1852 nach Florenz kam, war die Errichtung von Denkmälern sehr weit gediehen in den Wandel‐ gängen der Uffizien und in Santa Croce. 10

Nach Elwert gehe aus diesem Aufsatz eine große Vertrautheit Gregorovius’ mit der geistigen Atmosphäre des Florenz jener Jahre hervor. 11 Diesen Aufsatz hatte er „im demokratischen Sinne“ geschrieben, 12 denn darin geht es um öffentliche Bildwerke der Florentiner Skulptur, die nicht in den Museen verschlossen waren, sondern auf den Plätzen oder in Kirchen jedem Betrachter, jedem Bürger zugänglich waren. Denn die Kunst, meint Gregorovius, solle für das Volk sein und „in Florenz scheint die Kunst noch ein überraschend demokratisches Wesen bewahrt zu haben, sowohl was die Öffentlichkeit ihrer Werke als ihren geschichtlichen Zusammenhang mit Stadt und Volk selber betrifft.“ 13 Wie keine andere Stadt Italiens habe Florenz mit großer Liebe seine geschichtlichen Erinnerungen und Monumente gepflegt und seine großen Toten zu ehren gewusst. 14 Er beobachtet, dass auch Rom, „wenigstens in Beziehung auf Büsten großer Männer einen rühmlichen Wetteifer mit Florenz begonnen“ habe und bezieht sich damit auf die Büsten, die man auf dem Pincio aufgestellt hatte. In Rom aber kann er nicht umhin zu bemerken, dass keine muni‐ zipale Beschränkung wie in Florenz herrsche, „welche der Weltstadt Rom nimmer geziemen würde, sondern ihrer allumfassenden Bedeutung gemäß sind jene Büsten den Männern Italiens überhaupt wie aus allen Ländern, so aus allen Zeitaltern ge‐ weiht.“ 15 10 Theodor Elwert, Ferdinand Gregorovius und das Italien seiner Zeit, in: Ders.: Italieni‐ sche Dichtung und europäische Literatur, Wiesbaden 1969, S. 1–20, hier S. 11. 11 Ebd. 12 Gregorovius an Theodor Heyse, 20. Dezember 1855, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 3), URL: https://gregorovius-edition.dhiroma.it/letters/G000027. 13 Gregorovius, Die öffentlichen Monumente von Florenz (wie Anm. 6), S. 54. 14 Ebd., S. 142. 15 Ebd.

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Nach 1852 wird Gregorovius regelmäßig nach Florenz zurückkehren. Während der späten fünfziger und sechziger Jahre hielt er sich dort wiederholt und auch für mehrere Wochen auf, um Recherchen in den Florentiner Bibliotheken und Archi‐ ven durchzuführen. In den siebziger und achtziger Jahren dagegen blieb er in der Stadt am Arno jeweils nur ein paar Tage oder gar lediglich einen Tag. Florenz war für ihn eine Zwischenstation auf seiner Reise nach dem Norden oder vom Norden nach Rom geworden. Der lange Aufenthalt zwischen Mitte Juli und Ende September 1858 war für ihn von weitreichender Bedeutung. Er wohnte bei dem Ehepaar François und Caroline Sabatier, und zwar sowohl in ihrer damals außerhalb der mittelalterlichen Stadt‐ mauern gelegenen Villa, genannt La Concezione (heute Villa La Gressa, zwischen Monterinaldi und Careggi), als auch in ihrem Stadtpalast in der Via de’ Renai (Pa‐ lazzo Ungher-Sabatier). Das Ehepaar Sabatier hatte er allerdings nicht in Florenz, sondern 1856 in Rom kennengelernt. 16 François Sabatier war ein französischer Ge‐ lehrter, Kunstkritiker und Übersetzer aus dem Deutschen, der 1841 die österreichi‐ sche Sängerin Caroline Unger geheiratet und sich mit ihr um 1845 in Florenz nie‐ dergelassen hatte. 1859 erschien seine französische Übersetzung von Gregorovius’ Werk über die Grabmäler der Päpste. 17 1860 widmete ihm Gregorovius sein Buch mit Aufsätzen über Neapel und Sizilien, 18 denn damals plante Sabatier ein größeres Werk über die Entwicklung der Kunst auf der Insel, das er dann jedoch nicht zu Ende führte. 19 In der Villa der Sabatiers (Villa La Concezione) lernte Gregorovius damals die Historiker Pasquale Villari und Atto Vannucci sowie die Literaturhis‐ toriker Paolo Emiliani Giudici und Francesco Paolo Perez kennen. 20 Am 18. Sep‐ tember 1858 stellte ihn Villari dem Leiter des Archivs von Montecassino vor, dem Benediktiner Sebastiano Kalefati. 21 Die meisten gelehrten Florentiner, die er ken‐ nenlernte, waren also keine eigentlichen Florentiner, sondern ‚liberali meridionali‘, die vor oder nach 1848 nach Florenz übersiedelt waren. Ende August 1858 erwähnt Gregorovius in seinen Tagebüchern auch Giovan Pietro Vieusseux, den Gründer des 16 Gregorovius an Theodor Heyse, 24. Dezember 1856, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 3), URL: https://gregorovius-edition.dhiroma.it/letters/G000025. 17 Ferdinand Gregorovius, Les tombeaux des Papes romains, Traduit par F. Sabatier. Précédé d’une introduction de M. J. J. Ampère, Paris: M. Levy frères 1859. 18 Ferdinand Gregorovius, Siciliana. Wanderungen in Neapel und Sicilien, Leipzig 1861. Dieser Band erschien 1865 als dritter Band der „Wanderjahre in Italien“. 19 Otto Hartwig, François Sabatier und Caroline Sabatier-Unger, in: Deutsche Rundschau, Bd. 91, Berlin 1897, S. 227–243, hier S. 241. 20 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 3), S. 73. 21 Ebd., S. 75 und Ferdinand Gregorovius an Sebastiano Kalefati, 12. August 1859, in: Gre‐ gorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 3), URL: https://gre‐ gorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000405.

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„Gabinetto scientifico-letterario“ und Herausgeber der ersten gesamtitalienischen Zeitschrift, des „Archivio Storico Italiano“. Vieusseux war einer der Hauptvertre‐ ter der florentinischen und italienischen Kultur, den Gregorovius wohl während des damaligen ausgedehnten Aufenthaltes in Florenz kennengelernt haben wird. 22 Jahre später, 1871, in seinem Nachruf auf Tommaso Gar, wird er an den „unver‐ gesslichen Vieusseux“ erinnern, den Mittelpunkt des Florentiner geistigen Lebens und Begründer des „Archivio Storico Italiano“, „welches den historischen Studien in Italien einen so großen Aufschwung gegeben hat, und eines der besten literari‐ schen Monumente dieses Landes aus den letzten Zeiten vor seiner nationalen Wie‐ dergeburt geworden ist“. 23 Im Hause Vieusseux wurde er unter anderem dem „alten großartigen Marchese Gino Capponi“ 24 vorgestellt, dem Nachfahren jenes „stolzen Piero“, der sich 1494 mutig Karl VIII. von Frankreich widersetzt hatte. Der Auf‐ enthalt im Jahre 1858 bewog Gregorovius darüber hinaus zu der Idee, einen Aufsatz über die Florentiner Bibliotheken für die „Allgemeine Zeitung“ zu schreiben, 25 der dann jedoch, soviel ich sehen konnte, nicht zustande kam. Auch in den späteren Jahren, als er für mehrere Wochen in Florenz weilte (z. B. 1861, 26 1862, 27 1865 28), wird er bei den Sabatiers wohnen. Im Palazzo Sabatier un‐ terzeichnete er am 5. September 1858 den Vertrag mit Cotta für seine „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“. Im selben Palast unterschrieb er sieben Jahre später, im Juli 1865, den Vertrag mit dem Venezianer Verlag Antonelli für die italienische Übersetzung seines Hauptwerks. 29 Merkwürdig bleibt die Tatsache, dass er mit zwei herausragenden Vertretern des geistigen und politischen Lebens der Stadt, dem Ehepaar Ubaldino und Emilia Pe‐ ruzzi, nicht verkehrt zu haben scheint. Ubaldino Peruzzi war zwischen 1863 und 1864 Innenminister und versah zwischen 1870 und 1878 das Amt des Bürgermeis‐ ters von Florenz. Die Peruzzis unterhielten den wichtigsten Salon in Florenz, der weit über die Grenzen der Stadt hinaus bekannt war, und sie pflegten rege Be‐ ziehungen zu den gelehrten Ausländern, die in Florenz residierten oder sich dort vorübergehend aufhielten. Wahrscheinlich war es Gregorovius, als er in den späten 22 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 3), S. 73. 23 Ferdinand Gregorovius, Tommaso Gar, in: Beilage zu Nr. 224 der Allgemeinen Zeitung, 12. August 1871, S. 3990 f. Der Artikel ist „Venedig, 4. August 1871“ datiert. 24 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 3), S. 74. 25 Vgl. Gregorovius an Theodor Heyse, 28. Oktober 1858, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 3), URL: https://gregorovius-edition.dhiroma.it/letters/G000087. 26 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 3), Einträge aus Florenz vom 31. August und 17. September 1861, S. 137. 27 Ebd., Eintrag aus Florenz vom 20. Oktober 1862, S. 155. 28 Ebd., Eintrag aus Florenz vom 16. Juli 1865, S. 196. 29 Ebd., S. 74 und S. 196.

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fünfziger und sechziger Jahren gelegentlich für einige Wochen in der Stadt weilte, nicht darum zu tun, am gesellschaftlich regen Leben der Stadt teilzuhaben, sondern er zog es eher vor, sich in der Residenz der Sabatiers einem „ozio benedetto“ hinzu‐ geben, wie er am 28. Oktober 1858 an Villari schreibt. 30 Ich werde nun zuerst etwas über seine Kontakte zu zwei bedeutenden italie‐ nischen Gelehrten und Politikern schreiben, die keine Florentiner waren, jedoch lange in Florenz gelebt haben: Pasquale Villari (1827–1917) und Michele Amari (1806–1889). Beide waren auch, nach der Einschätzung Paul Kehrs, die berühm‐ testen Historiker des damaligen Italien. 31 Danach noch einige Worte über Grego‐ rovius’ Kontakte zu den sogenannten Deutsch-Florentinern. Von Gregorovius Briefen an Villari und Amari haben sich mehrere erhalten, während seine Briefe an das Ehepaar Sabatier, an Paolo Emiliani Giudici, Atto Van‐ nucci und an Francesco Paolo Perez, an Vieusseux oder Capponi nicht überliefert sind, bis auf jeweils ein einziges Schreiben an Caroline und François Sabatier sowie an Emiliani Giudici. 32 Pasquale Villari war einer der wichtigsten italienischen Historiker der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und auch eine prominente öffentliche Persönlichkeit, denn zwischen 1869 und 1870 war er „segretario generale“ des Bildungsministeri‐ ums, also Vizeminister, und zwischen 1873 und 1876 und dann 1880 Parlaments‐ abgeordneter; 1884 wurde er vom König zum Senator ernannt und zwischen 1891 und 1892 amtierte er als Bildungsminister. Alles in allem war Gregorovius’ Verhältnis zu Villari eher formell. In den sechzi‐ ger Jahren scheint Gregorovius ihm mehr zugetan gewesen zu sein als in den folgen‐ den Jahren: Am 2. März 1866 schreibt er an Malwida von Meysenbug, dass Villari ihm manche angenehme Erinnerung zurückgelassen habe. 33 1867 bat Villari dann Gregorovius, sich beim Verlag Brockhaus zu verwenden, damit dieser die deutsche Übersetzung seines Buches über Savonarola verlege, was Gregorovius tat, weil er

30 Siehe in: „Un anello ideale“ fra Germania e Italia. Corrispondenze di Pasquale Villari con storici tedeschi, hg. von Anna Maria Voci, Rom 2006, S. 149–151, hier S. 151. 31 Paul Kehr, Ferdinand Gregorovius und Italien. Ein Nachruf zu seinem 100. Geburtstag, in: Deutsche Rundschau, Bd. 187, Berlin 1921, S. 194–200, hier S. 197. 32 Erste Fassung der Widmung seiner „Siciliana“ (1861) für François Sabatier (August 1860), in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 3), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000120; Gregorovius an Caroline Un‐ gher-Sabatier, 27. Oktober 1867, ebd., URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/let‐ ters/G000255; Gregorovius an Paolo Emiliani Giudici, 1. Juni 1856, ebd., URL: https:// gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000393. 33 Siehe ebd., URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000236.

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Villaris Buch für gut hielt, 34 obwohl er meinte, man müsse „auch das Buch dem deutschen Publikum ein wenig anbequemen und namentlich durch Auslassung der langweiligen, und für heutige Menschen, zumal unkirchliche Deutsche, ganz un‐ lesbaren Predigten jenes mönchischen Träumers.“ 35 Die deutsche Übertragung die‐ ser Monographie erschien 1868. 36 Der Kontakt zwischen Gregorovius und Villari entwickelte sich jedoch nie zu einer echten Freundschaft. An Raffaele Mariano schreibt Gregorovius am 17. Januar 1876, dass Villari in seinen Beziehungen zu allen Leuten kühl sei, obwohl ab und zu eines gewissen „sentimentalismo“ fähig. Gregorovius glaubte ihn auch „ristretto nelle idee di vera umanità“ zu sein, also von einer engen Auffassung der wahren Menschlichkeit, so sehr seine Geisteshaltung philanthropisch erscheinen möge. In sechzehn Jahren, schreibt Gregorovius, habe er es nicht geschafft, Villari näher zu treten als am ersten Tag, als er ihn im Hause Sabatier kennenlernte. 37 Darüber hinaus unterstellt er Villari ein opportunistisches Verhalten, denn am 25. Juli 1877 teilte er Mariano mit, er habe von Villari die An‐ zeige erhalten, dass der erste Band von dessen Werk über Machiavelli erschienen sei, und er gibt Mariano zu verstehen, dass dieser Brief Villaris nur dem Umstand geschuldet sei, dass Villari hoffe, Gregorovius könne diesen Band in irgendeiner deutschen Zeitung anzeigen. 38 Erst einen Monat später, am 26. August 1877, rea‐ giert Gregorovius auf diesen Brief Villaris. Er gratuliert ihm, dass sein Buch gleich‐ zeitig in Italien und auch in einer deutschen Ausgabe erschienen sei und drückt sein Verständnis dafür aus, dass der Autor ihm kein Exemplar habe schicken können. Er bedauert aber, das Buch in der „Allgemeinen Zeitung“ nicht anzeigen zu können, da er sich mit dem Chefredakteur jener Zeitung, Otto Braun, überworfen habe, und legt ihm nahe, sich an Alfred von Reumont zu wenden. 39 Gregorovius’ Haltung gegenüber Villari scheint mir aber ein wenig ungerecht zu sein. 1867 wandte sich Gregorovius auch an Villari, der damals Mitglied des „Consiglio Superiore della Pubblica Istruzione“ war, und bat ihn, sich bei dem Bil‐ dungsminister Domenico Berti zu verwenden, damit das Ministerium den „Gin‐ nasi“ und „Licei“ des Königreichs die Subskription der „Collezione storica“ des venezianischen Verlegers Antonelli empfehle, welcher den ersten Band der italie‐ 34 Siehe Gregorovius’ Briefe an Eduard Brockhaus vom 29. Januar 1867 und vom 27. Au‐ gust 1868, ebd., URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000270 und URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000246. 35 Gregorovius an Malwida von Meysenbug, 12. April 1867, ebd., URL: https://gregoroviusedition.dhi-roma.it/letters/G000248. 36 Pasquale Villari, Geschichte Girolamo Savonarola’s und seiner Zeit. Nach neuen Quellen dargestellt. Aus dem Italienischen übersetzt von Moritz Berduschek, 2 Bde., Leipzig 1868. 37 Siehe in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 3), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000192. 38 Siehe ebd., URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000222. 39 Siehe in: Voci, „Un anello ideale“ (wie Anm. 30), S. 166–168.

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nischen Übersetzung von Gregorovius’ „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“ veröffentlicht hatte. 40 Dieser Verlag befand sich in einer schwierigen Lage, und sein Konkurs hätte das Erscheinen der weiteren Bände des Werks verhindert. Damals richtete Gregorovius diese Bitte auch an andere einflussreiche italienische Freunde und Bekannte, wie aus mehreren seiner nun edierten Briefe hervorgeht. Wir wissen nicht, ob Villari seiner Bitte entsprach, aber ich halte es für sehr wahrscheinlich. Gregorovius’ Bemühungen war jedenfalls kein Erfolg beschieden. Sichere Kunde haben wir hingegen darüber, dass Villari 1873 Gregorovius half, das im veneziani‐ schen „Archivio de’ Frari“ verwahrte und den Gelehrten noch unzugängliche Ma‐ nuskript des Werkes von Marino Sanuto über den italienischen Feldzug Karls VIII. von Frankreich zu studieren, das Gregorovius für sein Buch über Lucrezia Borgia brauchte. Als 1878 Gregorovius’ Hauptwerk von Oreste Tommasini in einem im „Archivio della Società romana di storia patria“ erschienenen Aufsatz verunglimpft wurde, 41 erhielt Gregorovius einen Brief von Villari, „worin er mir sagte, daß die Ungerechtigkeit mit der man mich behandelt habe, alle wohldenkenden Italiener empöre.“ 42 Als es 1874 um die italienische Übersetzung seiner „Lucrezia Borgia“ ging, vermittelte Villari den Kontakt zu dem Florentiner Verlag Le Monnier und erwiderte somit den Freundschaftsdienst, den Gregorovius ihm 1867 mit Brock‐ haus erwiesen hatte. Villari führte auch die Verhandlungen mit dem Verleger, der versuchte, sich das Recht auf den Druck einer unbegrenzten Zahl von Exemplaren einzuräumen. 43 Gregorovius lehnte diesen Vorschlag aber entschieden ab, höchst‐ wahrscheinlich weil er 1873 mit dem Mailänder Verlag Manini, der 1872 die von Augusto Nomis di Cossilla besorgte fehlerhafte Übersetzung der „Wanderjahre“ verlegt hatte, 44 schlechte Erfahrungen gemacht hatte. Diese Ausgabe war gleich‐ wohl sehr bald ausverkauft. Daraufhin wollte der Mailänder Verlag eine neue Auf‐ lage herausbringen, ohne aber Gregorovius am Gewinn zu beteiligen, so dass dieser seine Einwilligung zu einem Neudruck verweigerte. 45

40 Gregorovius an Pasquale Villari, 25. Januar 1867, ebd., S. 155–156. 41 Oreste Tommasini, Della storia medievale di Roma e de’ più recenti raccontatori di essa, in: Archivio della Società romana di storia patria, Bd. 1, Rom 1878, S. 1–46, insbes. S. 37– 38. 42 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 3), S. 379. 43 Vgl. Gregorovius’ Briefe an Villari aus Rom, 12. und 24. Januar sowie 29. April 1874 in: Voci, „Un anello ideale“ (wie Anm. 30), S. 164–165, sowie Gregorovius an Raffaele Mariano, 17. November 1874, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 3), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000155. 44 Ferdinand Gregorovius, Ricordi storici e pittorici d’Italia, 2 Bde., Mailand: Manini 1872. 45 Gregorovius an Augusto Nomis di Cossilla, 2. März 1873, in: Gregorovius, Gesam‐ melte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 3), URL: https://gregorovius-edition. dhi-roma.it/letters/ed_icr_1zf_nlb.

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Merkwürdig mutet die Tatsache an, dass die auf uns gekommenen Briefe von Gregorovius an Villari (die Gegenbriefe wurden offenbar von Gregorovius ver‐ nichtet) keinen Hinweis auf politische Ereignisse enthalten bis auf eine flüchtige Erwähnung des „progresso fatto dall’Italia nella sua grande opera di ristauro nazio‐ nale“ und den Wunsch, dass „il genio custode della vostra nazionalità“ den Italie‐ nern „quelle virtù civili“ gäbe, „senza di cui ogni acquisizione materiale resta cosa morta“ (also der Wunsch, dass sich zu den materiellen Gebietsgewinnen die Bürger‐ tugenden gesellen mögen). 46 Ebenso merkwürdig erscheint Gregorovius’ Schwei‐ gen über Villaris „Lettere meridionali“, da der deutsche Historiker mit der Questio‐ ne meridionale und der in Süditalien besonders empfundenen Agrarfrage durchaus vertraut war. 47 Als Villari ihm sein Vorhaben 1884 unterbreitete, die „Lettere me‐ ridionali“ ins Deutsche übersetzen zu lassen, war Gregorovius’ Antwort wenig er‐ munternd, denn er fand, dass diese Übersetzung ein wenig verspätet käme, da das Werk bereits vor sechs Jahren erschienen sei. 48 Den Professor für arabische Sprache und Geschichte am Florentiner „Istituto di Studii Superiori“ Michele Amari lernte Gregorovius im September 1861 in Flo‐ renz kennen. Das Verhältnis zu ihm scheint von Anfang an vertraulicher, freund‐ schaftlicher als dasjenige zu Villari gewesen zu sein. Am 17. September 1861 schrieb Gregorovius in sein Tagebuch: „Er ist gerade Senator geworden. Der dritte Band seiner Geschichte der Muselmanen ist im Druck begonnen; er gab mir die Probebo‐ gen. Gegenwärtig publiziert er arabische Urkunden aus dem Florentiner Archiv.“ 49 Im Herbst 1862 machte er mit ihm mehrere Ausflüge nach dem mittelalterlichen Städtchen Lastra a Signa, unweit von Florenz. 50 Am 12. Juni 1864 nennt Grego‐

46 Gregorovius an Pasquale Villari, 2. Dezember 1866, in: Voci, „Un anello ideale“ (wie Anm. 30), S. 153–154. 47 Dazu sei auf die Ausführungen von Elwert verwiesen: Ferdinand Gregorovius und das Italien seiner Zeit (wie Anm. 10), S. 6–7. Villaris „Lettere meridionali“ werden in den „Wanderjahren“ flüchtig erwähnt, und zwar, wenn ich recht sehe, zwei Mal, nämlich in den Aufsätzen über Andria (1874–1875) und u¯ ber Segesta, Selinunt und den Mons Eryx (1886). Siehe Ferdinand Gregorovius, Andria, in: Wanderjahre in Italien. Bd. 5: Apu‐ lische Landschaften. Leipzig 1877, S. 133–170, hier S. 146–148, und Ders., Segesta, Se‐ linunt und der Mons Eryx, in: Kleine Schriften zur Geschichte und Kultur, Bd. 2, Leipzig 1888, S. 235–280, hier S. 243. 48 Gregorovius an Pasquale Villari, 19. Oktober 1884, in: Voci, „Un anello ideale“ (wie Anm. 30), S. 170–171. 49 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 3), Eintrag aus Florenz, 17. Septem‐ ber 1862, S. 137. 50 Siehe ebd., S. 155.

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rovius ihn „antico e benevole amico dai tempi passati di Firenze“. 51 Im Sommer 1865 kam Amari täglich zu ihm in den Palazzo Sabatier. 52 An den „arabista par excellence“ 53 wird er sich Jahre später wenden, wenn er an der mittelalterlichen Ge‐ schichte von Athen arbeitet und Informationen zu arabischen Schriftstellern und Geographen braucht, die über Athen geschrieben haben. 54 Natürlich war auch der wechselseitige Austausch ihrer Publikationen rege. 55 Amari, der zwischen 1862 und 1864 Bildungsminister war, gab Gregorovius Empfehlungsbriefe für seine Besuche in Archiven und Bibliotheken. Einem Tage‐ bucheintrag vom 10. Oktober 1863 aus Orvieto entnehmen wir, dass er „einen ener‐ gischen Brief nach Turin“ an den Minister Amari hatte abgehen lassen, der u. a. auch „den Ruin des Grabmals Theoderichs in Ravenna“ betraf. 56 Dieser Brief scheint leider verloren gegangen zu sein. Viele Jahre später erwähnte er dieses Schreiben an Amari in einem Brief vom 20. November 1887 an Ersilia Caetani Lovatelli und teilte ihr mit, dass sein Mahnruf von 1863 nicht ohne Frucht geblieben sei. 57 1864, als Amari Bildungsminister war, wurde Gregorovius vom italienischen Kö‐ nig der „Ordine dei Santi Maurizio e Lazzaro“ verliehen, den er indes ablehnte: Er, der Geschichtsschreiber Roms, der für seine historischen Forschungen auf den Zu‐ gang zu den Bibliotheken und Archiven der Stadt angewiesen war, die noch immer

51 Gregorovius an Michele Amari, 12. Juni 1864, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 3), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/let‐ ters/G000318. 52 Siehe Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 3), S. 196. 53 Gregorovius an Michele Amari, 2. Dezember 1880, in: Gregorovius, Gesammelte deut‐ sche und italienische Briefe (wie Anm. 3), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/ letters/ed_ysd_b3d_tlb. 54 Ebd. und Gregorovius an Michele Amari, 12. Dezember 1880, ebd., URL: https://gregoro‐ vius-edition.dhi-roma.it/letters/ed_ylg_r4k_tlb. 55 Gregorovius an Michele Amari, 11. Dezember 1881, ebd., URL: https://gregoroviusedition.dhi-roma.it/letters/ed_sfv_5qn_3mb; Gregorovius an Michele Amari, 5. Fe‐ bruar 1882, ebd., URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/ed_jds_jtc_lpb. 56 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 3), S. 172. 57 „Vor allem freut es mich zu hören, daß Sie den Ausflug nach Ravenna machten. Diese Stadt ist das Pompei des römischen Byzantinismus und fast die einzige Erinnerung an die Gothen, die Beherrscher Italiens, über die Cassiodorus das köstliche Urtheil gefällt hat: ‚Gothorum laus est civilitas custodita.‘ [. . . ] Es sind jetzt Jahre her, daß ich in Ravenna weilte und mich in Entrüstung über den schändlichen Anblick, den das Mausoleum des Königs Theoderich bot, das zur Hälfte in einem Sumpfe steckte, jener Worte Cassiodors in einem Schreiben an den damaligen Unterrichtsminister Michele Amari bediente, und dieser mein Mahnruf blieb nicht ohne Frucht.“ (Ferdinand Gregorovius und seine Briefe an Gräfin Ersilia Cae‐ tani Lovatelli, hg. von Sigmund Münz, Berlin 1896, S. 166–167, hier S. 167)

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unter päpstlicher Herrschaft stand, wollte als Wissenschaftler unabhängig bleiben und nicht in den Konflikt zwischen Staat und Kirche involviert werden. 58 Immer wenn Gregorovius in den folgenden Jahren in Florenz weilte, suchte er Amari auf. Als dieser 1873 nach Rom zog, pflegte Gregorovius seine Beziehungen zu ihm weiter. Sie trafen sich auch im Salon der Gräfin Ersilia Caetani Lovatelli, die jeden Donnerstagabend empfing. 59 Innerhalb des in den fünfziger und sechziger Jahren eher spärlichen Kreises der Deutsch-Florentiner 60 unterhielt Gregorovius ein freundliches, ja herzliches Ver‐ hältnis nur zu dem Altphilologen Theodor Heyse (1803–1884), den er in Rom ken‐ nengelernt hatte. Denn Heyse, der 1833 nach Rom gekommen und dort geblieben war, siedelte erst 1855 nach Florenz über. 61 Gregorovius berichtet in seinen Briefen von dem römischen Leben und den Deutschen in Rom sowie von seinen Studien und poetischen und literarischen Versuchen. Sie hatten auch freundschaftlichen Umgang, als Gregorovius im Sommer 1858 für mehrere Wochen in Florenz weilte. Am 28. Oktober 1858 schrieb er dann an Heyse aus Rom: „Es war ein schöner Mo‐ nat in Florenz, und doppelt durch Sie.“ 62 Mit Heyse konnte er sich offen und ein wenig spöttisch über einen anderen Deutsch-Florentiner auslassen, der wie Grego‐ rovius ein großer Kulturvermittler zwischen Deutschland und Italien war und eine Geschichte der Stadt Rom verfasste: Ich meine den Diplomaten und Historiker Alfred von Reumont (1808–1887). 63 Mit diesem stand Gregorovius in einer Bezie‐ hung, die weder herzlich noch eng, sondern eher respektvoll, formal, ja distanziert 58 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 3), S. 178, Eintrag vom 19. Juni 1864. Vgl. auch seine zwei Briefe an Michele Amari vom 12. Juni 1864, in: Gregorovius, Ge‐ sammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 3), URL: https://gregorovius-edi‐ tion.dhi-roma.it/letters/G000319 und URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/let‐ ters/G000318. 59 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 3), S. 336. Siehe auch Angela Stein‐ siek, Ferdinand Gregorovius e la famiglia Caetani, in: Ninfa. Percezioni nella scienza, lette‐ ratura e belle arti nel XIX e all’inizio del XX secolo, hg. von Michael Matheus, Regensburg 2022, S. 215–229. 60 Zu dieser Thematik sei auf das Buch von Rotraut Fischer verwiesen, „Fluchtpunkt Flo‐ renz. Deutsch-Florentiner in Risorgimento und Gründerzeit“ (Bielefeld 2021). 61 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 3), Eintrag vom 27. Juni 1855, S. 56 so‐ wie S. 445, FN. 15. Der erste überlieferte Brief von Gregorovius an Heyse in Florenz ist vom 17. September 1855 und wurde aus Rom geschrieben, siehe in: Gregorovius, Gesam‐ melte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 3), URL: https://gregorovius-edition. dhi-roma.it/letters/G000064. 62 Ebd., URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000087. 63 Zu Reumont zuletzt: Felix Schumacher, Der preußische Diplomat und Historiker Al‐ fred von Reumont (1808–1887). Ein Katholik in Diensten Preußens und der deutschitalienischen Kulturbeziehungen, Berlin 2019.

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war, was vor dem Hintergrund ihrer unterschiedlichen Weltanschauungen und der politischen Überzeugungen nicht verwundern kann. Reumont verdankte Grego‐ rovius immerhin ein Empfehlungsschreiben, das ihm im Mai 1859 den begehrten Zugang zur Vatikanischen Bibliothek erlaubte. 64 Nun, über Gregorovius und Reu‐ mont hat vor Jahren Alberto Forni ausführlich geschrieben, 65 deswegen wird es hier ausreichen, wenn ich darauf verweise, dass das, was Gregorovius an Reumont unter anderem störte – und das geht deutlich aus seinen Briefen hervor –, das „Unmusi‐ sche“ war, wie er es nennt, 66 das er in Reumonts Charakter und Produktion zu er‐ kennen glaubte. Im Übrigen hat „die unselige Vergleichungskunst“, wie Robert Da‐ vidsohn es in seinem Nachruf auf Gregorovius es ausdrückte, Gregorovius immer wieder in das „Prokrustes-Bett“ der Vergleiche mit Reumont und mit Mommsen gezwängt. 67 Auch nach Reumonts Tod bleibt Gregorovius’ Urteil über den rheini‐ schen Historiker und Diplomaten zwiespältig, eine eigenartige Mischung aus Hohn und, wenn nicht Bewunderung, so doch Anerkennung einiger Verdienste: Alles in Allem genommen war er ein höchst eigenartiges Ingenium, von einer mir fast beispiellosen Fähigkeit sich an Menschen und Dinge anzuleben, ein Condottiere der Feder, der eigentlich in die seltsame Classe alleswissender Abbés des vorigen Jahrhun‐ derts gehörte. In Italien ist er der Repräsentant einer ganzen Epoche deutscher Be‐ ziehungen gewesen, ein Makler beider Länder für Literatur und Kunst, und da hat er nicht kleine Verdienste aufzuweisen. 68

Mit einem anderen Deutsch-Florentiner, der seit 1871 der Mittelpunkt der aus‐ ländischen Kolonie in Florenz war, dem Essayisten Karl Hillebrand (1829–1884), scheint er kaum Kontakt gepflegt, gehabt oder gesucht zu haben. Es ist merkwür‐ dig. Beide hatten so viel gemeinsam: Sie waren bedeutende Kulturvermittler zwi‐ schen Deutschland und Italien, Gregorovius vor allem als erfolgreicher Geschichts‐ schreiber, Hillebrand als brillanter Essayist; beide waren ehemalige Demokraten 64 Gregorovius an Alfred von Reumont, 26. Mai 1859, in: Gregorovius, Gesammelte deut‐ sche und italienische Briefe (wie Anm. 3), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/ letters/G000100. 65 Alberto Forni, La questione di Roma medievale. Una polemica tra Gregorovius e Reu‐ mont, Rom 1985, insbes. die Seiten 13 und 25–29. 66 Gregorovius an Theodor Heyse, 24. Dezember 1856, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 3), URL: https://gregorovius-edition.dhiroma.it/letters/G000025. Zu Gregorovius’ Verhältnis zu Reumont sind auch die Briefe an Hermann von Thile zu lesen (siehe weiter unten, Anm. 68), wo oft von dem rheinischen Historiker die Rede ist. 67 Robert Davidsohn, Ferdinand Gregorovius, in: Berliner Börsen-Courier, Nr. 227, Berlin 7. Mai 1891. 68 Gregorovius an Hermann von Thile, 29. April 1887, in: Briefe von Ferdinand Gregorovius an den Staatssekretär Hermann von Thile, hg. von Herman von Petersdorff, Berlin 1894, S. 189.

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und Achtundvierziger gewesen und im Laufe der fünfziger und sechziger Jahre Na‐ tionalliberale geworden; beide begrüßten mit Begeisterung die italienische Einheits‐ bewegung und ihre Erfolge; beide waren Protestanten und Gegner der weltlichen Herrschaft der Päpste, man ist versucht zu sagen: Kulturkämpfer; beide waren deut‐ sche Patrioten und zugleich Kosmopoliten; beide waren „Romano-Germanen“, die „den eigentlichen ächten Kern ihrer deutschen Natur in romanischen Formen ge‐ steigert darzulegen“ verstanden; 69 beide vertraten eine aristokratische Auffassung von Kunst und von menschlichen Beziehungen; beide verkehrten in den ersten Kreisen von Florenz und Rom – denn Hillebrand war zwischen 1872 und 1876 als Korrespondent der „Allgemeinen Zeitung“ sehr oft in der Hauptstadt. Doch findet Hillebrand in den römischen und nachrömischen Tagebüchern von Gregoro‐ vius keinerlei Erwähnung. 70 Nur in einem Charakterzug scheinen sie unterschied‐ lich gewesen zu sein: Gregorovius war eine eher schüchterne, verschlossene Natur, Hillebrand dagegen ein begabter ‚causeur‘, ein überaus geselliger Mensch. Auch lag Gregorovius’ geistiges und historiographisches Interesse in der mittelalterlichen Welt, die Ost und West, Nord und Süd miteinander verband, während Hillebrands Schwerpunkt deutlich auf die westeuropäische neuere Geschichte und Kultur zen‐ triert war. Dass zwischen ihnen scheinbar keine engere Begegnung stattgefunden hat, ist auch dadurch erklärbar, dass Gregorovius’ längere Aufenthalte in Florenz in die späten fünfziger und sechziger Jahren fallen, während Hillebrand sich erst 1871 definitiv in Florenz niederließ – auch wenn er sich in den sechziger Jahren im Spätsommer häufig und für mehrere Wochen in Florenz aufhielt. 1874 übersiedelte dann Gregorovius endgültig nach Deutschland, und auch wenn er regelmäßig für längere Zeit nach Italien kam, verweilte er in Rom und nicht in Florenz. In den überlieferten Briefen von und über Gregorovius finden wir nur zweimal eine Erwähnung Hillebrands, beide Male ist sie nicht positiv. Ende 1873 war Gre‐ gorovius über den Aufsatz empört, den Hillebrand kurz zuvor im Oktoberheft der „Preußischen Jahrbücher“ über und gegen Gervinus veröffentlicht hatte. In diesem Beitrag hatte Hillebrand den Heidelberger Gelehrten als einen jener Professoren dargestellt, die sich als Männer der leeren Worte und nicht der Taten erwiesen hät‐ ten, als sie 1848 und 1849 gerufen worden waren, politische Verantwortung für eine

69 So kennzeichnet Hans von Bülow Karl Hillebrand in einem an Letzteren gerichteten Brief vom 8. Februar 1870 (in: Hans von Bülow, Briefe und Schriften, hg. von Marie von Bülow, Bd. 4: Briefe [1864–1872], Leipzig 1900, S. 361–364, hier S. 361). 70 Siehe aber Malwida von Meysenbug, Der Lebensabend einer Idealistin. Nachtrag zu den „Memoiren einer Idealistin“, 5. Aufl., Berlin, Leipzig 1903 (1. Aufl. 1898), S. 9–10; hier erinnert sie sich, dass sich im Winter 1873–1874 in Rom gleichzeitig viele interessante Persönlichkeiten aufhielten, wie Levin Schücking, Karl Hillebrand, Gregorovius und Franz Liszt. Es ist daher zu vermuten, dass Gregorovius und Hillebrand sich mehr als einmal bei gesellschaftlichen Ereignissen begegnet sein dürften.

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Neugestaltung der deutschen Verhältnisse zu übernehmen. 71 An seinen ehemaligen Lehrer, Karl Rosenkranz, schreibt Gregorovius am 14. Dezember 1873, dass Hille‐ brands Aufsatz „tendenziös“ und „kurzsichtig“ sei, ein kleinlicher Angriff auf eine „edle, männliche und echte Natur“, deren bleibende Verdienste die Schuld der „Ab‐ irrung von der Realität unserer deutschen Gegenwart so sehr“ aufwiegen würden, „daß ihm niemals der Ehrenplatz genommen werden darf, den er mit Recht in der Geschichte der deutschen Entwicklung einnimmt.“ 72 Als Hillebrand im Laufe der zweiten Hälfte des Jahres 1873 Mitarbeiter für eine von ihm geplante Zeitschrift suchte, die „Italia“ heißen und dazu dienen sollte, die italienischen geistigen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zustände in Deutschland besser bekannt zu machen, wandte er sich auch an Gregorovius, der zunächst seine Mitarbeit zusagte, 73 dann aber keinen Beitrag lieferte, was vor dem Hintergrund seiner Reaktion auf Hillebrands Aufsatz über Gervinus nicht verwun‐ dert. 1874 schrieb Hillebrand für die „Spenersche Zeitung“ eine Rezension zu Gre‐ gorovius’ „Lucrezia Borgia“, die am 26. Juli des Jahres erschien. Auf das Buch geht er vor allem in einem ersten, kurzen Absatz dieser Besprechung ein, der Rest des Beitrags befasst sich mit der Zeit der Borgia und Rom in jener Zeit. In diesem ersten Abschnitt mischt er Lob und Anerkennung mit Kritik, denn er hebt hervor, dass die erste Hälfte des Buches mit dem ganzen urkundlichen Material nicht ganz ausgear‐ beitet worden sei, während der zweite Teil, wo Gregorovius, „der unerreichte Ken‐ ner Roms und des römischen Mittelalters“, das Material mit künstlerischer Freiheit und Objektivität behandelt, „ungemein anziehend und belehrend“ sei. 74 In einem Brief an Alfred von Reumont vom 17. August 1874 äußert sich Hillebrand jedoch mit ganz anderen Worten: „Haben Sie Gregorovius’ erbärmliches Buch über ‚Lu‐ crezia Borgia‘ gelesen?“ 75

71 Karl Hillebrand, G. G. Gervinus, in: Preußische Jahrbücher, Bd. 32, Berlin 1873, S. 379– 428. 72 Ferdinand Gregorovius, Briefe nach Königsberg 1852–1891, hg. von Dominik Fugger und Nina Schlüter, München 2013, S. 180–181. 73 Das geht aus einem Brief Hillebrands an Victor Hehn vom 14. Januar 1874 hervor (Deut‐ sches Literaturarchiv Marbach, Cotta, Nachlass Hehn, E 217–219, zum Teil gedruckt in: Auch ich in Arkadien. Kunstreisen nach Italien 1600–1800, hg. von Dorothea Kuhn, 2. Aufl., Stuttgart 1966, S. 227–228). 74 Karl Hillebrand, Lucrezia Borgia und ihre Zeit, in: Zweite Beilage zur Spenerschen Zei‐ tung, Nr. 343, 26. Juli 1874. Der zweite, längere Teil der Besprechung wurde dann von Hillebrand in seinem Essayband „Wälsches und Deutsches“ (Berlin 1875 – Zeiten, Völker und Menschen, Bd. 2) mit dem Titel: „Die Borgia“ wieder abgedruckt, S. 38–52 (2. Aufl., Straßburg 1892). 75 Universitäts- und Landesbibliothek Bonn, Nachlass Reumont, S. 1062. Siehe hierzu auch Anna Maria Voci, Karl Hillebrand. Ein deutscher Weltbürger, Rom 2015, S. 458–459.

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Nach jener ersten, alles in allem wohlwollenden, nur leise Kritik enthaltenden Rezension der „Lucrezia Borgia“ publizierte Hillebrand aber im ersten, am 15. Ok‐ tober 1874 ausgegebenen Band seiner Zeitschrift „Italia“ eine zweite Besprechung, die sehr viel kritischer ausfiel – allerdings unter dem Pseudonym „Ch. A. F.“. 76 Darin behauptet der Rezensent, Gregorovius’ Werk besitze alle [. . . ] die Vorzüge und Nachtheile der dem Verfasser eigenthümlichen Behandlungs‐ weise und Schreibart: fleißigste, umfangreichste, besonnenste Quellenstudien, über denen der Forscher nur zu oft vergißt, daß es nicht Beruf des Historikers ist, den Le‐ ser in seine Werkstatt einzuführen, sondern aus dieser ein Kunstwerk hervorgehen zu lassen, an dem die Spuren der Arbeit nicht mehr haften; eine lebhafte Phantasie und ein schwungvoller Styl, deren der Schreiber nicht immer genugsam Herr ist, so daß die Sprache oft in’s Oratorische, die Schilderungen in’s Romanhafte ausarten. 77

Diese Mängel treten, so Hillebrand, vor allem im ersten, die römische Zeit Lucre‐ zias behandelnden Teil des Werks auf, wo ein übertriebener Aufwand mit Einzel‐ heiten aus den dem Leser mitgeteilten Quellen getrieben und viel zu langen Di‐ gressionen über Gegenstände gehuldigt werde, die den Leser wenig interessierten. Dabei erfahre man wenig Neues über Lucrezia. Darüber hinaus habe Gregorovius die Lücken der historischen Überlieferung mit hypothetischen Schilderungen und mit ganz überflüssigen sentimentalen Betrachtungen ausgefüllt, „welche oft an’s Geschmacklose grenzen“. Hillebrand gibt dennoch zu, dass das Werk „trotz solcher Auswüchse [. . . ] des Interessanten und Neuen sehr viel“ biete, dass aber sein zweiter Teil, der das Leben Lucrezias in Ferrara zum Gegenstand habe, viel besser gelungen sei. 78 Was Hillebrand veranlasst haben mag, Gregorovius auf eine solche Weise an‐ zugreifen, ist nicht mehr auszumachen. Jedenfalls reagierte Gregorovius auf diese zweite Besprechung zutiefst verletzt, und diese steigerte in ihm seine Antipathie und Gereiztheit gegenüber Hillebrand. In seinem Brief vom 8. Dezember 1877 an Raffaele Mariano bezeichnete Gregorovius Hillebrands Besprechung, wohl auf diese zweite Rezension anspielend, als einen „häßlichen“ Artikel. 79 Es ist hinlänglich bekannt, dass Gregorovius sich nach 1871 mehrmals im Tage‐ buch, in Briefen wie in öffentlichen Stellungnahmen gegen das aussprach, was Her‐ man Grimm (1828–1901) die „Zerstörung“ Roms und er selbst öffentlich lieber als den „Umbau“, die „Umwandlung“, die „gewaltsame Metamorphose“ oder die „tra‐ 76 Charles A. Fuxelles war ein Pseudonym, das Hillebrand oft benutzt hatte, als er zwischen 1849 und 1870 in Frankreich lebte. 77 In: Italia, hg. von Karl Hillebrand, Bd. 1, Leipzig 1874, S. 316–319, hier S. 316. 78 Ebd., S. 317. 79 Siehe in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 3), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000232.

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sformazioni storiche di Roma“ 80 bezeichnete. Gemeint ist die nach der Verlegung der Hauptstadt nach Rom erfolgte tiefgreifende Veränderung des Stadtbildes der Ewigen Stadt. Gregorovius empörte insbesondere der Abriss der mittelalterlichen Bauten, welche den geschichtlichen Rahmen vieler antiker Monumente, wie des Colosseums oder des Pantheons, für Jahrhunderte abgegeben hatten. Denn durch deren Zerstörung seien jene antiken Monumente aus dem Zusammenhang mit der Geschichte der christlichen Jahrhunderte herausgelöst worden, ganz dem Altertum zurückgegeben und damit auch der geschichtliche Charakter der Stadt tiefgreifend verändert worden: „Gerade die lebensvolle Verbindung der Antike mit dem Mittel‐ alter hatte“ jedoch „Rom sein einziges, unvergleichliches Gepräge verliehen“. 81 Nach 1865 erfuhr auch die ‚provisorische‘ Hauptstadt des jungen Königreiches Italien, nämlich Florenz, eine Umgestaltung ihres Stadtbildes, die vor allem in der Schleifung der mittelalterlichen Mauern bestand, an deren Stelle die sogenann‐ ten Viali di Circonvallazione (Ringstraßen) sowie eine schöne Aussichtsstraße, der Viale dei Colli, entstanden, wobei die Stadttore zumeist erhalten blieben. Um diese Stadttore wurden große Plätze angelegt und hier Wohnhäuser für das Großbürger‐ tum gebaut. Darüber hinaus wurden alte Gebäude abgerissen, die hinter dem Pa‐ lazzo Vecchio lagen. Der Abriss von mittelalterlichen Gebäuden erwies sich zudem als notwendig, um die engen Gassen, die zur Piazza della Signoria führten, zu erwei‐ tern. Dasselbe geschah, als verschiedene Straßen des historischen Zentrums, wie die Via degli Avelli bei Santa Maria Novella, erweitert wurden. Dem Bau der breiten Lungarni, genauso wie dem Bau der Lungoteveri, fielen zahlreiche ältere Bauten zum Opfer, wie beispielsweise der dem Arno zugewandte Teil des Renaissancepa‐ lastes der Serristori. Einige Jahre später, in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre, wurde ein Projekt ausgeführt, dessen Entstehung bis auf das Jahr 1869 zurückging. Es betraf den historischen Kern von Florenz, wo das alte Forum der römischen Stadt Florentia gestanden hatte: Dort wurde ein ganzes mittelalterliches Viertel mit dem Mercato Vecchio und dem Ghetto abgerissen, um die neue Piazza Vittorio Emanu‐ ele II (heute Piazza della Repubblica) zu errichten, ein großbürgerlicher Repräsen‐ tationsraum. 82 80 Gregorovius an Francesco Azzurri, 5. April 1881, ebd., URL: https://gregorovius-edition. dhi-roma.it/letters/ed_pyp_w2z_1mb. 81 Ferdinand Gregorovius, Neue Schicksale alter Ruinen, in: Münchner Bunte Mappe, 1885 (aufgenommen in: Ders., Kleine Schriften zur Geschichte und Cultur, Bd. 2, Leip‐ zig 1888, S. 293–301). Siehe dazu Anna Maria Voci, Deutscher Widerstand gegen die „Vernichtung Roms“ im Jahre 1886. Neue Quellen zu einem alten Thema, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft, Bd. 43 (2016), S. 125–147. 82 Zu diesem sogenannten „risanamento“ von Florenz siehe Elmar Kossel, Ein Zwischenhalt in der Toskana: Florenz als provisorische Hauptstadt Italiens 1865–1871, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft, Bd. 47 (2020), S. 173–216, mit weiteren Literaturanga‐ ben. – Jahre später konstituierte sich gegen die Umgestaltung des Stadtkerns und fu¯ r den

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Interessanterweise fanden die Kritiker der Umgestaltung Roms für die beträcht‐ lichen Eingriffe in das Stadtgefüge von Florenz keineswegs tadelnde Worte, eher im Gegenteil. In einem 1873 verfassten Aufsatz beurteilte Herman Grimm die städ‐ tebaulichen Veränderungen positiv, die Florenz ein anderes Stadtbild gegeben hat‐ ten: Die Umgestaltung habe der Stadt neues Leben gegeben, ohne ihren Charak‐ ter zu verleugnen. 83 Im Unterschied zur Hässlichkeit der römischen Neubauten in den neuen Vierteln der Prati di Castello oder Ludovisi, nämlich der Miets- oder Wohnkasernen oder architekturlosen Häuser, wie er sie nennt, fand Grimm die Florentiner Risorgimento-Architektur sehr geglückt, weil sie den alten Palaststil der Stadt aufgenommen und sich dadurch harmonisch in das Gegebene eingepasst habe. „Auch der Umstand, dass an Stelle der begrenzenden Stadtmauern nun Parks und Grünflächen am Rande der Stadt eine Verbindung zwischen Stadt und Land‐ schaft entstehen lassen, findet positive Erwähnung.“ 84 Das Verdienst für diese Neu‐ gestaltung kommt nach Herman Grimms Ansicht allein dem Bürgermeister von Florenz, Ubaldino Peruzzi, zu. Lobende Worte zu den Stadterweiterungsarbeiten, die Peruzzi hatte durchführen lassen, um Florenz in den Rang einer, wenn auch provisorischen Hauptstadt zu erheben, fand auch der Historiker und Bibliotheks‐ direktor Otto Hartwig (1830–1903), der Florenz gut kannte und sich mit seiner mittelalterlichen Geschichte eingehend befasst hatte. Er behauptete auch, dass die „Neubauten und Umbauten mit größtmöglicher Schonung des historischen Cha‐ rakters der Stadt in Angriff genommen“ worden seien. 85

Erhalt seiner historischen Substanz eine „Società per la difesa di Firenze antica“. Siehe dazu den mit „O.B.“ gezeichneten Artikel „Das modernisirte Florenz“ (in: Beilage zu Nr. 256 der Allgemeinen Zeitung vom 11. November 1898, S. 1–2). 83 Herman Grimm, Die Gallerien von Florenz (Mai 1873), in: Ders., Fünfzehn Essays, Neue Folge, Berlin 1875, S. 78–93, hier S. 91–92. Grimm behauptet, die großartigen Anlagen, die während der Amtszeit Ubaldino Peruzzis als Bürgermeister entstanden „und heute noch in der Ausführung begriffen sind“, hätten die Stadt „eigentlich zu dem erst gemacht, was sie werden sollte. [. . . ] Florenz wurde Hauptstadt der gesammten Halbinsel. Neue Straßen und Paläste waren notwendig.“ In Florenz habe sich „in Anlehnung an den altflorentini‐ schen Palaststyl ein neuer Styl gebildet, aus dem heraus die glücklichsten Bauten entstanden sind. Harmonisch schließen sie sich dem Vorhandenen an und imponiren ohne sich aufzu‐ drängen. An diese Straßenanlagen aber schließt sich die landschaftliche Umgestaltung der nächsten Umgebung an und hier liegt der eigentliche Kern dessen, was geleistet worden ist. [. . . ] Jetzt erst scheint die Stadt die richtige Fassung erhalten zu haben. Ringsum ist sie mit schattigen Anlagen umgeben worden, während diese alten Mauern überall gesunken sind.“ Dazu Rotraut Fischer und Christina Ujma, Italienische Miscellen II. Herman Grimm und das neue Florenz, in: Jahrbuch der Brüder Grimm-Gesellschaft, 6 (1996), S. 163–174. 84 Ebd., S. 166–167. 85 Otto Hartwig, Ubaldino Peruzzi, in: Deutsche Rundschau, Bd. 70, Berlin 1892, S. 111– 116, hier S. 115.

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Und Gregorovius? Wenn ich recht sehe, finden sich nur zwei Äußerungen zum Umbau von Florenz, beide im Tagebuch. Am 17. Juli 1869 schrieb er aus Florenz: „Man baut viel in der Stadt [. . . ]. Die Mauern sind niedergerissen; Vorstädte herein‐ gezogen, großer Luxus in Läden; neue Paläste – ein frisch aufstrebendes Leben.“ 86 Sechs Jahre danach, als er zwischen dem 17. und dem 20. März 1875 in Florenz weilte, hielt er in seinem Tagebuch fest: „Florenz breitet sich immer weiter über die alten, fast gefallenen Ringmauern aus und wird die bequemste und wohnlichste Stadt Italiens. Die neuen Anlagen auf S. Miniato bilden die herrlichste Terrasse, die man sehen kann.“ 87 Das deutet keineswegs auf Bedenken oder Kritik hin. Dass in den Briefen keine Bemerkung hierzu gefunden werden kann, mutet ein wenig seltsam an, wenn man die Vielzahl seiner mehr oder weniger resignierten Feststel‐ lungen und Klagen zur Umgestaltung Roms bedenkt. Sein Schweigen lässt daher vermuten, dass er die Meinung Grimms oder Hartwigs in Bezug auf die Verände‐ rungen des Florentiner Stadtbildes teilte. Wie Grimm, dem die mehr oder weniger treue Nachahmung des alten Palaststils der Stadt, nämlich des Renaissancestils der Florentiner Neubauten, behagte, so erschien Gregorovius die neogotische, 1887 fer‐ tiggestellte Fassade des Domes von Santa Maria del Fiore als „ein sehr schönes Werk italienischer Marmorarbeit, wenn auch mit all’ den Schwächen behaftet, welche mit der Nachahmung alter Muster verbunden sind“. 88 In seinen beiden Werken über die mittelalterliche Geschichte der beiden Haupt‐ städte des Altertums, Athen und Rom, greift Gregorovius auf den damals verbreite‐ ten Topos von Florenz als dem „Athen Italiens“ zurück. Es handelt sich dabei um ein Bild oder eine Bezeichnung, von der behauptet wurde, sie komme zum ersten Mal in einem 1770 in London erschienenen Werk des Franzosen Jean-Pierre Grosley (1718–1785) vor. 89 Tatsächlich hatte bereits Johann Joachim Winckelmann 1764 in seinem Hauptwerk über die Geschichte der Kunst des Altertums auf die Ver‐ gleichbarkeit von Florenz, wo er zwischen 1758 und 1759 gelebt hatte, mit Athen 86 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 3), S. 259. 87 Ebd., S. 348. Es ist damit wohl der Piazzale Michelangelo gemeint. 88 Gregorovius an Hermann von Thile, 19. Juni 1887, in: Briefe von Ferdinand Gregorovius an den Staatssekretär Hermann von Thile (wie Anm. 68), S. 191. 89 Siehe Luigi Mascilli Migliorini, „L’Atene d’Italia“: identità fiorentina e toscana nella formazione dello Stato nazionale, in: Meridiana, 33 (1998), S. 107–123, hier S. 109, wo darauf hingewiesen wird, dass es der französische Schriftsteller und Historiker Grosley war, welcher als Erster dieses Bild benutzte, und zwar in seinen 1770 in London erschienenen „Observations sur l’Italie et les Italiens“. Siehe auch André Reszler, Firenze o l’Atene sull’Arno, in: Ders., Il mito di Atene. Storia di un modello culturale europeo, ital. Übers. Mailand 2007 (Nachdruck 2010), S. 16–30, sowie Sandro Rogari, Firenze da capitale del Granducato ad Atene d’Italia, in: Firenze capitale europea della cultura e della ricerca scien‐ tifica. La vigilia del 1865, in: Atti del Convegno di studi, Firenze, 21–22 novembre 2013, hg. von Giustina Manica, Florenz 2014, S. 15–30.

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hingewiesen. Dabei hatte er eine Beschreibung der Verhältnisse in Athen gegeben, die zu ihrer kulturellen Blüte und zur geistigen Herrschaft in Griechenland geführt hätten, die eigentlich haargenau eher zu Florenz passt als zu dem von ihm idealisier‐ ten antiken Athen. 90 Die Definition von Florenz als „neuem Athen“ findet sich dann in einem Beitrag August Wilhelm Schlegels über „Dante’s Hölle“ aus dem Jahre 1795. 91 Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde diese im deutschsprachigen Raum von Gelehrten und Schriftstellern wie Philipp Joseph Rehfues, 92 Franz Grillparzer, 93 dem weniger be‐ kannten Historiker und Geographen Johann Georg August Galletti, 94 Jacob Burck‐

90 „In Athen aber, wo nach Verjagung der Tyrannen ein demokratisches Regiment eingeführet wurde, an welchem das ganze Volk Antheil hatte, erhob sich der Geist eines jeden Bürgers und die Stadt selbst über alle Griechen. Da nun der gute Geschmack allgemein wurde, und bemittelte Bürger durch prächtige öffentliche Gebäude und Werke der Kunst sich Ansehen und Liebe unter ihren Bürgern erwecketen, und den Weg zur Ehre bahneten, floß in dieser Stadt, bey ihrer Macht und Größe, wie ins Meer die Flüsse, alles zusammen. Mit den Wis‐ senschaften ließen sich hier die Künste nieder; hier nahmen sie ihren vornehmsten Sitz, und von hier giengen sie in andere Länder aus. Daß in angeführten Ursachen der Grund von dem Wachsthume der Künste in Athen liege, bezeugen ähnliche Umstände in Florenz, da die Wissenschaften und Künste daselbst in neueren Zeiten nach einer langen Finster‐ niß anfiengen beleuchtet zu werden.“ ( Johann Joachim Winckelmann, Geschichte der Kunst des Alterthums, Erster Theil, Dresden 1764, S. 26) 91 „Nie sollten wir also eine schöne Geistesblüte des neuern Athen, – so heißt Florenz mit Recht wegen der Feinheit seiner Sprache, der Aufgewecktheit seiner Köpfe, und einst auch wegen seines rastlosen Demokratensinnes – geniessen oder bewundern, ohne dem Schatten Farinata’s degli Uberti zu huldigen.“ ([August Wilhelm Schlegel], Dante’s Hölle, in: Die Horen. Eine Monatsschrift, herausgegeben von Schiller, Bd. 1, St. 3, Tübingen 1795, S. 22– 69, hier S. 60) 92 Philipp Joseph Rehfues, Ansichten von Florenz im Sommer 1803, in: Ders., Briefe aus Italien während der Jahre 1801, 1802, 1803, 1804, 1805 mit mancherlei Beilagen, Bd. 3, Zürich 1809, S. 166–241: „Dieser und noch andere Züge möchten die treffendste Parallele zwischen Athen und Florenz, beide Staaten in der Zeit ihrer blühendsten Grösse genom‐ men, weiter bestätigen.“ (S. 219) 93 „Man hat Florenz das italienische Athen genannt; ich finde nichts Passenderes [. . . ]“ (Franz Grillparzer, Tagebuch auf der Reise nach Italien 1819, in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 19, 5. Aufl., Stuttgart 1894, S. 255 [1. Aufl. 1872]). 94 „Florenz ist überhaupt das italienische Athen, eine liebliche, Herz und Geist höchst an‐ ziehende Stadt“ ( Johann Georg August Galletti, Reise nach Italien im Sommer 1819, Gotha 1820, S. 134). Galletti (1750–1828) war der in Altenburg geborene Sohn eines ita‐ lienischen Opernsängers. Siehe hierzu auch den Beitrag des Schriftstellers, Philologen und Archäologen Karl August Böttiger (1760–1835) mit dem Titel „Gallerie zu Schillers Gedichten“, wo er behauptet, Weimar sei für Deutschland das, „was Athen für Griechen‐ land, Florenz einst für Italien war“ (Vierte Schaustellung. Szenen aus der Jungfrau von Orleans, in: Minerva. Taschenbuch für das Jahr 1812, Jg. 4, Leipzig 1812, S. 3).

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hardt, 95 Herman Grimm, 96 Karl Hillebrand, 97 Alfred von Reumont 98 und Adolf Friedrich von Schack 99 wieder aufgegriffen und verbreitet. Im sechsten, 1867 erschienenen Band von Gregorovius’ „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“, der das 14. und den Beginn des 15. Jahrhunderts bis zum Ein‐ zug Martins V. in Rom (1420) behandelt, lesen wir einige Überlegungen, die in der Verherrlichung der Stadt Florenz als der ersten Werkstätte des modernen Geistes deutlich von den Formulierungen in Burckhardts „Kultur der Renaissance“ abhän‐ gen, in der Betonung aber des guelfisch-republikanischen Freiheitssinnes, der alten Florentiner Freiheit, der Fähigkeit einer ebenmäßigen Entwicklung aller menschli‐ chen Kräfte in den Florentiner Bürgern, auch von Hermann Grimms „Leben Mi‐ chelangelo’s“ beeinflusst sind. 100 Diese Anregungen wurden von Gregorovius ori‐ ginell bearbeitet und weiter gedacht: Die moderne Bildung fand ihren Mittelpunct in Florenz, welches seit dem 14. Jahr‐ hundert im Abendlande die Stelle von Athen einzunehmen begann. Seine Bedeutung 95 Siehe Jacob Burckhardt, Historische Fragmente. Aus dem Nachlaß gesammelt von Emil Dürr, Stuttgart, Berlin 1942, § 17. 96 Siehe Herman Grimm, Leben Michelangelo’s, Erster Theil: Bis zum Tode Rafaels, Han‐ nover 1860, S. 3–10 (zahlreiche Auflagen). 97 „Es giebt zwei Namen in der Weltgeschichte, welche das Vorrecht haben, hell und heiter wie keine anderen an das Ohr der Menschen zu klingen: Athen und Florenz.“ (Karl Hil‐ lebrand, Lorenzo de’ Medici, in: Ders., Wälsches und Deutsches [wie Anm. 74], S. 16– 37, hier S. 16) 98 Siehe Forni, La questione di Roma medievale (wie Anm. 65), S. 23. 99 Siehe Adolf Friedrich von Schack, Ein halbes Jahrhundert. Erinnerungen und Auf‐ zeichnungen, Bd. 3, Stuttgart, Leipzig 1888, S. 15–26 (1856) und S. 68–79 (1858). 100 Grimm, Leben Michelangelo’s (wie Anm. 96), S. 4–14: „Athen war die erste Stadt Grie‐ chenlands. [. . . ] Florenz aber, in seinen schönsten Tagen nicht einmal die erste Stadt Italiens, erfreute sich in keinem Betracht außerordentlicher Vortheile. Es liegt nicht am Meere, nicht einmal an einem jederzeit schiffbaren Flusse. [. . . ]“ Rom, Pisa, Genua, Vene‐ dig „haben eine äußere Geschichte durchgemacht, der gegenüber die von Florenz nichts außerordentliches enthält: und trotzdem Alles, was zwischen 1250 und 1500 in Italien geschieht, farblos im Vergleich zu der Geschichte dieser einzigen Stadt. Ihre inneren Be‐ wegungen überbieten an Glanz die Anstrengungen der anderen nach innen und außen. [. . . ] Die Männer, die sie hervorbringt, erhöhen ihren Ruhm über den von ganz Italien und stellen Florenz Athen wie eine jüngere Schwester an die Seite. Es hatte keinen kriege‐ rischen Adel wie Venedig, keine Barone und Päpste wie Rom, keine Flotte, keine Soldaten, kaum ein Territorium. Innerhalb seiner Mauern saß ein launiges, geiziges, undankbares Volk von Parvenüs, Handwerkern und Kaufleuten, das bald [. . . ] unterjocht worden wäre und endlich erschöpft seine Freiheit wirklich dahingab. [. . . ] Dort lebt das Andenken an die Männer und an die alte Freiheit. [. . . ] Ihre Freiheit hat Athen und Florenz so groß ge‐ macht. Was Athen und Florenz vor anderen Staaten aber [. . . ] dennoch erhaben hinstellt, ist [. . . ] die Fähigkeit einer ebenmäßigen Entwicklung aller menschlichen Kräfte in ihren Bürgern.“

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für die Menschheit in jenen Zeiten ist die der ersten Werkstätte des modernen Geis‐ tes überhaupt. Diese Befähigung zur Hegemonie in diesem Sinne entsprang aus dem Zusammentreffen günstiger Bedingungen: guelphisch-republikanischer Freiheitssinn, welcher die Tyrannis nicht so bald aufkommen ließ, wie Mailand; Freiheit vom Druck principieller Weltmächte, gleich dem Papsttum und dem Kaisertum; arbeitsamer und neuerungssüchtiger Bürgersinn, der die Stände ausglich und ein immer wechselndes Staatsleben kunstvoll erzeugte; ein moderner, von den Monumenten des Altertums nicht belasteter Boden; keine maritime Lage der Art, wie sie Genua, Pisa und Vene‐ dig in Handelszwecken aufgehen ließ; endlich ein geistreiches, forschendes, experi‐ mentirendes Naturell 101 in einem reinen und melodischen Sprachelement. Seit dem 14. Jahrhundert war Florenz der italienische Musterstaat. 102

Der Mythos der florentinischen Freiheit und Demokratie, die Feststellung, dass Florenz bereits im 14. Jahrhundert eine Stellung im Abendland einnahm, welche derjenigen Athens in seinen besten Zeiten vergleichbar sei, wurde von ihm auch in der „Geschichte der Stadt Athen im Mittelalter“ wieder aufgegriffen, wo er sein Lob auf die politischen, sozialen und geistigen Errungenschaften dieser Stadt und seiner Bürger noch steigerte: Seit dem alten Athen hat in Wahrheit keine andere Stadt eine gleiche Fülle von Geist, Anmut und Schönheit ausgeströmt, als Florenz. Schon am Ende des 14. Jahrhunderts war sie unter vielen Kämpfen mit den toskanischen Nachbarstaaten zu Wohlhabenheit und Ansehen emporgekommen. Voll Klugheit hatte sie zwischen den beiden Macht‐ polen Italiens, dem Papst und dem Kaiser, ihre Unabhängigkeit zu bewahren gewußt, und trotz der wildesten Parteikämpfe der Guelfen und Ghibellinen, des Adels und der Popolanen in ihren Mauern die Tyrannis von sich abgewehrt. Freiheitssinn, Va‐ terlandsliebe, edler Ehrgeiz, rastlose Uebung und Anspannung der Bürgerkraft im pri‐ vaten wie öffentlichen Haushalt erhoben die Arnostadt zum ersten Range unter allen anderen Gemeinden Mittelitalien’s. Das Florentiner Volk war, wie der Demos Athen’s, von allen Leidenschaften und Schwankungen der Politik fieberhaft bewegt, immer unzufrieden und neuerungssüchtig, aber im Grunde von scharfem Verstande und für die Probleme der Staatskunst vorzugsweise geschickt. Eine kunstvolle demokratische Verfassung hatte die Ungleichheit der Stände gemindert oder ausgetilgt, und einen freien Staat geschaffen, in welchem jeder tüchtige Bürger zu den höchsten Ehrenstel‐ len berechtigt war. Doch war der Florentiner Staat in der Humanität weiter vorge‐ schritten, als der [. . . ] des alten Athen. Denn er hatte nicht, wie dieser, die Sclaverei zu 101 In den nach 1867 folgenden Neuauflagen dieses Bandes steht statt „experimentirendes Naturell“ „versuchendes Wesen“. 102 Ferdinand Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter, Bd. 6, Stuttgart 1867, S. 660–661. Bereits in dem 1856 veröffentlichten Essay über die öffentlichen Mo‐ numente von Florenz (wie Anm. 6), S. 138, hatte Gregorovius die „kleine Republik Flo‐ renz“ mit Athen verglichen.

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seiner Grundlage. Während in Athen die Arbeit als unwürdig des freien Bürgers galt, [. . . ] bildete sie das Lebensprincip der florentiner Republik, in welcher die militärisch eingerichteten Zünfte der Handwerker zur Regierung gelangt waren. Eine hochent‐ wickelte Industrie und weite Handelsbeziehungen machten das Bürgertum reich und genußfähig. Der offene Sinn für die Welt und die Freude an allem, was das Leben schmückt und veredelt, verhalf den Florentinern zu einer Bildung, welche diejenige aller andern Städte des damaligen Europa übertraf. Die toscanische Bildung aber ver‐ hielt sich ungefähr zu Italien, wie die attische sich zu Griechenland verhalten hatte. Man konnte Florenz seit dem 14. Jahrhundert dreist die Seele Italiens nennen, dies schon deshalb, weil die Arnostadt die am meisten italienische war. [. . . ] Die moderne Cultur Europa’s nahm dort ihren ersten Sitz, und die Hauptquellen der Renaissance versammelten sich in dieser Werkstätte des Humanismus [. . . ]. In dem florentinischtoscanischen Geiste lag etwas dem attischen Verwandtes; in ihm vollzog sich auch am ehesten die intellektuelle Verbindung der Antike mit dem Christentum. 103

Vor dem Hintergrund dieser Einschätzungen der Rolle, die das mittelalterliche und frühneuzeitliche Florenz in der Geschichte und in der Kultur des Abendlandes ge‐ spielt hat, nimmt es nicht Wunder, dass es gerade Gregorovius war, der 1886 Robert Davidsohn dazu ermunterte, sich mit der mittelalterlichen Geschichte von Florenz zu befassen. 104 Wir wollen nun ein paar Schlüsse ziehen und versuchen, auf die am Anfang die‐ ses Beitrags gestellte Frage nach dem goetheschen Vorbild eine Antwort zu geben. Was Rom anbelangt, so hat Hanno-Walter Kruft anlässlich des hundertsten Todes‐ tages von Gregorovius behauptet, Rom sei im goetheschen Sinne für Gregorovius zum Ort der Selbstfindung geworden. 105 Und Florenz? Im Unterschied zu Goethe, der sich für Florenz nicht richtig begeistern konnte, war Gregorovius’ Beziehung zu der Arnostadt eher zwiespältig. Die Stadt fand er selbstverständlich „bella e ci‐ vilissima“, wie er am 20. Oktober 1862 an Amari schrieb. 106 Und immer wieder

103 Ferdinand Gregorovius, Geschichte der Stadt Athen im Mittelalter, Bd. 2, Stuttgart 1889, S. 220–222. 104 Siehe Robert Davidsohn, Menschen, die ich kannte. Erinnerungen eines Achtzigjähri‐ gen, hg. von Martin Baumeister und Wiebke Fastenrath Vinattieri, unter Mitarbeit von Wolfram Knäbich, Berlin 2020, S. 188. 105 Kruft, Der Historiker als Dichter (wie Anm. 4), S. 11. 106 In: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 3), URL:https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000313.

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bezeichnet er sie als „bella Firenze“ oder „schönes Florenz“. 107 Immer wieder erklärt er sich von der Stadt bezaubert. 108 Gregorovius bewunderte wohl nicht nur die herrliche umgebende Landschaft und die Kunstschätze in ihr, sondern auch die im Vergleich zu Rom größere Mei‐ nungs- und Forschungsfreiheit in Florenz, die Liberalität, mit der ihm dort die Bi‐ bliotheken und Archive geöffnet wurden, das anregende und freiere Geistesleben der Stadt, der darüber hinaus, allerdings genauso wie in Rom, die Ausländerkolo‐ nien einen weltbürgerlichen Charakter verliehen. An Hermann von Thile schreibt er aus Florenz am 23. September 1858, die flo‐ rentinischen Bibliotheken und „selbst das Staatsarchiv“ seien ihm „mit aller Libe‐ ralität geöffnet worden“, 109 und an Gustavo Strafforello am 25. September 1858: „Io lascio Firenze, dove connobbi molti distinti letterati, e dove gli archivi mi fu‐ rono aperti con una liberalità veramente degna di questa coltissima città.“ 110 Kaum wieder in Rom, teilt er Theodor Heyse am 28. Oktober 1858 mit: „Ich fand Rom sehr trist auf Florenz, und in Bezug auf materielle Cultur kaum etwas besser als einen Pferdestall.“ 111 Schon gegenüber Reumont hatte er am 29. Mai 1855 über die Isolation der Literaten in Rom geklagt und am 10. März 1860 geht er so weit zu behaupten: „Es ist doch hier eine Wüste in litteris.“ 112 Immer wieder klagt er über die Armut an geistigen Kontakten in Rom. 113 Nach seinem Aufenthalt in der Stadt im September 1861 schreibt er an Hermann von Thile:

107 „La bella Firenze“ im Brief an Pasquale Villari, 28. Oktober 1858, in: Voci, „Un anel‐ lo ideale“ (wie Anm. 30), S. 149–151; „Schönes Florenz“ in den Briefen an Theodor Heyse, 20. Dezember 1855 und 6. Januar 1856, in: Gregorovius, Gesammelte deut‐ sche und italienische Briefe (wie Anm. 3), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma. it/letters/G000027 und URL:https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000034. „Das schöne Florenz“ bzw. „im schönen Florenz“ in den Briefen an Robert Davidsohn vom 20. Juni 1884 und 24. Oktober 1890, in: Hönig, Der Geschichtsschreiber der Stadt Rom (wie Anm. 2), S. 154 und S. 160. 108 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 3), Eintrag vom 15. Juli 1858 (aus der Villa Sabatier), S. 73: „Gestern war ich in Florenz. Die Stadt bezauberte mich wieder.“ 109 In: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 3), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000112. 110 Ebd., URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000020. 111 Ebd., URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000087. 112 Ebd., URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000062 und URL: https:// gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000092. 113 Siehe z. B. Gregorovius an Maria Teresa di Serego Alighieri Gozzadini und Giovanni Gozzadini, 28. Oktober 1864: „L’abbandono isolare, in cui viviamo qui a Roma, non mi permette di esser in contatto coi lavori Bolognesi, ma supplirerò a codeste privazioni nelle biblioteche di Firenze dentro l’anno venturo.“ (ebd., URL: https://gregorovius-edition. dhi-roma.it/letters/ed_fjk_4wf_t4b).

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Es ist viel Geist in Florenz, und mehr zusammen als in Rom; edle und thätige Männer genug wie Bonaini, 114 Michele Amari, [. . . ] einer der liebenswürdigsten Menschen, die mir in Italien begegnet sind, [. . . ] der würdige Greis Vieusseux und viele andere, so daß es dort recht erquicklich war. In Rom dagegen verdüstert sich alles immer mehr, fanatisirt sich, und klammert sich an Mumien und Reste todter Macht. 115

Rückschauend schrieb er am 6. Dezember 1874 an Auguste Nefftzer, einen der Kulturvermittler zwischen Frankreich und Deutschland und Gründer der „Revue germanique“: „Denn wer in Rom lebte, befand sich noch immer, in Bezug auf li‐ terarische Relationen, wie auf einer Insel Sanct Helena.“ 116 Als er im Juni 1887 einen flüchtigen Besuch in Florenz machte, um die oben erwähnte neue Fassade des Doms zu sehen, fand er sie „reicher und kunstvoller, als jene vor einigen Jahren vollendete der Kirche Santa Croce; beide aber liefern den Beweis, daß Florenz noch heute die Stadt der Ideale ist, während nichts Ideales mehr in Rom fortlebt, sondern hier alles im Materialismus untergeht“. 117 Noch 1888, als er im Frühjahr fünf Tage in Florenz zubrachte, war er von dem „herrlichen Ort“ begeistert, „der vielleicht jetzt wohnlicher ist, als jeder andere Italiens“. 118 Und doch war ihm Florenz am Ende viel zu eng und provinziell. Am 27. Juni 1865 schreibt er an Malwida von Meysenbug, Florenz sei „eine nun inhaltlose Localbühne, von reizenden Coulissen umstellt, nichts darbietend einem alten Römer“, 119 wie er es war. Und einige Tage später, am 16. Juli 1865, trägt er in das Tagebuch ein: „Flo‐ renz ist eine abgestorbene Lokalbühne mit reizenden Kulissen. Die Verlegung der Hauptstadt ist noch nicht fühlbar. Die großen Elemente, aus denen sich diese for‐ men könnte, fehlen in der Stadt der Grazien.“ 120 Denn in dieser Stadt wehte keine ‚weltgeschichtliche Aura‘, keine „Weltluft“ wie in Rom. Florenz hatte weder die über‐ wältigende „feierliche Majestät“ der „alma Roma“ 121 noch deren weltgeschichtliche Bedeutung. An Ignaz von Döllinger schreibt er am 8. Dezember 1869: „alles Mo‐ 114 Der Philologe und Archivar Francesco Bonaini (1806–1874). 115 Gregorovius an Hermann von Thile, 19. Oktober 1861, in: Briefe von Ferdinand Grego‐ rovius an den Staatssekretär Hermann von Thile (wie Anm. 68), S. 45–47, hier S. 46. 116 In: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 3), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/ed_af2_4fr_znb. 117 Gregorovius an Hermann von Thile, 19. Juni 1887 (wie Anm. 68), S. 189–191, hier S. 191. 118 Gregorovius an Hermann von Thile, 9. Mai 1888, ebd., S. 206–208, hier S. 206. 119 In: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 3), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000151. 120 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 3), S. 196. 121 Siehe den undatierten Brief an seinen Königsberger Freund Albrecht Pancritius, der kurz nach Gregorovius’ Ankunft in Rom im Oktober 1852 geschrieben wurde (in: Gregoro‐ vius, Briefe nach Königsberg [wie Anm. 72], S. 40–43, hier S. 41), sowie z. B. Gregorovius an Mathilde von Humboldt, 17. bis 24. Februar 1878, in: Gregorovius, Gesammelte

Gregorovius und Florenz

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mentane wird von der Weltluft dieser Stadt gleichsam aufgezehrt“. 122 Roms „Welt‐ luft“ war eine vorwiegend welthistorische, die durch mehr als zweitausend Jahre ge‐ weht hatte, und eben das war es, was Gregorovius faszinierte. Rom war „das Theater der Weltgeschichte“. 123 Florenz’ „Weltluft“ hatte sich in der geschichtlichen Ent‐ wicklung höchstens durch ein paar Jahrhunderte bewährt und war seit geraumer Zeit eine vorwiegend gesellschaftliche, gesellige, geistige Stadt geworden. Und mehr noch: Roms einzigartiges Gepräge, das Florenz fehlte, bestand in der jahrhunderte‐ langen Verbindung zweier Kulturen, der antiken und der christlichen. An David‐ sohn schrieb Gregorovius am 11. März 1886: „Florenz ist so schön; es ist wie ein Vorhof zu Rom, hat nicht den Welthorizont um sich her, wie die ewige Stadt, aber den Horizont der Renaissance.“ 124 Schon fast dreißig Jahre zuvor, in einem Brief an Moritz Hartmann vom 10. Dezember 1859, hatte er behauptet, Rom sei „ein Blick durch die ganze Weltgeschichte“. 125 Um einen Ausdruck Burckhardts zu variieren, der 1875 einem jüngeren Freund, dem Architekten Max Alioth, schrieb, Rom sei „eben doch Rom“ und Dresden sei wohl „herrlich“, aber eben „nur Dresden“, 126 so empfand auch Gregorovius, Rom sei eben doch Rom und Florenz zwar herrlich, aber doch nur Florenz.

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deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 3), URL: https://gregorovius-edition.dhiroma.it/letters/ed_hdq_x4g_rmb, wo er schreibt, in Rom wehe „eine historische Luft“. Gregorovius an Ignaz von Döllinger, 8. Dezember 1869 – so z. B. auch im Brief von Gre‐ gorovius an Gustav Parthey, 31. Dezember 1869, ebd., URL: https://gregorovius-edition. dhi-roma.it/letters/G000308 und URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/ G000324. Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 3), S. 338 (1874). Hönig, Der Geschichtsschreiber der Stadt Rom (wie Anm. 2), S. 152. Ferdinand Gregorovius an Moritz Hartmann, 10. Dezember 1859, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 3), URL: https://gregoroviusedition.dhi-roma.it/letters/G000080. Burckhardt an Max Alioth, 24. Juli 1875, in: Jacob Burckhardt, Briefe. Vollständige und kritische Ausgabe, bearb. von Max Burckhardt, Bd. 6, Basel, Stuttgart 1966, Nr. 679, S. 42–46. Siehe hierzu auch den Aufsatz von Christine Tauber, „Aber Rom war eben doch Rom und Dresden ist herrlich, aber nur Dresden“. Burckhardts italienische Kunst‐ betrachtungen südlich und nördlich der Alpen, in: Jacob Burckhardt, Die Kunst der Malerei in Italien, hg. von Christine Tauber, München 2003, S. 21–28.

Ferdinand Gregorovius als Forscher in italienischen Archiven und Bibliotheken Alberto Forni

1. Ankunft in Rom und Entscheidung, die „Geschichte“ zu schreiben

Als Gregorovius 1852 römischen Boden betrat, gab es in Rom nur zwei Biblio‐ theken, die regelmäßig für die Öffentlichkeit zugänglich waren: die Casanatense, nämlich die Bibliothek der Dominikaner, und die Bibliothek der Augustiner-Mön‐ che, die Angelica. 1 Er arbeitete damals noch an seinem Buch über Korsika, das zwei Jahre später erscheinen sollte; weniger als zwei Monate nach seiner Ankunft finden wir ihn in der Bibliothek des Dominikanerklosters bei Santa Maria sopra Minerva arbeitend; gerade damals war man dabei, die barocke Kirche im neogotischen Stil umzugestalten. 2 Diese Klosterbibliothek war damals die einzige, die die erste Reihe der „Monumenta Germaniae Historica“ besaß. Darüber hinaus verfügte sie über einen Bestand von Handschriften über die korsische Geschichte. 3 Wie Gibbon die Idee zu seiner „History of the Decline and Fall of the Roman Empire“ (1776–1788) schöpfte, als er den Gesang der Ordensbrüder in Santa Maria in Aracoeli hörte, so fasste Gregorovius 1854 den Gedanken, eine „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“ zu schreiben, „ergriffen vom Anblick der Stadt, wie sich dieselbe von der Inselbrücke S. Bartolomeo“ aus darstellte, 4 und zwar in der Über‐ zeugung, dass ein solches Werk auch für sein Vaterland von nationalem Interesse sein würde. Düstere Vorahnungen durchstreiften damals Rom: 1855 stürzte der Fußboden eines Raumes bei Sant’Agnese ein, in dem sich Pius IX. gerade aufhielt.

1 Armando Petrucci, I luoghi della ricerca. Archivi e Biblioteche, in: Archivio della Società Romana di Storia Patria, Bd. 100, Rom 1977, S. 177–191, hier S. 178–179. 2 Ferdinand Gregorovius, Römische Tagebücher, hg. von Hanno-Walter Kruft und Mar‐ kus Völkel, München 1991, 30. November 1852, S. 45. 3 Ersilio Michel, I manoscritti della Biblioteca Casanatense di Roma relativi alla storia di Corsica, in: Archivio Storico di Corsica, VIII / 2 (April – Juni 1932), S. 214–223. 4 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 2), Eintrag vom 3. Oktober 1854, S. 53. Siehe hierzu auch Angela Steinsiek, „Ich lese jetzt wieder Gibbon. Auch ihn [. . . ] be‐ geisterte Rom zu seinem Werke“ Ferdinand Gregorovius und Edward Gibbon, in: Edward Gibbon im deutschen Sprachraum – Bausteine einer Rezeptionsgeschichte, hg. von CordFriedrich Berghahn und Till Kinzel, Heidelberg 2015, S. 265–276.

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Gregorovius schien dies eine Vorankündigung vom Ende der weltlichen Gewalt der Päpste zu sein. 5 In der Casanatense blätterte er in der „Istoria civile del Regno di Napoli“ von Pie‐ tro Giannone und wurde dabei von dem Bibliothekar überwacht, weil dieses Werk auf den Index gesetzt worden war. 6 Der Bibliothekar war Pater Alberto Gugliel‐ motti, der künftige Historiker der päpstlichen und italienischen Marine, der sowohl von dem Garibaldiner Nino Bixio als auch von Papst Leo XIII. geschätzt wurde. 7 Guglielmotti war ein regelmäßiger Besucher der Vatikanischen Bibliothek und gab dem deutschen Gelehrten Auskunft über das, was dort zu finden war. 8 In der Ange‐ lica widmete sich Gregorovius den Vorarbeiten seiner „Geschichte der Stadt Rom“. 9 Als Erstes schlug er in Muratoris „Rerum Italicarum Scriptores“ (1723–1751) nach: „Ohne Muratori hätte ich die ‚Geschichte der Stadt‘ kaum schreiben können, und wer überhaupt kann die Geschichte des italienischen Mittelalters schreiben ohne fremde Hilfe? Kein Autor war so oft in meinen Händen als er, der Vater der moder‐ nen Geschichtsforschung überhaupt.“ 10 Gregorovius stieß bald auf Schwierigkeiten, als er versuchte, sich Zugang zu den römischen Archiven zu verschaffen. Der Archivar des Hauses Colonna, Antonio Coppi, der Muratoris „Annali d’Italia“ (1744–1749) bis ins Jahr 1861 fortsetzte, teilte ihm mit, dass in dem Archiv jener Familie keine Dokumente vorhanden seien, die für die Geschichte des mittelalterlichen Roms von Nutzen wären. 11 Nur der Herzog von Sermoneta, Michelangelo Caetani, stellte Gregorovius sein Archiv zur Verfügung. 12 Das Vatikanische Archiv blieb allen verschlossen. 1829, mehr als zwanzig Jahre zuvor, hatte sich Leopold von Ranke in Rom aufgehalten, dessen „Päpste“ 1834 erscheinen sollten. Ranke interessierte sich nicht für die Macht Roms im Altertum und im Mittelalter, sondern für das moderne Rom, das im 16. und 17. Jahrhundert noch einmal der religiöse und geistige Mittelpunkt der südeuropäischen lateini‐ schen Nationen war. Sein Thema wurde durch die Schließung des Vatikanischen Archivs bedingt. Die Berichte der aus Rom zurückkehrenden venezianischen Bot‐ schafter, die die Katastrophe von 1797 überlebt hatten und von Ranke in Venedig gesammelt wurden, bedurften der Bestätigung durch römische Dokumente. Der Bi‐ bliothekar der Vaticana, Angelo Mai, empfing Ranke höflich und ging mit ihm die 5 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 2), Eintrag vom 30. Mai 1855, S. 55. 6 Ebd., Eintrag vom 27. Juni 1855, S. 56. 7 Siehe Piero Crociani, Guglielmotti, Alberto, in: Dizionario Biografico degli Italiani, 61 (2003), S. 50–53. 8 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 2), Eintrag vom 25. Juni 1858, S. 72. 9 Ebd., Einträge vom 26. November 1855 und 7. Januar 1856, S. 57 und S. 59. 10 Ebd., Eintrag vom 29. September 1869, S. 266. 11 Ebd., Eintrag vom 7. Januar 1856, S. 59. 12 Ebd., Eintrag vom 31. Dezember 1857, S. 69.

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Kataloge durch. 13 Völlige Freiheit gewährte er ihm jedoch nicht: „Von den Schätzen des Vatican habe ich Kenntniß nehmen und eine Anzahl Bände für meinen Zweck benutzen können: doch ward mir die Freiheit, die ich mir gewünscht hätte, keines‐ weges gewährt.“ 14 Ranke aber entsann sich dessen, was Georg Heinrich Pertz 1824 über das Archiv der Familie Altieri geschrieben hatte 15 und verlagerte seine For‐ schungen in die Privatarchive der römischen Familien. In Rom war es schon immer schwierig, Kirche und Staat aus archivarischer Sicht zu trennen, insbesondere seit dem 17. Jahrhundert, als in ganz Europa die Adelsfamilien, die den Staat regierten, einen Teil der die staatlichen Angelegenheiten betreffenden Akten in ihren Händen hatten. Nirgendwo nahm dieses Phänomen ein ähnliches Ausmaß an wie in Rom, schreibt Ranke in der Vorrede seiner „Päpste“: „Die Privatsammlungen sind hier in gewisser Hinsicht zugleich die öffentlichen, und das Archiv des Staats zerstreute sich, ohne daß Jemand Anstoß daran genommen hätte, in die Häuser der verschie‐ denen Familien, welche die Geschäfte verwaltet hatten.“ Ein gutes Beispiel dafür war die Vatikanische Pinakothek: Trotz der Zahl ihrer Meisterwerke konnte sie mit dem Umfang und der historischen Bedeutung von Privatgalerien wie der Borghese oder der Doria nicht mithalten. 16 Ranke fand eine unverhoffte Fülle von Doku‐ menten in der Biblioteca Barberiniana sowie in der Corsiniana. Er gelangte zu der Überzeugung, dass der Vatikan zahlreiche Überraschungen bereithielte, aber nur für diejenigen, die sich dem Studium der großen Ziele der mittelalterlichen Kirche widmeten. Das war das Ziel von Gregorovius.

13 Brief von Leopold von Ranke an Karl Freiherrn von Stein zum Altenstein aus Rom, 11. April 1829: „Auch in Rom finde ich sowol die Bibliotheken reich, als die Bibliothe‐ kare, selbst den der Vaticana, sehr gefällig; es sind mir alle Erleichterungen, die ich füglich erwarten kann, dargeboten worden. Hr. A. Mai geht die Kataloge selbst mit mir durch; ich finde manches Bedeutende“ (Leopold von Ranke, Neue Briefe. Gesammelt und bearbeitet von Bernhard Hoeft, Nach seinem Tod hg. von Hans Herzfeld, Hamburg 1949, S. 123). 14 Leopold von Ranke, Die römischen Päpste, ihre Kirche und ihr Staat im sechszehnten und siebzehnten Jahrhundert, Bd. 1, Berlin 1834, Vorrede, S. V – XVIII, hier S. XI. 15 Brief von Leopold von Ranke an Barthold Georg Niebuhr, 14. Dezember 1824 (in: Leopold von Ranke, Das Briefwerk, eingeleitet und hg. von Walther Peter Fuchs, Hamburg 1949, S. 70–71). Über die Dokumente im Archivio Altieri hatte Ranke in der „Italiänischen Reise vom November 1821 bis August 1823“ von Georg Heinrich Pertz lesen können: „For‐ schungen für diese Zeit würden in Rom überhaupt sehr belohnen, wenn jemand ihnen einige Jahre ausschließend widmen wollte, indem das Institut der Cardinali-Padroni die interessantern Staatspapiere unfehlbar, statt in den Vatican und St. Angelo, in die Archive der großen Römischen Familien vertheilen mußte [. . . ]“ (Hannover 1824, S. 9). 16 Ranke, Die römischen Päpste (wie Anm. 14), S. XII.

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2. 1858–1859 – Die Wende: Florenz, Biblioteca Vaticana, Montecassino 2.1

Der Aufenthalt in Florenz zwischen Juli und September 1858 markierte einen Wen‐ depunkt in Gregorovius’ Studien. Dort machte er die Bekanntschaft von Francesco Bonaini, dem Vorsteher der Großherzoglichen Archive, und von Cesare Guasti, dem Reorganisator des Staatsarchivs, das Leopold II. sechs Jahre zuvor gegründet hatte. Guasti war Redakteur des von Giovan Pietro Vieusseux initiierten „Archivio storico italiano“ und Verfechter des ‚neomuratorismo‘, das heißt einer auf Quellen gestützten historischen Forschung. Guasti beschäftigte sich auch mit den Archiven von Lucca, Pisa und Siena; 17 Gregorovius wandte sich mehrmals an ihn und bat ihn um Abschriften von Dokumenten. 18 Während seiner Florentiner Monate hatte der preußische Historiker Gelegen‐ heit, Giovan Pietro Vieusseux kennenzulernen, dessen „Gabinetto scientifico-let‐ terario“ seit 1820 den Bezugspunkt der liberal und unitarisch gesinnten Geister darstellte: unter ihnen war Gino Capponi, den Gregorovius 1875 in Florenz erneut traf und der dessen damals eben erschienene „Storia della Repubblica di Firenze“ für antiquiert befand; 19 dann der Sizilianer Paolo Emiliani Giudici, ein säkularisierter Dominikaner, der 1855 eine erste Auflage seiner „Storia della letteratura italiana“ publiziert hatte, der die kirchlichen Behörden protestantische Tendenzen vorge‐ worfen hatten; 20 schließlich der damals an einer Biographie Savonarolas (1859– 1861) arbeitende Pasquale Villari, der den Dominikanermönch nicht als einen Kir‐ chenreformator, quasi als einen Vorläufer Luthers ansah, sondern als ein Symbol der ersten Anfänge einer neuen italienischen Zivilisation. Jahre später, als Gregoro‐ vius sich in seiner „Geschichte der Stadt Rom“ mit Savonarola auseinandersetzte – der „freisinngste Patriot“, der „genialste Denker“ und einzige moralische Vertreter 17 Siehe Zeffiro Ciuffoletti, Guasti, Cesare, in: Dizionario Biografico degli Italiani, 60 (2003), S. 501–505. 18 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 2), Einträge vom 13. September 1858 und 31. März 1875, S. 74 und S. 348. Siehe auch die Briefe von Gregorovius an Cesare Guasti, 4. Oktober 1863 und 26. April 1873, in: Ferdinand Gregorovius, Poesie und Wissenschaft. Gesammelte deutsche und italienische Briefe (digitale Edition), hg. von An‐ gela Steinsiek, Deutsches Historisches Institut in Rom 2017–2023, URL: https://gregoro‐ vius-edition.dhi-roma.it/letters/G000429 und https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/ letters/G067728. 19 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 2), Einträge vom 13. September 1858 und 31. März 1875, S. 74 und 348. 20 Ebd., Eintrag vom 31. August 1858, S. 73; siehe Lucia Strappini, Emiliani Giudici, Paolo, in: Dizionario Biografico degli Italiani, 42 (1993), S. 608–613.

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seiner Nation –, hob er nicht so sehr dessen Rolle als Reformator hervor, sondern seine Regierungsgrundsätze, die später von Machiavelli geschätzt wurden. 21 Der deutsche Forscher verdankte Atto Vannucci – einem republikanisch gesinn‐ ten Priester, der von Lamennais beeinflusst war, dem Historiker der Märtyrer der italienischen Freiheit – den Zugang zur Biblioteca Magliabechiana, die kurz danach mit der Biblioteca Palatina zusammengefügt wurde und 1861 die Biblioteca Na‐ zionale Centrale von Florenz werden sollte. 22 Auch zur Laurenziana hatte Grego‐ rovius Zugang. Dort empfing ihn der aus der Romagna stammende Bibliothekar Luigi Crisostomo Ferrucci, ehemals Scriptor der Vaticana und arkadischer Dichter, den Vincenzo Monti für einen der „gelehrtesten Latinisten des Jahrhunderts“ gehal‐ ten hatte. 23 Dort fand Gregorovius die erste, auf das 12.–13. Jahrhundert zurück‐ gehende, im italienischen ‚Volgare‘ verfasste Version der „Mirabilia urbis Romae“, die 1915 von Ernesto Monaci untersucht werden sollte. Gregorovius’ Entdeckung wurde in Cottas „Allgemeiner Zeitung“ angezeigt. 24 Bevor er Florenz verließ, machte Gregorovius die Bekanntschaft mit dem Ar‐ chivar von Montecassino, dem Benediktiner Sebastiano Kalefati, der an einem ita‐ lienisch-byzantinischen Codex arbeitete, in dem die die süditalienische Geschichte betreffenden griechischen Urkunden gesammelt wurden. 25 Diese Begegnung war ein Vorbote für die Eröffnung neuer Archive im folgenden Jahr.

21 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 2), Eintrag vom 31. August 1858, S. 73; Ders., Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter, Bd. 7, Stuttgart: Cotta 1870, S. 413–417. 22 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 2), Eintrag vom 13. September 1858, S. 74; siehe Fulvio Conti, Vannucci, Atto, in: Dizionario Biografico degli Italiani, 98 (2020), S. 270–273. 23 Siehe Lidia Maria Gonelli, Ferrucci, Luigi Crisostomo, in: Dizionario Biografico degli Italiani, 47 (1997), S. 241–243. 24 In der „Allgemeinen Zeitung“ vom 12. Oktober 1858 war aus der Feder des Florentiner Korrespondenten zu lesen: „Gregorovius hat sich in seinen Erwartungen wohl nicht recht befriedigt gesehen. Das Archiv hat ihm über das Mittelalter der Stadt Rom keine Auf‐ schlüsse gegeben, wenn wir etwa eine topographische Arbeit ausnehmen, die aus dem zwölf‐ ten Jahrhundert seyn soll: Mirabilia Urbis Romae. Es konnte deßhalb hier kein Bleiben für ihn seyn“ (Nr. 285, S. 4608). Siehe hierzu den Brief von Gregorovius an Theodor Heyse, 28. Oktober 1858, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 18), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000087. 25 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 2), Eintrag vom 19. September 1858, S. 75; siehe Tommaso Leccisotti, I Regesti dell’Archivio, Bd. 1, Rom 1964, S. LIII–LV.

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2.2

Obwohl sich die ersten zwei Bände der „Geschichte der Stadt Rom“ vorwiegend auf allgemeine Werke sowie auf epigraphische und monumentale Zeugnisse stützen, schimmert aus ihnen bereits die grundlegende Inspiration des Werks durch. Anders als bei Gibbon erscheint hierin die spätantike römische Geschichte als eine Palin‐ genese, nicht als eine Zeit der Dekadenz. Das Papsttum, der wahre Erbe des alten Reichs, war der erste Urheber dieser ‚renovatio‘. In der „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“ findet man, „keine Spur von engstirnigen antipäpstlichen Vorurtei‐ len eines Protestanten“; vielmehr wird „jenes berühmte Verdikt Machiavellis, der die Päpste dafür verantwortlich gemacht hatte, die Geschichte Italiens von ihrem Weg abgebracht zu haben“, umgestoßen. 26 Am 24. Mai 1859 begann Gregorovius seine Arbeiten in der Biblioteca Vaticana, eine Woche, bevor die zwei Sieger von Palestro, Napoleon III. und Viktor Emma‐ nuel II., mit den Militärmanövern in Richtung Mailand begannen. In Rom war alles still: „Die aufgeregtesten Momente der Zeit fallen hier wie tonlos in die Ewigkeit nieder.“ 27 Hilfe beim Zugang zu der Vatikanischen Bibliothek bekam er von Gio‐ vanni Battista De Rossi, der „größte Gelehrte in Rom, in den Katakomben gleich‐ sam aufgewachsen“. 28 Förmlich vorgestellt und empfohlen wurde Gregorovius von dem Katholiken Alfred von Reumont, dem künftigen Verfasser einer „Geschichte der Stadt Rom“ (1866–1870), die der „Geschichte“ von Gregorovius gegenüber‐ gestellt werden sollte. 29 Während Reumont in seinem Brief an den Staatssekre‐ tär Giacomo Antonelli einen Historiker als seinen Landsmann vorstellte, der „ein ansehnlicher Schreiber historischer Dinge“ war, der sich mit einer Geschichte des mittelalterlichen Rom beschäftigte, „deren Druck bereits begonnen hat und die der Autor schon bis zur Krönung Karls des Großen geführt“ hat, 30 bezeichnete Grego‐ 26 Siehe Girolamo Arnaldi, Gregorovius als Geschichtsschreiber der Stadt Rom: das Früh‐ mittelalter. Eine Würdigung, in: Ferdinand Gregorovius und Italien. Eine kritische Würdi‐ gung, hg. von Arnold Esch und Jens Petersen, Tübingen 1993, S. 117–130, hier S. 119 und S. 130. 27 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 2), Einträge vom 11. und 27. Mai 1859, S. 79. 28 Gregorovius an Hermann von Thile, 12. Januar 1858; siehe auch den Brief von Gregorovius an Giovanni Battista de Rossi, 20. Mai 1859, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 18), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/ G000067 und https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000404; Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 2), Eintrag vom 31. Dezember 1858, S. 77. 29 Siehe Alberto Forni, La questione di Roma medievale. Una polemica tra Gregorovius e Reumont, Rom 1985, S. 150–151. 30 Alfred von Reumont an Giacomo Antonelli, 28. April 1859, in: Gregorovius, Gesam‐ melte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 18), URL: https://gregorovius-edition. dhi-roma.it/letters/G000402.

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rovius sich in seinem Schreiben an Antonelli als einen Archäologen, der bestimmte Kodices einzusehen wünschte, wie diejenigen von Pietro Mallio, Nicolò Signorili und Pier Luigi Galletti, in denen „archäologischer Stoff“ aus der Antike und dem Mittelalter behandelt wird. 31 Der Historiker des Papsttums verkleidete sich als An‐ tiquar, wie er zwei Jahre später an Hermann von Thile schrieb: Es ist gut, daß diese Ketzereien nicht von den Monsignoren im Vatican gehört werden, welche mir nach wie vor die Benutzung einiger Codices erlauben. Wenn ich dort ar‐ beite, demütigt mich das Gefühl, daß die Wissenschaft noch auf Schleichwegen gehen muß. Verkappt in der Maske eines antiquarius innocuus, als welcher topographische Dinge erforscht, erhasche ich mir daselbst manchen Codex, der weit andere als solche Unschuldigkeiten enthält, aber in das geheime Archiv führt mich kein Weg [. . . ]. 32 31 Gregorovius an Giacomo Antonelli, 30. April 1859: „Il sottoscritto si prende la libertà di chie‐ der umilmente Sua Eminenza volesse degnarsi di concedergli l’accesso alla biblioteca Vaticana; egli desidera di veder certi codici, come del Pietro Mallio, del Signorili, del Galletti, in cui si tratta materia di archeologia dei tempi antichi e del medio Evo. Onde introdursi qual’uno, che per causa di gravi e faticosi studj abbia bisogno di quel favore, che Sua Eminenza suol concedere a professori di lettere di qualunque nazione, il sottoscritto si onora di acchiudervi una lettera del baron de Reumont, Ministro Prussiano residente a Firenze, ed egli prega con calde e divote preghiere, che gli si dia la licenza desiderata, di modo, ch’egli possa approfitarsene in queste set‐ timane, essendo che’ egli parte presto da Roma. Di Sua Eminenza Reverendissima umilissimo et devotissimo servo Dr. Ferdinando Gregorovius di Prussia“ (dt.: „Der Unterzeichnete erlaubt sich, Seine Eminenz in aller Bescheidenheit zu bitten, ihm Zugang zur Vatikanischen Biblio‐ thek zu gewähren; er möchte bestimmte Kodizes sehen, wie die von Pietro Mallio, Signorili und Galletti, die sich mit Fragen der Archäologie des Altertums und des Mittelalters befassen. Der Unterzeichnete beehrt sich, ein Schreiben des Freiherrn von Reumont, des in Florenz resi‐ dierenden preußischen Ministers, beizufügen, um sich all jenen vorzustellen, die wegen ernster und mühsamer Studien jener Gunst bedürfen, die Seine Eminenz gewöhnlich den Professoren der Literatur jeder Nation gewährt, und er bittet mit warmer und ergebener Bitte, ihm die gewünschte Erlaubnis zu erteilen, damit er sie in diesen Wochen in Anspruch nehmen kann, da er Rom bald verlassen wird. Seiner Hochwürdigen Eminenz demütigstem und ergebenstem Diener Dr. Ferdinand Gregorovius von Preußen“ (in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe [wie Anm. 18], URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/ G000403). Der Brief ist mit dem auf den 10. Mai datierten Bearbeitungsvermerk: „Nulla osta“ (= Erlaubnis) des Primo Custode, Mons. Asinari di San Marzano versehen. In der Biblioteca Apostolica Vaticana, Archivio della Biblioteca, Ammissione allo studio, 1 (domande di stu‐ diosi: 1851–1860) vom 10. Mai 1859 wird Gregorovius zusammen mit dem Engländer B. H. Alford die „autorizzazione“ (= Genehmigung) erteilt (Nr. 2033 f. 572 r). Siehe Christine Maria Grafinger, Gregorovius versus Grisar. Hartmann Grisar und die Entstehung seiner Geschichte Roms und der Päpste im Mittelalter, in: Dall’Archivio Segreto Vaticano. Miscel‐ lanea di testi, saggi e inventari, Bd. 4, Città del Vaticano: Archivio Segreto Vaticano 2009, S. 265–278, hier S. 265–268. 32 Gregorovius an Hermann von Thile, 17. März 1861, in: Gregorovius, Gesammelte deut‐ sche und italienische Briefe (wie Anm. 18), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/ letters/G000132.

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Wenngleich höflich empfangen von dem „Primo Custode“ der Bibliothek, Mons. Alessandro Asinari di San Marzano, blieb dem protestantischen Historiker der Zu‐ gang zum Vatikanischen Archiv, den „wichtigsten Schatzkammern der Geschichte“, bis zum Jahr 1874, als er Rom verließ, verwehrt; dem General Cadorna sei es nicht gelungen, eine Bresche, auch in die leoninischen Mauern zu reißen und er hatte somit die Hoffnungen der Gelehrten enttäuscht. 33 Dennoch in der Zeit als Grego‐ rovius in der Vaticana den Regest von Farfa konsultierte, besuchte er oft Peter An‐ dreas Munch, den norwegischen Volkshistoriker, der 1863 plötzlich verstarb und bei der Cestius Pyramide begraben wurde, auf dem protestantischen Friedhof – der Gegenstand des einzigen Gemäldes wurde, das sein berühmter Neffe Edvard in Rom 1927 ausführte. Jeden Freitag versammelte Munch bei sich Norweger, Schweden, Deutsche, Franzosen und Römer; Gregorovius zeigte er zahlreiche Abschriften von Urkunden, vielleicht auch aus dem Vatikanischen Archiv, 34 zu denen Munch dank seiner Beziehungen zu dem Präfekten, dem Oratorianer Augustin Theiner, Zugang hatte. Munch erstellte auch ein erst 1874 nach dem Tode des Präfekten veröffent‐ lichtes Handbuch für Gelehrte, die im Vatikanischen Archiv arbeiten wollten. 35 Auch wenn ihm das Archiv unzugänglich blieb, fand Gregorovius in der Vati‐ kanischen Bibliothek eine unverhoffte Menge an Materialien in den Abschriften, die Pier Luigi Galletti von Urkunden aus den bis zur Einheit Italiens oft verstreu‐ ten oder unzugänglichen römischen kirchlichen Archiven angefertigt hatte: „Es ist kaum zu glauben, wie viele Urkunden der unermüdliche Galletti kopiert und in die Vaticana zurückgelegt hat. Nun ist aber diese Arbeit, 100 Bände Sammelsurium, nichts anderes als membra disjecta; ich habe viel Zeit verwendet, um darin zu fi‐ schen und habe daraus Schätze herausgefischt.“ 36 Während überall der Anschluss an Piemont verkündet wurde und „wie unter einem Zauber [. . . ] sich ein neues Italien“ bildete, 37 stieg Gregorovius am 6. Okto‐ ber 1859 nach Montecassino hinauf. Es waren fast zehn Jahre vergangen, seitdem im Januar 1850 Ernest Renan das Kloster besucht hatte, der einen außerordentli‐ chen Eindruck hinterlassen hatte. Wenn überhaupt der moderne Geist über Italien 33 Ferdinand Gregorovius, Das römische Staatsarchiv, München 1876, S. 8 (Sonderdruck aus: Historische Zeitschrift, Bd. 36, S. 141–178). 34 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 2), Einträge vom 19. Januar 1861, 16. März 1861 und 28. Mai 1863, S. 122, S. 127 und S. 161. 35 Hjalmar Torp, Lo storico norvegese Peter Andreas Munch nell’Archivio Segreto Vaticano, 1858–1861 (in: L’Archivio Segreto Vaticano e le ricerche storiche, hg. Paolo Vian, Città del Vaticano 4–5 giugno 1981, Rom 1983, S. 5–22). 36 Gregorovius an Sebastiano Kalefati, 6. Juni 1861, in: Gregorovius, Gesammelte deut‐ sche und italienische Briefe (wie Anm. 18), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma. it/letters/G000427. 37 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 2), Eintrag vom 29. September 1859, S. 85.

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geweht hatte, dann kam dieser Geist aus Montecassino. Dort lehrte man die von der Kirche verurteilten Lehren von Rosmini, Gioberti und Ventura; dort konnte jeder, der die Zelle des Bibliothekars Sebastiano Kalefati betrat, sofort das Buch von David Friedrich Strauß über „Das Leben Jesu“ (1835–1836) sehen; dort durfte man sich über Kant, Hegel sowie über den Helden Garibaldi unterhalten. Es war ein Kloster, dessen Archiv allen offenstand und das in Luigi Tosti den italienischen Lamennais hatte. Tosti war der berühmte Autor der „Storia della Lega Lombarda“ (1848), eines Buchs, das die schönsten Tage der ersten Jahre des Pontifikats von Pius IX. begleitet hatte, als man über Antonio Rosmini als möglichen Staatssekretär sprach sowie, nach der Ermordung Pellegrino Rossis, davon, dass der Pontifex in Montecassino Zuflucht finden würde und nicht, wie es dann tatsächlich geschehen sollte, in Gaeta. In den Mönchen von Montecassino hatte Ernest Renan die voll‐ kommene Verwirklichung des „Spiridion“ von George Sand erblickt, die Apologie der letzten Apostel des ewigen joachimitischen Evangeliums, die die Morgenröte einer neuen Wissenschaft herbeisehnten. 38 Als Gregorovius 1859 zur Abtei hinaufstieg, lag das Jahr 1848 in ferner Er‐ innerung, Garibaldi war nicht mehr der Held des Klosters, der Archivar Kale‐ fati beschäftigte sich ausschließlich mit harmlosen Diplomen. Der Pater Nicola d’Orgemont zeigte Gregorovius in seiner Zelle die Werke Goethes, Schillers, Les‐ sings, Herders und Klopstocks. Das war, so dachte der Deutsche, die Folge der großen philosophischen Tradition Süditaliens. Er fühlte sich wie in seinem eigenen Haus; sogar das Zimmer, das ihn beherbergte, erinnerte ihn mit seinen hohen Wän‐ den und dem Kreuzrippengewölbe an sein „väterliches Schloß“ im ostpreußischen Neidenburg. Er beobachtete Luigi Tosti: Es sei alles Intuition in ihm, er arbeite oder studiere wenig, er schöpfe alles aus sich selbst. Sein glückliches Gemüt sei niemals von Ehrgeiz gequält. In seinem Blick liege etwas von überlegener Klugheit, die Hal‐ tung eines Kirchenfürsten. Es sei in ihm der ererbte Geist der Benediktineraristo‐ kratie. 39 Gregorovius arbeitete viele Stunden im Archiv, das Jahre zuvor von Wilhelm Giesebrecht besucht worden war, der Luigi Tosti 1845 einen Beitrag über die „Car‐ mina“ des Mönches Alfano gewidmet hatte. 40 Es war eine Ironie des Schicksals, dass gerade in jenen Tagen auch Theiner, der Präfekt des Gregorovius unzugäng‐ lichen Archivs jenseits des Tibers, sich in Montecassino aufhielt: „Er gleicht ei‐ nem ergrauten Eremiten. Nichts Freies, Geniales, Menschliches ist in dieser Per‐ 38 Siehe Alberto Forni, Lo storico delle tempeste. Pensiero e azione in Luigi Tosti, Rom, Montecassino 1997, S. 1–2 mit Anm. 2. 39 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 2), Einträge vom 6.–17. Oktober 1859, S. 85–90. 40 Wilhelm von Giesebrecht, De litterarum studiis apud Italos primis medii aevi saeculis, Berlin 1845.

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sönlichkeit zu erkennen. Die Wissenschaft Theiners ist nur geistloser archivalischer Stoff.“ 41 In seiner Polemik gegen die Protestanten war Theiner so weit gegangen, dass er Luthers Religion für eine radikale Verneinung des Christentums gehalten und Schillers und Goethes Dichtung als ein Ergebnis der aus der Ungläubigkeit herrührenden Verzagtheit angesehen hatte. 42 Gregorovius beschuldigte ihn später, die deutschen Buchhandlungen aufgehetzt zu haben, die Bände seiner „Geschichte der Stadt Rom“ nicht zu verkaufen. 43 Gregorovius konnte immerhin von Theiners 1861–1862 erschienenem „Codex diplomaticus dominii temporalis Sanctae Sedis“ profitieren, der wichtige Urkunden aus dem Vatikanischen Archiv enthielt. 44 Mit den Cassinenser Mönchen blieb Gregorovius immer in einer festen geistigen Beziehung, ob es darum ging, im Namen Karl Wittes, der an der ersten kritischen Ausgabe der „Divina Commedia“ arbeitete, eine Kollationierung der von Pietro Alighieri glossierten Dante-Handschrift aus Montecassino zu erbitten 45 oder ob er mit ihnen das Datum der Wiederherstellung des römischen Senats erörterte. 46

3. Die sechziger Jahre: Wanderjahre in italienischen Archiven und Bibliotheken

In den sechziger Jahren erweiterte Gregorovius die Stätten seiner Forschungen. In Rom blieb die Biblioteca Vaticana immer maßgeblich; dort begegnete er Anfang 1862 zum ersten Mal Theodor Mommsen, der zusammen mit Giovanni Battista De Rossi und Wilhelm Henzen an dem Großprojekt des „Corpus Inscriptionum

41 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 2), Eintrag vom 12. Oktober 1859, S. 88. 42 Agostino Theiner, Dell’introduzione del protestantesimo in Italia tentata per le mene de’ novelli banditori d’errore nelle recenti congiunture di Roma, o sia La Chiesa cattolica difesa colle testimonianze de’ protestanti, Neapel, Rom 1850, S. 21 und S. 173–175. 43 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 2), Eintrag vom 1. Februar 1863, S. 158. 44 Siehe Arnold Esch, Leone XIII, l’apertura dell’Archivio Segreto Vaticano e la storiografia, in: Leone XIII e gli studi storici, Atti del Convegno Internazionale Commemorativo, Città del Vaticano, 30–31 ottobre 2003, hg. von Cosimo Semeraro, Città del Vaticano 2004, S. 20–43, hier S. 25. 45 Gregorovius an Luigi Tosti, 26. März 1860, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 18), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/ G000423. 46 Gregorovius an Sebastiano Kalefati und Luigi Tosti, 19. Mai 1861 und an Kalefati, 6. Juni 1861, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 18), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000426 und https:// gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000427.

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Latinarum“ arbeitete. 47 In jenem Jahr arbeitete Gregorovius auch in der Chigiana; dort, als er Jahre später über die Borgias schrieb, schlug er die Auszüge aus dem „my‐ thischen“ „Liber notarum“ des Johann Burkard nach, „eine unwiderlegte, authen‐ tische Quelle der Geschichte des Papsttums jener Zeit“. 48 1862 öffnete ihm Don Vincenzo Colonna das Familienarchiv, wo er nachprüfen konnte, was ihm Jahre zu‐ vor der Archivar Antonio Coppi mitgeteilt hatte, dass nämlich das Colonna-Archiv nur sehr wenige Dokumente zum mittelalterlichen Rom besaß. 49 Im nächsten Jahr erhielt Gregorovius durch De Rossi Zugang zum Archivio Storico Capitolino, wo er die Statuten der römischen Kaufleute entdeckte, die einzige auf uns gekommene Quelle zu diesen römischen Korporationen, die im Jahre 1319 einsetzt; er benutzte sie, um ein Verzeichnis der römischen Senatoren zu erstellen. 50 Erfolgreich waren einige seiner Recherchen in der Barberiniana, die damals noch im Familienpalast untergebracht war, 51 sowie in den Archiven der Caetani, 52 der Conti-Ruspoli, 53 der Orsini (damals auf dem Monte Savello), wo er interessante Papiere über den Orsini-Zweig von Bracciano fand, 54 und im Archiv von Santa Croce in Gerusa‐ lemme, heute in der Biblioteca Nazionale Centrale von Rom. 55 Die Ergebnisse die‐ ser Forschungen nutzte Gregorovius für die Revision der ersten zwei Bände seiner „Geschichte der Stadt Rom“ (1869), die erstmals 1859 erschienen waren, als er noch Schwierigkeiten hatte, Zugang zu den Quellen zu erhalten. Seine ‚Wanderjahre in Italien‘ verwandelten sich bald in Besuche in Archiven und Bibliotheken, die die italienische Regierung im Begriff war, umzugestalten; dadurch kam er in Kontakt mit hochrangigen Historikern, Beamten und Politi‐ kern. In den Septembertagen von 1861, als Vittorio Emanuele II. in Florenz ein‐ 47 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 2), Eintrag vom 13. April 1862, S. 144. Siehe Christine Maria Grafinger, Theodor Mommsens Studien an der Vatikanischen Bibliothek, in: Miscellanea Bibliothecae Apostolicae Vaticanae, Bd. 10, Città del Vaticano 2003, S. 127–135. 48 Ferdinand Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter, Bd. 7, 4. Aufl., Stutt‐ gart: Cotta 1894, S. 602–603 – vgl. die Formulierung in der 1. Aufl. des Bandes (1870), wo es heißt, die Abschriften des Diariums von Johann Burkard deuten „auf eine bestimmte und gemeinsame Quelle, wol das Diarium selbst“ (S. 601). 49 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 2), Einträge vom 30. November 1862 und 1. Februar 1863, S. 156 und S. 158. 50 Gregorovius an Giovanni Battista De Rossi, 28. April 1863, in: Gregorovius, Gesam‐ melte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 18), URL: https://gregorovius-edition. dhi-roma.it/letters/G000410. Siehe Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 2), Eintrag vom 1. November 1863, S. 173. 51 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 2), Eintrag vom 8. Juli 1867, S. 225. 52 Ebd., Eintrag vom 29. Mai 1864, S. 179. 53 Ebd. 54 Ebd., Einträge vom 28. April und 14. Juni 1868, S. 244 und S. 246. 55 Ebd., Eintrag vom 30. April 1865, S. 194.

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zog, machte Gregorovius in der Magliabechiana die Bekanntschaft mit Michele Amari. 56 An den Verfasser der „Storia dei Musulmani in Sicilia“ (1854–1872) hat er sich später gewandt, um Zugang zu den Archiven von Neapel, Siena, Bologna zu bekommen 57 sowie um ihn auf den beklagenswerten Zustand des Bologneser Archivs und des Grabmals von Theoderich in Ravenna aufmerksam zu machen, das langsam im Sumpf versank. 58 Im August 1862 arbeitete Gregorovius ohne Erfolg in der Ambrosiana; im Sep‐ tember besuchte er die Biblioteca Reale von Turin, begleitet von Carlo Promis, einem Architekten und Archäologen, dem Carlo Alberto die Ausgrabung in Luni anvertraut hatte. 59 Es war der Beginn einer Beziehung zu den sabaudischen Krei‐ sen, die 1878 in der von Königin Margherita in einer Privataudienz zum Ausdruck gebrachten Einladung gipfelte, eine Geschichte des Hauses Savoyen zu schreiben. Gregorovius lehnte ab. 60 Als er im September 1863 erneut in Florenz war, lernte Gregorovius den Tren‐ tiner Tommaso Gar kennen, der einer seiner wichtigsten Briefkorrespondenten wurde. 61 Der transalpinen Kultur verbunden, Mitarbeiter des von Capponi und Vieusseux betreuten „Archivio storico italiano“, Übersetzer ins Italienische von Pa‐ pencordts „Cola di Rienzo“ (1844), wurde Gar im selben Jahr zum Direktor der Biblioteca Universitaria von Neapel ernannt. Benedetto Croce hielt ihn für einen Mann, der in historischen Studien bewandert und ein profunder Kenner der deut‐ schen Literatur war; für die neapolitanische Universitätsbibliothek schaffte er mo‐ derne philosophische, philologische und wissenschaftliche Literatur an. 62 In Nea‐ pel blieb Gar bis März 1867, als er Direktor des Archivio Generale von Venedig 56 Ebd., Eintrag vom 17. September 1861, S. 137. 57 Gregorovius an Michele Amari, 11. Juli 1863 und 9. September 1863, in: Gregoro‐ vius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 18), URL: https://gregoro‐ vius-edition.dhi-roma.it/letters/G000315 und https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/ letters/G000316. 58 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 2), Eintrag vom 10. Oktober 1873, S. 172 und ders., Ravenna, in: Von Ravenna bis Mentana, Leipzig: Brockhaus 1871, S. 21– 22. 59 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 2), Einträge vom 26. Juli und 18. Sep‐ tember 1862, S. 149 und S. 154. 60 Ebd., Eintrag vom 7. April 1878 und 1879, S. 399–400 und S. 412 und Gregorovius an Raffaele Mariano, 1. November 1878, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und ita‐ lienische Briefe (wie Anm. 18), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/ed_ lrk_dfs_klb/nqdz_tqj_1mb. 61 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 2), Eintrag vom 28. September 1863, S. 170. 62 Benedetto Croce, La vita letteraria a Napoli dal 1860 al 1900, in: La letteratura della nuova Italia. Saggi critici, Bd. 4, 7. Aufl., Bari 1964. Saggi di storia letteraria e politica, Bd. 6, S. 315.

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wurde, das Gregorovius in den folgenden Jahren häufig besuchte. 63 1868 erschien sein „Quadro storico-critico della letteratura germanica del nostro secolo“, das als das „gewissenhafteste Nachschlagewerk über die deutsche Kultur insgesamt, und nicht nur in literarischer Hinsicht, des ganzen italienischen 19. Jahrhunderts“ be‐ zeichnet worden ist. 64 Gregorovius schrieb in seinem in der „Allgemeinen Zeitung“ veröffentlichten Nachruf auf Gar: „Ich fand nirgends einen Italiener, der ein so helles Urtheil und ein so tiefes Verständnis für Deutschland besaß.“ 65 1863 war auch das Jahr, in dem Gregorovius begann, Bibliotheken der EmiliaRomagna aufzusuchen. Auf seiner Rückfahrt aus Deutschland machte er in Parma Halt, wo die Palatina seit kurzem unter der Leitung des Brescianer Historikers Federico Odorici stand. 66 Gregorovius reiste dann nach Bologna, einst die Perle des päpstlichen Dominium Temporale, auf dessen Mauern, wie er notierte, „das schönste Wort des Altertums: ‚Libertas! Libertas!‘“ stand. 67 Luigi Frati zeigte ihm die zwanzig herrlichen Säle des Archiginnasio, der einzigen italienischen Bibliothek, die nach den Kriterien von Jacques Charles Brunets thematisch geordnet war. 68 Frati führte ihn auch in das kostbare, wenn auch nicht gut geordnete und verstaubte Archivio Comunale ein, das in dem Palast untergebracht war, wo König Enzo ge‐ fangen gehalten worden war: „[. . . ] mir war es, als wenn sein Geist vor mir stand und mir mit trauriger Ironie zusah“, hielt Gregorovius hierüber in seinem Tagebuch fest. 69 Zwei Jahre später, als er nach Bologna zurückkehrte, arbeitete er auch in der Biblioteca Albornoziana des Collegio di Spagna, wo er jedoch nichts für seine Zwe‐ cke fand. 70 Nach Bologna besuchte Gregorovius Ravenna. 71 Der Bologneser Graf Carlo Pe‐ poli hatte ihn an den Grafen Alessandro Cappi empfohlen. In seiner Jugend hatte Cappi Lord Byron gekannt, als dieser in die aus der Romagna stammende Gräfin 63 Siehe weiter unten, Anm. 88. 64 Siehe Mario Allegri, Gar, Tommaso Angelo, in: Dizionario Biografico degli Italiani, 52 (1999), S. 215–217. 65 Ferdinand Gregorovius, Tommaso Gar, in: Beilage zu Nr. 224 der Allgemeinen Zeitung, 12. August 1871, S. 3991. 66 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 2), Eintrag vom 20. September 1863, S. 168. 67 Ebd., Eintrag vom 24. September 1863, S. 170. 68 Siehe Guido Fagioli Vercellone, Frati, Luigi, in: Dizionario Biografico degli Italiani, 50 (1998), S. 332–334. 69 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 2), Eintrag vom 22. September 1863, S. 169 und Gregorovius an Luigi Frati, 4. Oktober 1863, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 18), URL: https://gregorovius-edition.dhiroma.it/letters/G000428. 70 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 2), Eintrag vom 14. September 1865, S. 200. 71 Ebd., Einträge vom 25. und 26. September. 1863, S. 170.

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Teresa Guiccioli verliebt war. Der Graf war der Verfasser einer Beschreibung der Biblioteca Classense, die von Angelo Mai gepriesen wurde; 1865 wurde er Mitglied eines Regierungsausschusses, der die Echtheit der zufällig aufgefundenen Gebeine Dantes klären sollte. 72 Er führte Gregorovius in das Archivio Arcivescovile, dessen Papyri der deutsche Historiker indirekt kannte, und zwar durch die 1805 von Luigi Gaetano Marini, dem ersten Kustoden der Vatikanischen Bibliothek und Präfekten der Geheimen Archive des Heiligen Stuhles, publizierten Abschriften. Im selben Jahr, nämlich 1863, bat Gregorovius De Rossi um Auskünfte über die nicht inventa‐ risierten Papiere von Marini. 73 Der deutsche Historiker wünschte sich einen diplo‐ matischen Kodex ravennatischer Urkunden „nach dem System der gegenwärtigen Wissenschaft“. 74 Auf seiner Rückkehr nach Rom besuchte Gregorovius das Archiv in Siena, wo er eine große „Ausbeute“ machen konnte. Dort war Filippo Luigi Polidori Archi‐ var, der gerade in jenem Jahr die „Statuti senesi scritti in volgare nei secoli XIII e XIV“ herausgab. 75 Zwei Jahre darauf wurde Polidori von Luciano Banchi abgelöst, einem Freund von Giosuè Carducci, der ebenfalls einige öffentliche Ämter in Siena bekleidete. 76 Banchi war ein Schüler von Francesco Bonaini, der 1858 das Sieneser Archiv reorganisiert hatte, als er Oberinspektor der Archive des Großherzogtums war. Banchi ordnete das Sieneser Archiv nach die Kriterien seines Lehrers, der die Archivkunde auf die Geschichte der öffentlichen Institutionen gegründet hatte und in der Abfolge der Archive das Aufeinanderfolgen der verschiedenen Epochen der Geschichte der italienischen Staaten sah. 77 Das letzte außerrömische Archiv, das Gregorovius 1863 besuchte, war das Ar‐ chiv von Orvieto. Der dortige Bürgermeister zögerte, es ihm zu zeigen, da er sich

72 Siehe Renzo Paci, Cappi, Alessandro, in: Dizionario Biografico degli Italiani, 19 (1976), S. 1–2, der allerdings angibt, Michele Amari habe Gregorovius dem Grafen Cappi vorge‐ stellt. 73 Gregorovius an Giovanni Battista De Rossi, Juni 1863, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 18), URL: https://gregorovius-edition.dhiroma.it/letters/G000415. 74 Gregorovius, Ravenna (wie Anm. 58), S. 34. 75 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 2), Eintrag vom 4. Oktober 1863, S. 170. 76 Gregorovius an Luciano Banchi, 8. Januar 1865, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 18), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/let‐ ters/G000432. Siehe Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 2), Eintrag vom 11. Juli 1869, S. 258–259. 77 Siehe Carla Zarrilli, Da Luciano Banchi agli anni Venti del ’900, in: I centocinquant’anni dell’Archivio di Stato di Siena. Direttori e ordinamenti. Atti della Giornata di studio, Ar‐ chivio di Stato di Siena, 28 febbraio 2008, hg. von Patrizia Turrini und Carla Zarrilli, Rom 2011, S. 11–38, hier S. 13.

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wegen der unbeschreiblichen Verwirrung schämte, in der es sich befand. 78 Damals war Luigi Fumi noch nicht in Orvieto angekommen, um es neu zu ordnen; er kam erst Mitte der siebziger Jahre und wurde dann zu einer Bezugsperson für Grego‐ rovius. Gerade in Orvieto nahm Fumis berufliche Karriere ihren Lauf, die in den ersten beiden Jahrzehnten des folgenden Jahrhunderts zur Belebung der Mailänder Archivschule führen sollte. 79 Im Sommer 1864 markierten die Streifzüge durch Umbrien und die Sabina neue Pionierforschungen. In der Kirche San Fortunato von Todi wurde ein Beichtstuhl von der Wand geschoben und eine Tür freigemacht, durch welche man in ein kleines Gemach trat, in dem Massen von Büchern lagen, die möglicherweise einst dem Fran‐ ziskaner Theologen Matteo d’Acquasparta gehört hatten. 80 In der Stadt verbreitete sich schnell die Kunde, dass dort ein Fremder sich aufhalte, der alte Urkunden zu lesen verstehe. Und so erschien in Gregorovius’ Gasthaus der Prior der Schneider‐ zunft, der ihn ersuchte, die Urkunden der Zunft zu sichten, um herauszufinden, ob aus ihrem Inhalt sich Ansprüche der Zunft dem neuen Staat gegenüber erheben ließen. 81 Danach hielt sich Gregorovius in Perugia, Assisi und Terni auf; auf dem Rückweg war er in Aspra, dem heutigen Casperia, dem Adlerhorst in den Sabiner Bergen, in dessen kostbarem Archiv er viele wichtige Urkunden für die Geschichte des römischen Senats im Mittelalter fand und sogar ein Schreiben Cola di Rien‐ zos. 82 Mehr als ein Jahrhundert später bezeichnete Pierre Toubert die Bestände die‐ ses Archivs als die beredtsten Zeugnisse der Wechselfälle einer Gemeinde. 83 Nach Rom zurückgekehrt, begab sich Gregorovius dann nach Neapel, um im dortigen Staatsarchiv, das die Bourbonen in dem Benediktiner-Kloster der Heiligen 78 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 2), Eintrag vom 10. Oktober 1863, S. 171–172. 79 Ebd., Eintrag vom 31. März 1875, S. 349. Siehe Luigi Fumi. La vita e l’opera. Nel 150° an‐ niversario della nascita, hg. von Lucio Riccetti e Marilena Rossi Caponeri, Rom 2003, S. 23 mit Anm. 35, S. 24 mit Anm. 39, S. 37, 71, 73, 104, 211 mit Anm. 31, S. 217 mit Anm. 39, S. 226 mit Anm. 59, S. 230 mit Anm. 63, S. 234 mit Anm. 72, S. 269 mit Anm. 162 und S. 307. Gregorovius rezensierte von Fumi „Codice diplomatico della città di Orvieto. Do‐ cumenti e Regesti dal secolo XI al XV e la Carta del Popolo. Codice statutario del Comune di Orvieto“ (Florenz 1884), in: Archivio storico per le Marche e per l’Umbria, Bd. 2, Fasc. 6 (1885), S. 368–375. 80 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 2), Einträge vom 17. und 23. Juli 1864, S. 179; Ferdinand Gregorovius, Streifzug durch die Sabina und Umbrien, in: Von Ra‐ venna bis Mentana, Leipzig 1871, S. 101–102. 81 Gregorovius, Streifzug durch die Sabina und Umbrien (wie Anm. 80), S. 103–104. 82 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 2), Einträge vom 30. Juli und 1. Au‐ gust 1864, S. 181; Gregorovius, Streifzug durch die Sabina und Umbrien (wie Anm. 80), S. 108–114. 83 Siehe Pierre Toubert, Vorwort zu: Le carte di Casperia (già Aspra). 1099–1349, hg. von Alfredo Pellegrini, Rom 1990.

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Severino und Sossio untergebracht hatten, die Register der angevinischen Kanzlei einzusehen. Hier lernte er Giuseppe Del Giudice kennen, der daran arbeitete, aus diesen Registern einen „Codice diplomatico del Regno di Carlo I e II d’Angiò“ (1863, 1869) herauszugeben und der 1876 zusammen mit Bartolomeo Capasso und Giuseppe De Blasiis die Società Napoletana di Storia Patria gründete. Der Archivdi‐ rektor war Francesco Trinchera, der vor dem Zug der Tausend zu den Befürwortern des Sturzes der bourbonischen Dynastie durch die Übertragung des neapolitani‐ schen Throns an Lucien Murat gehörte. 84 In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre intensivierte Gregorovius seine For‐ schungen. Im Florentiner Archiv fand er zahlreiche Urkunden aus der Zeit der Rückkehr des Papsttums aus Avignon; 85 er arbeitete im neapolitanischen Archiv an der Fertigstellung des sechsten Bandes der „Geschichte der Stadt Rom“ (1867); 86 er besuchte neue Archive in Foligno, Gubbio, Fano und Urbino 87. Nach den im Juli 1868 in Venedig sowohl im Archiv der Frari, wo er den neuen Direktor Tom‐ maso Gar antraf, als auch bei seinen in der Marciana durchgeführten Recherchen, wo Gregorovius die „Diari“ von Marin Sanudo konsultierte, konnte er behaupten, er sei imstande, neues Licht auf die Geschichte der Familie Borgia zu werfen. 88 Im folgenden Jahr war er in Modena, wo Carlo Borghi, der Bibliothekar der Palatina, ihn zum Archivio Estense begleitete, in dem Ludovico Antonio Muratori so viele Urkunden gefunden hatte. Damals wurde dieses Archiv von dem Dante-Forscher Giuseppe Campi geleitet, dem Patrioten, der 1831 an dem Aufstand von Ciro Me‐ notti beteiligt war. 89

4. Lucrezia Borgia

Gegen Ende der sechziger Jahre schloss Gregorovius aus einigen Indizien, dass in der Vatikanischen Bibliothek ein anderes Regime Einzug hielt. 1867 war Alessandro Asinari di San Marzano, der Bibliothekar, der ihm mit einer gewissen Liberalität 84 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 2), Eintrag vom 15. August 1864, S. 182; siehe Elisabetta Caroppo, Trinchera, Francesco Paolo, in: Dizionario Biografico degli Ita‐ liani, 96 (2019), S. 796–799. 85 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 2), Eintrag vom 16. Juli 1865, S. 196. 86 Ebd., Eintrag vom 1. September 1866, S. 212. 87 Gregorovius an Giovanni Gozzadini, 28. Juli 1868, in: Gregorovius, Gesammelte deut‐ sche und italienische Briefe (wie Anm. 18), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/ letters/G000439. 88 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 2), Eintrag vom 28. Juli 1868, S. 250. 89 Ebd., Eintrag vom 29. September 1869, S. 265–266; siehe Piero Treves, Campi, Giuseppe, in: Dizionario Biografico degli Italiani, 17 (1974), S. 515–520.

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Handschriften zur Verfügung gestellt hatte 90 und dem er in München als Diplo‐ matiker begegnet war, in Ungnade gefallen. 91 Am 28. März 1870, während das Erste Vatikanische Konzil stürmische Sitzungen erlebte, 92 wurden Gregorovius ei‐ nige Handschriften verweigert, weil dort „nämlich ein Jesuit, pater Bollig, als Scrip‐ tor eingedrungen [ist]; ich sah sein boshaftes Lächeln und erkannte daraus welche Stunde für mich geschlagen habe“; der Präfekt der Bibliothek, Monsignor Pio Mar‐ tinucci, „war unhöflich und grob“; der deutsche Historiker kehrte ihm den Rücken und ging. 93 Kurz darauf wurde auch Theiner seines Amtes enthoben, weil er Lord Acton in das Geheime Archiv eingelassen und dem kroatischen Bischof Joseph Ge‐ org Stroßmayer, der ein Gegner des Dogmas der päpstlichen Unfehlbarkeit war, die Akten des Trienter Konzils gegeben hatte. Ein Gefühl der Unsicherheit hatte sich breitgemacht; nach achtzehn Jahren fühlte sich Gregorovius in Rom „fremder als am ersten Tage“. 94 Ein Jahr später begann die „Civiltà Cattolica“, die 1874 von der Indexkongregation verurteilte „Geschichte der Stadt Rom“ zu kritisieren. Bevor Gregorovius Rom endgültig verließ, versäumte er nicht, weitere, neue For‐ schungen anzustellen. 1872 erlangte er Zutritt zum Archivio della Confraternita dell’Ospedale del SS. Salvatore ad „Sancta Sanctorum“, das in dem an der Via del Governo Vecchio gelegenen Palazzo Nardini untergebracht war. In dieses Archiv wurde er von Costantino Corvisieri eingeführt, der einer der Mitbegründer der Società Romana di Storia Patria wurde. 95 Gregorovius besuchte auch das Archivio della Confraternita di S. Spirito in Sassia. 96 Er konzentrierte sich aber vor allem auf das Archivio Notarile Capitolino, wo er das kostbarste Register fand, das Regis‐ ter des Notars Camillo Benembene: Während er im Arbeitszimmer des Archivars, des Notars Becchetti, aus diesem Register Urkunden kopierte, fasste er den Plan, ein Buch über Lucrezia Borgia zu schreiben. Denn Benembene hatte fast sämtliche Verträge notariell beurkundet, die die Verlobungen und Eheschließungen der Toch‐

90 Im Brief von Gregorovius an Wilhelm Heyd vom 25. Dezember 1867 heißt es: „Monsignor San Marzano, den Sie auf der Bibliothek sahen, ist in Ungnade gefallen, und nicht mehr Custos der Vaticana – auch ein Verlust für mich, da ich nächstens dort zu thun haben werde“ (in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe [wie Anm. 18], URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000260). 91 Siehe Paolo Vian, La Vaticana di Pio IX (e di Pio Martinucci), 1850–1878. Dalla seconda Repubblica Romana ai tempi nuovi, in: La Biblioteca Vaticana dall’occupazione francese all’ultimo Papa Re (1797–1878). Storia della Biblioteca Apostolica Vaticana, Bd. 5, hg. von Andreina Rita, Città del Vaticano 2020, S. 305–349, hier S. 313. 92 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 2), Eintrag vom 27. März 1870, S. 279. 93 Ebd., Eintrag vom 28. März 1870, S. 280. 94 Ebd., Eintrag vom 19. Juni 1870, S. 284. 95 Ebd., Eintrag vom 9. Mai 1872, S. 323. 96 Ebd., Eintrag vom 2. Juni 1872, S. 324.

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ter Alexanders VI. zum Gegenstand hatten. 97 Von dieser Entdeckung berichtete er sofort während einer Sitzung der Akademie der Wissenschaften in München und fügte seinem Beitrag die Abschriften der wichtigsten Urkunden bei. 98 Dem Bildungsminister, Cesare Correnti, legte er einen Plan zur Ordnung und Inventa‐ risierung der Archive Roms und der Provinz vor, wobei er die Bildung einer Spezi‐ alkommission, „welche jene Archive überwachen und registrieren“ sollte, sowie die Schaffung einer Zeitschrift mit dem Titel „Archivio storico romano“ befürwortete, in der die Vorarbeiten zu einem „Codex diplomaticus Urbis Romae“ veröffentlichet werden sollten. 99 1873 besuchte er in Begleitung der Herzogin Vittoria Colonna das Archivio Cesarini, das er in einer greulichen Unordnung fand. 100 Außerhalb von Rom sah er die Burg der Borgia in Civita Castellana. Im Archivio municipale dieser Stadt kopierte er drei Briefe Alexanders VI. 101 Gregorovius’ Fortgang aus Rom im Jahre 1874 fiel zeitlich mit dem Erscheinen der „Lucrezia Borgia“ zusammen, eines Buches, mit dem der Autor beabsichtigt hatte, ein national-historisches Werk für die Italiener zu schreiben, indem er das herkömmliche Bild der Protagonistin als einer anmutigen Furie zerstörte, die in der einen Hand eine Giftampulle und in der anderen einen Dolch hielt. In Ita‐ lien wurde sein glänzender Stil hervorgehoben, mit dem Gregorovius das Leben der Renaissance gezeichnet hatte; es entstand eine Kontroverse mit Emilia Ferretti Viola über die Emanzipation der lateinischen Frau, die als rückständiger galt als die germanische Frau. 102 Eigentlich hatte Gregorovius ein historisches Werk schreiben wollen, dass sich auf unveröffentlichte Urkunden und Korrespondenzen stützt, die der Verfasser durch gründliche Archivforschungen als Licht gefördert hatte. In Modena, wohin er 1872 zu den Festlichkeiten zum zweihundertsten Geburts‐ tag Muratoris eingeladen worden war, arbeitete er im Sommer 1873 im Archivio Estense. Dort stand ihm der Direktor Cesare Foucard, der Nachfolger Giuseppe Campis, helfend zur Seite: „Dieser ausgezeichnete Mann bemühte sich für meinen 97 Ebd., Eintrag vom 9. Mai 1872, S. 323; siehe Ingeborg Walter, Benembene, Camillo, in: Dizionario Biografico degli Italiani, 8 (1966), S. 476–477. 98 Ferdinand Gregorovius, Das Archiv der Notare des Capitols in Rom, und das Pro‐ tocollbuch des Notars Camillus de Beneimbene von 1467 bis 1505, in: Sitzungsberichte der philosophisch-philologischen und historischen Classe der k. b. Akademie der Wissen‐ schaften zu München, Bd. 2, München 1872, S. 491–518. 99 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 2), Einträge vom 1. April und 9. Mai 1872, S. 322–324. 100 Ebd., Eintrag vom 28. Juni 1873, S. 332. 101 Ebd., S. 331. 102 Gregorovius an Emilia Ferretti Viola, 4. Mai 1874, in: Gregorovius, Gesammelte deut‐ sche und italienische Briefe (wie Anm. 18), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma. it/letters/G000312. Siehe Emma [Emilia Ferretti Viola], La verità storica intorno a Lucre‐ zia Borgia, in: Nuova Antologia di Scienze, Lettere ed Arti, Bd. 26, Florenz 1874, S. 573– 608, hier S. 584.

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Zweck mit einer wahrhaften Liberalität, wie sie eines Nachfolgers Muratori’s in jenem Amt würdig ist.“ 103 Im Archivio Gonzaga von Mantua war ihm Stefano Da‐ vari behilflich, ein Waffenbruder Garibaldis. Davari wurde später ein Bezugspunkt für die Forschungen Ludwig von Pastors. 104 Im Archivio Storico Comunale von Ferrara wurde Gregorovius von dem Lokalgelehrten Luigi Napoleone Cittadella unterstützt. 105 Im Mailänder Staatsarchiv, wo er die Sforza-Papiere suchte, stieß er auf einige Schwierigkeiten – aber weniger wegen der Feindseligkeit des Direk‐ tors, des katholischen Historikers Cesare Cantù, die er befürchtet hatte, sondern vielmehr wegen der damals stattfindenden Verlegung des Archivs von San Fedele nach dem Collegio Elvetico. 106 Durch die bemerkenswerte Ausbeute, die Grego‐ rovius vor allem im Archiv von Mantua gemacht hatte, konnte er widerlegen, was Ranke während einer Begegnung in München behauptet hatte, dass nämlich über das Pontifikat Hadrians VI. und Klemens VII. nichts mehr zu finden sei, denn er habe bereits alles gesehen und benutzt. 107 Neben seiner Forschungsarbeit pflegte Gregorovius stets intensive Kontakte zu Bibliothekaren, vom Triestiner Attilio Hortis 108 bis hin zu dem Direktor der Bi‐ blioteca Capitolare von Verona, Giovan Battista Giuliari, der am Collegio Romano Mitschüler von Gioacchino Pecci, dem künftigen Papst Leo XIII., gewesen war, ein Freund Mommsens und Verfechter der katholischen Wahlpflicht. 109 Auf seinen Reisen nach Süditalien besuchte Gregorovius wiederholt das Staatsarchiv von Nea‐ 103 Ferdinand Gregorovius, Lucrezia Borgia, Stuttgart: Cotta 1874, S. XV; Ders., Rö‐ mische Tagebücher (wie Anm. 2), Eintrag vom Sommer 1873, S. 332. In dem nicht ge‐ ordneten Nachlass von Cesare Foucard (Florenz, Biblioteca Nazionale Centrale, Fondo Foucard) wurden erst jetzt insgesamt 90 Briefe von Gregorovius an Foucard aus den Jah‐ ren 1873–1890 ausfindig gemacht, die erst nach Fertigstellung des vorliegenden Beitrags in einer repräsentativen Auswahl in ders., Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 18) zur Verfügung gestellt werden konnten. Siehe auch Cesare Cerretti, In memoria di Cesare Foucard, Florenz 1893. 104 Siehe Anna Maria Lorenzoni, Davari, Gian Antonio Stefano, in: Dizionario Biografico degli Italiani, 33 (1987), S. 115–117. 105 Siehe Enzo Bottasso, Cittadella, Luigi Napoleone, in: Dizionario Biografico degli Ita‐ liani, 26 (1982), S. 57–58. 106 Gregorovius an Raffaele Mariano, 20. Januar und 11. März 1875, in: Gregorovius, Ge‐ sammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 18), URL: https://gregorovius-edi‐ tion.dhi-roma.it/letters/G000165 und https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/ G000167. Siehe ders., Römische Tagebücher (wie Anm. 2), 1875, S. 347. 107 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 2), 1871, S. 314. 108 Gregorovius an Raffaele Mariano, 11. Oktober 1874, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 18), URL: https://gregorovius-edition.dhiroma.it/letters/G000144. 109 Gregorovius an Karl Halm, 30. März 1875, ebd., URL: https://gregorovius-edition. dhi-roma.it/letters/G067835. Siehe Francesca Brancaleoni, Giuliari, Giovan Battista Carlo, in: Dizionario Biografico degli Italiani, 56 (2001), S. 786–788.

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pel, das seit 1874 von Camillo Minieri Riccio geleitet wurde, der wichtige Studien zu den neapolitanischen Anjous vorlegte. 110 Daneben benutzte er kleine Bibliothe‐ ken, wie die von Tarent 111 und Reggio Calabria. 112

5. Die neue römische Historiographie

Während der auf die Erlangung der nationalen Einheit folgenden Zeit wurde Gre‐ gorovius in Rom eine Person der Vergangenheit: glückliche Zeiten, wird Kehr 1921 schreiben, als Italiener und Deutsche andere Menschen waren. 113 Glückliche Zei‐ ten auch deshalb, weil die Geschichtsschreibung selten so viele Anregungen aus den Zeitgeschehen erhalten hat wie damals. An die Stelle der Geschichte „ad nar‐ randum“ trat die Geschichte „ad probandum“, die Romantiker wurden von den Philologen abgelöst, „ut quasi cursores, vitae lampada tradant“, wie Raoul Manselli schrieb, indem er sich auf den ermutigenden Brief von Giesebrecht an Ernesto Mo‐ naci zurückbesann. 114 Die Breite der Interessen, der neue Reichtum an Quellen, die Verfeinerung von Disziplinen, wie die Topographie und die Diplomatie, hatten den Sinn der römischen mittelalterlichen Geschichte verändert. Ihre Zukunft war nicht mehr die Universalgeschichte, die Beschreibung der Denkwürdigkeiten der Stadt vor dem Hintergrund der großen Ereignisse des Papsttums und Kaisertums, sondern eine Lokalgeschichte, die auf Quelleneditionen gestützt war und die Über‐ zeugung der wachsenden Komplexität der Probleme vertrat. Das Manifest dieser neuen historiographischen Auffassung war der erste Band des „Archivio della Società Romana di Storia Patria“, der 1877 erschien. Über 110 111 112 113

Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 2), Eintrag vom 23. Mai 1875, S. 352. Ebd., S. 354. Ebd., Eintrag vom 20. Mai 1876, S. 365. „Freilich die Zeiten, in denen er lebte und schrieb, waren andere als jetzt, und auch andere als in den Jahrzehnten vor dem Kriege. Noch war das junge Italien nicht die anspruchs‐ volle Großmacht von heute, welche ein fatales Schicksal über seine natürlichen und his‐ torischen Grenzen treibt, und freudiger und vertrauensvoller als späterhin öffneten dem Fremden sich die Herzen der Italiener. Aber auch die Deutschen von damals – es ist besser, wir gestehen es selbst – waren andere Menschen. Rom und Italien waren zu des jungen Gregorovius’ Zeiten das Ziel der Edelsten und Besten der Nation, der Traum der Künstler, die Hoffnung der Gelehrten, die Sehnsucht der Gebildeten. Sie waren noch nicht die große Karawanserei des deutsch-italienischen Fremdenverkehrs mit seinen widerwärti‐ gen und unwürdigen Auswüchsen“ (in: Paul Fridolin Kehr, Ferdinand Gregorovius und Italien. Ein Nachruf zu seinem 100. Geburtstag, in: Deutsche Rundschau Bd. 187 Berlin 1921, S. 194–200, hier S. 195). 114 Raoul Manselli, La storiografia romantica e Roma medievale, in: Archivio della Società Romana di Storia Patria, Bd. 100, Rom 1977, S. 65–66.

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Oreste Tommasinis Beitrag über die jüngste Geschichte Roms war Gregorovius er‐ bost (von Alfred von Reumont wurde der Artikel sehr gelobt). 115 In der Tat stand Gregorovius der neuen römischen Geschichtsschreibung, die den Urkunden einen hohen Stellenwert beimaß, nicht so fern, als er im Jahr zuvor in der „Historischen Zeitschrift“ einen Aufsatz über das Römische Staatsarchiv publiziert hatte, in dem er die neue Organisation der „Archivi di Stato Romani“ unter der Leitung des kala‐ brischen Patrioten Biagio Miraglia und Costantino Corvisieri als Vizedirektor aus‐ führlich beschrieb. 116 1876 zum Ehrenbürger Roms ernannt – 1877 hielt er in den Accademia dei Lin‐ cei einen auf Urkunden des Kapitolinischen Archivs gestützten Vortrag über die römische Bürgerschaft 117 –, hätte Gregorovius, wäre er in der Ewigen Stadt geblie‐ ben, seine „Geschichte der Stadt Rom“ nicht nur aktualisieren, sondern neu schrei‐ ben müssen. Die zeitgenössische Geschichtsschreibung erschien ihm „ein wahrer Wald, in dem man sich verliert“. 118 Doch 1883, als er Kunde von der lang ersehnten Öffnung des Vatikanischen Geheimarchivs erhielt, lobte er Leo XIII. in der vierten Auflage seiner „Geschichte der Stadt Rom“, weil „er diese Schätze der Wissenschaft zugänglich gemacht hat“. 119 Die neue römische Geschichtsschreibung behauptete, das Rom des 19. Jahrhun‐ derts sei in weit höherem Maße durch das 17. Jahrhundert geprägt, dessen Macht Ranke in seinen „Päpsten“ geschildert hatte; 120 so versuchte sich auch Gregorovius auf diesem nicht mittelalterlichen Gebiet, indem er eine Studie über Urban VIII. schrieb, den Papst-König, der sich während des Dreißigjährigen Kriegs den Habs‐ burgern widersetzte. 121 Die wichtigsten Quellen hierfür fand Gregorovius im Mün‐ chener Staatsarchiv, nämlich jene „Corrispondenze da Roma“, die zwei Römer, Giambattista und Francesco Crivelli, Maximilian von Bayern schickten. 122 Ende 115 Siehe Alberto Forni, La questione di Roma medievale (wie Anm. 29), S. 136–138. 116 Siehe Anm. 33. 117 Ferdinand Gregorovius, Alcuni cenni storici sulla cittadinanza romana, in: Atti della Reale Accademia dei Lincei, Classe di Scienze Morali, Storiche e Filologiche, Ser. 3, Bd. 1, Rom 1877, S. 314–346. 118 Gregorovius an Giovanni Gozzadini, 14. Juli 1878, in: Gregorovius, Gesammelte deut‐ sche und italienische Briefe (wie Anm. 18), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma. it/letters/ed_emv_pwb_jlb. 119 Siehe Esch, Leone XIII (wie Anm. 44), S. 26. 120 Siehe Alfred von Reumont, Das Archiv der römischen historischen Gesellschaft, in: Bei‐ lage zu Nr. 333 der Allgemeinen Zeitung, 29. November 1877. 121 Ferdinand Gregorovius, Urban VIII. im Widerspruch zu Spanien und dem Kaiser. Eine Episode des Dreißigjährigen Krieges, Stuttgart: Cotta 1879. 122 Ferdinand Gregorovius, Die beiden Crivelli, Residenten der Herzöge und Kurfürsten von Baiern beim heiligen Stuhl in Rom von 1607–1659, in: Sitzungsberichte der philoso‐ phisch-philologischen und historischen Classe der k. b. Akademie der Wissenschaften zu München, München 1880, S. 330–376.

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der siebziger Jahre besuchte Gregorovius weiterhin regelmäßig italienische Archive und Bibliotheken. Im April 1878 saß er in der Biblioteca Angelica wieder auf dem‐ selben Platz, auf dem er viele Jahre lang gesessen hatte. 123 Doch inzwischen hat‐ ten sich seine Interessen in den Orient verlagert, in die byzantinische Welt; seine Forschungen in Neapel, Palermo und Venedig 124 brachten seine 1889 erschienene „Geschichte der Stadt Athen im Mittelalter“ hervor.

Fazit

Den neapolitanischen Studenten, die 1872 seine Vorlesungen hörten, empfahl Francesco De Sanctis Renan und Gregorovius als Vorbilder. Sie hätten alle Etap‐ pen des mühevollen Wegs nach Klio zurückgelegt: Sie hätten alle Orte der Ge‐ schichte gesehen, hatten Archive und Bibliotheken besucht, hatten geistige Werke geschaffen. Sie hätten die poetische Phase der Geschichtsschreibung durchschrit‐ ten, dann hatten sie ihre Recherchen beharrlich durchgeführt und waren schließlich zu der Geistesarbeit gelangt, in jene Region der Philosophie, in der die eigentlichen Gesetze der menschlichen Wechselfälle bestimmt werden können. 125 Das Gesetz, nach dem Gregorovius während seiner langjährigen Forschungen in italienischen Archiven und Bibliotheken suchte, war das der Jahrhunderte alten politischen und geistigen Bindungen zwischen Italien und Deutschland. Über die Überführung des Leichnams des am 23. Januar 1002 in Castel Paterno verstorbenen Kaisers Otto. III. nach Aachen schrieb Gregorovius: Andere Völker haben sich mit der Begier politischer Triebe in das Ausland gewen‐ det; die Griechen sandten ihre Colonien in drei Erdteile, die Römer eroberten unter Blutströmen die halbe Welt; die Engländer beherrschen noch ferne Länder der Erde; die Spanier, die Franzosen, die Russen wurden und sind von gleicher Herrschsucht über ihre Grenzen hinausgezogen. Unsere einzige und hartnäckige Eroberung war im Grunde Italien, das Land der Geschichte, der Schönheit und der Poesie, welches uns selbst wiederholt rief; und wir eroberten es nicht um es zu tyrannisiren, sondern von den Todten zu erwecken, zu begeistigen und zu erneuen. 126

123 Gregorovius, Römische Tagebücher (wie Anm. 2), Eintrag vom 7. April 1878, S. 401. 124 Ebd., Eintrag vom 11. Oktober 1889 [1886–1887], S. 427. 125 Francesco De Sanctis, La scuola cattolico-liberale e il romanticismo a Napoli, hg. von Carlo Muscetta e Giorgio Candeloro, Turin 1953, S. 60–62. 126 Ferdinand Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter, Bd. 3, Stuttgart: Cotta 1870, S. 505.

„. . . für Interessenten jederzeit erreichbar“ Die Gregoroviusiana in der Bayerischen Staatsbibliothek Maximilian Schreiber

„Als letzter direkter Verwandter des Schriftstellers und civis romanus Ferdinand Gre‐ gorovius, der im Jahr 1891 in München gestorben ist, bin ich im Besitz eines nicht sehr umfangreichen handschriftlichen Nachlasses meines Onkels, bestehend aus einzelnen Briefen bekannter Persönlichkeiten, Tagebuchblättern und einer Anzahl von selbstge‐ zeichneten Skizzenbüchern, die aus der Zeit der ‚Wanderjahre in Italien‘ stammen.“ 1

In der Sorge, dass nach seinem Tod der Nachlass seines Onkels zerstreut werden könnte, wandte sich Hermann Elgnowski (1860–1936) aus Königsberg am 19. Au‐ gust 1924 an die Bayerische Staatsbibliothek, „wo er für Interessenten jederzeit erreichbar“ wäre. Mit Verweis auf die engen Beziehungen von Gregorovius zur Baye‐ rischen Staatsbibliothek als Nutzer und zu München allgemein sah auch der dama‐ lige Generaldirektor Schnorr von Carolsfeld (1862–1933) den Nachlass in Mün‐ chen an der richtigen Stelle und stieg direkt in die Kaufverhandlungen ein. Schnell wurde man sich einig, und für 1.200 Goldmark kam der Nachlass in die Bibliothek (Abb. 1). Zufrieden bemerkte der Neffe, dass dieser nun „an einer Stätte aufbewahrt wer‐ den wird, an der Ferdinand Gregorovius so viele Jahre mit Freude und großem Er‐ folge für seine schriftstellerische Tätigkeit gearbeitet hat“. 2 Der Umfang hielt sich in Grenzen, denn laut Herrn Elgnowski hatte Gregoro‐ vius vor seinem Tod im Mai 1891 „seine ganzen Schriftsachen und Briefe verbrannt und hat ein Gleiches auch von allen denen verlangt, mit denen er in engerem Brief‐ wechsel stand, deshalb ist der Nachlass auch nur wenig umfangreich, aber doch in manchen Stücken sehr interessant.“ 3 Der Grundbestand des Nachlasses von Gregorovius umfasste damit einige Ma‐ nuskripte wie „Studien zur Nationalliteratur 1845“, „Idyllen am baltischen Ufer“, „Lucrezia Borgia“, Teile der „Geschichte der Stadt Rom“ (1. Buch), eine Mappe mit Gedichten, von Gregorovius zusammengetragene Apophthegmata sowie eine Mappe mit Briefen berühmter Persönlichkeiten an Gregorovius (darunter Alexan‐ 1 BSB-Erwerbungsakt zum Nachlass von Ferdinand Gregorovius, Elgnowski an Schnorr von Carolsfeld vom 19. August 1924. 2 BSB-Erwerbungsakt zum Nachlass von Ferdinand Gregorovius, Elgnowski an Schnorr von Carolsfeld vom 22. September 1924. 3 Ebd.

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Abb. 1: Handschriftliches Verzeichnis zum Nachlass von Ferdinand Gregorovius durch Hermann El‐ gnowski (BSB München, Erwerbungsakt zum Nachlass von Ferdinand Gregorovius)

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der von Humboldt), Tagebücher von 1875 bis 1887 und eine Mappe mit Auszeich‐ nungen und Ernennungen zum Mitglied Gelehrter Gesellschaften. Glanzstück die‐ ses ersten Nachlassteiles sind neben den Tagebüchern sicher die acht Skizzenbücher mit Gregorovius’ Bleistiftzeichnungen aus Korsika (1852), Latium, Kampanien und Capri (1853), Capri und Sizilien (1853), Latium und Rom (1853–1855), La‐ tium (1854–1857), Latium und Kampanien (1859–1860), Athen, Vorderasien, Palästina und Ägypten (1882) sowie Vorderasien, Palästina und Zypern (1882). Im Zuge des DFG-Projektes „ArchIcon“ zur Digitalisierung von Architekturhand‐ schriften (2009–2015) wurden diese Skizzenbücher digitalisiert und stehen in den Digitalen Sammlungen der Bayerischen Staatsbibliothek zur Ansicht bereit. 4 Ein weiterer Teil des Nachlasses entstand durch die rege Herausgebertätigkeit des Jess Verlages in Dresden. Wolfgang Jess (1885–1945, verschollen), der den Ver‐ lag 1920 gründete, 5 fand in Fritz Schillmann (1884–1948) einen rührigen Her‐ ausgeber der Werke von Gregorovius, die dann in den 1920er Jahren in hübschen Dünndruckbänden mit Illustrationen erschienen: „Wanderjahre in Italien“ (1925), „Geschichte der Stadt Rom in zwei Bänden“ (1926) sowie „Athen und Athenais“ (1927). Für weitere Arbeiten an den Werken von Gregorovius und für eine ge‐ plante Briefedition forderte Schillmann 1930 auch den gesamten Nachlass aus der Bayerischen Staatsbibliothek an und bekam diesen – heute unvorstellbar – für drei Monate an die Preußische Staatsbibliothek geschickt. 6 Jess erhielt in den 1930er Jahren von Hermann Elgnowski dessen Abschriften der gesamten Familienbriefe, 7 der Briefe von Gregorovius und Korrespondenzpart‐ nern im Original oder in Abschrift sowie weitere Materialien. Im Mai 1935 gab Elgnowski die erhaltenen Familienbriefe dann an die Staats- und Universitätsbi‐ bliothek Königsberg, 8 die bei der Zerstörung der Stadt am Ende des Zweiten Welt‐ krieges vernichtet wurden.

4 Im Online-Katalog der BSB: https://opacplus.bsb-muenchen.de/title/BV037242083 (letzter Zugriff 20. 05. 2022). Die ursprüngliche Auflistung des übergebenen Nachlasses durch Elgnowski findet sich im Erwerbungsakt. 5 Siehe dazu Jens Wonneberger, Bibliomane Verliebtheit und Sinn für das Neue – Wolf‐ gang Jess und sein Verlag, Dresdner Hefte, 2003, H. 76, S. 73–78. 6 BSB-Erwerbungsakt zum Nachlass von Ferdinand Gregorovius, Anforderung des Nach‐ lasses durch die Preußische Staatsbibliothek vom 18. Juni 1930, darauf der Vermerk der Absendung am 3. Juli 1930. Zu den weiteren Editionsplänen von Jess siehe den folgenden Beitrag, „Eine lange Geschichte der Edition der Briefe von Gregorovius kurz erzählt“, von Angela Steinsiek im vorliegenden Band. 7 BSB-Erwerbungsakt zum Nachlass von Ferdinand Gregorovius, Jess an Elgnowski vom 31. Mai 1930. 8 BSB-Erwerbungsakt zum Nachlass von Ferdinand Gregorovius, Dankesschreiben des Lei‐ ters der Handschriftenabteilung Dr. Diesch vom 4. Mai 1935.

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Über Elgnowski bekam Jess auch Zugang zu vielen Angehörigen der Personen aus dem Briefnetzwerk von Gregorovius, so etwa zu Mitgliedern des Corps Ma‐ sovia, dem Gregorovius angehört hatte, zur Gräfin von Werthern auf Beichlingen und Leopold von Schlözer, dem Neffen von Kurd von Schlözer, aber auch zu Wis‐ senschaftlern wie Heinrich Hubert Houben, der von Elgnowski Briefe und Manu‐ skripte von Gregorovius für seine Arbeiten zu Gregorovius erhalten hatte. 9 So entstand über die Jahre beim Jess Verlag eine umfangreiche Sammlung zu Gre‐ gorovius, die auch den Brand des Verlagsarchivs bei der Bombardierung Dresdens am 13. Februar 1945 überdauerte und, nachdem Wolfgang Jess seit der Schlacht um Berlin als vermisst galt, von dessen Ehefrau Marianne bewahrt wurde. Nach der Auflösung des Verlages 1958 verließ Marianne Jess die DDR und zog später zu ihrer Tochter Ina-Gerta nach Köln. 1994, kurz vor ihrem Tod, bot Marianne Jess die Sammlung der Bayerischen Staatsbibliothek zum Kauf an, der dann 1995 ab‐ gewickelt wurde. Enthalten waren darin Briefe an seine Geschwister und Abschrif‐ ten von anderen Familienbriefen an verschiedene weitere Personen, die Elgnowski vor seiner Abgabe des Bestandes an die Staatsbibliothek in Königsberg angefertigt hatte, womit wenigstens der Inhalt der Briefe gerettet wurde. Darüber hinaus enthält das Supplement zum Nachlass Lebensdokumente wie Pässe, Verlagsverträge, eine ganze Reihe von Briefen an Gregorovius, darunter vom Verlag Cotta und zur Verleihung des Bürgerrechts der Stadt Rom, Glückwünsche zum 70. Geburtstag sowie Kondolenzbriefe, zahlreiche Fotos von Gregorovius und von Familienmitgliedern und Freunden, aber auch anderweitige Familien-Korre‐ spondenzen. Auch Aquarelle des bekannten Landschaftsmalers, Kupferstechers und Lithographen Karl Lindemann-Frommel (1819–1891), die Gregorovius sowie seine Wohnung in Rom zeigen, sind darunter. Als nach dem Tod von Marianne Jess 1996 noch weiteres Material von und zu Gregorovius auftauchte, kaufte die Bayerische Staatsbibliothek auch diesen letzten Teilbestand im Jahr 2000. Enthalten waren darin 40 Briefe von Gregorovius an das Ehepaar von Werthern, nochmals Briefe an Gregorovius nebst einigen frühen Fa‐ milienbriefen, die Korrespondenz zum 70. Geburtstag, Kondolenzschreiben, Fotos, Briefe und Verlagsverträge mit Brockhaus, Urkunden zur Ernennung zum Mitglied gelehrter Gesellschaften und zur Verleihung von Orden. 10

9 Siehe dazu die Korrespondenz in BSB Gregoroviusiana 45a, Elgnowski, Hermann. Unter anderem erhielt Houben das Material für sein Nachwort zu Ferdinand Gregorovius, Wanderjahre in Italien. Auswahl in zwei Bänden mit dem Porträt des Verfassers, zwei Kar‐ ten und einem biographischen Nachwort von Dr. H. H. Houben, Bd. 2, 5. Aufl., Leipzig: Brockhaus 1920, S. 233–271. 10 Welche Teile dem ursprünglichen Nachlass wann hinzugefügt wurden, lässt sich im Ver‐ zeichnis anhand der Akzessionsnummern gut nachvollziehen.

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Auch auf Auktionen oder im Handel wurden und werden weiterhin Doku‐ mente von Gregorovius von der Bayerischen Staatsbibliothek erworben. So konn‐ ten etwa 2010 beim Auktionshaus Stargardt in Berlin zwölf Briefe von Gregoro‐ vius an den französischen Schriftsteller, Essayisten und Übersetzer Jean Bourdeau (1848–1928) ersteigert werden und 2021 elf Briefe von Gregorovius an verschie‐ dene Persönlichkeiten auf dem italienischen Antiquariatshandel gekauft werden. Somit wird der Nachlass immer weiter angereichert und die Sammlung zu Gregoro‐ vius ausgebaut. Neben den Skizzenbüchern ist auch eine Auswahl der Korrespondenz digital verfügbar und kann über den Onlinekatalog der Bayerischen Staatsbibliothek re‐ cherchiert und eingesehen werden.

Eine lange Geschichte der Edition der Briefe von Gregorovius kurz erzählt Angela Steinsiek

Einen großen Teil seines schriftlichen Nachlasses, also auch seine Briefe, hat Gre‐ gorovius kurz vor seinem Tod am 1. Mai 1891 selbst vernichtet, und er hat seine Korrespondenten um Vernichtung seiner Briefe gebeten. Das belegt auch die ver‐ gleichsweise große Zahl von insgesamt 2.650 Briefen von Gregorovius, der nur etwa 660 derzeit bekannte Gegenbriefe gegenüberstehen (hiervon 341 von Cotta, erhal‐ ten zumeist in den Briefkopierbüchern der Verlagskorrespondenz). Als Historiker, dessen Schwerpunkt in der italienischen Geschichte seit dem Mittelalter lag, korre‐ spondierte er mehrsprachig mit Kollegen in allen wichtigen italienischen Städten. Während seines gut zwanzigjährigen Aufenthalts in Rom gab es kaum einen bedeu‐ tenden Italiener oder Rom-Besucher, mit dem Gregorovius nicht in persönlichem oder brieflichem Kontakt stand; mit vielen von ihnen verband ihn eine jahrzehnte‐ lange Freundschaft. Neben der umfangreichen Verlagskorrespondenz und seinem persönlichen Briefwechsel reicht sein Briefnetzwerk von der Königin Margherita von Savoyen über traditionsreiche Adelsfamilien bis zu Politikern, Fachkollegen, Gelehrten, Künstlern und Lokalhistorikern. Später, als er zur Geschichte Athens im Mittelalter zu arbeiten begann, saßen seine Korrespondenten in Griechenland, Spanien und Palästina. Der vielfach übersetzte Autor adressierte seine Briefe über‐ dies nach Frankreich, England, in die USA und nach Russland. Die kurz nach Gregorovius’ Tod unternommenen, umfangreicheren Editionen aus seiner Korrespondenz – zu nennen sind vor allem die Briefe an den Staatssekre‐ tär im Auswärtigen Amt, Hermann von Thile, 1 an die Archäologin Ersilia Caetani Lovatelli 2 sowie die Publikation aus dem riesigen Briefkonvolut an den Cotta-Ver‐ lag zum 100. Geburtstag von Gregorovius 3 – ließen die Bedeutung und den Umfang seines Briefnetzwerks kaum erahnen. Auch genügen diese Ausgaben den heutigen Anforderungen an eine wissenschaftliche Edition nicht mehr, weil die Herausgeber normierend und aus persönlicher Pietät, geschäftlichen Gründen oder nach Gut‐ 1 Briefe von Ferdinand Gregorovius an den Staatssekretär Hermann von Thile, hg. von Her‐ man von Petersdorff, Berlin 1894. 2 Ferdinand Gregorovius und seine Briefe an Gräfin Ersilia Caetani Lovatelli, hg. von Sig‐ mund Münz, Berlin 1896. 3 Johannes Hönig, Ferdinand Gregorovius der Geschichtsschreiber der Stadt Rom. Mit Briefen an Cotta, Franz Rühl und andere, Stuttgart, Berlin 1921.

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dünken kürzend in die Texte eingriffen. So wurde in dem 350-seitigen Anhang der vom Cotta-Verlag bei Johannes Hönig in Auftrag gegebenen Biographie nur etwa die Hälfte der erhaltenen Briefe des Erfolgsautors Gregorovius an Cotta und diese konsequent um die geschäftlichen Aspekte gekürzt abgedruckt. Für den italienischsprachigen Raum sah die Editionslage der Briefe bislang noch dürftiger aus. Erste Anläufe einer systematischen Erschließung der in Italien und mit Italienern geführten und erhaltenen Korrespondenz hatte Alberto Forni un‐ ternommen, der für seine 1985 erschienene Studie „La Questione di Roma Medie‐ vale. Una Polemica tra Gregorovius e Reumont“ auch zahlreiche in italienischen Archiven aufbewahrte Briefe herangezogen und ausgewertet hatte. 4 Einzig die 21 in der Biblioteca Apostolica Vaticana überlieferten Schreiben von Gregorovius an den Pisaner Philosophen Pasquale Villari aus den Jahren 1858 bis 1884 wurden 2006 von Anna Maria Voci vollständig nach heutigen wissenschaftlichen Standards ediert und mit einem Stellenkommentar versehen. 5 Den ersten Versuch zu einer größeren Ausgabe (deutscher) Briefe von Gre‐ gorovius hatte der Dresdener Verleger Wolfgang Jess (1885–1945, verschollen) unternommen, der bereits mehrere Werke von Gregorovius in Herausgeberschaft von Fritz Schillmann (1884–1948) verlegt hatte. 6 Gesundheitliche oder familiäre Gründe Schillmanns verhinderten, dass eine vage erwogene Briefedition zustande kam. Stattdessen wandte sich der Verleger an den in Tutzing wohnhaften preußi‐ schen Offizier und Schriftsteller Leopold von Schlözer (1859–1946), den Neffen des Gregorovius befreundeten Diplomaten Kurd von Schlözer (1822–1894). 7 Im Auftrag von Wolfgang Jess traf sich Schlözer im April 1938 mit dem seit Ende 1933 aus politischen Gründen als Direktor der Städtischen Bücherei in Dresden zwangs‐ pensionierten, nunmehr in München wohnhaften Alfred Löckle (1878–1943), um ihn mit der Abschrift des im Münchener Gregorovius-Nachlass befindlichen nach‐ römischen Tagebuchs der Jahre 1875 bis 1889 zu beauftragen – zunächst um sich des Umfangs und der Qualität des von Heinrich Hubert Houben (1875–1935) teilpublizierten Manuskripts 8 zu versichern. Bis zum Juli 1938 erstellte Löckle die 4 Alberto Forni, La Questione di Roma Medievale. Una Polemica tra Gregorovius e Reu‐ mont, Rom 1985. 5 „Un anello ideale“. Corrispondenze di Pasquale Villari con storici tedeschi, hg. von Anna Maria Voci. Rom 2006, S. 149–171. 6 Siehe hierzu den Beitrag „‚. . . für Interessenten jederzeit erreichbar‘ – Die Gregoroviusiana in der Bayerischen Staatsbibliothek“ von Maximilian Schreiber im vorliegenden Band. 7 Leopold von Schlözer war der Herausgeber der vielfach aufgelegten Briefsammlung seines Onkels Kurd von Schlözer in sechs Bänden, zunächst gemeinsam mit seinem Bruder Karl (1854–1916) und nach dessen Tod allein. 8 Heinrich Hubert Houben, Das sterbende Rom. Ungedruckte Tagebuchblätter von Ferdi‐ nand Gregorovius, in: Westermanns Monatshefte, Jg. 59, Bd. 117, T. 1, Braunschweig 1914, S. 144–151, S. 282–291, S. 431–436 und ders.: Ferdinand Gregorovius in Paris. Unge‐

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Abschrift und schickte sie nach Dresden. Übrigens blieben schon damals alle Be‐ mühungen, auch das Manuskript der „Römischen Tagebücher“ (1852–1874) auf‐ zufinden, das Gregorovius seinem in London lebenden Freund Friedrich Althaus (1829–1897) zur Publikation hinterlassen hatte, erfolglos. 9 Jess zeigte sich gleich‐ wohl entschlossen, Alfred Löckle mit der Herausgabe des Neudrucks der „Römi‐ schen Tagebücher“ zusammen mit dem nachrömischen Tagebuch in seinem Ver‐ lag zu betrauen. 10 Schnell wurde das Buchprojekt um die Planung eines Bandes mit einer Briefauswahl erweitert, zumal Wolfgang Jess selbst eine Sammlung von Briefen, Dokumenten und Bildmaterial von und über Gregorovius besaß und im November 1938 überdies aus den Händen eines „Anverwandten einer Seitenlinie“ von Gregorovius 11 in den Besitz dessen gekommen war, was noch an Briefen und Dokumenten von und über Gregorovius in der Familie erhalten war 12, nachdem dessen Neffe Hermann Elgnowski (1860–1936) im Jahr 1935 u. a. 54 Familien‐

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druckte Tagebuchblätter aus dem Jahre 1878, in: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt, Jg. 65, Nr. 55, 22. Januar 1921, S. 1–2 (Erstes Morgenblatt). Ferdinand Gregorovius, Römische Tagebücher, hg. von Friedrich Althaus, Stuttgart 1892 (2. veränderte Aufl. 1893). Die in London als Sprachlehrerin und Violinistin lebende Louise Harriet Allison, geb. Althaus (*1862), eine Nichte von Friedrich Althaus, ließ Löckle am 4. November 1938 wissen: „In 1897, in welchem mein Onkel gestorben ist, hörte ich von seiner Frau [Charlotte Althaus, geb. Voß (1831–1901)], dass vor seinem Tode, er alle Briefe und Schriftstücke verbrannt habe, vor allem natürlich in Folge dessen dringender Bitte, die Briefe von Gregorovius, auch die Handschrift.“ (Geheimes Staatsarchiv Berlin, Nachlass Waldemar Kampf, VI. HA, Karton 86, Mappe 10) Die Publikation kam nicht zustande – die Abschrift von Löckle befindet sich heute im Nachlass von Gregorovius in der Münchener Staatsbibliothek, wo sie Waldemar Kampf vorfand, der in den 1980er Jahren mit dem Deutschen Historischen Institut in Rom (er‐ gebnislos) über eine separate Publikation der „Nachrömischen Tagebücher“ verhandelte (das Typoskript nach Löckles Abschrift in Kampfs Nachlass, Geheimes Staatsarchiv Ber‐ lin, Nachlass Waldemar Kampf, VI. HA, Karton 52, Mappe 320). Eine Gesamtausgabe der Römischen und der „Nachrömischen Tagebücher“ erschien erst 1991 als „Römische Ta‐ gebücher: 1852–1889“ (hg. vom Markus Völkel und Hanno-Walter Kruft, München: Beck). Wohl aus dem Besitz des zeitweise im thüringischen Roßleben praktizierenden Zahnarztes Curt Elgnowski, dem Enkel von Gregorovius’ verwitweter Halbschwester Ottilie Elgnow‐ ski (1834–1907). Am 4. November 1938 teilte Wolfgang Jess Alfred Löckle mit: „Ich habe den Nachlass von Ferdinand Gregorovius, soweit er noch vorhanden war, von einem Anverwandten einer Sei‐ tenlinie in der Hand. Wegen der Uebernahme des Nachlasses stehe ich noch in Unterhand‐ lungen. Die Tagebücher sind leider nicht dabei. Die Zahl der Briefe von G. nur gering, aber eine größere Anzahl Briefe des Bruders von G., sodann Gratulationen zum 70. Geburtstag aus aller Welt, Kondolenzbriefe zum Tode von G. und eine sehr große Anzahl von Photo‐ graphien und Zeichnungen. Ich war sehr glücklich über das gefundene Material, das ich von früher her schon kannte. Es füllt einen ganzen Koffer und die Frage erhebt sich, wie ich es Ihnen zugänglich machen soll. Dazu käme dann noch das von mir gesammelte Material, bei

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Abb. 1: Verzeichnis der in Abschriften von Hermann Elgnowski an Wolfgang Jess gegangenen Briefe von Ferdi‐ nand Gregorovius, die an die Königsberger Bibliothek gekommen waren (Geheimes Staatsarchiv Berlin, Nachlass Waldemar Kampf, VI. HA, Karton 53, Mappe 326)

briefe, 14 Briefe an Louis Köhler und drei an Ludwig Walesrode an die Königsberger Bibliothek gegeben hatte (Abb. 1). Löckle sollte darüber hinaus Abschriften aller erreichbaren Briefe von und an Gregorovius anfertigen. Der bestens vernetzte Bibliothekar richtete mit professio‐ neller Systematik Anfragen an alle nur möglichen bestandshaltenden Archive und Bibliotheken, die ihm die Handschriften an die Bayerische Staatsbibliothek schick‐ ten. Seinem ebenso professionellen Ablagesystem der aus- und eingehenden Briefe ist zu entnehmen, dass er zudem umfangreiche Korrespondenzen mit den Nach‐ fahren von Gregorovius in Ost- und Westpreußen und von Althaus in London und Berlin führte, die allerdings allesamt ins Leere liefen. Innerhalb eines Jahres konnte Löckle etwa 700 Briefe von und an Gregorovius nachweisen und hatte Abschriften von 390 fast durchgehend ungedruckten Briefen genommen, darunter 45 oft viel‐ seitige Familienbriefe aus der Zeit des deutsch-französischen Krieges, aus Griechen‐ land (1880) und dem Orient (1882), aus der Sammlung Autographa der Königli‐ chen Staatsbibliothek zu Berlin (die nach dem Krieg an die Biblioteka Jagiello´nska dem das Wichtigste der Briefwechsel von G. mit dem Grafen Werthern in Beichlingen ist.“ (Geheimes Staatsarchiv Berlin, Nachlass Waldemar Kampf, VI. HA, Karton 86, Mappe 10)

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Krakau ging), u. a. die 132 Briefe an Mathilde von Humboldt, 26 an Wilhelm Heyd, 24 an Alfred von Reumont, 11 an Georg Gottfried Gervinus (damals noch unpu‐ bliziert), an Hermann Reuchlin, Friedrich Theodor Vischer, Friedrich Eggers, Ernst Dümmler, Otto Roquette sowie die Briefwechsel mit Ignaz von Döllinger und Carl Alexander Großherzog von Sachsen-Weimar-Eisenach – Abschriften damals bereits publizierter Briefe, wie die an Theodor Heyse und Malwida von Meysenbug, nahm Löckle von den Handschriften. Auch die im Druck fast durchweg gekürzten Briefe an Hermann von Thile ergänzte er nach den Handschriften. Doch stand das Projekt letztlich unter keinem guten Stern, da Löckle schon im Dezember 1938 gesundheit‐ lich nachhaltig angeschlagen war. Mit dem Ausbruch des Krieges wurde das Projekt nicht weiter verfolgt. Allerdings hatte Löckle seine handschriftlich zusammenge‐ tragenen Briefabschriften nebst der diesbezüglichen Korrespondenz verwahrt. Da Wolfgang Jess nicht aus dem Krieg zurückkehrte, übernahm seine Frau Ma‐ rianne Jess (†1996) die Verlagsleitung. Vermutlich hat sie oder der 1948 mit der Ge‐ schäftsführung des Verlags betraute Historiker Hans Krey (1901–1960) die Mate‐ rialien von Löckle dem aus Königsberg gebürtigen Waldemar Kampf (1913–1988) übergeben, dem auch die in der Sammlung Jess vorhandenen Briefe zur Verfügung gestellt wurden, darunter vierzig Schreiben an Gertrud und Georg von WerthernBeichlingen, einige Familienbriefe und die einst von Gregorovius’ Neffen Hermann Elgnowski angefertigten Briefabschriften. 13 Kampf nämlich hatte 1949 im Auftrag der Historischen Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften mit einer zunächst als Gesamtausgabe der Briefe von Gregorovius geplanten Edition begonnen, die von der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft (NDW), der Vorgängerorganisation der Deutschen Forschungsgemeinschaft, über Jahre mit ei‐ nem Stipendium finanziert wurde. Für das Gelingen der Edition bot die LöckleSammlung eine substanzielle Grundlage. Doch trotz aller Bemühungen der über die Jahre wechselnden Generalsekretäre der Historischen Kommission wurde dieses Projekt 1961 ergebnislos eingestellt. 14 Das einzige Ergebnis blieb Kampfs kennt‐ 13 Jess hatte die Briefe aus seiner Sammlung für den zum Herbst 1939 mit Löckle geplanten Briefband direkt an den Setzer geben wollen: „Mein Briefmaterial von G. sende ich Ihnen nach Weihnachten. Von diesem brauchen Sie wohl keine Abschriften zu machen, da es im Original an die Druckerei für den Satz gehen kann.“ (Brief an Alfred Löckle vom 14. De‐ zember 1938, Geheimes Staatsarchiv Berlin, Nachlass Waldemar Kampf, VI. HA, Karton 86, Mappe 10) 14 Die diesbezügliche Korrespondenz ist im Archiv der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften erhalten (Bd. 294, Deutsche Geschichtsquel‐ len – Unterlagen und Korrespondenzen zu nicht verwirklichten Projekten, siehe http:// www.historischekommission-muenchen.de/fileadmin/user_upload/pdf/sonstige/archiv‐ findbuch.pdf, letzter Zugriff 20. 05. 2022) sowie im Nachlass von Kampf detailliert (Gehei‐ mes Staatsarchiv Berlin, Nachlass Waldemar Kampf, VI. HA, Karton 85, Mappe 4 und 6). Vgl. hierzu auch Klaus Hildebrand, Editionen zum 19. und 20. Jahrhundert. Deutsche

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nisreiche Einführung zu der von ihm noch während der Projektlaufzeit besorg‐ ten Neuausgabe von Gregorovius’ Hauptwerk, der „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“ 15, für die er eine beeindruckende Zahl an Quellen zur Entstehung und Wirkungsgeschichte zusammengetragen und ausgewertet hat – darunter auch ungedruckte Briefe, die nahezu ausnahmslos aus dem in der Bayerischen Staatsbi‐ bliothek aufbewahrten Nachlass von Gregorovius stammen. Zwar hielt Kampf, der 1968 eine Professur an der Pädagogischen Hochschule in Karlsruhe antrat, bis zu seinem Tode an diesem Projekt fest, es wurde von ihm jedoch nicht ein einziger Brief publiziert. Das ist einerseits erstaunlich, weil sich in seinem wissenschaftli‐ chen Nachlass auch umfangreichere eigene Vorarbeiten und Briefabschriften erhal‐ ten haben: Neben den Löckle-Materialien hatte Kampf – unabhängig vom Erhalt der Handschriften – von Schreibkräften Typoskripte (unterschiedlicher Qualität) der gedruckten Briefe, wie die an Hermann von Thile, Cotta, Franz Rühl und Ersilia Caetani Lovatelli anfertigen lassen, überdies von gut fünfzig ungedruckten Briefen an Cotta und von 36 Schreiben an den Königsberger Altphilologen Ludwig Fried‐ länder (damals noch in Privatbesitz) 16. Von den bereits von Löckle aufgefundenen Beständen finden sich in der Kampf-Sammlung u. a. Typoskripte von 94 (von 374) Briefen an Brockhaus, von 14 Briefen an Adolf Friedrich Graf von Schack, von acht Briefen an Paul Heyse und von drei Schreiben an Moritz Hartmann. Andererseits sind diese Materialien von Kampf in insgesamt neunzehn stattlichen Paketen un‐ verzeichnet und so ungeordnet hinterlassen worden, dass für das 2017 begonnene editorische Unternehmen der „Gesammelten deutschen und italienischen Briefe“ am Deutschen Historischen Institut in Rom dieser Bestand zunächst inventarisiert, danach digitalisiert werden musste und schließlich die Digitalisate (ca. 9.000 Da‐ teien) identifiziert und einzeln mit einer maschinenlesbaren Beschriftung versehen werden mussten. Diese reiche Sammlung in allen Aggregatzuständen – Fotos von Handschriften, Abschriften von Löckle, Typoskripte von Schreibkräften (nur im Falle der CottaBriefe mit handschriftlichen Kollationierungen Kampfs nach den Handschriften), die Blätter und Konvolute nicht selten durcheinander und mit immer wieder re‐ vidierten Notaten zum Umfang und zu den Richtlinien der geplanten Edition – erschloss die Korrespondenz von Gregorovius in neuer Breite. Hier war zu guten Geschichtsquellen – Akten der Reichskanzlei – Bayerische Ministerratsprotokolle, in: „. . . für deutsche Geschichts- und Quellenforschung“. 150 Jahre Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hg. von Lothar Gall, München 2008, S. 199 – 228, hier S. 212. 15 3 Bde., Basel: Schwabe & Co 1953–1957, überarbeitete Neuauflage, 4 Bde., München: Beck 1978 (2. Aufl. 1988), zugleich München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1978 und Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1978. 16 Gedruckt in Ferdinand Gregorovius, Briefe nach Königsberg, hg von Dominik Fugger und Nina Schlüter, München 2013.

Eine lange Geschichte der Edition der Briefe von Gregorovius kurz erzählt

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Teilen versammelt, was sich an Handschriften in deutschen und österreichischen Archiven erhalten hat und an Drucken bis in die 1950er Jahre erschienen war. Überdies fanden sich sogar einige Autographe, die Kampf selbst erworben hatte, wie elf Briefe von Adolf Friedrich Graf von Schack und Briefhandschriften in Ko‐ pie, deren Originale heute verloren sind, wie die aus dem Privatbesitz des Grego‐ rovius-Biographen Johannes Hönig, 17 ja sogar Originalfotos und Zeichnungen aus der Sammlung Jess, die Kampf offenbar nicht zurückgegeben hatte. 18 Dass Kampf von vielen heute bekannten Konvoluten und Briefen keine Kenntnis hatte und seine Zusammenstellung bis auf Kopien eines Teils der Briefabschriften an den Bo‐ logneser Archäologen Giovanni Gozzadini 19 und an den römischen Archäologen Giovanni De Rossi keine Vorarbeiten für die italienische Korrespondenz enthält, kann indes kaum verwundern. Denn bis heute sind selbst gute Teile der in deut‐ schen Archiven aufbewahrten Bestände nicht inventarisiert bzw. bis heute nicht in Online-Findmitteln nachgewiesen. Für die deutschen Gregorovius-Briefe ergab sich aus dem Kampf-Nachlass aber insgesamt ein Materialbefund, der einerseits den Prozess meiner Briefrecherche stark verkürzte und bei der Textherstellung half, an‐ dererseits die ursprünglich angenommene Materialbasis quantitativ wie qualitativ grundlegend veränderte. Gleichwohl erhöhte sich die zu Projektbeginn bekannte Zahl von 1.300 Brie‐ fen von und an Gregorovius nach systematischer Recherche auf inzwischen mehr als 3.300 Briefe, die neben zahlreichen nur im Druck überlieferten Schreiben in insgesamt 86 nationalen und internationalen Archiven oder in Privatsammlungen nachgewiesen werden konnten (Stand Juni 2022). Die weitaus größte Zahl dieser Korrespondenzen war bis dahin weder publiziert, geschweige denn kommentiert worden. Editionsarbeit und Kommentar stützen sich zudem auf meine über viele Jahre entstandene Personalbibliographie und ein gleichzeitig angelegtes Quellenar‐ chiv, in dem neben den gedruckten Briefen von und an Gregorovius auch erstmals das oft anonym in Periodika publizierte Werk, die Übersetzungen und die voll‐ ständige Forschungsliteratur (inklusive zeitgenössischer Rezensionen) nachgewie‐ sen und zusammengetragen wurde.

17 Geheimes Staatsarchiv Berlin, Nachlass Waldemar Kampf, VI. HA, Karton 88, Mappe 6. 18 Geheimes Staatsarchiv Berlin, Nachlass Waldemar Kampf, VI. HA, Karton 88, Mappe 3. 19 Siehe hierzu den Beitrag von Katharina Weiger in vorliegendem Band.

„Ich war sehr thätig – das ist die beßte Neuigkeit von mir.“ Die digitale Edition der Briefe von Ferdinand Gregorovius Jörg Hörnschemeyer

Sehr tätig war nicht nur Ferdinand Gregorovius bei den Vorbereitungen zu seinem Spätwerk, der „Geschichte der Stadt Athen im Mittelalter“, wie er Ende 1880 in ei‐ nem Brief an Mathilde von Humboldt schreibt, 1 sehr tätig war in den vergangenen Jahren ebenso das gesamte Gregorovius-Editions-Team. Stand heute (Mai 2022) wurden der interessierten Öffentlichkeit inzwischen mehr als 840 transkribierte, kommentierte und digital erschlossene Briefe vorgelegt. Bei Abschluss des Projek‐ tes sollen es einmal gut 1.000 werden. Bei dieser Briefedition handelt es sich um eine sogenannte Born-digital-Edition, also weder um die Retrodigitalisierung einer bereits gedruckt vorliegenden noch um eine hybride Edition, die sowohl eine di‐ gitale als auch eine Printpublikation zum Ziel hat. Das ist nicht ganz unwichtig, da die Entscheidung, eine Edition als eine rein digitale zu konzipieren, auch einen großen Einfluss auf die verschiedenen Arbeitsprozesse des Edierens hat. Das digitale Medium bietet hier viele neue Möglichkeiten, erfordert aber gleichzeitig auch bis zu einem gewissen Grad ein Umdenken in Bezug darauf, was und wie etwas ediert wird. 2 Bei der Datenaufnahme orientiert sich das Projekt an den aktuellen Standards der digitalen Editionspraxis und an den FAIR-Prinzipien. 3 Die digitale Infrastruk‐ tur besteht aus verschiedenen, sich komplementär ergänzenden Softwarekompo‐ nenten. Erstens aus dem für die editorische Arbeit unerlässlichen Eingabewerkzeug, der an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften entwickel‐

1 Gregorovius an Mathilde von Humboldt, 28. Dezember 1880, in: Ferdinand Gregoro‐ vius, Poesie und Wissenschaft. Gesammelte deutsche und italienische Briefe (digitale Edi‐ tion), hg. von Angela Steinsiek, Deutsches Historisches Institut in Rom 2017–2023, URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/ed_t3s_ycs_vnb. 2 Siehe hierzu die noch immer aktuelle Einführung von Patrick Sahle, Digitale Editions‐ formen, Zum Umgang mit der Überlieferung unter den Bedingungen des Medienwandels, 3 Bde., Norderstedt 2013. 3 FAIR steht für Findable, Accessible, Interoperable und Reusable. Die Anwendung dieser Prinzipien soll die optimale Nachnutzbarkeit von Forschungsdaten sowohl für den Men‐ schen als auch für die Maschine gewährleisten. URL: https://www.go-fair.org/fair-prin‐ ciples/ (letzter Zugriff: 12. 05. 2022).

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ten Editionssoftware ediarum, 4 zweitens aus einer auf die geisteswissenschaftli‐ chen Bedürfnisse hin ausgerichteten Datenhaltungsschicht, also der eigentlichen Datenbank des Backends, eXist-DB, 5 drittens aus der auf Grundlage aktueller Webstandards entwickelten Präsentationsschicht, dem sogenannten Webfrontend, und viertens aus einer maschinenlesbaren Datenschnittstelle, die den Zugriff auf sämtliche in der Edition verarbeiteten Text- und Metadaten ermöglicht, der soge‐ nannten Gregorovius Correspondence Editon API. Dieses innerhalb des Projektes entstandene Interface verdient besondere Erwähnung, da es die in den Digitalen Geisteswissenschaften aktuell viel diskutierten Anforderungen an eine transpa‐ rente, offene Datenschnittstelle in vorbildlicher Weise erfüllt. Dazu später mehr. Die Editionssoftware ediarum wurde für das Projekt nicht bloß nachgenutzt, son‐ dern um Eingabefunktionen und -oberflächen ergänzt, die in der Basissoftware so nicht vorgesehen sind und die die Bearbeitung von projektspezifischen Text‐ phänomenen, wie verschiedene Arten von Eingabevermerken oder die Erfassung von Drucken, ermöglichen. Zudem unterstützt es die im Standardsystem so nicht vorgesehene Erfassung von Drucken und Handschriften. Da im Gregorovius-Pro‐ jekt großen Wert auf Transparenz und Nachnutzbarkeit gelegt wird, können die angepassten Ediarum-Module sowie auch der gesamte übrige Programmcode, der innerhalb des Projektes entstanden ist, über das eigene Github-Software-Reposi‐ torium des DHI-Rom heruntergeladen und in anderen Forschungskontexten wei‐ ter verwendet werden. 6 Die Softwaremodule unterliegen dabei einer Open-SourceLizenz, die die kostenlose Nachnutzung und freie Weiterentwicklung ermöglicht. Die Briefe und die Metadaten an sich werden nach den Standardregeln der Text Encoding Initiative 7 annotiert und im von der Deutschen Forschungsgemeinschaft empfohlenen und ebenso an der BBAW entwickelten XML-Basisformat des Deut‐ schen Textarchivs (DTABf ) gespeichert. 8 Diese XML-basierte Datenverarbeitung hat sich vor allem im Bereich der Digitalen Editionswissenschaften durchgesetzt, da sie zum einen eine komplexe Erschließungstiefe unterstützt und zum anderen die Editionsdaten von ihrer eigentlichen Präsentationsschicht trennt. Sie kann da‐ mit als Grundlage etwa für eine kritische Textausgabe oder eine nutzerfreundliche Leseversion dienen, aber ebenso auch als Basis für die verschiedensten Formen von Datenanalysen verwendet werden. 9

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URL: https://www.ediarum.org/ (letzter Zugriff: 12. 5. 2022). URL: http://exist-db.org/exist/apps/homepage/index.html (letzter Zugriff: 12. 05. 2022). URL: https://github.com/DHI-Roma (letzter Zugriff: 12. 05. 2022). URL: https://tei-c.org/ (letzter Zugriff: 12. 05. 2022). URL: https://www . deutschestextarchiv . de / doku / basisformat / (letzter Zugriff: 12. 05. 2022). 9 Und darüber hinaus für viele weitere Arten digitaler und auch analoger Nutzungsszenarien. Vgl. hierzu Sahle, Digitale Editionsformen (wie Anm. 2), Teil 2, S. 157 ff.

„Ich war sehr thätig – das ist die beßte Neuigkeit von mir“

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Gerade diese Trennung von Form und Inhalt, die genau das Gegenteil vom traditionellen Printparadigma darstellt, bei dem man sich auf eine einzige Lay‐ out-orientierte Ausgabeform (den Druck) festlegen muss, verlangt von dem / der Editionswissenschaftler / in nun aber auch, sich mehr Zeit für die Entwicklung des Editionsmodells selbst zu nehmen und anschließend auch mehr Zeit in die seman‐ tische Erschließung der Texte zu investieren. Editionen im Allgemeinen, besonders aber Digitale Editionen sind zeit- und ressourcenaufwendig. Dennoch lohnt sich dieser Aufwand, da Editionen erst im digitalen Medium ihr Potenzial in Bezug auf disziplinenübergreifende Nutzungsszenarien richtig entfalten können. Bevor dieses Thema weiter vertieft wird, soll im Folgenden zunächst die primäre Präsentations‐ form der Gregorovius-Briefedition, das sogenannte Webfrontend, und die Funk‐ tionalität des Interface näher erläutert werden. Als zentraler Einstieg wurde für die Edition der Zugang über die Ebene der Briefe gewählt. Als Ausgangspunkt erhält man eine chronologisch sortierte Liste aller Briefe der Edition.

Briefrecherche

Sowohl Sortier- als auch Filterfunktionen erlauben ein leichtes Navigieren und Anordnen der Briefe, das zu einem schnellen Auffinden der gewünschten Texte führt. Unterstützt werden diese Möglichkeiten einer facettierten Suche durch eine Volltextsuche, die das zielgerichtete Recherchieren von Begriffen und auch Phra‐ sen erlaubt. Die einzelnen Filter sind mit der Volltextsuche beliebig kombinierbar. Suchresultate können durch die Anwendungen zusätzlicher Metadaten-Filter wei‐ ter eingegrenzt werden. So ist es möglich, sich über die Volltextsuche alle Briefe (und optisch unterschieden alle Kommentare) anzeigen zu lassen, in denen es um Hexa‐ meter geht und anschließend diese Ergebnisliste weiter mit Hilfe von Empfängerund Datierungsfilter auf beispielsweise die Briefe zu reduzieren, die Gregorovius 1856 an Heinrich Brockhaus schrieb (Abb. 1). Über die Ergebnisliste gelangt man dann zum eigentlichen Brieftext (oder zu den Kommentaren).

Briefmetadaten

Die Edition teilt die vollständigen Metadaten mit: neben Sender, Empfänger und Datum auch Absendeort, Empfangsort, den Aufbewahrungsort der Handschriften nebst Signatur, Umfang und Format, weitere Textzeugen (wie philologisch rele‐ vante Drucke), Informationen zum Korrespondenzkontext (zum vorausgehenden

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Jörg Hörnschemeyer

Abb. 1: Briefrecherche

und nachfolgenden Brief ) sowie Basisinformationen zu Empfänger und Adressat. Nach Abschluss des Projektes wird neben den edierten Briefen zudem eine zur Zeit noch projektintern gepflegte Datenbank zugänglich gemacht werden, die alle Me‐ tadaten der derzeit (Stand Mai 2022) insgesamt mehr als 3.300 nachgewiesenen Briefe von und an Gregorovius enthält. In dieser Datenbank sind sowohl die Auf‐ bewahrungsorte der Handschriften als auch gegebenenfalls philologisch relevante Drucke verzeichnet. Aus der Präsentation soll zudem ersichtlich werden, ob allein auf die Metadaten oder auch auf die edierten Briefe zugegriffen werden kann.

Regesten

Neben den Metadaten und den verschiedenen Registern, werden die edierten Briefe mit zweisprachigen Regesten auf Deutsch und Englisch erschlossen, die einem in‐ ternationalen Publikum die Nutzung der Edition ermöglichen resp. erleichtern sol‐ len.

Briefansicht

Die textuelle Ebene erfasst den eigentlichen Brieftext und gibt alle durch die Her‐ ausgeberin vorgenommenen textkritischen Auszeichnungen wieder. Die Gliede‐ rung des Textes folgt dem zugrunde gelegten Textzeugen und wird strukturell nach‐

„Ich war sehr thätig – das ist die beßte Neuigkeit von mir“

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gebildet. Entsprechendes gilt für die zeilengetreue Wiedergabe von Abfassungsort, Abfassungsdatum, Anrede, Grußformel und Unterschrift. Auf die Wiedergabe des originalen Zeilenfalls wird verzichtet, Folio- bzw. Seitenwechsel werden kenntlich gemacht.

Editionsrichtlinien

Ediert wird der Brieftext letzter Hand, doch werden inhaltlich relevante Varianten mitgeteilt. Kennzeichnungen und Anmerkungen im Brieftext sowie Marginalien des Empfängers werden an entsprechender Stelle dokumentiert. Weitere Einzelhei‐ ten in Bezug auf das textkritische Vorgehen z. B. im Umgang mit unsicheren Les‐ arten, Textnormalisierungen oder Herausgebereingriffen sind den ausführlichen Editionsrichtlinien zu entnehmen. 10 Die Richtlinien geben auch Auskunft über die verwendete XML-Kodierung zur technischen Beschreibung der Textphänomene.

Kommentare

Neben der Textkritik werden sämtliche Briefe inhaltlich durch ein dichtes Netz von Sachkommentaren in der Tiefe erschlossen. Diese werden lesefreundlich direkt neben dem Brieftext auf Höhe der kommentierten Textstelle eingeblendet. Die Er‐ läuterungen im engeren Sinne liefern die zum Verständnis der Briefe erforderlichen sachlichen, bio- und bibliographischen, werk-, lokal- und zeitgeschichtlichen An‐ gaben sowie Worterklärungen und Übersetzungen fremdsprachiger Stellen. Histo‐ rische Hintergrundinformationen, deren Bekanntheit nicht vorausgesetzt werden kann, werden ausführlich erläutert. Entsprechendes gilt für entstehungsgeschicht‐ liche Anmerkungen zu den Werken von Gregorovius sowie zu deren Übersetzun‐ gen. Der Korrespondenzzusammenhang wird im Stellenkommentar mitgeteilt und durch Verlinkungen auf die entsprechenden Briefe ergänzt.

10 URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/richtlinien/ (letzter Zugriff: 12. 05. 2022).

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Jörg Hörnschemeyer Abb. 2: Auszug aus dem Personenregister

Briefnavigation

Unterhalb der Briefe stellt die Edition zwei Möglichkeiten zur Verfügung, durch den Briefbestand zu navigieren, entweder durch die Auswahl des vorigen oder des nächsten Briefes innerhalb der selbst erstellten Korrespondenz-Auswahl oder durch die Verknüpfung zum chronologisch folgenden beziehungsweise vorangegangenen Brief.

Biographische Informationen

Die Korrespondenzpartner von Gregorovius werden mit einem knappen biographi‐ schen Abriss eingeführt, der durch Informationen über die Beziehung zu Gregoro‐ vius und die erhaltene Korrespondenz ergänzt wird. Die einleitende Erläuterung zu den Korrespondenten befindet sich immer im Sachkommentar des ersten Briefes an den jeweiligen Korrespondenzpartner.

Personenregister

Das Personenregister (Abb. 2) enthält getrennt verwaltet sowohl Verknüpfungen zu Briefen, in denen die Person selbst als Korrespondent auftritt, als auch zu Briefen, in denen sie lediglich erwähnt wird. Im Personenregister werden natürliche Personen, Körperschaften sowie my‐ thologische und fiktionale Figuren entsprechend gekennzeichnet. Alle Einträge werden nach Möglichkeit mit einer Identifikationsnummer der Gemeinsamen Normdatendatei der Deutschen Nationalbibliothek versehen, der sogenannten GND-Nummer. 11 Über entsprechende Webservices kann dadurch automatisch auf andere Webressourcen verlinkt werden, deren Daten ebenfalls mit GND-Num‐ 11 URL: https://www.dnb.de/DE/Professionell/Standardisierung/GND/gnd_node.html (letzter Zugriff: 12. 05. 2022).

„Ich war sehr thätig – das ist die beßte Neuigkeit von mir“

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mern versehen sind. 12 Dies ist ein erster niederschwelliger Ansatz, digitale Edi‐ tionen allgemein sichtbarer zu machen. Ebenso versprechen solche Schnittstellen, eine bessere projektübergreifende Verknüpfung von Forschungsdaten untereinan‐ der und eine Anreicherung mit externen Informationen über das Projektende hin‐ aus.

Ortsregister

Im Ortsregister werden weitere Differenzierungen, wie mythische Orte, Ge‐ birge-Berg-Hügel, Fluss-See-Meer, Wald, Monument, Siedlung, Stadtviertel, Park, Gebäude oder Straße, vorgenommen. Wie schon bei den Einträgen im Personen‐ register werden auch hier Normdaten verwendet, um die Orte eindeutig identi‐ fizieren und mit Geokoordinaten versehen zu können. Als Normdatenanbieter fungiert hier der Open-Access-Datensatz von GeoNames, 13 einer in den Geistes‐ wissenschaften etablierten Quelle ortsbezogener Normdaten.

Werkregister

Über den Button „Werke“ gelangt man zum Werkregister, das in die Werke von Gre‐ gorovius, deren Übersetzungen, Werke anderer Autoren und die Sekundärliteratur unterteilt. Durch die zahlreichen Verknüpfungsmöglichkeiten von Brieftexten mit Korre‐ spondenzpartnern, Personen, Orten, Werken sowie Schnittstellen zu weiteren edi‐ tionsinternen und -externen Ressourcen ist mit der Gregorovius-Edition ein dichtes Netz von Verweisen entstanden, das sowohl ein zielgerichtetes, themengeleitetes Navigieren als auch ein einfaches sich Treiben lassen durch die große Menge der überlieferten Briefe ermöglicht. Wie eingangs erwähnt, existiert neben dem für den menschlichen Nutzer gedachten Zugriff auf die Briefe von Gregorovius in Form der beschriebenen Such-, Navigations- und Präsentationsschicht noch eine weitere Zugangsebene zur Edition, die ein automatisiertes Abrufen der maschinenlesbaren 12 Dies betrifft z. B. Bibliothekskataloge, Biographische Nachschlagewerke oder weitere Digi‐ tale Editionen. Eine beliebte Möglichkeit, eigene Daten mit Hilfe einfacher GND-Listen zu veröffentlichen, bietet das BEACON-Findbuch: URL: https://beacon.findbuch.de/ (letzter Zugriff: 12. 05. 2022). 13 URL: http://www.geonames.org/ (letzter Zugriff: 12. 05. 2022).

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Jörg Hörnschemeyer Abb. 3: Gregorovius Correspondence Edition API

Editionsdaten erlaubt. Diese Schnittstelle stellt einen Lösungsansatz in Bezug auf die aktuell stark diskutierten Forderungen nach mehr Transparenz, Interoperabili‐ tät und Nachnutzbarkeit innerhalb der in der Digitalen Edition erschlossenen For‐ schungsdaten dar. 14 Am Rande eines jeden Brieftextes gelangt man über einen Link mit dem Namen TEI-XML zu den rohen, unformatierten Briefdaten der Edition. Hierbei handelt es sich, um bei der eingangs verwendeten Terminologie zu bleiben, um die von der Ausgabeform getrennte Inhaltsebene. Genau mit dieser Form der Datenrepräsentation lassen sich nun verschiedene Schnittstellen verwirklichen, mit denen vor allem ein maschineller Zugang zu den Editions-Daten ermöglicht wird. Einen gebündelten Zugriff auf die stets aktuellsten Editionsdaten in maschinenles‐ barer Form erhält man über die Gregorovius Correspondence Edition API. 15 Dieses Interface ist sehr vielfältig nutzbar: Wie zuvor erwähnt, lässt sich sowohl auf die TEI-konformen Daten einzelner ausgewählter Brieftexte als auch auf selbst zusam‐ mengestellte Subkorpora oder die kompletten Metadaten aller Briefe inklusive der Textincipits zugreifen. (Abb. 3). Zusätzlich bietet die API Zugriff auf separate Listen sämtlicher im Projekt ver‐ zeichneter Personen, Orte, Werke und Kommentare. Das ermöglicht es Software‐ entwicklern, auf Grundlage der Gregorovius-Daten eigene Anwendungen zu pro‐ 14 Christiane Fritze, Manifest für digitale Editionen, in: Kulturen des digitalen Ge‐ dächtnisses. 8. Tagung des Verbands „Digital Humanities im deutschsprachigen Raum“ (DHd 2022), Potsdam, DOI: https://doi.org/10.5281/zenodo.6327989 (letzter Zugriff: 12. 05. 2022). Für die kollaborativ erstellte Textversion siehe https://dhd-blog.org/?p= 17563 (letzter Zugriff: 12. 05. 2022). 15 URL: https://github.com/DHI-Roma/gregorovius-api (letzter Zugriff: 12. 05. 2022).

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grammieren. Denkbar wäre beispielsweise, dass künftig jemand die GregoroviusDaten nutzen möchte, um einen Webservice zu entwickeln, der alle Incipits oder alle Grußformeln der Briefe des 19. Jahrhunderts aggregieren und zur Verfügung stellen möchte. Für den Datenbestand der Gregorovius-Edition wäre das mit Hilfe dieser Schnittstelle problemlos möglich. Wir stehen gerade erst am Anfang der Entwicklung, Editionen nicht mehr nur als menschenlesbaren Text zu begreifen, sondern auch die zugrunde liegenden Da‐ ten dahinter zu nutzen. Im Folgenden sollen ein paar kurze Beispiele andeuten, wo die Daten einer Edition heute schon über ihren ursprünglichen Zweck hinaus sinnvoll genutzt werden können. Über die Gregorovius-API werden unter ande‐ rem die kompletten Korrespondenz-Metadaten der Briefedition im sogenannten CMI-Format zur Verfügung gestellt. 16 In diesen Metadaten werden Sender, Emp‐ fänger, Schreibdatum, Schreib- und Empfangsort sowie vorangegangener und nach‐ folgender Brief verzeichnet. Dieses Exportformat kann nun dazu genutzt werden, Daten in speziellen Suchportalen zu platzieren, wie beispielsweise dem von der Ber‐ lin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften entwickelten Briefrecher‐ chesystem CorrespSearch. 17 Hiermit können Verzeichnisse verschiedener digitaler und gedruckter Briefeditionen nach Korrespondenz-Metadaten durchsucht wer‐ den. Die solcherart in CorrespSearch aggregierten Metadaten ermöglichen es bei‐ spielsweise, einen zeitlich benachbarten Brief der eigenen Korrespondenzpartner aus anderen (digitalen) Editionen aufzufinden, resp. Anzeigen zu lassen. Bei ent‐ sprechend ausreichender Datenmenge kann dieser Service zudem leicht für Netz‐ werkanalysen von Briefkorrespondenzen genutzt werden. Aktuell verfügt die Platt‐ form in Bezug auf den zeitlichen Kontext der Gregorovius-Edition zwar noch nicht über ausreichendes Datenmaterial – zur Zeit sind etwa 150.000 Briefe nachgewie‐ sen, wobei der Verzeichnisschwerpunkt bislang auf dem 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts liegt –, je mehr Daten aber künftig auch für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Verfügung stehen werden, desto interessanter wird dieses Suchinstrument für die Auswertungen der Briefnetzwerke von Gregorovius und seinen Zeitgenossen. In diesem Zusammenhang lässt sich aber durchaus auch noch einen Schritt weiter denken: Es wäre sicherlich spannend, nicht nur die unmit‐ telbaren Korrespondenzpartner von Gregorovius als Knotenpunkte eines solchen Netzes zu betrachten, sondern ebenso die in seinen Briefen genannten Personen.

16 Siehe Peter Stadler, Marcel Illetschko und Sabine Seifert, Towards a Model for Encoding Correspondence in the TEI: Developing and Implementing , in: Journal of the Text Encoding Initiative, 9 (2016), DOI: https://doi.org/10.4000/jtei.1433 (letzter Zugriff: 12. 05. 2022). 17 Siehe Stefan Dumont, correspSearch – Connecting Scholarly Editions of Letters, in: Jour‐ nal of the Text Encoding Initiative, 10 (2018), DOI: https://doi.org/10.4000/jtei.1742 (letzter Zugriff: 12. 05. 2022).

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Jörg Hörnschemeyer

Durch die konsequente Auszeichnung mit Normdaten ist die Gregorovius-Edition auch hier für solch ein zukünftiges Anwendungsszenario geeignet. Neben Historischen Netzwerkanalysen wird es im Bereich von Briefeditionen in Zukunft weitere Anwendungsmöglichkeiten für die annotierten Volltext- und Metadaten geben. So ließen sich etwa mit Hilfe von Text-Reuse-Algorithmen Edi‐ tionen auf wiederkehrende Textabschnitte hin untersuchen. Wer zitiert hier wen? 18 Mittels Topic-Modeling-Algorithmen ließen sich thematische Strukturen eines Briefkorpus des 19. Jahrhunderts untersuchen. 19 Was sind die großen Themen ei‐ ner solchen Sammlung? Bei welchen Autoren lassen sich Überschneidungen fest‐ stellen? Bei welchen Unterschiede? Zudem können stilometrische Analysen etwa dabei helfen, die Autorschaft anonym verfasster Briefe zu entschlüsseln. 20 Auch als Trainingsdaten für verschiedene Anwendungen aus dem Bereich des maschinellen Lernens können das transkribierten Briefe zur Anwendung kommen. Indes man‐ gelt es für das sogenannte Named Entity Recognition, also das automatische Iden‐ tifizieren von Personen, Orten, Institutionen, Zeitangaben und anderen Entitäten in historischen Texten bis heute an verlässlich annotiertem Quellenmaterial. Auch die aktuellen Verfahren der Handwritten Text Recognition (HTR) benötigen zum Trainieren der Erkennungsmuster genaue Transkriptionen in digitaler Form; auf solche Basistranskriptionen sind auch Text Summarization Algorithmen angewie‐ sen. Solche Verfahren könnten aus den Regesten der Edition ‚lernen‘, wie so etwas geht. Technologien aus dem Bereich des Semantic Web können helfen, die Digi‐ tale Edition in die immer größer werdende LOD-Cloud zu integrieren und somit ihre Sichtbarkeit und Nachnutzbarkeit weiter zu verbessern. 21 All die genannten Ansätze eint, dass sie leicht zugängliche und frei nachnutzbare Daten benötigen – und die offenen Schnittstellen der Gregorovius-Edition bieten Zugriff auf solche 18 Für praktische Anwendungsbeispiele siehe u. a.: Matteo Romanello und Simon Heng‐ chen, Detecting Text Reuse with Passim, in: Programming Historian, 10 (2021), DOI: https://doi.org/10.46430/phen0092 (letzter Zugriff: 12. 05. 2022). 19 Siehe hierzu z. B. Martin Fechner und Andreas Weiss, Einsatz von Topic Modeling in den Geschichtswissenschaften: Wissensbestände des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften, 2017, text / html Format, DOI: https://zfdg.de/2017_005 (letzter Zugriff: 12. 05. 2022). 20 Vgl. hierzu auch Sascha Hinkel und Jörg Hörnschemeyer, Die Kritische OnlineEdition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917–1929): Ansätze für eine digitale Auswertung, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken, 101 (2021), S. 28–57, DOI: https://doi.org/10.1515/qufiab-2021-0004 (letzter Zugriff: 12. 05. 2022). 21 Vgl. Jörg Wettlaufer, Der nächste Schritt? Semantic Web und digitale Editionen, in: Digitale Metamorphose: Digital Humanities und Editionswissenschaft, hg. von Roland S. Kamzelak und Timo Steyer, 2018 (= Sonderband der Zeitschrift für digitale Geistes‐ wissenschaften, 2). text / html Format, DOI: https://zfdg.de/sb002_007 (letzter Zugriff: 12. 05. 2022)

„Ich war sehr thätig – das ist die beßte Neuigkeit von mir“

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Daten. Es soll hier aber auch nicht verschwiegen werden, dass es noch eine ganze Reihe offener Fragen in Bezug auf die Edition im Digitalen Medium gibt. Dass solche Editionen zeit- und ressourcenaufwendig sind, kann nicht genug betont wer‐ den. Blickt man auf die aktuellen Diskussionen zum Thema „Digitale Editionen“, so fallen immer wieder die Stichwörter Nachhaltigkeit, 22 Qualitätssicherung, dis‐ ziplinenübergreifende Modularisierung von editorischen Arbeitsschritten, Mangel an Best Practices, Schaffung von konzeptuellen und visuellen Standards, Komple‐ xitäts-Overload und nicht zuletzt die Anerkennung technischer Entwicklungen als wissenschaftliche Leistung, die Förderung von Karrierewegen und die personelle Nachhaltigkeit. Sicher werden uns diese Themen, die nun auch in den entsprechen‐ den geisteswissenschaftlichen Fachkonsortien der sich langsam konstituierenden NFDI-Initiativen zur Schaffung einer nationalen Forschungsdaten-Infrastruktur diskutiert werden müssen, noch eine ganze Weile begleiten. 23 Als Forschungsinsti‐ tution sind wir an verlässlichen Standards und technisch umsetzbaren Editionsmo‐ dellen interessiert, damit unsere begrenzten Kapazitäten sinnvoll einsetzbar sind und auch weiterhin qualitativ hochwertige Editionen entstehen können. Mit der Entwicklung von Editionen wie der hier vorgestellten hoffen wir, auch künftig einen Beitrag zu den vielfältigen Diskussionen rund um die Digitale Edition leisten zu können.

22 Siehe hierzu Christiane Fritze, Wohin mit der digitalen Edition? Ein Beitrag aus der Perspektive der Österreichischen Nationalbibliothek, in: Bibliothek Forschung und Praxis, 43/ 3 (2019), S. 432–440, DOI: https://doi.org/10.1515/bfp-2019-2068 (letzter Zugriff: 12. 05. 2022) 23 URL: https://www.nfdi.de/ (letzter Zugriff: 12. 05. 2022).

Ferdinand Gregorovius als römischer Korrespondent der „National-Zeitung“ in Berlin Ausgewählte Artikel Angela Steinsiek

Bevor Gregorovius sich in der von Adolph Samter gegründeten „Neuen Königs‐ berger Zeitung“ als einer der führenden Köpfe der radikalen Demokraten in Kö‐ nigsberg äußerte, hatte er seinen Lebensunterhalt als Lehrer, als Schriftsteller einer Satire auf Königsberg und Autor eines Romantik-kritischen Romans verdient. Ein Jahr nach seiner Promotion bei Karl Rosenkranz veröffentlichte er 1844 unter dem Titel „Betrachtungen über das Naive“ den ersten mir bekannten Aufsatz in dem von Alexander Jung herausgegebenen „Königsberger Literatur-Blatt“ 1 und 1846 den satirischen Beitrag „Bainologie, Vorstudien einer neuen Wissenschaft“ in dem Leipziger Blatt „Charivari“ 2. Es folgten Artikel zur Literatur in den von Adolph Samter herausgegebenen „Baltischen Blättern für Literatur, Kunst und Theater“, bevor diese 1848 eingestellt wurden. Mit der am 22. Mai 1848 erstmals ausgege‐ benen „Neuen Königsberger Zeitung“ beginnt die erste berufliche Laufbahn des Theologen und promovierten Philosophen linkshegelianischer Schule als Publizist: Neben knapp 100 tagespolitischen Leitartikeln, die unter einer festen, nur für Ein‐ geweihte auflösbaren Chiffre, dem Sternzeichen des Wassermanns (h), gedruckt wurden, 3 schrieb er hier eine fast ebenso große Zahl an namentlich (oder mit seinen Initialen) gezeichneten Feuilleton-Beiträgen, bis der Zeitung durch ein im Juni 1850 verschärftes Pressegesetz der Boden entzogen wurde. 4 Gregorovius hat 1 Jg. 3, Nr. 4, Danzig 13. Januar 1844. 2 Jg. 5, Nr. 172, hg. von Eduard Maria Oettinger, Leipzig 15. Januar 1846, S. 2739–2741. Eine Redaktionsnotiz lud Gregorovius zur Lieferung weiterer Beiträge ein, die indes un‐ terblieb: „Die Beiträge dieses geistreichen Schriftstellers werden uns jederzeit willkommen sein.“ 3 Seine politischen Artikel wurden nach dem einzig nachweisbaren vollständigen Exemplar einer Bibliothek im polnischen Olsztyn (Allenstein) wieder abgedruckt: Ferdinand Gre‐ gorovius, Europa und die Revolution. Leitartikel 1848–1850, hg. von Dominik Fugger und Karsten Lorek, München 2017. 4 Bibliographische Angaben zu allen Beiträgen von Gregorovius für die „Neuen Königsberger Zeitung“ sind einzig den ansonsten zeittypisch geprägten Arbeiten von Annelies Schüh‐ ner (Die politische Jugendentwicklung von Ferdinand Gregorovius, Phil. Diss. masch. Heidelberg 1943) und Ernst Adalbert Jöttkandt (Die politische Sinnfassung der Dich‐ tung bei Ferdinand Gregorovius, Phil. Diss. masch. Berlin [1941]) zu entnehmen.

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Angela Steinsiek

über dieses doch beachtliche Œuvre seiner jungen Jahre nie ein Wort verloren; der Nachwelt wurde es bekanntlich nur durch einen indiskreten Brief seines Freundes Louis Köhler bekannt. In einem nur auszugsweise überlieferten Schreiben an den österreichischen Publizisten Sigmund Münz schreibt Gregorovius Ende 1885: „Was meine Jugendwerke betrifft, wie Goethes ‚Wilhelm Meister‘, ‚Das Polentum‘ etc., so wünsche ich sie der Vergangenheit nicht entrissen zu sehen – ich bin unfähig, auch nur eine Seite davon zu lesen. Manches muß man aus dem Lebensschiff über Bord werfen“. 5 Dass Gregorovius auch in Italien ein aufmerksamer Beobachter der politischen Ereignisse um ihn herum blieb, zeigen nicht nur seine Tagebücher und seine jetzt in repräsentativer Auswahl edierten Briefe, die einen Einblick in das weit gespannte Briefnetzwerk dieses Schriftstellers und Privatgelehrten von schier unfasslicher Produktivität in heute verblüffender Breite bieten. Tatsächlich nutzte Gregorovius seine früh entwickelte Aufmerksamkeit für die Gegenwart lebenslang in Form ei‐ ner reichen Zeitungspublizistik. Sie diente ihm nicht allein zur Bestreitung seines Lebensunterhalts, sondern war ihm bald auch Bedürfnis. Seine unselbständigen Schriften sind in großen Teilen bis heute unerschlossen, auch wenn lange bekannt ist, dass er nach seiner Ankunft in Italien nach kurzer Zeit zu einem gefragten und regelmäßigen Beiträger der renommierten „Allgemeinen Zeitung“, des „Morgenblattes für gebildete Leser“ von Cotta und der wichtigen literarischen Zeitschriften von Brockhaus, wie „Das Ausland“, „Die Gegenwart“, „Deutsches Museum“, „Hausblätter“ und später vor allem „Unsere Zeit“, avan‐ cierte. Während der zwanzig Jahre, in denen er an seiner „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“ arbeitete, schrieb Gregorovius in nahezu ununterbrochener Folge Beiträge für deutsche, zum Teil auch für englische, amerikanische und schottische Journale, 6 dazu später für deutsche und italienische Akademieschriften: Reiseschil‐ derungen, Übersetzungen, Gedichte, Rezensionen, Nachrufe, offene Briefe, tages‐ politische Artikel, historische Essays und Aufsätze. 5 Ferdinand Gregorovius und seine Briefe an Gräfin Ersilia Caetani Lovatelli, hg. von Sig‐ mund Münz, Berlin 1896, S. 12. 6 Eines dieser englischen Journale war vermutlich die in London gegründete, nur kurzlebige Wochenzeitschrift „The Continental Review“ (London März 1858 – April 1859); und in den USA schrieb Gregorovius für die von Friedrich Lexow (1827–1872) seit 1852 heraus‐ gegebene deutschsprachige „New Yorker Criminal-Zeitung und belletristisches Journal“, für die sein Bruder Gustav Gregorovius (1810–1862) als Redakteur tätig war – den er damit finanziell unterstützte. Die schottische Zeitschrift ist nicht bekannt. Siehe die Briefe von Ferdinand Gregorovius an Theodor Heyse, 20. Dezember 1855 und 28. Oktober 1858, in: Ferdinand Gregorovius, Poesie und Wissenschaft. Gesammelte deutsche und italie‐ nische Briefe (digitale Edition), hg. von Angela Steinsiek, Deutsches Historisches Institut in Rom 2017–2023, URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000027 und https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000087/nad4_rz1_vlb.

Ferdinand Gregorovius als römischer Korrespondent der „National-Zeitung“

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Schon in einer über viele Jahre entstandenen Personalbibliographie im Vorfeld der jetzt bald vor dem Abschluss stehenden Briefedition hatte ich mehrere hundert unselbständige Publikationen und ihr Verhältnis von Zeitschriften- und Buchpu‐ blikationen nachweisen können: Sie sind nur zu einem kleinen Teil in den „Wan‐ derjahren in Italien“ und in seinen „Kleinen Schriften zur Geschichte und Cultur“ zusammengefasst worden. Die Briefe haben die mir bis dahin bekannten Schriften von Gregorovius aber noch einmal verdoppelt! Nicht nur, weil erst sie die Identifizierung vieler kleinerer Beiträge ermöglicht haben – darunter auch, ohne Verfasserangabe, eine ganze Reihe von Artikeln im „Conversations-Lexikon“ von Brockhaus –, sondern auch, weil erst seine Korrespondenz sachdienliche Hinweise auf ein riesiges, im Nebel der Zeiten verschwundenes Œuvre von Gregorovius lieferte. Die folgende Auswahl-Publikation soll den Schleier der Diskretion lüften, den Gregorovius – aus ganz anderen Gründen als mit Blick auf sein Frühwerk und seine jugendliche Zeitungspublizistik – über seine Jahre währende Korrespondenten-Tä‐ tigkeit für die 1848 gegründete liberale Berliner „National-Zeitung“ sich zu erhal‐ ten bemüht hat. 7 In seinen Briefen findet diese Tätigkeit erst dann Erwähnung, nachdem er sie bereits aufgegeben hatte. Im Januar 1870 schreibt Gregorovius sei‐ nem Freund Ludwig Friedländer nach Königsberg, er habe seine „früheren Corris‐ pondenzen für die National-Zeitung definitiv niedergelegt“ 8, während er Ignaz von Döllinger, der sich von Gregorovius informelle „Notizen über Personen, Zustände, Machinationen“ des bevorstehenden Ersten Vatikanischen Konzils (1869–1870) erhofft hatte, am 8. Dezember 1869 auf dessen wiederholte Anfrage mitteilt: Auch [. . . ] nötigt mir meine wissenschaftliche Stellung zu Rom wie meine persönliche in ihr die Diskretion des Schweigens ab: ich habe daher, wenn ich früher Correspon‐ denzen politischer Natur unterhielt, diese vollkommen abgebrochen und verschiedene Aufforderungen zu Auslassungen über die Gegenwart, welche an mich von Deutsch‐ land aus ergangen sind, principiell abgelehnt. 9

Gregorovius hatte dem Redakteur der „National-Zeitung“, Eugen Zabel, allerdings erst im September 1869 Franz Rühl als Berichterstatter über das anstehende Erste 7 Siehe hierzu auch Angela Steinsiek, Private und öffentliche Kommunikationsstrategien in den Korrespondenzen und Briefen von Ferdinand Gregorovius, in: Soziales Medium Brief. Sharen, Liken, Retweeten im 18. und 19. Jahrhundert. Neue Perspektiven auf die Briefkultur, hg. von Markus Bernauer, Selma Jahnke, Frederike Neuber und Michael Röl‐ cke, Darmstadt (im Druck). 8 Gregorovius an Ludwig Friedländer, 6. Januar 1870, in: Ferdinand Gregorovius, Briefe nach Königsberg, hg. von Dominik Fugger und Nina Schlüter, München 2013, S. 96–97. 9 Gregorovius an Ignaz von Döllinger, 8. Dezember 1869, in: Gregorovius, Gesammelte deutsche und italienische Briefe (wie Anm. 6), URL: https://gregorovius-edition.dhiroma.it/letters/G000308/nimx_1dz_jlb.

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Angela Steinsiek

Vatikanische Konzil vorgeschlagen. 10 Und tatsächlich findet sich in der „NationalZeitung“ vom 7. Dezember 1869 neben einer Korrespondenz aus Rom unter einer bis dahin nicht auftauchenden Sigle (±, es handelt sich um Franz Rühl) als Fußnote die Redaktionsnotiz: „Unsere Leser werden unser Bedauern theilen, daß unser lang‐ jähriger hochgeschätzter Korrespondent aus Gründen, die wir anerkennen müssen, von seiner bisherigen Thätigkeit zurückgetreten ist.“ 11 Wann genau Gregorovius begonnen hatte, für die „National-Zeitung“ Korre‐ spondenzen zu schreiben, war damit weiter unbekannt, auch weil sich das Verlagsar‐ chiv der Zeitung nicht erhalten hat. Nur für einzelne Artikel war seine Autorschaft gesichert, weil er selbst den Wiederabdruck unter seinem Namen veranlasst hat. 12 Anders als in Cottas „Allgemeiner Zeitung“, wo Gregorovius’ anonym gedruckte Artikel zumeist mit seiner festen Chiffre γρ – die griechischen Lettern für Gr – oder auch nur mit ρ gezeichnet sind, 13 die für ihn zugleich schützender Code und sicht‐ bares Zeichen seines Erfolgs war, das er späterhin als allgemein bekannt in Deutsch‐ land voraussetzte, 14 blieben die Siglen in der „National-Zeitung“ nicht über viele Jahre für einen Autor reserviert. Eine ganz unlösbare Aufgabe schien deren Identi‐ fizierung von dem einmal bekannten Endpunkt seiner Korrespondenten-Tätigkeit aus aber nicht. Ich musste mir hierfür freilich die Mühe machen, zahlreiche Jahr‐ gänge der „National-Zeitung“ durchzublättern. Hierbei war zunächst festzustellen, dass bis 1859 über Presseberichte aus anderen Blättern aus dem Kirchenstaat berich‐ tet wurde. Einen eigenen Korrespondenten unterhielt die „National-Zeitung“ erst ab 1860 – und der war ganz ohne Zweifel Gregorovius. Denn es lassen sich regelmä‐ ßig zeitliche und inhaltliche Übereinstimmungen zwischen den Korrespondenzen

10 Gregorovius an Franz Rühl, 16. September 1869, ebd., URL: https://gregorovius-edition. dhi-roma.it/letters/ed_mks_gxx_zpb. 11 In: „National-Zeitung“, Jg. 22, Nr. 571, Berlin 7. Dezember 1869. 12 „Das Tyroler Passionsspiel, von Bauern aufgeführt zu Thiersen, am 30. Juli 1865“ (Natio‐ nal-Zeitung, Nr. 381, 387 und 395, 17., 20. und 25. August 1865), „Das Bourbonenschloß Caserta“ (ebd., Nr. 579, 8. Dezember 1866) und sein Nachruf auf Clemens August Alertz (ebd., Nr. 583, 11. Dezember 1866) – alle drei Beiträge hat Gregorovius in seine „Kleinen Schriften zu Geschichte und Cultur“ aufgenommen (Bd. 3, Leipzig 1892). 13 Für die Identifikation eines Großteils seiner Beiträge in der „Allgemeinen Zeitung“ kann zudem auf die Honorarbücher und Redaktionsexemplare im Marbacher Cotta-Archiv zu‐ rückgegriffen werden. Eine hiernach getroffene Auswahl der von Gregorovius selbst nicht wieder abgedruckten Artikel in: Jens Petersen, Ferdinand Gregorovius als Mitarbeiter der Augsburger ‚Allgemeinen Zeitung‘. Ausgewählte Textbeispiele, in: Ferdinand Gregoro‐ vius und Italien. Eine kritische Würdigung, hg. von Arnold Esch und Jens Petersen, Tübin‐ gen 1993, S. 253–255. 14 Gregorovius an Konrad Reichard, 29. Februar 1876, in: Gregorovius, Gesammelte deut‐ sche und italienische Briefe (wie Anm. 6), URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/ letters/ed_d2s_5cd_hmb.

Ferdinand Gregorovius als römischer Korrespondent der „National-Zeitung“

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und dem Tagebuch von Gregorovius ausmachen. Auch setzten die römischen Kor‐ respondenzen aus, wenn Gregorovius auf Reisen oder erkrankt war. Gelegentlich sandte er auch Berichte von seinen Reiseorten nach Berlin. Waren seine Korrespon‐ denzen bis 1864 fast durchgängig mit der Sigle e gezeichnet, dem Sternzeichen des Skorpions, wechselten sie fortan zwar regelmäßig, aber nicht ganz beliebig. In den Jahren von 1860 bis 1869 lieferte Gregorovius die beeindruckende Zahl von mehr als 400 Artikeln, deren Autorschaft nunmehr als gesichert gelten kann. Thematisch knüpfen diese Texte an seine frühen Leitartikel für die „Neue Kö‐ nigsberger Zeitung“ an, insofern es im Wesentlichen tagespolitische Korresponden‐ zen sind. Allerdings stehen hier die römischen Ereignisse im Zentrum – und es schreibt ein gereifter Autor, dessen Artikel sich in der Zusammenschau wie ein par‐ allel geschriebenes, zweites römisches Tagebuch von Gregorovius lesen. Wir haben hier eine erstklassige Quelle des Risorgimento! Seine Zeitungs-Korrespondenzen sind in vielerlei Hinsicht, so wie seine poetischen Schriften, der Subtext seiner his‐ torischen Werke. Der Historiker und Schriftsteller Gregorovius, als der er bisher vor allem gesehen wurde, gewinnt damit auch als Publizist und Kommentator des Zeitgeschehens eine ganz neue Bedeutung und Größe. Die Textwiedergabe folgt der Vorlage diplomatisch mit wenigen Ausnah‐ men: Offenkundige Druckfehler wurden stillschweigend korrigiert (wie „mtt“ statt „mit“ und bei fehlenden Satzzeichen), bei Fehlschreibungen oder eindeutig falschen Eigennamen und Begriffen (wie „Cornato“ statt „Corsica“, „Bariti“ statt „Barili“ und „Pyramide des Cassius“ statt „Pyramide des Cestius“) wurde der kor‐ rekte Name oder Begriff in eckigen Klammern ergänzt.

National-Zeitung, Nr. 180 vom 17. April 1860 (Abend-Ausgabe)

e Rom, 9. April. Lamoricière’s Eintritt in den päpstlichen Dienst wird fortdau‐ ernd als ein Phänomen und Mysterium angestaunt. Die Einen sehen hinter ihm die Partei Orleans, die Koalition, die Revolution, die Napoleon stürzen soll; die ande‐ ren vermuthen ein Manöver Napoleon’s selbst, dem es im Ernst daran gelegen sei, eine widerstandsfähige päpstliche Armee sich organisiren zu lassen, um das neue Königreich Italien zu hindern, über Cattolica hinaus nach den Marken zu grei‐ fen. Der berühmte General ist nun definitiv angestellt, nicht als General-Kapitän der Kirche, sondern als General-Kommandant der päpstlichen Truppen, und die Geschäfte des Kriegsministeriums stehen unter ihm. Er hat darauf bestanden, nur dem Papst, nicht aber beliebigen Prälaten und Monsignori verantwortlich zu sein. Er verlangte die übliche Ehrenwache; der Graf Goyon verweigerte sie; ein Kompe‐ tenzstreit erhob sich; der Herzog v. Grammont soll gedroht haben, seine Pässe zu

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Angela Steinsiek

Abb. 1: National-Zeitung, Nr. 448 vom 26. September 1862 (SBB, Sign. 2°@Ztg 718, Titelblatt)

Ferdinand Gregorovius als römischer Korrespondent der „National-Zeitung“

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nehmen. Man telegraphirte nach Paris, von wo die Antwort kam, diese Formalität auf sich ruhen zu lassen. Nach den heutigen Nachrichten hat Napoleon es zugelassen, daß ein ehemaliger französischer General im päpstlichen Dienst verwendet werde. Aber die Franzosen sind erbittert und beschämt über den Schritt Lamoricières, des Helden der Smala, des Idols der Zuaven, und die Römer nennen ihn einen Renegaten, der sich mora‐ lisch ruinire. Ob der General den Kirchenstaat herstellen werde, wie einst Albor‐ notius, ist freilich sehr die Frage. Er logirt im Hotel der Minerva. Man hat ihm 3 päpstliche Offiziere als Adjutanten beigegeben, darunter den Marchese Zappi. Er selbst versteht kein Wort italienisch. Er ist sehr leidend an der Gicht. Die Päpstli‐ chen bei Pesaro und Ancona, die er inspicirt hat, sind über 14000 Mann stark. Es fehlt an Offizieren. Monsignor Merode, welchem es glückte, Lamoricière in Brüssel anzuwerben, und in dessen Begleitung der General in Ankona landete, soll des Ein‐ tritts mehrerer französischer und belgischer Offiziere von alter Familie sicher sein. Man spricht wiederholt von dem Eintritt Changarnier’s in den Dienst Nea‐ pels. Die neapolitanische Armee hat noch nicht die Grenze überschritten, und wird es schwerlich thun. Es sind nur Gerüchte, welche von dem baldigen Abzug der Fran‐ zosen reden. Man ist hier überzeugt, daß Frankreich die Position von Civita Vecchia nicht so leicht aufgeben wird. Der Gedanke an ein Einrücken der Neapolitaner in Rom, ängstigt jedoch die Römer, die in diesem Falle terroristische Maßregeln be‐ fürchten. Seit dem plötzlichen Ueberfall des Corso am 19. März ist Rom ruhig, und keine Demonstration hat mehr stattgefunden. Viele Römer sitzen fest in den Gefängnis‐ sen der Curie auf Monte Citorio, und in S. Michele. Die Erklärung des Grafen Goyon im römischen Journal, daß auf seinen Befehl und mit seiner Billigung die Gendarmerie am 19. eingeschritten sei, hat hier wahrhaft erbittert, aber die Sa‐ tire der Römer erfreut sich an dem Gedanken, daß die päpstlichen Gendarmen, gleichsam zur Strafe für das zweideutige Verhalten Frankreichs, auf französische Offiziere eingehauen haben. Patrouillen von 6 zu 6 Mann durchziehen noch immer den Corso, und ihr lautloses Hin- und Herschleichen hat etwas Geisterhaftes. Das schöne Regiment Carabinieri ist bis auf eine Schwadron aufgelöst und in Polizei verwandelt, von welcher Rom gegenwärtig erfüllt ist. Die Osterfeierlichkeiten sind ruhig vorübergegangen. Die Sixtinische Kapelle war sogar stark gefüllt. Der Papst sah erschöpft, trüb und leidend aus; er soll je‐ doch guten Muthes sein und einer Offenbarung der Jungfrau vertrauen. Weder die Kuppelbeleuchtung, noch der Segen konnten am Ostersonntag stattfinden, weil es stürmte und regnete. Der Wind zerriß den großen Vorhang über der Loge, worin der Papst den Segen ertheilt, und das Volk brachte diesen Zufall mit der Exkommu‐ nikation in Zusammenhang, die in zwei Exemplaren an den beiden Riesensäulen des Vestibulums von St. Peter angeheftet ist. Kurz der Vorhang des Tempels riß in drei Stücken auseinander.

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Es machte einen eigenthümlichen Eindruck, die Osterprozessionen in das Hei‐ ligthum zwischen jenen beiden Flüchen hindurchziehen zu sehen. Auch am St. Jo‐ hann im Lateran, an der Curia Innocentiana, am Palast der Kanzelei und auf Campo dei Fiori, dem ehemaligen Platz der Hinrichtungen und Autodafé’s von Rom, ist die Exkommunikation angeheftet. Sie hat keinerlei Eindruck hervorgebracht. Man kauft sie als saubere Broschüre mit gelbem Umschlag für 5 Bajocchi, wo man sie dann gemächlich lesen kann. Ihr letztes Ende ist freilich ein unentwirrbares Laby‐ rinth des Archiv-Stils, wie ein Nachdonnern kanonischer Perioden schrecklicher Natur hinter dem klaren Blitz. Man spricht in Rom nicht mehr von der „Scomu‐ nica“, mit desto tieferer Beschämung aber von der schimpflichen Cession Savoyen’s und Nizza’s an Frankreich, womit eine Wendung in der nationalen Bewegung Itali‐ ens, wie in der europäischen Politik überhaupt eingetreten ist. Man würde Savoyen, man würde Altacomba, die Dynastengruft Piemonts, verschmerzen, aber der Ver‐ lust von Nizza hat tief in das Herz Italiens eingeschnitten.

National-Zeitung, Nr. 498 vom 23. Oktober 1860 (Abend-Ausgabe)

e Rom, 15. Oktober. Lamoricière traf gestern Abend mit dem Eisenbahnzuge von Civitavecchia in der Stadt ein. Eine große Zahl seiner Freunde vom Klerus wie vom Laienstande begrüßte ihn an der Station. Er ist wieder in seinem Logis, auf dem spanischen Platz abgestiegen. Es macht einen seltsamen Eindruck, vor seiner Thüre römische Invaliden ohne Gewehr als Wache sitzen zu sehen. Sie sind wie die tristen Symbole eines geschlagenen Generals ohne Armee, der als Kriegsgefangner über See heimkehrt, eher einem Märtyrer, als dem General en chef der päpstlichen Truppen gleich, wie ihn das offizielle Journal noch benennt. Er wird, so sagt man, demnächst das Portefeuille des Kriegsministeriums übernehmen. So kehrte Lamoricière, auf welchen der Papst als auf den „unbesiegbaren General“ die größeste Hoffnung ge‐ setzt hatte, ohne Schwert zu den Füßen desselben zurück, und Pius IX. hat ihn gerührter vom Boden aufgehoben, als Philipp von Spanien seinen Admiral nach dem Verlust der großen Armada. Der schöne Traum, und enorme Summen sind zerronnen. „Für die Christen sterben heißt siegen. Se pel Prince morire è bella sorte – qual sia, morendo per Iddio, la morte?“ Mit dieser Phrase des Erzbischofs von Tours, und mit dem in Frankreich und Belgien projektirten Ehrendegen mag sich nun La‐ moricière trösten. Auch der General Schmidt wird morgen, mit einer Abtheilung von Schweizern erwartet, und man wird rüstig an die Reorganisation der päpstlichen Armee gehn. Aber die Finanzen sind so sehr erschöpft, daß der Staat kaum noch bis zum Frühjahr mit seinen Mitteln ausreicht. Der Peterspfennig fließt tropfenweise, und ist mehr nur ein traditioneller Akt heiliger Reminiscenz, als eine praktische Wirkung. Auch

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in Rom sammelt ihn eine Kommission ein unter der Leitung des Prinzen Orsini und des Marchese Patrizi. Seit dem 20. September sind 739 Beiträge gezeichnet worden; indem das römische Journal diese Liste veröffentlicht, bemerkt es dazu: „das edelmüthige Verlangen der Gläubigen, dem heiligen Vater in seiner Finanznoth beizuspringen, hat das fromme Werk des Peterspfennigs wieder ins Leben gerufen, nachdem es vor Alters bei fremden Nationen als ein Akt ihres glühenden Glaubens entstanden war. Auch Rom, das seinem Vater und Souverän in der gegenwärtigen betrübten Lage des Staats so viele Beweise ehrfürchtiger Liebe gegeben hat, hat sich diesem frommen Werke eifrig angeschlossen, welches nun von der ganzen Welt aus‐ geübt wird.“ Diese frommen Zeichnungen haben in der Regel lateinische Motto’s aus der Bibel, die ganz ins Mittelalter versetzen: Protegam urbem hanc propter Da‐ vid servum meum et Aaron sanctum meum – Nolite tangere Christos meos – Exurgat Deus, et dissipentur inimici ejus, und ähnliche. Der Papst hat heute die neuangekommenen französischen Generale und Offi‐ ziere im Quirinal empfangen, und ihnen den Segen ertheilt. Er hat wiederholt, daß er keinen Schutz brauche, daß er aber hoffe, die Truppen des Kaisers seien wirk‐ lich dazu bestimmt, den Kirchenstaat den Räubern zu entreißen. Die Lage Pius IX. ist so unklar, daß sie ein Papst von der Energie eines Bonifacius VIII. oder Sixtus V., daß sie selbst ein Clemens VII. nicht würde ertragen haben. Er sieht sich in einem diplomatischen Labyrinth, dessen Ausgang er nicht findet, ja kaum zu su‐ chen scheint. Dieser Zustand ist schrecklich, und Mitleid erregend. Die Annalen des Papstthums zeigen keine Epoche, in welcher sich dasselbe in einer gleich großen sowohl politischen als moralischen Isolirung befunden habe. Man hofft nun mit jedem Tage mehr auf den Warschauer Kongreß; man sagt sich, daß die Fürsten, wel‐ che in der Hauptstadt Polens zusammenkommen, gleich den alten Legaten Roms in den Falten ihrer Togen den Krieg und Frieden und die Entscheidung der Zukunft tragen. Die Verwirrung in Neapel und Sizilien, wo nach unparteiischen Berichten, die Administration sich in ein wahrhaftes Chaos auflöst, giebt den Hoffnungen der Papisten noch mehr Grund. Wir werden sehen, was doch Victor Emanuel vermag; es ist die höchste Zeit, daß er doch Garibaldi wieder in die ihm passende Sphäre zurückversetzt. Rom ist still und unheimlich, das Volk, wie immer, indifferent. Die französische Sprache schallt auf allen Straßen; selbst ein französisch geschriebenes Journal „La Correspondance de Rome“ erscheint in der Stadt wöchentlich einmal. Es ist natür‐ lich von klerikalem Charakter. Die Arbeiten stehen still, die Fremden bleiben aus, obwohl hier keine Unruhen zu befürchten sind. Das Nicht-Vermiethen der Woh‐ nungen ruinirt Tausende von Menschen, die auf diesen Erwerb angewiesen sind. Gleichwohl sind die Preise der Lebensmittel noch nicht gesteigert.

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National-Zeitung, Nr. 570 vom 4. Dezember 1860 (Abend-Ausgabe)

c Rom, 22. November. Telegraphische Berichte werden Ihnen gemeldet haben, daß am heutigen Tage das diplomatische Korps von Preußen, Oesterreich und Ruß‐ land aus Gaeta in Rom eingetroffen sei. Das preußische Schiff „Ida“ brachte sie nach Civitavecchia. Graf Perponcher ist im Gesandtschaftshotel auf dem Kapitol abgestiegen, welches also gegenwärtig zwei eingegangene Legationen Preußens in Italien aufgenommen hat, in der Person des Herrn v. Reumont aus Florenz, und des Gesandten aus Neapel. Die Königin-Wittwe von Neapel langte als Gräfin von Santa Cecilia mit ihren Söhnen und Töchtern vorgestern Abends von Gaeta hier an; sie wurde an der Ei‐ senbahnstation vom Kardinal Antonelli empfangen und nach dem Quirinalischen Palast geleitet, wo sie ihr Logis genommen hat. Der Papst machte ihr gestern in großer Auffahrt seinen Besuch. So beherbergt Rom jetzt zwei verwittwete Köni‐ ginnen aus dem Hause Bourbon, jene die Gemahlin Ferdinands von Spanien und diese die Gemahlin Ferdinands von Neapel, aber die Beziehungen der Tochter des ruhmvollen Erzherzogs Karl zu Maria Christine und dem Herzog Rianzarès dürften nicht der freundlichsten Art sein. Die dritte Königin wird als schutzflehender Gast erwartet, die beklagenswerthe baierische Prinzessin, welche eine so verhängnißvolle und flüchtige Königskrone in so zarter Jugend erhalten und verlieren sollte. Das düstere Rom füllt sich mit Unglücksgestalten, welche Neapel liefert. Gestern wurden 30 Kanonen von Neapolitanern nach der Engelsburg gebracht, wo die mit einiger Naivetät von Piemont reklamirten Waffen des geflüchteten Korps von Clary unter dem Schutz der Franzosen niedergelegt werden. Die Her‐ überkunft eines zweiten angemeldeten Korps von 7000 Mann Neapolitanern hat sich bis jetzt nicht bestätigt. Aller Augen sind nun auf das tragische Schauspiel in Gaeta gerichtet, wo der letzte Bourbon, von der Welt verlassen, doch mit rühmlichen Muth dem Schick‐ sal entgegensieht. Der unausbleibliche Fall dieses letzten Bollwerks von Alt-Italien wird Rom schwer erschüttern, obwohl man im Vatican auf diesen Schlag gefaßt, doch nicht vorbereitet ist. Die Lage dort ist völlig rathlos. Kein bestimmter Plan ist entworfen. Man sieht sich gezwungen, in passiver Ergebung die Ereignisse heran‐ kommen zu sehen, und man überläßt es der Zukunft, die Arche auf den rettenden Berg Ararat zu führen, welchen die Vorsehung ihr inmitten dieser großen Wasser wird ausgesucht haben. Die seltsamste und aufregendste, weil so ungewisse Situa‐ tion Roms giebt daher dem Beobachter Stoff zum staunenden Nachdenken, aber zum Berichten keinen. Gerüchte gehen in diesem immer schweigenden und immer mysteriösen Rom, daß der Graf Morny heute wirklich mit einem Ultimatum angekommen sei, und daß eventuell mit der Zurückziehung der französischen Okkupationsarmee gedroht werde. Aber dieser Drohung widersprechen die starken Depots von Kriegsmaterial,

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welche Frankreich hier und in Civita Vecchia nach und nach aufgehäuft hat. Kurz, Niemand kennt den morgenden Tag. So viel ist gewiß, daß die Stimmen der Kar‐ dinäle, welche vom heiligen Vater fordern, nach dem Fall Gaeta’s ins Exil zu gehen, sich mehren und man bezeichnet heute nur noch die Kardinäle di Pietro und San‐ tucci als die einzigen, die mit Energie darauf bestehen, daß er bleibe. Mitten in dieser aufregenden Krisis, welche unsere Gegenwart plötzlich mit den großen Epochen der Vergangenheit wieder verknüpft, erscheint heute die offizielle Liste der Beförderungen in der aufgelösten päpstlichen Armee als eine vereinzelte Sonderbarkeit. Die Obersten Zappi und Kanzler sind zu Generalen ernannt, Char‐ gen und Dekorationen sind an Offiziere und Gemeine vertheilt, und durchgeht man die Liste, so hat man eine Karte von Nationalitäten vor sich: von Italienern, Spaniern, Belgiern, Deutschen, Polen, Schweizern, Franzosen, Irländern, die alle unter dem Banner Sanct Peters vereinigt gewesen sind. Man denkt übrigens ver‐ nünftiger Weise nicht mehr an die Reorganisation der Armee, und auch die zwei projektirten Bataillone päpstlicher Garde sind nicht zu Stande gekommen. Aber die vielen aus Genua heimgekehrten Kriegsgefangenen und die abgedankten Offiziere bleiben eine Last des Staats. Man spricht von der Veräußerung des vom Staate mit Sequester belegten, kost‐ baren Museums Campana.

National-Zeitung, Nr. 16 vom 10. Januar 1861 (Abend-Ausgabe)

c Rom, 4. Januar. Es vergeht kaum ein Tag, daß nicht das römische Journal Hir‐ tenbriefe der Bischöfe Umbriens brächte. Ihre Protestationen gegen die Dekrete der piemontesischen Commissarien sind erschöpft, aber der Kampf wider die ein‐ dringende Häresie wird immer heftiger aufgenommen, und nimmt immer mehr den Charakter leidenschaftlicher Erbitterung an. Der Bischof der uralten Stadt Narni in der ehemaligen Markgrafschaft Spoleto fordert in einem Hirtenbrief seine Diöcesanen zum Widerstand gegen den Protestantismus auf, welcher, nach seiner Ansicht, nur das Werk des Satans, der Unmoralität und der nichtswürdigsten Verderbniß sei. Er verdammt die Verbreitung von protestantischen Büchern als ein teuflisches Attentat gegen Christus, und bezeichnet folgende durch ganz Umbrien und die Marken zerstreuten Schriften ketzerischer Natur: Compendium der Con‐ troverse zwischen dem Wort Gottes und der römischen Theologie; die Bibeln des Diodati; die Lucilla; Vier Worte an die Völker Umbriens (dies ist die am meisten verfolgte häretische Schrift der Gegenwart); der Hausfreund für 1861; Rom von Guerrazzi; das Familienbuch; Kinderschriften. Der ehrwürdige Prälat versichert, daß er eben erst nach einem langen Aufenthalt aus dem Auslande komme, und mit eignen Augen sich überzeugt habe, wie in Deutschland und England der Protestan‐

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tismus im Verscheiden sei, und er wundert sich deshalb um so mehr, daß eine jenseits der Alpen zerfallende Secte in Italien Proselyten machen könne. In noch kräftigeren Ausdrücken ist der Hirtenbrief des Cardinalbischofs von Ferrara abgefaßt, welcher gegen dieselben ketzerischen Produkte der Tageslitera‐ tur zu Felde zieht. Er erinnert die Ferraresen, daß es ihre Stadt sei, welche vor 3 Jahrhunderten einen der Koryphäen der Reformation, Calvin, aus ihren Mauern vertrieben habe. Wenn Italien, so sagt dieser Kardinal, bis heute von der gottlosen Ketzerei frei blieb, so verdankt es dies Glück zum großen Theil Ferrara, welches jenen Menschen nicht in seinen Mauern duldete, der später so viele Provinzen der Schweiz und Frankreichs mit seinem Pesthauch vergiftete. Wenn diese Ketzer, so ruft er aus, zu euch kommen, so fragt sie nur dreist, welche ihrer Sekten die bessere sei, die Hohe Kirche, die Breite, oder die Niedrige; fragt sie nur, ob die Puseyiten oder die Evangelischen, die Pietisten oder die Herrnhuter, die Methodisten oder die Quäker mit der Gabe der Infallibilität ausgerüstet seien. Fragt sie, wie alt ihre Religion sei, welche Märtyrer sie zähle, welche Völker sie von der Ignoranz und dem Elend befreit habe; fragt sie, welcher Duft um die Wiege ihrer Kirche verbreitet sei, die ihren Ursprung den Lüften eines abgefallenen Mönchs, und denen eines abgefallenen gekrönten Henkers verdankt. – Obwohl der ehrwürdige Prälat den gottlosen Luther mit Namen bezeichnet, so ist doch sein Zorn hauptsächlich ge‐ gen die anglikanische Ketzerei gerichtet, aber er entschuldigt sich am Ende selbst wegen der unziemlichen und leidenschaftlichen Ausdrücke, welche die drohenden Gefahren der Kirche ihm in den Mund gelegt hätten. In der Stadt Rom selbst cirkuliren keine dieser häretischen Almanache oder Schriften; die Römer sind die größesten Indifferentisten in kirchlichen Dingen, und die schlechtesten Theologen, welche irgend zwischen Himmel und Erde mögen angetroffen werden. Ihre tiefe literarische Stille unterbricht bisweilen der witzige Dialog zwischen Marforio und Pasquino, den alten, geschichtlichen und klassischen Repräsentanten der römischen Satire, die noch heute eben so attisch und derb ist, wie sie es zur Zeit der Donna Olympia Maldachini war. Am Neujahrstage empfing der Papst die Körperschaften der Stadt, das fran‐ zösiche Offizierkorps und die Gesandten; er sprach sich offen und zuversichtlich zu den Offizieren seiner eigenen Truppen aus, denen er sagte, daß er sie gegenwärtig mit froheren Hoffnungen begrüßen könne, als in dem verwichenen Jahr. Die politi‐ sche Luft Roms hatte sich am Sylvestertage plötzlich und fast wunderbar verändert; die päpstliche Partei, ermuthigt durch die Nachricht von den Demonstrationen der drei nordischen Mächte zu Gunsten Franz des Zweiten, erhob sich aus ihrer mora‐ lischen Niedergeschlagenheit, und die Weißen oder Ghibellinen waren entmuthigt. Jene bezeichnete bereits den Tag, an welchem der König Franz in seine Haupt‐ stadt wieder einziehen werde, und sie verkündigte laut den Ausbruch einer allge‐ meinen Erhebung Calabriens. Die plötzliche Abreise Viktor Emanuels aus Neapel, sein unaufgehaltener Zug durch Bologna nach Turin wurde als eine Flucht, ja als

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eine Vertreibung aus dem Königreich dargestellt. Indeß die Stimmung hat ihren bisherigen Stand wieder eingenommen, und dieselbe Ungewißheit in Beziehung auf die Zukunft ängstigt jede Partei. Kein Wort aus der Neujahrsrede des französischen Kaisers ist zu uns gedrungen; man sagt, er habe diesmal den stummen Mann in der Maske gespielt. Die Abfahrt der Flotte aus dem Hafen Gaeta wird täglich gemeldet, und eben so oft wiederrufen. Ihr Verbleiben erbittert die Nationalpartei, und man beginnt Verrath zu schreien. Und in Wahrheit ist die nationale Bewegung durch Gaeta tief gelähmt, und die Annexion von Neapel und Sizilien bleibt in Frage ge‐ stellt. Die päpstliche Partei rechnet mit Bestimmtheit auf die bourbonische Restau‐ ration; deren naturgemäße Folge würde sein, daß dem Papste die Südmarken und das Patrimonium Petri erhalten bleiben. Aber selbst im günstigsten Falle würden weder Umbrien, noch die Marken und die Romagna je wieder unter die Herrschaft der Kirche zurückkehren; dies geben selbst die hoffnungsvollsten Sanguiniker der päpstlichen Partei zu. Romagnolen, welche hierher kamen, schildern den Zustand jener Provinzen der Art, daß sie sagen, sie schienen nicht ein Jahr, sondern schon dreißig Jahre lang mit Piemont vereint. Dieser Thatsache gegenüber berichtet indeß das offizielle Journal, daß es dem heiligen Vater zum Troste gereiche, von den usur‐ pirten Provinzen so viele Gaben zu empfangen. Unter ihnen verdienten besondere Bemerkung die Geschenke der Romagna, von woher selbst Frauen der Campagna ihre Ringe und Schmucksachen eingesendet hätten, Dinge, deren Goldwerth gering, deren moralische Bedeutung aber groß sei; und auch aus den Marken und Umbrien kämen Opfergaben ein, welche der beste Beweis der fortdauernden Anhänglichkeit jener Völker an ihren Souverän seien. Die in die päpstliche Kasse eingelieferte Summe des Peterspfennigs aus Rom be‐ trägt für den Monat Dezember 3813 Scudi.

National-Zeitung, Nr. 443 vom 22. September 1861 (MorgenAusgabe)

e Florenz, 16. September. Der König Italiens hielt vorgestern um 6 Uhr Nach‐ mittags seinen Einzug in diese Stadt. Es begleiteten ihn in seinem Wagen der Prinz von Carignan, Ricasoli und Cordova; es folgten ihm als seine Gäste die beiden Abgesandten Portugals und Dänemarks, Marquis Seifal und Graf Moltke. Florenz hatte sich mit Teppichen und Nationalfahnen auf das Heiterste geschmückt; die Bevölkerung stand dichtgedrängt von dem Central-Bahnhof bis zum Palast Pitti. Man empfing Victor Emanuel mit Händeklatschen und freundlichem Zuruf, ohne übertriebenen Enthusiasmus und ohne devote Kriecherei. Die Nationalgarde bil‐ dete hie und da Spalier; sie sieht gut und sogar militärisch aus. Man ist überrascht, in ihren Reihen recht kräftige Männergestalten zu sehen, da doch das toskanische

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Volk im Allgemeinen als schwächlich und unkriegerisch bekannt ist. Dies Institut scheint sich mit der Zeit zu einer wahrhaften Landwehr ausbilden zu wollen. Man erwartet zwei Bataillons Nationalgarde von Palermo, welche hier während der Zeit der Ausstellung stationiren sollen. Gestern Vormittags fand die feierliche Eröffnung der Ausstellung statt. Ridolfi hielt die kurze Anrede an den König, welcher wenige, nur in der Nähe verständli‐ che Worte erwiederte. Das Ausstellungsgebäude, der königliche Saal, innerhalb nur zweier Monate mit staunenswerther Hast und Fertigkeit hergerichtet, sind weder schön, noch imposant. Man hat aus dem ehemaligen Livorneser Bahnhof eben so viel zu machen gesucht, als möglich war. Die Feier beschloß Abends eine Illumi‐ nation. Die Florentiner besitzen weder die Mittel, noch die traditionelle Kunst, Façaden so schön zu illuminiren, als dies in Rom geschieht, aber die prachtvolle Ausschmückung des Lungarno mit beflaggten Masten und Tausenden von Ampeln in Blumenkelch-Form war das Schönste, was man von Illumination hier mochte gesehen haben. Der Lungarno bot einen wirklich feenhaften Anblick dar. Die erste allgemeine italienische Kunst- und Industrieausstellung ist demnach inaugurirt und eröffnet. Mitten in dieser politischen Unsicherheit, da sich das Land, kaum befreit, erst zu konstituiren sucht, ist sie ein schönes Augurium für die Kulturkräfte Italiens und seine wahrhafte Aufgabe in der Zukunft. Dies Volk wird, wenn seine Einheit und Reorganisation vollendet ist, seinen Nachbarn jenseits der Alpen und des Meeres nicht mit kriegerischen Waffen gefährlich werden, aber es wird der Welt ohne Zweifel auf das Glänzendste darthun, daß es durch Natur und Geschichte im privilegirten Besitz der Schatzkammer aller edlen Künste sich befindet. In der großen Völkerfamilie Europas wird Italien das künstlerische Glied sein, und der Aufschwung seiner Industrie, seiner Häfen, seines Handels wird leh‐ ren, daß die Enkel sich dessen bewußt sind, was einst die Väter in Genua, Venedig, Florenz, Mailand, Pisa und Amalfi geleistet haben. Das schöne Fest friedlicher Künste, welches heute Italien in Florenz, der Mut‐ terstadt seiner feinsten Civilisation, begeht, ist des wärmsten Antheils aller ihm befreundeten Völker im höchsten Maße werth. Die politische Lage der Gegenwart macht es begreiflich, das diese Ausstellung weder mit jener von Paris noch mit der von London wetteifern kann; indeß es ist schon viel genug, daß die Zahl der Aus‐ steller die Summe von 6000 erreicht, und daß selbst die neapolitanischen Länder und Sizilien ziemlich stark dabei vertreten sind.

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National-Zeitung, Nr. 58 vom 4. Februar 1862 (Abend-Ausgabe)

e Rom, 28. Januar. Am gestrigen Vormittag fand die Einweihung der CampagnaBahn statt, doch ohne den Papst. Rom hat seit langen Zeiten kein so erhebendes Fest begangen, ein Fest des Friedens und des allgemeinen Wohls, würdig der al‐ ten Römer, welche die ewige Stadt mit so vielen Werken des öffentlichen Nutzens ausgestattet haben, von denen einige, wie die Wasserleitungen, noch heute dem Volke dienstbar sind. Das Festlokal war der provisorische Bahnhof, der bisher für die kurze Strecke bis Albano benutzt wurde. Dort, hart am größten Thore Roms, der Porta Labicana oder Maggiore, drängt sich so viel merkwürdiges Alterthum zu‐ sammen: die ehrwürdigen Mauern Aurelians; die ungeheure Claudische Wasserlei‐ tung, die ihnen zufließt; das sonderbare Grabmal des Eurysaces; römische GrabStatuen, Inschriften, darunter jene der Kaiser Arcadius und Honorius, die einst die Mauern hergestellt hatten. In dieser Umgebung erhob sich also das Festlokal zwischen Blumenkränzen und Lorbeerbäumen mit Geschmack aufgebaut, Tempel und Hallen darstellend, verziert mit den Wappen des „Pontifex Maximus“ Pius IX., welcher gerade solche Werke der Civilisation einzuweihen berufen war, die in ih‐ rer die Gesellschaft umwandelnden Gewalt dem Mittelalter Roms, dem Dominium der Päpste, wohl ein unfehlbares Ende mit bereiten helfen. Von den Frontispizen flatterten die weißgelben Fahnen über Abbildern des Erdglobus, welche Mauerkro‐ nen überragten. Ein Papst von dem großen Bausinn der alten Römer, wie Sixtus V. war, hätte bei solcher Festgelegenheit bedeutende Worte sprechen mögen, denn was ließe sich da nicht sagen, heute, und an den Mauern Aurelians? Die Weihe vollzog der Fürst Hohenlohe, des Papstes Kämmerer und Erzbischof in partibus, an einem im Hauptraume aufgestellten Altar, von Priestern und der Sängerschule unterstützt, während auf Tribünen der hohe Klerus, die Generalität, die Munizi‐ palität, das diplomatische Korps, Delegirte der Eisenbahn-Sozietät, und andere Ge‐ ladene Platz genommen hatten. Militär bildete Spalier; Volk füllte den Raum bis zum Thor. Nach vollzogenen Gebeten und Gesängen besprengte der Erzbischof Bahn und Waggons mit dem Weihwedel. Der erste Zug führte alle jene genannten Körperschaften, das diplomatische Korps voran, in fünf Wagen, davon, erst nach Velletri, wo ein Festmahl eingenommen wurde. Das Volk blieb still und ernst. So ist ein Werk vollendet worden, welches die Via Appia, das Wunder aller Fahrund Postwege des Alterthums, die „Königin der langen Straßen“ beschämt, nicht durch cyklopische Masse und gigantische Frohnarbeit, sondern durch die Leichtig‐ keit des Genies. Es ist wunderbar, daß das große Unternehmen gerade in der Epoche des letzten Verfalls des Kirchenstaats vollendet werden mußte! Die alten Römer, die Kaiser, welche so ungeheure Werke erbaut haben, würden heute mit stupiderem Er‐ staunen die Lokomotive daherdampfen sehen, als irgend ein auf Sandalen gehender Ciociare [=Ciociaro] aus Babuko und Pofi, wenn er heute den Bahnzug durch seine klassische Wildniß vorüberjagen sieht.

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Kaum eine Eisenbahn der Welt führt durch schönere Gegenden, als diese, durch so klassische aber keine. Denn sie geht über die Campagna von Rom, die Malstatt der Geschichte, das Leichenfeld von tausend Völkern (wir Deutsche haben dort je‐ den Zoll Erde mit unserm Blut getränkt, vom König Vitiges herab bis zu Karl V.); sie führt weiter durch Latium zwischen dem Apennin und dem Volskergebirge, durch den großen Völkerpaß, welchen alle erobernde Nationen haben ziehen müssen, um die Campania Felix und Neapel zu erreichen. Dies ist das Land der Dichtung Vir‐ gils, der Geschichte des Livius, kurz Latium, das Mutterland von Rom, Wurzel und Centrum des ganzen römischen Reichs. Das Pontifikat Pius IX. wird durch zwei große Unternehmungen glänzen: durch den unter ihm vollendeten Wiederaufbau von St. Paul, und durch jene lateinische Eisenbahn, und gerade sie wird seine Regierung schöner schmücken, als sich man‐ cher Papst durch öde Luxusbauten schmücken konnte. Auch das Werk von St. Paul, wiewohl von nüchterner und kalter Pracht, ist großartig, und es war rühmlich, diese uralte Tradition des christlichen Rom nicht untergehen zu lassen. Pius IX. ist bau‐ lustig, monumentsüchtig, aber nicht immer glücklich in seinen Unternehmungen. Die Säule der Immaculata auf dem spanischen Platz ist das kleinlichste und geist‐ loseste, was unter ihm entstanden ist, und auch anderen Werken ist der kleinliche Charakter der Gegenwart aufgedrückt. Ihm nun in so bedrängter Lage, am Ende vielleicht seines tragischen Pontifikats, ist der Ruhm wohl zu gönnen, der Nachwelt diese Eisenbahn hinterlassen zu haben. Mit frommen Augurien und Sprüchen sei sie eingeweiht! Mag sie in jenen lateinischen Wüsten Segen, Aufklärung, Industrie, Arbeitskraft verbreiten, und dazu mitwirken, daß sich jene bedürftigen Colonen in wohlhabende Eigenthümer verwandeln. Denn mit den Besitzverhältnissen in La‐ tium ist es trist genug bestellt. Die Eisenbahn ist übrigens dem Gebrauch noch nicht übergeben; und wird sie es, so erschwert doch für jetzt das unglaubliche Paßsystem jede, auch die kleinere Fahrt auf ihr.

National-Zeitung, Nr. 110 vom 6. März 1862 (Abend-Ausgabe)

e Rom, 1. März. Der Carneval hat Rom wieder, wie in den letzten zwei Jahren, in zwei Faktionen getheilt. Die Nationalen haben ihn nach dem Forum verlegt, wo sie zu Tausenden auf- und abgehn und in einigen Wagen fahren. Am Donnerstag war die Demonstration sehr zahlreich; die dort Versammelten zogen vom Capitol herab bis zum Colosseum und füllten die große Plattform des Tempels der Roma und Venus, wie die gegenüberliegenden Abhänge des Palatin. Die Szenerie dieser alten Trümmerwelt bot ein mächtiges Bild. Die schweigenden Volksmassen drängten sich durch den Titusbogen vorwärts, die heutigen Römer begehren nichts mehr als die

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Herrschaft eines Priesters los zu werden, und ihre alte Weltstadt zu dem respekta‐ beln, aber doch geringeren Range einer Hauptstadt Italiens zu erheben. Sie hatten im Plan, auf dem Palatin, dem jetzigen Eigenthum von Louis Bo‐ naparte, Frankreich eine Ovation darzubringen, doch der Zugang zum Kaiserpa‐ last war verschlossen und auch den Eintritt ins Colosseum hinderten die Wachen. Am ersten Tag dieser ambulanten Demonstration wollte die päpstliche Polizei ein‐ schreiten; sie wurde indeß von den Franzosen daran gehindert, welche zahlreiche Piquets aufstellten. – An demselben Donnerstag demonstrirte ihrerseits die Gegen‐ partei; sie brachte einen lebhafteren Corso zu Stande, als man erwartet hatte, aber er trug keine römische, sondern eine legitimistische Narrenkappe. Gestern am Freitag, wo kein Carneval stattfinden darf, hatten die Nationalen im Werk, die Demonstration nunmehr auf den Corso zu verlegen; aber der kleine Militärtyrann, General Goyon, belegte den ganzen Corso für den ganzen Nachmit‐ tag bis 7 Uhr Abends mit militärischem Interdikt. Kein Mensch noch Wagen durfte passiren und seit Menschengedenken blieb die große Verkehrsader Roms zum ers‐ ten Mal völlig leer. Die ungewöhnliche Maßregel erregte große Sensation, größere Entrüstung; diese zeigt sich heute selbst im Corso, denn die Balkons sind, obwohl geschmückt, doch fast gänzlich verlassen und der Corso leer. Auch auf dem Forum zeigt sich nichts. Rom ist schwül und todt. Am Donnerstag ging die freudig aufregende Nachricht durch die Stadt, Preußen habe endlich eine aktive Politik ergriffen, und das Reich Italien anerkannt; aber leider hat sich diese verfrühte Depesche nicht bestätigt.

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National-Zeitung, Nr. 448 vom 26. September 1862 (MorgenAusgabe) (Abb. 2)

Garibaldi in Spezzia. e Spezzia, 19. September. Das Fort Varignano, wo Garibaldi nach seinem tragischen Fall auf Aspromonte, verwundet bis zum Sterben, verwahrt wird, liegt im Angesicht dieses Hafens und ihm so nahe, daß man deutlich die Fenster des Krankenzimmers sehen kann. Auf einer Landzunge erhebt sich das alte Kastell; es ist angefüllt mit kettenklirrenden Galeoten; in dem Wrack eines Kriegsschiffes befinden sich ebenfalls solche Sträflinge. Der unglückliche Volksheld liegt mitten unter Galeerensklaven, deren Kettenrasseln er stündlich hören muß. Das Haus, worin er selbst sich befindet, ist jedoch wohnlich und fast elegant, ein Gebäude modernen Styls, grün und roth von Farbe, ehemals zum Lazareth bestimmt, jetzt die Wohnung des Kastell-Gouverneurs. Gendarmerie und Karabinieri, schon ehedem

Abb. 2: [Ferdinand Gregorovius]: Garibaldi in Spezzia, in: National-Zeitung, Nr. 448 vom 26. September 1862 (SBB, Sign. 2°@Ztg 718)

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dort stationirt, und jetzt verstärkt durch ein paar Kompagnien Fußvolk, bewachen alle Zugänge des Forts. Ein Kriegsschiff ankert davor und der ironische Zufall oder Absicht hat es gewollt, daß dies Fahrzeug der „Garibaldi“ selber ist, welcher im Neapolitanischen Meer einst von dem General erbeutet wurde und seinen Namen erhielt. Keine andern Kriegsgefangenen sind dort in der Nähe Garibaldi’s, als Menotti, sein Sohn, dessen Wunde geheilt ist, und die Offiziere Basso und Bideschini. Alle übrigen Gefangenen sind entweder heimgeschickt, oder in die Citadellen von Exil‐ les und Baid gebracht. Auch Ricciotti, der jüngere Sohn, ist beim Vater. Zu den Aerzten Ripari, Albanese, Basile und dem sehr gerühmten Prandina, hat sich noch der Engländer Partridge gesellt. Auch dieser (schon im Begriff wieder abzureisen, da er mit der Behandlungsweise der übrigen einverstanden ist) hat nicht ergründen können, ob die Kugel noch im Knochen stecke. Die Eiterung ist eingetreten, aber Knochensplitter gehen ab. Wenn die Kugel nicht heraus ist, wird die Amputation nöthig werden. In jedem Falle bleibt der unglückliche General an sein Schmerzens‐ lager noch Monate lang gefesselt und wahrscheinlich zur Krücke verdammt. Ein Paar Damen gehen zu seiner Pflege ab und zu von Spezzia auf Barken hin‐ über; darunter eine in England begüterte Deutsche, Frau S[chwabe]. Sie versichert, daß es dem Verwundeten anfangs an allem Nöthigen gefehlt habe. Jetzt ist er durch die Bemühungen des Obersten Santa Rosa, des sehr humanen Kommandanten von Varignano, auf ’s Beste versorgt, und täglich langen aus Neapel, Genua oder Mailand Kisten für ihn an. Der General liegt, in seinem rothen Hemde von Aspromonte, auf einem Lager innerhalb eines kleinen Kabinets, das verwundete Bein über Kissen ausgestreckt. Er darf sich kaum bewegen. Er ist in tiefes Schweigen versunken, das er nur bricht, wenn er etwas verlangt, oder seine Kinder ruft. Man hat nie eine Klage von ihm gehört. Er nennt nie den Namen Rattazzi oder Victor Emanuel, und überhaupt spricht er nicht über politische Dinge. Manchmal läßt er sich den Tacitus geben, in dem er liest, wie der gefangene Cola di Rienzi im Livius las. Der Zutritt zu ihm ist jetzt freier als am Anfang, aber glücklicher Weise wird er nicht von Neugierigen gemißbraucht. Als ich nach Spezzia kam, hatte ich erwartet, alle Hotels von Besu‐ chern voll zu finden; sie stehen indeß leer. Spezzia ist todtenstill. Der beständige Anblick des Hauses, worin Garibaldi liegt, verbreitet dort eine Lazarethatmosphäre, oder eine moralische Traurigkeit, die alles mit Wehmuth durchdringt. Die Men‐ schen scheinen dort leise aufzutreten, als fürchteten sie einen Kranken aus dem Schlummer zu stören. In all’ diesen Gegenden dieselbe Stille, weniger der Bestür‐ zung, als der traurigen Niedergeschlagenheit und einer hoffnungslosen Ermattung. Wie auch Garibaldi geirrt haben mag, er bleibt noch heute der Held des Volks, der größeste Patriot Italiens, und sein männlichster Charakter. Reiner steht er sicher‐ lich da, als Victor Emanuel, als Cavour, und nun gar als Rattazzi. In Turin spricht man offen davon, daß man ein perfides Spiel mit Garibaldi spielte, dessen Unter‐

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nehmen der König selbst Anfangs unterstützt habe. Man ist entrüstet darüber, daß er für dies unglückliche Opfer von Aspromonte kein Wort und kein Zeichen des Mitgefühls kund gab. An einen Prozeß glaubt Niemand, weil er zu viel enthüllen würde. Viel Un‐ wahres ist über die Ereignisse in und nach Aspromonte verbreitet worden. Das sogenannte Gefecht hat dort nicht vier Stunden, sondern eine Viertelstunde ge‐ währt. Wider Willen Garibaldi’s haben die Picciotti (sizilische Jugend, darunter Kinder von 13–14 Jahren) die Schüsse der Königlichen erwidert, und Garibaldi selbst empfing die Wunden, während er kommandirte, nicht zu feuern. Bis zum letzten Augenblick hatte der Verblendete geglaubt, daß der König nur aus diplo‐ matischer Form sich gegen ihn ausgesprochen habe. Man versicherte in Spezzia auf das Bestimmteste, daß er dem zweiten Parlamentär den Revolver entriß, um sich selbst den Tod zu geben, und daß er nur durch einen entschlossenen Schlag des Arztes Albanese, der neben ihm stand, daran gehindert wurde. Die Worte an die Bevölkerung von Scilla, die man ihm in den Mund legte, hat er nie gesprochen. Im Uebrigen bildet sich in allen einsichtigen Klassen des Volks das Urtheil: daß der Fall Garibaldi’s eine traurige Nothwendigkeit gewesen sei. In diesem ge‐ fährlichen Dualismus des verzweifelten Schrittes eines Nationalhelden, welcher auf eigene Faust wagte, was der bestehende Staat nicht wagen konnte, hat wenigstens das Gesetz in dem Bewußtsein des Volkes den Sieg davon getragen.

National-Zeitung, Erstes Beiblatt zu Nr. 185 vom 22. April 1863 (Morgen-Ausgabe)

e Rom, 15. April. Das Jahresfest der Rückkehr Pius IX. von Gaeta, mit welchem sich seit 1856 die Erinnerung an seine „wunderbare“ Rettung durch die Madonna in S. Agnese verbunden hat, wurde am 12. April mit einem noch nie vorher gese‐ henen Glanz gefeiert. Der Papst fuhr des Morgens nach jener Kirche zur Andacht; man huldigte ihm mit der gewöhnlichen Akklamation bei seinem Erscheinen und Abfahren. Abends war Rom nicht allein beleuchtet, sondern feenhaft schön ge‐ schmückt. Musikchöre spielten auf den illuminirten Plätzen, viele alte Monumente waren bengalisch erhellt; selbst das Forum strahlte von Ampeln (dies auf Kosten des päpstlichen Linienregiments, das dort liegt). Die Säule Marc Aurels, der Obelisk des Sesostris auf Piazza del Popolo, der Thurm des Kapitols flimmerten von Ampeln; auf dem letztern hatte man sogar das umgekehrte Kreuz St. Peters dargestellt, wie es die Castelfidardo-Kämpfer in der Medaille tragen. Transparente Bilder, den Papst auf dem Schiff Petri oder auch die Roma mit der Mauerkrone darstellend, die Hand auf die Tiara gelegt, Inschriften, und andere Embleme waren häufig angebracht. An der Façade des Senatspalastes auf dem Kapitol sagte die Inschrift: Pio IX Pontefici

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Maximo Hoc Vertente Die Tum Reduci Tum Sospiti Roma Memor. Sehr schön sah das improvisirte Thor von Santo Spirito aus, welches man nach dem leider nicht ausgeführten Plan des berühmten Architekten Sangallo aufgebaut hatte. Selbst der Elephant auf dem Platz Minerva war bengalisch beleuchtet, und mit einem phan‐ tastischen gothischen Tempel überwölbt. Den entzückendsten Anblick aber bot die Piazza Navona dar, für deren Beleuchtung die Universität Sapienza die Kos‐ ten hergab. Dieser herrlichste und größeste Platz der inneren Stadt war zu seinen Langseiten mit päpstlichen Fahnen und Gasflammen ausgeziert; während das be‐ wundernswürdige Brunnenwerk Bernini’s mit dem Obelisk und den Kolossal-Fi‐ guren in magischem Feuer wiederstrahlte, und um dasselbe her Blumenvasen einen Zaubergarten bildeten. Genug: diese reizendste aller Demonstrationen zu Gunsten des Dominium Temporale (und daß die Feinde der italienischen Umwälzung mit Phantasie zu demonstriren wissen, muß man ihnen zugestehn) sollte der Welt ein‐ leuchtend machen, wie sicher und gehoben man sich hier fühlt. Heute strömt alles Volk nach der Kirche S. Lorenzo in Lucina; sie ist mit kö‐ niglicher Pracht in Trauer gehüllt; Wachskerzen brennen dort um den purpurnen Katafalk des Kardinals Fürsten Barberini. Der Papst war des Morgens in Person zum Todtenamt gekommen. Barberini ist der letzte von Leo XII. kreirte Kardinal gewesen. Als man diesen Kirchenfürsten gestern Nachts aus seinem Palast nach je‐ ner Basilika trug, begleiteten ihn aufrichtig klagende Bettlerschaaren. Man rühmte ihn stets als den Beschützer der Armen; aber sein Verstand war schwach. Er war ein sogenannter Cardinale di famiglia, d. h. aus Familien-Rücksichten kreirt. Heute in der Nacht traf die Exkönigin Marie von Neapel wieder in Rom ein; sie kam von Civita Vecchia, wo sie der Exkönig, ihr Gemahl, von der spanischen Fregatte abholte, und wählte wahrscheinlich die späte Stunde, um Aufsehen zu ver‐ meiden. Diese unglückliche Frau mag jetzt in dem wüsten Palast Farnese nach ihrer Klostereinsamkeit in Augsburg sich zurücksehnen. Man sieht häufig auf den Stra‐ ßen Roms die unköniglichen Gestalten jener bourbonischen Prinzen vom König‐ reich Neapel; sie sind selbst hier schon vergessen, außer von der Emigration. Aber der Exkönig theilt noch Orden aus, und empfängt noch den bei ihm beglaubigten österreichischen Gesandten, Grafen Szechenye [=Széchenyi]. Für die neue Anleihe des Papstes hat auch die Stadt Rom gezeichnet, und zwar 8 Millionen Franken.

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National-Zeitung, Nr. 490 vom 21. Oktober 1863 (Morgen-Ausgabe)

e Rom, 15. Oktober. Während der todten Jahreszeit Roms hat sich in den hiesigen Verhältnissen nichts Wesentliches verändert. Das italienische Reich ist nicht über die Schranken vorgedrungen, welche ihm Frankreich gezogen hat, und der Rest des Kirchenstaates wird an allen seinen Grenzen von Montefiascone bis nach Ceprano hin vom französischen Militärkordon besetzt gehalten. Die Aunis-Angelegenheit, in welcher die Turiner Regierung einen schließlichen Erfolg durchsetzte, ohne den sie gefallen wäre, gab indeß Anlaß zu den heftigsten Zerwürfnissen zwischen dem hiesigen Kabinet und der französischen Gesandtschaft. Es ist bestimmt, daß der Prinz Latour Rom verläßt, um Herrn Sartiges Platz zu machen. Ein anderer, zu seiner Zeit viel besprochener Vorfall (der Angriff päpstlicher Gendarmen auf einen Major der italienischen Grenzwache am Liris), und in Folge desselben der Tagesbe‐ fehl des kommandirenden Generals Montebello hat nicht mindere Mißhelligkeiten zwischen diesem und dem päpstlichen Kriegsministerium herbeigeführt. Der Graf Montebello hat am Sonntag Rom verlassen, um, wie es heißt, nicht mehr zurückzu‐ kehren. Herr Merode fährt unterdessen fort, die römische Armee zu vermehren, wel‐ che auf 8000 Mann schlagfertige Truppen gebracht werden soll. Er beherrscht fort‐ dauernd den Vatikan, wo er den Kardinal Antonelli völlig aus dem Felde geschla‐ gen hat. Der Rückzug Antonelli’s aus jenen Regionen, die er, den Papst isolirend, dreizehn Jahre lang unbeschränkt beherrscht hat, gilt selbst den Römern als räthsel‐ haft. Der Kardinal wird von Freund und Feind als ein Mann von unerschütterlicher Energie und als der einzige politische Kopf im heiligen Kollegium anerkannt; eben deshalb glaubt man, daß er in kluger Voraussicht einer unvermeidlichen Katastro‐ phe Herrn de Merode selbst in die Staatsaffairen hineingezogen habe, um alle Ver‐ antwortung und allen Haß auf diesen Fremdling zu wälzen, selbst aber mit Ehren abzutreten. Man hört Stimmen in Rom, welche behaupten, daß das Emporkommen Merode’s ohnedies gar nicht erklärbar wäre, und daß der Kardinal, wenn er wollte, noch heute so viel Mittel in Händen habe, den Sturz des belgischen Günstlings in einer Stunde zu bewirken. Wie dem auch sei, der Kardinal steht noch an der Spitze des Kabinets, aber man will wissen, daß er die Geschäfte in Kurzem an de Luca abtreten werde, den ehemaligen Nuntius in Wien und neu kreirten Kardinal. Der König Max von Baiern traf gestern nach einer mühsamen Seefahrt, an die Küsten von Cornato [=Corsica] 15 verschlagen, von Civita-Vecchia hier ein. Auf dem Bahnhof in den Thermen Diocletians begrüßten ihn öffentlich beim Ausstei‐ gen die Bourbons von Neapel. Die Königin Marie war tief bewegt; sie sieht bleich und schön aus, wie eine Schwindsüchtige. Der König Max führte sie zu ihrem Wa‐ 15 Siehe die Korrespondenten-Nachricht aus Rom vom 14. Oktober 1863 in der Beilage zu Nr. 293 der „Allgemeinen Zeitung“ (20. Oktober 1863, S. 4857).

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gen zurück. Er ist abgestiegen in der Villa Malta, wo er den Winter über wohnen bleibt. Die Gerüchte, daß Franz II. Rom verlassen werde, wiederholen sich, aber sie werden sich schwerlich bestätigen. Die Eisenbahn von Civita-Vecchia führt jetzt in nur 2 Stunden nach Rom; die Brücke über den Tiber auf der Straße von St. Paul, ein schönes und solides Bauwerk, ist fertig und in Betrieb, so daß die ehemalige Station vor Porta Portese nur noch für die Waaren-Ablagerung dient. Die übrigen Züge fahren jetzt direkt über den Fluß, hart an der Pyramide des Cassius [=Cestius] vorbei, 2 Miglien den Stadtmauern entlang, und dann durch deren Durchbruch in die Thermen des Diocletian.

National-Zeitung, Erstes Beiblatt zu Nr. 103 vom 2. März 1864 (Morgen-Ausgabe)

e Rom, 23. Februar. Die Exaltirten träumen vom nahe bevorstehenden Krieg ge‐ gen Oesterreich: Aufstand in Venedig, wo Garibaldi die Minen gelegt hat; Angriff Cialdini’s auf die Festungen; Operation Persano’s mit der Flotte gegen Venedig und Dalmatien. Ob dies nur Phantasien sind, weiß ich nicht. Gerüstet wird stark; viele Linienregimenter verlassen das Neapolitanische und dirigiren sich nach dem Po. Der Brigantenkrieg hat an Kraft verloren; die Nationalgarden dürften bald zur Vertheidigung des Landes ausreichend sein. Unterdeß eifert die italienische Presse gegen die Allianz zwischen Preußen und Oesterreich, welche die Feinde der Ein‐ heit Italiens in Entzücken, ihre Freunde in Bestürzung versetzt hat. Die Liberalsten unter den Italienern nehmen Partei für Dänemark; sie denken nicht daran, daß es sich an der Eider auch um eine deutsche Lombardei und um Nationalrechte han‐ delt, welche durch unnatürliche politische Verträge unterdrückt worden sind. Die Italiener zeigen sich leider so beschränkt und ungerecht unserer Nationalsache ge‐ genüber, wie sich Deutschland großmüthig und gerecht zeigte, als es die Befreiung der Lombardei aus den Fesseln unnatürlicher Verträge und der Fremdherrschaft galt. Es ist für uns bedauerlich, dies wahrzunehmen, da wir unter jeden Umstän‐ den das Urtheil fällen werden, daß ihr Recht auf Venetien die unantastbarsten Titel besitzt, und daß die dortige österreichische Herrschaft, vom venetischen Volk nur gezwungen anerkannt, so unrechtlich und unmoralisch ist, wie die Dänenherrschaft in Holstein. Wenn uns jedoch unsre italienischen Freunde provoziren, so werden wir sie ohne all zu viel Mitgefühl ihrem Schicksal und den Kroaten wieder überlas‐ sen müssen. Im übrigen sollten diese Herren still schweigen und arbeiten, nämlich an der großen Wehrmachung ihres Landes, wozu sie noch etwa 10 Jahre brauchen; dann aber werden sie in den Besitz Venedigs kommen. Die Blätter drucken die Proteste der lombardischen Bischöfe gegen die Aufhe‐ bung der Klöster und Einziehung des Klosterguts ab – umsonst! Diese Umwälzung

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ist nicht mehr aufzuhalten. Die Kirche wird nach dem Tode Pius IX. eine neue zeit‐ gemäße Form anlegen müssen, oder untergehen. Das Prinzip der Gewissensfreiheit wird sie anerkennen müssen. Immer neue protestantische Schulen in Italien . . . ein solcher Lehrsaal in Siena; andere in Neapel. Die Fastenpredigten bieten daher rei‐ chen Stoff zu Deklamationen gegen die Ketzerei dar, welche in Italien eingedrungen ist. In der Kirche del Jesu hält sie täglich um 4 Uhr der berühmte, hier zum Besuch anwesende Erzbischof von Orleans. Vorgestern wurde ein gräßlicher Raubmord auf belebter Straße, neben dem Corso, um 6½ Uhr Abends verübt. Auflauernde Mörder überfielen einen Wagen, erstachen lautlos die darin sitzenden Gehülfen eines Banquiers und bemächtigten sich der Kasse – ein Werk des Augenblicks. Kurz vorher wurde eine Person auf dem Forum ebenfalls im Wagen erdolcht. Triste Zustände in Rom; Bombenwerfen, Dolche, und großes Elend auf der Campagna. Glücklicherweise ist der Zudrang der Fremden sehr groß.

National-Zeitung, Erstes Beiblatt zu Nr. 513 vom 2. November 1864 (Morgen-Ausgabe)

e Rom, 25. Oktober. Mit einer gleich großen Spannung hat man in Rom noch nie der Eröffnung des verhaßten „Revolutions-Parlaments“ in Turin entgegengesehen, als jetzt, und heute, wo die italienische Nation durch ihre Vertreter sich über die Septemberkonvention aussprechen wird. Wird sie diese acceptiren, oder verwerfen? Wird der Munizipalgeist Turins oder Piemonts, mit den Mazzinisten vereinigt, die Verlegung der Hauptstadt hindern? Wird die italienische Nation auf Rom verzich‐ ten, oder das feierliche Votum aus der Zeit Cavour’s nochmals bestätigen? Die kleri‐ kale Presse verbreitet eifrig die dunkelsten Gerüchte über geheime Artikel von Paris, wonach Genua und Ligurien an Frankreich abgetreten werden soll. Die Widersin‐ nigkeit dieser Fabeln wird sich bald enthüllen; jede weitere Gebietsabtretung wäre das Verdammungsurtheil Italiens und das Signal zu einem allgemeinen Raub- und Plünderungssystem. Wir hoffen, daß die italienische Nation in so schwieriger Krisis auf dem Programm ihrer Einheit beharren und dies durch den Volkswillen noch‐ mals sanktioniren wird. Was die hiesigen Verhältnisse betrifft, so wissen Sie, daß man abwartet, weil man nichts thun kann. Betrachten Sie die Berichte französischer Blätter als Erfindungen, wenn dieselben von dem Plan erzählen, italienische, spani‐ sche, österreichische, polnische, französische, belgische Fremdenlegionen in Rom zu errichten. Man denkt hier nicht im Entferntesten daran; die Taktik ist vielmehr diese, keine Armee zu bilden und dadurch Frankreich zur Fortdauer der Okkupa‐ tion zu nöthigen, was die zweideutige Fassung der Septemberkonvention allerdings in Aussicht stellen könnte, und was hier von französischen Militärs auch behauptet

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wird. Im Uebrigen betrachtet die Kurie den Vertrag als nicht auf sich bezüglich; er ist bisher vom hiesigen Kabinet ignorirt worden. Der Graf Montebello kam von Paris zurück, das Kommando der französischen Truppen wieder zu übernehmen. Herr Merode beschäftigt sich unterdessen, in völliger Ruhe, mit industriellen und baulichen Unternehmungen. Er hat die Villa del Greco neben dem Prätorianer-La‐ ger angekauft, desgleichen den alten Palast der Florentiner Familie Altoviti an der Engelsbrücke. Er zieht eine Straße vom Quirinal nach dem Platz Termini, welcher um 5 Fuß niedriger gelegt werden soll; er will eine Brücke an der Ripetta bauen und hat ernstlich den Plan, durch die neronischen Wiesen eine Vorstadt bis nach Ponte Molle anzulegen. Seit Jahrhunderten wäre dies die erste Ausdehnung Roms über die aurelianischen Mauern hinaus. Solche Unternehmungen werden Herrn Merode ein besseres Andenken in Rom sichern, als seine kriegerischen Projekte zur Erhaltung des Kirchenstaats.

National-Zeitung, Nr. 217 vom 10. Mai 1865 (Morgen-Ausgabe)

«« Rom, 2. Mai. Die Konferenzen zwischen der Kurie und dem italienischen Abgeordneten Herrn Vegezzi scheinen einen lebhaften Fortgang zu nehmen und wirkliche Resultate zu versprechen. Nach dem, was wir jetzt hören, wird die Un‐ terhandlung nicht auf Piemont und Mailand beschränkt, sondern auf das ganze Italien ausgedehnt; was ein völlig unerwarteter Gang der Dinge ist. Man sagt uns, daß es sich um Folgendes handle: Anerkennung der Bischofsernennungen in Nord‐ italien durch den Papst, Anerkennung aller Bischöfe, welche der Papst in seinen ehemaligen Provinzen ernannt hat, durch den König, und deren sofortige Abreise nach ihren Sitzen; Verzicht der italienischen Regierung auf die Eidesleistung der Bischöfe überhaupt. Wenn sich dies letztere bewahrheiten sollte, so würde es als eine völlig unerwartete, hochwichtige Konzession von Seiten des Staats zu betrachten sein. Wir erfahren heute durch den Telegraphen, daß die Regierung das Gesetz über die Aufhebung aller geistlichen Korporationen aus der Turiner Kammer plötzlich zurückgezogen hat, und erkennen darin die Hand von Rom. Es scheint demnach, die Verständigung zwischen Turin und dem Vatikan sei im besten Zuge. Wenn dies kirchliche Konkordat, wie zu erwarten steht, praktische Resultate hat, so dürfte man kaum zweifeln, daß die Unterhandlung auch auf das politische Gebiet hin‐ übergreifen, und das Verhältniß des neuen Italiens zum Dominium Temporale, wie zur Staatsschuld des Kirchenstaats in sich aufnehmen wird. Wenn aber die Kurie ihrem Prinzip nach in geistlichen Dingen über sonstige politische Bedenken sich kühn hinwegsetzen mag, so würde doch Italien einen schwereren Stand haben, ihr auf dem weltlichen Gebiet etwas abzugewinnen. Der erste Schritt indeß, der zu einem Vergleich führen konnte, ist geschehen, und Sie mögen sich vorstellen, daß

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die exaltirte Partei des Klerus nicht minder darüber betroffen ist, als die äußerste Nationalpartei, welche von Konzessionen an Rom, auch nur in kirchlichen Din‐ gen, nichts wissen will. Man versichert hier, daß die bedeutende Entschließung des Papstes von der Anwesenheit Persigny’s in Rom völlig unabhängig gewesen sei. Die offizielle Zeitung, selbst der „Römische Beobachter“ schweigen gründlich über die Unterhandlungen im Vatikan. – Der Papst schickte vorgestern den Kardinal Anto‐ nelli zu Herrn v. Meyendorf, offiziell sein Beileid über den Tod des GroßfürstenThronfolger auszusprechen. – Es ist Thatsache, daß Franz Lißt bereits das Abba‐ tenkleid trägt. Er hat die Tonsur und erste niedere Weihe empfangen, und darauf eine Audienz beim Papst gehabt, welcher ihm sein höchstes Wohlgefallen ausge‐ drückt hat. Die langen grauen Simsonslocken von Franz Lißt sind unter der geist‐ lichen Scheere gefallen: der geniale Virtuos, welcher einst mit dämonischer Macht Europa, und namentlich die Weiber, bezaubert hat, geht jetzt in schwarzen Schuhen und Strümpfen und schwarzseidenem Rock glatt einher. Er wohnt bei Monsignor Hohenlohe im Vatikan. Ob es, wie einige behaupten, seine Ambition sei, die Direk‐ tion der päpstlichen Kapelle zu erhalten und die verwahrloste geistliche Musik in Rom zu reformiren, oder ob er vom rothen Hut und den rothen Strümpfen träumt, wissen wir nicht. In jedem Fall wird Franz Lißt ein wunderlicher Heiliger sein.

National-Zeitung, Erstes Beiblatt zu Nr. 291 vom 25. Juni 1865 (Morgen-Ausgabe)

«« Rom, 19. Juni. Es bestätigt sich vollkommen, daß die Unterhandlungen zwi‐ schen dem Staatssekretär und Herrn Vegezzi abgebrochen sind. Wenn der Gesandte Italiens noch nicht abgereist ist, so ist dies nur der Vermittelung Napoleons zu ver‐ danken. Der Kaiser hat nämlich an Victor Emanuel die dringende Aufforderung gerichtet, um jeden Preis eine Verständigung mit der Kirche herbeizuführen, und der König in Folge dessen seinem Bevollmächtigten die Weisung gegeben, noch in Rom zu bleiben. Es scheint jedoch, daß die Schwierigkeiten unüberwindbar blieben. Ohne den Eid der Bischöfe würde das Königreich Italien die faktische Anerken‐ nung, welche es begehrt, vom Papstthum nicht erlangt haben, und die mächtigen Bischöfe würden, nur als Diener der Kirche betrachtet, eben so viel unangreifbare Feinde im Lande sein. Rom will jenen Eid nicht zugestehen; es weigert mit dersel‐ ben Entschiedenheit in die bischöfliche Machtverminderung zu willigen, welche die nothwendige Folge der Reduktion der bischöflichen Stühle sein würde, und diese stehen, wie bekannt, durch ihre große Zahl in einem auffallenden Mißverhältniß zur Bevölkerung der Territorien. Vegezzi machte unter anderen den Vorschlag, die Bisthümer Ancona, Sinigaglia und Osimo in ein einziges Bisthum zu verschmelzen, was man mit Unwillen abgelehnt hat. Die Ultramontanen und Legitimisten, wel‐

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che die versöhnliche Stimmung des Papstes als eine Verirrung seines Gemüths und Verstandes betrachtet haben, triumphiren nun, und die Väter Jesu sind sich ihrer Macht aufs neue bewußt geworden. Der Zwiespalt zwischen der Kirche und Nation wird, nun der Vergleich nicht zu Stande kommt, stärker und erbitterter hervorbre‐ chen, und Rom zu dem Satz zurückkehren: confusio omnium rerum, et providentia Dei. Man erwartete oder erwartet noch den Erlaß einer Amnestie von Seiten des Papstes zur Feier des Jahrestags seiner Papstweihe. Diesen Akt, eine Reminiscenz von jenem, womit Pius IX. im Jahre 1846 seine Regierung einleitete und eine neue Epoche Italiens herbeiführte, scheint der Papst für den Fall beschlossen zu haben, daß die kirchlichen Unterhandlungen mit Italien ein günstiges Resultat erzielten. Es ist fraglich, ob der Erlaß unter den gegenwärtigen Verhältnissen stattfinden wird. Die römische Emigration beläuft sich gegenwärtig auf einige Tausend, und die An‐ zahl der politischen Gefangenen ist nicht gering. – Die Stadt Rom befindet sich in der vollkommensten Ruhe; jede politische Demonstration hat völlig aufgehört; Alles bewegt sich hier im tiefsten Frieden, und die jetzt täglich die Straßen durch‐ ziehenden Prozessionen der Octave von Corpus Domini versammeln um sich her dichte, schaulustige Volksmassen. – Sie haben von dem Streit über das Vorhanden‐ sein oder Nichtdasein der Gebeine Dante’s in der Gruft von Ravenna gehört; nach zuverlässigen Berichten aus dieser Stadt erfahren wir, daß der Sarkophag in der Gruftkapelle wirklich leer war, und die Gebeine des Dichters mit Absicht in dem kürzlich aufgefundenen Sarg neben der Kapelle versteckt worden sind, weil die Ravennaten, von den Florentinern unablässig bestürmt, sie auszuliefern, ihre gewaltsame Fortführung, sei es durch Betrug, oder durch die Einwilligung irgend eines von den Florentinern umgestimmten Papstes dadurch verhüten wollten. Die in Journalen verbreitete Erzählung, daß der Schädel Dante’s an Giovanni in Bolo‐ gna gekommen sei, ist nur ein Märchen.

National-Zeitung, Nr. 599 vom 22. Dezember 1865 (MorgenAusgabe)

«« Rom, 16. Dezember. Die päpstliche Regierung sucht eine Anleihe von ei‐ nigen Millionen zu kontrahiren. Sie unterhandelte deshalb mit der genuesischen Bank Parodi. Die Gerüchte über das Resultat sind so völlig widersprechend, daß sich darunter nichts Bestimmtes herausfinden läßt; bis vorgestern war die Anleihe noch nicht abgeschlossen. Eine andere Angelegenheit von größerer Wichtigkeit ist das Anerbieten, welches Frankreich dem Papste gemacht hat, ihm die Rente der auf den annektirten Kirchenprovinzen lastenden Schuld zu zahlen und dies Geld sodann von Italien sich erstatten zu lassen; so bliebe der Papst außer dem Spiel, und seine Kassen wären wieder gefüllt. Die päpstliche Regierung hat Gründe genug, sich

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gegen die Annahme einer solchen Ausflucht zu sträuben; wenn sie es thut, so wird dies der deutlichste Beweis sein, daß alle ihre sonstigen Mittel bis auf den letzten Grund erschöpft sind. Die liberale Presse Italiens begleitet die strengen Briganten‐ gesetze der römischen Regierung mit sarkastischem Lachen über alle diejenigen, welche wie die „Civiltà Cattolica“ ein großes Geschrei gegen die Barbarei der italie‐ nischen Gesetze dieser Art erhoben haben. Die Gründe, mit denen sich das Turiner Jesuitenorgan vertheidigt, sind bis zur Kläglichkeit schwach. Die päpstlichen Edikte sind allerdings die solennste Rechtfertigung des Verfahrens der italienischen Regie‐ rung mit den Briganten. Humanistische Sentimentalität hat man dem Regiment der Priester niemals vorzuwerfen gehabt, und der letzte Staat, in welchem man die Todesstrafe abschaffen würde, dürfte der des Papstes sein. Eine andere Frage ist freilich die, ob man diesseits des Liris mit dem Füsiliren so schnell bei der Hand sein wird, als jenseits dieses Grenzflusses. Denn Briganten haben neuerdings Streifzüge auf der Valeria bis gegen Tivoli gemacht, und sich im Hernikerland bei Olevano gezeigt. Panischer Schrecken herrscht daher in jenen Gegenden. – Man sagt, daß der Papst seine Zustimmung zum Ankauf der Villa Albani an Torlonia geben wird; die Kaufsumme beträgt 3 Millionen Francs. Auch der Palast des Hauses Albani in der Region des Quirinals sollte verkauft werden. Er ist seit einigen Jahren Eigenthum der Königin Christine von Spanien; ein hiesiger Spekulant bot ihr 180,000 Scudi, aber Madame zog den Konsens zurück, und der Kauf unterbleibt. Der Palast, von dieser Königin mit großen Kosten restaurirt, steht völlig leer; er würde sich trefflich zu einem Hotel ersten Ranges eignen. – Der Baron von Meyendorf, seit 2 Jahren Vertreter Rußlands beim heiligen Stuhl, wird wahrscheinlich im Frühjahre seinen Posten verlassen. Herr v. Schlözer, Legationsrath und Sekretär der preußischen Ge‐ sandtschaft, ist in der vorigen Woche in diplomatischen Angelegenheiten nach Ber‐ lin gereist. Dieser ausgezeichnete Mann hat sich in Rom in allen Kreisen schnell beliebt gemacht; man würde daher seinen Abgang von hier (welcher indeß nicht wahrscheinlich ist) sehr beklagen. – Der Zufluß von Fremden ist äußerst sparsam; man hofft auf die baldige Aufhebung der Quarantäne, welche ohne Zweifel viele Besucher von Rom abhält.

National-Zeitung, Erstes Beiblatt zu Nr. 126 vom 16. März 1866 (Morgen-Ausgabe)

«« Rom, 10. März. Es ist hier die Ansicht, daß der Kardinal Staatssekretär und sein Bruder Graf Antonelli, Direktor der römischen Bank, die zahlreichen Anleiheprojekte haben scheitern machen, um den Papst zur Annahme der von Italien zu zahlenden Schuld zu bewegen. In Wahrheit ist es kaum anders zu erklä‐ ren, warum man nun seit Monaten zehn und mehr Chefs von Bankhäusern Frank‐

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reichs und Deutschlands nach Rom kommen ließ, ohne auch mit nur einem von ihnen das Geschäft abzuschließen. Sie werden von vielerlei andern Projekten der Art, namentlich von einer großen Gesellschaft gehört haben, welche römische Ob‐ ligationen in der katholischen Welt verkaufen will; alle diese Pläne schweben noch heutigen Tages in der Luft. – Die Stimmung in Rom ist aufgeregt; man beschäftigt sich mit Prophezeiungen und Ahnungen über die großen zu erwartenden Ereignisse dieses Jahres 1866; die rumänische Revolution und die mit großer Spannung ver‐ folgte Mißstimmung zwischen Preußen und Oesterreich tragen nicht wenig dazu bei; auch gilt als ausgemachte Sache, daß die Cholera im Frühjahr Rom heimsuchen wird. Man meldet neue Krankheitsfälle von Ancona und Neapel her, doch scheinen sie noch nicht bestätigt. Es ist kaum mehr zweifelhaft, daß der Papst im nächsten Konsistorium mehrere Kardinäle kreiren wird; man bezeichnet Falcinelli, Chigi, Matteucci, Bariti [=Barili], Prinz Hohenlohe, und einen Amerikaner aus den Süd‐ staaten. Unter diesen Kandidaten gilt Bariti [=Barili] als eine bedeutende Kapazi‐ tät. Monsignor Chigi wird von Paris her erwartet. – Zwei Regimenter Franzosen haben bereits Ordre erhalten, sich zum Abmarsch bereit zu machen, sie werden Rom im April verlassen; zu dieser Zeit soll auch die französische Fremdenlegion in Antibes vollzählig sein, und dann in Rom eintreffen, wo sie die Engelsburg beziehen wird, um den Vatikan und die Leonina zu schützen. Eine andere große Kaserne wird im Forum eingerichtet; der kostspielige Bau, welchen Monsignor Merode im präto‐ rianischen Lager errichten ließ, erweist sich als gänzlich unpraktisch, sowohl wegen der schlechten Luft, als wegen der zu weiten Entfernung von der Stadt. – Seit dem Anfang dieses Monats sind Omnibusfahrten in Rom eingerichtet, zuerst in zwei Richtungen von der Piazza del Popolo über Piazza di Venezia nach St. Peter, und vom Quartier der Monti nach dem Marsfeld; die Wagen sind jedoch unzulänglich und sehr primitiver Natur. – Der Graf von Flandern ist in Rom angekommen und vom Papst empfangen worden. Ein anderer noch seltener Fall hat die Neugierde der Römer in diesen Tagen beschäftigt: ein gewaltiger Wallfisch, welchen der Sturm an die Küste von Civita Vecchia verschlug und bei Santa Marinella ans Land warf. Die Bewohner jener öden Küste geriethen zuerst beim Anblick dieses Ungeheuers in Schrecken; einige witzige Menschen hielten die Balena für eine Art trojanisches Pferd, worin die Piemontesen sich verborgen hätten, um Rom nächtlicher Weile zu überfallen; nachdem jedoch die Bestürzung sich gelegt hatte, bestieg halb Civita Vecchia den Wallfisch, um ihn als Beute zu zertheilen. Sein Gerippe wird nach Rom gebracht werden, nicht in die neue Dante-Gallerie, wie einige boshafte Menschen vorgeschlagen haben, sondern in ein Naturalienkabinet.

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National-Zeitung, Nr. 531 vom 10. November 1866 (MorgenAusgabe)

«« Rom, 3. November. Die Römer Anfangs bestürzt, sind jetzt zufrieden, daß der Papst seine Position genommen und aller Unklarheit ein Ende gemacht hat. Selbst ihr Nationalgefühl scheint nicht zu tief verletzt zu sein, da sie an die Syl‐ labirung der italienischen Zustände durch den Vatikan hinreichend gewöhnt sind. Die Verehrung, welche Pius IX. in Rom genießt, ist so aufrichtig und allgemein, daß man seine Person immer von der Sache trennt, und was er in dieser thut, nicht ihm, sondern der Consorteria im Klerus zuschreibt. Die Römer sagen: in Pius IX. sind zwei Menschen, der eine ist Italiener und der andere gehört der Sekte an, nämlich den Jesuiten und Ultrakatholischen. Wie gleicht sich nun in ihm der Patriot und der Papst aus? Ein Mann wie Julius II. stände heute, und schon 20 Jahre lang an der Spitze einer italienischen Konföderation. Pius IX. protestirt, und dies macht ihm Pein. Wie soll das Mißverhältniß zwischen ihm und dem Klerus von Hochitalien ausgeglichen werden? Oder ist es nicht ein Widerspruch, wenn die Bischöfe von Padua, Verona und Udine und der Patriarch von Venedig an die Wahlurne treten und in patriotischen Hirtenbriefen zur Annexion an Italien unter der Monarchie Victor Emanuels auffordern, während der Papst durch diese Annexion sich in Rom für bedroht erklärt und die Einheit Italiens als ein Werk des Umsturzes ansieht, welches er verdammen muß? Alle Kreise in Rom beschäftigen sich heute nur mit dieser einen Frage: was wird mit Rom geschehen? Noch giebt es solche, welche an den Abzug der Franzosen nicht glauben, weil sie annehmen, daß die noch ungelöste Differenz wegen der Uebernahme der päpstlichen Schuld dem Kaiser Napoleon den Vorwand geben wird, seine Truppen in Rom zu lassen. Andere verbreiten die Furcht vor einem blutigen Zusammenstoß. Die Absicht der päpstlichen Regierung, das italienische Militär ins Landgebiet und die Fremdenlegionen in die Stadt zu zie‐ hen, läßt freilich darauf schließen, daß man Rom behaupten will, während man die Provinzen verloren giebt. Die Furcht scheint übertrieben. Die Römer werden sich nicht erheben, um die belgischen Zuaven zum Schießen zu provoziren, und sollte auch dies der Fall sein, so wird Colonel D’Argy als Kommandeur der französischen Legion ohne Zweifel die Befehle seines Kaisers haben, wie er sich in solcher Lage den Römern gegenüber zu benehmen hat. Pius IX. ist nicht der Mann, welcher um seinetwillen auch nur einen Tropfen Bluts fließen machen könnte. Im Allgemeinen denkt man sich hier, daß nach dem Abzug der Franzosen die Provinzen das päpst‐ liche Regiment als einfach erloschen erklären werden, und daß dann der Papst mit seiner Kurie sich einschiffen wird. Doch diejenigen irren, welche glauben, daß Rom und Italien die Entfernung des Papstes gern sehen. Am letzten Oktober wurde das französische Inventar in der Engelsburg ver‐ kauft; es gab dort eine Jahrmarktsscene, denn der ganze Ghetto hatte sich kauflustig eingefunden. Die Feste Allerheiligen und Allerseelen (1. und 2. November) waren

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durch strömenden Regen verfinstert. Der Papst celebrirte in der Sixtina. Man be‐ merkte die Anwesenheit der englischen Gäste Gladstone und Sir Arthur Stanley, Dean of Westminster. Gestern brannten in S. Peter vor jedem Grabmal eines Paps‐ tes zwei Wachskerzen. Manche Fremde von Auszeichnung werden erwartet. Auch Gervinus wird nach Rom kommen, hier an Ort und Stelle eine der denkwürdigsten Umwandlungen anzusehen, welche die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts dürfte zu verzeichnen haben.

National-Zeitung, Nr. 124 vom 14. März 1867 (Abend-Ausgabe)

∆ Rom, 9. März. Die ganze Aufmerksamkeit der Römer ist gegenwärtig auf das Resultat der Wahlen im Königreich Italien gerichtet, welche morgen vor sich ge‐ hen sollen. Denn ihr Ergebniß wird entscheiden, ob dies Land in vielleicht lange dauernde Anarchie zurückfällt, oder sich zu besseren und gesetzmäßigen Zustän‐ den emporrafft. Die Wahlbewegung scheint überall stark zu sein, namentlich in Neapel, wo der Erzbischof Kardinal Riario Sforza an ihr lebhaften Antheil genommen hat, um der Partei der Regierung zum Siege zu verhelfen. Die Auf‐ forderung der ultrakatholischen Fraktion des Klerus, sich der Wahlen zu enthal‐ ten, dürfte nur vereinzelte Beachtung gefunden haben; im Gegentheil hat sich der Klerus in Masse im ganzen Königreich entschlossen, mit zu wählen. Man glaubt, daß dies mit Zustimmung oder auf den Wink der päpstlichen Kurie geschehen sei; indeß es versteht sich wohl von selbst, daß die katholische Geistlichkeit in dieser gegenwärtigen Krisis nicht gleichgültig bleiben kann, da es sich darum handelt, ob die Regierung mit ihren gemäßigten Grundsätzen, oder ob die mazzinistische Akti‐ onspartei mit ihrem der Kirche todfeindlichen Prinzip als Sieger aus der Wahlurne hervorgehen sollen. Im erstern Falle würde manches zu retten, im letzten nur Alles zu verlieren sein. Mehrere Geistliche, welche der Papst zu Bischöfen italienischer Sprengel zu machen wünschte, sollen diese Würde abgelehnt haben; man nennt darunter auch den Monsignor Vitelleschi. Es wird wegen dieser Bischofssitze fortdauernd mit Herrn Tonello unterhandelt. Im Ganzen dürften noch mehr als 50 Stühle zu besetzen sein. – Vom Fortgange der Unterhandlung auf dem ökonomisch-admi‐ nistrativen Gebiet, wodurch die Zollschranken und das Paßwesen gemildert, wenn nicht beseitigt werden sollen, verlautet zur Stunde nichts mehr. Die einzige Konfor‐ mität, welche zwischen dem italienischen Königreich und Rom erreicht worden ist, besteht bis heute in der Gleichsetzung des Münzfußes. Das Silbergeld ist wieder ziemlich reichlich auf dem Markt; die Bank wechselt regelmäßig, und die Ausgabe von Papier zu 1 Scudi hat glücklicher Weise der unerträglichen Verlegenheit ein Ende gemacht, in welcher sich die Stadt im vorigen Jahre befand. Im Ganzen ist

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daher der hiesige Zustand, wenigstens augenblicklich, erträglich, und die römische Presse ist nicht im Unrecht, wenn sie sich darauf beruft und die Verhältnisse Roms mit den schlimmern in manchen Theilen Italiens vergleicht. Auch herrscht in der Stadt vollkommne Ruhe. Die päpstliche Regierung ist im Augenblick zum Gefühle einiger Sicherheit gelangt, woran niemand glauben konnte, welcher die Verwirrung der Dinge kurz nach dem Abzug der Franzosen sah. In solchem Sicherheitsgefühl veranstaltete man die letzte Revue der in Rom stehenden päpstlichen Truppen, um durch diese Kraftentfaltung auf das Volk Eindruck zu machen. Die Truppen, 6000 Mann stark, sind gut equipirt und gut genährt. Nur dürfte es sich fragen, ob man im entscheidenden Augenblick auf die Zuverlässigkeit der italienischen Bataillone würde zählen können. Es giebt hier noch immer solche, welche an eine Erhebung noch vor dem Zusammentritt der Bischöfe in Rom glauben. Wir bezweifeln dies und nehmen vielmehr an, daß es zu einer gründlicheren Lösung der römischen Ter‐ ritorialfrage erst mit der neuen Papstwahl kommen werde. Auf den Karneval, dessen vollkommen ruhiger Verlauf dem römischen Volk zu großer Ehre gereichte, ist gegenwärtig die Fastenzeit gefolgt, mit ihren eif‐ rigen Bußpredigten, namentlich in der Kirche al Gesu. Der alte König Ludwig von Baiern kam aus Neapel zurück und erwartet jetzt seinen Enkel, den Prin‐ zen Otto, zum Besuch. Von andern Deutschen Fürsten ist hier Wilhelm Graf von Würtemberg, ein durch seine gelehrte Bildung bekannter Mann, mit seiner zweiten Gemahlin, der Prinzessin Florestine von Monaco. Dieser kleine Duodezstaat, das italienische Lichtenstein, hat sogar einen eigenen Vertreter beim heiligen Stuhl.

National-Zeitung, Nr. 185 vom 19. April 1867 (Morgen-Ausgabe)

∆ Rom, 14. April. Die Mazzinisten hatten eine zweite insurrektionslustige Proklamation in Rom verbreitet; dies mochte endlich das National-Comité bewogen haben, durch ein Lebenszeichen seine Fortexistenz darzuthun. Es streute demnach am 10. d. M. eine Ansprache an die Römer aus, worin es den Ursprung jenes ersten Insurrektionsproklams in Zweifel zog, das Volk vor Verführung und Zersplitterung seiner Kräfte warnte, die Zeit der Erhebung für noch nicht gekom‐ men erklärte, und kurz und gut zur Ruhe ermahnte. Wir haben demnach in Rom zwei unterirdische Sekten-Regierungen, die garibaldisch-mazzinistische, und die italienisch-nationale, welche nach wie vor ihre Impulse von Florenz empfängt. Da sich beide als Gegner erklärt haben, so ist für jetzt der Fortbestand der Dinge in Rom gesichert, und die öffentliche Ruhe dürfte nicht durch einen Tumult gestört werden. Die Mazzinisten versuchten einen solchen am gestrigen Tage, wo das päpstliche Jahresfest gefeiert ward, anzustiften, aber es gelang dem National-Comité jede Kundgebung vorweg zu unterdrücken, so daß es sich als

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noch in Rom maßgebend bewiesen hat. Das Fest ging daher ohne irgend welchen Exzeß vor sich. Die Regierung hatte alle ihre Truppenmacht entfaltet. Eine Revue fand am Nachmittage im prätorianischen Lager statt, wobei der Papst anwesend war. In allen Kasernen stand das Militär schlagfertig. Die Illumination war schön, doch minder glänzend als sonst. Der Platz Navona, S. Lorenzo in Lucina, Colonna, wo das päpstliche Offizierkorps eine gothische Façade von 20,000 Lampen vor dem Casino aufgebaut hatte, die Ripetta, wo brennende Kriegsschiffe improvisirt waren, und andere Plätze zeichneten sich aus. An der Engelsbrücke stellten Transparente die fünf Welttheile dar, welche in frommem Glaubenseifer dem Sanct Peter Geld opfern, seinen schwindenden Staat zu erhalten – eine naive Verherrlichung des Peterspfennigs mit bengalischem Feuerwerk. Die Figuren der Europa, Asia, Afrika, Amerika und Oceania waren vortrefflich gemalt. Es sind nun schon fast 1500 Jahre, daß die Welt ihre Tribute nach dem S. Peter schickt, und dieser Dom selbst ist von ihnen aufgebaut worden. Ueber die Engelsbrücke, an deren Haupt jene Allegorie sich darstellte, sind in den Jahrhunderten zahllose Völkerschaften gezogen, am Grabe des Apostels ihr Geld auszuschütten; und noch jetzt vergeht kaum ein Tag, wo nicht Gaben, wenn auch nur tropfenweise fließend, aus allen Theilen der Welt nach dem Vatikan gelangen. Besondere Auszeichnung verdiente die Illumination der Rossebändiger auf dem Quirinal. Diese uralten Kolosse, welche den Fall des Reichs der Römer und die Entstehung wie das Wachsthum der römischen Kirche gesehen haben (sie werden auch ihren Fall überdauern), nahmen sich, von zartem Flammenschein ganz überlichtet, an dem tiefblauen Himmel ganz unbeschreiblich schön aus, und boten einen über alle Phantasie erhabenen zauberhaften Anblick dar. Die Betheiligung des Volkes war sparsam; einige Plätze, wie die Navona, blieben beinahe leer. Die Unterhandlung mit den Briganten ist gescheitert. Viele ihrer Banden hat‐ ten sich jenseits des Liris bei Roccasecca im Gebirge versammelt, und dort bereit erklärt, die Waffen niederzulegen. Aber statt dessen besannen sie sich eines andern; sie brachen die Unterhandlungen ab und suchten nach verschiedenen Himmelsge‐ genden das Weite. Nur sieben haben sich gestellt; die Uebrigen sind nach einigen heftigen Zusammenstößen entkommen. Es waren demnach bei Roccasecca zum ersten Mal päpstliche und italienische Truppen zu gemeinschaftlicher Aktion ver‐ einigt gewesen. – Man weiß noch nichts Bestimmtes über die Rückkehr des Herrn Tonello. Einige wollen wissen, daß er nach Rom zurückkehrt, um gewisserma‐ ßen eine dauernde Mission als Agent der italienischen Regierung anzutreten. Eine solche Stellung würde er unter dem Ministerium Ricasoli nicht haben einnehmen können. Man schreibt hier dem neuen Ministerium Rattazzi kaum 3 Wochen Dauer zu; doch sind aller Augen von Italien hinweg auf Preußen gerichtet. Das protestan‐ tische Deutschland erfreut sich heute der mehr als stillen Sympathie des päpstlichen Rom. Man hofft auf Krieg, der nach der rachevollen Ansicht der Klerikalen die Dynastie Napoleon in den Trümmern der französischen Macht begraben soll. Von

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fern her sieht man den Traum einer Restauration der altfranzösischen legitimen Dynastie winken und glaubt so auf wunderlichen Umwegen denn doch wieder zum Jahr 1815 zurückzukehren.

National-Zeitung, Nr. 545 vom 20. November 1868 (MorgenAusgabe)

∆ Rom, 15. November. Die Reihe der zu erwartenden Reformen ist durch das Doganal-Edikt eröffnet worden, wovon Ihnen berichtet wurde. Diese Maßregel hat den allergünstigsten Eindruck gemacht. Sie vereinigt sich mit den Friedens‐ aussichten, welche gegenwärtig, wenigstens bis auf Weiteres vorwalten, um dem Verkehr einige Zuversicht mitzutheilen. In Folge dessen ist das Papier dem Golde fast al pari gekommen. Es wird sich nun bald zeigen, ob die hiesige Regierung mit andern und ernstlichen Reformen der Zeit Rechnung tragen will. Daß nicht alle Grundsätze unter allen Umständen behauptet werden können, hat auch sie bereits in ihrem Verhältniß zur spanischen Revolution dargethan. In Wahrheit wäre die Anerkennung eines revolutionären Regiments, gleich nach der Vertreibung einer legitimen und ultrakatholischen Fürstin durch den päpstlichen Nuntius, noch vor zehn Jahren eine vollkommene Unmöglichkeit gewesen. Man sieht daher aus die‐ ser einen befremdenden Thatsache, wie überwältigend die Macht der Verhältnisse geworden ist. Sie wird endlich wohl auch eine erträgliche Ausgleichung zwischen dem Papstthum und Italien herbeiführen, obwohl man gegenwärtig der Ansicht entschieden widerspricht, daß deshalb Unterhandlungen gepflogen würden. Auch die Gerüchte sind irrig, daß die römische Regierung ihren Armeebestand reduziren und namentlich das Zuavenkorps aufheben will. Diese Truppe bildet nicht allein den tüchtigsten Kern der ganzen Armee, sondern sie stellt, was für das Papstthum gerade das wichtigste ist, durch ihre Zusammensetzung den Zusammenhang dessel‐ ben mit der katholischen Christenheit praktisch und in Bezug auf das Dominium Temporale dar. Der Jahrestag von Mentana ist unterdeß sowohl in Rom, als in Men‐ tana und Monterotondo, und überhaupt an allen Orten des Kirchenstaats durch kirchliche Funktionen gefeiert worden. Im Vatikan beschäftigt man sich unausgesetzt mit den Vorarbeiten des Konzils: dazu sind auch neuerdings wieder deutsche Gelehrte berufen oder eingeladen wor‐ den. Da selbst in der katholischen Welt die Dringlichkeit eines Konzils in der Ge‐ genwart hier und da bezweifelt worden ist, hat es die „Civilta Cattolica“ übernom‐ men, diese Zweifel zu widerlegen. Sie bekennt, daß in der Vergangenheit Konzile aus vier Ursachen berufen zu werden pflegten: um Ketzereien zu bekämpfen; ein Schisma beizulegen; einem furchtbaren Feinde der Christenheit zu begegnen (näm‐ lich wie den Türken oder den deutschen Kaisern von ghibellinischen Grundsätzen);

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endlich um Mißbräuche und Korruption im christlichen Leben abzuschaffen. Da die drei ersten Gründe nicht vorliegen, oder da man großmüthiger Weise den König des revolutionären Italiens nicht in die dritte Kategorie stellen will, so bleibt nur die letzte als auf die Gegenwart verwendbar übrig. Der Sinn des ganzen Artikels läuft aber dahin hinaus, zu erklären, daß eigentlich die Ketzerei Luthers oder die deutsche Reformation den Gegenstand des Konzils hergiebt, weil sie es gewesen ist, die durch die Zerstörung der katholischen Dogmen und der Hierarchie eine Fluth von Uebeln in der Welt hervorgerufen hat, von denen nicht allein die protestantischen Länder, sondern auch die katholischen infizirt worden sind. Der Legationsrath v. Schlözer ist zum Ministerresidenten in Mexiko ernannt worden, wohin er über Berlin in kurzer Zeit abgehen wird. Der Verlust dieses intel‐ ligenten und thätigen Mannes, welcher hier sehr beliebt war, ist für alle Deutsche empfindlich, und wird auch in römischen Kreisen fühlbar sein. Wer sein Nachfol‐ ger bei der hiesigen deutschen Gesandtschaft sein wird, ist noch unbekannt. Das Personal der Gesandtschaften beim römischen Stuhl hat überhaupt in der letzten Zeit starke Veränderungen erlitten. Die französische und österreichische Botschaft ist gewechselt worden; die spanische in Folge der Umwälzung vakant; die russische Gesandtschaft ganz eingegangen. Als portugiesischer Botschafter ist der alte Herzog Saldanha soeben zurückgekehrt. Freiherr v. Hübner, ehemaliger Botschafter Oes‐ terreichs, kehrt als Privatmann nach Rom zurück, wo er für eine Reihe von Jahren eine Wohnung im Palast Barberini gemiethet hat.

National-Zeitung, Nr. 177 vom 17. April 1869 (Morgen-Ausgabe) [Fortsetzung im ersten Beiblatt]

O· Rom, 10. April. Seit gestern ist die Stadt in einer festlichen Bewegung, wie sie ähnlich nur bei großen kirchlichen Feierlichkeiten gesehen wird. Massenweise strömen Gäste herein, zumal viele Italiener, viele Campagnolen aus dem Kirchen‐ staate. Die Römer selbst gehen in Schaaren nach dem Vatikan; die Straßen sind schon größten Theils mit Blumengewinden dekorirt und mit den Zurüstungen zur Illumination versehen. Ungezählte Deputationen geistlicher wie weltlicher Natur, aus allen Ländern der katholischen Welt, selbst aus den meisten Städten Italiens sind eingetroffen. Die Festlichkeit begann am 8. mit einer musikalischen Aufführung der Akade‐ mie der S. Cäcilia im Palast der Konservatoren, wobei auch das Finale der Schöp‐ fung Haydns ausgeführt wurde. Der Papst war dazu eingeladen worden, kam aber nicht. Viele Kardinäle waren anwesend. Gestern wohnte der Papst einer anderen musikalischen Aufführung im Saale des Konsistoriums bei, an deren Schluß er die Deputation der römischen Provinzen empfing. Er antwortete auf ihre Adresse mit

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einer Rede, worin er seine Hoffnung aussprach, daß bald die Tage des Glücks und Friedens über das schöne Land Italien aufgehen würden, sul bel paese, che Apen‐ nin parte e il mar circonda, e l’Alpe; diese Verse Dante’s citirte er. Man bewundert die Leichtigkeit und die Anmuth, womit dieser Greis die hundert Adressen zu beantworten weiß, welche an ihn gerichtet worden. Seit den Tagen seiner Thron‐ besteigung hat er kaum so viel zu reden gehabt. Er zeigt keine Ermüdung; er soll von Glückseligkeit strahlen. Er hat Gestern alle Gesandte empfangen, welche ihm die Glückwünsche ihrer Souveräne überbrachten. Oesterreich hat keinen eigenen Repräsentanten geschickt, sondern sich mit dem Grafen Trautmansdorf begnügt. Viktor Emanuel soll ein Gratulationsschreiben geschickt haben, und einen Kelch, 50,000 Lire an Werth. Viel Aufsehen machte das zufällige Eintreffen des Groß‐ fürsten Wladimir, Sohn des Kaisers. Außer der Großfürstin Marie, welche fast in jedem Jahr incognito Rom zu besuchen pflegt und auch vor Kurzem hier war, ist dies der erste Besuch, den ein Mitglied des russischen Kaiserhauses in Rom gemacht hat. Der junge Prinz wurde mit der größten Zuvorkommenheit empfangen; der Kardinal Antonelli machte ihm sogar den ersten Besuch im Hotel von Rom, und so‐ dann empfing ihn der Papst vor einigen Tagen. Der Prinz ist wieder abgereist; die Gerüchte, welche sich in Rom an sein Erscheinen knüpfen und auf die Wiederauf‐ nahme der diplomatischen Vertretung Rußlands am heil. Stuhle bezogen werden, mögen für jetzt auf sich beruhen. Morgen um 8 Uhr wird der Papst die Messe am Hochaltar St. Peters lesen, von Kardinälen assistirt. Als er vor 50 Jahren seine erste Priestermesse las, geschah dies in der Kirche Sant Anna de Falegnami (der Tischler). Er war damals 27 Jahre alt und unterrichtete die armen Kinder eines Instituts, welches ein piemontesischer Maurer Giovani Borgi im Jahre 1784 gestiftet hatte. Das Institut erhielt von ihm den Namen Tata (Vater) Giovanni. Man hat im dortigen Kloster Bilder ausgestellt, welche sich auf die Thätigkeit Pius IX. in jener Stiftung beziehen. Einer seiner ehe‐ maligen Zöglinge hat ihm als Ehrengeschenk 25 Francs zugeschickt. Ein römisches Blatt giebt die Zahl derer, welche morgen die Kommunion empfangen wollen, auf 60,000 an. Die großen Kosten für die Feierlichkeiten werden durch Beiträge bestrit‐ ten, welche dazu ernannte Comités einsammeln. Bürger, Priester, selbst die Solda‐ ten zahlen ihren Beitrag. Jede Korporation civiler oder kirchlicher Natur schickt eine Glückwunsch-Deputation und ein entsprechendes Geschenk. In jedem Viertel Roms werden morgen Austheilungen an die Armen durch die römische Aristokratie gemacht; der Papst endlich wird alle Lieferungen an Naturalien, die ihm geschenkt worden sind, an die Bedürftigen vertheilen lassen. Im Borgo des Vatikan ist ein Triumphbogen aufgerichtet, auf welchem man un‐ ter dem Bilde Christi folgende Inschrift liest: „Völker, die ihr Christus folgt, tretet durch die Via Triumfalis in den Tempel des Vatikan. Pius IX. bietet auf dem Altar St. Peters das ewige Opfer dar, im 50. Jahre seines Priesterthums. Es ist der Vorbote glücklicherer Ereignisse für das römische Fürstenthum (al Romano Principato). Mit

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Oelzweigen und Palmen in den Händen, werdet ihr wiederkommen, um in dem ökumenischen Konzil den Triumph der Wahrheit und des Glaubens zu begrüßen. Die ganze Welt ist in einem einzigen Votum einig.“ Diese Inschrift dürfte für das heutige Rom charakteristisch sein. Ob dies eine Votum die Unfehlbarkeit des Paps‐ tes bedeuten soll, welche man auf dem Konzil durchzusetzen hofft? So viel ist klar, daß man seit dem Jahre 1859 in Rom nie eine gleich gehobene und gleich zuver‐ sichtliche Stimmung gehabt hat. Selbst die Römer von der Nationalpartei beken‐ nen, daß die Demonstration der Welt zu Gunsten dieses päpstlichen Familienfestes Dimensionen habe, die nicht erwartet worden seien. In Wahrheit ist Aehnliches in der Geschichte der Päpste kaum aufzufinden, es sei denn bei der Rückkehr Pius VII. nach dem Sturze Napoleons. Mehr als auf alle anderen Manifestationen „kindlicher Pietät“ gegen den Papst, welcher sein 50jähriges Jubiläum als Priester zu einem allgemeinen Feste der katho‐ lischen Christenheit werden sieht, scheint die römische Kurie auf die Theilnahme Deutschlands Gewicht zu legen. In der That besprechen sie alle ultramontanen Zeitungen Frankreichs und Italiens mit einer Art von freudiger Verwunderung. Zu‐ nächst ist man hoch beglückt, den „sehr protestantischen“ König von Preußen allen andern, selbst den katholischen Monarchen in seiner Ehrerbietung gegen den Papst vorangehen zu sehen. Die „Unita Cattolica“ knüpfte daran die Hoffnung, daß eine so rühmenswerthe Sympathie demnächst andere und ernstlichere Realitäten nach sich ziehen werde. Der Herzog von Ratibor ist in Rom eingetroffen und wird wohl morgenden Tages den Brief des Königs und das Ehrengeschenk, eine Vase, über‐ reichen. Man sagt, daß der Papst seine Erkenntlichkeit gegen die „große deutsche Kundgebung“ dadurch an den Tag legen will, daß er die deutschen Deputationen zu allererst, Sonntag um 4 Uhr, empfangen wird. Ihrer aber sind sehr viele. Nicht allein haben einzelne Korporationen, Vereine, Diözesen und Städte, wie der Adel des Rheinlandes und Westfalens, die Universität Münster, die Stadt Köln, die Stadt Breslau u. s. w. besondere Abgeordnete und Festgeschenke gesandt, sondern kollek‐ tiver Weise läßt sich das Central-Comité der katholischen Vereine Deutschlands durch seinen Präsidenten Herrn v. Loë vertreten, welcher morgen die Gesammt‐ adressen überreichen wird. Diese sind nach den Diöcesen gruppirt und umfassen 17 prachtvoll gebundene und mit Malereien ausgestattete Bände, mit nicht weni‐ ger als 1 Million und 200,000 Unterschriften. Von der Gesammtzahl Deutschlands würde sich also der 40. Theil der Einwohner als dem Papste ergeben unterschrieben haben. An der Spitze steht die Unterschrift des Königs von Sachsen. Die Adresse selbst ist von Geschenken in Geld begleitet, wobei Münster mit 24,000 Thalern, Breslau mit 20,000, Paderborn mit 19,000, Baiern mit 72,000 Gulden betheiligt sind. Köln schickte noch im Besondern das Gemälde des Domes vom Maler Conrad aus Düsseldorf. Die ganz persönliche Feier der ersten Messe, welche Pius IX. am 11. April 1819 in der kleinen Kirche Sanct Anna dei Falegnami zu Rom las, ist in Wahrheit zu einer

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großen Demonstration der katholischen Welt geworden, aus welcher die römische Kirche ihre vollkommen berechtigten Schlüsse und ihre Vortheile ziehen wird. Man muß in die vergangenen Zeiten der Jubeljahre Rom’s zurückgehen, um eine ähnliche Kundgebung aufzufinden; sie ist heute nicht persönliche Pilgerfahrt von Gläubi‐ gen oder Verehrern, sondern Repräsentation durch Abgesandte und massenhafte Zusendung von Geschenken, von Adressen und von Telegrammen, welche letztere stündlich selbst von den entferntesten Kolonien der katholischen Kirche aus Asien, Afrika und Amerika in den Vatikan gelangen. Die Erfindung der Telegraphen und der Eisenbahnen ist also ein Vortheil für die kirchliche Demonstration geworden, welchen Gregor XVI. ganz übersehen hat, als er einst jene ein Werk des Teufels nannte. Im vatikanischen Hofe Bramantes hat man in den unteren Hallen die Gaben der Gemeinden des Kirchenstaats niedergelegt. Sie sind Gegenstände der Industrie und Naturprodukte. Auf Wagen wurden sie von festlich geschmückten Campagnolen hereingefahren; man sah solche täglich durch Rom ziehen. Der Wagen aus Subiaco, um nur einen zu nennen, war ganz mit Blumen überdeckt, so daß man seinen Inhalt nicht sah; aus seinen Ecken ragten weißgelbe Fahnen mit der Aufschrift la devo‐ tissima Subiaco; die Pferde selbst waren mit den päpstlichen Farben geschmückt. Die im Hof des Damasus niedergelegten Geschenke geben das Bild einer Industrieund Naturalienausstellung von Latium und römisch Tuscien. Da sieht man Seide von Rom, Töpfe aus Civita Castellana, Filzhüte aus Veroli und Alatri, Alaun und Schwefelstücke aus Tolfa und Viterbo, Papier aus Grottoferrato und Guercino, As‐ phalt aus Collexardo, Marmor von Scurgola, vergoldete Fässer mit Wein, zahllose sauber etikettirte Fiaschoni und Flaschen mit Wein aus der Sabina und dem Herni‐ kerlande, Säcke voll Mais, aus der Ciocciaria von Anagni Körbe voll von Eiern, an‐ dere aus den armen Orten der Volsker, gefüllt mit Kringeln. Viel Aufmerksamkeit erregen 12 Säcke mit Korn, auf denen mit großer römischer Schrift der verhängniß‐ volle Name Mentana geschrieben steht. Der vatikanische Hof könnte sich mit die‐ sen Viktualien lange Zeit proviantiren. Der Papst wird sie unter die frommen Stif‐ tungen und die Armen vertheilen lassen. Die kostbaren Gaben, welche ihm fast aus allen Ländern zugekommen sind, sollen später, vielleicht im Saal der Bibliothek, zur Ausstellung kommen. Man hat eine der geheimnißvollen amerikanischen Kisten ge‐ öffnet, und darin Chokolade zum Gebrauch für den Papst, unter ihr aber blitzende Goldbarren aus Kalifornien gefunden. Die Menge der eingegangenen Kostbarkei‐ ten jeder Art, goldene Kelche, mit Edelsteinen besetzte Pastoralkreuze, Krucifixe, Reliquiarien, Gemälde, Mosaiken, Arbeiten aus Elfenbein, Tapeten u. dgl. soll in Wahrheit jeden Glauben übersteigen. Nie ist ein lebender Mensch an irgend wel‐ chem Tage so reich beschenkt worden. Der 11. April 1869 ist überhaupt wohl der schönste Tag im Leben Pius des IX., und wie man auch über die Bedeutung dieser Feier denken mag, so ist es gewiß, daß sie keinem anderen noch so hochgestellten Menschen sonst in der Welt zu Theil werden kann. Wenn an diesem Kultus Pius

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des IX. unter den politischen Verhältnissen der Gegenwart sich begreiflicher Weise vielfach eine demonstrative Absicht betheiligt, so würde man doch sehr irren, wenn man diese allein auf die Rechnung von Machinationen der Bischöfe und des Klerus setzte. Die katholische Christenheit will ihren Papst haben und feiern, und sie wird ihn noch lange aufrecht halten. Die Italiener werden ihn nie aus ihrem Lande ziehen lassen.

National-Zeitung, Erstes Beiblatt zu Nr. 233 vom 23. Mai 1869 (Morgen-Ausgabe)

O· Rom, 16. Mai. Seit einigen Tagen will man in Rom als authentisches Faktum wissen, daß der Rückzug der französischen Okkupationsarmee der päpst‐ lichen Regierung bereits notifizirt sei. Diese Ansicht tritt so entschieden auf und kommt aus solchen Kreisen, daß wir uns nicht mehr weigern, sie für begründet zu halten. Die Thatsache selbst würde auch nur der bekannten Antwort Lavalettes auf die Fragen des Grafen Segur über den Stand der römischen Angelegenheiten ent‐ sprechen, worin jener Minister Napoleons erklärte, daß der Papst in Sicherheit sei, weil die französische Regierung auf das kluge und loyale Verhalten des italienischen Gouvernements zählen könne; Italien sei zwar noch nicht in direkte Beziehung zu dem heil. Stuhl getreten, aber es befinde sich in solcher zu einer mit diesem befreun‐ deten Macht; es habe alle seine Verbindlichkeiten in Bezug auf die päpstliche Schuld erfüllt, und außerdem Garantien für seinen festen Entschluß gegeben, mit Rom in gutem Verhältnisse zu bleiben. – Der Abzug der Franzosen aus dem Patrimonium soll, wie man hier wissen will, bereits im August erfolgen, und ehe der Kaiser zu den Festen nach Corsica abreist. Das Verhältniß von Rom zu Italien würde darauf zu der Norm des Septembervertrages zurückkehren, den Italienern aber von Seiten Frankreichs kein Hinderniß in den Weg gestellt werden, Viterbo und Civitavec‐ chia zu besetzen, wenn sich die garibaldischen Unruhen erneuern und die Päpstli‐ chen unvermögend sein sollten, ihnen Widerstand zu leisten. Wenn sich nun dieses neue Abkommen zwischen Frankreich und Italien bestätigt, so scheint die römische Frage an ihren dritten Akt gelangt zu sein: ihre völlige Lösung ist noch im weiten Felde, aber das ursprüngliche Revolutionsprogramm, wonach das Dominium Tem‐ porale auf die Grenzen des Stadtgebietes herabgesetzt werden sollte, möchte sich dann bei der ersten besten Gelegenheit durchführen lassen. Im Angesicht des nahen Konzils, auf welchem die ultrarömische Partei die Omnipotenz des Papst-Königs zu dogmatisiren gedenkt, ist diese französische Retirade eine Demonstration und ein tief empfindlicher Schlag, der auf das Konzil selbst zurückwirken muß. Nach den jüngsten Vorgängen in Paris hat es aber den Anschein, daß Napoleon der immer höher steigenden liberalen Opposition in Frankreich wird nachgeben müssen, um

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die Verantwortlichkeit von sich selbst auf die neue Kammer zu übertragen, wo der Klerus voraussichtlich nicht mehr den Boden von ehedem finden wird. So droht die einzige Stütze zu brechen, welche Rom noch aufrecht hielt, und diese Nieder‐ lage mag das Papstthum lediglich der Alleinherrschaft jener absolutistischen Partei verdanken, welche es zur Proklamation der Grundsätze des Syllabus getrieben hat, und jetzt damit umgeht, die Staatsgewalten durch jene Projekte herauszufordern, die auf dem Konzil verwirklicht werden sollen. Im Allgemeinen ist der römische Klerus, welcher keineswegs den Jesuiten gehor‐ samt, diesem Konzil nicht günstig. Seltsamer Weise fährt man hier sogar fort zu behaupten, daß dasselbe vertagt werden soll. Ich schweige von dem Gerede darüber, daß der Papst die Eröffnung des Konzils nicht mehr erleben wird. Sollte es nun doch, wie der Orden Jesu es gewollt hat, zu der angesagten Zeit, im Dezember, zusammentreten, so erwartet man eine entschiedene Opposition der französischen Bischöfe, trotz ihrer Hirtenbriefe, welche fast alle die tiefste Ergebenheit gegen die dogmatische Papstgewalt ausgesprochen haben. Die römischen Truppen werden diesmal das Lager im Albanergebirge nicht be‐ ziehen: die Artillerie manövrirt seit längerer Zeit am Tiber auf dem halben Wege nach Ostia. Diese Armee ist trefflich ausgerüstet und gut disziplinirt; sie hat den Kriegsbestand von 15,000 Mann, würde also ausreichen, Rom und das Stadtgebiet zu decken, doch aber nur gegen nichtorganisirte Banden, und unter Voraussetzung der passiven Haltung der Römer, und diese ist schlechterdings vorauszusetzen. Die in Journalen verbreitete Nachricht von der Auflösung der Legion von Antibes ist erfunden; dies Korps besteht nach wie vor und liegt meist in Rom selbst. Graf Limburg-Styrum, Nachfolger Schlözer’s im Posten des Legationssekre‐ tärs bei der preußischen Gesandtschaft, ist in Rom eingetroffen; attachirt ist der Gesandtschaft, und schon seit längerer Zeit, Graf Hohenthal. Gestern verließ der Prinz Wilhelm von Baden Rom, um zu seiner Gemahlin nach Florenz, und dann in die Heimath zurückzukehren. Er hatte sich zuletzt 14 Tage in Rom aufgehalten, nur mit Exkursionen in und außerhalb der Stadt beschäftigt. Diesen vorurtheils‐ freien Patrioten, eine Zierde deutscher Fürsten, haben seine Landsleute hier mit Bedauern aber mit der Hoffnung scheiden sehen, daß seine Dienste dem großen Vaterlande zur rechten Zeit nicht fehlen werden. – Lißt ist nach Rom und in sein Kloster auf dem Forum zurückgekehrt.

Zu den Beiträgerinnen und Beiträgern

Patrick Bahners ist Redakteur der FAZ für „Geisteswissenschaften“ und Kultur in Nordrhein-Westfalen. Er studierte Geschichte an der Universität Bonn und Ox‐ ford. Seit 1989 ist er für das Feuilleton der FAZ tätig, 2001–2011 Feuilletonchef, 2012–2015 Korrespondent aus New York. Er wurde mit dem Journalistenpreis des Deutschen Anglisten-Verbandes ausgezeichnet, war Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin und Dahrendorf-Professor an der Universität Konstanz. Bücher schrieb er über Helmut Kohl, die deutsche Angst vor dem Islam und die Wahrheit über Entenhausen. Er ist Mitherausgeber zweier Aufsatzbände über das Jahr 1848 und publizierte zur Historiographiegeschichte und Geschichte politischer Ideen. Martin Baumeister leitet seit 2012 das DHI in Rom. Nach seiner Promotion zur Sozialgeschichte des ländlichen Spanien an der LMU München habilitierte er sich an der HU Berlin mit einer Schrift zur Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs. 2003–2017 war er Professor für Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhun‐ derts an der LMU München. Zu seinen aktuellen Forschungsschwerpunkten gehö‐ ren die Geschichte des europäischen Südens und des Mittelmeerraums sowie die Stadt- und Religionsgeschichte. Er ist Mitherausgeber des Briefwechsels von König Ludwig I. von Bayern mit Johann Martin von Wagner sowie der Autobiographie und des Kriegsjournals (1914–1919) von Robert Davidsohn. Markus Bernauer ist Germanist und Komparatist, er leitet an der BBAW Pro‐ jekte zu Jean Paul und zum Libertinismus und lehrt an der TU Berlin. Nach dem Studium der Deutschen Philologie, Kunstgeschichte und Neueren Geschichte pro‐ movierte er zu den Avantgarden und habilitierte sich über Heinrich von Stein im Wagner-/Nietzsche-Umfeld. Er forscht zur europäischen Literatur vom Klassizis‐ mus bis zur Moderne, zu Literatur und Kunst und zur Italienliteratur. Er gab u. a. Wilhelm Heinse, Paul Heyse, Jean Paul sowie mehrere Bände zur deutschen Ro‐ mantik und zur Kunstliteratur heraus und war Mitkurator der Jean Paul-Ausstel‐ lung 2013 in Berlin. Alberto Forni ist Historiker. Er forscht zu den Beziehungen zwischen Dante und Petrus Johannis Olivi (danteolivi.com). Nach seiner Promotion im Fach Mediävis‐ tik an der Universität Rom war er am Istituto Italiano per gli Studi Storici (Neapel) und am Istituto Storico Italiano per il Medioevo (Rom) wissenschaftlicher Mitarbei‐ ter. 1982–2006 war er parlamentarischer Rat der italienischen Abgeordnetenkammer. Seine zahlreichen Publikationen galten u. a. der Geschichte der Geschichtsschreibung, darunter „La questione di Roma medievale. Una polemica tra Gregorovius e Reumont“ (1985) und „Lo storico delle tempeste. Pensiero e azione in Luigi Tosti“ (1997).

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Zu den Beiträgerinnen und Beiträgern

Jörg Hörnschemeyer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Histori‐ schen Institut in Rom im Bereich Digital Humanities. Er studierte Historisch Kul‐ turwissenschaftliche Informationsverarbeitung, Mittlere und Neuere Geschichte und Germanistik an der Universität zu Köln. Dort war er danach Softwareentwick‐ ler im Projekt für antike Plastiken des Archäologischen Instituts und promovierte zum Thema „Textgenetische Prozesse in digitalen Editionen“. Roman Lach ist Professor für Deutsche Sprache und Literatur an der Keimyung University in Daegu in Südkorea. Nach seinem Studium der Germanistik und Kom‐ paratistik an der TU Berlin wurde er mit einer Arbeit zur Komödie im 18. Jahr‐ hundert promoviert. 1998–2012 lehrte er an der TU Berlin und der Universität Braunschweig, wo er sich zum Thema Liebeskorrespondenzen des 19. Jahrhunderts habilitierte und 2018 eine Gastprofessur innehatte. Er publizierte zahlreiche Auf‐ sätze, u. a. zur deutschen und europäischen Literatur und Kultur, zu den Briefen von Ferdinand Raimund, Goethe und Stifter, zur deutschen Rezeption von Mo‐ lière, zum Realismus und zum historischen Roman. Uwe Ludwig ist apl. Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Duisburg-Essen. Nach seinem Studium der Geschichte und Romanistik (Freiburg i. Br., Aix-en-Provence) promovierte er an der Universität Freiburg über die transal‐ pinen Beziehungen der Karolingerzeit in der Memorialüberlieferung. Seine Habili‐ tation an der Universität Duisburg galt Karl IV. und Venedig. Er war Gastprofessor in Wien und vertrat den Lehrstuhl für Landesgeschichte an der Universität Duis‐ burg-Essen. Er forscht u. a. zu religiösen Gemeinschaften im Frühmittelalter, zum Verhältnis zwischen Italien und dem Reich im Spätmittelalter und ist in den MGH Mitherausgeber des Memorial- und Liturgiecodex von San Salvatore in Brescia. Helmuth Mojem ist Leiter des Cotta-Archivs im Deutschen Literaturarchiv Marbach und Honorarprofessor an der Universität Tübingen. Er hat Germanistik und Komparatistik an der Universität Stuttgart studiert, wo er mit einer Arbeit zu Wilhelm Raabe promoviert wurde. Danach war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Regensburg und im Stefan George-Archiv in Stuttgart. Er ver‐ öffentlichte zahlreiche Bücher, Aufsätze und Editionen, vorwiegend zur Literatur des 19. Jahrhunderts, u. a. zum Cotta-Verlag, zu Stefan George und seinem Kreis, zu Hebel, Heine, Kleist, Nestroy und Karl May. Zuletzt erschien die Edition von Ludwig Uhlands „Stylistikum“ (2022). Angela Steinsiek ist Leiterin der Edition „Ferdinand Gregorovius: Poesie und Wissenschaft. Gesammelte deutsche und italienische Briefe“ (DFG) am DHI in Rom (gregorovius-edition.dhi-roma.it). Sie studierte Germanistik, Komparatistik und An‐ glistik an der TU Berlin; dort wurde sie zum Thema Jean Paul in Berlin promoviert. Sie hat „Briefe an Jean Paul“ (BBAW) herausgegeben, war Kuratorin der Jean PaulAusstellung 2013 in Berlin sowie Mitarbeiterin und Mitglied des Herausgeber-Kolle‐ giums der „Richard-Wagner-Briefausgabe“ an der Universität Würzburg.

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Simon Strauss ist Redakteur im Feuilleton der FAZ und Schriftsteller. Nach dem Studium der Altertumswissenschaften und Geschichte (Basel, Poitiers, Cam‐ bridge) wurde er an der HU Berlin zum Thema „Von Mommsen zu Gelzer? Kon‐ zeptionen römisch-republikanischer Gesellschaft in ‚Staatsrecht‘ und ‚Nobilität‘“ promoviert. Er ist Initiator des Zeitzeugenprojekts „European Archive of Voices“ und Vorstandsmitglied von „Arbeit an Europa e. V.“. Sein erzählerisches Debüt ver‐ öffentlichte er 2017 mit „Sieben Nächte“, zuletzt erschien „zu zweit“ (2022). Anna Maria Voci ist Historikerin. Nach dem Studium der Geschichte an der FU Berlin, wurde sie dort zum Thema „Petrarca e la vita religiosa: il mito umanista della vita eremitica“ promoviert. Sie veröffentlichte zahlreiche Bücher und Aufsätze, darunter zur Geschichte, Geschichtsschreibung und den kulturellen Beziehungen zwischen Deutschland und Italien im 19. Jahrhundert, wie die Edition des Brief‐ wechsels von Pasquale Villari, „Il Reich di Bismarck. Storia e storiografia“, „La Ger‐ mania e Cavour. Diplomazia e storiografia“ und „Karl Hillebrand. Ein deutscher Weltbürger“. Zuletzt edierte sie den Roman Ernst Michalskis, „Die Verwandlung des Knaben Kai“ (2021). Günther Wassilowsky ist Kirchenhistoriker und Professor für Historische Theologie an der HU Berlin. An der Universität Freiburg wurde er mit einer Arbeit zur Geschichte des II. Vatikanum promoviert. Er erhielt den Karl-Rahner-Preis für theologische Forschung und habilitierte sich an der Universität Münster mit einer Arbeit zu Religion und Politik im Papstwahlverfahren der Frühen Neuzeit. An der Katholischen Universität Linz, der Universität Innsbruck, der Goethe-Universität Frankfurt a. M. hatte er Professuren inne und war Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Er ist Verfasser zahlreicher Publikationen zur Kulturgeschichte des Ka‐ tholizismus, des Papsttums, Italiens und der Stadt Rom und ist Vorsitzender der Gesellschaft zur Herausgabe des Corpus Catholicorum. Katharina Weiger ist wissenschaftliche Bibliotheksmitarbeiterin im KHI in Florenz. Nach dem Studium der Kunstgeschichte, Germanistik und Italianistik (Freiburg, Rom, Berlin) wurde sie an der FU Berlin zum Thema „Studien zu ei‐ ner Kreuzigung im Louvre. Malerei nach Giotto in Unteritalien und Kunst am Anjou-Hof“ promoviert. Sie absolvierte ein Aufbaustudium der Bibliotheks- und Informationswissenschaft an der HU Berlin. 2019/2020 war sie Mitarbeiterin der Edition „Ferdinand Gregorovius: Poesie und Wissenschaft. Gesammelte deutsche und italienische Briefe“ (DFG) am DHI in Rom.